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German Pages 239 [241] Year 2012
Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe im Exzellenzcluster Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster setzt sich mit dem vorliegenden Sammelband zum Ziel, die Konstruktionsmechanismen und die Rezeption unterschiedlicher Feindbilder historisch und sozialwissenschaftlich zu beleuchten. Mit der Fokussierung sowohl auf die Bildung als auch auf die Entwicklung und die Rezeption von Feindbildern in verschiedenen Kontexten soll der Dynamik und der Prozesshaftigkeit, die solchen Konstruktionen zugrunde liegen, Rechnung getragen werden.
ISBN 978-3-402-12871-8
VON KETZERN UND TERRORISTEN ALFONS FÜRST u.a. (Hg .)
In religiösen und politischen Konfliktsituationen verdichten sich stereotype Vorstellungen von ‚den Anderen‘ regelmäßig zu Feindbildern, die Gruppengrenzen definieren und manchmal Gewalt legitimieren. Feindbilder können auch über einen konkreten Konflikt hinaus virulent bleiben und dauerhaft identitätsstiftende Wirkung für gesellschaftliche Gruppen oder Nationen entwickeln. Beispiele für Feindbilder sind zahlreich und vielfältig. Sie reichen von der antiken Auseinandersetzung zwischen ‚rechtgläubigen‘ und ‚häretischen‘ Glaubensgemeinschaften über die Ketzerverfolgungen des Mittelalters bis zur gegenwärtigen Diskussion über die Existenz eines ‚Feindbildes Islam‘ in westlichen Gesellschaften.
ALFONS FÜRST HARUTYUN HARUTYUNYAN EVA-MARIA SCHRAGE VERENA VOIGT (HG.)
VON KETZERN UND TERRORISTEN INTERDISZIPLINÄRE
STUDIEN
ZUR KONSTRUKTION UND REZEPTION VON
FEINDBILDERN
Von Ketzern und Terroristen
Von Ketzern und Terroristen
Interdisziplinäre Studien zur Konstruktion und Rezeption von Feindbildern
Herausgegeben von Alfons Fürst, Harutyun Harutyunyan, Eva-Maria Schrage und Verena Voigt
© 2012 Aschendorff Verlag GmbH & Co. KG, Münster
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Vergütungsansprüche des § 54 Abs. 2 UrhG werden durch die Verwertungsgesellschaft Wort wahrgenommen. Gesamtherstellung: Aschendorff Druckzentrum GmbH & Co. Kg, 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier ∞ ISBN 978-3-402-12871-8
Vorwort Die im vorliegenden Band publizierten Aufsätze sind aus der Arbeitsgruppe „Bildung, Entwicklung und Rezeption von Feindbildern“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hervorgegangen. Die Mitglieder der Arbeitsgruppe sind Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Clusters in unterschiedlichen Projekten, namentlich in den Forschungsfeldern „Inszenierung“, „Integrative Verfahren“ und „Gewalt“, oder in der Graduiertenschule und arbeiten in verschiedenen Fächern: der Soziologie, der Geschichte, der Theologie, der Religionswissenschaft, der Politikwissenschaft und der Kommunikationswissenschaft. Auf der Basis dieser multidisziplinären Zusammensetzung wurde ein bestimmter – in seiner konkreten Ausprägung und Anwendung allerdings zugleich sehr unbestimmter, diffuser – Begriff, der des Feindbilds, in verschiedenen Epochen und Kulturen und aus dem jeweiligen methodischen und hermeneutischen Blickwinkel einer einzelnen Fachperspektive untersucht. Ziel war es, in interdisziplinärer Diskussion diesen Begriff bzw. die damit verbundenen Vorstellungen genauer zu analysieren und die Konstruktion, Rezeption und Funktion von Feindbildern näher zu profilieren. Die Diskussionen in der Arbeitsgruppe waren von den vielfältigen Bedeutungen und Anwendungen des Feindbildbegriffs geprägt, und die Beiträge dieses Bandes demonstrieren diese an den verschiedenen Fallbeispielen, die darin behandelt werden. Das Spektrum der hier zu lesenden Aufsätze spiegelt damit sowohl die Breite des Begriffs ‚Feindbild‘, die gleichsam vom Ketzer bis zum Terroristen reicht, als auch den Mehrwert an Erkenntnis, den eine interdisziplinäre Arbeit daran zu erbringen vermag. Die Herausgeberinnen und Herausgeber des Bandes danken den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Arbeitsgruppe für die engagierte Mitarbeit und für die Bereitschaft, trotz drängender anderer Verpflichtungen einen Beitrag zum vorliegenden Band beizusteuern. Ferner ist es uns eine angenehme Pflicht, dem Vorstand des Exzellenzclusters für die Finanzierung des Druckkostenzuschusses und dem Verlag Aschendorff für die Publikation des Buches zu danken. Münster, im Herbst 2011
Die Herausgeberinnen und Herausgeber
Inhalt
Alfons Fürst Einführung. Zum Konstruktionscharakter von Feindbildern am Beispiel der Entstehung des christlichen Häresiebegriffs . . . . . . . . . .
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Sita Steckel Falsche Heilige. Feindbilder des ‚Ketzers‘ in religiösen Debatten der lateinischen Kirche des Hoch- und Spätmittelalters . . . . . . . . . . . .
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Eva Schaten Die staatliche Steuerung von Feindbildern am Beispiel des Anti-Hispanismus im frühneuzeitlichen England . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Felicity Jensz The Little Missionary. Freund-, Fremd- und Feindbilder am Beispiel einer Kindermissionszeitschrift im 19. Jahrhundert in Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Harutyun Harutyunyan Von alten Feinden zu neuen Partnern? Zur Entstehung und Weitergabe des Erzfeindbildes ‚Türke‘ aus armenischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
Verena Voigt Zionistischer Kolonialist vs. palästinensischer Terrorist. Feindbilder im Israel-Palästina-Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Daniela Schlicht Wahrer Muslim, falscher Muslim? Zur Konstruktion des inneren Feindes im Islam am Beispiel von Sunniten und Schiiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 7
Inhalt
Tim Karis Postmodernes Feindbild und aufgeklärte Islamophobie? Grenzen der Analysekategorie ‚Feindbild‘ in der Islambildforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Nils Friedrichs Die Bilder der Deutschen vom Islam. Soziale Kategorisierungen und die Entstehung von Feindbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eva-Maria Schrage Von Ketzern und Terroristen? Zum analytischen Nutzen eines interdisziplinären Feindbildbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung Zum Konstruktionscharakter von Feindbildern am Beispiel der Entstehung des christlichen Häresiebegriffs Alfons Fürst
Die Unterscheidung zwischen Freund und Feind gehört in allen Kulturen zu den basalen Strategien der Ausbildung und Sicherung des eigenen Selbstverständnisses und des eigenen Standorts in der Welt. Der Feind, das heißt das als bedrohlich empfundene Gegenüber zur eigenen Gruppe, kann der eigenen Lebenswelt angehören, wie das beispielsweise beim Häretiker der Fall ist. Oder er steht für Fremdes, für Menschen anderer Stämme, anderer Staaten oder anderer Religionen. Wo die Vorstellungen vom feindlichen Anderen in Stereotype gegossen werden, entsteht ein Feindbild. Besonders häufig geschieht dies in politischen, gesellschaftlichen und religiösen Konflikten. In solchen Situationen dienen Feindbilder dazu, Gruppengrenzen zu definieren und manchmal Gewalt zu legitimieren. Feindbilder können auch über einen konkreten Konflikt hinaus virulent bleiben und dauerhaft identitätsstiftende Wirkung für gesellschaftliche Gruppen oder Staaten entwickeln. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes verfolgen das Ziel, die Konstruktionsmechanismen unterschiedlicher Feindbilder historisch und sozialwissenschaftlich zu analysieren. Der Fokus liegt dabei auf der Dynamik und Prozesshaftigkeit, die der Entstehung, Entwicklung und Rezeption von Feindbildern zugrunde liegt. Die Zusammenschau der einzelnen Beiträge und ihre Auswertung im Blick auf den analytischen Nutzen eines interdisziplinären Feindbildbegriffs wird im abschließenden Aufsatz von Eva-Maria Schrage aus soziologischer Sicht geleistet. In der Einführung soll aus den zahlreichen Faktoren, die bei der Konstruktion und Rezeption von Feindbildern relevant sind, ein grundlegender Aspekt zur Sprache kommen, der in allen Beiträgen eine Rolle spielt und teilweise explizit thematisiert wird, nämlich die Bedeutung, die Geschichtsbilder bei der Konstruktion von Feindbildern haben. Anhand des altkirchlichen Häresiebegriffs wird dieser Konnex anschließend aus kirchen- und theologiegeschichtlicher Perspektive an einem Beispiel konkretisiert. Damit wird das Spektrum der erörterten Fallbeispiele, die vom Mittelalter bis zur Gegenwart reichen, um eines aus der Antike erweitert. Zudem wird auf die Genese eines nachgera9
Alfons Fürst
de paradigmatischen Feindbild-Konzepts eingegangen, das in nach-antiker Zeit vielfältig rezipiert wurde und nicht nur in christlichen Varianten vorkommt, sondern auch eine Analogie im Islam hat.
Feindbilder und Geschichtsbilder Der Begriff ‚Feindbild‘ wird zwar häufig gebraucht, ist jedoch alles andere als eindeutig. Faktisch wird er auf höchst unterschiedliche Phänomene angewendet. Seine verschiedenen Facetten spiegeln sich auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes. An diese Beobachtung lässt sich eine ganze Reihe von Fragen knüpfen, die für eine kritische Analyse der Anwendungen dieses Begriffs hilfreich sein können: Begründen ein Vorurteil, Kritik oder eine negative Darstellung schon ein Feindbild? Liegt ein Feindbild vor, wenn eine bestimmte Gruppe sich Vorstellungen von Anderen macht und diese in Stereotype gießt? Oder sollte man da besser von Fremdbildern sprechen, die nicht unmittelbar und nicht nur als Feindbilder fungieren müssen, sondern neutral sein oder gar als Vorbilder dienen können? So hat, um ein antikes Beispiel anzuführen, der Historiker Tacitus seinen römischen Zeitgenossen idealtypisch stilisierte Germanen – die potentiell und oft aktuell Feinde waren – als Vorbild vor Augen geführt. Wird ein Bild von Anderen erst zum Feindbild, wenn es überwiegend oder ausschließlich aus negativen Stereotypen zusammengesetzt wird, die sich immer weiter von einem realen Anderen entfernen, ja von einem konkreten Gegenüber gänzlich abgelöst und auf ein neues Gegenüber übertragen werden können? Was auch immer unter einem Feindbild genau verstanden wird: Aus allen Beiträgen dieses Bandes geht hervor, dass Feindbilder aus dem gelebten Umgang und aus Erfahrungen mit Anderen, mit Fremden erwachsen. In so gut wie allen Fällen dient das Feindbild dabei als Kontrast zum Selbstbild. Sein eigentlicher Zweck liegt weniger in der Beschreibung des Gegenübers als vielmehr in der Herstellung und Bewahrung der eigenen Identität. Je stärker dabei die Ambivalenzen in der Wahrnehmung eines konkreten Gegenübers und in der Selbstwahrnehmung ausgeblendet werden, desto deutlicher wird das Fremdbild zu einem Feindbild. Wenn Feindbilder auf der Basis von konkreten Erfahrungen im Umgang mit Anderen konstruiert werden, ist es nicht überraschend, wenn Geschichtsbilder in diesen Konstruktionen eine wesentliche Rolle spielen. In einigen der in diesem Band erörterten Konflikte, besonders dem zwischen Armeniern und Türken und dem zwischen Israelis und Palästinensern, sind konkurrierende Geschichtsdarstellungen zentral für das jeweilige Bild von sich selbst und von den Anderen. Vorstellungen von der eigenen Herkunft 10
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und Geschichte bilden in allen Kulturen einen fundierenden Bestandteil der Beschreibung der eigenen Stellung und Bedeutung in der Welt und gehören zur Erinnerungskultur einer Gesellschaft. ‚Geschichte‘ ist darin nicht etwas objektiv Vorgegebenes – auch wenn reales historisches Geschehen dahintersteht –, sondern wird aus subjektiven Erfahrungen und Erinnerungen kon struiert. Das, was die ‚Geschichte von xy‘ genannt wird, entsteht, indem aus einer unübersehbaren Fülle von Ereignissen und Wahrnehmungen einzelne Geschehnisse oder Aspekte, denen in einem bestimmten Rezeptionszusammenhang eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird, ausgewählt und diese zu einer kohärenten Erzählung angeordnet werden. Das Medium der Geschichte dient auf diese Weise dazu, die eigene Identität in Abgrenzung von Anderen zu definieren, etwa das christliche Abendland gegen ‚die Türken‘ oder das islamische Morgenland gegen ‚die Kreuzfahrer‘. Auf diesem Wege spielen Geschichtsbilder eine Rolle bei der Konstruktion von Feindbildern. Nicht zuletzt aufgrund ihrer historischen Fundierung erweisen sich Feindbilder als Konstruktionen und sind die Stereotype, aus denen sie zusammengesetzt werden, epochal und regional variabel, je nach Kontext und aktuellem Bedarf. Feindbilder suggerieren feste Negativ-Größen – bis hin zur regelrecht metaphysischen Hypostasierung –, von denen man sich positiv absetzt, erweisen sich aber als vielfältig wandelbare und anwendbare historische und soziale Konstruktionen.
Die Erfindung des ‚Ketzers‘ im antiken Christentum Ein Paradebeispiel für ein Feindbild im beschriebenen Sinn ist der Begriff des Ketzers oder Häretikers. Da der vorliegende Band im europäischen Mittelalter mit der Kategorie des Ketzers in religiösen Debatten einsetzt und die meisten der analysierten Fallbeispiele aus der Gegenwart (in unterschiedlichen Regionen) stammen, dürfte es sinnvoll und nützlich sein, vorweg kurz auf die Entstehung des Häresiebegriffs und der Vorstellung vom Häretiker in der Spätantike einzugehen. Der Ketzer fungierte in den von der Spätantike ausgehenden christlich geprägten Kulturen jahrhundertelang als Feindbild par excellence. Heutzutage ist der Begriff funktionslos geworden und auch theologisch – von konservativ-reaktionären binnentheologischen Diskursen abgesehen – nicht mehr brauchbar (vgl. Arens 1995: 118). Aus historischer Sicht ist er allerdings für die Frage nach der Entstehung und Verwendung von Feindbildern äußerst aufschlussreich. An dieser Kategorie, die nicht zuletzt aufgrund einschlägiger Buchtitel, beispielsweise Ketzer und Heilige (Ernst/Erbstößer 1986), Theologen, Ketzer, Heilige (Heim 2001), Häresie im Mittelalter (Lambert 2001) oder Ketzerei und Inquisition 11
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im Mittelalter (Oberste 22011), nach wie vor präsent ist, lassen sich Mechanismen der Konstruktion und Rezeption eines Feindbildes studieren, die auch in anderen religiösen, politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen wirksam sind.1 Der Begriff ‚Häresie‘ (griech.: haíresis; lat.: secta, später auch haeresis) war in der Antike eine neutrale Kategorie und bezeichnete die Wahl, die man aus verschiedenen Möglichkeiten trifft, die Präferenz für eine Möglichkeit sowie die religiöse oder philosophische Schul- oder Lebensrichtung oder auch die Lehre und Überzeugung, der man dann folgt (vgl. Brox 1986: 256f.). Der österreichisch-amerikanische Soziologe Peter L. Berger hat mit seinem Buch unter dem programmatischen Titel Der Zwang zur Häresie (Berger 1992) diese ursprüngliche Bedeutung aufgegriffen: In einer von Pluralität gekennzeichneten Lebenswelt sei es, so seine These, unausweichlich, in so gut wie allen Fragen unter mehreren Möglichkeiten wählen zu müssen und in diesem Sinne ‚häretisch‘ zu agieren. Diese Position entspricht insofern den antiken Verhältnissen, als diese von einer großen Pluralität an Meinungen und Traditionen gekennzeichnet waren, auch in den zentralen Fragen nach Leben und Tod, nach der Welt, nach den Göttern (vgl. Brox 1986: 249). Gerade auf diesem Gebiet vollzog sich durch das Aufkommen des Christentums allerdings ein tiefgreifender Wandel. Im christlichen Glauben wurden auf diese Fragen eindeutige Antworten formuliert, die als einzig wahr von anderen, als falsch bewerteten abgegrenzt wurden. In der Verknüpfung mit einem dogmatischen Wahrheitsbegriff wurde der Begriff ‚Häresie‘ (wie ‚Heterodoxie‘) zu einer Negativkategorie im Gegensatz zu ‚Orthodoxie‘, ‚Rechtgläubigkeit‘ (vgl. Simon 1979: 111–113): Durch die Bindung von Wahrheit an Offenbarung konnte es keine Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten mehr geben, weshalb Häresie gleichsam automatisch als Widerstand gegen die geoffenbarte Wahrheit oder als Abfall von dieser aufgefasst wurde. Aus Häresie im Sinne von Lehre wurde Häresie in der Bedeutung von Irrlehre. Die Schärfe des christlichen Häresiebegriffs hängt daher wesentlich mit einer normativen Vorstellung von Offenbarung und Wahrheit zusammen, die zunehmend in bis in den Wortlaut hinein fixierte Dogmen gefasst wur1 Ein aufgrund seiner kritischen Methodologie wegweisender Artikel dazu ist Brox 1986.
Sein Ansatz ist in der Fachforschung allerdings nach wie vor unzulänglich rezipiert, wie etwa die Arbeit von Jeanjean 1999 zeigt, die über ein unkritisches Nachsprechen der altkirchlichen Wertungen nicht hinauskommt; siehe dazu meine Rezension im Jahrbuch für Antike und Christentum, Bd. 46, 2003, 180–182. Auch allgemeine Darstellungen der Geschichte der Alten Kirche verwenden die Kategorie der Häresie zuweilen ohne jedes Problembewusstsein, etwa Hausammann 2001, 55–167. Auch das zweibändige Übersichtswerk von Le Boulluec 1985 behandelt den Häresiebegriff zu sehr als Bezeichnung von Faktizität, obwohl es seine Entstehung im 2. und 3. Jahrhundert untersucht.
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Einführung
de. Allerdings hatte Häresie nicht nur mit dem Streit um die Wahrheit in Form von Lehre und Dogma zu tun. Bei der Entstehung und Entwicklung von christlichen Gruppierungen, die als Häresien bezeichnet wurden, spielten vielmehr auch politische, soziale und wirtschaftliche Motive, regionale Traditionen und unterschiedliche religiöse Mentalitäten eine Rolle.2 Der Begriff ‚Häresie‘ wurde im Kontext des hoch komplexen Identitätsfindungsprozesses des antiken Christentums zu einer Negativkategorie. Ein solcher Prozess kann generell als Nährboden für die Entstehung von Feindbildern gelten. Im frühen Christentum weist diese Entwicklung die Besonderheit auf, dass die Abgrenzung, die zur christlichen Vorstellung von Häresie und Häretikern führte, nicht nach außen gerichtet war – von Nichtchristen, den ‚Heiden‘ (ein weiterer problematischer Begriff), grenzte man sich zwar auch ab, aber diese galten nicht als Häretiker –, sondern ein Moment der Binnendifferenzierung des Christentums darstellte. Die damit verbundenen heftigen und lange andauernden innerchristlichen Kontroversen haben zur scharfen Profilierung des christlichen Häresiebegriffs beigetragen. Im Zuge der Profilierung christlicher Identität entwickelte sich in der Linie, die sich dabei im Wesentlichen durchsetzte, ein entsprechendes Geschichtsbild. Da „Identität als Konformität“ verstanden wurde (Brox 1986: 294), tat man sich schwer – wenn man denn dazu überhaupt noch in der Lage war3 –, Einheit mit Vielfalt zu vermitteln. Im frühchristlichen Geschichtsbild führte dies zu der Vorstellung, dass am Anfang der christlichen Geschichte Einheit und Rechtgläubigkeit standen. Darin steckte zwar ein starker Impuls für spätere Generationen, immer wieder nach der Einheit der verschiedenen sich herausbildenden kirchlichen Traditionen zu suchen, was meist allerdings erfolglos blieb. Es hatte aber auch zur Folge, dass der Vielfalt im Blick auf die Wahrheitsfrage kein produktiver Wert mehr zugesprochen werden konnte. Alle Vielfalt galt als Abweichung und Abfall von der Einheit und damit von der Wahrheit und war somit eo ipso negativ konnotiert. Der Begriff der Häresie, der antik an Pluralität geknüpft war, konnte damit nicht mehr neutral verstanden werden, sondern wurde negativ gefasst. Häresie ist in diesem Denkschema posteriore Abweichung von der Einheit und Wahrheit der christlichen Lehre des Anfangs. Kombiniert man dieses Geschichtsbild mit der gemeinantiken Überzeugung, dass Wahrheit eine Sache von hohem Alter sei, kann der Häresie kein Wert im Blick 2 Darauf verweist zu Recht Brox 1986: 270, der das Thema ansonsten zu eng allein im Blick
auf den Aspekt von Lehre und Dogma behandelt (vgl. Brox 1986: 255; 259f. u.ö.).
3 Eine „markante Ausnahme“ (Brox 1986: 267) war im 3. Jahrhundert der dialogorientierte
Theologe Origenes, der Meinungsverschiedenheiten einen produktiven Wert für die Suche nach der Wahrheit zusprach (Contra Celsum III 11f.; vgl. Le Boulluec 1985, 443–448; Brox 1986: 262; 267f.). Eben für diese Offenheit wurde er, der zu Lebzeiten als Champion der Orthodoxie galt, postum seinerseits verketzert.
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Alfons Fürst
auf Wahrheit zugesprochen werden. Sie ist gleichsam immer zu spät dran, weil sie von der postulierten Einheit des Anfangs abweicht (vgl. Elze 1974). „Nach dieser Regel wird im Nachhinein alle Kirchengeschichte erzählt und die Häresie disqualifiziert. Diese altkirchliche Vorstellung, wonach es anfangs nur die Orthodoxie gab und die Häresie sich nachträglich als deren Verfälschung einnistete, hat mit ihrer einfachen Anordnung der Ereignisse eingeleuchtet und bis in die moderne Kirchengeschichtsschreibung nachgewirkt“ (Brox 1986: 262; vgl. auch 287–290). Dieses Geschichtsbild führte dazu, dass alles, was, aus welchen Gründen auch immer, als Abweichung von der eigenen Identität empfunden wurde, als unwahr qualifiziert wurde, ja sogar, da die Wahrheit auf göttliche Offenbarung zurückgehe, als widergöttlich. Mit dieser Relation von Wahrheit und Geschichte verbinden sich einige Qualifizierungen des Häretikers, die sich in ihrer Summe zu einem Feindbild fügen. Von einem solchen kann man in diesem Fall nicht zuletzt deshalb sprechen, weil diese Qualifizierungen stereotyp wiederkehren und in der altkirchlichen Literatur äußerst weit verbreitet sind (vgl. Brox 1986: 283–287). Zu diesen aus dem skizzierten Geschichtsbild abgeleiteten Stereotypen gehört, dass Häretiker keinen Anschluss an seriöse Traditionen vorzuweisen hätten, sondern sich autonom gebärdende Intellektuelle seien, die sich gegen die wissbare Wahrheit auflehnten, ihrer Neugier und ihrem Wissensdrang zu stark nachgäben und ihren intellektuellen Fähigkeiten zu viel zutrauten (vgl. Brox 1986: 264). Dieser Vorwurf der Überschätzung menschlicher Möglichkeiten paart sich mit der uralten Idee vom Gottesfeind, da die Häretiker gegen Gottes Wahrheit kämpften. Christlich gängig wurde dieser Topos des Ungehorsams gegen Gott in der Variante, die Häretiker seien Knechte des Antichrist (vgl. Brox 1986: 265; 269). Zu dieser intellektuellen Disqualifizierung kommt eine moralische: Häretikern wird regelmäßig moralische Verdorbenheit unterstellt. Das drückt sich vor allem in Polemiken aus, in denen Häretiker mit einer Krankheit (Pest, Seuche) verglichen werden oder auch mit Tieren (Schlange, Ungeziefer, Fuchs, Wolf im Schafspelz, Bestie) (vgl. Brox 1986: 283). Die Dehumanisierung der mit solchen Stereotypen belegten Personen trägt wesentlich zur Formung des Feindbildes ‚Ketzer‘ bei. Diese Typisierung und Schematisierung bot einen enormen Vorteil: „Man konnte einmal Erkanntes auf alle Häresien anwenden, die Details hin und her übertragen, Einzelheiten austauschen, kurz: jede Sorgfalt in Polemik und Widerlegung aufgeben, Vorurteile generalisieren, insgesamt simplifizieren“ (Brox 1986: 285). Mit dem Stereotyp des Ketzers wurde im antiken Christentum eine Kategorie geschaffen, die sich als höchst brauchbare Waffe im Kampf gegen abweichende Meinungen einsetzen ließ. Während der Begriff vorgibt, eine 14
Einführung
objektive Realität zu bezeichnen, ist er in Wirklichkeit ein von wechselnden Interessen bestimmter parteiischer Kampfbegriff zur Marginalisierung und Diskriminierung eines Gegners, der sich gerade mit seinen Stereotypen auf völlig unterschiedliche Phänomene und Personen anwenden und damit vielfältig einsetzen lässt. Am deutlichsten zeigt sich dies daran, dass der Häresievorwurf im theologischen Disput zu den von allen Beteiligten eingesetzten Argumentationsstrategien gehörte und streitende Parteien sich gerne gegenseitig als Ketzer denunzierten. In seltenen Fällen lassen kirchliche Autoren ein Bewusstsein von der Parteilichkeit dieser Begrifflichkeit erkennen, so wenn der katholische Presbyter Salvian von Marseille im 5. Jahrhundert über die arianischen Germanen schreibt: „Was also jene für uns sind, sind wir für jene“, nämlich Häretiker (De gubernatione dei V 8f., zit. nach Brox 1986: 291). Ketzer gibt es nicht – Ketzer werden gemacht.
‚Von Ketzern und Terroristen‘ Die antike christliche Vorstellung vom Ketzer steht paradigmatisch für die Konstruktion und Funktion dessen, was ein Feindbild genannt werden kann. Was lange vergangenen Zeiten der christliche Ketzer war,4 ist uns heute in der modernen westlichen Welt vielleicht der islamistische Terrorist. Die hinter solchen Konstruktionen wirksamen Mechanismen der Komplexitätsreduktion bis hin zur klischeehaften Simplifizierung und der Stereotypisierung bis hin zur Verzerrung, sogar Entmenschlichung des Gegenübers decken sich weitgehend. Solche Mechanismen sind nicht nur in religiösen Zusammenhängen wirksam, wo sie sich aufgrund der Verknüpfung mit der Wahrheitsfrage noch verschärfen können, sondern auch in unterschiedlichen sozialen und politischen Konflikten, in denen Religionen ihrerseits eine Rolle spielen können und es in vielen Fällen auch tun. Die Analysen spezifischer Feindbilder in bestimmten Kontexten, die im vorliegenden Band durchgeführt werden, tragen dazu bei, ein Feindbild genauer von Fremdbildern und Vorurteilen abzugrenzen. Ferner wird in allen Beispielen deutlich, dass Feindbilder bei der Konstruktion kollektiver Identitäten entstehen und dass für die Entstehung eines Feindbildes divergierende Interessen rivalisierender Kollektive eine Rolle spielen. Letzteres ist oft in akuten Konfliktsituationen der Fall, aber nicht zwingend erforderlich. Und schließlich zeigt sich, dass Feindbilder offenbar als Orientierungshilfe dienen, indem sie einfache Erklärungen für komplizierte, kaum 4 Brox 1986, 292 zum antiken Christentum: „Häretiker oder Apostat ist das furchtbare
Feindbild …“
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Alfons Fürst
durchschaubare Zusammenhänge anbieten. Vielleicht erklärt nicht zuletzt dies ihre Verbreitung und Haltbarkeit sowie ihre vielfältige Instrumentalisierbarkeit für anderweitige Zwecke, insbesondere für politische Propaganda und für die Legitimierung von Gewaltanwendung. Dies und vieles Weitere ist im Einzelnen in den hier versammelten Fallstudien sowie in ihrer Gesamtschau am Schluss des Buches nachzulesen.
Literaturverzeichnis 1995: Häresie – eine legitime theologische Kategorie?, in: Hilpert, Konrad/Werbick, Jürgen (Hg.): Mit den Anderen leben. Wege zur Toleranz, Düsseldorf, 118–131. Berger, Peter L. 1992: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Freiburg i.Br. Brox, Norbert 1986: Häresie, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 13, 248–297. Elze, Martin 1974: Häresie und Einheit der Kirche im 2. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 71, 389–409. Ernst, Werner/ErbstöSSer, Martin 1986: Ketzer und Heilige. Das religiöse Leben im Hochmittelalter, Wien u.a. Hausammann, Susanne 2001: Alte Kirche. Zur Geschichte und Theologie in den ersten vier Jahrhunderten. Bd. 1: Frühchristliche Schriftsteller. „Apostolische Väter“. Häresien. Apologeten, Neukirchen-Vluyn. Heim, Manfred 2001 (Hg.): Theologen, Ketzer, Heilige. Kleines Personenlexikon zur Kirchengeschichte, München. Jeanjean, Benoît 1999: Saint Jérôme et l’hérésie, Collection des Études Augustiniennes. Série Antiquité 161, Paris. Lambert, Malcolm 2001: Häresie im Mittelalter. Von den Katharern bis zu den Hussiten, Darmstadt. Le Boulluec, Alain 1985: La notion d’hérésie dans la littérature grecque IIe–IIIe siècles, 2 Bde., Études Augustiniennes, Paris. Oberste, Jörg 22011: Ketzerei und Inquisition im Mittelalter, Darmstadt. Simon, Marcel 1979: From Greek Hairesis to Christian Heresy, in: Schoedel, William R./Wilken, Robert L. (Hg.): Early Christian Literature and the Classical Intellectual Tradition. In honorem Robert M. Grant, Théologie Historique 53, Paris, 101–116. Arens, Edmund
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Falsche Heilige Feindbilder des ‚Ketzers‘ in religiösen Debatten der lateinischen Kirche des Hoch- und Spätmittelalters Sita Steckel
Worum es bei mittelalterlicher ‚Ketzerei‘ oder Häresie im Detail ging, kann man sich heute außerhalb des historischen oder theologischen Fachdiskurses wohl kaum noch genauer vorstellen. Dass der Begriff mit angstbesetzten Werturteilen über Gegner und mit Legitimation von Gewalt gegen sie verknüpft ist, dürfte jedoch auch Geschichts-Laien deutlich sein – dies ist wohl der einzige Aspekt mittelalterlicher Häresie, der sich bis heute im Allgemeinwissen gehalten hat. Nicht zuletzt ruft der Begriff der ‚Ketzerei‘ die grausame und breitenwirksame Verfolgung von Häretikern im Mittelalter vor Augen. Man denkt an die Scheiterhaufen, auf denen Abweichler verbrannt wurden, vielleicht auch an die zahlreichen Bücherverbrennungen. Schon Schulkinder dürften lernen, dass viele der sogenannten Häretiker oder ‚Ketzer‘ mittels der Folter von der Sondergerichtsbarkeit der Inquisition zum Geständnis bizarrer Lehren gezwungen wurden. Ein stereotypes Bild vom bösen Großinquisitor, der fanatisch angeblich vom Teufel besessene Häretiker jagt, scheint mittlerweile sogar Teil der Popkultur zu sein. Es dürfte auch den Hintergrund für die Darstellung mittelalterlicher Inquisitoren in Film und Literatur bilden, etwa in Umberto Ecos Bestseller Der Name der Rose und dem gleichnamigen Film. Man gewinnt allerdings den Eindruck, dass die populäre Imagination für Bilder böser Ketzer- und Hexenjäger nicht nur auf die mittelalterliche, sondern vielmehr auch auf die Spanische Inquisition der Frühen Neuzeit rekurriert. Wer alt genug ist, Ecos Mittelalterroman zu kennen, dürfte auch den absurden Sketch der englischen Komikertruppe Monty Python vor Augen haben, in dem überraschend die Spanische Inquisition im England der 1970er Jahre auftaucht. Sie bedroht die befremdeten Zeitgenossen aber nicht etwa mit Folterwerkzeugen, sondern mit betont harmlosen Gegenständen wie weichen Polstern und Ohrensesseln (vgl. Monty Python’s Flying Circus 2008). Dieser Sketch basiert auf dem Prinzip der Inversion – er funktioniert, weil der Zuschauer weiß, dass die Inquisition eigentlich alles andere als harmlos war und ihren Opfern eben nicht mit soft cushions zu Leibe rückte. 17
Sita Steckel
Es ist im Populärwissen wohl weniger präsent, dass solche Wahrnehmungen bösartiger Inquisitoren – wiewohl nicht unberechtigt – ihrerseits auf Feindbildern der Reformation und des Konfessionellen Zeitalters fußen. Vertreter der jungen Reformbewegung der Protestanten tadelten etwa die Exzesse der Kirche ihrer Zeit oder karikierten sie – wie im Falle der Spanischen Inquisition – polemisch als selbst vom Teufel besessen. Das zeigt, dass man über das Thema religiöser Differenz kaum sprechen kann, ohne sich bewusst oder unbewusst in jahrhundertealte Traditionen einzuschreiben, in denen in unterschiedlich gelagerten Konflikten ähnliche Stereotypen von ‚teuflischen Feinden‘ immer wieder aufgegriffen und adaptiert wurden. Ähnliche Verläufe der Formierung, Verdichtung und Abwandlung von Feindbildern sollen im Folgenden genauer untersucht werden. Wie zu diskutieren sein wird, kannte das Mittelalter durchaus ganz unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und Darstellung von sogenannten Häretikern, also religiösen Abweichlern. Einigen mittelalterlichen Vorstellungen zufolge waren sie harmlos. Andere Stimmen hielten sie aber nicht nur für Vertreter von Minderheitsmeinungen, sondern für geradezu dämonische Erscheinungen: Sie brachen wie Heuschrecken in stets neuen Wellen als Plage über die Christenheit herein. Unheimlich an ihnen war nicht nur, dass sie aus dem Verborgenen wirkten und nachts geheime Treffen veranstalteten, in denen sie abweichlerische religiöse Lehren diskutierten. Sie waren angeblich sogar Anhänger des Bösen, die Dämonenanbetungen und gar Orgien abhielten, um so übernatürliche Kräfte zu erlangen. In der Öffentlichkeit verhielten sie sich aber fromm und tugendhaft, ja zeigten teils geradezu übermenschliche Askese und Weltabgewandtheit. Als ‚falsche Heilige‘ entsprachen sie zunächst dem Bild, das man von idealen Christen hatte. Heute würden wir ihre Abweichung völlig anders wahrnehmen und das gerade beschriebene Wahrnehmungsmuster als sozial konstruiertes Feindbild sehen. Unter einem Feindbild wäre dabei ein Bündel von negativen Stereotypen zu verstehen, durch das eine Gruppe ausgegrenzt wird. Dies geschieht häufig zu Zwecken der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung, oder auch zur Schuldzuweisung und politischen Mobilisierung. Dabei wird das Feindbild aufgrund eines Merkmals konstruiert, wobei der Gruppe willkürlich auch andere Negativeigenschaften zugeschrieben werden können (vgl. Benz 1996). Die Wahrnehmung von ‚Ketzern‘ im Mittelalter scheint wesentlich von solchen Feindbildern geprägt gewesen zu sein. Sie bietet sich deswegen für eine Fallstudie über die Genese und Rezeption von Feindbildern an. Eine politische Dimension war mit Häresien als Abweichungen von der Orthodoxie einer kirchlichen Norm stets verknüpft: Das gesamte Phäno18
Falsche Heilige
men machte sich an inneren Konflikten der christlichen Kirchen fest. Der Vorwurf, unzulässige Neuerungen einzuführen, dabei aber böse Absichten zu verfolgen oder dämonischen Kräften zum Opfer zu fallen, wurde meist in Konflikten ins Spiel gebracht. Religiöse und politische Dimensionen von Häresie waren unter solchen Umständen meist eng miteinander verknüpft: Konflikte konnten etwa aus genuinem Streit über korrektes christliches Leben und Lehren entstehen und zu politischen Polarisierungen führen. Andersherum konnten Häresievorwürfe auch als Argument in bereits bestehenden Streitigkeiten auftreten und somit politisch motiviert sein. Auf einer sehr allgemeinen Ebene kann man argumentieren, dass sich im Verlauf des Mittelalters ein Bündel an negativen Wahrnehmungen zu einem weit verbreiteten Bild von Häretikern konkretisierte. Die simple Entstehung eines Feindbilds zu postulieren, zumal eines Feindbilds des ‚Ketzers‘, ist methodisch aber außerordentlich problematisch. Der für die historische Erforschung mittelalterlicher religiöser Bewegungen wichtige Historiker Herbert Grundmann stellte etwa schon im frühen 20. Jahrhundert fest, dass Häretiker meist ähnlich wahrgenommen wurden. Er sprach von einem ‚Typus‘ (vgl. Grundmann 1976a (1927)). Als Problem für die Arbeit des Historikers stellte er aber heraus, dass mittelalterliche klerikale Autoren offenbar schon sehr früh eine typisierend verzerrte Wahrnehmung von religiösen Abweichlern ausbildeten. Einige zunehmend verdichtete Stereotype wurden dann immer wieder auf verschiedene Gruppen angewendet, so dass wir heute nur unter größten Schwierigkeiten unterscheiden können, was Selbstbeschreibung der sogenannten Häretiker und was Fremdzuschreibung ihrer klerikalen Gegner ist. Stimmen der häretischen Gruppen, die diese stereotypen Darstellungen aufbrechen könnten, sind zudem wegen der Verfolgungssituation nur in Ausnahmefällen dokumentiert. Wo sie erhalten sind, etwa in Inquisitionsprotokollen, sind sie meist durch die Situation der Anklage und Verfolgung stark verzerrt (vgl. Grundmann 1976b (1965)). Eine plausible Annahme wäre nun zunächst, die Entstehung richtiggehender Feindbilder von Häretikern entweder auf die Jahrtausendwende oder auf das 12. Jahrhundert zu datieren. Für die Dekaden um das Jahr 1000, in denen wir seit der Antike im Westen zum ersten Mal wieder Berichte über häretische Gruppen hören, ist verschiedentlich eine religiös aufgeladene Endzeiterwartung postuliert worden, die stereotypen Wahrnehmungen zuträglich war. Erst im zwölften Jahrhundert kommen jedoch gleichzeitig größere häretische Bewegungen und eine Verschärfung der Verfolgungsbestimmungen gegen sie auf (vgl. Oberste 2007). Der britische Historiker Robert I. Moore hat für diese Zeit pointiert von der „formation of a persecuting society“ gesprochen, also der Entstehung einer „Verfolgungsgesellschaft“ (Moore 22007: passim). 19
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Doch schon Grundmann argumentierte implizit, dass der Typus des Häretikers nicht unveränderlich war, sondern ständig neu definiert und transformiert wurde. In den letzten Jahren haben Untersuchungen zur Wahrnehmung religiös Anderer im mittelalterlichen Christentum deutlich gezeigt, dass auch die Formierung einer Verfolgungsgesellschaft ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts keineswegs so einheitlich und geschlossen vor sich ging wie ursprünglich angenommen. Wie David Nirenberg gezeigt hat, griffen die Autoren mittelalterlicher Darstellungen von Juden und Muslimen etwa immer wieder auf ähnliche religiöse Deutungen und soziale Stereotypen zurück, verknüpften diese aber jeweils mit ganz unterschiedlichen politischen Anliegen und Konfliktlagen. Sie produzierten so unterschiedliche Wahrnehmungen, unter denen auch zugespitzte Feindbilder waren (vgl. Nirenberg 1996; Blanks/Frassetto 1999; Moore 22007: 172–196). Solche verschiedenen Wahrnehmungen führten teils zur Legitimation von Gewalt, teils zu distanziertem Verhalten, teils zur Delegitimation von Gewalt. Angesichts dieser Sachlage dürfte klar sein, dass auf den folgenden Seiten nicht etwa die mittelalterliche Wahrnehmung aller ‚Ketzer‘ historisch verfolgt werden kann. Es wird vielmehr nur eine Spielart eines ‚Feindbilds Häretiker‘ ins Auge zu fassen sein, nämlich eine stereotype Vorstellung von ‚falschen Heiligen‘, die in Wirklichkeit teuflische Absichten verfolgen. Die komplexen Prozesse der Verdichtung und Rezeption von Feindbildern sollen also ausdrücklich nur an einem Beispiel nachvollzogen werden, das zudem nur skizziert werden kann (vgl. demnächst ausführlicher Sackville 2011). An der Verdichtung und anschließenden Transformation einer abgrenzbaren Variante der Wahrnehmung von Häretikern soll im Folgenden einerseits diskutiert werden, inwiefern diese Wahrnehmung von ‚Ketzern‘ negativ und stereotypisierend war. Dazu wäre zunächst grob zu erklären, was unter Häresie selbst zu verstehen ist und welche Formen von Konflikten im Verlauf des Mittelalters Vorstellungen dieses Phänomens prägten. Um die Bandbreite unterschiedlicher Stereotype aufzuzeigen, sollen Beispiele aus dem sehr vielfältigen Diskurs über Häresie ab ungefähr 1000 bis 1150 und deren mögliche Hintergründe diskutiert werden. Schließlich soll die lokal und zeitlich gebundene Verdichtung eines mehrere Stereotypen vereinenden Feindbilds der ‚falschen Heiligen‘ verfolgt werden, um abschließend kurz dessen spätere Transformationen anzudeuten.
Häresiebewegungen des Mittelalters und ihre Wahrnehmung Zur Erklärung des Begriffs der ‚Ketzerei‘ oder ‚Häresie‘ einfach einen kurzen Überblick über ‚Ketzer‘ des Mittelalters zu geben, erscheint verlockend, 20
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führt aber zu konzeptuellen und methodischen Schwierigkeiten. Der Begriff bezeichnet kein natürlich auftretendes Phänomen wie etwa eine bestimmte Blumen- oder Baumsorte, sondern eine kulturelle Kategorie. Vor allem sind die Gegenbegriffe Häresie und Orthodoxie (‚Rechtgläubigkeit‘) relationale Begriffe – sie grenzen Wahrheit und Irrtum, ingroup und outgroup voneinander ab. Wer oder was als häretisch erscheint, hängt immer davon ab, was als rechtgläubig verstanden wird. Da sich die Glaubensvorstellungen der westlich-lateinischen Kirche im Verlauf des Mittelalters stark veränderten, ist zudem auch das Phänomen der Ketzerei in konstanter Veränderung begriffen. Wie in der Forschung mehrfach bemerkt worden ist, müsste eine Geschichte der Ketzerei letztlich eine Geschichte der Selbstdefinition der gesamten Kirche sein (vgl. Oberste 2007: IX). Eine solche Geschichte gibt es bis heute nicht, und sie kann auch hier nicht geboten werden. Doch die meisten Typen von häretischen Bewegungen lassen sich zumindest grob mit historischen Konflikten innerhalb der Kirche verknüpfen. Ausgrenzung und Verfolgung von Splittergruppen und Abweichlern, die man als Häretiker bezeichnete, gab es innerhalb des Christentums schon seit der Spätantike. In einer formativen Phase bis etwa ins 4. Jahrhundert entwickelte sich das Christentum von einer kleinen Bewegung zur Staatsreligion. Doch dieser Prozess war keineswegs geradlinig oder einheitlich. In Auseinandersetzungen zwischen Christen, Juden und römischgriechischen Religionen sowie zwischen einzelnen christlichen Gruppen entstand daher eine umfangreiche polemische Literatur gegen verschiedene Abweichler. Die ursprüngliche Bedeutung des Terminus haeresis (altgr.: Meinung, Auswahl) reflektiert diese historische Situation eines früh in verschiedene Gruppen gespaltenen, unterschiedliche Meinungen vertretenden Christentums (vgl. Schindler 1985: 318f.). Begriff und Konzept der Häresie verschwanden dann bis zum Ende des Mittelalters weder aus dem Horizont der Kirche des lateinischen Westens noch des byzantinischen Ostens (vgl. Oberste 2007; Schindler 1985; Beck 1993). Auf die Texte der frühen, in sich bereits sehr differenzierten Auseinandersetzungen wurde später immer wieder zurückgegriffen, und die Unterscheidung zwischen Rechtgläubigen und Abweichlern erwies sich als zentral für die Konsolidierung und Selbstwahrnehmung der frühen christlichen Gruppen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive erscheinen deren Entwicklungen als kontingenter historischer Prozess. Es gab Konflikte um die richtige Lehre und Lebensform, und zur Wahrung der Einheit mussten in solchen Konflikten eben Entscheidungen zugunsten einer von mehreren Alternativen getroffen werden. Abweichende Meinungen wurden so zu Häresien. Für die Zeitgenossen erschien dieser Prozess aber völlig anders: Es ging um nicht weniger als das Verständnis religiöser Wahrheit – also ei21
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ner Wahrheit, über die eine göttliche Offenbarung jenseits der menschlichen Entscheidungsfreiheit Auskunft gab. Wenn sich die Gläubigen in schwierigen Fällen nicht einigen konnten, wie die Offenbarung zu verstehen sei, tat sich somit eine hochgradig sakralisierte Dichotomie von göttlicher Wahrheit und menschlichem (oder sogar teuflischem) Irrtum auf. Über Gott konnte man nicht einfach abstimmen (vgl. McMullen 2006), und Meinungsverschiedenheiten wurden buchstäblich zu Wahrheitskonflikten, die man nicht durch Interessenausgleich lösen konnte. Überwinden ließen sich solche Konflikte nur, indem man darauf vertraute, dass Gott der Kirche letztlich immer den richtigen Weg offenbaren werde. Um auf großen Kirchenversammlungen (lat.: concilium; altgr.: sýnodos) über strittige Fragen entscheiden zu können, flehte man daher in feierlichen Gebeten eigens den Heiligen Geist an, die richtigen Entscheidungen zu ermöglichen. Die sakral aufgeladene Unterscheidung orthodoxer und häretischer Lehre, die so ermöglicht wurde, war dann eine genauso politisch-soziale wie religiöse Angelegenheit: Sie bewirkte einerseits eine Bekräftigung der religiösen Überzeugung der ‚rechtgläubigen‘ Gemeinschaft, andererseits eine politische und soziale Ausgrenzung der Häretiker als Abweichler vom rechten, von Gott gewollten Weg. Die Abgrenzung von ingroup und outgroup, eines der klassischen Kennzeichen moderner Feindbilder (vgl. Benz 1996: 9–14), erscheint somit als wichtige Funktion des Konzepts der Häresie für kirchlich organisierte Christen. Die Entscheidung über Häresie und Orthodoxie eines Kirchenmitglieds bezog sich aber zunächst lediglich auf die Stellung in der Kirche und die Zugehörigkeit zu ihr. Soziale Ausgrenzung und vor allem obrigkeitlich-politische Gewaltanwendung folgten nur, insoweit es die jeweiligen sozialen Normen oder die weltlichen politischen Ordnungen vorsahen. Diese Dimensionen des sozialen und politischen Umgangs mit religiöser Abweichung waren im Mittelalter sehr wandelbar, und die Ausgrenzungspotentiale der Unterscheidung von Häresie und Orthodoxie wurden erst allmählich deutlicher. In einer der wirkmächtigsten Bibelstellen zum Thema Häresie hatte Paulus noch eher gelassen bemerken können, dass es eben auch „Parteiungen“ (haereses) geben müsse und dass sie gewissermaßen eine Gelegenheit darstellten, umso genauer zu erkennen, wer rechtgläubig war: „[D]enn es müssen ja auch Parteiungen sein, damit die Bewährten offenbar werden unter euch!“1 heißt es in seinem ersten Korintherbrief (1 Kor 11,19; vgl. auch Grundmann 1976c (1963)). 1 Nach der Biblia Sacra Vulgata: „[O]portet et haereses esse, ut qui probati sunt manifesti
fiant in vobis.“ Hier wie im Folgenden alle Quellenübersetzungen von S. S. Die Bibelzitate in Anlehnung an die Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, jedoch teils mit im Text kommentierten Veränderungen.
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Im Mittelalter wurde diese Formulierung zu unterschiedlichen Meinungen jedoch unterschiedlich ausgelegt. Man nahm allmählich an, dass der Paulusbrief als Voraussage zu verstehen sei, und dass ‚Häresien‘ (vgl. den Unterschied zu ‚Parteiungen‘!) ein in der Geschichte immer wiederkehrendes, von Gott zum Zweck der Prüfung der Gläubigen zugelassenes Übel waren. Von dieser Vorstellung aus war es nur ein kleiner Schritt zu der Überzeugung, dass verschiedenste Abweichler Vertreter einer übergeordneten, letztlich einheitlichen Gruppe dieser Häretiker waren. Sobald man aber Häresie derart als einheitliches und überzeitliches, göttlich vorgesehenes Phänomen verstehen konnte, fielen Bezeichnung und Erklärung in eins. Die Anliegen häretischer Individuen bedurften dann genau wie die Hintergründe ihres Auftretens keiner weiteren Klärungen: Sie waren eben Häretiker, und man konnte Wissen über sie auch aus Büchern gewinnen, die von anderen Häretikern handelten. Mit solchen Verdichtungen verschiedener Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu einem übergeordneten Typus des Häretikers (vgl. schon Grundmann 1976a (1927)) war auch der Weg zu ihrer Verfolgung geebnet. Unter verschiedenen Vorzeichen und Bedingungen griff man im Verlauf des Mittelalters auf einige alttestamentliche Überlegungen zurück, nach denen die weltliche Obrigkeit vor Gott für die religiöse Reinhaltung der Gruppe ihrer Untergebenen verantwortlich war. Bei Versagen hatte die gesamte Gemeinschaft den Zorn Gottes zu gewärtigen. Das machte Abweichler zum Politikum: Man sah sie als Verunreiniger der Gemeinschaft, die göttliche Strafen und Verfolgungen auf ihre gesamte Umgebung lenkten, etwa ein Königreich oder eine mittelalterliche Stadtgemeinschaft. Eine solche Schuldzuweisung ließ sich eng mit der Abgrenzung religiös aufgeladener Identität verknüpfen und entspricht in der Funktion einem Feindbild (vgl. Benz 1996: 14–16). Innerhalb der sehr differenzierten Rechtswelt des Mittelalters entstanden auf dieser Basis verschiedene Vorschriften zum Umgang mit Häresie. Die Kirche selbst verhängte zunächst Bußen sowie Geld- und Schandstrafen für reuige Schäflein. Nur bei hartnäckigem Festhalten an einer unorthodoxen Meinung, ab dem 12./13. Jahrhundert aber auch nach bloßem gerichtlichem Nachweis häretischer Aktivität, wurde als härteste Sanktion die Ausschließung aus der Gemeinschaft der Gläubigen verhängt. Da weltliche Instanzen vom Kaiser bis zu Stadtregierungen ab dem Hochmittelalter die Verbrennung als Strafe für Häresie vorsahen, bedeutete das allerdings die Todesstrafe. Die Verbrennung der Häretiker diente dazu, sie sozusagen aus der Welt zu tilgen und die Gemeinschaft so symbolisch zu reinigen (vgl. Moore 22007; Lansing 1998). 23
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Da die Aufrechterhaltung der Orthodoxie nach Ansicht der meisten Zeitgenossen nötig war, ließ sich gewaltsames Vorgehen gegen Ketzer dann auch zur politischen Selbstinszenierung verwenden: Nicht nur Päpste und Bischöfe, sondern auch weltliche Herrscher des Mittelalters wollten ihrer Aufgabe als ‚Hüter der Orthodoxie‘ möglichst vollständig gerecht werden. Die römisch-deutschen Kaiser Friedrich I. Barbarossa (gest. 1190) und sein Enkel Friedrich II. (gest. 1250) verfügten etwa drakonische Erlasse zur Ketzerverfolgung. Teils sind ihre gesetzgeberischen Aktivitäten vor dem Hintergrund politischer Konkurrenz mit dem Papsttum zu verstehen, das die Rolle des ‚Hüters der Orthodoxie‘ ebenfalls für sich beanspruchte. Ähnlich stellten sich die italienischen Stadtrepubliken des Hoch- und Spätmittelalters als orthodoxe Obrigkeiten dar und profilierten sich dabei ihrerseits gegenüber den Kaisern und Päpsten mit eigenen Ketzerverfügungen (vgl. Scharff 1996; Ragg 2006). Teils wollten Herrscher oder Städte durch strenges Vorgehen gegen Ketzer aber auch ihre Unterstützung des Papsttums herausstellen. Im Verlauf des Mittelalters wurden dann ganz unterschiedliche Gruppen als Häretiker attackiert. Vielfach wurde der Vorwurf des häretischen Abweichens vom rechten Glauben schlicht mit politischen Gegnerschaften oder intellektuellen Gruppenbildungen verknüpft. Der Gelehrte Berengar von Tours (gest. 1088) fand sich etwa ab 1049 wegen seiner Eucharistielehre angeklagt. Das lag einerseits an seiner ungewöhnlichen Anwendung dialektischer Methoden in der Erklärung von Lehrfragen, andererseits aber auch an einer politischen Konkurrenzsituation: Als Mitglied des Hofes des militärisch aggressiven Grafen Gottfried Martel von Anjou (gest. 1060) hatte er sich dessen Gegner als Feinde eingehandelt (vgl. Steckel 2011: 889f.). Bis heute diskutiert wird der Hintergrund der Verfolgung und Vernichtung des Ritterordens der Templer. Ihnen machte der französische König Philipp IV. (gest. 1314) mithilfe des Häresievorwurfs mehrere finanziell äußerst einträgliche Prozesse, was 1312 schließlich zur Aufhebung des Ordens durch Papst Clemens V. (gest. 1314) führte. Inwiefern eine ausschließlich instrumentell-politische Motivation oder doch religiöse Überzeugungen in dem Prozess eine Rolle spielten, ist schwierig zu beweisen (vgl. Barber 1978; Courtenay/Ubl 2010). Beim Hauptteil der offiziell ausgegrenzten Häretiker des Mittelalters handelte es sich jedoch um Anführer und Anhänger religiöser Reformbewegungen, die von den Normvorgaben des zunehmend disziplinarisch eingestellten römischen Papsttums abwichen. Nach den Auseinandersetzungen der Spätantike kam es im westlichen Europa erst ab ca. 1000 wieder zu Prozessen und gewaltsamen Aktionen gegen solche Abweichler, zunächst eher gegen Einzelpersonen, bald aber auch gegen Gruppen. Die dahinter stehenden religiösen Reformbewegungen waren ganz unterschiedlicher 24
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Natur, erzeugten jedoch fortgesetzt Konflikte, in denen offenbar eine zunehmende Stereotypisierung der Wahrnehmung von Häretikern auftrat. Ab dem 12. Jahrhundert traten Bußbewegungen wie die Waldenser auf, die sich nicht in die Kirche eingliederten und daraufhin rechtlich ausgegrenzt und verfolgt wurden. Das leistete letztlich der weiteren Konsolidierung einer solchen religiösen Bewegung zu einer kohärenten Sekte im Untergrund Vorschub (vgl. Grundmann 31970 (1935): 91–126). Ähnlich verhielt es sich mit den seit dem 12. Jahrhundert auftretenden, streng asketischen Katharern. Sie wurden in der Forschung meist als dualistische Sekte angesehen, die sich auf religiöse Strömungen Südosteuropas, vor allem den bulgarischen Bogomilismus, zurückführen lässt. Mittlerweile werden sie als sehr vielgestaltige, auch eigenständige Reformimpulse verfolgende Bewegung angesehen (vgl. zuletzt Jiménez-Sanchez 2008). Im Spätmittelalter formierten sich dann größere häretisierte Bewegungen, deren Anliegen auf eine Reform des Klerus zielten. Solche Gruppen, wie die Anhänger John Wyclifs im England des 14. und frühen 15. Jahrhunderts sowie die des 1415 verbrannten Jan Hus in Böhmen, erscheinen als eine Art Vorläufer der Reformation nach 1500 (vgl. Lambert 32002; Hudson 1988). In der Reformationszeit selbst wurden die im Mittelalter entwickelten typischen Anliegen und Ausdrucksformen religiöser Devianz dann teils mit den Anliegen der protestantischen Reformer verknüpft. Teils wurden sie aber auch von wiederum häretisierten Splittergruppen aufgegriffen, etwa den Gruppen der sogenannten Radikalen Reformation (vgl. Williams 32000).
Unterschiedliche Wahrnehmungen von Häretikern seit der Jahrtausendwende Wie wurden Häretiker also seit dem Hochmittelalter wahrgenommen? Wenn man zunächst die ersten Fälle des Auftretens von häretischen Gruppen im westlichen Hochmittelalter seit der Jahrtausendwende Revue passieren lässt, zeigt sich ein hohes Maß an Rückgriffen auf (oft schon aus der Antike) bekannte Vorstellungen von ‚Ketzern‘. Sie sind durchgängig negativ, lassen sich aber noch nicht als festgefügtes Feindbild beschreiben. Vor allem fällt auf, dass eine Reihe unterschiedlicher Wahrnehmungen und Beschrei bungsstrategien auftreten. Ein erstes Beispiel für solche Spielarten der Wahrnehmung kann man einigen Geschichten von Häretikern und ihren Umtrieben entnehmen, die der burgundische Geschichtsschreiber Radulfus Glaber (gest. 1047) in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts verfasste. In seinen Historiae findet sich die Beschreibung eines Häretikers, der letztlich als eher harmloser Ver25
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rückter und Einzelgänger dargestellt wird. Ein Bauer namens Leutald in der Diözese Châlons-sur-Marne, so Radulfus, wurde um das Jahr 1000 von Visionen heimgesucht. In ihnen quälten ihn unter anderem Bienen, die in seine Körperöffnungen hinein- und aus seinem Mund wieder hinauskrochen. Ihm wurde dabei eine Berufung zuteil, so dass er sich von seiner Frau trennte, in der lokalen Kirche das Kreuz zerstörte und selbst zu predigen begann. Dabei berief er sich teils auf die Bibel, die er besser zu verstehen beanspruchte als der lokale Klerus. Er verurteilte die Abgabe des Kirchenzehnts, der üblicherweise von der Gemeinde an die Priester gezahlt werden musste. Er gewann so einige Anhängerschaft, beging aber später Selbstmord (vgl. Lambert 32002: 35f.). Eine andere frühe Beschreibung ist völlig anders gestaltet, zeigt aber einen typischen Hintergrund der Dämonisierung von Häretikern. Dem Mönch Paul von St. Père in Chartres verdanken wir einen der frühesten Berichte über das Auftreten von ‚Ketzern‘, der sich auf Vorkommnisse des Jahres 1022 in Orléans bezieht. Wie wir wissen, handelte es sich bei der Anklage und Verurteilung dieser Gruppe großenteils um eine politische Intrige zwischen rivalisierenden Adelsgruppen in Frankreich (vgl. Lambert 32002: 14ff.). Paul von St. Père interessierte sich aber vor allem für das dramatische Hin und Her der Beschuldigung, Überführung und Verurteilung, deren grobe Abläufe wir durch andere Quellen bestätigen können. Paul von St. Père muss allerdings bereits ein festes Konzept von Häretikern gehabt haben. Offenbar zur Warnung wollte er daher Einblicke in ihr verborgenes Treiben geben. Er griff prompt auf spätantike Polemiken zurück, setzte also eine religiöse Gruppe auf der Basis der Bezeichnung als ‚häretisch‘ mit einer anderen gleich. Er borgte, wohl über Umwege, eine skandalöse Beschreibung bei Justin dem Märtyrer, einem christlichen Apologeten des 2. Jahrhunderts (vgl. Lambert 32002: 16–20). Resultat dieses Rückgriffs auf ältere Deutungsschemata war eine Art Gruselgeschichte, in der die äußerlich fromm und heiligmäßig erscheinenden Häretiker im Verborgenen eine teuflische Fratze zeigten: Die Häretiker, so Paul nach einer Stelle bei Justin, trafen sich nachts und feierten anstelle eines kirchlichen Gottesdienstes eine Litanei der Dämonenanbetung, bei der schließlich der Teufel selbst in Gestalt eines wilden Tieres erschien. Dann wurde das Licht gelöscht und eine Orgie begann. Aus diesem bizarren Ritual gingen Kinder hervor – möglicherweise sogar aus inzestuösen Verbindungen, da die Häretiker sich auch an den eigenen Müttern und Schwestern vergingen. Diese Kinder wurden dann verbrannt, um aus ihrer Asche eine Art magischer Gegen-Hostie herzustellen. Die teuflische Kraft dieser Asche war laut Paul von St. Père so stark, dass sie jedermann, der sie eingenommen hatte, für immer zum Häretiker machte (vgl. Text bei Moore 1975: 12f.). 26
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Die Nuancen der Beschreibung geben Einblicke in zugrundeliegende Ängste und damit in Motive der Verfolgung von Häretikern: Wie der Autor explizit formulierte, schwächte deren magische Asche den Geist so stark, dass man nie wieder zur Wahrheit finden konnte. Gerade dieser Aspekt magischer Kraft dämonisiert die Häretiker in hohem Maße und eröffnet damit die Notwendigkeit der Verfolgung (vgl. Moore 22007). Übernatürliche Kräfte konnte man nach mittelalterlicher Vorstellung nämlich durchaus haben – sie waren jedoch stets entweder von Gott oder vom Teufel verliehen. Magische und andere Beeinflussung zum Schlechten konnte stets nur das Werk des Teufels oder seiner dämonischen Helfer sein. Falls die äußerlich frommen Häretiker magische Kräfte hatten (oder zu haben schienen), konnten sie somit als Sendboten des Teufels identifiziert werden. Dann musste ein offener, diskussionsorientierter Umgang mit ihnen von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Schon die physische Nähe zu Häretikern erschien im Gegenteil gefährlich. Der Kontakt mit ihnen, insbesondere die Mahlgemeinschaft, konnte ja angeblich zur ‚Infektion‘ führen und war zu meiden. Das Motiv des geradezu infektiös wirksamen magischen Gegen-Sakraments findet sich noch mehrfach als farbenprächtige Anekdote in chronikalischer Überlieferung – also in Quellen, die gerade nicht aus dem unmittelbaren Umfeld der rechtlichen Auseinandersetzung mit Häretikern stammten, sondern im Gegenteil aus erzählerischen Gründen bestimmte, teils offenbar fiktionale stereotype Beschreibungen aufgriffen und ausbreiteten. Wir kennen beispielsweise zwei Berichte über die Anhänger des bretonischen Adeligen Eon von Stella, der in der Mitte des 12. Jahrhunderts nach Berufungserlebnissen zu predigen und eine Anhängerschaft zu sammeln begann. Über ihn und seine Anhänger berichtet der Autor der Chronik von Gembloux zu 1146 eher skeptisch und möglichst abwertend, ähnlich wie das der oben erwähnte Radulfus Glaber über den Bauern Leutald tat. Der ein halbes Jahrhundert später schreibende William von Newburgh (gest. ca. 1198) fügte jedoch den erzählerischen Schnörkel hinzu, dass Eons Bande mit Hilfe dämonischer Speisen Anhänger gewann. Wer einmal von den Köstlichkeiten probiert hatte, die auf Befehl der Häretiker von Dämonen herbeigezaubert wurden, so William, schloss sich sofort der Gruppe an. Es war deswegen äußerst gefährlich, etwas von ihnen anzunehmen (vgl. beide Texte in Übersetzung bei Moore 1975: 62ff.). Hier zeigt sich eine deutliche Nähe zu fiktionalen Traditionen, etwa Geschichten von Feen und Zauberern, wie sie auch im Mittelalter geschätzt wurden. Eine ebenfalls buchstäblich verteufelnde, jedoch säuberlich theologisch und biblisch begründete Argumentation findet sich schließlich in einer dritten frühen Beschreibung von Häretikern. Auch im nordfranzösischen Arras wurden 1025 auf einer Synode Häretiker verurteilt, also nur kurz nach den 27
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angesprochenen Verurteilungen von Orléans 1022, die Paul von St. Père mit teuflischen Orgien verknüpft hatte. Der Gruppe von Arras gingen wie späteren Bewegungen offenbar die kirchlichen Reformen nicht weit genug. Die aufsichtführenden Bischöfe, die mit solchen tiefreligiösen Gruppierungen umgehen mussten, erkannten das auch zumeist. Sie setzen sich in einigen Fällen betont für eine milde Behandlung und Wiederbekehrung der Angeklagten durch Überzeugung und Diskussion ein, was zeigt, dass einzelne bestehende Stereotype durchaus nicht immer zur Legitimierung gewaltsamen Vorgehens führen mussten (vgl. Riches 2011). Auch eine faktisch milde Behandlung konnte aber mit einer weiteren Stereotypisierung einhergehen – etwa wenn das Auftreten von Häretikern zum Anlass genommen wurde, orthodoxe kirchenpolitische Agenden voranzutreiben und den Klerus zu disziplinieren. Auf der Synode von Arras soll Bischof Gerard von Cambrai (gest. 1051; vgl. zu ihm Riches 2006) eingehend mit einigen Häretikern diskutiert haben. Er liess auch eine lange Ansprache zur Natur der Sakramente aufzeichnen, von der eine detaillierte Fassung in die Synodalakten eingefügt wurde. Seine Überlegungen stellten weniger eine Beschäftigung mit häretischen Lehren als wohl vielmehr eine Belehrung seines eigenen Klerus und benachbarter Bischöfe über einige strittige Punkte dar (vgl. Lambert 32002: 28f.). Gerard von Cambrai schloss diese Ansprache mit einer eindringlichen Ermahnung an seinen Klerus, die richtige Lehre auch angesichts der häretischen Bedrohung hochzuhalten. Dabei zitierte er eine Bibelstelle, die sich als äußerst wirkmächtig erweisen sollte: „Beachtet dies als unverletzliches Zeichen Eures Glaubens und erinnert Euch an die Voraussage des Apostels Paulus: ‚In späteren Zeiten [in novissimis diebus] werden manche vom Glauben abfallen; sie werden sich betrügerischen Geistern und den Lehren von Dämonen zuwenden, getäuscht von heuchlerischen Lügnern, deren Gewissen gebrandmarkt ist. Sie verbieten die Heirat und fordern den Verzicht auf bestimmte Speisen, die Gott doch dazu geschaffen hat, dass die, die zum Glauben und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt sind, sie mit Danksagung zu sich nehmen‘ (1 Tim 4,1–3)“ (Acta Synodi Atrebatensis: Sp. 1311).2
Schon der Apostel Paulus hatte also gewarnt, dass im Verlauf der Heilsgeschichte Häretiker (bzw. ‚Heuchler‘) auftreten würden, die falsche asketische Praktiken anrieten, wie das auch die Häretiker des 11. Jahrhunderts taten. Gerard von Cambrai wollte seinen Klerus mit dieser Warnung wohl 2
„Hoc tantum servate fidei vestrae intemeratum signaculum, recolentes hoc quod Paulus apostolus praedixerat, quia ‚in novissimis diebus discedent quidam a fide, attendentes spiritibus erroris et doctrinis daemoniorum in hypocrisi loquentium, et cauteriatam habentium conscientiam suam; prohibentium nubere, abstinere a cibis, quos Deus creavit ad percipiendum cum gratiarum actione fidelibus‘.“
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anhalten, sich in Fragen der Doktrin und frommen Praxis ganz genau an die richtige Lehre der Kirche zu halten und mit fragwürdigen Reformern keine Kompromisse einzugehen. Wie er argumentierte, hatte die Bibel gerade vor Gruppen gewarnt, die im Verzicht auf die Ehe oder auf Fleisch besondere Askese übten.
Von Stereotypen zum Feindbild: Häretiker als scheinheilige Jünger des Antichrist Die zitierte Bibelstelle, die hier nur beiläufig am Ende einer langen, reform orientierten Rede einfließt, sollte in den folgenden Jahrhunderten sozusagen eine steile Karriere machen. Vor allem im Verlauf des 11. und 12. Jahrhunderts intensivierte sich in zeitgenössischen Reformdiskursen allmählich die Theoriebildung zur Endzeit. Nach hochmittelalterlicher Ansicht waren zunächst besondere Bedrohungen durch einen Akteur des Bösen zu erwarten, den sogenannten Antichrist. Schließlich würde jedoch Christus wieder auf Erden erscheinen, bevor am Ende der Zeit das Jüngste Gericht über alle Menschen gehalten würde (vgl. Rauh 21979; McGinn 1994). Die zitierte Stelle bei Paulus (1 Tim 4,1–3) war in der Vergangenheit meist nur als allgemeine Warnung interpretiert worden. Sie wurde nun aber dezidiert als Teil der biblischen Voraussagen zur Endzeit verstanden. Die dies novissimi, von denen die Rede ist, wurden im Mittelalter sowohl als „jüngste, gegenwärtige Zeiten“ wie auch als „Endzeiten“ interpretiert und übersetzt. Die von Dämonen unterstützten ‚Heuchler‘, von denen Paulus sprach, konnten daher mit den „falschen Aposteln“ und „falschen Propheten“ gleichgesetzt werden, von denen anderswo im Neuen Testament die Rede ist. Vor allem im Matthäusevangelium wird eine Aussage Christi überliefert, in der er seine Jünger vor „falschen Propheten“ warnt, die kurz vor dem Ende der Welt auftreten würden: „Als er auf dem Ölberg saß, wandten sich die Jünger, die mit ihm allein waren, an ihn und fragten: Sag uns, wann wird das geschehen, und was ist das Zeichen für deine Ankunft und das Ende der Welt? Jesus antwortete: Gebt Acht, dass euch niemand irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin der Messias!, und sie werden viele irreführen“ (Mt 24,3–5). „Denn es wird mancher falsche Messias und mancher falsche Prophet auftreten und sie werden große Zeichen und Wunder tun, um, wenn möglich, auch die Auserwählten irrezuführen“ (Mt 24,24).
Die Gleichsetzung zeitgenössischer religiöser Schwärmer wie derjenigen von Arras (1025) mit solchen biblischen Pseudopropheten dürfte sich schon bei 29
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Gerard von Cambrai mindestens teilweise genuiner Endzeiterwartung verdanken. Auch Radulfus Glaber, dessen Bericht über den von Visionen aufgestachelten Bauern Leutald hier erwähnt wurde, stellte bereits einen Zusammenhang zwischen Häretikern seiner Gegenwart und dem als heilsgeschichtlich relevant verstandenen Jahr 1000 her. Für Gerard von Cambrai schien aber keine Naherwartung der Endzeit selbst, sondern vielmehr die Mobilisierung und Mahnung seiner Kleriker im Vordergrund zu stehen. Die Deutung, nach der zeitgenössische religiöse Gruppen oder einzelne Wanderprediger als endzeitliche Pseudopropheten erschienen, sollte sich jedoch verbreiten und zu einem höchst wirksamen Feindbild zugespitzt werden – wenn auch, wie einleitend erwähnt, weitere Stereotypen des Häretikers auftraten. Als besonders wirkmächtig und bedeutsam erwies sich offensichtlich die aus einschlägigen Bibelstellen ableitbare Gleichsetzung von Häretikern mit teuflisch beeinflussten „Heuchlern“ (hypocrisi loquentes) (1 Tim 4,2), „Pseudopropheten“ (pseudoprophetae) (Mt 24,24) und Vortäuschern eines „Scheins der Heiligkeit“ (species pietatis) (2 Tim 3,5). Diese Bibelstellen, nach denen in den Letzten Zeiten der Wiederkunft Christi die Ankunft des Antichrist und seiner Vorboten und Diener vorausging, hatte man schon länger miteinander in Verbindung gebracht. Wie sich zeigte, lag damit bereits ein genauso einheitliches wie unheilvolles exegetisches Stereotyp parat, das man den Häretikern nur noch überstülpen musste: Sie mochten behaupten, besonders heilig zu leben und etwa die Ehe und den Überfluss abzulehnen (vgl. 1 Tim 4,3), doch das wurde nun als Heuchelei identifiziert. Sie waren demnach des Teufels und vertraten dämonische Lehren. Hinter ihrer Scheinheiligkeit verbargen derartige endzeitliche Jünger des Antichrist eine üble Agenda. Nach der Warnung des Apostels Paulus würden die in den Letzten Zeiten zu erwartenden Feinde „selbstsüchtig sein, habgierig, prahlerisch, überheblich, bösartig, [...] verleumderisch, unbeherrscht, rücksichtslos, roh, heimtückisch, verwegen, hochmütig, mehr dem Vergnügen als Gott zugewandt. Den Schein der Frömmigkeit werden sie wahren, doch die Kraft der Frömmigkeit werden sie verleugnen. Wende dich von diesen Menschen ab. Zu ihnen gehören die Leute, die sich in die Häuser einschleichen und dort gewisse Frauen auf ihre Seite ziehen, die von Sünden beherrscht und von Begierden aller Art umgetrieben werden“ (2 Tim 3,1–5).3 3
„[H]oc autem scito quod in novissimis diebus instabunt tempora periculosa. Et erunt homines se ipsos amantes cupidi elati superbi blasphemi parentibus inoboedientes ingrati scelesti, sine affectione sine pace criminatores incontinentes inmites sine benignitate, proditores protervi tumidi voluptatum amatores magis quam Dei, habentes speciem quidem pietatis virtutem autem eius abnegantes. Et hos devita, ex his enim sunt qui penetrant domos et captivas ducunt mulierculas oneratas peccatis, quae ducuntur variis desideriis; semper discentes et numquam ad scientiam veritatis pervenientes.“
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Wie der letzte Absatz schlaglichtartig andeutet, konnten Häretikern nicht nur religiöse Umtriebe, sondern auch eine Störung der Geschlechterordnung und eine Ausnutzung von (moralisch angeblich schwachen) Frauen vorgeworfen werden; den bestehenden Negativstereotypen wurden also weitere hinzugefügt. Dieses Argumentationsmuster bot sich dann zur Einordnung und Dämonisierung einer bestimmten Sorte von Häretikern an: Es passte perfekt auf religiöse Eiferer, die der etablierten Kirche gegenüber kritisch eingestellt waren und Erneuerung predigten. Gerade solche Figuren scharten oft Anhänger beiderlei Geschlechts um sich und bekehrten sie zu einem religiösen Leben in Askese und Abkehr von hergebrachten Formen der Frömmigkeit. Solche Reformer gab es im 11. und 12. Jahrhundert häufiger. Einige von ihnen, beispielsweise Robert von Arbrissel oder Norbert von Xanten, gelangten zu Anerkennung und wurden sogar Ordensgründer (vgl. Felten 2005). Andere gerieten dagegen in Konflikt mit der Kirche. Der Prediger Heinrich von Lausanne durchlief beispielsweise eine Art Karriere der Verketzerung, in deren Verlauf er schließlich immer stärker als Vertreter des Stereotyps gesehen wurde. Tatsächlich wurde er mehrfach als „Heuchler“ (hypocrita) und Jünger des Antichrist bezeichnet (Moore 1975: 34; 38), etwa von Bischof Hildebert von Le Mans, der ihm um 1116 zunächst eine Predigtlizenz erteilt hatte, ihn aber dann seiner Diözese verwies. In einem Schreiben, das Hilde bert für zwei wieder zur Kirche bekehrte, reuige Anhänger Heinrichs ausstellte, beschrieb er den ehemaligen Prediger dabei in deutlichen Worten als: „Pseudopropheten [...] Heinrich, der ein großer Lakai des Teufels und berühmter Waffenträger des Antichrist war. Die beiden beschrieben Brüder hingen ihm an, da er im Auftreten religiöses Wesen und in seinen Worten Gebildetheit simulierte, doch schließlich wurde ihnen die Schlechtigkeit seines Lebens und der Irrtum seiner Lehre bewusst“ (Hildeberti Cenomannensis Epistola: Sp. 242).4
Eine weitere Konkretisierung und Verdichtung verschiedener Stereotypen von Häretikern zu einem Feindbild endzeitlicher Jünger des Antichrist findet sich dann im Umfeld einer der einflussreichsten und bekanntesten Persönlichkeiten des Mittelalters, Abt Bernhard von Clairvaux (gest. 1153). Bernhard, der charismatische Sprecher des jungen Zisterzienserordens, war besonders als Prediger aktiv und kämpfte nicht zuletzt gegen Häresie. Eine Vorstellung von scheinheiligen ‚falschen Propheten‘ wurde 1143 zwischen ihm und dem deutschen Propst Everwin von Steinfeld erörtert. Everwin 4
„[S]ecuti quemdam pseudoprophetam, quem qui secuti sunt, persecuti sunt semetipsos. Henricus is erat, magnus diaboli laqueus et celebris armiger Antichristi. Huic et habitu religionem et verbis litteraturam simulanti tandiu praescripti fratres adhaeserunt, donec eis et turpitudo in vita et error innotuit in doctrina.“
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korrespondierte mit Abt Bernhard, um ihn um die Übersendung von Vorlagen zur Predigt gegen zwei verschiedene Ketzergruppen zu bitten, die in Köln aktiv waren. Möglicherweise handelte es sich bei einer von ihnen um die sogenannten Katharer (vgl. Lambert 32002: 62–69; Jimenéz-Sanchez 2008: 115–121). Bernhard selbst sollte nur wenig später zur Bekämpfung von Häretikern nach Südfrankreich aufbrechen, unter anderem, um dortige Anhänger des gerade erwähnten Heinrich von Lausanne zu bekehren. Schon in seiner Einleitung erwähnte Everwin die Idee, dass es eine spezifische Sorte von Häretikern gebe, die am Ende der Zeiten als Vorboten des Antichrist auftreten würden. Sie seien von Dämonen verführte ‚Heuchler‘, die besondere asketische Praktiken anrieten und die Ehe verachteten (vgl. 1 Tim 4,3). Bernhard solle jetzt besonders Predigten verfassen, die ge eignet seien, gegen solche endzeitlichen Häretiker anzugehen. Sie waren seiner Ansicht nach gerade in Köln aufgetreten: „Es ist schon Zeit [...], dass Du etwas gegen diese neuen Häretiker schreibst, die in fast allen Kirchen schon aus dem Abgrund heraufschäumen, ganz so, als ob schon ihr Fürst [der Antichrist] am Vergehen sei und der Tag [der Wiederkehr] Christi bevorstehe“ (Bernardi Claraevallensis Epistolae: Sp. 677).
Es handle sich dabei um bestimmte Häretiker, die ‚Häretiker der Letzten Tage‘, also die dämonischen ‚Heuchler‘, die in der Endzeit mit ihrer falschen Askese Glaubwürdigkeit zu gewinnen versuchten und die Everwin durch Zitierung von 1 Tim 4,3 identifizierte.5 Wie Everwin weiter beschrieb, argumentierten diese Häretiker ebenfalls schon in einer Weise, die sich auf ein Stereotyp ‚falscher Heiliger‘ oder ‚Pseudopropheten‘ stützte. Wie sie im Laufe der Verhandlungen mit dem Erzbischof und dem Klerus von Köln formulierten, repräsentierten sie selbst nämlich die einzig wahre Kirche, während die offizielle Kirche längst von falschen Aposteln unterwandert und korrumpiert worden sei: „Über sich sagen sie [die Häretiker]: Wir sind die Armen Christi, die ohne Heimat von Stadt zu Stadt fliehen. Wie Schafe inmitten der Wölfe erleiden wir mit den Aposteln und Märtyrern Verfolgung. Dennoch führen wir ein heiliges und äußerst strenges Leben, mit Fasten und Enthaltsamkeit, Gebeten und harter Arbeit Tag und Nacht, wobei wir aber nur das Nötigste zum 5
„Jam tempus est ut de quinta haurias, et in medium proferas contra novos haereticos, qui circumquaque jam fere per omnes Ecclesias ebulliunt de puteo abyssi, quasi jam princeps illorum incipiat dissolvi, et instet dies Domini.“ Über dieselben Häretiker in einer Aufzählung von Gefahren (gegen die Argumente ‚aus Krügen geschöpft‘ werden müssen) dann die Identifizierung mit 1 Tim 4,1–3: „quinta, contra haereticos circa finem saeculi venturos, de quibus per Apostolum manifeste Spiritus dicit: In novissimis temporibus discedent quidam a fide, intendentes spiritibus erroris et doctrinis daemoniorum, in hypocrisi loquentium mendacium, prohibentium nubere, abstinere a cibis, quos Deus creavit ad percipiendum cum gratiarum actione“ (Bernardi Claraevallensis Epistolae: Sp. 676). Für eine englische Übersetzung des Briefes vgl. Moore 1975: 74f.
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Leben erstreben. Wir ertragen dies, da wir nicht von dieser Welt sind. Ihr aber seid Liebhaber der Welt, ihr habt Frieden mit der Welt, denn ihr seid von dieser Welt. Falsche Apostel, die das Wort Christi verdorben haben und aus Eigensucht handelten, haben Euch und Eure Väter vom Weg abgebracht“ (Bernardi Claraevallensis Epistolae: Sp. 677f.).6
Hier wird nicht mehr allgemein von verschiedenen Plagen der Endzeit gesprochen, sondern von einer spezifischen Gruppe. Bernhard von Clairvaux griff diese Vorstellung von den endzeitlichen Pseudopropheten in seinen als Antwort übersandten Predigten zwar zunächst nicht an zentraler Stelle auf, sondern übernahm nur einzelne Elemente aus der Kette von Negativstereotypen, etwa den Vorwurf der Ausnutzung schwacher Frauen (vgl. Kienzle 2001: 78–108). In der Umgebung Kölns wurde ein zugespitztes Feindbild von Häretikern als scheinheiligen Jüngern des Antichrist jedoch noch mehrfach deutlich vorgetragen. Spezifisch wurde es mit den im Rheinland ansässigen sogenannten Katharern verknüpft. Eine erste Stelle findet sich in den Predigten, die der ehemals in Köln tätige Mönch Ekbert von Schönau nach 1163 zur Bekämpfung dortiger Häretiker verfasste. Er kannte diese Gruppe nach eigenen Angaben gut und führte für sie erstmals die – auf die Antike zurückgreifende – Bezeichnung Cathari (altgr.: die Reinen) ein. Von ihr leitet sich auch die deutsche Bezeichnung ‚Ketzer‘ ab (vgl. Dinzelbacher 1986). In seiner ersten Predigt konkretisierte er eine allgemeine Wahrnehmung der Bedrohung der Kirche zu einer genau benannten Gefahr: „Wie ich meine, beginnt nun die Ankunft der Gefahren der letzten Zeiten, von denen der Heiland im Evangelium prophezeite. Als er zu den Jüngern über die Zeichen sprach, die dem Tag des Gerichts vorausgehen würden, wie Matthäus schreibt, sagte er unter anderem: [...] ‚Denn es wird mancher falsche Messias und mancher falsche Prophet auftreten und sie werden große Zeichen und Wunder tun, um, wenn möglich, auch die Auserwählten irrezuführen.‘ [...] Falls nun bereits jemand mit solchem Wahnsinn aufgetreten ist, dass er sich als Christus ausgibt, habe ich noch nichts davon gehört. Aber von den falschen Propheten, die behaupten, dass Christus im Inneren ist, habe ich schon viel gesehen. Sie sind nämlich verdorbene und verderbenbringende Menschen, die heimlich wirken, und lange Zeit im Verborgenen blieben. Wie der Herr von ihnen weissagte, behaupten sie, dass Christus im Innern ist, denn sie sagen, dass der wahre Glaube und Gottesdienst Christi nirgendwo anders zu finden sind als in ihren Konventikeln, die sie in Kel6
„De se dicunt: Nos pauperes Christi, instabiles, de civitate in civitatem fugientes, sicut oves in medio luporum, cum apostolis et martyribus persecutionem patimur: cum tamen sanctam et arctissimam vitam ducamus in jejunio et abstinentiis, in orationibus et laboribus die ac nocte persistentes, et tantum necessaria ex eis vitae quaerentes. Nos hoc sustinemus, quia de mundo non sumus: vos autem mundi amatores, cum mundo pacem habetis, quia de mundo estis. Pseudoapostoli adulterantes verbum Christi, quae sua sunt quaesiverunt, vos et patres vestros exorbitare fecerunt.“ Für eine englische Übersetzung des Briefes vgl. Moore 1975: 76.
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lern und Webstuben und derartigen unterirdischen Wohnungen haben. Sie sagen, sie führten das Leben der Apostel, doch sie handeln gegen den Glauben der heiligen und wahren Lehre, die uns von den heiligen Aposteln und unserem Herrn und Heiland selbst offenbart wurde. Sie sind nämlich selbst diejenigen, von denen der Apostel Paulus im Brief an Timotheus so sprach: ‚Der Geist sagt deutlich, dass in den jüngsten Zeiten manche vom Glauben abfallen werden; sie werden sich betrügerischen Geistern und den Lehren von Dämonen zuwenden, getäuscht von heuchlerischen Lügnern, deren Gewissen gebrandmarkt ist. Sie verbieten die Heirat und fordern den Verzicht auf bestimmte Speisen, die Gott doch dazu geschaffen hat, dass die, die zum Glauben und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangt sind, sie mit Danksagung zu sich nehmen‘ (1 Tim 4,1–3)“ (Ekberti Schonaugiensis Sermones contra Catharos: Sp. 13).7
Die bislang oft eher beiläufig vorgetragene Deutung von religiös devianten Gruppen als endzeitliche und biblisch prophezeite Gefahr wurde hier also zum eröffnenden und zentralen Argument einer Kampagne gegen die Kölner Ketzergruppe gemacht. Ekberts Predigten waren explizit zur Verbreitung und zum öffentlichen Kampf gegen diese Katharer gedacht. Im Zuge dieser Strategie wurde ihre Wahrnehmung ganz gezielt von der einer übereifrigen religiösen Splittergruppe von Fehlgeleiteten in diejenige einer vom Teufel gesteuerten, durch heuchlerischen Anschein der Frömmigkeit aus dem Verborgenen wirkenden Gefahr transformiert. Der Modus der Predigt, die als Belehrung der Gläubigen aus autoritativer Position heraus unter diesen Umständen eher der Polarisierung als der Diskussion von Nuancen und Graustufen zuträglich war, dürfte dabei zur scharfen Abgrenzung von ingroup und outgroup einiges beigetragen haben. Hier wäre nunmehr von einem Feindbild zu sprechen.
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„Pericula novissimorum temporum, ut aestimo, venire coeperunt, de quibus in Evangelio Salvator prophetavit, quando de signis quae diem judicii essent praecessura, loquens ad discipulos, sicut scribit Matthaeus, haec inter caetera dicebat: Tunc si quis vobis dixerit, ecce hic Christus, aut illic, nolite credere: surgent enim pseudochristi et pseudoprophetae, et dabunt signa magna et prodigia, ita ut in errorem ducantur, si fieri potest, etiam electi. [...] Et quidem si tam insanae mentis adhuc quispiam venerit, qui se dicat esse Christum, nondum audivimus; sed de pseudoprophetis, qui dicunt esse in penetralibus Christum, jam multa percipimus. Ecce enim quidam latibulosi homines perversi et perversores, qui per multa tempora latuerunt [...]. Sicut de eis praedixit Dominus, dicunt in penetralibus esse Christum, quia veram fidem Christi, et verum cultum Christi, non alibi esse dicunt, nisi in conventiculis suis, quae habent in cellariis et in textrinis, et in hujusmodi subterra neis domibus. Apostolorum vitam agere se dicunt; sed contrarii sunt fidei sanctae et sanae doctrinae, quae a sanctis apostolis, et ab ipso Domino Salvatore nobis tradita est. Ipsi etenim sunt de quibus apostolus Paulus epistola ad Timotheum ita locutus est: Spiritus autem manifeste dicit quia in novissimis diebus discedent quidam a fide, attendentes spiriti bus erroris et doctrinis daemoniorum, in hypocrisi loquentium mendacium et prohibentium nubere, abstinere a cibis quos Deus creavit ad percipiendum cum gratiarum actione.“ Für eine englische Übersetzung des Briefes vgl. Moore 1975: 90.
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Aus exakt demselben Umfeld, nämlich dem Köln der 1160er Jahre, besitzen wir zudem noch einen Text, der sich dieser Deutung anschließt und das darin aufgebaute Feindbild übernimmt. Die Absicht ist wohl leicht abweichend – es geht eher darum, den Klerus von Köln angesichts allgemeiner Bedrohung der Kirche zur Besserung aufzurufen. Dieses Anliegen verfolgte jedoch niemand Geringeres als die hochgebildete Visionärin Hildegard von Bingen (gest. 1179), die sich bereits einen Ruf als von Gott inspirierte Prophetin gemacht hatte und in Korrespondenz mit einflußreichen Größen in halb Europa stand. Sie richtete einen gepfefferten Brief an die Kleriker von Köln, denn wie sie meinte, habe der Teufel dort wegen der verkommenen Sitten des Klerus und des Scheins der Heiligkeit der Häretiker ein besonders leichtes Spiel (vgl. Kerby-Fulton 1987). Der Teufel feuere seine häretischen Jünger geradezu an: „Ihr, meine Jünger und Untergebenen, steht vor dem Volk als viel disziplinierter da!“ (Hildegardis Bingensis Epistolae: Sp. 249).8 Insgesamt übernahm auch Hildegard das offenbar schon hochgradig verdichtete Feindbild der falschen Propheten und fächerte die verschiedenen damit verbundenen Negativvorstellungen auf. Sie warnte den Klerus eindringlich vor dem Kommen eines endzeitlichen Volkes von Verführern: „Doch das Volk, was dies vollbringen wird, ist vom Teufel verführt und ausgeschickt und kommt mit blassem Gesicht und verhält sich diszipliniert, so wie man es in heiliger Frömmigkeit tut, und sucht die Nähe der größten unter den weltlichen Prinzen. Und von euch werden sie diesen dann Folgendes sagen: ‚Warum gebt Ihr Euch mit jenen ab, und warum erlaubt Ihr ihnen solche Nähe, da sie doch die ganze Welt mit lasterhaften Untaten beschmutzen? Sie sind nämlich Trunkenbolde und wollüstig, und wenn Ihr sie nicht von Euch weist, werden sie die gesamte Kirche zerstören.‘ Das Volk aber, das dies von euch sagt, trägt ärmliche Mäntel in ungewohnter Farbe und trägt eine der Regel entsprechende Tonsur und zeigt sich vor den Menschen in allem Verhalten friedfertig und ruhig. Es liebt den Geiz nicht, will kein Geld und in seinen heimlichen Aktivitäten zeigt es eine solche Enthaltsamkeit, dass man an kaum einem von ihnen überhaupt etwas tadeln kann. Denn der Teufel ist mit ihnen“ (Hildegardis Bingensis Epistolae: Sp. 250).9
8 9
„Sed, o vos discipuli et subditi mei, multo plus eis coram populo disciplinati estis.“ „Sed populus iste qui hoc faciet, a diabolo seductus et missus, pallida facie veniet, et velut in omni sanctitate se componet, et majoribus saecularibus principibus se conjunget. Quibus et de vobis sic dicent: Quare hos vobiscum tenetis, et quare eos vobiscum esse patimini, qui totam terram in maculosis iniquitatibus suis polluunt? Isti enim ebrii et luxuriosi sunt, et nisi eos a vobis abjiciatis, tota Ecclesia destruetur. Populus autem qui hoc de vobis dicet, vilibus cappis quae alieni coloris sunt, induitur: et recto modo tonsus incedet, atque omnibus moribus suis placidum et quietum se hominibus ostendet. Avaritiam quoque non amat, pecuniam non habet, et in occultis suis tantam abstinentiam imitatur, ut vix ullus ex eis reprehendi possit. Diabolus enim cum hominibus istis est.“
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Obwohl oder gerade weil Hildegard von Bingen hier nicht mehr die einschlägigen Bibelstellen zitierte, erweist sich die Vorstellung einer vom Teufel oder Antichrist ausgeschickten Schar der falschen Heiligen deutlich als mittlerweile allgemein bekanntes Feindbild. Anders als Ekbert von Schönau ging es Hildegard nicht um eine schärfere Verfolgung der Häretiker, sondern im Gegenteil um eine Reform des Klerus, dessen Nachlässigkeit die Häretiker zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz der Kirche machte. Ihre Argumentation ähnelt insofern derjenigen Gerards von Cambrai, der das biblische Bild der falschen Propheten 1025 als einer der ersten westlichen Autoren auf Häretiker angewandt hatte. Die schon sehr selbstverständliche Gleichsetzung religiöser Devianz mit endzeitlicher teuflischer Verschwörung dehumanisierte die Häretiker jedoch weiter.
Adaptation des Feindbilds der falschen Heiligen: Vom Häretiker zum ‚Heuchler‘10 Bei genauem Hinsehen erweist sich das beschriebene Feindbild der Kölner Häretiker als ‚falsche Heilige‘ als außerordentlich ambivalent. Dass es eine geradezu zersetzende Wirkung haben musste, liegt insgesamt auf der Hand: Derartige Häretiker wurden zwar in gewisser Hinsicht als nicht zur Gemeinschaft gehörige Fremde ausgegrenzt. In der Forschung wie schon in den mittelalterlichen Quellen wurde stets betont, dass Häresien von ‚außen‘ eingeschleppt würden, im Falle der Katharer etwa von den bulgarischen Bogomilen. Doch das um die Ketzer konstruierte Feindbild erweist sich vor allem als Zerrbild des religiösen Eigenen, nämlich eines idealen Klerus. Das Gefährliche an den Häretikern, so deren Gegner, war gerade ihr heiligmäßiges Auftreten und ihr frommes und gottesfürchtiges Verhalten. Letzteres war angeblich eine dämonische Fassade und lockte gerade eifrige Christen guten Glaubens in eine teuflische Falle. Aus moderner Perspektive erscheint diese Wahrnehmung als Umkehrung älterer Muster der Beurteilung von Gut und Böse: Ehemals hatte man gute Christen an ihrem guten Leben erkennen können. Nun reichte das nicht mehr aus, sondern machte im Gegenteil verdächtig. Damit waren ältere mittelalterliche Wahrnehmungsschemata, die frommes Leben stets mit göttlicher Begnadung gleichgesetzt hatten, zu einem guten Teil umgeschichtet worden. Unter den Gläubigen dürfte das einige Unsicherheit ausgelöst haben, die ihrerseits religiösem Wandel Vorschub leistete. Wie neuere Forschungen zeigen, stieß die Propaganda gegen die Katharer auch 10 Wichtige Hinweise zur Bedeutung des Vorwurfs der ‚Heuchelei‘ verdanke ich Nicholas
Watson (Harvard University), der eine einschlägige Publikation vorbereitet.
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anderswo Prozesse religiöser Identitätsbildung an. Sie liefen teils in ganz unintendierte Richtungen: Die propagierten Werte- und Deutungsschemata verselbstständigten sich gewissermaßen, und es kam beispielsweise in Südfrankreich nicht nur zur Verfolgung von Ketzern, sondern auch von Ketzerjägern, wenn diese selbst gegen die von ihnen gepredigten Werte zu verstoßen schienen (vgl. Ames 2005). Bestehende Stereotypen ließen sich dann plötzlich auch gegen den Klerus wenden. Solche unerwarteten Konsequenzen zeigen sich drastisch auch am Feindbild ‚endzeitlicher Teufelsjünger‘ in Köln, das die Prophezeiung Hildegards von Bingen ausgebreitet hatte: Wie wir aus späteren Quellen wissen, glaubte man wenige Dekaden nach ihrem Tod in Köln, in einer Gruppe von religiösen und reformerischen Neuankömmlingen das ‚heuchlerische Völkchen‘ ihrer Prophezeiung tatsächlich ausfindig gemacht zu haben (vgl. KerbyFulton 1987: 388). Es handelte sich jedoch keineswegs um Abgesandte italienischer Katharer oder gar bulgarischer Bogomilen, sondern um die ersten Dominikanerbrüder – also Angehörige eines betont orthodoxen Ordens, der mit dem erklärten Ziel der Ketzerbekämpfung gegründet worden war und später zumeist die Inquisitoren stellen sollte! Die Brüder aus dem neuen Orden waren nach der Gründung durch den heiligen Dominikus (1215) in Südfrankreich erstmals bis Köln vorgedrungen und wollten dort einen neuen Konvent gründen. Wie sich bei einem Blick auf die zitierte Passage zeigt, passte Hildegards Prophezeiung aber natürlich auch auf solche neuen religiösen Orden. Für einen Klerus wie den von Köln, der offenbar in die Defensive geraten war und ängstlich auf Rivalen schaute, die seine Schwächen offenbar werden ließen, erschienen sie als Konkurrenz. Denn gerade die Dominikaner waren dem etablierten Diözesanklerus letztlich haushoch überlegen. Die von Dominikus gegründeten Predigerbrüder strebten in Armut nach einem Leben in der Nachfolge Christi. Sie widmeten sich besonders der Verbreitung des richtigen Glaubens und dem Kampf gegen Häresie. Obwohl sie als Prediger häufig sehr mobil waren, waren die Dominikaner im Gegensatz zu Wanderpredigern des 12. Jahrhunderts mit ihrer straffen Ordensstruktur von Anfang an außerordentlich gut organisiert. In der Lebensführung waren sie diszipliniert und durch ein vorgeschriebenes Studium sehr gut ausgebildet. Es ist kein Zufall, dass aus ihrem Orden später viele Bevollmächtigte für die mittelalterliche Ketzerinquisition herangezogen wurden. Doch ihr heiligmäßiges Auftreten sprach angesichts der in Köln kursierenden Polemiken gegen die katharischen ‚falschen Propheten‘ zumindest für den Moment eher gegen sie. Ein knapper Blick auf die weitere Rezeption des Feindbilds endzeitlicher ‚falscher Heiliger‘ illustriert die Wirkmächtigkeit dieses Bildes noch weiter: Tatsächlich konnte man das Bild äußerlich heiliger (oder ‚scheinhei37
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liger‘), innerlich aber verkommener falscher Propheten gerade wegen seiner allgemeinen Anwendbarkeit vollständig von den Katharern ablösen und als Polemik gegen andere religiöse Gruppen verwenden – allmählich auch gegen solche, denen man gar keine Häresie, sondern nur Lasterhaftigkeit vorwarf. Genaue Untersuchungen zur Entstehung und Verbreitungsgeschichte eines Bildes von ‚heuchlerischen und scheinheiligen Pseudopropheten‘ fehlen derzeit zwar noch (vgl. aber Szittya 1986; Sackville 2011; demnächst auch Nicholas Watson). Deutlich ist jedoch, dass in mindestens einer innerkirchlichen Großkontroverse das existierende Feindbild von ‚falschen Heiligen‘ und ‚endzeitlichen Jüngern des Antichrist‘ bewusst gegen eine Gruppe gekehrt wurde, die sich eigentlich der Bekämpfung von Häretikern verschrieben hatte. Unter anderem in Rückgriff auf die diskutierte Prophezeiung Hildegards von Bingen, aber auch mit erheblicher eigener Initiative und Fantasie prägte der Pariser Theologiemagister Wilhelm von St. Amour (gest. 1272) seit den 1250er Jahren das bestehende Feindbild der häretischen ‚falschen Propheten‘ zu einem Feindbild ‚falscher Prediger‘ um. Er nannte seine Gegner aus politischen Gründen nicht beim Namen und produzierte daher eine denkbar allgemeine Verknüpfung von Negativstereotypen. Er wendete sich aber ganz offensichtlich ebenfalls gegen die sogenannten Bettelorden, also die Dominikaner und die an der Häretikermissionierung beteiligten, in größter Armut lebenden Franziskaner (vgl. Dufeil 1972). Wilhelm warnte vor Gefahren der Endzeit und stellte die Angehörigen der Bettelorden als ‚Heuchler‘ dar, die heiligmäßig wirkten, in Wirklichkeit aber gezielt nach Machtpositionen strebten, um in den letzten Tagen vor der Ankunft des Antichrist die Kirche zu unterwandern. Seine in einem Traktat Über die Gefahren der jüngsten Zeiten und in richtiggehenden Kampfpredigten öffentlich gemachte Argumentation entzündete sich letztlich an einem Interessenkonflikt, nämlich heftiger Rivalität zwischen den Orden und weltgeistlichen Magistern innerhalb der Universität Paris. Der Konflikt eskalierte aber zu einer so hysterischen Auseinandersetzung, dass Wilhelm schließlich mit äußerster Entrüstung in Paris und Umgebung gegen die Bettelorden predigte und sie dabei als Vorboten des Antichrist brandmarkte. Diese Strategie, die den Streit zu einem nicht mehr durch Interessenausgleich lösbaren Wahrheitskonflikt machte, erlaubte ihm wohl am ehesten, den Ruf großer Heiligkeit anzugreifen, der den Dominikanern und Franziskanern vorausging (vgl. Steckel 2012). Ähnlich wie das Gerard von Cambrai und Ekbert von Schönau gegen verschiedene Häretikergruppen andeuteten, argumentierte nun Wilhelm ausführlich, dass angesichts heuchlerischer Teufelsjünger der Endzeit alte Wahrnehmungsschemata eines guten Lebens und heiligmäßigen Verhaltens nicht mehr ausreichten. 38
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Der Übertragungsweg des älteren Feindbilds ist dabei ganz deutlich: Wilhelms Kritik machte sich zunächst an den Thesen des Gerardino de Borgo San Donnino (gest. 1276) fest – eines der Häresie angeklagten und bald auch verurteilten Franziskanertheologen. Wilhelm übertrug also das vorhandene Feindbild häretischer und böswilliger heuchlerischer Pseudo propheten auf der Basis eines Häresievorwurfs auf einen einzelnen, innerhalb seines Ordens zudem eher isolierten Franziskaner. Im Verlauf des heftigen Konflikts – der Wilhelm bald selbst eine Häresieverurteilung einbrachte – verallgemeinerte und verselbstständigte sich das Bild der Ordensbrüder als ‚Heuchler‘ und ‚falsche Prediger‘ jedoch erheblich. Bald schon konnte man es als neue Variante des älteren Feindbilds auffinden. In abgeschwächter Form – nämlich nicht mehr als teuflische Bedrohung, sondern als mahnende Karikatur, in die nur einzelne Stereotype des ‚falschen Heiligen‘ aufgenommen wurden – fand es in lateinische und volkssprachliche antiklerikale Satiren und Polemiken Eingang, fast immer gegen Angehörige der Bettelorden und ‚falsche Mönche‘ gerichtet (vgl. Szittya 1986). Als Resultat ist eine erhebliche Bandbreite unterschiedlicher Stereotypen des ‚falschen Heiligen‘ oder ‚Heuchlers‘ in der Literatur anzutreffen. Sie reicht vom französischen Dichter Rutebeuf, der noch während des Pariser Konflikts der 1250er Jahre schrieb, über Jean de Meuns Rosenroman (um 1280) bis zu Chaucers Canterbury Tales (um 1400; vgl. Geltner 2004). Neben eher harmlosen Satiren auf die falsche Frömmigkeit durchtriebener Ordensbrüder finden sich in regionalen Reformbewegungen des Spätmittelalters immer wieder auch Aufrufe zur Mobilmachung angesichts dämonischer Gegner und endzeitlicher Gefahren. Die Schriften Wilhelms von St. Amour, die letztlich ein ganz allgemein anwendbares Feindbild heuchlerischer ‚falscher Prediger‘ entwerfen, wurden etwa im Umfeld der oben erwähnten reformorientierten Gruppen der englischen Lollarden (14.–15. Jahrhundert) und böhmischen Hussiten (15. Jahrhundert) wieder gelesen und weiterverwendet – teils sogar auf beiden Seiten des Konflikts.
Feindbilder und ihre Wirkungen Insgesamt lässt sich also nachvollziehen, wie sich vor dem Hintergrund verschiedener vorhandener Stereotypen von gefährlichen Häretikern in und um Köln im 12. Jahrhundert ein bestimmtes Feindbild verdichtete: das der ‚falschen Heiligen‘ und ‚endzeitlichen Teufelsjünger‘. Genau wie das Zerrbild ‚heuchlerischer Ordensbrüder‘, das im 13. Jahrhundert in einer Rezeption dieses Feindbilds formuliert wurde, blieb es stets etwas diffus. Es verband zwar verschiedene konkrete Elemente wie asketisches Leben und die Nähe zu Frauen, doch dürfte sich sein Erfolg vor allem aus der allgemeinen 39
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Anwendbarkeit auf fromme Reformer erklären. Vom eigentlichen Entstehungskontext der Bekämpfung häretisierter religiöser Eiferer konnte sich das Konzept später zumindest teilweise ablösen: Hauptvorwurf war bald nicht mehr die falsche Lehre der Häretiker, sondern ihre falsche Frömmigkeit, die angeblich eine böswillige Unterwanderung der Kirche bedeutete. Das Kölner Feindbild des Häretikers als ‚falschem Heiligen‘ unterscheidet sich damit von einem Feindbild, das in klassischer Weise auf religiöser oder politischer Fremdheit beruht und Außenseitern willkürlich negative Eigenschaften zuschreibt, wie das zumindest teilweise bei mittelalterlichen Stereotypen von Heiden, Juden oder Muslimen der Fall war. Es erweist sich als Feindbild, das auf innerer Konkurrenz basiert und nicht das Fremde, sondern das Eigene verzerrt. Der ‚Ketzer‘ ist eine teuflische Inversion des idealen Klerikers. Eine zunehmende Verdichtung des Feindbilds, die den ursprünglichen Ausgrenzungsgrund der abweichenden Lehre bald immer stärker mit anderen negativen Zuschreibungen überlagerte, war in verschiedenen historischen Situationen zu beobachten. Das Bild des äußerlich frommen, innerlich aber teuflischen ‚Ketzers‘ ließ sich dann in Konflikten innerhalb der Kirche gegenüber praktisch allen religiös argumentierenden Gegnern aufrufen und konnte blutige Verfolgung und Gewalt legitimieren. Unterschiedliche Kontexte führten zu den Adaptationen des Spätmittelalters, in denen vom Feindbild des Häretikers und ‚falschen Propheten‘ verschiedene Steretoypen und Klischees des ‚falschen Predigers‘ und ‚falschen Mönchs‘ abgeleitet wurden. Gerade die Rezeption in kirchen- und ordenspolitischen Kontroversen des 13. Jahrhunderts zeigt, dass das Feindbild häretischer ‚falscher Heiliger‘ im 12. Jahrhundert schon recht gut etabliert gewesen sein muss. Nur so konnte Wilhelm von St. Amour es in geradezu ironischer Manier gegen die als Ketzerbekämpfer auftretenden Bettelorden richten und sie so selbst polemisch in die Nähe von ‚Ketzern‘ rücken. Seine allgemeine Polemik gegen ‚Heuchler‘ lässt auch erahnen, inwiefern Feindbilder nicht nur gezielt eingesetzt werden konnten, sondern auch unintendierte Wirkungen hatten: Stereotype wirkten üblicherweise, weil sie identitätsstiftende Dichotomien zwischen wahrer bzw. authentischer ‚Rechtgläubigkeit‘ und teuflischem Irrtum produzierten. Wo in Frage gestellt wurde, woran man richtige und falsche Eiferer und Heilige eigentlich auseinanderhalten konnte, musste das allerdings zu immer neuen Debatten führen. Die Verbreitung des behandelten Feindbilds führte etwa auch in lokalen Kleinkonflikten dazu, dass polarisierende Polemik eskalierte und hitzige Wahrheitskonflikte entstanden. Die Untersuchung der Wahrnehmung von Häretikern im Mittelalter gibt damit nicht nur in Mechanismen der Dämonisierung religiöser Abweichler Einblicke. Zumindest das behandelte Feindbild, das zu verstärkter Refle40
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xion über wahre und falsche Heiligkeit anregte, besaß innerhalb des innerkirchlichen Reformdiskurses offenbar auch selbst erhebliche katalytische Kraft. Es entfaltete selbst historische Wirksamkeit, teils in ganz unintendierte Richtungen. Ob man die resultierenden Debatten um die Kennzeichen ‚wahrer Religion‘ dann als zersetzend oder eher als produktiv ansehen will, bleibt Ansichtssache. Eine erhebliche Wirkung von Feindbildern und anderen kulturellen Formungen der Wahrnehmung religiöser Gegner ist aus historischer Sicht jedenfalls deutlich.
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Die staatliche Steuerung von Feindbildern am Beispiel des Anti-Hispanismus im frühneuzeitlichen England Eva Schaten
Der elisabethanische Komödiant Richard Tarlton antwortete auf die Frage, welche Nationalität der Teufel habe: „A Spaniard: for Spaniards – like the devil – trouble the whole world“ (Tarltons iests 1613: 15). Für Tarlton und seine Zeitgenossen lag der Vergleich der Spanier mit den Bewohnern der Hölle auf der Hand: Spanien und sein König Philip II. waren für die Engländer spätestens nach der gescheiterten Invasion der Armada im Sommer 1588 die Inkarnation des Bösen. Sie wurden als Prototyp der katholischen Nation und als Lakaien des Papstes wahrgenommen und bildeten damit den Gegenpol zum elisabethanischen England mit seiner protestantischen Staatsreligion. Noch bis zum Beginn der Regierungszeit Elisabeths I. (1558–1603) war Spanien im Gefüge der europäischen Mächte der dynastische und politische Partner Englands gewesen, verbunden durch den gemeinsamen Gegner Frankreich. Im Zuge taktischer Außenpolitik und kriegerischer Ausein andersetzungen änderte sich das im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts drastisch, nicht zuletzt durch gezielte Propaganda von Seiten der englischen Regierung. Der dadurch entstandene Anti-Hispanismus wirkte bis ins 20. Jahrhundert nach, als der spanische Journalist Julián Juderiás für diesen Vorurteilskomplex den Begriff der ‚Schwarzen Legende‘ prägte (vgl. Maltby 1971: 3). Im Folgenden soll nachvollzogen werden, welche Rolle der staatliche Einfluss bei der Entstehung des Feindbildes spielte. Parallel dazu wird untersucht, wie die inhaltliche Evolution des Spanienbildes im Laufe des 16. Jahrhunderts verlief. Als Quellen für diese Entwicklung dienen in erster Linie Publikationen im Pamphletformat.1 Sie waren in der Druckkultur des 16. Jahrhunderts die gängigste Methode, Nachrichten, Informationen und 1 Der Begriff Pamphlet bezeichnet in England um 1580 „a short, vernacular work, gene-
rally printed in quarto format, costing no more than a few pennies, of topical interest or engaged with social, political or ecclesiastical issues“ (Raymond 2003: 8). Ebenfalls zur Gattung der populären Pamphletliteratur gehören die Balladen, bei denen es sich um Gedichte in Strophenform handelt, die zu bekannten Melodien auch gesungen werden konnten (vgl. zur Einführung in das Thema Watt 1996: 1–73). Sie erschienen als billige Einblattdrucke und waren praktisch jedem zugänglich: „There was theoretically no man, woman or child who could not have access to a broadside ballad, at least in its oral form, when it was sung aloud“ (Watt 1996: 13).
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Propaganda zu verbreiten, und wurden von allen politischen und religiösen Gruppen zu diesen Zwecken genutzt. Das schließt auch die englische Krone nicht aus, die sich dieser Kommunikationskanäle bediente, um sich die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern: „Merely as a means of scotching idle rumours and shallow gossip it was too useful to be neglected, and it could also be applied to subtler uses, such as preparing the public mind for the measures the government had determined upon or strengthening the loyalty of the nation“ (Shaaber 1929: 36).
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts waren die Beziehungen zwischen Spanien und England freundschaftlich: Die spanische Prinzessin Katharina von Aragon heiratete 1501 den englischen Kronprinzen Arthur und nach dessen Tod seinen Bruder Henry. Katharina galt als gute Partie, und die Heirat diente dazu, das anti-französische Bündnis zwischen England und Spanien zu festigen. Es gab daher keine negativen Reaktionen auf diese Ehe – Katharina war im Gegenteil sogar sehr beliebt beim englischen Volk. Eine völlig andere Situation entstand, als ihre Tochter Mary 1553 den englischen Thron bestieg und sich zu einer Heirat mit Philip von Habsburg entschloss, der einige Jahre darauf König von Spanien werden sollte. Die Aussicht auf einen fremden, katholischen Prinzen auf dem englischen Thron rief in der englischen Bevölkerung eine Welle der Ablehnung hervor. Noch vor der Ankunft Philips in London musste Mary als Vorsichtsmaßnahme per Proklamation anordnen, dass das spanische Gefolge höflich zu behandeln sei (vgl. Hughes/Larkin 1964: Bd. II, 33). Der Empfang, der den Spaniern in London bereitet wurde, war auch tatsächlich alles andere als gastfreundlich: Die Londoner weigerten sich, ihnen Unterkunft zu gewähren, und viele der Neuankömmlinge wurden gleich bei ihrer Ankunft ausgeraubt (vgl. Brigden 1989: 556). Seiner Ankunft in England vorausgehend, versuchte man Philip – dessen rechtliche Position als Prinzgemahl der ersten Frau auf dem englischen Thron noch ungeklärt war – eine zusätzliche Legitimation zu verleihen, indem seine Abstammung von John of Gaunt, dem Sohn Edwards III., betont wurde (vgl. Grabes 1990: 47).2 Ein weiterer Faktor brachte Philip jedoch endgültig in Misskredit: Kurz nach dem Eintreffen der Spanier und der Eheschließung begannen unter dem Londoner Bischof Edmund Bonner Häresieprozesse gegen Protestanten, die in zahlreichen Hinrichtungen mündeten und der englischen Königin postum den Spitznamen ‚Bloody Mary‘ einbrachten. Diese akute Zuspitzung der Verfolgung 2 Der persönliche Kaplan Marys, John Christopherson, schrieb zu diesem Anlass einen
umfangreichen Traktat, der vom königlichen Drucker am Vorabend der Hochzeit herausgegeben wurde (Exhortation to all menne 1554). Er muss also verfasst worden sein, bevor Philip englischen Boden betrat. Ein angehängter Stammbaum beweist, dass Philip über seine Abstammung einen legitimen Anspruch auf den englischen Thron hatte.
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Die staatliche Steuerung von Feindbildern
schrieb man Philips Einfluss zu. Die grausame Jagd auf Protestanten als Folge von besonders strengem Katholizismus, die aus den Berichten über die Spanische Inquisition bekannt war, wurde bald zum festen Bestandteil des Spanienbildes (vgl. Pollmann 1992: 81ff.; Brigden 1989: 556). Philip und sein Gefolge hielten sich nicht lange in England auf und kehrten nach wenigen Monaten in die Niederlande zurück. Damit gab es keine direkte, vor allen Augen präsente Zielscheibe für anti-spanische Polemik und persönliche Diffamierungen mehr. Bis 1558 sind daher keine weiteren königlichen Proklamationen oder andere Dokumente überliefert, die ausdrücklich zu mehr Toleranz gegenüber den Spaniern aufrufen. In der Regierungszeit Marys wurden allerdings mehrere Gesetze gegen unspezifische Gerüchte und aufrührerische Pamphlete erlassen. Sie waren eine Reaktion auf Schriften englischer Exilanten, die auf dem Kontinent gedruckt und nach England geschmuggelt wurden. Einige dieser Werke enthalten eindringliche Warnungen vor dem verderblichen Einfluss der Spanier auf die englische Politik. Letztendlich – so die Verfasser – würde diese Einmischung zur Invasion und Übernahme Englands führen. In einem Pamphlet von John Bradford wird vor gewissen Büchern gewarnt, die in England zirkulierten und zur Freundschaft mit den Spaniern aufriefen. In Wirklichkeit sei das gute Betragen der Spanier bis dahin nur Falschheit gewesen und würden ihre schlechten Eigenschaften bald hervortreten, wie in den Niederlanden bereits geschehen (vgl. Copye of a letter 1556).3 Elisabeth I. bestieg 1558 in der Nachfolge ihrer Schwester Mary den englischen Thron. Ihr persönliches Verhältnis zu Philip war im ersten Jahrzehnt ihrer Regierung trotz des konfessionellen Gegensatzes von Sympathie und verwandtschaftlichem Zusammenhalt geprägt. In den königlichen Proklamationen wird Philip bis etwa 1570 stets „our good brother, the King of Spain“ genannt. In den Proklamationen nach 1572 verlor er jedoch das geschwisterliche Attribut,4 und 1580 erschien eine Proklamation, in der die Königin offensichtlich kursierenden Gerüchten über eine geplante Invasion durch päpstlich-spanische Truppen widersprechen musste, um eine öffentliche Panik und Unruhen zu verhindern (vgl. Hughes/Larkin 1964: Bd. III, 469f.). Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatten sich die Spanier von politischen Verbündeten zu potenziellen Kriegsgegnern entwickelt. Auch wenn 3 Das grausame Verhalten der Spanier als Besatzungsmacht taucht in mehreren Pamphleten
auf, die nicht nur die Zustände in den Niederlanden beschreiben, sondern als weiteres Beispiel auch die Situation in Neapel anführen, das zu Beginn des 16. Jahrhunderts ebenfalls unter habsburgische Herrschaft gefallen war (vgl. z. B. Warning for England 1555). 4 In den königlichen Proklamationen zwischen 1572 und 1588, in denen Spanien oder der spanische König erwähnt werden, geht es in erster Linie um Übergriffe auf englische Kaufleute in den Niederlanden. Philips Statthalter, der Herzog von Alba, hatte dort wiederholt Handelsgüter konfiszieren lassen (vgl. Hughes/Larkin 1964: Bd. II, 339ff.; 352ff.; 371f.).
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ein wirklicher Konflikt von offizieller Seite noch abgestritten wurde, waren sowohl die außenpolitischen Beziehungen als auch das Bild der Spanier in der Bevölkerung mittlerweile so schlecht, dass eine Invasion nicht unwahrscheinlich erschien. Diese Entwicklung muss im Rahmen der außenpolitischen, ökonomischen und religiösen Umstände zu Beginn der Regierungszeit Elisabeths gesehen werden. Das primäre Ziel der frühen elisabethanischen Außenpolitik bestand darin, die Unabhängigkeit Englands zu bewahren und sich insbesondere gegenüber Frankreich zu behaupten (vgl. Wernham 1980: 26f.). Entscheidende Wendepunkte in den englisch-spanischen Beziehungen waren die Besetzung der Niederlande durch Spanien und der Ausbruch des Achtzigjährigen Krieges 1568. Die Niederlande waren der wichtigste Handelspartner Englands, und der Hafen von Antwerpen bildete bis dahin das einzige Ziel für die englischen Tuchexporte. Durch die ökonomischen Einschränkungen als Folge der Präsenz habsburgischer Truppen wuchs der Druck auf die englische Regierung, sich in den Konflikt einzumischen. Das Verhältnis zwischen England und Spanien kühlte merklich ab, und Pamphlete über das unrechte und übermäßig grausame Verhalten der habsburgischen Truppen und des Herzogs von Alba zirkulierten in ganz Europa. Besondere Aufmerksamkeit erregten Schriften, die angeblich aus der Feder des niederländischen Statthalters und Rebellenführers Wilhelm von Oranien stammten und auch ins Englische übersetzt wurden (vgl. Maltby 1971: 53f.). Die staatliche Konstruktion des Feindbildes ‚Spanien‘ begann in dieser Zeit. Insbesondere sind dabei die Aktivitäten von William Cecil, Lord Burghley (1520–1598), dem langjährigen Sekretär und Schatzmeister der Königin zu beachten. Gemeinsam mit Sir Francis Walsingham, seinem Nachfolger als Staatssekretär und Gründer des britischen Geheimdienstes, war er der Urheber der staatlichen Propaganda im elisabethanischen England. Burghley war der wichtigste Berater der Königin in außenpolitischen Fragen und scheint ebenfalls die treibende Kraft hinter der Kampagne gegen die englischen Katholiken gewesen zu sein, die er des Landesverrats und der Kollaboration mit Spanien verdächtigte (vgl. Hillgarth 2000: 365). Er verfasste persönlich zahlreiche an das Volk gerichtete Pamphlete, in denen er die Interessen der Krone vertrat. Ein Teil davon kann nach Matthias A. Shaaber als „officially-inspired news“ klassifiziert werden: Sie waren nicht als Publikationen der Regierung erkennbar und erschienen anonym oder mit falschen Angaben. Trotzdem bestehe kein Zweifel, „that they represent the official point of view and were calculated to spread the impression which the government wished to create“ (Shaaber 1929: 52). Das einflussreichste Pamphlet Burghleys ist wohl The copie of a letter sent out of England to Don Bernardin Mendoza ambassadour in France 48
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(Letter to Mendoza 1588). Verfasst kurz nach dem Untergang der Armada im Sommer 1588, wurde es rasch in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt. Die englische Fassung erschien im September 1588 in London (vgl. Scully 2003: 665). Das Pamphlet ist laut Vorwort die Kopie eines Briefes von Richard Leigh, der 1588 wegen Hochverrats hingerichtet worden war. Wie auf der Titelseite behauptet wird, waren englische und französische Kopien des Briefes, adressiert an den spanischen Botschafter in Paris, in Leighs Kammer gefunden worden. Der wahre Verfasser war für die Zeitgenossen nicht erkennbar.5 Der Brief ist aus der Sicht eines Katholiken und Verräters geschrieben, der die spanische Invasion herbeigesehnt und der bis kurz zuvor geglaubt hatte, „that all the kings preparations, which had bene in making ready these three or foure yeares together, were nowe in full perfection, and without faile would this Sommer come into our seas with such mighty strength, as no Nauie of England, or of Christendome, could resist or abide their force“ (Letter to Mendoza 1588: 2).
In diesem Pamphlet wird eine Erklärung für das jämmerliche Versagen der gefürchteten und schon im Voraus als unbesiegbar beschriebenen Armada6 präsentiert: Die zuvor veröffentlichten Beschreibungen seien übertrieben gewesen. Das Pamphlet war natürlich auch an die englischen Katholiken gerichtet, die auf diese Weise eine Version der Wirklichkeit präsentiert bekommen sollten, die vermeintlich von einem der Ihren stammte. So erfahren sie, dass sie in England bei weitem nicht so schlecht behandelt würden wie die englischen Exilanten in Spanien (vgl. Letter to Mendoza 1588: 10). Auch stünde Gott nicht auf ihrer Seite, sondern auf der der Lutheraner: „[Y]et surely it is most manifest, that in all this voiage from the comming of the Nauie out of Lisbon even to this houre, God did shew no fauour to ours any one day, as he did continually to these Luthera[n]s“ (Letter to Mendoza 1588: 17).
Das Motiv des ‚protestantischen Windes‘, der die spanische Flotte zerstreute, wird in späteren Publikationen häufig wiederholt, weil die nach der Auffassung der Zeit von Gott geschickten Wetterverhältnisse einen eindeutigen Beweis für die Rechtmäßigkeit der protestantischen Sache lieferten. Das Pamphlet schließt mit einem Nachwort des Druckers, datiert auf den 9. Oktober 1588, in dem Neuigkeiten berichtet werden, die dem hingerichteten Leigh noch nicht bekannt gewesen sein konnten: Überall an Eng5 Burghleys Entwurf in seiner eigenen Handschrift ist im Manuskript erhalten geblie-
ben und beweist damit eindeutig seine Autorschaft (vgl. British Library MS Lansdowne 103, Nr. 55, fol. 134–163, in: State Papers Online 2010, Gale Document Number: MC4305008722). 6 Zum Mythos der Unbesiegbarkeit der Armada siehe unten Anm. 15.
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lands und Schottlands Küsten seien Schiffswracks angespült worden, einige sogar in Irland. Die meisten spanischen Seeleute seien ertrunken, manche habe jedoch ein noch härteres Schicksal getroffen: „[T]he Spaniardes [were] forced to land for succour among the wilde Irish“ (Letter to Mendoza 1588: F1v7). Detaillierte Augenzeugenberichte aus Irland waren dem Brief an Mendoza als Anhang beigefügt. Auf insgesamt 17 Seiten werden die Namen der spanischen Schiffe und ihrer Kapitäne sowie die Verhörprotokolle von überlebenden Seeleuten dokumentiert. Der Anhang schließt mit zwei Tabellen, in denen alle zwischen Juli und September 1588 gesunkenen spanischen Schiffe inklusive Besatzungsstärke und Ort des Untergangs aufgelistet sind. Die Gesamtzahl der Todesopfer betrug demnach 15.579. Diese akribische Darstellung diente nur einem Zweck, nämlich, „that he may see, how God doth fauour the iust cause of our gracious Queene, in shewing his anger towardes these proud boasting enemies of Christian peace“ (Letter to Mendoza 1588: F2r). Das Impressum des Briefes an Mendoza lautet: „Imprinted at London: By I[aquiline] Vautrollier8 for Richard Field“ (Letter to Mendoza 1588: A1r). Warum Burghley den Druckauftrag an die Witwe Vatroullier vergab, die keine gültige Drucklizenz besaß, ist unklar. Vermutlich hatte ihr Mann ihm bereits bei ähnlichen Unternehmungen gute Dienste geleistet, und Burghley wollte mit dem Auftrag an eine illegale Druckerwerkstatt seine Spur verwischen. Die Lizenz für die italienische Version des Briefes wurde am 18. Oktober für John Wolfe in das Register der Stationers eingetragen. Dort wird ein Brief erwähnt, in dem der Staatssekretär Sir Francis Walsingham persönlich die Druckerlaubnis erteilt (vgl. Arber 1967: Bd. I. 2, 504), was ebenfalls die Beteiligung der Regierung beweist. Warum nur die italienische Version von Wolfe gedruckt wurde, ist unbekannt (vgl. Woodfield 1973: 35f.). John Wolfe hatte jedoch einige Erfahrung in der Veröffentlichung von italienischen Büchern und schon zuvor politische Propaganda mit fingiertem Impressum im Auftrag der Regierung gedruckt. Seine Kooperation mit Lord Burghley lässt sich durch zahlreiche Dokumente nachweisen. Durch die Zusammenarbeit mit Druckern wie Wolfe und die heimliche Veröffentli7 Das Nachwort des Druckers hat keine Paginierung, daher wird hier die Bogensignatur 8
angegeben. Die Signatur ist nicht fortlaufend zum nachfolgenden Teil, was darauf hinweist, dass die Teile separat gedruckt und später zusammengefügt wurden. Jacqueline Vatroullier war die Witwe des kurz zuvor verstorbenen hugenottischen Druckers Thomas Vatroullier, die versucht hatte, das Geschäft ihres Mannes fortzusetzen. Einige Monate vorher war ihr dies verboten worden, da ihr Mann zum Zeitpunkt seines Todes kein ordentliches Mitglied der Stationers’ Company, der Londoner Druckergilde, gewesen war. Sie heiratete bald darauf nach gängiger Praxis den ebenfalls erwähnten Richard Field, den Lehrling ihres Mannes, der damit die Druckwerkstatt erbte (vgl. Woodfield 1973: 35).
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chung von Pamphleten konnte die elisabethanische Regierung die Bevölkerung gezielt zur Fremdenfeindlichkeit erziehen (vgl. Griffin 2009: 106ff.). Abgesehen von Burghleys verborgenen Aktivitäten gab es natürlich auch die „Official News“ (Shaaber 1929: 35–51). Die erste und offiziellste Art der Verlautbarung war die königliche Proklamation. Sie stellte für die Tudordynastie ein wichtiges Herrschaftsinstrument dar, insbesondere dann, wenn eine schnelle Reaktion auf aktuelle Ereignisse notwendig war. In diese Kategorie fallen auch die seltener erscheinenden Deklarationen, in denen die Aktionen der Regierung gerechtfertigt und ihre Motive erläutert wurden. Diese Form der Publikation kam besonders dann zum Einsatz, wenn Unterstützung für Kriegshandlungen eingeworben werden musste (vgl. Shaaber 1929: 45f.). Ein solcher Fall war der Vertrag von Nonsuch, den Elisabeth I. 1585 unterzeichnete und in dem sie den Niederlanden militärische Unterstützung für ihren Freiheitskampf zusicherte. 7.000 englische Soldaten wurden daraufhin unter der Leitung des Earl of Leicester auf den Kontinent geschickt, was faktisch einer Kriegserklärung an Spanien gleichkam und vom spanischen König auch so verstanden wurde (vgl. Wernham 1980: 57). Der Öffentlichkeit wurden die Gründe für diese Entscheidung in einer von Lord Burghley verfassten Deklaration dargelegt, veröffentlicht unter dem Titel A declaration of the causes moouing the Queene of England to giue aide to the defence of the people afflicted and oppressed in the lowe countries (Declaration of the causes 1585). Dieses Dokument wurde zweifellos als ‚Official News‘ wahrgenommen, da es aus der Werkstatt des Hofdruckers Christopher Barker stammte und das königliche Wappen in voller Seitenhöhe auf der Rückseite des Titelblatts erschien. Den primären Grund für das Eingreifen bildete laut Burghley die Sicherung der englischen Handelsinteressen: Die Niederlande seien seit Menschengedenken der wichtigste Handelspartner Englands, wie durch zahlreiche Verträge seit dem Mittelalter bestätigt werde. Bedroht sei dieses freundschaftliche und durch lange Tradition legitimierte Verhältnis nun durch die Besatzungspolitik Philips II.: „[T]o appoynt Spaniardes, forregners and strangers of strange blood, men more exercised in warres then in peaceable government, & some of the[m] notably delighted in blood, as hath appeared by their actions, to be the chiefest gouernours of all this sayde lowe countries, contrary to the ancient lawes & customes thereof“ (Declaration of the causes 1585: 5; Hervorh. i. Orig.).
Die dynastische Übernahme der Niederlande war nach den Vorstellungen der Zeit legitim und ist hier nicht der Stein des Anstoßes. Die Kritik zielt vielmehr auf die Art der Verwaltung. Das Versagen aller diplomatischen Mittel und aufgedeckte Verschwörungen hätten außerdem bewiesen, so Burghley, dass auch England von Invasionsplänen unmittelbar bedroht sei. 51
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Es bestehe allerdings kein Anlass zur Sorge, da Gott auf Seiten der englischen Königin stehe, wie sich im Falle ihrer versuchten Ermordung als Folge eines schottisch-französischen Komplotts einige Jahre zuvor gezeigt habe (vgl. Declaration of the causes 1585: 16). An wen Burghley seine propagandistischen Anstrengungen richtete, ist unklar. Die 20-seitige Deklaration erschien jedoch gleichzeitig in fünf Sprachen9 und wurde wahrscheinlich besonders in den Hafenstädten verbreitet. Damit englische Kriegsschiffe ungehindert die europäischen Häfen anlaufen konnten, mussten die Motive und die Rechtmäßigkeit der englischen Absichten klargestellt werden. Es handelt sich bei diesen Veröffentlichungen also um klassische Kriegspropaganda, mit der versucht wurde, möglichst viele Menschen auf die Seite der englischen Sache zu ziehen und die Unrechtmäßigkeit der spanischen Handlungen nachzuweisen. Als Beweis für die Rechtmäßigkeit der englischen Politik wurden Gunstbeweise angeführt, die Gott den Engländern zuvor gezeigt hatte, darunter die Vereitelung von Attentaten auf die Königin. Der Anti-Hispanismus des 16. Jahrhunderts war kein rein englisches Phänomen. Gerade die zahlreichen Pamphlete sind Teil einer gemeinsamen westeuropäischen Druckkultur. Viele Texte zirkulierten in den großen westeuropäischen Sprachen, und zahlreiche Drucker produzierten nicht nur für ihre eigenen Landsleute, sondern hatten immer auch den Exportmarkt im Blick. Burghleys Brief an Mendoza erschien zum Beispiel gleichzeitig auf Französisch und Englisch und wurde noch 1588 ins Niederländische übersetzt und in Amsterdam gedruckt (Copije van eenen brief 1588). Umgekehrt wurden auch propagandistische Schriften aus Spanien und Frankreich in England eifrig gesammelt und – wenn sie für die englischen Zwecke tauglich waren – übersetzt. Lord Burghley beschäftigte dazu ein weites Netzwerk aus Spionen, Übersetzern und Druckern (vgl. Parmelee 1996: 33f.). Die Anstrengungen, mit diesen Mitteln ein Feindbild zu konstruieren, waren überaus erfolgreich: „[A]uthors and translators high and low were being actively encouraged to participate in the state-sponsored production of pro-English, militantly Protestant, and violently anti-Spanish propaganda. Indeed, so successfully disseminated were these Hispanophobic typologies that, by means of their incessant repetition, they have echoed down the centuries as a ‘truth’ of history“ (Griffin 2009: 50).
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Alle Übersetzungen wurden – wie auch das englische Original – vom Hofdrucker Christopher Barker 1585 in London gedruckt (Declaration of the causes 1585; Declaratio causarum 1585; Declaration des causes 1585; Dichiaratione delle caggioni 1585; Een verclaringhe der oorsaken 1585).
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Neben den Publikationen der Regierung hatte der Topos der Spanier als Bösewichte auch längst den freien Markt erobert. Als Reaktion auf die Berichte über den Rückzug der Armada erschien 1588/89 eine Welle von anti-spanischen Pamphleten, Traktaten und Balladen, die hauptsächlich von drei englischen Druckern produziert wurden: John Wolfe, Henry Carre und Thomas Orwin. Letzterer war verantwortlich für den Druck einer berühmten Ballade, die unter dem Titel A new ballet of the straunge and most cruell whippes which the Spanyards had prepared to whippe and torment English men and women 1588 als Einblattdruck erschien. Der Verfasser war Thomas Deloney, ein bekannter Balladendichter aus London. Er beschreibt in der Ballade die Misshandlungen der englischen Bevölkerung, die von den Spaniern nach einer erfolgreichen Invasion durchgeführt worden wären. Zu diesem Zweck seien an Bord der spanischen Schiffe spezielle Peitschen mitgeführt worden, die auch in einer Abbildung zu sehen sind. Die geplanten Auspeitschungen und andere Foltermethoden werden detailliert dargestellt: „The strings whereof with wyerie knots, / like rowels they did frame, / That euery stroke might teare the flesh / they layd on with the same. / And pluckt the spreading sinewes from / the hardned bloudie bone, / To pricke and pearce each tender veine, / within the bodie knowne. [...] And set the Ladies great with childe / upright against a tree, / And shoot the[m] through with pearcing darts, / such would their practise bee“ (New ballet 1588: Zeile 47–52; 93–96). An deren Schnüren drahtige Knoten / wie Sporen brachten sie an, / damit das Fleisch zerreiße jeder Schlag / den sie damit machen. / Und pflücke die gespannten Sehnen von / den verhärteten blutigen Knochen, / um zu stechen und durchbohren jede empfindliche Vene, / die man im Körper kennt. [...] Und stellten die hochschwangeren Frauen / aufrecht an einen Baum / und durchbohrten sie mit spitzen Pfeilen, / das wäre ihre Methode (Übersetzung E. S.).
Als Beweis für seine Behauptungen zieht Deloney eine Parallele zur Besetzung Britanniens in der Antike und weist darauf hin, dass schon damals die Römer bevorzugt die einheimischen Frauen misshandelten. Das Verhalten der Spanier ließe sich aus ihrer Abstammung von den Römern ableiten: „Thinke you the Romish Spanyards now / would not shewe their des[c] ent“ (New ballet 1588: Zeile 114f.). Thomas Orwin druckte außerdem laut einem Eintrag im Register der Stationer vom 3. November 1588 zusammen mit Henry Carre A ballad of the most happie Victory obtained ouer the Spaniardes and their ouerthrowe in July last 1588 (vgl. Arber 1967: Bd. II, 505), von der kein Exemplar überliefert ist. Solche populären Balladen dienten eindeutig der Befriedigung von Sensationslust, wohingegen andere Pamphlete eher informativer Natur waren und Beschreibungen und konkrete Zahlen über die spanische 53
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Flotte präsentierten. Ein von John Wolfe 1588 gedrucktes Pamphlet über die Armada enthält zum Beispiel nicht weniger als 50 Seiten mit Namenslisten der spanischen Schiffe sowie genaue Zahlen zu ihrer Besatzung und Bewaffnung (vgl. True discourse 1588). Zur Zeit Elisabeths I. gab es keine reguläre königliche Flotte, die für Seeschlachten mit den Spaniern geeignet gewesen wäre. Die Strategie der Königin für den Seekrieg beruhte daher auf dem Ausstellen von Kaperbriefen, in denen sie öffentlich zur Piraterie aufrief. Das Ziel dieser Politik war es, die Lieferung von Waffen und Lebensmitteln an Spanien zu unterbinden und die Geldzufuhr aus Westindien abzuschneiden. In einer königlichen Proklamation von 1597, die einen solchen Kaperbrief darstellt, werden wiederum die bekannten Elemente des Feindbildes abgerufen: Dem unterdrückten Volk der Niederlande müsse geholfen werden, da es von einer Armee aus „unnatural strangers“ – gemeint waren dabei vor allem Spanier und Italiener – bedroht würde. Deshalb herrsche in den Niederlanden die feindseligste Atmosphäre der ganzen Christenheit, mit Ausnahme von Ungarn, das zu dieser Zeit von den Osmanen erobert worden war. Außerdem verwende der spanische König den Reichtum aus den spanischen Kolonien dazu, neue und mächtige Schiffe zu bauen, mit denen er Frankreich und die Britischen Inseln zu erobern plane. Zur Verteidigung des Landes erlaube und befürworte die Königin daher die Bewaffnung der englischen Schiffe und den Angriff auf alle Schiffe mit kriegswichtigen Waren („impeach and arrest“), die Kurs auf Spanien und Portugal nähmen (vgl. Hughes/Larkin 1964: Bd. III, 183ff.). Dieses Arrangement kam der unter chronischem Geldmangel leidenden englischen Krone zugute, die dadurch keine eigene Flotte unterhalten musste. Elisabeths Strategie war auch durchaus effektiv, denn die englischen Piraten rieben – getrieben von der Gier nach den Edelmetallen aus den spanischen Kolonien – die spanischen Handelsflotten in den folgenden Jahrzehnten fast völlig auf. Es ging nicht darum, religiös oder politisch motivierte Schlachten zu gewinnen, die Spanier sollten vielmehr ökonomisch geschädigt werden. Organisiert und finanziert wurden diese Raubzüge von Londoner Kaufleuten (vgl. Wernham 1980: 63). Für die Pamphletliteratur lieferten diese Angriffe reichlich Stoff: Beginnend mit der Schlacht im Hafen von San Juan de Ulúa 1568 waren Konflikte zwischen englischen und spanischen Schiffen ein beliebtes Thema. Insbesondere in den Werken Richard Hakluyts, der unter der Patronage Walsinghams stand, spielen diese Schlachten eine zentrale Rolle (vgl. Maltby 1971: 61–71). Die Spanier eigneten sich in den Geschichten über heroische englische Seeleute und Piraten sehr gut als Bösewichte: Da sie als Erzfeinde Englands galten, war es moralisch nicht verwerflich, von ihnen zu stehlen. Man erwies damit seinem Land im Gegenteil sogar einen Dienst (vgl. z. B. Honourable actions 1591). 54
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Zu einer erfolgreichen Propagandastrategie gehört neben einer überzeugenden Konstruktion eines Feindbildes auch die Unterdrückung gegenteiliger Darstellungen, die ebenfalls feststellbar ist. Kardinal William Allen, das Oberhaupt der englischen Katholiken im Exil, hatte vom Papst den Auftrag erhalten, die Unterstützung der englischen Katholiken für die geplante Invasion von 1588 zu sichern. Er schrieb aus dem Exil in den Niederlanden zu diesem Zweck politische Traktate, die nach England geschmuggelt wurden. Den Höhepunkt dieser Kampagne bildet ein 60-seitiger Traktat, der einen persönlichen Angriff auf die Königin enthält und außerdem offen zur Unterstützung Philips II. aufruft, der als Retter des englischen Volkes und rechtmäßiger König dargestellt wird (vgl. Admonition to the nobility 1588). Im Juni 1588 erlangte Walsingham wahrscheinlich über Spione Kenntnis von diesem Werk und ließ es verbieten (vgl. Auchter 2001: 11–14; Hughes/ Larkin 1964: Bd. III, 13ff.). 1595 versuchten Allen und seine Mitarbeiter erneut, Philip II. von Spanien und vor allem seine älteste Tochter Isabella als mögliche Thronfolger ins Gespräch zu bringen. In einem umfangreichen Traktat argumentieren sie, dass man Kandidaten für den englischen Thron nicht aus Fremdenhass ablehnen solle (vgl. Conference about the next succession 1595). Dieser Traktat – unter Pseudonym veröffentlicht – wurde ebenfalls verboten. In diesem Fall war eine staatliche Unterdrückung jedoch kaum nötig, da auch die englischen Katholiken empört auf die Vorstellung einer spanischen Prinzessin auf dem englischen Thron reagierten (vgl. Auchter 2001: 60ff.). Unabhängig von der außenpolitischen Situation entwickelte sich das Feindbild ‚Spanien‘ auch inhaltlich weiter. Vor allem die Frage nach der Ursache der spanischen ‚Andersartigkeit‘ beschäftigte die frühneuzeitlichen Pamphletisten. Viele sahen den konfessionellen Konflikt als Grund: England mit Elisabeth als protestantischer Heldin stand Spanien gegenüber, dessen König Philip II. eine bedingungslose Papsttreue nachgesagt wurde. Die beiden Monarchen werden als Gallionsfiguren an der Spitze ihrer jeweiligen Konfession dargestellt. Trotz seiner breiten Rezeption entsprach dieses Propagandabild nicht unbedingt der Realität, denn die Päpste des späten 16. Jahrhunderts waren keine ausgesprochenen Verbündeten der spanischen Krone. Indem sich Philip aber als Kämpfer für die römisch-katholische Religion inszenierte oder von Dritten als solcher inszeniert wurde, gab er den Propagandisten einen Anlass, die protestantischen Gebiete Westeuropas als bedrohte Enklaven inmitten einer katholischen Verschwörung zu präsentieren (vgl. Fernández-Armesto 1988: 34ff.; 43). Der Papst hatte seit den Tagen Heinrichs VIII. in England ein ausgesprochen negatives Image und wurde nicht selten als ‚Antichrist‘ bezeichnet. Eine katholische Verschwörung war daher in der Vorstellung der Zeitgenossen alles andere 55
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als unwahrscheinlich. Bestätigung erhielten diese Gerüchte durch französische Propagandapamphlete, die für den englischen Markt übersetzt worden waren. In einem 1590 erschienenen Pamphlet klagt ein französischer Katholik darüber, dass Philipp II. als Anführer der katholischen Länder gelte. Er behauptet, dass Spaniens Ruin unmittelbar bevorstehe und die Katholiken deshalb den nächsten Krieg, der nur eine Frage der Zeit sei, verlieren würden (vgl. Anti-Spaniard 1590). Dieses Pamphlet wurde von Anthony Munday – einem Mitarbeiter Lord Burghleys – übersetzt und von John Wolfe gedruckt (vgl. Parmelee 1996: 36). Pamphlete wie dieses zeigten dem englischen Publikum, dass selbst ein Teil der katholischen Franzosen, von denen man konfessionelle Loyalität hätte erwarten können, dem spanischen König feindlich gegenüberstand. Ein weiteres wichtiges Element für die inhaltliche Entwicklung des Feindbildes waren die spanischen Eroberungen in Amerika. Der daraus resultierende Reichtum an Silber hatte auf der einen Seite den Neid der anderen europäischen Großmächte hervorgerufen. Auf der anderen Seite boten Berichte wie die des Dominikaners Bartolomé de Las Casas über die Grausamkeit der Spanier gegenüber den amerikanischen Ureinwohnern eine willkommene Legitimation für Zweifel an der Rechtmäßigkeit der spanischen Kolonialpolitik.10 Die Gräueltaten in Amerika waren Munition im Propagandakrieg, der parallel zum Seekrieg geführt wurde (vgl. Maltby 1971: 28). Die Grausamkeit, die den Spaniern nachgesagt wurde und die angeblich ihrer Natur entsprach, regte die Pamphletisten zum Nachdenken an. Wie war dieses Bild mit einem christlichen Volk vereinbar? Eine Erklärung schien bald gefunden: Spanien war jahrhundertelang nicht nur von Christen, sondern auch von Mauren und Juden bewohnt gewesen. Es sei dabei zwangsläufig zu einer Vermischung der Bevölkerung gekommen.11 Diese scheinbare Ursache für die Bösartigkeit der Spanier fiel auf fruchtbaren Boden und wurde breit rezipiert. Damit war ein vermeintlich unwiderlegbarer Beweis für ihre Andersartigkeit und Fremdheit gefunden, und die Feindschaft schien geradezu gottgegeben (vgl. Griffin 2009: 47). Im Druckervorwort zur ersten englischen Ausgabe von Las Casas’ Bericht über die spanischen Gräueltaten in den Kolonien wird diese Idee aufgegriffen und die Abstammung der Spanier von Goten und Sarazenen als logische 10 Las Casas, Bischof von Chiapas, hatte seinen berühmten Bericht über die Gräueltaten der
Spanier in der Neuen Welt bereits 1551 verfasst. Die erste englische Übersetzung erschien erst 1583 (Spanish colonie 1583). 11 Dieser Topos der Abstammung der Spanier von nicht-christlichen Völkern wurde zum ersten Mal 1581 in der Apologie des Wilhelm von Oranien erwähnt: „[T]hat the greatest parte of the Spanyardes, and specially those, that counte themselues Nobel men, are of the blood of the Moores and Iewes, who also keepe this vertue of their Auncestors, who solde for readie money downe tolde, the life of our Sauiour“ (Apologie 1581: 110).
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Ursache für ihr barbarisches Verhalten genannt.12 Dieses Argument, von Griffin „race card“ genannt, wurde wohlgemerkt erst nachträglich eingeführt und kann nicht als Ursache des Anti-Hispanismus im Allgemeinen gesehen werden (vgl. Griffin 2009: 48). Ein voll ausgeprägtes Feindbild zeigt ein typisches anti-spanisches Pamphlet aus dem Jahr 1599, veröffentlicht von John Wolfe unter dem Titel A pageant of Spanish humours. Es handelt sich laut Titelseite um eine Übersetzung aus dem Niederländischen, wobei Übersetzer und Original heute unbekannt sind. Dieses 14-seitige Pamphlet enthält alle typischen Elemente der ‚Schwarzen Legende‘. Es porträtiert den prototypischen ‚Signor of Spaine‘ und das Verhalten der Spanier als Besatzungsmacht im täglichen Leben sowie im Konflikt- und Belagerungsfall. Die Einzelheiten reichen von mangelnden Tischsitten („A Signior is a Wolfe at Table“) und Verdauungsproblemen („A Signior is a Hogge in his Chamber“) bis zur Gier nach Gold („Gold is Signiors God“) (Pageant of Spanish humours 1599: A2v; B; B2v). Der ‚böse Spanier‘ ist hier extrem überzeichnet und erscheint als Karikatur. Das Feindbild hatte sich von tatsächlichen Bedrohungen sowie jeglicher Plausibilität bereits weit entfernt. Dreißig Jahre lang mussten Warnungen vor spanischem Einfluss und einer potenziellen Invasion anhand von Präzedenzfällen wie der Besetzung der Niederlande und den grausamen Eroberungen in Amerika begründet werden. Solche Hinweise auf tatsächliche Vorkommnisse waren am Ende des 16. Jahrhunderts unnötig geworden. Die Entwicklungen des frühen 17. Jahrhunderts bestätigen, dass sich der Anti-Hispanismus von den historischen Umständen seiner Entstehung gelöst und als Topos fest im Bewusstsein der Zeitgenossen verankert hatte. Elisabeths Nachfolger auf dem englischen Thron, James I. (1603–1625), schlug in der Außenpolitik eine völlig andere Richtung ein: Am 23. Juni 1603 veröffentlichte er eine Proklamation, mit der die Kaperbriefe Elisabeths aufgehoben und jegliche Angriffe auf spanische Schiffe zur Piraterie erklärt wurden (vgl. Larkin/Hughes 1973: 30ff.). Nach erfolgreichen Friedensverhandlungen wurde dann am 19. August 1604 das Ende des AngloSpanischen Krieges verkündet. Die Proklamation zu diesem Anlass schließt mit der Aufforderung: „And from henceforth to accompt all Subjects of the said Kinge of Spaine [...] to bee our friends and allyes“ (Larkin/Hughes 1973: 91). Die Bevölkerung Londons reagierte auf diese Nachricht mit Zurückhaltung. Es gab weder Jubelrufe noch die bei der Verkündung eines Friedensvertrags üblichen Freudenfeuer (vgl. Larkin/Hughes 1973: 91). In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Unzufriedenheit mit diesem Frie12 Eric J. Griffin nennt als Verantwortlichen den Verleger und Drucker John Day (1521/22–
1584); laut Impressum war der Herausgeber jedoch William Brome (vgl. Griffin 2009: 48 und Spanish colonie 1583: 1).
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densschluss, und die Spanier wurden erneut als Ursache jeglicher Missstände identifiziert. Der spanische Botschafter Diego Sarmiento de Acuña, genannt Gondomar, wurde zur Zielscheibe von Spott und Misstrauen, und sein Einfluss auf den König war gefürchtet (vgl. Maltby 1971: 101). Es gab aber keine Anstrengungen von Seiten der Regierung, das Image der Spanier zu verbessern, die in ihrer Intensität mit der anti-hispanischen elisabethanischen Propaganda vergleichbar gewesen wären. Die königlichen Proklamationen aus der Regierungszeit James I., in denen zum Frieden aufgerufen wird, richteten sich vor allem an Seeleute und Abenteurer, also an Personen, die in direkten Kontakt mit den Spaniern kamen.13 Die außenpolitische Situation sorgte für neuen Zündstoff: Nach dem Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618 glaubte man die Ursache für die Niederlagen der protestantischen Mächte auf dem Kontinent in den verräterischen Machenschaften der Spanier zu erkennen. Nach Meinung der meisten Engländer wäre es die Pflicht des Königs gewesen, auf der Seite seines Schwiegersohns, des ‚Winterkönigs‘,14 in den Konflikt einzugreifen. In einer Sitzung des englischen Parlaments 1621 wurden die Verbrechen der Spanier während der Regentschaft Elisabeths detailliert aufgezählt, um zu begründen, warum der König sich für ein Eingreifen entscheiden solle (vgl. Maltby 1971: 102). Zu den Anklagepunkten zählten mehrere Versuche, die Königin zu vergiften, sowie das Einschleppen von Geschlechtskrankheiten und Viehseuchen (vgl. House of Commons 1766: 222f.). König James zeigte sich von diesen Hetzkampagnen jedoch unbeeindruckt und blieb bei seiner Politik des Friedens. Nur besonders harsche Angriffe auf die Spanier wurden von der Krone unterdrückt. Thomas Scott schrieb 1620 ein anti-spanisches Pamphlet mit dem Titel Vox populi, or Newes from Spayne, das anonym veröffentlicht wurde. Der Text ist aus der Sicht des spanischen Botschafters Gondomar geschrieben, der sich damit brüstet, dass er die englische Regierung unterwandert und den Katholizismus wieder eingeführt habe (vgl. Vox populi 1620). Das Pamphlet wurde verboten, und Scott musste England vorübergehend verlassen. In der gleichen Tradition steht ein Pamphlet von 1624, in dem die verstorbenen Mitglieder des englischen Königshauses im Himmel abfällig über Spanien und seine Politik diskutieren (vgl. Vox coeli 1624). Der Autor des Pamphlets wurde zu Gefängnis und einer hohen Geldstrafe verurteilt (vgl. Auchter 2001: 360f.). 13 In einer königlichen Proklamation vom 8. Juli 1605 verbietet James I. allen englischen See-
leuten, sich in den Dienst eines fremden Fürsten zu stellen. Dies betraf vor allem jegliche Unterstützung für Schiffe aus den Niederlanden (vgl. Larkin/Hughes 1973: 114ff.). 14 Die englische Prinzessin Elisabeth hatte Friedrich von der Pfalz geheiratet, der einen Winter lang König von Böhmen war, bevor er 1620 von katholischen Truppen aus seinem Land vertrieben wurde.
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Das ‚Spanish Match‘ – eine geplante Heirat zwischen Kronprinz Charles und der spanischen Infanta – führte zu einer erhitzten öffentlichen Debatte, die in zahlreichen Dokumenten überliefert ist. Die Vorteile einer solchen Verbindung wären für die englische Krone groß gewesen, unter anderem versprach sie eine große Mitgift. Die Bedingungen, die die Spanier stellten, waren allerdings für die meisten Engländer nicht akzeptabel: Der königliche Nachwuchs wäre katholisch erzogen, und die Restriktionen gegen Katholiken in England wären abgeschafft worden. Weder James noch sein Sohn sahen darin zunächst ein großes Problem, und so reiste Charles zu weiteren Verhandlungen 1623 nach Spanien. Dort scheiterte das Unternehmen aber an den überzogenen Forderungen und der mangelnden Kompromissbereitschaft der Spanier, so dass der Kronprinz 1624 unverheiratet nach England zurückkehrte, wo er als Held gefeiert wurde. Der Dramatiker Thomas Middleton schrieb zu diesem Anlass das Theaterstück A Game at Chess (Game at chesse 1625; vgl. Auchter 2001: 127– 130). Darin stehen die weißen Schachfiguren für die Mitglieder des englischen Hofes, die schwarzen Figuren hingegen karikaturhaft für die Spanier. Durch Verschwörungen und Hinterlist versuchen sie, die weißen Figuren – und dabei insbesondere den weißen Springer, der Prinz Charles repräsentiert – zu korrumpieren. Die Veröffentlichung des Stückes war eine eindeutige Provokation. Middleton ließ nicht nur Mitglieder des Königshauses auf der Bühne darstellen – was verboten war –, sondern besetzte auch die Rolle des schwarzen Springers mit dem spanischen Botschafter Gondomar. Diesen lässt er über sich selbst sagen: „To many a Soule I haue let in mortall poyson, Whose cheekes haue crackt with laughter to receiue it: I could so rowle my Pills in sugred syllables“ (Game at chesse 1625: 12). Im Stück ist er die treibende Kraft hinter den Invasionsplänen. Seine Hinterhältigkeit kennt dabei keine Grenzen. A Game at Chess wurde vom 5. bis 14. August 1624 täglich im Globe Theater aufgeführt, bevor das Privy Council einschritt und weitere Aufführungen verbot. Das Stück war Stadtgespräch in London und zog große Besuchermassen an. Der spanische Botschafter beschwerte sich sogleich über die negative Darstellung seines Landes und seiner Person: Er fühle sich durch die anti-spanische Stimmung in London bedroht (vgl. Auchter 2001: 129). Wie Middleton überhaupt eine Aufführungslizenz für das Stück erhalten konnte, ist unklar, aber weder er noch die Schauspieler konnten so strafrechtlich verfolgt werden (vgl. O’Callaghan 2009: 160). In den folgenden Jahrhunderten wurden die Klischees über die Boshaftigkeit und Grausamkeit der Spanier oft wiederholt. Sie finden sich vor allem in den einflussreichen Werken der englischen Historiographen des 18. Jahrhunderts, die sich wiederum auf die Chroniken des 16. Jahrhunderts stützten (vgl. Maltby 1971: 56). Die Dauerhaftigkeit gerade dieses Feind59
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bildes basiert auf dem Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Zunächst spielte die Konfession dabei eine entscheidende Rolle: „[T]he association of Protestantism with patriotism [...] did much to give Spain the first place as England’s national and natural enemy“ (Wernham 1980: 86). Den entscheidenden Ausschlag gab aber wohl der Eroberungsversuch durch die spanische Armada, der die Gerüchte über eine geplante Invasion bestätigte und die Bedrohung sehr real erschienen ließ (vgl. Maltby 1971: 76). Die Schiffswracks und Seeleute, die an den Küsten Irlands und Schottlands angespült wurden, waren gewissermaßen die nachträgliche und handfeste Bestätigung für Lord Burghleys Argumente aus der Deklaration von 1585, in der er die Gründe für das Eingreifen in den Niederlanden dargelegt hatte (vgl. Declaration of the causes 1585). Auch wenn der Angriff der spanischen Armada militärisch eher unbedeutend war und nur eine Episode von vielen im Anglo-Spanischen Krieg darstellte, so war seine symbolische Bedeutung doch erheblich. Die früheren Prophezeiungen über die ‚unbesiegbare Armada‘15 wurden in den Pamphleten und Balladen nach 1588 aufgenommen und die tatsächlichen Ereignisse dieser Vorstellung angepasst: Die spanische Flotte wurde stets größer und schwerer bewaffnet dargestellt, die englische Marine dagegen als eine Flotte von Fischerbooten, um den ‚Sieg‘ der Engländer noch ruhmreicher erscheinen zu lassen. Der Anti-Hispanismus in England stellt ein gutes Beispiel für die bewusste Konstruktion eines Feindbildes durch staatliche Autoritäten dar. Mittels Kriegspropaganda erreichte die elisabethanische Regierung in diesem Fall eine breite Zustimmung für ihre Außenpolitik. Durch eine vielschichtige Verknüpfung von Argumenten aus Politik, Religion und Kolonialismus entstand eine für die Zeitgenossen plausible Begründung für die angeblich angeborene Boshaftigkeit der Spanier. Das Scheitern der spanischen Armada 1588 wurde in den folgenden Jahrhunderten historisch verklärt und entwickelte sich zum nationalen Mythos. Durch diesen Prozess erhielten die Spanier das Stigma des ewigen Staatsfeindes. Selbst im 21. Jahrhundert wird dieses Motiv noch aufgegriffen. Im Kinofilm Elisabeth: The Golden 15 Die erste Beschreibung der spanischen Flotte als unbesiegbar findet sich in einer Predigt
vom 9. Februar 1588, also 5 Monate vor der Schlacht (vgl. Sermon preached at Paules Crosse 1588). Sie richtete sich gegen falsche Prophezeiungen, unter anderem die folgende: „Vnto these I might adde the holie maide of Lisbone, who did prophesie this last yeere (if the report be true) that the invincible navie of the Spaniardes should no sooner approch the coast of England, but that presentlie all English mens harts shoulde faile them, and the Spaniards obtain the victory“ (Sermon preached at Paules Crosse 1588: 6f.). Auch in Burghleys Brief an Mendoza wird auf zuvor zirkulierende Gerüchte Bezug genommen: „But after that it was certainely vnderstood, that the great Nauy of Spaine was ready to come out from Lisbone, and that the fame therof was blowne abroad in Christendome to be inuincible, and so published by bookes in print“ (Letter to Mendoza 1588: 15f.). Wahrscheinlich liegt hier der Ursprung der Vorstellung von der ‚unbesiegbaren Armada‘.
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Age von 2007 macht der Regisseur Shekhar Kapur gleich zu Beginn klar, dass Philip II. derjenige Bösewicht ist, der für seine Religion ganz Europa in einen Krieg gestürzt hat. Der spanische König scheint im wörtlichen Sinne von Dunkelheit umgeben: Er ist stets schwarz gekleidet und hält sich in schwach beleuchteten Räumen auf. Mit der gleichen simplen Farbmetaphorik wie Middleton sie benutzte, tritt ihm Elisabeth als weißgekleidete Lichtgestalt entgegen (vgl. Ford/Mitchell 2009: 289). Dieses Beispiel zeigt, dass das Feindbild Spanien zumindest zu dramaturgischen Zwecken weiter eingesetzt wird. Insbesondere bildet der spanische König Philip II. den benötigten Antagonisten zu der von der Nachwelt glorifizierten Elisabeth I. Um zur Heldin aufzusteigen, braucht sie auch noch in modernen Nacherzählungen einen starken und unzweifelhaft bösen Gegenpart, dem sie sich widersetzen und vor dem sie ihr Volk retten kann. Diese Rolle übernehmen nach wie vor die Spanier.
Literaturverzeichnis Unedierte Primärquellen Alle folgenden Titel wurden, soweit nicht anders angegeben, unter EEBO 2003–2011 eingesehen. sAdmonition to the nobility 1588: An admonition to the nobility and people of England and Ireland concerninge the present warres made for the execution of his Holines sentence, by the highe and mightie Kinge Catholike of Spaine. By the Cardinal of Englande, [William Allen], [Antwerpen: A. Coninncx], A[nn]o. M.D.LXXXVIII. [1588] (STC 368). Anti-Spaniard 1590: The coppie of the Anti-Spaniard made at Paris by a French man, a Catholique. Wherein is directly proued how the Spanish King is the onely cause of all the troubles in France. Translated out of French into English, London: Printed by Iohn Wolfe (STC 684.5). Apologie 1581: The apologie or defence of the most noble Prince William, by the grace of God, Prince of Orange [...], Delft (STC 15207.5). Conference about the next succession 1595: A conference about the next succession to the crowne of Ingland diuided into two partes. [...] Published by R. Doleman. Imprinted at N. [i. e. Antwerp : By A. Conincx] with licence (STC 19398). Copije van eenen brief 1588: Copije van eenen brief wt Engelandt ghesonden aen don Bernardin Mendosa [...] verclarende den staet van Enghelandt. Amsterdam: C. Claeszoon, in: Early Modern Pamphlets 2011, Pamphlet Nr. 00840, unter: (Zugriff am 10.1.2011). Copye of a letter 1556: The copye of a letter, sent by Iohn Bradforth to [...] the Erles of Arundel, Darbie, Shrewsburye, and Penbroke, declaring the nature of the Spani-
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Eva Schaten ardes, and discovering the most detestable treasons, which thei haue pretended [...] agaynste [...] Englande. Wherunto is added a tragical blast of the papisticall tro[m]pet. by T. E., [Wesel?: J. Lambrecht?] (STC 3504.5). Declaratio causarum 1585: Declaratio causarum, quibus adducta Angliæ Regina, Belgis afflictis & oppressis, copias quasdam auxiliares miserit. Londini : Excudebat Christopherus Barkerus, serenissimæ Reginæ Angliæ Maiestati typographus (STC 9190). Declaration des causes 1585: Declaration des causes qui ont esmeu la Royne d’Angleterre, a donner secours pour la defence du peuple affligé & oppressé es païs bas. Imprime a Londres : Par Chrestophle Barquer, imprimeur pour la tresexcellente Maieste de la Royne d’Angleterre (STC 9192). Declaration of the causes 1585: A declaration of the causes moouing the Queene of England to giue aide to the defence of the people afflicted and oppressed in the lowe countries […], Imprinted at London: By Christopher Barker, printer to the Queenes most excellent Maiestie (STC 9189). Dichiaratione delle caggioni 1585: Dichiaratione delle caggioni che hanno mosso la serenissima Reina d’Inghilterra a dar’aiuto alla difesa del popolo afflitto e oppresso negli Paesi Bassi. Stampata in Londra : Da Christofero Barcher, stampatore della serenissima Reina d’Inghilterra (STC 9193). Een verclaringhe der oorsaken 1585: Een verclaringhe der oorsaken beweghende de Coninghinne van Enghelandt, hulpe te gheuen tot bescherminghe des benauden ende verdructen volckes der Nederlanden (STC 9191). Exhortation to all menne 1554: An exhortation to all menne to take hede and beware of rebellion wherein are set forth the causes, that commonlye moue men to rebellion, […] by John Christopherson, Imprynted at London: In Paules churcheyarde, at the signe of the holy Ghost, by Iohn Cawood, prynter to the Queenes highnes (STC 5207). Game at chesse 1625: A game at chesse as it hath bine sundrey times acted at the Globe on the Banck side. By Thomas Middleton. Ghedruckt in Lydden [i. e. London?] : By Ian Masse (STC 17784). Honourable actions 1591: The honourable actions of that most famous and valiant Englishman, Edward Glemham, Esquire Lately obtained against the Spaniards, and the holy Leauge. London: Printed by A[bel] I[effes] for William Barley (STC 11921). House of Commons 1766: Proceedings and debates of the House of Commons in 1620 and 1621, Bd. II, Oxford: Clarendon Press, in: Making of the Modern World 2011, unter: (Zugriff am 10.1.2011). Letter to Mendoza 1588: The copie of a letter sent out of England to Don Bernardin Mendoza ambassadour in France for the King of Spaine declaring the state of England, contrary to the opinion of Don Bernardin […], Imprinted at London : By I. Vautrollier for Richard Field (STC 15412). New ballet 1588: A new ballet of the straunge and most cruell whippes which the Spanyards had prepared to whippe and torment English men and women, by T[homas] D[eloney], Imprinted at London: By Thomas Orwin and Thomas Gubbin (STC 6558).
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The Little Missionary: Freund-, Fremd- und Feindbilder am Beispiel einer Kindermissionszeitschrift im 19. Jahrhundert in Nordamerika Felicity Jensz
Eine wichtige Aufgabe jeder Gesellschaft ist es, ihre Kinder zu erziehen, sei es durch gute Vorbilder, strenge Verhaltensregeln, formelle Institutionen wie beispielsweise Schulen oder durch informelle Mittel wie etwa normative Schilderungen in Zeitschriften und anderen Printmedien. All diese Erziehungsmethoden prägen die Feind-, Fremd- und Freundbilder der Kinder. In diesem Artikel wird die Gattung Kinderzeitschrift am Beispiel einer nordamerikanischen Kindermissionszeitschrift aus dem 19. Jahrhundert untersucht, um eine Kategorisierung von Feind-, Fremd-, und Freundbildern zu ermöglichen. Kinderzeitschriften bildeten sich erst im 18. Jahrhundert als eigene Gattung heraus. Die erste englischsprachige Kinderzeitschrift The Lilliputian Magazine wurde im Jahre 1751 erstmals veröffentlicht. Die Gattung wuchs zunächst nur langsam, was man daran sieht, dass zwischen 1751 und 1800 nur elf Kinderzeitschriften gegründet wurden (vgl. Maidment 2009: 509). Im 19. Jahrhundert wurden dann in der englischsprachigen Welt viele neue kostengünstige Zeitschriften für Kinder herausgebracht. Die angestiegene Alphabetisierungsrate durch immer besser zugängliche Schulbildung und Fortschritte in der Drucktechnologie schufen die Basis für ein großes Publikum. Dabei bedienten sich auch religiöse Gruppen dieses Mediums, um die christliche Lehre und Moral unter den jungen Lesern und Leserinnen zu verbreiten (vgl. Dawson 1996: 221). Die Normen, die in solchen Zeitschriften propagiert wurden, spiegelten die Erwartungen der christlichen Gesellschaft an ihre Mitglieder wider. Diese Normen wurden unter anderem mithilfe der Konstruktion von Bildern fremder Völker verdeutlicht. Daher bilden Kinderzeitschriften eine gute Materialgrundlage für die Analyse der gesellschaftlichen Vermittlung von Fremdbildern. Das 19. Jahrhundert bildete einen Höhepunkt des europäischen Kolonialismus. Zu dieser Zeit wurden viele protestantische Missionsgesellschaften in Europa und Nordamerika gegründet, um die außereuropäischen ‚Anderen‘, die durch die koloniale Expansion in den Blickpunkt der Europäer und Europäerinnen gerieten, zu ‚zivilisieren‘ und zu bekehren. Die Missionierung fremder Völker war kostenintensiv, und Kinder wurden im Laufe des 67
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19. Jahrhunderts zu einer immer wichtigeren eigenständigen Zielgruppe für Spendenaktionen. Daher gründeten viele Missionsgesellschaften spezielle Zeitschriften für Kinder, die unter anderem der Finanzmittelbeschaffung dienten (vgl. Prochaska 1978: 103f.). Solche Publikationen unterschieden sich von rein informativen und erbaulichen religiösen Zeitschriften für Kinder, indem sie ihre jungen Leser aktiv in das Missionswerk einbanden. Gelegentlich wurde mittels solcher Zeitschriften versucht, ein Gefühl des Mitleids gegenüber den noch nicht zum Christentum bekehrten Fremden zu erzeugen, in der Hoffnung, große Spenden zu gewinnen (vgl. Padwick 1971: 569). Darüber hinaus waren Kindermissionszeitschriften ein Mittel des Wissens transfers über fremde Völker und ein Spiegel der eigenen Gesellschaft.
Die Zeitschrift The Little Missionary: Geschichte, Inhalte und Ziele Im Jahr 1870 gründete die nordamerikanische Brüder-Unität (Moravian Church), eine evangelische Kirche mit historischem Hauptsitz in Deutschland, eine monatliche illustrierte Kindermissionszeitschrift mit dem Titel The Little Missionary, um das Interesse von Kindern an der Missionsarbeit zu wecken. Zum Zeitpunkt der Gründung der Zeitschrift arbeiteten Missionare der Brüder-Unität – auch Herrnhuter genannt – seit fast 140 Jahren unter nicht-europäischen Völkern mit dem Ziel, diese zum Christentum zu bekehren. Die ersten Missionare der Herrnhuter wurden 1732 nach St. Thomas in die Karibik gesandt, um das Wort Gottes unter den afrikanischen Sklaven zu verbreiten. Bald darauf wurden weitere Missionare zu den Inuit nach Grönland geschickt. Die Herrnhuter arbeiteten vorzugsweise unter Menschen, die kaum Kontakt mit anderen Europäern hatten. Deswegen waren sie häufig die ersten Missionare, die über bestimmte nichteuropäische Völker berichteten. Die Kirche weitete ihre Missionsarbeit immer mehr aus und war im Jahr 1871 in sechzehn Ländern mit über 300 europäischen Missionaren auf ihren Missionsstationen tätig, die fast 70.000 bekehrte Einheimische betreuten (vgl. PA 1873(301): 51). Neben dem historischen Hauptsitz in Herrnhut in der Oberlausitz gab es zwei weitere Verwaltungssitze in London (England) und Bethlehem (USA). Die Idee, eine Kindermissionszeitschrift zu gründen, kam von Mitgliedern der Society of the United Brethren for Propagating the Gospel among the Heathen (SPG), einer Gesellschaft, die 1722 zur Unterstützung der Missionsarbeit der Herrnhuter in Amerika gegründet worden war (vgl. Hamilton 1901: 58f.). Laut einem Protokoll der SPG vertrat eines ihrer Mitglieder die Meinung, dass „the reason why the missionary spirit was at such a low ebb, was 68
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because the children were not thoroughly imbued, from their earliest years, with a love for missions“ (SPG Proceedings 1870: 15). Die SPG gründete die Zeitschrift The Little Missionary, um dieses Hindernis zu überwinden.1 Demzufolge lag das Ziel der Zeitschrift nicht darin, die Kinder zum Christentum zu bekehren – es wurde angenommen, dass sie schon Christen waren –, sondern den Kindern eine Liebe zum Missionswerk anzuerziehen. Schon im zweiten Jahr der Publikation hatte die Zeitschrift zwischen 6.700 und 8.000 Abonnenten und Abonnentinnen. Viele dieser Kinder besuchten eine Sonntagsschule in Nordamerika oder in der Karibik (vgl. SPG Proceedings 1871: 4). Obwohl die Zahl der Abonnements im Vergleich zu anderen religiösen Kinderzeitschriften, wie etwa der methodistischen Zeitschrift At Home and Abroad, die eine monatliche Auflage von ungefähr 55.000 hatte (vgl. Kriel 2008: 173), gering war, kann The Little Missionary als Propagandamittel für die Herrnhuter Kirche in Nordamerika angesehen werden. Jede Ausgabe besteht aus insgesamt vier Seiten, die mit pädagogischmoralischen Lehren, Briefen an den Herausgeber, erbaulichen Texten sowie Berichten über Missionswerke der Herrnhuter und anderer Missionsgesellschaften gefüllt sind. Auch Bilder sind ein wichtiger Bestandteil der Zeitschrift. Ab den 1820er Jahren war eine Technologie verfügbar geworden, die das Einsetzen von schwarz-weißen Holzschnittbildern auf eine Zeitschriftenseite kostengünstiger und einfacher machte (vgl. Topham 2005: 91). Die Herausgeber von The Little Missionary nutzten diese Technologie, um auf fast jeder Seite der Zeitschrift Bilder einzusetzen. So ist der Titel der Zeitschrift zum Beispiel von Bildern umgeben, die Jesus jeweils in unterschiedlichem Alter zeigen. Bilder wurden auch in Verbindung mit Texten benutzt, um deren moralische Aussage zu unterstützen. So enthalten viele Ausgaben die Geschichte eines Kleinkindes auf dem Titelblatt, die anhand von Bild und Text eine moralische Lehre vermittelt. Die Darstellung eines Kleinkindes wurde laut Joanna Gillespie verwendet, damit sich die Leserinnen und Leser mit dem Protagonisten identifizieren und dadurch die moralische Botschaft besser aufnehmen konnten (vgl. Gillespie 1986: 63). In The Little Missionary – wie in vielen anderen Kinderzeitschriften des 19. Jahrhunderts – waren Bilder ein integraler Bestandteil der Darstellung des ‚Selbst‘ und des ‚Anderen‘. Ein weiteres Element der Zeitschrift bilden Berichte über nicht-europäische Völker. Dabei lassen sich die beschriebenen Menschen in drei Hauptkategorien einteilen: Solche, die wahrscheinlich noch nicht in Kontakt mit Missionaren gekommen waren (dargestellt als ‚Edle Wilde‘ oder ‚Unbekehrbare‘); diejenigen, die trotz ihrer Kenntnis vom Wort Gottes ‚Heiden‘ 1
Vgl. SPG Minutes, 1 October 1870, item 4. Moravian Archives, Bethlehem, PA.
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geblieben waren, und Einheimische, die bereits zum Christentum bekehrt werden konnten. Diese Kategorien waren nicht fest, und es gab Möglichkeiten des Übergangs zwischen ihnen. Die Darstellung variiert, je nachdem, ob eine Hoffnung auf Bekehrung zum Christentum oder die Gefahr einer Rückkehr zum ‚Heidentum‘ bestand. Da es sich um eine Kinderzeitschrift handelt, sind viele Abbildungen und Texte von übertriebener oder stereotyper Art, um die Botschaft durch vereinfachte Darstellung besonders deutlich zu machen. Dies betrifft vor allem diejenigen Texte und Bilder, in denen ‚Heiden‘ beschrieben oder abgebildet werden, womit eine deutliche Grenze zwischen Christen und Nicht-Christen gezogen wird. Felicitas Schmieder beschreibt Stereotype als „unkritische Repetitionen vereinfachter und vorgeformter Bilder und vorgefasster Meinungen, die sich als solche kritischer Hinterfragung entziehen“ (Schmieder 2005: 163). Die Herausgeber von The Little Missionary stellen den Fremden entweder als potentiellen Christen oder implizit als einen Anhänger des Feindes Satan dar. Die Einordnung hängt dabei von der Bereitschaft des Fremden ab, zum Christentum zu konvertieren. Im 19. Jahrhundert wurde in Zeitschriften auch ausgiebig über Neuigkeiten, zum Beispiel aus Politik, Gesellschaft, Technik oder fremden Ländern, berichtet. Um diesen Informationen einen Sinn zu geben, wurde das Neue in Bezug zu bereits Bekanntem gesetzt (vgl. Mussell 2009: 95). Für die Leser und Leserinnen von The Little Missionary bedeutete dies, dass neue Informationen über außereuropäische Menschen oft in Verbindung mit der Arbeit der Missionare oder bekehrten Einheimischen standen. Als beispielsweise erstmals über die Missionsarbeit unter den chinesischen Tagelöhnern, den sogenannten ‚Coolies‘, in Nordamerika berichtet wurde, galten diese als ‚Heiden‘. Allerdings war es einer anderen Missionsgesellschaft bereits gelungen, einige Chinesen in China zum Christentum zu bekehren. Das Wissen um diese Bekehrungen erlaubte es den Kindern, die Chinesen in Nordamerika als prinzipiell bekehrungsfähige Menschen wahrzunehmen und neue Informationen in dieses Deutungsschema einzuordnen (vgl. LM 1876(9): 280). Die Chinesen waren – wie viele andere Fremde, die in The Little Missionary beschrieben wurden – für die jungen Leser und Leserinnen keine konkreten Menschen, sondern nur durch den Text ins Leben gerufene Figuren. Obwohl der Wunsch nach Kontakt mit einem „echten, lebendigen Exemplar“ (vgl. LM 1885(9): 711) in der Zeitschrift geäußert wird, gab es dazu keine Gelegenheit. Ebenso unmöglich war es für die Kinder, aus anderer Quelle entsprechende Informationen zu erhalten, weil die Herrnhuter Missionare unter Menschen arbeiteten, die von keiner anderen Missionsgesellschaft betreut wurden. Die Tatsache, dass die Angehörigen fremder Völker in The Little Missionary zumeist als potentielle oder sogar schon bekehrte Christen beschrieben werden, weist darauf hin, dass sie implizit 70
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als Teil einer größeren christlichen Gemeinschaft, einer Art „imagined community“ (vgl. Anderson 1983) angesehen wurden. Diese Vorstellung war jedoch in diesem Fall nicht auf eine bestimmte Nation bezogen, sondern auf eine weltweite religiöse Gemeinde (vgl. Mettele 2009). Insgesamt deutet die Art und Weise, wie nicht-europäische Menschen und besonders die ‚Heiden‘ in Texten und Bildern dargestellt werden, auf eine bewusste Strategie der Herrnhuter hin, den Lesern und Leserinnen von The Little Missionary ein Bild des Fremden zu vermitteln, mit dem sie die folgenden drei Ziele verfolgten: (1) Die Kinder sollten die Unterschiede zwischen Christen und ‚Heiden‘ lernen und dadurch ein Vorbild vor Augen haben, wie sich ein ‚wahrer‘ Christ zu verhalten hat (religiösdidaktisches Ziel); (2) die Kinder sollten dazu ermutigt werden, Geld oder andere Mittel für das Missionswerk zu spenden (säkular-materielles Ziel); (3) das Bild der Fremden sollte den Kindern eine Strategie für die Konstruktion eines Selbstbildes bieten, indem die westliche Gesellschaft als kulturell und religiös weiter entwickelt dargestellt wurde, wodurch sich auch die Missionsarbeit legitimieren ließ (kulturell-religiöses Ziel). In der Zeitschrift wird impliziert, dass nicht-europäische Menschen nur durch eine Bekehrung zum christlichen Glauben zu Nicht-Fremden werden können. Diese Möglichkeit besteht jedoch nur theoretisch, da die Autoren der Zeitschrift die kulturelle Grenze zwischen Europäern und Nicht-Europäern aufrechterhalten. Die außereuropäischen Völker blieben kulturelle Fremde, selbst wenn sie nicht mehr religiös fremd waren. Anhand von Texten und Bildern aus The Little Missionary werden im Folgenden die drei genannten Typen – der abstrakte ‚heidnische‘ Fremde, der noch nicht bekehrte Fremde und der nicht-europäische christliche Fremde – beschrieben, die eine Bestimmung der Funktionen und Ziele dieser Fremdbilder ermöglichen.
Der abstrakte ‚heidnische‘ Fremde Der ‚Edle Wilde‘ The Little Missionary berichtete nicht nur über aktuelle Missionsstationen der Herrnhuter, sondern auch über imaginäre Missionsgebiete. Dabei wurden Bilder ‚heidnischer‘ Fremder konstruiert. Ihre Funktion bestand hauptsächlich darin, ein Gegenbild zu ‚wahren‘ Christen zu erschaffen und Engagement für eine erweiterte Missionsarbeit der Herrnhuter zu wecken. Manchmal konnten die ‚heidnischen‘ Fremden nicht detailliert beschrieben werden, weil weder die Herrnhuter noch andere Missionsgesellschaften bereits zu ihnen Kontakt aufgenommen hatten. Trotzdem wurden Fremdbilder erzeugt, die notwendigerweise abstrakt bleiben mussten. Ein Bei71
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spiel für ein solches abstraktes Fremdbild bilden die ‚Moon People‘, ein Volk Zentralafrikas, das in der Nähe der ‚Moon Mountains‘ lebte (vgl. LM 1876(1): 248). Obwohl in The Little Missionary nichts Näheres über den Namen dieses Volkes oder die geographische Lage seines Siedlungsgebietes zu erfahren ist, handelt es sich wahrscheinlich um die Bakonjo/Bamba, die in der Nähe der Ruwenzori-Berge im westlichen Teil Ugandas leben. In der Ausgabe vom Januar 1876 findet sich ein Bild der ‚Moon People‘ mit dazugehörigem Text. Das in einem vereinfachten Stil des Realismus gefertigte Bild zeigt zehn Männer in einem traditionellen Dorf mit vier Grashütten. Alle Männer werden jung, kräftig und muskulös dargestellt. Auf dem Bild sind nur junge Männer und keine Frauen, Kinder oder alten Menschen abgebildet. Dies deutet darauf hin, dass der Fokus der Darstellung auf der Stärke und Kraft dieses Volkes liegt, während ‚schwächere‘ Teile der Gesellschaft vernachlässigt werden. Einer der Männer ist mit einem aus Baumrinde gefertigten Schurz bekleidet, der laut Text nur von den ärmsten dieser Menschen getragen wird. Die zwei Männer im Vordergrund des Bildes werden wie folgt beschrieben: „One in the picture dressed in this manner [mit einem Schurz aus Baumrinde], if such scanty clothing can be called dress, is carrying an earthen water-bottle on his head, and the other bears on his shoulder a large tusk of ivory. In his right hand he carries two long sharp spears, which he would quickly run through an enemy who might attempt to take away his tusk, or even a slave-dealer should he openly avow his intention of invading the family circle“ (LM 1876(1): 248).
In dieser Beschreibung werden die ‚Moon People‘ als arbeitswillige Menschen dargestellt, die sich um ihre Familien und die Gemeinschaft kümmern. Einer der Männer trägt Wasser, vermutlich für den Haushalt, ein anderer hält zwei Speere zum Schutz seiner Familie und des Dorfes in seinen Händen. Laut Text werden die Speere nur zum Schutz vor Feinden oder Sklavenhändlern getragen. Dies deutet auf die Bereitschaft der Männer hin, für das Wohl ihrer Familien zu kämpfen, wenn Gefahr dies erforderte. Der Feind der Fremden wird hier in menschlicher Gestalt dargestellt, als jemand, der ihre Familien in die Sklaverei verschleppt oder ihnen ihr Elfenbein wegnimmt. Das Elfenbein als hochbegehrtes Handelsgut aus Afrika (vgl. Chaiklin 2010) deutet auf ein Versprechen von Reichtum hin. Es stellt aber gleichzeitig eine Gefahr dar, weil die ‚Moon People‘ seinetwegen in Kontakt mit europäischen Händlern kommen konnten. Viele Missionare des 19. Jahrhunderts befürchteten, dass der Kontakt zwischen ‚Edlen Wilden‘, die von der westlichen Zivilisation noch unberührt waren, und Europäern, die sich nicht christlich verhielten, zu einem moralischen Niedergang dieser außereuropäischen Menschen führen würde (vgl. Porter 2004). 72
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Abb. 1: ‚Land of the Moon People‘
Die anderen acht Männer auf dem Bild werden im Text nicht beschrieben. Obwohl diese Männer in positiver Weise als gesellig dargestellt werden, erweckt das Bild gleichzeitig den Eindruck von Müßiggang: Einige stehen herum, während andere untätig auf dem Boden sitzen und rauchen.2 Infolgedessen fehlt es diesen acht Männern zwar an der Tugend Fleiß, als ‚Edle Wilde‘ waren die Fremden jedoch des Wortes Gottes würdig, wodurch eine mögliche spätere Missionsarbeit legitimiert wurde (vgl. Healy 1958: 44). Die Leser und die Leserinnen werden ferner angeregt, Mitleid mit den ‚Moon People‘ zu entwickeln. Dieses Gefühl wird nicht nur durch die Erwähnung von armen Menschen mit einfacher Kleidung, sondern auch durch die Darstellung ihrer Lebensbedingungen hervorgerufen: Ihre Häuser seien von primitiver Bauart, von allerlei Insekten bewohnt und daher lebensunwürdig (vgl. LM 1876(1): 248). Laut Constance Padwick bildete das Erregen von Mitleid das dominante Motiv in religiösen Kinderzeitschriften im 19. Jahrhundert (vgl. Padwick 1971: 569). Die jungen Leser von The Little Missionary sollten für die unbekannten ‚Heiden‘ beten, in der Hoffnung, dass Missionare eines Tages unter ihnen arbeiten und sie zum Christentum bekehren würden. In der Darstellung werden jedoch 2 Tabak war seit dem 14. Jahrhundert in Afrika bekannt. Ab 1600 berichteten englische
Reisende über das Rauchen in Afrika (vgl. Taha/Ball 1980: 991). Deswegen ist es kein Widerspruch im Bild, dass die ‚Moon People‘ rauchen, obwohl sie vielleicht keinen Kontakt mit Europäern hatten.
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insgesamt die positiven Merkmale der ‚Moon People‘ hervorgehoben und die Hoffnung auf eine baldige Inklusion in die christliche Gemeinschaft durch Annahme des Wortes Gottes ausgedrückt. Der ‚Unbekehrbare‘ Im Gegensatz zu den potentiell bekehrbaren ‚Moon People‘ wird ein hinduistischer Fakir, der in Indien als heilig gilt, in The Little Missionary verspottet. Das Bild, das den Fakir zeigt, wurde vom selben Illustrator angefertigt wie das der ‚Moon People‘. Da der Stil des Bildes jedoch anders gehalten ist, wirken die zwei Darstellungen sehr unterschiedlich. Während die ‚Moon People‘ relativ realistisch abgebildet werden, gerät das Bild des Fakirs zur Karikatur. Laut Henry Miller zeichnet sich eine Karikatur durch eine stark verzerrte Darstellung des Körpers aus (vgl. Miller 2009: 270). Der Fakir wird auf dem Bild ohne Hals, mit verkürzten Beinen, verkümmerten Zehen und ohne Taille dargestellt. Der Spott ist auch im begleitenden Text deutlich zu erkennen, dessen Anfang sich wie folgt liest: „A Hindoo Fakir is a miserable creature, half fool, half rogue, who spends his time in traveling from city to city, lying and deceiving wherever he goes. Yet he is considered one of the holy men of India, and is worshiped by the people, although well known to be the slave of hateful passions. He renders himself a most disgusting object by the Brahminical marks made with dirt, with which he covers his forehead, and the way in which he allowed his clay matted hair to hang about his withered face“ (LM 1877(4): 356).
Das Bild und der Text über den Fakir sind allgemein gehalten, das heißt, sie beschreiben keinen echten Menschen, sondern geben ein Stereotyp wieder. Aus dem Text können die Kinder nicht erfahren, wer Fakire wirklich sind und wie viele von ihnen es in Indien gibt. Damit wird der Eindruck erzeugt, der Fakir stehe prototypisch für den gesamten Hinduismus. Diese negative generalisierende Darstellung und die Verwendung gefühlsbeladener Worte wie „miserable“ (erbärmlich), „disgusting“ (ekelhaft) und „wretched“ (jämmerlich) dienen dazu, das Mitleid bzw. die Abscheu der Leser und Leserinnen zu erregen. Ferner ist aus dem Text zu erfahren, dass im hinduistischen Glauben „this wretched being is the holiest of characters, and is certain of going to heaven“ (LM 1877(4): 356). Durch den Text wird ein Bild von einem Volk erzeugt, das einem Irrglauben verfallen ist. Protestantische Missionare im 19. Jahrhundert glaubten, dass das Christentum die einzig wahre Religion und demzufolge jeder andere Glaube Irrtum sei. Der im Text als hinduistische Lehre beschriebene Glaube, nach welchem ein Fakir dazu ausersehen ist, in den Himmel zu kommen, stellte nicht nur die christliche Lehre, sondern auch die religiöse Autorität der Missionare infrage. Durch die stereo74
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Abb. 2: ‚The Hindoo Fakir‘
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type und abwertende Darstellung des Fakirs wird der gesamte Hinduismus lächerlich gemacht, während der christliche Glaube als wahrhaftig propagiert wird. Laut The Little Missionary „[t]he religion of Christ is the only one whose spirit and law is love“ (LM 1872(10): 87). Der Fakir wird dagegen als Anhänger einer falschen Religion und als „slave of hateful passions“ beschrieben. Somit beinhaltet das Fremdbild des Fakirs eine kulturell-religiöse Lehre für die Leser und Leserinnen, wodurch sie die Unterschiede zwischen Christen und ‚Heiden‘ verstehen sollten. Sie erhielten die Botschaft, dass der Zustand der ‚Heiden‘ fürchterlich sei und ein Kind sich glücklich schätzen könne, unter dem Schutz Gottes zu stehen und nicht unter dem Einfluss eines ‚falschen‘ Glaubens, der Irrsinn und Irrtum verbreite. Obwohl im Text nicht direkt gesagt wird, ob Fakire (oder ein bestimmter Fakir) schon Kontakt mit Missionaren hatten, erweckt die Darstellung den Eindruck, dass sie grundsätzlich nicht zum Christentum bekehrt werden können. Tatsächlich hatten protestantische Missionsgesellschaften keinen großen Erfolg mit der Bekehrung der Bevölkerung Indiens zum Christentum. Und je schwieriger die Bekehrung eines Volkes war, desto geringschätziger fiel auch dessen Beschreibung aus. Als The Little Missionary im Jahr 1878 zum Beispiel über die Tataren im Norden Indiens berichtet, ein Volk, unter dem die Herrnhuter seit 1851 mit geringem Missionserfolg arbeiteten, werden diese als sehr halsstarrig dargestellt, weil sie nicht von ihrem buddhistischen Glauben ablassen wollen (vgl. LM 1878(7): 368). Der Fakir wird als hinduistischer ‚Heiliger‘ ebenso verspottet. Er wird nicht nur durch Beschreibungen wie ‚erbärmlich‘, ‚ekelhaft‘ und ‚jämmerlich‘ erniedrigt, sondern auch durch die Bemerkung, dass er absichtlich sein Gesicht und seine Haare mit Schmutz versehe. Denn im 19. Jahrhundert lernten englischsprachige christliche Kinder das weitverbreitete Sprichwort ‚Cleanliness is close to Godliness‘. Dieses Sprichwort kommt auch in The Little Missionary als religiös-didaktische Lehre vor (vgl. LM 1884(12): 17), und man kann annehmen, dass die Leser und Leserinnen der Zeitschrift diese verinnerlicht hatten. Ein Mann, der absichtlich Schmutz und Erde auf seinen Körper aufträgt, wurde damit nicht nur als ekelhaft, sondern auch als fern von Gott angesehen. Zudem ist der Schmuck des Fakirs, der auch im Bild zu sehen ist, eine Anspielung auf seine Eitelkeit bzw. seinen Stolz und damit auf eine der sieben Todsünden. Das Fremdbild des Fakirs wurde somit als Gegensatz zum ‚wahren‘ Christen konstruiert. Der Fakir würde nie zum Christentum bekehrt werden, weil sein Stolz zu groß war. Ein christliches Kind sollte dagegen bescheiden, liebenswürdig und demütig sein. In The Little Missionary kommen also zwei Arten von abstrakten ‚heidnischen‘ Fremden vor: Zum einen das Fremdbild des ‚Edlen Wilden‘, der wahrscheinlich noch keinen Kontakt mit Missionaren gehabt hatte, für den jedoch 76
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noch große Hoffnung auf Bekehrung bestand, und zum anderen das Bild des ‚unbekehrbaren‘ Fremden, verkörpert durch den hinduistischen Fakir. Im Vergleich beider Fremdbilder zeigt sich, dass unbekannte, namenlose und damit abstrakte Menschen nicht immer gleich wahrgenommen wurden. Wenn es noch Hoffnung gab, dass sie zu Christen bekehrt werden konnten, wurden ihre guten Merkmale hervorgehoben und nur ihre Lebensverhältnisse als schlecht beschrieben. Wenn dagegen eine Bekehrung unwahrscheinlich war, oder wenn die Erfahrungen der Missionare gezeigt hatten, dass die jeweiligen Fremden das Christentum ablehnten, wirkten der Text und das Bild gemeinsam, um sie als besonders schlecht und fern von Gott darzustellen. Anhand beider Fremdbilder wurde ein Kontrast zwischen Christen und ‚Heiden‘ gezeichnet, der einerseits als Anleitung zum richtigen christlichen Verhalten (religiös-didaktische Lehre) und andererseits der Konstruktion einer religiös-kulturellen Identität diente. Die Darstellung von potentiell bekehrbaren und wahrscheinlich nicht bekehrbaren Fremden konnte sowohl Mitleid erzeugen als auch dazu eingesetzt werden, bewusst ein Gegenbild zum wahren Christen aufzubauen, welches nicht nur Mitgefühl, sondern auch Abscheu vor dem ‚Heidentum‘ und vor ‚heidnischen‘ Bräuchen vermitteln sollte.
Der noch nicht bekehrte Fremde Eine andere Art von Fremdbildern, die in The Little Missionary vorkommt, ist der Typus des noch nicht bekehrten Fremden. So wurden diejenigen noch nicht bekehrten Völker beschrieben, unter denen die Herrnhuter schon arbeiteten oder für die bereits konkrete Pläne zur Missionierung vorlagen. In der Zeitschrift werden solche Menschen sowohl verspottet und gedemütigt als auch mit Mitleid bedacht. Die Lehre für die Leser und Leserinnen sollte darin bestehen, dass diese Menschen als gefährlich oder unterentwickelt anzusehen sind, weil sie sich trotz der ‚Christenboten‘ noch nicht zum ‚wahren‘ Glauben bekehrt hatten. Ein Fremdbild dieser Art wurde von den Eingeborenen Alaskas, also den Yupik, Inuit und Aleut vermittelt, die von den Zeitgenossen allgemein als ‚Eskimos‘ bezeichnet wurden. Im Jahr 1867 kauften die Vereinigten Staaten Alaska, ehemals ‚Russisch-Amerika‘, vom Russischen Reich (vgl. Welch 1958: 481). Fast zwei Jahrzehnte später, im Jahr 1884, schickten die Herrnhuter zwei Missionare in dieses Gebiet, um einen passenden Ort für eine neue Missionsstation für die ‚Eskimos‘ zu finden. Während ihres Aufenthalts fertigten die beiden Männer Fotografien von den Eingeborenen Alaskas an. Manche dieser Fotografien wurden in The Little Missionary mit erklärendem 77
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Text abgedruckt. Erst ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts war die Technologie so weit entwickelt, dass man Fotografien in Zeitschriften abdrucken konnte (vgl. Baatz 1997: 52). Die Tatsache, dass bereits 1885 ein Foto in The Little Missionary abgedruckt wurde, zeigt, dass die Herausgeber der Zeitschrift diese neue Technologie sehr schnell angenommen haben, vermutlich in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen.
Abb. 3: ‚Esquimau Family, civilized‘
Eines dieser Bilder mit dem Titel Esquimau Family, Civilized wurde in der Oktober-Ausgabe des Jahres 1885 veröffentlicht (vgl. LM 1885(10): 715). Das Bild zeigt eine vierköpfige Familie vor ihrem im europäischen Stil erbauten Holzhaus. Zudem trägt die ganze Familie europäische Kleidung, weswegen sie auch als ‚zivilisiert‘ beschrieben wird. Dem Text ist zu entnehmen, dass diese Familie ‚zivilisiert‘ sei, weil sie Kontakt mit Russen gehabt habe. Es wird jedoch angedeutet, dass die ‚Eskimos‘ erst dann wirklich christianisiert und konsequenterweise ‚zivilisiert‘ werden würden, wenn sie über den Kontakt mit den Herrnhutern mit der evangelischen Kirche in Berührung kämen. Die Herrnhuter glaubten wie die meisten Missionare des 19. Jahrhunderts, dass Christianisierung und ‚Zivilisierung‘ Hand in Hand gehen. Die von den protestantischen Missionaren mitgebrachte Glaubenslehre wurde gegenüber dem orthodoxen Christentum als höherwertig angesehen. Das Letztere war durch die Russen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Alaska gelangt. Der Vater der Familie wird im Text mit Namen genannt, was in The Little Missionary selten geschieht. Es wird berichtet, dass Nicoli Komolkosken, so der Name des Mannes, eine Ausbildung von den Russen erhalten habe und sogar fast ein orthodoxer Priester geworden wäre. Laut The Little 78
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Missionary wurde er jedoch Händler, weil Gott andere Pläne mit ihm hatte. Da Komolkosken Kontakt zu den Russen gehabt habe, wisse er Bildung zu schätzen. So habe er die Herrnhuter um Ausbildung für sich selbst und seine Kinder gebeten (vgl. LM 1885(10): 715). Solche Anfragen wurden als Zeichen seiner Fähigkeit und seines Willens zur Bekehrung zum protestantischen Christentum gedeutet. Auch in diesem Fall werden Bild und Text mit einer kulturell-religiösen Lehre verknüpft, und zwar, dass die amerikanische Gesellschaft weiter entwickelt sei als die der ‚Eskimos‘. Dadurch wird die Missionsarbeit in Alaska wiederum legitimiert. In diesem Beispiel fungieren zusätzlich die Russen mit ihrem orthodoxen Christentum als konfessionelle Fremde, gegen die sich die protestantischen Kinder abgrenzen konnten.
Die Darstellung der Bekehrten in ihrem ‚heidnischen‘ Zustand Eine weitere Darstellungskategorie bilden bereits Bekehrte, die aber in ihrem ‚heidnischen‘ Zustand gezeigt werden. Der Zweck solcher Darstellungen war es, die bekehrten Menschen rückwirkend als ‚sehr heidnisch‘ zu beschreiben, so dass ihre Transformation zu Christen als umso erfolgreicher bewertet werden konnte. Ein Beispiel für einen solchen Übergang von ‚Heiden‘ zu nicht-europäischen Christen bildet eine Gruppe von Einheimischen in der Kolonie Viktoria in Südostaustralien. Viele Zeitgenossen der Herrnhuter hatten es für höchst unwahrscheinlich gehalten, dass die Eingeborenen Australiens zum Christentum bekehrt werden konnten (vgl. Woolmington 1984–85). Der erste Versuch der Herrnhuter, eine Missionsstation auf diesem Kontinent zu gründen, blieb tatsächlich ohne Erfolg (vgl. Jensz 2010: 99). Die im Jahr 1850 gegründete Missionsstation für die Wemba Wemba, ein Volk im Norden der Kolonie Viktoria, musste schon 1856 wieder aufgegeben werden. Die drei Herrnhuter Missionare reisten ohne eine einzige erfolgreiche Bekehrung und ohne die Erlaubnis der kirchlichen Behörde zurück nach Europa, worauf sie in Ungnade fielen. Schon bevor der erste Versuch der Gründung einer Herrnhuter Mission gescheitert war, beschrieb die in Deutschland produzierte Herrnhuter Zeitschrift Missionsblatt aus der Brüdergemeine die Ureinwohner Australiens als das „vielleicht […] elendeste und trübseligste [Volk], das auf Gottes Erdboden lebt […] ein Volk, das in seiner Unruhe und seinen Fleischessünden, seiner Mordlust und Menschenfresserei das schauderhafteste Bild von dem Elend der Gefangenschaft unter Satans Banden darbietet, und das doch von jeglichem Gefühl einer Sehnsucht nach Erlösung noch so fern ist, ein Volk, an dessen Rohheit und Wildheit bekanntlich schon manche frühere Missionsversuche gescheitert sind“ (MB 1856(3): 41).
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Nach der Gründung der zweiten, erfolgreichen Missionsstation (Ebenezer) wird der erste gescheiterte Versuch in The Little Missionary wie folgt beschrieben: „Some years ago three Moravian missionaries went amongst these cannibals, but were compelled to go away again, as the Australians had plotted to kill and eat them. They have scarcely any religious notions at all, and are ignorant and debased to such a degree that, in their wild state, they are little better than brutes“ (LM 1871(8): 35).
Die Wemba Wemba werden als Menschenfresser dargestellt, die die Absicht hatten, Missionare zu töten und zu essen. Ferner fehle diesen Menschen fast jede religiöse Vorstellung. Die Reihenfolge dieser zwei Sätze lässt darauf schließen, dass die Herrnhuter glaubten, es existiere eine Verbindung zwischen Menschenfresserei und der niedrigen religiösen Vorstellung eines Volkes. Menschenfresserei stellt laut Schmieder „eines der ältesten und verbreitetesten Angst-Stereotypen gegenüber Fremden überhaupt“ dar (Schmieder 2005: 172). Zeitgenössische ethnologische Texte berichten ebenfalls, dass die Eingeborenen Südostaustraliens Menschenfresser seien, die keine transzendente Wahrheit kennen. Die Menschenfresserei werde nichtsdestotrotz nur aus Not und Rache, aber nie gegen unschuldige Menschen ausgeübt (vgl. Howitt 22001: 750–756). Dieser Beschreibung zufolge wären die Missionare nicht in wirklicher Gefahr gewesen. Trotzdem wird in The Little Missionary das Bild eines gefährlichen Volkes erzeugt, das noch nicht bereit für das Wort Gottes sei. Auf diese Weise erscheint der Misserfolg der ersten drei Missionare nachvollziehbar. Die Autoren heben zwar die Wildheit und Gefährlichkeit der Wemba Wemba hervor, um sie als ein feindseliges Volk darzustellen, es wird jedoch nicht wie im Text des Missionsblattes ein Wirken Satans unterstellt. Bedeutend ist außerdem der Zusatz „in their wild state“, da sich in dieser Formulierung eine ähnliche Hoffnung wie bei den ‚Moon People‘ ausdrückt – nämlich die, dass sich der spirituelle Zustand dieser Menschen ändern werde, sobald sie ‚zivilisiert‘ worden seien. Ein zentrales Anliegen der Herausgeber von The Little Missionary bestand darin, die Hoffnung auf eine Bekehrung zum Christentum aufrechtzuerhalten. Die Transformation von noch nicht bekehrten Fremden zu nicht-europäischen Christen sollte durch die Anwesenheit und mithilfe der Missionare bewirkt werden. Im Jahr 1859 sandten die Herrnhuter zwei weitere Missionare nach Südostaustralien, um eine neue Missionsstation für die Ureinwohner zu gründen. Diese Mission erzielte bald ihren ersten Erfolg, als sich ein junger Mann namens Nathanael Pepper aus der Wotjobaluk Sprachgruppe zum Christentum bekehrte. Dieses Ereignis war besonders für diejenigen eine Überraschung, die an der Fähigkeit der Einheimischen, an den christlichen 80
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Gott zu glauben, zweifelten. Da die Eingeborenen Australiens als besonders ‚jämmerlich‘ und ‚erbärmlich‘ und damit als ‚gottlos‘ und ‚unzivilisiert‘ galten, wurde die Bekehrung Peppers als großer Erfolg angesehen (vgl. Jensz 2010: 137). Trotz weiterer Bekehrungen blieb die Darstellung der Eingeborenen Australiens jedoch weiterhin kritisch. Zum einen spiegeln die negativen Berichte die schlechten Erfahrungen der Herrnhuter mit der ersten Missionsstation wider, zum anderen sollte den Lesern und Leserinnen der ‚heidnische‘ Zustand der Australier verdeutlicht werden, um einen Kontrast zu den Bekehrten herzustellen. Im August 1873 wurde in der Zeitschrift ein Bild von einem Korrobori, einer rituellen Versammlung und Zeremonie der Eingeborenen Australiens, abgedruckt (vgl. LM 1873(8): 132). Bei dieser traditionellen Zusammenkunft wird getanzt, gesungen, Handel getrieben und es werden verschiedene rituelle und spirituelle Aktivitäten durchgeführt. Das Korrobori-Bild in The Little Missionary stellt eine Karikatur dar. Wie im Fall des Fakirs sind alle Menschen mit starken körperlichen Verzerrungen abgebildet. Die Perspektive im Bild ist schräg und die Einfachheit der Darstellung trägt dazu bei, dass ein negativer Eindruck erzeugt wird. Im Begleittext heißt es: „The picture shows you one of their heathen dances, the corrobboree, as it is called. What the exact idea of this dance is, it is difficult to say. It has something to do with the worship of the full moon. The priest sits in front. On the other side of the fire are a group of men, with opossum skin aprons and gum-tree leaves in their hands. They are dancing, and look more like demons than men. Whilst they dance, they shout, laugh and grin, just like wild beasts. Behind are the women, who also make the night hideous with their screams“ (LM 1873(8): 132; Hervorh. i. Orig).
Hier ist die Rede von einem Priester. Allerdings gab es keine Priester unter den Eingeborenen Australiens, sondern Männer, die sich um das körperliche, geistige und spirituelle Wohl ihres Stammes kümmerten. Die Wotjobaluk nannten solche Männer Pangal oder Bangal (vgl. Howitt 22001: 355). Obwohl der Pangal nicht mit einem Priester verglichen werden kann, stellt der Herausgeber von The Little Missionary eine Verbindung zwischen den beiden her. Dies diente zweierlei Zwecken: Wenngleich die einheimischen Australier für die jungen Leser Fremde waren, wirkte die Erwähnung eines Priesters in Zusammenhang mit einem Korrobori erstens als Hinweis darauf, dass die Eingeborenen über ein transzendentes Leben nachdenken konnten bzw. ihre eigenen spirituellen Ideen und rituellen Bräuche hatten. Zweitens wurde der Priesterbegriff in protestantischen Kreisen mit den Geistlichen der katholischen Kirche assoziiert. Im 19. Jahrhundert waren anti-katholische Einstellungen auf Seiten protestantischer Kirchen weit verbreitet (vgl. Wolffe 1994: 179). Auch die Herrnhuter haben solche 81
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Meinungen vertreten (vgl. PA 1871(201): iii) und in ihren religiösen Kinderzeitschriften propagiert (vgl. Prochaska 1978: 113). Die Verwendung des Priesterbegriffs kann also auch als eine Anspielung auf den katholischen ‚Aberglauben‘ und demzufolge als eine Beleidigung der katholischen Kirche gewertet werden. Die religiös-didaktische Lehre besteht hier darin, dass die ‚Heiden‘ der ‚wahren‘ Religion bedürfen, um sich von wilden Tieren zu ‚zivilisierten‘ Menschen zu entwickeln. Ferner enthält das Beispiel die implizite kulturell-religiöse Lehre, dass nur die evangelische Kirche ohne Aberglauben sei und infolgedessen sie allein als richtige Kirche zu gelten habe.
Abb. 4: ‚The corroboree Dance in Australia‘
Das Bild vom Korrobori wurde bereits 1859 – im Jahr vor Peppers Bekehrung – im Missionsblatt abgedruckt. Anders als im Beitrag von The Little Missionary, in welchem die äußeren Unterschiede zwischen bekehrten und ‚heidnischen‘ Eingeborenen verdeutlicht werden sollen, um auf die innere Transformation hinzudeuten, wird das dasselbe Bild im Missionsblatt als Beweis für das Wirken Satans verwendet. Der Begleittext lautet: „Wir fügen eine, nach Br. H[agenauer]. Versicherung, getreue Darstellung eines solchen Tanzes auf dem hinten angefügten Bildchen bei. Im Wald bei Mondschein wird er mit erschrecklichen Geberden in satanischer Aufregung ausgeführt, und ist ein rechtes Fest des Seelenfeindes, indem dabei zu allen Gräuelthaten der Finsterniß Veranlassung geboten wird“ (MB 1859(10): 213).
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Zwischen den Abbildungen im Missionsblatt und in The Little Missionary liegen vierzehn Jahre. Jahre, in denen mehrere australische Einheimische zum Christentum bekehrt und noch weitere Missionsstationen der Herrnhuter in Australien gegründet worden waren. Das Korrobori-Bild wurde also in einem Fall als visuelle Verstärkung eines Fremdbildes von nicht bekehrbaren Menschen und im anderen Fall als negative Darstellung des früheren ‚heidnischen‘ Zustands nicht-europäischer christlicher Fremder verwendet. Die unterschiedliche Verwendung dieses Bildes zeigt, dass dasselbe Bild je nach Begleittext ganz verschiedene Botschaften transportieren konnte. Im Jahr 1873, nach mehreren Bekehrungen von Eingeborenen, wurden die übertrieben negativen Bilder wieder in Erinnerung gerufen, um den Lesern und Leserinnen zu zeigen, wie erfolgreich die Missionare waren. Diese Lehre wird auch explizit geäußert. Die Fortsetzung des Textes zum Korrobori-Bild liest sich wie folgt: „Now, it is of these very people that our missionaries in Australia have gathered two good-sized congregations, the members of which are Christians in the true sense of the word. They now dress like we do, have built themselves houses, are industrious workmen and farmers, love to go to church, to pray and to read their Bibles […] The same men and women who, ten or fifteen years ago, took part in such a corrobboree dance, are now every morning and evening gathering their families, in their own houses, to read a chapter out of the Bible, to unite in the singing of Christian hymns, and to pray to Him who has so wonderfully brought them out of their great heathen darkness into the pure, blessed light of the Gospel“ (LM 1873(8): 132; Hervorh. i. Orig.).
Vergleicht man diesen Textabschnitt mit dem Bild, dann werden die Gegensätze offensichtlich. Im Bild aus den ‚alten Zeiten‘ sind die Männer fast nackt, im Text hingegen kleiden sich die einheimischen Bekehrten ‚wie wir‘, d. h. nach europäischer Art. Im Bild bewegen sich die Männer wie ‚wilde Tiere‘, im Text arbeiten die Menschen dagegen fleißig und gehen in die Kirche. Der Text beschreibt also die Transformation der ‚Heiden‘, indem einige Unterschiede zwischen dem vorherigen und dem gegenwärtigen Zustand der Wotjobaluk geschildert werden. Obgleich diese Bekehrung auch an europäisch-christlichen Tugenden wie korrekter Kleidung und frommem Lebenswandel verdeutlicht wird, bleibt eine kulturelle Grenze bestehen. Die bekehrten Einheimischen Australiens werden immer wieder mit ihrem vormaligen ‚heidnischen‘ Zustand in Verbindung gebracht und somit nicht als gleichwertige Mitchristen akzeptiert. Diese Art der Darstellung erzeugt ein Bild von bedürftigen Menschen, die nur durch die Hilfe von Missionaren christianisiert und ‚zivilisiert‘ werden konnten. 83
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Der nicht-europäische christliche Fremde Die Herausgeber von The Little Missionary bemühten sich, eine Grenze zwischen indigenen Bekehrten und europäischen Christen aufrechtzuerhalten. Diese Vorgehensweise lässt sich anhand der Bilder von nicht-europäischen Christen veranschaulichen, die in der Zeitschrift gezeigt werden. Als Beispiel sollen hier weiterhin die Eingeborenen Australiens dienen. Das Korrobori-Bild erschien im August 1873. In der nächsten Ausgabe von The Little Missionary vom September 1873 findet sich ein Bild eines ‚Native Christian Australian‘. Im begleitenden Text ist zu lesen: „On the last page of the last number of this paper you had a picture of an Australian heathen dance. Here you have an illustration of a native Christian Australian. Is there not a great difference between the two pictures? What strikes one immediately is the difference in the dress and deportment of the persons in the two pictures? Perhaps you remember to have read that the missionaries can tell at a glance a Christian native from a savage by his dress“ (LM 1873(9): 135).
Das unbekannte Paar auf dem Bild trägt für den heißen südaustralischen Sommer sehr unpraktische europäische Kleidung. Die der Abbildung zugrundeliegende Fotografie wurde – wie der Tisch und der Teppich vermuten lassen – in einem Studio aufgenommen. Die Umgebung, in der das Bild gemacht wurde, lässt keinen Rückschluss auf den Ort der Aufnahme zu. Sie hätte sowohl in Australien als auch in Nordamerika oder Europa entstanden sein können. Der Kontext ist somit nur aus dem Begleittext zu erschließen. Der abgebildete Mann hält ein Buch, vermutlich eine Bibel, in seinen Händen und zeigt damit, dass er lesen kann. Diese Darstellung fungiert auch als ein Hinweis auf die Arbeit der Missionare, die eine Schule für die Wotjobaluk gegründet hatten. Sowohl die Frau als auch der Mann stehen und befinden sich somit auf gleicher Höhe, was als Zeichen ihrer Gleichberechtigung gedeutet werden kann. Ferner hält die Frau die Hand des Mannes, was erkennen lässt, dass die beiden verheiratet sind. Die Leser und Leserinnen von The Little Missionary erfahren nichts Persönliches über die beiden bekehrten australischen Einheimischen. Da die Darstellung eher exemplarischen Charakter hat, bleiben diese nichteuropäischen Christen für die Kinder letztlich Fremde. Aus dem zitierten Textabschnitt geht hervor, dass die Missionare ‚Heiden‘ und Christen anhand ihrer Kleidung unterscheiden können. Das Paar auf dem Bild trägt europäische Kleidung, doch aus dem unmittelbar folgenden Abschnitt ist indirekt zu entnehmen, dass die äußere Verwandlung allein nicht ausreicht und auch die Taten und Gedanken verändert werden müssen, um die Transformation zu ‚wahren‘ Christen zu vervollständigen. Indem der 84
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Abb. 5: ‚Native Christian Australians‘
Herausgeber weiterhin auf die Tugendlosigkeit der noch nicht bekehrten Wotjobaluk hinweist, äußert er implizit Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihrer Bekehrung: 85
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„Is it not a dreadful thought that our own hearts may be just as dark and sinful as those of the Australians engaged in the dance pictured in the last number of the LITTLE MISSIONARY? What can cleanse from sin? Not water, but the blood of Christ who died to save all sinners. When we compare this picture with the one given last time, it really seems wonderful what a change has been produced in the natives of Australia. Think of a wild, howling, whooping crowd of savages being transformed into the meek and gentle followers of the Lamb Jesus. Any one who has not felt the power of the Gospel in his own heart would think such a change impossible“ (LM 1873(9): 135; Hervorh. i. Orig.).
Auch in diesem Fall dient die Darstellung des Fremden dazu, den Kindern eine religiös-moralische Lehre zu vermitteln, hier als Warnung, dass das Herz eines Kindes genauso dunkel und sündhaft sein könne wie das eines ‚Heiden‘, wenn es nicht die Botschaft Christi annähme. Weiterhin lehrt der Text, dass ein Kind, das selbst nicht das Evangelium in seinem eigenen Herzen gespürt habe, nie glauben würde, dass solch eine Veränderung zwischen den beiden Bildern möglich sei. Aus dieser Überlegung lässt sich folgern, dass diejenigen, die die ‚Kraft des Evangeliums‘ nicht wirklich in ihren eigenen Herzen tragen, keine ‚wahren‘ Christen sind. Obwohl das Bild zwei Bekehrte zeigt, wirkt der Text fast ausschließlich wie eine Warnung vor dem ‚Heidentum‘. Offensichtlich war es den Autoren von The Little Missionary wichtig, die Kinder abzuschrecken, indem man sich auf die Grausamkeit der alten Lebensart der Australier bezog, anstatt die Gemeinsamkeiten aller Christen hervorzuheben. Man kann von einer ‚moving boundary‘ sprechen, da den ‚neuen‘ Christen jedes Mal, wenn sie sich den Regeln des Christentums anpassten – hier durch die äußere Erscheinung – etwas anderes vorgeworfen wurde, das ihnen noch fehlte. So ist im Fall des dargestellten Paares unklar, ob die beiden Personen wirklich bekehrt sind oder nicht, weil ihre Taten und Gedanken nicht thematisiert werden. Sie bleiben letztlich stumm. Dipesh Chakrabarty deutet die Exklusion nicht-europäischer Menschen aus der Kolonialgeschichte als eine Strategie von Seiten der Europäer, außereuropäische Völker als noch nicht ‚zivilisiert‘ genug und damit als unfähig zur Selbstverwaltung zu betrachten, wodurch der europäische Kolonialismus weiterhin legitimiert werden konnte. Chakrabarty verwendet für die Exklusion nicht-europäischer Menschen von der Teilnahme an der Kolonialgeschichte das Bild des „waiting room of history“ (Chakrabarty 2000: 8f.). Während dieses Bild eher auf stabile Grenzziehungen verweist, spiegelt die hier gebrauchte Wendung ‚moving boundaries‘ die Tatsache wider, dass sich Grenzen je nach Situation wandeln können. So haben sich die zwei unbekannten Menschen im Bild in Richtung der Erwartungen der Herrnhuter Missionare bewegt und wurden teilweise inkludiert. Zum Beispiel gelten sie als ‚zivilisiert‘, weil sie europäische Kleidung tragen. Trotzdem blieb eine 86
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kulturelle und religiöse Grenze zwischen ihnen und den Lesern und Leserinnen von The Little Missionary bestehen. Diese Grenze wurde immer wieder verschoben, sobald sich die nicht-europäischen Menschen ihr annäherten, weil es ohne das Fremde kein klares Selbstbild für Kinder gäbe, die sich für die Mission engagieren. Den Herausgebern von The Little Missionary war es zudem wichtig, den großen Unterschied zwischen Christen und ‚Heiden‘ zu veranschaulichen und immer wieder in Erinnerung zu rufen, nicht zuletzt, um den Kindern die große Leistung der Herrnhuter Missionare vor Augen zu halten und damit neue Missionsversuche zu rechtfertigen. Am Ende des Textes liest man: „When we look at these two pictures and see the difference between them, let us remember that God’s word has effected it, and let us prize it more ourselves and try to send it to more of the poor sinful heathen“ (LM 1873(9): 135).
Die indigenen Bekehrten wurden also – trotz ihres christlichen Glaubens – als kulturelle Fremde beschrieben, und man verwendete ihre Bilder als Erinnerung an andere ‚Heiden‘, die noch nicht bekehrt worden waren.
Fazit Im 19. Jahrhundert gründeten viele religiöse Gemeinschaften Kinderzeitschriften, um die christliche Botschaft und moralische Lehren an die jüngsten Mitglieder weiterzugeben. Einige dieser Zeitschriften, wie beispielsweise die nordamerikanische religiöse Kinderzeitschrift The Little Missionary, hatten den Zweck, anhand der Beschreibung und Abbildung nicht-europäischer Völker das Feind-, Fremd- und Freundbild der christlichen Kinder zu prägen. Obwohl sich die beschriebenen Menschen in abstrakte Fremde, noch nicht Bekehrte und nicht-europäische Christen einteilen lassen, handelt es sich doch immer um Fremdbilder, da die Darstellung in der Regel unpersönlich bleibt und die Kinder selbst keinen Kontakt zu diesen Menschen aufbauen konnten. Die Fremdbilder in The Little Missionary schwanken zwischen beängstigend, neutral und exotisch und entsprechen nicht unbedingt den tatsächlichen Merkmalen der dargestellten Menschen. Im Gegensatz zu anderen religiösen Zeitschriften dieser Zeit werden in Bezug auf Nicht-Europäer keine direkten Feindbilder, sondern lediglich Fremdbilder erzeugt. Auf diese Weise konnten die Herausgeber die Kinder besser für missionsbezogenes Engagement begeistern. Hätte man den Fremden als Feind oder Freund dargestellt, wäre die Wirkung wohl wesentlich geringer gewesen. Die Mehrdeutigkeit des Fremdbildes bedingt einen fließenden Übergang zwischen den drei oben beschriebenen Typen von Fremden. Durch die Art der Darstellung wurden zwei Absichten miteinander ver87
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bunden: Einerseits sollte den jungen Lesern und Leserinnen der Erfolg der Missionare verdeutlicht werden, indem man immer wieder auf den ‚heidnischen‘ Zustand der Fremden vor der Bekehrung verwies. Anderseits sollte erreicht werden, dass sich die Kinder weiterhin für die Mission engagierten. Die Grenzen zwischen Nicht-Europäern und Europäern mussten daher aufrechterhalten werden. Neben dem Ziel, die Kinder für die Missionsarbeit zu begeistern, diente die Konstruktion der Fremdbilder außerdem folgenden Zwecken: Erstens sollten den Kindern die Unterschiede zwischen Christen und ‚Heiden‘ vermittelt werden. Dadurch sollten sie ein Vorbild vor Augen haben, wie sich ein ‚wahrer‘ Christ zu verhalten hat (religiös-didaktisches Ziel). Zweitens sollten die Kinder dazu ermutigt werden, Geld oder andere Mittel für das Missionswerk zu spenden (säkular-materielles Ziel). Und drittens sollte das Bild der Fremden den Kindern eine Strategie für die Konstruktion eines Selbstbildes bieten, indem die westliche Gesellschaft als kulturell und religiös weiter entwickelt dargestellt und dadurch die Missionsarbeit begründet wurde (kulturell-religiöses Ziel). Ferner spiegeln die Inhalte von The Little Missionary die Vorstellung einer Hegemonie des Westens insofern wider, als dass der nicht-europäische Fremde immer als spirituell bedürftig und kulturell niedrig beschrieben wird. Durch solche Bilder hofften die Herausgeber von The Little Missionary, die nächste Generation von Missionaren und die Mitglieder einer christlichen Gesellschaft zu prägen.
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Von alten Feinden zu neuen Partnern? Zur Entstehung und Weitergabe des Erzfeindbildes ‚Türke‘ aus armenischer Perspektive Harutyun Harutyunyan
Am 6. September 2008 besuchte Präsident Abdullah Gül als erstes türkisches Staatsoberhaupt die Republik Armenien. Er war von seinem Amtskollegen Serzh Sargsyan zum Fußballspiel der beiden Nationalmannschaften in der Qualifikationsrunde für die FIFA-Weltmeisterschaft eingeladen worden. Obwohl die armenische Regierung in Pressemitteilungen eine entspannte und friedliche Begegnung ankündigte, traute sie ihrer Bevölkerung offensichtlich nicht ganz. Man befürchtete einen Terroranschlag. Das Flugzeug des Gastes wurde aus Sicherheitsgründen von Kampfhubschraubern eskortiert. Außerhalb des Stadions waren zahlreiche Polizisten im Einsatz, und alle Fußballfans wurden bei Eintritt streng kontrolliert. Vor der Präsidentenloge wurden in aller Eile kugelsichere Glasscheiben angebracht. Am selben Tag bekundeten die Staatsmänner, dass beide Seiten die existierenden Spannungen abbauen und sich um eine Stabilisierung der armenisch-türkischen Beziehungen bemühen würden. Sargsyan bestätigte mit Zuversicht: „Wir wollen die Probleme nicht auf die nächste Generation übertragen.“ Gül setzte auf die „diplomatische Kraft des Sports“. „Ich hoffe“, so der türkische Präsident, „dass das heutige Spiel Hindernisse beseitigen wird, die eine Annäherung der beiden Völker mit ihrer gemeinsamen Geschichte verhindern“ (Deutsche Welle vom 6.9.2008). Schließlich lud er seinen armenischen Amtskollegen zum Rückspiel am 14. Oktober 2009 nach Istanbul ein. Diese gegenseitigen Besuche wurden als ‚historische Ereignisse‘ bezeichnet, weil vorher solche freundschaftlichen Gesten absolut unmöglich erschienen wären. Das unerwartete Aufeinandertreffen der beiden Nationalmannschaften in derselben Qualifikationsgruppe wurde zum Anstoß für einen komplizierten Dialog, der anschließend als ‚FußballDiplomatie‘ bezeichnet und stark kritisiert wurde. Die Bevölkerung der Republik Armenien und die Vertreter der Dia spora hatten ein gespaltenes Verhältnis zur Aufnahme dieser politischen Gespräche. Insbesondere konservative Parteien forderten ihre Mitglieder zum Boykott des Fußballspiels auf. Einige hundert ihrer Anhänger protestierten am Weg des türkischen Präsidenten vom Flughafen zur armeni91
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schen Hauptstadt. Sie trugen schwarze Fahnen und Transparente mit wütenden Aufschriften wie ‚Wir wollen Gerechtigkeit!‘, ‚Türke, gestehe deine Schuld!‘ oder ‚1915, nie wieder!‘. Sie forderten damit die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich, der von der Türkei bis heute geleugnet wird. Stimmen aus der Diaspora bezeichneten die aufgenommenen Verhandlungen als Skandal und als Verrat an historischen Forderungen: „Armenia’s foreign policy has veered from its national doctrine and predictable developments will have irreversible consequences“ (Armenian Revolutionary Federation vom 1.9.2009). Zudem waren sowohl in Armenien als auch in der Türkei viele politische Beobachter skeptisch und erwarteten keine großen Veränderungen. Sie kritisierten die Initiative als oberflächlich und als sinnlose Zeitverschwendung. So blieb der angekündigte konstruktive Dialog letztendlich tatsächlich ergebnislos. Trotz zweijähriger intensiver Arbeit, auch mit aktiver Vermittlung der USA, der EU, Russlands und der Schweiz, bleibt die Normalisierung der armenischtürkischen Beziehungen bis heute ein erwünschtes, aber unerreichtes Ziel.1 Die aktuellen Spannungen sind untrennbar mit dem Konflikt um die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte verbunden. Die weltweite armenische Gemeinschaft fordert bis heute von der Türkei die Anerkennung des Genozids von 1915, den viele Staaten als eine historische Tatsache anerkannt und verurteilt haben. Dagegen bestreitet die Türkei, dass es im Osmanischen Reich einen Völkermord an den Armeniern gegeben habe. Um alle möglichen Forderungen nach Rückgabe ehemals armenisch besiedelter Territorien in Ostanatolien auszuschließen, verlangt die türkische Regierung von der Republik Armenien eine offizielle Anerkennung der heutigen Staatsgrenzen. Erst danach will sie über zukünftige wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen verhandeln (vgl. Görgülü 2008: 17f.). Diese Haltung führt aber dazu, dass die Armenier ihrerseits die moderne Türkei immer noch als daravor t’šnami (arm.: ewiger Erzfeind) wahrnehmen.2 Die aktuelle einseitige Schließung der Staatsgrenze durch die Türkei ist für Armenier eine Bestätigung dafür, dass die türkische Regierung sie in den Hungertod treiben will. Die besorgten Armenier erinnern sich an ihre Großeltern, die während des Ersten Weltkriegs aus ihren Siedlungen in die syrische Wüste von Dair az-Zaur deportiert wurden und den Marsch mehrheitlich nicht überlebten. Deshalb interpretiert die armenische Öffentlichkeit die gegenwärtige Sanktion als völkerrechtlich illegitime Maßnahme und Fortsetzung der osmanischen Unterdrückung (vgl. Iskandaryan/Minasyan 1 Stand: Mai 2011. 2 Auf Armenisch werden dafür die Bezeichnungen daravor t’šnami oder woxerim t’šnami
verwendet, die mit ‚Jahrhunderte alter Feind‘ bzw. ‚Feind, an dem Rache genommen werden muss‘ übersetzt werden können.
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2010: 15–21). In parlamentarischen Diskussionen, Medienbeiträgen und sogar wissenschaftlichen Studien wird deshalb von der Unzulässigkeit einer Annäherung an den ‚alten Tyrannen‘ gesprochen. Als Konsequenz dieser negativen Haltung wird im Bereich der Außenpolitik zur Achtsamkeit und Vorsicht gemahnt: Solange der türkische Staat seine ‚unmenschliche Politik‘ nicht ändere, so die Auffassung der meisten Armenier, dürfe es mit ihm keine ernsthafte Partnerschaft geben. Es ist offensichtlich, dass sich die beiden Seiten ernsthaft mit der existierenden Feindschaft auseinander setzen müssen, bevor sie gute Beziehungen miteinander aufbauen können. Dafür sind vor allem die historischen Ursachen des gegenseitigen Misstrauens zu analysieren. In diesem Artikel soll daher die Konstruktion der in der armenischen Gesellschaft existierenden kollektiven Feindbilder ermittelt werden. Dabei müssen zuerst die Entstehung der Kategorie des ‚ewigen Erzfeindes‘ in der armenischen Geschichte und ihre Aktualisierung in der Gegenwart historisch analysiert werden. Erst dann kann die Verwendung des Bildes vom daravor t’šnami im 21. Jahrhundert in Bezug auf die Problematik mit der modernen Türkei vollständig verstanden werden. Zum Schluss werden auch die letzten gescheiterten Annäherungs- und Versöhnungsversuche zwischen den beiden Parteien näher betrachtet. Vielleicht kann eine Rekonstruktion des historischen Feindbildes auch zu seiner Dekonstruktion auf politischer und gesellschaftlicher Ebene beitragen.
Die Geschichte der Invasionen und die Entstehung des nationalen Erzfeindbildes Mit der Aufteilung des Königreichs Armenien zwischen dem Byzantinischen und dem Persischen Reich im Jahre 387 verloren die Armenier ihre politische Unabhängigkeit. Seitdem wurden sie in ihren historischen Siedlungsgebieten immer wieder von Invasoren angegriffen und unterdrückt.3 Es gab persische, arabische, byzantinische, mongolisch-tatarische, seldschukische, mamlukische und osmanische Eroberungsperioden, während derer das armenische Kernsiedlungsgebiet überfallen, besetzt und zerstört wurde. Die Bevölkerung wurde in diesen Phasen oft erniedrigt und versklavt. Der christliche Glaube4 wurde dabei nicht selten zum Ziel von Spott und Diskriminierung. Die Invasoren beschlagnahmten kulturelle Schätze und Reliquien. Sie brannten Schlösser nieder und verwandelten jahrhundertealte Kirchen in Ställe oder Moscheen. Aufgrund seiner geographischen Lage, 3 Den Armeniern gelang es nur für die Perioden von 885–1045, 1199–1375 und 1918–1920,
erneut einen unabhängigen Staat auf einem Teil ihres historischen Gebietes zu gründen.
4 Das Königreich Armenien erklärte 301 das Christentum zur Staatsreligion.
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Großarmenien im 4. Jahrhundert
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genau in der Mitte des Korridorgebiets zwischen Asien und Europa, diente das armenische Hochland zudem häufig als Schlachtfeld für fremde Armeen. Die Bevölkerung war kaum in der Lage, sich dagegen zu wehren – ihr blieb nur die religiöse Überzeugung, dass Gott sie niemals verlassen werde, solange sie ihrem Glauben treu blieben und wie die heiligen Märtyrer Leid und Tod mutig auf sich nähmen. Genau in solchen aussichtslosen Zeiten entstand das Bild des daravor t’šnami als eine jedem Armenier verständliche und allgemein geteilte Kategorie, die sowohl mündlich als auch schriftlich an neue Generationen weitergegeben wurde. Schon für die Zeit der persisch-armenischen Konfrontationen im 5. Jahrhundert finden sich diesbezüglich schriftliche Belege. So bezeichneten die beiden zeitgenössischen Historiker Łazar P‘arpec‘i und Eļishē den Aufstand von 451 gegen das zoroastrische Persien als ‚Glaubenskrieg‘. Ihnen zufolge stand dieser Kampf unter dem Schlachtruf: „Für den Glauben und für das Vaterland!“ Die gefallenen armenischen Soldaten wurden daher mit ihrem Befehlshaber Vardan Mamikonian als „heilige Märtyrer“ verehrt (Eļishē 1982: 171f.; P‘arpec‘i 1991: 116). Die persischen Gegner wurden dagegen entmenschlicht und verteufelt. Damit wurde der bewaffnete Kampf gegen ihr Joch sowohl moralisch als auch theologisch legitimiert. Detaillierte Darstellungen der Feindseligkeit und Grausamkeit der Perser sollten außerdem als Mahnung wirken und die gemeinsame Kraft des Volkes für Kriegszeiten mobilisieren. Besonders die jungen Leser sollten sich dadurch für neuen Widerstand motivieren lassen und bereit sein, ihr Leben auf dem Schlachtfeld hinzugeben (vgl. Harutyunyan 2010: 210f.). Auch spätere Invasionen und Konfrontationen wurden zu ähnlichen, teilweise legendären Erzählungen verarbeitet. Ein Epos über den König David von Sasun, der sein Volk von arabischer Herrschaft befreite, war im Mittelalter allbekannt. Am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die freiwilligen Widerstandskämpfer und ihre Anführer Andranik Ozanian, Garegin Njdeh und Drastamat Kanaian, die sich gegen die Osmanische Armee gestellt hatten, nach einem ähnlichem Prinzip als Volkshelden gepriesen. Einen ebenfalls legendären Status bekam zuletzt Monte Melkonian, ein US-amerikanischer Armenier, der im libanesischen Bürgerkrieg gekämpft hatte und sich Anfang der 1980er Jahre in den Reihen der Armenian Secret Army for the Liberation of Armenia (ASALA) befand.5 Er starb als 5 Die ASALA war eine marxistische, militante Untergrundorganisation, die enge Kontak-
te zu anderen radikalen Gruppierungen im Nahen Osten und Europa pflegte. Sie war besonders zwischen 1975 und 1985 aktiv und verübte Terroranschläge auf türkische Diplomaten und internationale Einrichtungen, um damit die Anerkennung des Genozids von 1915 und die Rückgabe historischer Territorien an die Armenier zu erzwingen (vgl. Gunter 1986: 41ff.).
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berühmter Befehlshaber in Bergkarabach bei einem Kampfeinsatz gegen die aserbaidschanische Armee im Juni 1993. Für seine Tapferkeit wurde er von der Bevölkerung als Heiliger verehrt. Die Armenier zeichneten ihn mit den Attributen „our holy son“ und „the best god we ever had“ aus (Melkonian 2 2007: xii). Die Regierung verlieh ihm post mortem den höchsten Orden der Republik: Nationaler Held Armeniens. Als Gegenbild zu jenen armenischen Volkshelden, die in jeder Epoche in unterschiedlichen Gestalten wiederkehrten, erhielt das Bild des ‚ewigen Erzfeindes‘ die Hauptmerkmale eines brutalen Eroberers, der den Armeniern Zerstörung bringt, heilige Kirchen entweiht, Gläubige wegen ihrer christlichen Religion foltert, sogar alte Menschen tötet, Frauen vergewaltigt und Kinder entführt. Dieses Feindbild wurde in jedem Jahrhundert auf unterschiedliche Invasoren bezogen. Dabei ergänzte man diese stereotype Vorstellung des ‚ewigen Erzfeindes‘ mit Motiven, die sich direkt auf den jeweils aktuellen Gegner beziehen ließen. Diese Attribute konnten sowohl soziokultureller als auch religiös-konfessioneller Art sein. So zeichnete sich der Feind im Fall der Nomadeninvasionen durch negative Aspekte seiner ‚unzivilisierten Lebensart‘ wie beispielsweise ‚Barbarei‘, ‚Bildungslosigkeit‘ und ‚Brutalität‘ aus, die für die zumeist sesshaften armenischen Bauern fremd waren. Es entwickelte sich also das konkrete Feindbild eines ‚ungebildeten und aggressiven Plünderers‘, das im Mittelalter hauptsächlich für die Beschreibung der mongolischen, tatarischen und seldschukischen Eindringlinge verwendet wurde. In diesem Sinne werden die Türken bis heute mit asiatischen Nomaden bzw. dem Feindbild des ‚barbarischen Friedensstörers‘ assoziiert, der zu nichts anderem als Raub und Zerstörung fähig ist. Als Beispiel für eine solche negative Beschreibung des türkischen Volkes soll hier Hovhannes Čilinkirean zitiert werden, ein Armenier aus der Türkei, der 1970 nach Paris emigrierte und dort als Schriftsteller und Publizist tätig ist: „Als eine wilde Horde seid ihr aus den zentralasiatischen Steppen nach Anatolien eingedrungen, das die Wiege der Zivilisation war. Mit eurer furchtbaren Barbarei habt ihr Schrecken unter den einheimischen Völkern Anatoliens verbreitet. ‚Dank‘ dieser Barbarei, die Jahrhunderte andauerte, habt ihr euch auf den Ländereien Anatoliens niedergelassen. Ihr, ihr seid seit Jahrhunderten die gleichen Barbaren. Barbaren, die die Wiege der Zivilisation, Anatolien, zerstören und die einheimischen Völker zu Opfern eines Genozids machen“ (Čilinkirean 2005: 6).6
Während Perioden der Unterdrückung durch benachbarte Großmächte, beispielsweise durch das Perserreich oder das arabische Kalifat, wurde auf die Unterschiede zwischen ihren Religionen und dem armenischen Chris6
Hier und fortan alle Übersetzungen aus dem Armenischen von H. H.
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tentum hingewiesen, um vor Bekehrung zu warnen. Der Feind war dann ein ‚Heide‘, ein ‚Besessener‘, ein ‚Gotteslästerer‘ und ein ‚Götzendiener‘. Aber auch während der byzantinischen Unterdrückung verwendete man eine ähnliche Rhetorik. Allerdings betonten die Armenier in diesem Fall hauptsächlich die konfessionelle Verschiedenheit, weil sie als Angehörige der altorientalischen Kirchenfamilie seit dem IV. Ökumenischen Konzil in Chalcedon 451 von der Großkirche abgespalten waren. So bezeichnete man die byzantinisch-orthodoxen Invasoren als ‚Häretiker‘ und ‚Leugner der Lehre der heiligen Väter‘. In jeder Eroberungsperiode gab es also einen realen Gegner, der eine echte Gefahr für die physische Existenz der Armenier darstellte. Aufgrund der jahrhundertelangen Erfahrung physischer Bedrohung war die Übernahme der Kategorie ‚ewiger Erzfeind‘ in Bezug auf verschiedene Gegner für jeden Einwohner des Landes verständlich und akzeptabel. Dabei hatte dieses nationale Feindbild zunächst eine funktionale Bedeutung für die politischmilitärische Propaganda. Durch die Dehumanisierung und Dämonisierung des Gegners konnte das Volk für die Selbstverteidigung mobilisiert werden. Die Teilnahme an Gefechten und Revolten gegen die Gewaltherrscher galt deshalb in jeder Epoche als ‚ehrenvolles und sakrales Heldentum‘. Angesichts der unerträglichen Unterdrückungen und zahlreichen Ermordungen von Armeniern im Osmanischen Reich veröffentlichte beispielsweise der berühmte Kommandant Andranik Ozanian 1906 einen strategischen Plan für die Organisation eines bewaffneten Aufstands. Der Titel seines Werkes lautet übersetzt Kampfbefehle: Vorschläge, Bemerkungen und Empfehlungen. Anstelle eines Schlussworts forderte er die armenische Jugend aus der Diaspora zur Teilnahme am Widerstand gegen die Osmanischen Herrscher auf: „Einige der Jugendlichen im Ausland haben vielleicht mit ihren eigenen Augen gesehen, wie das Schwert des Mächtigen die Heimat [der Armenier] mit Blut gewaschen und unsere Väter, Mütter, Schwestern und uns alle gezwungen hat, sich ihm zu beugen. Diejenigen, die es nicht gesehen haben, haben es mit ihren Ohren gehört und hören es weiterhin jeden Tag. […] Diese Ereig7 ˇ nisse belehren uns in perfekter Weise, dass ein Armenier, sei es in Taçkastan , sei es im Kaukasus, in Persien oder an einem anderen Ort, nur eine Möglichkeit hat, sein Leben zu bewahren, und zwar, sich mit der Waffe zu verteidigen. […] Ihr ausländischen armenischen Jugendlichen, nicht ich bin es, der euch einlädt, sondern die Märtyrer und verehrungswürdigen Helden, die mit ihrem Blut die Erde und die Steine [unserer] unglücklichen Heimat gefärbt haben. Sie rufen euch zur Waffe, zu Militärübungen und zur Rache! Hört auf ihre Stimme. Sie ist die Stimme unseres Lebens“ (Ozanian 1992 (1906): 86–88; Hervorh. i. Orig.).
7 Bezeichnung für das Osmanische Reich bzw. für die heutige Türkei im westarmenischen
Dialekt.
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Eine weitere Funktion des Feindbildes war und ist die kulturell-religiöse Abgrenzung. Mit jeder offiziellen Unterwerfung lebten die Armenier in dem Bewusstsein, dass sich die Streitkräfte der Eroberer nun innerhalb ihrer Siedlungen befanden. Die Zerstörung der armenischen Kultur konnte von da an nicht nur durch einen neuen Angriff, sondern auch durch langsame Assimilation erfolgen. Den Armeniern blieb also nach einer militärischen Niederlage nur die Möglichkeit, sich wenigstens durch ihre Sprache, Religion und kulturelle Tradition zu unterscheiden und nicht zuzulassen, dass ihre Kinder sich den Invasoren anglichen. Dabei hatten die Darstellungen der historischen Konflikte zur Stärkung der nationalen Zusammengehörigkeit eine erhebliche Wirkung in der Erziehung von Jugendlichen. In diesem Sinne überdauern die Erzählungen über Gewalterfahrungen und besonders das Bild des Erzfeindes die Generationen und zeigen ihre Wirkung zum Teil bis in die Gegenwart. Durch sie wird die Bedeutung des nationalen Bewusstseins inszeniert und an die jungen Generationen vermittelt. Es wird für die Integration nach innen durch Abgrenzung nach außen gesorgt (vgl. Harutyunyan 2010: 210f.). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Erzfeindbild im Laufe der letzten 1600 Jahre eine zentrale Rolle in der armenischen Gesellschaft gespielt hat. Eine seiner Hauptfunktionen besteht jedoch bis heute in seinem identitätsstiftenden Aspekt: Durch das Feindbild konnten die Armenier sowohl sich selbst als auch die jeweils fremden Eroberer definieren.
Die Unterdrückung der Armenier im Osmanischen Reich und der Völkermord von 1915 Mit dem Vertrag von Diyarbakir 1639 endeten zwei Jahrhunderte osmanischiranischer Vormachtkämpfe um die armenischen Siedlungsgebiete. Etwa 90% des armenischen Hochlands standen fortan unter der Herrschaft der Osmanen. Zwischen Herrschern und Untertanen kam es oft zu Konflikten, weil letztere in vielen Lebensbereichen diskriminiert wurden. Das Millet-System (osman.: Glaubensnation) gliederte Christen und Juden in die jeweiligen Religionsgemeinschaften ein, um ihnen eine Autonomie in der Gemeindeverwaltung zu ermöglichen.8 Dadurch wurden sie aber gleichzeitig von der isla8 Schon während der arabischen Invasionen wurde die rechtliche Unterscheidung zwischen
Muslimen und Angehörigen anderer Schriftreligionen (Zoroastrismus, Judentum und Christentum) eingeführt. Die Anhänger dieser Glaubensrichtungen erhielten den Status von ‚Schutzbefohlenen‘ (dimmī). Das Osmanische Reich übernahm diese traditionelle Kategorie. Das Millet-System basierte auf einer strikten Trennung von Muslimen und Nicht-Muslimen, denen eine untergeordnete Stellung zugewiesen wurde.
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mischen Mehrheit abgesondert. Gemäß diesem Minderheitenstatus wurden sie bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als Bürger zweiter Klasse behandelt. Christen durften keine Waffen besitzen und mussten sich durch ihre Kleidung als Angehörige einer untergeordneten Gesellschaftsschicht zu erkennen geben. Sie behielten ihre Kirchen und trieben Handel, wurden aber trotzdem als gâvur (osman.: gottlose Ungläubige) beschimpft. Vor Gericht besaß ihre Zeugenaussage geringeren Wert als die eines muslimischen Bürgers (vgl. Suny 1993: 96f.). Am schlimmsten litten die Christen jedoch unter der Kopfsteuer (ğizya), die oft willkürlich erhöht wurde. Auch die Tanzīmāt (türk.: Neuord. nung) Epoche 1839–1876 mit ihren vielversprechenden Modernisierungsplänen und Reformen konnte den Minderheiten nicht wirklich helfen (vgl. Davison 1963: 115f.). Eine reale Überwindung des religiös begründeten Unterscheidungssystems und der darin enthaltenen Ungleichstellung von muslimischen und christlichen bzw. jüdischen Bürgern gelang bis zum Untergang des Osmanischen Reiches nicht. Eine friedliche und harmonische Koexistenz zwischen Herrschern und Untertanen hat es also niemals gegeben (vgl. Braude/Lewis 1982). In diesem Kontext ereigneten sich blutige Konfrontationen, die am Ende des 19. Jahrhunderts durch sozialistische Reformbewegungen noch verschärft wurden. Die historischen Ereignisse dieser Epoche sollten dazu führen, dass von nun an nur noch das Osmanische Reich von den Armeniern als einziger ‚Erzfeind‘ wahrgenommen wurde. Aufgrund ihrer schwierigen Lage versuchten die Armenier beständig, Kontakt mit den christlichen Mächten aufzunehmen, um mit ihrer Hilfe die Unabhängigkeit zu erlangen. Im 18. Jahrhundert bekamen sie militärische Unterstützung aus Russland. Dadurch wurden die Armenier Teil der heftigen Grenzkonflikte zwischen Russland und dem Osmanischen Reich. Während der insgesamt elf russisch-türkischen Kriege wurde das armenische Hochland – ebenso wie die Krim und die Balkanhalbinsel – in ein blutiges Schlachtfeld verwandelt. 1828 besetzte Russland den nordöstlichen Teil des armenischen Siedlungsgebiets. Jerewan und Nachitschewan wurden in die kaukasische Provinz des Zarenreichens eingegliedert (vgl. Suny 1993: 35–39). Die Beteiligung armenischer Freiwilliger an diesen Auseinandersetzungen an der Seite Russlands führte aber dazu, dass nach dem Rückzug der russischen Truppen alle Armenier in Ostanatolien wegen ‚Staatsverrats‘ grausam bestraft wurden. Mit Verratsvorwürfen begründete Übergriffe auf Armenier verschlimmerten sich allmählich in der Regierungszeit von Sultan Abdülhamid II. (1876–1908). Das Osmanische Reich befand sich zu dieser Zeit schon am Vorabend seines Untergangs. Abdülhamid hatte zunächst eine vorbildliche Reformbereitschaft gezeigt und 1876 sogar eine erste Landesverfassung verkündet, die ein parlamentarisches System und die Gleichberechtigung aller 99
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Bürger vorsah. Ein Jahr später aber wandte er sich von diesen Zusagen ab, setzte die Verfassung außer Kraft und begrub damit endgültig die Hoffnungen der Minderheiten. Reformbewegungen und politische Vereinigungen wurden verboten. Ähnlich wie die meisten seiner Vorgänger wurde er zum autoritären und rücksichtslosen Alleinherrscher (vgl. Georgeon 2003: 444f.). Ab 1890 begannen die Armenier – ebenso wie andere christliche Minderheiten – verstärkt zu protestieren. Sie forderten die ihnen beim Berliner Kongress von 1878 zugestandenen Reformen ein.9 Dabei verbreiteten die Anhänger von revolutionären Untergrundorganisationen und neugegründeten Parteien – wie der demokratisch-liberalen Armenakan Partei, der sozialdemokratischen Hnčakyan Partei und der Armenischen Revolutionären Föderation Dašnakc’ut’yun – die Idee eines unabhängigen armenischen Nationalstaates. Abdülhamid aber war nach seinen Niederlagen in Nordafrika und auf dem Balkan fest entschlossen, weitere Gebietsverluste mit allen Mitteln zu vermeiden. Durch Verfolgungen und Pogrome versuchte er, die Staatsgewalt in den östlichen Provinzen zu stärken. Es kam zu verschiedenen, stetig eskalierenden Zusammenstößen, die „in einer vom Staat organisierten und ermutigten Form gewaltsamen Vorgehens gegen die armenische Zivilbevölkerung endeten“ (Koutcharian 1989: 96). Fridtjof Nansen, der norwegische Friedensnobelpreisträger und erste Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen, zitiert in seinem Bericht den folgenden Aufruf der türkischen Behörden zu einem Massaker in der Stadt Arabkir: „Alle Kinder Mohammeds müssen jetzt ihre Pflicht tun, alle Armenier töten, ihre Häuser plündern und niederbrennen. Nicht ein einziger Armenier darf geschont werden. Das ist der Befehl des Sultans. Wer dem Befehl nicht folgt, soll als Armenier betrachtet und wie ein solcher getötet werden. Darum zeige sich jeder Muselmann gehorsam gegen die Regierung und töte zuvörderst jene Christen, die bisher in Freundschaft mit ihm gelebt haben“ (Nansen 1928: 297).
Nach Angaben des armenischen Patriarchats von Konstantinopel haben zwischen 1894 und 1896 insgesamt 300.000 Armenier ihr Leben verloren. In vielen Dörfern und Kleinstädten konnten sich verzweifelte Armenier nur durch den Übertritt zum Islam, der häufig mit einer demonstrativen Erniedrigung durch die öffentliche Beschneidung von Männern verbunden war, vor dem Tod retten (vgl. Hofmann 1994: 19). 9
Auf dieser Versammlung (13.6.–13.7.1878) beendeten die Vertreter der europäischen Großmächte sowie des Osmanischen Reiches die Balkankrise und handelten eine neue Friedensordnung für Südosteuropa aus. Dabei wurde unter anderem auch die ‚Armenierfrage‘ diskutiert. So verpflichteten sich die Osmanen in Art. 61 des Berliner Vertrags zum Schutz der Armenier vor Übergriffen durch Kurden und zu einer Verwaltungsreform, die den armenischen Untertanen gewisse Autonomierechte bringen sollte. Diese Verpflichtungen wurden jedoch nie umgesetzt.
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Die europäischen Staaten waren alarmiert und verlangten die Erfüllung der im Berliner Vertrag festgelegten Zugeständnisse. Der Sultan lehnte jedoch alle vereinbarten Reformklauseln bezüglich der ‚Armenierfrage‘ ab. Dafür lieferten ihm die armenischen Aktivisten mit ihren wachsenden Untergrundorganisationen und Protestbewegungen einen Vorwand. Die Besetzung der Zentralgebäude der Ottoman Bank 1896 und ein 1905 fehlgeschlagener Anschlag auf ihn selbst waren für Abdülhamid Beweise für die Untreue der Armenier (vgl. Alexander 1991: 97).10 Als ‚angemessene Antwort‘ wurden die meisten armenischen Siedlungen zu neuen Plünderungen durch Muslime freigegeben. Diese an unschuldigen Zivilisten begangenen Massaker brachten den Osmanen schon damals eine denkbar schlechte Reputation in der Welt ein. Aber nicht nur die Europäer und die Amerikaner, sondern auch viele progressive Türken fanden Abdülhamids brutale Herrschaft inakzeptabel. So entstanden die Jungtürkische Bewegung (Jön Türkler) und viele andere reformorientierte Organisationen, die sich schließlich unter dem Dach des İttihad ve Terakki (türk.: Komitee für Einheit und Fortschritt) sammelten. 1908 übernahmen diese oppositionellen Kräfte mit Gewalt die Staatsführung und zwangen den Sultan, die Verfassung von 1876 wiedereinzusetzen. Die Armenier verbanden zunächst viele Hoffnungen mit diesem Machtwechsel und unterstützten die neue sozialistische Bewegung. Dies war aber eine folgenreiche Fehleinschätzung, weil die schlimmsten Massaker an den Armeniern in der Regierungszeit dieser neuen Machthaber zwischen 1914 und 1918 stattfanden. Die jungtürkische Regierung zeigte unmittelbar nach ihrer Machtübernahme – allen vorherigen Versprechungen zum Trotz – eine starke Intoleranz gegenüber den nationalen Minderheiten. Besonders Griechen und Armenier wurden aufgrund ihrer Freiheitsbewegungen als Kollaborateure gegnerischer Kräfte stigmatisiert. In diesem Sinne charakterisiert Tessa Hofmann den damaligen Zeitgeist zutreffend als gefährliche Fehlentwicklung zum „chauvinistischen Rassismus“ (Hofmann 1994: 22). So bekannten sich die Jungtürken zu Beginn des Ersten Weltkrieges mit Begeisterung zum pantürkischen Nationalismus und verkündeten in einer Botschaft an alle Parteimitglieder, dass sie eine schnellstmögliche Vereinigung mit anderen
10 Diese Angriffe wurden von jungen Mitgliedern der Armenischen Revolutionären Föde-
ration Dašnakc’ut’yun durchgeführt. Durch die Geiselnahme von Bankangestellten in Konstantinopel und einige weitere radikale Aktionen hofften sie, die Aufmerksamkeit der internationalen Öffentlichkeit für die problematische Lage der Armenier zu gewinnen. Diese Anschläge und die Revolten von Zeitun, Van und Sasun am Ende des 19. Jahrhunderts werden in der Türkei auch heute noch als historische Belege für die Illoyalität der Armenier ins Feld geführt, für die sie vermeintlich bestraft werden mussten (vgl. Halaçoğlu 2002: 21–44).
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turkstämmigen Völkern und die Errichtung einer turanischen11 Großmacht beabsichtigten (vgl. Cohen 1915: 53). Als erstes Kriegsziel setzte man sich deshalb die Eroberung ganz Transkaukasiens und die Vereinigung aller dortigen Turkvölker unter osmanischer Führung. Der Kriegsminister İsmail Enver war so besessen von dieser Idee, dass er trotz der Warnungen des deutschen Generalstabs noch im Dezember 1914 seinen Truppen die Offensive befahl. Die Ursachen für den Völkermord an den Armeniern lagen also im neuentstandenen pantürkischen Nationalismus und der aggressiven Fortführung der imperialistischen Macht- und Territorialpolitik des Osmanischen Reiches. Als Vorwand für die Massaker an der gesamten armenischen Bevölkerung12 wurden die orthodoxen Christen der (potentiellen) Kollaboration mit der russischen Armee bezichtigt. Deshalb wurden zuerst alle kampffähigen Männer in Arbeiterbataillone eingezogen und nach der Beendung des jeweiligen Arbeitsein satzes sofort erschossen (vgl. Morgenthau 2008 (1918): 208f.). Anschließend wurden die Frauen, Kinder und Alten gezwungen, ihre Siedlungen zu verlassen. Als ein des ‚Landesverrates verdächtiges Volk‘ sollten die Armenier nun offiziell in kriegsfreie Zonen ‚umgesiedelt‘ werden. Diese vermeintlich strategische Maßnahme führte aber zu einer Zwangsdeportation und einem Völkermord. Weder unterwegs noch am Ziel der Todesmärsche in die Wüsten Nordsyriens und Mesopotamiens gab es für die erschöpften Menschen Verpflegung oder medizinische Versorgung. Unzählige Frauen wurden auf ihrem Weg vergewaltigt oder entführt. Viele der deportierten Kinder verhungerten oder starben an Epidemien. Die meisten der Opfer wurden aber von Angehörigen der Wachkonvois und feindselig eingestellten Einheimischen erschossen oder zu Tode gequält. In Trabzon und anderen nördlichen Küsten-Städten verlud man die Armenier auf Schiffe und ertränkte sie im offenen Meer. Die drei wichtigsten jungtürkischen Kriegsherren – Enver, Talât und Cemal Paschas – wollten nicht nur an der Frontlinie, sondern in ihrem ganzen Land keine Verbündeten mehr für das Russische Zarenreich hinterlassen. Sie wollten gleichzeitig die ‚Armenierfrage‘ mit der Eliminierung des armenischen Volkes endgültig ‚lösen‘, wie der Innenminister Mehmed Talât dem 11 Der Turancılık (türk.: Turanismus) ist eine nationalistische Ideologie, die neben anderen
Pan-Bewegungen – wie z. B. Pangermanismus, Panslavismus, Panarabismus – im 19. Jahrhundert entstanden ist. Panturanismus nimmt einen gemeinsamen Ursprung der Türken, Tataren, Ungarn, Finnen, Esten, Mongolen, Mandschuren, Jakuten und weiterer Völker an, die aus dem Gebiet zwischen Ural und Altai stammen. Dabei werden diese Völker als ‚Turanier‘ oder als Angehörige der ‚turanidischen Rasse‘ bezeichnet, weil ihre Urheimat der Turan, eine Landschaft im südlichen Teil Zentralasiens, gewesen sein soll. 12 Auf dem Territorium des Osmanischen Reiches lebten zu dieser Zeit ca. 2,5 Millionen Armenier (vgl. Koutcharian 1989).
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deutschen Botschafter, Ernst Hohenlohe-Langenbrug, im September 1915 verkündete: „La question arménienne n’existe plus“ (Hohenlohe-Langenbrug 2005 (1915): 291). Zahlreiche Missionare und Vertreter ausländischer Konsulate appellierten erfolglos an die jungtürkische Regierung und versuchten, die weltweite Öffentlichkeit zu alarmieren. Sie bezeugten während und unmittelbar nach dem Geschehen die Gräueltaten in Briefen und Monographien.13 Aber die Deportationen und Tötungen konnten nicht mehr gestoppt werden. Die europäischen Mächte waren vielmehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bekriegen. Nur die Niederlage im Ersten Weltkrieg hielt die jungtürkische Regierung von der Vollendung ihres schrecklichen Plans ab. Ihr Staat war politisch und wirtschaftlich zugrundegerichtet, das Osmanische Reich war zum endgültigen Zerfall verurteilt. Der Friedensvertrag von Sèvres (10.8.1920) wurde von einem Bevollmächtigen des Sultans Mehmed VI. unterzeichnet. Das Osmanische Reich sollte für die Teilnahme am Weltkrieg an der Seite Deutschlands sowie die Ermordung unschuldiger Bürger verurteilt und sein Territorium aufgeteilt werden. Dies rief jedoch eine Welle von Protesten seitens türkischer Nationalisten hervor. Eine Aufteilung des osmanischen Gebiets wurde als ‚Verrat am Vaterland‘ abgelehnt. Unter der Führung Mustafa Kemals erklärte die Opposition die Regierung für untauglich und gescheitert, während sie ihre Ablehnung des vereinbarten Waffenstillstands als ‚wahren Patriotismus‘ verstand. Die meisten Anhänger dieser neuen Bewegung waren vormals aktive Jungtürken bzw. ehemalige Mitglieder der İttihad ve Terakki gewesen, die sich nun als ‚Republikaner‘ bezeichneten. In den folgenden drei Jahren führten sie einen erbitterten Kampf gegen Briten, Franzosen, Griechen, Armenier und die Regierung des Sultans. Die Wiedereroberung der verlorenen Gebiete wurde nun als ‚Befreiungs- und Unabhängigkeitskrieg‘ definiert (vgl. Acksel 2010: 213). Die meisten der Verbrecher, die die christlichen Minderheiten während des Weltkriegs ermordet hatten und – gemäß einer Vereinbarung mit den Alliierten – eigentlich vor ein Militärtribunal gestellt und bestraft werden sollten, wurden nun rehabilitiert und sogar als Volkshelden gepriesen. Im Zuge der Oktoberrevolution war die Armee des Zaren 1917 aufgelöst worden, womit Russland bzw. die Sowjetunion aus allen weiteren Verhandlungen ausgeschieden war. Die europäischen Staaten und die USA schreck13 Dazu siehe unter anderem Brèzol 1911; Lambert 2009 (1911); Bryce 1916; Gibbons 1916;
Gibbons 1917; Lepsius 1916; Lepsius 1919a; Lepsius 1919b; Wegner 2010 (1919); Wegner 1982 (1922); Naayem 1921; Eliott 1924. Für Berichte über die Lage der Armenier in der Regierungszeit Sultan Abdülhamids siehe unter anderem Norman 1878; Greene 1895; Barton 1896; Bliss 1896; Howard 1965 (1896); Lepsius 1897; Harris 1897; Eliot 1965 (1907).
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Armenien 1920/21
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ten vor einem erneuten Krieg zurück. Deshalb wagte keine ausländische Macht mehr, die Rechte der Minderheiten gegenüber der am 1. November 1922 gegründeten Republik Türkei einzufordern. Im Vertrag von Lausanne (24.7.1923) war dann von den Ansprüchen der Armenier keine Rede mehr. Diese plötzliche Zurückhaltung und das Schweigen der internationalen Mächte enttäuschten aber nicht nur die Opfer und ihre Nachfahren, sondern begünstigten die bis heute vorherrschende diskriminierende Einstellung der türkischen Regierung gegenüber den Minderheiten im Land. Die Erinnerung an ihre letzten Gefechte zwischen 1920 und 1923 und den militanten Führer Mustafa Kemal als Atatürk (türk.: Vorvater aller Türken) wurde zum wichtigsten Narrativ der neu gegründeten Republik. Fortan sollte nur noch von einem türkischen Staat gesprochen werden, der auf seine glorreichen militärischen Siege stolz sein sollte (vgl. Acksel 2010: 213f.; 222–228). Kritische Historiographie und Selbstreflexion wurden offiziell verboten. Es geriet in Vergessenheit, dass auf dem Territorium des Osmanischen Reiches mehr als 40 Ethnien gelebt hatten, die ihre eigenen Sprachen und Religionen besaßen (vgl. Akçam 1994: 36f.). Die überlebenden Armenier wurden entweder zwangsassimiliert oder in die Flucht getrieben. Von den ursprünglich mehr als 2 Millionen Armeniern Kilikiens und Anatoliens konnten kaum 80.000 in ihrer Heimat bleiben und ihre christliche Identität bewahren. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte sammelten sie sich in der Hauptstadt Istanbul, wo sie – Dank der Anwesenheit und Aufsicht internationaler Diplomaten – einige Kirchen und Schulen erhalten konnten. Die Armenier in der Türkei leiden bis heute unter staatlicher Diskriminierung und nicht selten auch gesellschaftlicher Verachtung. Der Großteil von ihnen lebt dort deshalb noch immer mit einer „Psychologie des Opfers“.14 Aufgrund ständiger Unzufriedenheit sehen sich viele in der Türkei lebende Armenier gezwungen, ihre Heimat auch heute noch für immer zu verlassen.
Die aktuelle Rezeption des Völkermords In der internationalen Historiographie besteht Einigkeit darüber, dass die Massaker, die das Osmanische Reich während des Ersten Weltkriegs an den Armeniern verübte, einen Völkermord darstellen. Die Genozidforscher vertreten die Einschätzung, dass zwischen 1914 und 1918 mindestens 1,5 Millionen Armenier staatlich organisierten Massenmorden und Deportationen zum Opfer gefallen sind. Schon während des Ersten Weltkriegs war die 14 Aus einem Interview mit Bagrat Estukian, Journalist der türkisch-armenischen Zeitschrift
Agos (H. H. am 11.6.2010, Istanbul).
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Rezeption der osmanischen Massaker in der armenischen Gesellschaft mit tiefen Emotionen verbunden und wurde als nationales Trauma bezeichnet. Das führte zur direkten Gleichsetzung der damaligen Täter und ihrer Nachfahren mit dem daravor t’šnami. So schrieb beispielsweise der Historiker und Philologe Nikoġayos Adonc’ 1918 einen Artikel über die Entstehung der ‚Armenierfrage‘ und charakterisierte dabei die Vorfahren der Türken als „alles-vernichtende Vandalen“. Seine Beschreibung ist dabei identisch mit dem oben beschriebenen Barbaren-Feindbild: „Diese historischen Zerstörer sind wie ein Wirbelwind von den Steppen der Mongolei bis an die Ufer der Adria gerast. Auf dem Weg ihres furchtbaren und siegreichen Vormarschs vernichteten sie die Früchte der Zivilisation, die die europäischen Völker durch jahrhundertelange und anstrengende Arbeit erworben hatten. Ihre Spuren zeigen sich in glühenden Ruinen, die mit Asche bedeckt und von Blut getränkt sind. Über sie wäre es wohl passend zu sagen, dass sie durch die Jahrhunderte marschiert sind wie eine Horde, die nur das Böse prophezeit, [und dabei] ihren Nachfahren weder eine gute Botschaft noch ein geniales Werk hinterlassen hat“ (Adonc’ 1989 (1918): 47).
Adonc’ gibt an gleicher Stelle zu, dass der moderne Türke „sich – trotz der Beständigkeit seines rassischen Charakters – von seinen Vorfahren bedeutend unterscheidet“. Ihm zufolge geschah diese Änderung aber lediglich durch eine Vermischung des türkischen Blutes mit dem der kleinasiatischen und osteuropäischen Völker. Nur so konnte sich seine äußere Erscheinung „gravierend ändern“ und er konnte „im Unterschied zu seinen Vorfahren – deren alte erschreckende, mongolische Gesichtszüge nur Angst und Entsetzen bewirkten – edel werden“ (Adonc’ 1989 (1918): 48). Außer diesen ‚optischen Veränderungen‘ sieht Adonc’ keine weiteren positiven Seiten bei seinem Nachbarvolk. Deshalb bezeichnet er den gesamten türkischen Staat in sich als ein feindliches Lager: „Die Türkei war immer und bleibt auch jetzt ein Kriegszelt, das Stangen der Tyrannei und der Gewalttat halten. […] Kein Europäer und sicherlich auch sonst kein zivilisiert arbeitender Mensch kann es ertragen, in der Atmosphäre der türkischen Unterdrückung zu leben“ (Adonc’ 1989 (1918): 45).
Hier wird deutlich auf den konstruierten Gegensatz zwischen den sesshaften bzw. fleißigen Armeniern und ihren unzivilisierten Kontrahenten, den ‚plündernden Nomaden‘ angespielt. Ähnliche negative Beschreibungen des ‚Erzfeindes‘ kann man in vielen zeitgenössischen und auch neueren armenischen Quellen finden. Dabei wird die gesamte türkische Nation als eine ‚Horde von Barbaren‘ dargestellt, mit der kein zivilisiertes Volk zusammenleben kann (vgl. Kalayjyan 2008: 525ff.). Hauptsächlich aber beschuldigt man die Türken jedoch der Organisation und Durchführung eines systematischen Völkermords. Dabei wird kaum erwähnt, dass es im Osmanischen 106
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Reich auch humane islamische Einwohner und sogar Amtsträger gab, die das Leben ihrer armenischen Nachbarn gerettet haben. Auch heute ist das schreckliche Bild der Türken als Völkermörder und ‚Erzfeinde‘ in der armenischen Gesellschaft unverändert. Die Massaker werden von gegenwärtigen armenischen Wissenschaftlern als ‚Prototyp des modernen Völkermords‘ bezeichnet (vgl. Danielyan 2005: 9). Deshalb ist in der Republik Armenien und in der Diaspora das Engagement für die Anerkennung des Genozids omnipräsent. Bei öffentlichen Diskussionen verwendet man die tragischen Ereignisse von 1915 als Mahnung zur Achtsamkeit gegenüber aktuellen politischen Gegnern, wie beispielsweise Aserbaidschanern. Außerdem erinnert man jedes Jahr am 24. April, dem nationalen Gedenk- und Trauertag, in jeder armenischen Gemeinde mit Medienbeiträgen, Ausstellungen, Tagungen und Seelenmessen an die Opfer des Völkermords. Auch auf den Webseiten des Staatspräsidenten und des Außenministeriums der Republik Armenien kann man offizielle Erklärungen finden, die die gegenwärtige Rezeption des Genozids deutlich widerspiegeln. Nach allgemeinen Ausführungen zum Hergang und den Ursachen des Verbrechens wird schließlich die systematische Umsetzung dieser Gewalttat in den folgenden vier Phasen erklärt: „On 24th of April in 1915, the first phase of the Armenian massacres began with the arrest and murder of nearly hundreds intellectuals, mainly from Constantinople […]. The second phase of the ‘final solution’ appeared with the conscription of some 300,000 Armenian men into the general Turkish army, who were later disarmed and killed by their Turkish fellowmen. The third phase of the genocide comprised of massacres, deportations and death marches made up of women, children and the elderly into the Syrian deserts. During those marches hundreds of thousands were killed by Turkish soldiers, gendarmes and Kurdish mobs. Others died because of famine, epidemic diseases and exposure to the elements. Thousands of women and children were raped. Tens of thousands were forcibly converted to Islam. Finally, the fourth phase of the Armenian genocide appeared with the total and utter denial by the Turkish government of the mass killings and elimination of the Armenian nation on its homeland“ (President of the Republic of Armenia 2010).
Damit wird die Leugnungspolitik der Türkischen Republik als direkte Fortsetzung der vor einem Jahrhundert begangenen Gräueltaten charakterisiert. Anhand zahlreicher ähnlicher Aussagen kann man beobachten, wie tief die Wunden sind, die im Bewusstsein einer ganzen Nation hinterlassen wurden. Nach Ansicht der armenischen Historiker haben die kollektiven Erinnerungen an den Genozid sowohl die Identität der Opfer als auch die der Täter stark geprägt (vgl. Payaslian 2007: 423f.). Man will deshalb keine friedensstiftenden Ratschläge von außen hören, wie beispielsweise, dass es für die Armenier besser wäre, von nun an gemeinsam 107
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mit den Türken in eine harmonische Zukunft zu schauen und sich nicht mehr länger als Opfer der Vergangenheit zu fühlen. Dafür sind die Armenier noch nicht bereit, weil die meisten von ihnen weiterhin unter den psychischen Folgen des historischen Traumas leiden. So bezeichnet der amerikanisch-armenische Historiker Richard G. Hovannisian die Nachwirkungen des Geschehens als kaum überwindbar, solange seine historische Anerkennung verweigert wird: „But the Genocide of 1915 dealt such a forceful blow that this time it thrust most survivors beyond their native lands into a diasporan existence. Armenians feel deeply that they cannot fully overcome that blow until it is acknowledged through acts of contrition and redemption. Hence, in some ways they are imprisoned by the past and their liberation is dependent on actions of the perpetrator side“ (Hovannisian 2003: 2f.).
Die aktuelle Leugnungsstrategie der Türkei hält dagegen die alten Ängste und Frustrationen wach. Diese kompromisslose Haltung wird sogar von vielen türkischen Intellektuellen mit Besorgnis beobachtet: „Im Kern führt die Türkei die Rechtfertigungsmuster der einstigen Täter fort, indem sie den Deutungstopos kultiviert, es habe sich um eine sicherheitsbedingte, kriegsnotwendige Maßnahme gehandelt, bei der es um das Überleben des Osmanischen Reiches gegangen sei. Nicht nur verweigert die Türkei selbst jegliche Kritik an der jungtürkischen Vertreibungspolitik, sie versucht auch andere Staaten und internationale Institutionen daran zu hindern, den Völkermordcharakter der geschichtlichen Ereignisse von 1915 zu thematisieren“ (Bayraktar 2010: 14).
Trotz vieler ähnlich kritischer Stimmen kämpft die türkische Regierung gegen die Aufklärung der historischen Schuld an. Dabei versucht die Türkei seit 1923, die westarmenischen Gebiete um jeden Preis zu halten und ihr eigenes idealisiertes Selbstbild unter Verzicht auf die Wahrheit unbeschadet zu bewahren. „This non-recognition cloaked by a Turkish nationalism identifying the preservation of the Turkish state at all costs has led the Republican state to assign the entire moral responsibility for the Armenian massacres and deaths to everyone other than the actual perpetrators. As a consequence of this non-recognition, in the [Turkish] Republican narrative the Armenian victims themselves have tragically and ironically emerged alongside the guilty Western powers as the main culprits. Any feeble attempt to assign blame to the Turkish perpetrators is immediately dismissed in this narrative with the defense that what happened was an unfortunate but necessary act for the preservation of the ‘state’“ (Göçek 2003: 220).
Damit vertieft sich die Feindseligkeit, und eine Annäherung wird auf allen Ebenen verhindert. Aus armenischer Perspektive ist es daher unmöglich, eine ernsthafte Partnerschaft mit dem ‚ewigen Erzfeind‘ zu pflegen. So be108
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stätigt der armenische Präsident Sargsyan einerseits, dass die beiden Länder zwar schon heute „die Jahrhunderte währende Feindschaft durchbrechen“ sollten, andererseits ist er aber überzeugt, dass man dabei die Anerkennung des Völkermords nicht umgehen kann: „Es ist eine Frage der historischen Gerechtigkeit und unserer nationalen Sicherheit. Der beste Weg, einer Wiederholung solcher Gräuel vorzubeugen, ist, sie klar zu verurteilen“ (Spiegel Online vom 5.4.2010).
Der schwierige Weg von alter Feindschaft zu neuer Partnerschaft Die Armenier weltweit befinden sich bis heute in einer schwierigen Aufarbeitungsphase. Die Auseinandersetzung mit den oben beschriebenen traumatischen Erlebnissen ist für sie längst noch nicht abgeschlossen. Türkische Politiker und viele regierungstreue Wissenschaftler deuten die Forderungen der Armenier als eine Fortsetzung des ‚alten Staatsverrats‘ oder als neue Provokationen seitens ‚habsüchtiger Armenier‘. Das Ende des Osmanischen Reiches und die Verwüstungen des Ersten Weltkriegs liegen schon fast 100 Jahre zurück, die Feinbilder aus dieser Zeit sind aber sowohl in der armenischen als auch in der türkischen Bevölkerung lebendig geblieben. Eine aktuelle Studie der Soziologen Ferhat Kentel und Gevorg Poghosyan (2004), für die jeweils eine repräsentative Umfrage in der Türkei und in Armenien durchgeführt wurde, hat gezeigt, dass die Angehörigen der beiden Völker sich nicht nur gegenseitig mit negativen Stereotypen stigmatisieren, sondern dass sie auch nur sehr wenig über die Situation ihres unmittelbaren Nachbarn wissen. Etwa auf die Frage, ob sie einen türkischen Prominenten oder eine Institution nennen können, zählen die Armenier z. B. die folgenden Personen auf: Atatürk (17,8%), Talât Pascha (13,7%), Enver Pascha (9,8%); Sultan Abdülhamid (6,6%), die Jungtürken (2,5%). Die Befragten identifizieren die genannten Personen dabei ohne weitere explizite Nachfrage als „Feinde des armenischen Volkes“ (Kentel/Poghosyan 2004: 51). 85,9% der türkischen Teilnehmer kennen dagegen keinen armenischen Prominenten. 40,4% von den Befragten aus der Türkei glauben, dass Armenien eine Staatsreligion hat, und 21,5% von ihnen denken, dass diese das Judentum sei. Bezüglich der Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen nennen 81,7% der armenischen Befragten den Völkermord von 1915 als Haupthindernis. Dagegen glauben nur 19% der türkischen Teilnehmer, dass die Forderungen der Armenier nach einer Anerkennung des Genozids das Haupthindernis für die Normalisierung der Beziehungen sei. Die Schlussfolgerung der Leiter dieses hochinteressanten Projekts lautet daher: 109
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„Although each country is very much concerned with the other, the level of knowledge and information that passes between Turkey and Armenia is minimal. And the information that does cross the physical and political borders is often distorted by mutual prejudices. […] If a comfortable relationship between these two countries is to be established, the first step will be to combat the perpetuation of prejudices through promotion of greater transparency“ (Kentel/Poghosyan 2004: 4f.).
Der größte Teil der türkischen Gesellschaft betrachtet die Thematisierung der Massaker vor und während des Ersten Weltkriegs als sinnlos. Der Staat hat zudem bis jetzt mit allen Mitteln versucht, durch die Leugnung des Genozids zu verhindern, dass dieser zu einem Bestandteil der kollektiven Erinnerung der Türkei wird (vgl. Hovannisian 2003: 2). Das Bemühen um eine makellose Historiographie erfolgt aber auf Kosten der armenischen Opfer. Laut sozialpsychologischen Studien sind die negativen Auswirkungen genozidaler Gewalt auf Überlebende nicht zu unterschätzen. Viele der Opfer leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen, die auch auf nachfolgende Generationen übertragen werden können. So beschreibt der Friedenspsychologe Ervin Staub, dass solche Traumata auch in einem friedlichen Alltag an Kinder weitergegeben werden: „Even the later generations, the unborn children, are affected. This happens in part through emotional reactions of and communications by parents in the course of everyday life. Insecurity, anxiety, mistrust in people are all transmitted to children. They are also conveyed through parental practices in raising children. Past history can lead parents to be afraid all the time that something will happen to their child. Being overprotective of children, keeping them very close to parents, confining them to ‘safe’ places and activities, can limit their growth“ (Staub 2003: 265).
Was brauchen diese Opfer für ihre Heilung? Über die Empathie und die Unterstützung nahestehender Menschen hinaus ist – so Staub – die Anerkennung ihres Leidens seitens der Täter und der Welt sehr bedeutsam. Derartiges passiert aber in der politischen Realität nur selten. Die Leugnung, wie im Fall des armenischen Genozids, intensiviert Schmerzen und erfahrene Ängste. Sie produziert sogar noch mehrere Jahrzehnte später Zorn, weil auch die Hinterbliebenen der Opfer während ihres Heilungsprozesses durch die Verneinung der Wahrheit seitens der Nachfahren der Täter krank werden. In Gruppen, die sich von ihren psychischen Wunden nicht befreien können, kann durch angestaute Enttäuschungen und Aggressionen neuer Radikalismus entstehen. Opfer von Gewalt können schließlich selbst zu Tätern werden. Beispiele für derartige, später auftretende Aggressionen seitens der Nachfahren der Opfer konnte man etwa im letzten Balkankrieg oder auch im Nahostkonflikt beobachten. 110
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„Feeling vulnerable and seeing other people, especially those outside the group, as dangerous and threatening is a source of this behavior. When there is a conflict, it becomes more difficult to take the perspective of the other side and to negotiate in constructive ways. More likely, the insecure group will strike out, its members believing that they are defending themselves but actually becoming perpetrators of new violence“ (Staub 2003: 267).
So kam es auch zur Anwendung von Gewalt durch armenische Widerstandskämpfer im Osmanischen Reich. Selbst Jahrzehnte später folgten im Nahen Osten lebende armenische Jugendliche, die in den 1970er und 1980er Jahren an der palästinensischen Befreiungsbewegung und am libanesischen Bürgerkrieg beteiligt waren, dem gleichen Muster der Selbstjustiz (vgl. Gpranyan-Melkonian 1992: 72ff.; Gunter 1986: 55ff.). Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangten viele Kolonialländer ihre Unabhängigkeit von den europäischen Großmächten, während die Forderungen der Armenier nach einer Anerkennung des Genozids bzw. der Rückgabe ihrer historischen Territorien jedoch weiterhin unerhört blieben. Sie waren entschlossen, der Türkei und der Welt die Anerkennung des Völkermords mit allen Mitteln abzuringen und das historische Großarmenien zurückzuerlangen. Durch Terroranschläge auf türkische Diplomaten und internationale Einrichtungen wollten sie eine ‚gerechte Bestrafung‘ der Nachfolger der Schuldigen und der schweigenden ausländischen Mächte erreichen. Viele junge Aktivisten jubelten und bezeichneten die Bombenanschläge und sonstige Gewaltakte als eine „armed propaganda“ und als „patriotic liberation struggle“ (Melkonian 22007: 36; 64). Mit ähnlichen Rachegefühlen zogen viele Freiwillige in den Bergkarabach-Krieg (1992–1994) zwischen Armenien und Aserbaidschan. Kurz vor der Eskalation dieses Konflikts waren die ersten Pogrome von Sumqayıt (27.–29.2.1988) und Baku (13.–19.1.1990) seitens der turksprachigen und mehrheitlich muslimischen Aserbaidschaner an der armenischen Minderheit des Landes verübt worden. Die Armenier wurden brutal ermordet, Hab und Gut geplündert und Häuser enteignet. Ihre Kirche in Baku wurde ausgeraubt und in Brand gesetzt. Die armenische Öffentlichkeit bezeichnete diese Gräueltaten als Genozid und als direkte Fortsetzung der osmanischen Massaker (vgl. Ulubabyan 1989; Mosesova/Hovnanyan 1992; Mosesova 1998). Die Aserbaidschaner wurden in dieser Situation als ‚Türken‘ wahrgenommen. Deshalb priesen die Armenier schließlich die Anwendung von Gewalt als ‚Heldentat zum Selbstschutz‘. Inakzeptable Verbrechen während des Krieges, wie die Tötung von Zivilisten oder die Folterung von Gefangenen, wurden von einigen Freischärlern als ‚Revanche an den Türken‘ gerechtfertigt und bejubelt. Dazu trug sicherlich auch die Türkei mit ihrem für die Republik Armenien bedrohlichen militärischen Eingreifen in 111
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den Konflikt bei: Sie rüstete die aserbaidschanische Armee mit modernen Waffen auf und schickte Militärexperten nach Baku. Außerdem waren allein im ersten Jahr des Bergkarabach-Krieges 5000 bis 6000 professionelle Söldner und freiwillige Reservisten aus der Türkei und anderen islamischen Staaten aktiv beteiligt (vgl. Demojan 2006: 113). Schließlich blockierte die Türkei 1993 aus Solidarität mit den „aserbaidschanischen Brüdern“ (Görgülü 2008: 32) einseitig ihre Grenze zu Armenien, mit dem Ziel, ihr Nachbarland durch die resultierende wirtschaftliche Notlage zur Kapitulation zu zwingen. Diese Freundschaft zwischen der Türkei und Aserbaidschan war für die Armenier Bestätigung dafür, dass der ‚Erzfeind‘ weiterhin versuchte, sie auszulöschen und ihr Land vollständig zu okkupieren. Die armenische Bevölkerung sah sich erneut vom daravor t’šnami bedroht. Die ‚Inkarnation‘ des historischen ‚Erzfeindes‘ wurde im Kriegsgegner Aserbaidschan und der Türkei, die ihn unterstützte, gesehen. Jerewan war gezwungen, mit Moskau einen militärischen Kooperationsvertrag zu unterzeichnen, damit die russischen Truppen auch nach dem Untergang der UdSSR weiterhin in Armenien bleiben konnten. Im September 2010 vereinbarten die Präsidenten Dmitri Medvedev und Serzh Sargsyan die Zeit der Stationierung des russischen Militärs bis 2044 zu verlängern. Natürlich gab es auch kritische Stimmen, die der armenischen Regierung vorwarfen, sie ordne sich den Russen unter. Die Angst vor dem ‚Erzfeind‘ bzw. einer eventuellen türkischaserbaidschanischen Invasion war jedoch stärker und führte schließlich zur allgemeinen Akzeptanz dieser ungünstigen ‚Notlösung‘. Bis heute rechtfertigt Ankara die harte Sanktion der Grenzschließung damit, dass die Republik Armenien den Unabhängigkeitsanspruch der armenischen Enklave Bergkarabach im Krieg gegen die aserbaidschanische Armee unterstützt und diese Region einschließlich benachbarter Gebiete mit Gewalt besetzt hätte (vgl. Tocci 2007: 6f.). Für Armenier ist dagegen nicht nachvollziehbar, wie ein an europäischen Richtlinien orientierter Staat eine derart einschneidende Maßnahme durchführen und rechtfertigen kann. Denn einerseits – so die armenischen Kritiker – versuche die Türkei Mitglied der EU zu werden und stelle sich deshalb bei jedem möglichen Anlass als moderner und demokratischer Rechtsstaat dar, andererseits aber bestrafe die türkische Regierung ihr schwaches Nachbarland mit einer willkürlichen Blockade. Die gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme der Republik Armenien machen diese feindselige Haltung allerdings zunehmend schwierig. Das Ausbleiben einer politischen Einigung mit der Türkei hat für Armenien tatsächlich dramatische Folgen. Nicht wenige armenische Regierungsmitglieder und viele Intelektuelle sind der Ansicht, dass ihr kleines Land die gegenwärtige Isolation nicht länger verkraften kann (vgl. Ter-Gabrielyan 112
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2008: 44–53; Iskandaryan/Minasyan 2010: 36ff.). Aufgrund der türkischen Grenzschließung und des ungelösten Konflikts mit Aserbaidschan sind gegenwärtig 80% der rund 1000 armenischen Grenzkilometer geschlossen. Die instabile politische Lage der gesamten transkaukasischen Region verschärft diese Problematik. Unglücklicherweise spiegelt sich jede bewaffnete Auseinandersetzung in der wirtschaftlichen Lage des Gesamtgebiets wieder.15 Die armenische Regierung war deshalb gezwungen, sich ohne Vorbedingungen zu einem Dialog mit der Türkei bereitzuerklären, um damit einen stabileren Partner in der Region zu gewinnen. Auch die türkische Regierung unter der Führung der Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP; türk.: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) zeigte zunächst ihre Bereitschaft zu einer Öffnung der Grenze und einem konstruktiven Dialog. Am 10. Oktober 2009 wurden in Zürich zwei Protokolle zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen und zur Grenzöffnung feierlich unterschrieben (vgl. Ministry of Foreign Affairs 2009a; 2009b). Diese Dokumente wurden allerdings von den beiden Parlamenten bis heute nicht ratifiziert. Die Idee der Annäherung stieß auf heftige Proteste von aserbaidschanischer Seite. Ankara reagierte schließlich auf die Proteste seines wichtigsten Alliierten und knüpfte die Frage der türkisch-armenischen Versöhnung an eine Regelung des Bergkarabach-Konflikts. Die Verhandlungen gerieten deshalb in eine Sackgasse und wurden auf unbestimmte Zeit eingefroren. Eine friedliche Partnerschaft konnte weiterhin nicht realisiert werden.
Bedingungen einer Versöhnung und Hindernisse für eine Annäherung Friedensforscher behaupten, dass sogar bei schwersten und massivsten Menschenrechtsverletzungen eine kollektive Aufarbeitung möglich ist. Dafür müssen allerdings die folgenden Schritte erfüllt werden: (1) Friedenssicherung als allgemeine Prämisse für konstruktive Verhandlungen zwischen den verfeindeten Parteien und zum Schutz vor einem Rückfall in die alte Konfliktsituation; (2) Versöhnung zwischen Opfern und Tätern, wodurch eine sinnvolle Interaktion hergestellt werden kann; (3) Eine offizielle Rechtsprechung zur Sühnung der Verbrechen; (4) Heilung der Geschädigten, d. h. 15 So geriet beispielweise Armenien im August 2008 in eine Krise, als der nördliche Nachbar
Georgien und der politisch-wirtschaftliche Partner Russland sich wegen ihrer Machtansprüche auf Südossetien bekämpften. Für Armenien war damit der Weg nach Norden ebenfalls versperrt. Es blieb nur noch die ca. 35 km lange Landesgrenze mit dem Iran offen. Der Georgienkrieg verursachte eine dreiwöchige Ölkrise in Jerewan mit erheblichen wirtschaftlichen Verlusten. Jeder nüchterne Politiker sah ein, dass Armenien sich unter solchen Umständen keinesfalls entwickeln kann (vgl. Ter-Petrosyan 2009: 16f.; 63f.).
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Befreiung von Misstrauen, Hilfslosigkeit, Wut und Rachegefühlen; (5) Vergebung, damit auf persönliche Rache und direkte Vergeltung endgültig verzichtet und stattdessen ein Neuanfang und ein konstruktiverer Umgang mit dem Geschehenen gefunden werden kann; (6) die Aufdeckung der Wahrheit und ihre Verbreitung unter Zeitgenossen und nachfolgenden Generationen (vgl. Clark 2010: 17–21). Im Falle der armenisch-türkischen Beziehungen sehen wir, dass bis jetzt keine dieser genannten Bedingungen erfüllt wurde. Im Gegenteil wurden alle bisherigen Schlichtungsversuche abgewertet oder auch mit Gewalt unterdrückt. Die Anklage des Literatur-Nobelpreisträgers Orhan Pamuk gemäß Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches wegen ‚Beleidigung des Türkentums‘ war der bekannteste Fall dafür.16 Sein Vergehen bestand darin, dass er sich öffentlich über die dunklen Seiten der Osmanischen Geschichte und aktuelle Menschenrechtsverletzungen in der Türkei äußerte. Nur seine weltweite Popularität konnte ihn vor einer Verurteilung retten. Bis heute wird er aber in seiner Heimat von Nationalisten bedroht. Das Schicksal des Redakteurs der türkisch-armenischen Zeitung Agos, Hrant Dink, hatte ein ähnliches Anfangsszenario. Dink versuchte, als Vermittler für eine Annäherung zwischen Armeniern und Türken zu fungieren. Er war der erste Armenier in der Türkei, der über die Wichtigkeit der Anerkennung des Genozids in diesem Land öffentlich gesprochen hatte. Gleichzeitig kämpfte er aber gegen die Hass- und Rachegefühle, die in armenischnationalistischen Kreisen bezüglich der Türken spürbar sind. Die türkische Justiz erklärte ihn dennoch zum Staatsfeind und die Presse stigmatisierte ihn als ‚Verräter‘. Er wurde mehrmals – unter anderem auch gemäß dem bereits erwähnten Artikel 301 – angezeigt, verhaftet und verurteilt. Schließlich wurde er zur Zielscheibe türkisch-nationalistischer Extremisten. Trotz zahlreicher Morddrohungen unternahm die Regierung keine Schutzmaßnahmen. Er wurde am 19.1.2007 von einem Teenager auf offener Straße in Istanbul erschossen. Laut Augenzeugenberichten rief der Täter auf der Flucht vom Tatort: „Ich habe den Ungläubigen erschossen!“ Im Laufe der Untersuchungen wurden einige gewalttätige Rechtsradikale verhaftet, die an der Planung dieses Attentats beteiligt waren. Einer ihrer Anführer, Yasin Hamal, schrie bei seiner Vorführung vor Gericht: „Orhan Pamuk sollte gut auf sich aufpassen!“ (Focus vom 30.1.2007). Die Ermordung von Dink er16 In deutscher Übersetzung lautet dieser Artikel wörtlich: „Herabsetzung der türkischen
Nation, des Staats der Republik Türkei, der Institutionen des Staates und seiner Organe. (1) Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (2) Wer die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte öffentlich herabsetzt, wird gemäß Abs. 1 bestraft“ (Tellenbach 2008: 105).
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schütterte die weltweite armenische Öffentlichkeit. Sie rief eine bis dahin unvorstellbare Welle von Protesten hervor. Dabei zeigten auch hunderttausende Türken ihre Solidarität. Aber die begangene Bluttat war bereits von den meisten Armeniern als eine Bestätigung für die Hinterhältigkeit des ‚Erzfeindes‘ verstanden worden, die jede weitere Annäherung mit ihm für sie unmöglich machte (vgl. Kalayjyan 2008: 524). Auch eine Initiative der türkischen Intelektuellen Baskın Oran, Ahmet Insel und Ali Bayramoğlu, die auf einer Internetseite um Entschuldigung für die Massaker von 1915 baten, stieß auf große Wiederstände in der Türkei. Im Dezember 2008 hatten sie die folgende Stellungnahme in fünfzehn Sprachen publiziert und bis März 2011 insgesamt 30.729 Online-Unterschriften gesammelt: „Ich kann es mit meinem Gewissen nicht vereinbaren, dass die Katastrophe, welche die Armenier des Osmanischen Reiches 1915 ereilte, verleugnet und ihr teilnahmslos begegnet wird. Ich lehne dieses Unrecht ab und teile die Gefühle und den Schmerz meiner armenischen Brüder und Schwestern und entschuldige mich bei ihnen“ (Özür diliyorum 2008).
Diese öffentliche Entschuldigung rief heftige Kritik auf Seiten von Regierungsmitgliedern, unter ihnen sogar einige Minister, hervor. Nationalistische Gruppen forderten, dass die Webseite sofort gesperrt werden sollte. Hacker hatten die Seite mehrmals angegriffen und die Unterschriftensammlung für mehrere Tage unmöglich gemacht (vgl. Aktar 2010). Anschließend, als all diese Proteste wirkungslos blieben, starteten die Opponenten eine Gegenmaßnahme im Internet. Den folgenden anti-armenischen Text17 auf einer neuen Webseite unterzeichneten bis März 2011 insgesamt 200.041, also fast sieben Mal so viele Menschen: „Ich vertrete den Standpunkt, dass alle Armenier und ihre Unterstützer, für die in der Vergangenheit, sowohl auch in der Gegenwart, durch die Armenier an der türkisch-osmanisch-muslimischen Bevölkerung begangenen Morde und Grausamkeiten, vom Türkischen Volk um eine Entschuldigen bitten zu müssen. Ich erklaere hiermit, dass ich die belegte geschichtliche Begebenheit und Faktum der Massaker an der türkischen Bevölkerung nicht tolerieren kann, und im Namen der türkischen Welt und osmanischer Ahnen, erwarte ich und verlange eine Entschuldigung von der Armeniern!“ (Kişi özür bekliyoruz 2009).
Diese Webseite präsentiert außerdem die Namen von bei Terroranschlägen getöteten türkischen Diplomaten und Videos zum Bergkarabach-Krieg. Auf der Titelseite steht ein Satz aus einer Rede Mustafa Kemals (Atatürks) über angebliche armenische Massenmörder: „They had killed thousands of 17 Diese Stellungnahme ist in türkischer, englischer und deutscher Sprache verfügbar. Ich
zitiere hier die deutsche Fassung im Original, die einige Fehler und sprachliche Unklarheiten beinhaltet.
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blameless and aidless mothers and children with torture. It was the Armenians who had done this atrocity that has no equal in the history“ (Kişi özür bekliyoruz 2009). Viele andere Beispiele zeigen, dass alle Friedens- und Versöhnungsinitiativen bis heute auf Widerstand stoßen oder aufgrund von Halbherzigkeit wirkungslos im Sande verlaufen. Zu diesen gescheiterten Versuchen kann man auch den letzten Skandal um eine erstmals seit der Vertreibung der Armenier erlaubte Liturgie in der Hl. Kreuz-Kathedrale auf der Insel Akhtamar im Van-See zählen. Diese einst sehr berühmte Kirche aus dem 10. Jahrhundert wurde bereits vor dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1905 beraubt und entweiht. Vor kurzem gestattete aber die türkische Regierung, sie zu renovieren und in ein Freilichtmuseum umzuwandeln. Die Türkei wollte damit den Europäern beweisen, dass die Kultur der christlichen Minderheiten respektiert werde. Deshalb wurde am 19. September 2010 sogar armenischen Geistlichen erlaubt, einmal im Jahr einen Gottesdienst in der Kathedrale zu zelebrieren. Aber das armenische Katholikat von Kilikien boykottierte diese Liturgie und verurteilte die gesamte Aktion als einen inakzeptablen Täuschungsversuch: „This is an attempt to obscure its [Turkey’s] consistent policy of denying the Armenian Genocide and the rights of its survivors“ (Armenian Weekly vom 30.9.2010). Das armenische Katholikat von Etschmiadsin und einige Diasporabischöfe hatten dagegen die Einladung der türkischen Regierung zunächst akzeptiert. Später aber sagten sie ebenfalls ihre Beteiligung ab, weil die türkischen Organisatoren – trotz eines vorherigen Versprechens – angeblich aus technischen Gründen das 80kg schwere Kreuz nicht auf der Kuppel der Kathedrale anbringen lassen wollten. Die türkische Regierung hatte diesen Vorgang verzögert, bis das umkämpfte Referendum über eine Verfassungsreform vorbei war. Der Kulturminister Ertugrul Günay bestätigte, dass die regierende AKP die Propaganda der nationalistischen Opposition gefürchtet hatte, die „jedes Zugeständnis an die Christen gerne Verrat schimpft“ (Süddeutsche Zeitung vom 18./19.9.2010: 10). Die meisten armenischen Parteien riefen daraufhin zum allgemeinen Boykott auf. Sie fanden es lächerlich, dass die Türkei sich bereit erklärte, diese uralte Kathedrale den ursprünglichen Besitzern „nur ein Mal im Jahr zu vermieten“. Die armenische Presse bezeichnete diesen Versöhnungsversuch als eine „gescheiterte Show“ (Aravot vom 19.8.2010). Das Schlimmste sollte aber noch kommen: Eine Woche später organisierte die rechtsextreme Milliyetçi Hareket Partisi (türk.: Partei der Nationalistischen Bewegung) eine Protestmaßnahme. Hunderte ihrer Anhänger versammelten sich am 30. September 2010 in den Ruinen der Hl. Gottesgebärerin-Kathedrale von Ani und hielten dort einen islamischen Gottesdienst (namaz) ab. Ani war bis 1045 die Hauptstadt Armeniens, die sich heute auf 116
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türkischem Territorium unweit der armenischen Grenze befindet. Diese provokante Aktion fand mit Genehmigung des türkischen Ministeriums für Kultur und Tourismus statt und rief tiefe Empörung in der armenischen Bevölkerung hervor. Der Leiter des Museums und Instituts für den Armenischen Genozid in Jerewan, Hayk Demoyan, beschrieb seine Enttäuschung mit folgenden Worten: „Namaz on ruins of Ani shows the ugly face of Turkish nationalism […] Allowing this namaz, the Turkish authorities involve Allah into their anti-Armenian campaign“ (Asbarez von 1.10.2010). Solche Konflikte zeigen, dass die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Spannungen zwischen Armenien und der Türkei untrennbar mit der Aufklärung der gemeinsamen Geschichte verbunden sind. Die zahlreichen verpassten Chancen zum Dialog deuten gleichzeitig darauf hin, dass es in der Gegenwart auf der Seite der türkischen Regierung noch keine Bereitschaft für eine Aufarbeitung der Vergangenheit gibt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die aktuellen politischen Vermittlungsversuche leider keine ausreichende Plattform für eine reale Versöhnung finden.
Fazit Die Armenier bezeichnen ihre eigene Geschichte als eine ‚Unglückskette‘ oder als einen ‚Weg des Martyriums‘. Aufgrund sich oft wiederholender Eroberungen und daraus resultierender dauerhafter Unterdrückungszeiten nennen sie sich selbst čarčarvaç azg (arm.: gequältes Volk) und ihre Heimat avervaç erkir (arm.: zerstörtes Land). Die Armenier waren aber fremden Invasoren nicht immer hilflos ausgeliefert und untergeordnet, sondern leisteten nicht selten auch bewaffneten Widerstand. Während derartiger Auseinandersetzungen wurden auf nationaler Ebene bestimmte Feindbilder konstruiert. Man bezeichnete seinen Gegner als Mörder von Unschuldigen, Verfolger von Christen, Henker von Kindern und Frauen usw. Die Urheber der Feindbilder waren sowohl das einfache Volk als auch Fürsten, Historiker, Künstler, Schriftsteller, Militäroffiziere und Geistliche. Während kollektiver Erinnerungsrituale, die auch heute noch stattfinden, werden diese Feindbilder wieder ins Bewusstsein gerufen und an die jüngeren Generationen weitergegeben. Ihre Funktion besteht hauptsächlich darin, die armenische Identität von allem Fremden abzugrenzen und nachfolgende Generationen zu warnen, damit sie sich in der Zukunft vor möglichen Gefahren seitens der alten oder neuen Eroberer schützen. Armenier nennen aber heute nur die Türken ihre ‚Erzfeinde‘. Die persischen, arabischen und byzantinischen Angriffe liegen schon mehrere Jahrhunderte zurück und dienen deshalb nur noch als belehrende Beispiele aus 117
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der Vergangenheit. Aus dieser Perspektive wird in den Medien, in Schulbüchern und in der populären Literatur ein Geschichtsbild vermittelt, nach dem es damals den Vorvätern gelungen wäre, die genannten Feinde zu besiegen und ihre Heimat von diesen fremden Herrschern zu befreien. Die alten Gegner waren also ‚gezwungen‘, sich hinter ihre ursprünglichen Grenzen zurückzuziehen. Außerdem spielten diese Völker eine lebenswichtige Rolle für die armenischen Flüchtlinge nach dem Ersten Weltkrieg. So nahmen beispielsweise der Iran, Griechenland und die meisten arabischen Länder tausende Vertriebene auf. Sie gaben den Überlebenden des Genozids ein neues Zuhause und erlangten damit den guten Ruf hilfsbereiter Nachbarn. Im Falle der Osmanischen Eroberung konnte man aber das gleiche nicht behaupten. Chronologisch gesehen war die osmanische Herrschaft die letzte Unterdrückungsperiode, die fast 400 Jahre dauerte und mit einem Völkermord endete. Die Erinnerung an diese tragischen Ereignisse hat das Bewusstsein der nachfolgenden Generationen in beiden Ländern stark beeinflusst. Sowohl die drei jungtürkischen Paschas als auch die republikanischen Regierungsführer in der Türkei behaupteten, dass die ‚Umsiedlung‘ der Armenier eine notwendige Maßnahme während der Kriegswirren gewesen sei. Darüber waren und sind die Armenier aber anderer Ansicht: Sie sind sich sicher, dass der Meç Eġer. n (arm.: große Katastrophe) ein staatlich geplanter und systematisch durchgeführter Genozid war. Eine derart prägende kollektive Tragödie kann nicht als ‚Schnee von gestern‘ relativiert und vergessen werden – wie es 1993 die Ministerpräsidentin der Türkei, Tansu Çiller, wörtlich forderte. Nach diesen Massakern waren alle seit Generationen überlieferten Ängste bezüglich des ‚ewigen Erzfeindes‘ bestätigt und am eigenen Leib erfahren worden. Die Leugnung des Völkermords seitens der türkischen Regierung in der Gegenwart hat deshalb eine destruktive Wirkung und macht die Abschaffung des im armenischen Bewusstsein weiterhin existierenden Feindbildes unmöglich. Das bedeutet, dass es der Türkei ohne Anerkennung des armenischen Genozids niemals gelingen wird, die Armenier als friedliche regionale Partner für sich zu gewinnen. Ohne eine gemeinsame Verarbeitung des historischen Traumas bzw. ohne die Befreiung von bedrohlichen Feindbildern werden alle Hoffnungen auf eine ernsthafte Versöhnung und dauerhafte Partnerschaft nur eine unerfüllbare Utopie bleiben.
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Zionistischer Kolonialist vs. palästinensischer Terrorist: Feindbilder im Israel-Palästina-Konflikt Verena Voigt
Der Konflikt zwischen Juden und Arabern bzw. dem Staat Israel und den Palästinensern1 stellt einen der am längsten andauernden der Moderne dar. Die Vorgeschichte dieser Auseinandersetzung beginnt ungefähr an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als immer mehr Juden nach Palästina einwanderten. Seit der Staatsgründung Israels im Jahre 1948 kann man von einem dauerhaften Konflikt sprechen, der immer wieder auch gewaltsam ausgetragen wurde. Diese Erfahrung hat auf beiden Seiten Traumata hinterlassen und insgesamt zu einer Einstellung des Misstrauens bzw. zu unverhohlenem Hass geführt. Es ist kaum erstaunlich, dass sich in dieser Situation jahrzehntelanger Gewalt und Gegengewalt Feindbilder herausgebildet haben, die sich, da sie kaum durch positive Erfahrungen mit der Gegenseite durchbrochen wurden, als sehr stabil und schwer auflösbar erwiesen haben. Obwohl die Konfliktparteien unauflösbar durch eine gemeinsame Geschichte miteinander verbunden sind, werden die historischen Erfahrungen, die der Konstruktion der Feindbilder zugrunde liegen, von Israelis und Palästinensern sehr unterschiedlich bewertet. Gerade die Bewertung historischer Ereignisse bzw. deren Folgen und die Diskurse um die vermeintlich richtige Geschichtsdarstellung spielen eine zentrale Rolle für das Selbst- wie für das Fremdbild beider Seiten. Trotz der unterschiedlichen Symbolik, die verwendet wird, um den Gegner zu diffamieren und zu entmenschlichen, finden sich teilweise erstaunliche Parallelen in der Art und Weise, wie die Feindbilder konstruiert werden. Dies lässt sich vor allem durch die politi1 Die Selbstbezeichnung ‚Palästinenser‘ hat sich erst im Laufe der Konfliktgeschichte suk-
zessive etabliert. Vor der Entstehung eines dezidiert palästinensischen Nationalismus ab dem Ende der 1960er Jahre war eher die Bezeichnung ‚Araber‘ gebräuchlich, da sich die Einwohner Palästinas auch im Sinne der Ideologie des Panarabismus überwiegend als Araber identifizierten. Ein bedeutender Einschnitt vollzog sich mit der arabischen Niederlage im Sechstagekrieg von 1967, in deren Folge die seit 1969 von Jassir Arafat angeführte Palestine Liberation Organization (PLO) aktiv ein palästinensisches Nationalbewusstsein etablierte und auch die internationale Anerkennung der Rechte des ‚palästinensischen Volkes‘ forcierte. Auf israelischer Seite existieren jedoch Gruppen, die nach wie vor die Existenz eines eigenständigen palästinensischen Volkes leugnen und weiterhin die Verwendung des Begriffes ‚Palästinenser‘ vermeiden (vgl. Voigt 2010a: 153f.).
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Verena Voigt
sche Situation erklären: Im Israel-Palästina-Konflikt stehen sich zwei Völker gegenüber, die beide von Gewalterfahrungen und fehlender Anerkennung geprägt sind. Für die jüdische Seite bedeutet die Gründung des Staates Israel die Erfüllung der Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben ohne Verfolgungen. Der jüdische Staat liegt jedoch im Herzen einer arabisch und muslimisch dominierten Region, deren Machthaber immer wieder versucht haben, den neuen Staat auszulöschen. Die palästinensische Seite sieht sich hingegen als Opfer europäischer Kolonialpolitik und als Leidtragende der Gründung Israels. Die gewaltsame Geschichte des Konfliktes hat bei beiden Parteien zu einer nahezu reflexhaften Betonung des eigenen Opferstatus geführt. Der Gegenseite wird dabei zumeist die Hauptschuld für das erfahrene Leid zugeschrieben. Dieses Vorgehen dient nicht nur der Ausbildung und Stabilisierung einer eigenen Identität, sondern soll auch internationale Sympathie für die ‚Rechtmäßigkeit‘ von Gewalttaten einwerben. Da die Gewalt vermeintlich stets vom Gegner ausgeht, wird jegliche Gegengewalt als Selbstverteidigung verstanden. Dieser Argumentationstyp findet sich zwar häufig in gewaltsam ausgetragenen Konflikten, in Palästina wird die Lage jedoch dadurch verschärft, dass beide Seiten aus geschichtlichen Erfahrungen heraus dazu tendieren, dem Gegner zu unterstellen, dieser strebe nicht nur einen Sieg, sondern die Auslöschung der Gegenseite an. Da sich die Feindbildkonstruktion beider Seiten vor allem aus der Konfliktgeschichte herleiten lässt, ist es zunächst notwendig, in einem ersten Teil die Stationen des Konfliktes zu beleuchten und die Elemente des Feindbildes herauszuarbeiten. Dabei ist es unerlässlich, die Frühzeit des Konfliktes vor der Staatsgründung Israels etwas eingehender zu behandeln, da sich viele wiederkehrende Bilder und Vorwürfe auf die ersten Jahrzehnte der jüdischen Einwanderung beziehen. In einem weiteren Abschnitt soll noch ein Blick auf die zwischengesellschaftlichen Dynamiken in der Konstruktion der Feindbilder geworfen werden. So hat es verstärkt nach dem Friedensprozess von Oslo ab Beginn der 1990er Jahre Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis um die jeweilige Konstruktion des Selbst- und Fremdbildes gegeben, die in Anklagen gipfelten, die Gegenseite verschärfe den Konflikt durch gezielte Feindpropaganda. Auf diese Weise wurden Feindbilder selbst zum unmittelbaren Konfliktgegenstand und die Diskurse um deren Verbreitung zu einem probaten Mittel, um die andere Seite für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich zu machen. Zuletzt werden noch in Form eines Ausblicks die Hindernisse skizziert, die einem Abbau der Feindbilder entgegenstehen. Dabei spielen neben der Tatsache, dass noch immer keine Lösung des Konfliktes in Sicht ist, vor allem innergesellschaftliche Aspekte, beispielsweise die tiefe Kluft zwischen politischen Positionen und Ideologien, eine bedeutende Rolle. 124
Zionistischer Kolonialist vs. palästinensischer Terrorist
Überblick über die Konfliktgeschichte und die zentralen Elemente der Feindbildkonstruktion Der Konflikt zwischen Juden und Arabern2 lässt sich zurückverfolgen bis ins späte 19. Jahrhundert, als Juden verstärkt begannen, nach Palästina einzuwandern, das bis zum Ende des Ersten Weltkrieges Teil des Osmanischen Reiches war.3 Die an späteren Einwanderungswellen (hebr.: aliyot; Singular: aliyah4) gemessen relativ geringe Anzahl von Juden (ca. 20.000–30.000; vgl. Krämer 52006: 128), die zwischen 1882 und 1903/04 nach Palästina kamen,5 waren hinsichtlich ihrer Motivation und ihrer ideologischen Position sehr verschieden. Vor der ersten Aliyah lebten nur ca. 15.0006 Juden (‚alter‘ Yishuv7) zumeist ohne größere Probleme mit der arabisch-muslimischen Mehrheitsbevölkerung zusammen. Das Zusammenleben zwischen Juden und Arabern verschlechterte sich sukzessive ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Zahl vor allem zionistisch gesinnter Einwanderer anstieg. Der Zionismus8 entwickelte sich ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts primär als Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus und Pogrome in Europa, die nach Meinung der Zi2 Der Begriff ‚Araber‘ bezieht sich in diesem Aufsatz auf alle arabisch-sprachigen, nicht-
jüdischen Einwohner Palästinas. Darunter fällt die muslimische Mehrheit, aber auch – häufig vergessen – die Gruppe der arabischen Christen. 3 Zur Geschichte des Nahostkonfliktes vgl. beispielsweise Hirst 32003; Krämer 52006; Böhme/Kriener/Sterzing 2005; Pappe 22006. 4 Der Begriff Aliyah bedeutet wörtlich ‚Aufstieg‘ (in das Land Israel) und bezeichnet, jeweils mit Zahlen oder einem anderen Zusatz ergänzt, die verschiedenen Einwanderungswellen. Dabei handelt es sich jedoch um eine nachträgliche Systematisierung einer zu Beginn eher diffusen Einwanderung (vgl. Krämer 52006: 128). 5 Die weitaus größere Zahl wanderte zu dieser Zeit nach Lateinamerika, Westeuropa und vor allem in die USA aus. Die Gesamtzahl der jüdischen Auswanderer zwischen 1882 und 1914 beläuft sich auf ca. 2,6 Millionen. Davon gingen weniger als fünf Prozent nach Palästina (vgl. Krämer 52006: 125f.). Die Mehrzahl stammte aus Russland, wo es zu Beginn der 1880er Jahre zu schweren Pogromen gegen die jüdische Minderheit gekommen war. 6 Die Bevölkerungsstatistiken für Palästina in dieser Zeit sind mit allerlei Problemen behaftet, was die Art und Vollständigkeit der Erfassung angeht. Die Zahlen differieren daher erheblich (vgl. Krämer 52006: 154–166), unter anderem je nachdem, ob nur osmanische oder auch ausländische Staatsbürger gezählt wurden. In diesem Fall bezieht sich die Zahl auf osmanische Staatsbürger jüdischen Glaubens im Jahr 1880. Gudrun Krämer gibt als Gesamtzahl der jüdischen Einwohner Palästinas inklusive ausländischer Staatsbürger 26.000 an (ebenfalls für 1880; vgl. Krämer 52006: 164). 7 Das Wort Yishuv kann mit ‚Bevölkerung‘ übersetzt werden. Allgemein wird die gesamte jüdische Einwohnerschaft Palästinas vor der Staatsgründung Israels als Yishuv bezeichnet, wobei zwischen ‚altem‘ und ‚neuem‘ Yishuv unterschieden wird. Den ‚neuen‘ Yishuv bilden nach dieser Vorstellung die Neueinwanderer und vor allem die sich von den traditionell lebenden Juden abgrenzenden Zionisten. Es handelt sich somit zumindest teilweise um eine konstruierte und ideologisch basierte Trennung. 8 Zur Geschichte des Zionismus und dessen Zielen vgl. allgemein Brenner 2002; Schrage/ Thul 2010.
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onisten die Fruchtlosigkeit der im Zuge der jüdischen Aufklärung (Haskalah) erfolgten Assimilierungsversuche der Juden an die westlich-christliche Gesellschaft bewiesen. 1897 wurde auf dem Ersten Zionistenkongress in Basel die World Zionist Organization gegründet. Das Ziel der Zionisten war es, den Juden ein selbstbestimmtes Leben fernab der Willkür staatlicher Autoritäten zu ermöglichen.9 Die Lösung des Problems sollte darin bestehen, dass die europäischen Kolonialmächte den Juden geeignetes Land für die Gründung eines jüdischen Staates zur Verfügung stellten. Auch wenn zu Beginn noch andere Gebiete diskutiert wurden, konzentrierten sich die Bemühungen der Zionisten schnell auf Eretz Israel, die historische Heimstätte der Juden in Palästina (vgl. Hirst 32003: 136; Schrage/Thul 2010: 123f.). Religiöse Motive waren dabei zumeist weniger ausschlaggebend als die Vorstellung der ‚natürlichen‘ Verbundenheit der Juden mit dem Land. Die zionistischen Organisationen förderten die Einwanderung nach Palästina, indem sie zum Beispiel Geld für den Landerwerb sammelten.10 Führende Zionisten nahmen Verhandlungen mit verschiedenen europäischen Großmächten und dem Osmanischen Reich bezüglich der Abgabe von Land zur Besiedelung auf, die jedoch bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges fruchtlos blieben. Viele der ab Beginn des 20. Jahrhunderts nach Palästina einwandernden Juden waren von der zionistischen Idee beeinflusst, dort eine fortschrittliche, nach sozialistischen Idealen aufgebaute Gesellschaft zu errichten. Diese Zuwanderer unterschieden sich damit deutlich von den eher traditionell orthodoxen Juden des ‚alten‘ Yishuv. Sie distanzierten sich außerdem von der jüdischen Lebensweise in ihren zumeist osteuropäischen Ursprungsländern, in denen die Juden die Rolle einer eher passiven und häufig unterdrückten Minderheit eingenommen hatten. Die Mehrheit der Zionisten verabscheute geradezu die in ‚dreckigen‘ und ‚engen‘ Schtetln (jüdische Siedlungen in Osteuropa) lebenden und nach Maßstäben westlicher Bildungstradition ‚ungebildeten‘ Juden (vgl. z.B. Khazzoom 2003).11 Der ‚neue‘ Jude sollte dagegen sein Schicksal aktiv in die Hand nehmen und als Pionier die vermeintliche Wildnis in Palästina urbar machen.12 9 Hierzu paradigmatisch Theodor Herzl: Der Judenstaat (erstmals erschienen 1896). 10 Der Jewish National Fund (gegründet 1901) wurde als ein Organ der World Zionist Or-
ganization eingerichtet, um Geldspenden zentral zu verwalten. Er spielte eine bedeutende Rolle im Prozess der Landerwerbung (vgl. Lehn/Davis 1988). 11 Aziza Khazzoom deutet in ihrem Aufsatz an, dass die Dichotomie westlich-östlich bzw. okzidental-orientalisch, mit der sich die westeuropäischen Juden von den ‚Ostjuden‘ abgrenzten, später auf die Araber übertragen wurde. In der Tat lässt sich eine ähnliche Kategorisierung feststellen. Die Zionisten sahen sich selbst als westlich und ordneten die Araber in das orientalische Schema ein: als laut, chaotisch, dreckig, ungebildet und moralisch unterlegen. 12 Diese Art des Zionismus, die Israel die nächsten Jahrzehnte prägen sollte, wird allgemein als ‚Arbeiterzionismus‘ bezeichnet.
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Die meisten Einwanderer hatten, bevor sie nach Palästina kamen, kaum ein Bild von der dort lebenden Bevölkerung. Allenfalls gingen sie von der romantischen Vorstellung ursprünglich lebender Bauern aus, die nach Meinung mancher Zionisten den Fortschritt, den die Juden bringen sollten, dankbar annehmen würden (vgl. Hirst 32003: 137). Die Situation im Land sah jedoch anders aus. Palästina war zwar nicht dicht bevölkert, es lebten dort aber mindestens 443.000 Araber (Stand: 1880; vgl. Krämer 52006: 164). Der häufig zitierte Satz ‚A land without a people for a people without a land‘, der auch von den Zionisten adaptiert wurde, entbehrte daher jeglicher Realität. Zu Beginn hatten die arabischen Bewohner Palästinas tatsächlich nur wenige Probleme mit der zunächst kleinen Zahl jüdischer Einwanderer. Insbesondere die arabischen Großgrundbesitzer, die oft fernab Palästinas lebten, machten gute Geschäfte mit den Juden, die das Land, das sie besiedeln und agrarisch nutzen wollten, käuflich erwerben mussten. Auch die Landbevölkerung profitierte von den jüdischen Landkäufen. Die Siedler hatten häufig keinerlei landwirtschaftliche Kenntnisse und waren so gezwungen, arabische Arbeiter einzustellen. Die Juden brachten zudem neue Technologien und schufen Absatzmärkte für die lokale arabische Bevölkerung (vgl. Hirst 32003: 144f.). Mit steigender Zahl der Einwanderer regte sich jedoch vor allem in der arabischen Landbevölkerung Widerstand gegen die Landverkäufe, da immer mehr Kleinpächtern und einfachen Landarbeitern ihre Lebensgrundlage entzogen wurde. Gleichzeitig etablierte sich seit der zweiten Aliyah (1904–1914) die Devise, dass die Arbeit in den jüdischen Siedlungen, wenn irgend möglich, nur von Juden zu verrichten sei. Der Konflikt zwischen Juden und der arabischen Landbevölkerung spitzte sich im Laufe der Jahre immer weiter zu und es kam zu ersten Angriffen auf agrarische Siedlungen (kibbutsim bzw. moshavim13). Die jüdischen Pionie. re, die vorher mit dem Blick zivilisatorischer Überlegenheit auf die Araber herabgesehen hatten, gingen immer mehr dazu über, diese als reale Gefahr wahrzunehmen. Sie stellten ab 1907 eigene Wächtereinheiten auf, welche die jüdischen Besitztümer schützen sollten. Die Juden begannen zudem, sich von der arabischen Bevölkerung abzuschotten und eigene, ausschließlich jüdische Strukturen im Land aufzubauen. Zu diesen gehörten auch paramilitärische Gruppen, die letztlich die Militarisierung der jüdischen Seite einleiteten. Auf der arabischen Seite weitete sich in der Zeit vor und während des Ersten Weltkrieges der Widerstand gegen die Landkäufe auf die gebildete Mittelschicht aus und fand seinen Ausdruck in der Gründung anti-zionistischer Zeitungen (z. B. al-Karmil; Filast. īn), Gesellschaften und Parteien (vgl. Khalidi 1997: 53–59; 119–144; Hirst 32003: 150–153). 13 Beide stellen Formen landwirtschaftlicher Genossenschaften dar.
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Eine bedeutende Rolle bei der Eskalation des Konfliktes spielten die Briten, die nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und der darauffolgenden Aufteilung des Gebietes unter den Siegermächten das Völkerbundsmandat für Palästina14 übernommen hatten. Bereits vor dem offiziellen Beginn des Mandats (1923) hatten die Briten den Juden in der Balfour-Deklaration (1917) Hilfe bei der „Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk“ (zit. nach Böhme/Kriener/Sterzing 2005: 15) zugesagt. Sie hatten aber den Arabern ebenfalls im Vorfeld Versprechungen hinsichtlich der Errichtung eines großarabischen Reiches gemacht, das nach arabischer Deutung auch Palästina einschließen sollte. Die Briten versuchten, je nach eigenem politischem Kalkül, zwischen den Interessen der sich immer feindseliger gegenüberstehenden Parteien zu lavieren. Sie bevorzugten zunächst die jüdische Seite, indem sie die Einwanderung und den Aufbau jüdischer Strukturen unterstützten. Des Weiteren verstärkten die Mandatsherren die Abschottung der Juden von der arabischen Bevölkerung, indem sie die jüdischen und arabischen Bevölkerungsteile als getrennte Einheiten behandelten. So wurde 1929 die Jewish Agency gegründet, die als Bindeglied zwischen dem Yishuv und den Mandatsbehörden fungieren sollte. Die Jewish Agency nahm einige Selbstverwaltungsrechte für die jüdische Gemeinschaft in Palästina wahr, beispielsweise Einwanderungsangelegenheiten, Siedlungsbau und Schulwesen, und kann als de-facto-Regierung des Yishuv angesehen werden. Damit existierten zum Zeitpunkt der Staatsgründung Israels bereits gut ausgebaute exklusiv jüdische Strukturen, welche die palästinensischen Araber in dieser Form aufgrund mangelnder Förderung durch die Mandatsbehörden, aber auch wegen interner Rivalitäten in der arabischen Bevölkerung nicht besaßen. Ab den 1920er Jahren kam es verstärkt zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Juden und Arabern.15 1921 (Jaffa) und 1929 (Jerusalem) brachen schwere Unruhen aus, in deren Verlauf beide Seiten zahlreiche Opfer zu beklagen hatten. Ebenfalls 1921 richteten Araber ein Massaker an orthodoxen Juden in Hebron an. 1936 begann eine Revolte, die sich gegen die Juden, aber auch gegen die britischen Mandatsherren richtete, die nach Meinung vieler Araber für die Situation in Palästina mitverantwortlich waren. Zu Beginn wurde der Aufstand vor allem von der arabischen Landbevölkerung getragen, die am meisten unter den Landverkäufen und an der damit zusammenhängenden hohen Arbeitslosigkeit litt. Zusätzlich rief die arabische Seite einen landesweiten Generalstreik aus, mit dem Ziel, die Briten zu 14 Das Mandat umfasste ursprünglich auch das heutige Jordanien (damals: ‚Transjordanien‘),
das jedoch 1923 in ein halbautonomes Emirat überführt wurde.
15 Für eine detaillierte Studie zur Entwicklung des arabischen Widerstandes bis 1939 vgl.
Porath 1974 und 1977.
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einem Immigrationsstopp zu zwingen. Der Streik wurde zwar nach sechs Monaten beendet, die Rebellion dauerte jedoch noch bis 1939 an. Auch in diesen Jahren kam es zu zahlreichen Gewalttaten an der jüdischen Bevölkerung. Das brutale Vorgehen der arabischen Aufständischen führte zu einer Mentalität der ständigen Wehrbereitschaft der jüdischen Minderheit. Während man die Araber in der Frühzeit der jüdischen Einwanderung eher als unzivilisiert wahrgenommen hatte, wurden sie nun zum Inbegriff des Bösen. Die Araber wurden in der Folgezeit stereotyp als ‚unberechenbar‘, ‚gewalttätig‘ und ‚blutdürstig‘ beschrieben. Die Gewalttaten wurden dabei zumeist nicht als Ausdruck arabischer Frustration betrachtet, sondern als gezielte bösartige Aktionen gegen die Juden. Verschärft wurde diese Wahrnehmung durch antisemitische Propaganda von Seiten einiger arabischer Führer und ihren Kontakten zu faschistischen Machthabern in Europa, wie die des Muftis von Jerusalem, Amin al-Husseini, der mit dem deutschen Nazi-Regime kollaborierte. Die Briten schlugen nach der arabischen Revolte eine neue Richtung ein. In Zeiten eines in Europa aufziehenden Krieges, in dem alle Ressourcen benötigt werden würden, entschlossen sie sich, den Konflikt zu entschärfen, indem sie die vermeintliche Konfliktursache abschwächten: die jüdische Einwanderung nach Palästina. Im MacDonald-Weißbuch von 1939 wird festgestellt, dass es nicht Politik der britischen Regierung sei, dass in Palästina ein jüdischer Staat entstehe (vgl. Hirst 32003: 219ff.). Zusätzlich wurde die Einwanderung für die fünf folgenden Jahre auf 75.000 begrenzt. Dies geschah gerade in dem Moment, in dem die von den Nationalsozialisten verfolgten Juden nach Palästina drängten. Die mittlerweile auch mit britischer Hilfe erstarkten jüdischen paramilitärischen Gruppen, insbesondere die Haganah,16 standen zwar im Zweiten Weltkrieg auf der Seite Großbritanniens. Nach dem Krieg bekämpften die Juden jedoch die britischen Mandatsherren, da diese ihre Unterstützung für den Aufbau eines jüdischen Staates zurückgezogen hatten. Dieser Kampf schloss auch Terrorakte gegen britische Einrichtungen ein, beispielsweise das Bombenattentat auf das King David Hotel in Jerusalem (1946), welches das Hauptquartier der Mandatsbehörde beherbergte. Angesichts des entstandenen Chaos beschlossen die Briten 1947, das Mandat an die Vereinten Nationen zu übergeben, die mit der Resolution 181 einen Teilungsplan für Palästina vorlegten, der von den Arabern abgelehnt wurde. Diese Ablehnung diente der jüdischen Seite in der Folge immer wieder als Argument für die ‚Härte‘ und ‚Friedensunwilligkeit‘ der Araber. Die Briten hatten den 14. Mai 1948 um Mitternacht 16 Die Haganah (hebr.: Verteidigung) wurde in den frühen Jahren des britischen Mandats
zunächst zur Verteidigung jüdischer Siedlungen gegründet. Aus ihr ging nach der Gründung des Staates Israel die israelische Armee hervor.
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als Ende des Mandats festgelegt. Nur ein paar Stunden vor diesem Termin erklärte David Ben-Gurion die Unabhängigkeit des Staates Israel.17 Sofort darauf griff eine Allianz arabischer Staaten Israel an. Der Erste ArabischIsraelische Krieg – von Juden allgemein ‚Unabhängigkeitskrieg‘ genannt – endete mit einer Niederlage der Araber. Während die Araber die Staatsgründung als Nakba (arab.: Katastrophe) bezeichnen, sah man den Sieg auf israelischer Seite als ein Wunder an: Der ‚jüdische David‘ hatte sich gegen ein scheinbar haushoch überlegenes arabisches Heer behauptet. Dieses ‚David gegen Goliath‘-Schema wurde zum dominierenden Selbstbild der Israelis in den nachfolgenden Jahrzehnten. Nach herrschender Meinung musste sich das kleine jüdische Israel gegen die erdrückende Übermacht der feindseligen Araber behaupten, die das Land umgaben und seine Auslöschung anstrebten. Man selbst sei bereit zum Frieden und wehre sich lediglich gegen die immer neuen Angriffe (vgl. z. B. Shlaim 2004). Die geschichtliche Erfahrung bestätigte diese Sicht: Die Machthaber der umliegenden arabischen Länder betrieben in der Tat eine großangelegte Hetzkampagne gegen Israel und drohten immer wieder mit dessen Vernichtung. Den verschiedenen arabisch-israelischen Kriegen gingen teilweise erhebliche Provokationen von arabischer Seite voraus. Im Ersten Arabisch-Israelischen Krieg (1948/49) und im Yom-Kippur-Krieg (1973) hatten die Araber Israel zuerst militärisch angegriffen. Die Sicht auf die Araber im Allgemeinen, die auch die bis in die späten 1960er Jahre eher machtlosen palästinensischen Araber einschloss, blieb somit im Vergleich zur Mandatszeit unverändert. Gerade die Überfälle arabischer Gruppen auf Juden vor der Staatsgründung wurden dabei immer wieder als Beweis für die ‚Gewalttätigkeit‘ und ‚Skrupellosigkeit‘ der Araber herangezogen. Eigene Gewalttaten und an den palästinensischen Arabern begangenes Unrecht wurden dagegen zumeist als Selbstverteidigung betrachtet oder geleugnet. Nach dem Sechstagekrieg18 (1967), in dem Israel den Gazastreifen, das Westjordanland, Ostjerusalem, die Golanhöhen und den Sinai besetzte, trat zum bisher dominierenden eher säkular und nationalistisch ausgerichteten klassisch-zionistischen Feindbild des ‚grausamen Arabers‘ ein religiöses Element hinzu. Mit der Eroberung Ostjerusalems und des Westjordanlandes – und damit des biblischen Kernlandes der Juden mit all seinen heiligen Stätten – wurden Teile der in Israel lebenden Juden von einer religiösen Hochstimmung erfasst. Ostjerusalem und das Westjordanland waren nach 17 Da der 14. Mai ein Freitag war, rief Ben-Gurion den Staat vor dem Schabbat aus, der mit
Sonnenuntergang beginnt.
18 Direkter Anlass für den Präventivschlag der israelischen Armee waren der Aufmarsch
ägyptischer Truppen auf dem Sinai und die Schließung der Straße von Tiran für israelische Schiffe unter Gamal Abdel Nasser.
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1948 von Jordanien annektiert worden, wobei auch zentrale jüdische Heiligtümer, beispielsweise die Westmauer des früheren Tempelbezirkes (‚Klagemauer‘), in arabische Hand gefallen waren. Die (Wieder-)Besiedelung des ‚heiligen‘ Landes wurde von der religiös-nationalistischen Bewegung (vgl. Schrage 2010: 429–432; ferner allgemein Zertal/Eldar 2007), die sich vor allem aus radikalen Siedlern rekrutiert, zur Hauptaufgabe erklärt.19 Damit flammte auch der Streit um einige Stätten, die von Muslimen und Juden als religiöse Zentren reklamiert werden, nach beinahe zwei Jahrzehnten jordanischer Herrschaft wieder auf. Dazu gehört beispielsweise der Tempelberg – im Arabischen al-Haram aš-Šharīf (das edle Heiligtum) genannt . – auf dem sich heute heilige Stätten des Islam wie die al-Aqs. ā-Moschee20 befinden. Kleinere Gruppen radikaler Juden fordern die Beseitigung der muslimischen Heiligtümer und die Errichtung eines neuen Tempels an deren Stelle. Einen weiteren Ort dieser Art bildet die Höhle der Patriarchen (hebr.: Me‘arat haMakhpelah; arab.: al-Haram al-Ibrāhīmī) in Hebron, die . von Juden, Muslimen und Christen als zentrale heilige Stätte angesehen wird, da sich an dieser Stelle der Tradition nach die Gräber der Stammväter Abraham, Isaak und Jakob und deren Frauen befinden. Faktische oder symbolische Inbesitznahmen heiliger Stätten haben immer wieder zur Eskalation des Konfliktes beigetragen, beispielsweise der Besuch des damaligen Oppositionsführers Ariel Sharon auf dem Tempelberg im Jahre 2000, der von den Palästinensern als zentraler Grund für den Ausbruch der Zweiten Intifada angesehen wird. Diese religiöse Komponente hat eine friedliche Beilegung des Konfliktes noch weiter erschwert, da gerade die radikalen Siedler im Westjordanland trotz ihrer relativ geringen Zahl21 mittlerweile über eine starke Lobby in Israel verfügen. Radikale Siedler haben in der 19 Die wohl bedeutendste Gruppe bildete der Gush Emunim (hebr.: Block der Treuen), der
sich bereits ab 1967 formierte, aber erst 1974 offiziell gegründet wurde. Diese radikale Organisation basierte auf der Ideologie von Rabbi Abraham Isaac Kook (1865–1935) und dessen Sohn Tzvi Yehuda Kook (1891–1982), die den säkularen Zionismus als Wegbereiter des neuen messianischen Zeitalters ansahen, dessen Anbruch durch die Wiederbesiedelung des biblischen Territoriums vorangetrieben werden könne. Der Gush Emunim existiert heute offiziell nicht mehr, die von ihm prominent vertretene Ideologie des ‚religiösen Zionismus‘ ist jedoch nach wie vor einflussreich. 20 Nach islamischer Tradition hat sich auf dem Haram aš-Šharīf die nächtliche Himmels. reise Muhammads (al-Isrā) zugetragen (vgl. Koran 17:1). Jerusalem war zudem die erste Gebetsrichtung (qibla) des Islam, bevor die Muslime begannen, sich nach Mekka auszurichten. Nach Mekka und Medina bildet Jerusalem (al-Quds; arab.: die Heilige) die drittheiligste Stadt des Islam. 21 Die radikalen religiösen Siedler bilden im Westjordanland nur eine Minderheit. Für die meisten Israelis, die in die Besetzten Gebiete zogen, waren wirtschaftliche Überlegungen maßgebend. Verschiedene israelische Regierungen subventionierten den Bau günstiger Wohnungen insbesondere im Westjordanland. Dies erhöhte den Anreiz vor allem für Familien mit niedrigem Einkommen.
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Vergangenheit immer wieder gewaltsam gegen jegliche Aufgabe von ‚heiligem jüdischen Boden‘ protestiert und lokale Konflikte mit den palästinensischen Bewohnern der Besetzten Gebiete aktiv angeheizt. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde zudem noch ein weiteres bis heute zentrales Element des Feindbildes ‚Araber‘ bzw. ‚Palästinenser‘ geprägt: 1959 wurde in Kuwait unter anderem von Jassir Arafat die Harakat at-Tahr . . īr al-Watan ī al-Filastin ī (arab.: Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas; . . kurz: Fatah) gegründet. Anders als die meisten Palästinenser dieser Zeit, die auf einen Sieg der arabischen Mächte gegen Israel hofften, waren die Mitglieder der Fatah der Ansicht, nur ein genuin palästinensischer bewaffneter Widerstand nach Vorbild etlicher Guerillagruppen in der Dritten Welt könne die Palästinenser von israelischer, aber auch von arabischer Oberhoheit befreien. Ab Mitte der 1960er Jahre verübte die Fatah Sabotageakte und Anschläge auf Ziele in Israel. Nachdem die Fatah die Kontrolle über die 1964 von Gamal Abdel Nasser gegründete Palestine Liberation Organization (PLO) übernommen hatte, entwickelte sich der Guerillakampf zur dominanten Strategie der Palästinenser. Während vor dieser Zeit ganz allgemein von der ‚Feindseligkeit‘ und ‚Bösartigkeit‘ der Araber gesprochen wurde, dominierte ab Ende der 1960er Jahre das Bild des ‚arabischen Terroristen‘ die Wahrnehmung. Zusätzlich zur Bedrohung durch die Armeen der arabischen Nachbarstaaten entstand damit für die Israelis ein neues Problem, das mit rein militärischen Mitteln kaum zu lösen war. Israelische Staatsbürger standen von dieser Zeit an in der Gefahr, nicht nur auf israelischem Boden, sondern weltweit zu Zielen von Angriffen, Entführungen und Attentaten zu werden. Neben der Einschüchterung der Israelis dienten die Aktionen verschiedener international agierender palästinensischer Guerillagruppen,22 wie Flugzeugentführungen und das Attentat während der Olympischen Sommerspiele in München 1972, auch dazu, die Welt auf den Kampf der Palästinenser aufmerksam zu machen. Die PLO verweigerte zudem kategorisch eine Anerkennung Israels und strebte danach, ganz Palästina für die Araber zurückzuerobern. Ab dem Ende der 1980er Jahre wurde diese Position zwar sukzessive aufgegeben und mit der Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen der PLO und Israel ab den frühen 1990er Jahren offiziell revidiert. Gerade die immer wieder be22 Die palästinensischen Gruppen, die auf Terrorismus zurückgriffen, sahen sich zwar in der
Tradition von Guerillabewegungen, unterschieden sich jedoch in einigen Punkten von ihren Vorbildern (z. B. den algerischen Unabhängigkeitskämpfern oder verschiedenen lateinamerikanischen Gruppierungen), indem sie auch gezielt Anschläge auf Zivilisten durchführten. Die PLO wurde daher von den meisten Staaten bis zur Anerkennung der Organisation als Vertreterin der palästinensischen Interessen durch die Vereinten Nationen im Jahre 1976 – und von einigen Staaten auch noch darüber hinaus – als Terrororganisation eingestuft.
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schworene harte Position ließ die Wendung der PLO und besonders Jassir Arafats jedoch in den Augen vieler Israelis unglaubwürdig erscheinen. Noch immer wird den Palästinensern unterstellt, sie hätten sich lediglich aus taktischen Gründen im Laufe des Oslo-Friedensprozesses für eine Anerkennung Israels entschlossen. Die in den Oslo-Abkommen23 (1993–1995) beschlossene Einrichtung einer beschränkten Autonomie der Palästinenser würde – so die Kritiker der PLO – von diesen als Ausgangsbasis zur Eroberung Israels genutzt (vgl. z. B. Morris 2009: 166–176). Aber auch Yitzhak Rabin, unter dessen Regierung die Verträge von Oslo ausgehandelt worden waren und der dafür 1994 zusammen mit Arafat und Shimon Peres den Friedensnobelpreis erhalten hatte, misstraute der Wende Arafats. Laut Eitan Haber sah Rabin Arafat als „terrorist and murderer, someone who lied even when he didn’t need to“ (zit. nach Rubin/Colp Rubin 2005: 138). Rabins Meinung unterschied sich damit im Grunde nicht von derjenigen der Mehrheit der israelischen Politiker seiner Zeit. Anders als diese wollte er jedoch das Risiko eines Friedensschlusses eingehen, ein Schritt, der schließlich 1995 zu seiner Ermordung durch einen jüdischen Fanatiker führte. Rabin brach damit mit der Vorgabe aller vorhergehenden israelischen Regierungen, dass man mit ‚Terroristen‘ nicht verhandeln werde. Tatsächlich wäre der Friedensprozess von Oslo ohne die Regierungsübernahme der Arbeitspartei (hebr.: Mifleget haAvodah haYisra’elit; kurz: Avodah) unter Rabin kaum denkbar gewesen. Hinzu kam, dass sich die PLO in den frühen 1990er Jahren in eine politische Außenseiterrolle manövriert hatte und in ernste finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Zum einen hatte die Organisation mit der Auflösung der UdSSR ihren wichtigsten politischen Verbündeten verloren: Das Ende des Kalten Krieges führte dazu, dass die Unterstützung ‚befreundeter‘ Gruppen und Regime durch kommunistische und sozialistische Staaten zur Blockbildung gegen den Westen nahezu obsolet wurde. Zum anderen verschlossen sich der PLO-Führung Geldquellen aus vielen arabischen Staaten, nachdem sie Saddam Hussein bei seinem Überfall auf Kuwait (1990/91) unterstützt hatte (vgl. Starke 2000: 155–161).24 Der Friedensprozess bedeutete daher nicht un23 In den Abkommen erkennt die palästinensische Führung den Staat Israel an. Im Gegen-
zug zog sich die israelische Armee aus Teilen der palästinensischen Gebiete zurück. In diesen Gebieten wurde die Palästinensische Autonomiebehörde eingerichtet, die einige staatliche Funktionen übernahm. In späterer Zeit sollte dann über eine Unabhängigkeit verhandelt werden. Die Verhandlungen scheiterten jedoch wiederholt, so dass bis heute kein autonomer palästinensischer Staat entstanden ist. 24 Der Irak als ein Geldgeber und politischer Unterstützer entfiel nach Zweiten Golfkrieg ebenso wie viele bedeutende arabische Staaten, die sich an die Seite der USA gestellt hatten (z. B. Saudi-Arabien, Ägypten, Syrien). Eine Folge der Unterstützung Husseins war die Ausweisung hunderttausender Palästinenser aus Kuwait, die in der Regel wohlhabend waren und einen beständigen Geldfluss nach Palästina sichergestellt hatten. Auch andere Golfstaaten stellten ihre diplomatischen und finanziellen Hilfen weitgehend ein.
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bedingt ein Umdenken in Bezug auf Feindbilder, sondern ereignete sich in einer politischen Situation, die in dieser Konstellation wohl singulär war. Mit dem Abschluss der Verträge von Oslo entspannten sich die israelischpalästinensischen Beziehungen kurzzeitig. Auch wenn der Friedensprozess auf beiden Seiten teilweise heftig kritisiert wurde, zeigte sich die Mehrheit der Bevölkerungen nach Jahrzehnten des Konfliktes zunächst erleichtert über das vorläufige Ende der Gewalt und verhalten optimistisch über ein zukünftiges friedliches Miteinander. Während der 1990er Jahre wurden etliche Projekte initiiert, die auf einen Abbau negativer Stereotypen zum Beispiel durch die Ermöglichung persönlicher Begegnungen abzielten. Solche waren in den Jahrzehnten vorher kaum möglich gewesen. Die Palästinenser kannten Israelis in der Regel nur in Uniform und assoziierten sie damit mit ihrer Rolle als Besatzer. Die Mehrheit der Israelis hatte keine persönlichen Beziehungen zu Arabern, selbst wenn diese in Israel zum täglichen Straßenbild gehörten. Diese Annäherung drang jedoch nie in breite Gesellschaftsschichten vor, insbesondere, weil bereits kurz nach dem Abschluss der Oslo-Verträge eine Serie von Selbstmordattentaten die israelische Gesellschaft in beständige Alarmbereitschaft versetzte. Ausgeführt wurden diese Attentate, die vor allem dem Zweck dienten, den Friedensprozess zu torpedieren, von islamistischen Organisationen. Israelische Medien lieferten sich eine Art Wettlauf um die dramatischsten und blutigsten Bilder der Opfer, aber auch der Siegesfeiern der Täter, und trugen dazu bei, dass die Ansätze zur Versöhnung letztlich fruchtlos blieben (vgl. Croitoru 2003: 173ff.). Spätestens seit dem Beginn der Zweiten Intifada (Ende 2000), die mit einer Intensivierung der Strategie des Selbstmordattentats einherging, war das Bild des palästinensischen ‚Terroristen‘ präsenter als je zuvor. Wirft man nun einen genaueren Blick auf die arabische Seite, dann wird deutlich, dass sich auch die Palästinenser als alleinige Opfer des Konfliktes betrachten. Sie empfinden die jüdische Einwanderung nach Palästina als ungerechtfertigte ‚Kolonialisierung‘ und die Gründung des Staates Israel als ‚historisches Unrecht‘ an den seit vielen Jahrhunderten im Land lebenden Arabern. Nach dieser Argumentation sind die von den Juden in Besitz genommenen bzw. reklamierten Gebiete arabisches Land. Die arabische Bevölkerung Palästinas sieht sich zudem als Opfer europäischer Politik: zum einen als Leidtragende der Konsequenzen der Judenverfolgung und zum anderen als Verliererin der Kolonialpolitik der Großmächte, die nach dem Ersten Weltkrieg das Territorium des Osmanischen Reiches unter sich aufteilten, willkürliche Grenzen zogen und den palästinensischen Arabern aus Rücksicht auf die Juden eine Unabhängigkeit verweigerten. Aus diesem Geschichtsbild resultieren einige zentrale Elemente des Feindbildes. So werden die Zionisten als verlängerter Arm der westlichen Großmächte 134
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wahrgenommen, welche die arabische Welt oder – in der Argumentation der Islamisten – den Islam unterwerfen und zerstören wollen. Das führt dazu, dass ‚Kolonialist‘ bzw. ‚Imperialist‘ und ‚Zionist‘ in vielen Zusammenhängen bis heute synonym verwendet werden. Neben der Einwanderung von Juden nach Palästina waren mehrere Ereignisse bzw. Entwicklungen zentral für die Perpetuierung des Bildes vom ‚zionistischen Kolonialisten‘. Das wohl wichtigste Ereignis dieser Art bildet die Staatsgründung Israels im Jahr 1948 auf einem gemessen an der jüdischen Bevölkerung unproportional großen Teil Palästinas.25 Nachdem die Araber den Vorschlag der Vereinten Nationen zur Aufteilung des Landes abgelehnt hatten, schuf die jüdische Seite am Tag der Beendigung des britischen Mandats mit der Ausrufung des Staates Israel Fakten. Vor und während der schweren Gefechte des Ersten Arabisch-Israelischen Krieges floh ein Großteil der arabischen Bevölkerung, mehr als 700.000 Menschen (UN-Schätzung), aus dem heutigen Staatsgebiet Israels. Diese Flüchtlinge, die zumeist ihren gesamten Besitz verloren hatten, wurden zum großen Teil in Lagern entweder in den umliegenden arabischen Gebieten (Westjordan land, Gazastreifen) oder in arabischen Nachbarländern untergebracht. Viele dieser Flüchtlingsfamilien leben bis heute in Lagern, teilweise ohne Staatsbürgerschaft und ohne Hoffnung auf Rückkehr. Die israelische Regierung entschied noch während des Krieges – zunächst aus militärischen Gründen –, die Flüchtlinge nicht in ihre Heimat zurückkehren zu lassen. Schon bald wurde arabisches Land an neue Einwanderer, die aus dem Nachkriegseuropa nach Palästina drängten, zum Bau neuer Siedlungen und an landwirtschaftliche Genossenschaften vergeben. Arabische Dörfer wurden, um eine Rückkehr der Einwohner zu verhindern, in großer Zahl zerstört. 1950 folgte dann ein offizielles Gesetz, das dazu diente, die abwesenden arabischen Eigentümer von Häusern und Ländereien in Israel zu enteignen (vgl. Morris 2004: 309–413). Bis heute tragen viele Palästinenser die Schlüssel ihrer ehemaligen Häuser bei sich, um ihren Anspruch zu demonstrieren. Die Geschehnisse der Zeit der Staatsgründung bilden ein kollektives Trauma und einen zentralen Baustein der Erinnerungskultur der Palästinenser (vgl. Milshtein 2009a; 2009b). Die Antwort auf die Frage, wer die Verantwortung für die Flucht der Araber trägt, ist umstritten (vgl. Abdel-Nour 2004). Auf israelischer Seite wird auch heute noch häufig davon gesprochen, dass die Araber ohne Not ihre Häuser und Besitztümer verlassen hätten, während die Araber von geplanter Vertreibung sprechen. Neuere Forschungen er25 Bevölkerungsverteilung 1947: 69% Araber, 31% Juden. Die Juden besaßen dabei nur
5,67% des Bodens (vgl. Böhme/Kriener/Sterzing 2005: 29). Nach dem Ersten ArabischIsraelischen Krieg kontrollierte Israel ca. 77% des nach der Abtrennung Jordaniens verbliebenen Mandatsgebietes.
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geben ein differenzierteres Bild, wonach die meisten Araber flohen, in der Hoffnung, nach einem erwarteten arabischen Sieg schnell in ihre Häuser zurückkehren zu können. Es kam jedoch auch zu gezielten Vertreibungen und sogar zu Massakern wie in Deir Yasin,26 vor allem dann, wenn sich die Dörfer an strategisch wichtigen Punkten befanden. Ein weiteres zentrales Ereignis, durch das sich das Bild des israelischen ‚Kolonialisten‘ weiter verfestigte, bildet der Sechstagekrieg von 1967, in dem die israelische Armee binnen weniger Tage das von Jordanien annektierte Westjordanland mit Ostjerusalem und den von Ägypten verwalteten Gazastreifen eroberte und unter israelische Besatzung stellte. Waren die palästinensischen Araber bis 1967 von arabischen Mächten beherrscht worden, so mussten sie sich nun auf eine ‚fremde‘ Besatzung einstellen, die mit deutlichen Einschränkungen im täglichen Leben verbunden war. Nachdem die Fatah am Ende der 1960er Jahre die Führung der PLO übernommen und diese im Sinne ihrer Ideologie des gewaltsamen nationalistischen Kampfes radikalisiert hatte, wurde Israel zum absoluten Feindbild aufgebaut. Die arabischen Mächte, die seit der Gründung Israels als Beschützer der Palästinenser aufgetreten waren, hatten zwar ebenfalls ein starkes anti-israelisches Feindbild geprägt, dabei jedoch vor allem eigene machtpolitische Interessen verfolgt. Die Palästinenser befreiten sich nun von dieser Bevormundung und erzeugten ein Feindbild, das durch die direkte Erfahrung der Besatzung deutlich spezifischer war. Die Israelis wurden als ‚brutale Usurpatoren‘ angesehen, die das Leben der Palästinenser durch Ausgangsperren, Verhaftungen, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Zensur der Medien, Abriss von Häusern und Vernichtung der Lebensgrundlage in einer Weise beschränkten, die den palästinensischen Arabern völlig unrechtmäßig und unzumutbar erschien. Ein bedeutendes Symbol des nationalen Kampfes bildet noch heute der Olivenbaum, der einerseits für die Geduld (arab.: .sabr27) und Standfestigkeit (arab.: .sumūd) der Palästinenser im Widerstand gegen die Besatzung steht, andererseits aber auch die ‚Grausamkeit‘ der Israelis versinnbildlicht, die immer wieder ganze Haine rodeten und damit Teilen der Bevölkerung die ökonomische Basis raubten. Überhaupt sind Symbole, 26 Das Dorf wurde am 9. April 1948 von Kämpfern paramilitärischer Einheiten angegriffen.
Dabei kamen über 100 Einwohner, vor allem Zivilisten, ums Leben (vgl. Morris 2004: 237–240). Der Name ‚Deir Yasin‘ fällt insbesondere dann, wenn an die traumatischen Ereignisse vor und während des Ersten Arabisch-Israelischen Krieges erinnert werden soll. 27 Das arabische Wort .sabr bedeutet auch ‚Kaktus‘, was ebenfalls auf Bedürfnislosigkeit und Langlebigkeit verweist. In der palästinensischen Propaganda und Literatur wird mit den beiden Bedeutungen des Wortes häufig gespielt. Interessanterweise wird aus derselben Wurzel im Hebräischen ebenfalls das Wort für ‚Kaktus‘ (tsabar) abgeleitet, das mit einer ähnlichen Symbolik versehen ist. Als tsabar (oder: sabra) werden Juden bezeichnet, die in Israel geboren wurden.
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die mit dem Land Palästina und einfachen bäuerlichen Tätigkeiten assoziiert werden, von großer Bedeutung für den palästinensischen Nationalismus. Dazu zählt auch die kūfīya (‚Palästinensertuch‘), die im Nahen und Mittleren Osten von Bauern und Nomaden getragen wird und von den palästinensischen Nationalisten als Symbol des Widerstandes adaptiert wurde. Diese Betonung bäuerlicher Symbole (vgl. Swedenburg 1990) ist Teil einer Geschichtskonstruktion, nach der die Palästinenser vor der Einwanderung der Juden als friedfertige Bauern den Boden bearbeitet haben, in dem sie seit Jahrhunderten ‚verwurzelt‘ sind. Nach einem sehr populären Mythos haben Araber sogar schon in der Antike in Palästina gesiedelt. Dabei wird zumeist behauptet, die Palästinenser stammten von den Kanaanitern ab, die noch vor der Ausbreitung jüdischer Stämme in der Region ansässig waren (vgl. Litvak 2009). Neben der Erzeugung einer spezifisch palästinensischen Identität als einigendem Band im nationalen Kampf diente diese Geschichtskonstruktion auch zum Nachweis der älteren Rechte der Palästinenser am Land. Die Juden, die nach gängiger palästinensischer Auffassung nichts unversucht lassen, die spezifische Identität der Palästinenser zu verleugnen und deren Kultur auszulöschen, erheben daher unbegründete Ansprüche auf Palästina. Die Wahrnehmung der Israelis als unrechtmäßige ‚Kolonialisten‘ und ‚grausame Besatzer‘ spiegelt sich in vielen Formulierungen in der Palästinensischen Nationalcharta der PLO wider, in der die Ziele und ideologischen Grundlagen der Organisation dargelegt werden.28 Als Feinde gelten weniger die Juden als vielmehr die Zionisten, die tragende Schicht des israelischen politischen Establishments. In der 1968 überarbeiteten Version heißt es in bester anti-kolonialer Tradition: „Der Zionismus ist eine politische Bewegung, die organisch mit dem internationalen Imperialismus verbunden ist und im Widerspruch zu allen Aktionen der Befreiung und der progressiven Bewegung in der Welt steht. Er ist rassistischer und fanatischer Natur; seine Ziele sind aggressiv, expansionistisch und kolonialistisch; seine Methoden sind faschistisch. Er ist das Instrument der zionistischen Bewegung und ein geographischer Stützpunkt des Imperialismus, strategisch inmitten des palästinensischen Heimatlandes gelagert, um die Hoffnungen des arabischen Volkes auf Befreiung, Unabhängigkeit und Fortschritt zu bekämpfen“ (Palästinensische Nationalcharta 1968: Artikel 22).
28 Die Charta ist auch heute noch ein zentrales Dokument des palästinensischen Wider-
standes. Die erste Version stammt aus dem Jahr 1964, dem Gründungsjahr der PLO. Die Charta wurde 1968 überarbeitet und unterscheidet sich vom ursprünglichen Gründungsdokument in einigen wichtigen Punkten, insbesondere der Betonung der palästinensischen Identität und der Notwendigkeit eines bewaffneten Kampfes.
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In späteren Schriften findet sich auch häufig das Wort ‚Apartheit‘,29 womit eine Parallele zur Rassentrennung in Südafrika gezogen wird. Die Verwendung des Wortes verweist auf die weitverbreitete Auffassung, Israel als jüdischer Staat basiere auf rassistischen Motiven und die schlechte Behandlung der Palästinenser werde aus einer Ideologie jüdischer Überlegenheit heraus betrieben. Bemerkenswert an der Rhetorik der PLO ist die untergeordnete Stellung anti-jüdischer Motive, die sowohl im frühen palästinensischen Widerstand als auch in der Feindbildkonstruktion der arabischen Staaten eine wichtige Rolle gespielt hatten. Die Juden des ‚alten‘ Yishuv werden sogar zu den Palästinensern gezählt: „Juden, die vor dem Beginn der zionistischen Invasion in Palästina regulär ansässig waren, werden als Palästinenser angesehen“ (Palästinensische Nationalcharta 1968: Artikel 6). Arafat pflegte Beziehungen zu radikal anti-zionistischen jüdischen Gruppen wie der Neturei Karta . (aram.: Wächter der Stadt), die den Staat Israel und den Zionismus als Frevel empfinden.30 Insgesamt erklärt sich das weitgehende Fehlen spezifisch religiöser Polemik in der PLO mit der eher säkularen Ausrichtung der Organisation und dem erklärten Ziel, einen Staat in ganz Palästina zu gründen, in dem alle Religionen gleichberechtigt zusammenleben sollen. Dezidiert religiöse und antisemitische Motive mit ausgeprägten Weltverschwörungsvorstellungen wurden erst später zu einem zentralen Element der Feindbildkonstruktion, vor allem innerhalb islamistischer Kreise. Die Zeit der Ersten Intifada kann als weiterer Meilenstein in der Konstruktion des Feindbildes ‚Israel‘ bzw. ‚Judentum‘ angesehen werden. Die Wut der Palästinenser über die Besatzung mündete Ende 1987 nach einem eher kleinen Ereignis31 in gewaltsame Aktionen gegen die israelischen Sicherheitskräfte. Der Aufstand war zunächst spontan und ohne zentrale Planung durch die Organisationen erfolgt. Insbesondere die Kinder und Jugendlichen, die Steine auf israelische Panzer warfen, wurden zu einem wichtigen Bild des Widerstandes – eine Art ‚David gegen Goliath‘, diesmal 29 Der Begriff ‚Apartheit‘ wird auch heute noch in Zusammenhang mit der von Israel gebauten Trennmauer verwendet, die im Volksmund ‚Apartheitsmauer‘ (ğidār al-fasl . ; . al-‘ unsurī
arab.: rassistische Trennungsmauer) genannt wird. In Israel spricht man dagegen von ‚Sicherheitszaun‘ oder offiziell von ‚Trennzaun‘ (hebr.: geder haHafrada). 30 Nach Überzeugung jüdischer ‚Antizionisten‘ dürfen die Juden das Exil nicht eigenmächtig vor dem Kommen des Messias beenden und daher keinen jüdischen Staat gründen. Anhänger dieser kleinen Bewegung zeigen sich häufig mit palästinensischen Symbolen und erregten durch ihre Kontakte zu iranischen Führern, deren anti-israelische Position sie unterstützen, weltweite Aufmerksamkeit. 31 Auslöser war eine Kollision eines israelischen Militärfahrzeuges mit mehreren palästinensischen PKWs im Flüchtlingslager Jabaliya im Gazastreifen, bei der vier Palästinenser starben. Dieser Unfall wurde als ein Vergeltungsakt der israelischen Armee für die Ermordung eines Israeli interpretiert.
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jedoch von der palästinensischen Seite inszeniert. Die PLO-Führung versuchte schnell, den Aufstand für sich zu reklamieren und veröffentlichte 1988 eine Unabhängigkeitserklärung,32 die nie in Kraft trat, aber noch heute ein wichtiges Dokument des palästinensischen Kampfes darstellt, auch, weil hier zum ersten Mal die Existenz Israels indirekt anerkannt wird. Die Autoren heben das Leiden der Palästinenser unter der israelischen Besatzung besonders hervor: „They have used terrorism, they have imprisoned us, they have sent us into exile, they have desecrated our holy places and restricted our religious freedoms, they have demolished our homes, they have killed us indiscriminately and permeditatedly [sic!], they have sent bands of armed settlers into our villages and camps, they have burned our crops, they have cut off our water and power supplies, they have beaten our women and children, they have used toxic gases that have caused many deaths and abortions, and they have waged an ignorance war against us by closing our schools and universities“ (Palestinian National Council Declaration of Independence 1988: o. S.).
Interessant ist hier vor allem, dass Motive verwendet werden, die in der israelischen Feindbildkonstruktion eine zentrale Rolle spielen: zum einen der Vorwurf, die Israelis griffen auf ‚Terrorismus‘ zurück, und zum anderen der Hinweis auf ‚bewaffnete Banden‘, die palästinensische Dörfer attackierten. Letzteres ist beinahe eine wörtliche Entlehnung der immer wieder von israelischer Seite als Zeichen arabischer ‚Grausamkeit‘ interpretierten Überfälle arabischer Gruppen auf israelische Siedlungen während der Mandatszeit. Des Weiteren wird Israel als ‚rassistischer‘, ‚undemokratischer‘ Staat charakterisiert, der die ‚Auslöschung‘ der Palästinenser betreibe: „The crimes of the occupation and its savage, inhuman practices have exposed the Zionist lie about the democracy of the Zionist entity that has managed to deceive the world for 40 years, revealing Israel in its true light – a fascist, racist, colonialist state built on the usurpation of the Palestinian land and the annihilation of the Palestinian people“ (Palestinian National Council Declaration of Independence 1988: o. S.).
Dagegen solle sich der zukünftige palästinensische Staat durch eine demokratische Ausrichtung und die Achtung der Menschenrechte auszeichnen. Auch das Selbstbild der Palästinenser kommt detailliert zur Sprache: „It was in Palestine, cradle of humanity’s three monotheistic faiths, that the Palestinian Arab people was born, and it was there that it grew and developed, its unbroken, uninterrupted organic relationship with its land and its history molding its human and national being. With epic steadfastness, the Palestinian people forged their national identity, rising in their tenacious 32 Das Dokument wurde vom Palestinian National Council, dem legislativen Organ der
PLO, herausgegeben. Hier wird die Vollversion inklusive Vorrede verwendet. Die zitierten Stellen sind teilweise der Vorrede entnommen. Die Übersetzung enthält Ungenauigkeiten, gibt den Sinn jedoch im Großen und Ganzen wieder.
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defense of it to miraculous heights. The magic of this ancient land and its location at the crossroads of powers and civilizations aroused ambitions and cravings, inviting invasions that led to the denial of political independence to its people. But the people’s perpetual adherence to the land gave the land its identity and breathed the spirit of the homeland into the people. […] And when the contemporary world drafted its new order of values, the balance of local and international forces denied the Palestinian a share of the general weal, once more demonstrating that justice alone does [not] turn the wheel of history“ (Palestinian National Council Declaration of Independence 1988: o. S.; Einfügung V. V.).
Ende 1987 gründeten Anhänger des palästinensischen Zweiges der Muslimbruderschaft, die sich bis zu diesem Zeitpunkt eher im sozialen und missionarischen Feld engagiert hatte (vgl. Robinson 2004), den politischen Arm der Organisation: Harakat al-Muqāwama al-Islāmīya (arab.: Islamische . Widerstandsbewegung; kurz: Hamas).33 Die Hamas trat schnell in einen Propagandakrieg mit der PLO ein, um über den nationalistischen Kampf auch Anhänger für ihre religiöse Mission – die Rückkehr der eher säkularen palästinensischen Muslime zum Islam – zu gewinnen. Im Unterschied zur Feindbildkonstruktion der PLO basiert diejenige der Hamas vor allem auf religiösen und antisemitischen Elementen. Beinahe jeder Absatz der Gründungscharta von 1988 (The Covenant of the Islamic Resistance Movement – Hamas) ist mit einem Zitat aus Koran oder Sunna (Propheten tradition) versehen, um die Gültigkeit des Inhaltes aus islamischer Sicht zu belegen. Das Motiv einer angeblichen ‚weltweiten Verschwörung‘ der Juden nimmt in der Charta einen breiten Raum ein. Die Protokolle der Weisen von Zion34 werden als Tatsachenbericht behandelt und die Juden für beinahe alle Kriege und Missstände der modernen Welt verantwortlich gemacht. Das Bild des ‚hinterhältigen Juden‘, der nach Macht giert, um seinen Besitz zu mehren, wird etliche Male beschworen. An einer Stelle heißt es: „They strove to accumulate huge financial resources which they used to realize their dream. […] With money they sparked revolutions in various countries around the world […]. With money they have formed secret organizations, all over the world, in order to destroy [those countries’] societies and to serve the Zionists’ interests, such as the Freemasons, the Rotary Clubs […]. With money they were able to take control of the colonialist countries, and [they] urged them to colonize many countries so that they could exploit their resources and spread moral corruption there. […] They were behind World War I, through which they achieved the destruction of the Islamic Caliphate, reaped material profits, took control of numerous resources, ob33 Zur Geschichte und Ideologie der Hamas vgl. beispielsweise Chehab 2007; Mishal/Sela
2006; Baumgarten 2006.
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34 Bei den Protokollen der Weisen von Zion handelt es sich um die Fälschung eines unbe-
kannten Autors aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, in der Juden in vermeintlich authentischen Reden den Stand der Weltverschwörung erörtern (vgl. Benz 2007).
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tained the Balfour Declaration, and established the League of the United Nations [sic] so as to rule the world through this organization. They were [also] behind World War II, through which they reaped enormous profits from commerce in war materials and paved the way for the establishment of their state. […] Wherever there is war in the world, it is they who are pulling the strings behind the scenes“ (The Covenant of the Islamic Resistance Movement – Hamas 1988: Artikel 22; Einfügungen durch den Übersetzer).
Vorwürfe mit nahezu identischem Inhalt finden sich an mehreren Stellen des Dokuments, teilweise ohne erkennbaren thematischen Zusammenhang zu den einzelnen Artikeln, die den Text inhaltlich gliedern. Dies erweckt den Eindruck, dass es den Verfassern wichtig war, das Feindbild an jeder erdenklichen Stelle aufzurufen und mit möglichst vielen angesprochenen Themen in Verbindung zu bringen. Neben diesen antisemitischen Elementen werden einige Stellen aus Koran und Sunna zitiert, die eine negative Sicht auf die Juden transportieren. Der wörtliche Verweis auf die Protokolle der Weisen von Zion taucht in Artikel 32 auf. Die Protokolle werden als Beweis dafür verstanden, dass die Juden planen, ihren Staat vom ‚Nil bis zum Euphrat‘35 auszudehnen, um danach immer weitere Territorien hinzuzufügen. Die Hamas inszeniert sich als einzige Kraft, die eine Lösung für die ‚jüdische Bedrohung‘ bereithält. Allein die Rückkehr zur Religion (vgl. Artikel 9; 17) und die Bekämpfung der Juden bzw. des jüdischen Staates garantieren die Freiheit der Palästinenser, aber auch der gesamten islamischen Welt, da die Juden – nach Meinung der Hamas – nicht nur die Palästinenser bedrohen, sondern auch nach der ‚Auslöschung‘ des Islam streben (vgl. Artikel 28). In einer konzertierten Aktion aller Gläubigen (Jihad) müsse daher der Staat Israel beseitigt werden: „[W]hen the enemy tramples Muslim territory, waging jihad and confronting the enemy become a personal duty of every Muslim man and woman. A woman may go out to fight the enemy [even] without her husband’s permission and a slave without his master’s permission“ (The Covenant of the Islamic Resistance Movement – Hamas 1988: Artikel 12; Einfügung durch den Übersetzer). „All forces and capabilities must be pooled to confront this ferocious Mongol, Nazi onslaught, lest homelands be lost, people be exiled, evil spread on the earth and all religious values be destroyed. Each and every person should know that he is responsible to Allah“ (The Covenant of the Islamic Resistance Movement – Hamas 1988: Artikel 32). 35 Diese angeblich angestrebte Ausdehnung des israelischen Staates ist Teil der Theorie von
der ‚jüdischen Verschwörung‘ und basiert auf Gen 15,18: „An dem Tage schloss der HERR einen Bund mit Abram und sprach: Deinen Nachkommen will ich dies Land geben von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom Euphrat“ (zit. nach der Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1984).
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Die Hamas hat nicht nur die Feindbildkonstruktion der PLO durch religiöse Motive ergänzt (vgl. Litvak 1996), sondern ein gesamtes Weltbild einer ‚jüdischen Verschwörung‘ mit stark eschatologischen Motiven erschaffen. Nach einer islamischen Tradition, basierend auf einem Hadith (Ausspruch oder Handlung des Propheten Mohammed), das in der Sammlung von Muslim (41:6985) und in Abwandlung bei Bukhari (4:52:176; 177)36 verzeichnet ist, läutet ein finaler Kampf zwischen Juden und Muslimen die Endzeit ein. Dieses Hadith37 wird auch in der Gründungscharta der Hamas zitiert: „The hour of judgment shall not come until the Muslims fight the Jews and kill them, so that the Jews hide behind trees and stones, and each tree and stone will say: ‘Oh Muslim, oh servant of Allah, there is a Jew behind me, come and kill him,’ except for the Gharqad tree, for it is the tree of the Jews“ (The Covenant of the Islamic Resistance Movement – Hamas 1988: Artikel 7).
Gemäß dieser Tradition siegen die Muslime über die Juden. In einer modernen Auslegung traditioneller Quellen spielen die Juden noch eine weitere bedeutende Rolle in der Eschatologie: Nach klassischen Quellen stellt das Auftauchen des Dağğāl (‚falscher Messias‘ oder der ‚große Lügner‘), eine Art Antichrist in der muslimischen Tradition, eines der Zeichen dar, die auf das kommende Gericht hindeuten. Nach einem Hadith, das bei Muslim überliefert ist (41:7034), wird der Dağğāl von 70.000 Juden aus Isfahan begleitet werden. Daraus schließen einige Exegeten, dass der Dağğāl selbst Jude und mit dem jüdischen Messias gleichzusetzen sei. Diese Vorstellung hat in Palästina weite Verbreitung gefunden (vgl. z. B. Oliver/Steinberg 2005: 19–24). Die Elemente der Feindbilder, die von der PLO und der Hamas geschaffen wurden, sind in der palästinensischen Gesellschaft bis heute omnipräsent. Gerade durch ihre ständige Wiederholung in den Medien, im Schulwesen (vgl. Voigt 2010b), in der Literatur und auf den überall öffentlich zur Schau gestellten Propagandapostern (vgl. Oliver/Steinberg 2005) reichen einzelne Stichworte oder Bilder aus, um die nötigen Assoziationen zu wecken. Die palästinensischen Organisationen haben die Elemente ihrer Feindbildkonstruktion mittels einer ausgeprägten Propagandamaschinerie nicht nur innerhalb Palästinas, sondern auch in der gesamten Arabischen Welt bekannt gemacht. Der Fernsehkanal der Hamas (al-Aqsa TV) sendet sogar Kindersendungen, in denen mithilfe dieser Motive massive Hetze gegen Israel und Juden betrieben wird. Die palästinensische anti-jüdische bzw. 36 Die Hadith-Sammlungen von Bukhari und Muslim gehören zu den wichtigsten des sun-
nitischen Islam. Die in diesen Werken aufgezeichneten Aussprüche und Taten werden im Allgemeinen als authentisch (arab.: .sahīh) . . angesehen. 37 Die religiösen Quellen zur Endzeit und die darauf aufbauenden Auslegungen sind komplex und nicht kohärent (vgl. Idleman Smith/Yazbeck Haddad 2002: 63–97). Das hier zitierte Hadith ist also nur ein Baustein innerhalb eines großen Vorstellungskomplexes.
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anti-israelische Propaganda hat immer wieder das Augenmerk internationaler Beobachter, aber auch israelischer Kritiker, auf sich gezogen, wie die folgende exemplarische Darstellung des ab Ende der 1990er Jahre ausgetragenen palästinensisch-israelischen Streits um Feindbilder in Schulbüchern zeigt. Im Anschluss soll anhand der Propaganda im Zuge der israelischen Militäroperation im Gazastreifen von 2008/09 noch kurz ein Blick auf eine aktuelle Auseinandersetzung um Feindbilder geworfen werden.
Israelisch-palästinensische Auseinandersetzungen um Feindbilder Feindbilder spielen in politischen Konflikten nicht nur insofern eine Rolle, als durch sie das Bild des Anderen und damit auch das eigene Selbstverständnis wiedergegeben werden, sondern können sich auch zu einem direkten Konfliktgegenstand entwickeln. Zwischen Israelis und Palästinensern hat sich in den späten 1990er Jahren eine Kontroverse um die Feind- und Selbstbilder der jeweils anderen Seite entwickelt, die dazu beitrug, den Friedensprozess zu stören.38 Eines der Ziele dieser teilweise harsch geführten Auseinandersetzung war es, die Gegenseite mit dem Vorwurf, sie verbreite nach wie vor hasserfüllte Propaganda, für das Stocken des Friedensprozesses verantwortlich zu machen. Damit sollte der internationalen Öffentlichkeit, aber auch der eigenen Bevölkerung der Eindruck vermittelt werden, die andere Seite sei gar nicht bereit zu einem friedlichen Miteinander beider Völker. Initiiert wurde die Debatte von israelischer Seite, als sich Organisationen zu Wort meldeten, die auf friedensgefährdende Inhalte in palästinensischen Medien aufmerksam machten. Eine bedeutende Rolle spielte dabei Palestinian Media Watch,39 eine ‚Forschungseinrichtung‘, die sich darauf spezialisiert hat, palästinensische Medien auf belastendes Material hin zu analysieren, dieses zu übersetzen und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der Direktor der Einrichtung, Itamar Marcus, war gleichzeitig mitverantwortlich für die Gründung einer Non-Governmental Organization (NGO) mit dem Namen Center for Monitoring the Impact of Peace (heute: Institute for Monitoring Peace and Cultural Tolerance in School Education), die zahlreiche Berichte über die Inhalte der von der Palästinensischen Autonomiebehörde herausgegebenen Schulbücher veröffentlicht hat.40 Die Verfasser kommen in den detaillierten Studien zum 38 Zum ‚Schulbuchstreit‘ vgl. allgemein Voigt 2010b; Pingel 2003 und 2004; Brown 2002;
Moughrabi 2001.
39 Vgl. http://www.palwatch.org 40 Die meisten Berichte können unter http://www.impact-se.org abgerufen werden. Es feh-
len allerdings diejenigen, die die Kontroverse auslösten und von Marcus selbst verantwortet wurden.
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immer gleichen Ergebnis: Die palästinensischen Schulbücher können als friedensgefährdend eingestuft werden, da in ihnen die Existenz Israels geleugnet und Hass gegen Israelis bzw. Juden geschürt werde. In den ebenfalls untersuchten israelischen Schulbüchern können die Forscher dagegen kaum Mängel feststellen. Unter dem Deckmantel der Besorgnis wird hier eine eindeutige Botschaft transportiert: Die Palästinenser sind nicht bereit zum Frieden, sie erkennen Israel nicht an, sie verfälschen die Konfliktgeschichte und verbreiten trotz der Abkommen von Oslo weiterhin anti-israelische Propaganda. Die Berichte über die palästinensischen Schulbücher wurden, dank einer ausgeprägten Lobbyarbeit pro-israelischer Organisationen, auch auf höchster internationaler Ebene diskutiert, mit der Folge, dass erheblicher Druck auf die Palästinensische Autonomiebehörde ausgeübt wurde, die Inhalte der Schulbücher zu revidieren. Die Palästinensische Autonomiebehörde bezichtigte im Gegenzug Israel und pro-israelische Organisationen, hasserfüllte Propaganda und Feindbilder in Schulbüchern und Medien zu verbreiten. Zitiert werden unter anderem problematisches Material in Lehrbüchern, Äußerungen von Politikern und anti-muslimische bzw. antipalästinensische Aussagen in israelischen oder ausländischen pro-israelischen Medien (vgl. Palestine Liberation Organization 2001: 7–15). Ein weiteres Beispiel für den zwischen Israel und den Palästinensern ausgefochtenen Streit um Feindbilder stellt die mediale Auseinandersetzung im Zuge der israelischen Militäroperation im Gazastreifen (Dezember 2008– Januar 2009) dar. Dabei überschwemmte die palästinensische Seite die Medien mit einer Flut von Bildern, auf denen ‚israelische Grausamkeiten‘ an der Zivilbevölkerung gezeigt werden. In Videos, die in großer Zahl auf Internetportalen wie Youtube online gestellt wurden, und in Massenmails mit Fotocollagen wird das Vorgehen der israelischen Armee zum Beispiel mit der Naziherrschaft in Verbindung gebracht, indem Szenen aus dem Warschauer Ghetto mit dem Geschehen in Gaza kombiniert werden. Auch die Begriffe ‚Genozid‘, ‚Holocaust‘, ‚Massaker‘ und ‚ethnische Säuberung‘ wurden in Bezug auf den Gaza-Feldzug häufig verwendet. Die Botschaft kann auf zweierlei Art interpretiert werden: Zum einen wird eine direkte Parallele zu den Verbrechen der Nationalsozialisten hergestellt, zum anderen soll gezeigt werden, dass die Juden trotz eigener Verfolgungserfahrung nun auf dieselbe Weise gegen das palästinensische Volk vorgehen. In den palästinensischen Beiträgen wird besonderes Gewicht darauf gelegt, die Opfer des israelischen Militäreinsatzes, insbesondere Frauen und Kinder, in teilweise sehr drastischen Bildern zu zeigen. Dieses Vorgehen dient dazu, die Israelis vor einer internationalen Öffentlichkeit als ‚unmenschliche Aggressoren‘ dazustellen, deren Angriffe sich bewusst gegen die Zivilbevölkerung richten. In Israel wurden dagegen zumeist keine palästinensischen 144
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Opfer, sondern nur entfernte Bilder von Kämpfen gezeigt. Die israelischen Medien konzentrierten sich vor allem auf die israelischen Opfer der von Gaza auf israelisches Gebiet abgefeuerten Raketen. Die israelische Regierung lehnte auch den Bericht der von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Klärung der Vorkommnisse in Gaza ab, der allgemein unter dem Namen Goldstone-Report41 bekannt ist. Die israelische Regierung bemängelte, dass die palästinensischen Verbrechen nicht berücksichtigt würden, der Bericht daher einseitig sei und indirekt den Terrorismus legitimiere (vgl. Israel Ministry of Foreign Affairs vom 24.9.2009). In der Tat wird in dem Bericht impliziert, die israelische Armee habe während der Militäroperation möglicherweise Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen. Die israelische Regierung wehrte sich insbesondere gegen die Annahme, die Armee habe gezielt Zivilisten angegriffen und setzte dem entgegen, dass das alleinige Ziel der Operation gewesen sei, die Terroranschläge, die aus dem Gazastreifen auf israelisches Gebiet verübt wurden, zu beenden. Die Einseitigkeit des Berichtes ist teilweise der Tat sache geschuldet, dass sich die israelische Regierung geweigert hatte, mit der UN-Kommission zusammenzuarbeiten.42
Abschließende Überlegungen zur Möglichkeit eines Abbaus von Feindbildern im Israelisch-Palästinensischen Konflikt Insgesamt haben sich in den Jahrzehnten des Konfliktes auf beiden Seiten Feindbilder ausgebildet, die innerhalb der Bevölkerung relativ stabil geblieben sind. Auf israelischer Seite hält sich das Bild des ‚grausamen Arabers‘ oder in neuerer Zeit das des ‚Terroristen‘ hartnäckig. Diese Sicht wurde auch durch die Selbstmordattentate immer wieder genährt. Auf palästinensischer Seite wird dagegen zumeist das Bild des israelischen ‚Kolonialisten‘ bzw. ‚Imperialisten‘ beschworen, der letztlich durch Vertreibung und schleichenden Siedlungsbau die Araber aus Palästina verdrängen wolle. Auf beiden Seiten wurden die bereits vorhandenen eher nationalistisch-säkularen Feindbilder von religiösen Bewegungen aufgenommen und in ein hermetisches Weltbild eingefügt, das weit schwieriger zu durchbrechen ist, weil es auf universelle Heilserwartungen rekurriert und damit eine Kompromisslösung nahezu unmöglich wird. So glauben 41 Offizieller Endbericht der Kommission: Report of the United Nations Fact-Finding Mis-
sion on the Gaza Conflict vom 25.9.2009.
42 Richard Goldstone, der für den Bericht verantwortlich war, hat Teile der Vorwürfe in
einem Artikel in der Washington Post wieder zurückgezogen (vgl. The Washington Post vom 2.4.2011).
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radikale Siedler, dass die ‚Erlösung‘ eines jeden Meters Land in Palästina ein Schritt zur Ankunft des Messias sei, während die islamistischen Organisationen ihrerseits die Befreiung Palästinas mit eigenen eschatolo gischen Elementen verknüpfen. Die Stabilität der Feindbilder im Israelisch-Palästinensischen Konflikt ist durch eine Reihe weiterer Faktoren bedingt. Dabei muss vor allem die Tatsache genannt werden, dass der Konflikt über viele Jahrzehnte gewaltsam ausgetragen wurde und noch keine für beide Seiten befriedigende Lösung in Sicht ist. Die meisten Israelis und Palästinenser sind mit Erfahrungen von Gewalt und den immer gleichen Feindbildern sozialisiert worden. Solange Unsicherheit und Gewalt andauern und nicht durch nachhaltige positive Erfahrungen ersetzt werden, wird es schwer sein, die Feindbilder zu eliminieren. Die kurze Zeit der Entspannung vor und nach dem Abschluss der Osloer-Verträge ab Beginn der 1990er Jahre hat gezeigt, dass der Versuch, Feindbilder abzubauen, unter den richtigen politischen Vorzeichen Früchte tragen kann. Zum ersten Mal seit Beginn des Konfliktes gingen Israelis und Palästinenser aufeinander zu. Dieser Prozess scheiterte jedoch nicht nur daran, dass sich die Hoffnung auf einen wirklichen Frieden nicht erfüllte und sich somit Frustration auf beiden Seiten herausbildete, sondern auch an der politischen Lage in den palästinensischen Gebieten und in Israel: In beiden Fällen stehen sich Parteien und Gruppierungen mit antagonistischen Zielen gegenüber und auf beiden Seiten existieren Gruppen, die an einer Kompromisslösung nicht interessiert sind und daher versuchen, Verhandlungen, die zu einer endgültigen Lösung des Konfliktes führen könnten, zu torpedieren. Die Hamas hat sich seit dem Entschluss der PLO bzw. der Fatah, Friedensverhandlungen mit Israel aufzunehmen, stets als diejenige Kraft inszeniert, die eine Anerkennung Israels und die Abtretung von Gebieten mit allen Mitteln verhindern werde. Gerade die Opposition gegen die Verträge von Oslo (vgl. Yazbeck Haddad 1997) bildete, neben der Forderung nach einem islamisch ausgerichteten palästinensischen Staat, eine tragende Säule für den rasanten Erfolg der Hamas. Die Hamas kann kaum adhoc einzelne Motive aus ihrem radikalen Programm streichen, ohne dass die Organisation ihre Identität und ihre ideologische Abgrenzung zur Fatah verlöre. Tatsächlich haben Hamas und andere islamistische Organisationen wie die Harakat al-Ğihād al Islāmī fī. Filastīn (arab.: Bewegung des Islamischen . Jihad in Palästina; kurz: Islamischer Jihad) immer wieder durch Terroranschläge Friedensverhandlungen zwischen der PLO und Israel sabotiert. Seit kurzem ist ein wenig Bewegung in der Hamas in Richtung möglicher Friedensverhandlungen mit Israel zu spüren – so haben sich prominente Mitglieder der Organisation in den letzten Jahren positiv zu einem Waffen146
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stillstand mit Israel geäußert.43 Im Zuge der im Frühjahr 2011 aufgenommenen Gespräche zwischen Hamas und Fatah zur Bildung einer Übergangsregierung hat Khaled Mashal, eine der führenden Persönlichkeiten der Hamas, zur Möglichkeit einer formalen Anerkennung Israels und auch indirekt zu einer Beschränkung des Anspruches auf einen Teil Palästinas Stellung genommen. Er hat jedoch eine Anerkennung Israels an die Bedingung geknüpft, dass Israel zuerst die Unabhängigkeit Palästinas akzeptiere (vgl. The Jerusalem Post vom 8.5.2011). Insgesamt scheint sich die Hamas momentan44 auf eine Akzeptanz der Zwei-Staaten-Lösung zuzubewegen, eine formelle Anerkennung Israels wird jedoch von den meisten Mitgliedern weiterhin abgelehnt. Dies zeigt, dass sich die Hamas gegenwärtig in einem Prozess der Neupositionierung befindet, dessen Ausgang aber zur Stunde völlig offen ist. Ebenso unklar ist, wie sich die Einigung zwischen Hamas und Fatah auf die Position beider Parteien in Bezug auf Israel auswirken wird. Denkbar ist beispielsweise, dass die Fatah im Sinne einer Kompromisslösung wieder ein Stück weit hinter ihre Positionen von Oslo zurücktritt. Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hat dagegen in einer Rede vor dem israelischen Parlament (Knesset) noch einmal deutlich gemacht, dass eine Anerkennung Israels von Seiten der Palästinenser die zentrale Bedingung für Verhandlungen darstellt (vgl. Israel Ministry of Foreign Affairs vom 16.5.2011). Auch auf israelischer Seite können keine Prognosen über den weiteren Verlauf des Konfliktes gegeben werden. Der Likud (hebr.: Zusammenschluss) und dessen Vorsitzender Netanjahu haben Verhandlungen mit der Hamas, die als Terrororganisation wahrgenommen wird, stets ausgeschlossen. Falls es tatsächlich zur Bildung einer Übergangsregierung aus Hamas und Fatah kommen sollte, ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Verhandlungen mit den Palästinensern auf unbestimmte Zeit ausgesetzt werden. Netanjahu hat in der bereits erwähnten Rede vor der Knesset die Position der israelischen Regierung noch einmal herausgestellt: keine Verhandlungen ohne eine Anerkennung Israels, keine Rückkehr von palästinensischen Flüchtlingen nach Israel, absolute Priorität israelischer Sicherheitsinteressen, keine Auflösung der großen Siedlungsblöcke in den Besetzten Gebieten und die Beibehaltung Jerusalems als ungeteilte Hauptstadt Israels. Zudem erwähnt Netanjahu den alten Vorwurf, die Palästinenser versuchten bei jeder sich bietenden Gelegenheit, den Staat Israel zu beseitigen. Er äußert sogar den Gedanken, 43 Dabei ging es jedoch zumeist um einen befristeten Waffenstillstand nach islamischem
Recht, das eine solche Regelung erlaubt. Demnach kann zwischen Muslimen und NichtMuslimen ein befristeter Waffenstillstand (arab.: hudna), jedoch kein Friedensvertrag geschlossen werden. 44 Stand: Mai 2011.
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die Nakba der Palästinenser bestünde nicht in der Gründung Israels, sondern in der Unfähigkeit ihrer politischen Führer: „My friends, the root of this conflict never was a Palestinian state, or lack thereof. The root of the conflict is, and always has been, their refusal to recognize the Jewish state. […] The Palestinians regard […] the foundation of the State of Israel […] their nakba, their catastrophe. But their catastrophe was that they did not have a leadership that was willing to reach a true historic compromise“ (Israel Ministry of Foreign Affairs vom 16.5.2011).
Die Aussagen Netanjahus decken sich mit der langjährigen politischen Position des rechts-konservativen Likud, sie dürften aber auch bei einem Großteil der Israelis auf Zustimmung stoßen. Von der Aufbruchstimmung, die während der frühen 1990er Jahre spürbar war, ist kaum etwas geblieben. Im Gegenteil: Das politische Klima in Israel hat sich nach rechts verschoben. Dies liegt zum einen an der Frustration über die erneut ausgebrochene Gewalt während der Zweiten Intifada und das nicht absehbare Ende des Konfliktes. Die Friedenspolitik der linken Regierung unter Rabin hat offensichtlich nicht zu einer Lösung geführt. Viele Israelis wandten sich daher eher rechtskonservativen Parteien zu, die traditionell die Sicherheitsinteressen Israels in den Vordergrund stellen und auf Stärke statt auf Verhandlungen setzen. Auch die unter der Regierung Ariel Sharons (2001–2006) durchgeführten einseitigen Maßnahmen, wie die Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen und der Bau der Trennmauer, sind letztlich Ausdruck dieses Sicherheitsinteresses. Zum anderen trugen demographische Entwicklungen zu dem anhaltenden Hoch rechts-konservativer Parteien bei: Die Einwanderung einer großen Zahl von Juden aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion vor allem seit dem Ende der 1980er Jahre, die gerade in Bezug auf Araber und Palästinenser tendenziell eher rechts-konservativen, natio nalistischen Positionen zuneigen, hat den Rechtsruck in Israel verstärkt. Die Avodah, die über Jahrzehnte die Politik bestimmt hatte, erzielte bei den letzten Parlamentswahlen 2009 gerade noch 9,93 Prozent der Stimmen und landete damit sogar hinter der rechts-nationalistischen Partei Yisrae’el Beteinu (hebr.: Israel ist unser Haus) (11,7%), deren Mitglieder immer wieder heftig gegen Palästinenser polemisiert haben. Die Veränderung des politischen Klimas in Israel auch in Bezug auf Feindbilder lässt sich gut am Beispiel des ‚Historikerstreits‘ illustrieren, der ab Ende der 1980er Jahre begann und auch heute noch eine Rolle im politischen Diskurs spielt. Die ‚Neuen Historiker‘45 bilden eine Gruppe israelischer Forscher, die auch unter dem Eindruck des von vielen Israelis als 45 Zu dieser Gruppe gehören unter anderem Avi Shlaim, Benny Morris, Ilan Pappe, Tom
Segev, Simha Flapan und Idith Zertal. Für eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsergebnisse vgl. beispielsweise Pappe 1998 und Shlaim 2004.
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Unrecht empfundenen Libanonkrieges46 (1982) angetreten sind, das einseitige zionistische Narrativ des Konfliktes durch detaillierte Studien zu korri gieren. Unter anderem haben die Forscher herausgestellt, dass die einseitige Zuschreibung von Schuld an die arabische Seite einer genauen Analyse nicht standhält. Dies rückt auch die Situation der Palästinenser in ein neues Licht: Sie sind keinesfalls nur Täter, sondern auch Opfer des Konfliktes. Die Gegner der ‚Neuen Historiographie‘ lehnen eine Hinterfragung der klassisch-zionistischen Narrative rundweg ab und bezichtigen die betreffenden Historiker des Landesverrats (vgl. Shlaim 2004). Nichtsdestotrotz fanden Erkenntnisse der ‚Neuen Historiker‘ Eingang in einige israelische Schulbücher, in denen die arabische Sicht auf den Konflikt mit der israelischen kontrastiert wird (vgl. Mathias 2003: 46ff.). Während die Kritiker in der Frühzeit des Streits vor allem aus der zionistischen Linken stammten, haben sich heute rechts-konservative Parteien des Themas angenommen. 2009 wurde ein Schulbuch für die arabische Minderheit47 in Israel verboten, in dem das Wort Nakba für die Folgen der israelischen Staatsgründung Verwendung findet (vgl. BBC News vom 22.7.2009). Die Regierung Netanjahu hat zudem ein neues kulturpolitisches Programm herausgegeben, nach welchem als Ziel der Erziehung vorgegeben wird, die alten zionistischen Narrative und Ideale neu zu stärken. Dabei sollen gerade die abweichenden Meinungen der Palästinenser ausgeblendet werden (vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 15.7.2010). Insgesamt lässt sich also in Israel eher ein Rückschritt in Bezug auf den Abbau von Feindbildern feststellen. Solange keine Lösung für den Konflikt gefunden ist, der beide Seiten zufriedenstellt, ist es auch unrealistisch zu erwarten, dass sich eine aufrichtige Bereitschaft entwickelt, Feindbilder und Stereotype zu hinterfragen. Auch das derzeitige politische Klima in den palästinensischen Gebieten und in Israel scheint darauf hinzudeuten, dass eine Versöhnung und eine Aufarbeitung der Geschichte, welche die Basis für eine gerechte und vorurteilsfreie Wahrnehmung darstellen, in der nächsten Zeit nicht zu erwarten sind.
46 Der Einmarsch im Libanon wurde als erster Krieg Israels verstanden, der nicht aus einer
militärischen Notsituation heraus geführt wurde. Als besonders schockierend empfanden große Teile der israelischen Bevölkerung die Massaker, die von christlichen libanesischen Milizen in Sabra und Shatila an den überwiegend palästinensischen Lagerinsassen begangen wurden. Die israelische Armee, die mit den christlichen Milizen verbündet war, hatte zum Zeitpunkt der Massaker die Kontrolle über die beiden Lager. Dem damaligen Verteidigungsminister und späteren israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon wurde von einer Untersuchungskommission eine persönliche Verantwortung an den Massakern bescheinigt. 47 Araber stellen in Israel immerhin ca. 20 Prozent der Bevölkerung. Diese nicht-jüdische Minderheit wird seit jeher in Israel als Fremdkörper bzw. als latente Bedrohung wahrgenommen.
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Verena Voigt
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Wahrer Muslim, falscher Muslim? Zur Konstruktion des inneren Feindes im Islam am Beispiel von Sunniten und Schiiten Daniela Schlicht
In einem Diskussionsforum muslimischer Studenten des Online-Netzwerks StudiVZ heißt es: „Eines der verwirrendsten Szenarien für Nicht-Muslime und neue Muslime gleichermaßen ist die Teilung zwischen den Schiiten und Sunniten. Manch einer gerät durcheinander, wenn er sieht, wie jede Gruppe behauptet, dem wahren Islam zu folgen“ (www.studivz.de).1
Der in diesem Zitat angesprochene Dissens darüber, was der wahre Islam ist und welche Gruppe von Muslimen ihn repräsentiert, reicht zurück bis zum Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632. Mohammed war bis zu diesem Zeitpunkt das religiöse und politische Oberhaupt der Umma, der muslimischen Gemeinschaft, gewesen. Nun jedoch hatten seine Anhänger selbst über die Zukunft des Islam zu entscheiden. Der Wegfall der religiösen und politischen Führungsfigur durch den Tod des Propheten hat in den letzten 1400 Jahren eine Vielzahl innerislamischer Konflikte nach sich gezogen. Der älteste und wohl auch folgenreichste ist derjenige zwischen Sunniten und Schiiten. Dieser Konflikt bildet den Kontext des vorliegenden Aufsatzes, in dem die Feindbilder, welche die Kontrahenten voneinander gezeichnet haben, dargestellt und auf ihre historischen Grundlagen bezogen werden. Zunächst sollen die generellen Entstehungsmuster von Feindschaften innerhalb des Islam nachgezeichnet werden. Nachdem der theoretische Hintergrund für die Herausbildung innerislamischer Feindbilder dargestellt wurde, werden exemplarisch die Entstehung und der Verlauf des Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten wiedergegeben. Auf dieser Basis soll schließlich der Versuch unternommen werden, die Feindbilder, die Sunniten und Schiiten voneinander gebildet haben, zu rekonstruieren. Veranschaulicht werden die innerislamischen Feindbilder unter anderem anhand der Äußerungen von Muslimen in deutschsprachigen Internetforen. 1
Als Quellenangabe für Zitate aus Internetforen wird zum Schutz der Privatsphäre der Diskutierenden in diesem Aufsatz lediglich auf die Hauptseiten der jeweiligen OnlineNetzwerke verwiesen. Die Rechtschreibung in den zitierten Foreneinträgen wurde von der Autorin korrigiert.
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Das Medium Internet erweitert den öffentlichen Raum, in dem islamische Diskurse stattfinden, durch die Relativierung räumlicher und zeitlicher Begrenzungen. Im Internet werden nicht nur neue Interpretationen des Islam diskutiert und verbreitet, sondern auch alte Dispute fortgeführt. Der Forscher erhält durch den Blick ins Internet im Falle des hier untersuchten Beispiels zeitgenössische Zeugnisse für einen alten Konflikt, der auch unter deutschen Muslimen ein Thema ist.
Die Konstruktion des innerislamischen Feindes: Eine theoretische Rahmung Feindschaften innerhalb einer Religion können mitunter stärker ausgeprägt sein als diejenigen zwischen den Anhängern unterschiedlicher Religionen. Das liegt daran, so Mohammed S. Kalisch, dass der Streit um den wahren Glauben innerhalb einer Religion das jeweils eigene Selbstverständnis stärker berührt als die Auseinandersetzung mit anderen Religionen (vgl. Kalisch 2007: 53). Das entspricht den Beobachtungen des Ethnologen Günther Schlee, nach denen gerade ein niedriges Unterschiedsniveau und eine hohe Konfliktintensität miteinander korrelieren. Er erklärt das damit, dass Emotionen besonders stark an minimale Unterschiede gebunden seien und daher innerhalb eines kulturellen Zeichensystems stärker hervorträten (vgl. Schlee 2006: 11; 31). Diesem Befund entsprechend fechten Muslime Konflikte über Recht- und Andersgläubigkeit oftmals vehementer untereinander aus als mit Anhängern anderer Religionsgemeinschaften.2 Zum gleichen Schluss kommt der Religionshistoriker Jonathan Smith, wenn er schreibt, dass „the issue of problematic similarity seems to be particularly prevalent in religious discourse and imagination. […] From heresy to deviation to degenerations to syncretism, the notion of the different which claims to be the same, or, projected internally, the disguised difference within, has produced a rich vocabulary of denial and estrangement. For in each case, a theory of difference, when applied to the proximate ‘other’, is but another way of phrasing a theory of self“ (Smith 2004: 245).
Die Definition eines kollektiven ‚Selbst‘ ist eine Herausforderung für Muslime, denn der Islam ist plural angelegt. Er besteht aus einer Vielzahl theo2 Dem westlichen Feindbild vom Islam liegt hingegen die Annahme zugrunde, dass Mus-
lime eine in sich geschlossene und gegen ‚den Westen‘ gerichtete kulturell-politische Einheit bilden, wie es etwa Samuel Huntington in seiner These vom „Clash of Civilizations“ formuliert hat (Huntington 1996; vgl. auch Tim Karis in diesem Band). Dabei bleiben jedoch die Vielgestaltigkeit des Islam und die damit verbundenen innerislamischen Konflikte über die religiöse Deutungshoheit unberücksichtigt (vgl. Schwedler 2001; Hirji 2010; Schneiders 2009).
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logischer und regional disparater Strömungen und Gruppen. Eine allgemein anerkannte Autorität, die alle Muslime vertritt, existiert nicht. Mit der Abschaffung des Kalifats durch Mustafa Kemal (‚Atatürk‘) im Jahr 1924 ist auch die symbolische Einheit der sunnitischen Muslime zerbrochen (vgl. Schlicht 2010). Abgesehen von der Lebenszeit des Propheten hat es also nie den einen Islam gegeben. Damit waren Konflikte um Recht- und Andersgläubigkeit innerhalb der Umma von Beginn an vorprogrammiert. Kalisch beschreibt diese Konflikthaftigkeit mit den Worten: „Die Geschichte der islamischen Theologie ist auch die Geschichte des Ringens um die Abgrenzung von Orthodoxie und Heterodoxie“ (Kalisch 2007: 53). Ein Stück weit lösen Muslime die Spannungen, die der Vielgestaltigkeit des Islam entwachsen, dadurch auf, dass sie diese in einen heilsgeschichtlichen Zusammenhang stellen. Auf der Basis von Koran und Sunna,3 den religiösautoritativen Quellen des Islam, deuten sie die innerislamische Pluralität als akzeptabel, sofern – abhängig von der Perspektive der jeweiligen Gruppe – bestimmte Glaubensstandards erfüllt sind. Marcus Pyka verweist in diesem Zusammenhang auf einen Ausspruch Mohammeds, nach dem die Juden in 72 und die Muslime in 73 Häresien gespalten seien, von denen allerdings nur die eine ‚wahre‘ Richtung das Heil gewinnen werde. Er erläutert: „[E]ntscheidend für den Gläubigen war also lediglich, der ‚richtigen‘ Richtung anzugehören […]; eine vehemente, auf Vernichtung angelegte Bekämpfung des ‚Falschen‘ war hingegen nicht zwingend notwendig“ (Pyka 2003: 60f.).
Thomas Bauer führt dazu einen weiteren Ausspruch Mohammeds an, der von Muslimen herangezogen wird, um die Pluralität des Islam zu rechtfertigen: „Meinungsverschiedenheiten sind eine Gnade für meine Gemeinde“ (Bauer 2008: o. S.). Die Akzeptanz unterschiedlicher Positionen zeigt sich unter anderem darin, dass es allein im sunnitischen Islam vier allgemein anerkannte Rechtschulen gibt, die zusammen die sunnitische Orthodoxie formen. Auch im schiitischen Islam existieren verschiedene „Denominationen“ (Halm 2005: 10),4 deren Lehrmeinungen sich unterschiedlich nahestehen. 3 Die Sunna (Prophetentradition) bezeichnet die Summe der überlieferten Aussprüche
Mohammeds zu kultischen und rechtlichen Fragen sowie Überlieferungen über die Lebenspraxis des Propheten und seiner Gefährten (arab.: .sah. āba). Die einzelnen Überlieferungen werden als Hadithe bezeichnet. Neben dem Koran ist die Sunna die zweitwichtigste Quelle des islamischen Rechts. 4 Die Bezeichnung der unterschiedlichen theologischen Richtungen im Islam als ‚Denomination‘ oder auch ‚Konfession‘ ist eine Hilfskonstruktion, die den Islam in christlichen Strukturen zu erklären versucht. In Ermangelung adäquater Termini wird in der Literatur trotzdem auf sie zurückgegriffen. Unter den schiitischen Denominationen ist die zahlenmäßig bedeutendste die der Zwölferschia, auf die sich die Begriffe ‚Schiiten‘, ‚schiitisch‘ und ‚Schia‘ im Folgenden beziehen. Die Zwölferschiiten (Imamiten) glauben, dass
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Nach Pyka ist die islamische Pluralität nicht nur durch die Aussprüche Mohammeds gerechtfertigt, vielmehr beschreibt er, dass sie für die Herausbildung der islamischen Orthodoxie auch notwendig gewesen sei (vgl. Pyka 2003: 50). Denn die Vertreter verschiedener Gruppen versuchten jeweils, ihre Anhänger und andere Gruppierungen davon zu überzeugen, dass die eigene Lesart der religiösen Quellen die einzig richtige sei. Die Popularisierung ihrer jeweiligen Glaubenswahrheiten habe die Durchsetzung ihres Machtanspruchs gegen die Konkurrenz zum Ziel. Das Zeichnen eines Feindbildes, etwa mittels Häresiographien, ist damit ein unabdingbares Instrument zur Etablierung unterschiedlicher Lesarten einer Religion, wobei als Orthodoxie jeweils diejenige Lehre gelten kann, die sich gegen die Konkurrenz am besten zu behaupten vermag. Das ‚Feindbild im Inneren‘ bildet somit einen integralen Bestandteil vieler Religionen, nicht nur des Islam. Die radikale Ablehnung und Denunziation jeder abweichenden, vermeintlich falschen Meinung ist existentiell für die autoritative Definition und Etablierung einer Orthodoxie, insbesondere in der formativen Phase einer Religion. Zwar teilen die Anhänger aller Strömungen und Gruppen innerhalb des Islam den Glauben daran, dass Mohammed der letzte Prophet und der Koran die unverfälschte Offenbarung Gottes ist. Denn „[w]er diese beiden Punkte nicht anerkennt, kann nach traditioneller Auffassung kein Muslim sein“. Allerdings „ist man nach Ansicht vieler Theologen aber noch lange nicht zwangsläufig Muslim, wenn man diese beiden Punkte anerkennt, denn vielfach werden eben noch viele weiteren theologischen [sic!] Feinheiten verlangt, die ein Muslim anerkennen muss“ (Kalisch 2007: 55).
Entsprechend gibt es auch Muslime, die die Vielfalt des Islam ablehnen. Für sie gelten dann diejenigen Muslime als ungläubig, deren Islamverständnis sich von ihrer jeweils eigenen Interpretation unterscheidet, unabhängig davon, ob sie den Glauben an Mohammed als letzten Propheten und an den Koran als göttliche Offenbarung teilen (vgl. Agai 2007: 191ff.). Die Unterstellung, der Andere sei ein Ungläubiger (arab.: kāfir), hat sich entsprechend als tragendes Mittel zur Legitimierung des nach innen gerichteten Feindbildes etabliert. Auf diese Weise wird der innere Feind aus dem Kreis der Muslime ausgeschlossen. Der Ausschluss aus der Gemeinschaft der Gläubigen hat nach islamischem Recht konkrete Auswirkungen auf das Leben des oder der vermeintlichen Ungläubigen. So ist zwölf Imame (von arab. imām: Vorsteher, Vorbild) aus dem Hause des vierten Kalifen und Schwiegersohns Mohammeds, Ali ibn Abi Talib, die Nachfolge des Propheten Mohammed in der Leitung der muslimischen Umma angetreten haben. Der zwölfte Imam halte sich irgendwo auf der Erde verborgen und werde irgendwann wiedererscheinen (vgl. Halm 2005: 32). Die ‚Denominationen‘ der Schia unterscheiden sich v. a. darin, welche und wie viele Imame sie als Nachfolger des Propheten akzeptieren.
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Wahrer Muslim, falscher Muslim?
„the excommunicated not only dammned in the world beyond; he is outlawed in this world. He is deprived of all legal rights and barred from all religious offices; his life and property are forfeit. If he is born a Muslim, his position is that of an apostate, a dead limp that must be ruthlessly excised“ (Lewis 1953: 58).
Während die islamischen Gelehrten der Vormoderne die Praxis, andere Muslime für ungläubig zu erklären, für religiöse Polemiken nutzten, was zumeist keine praktischen Konsequenzen für den Beschuldigten hatte (vgl. Lewis 1953: 59), diente sie politischen Machthabern und religiösen Aktivisten schon immer zur Rechtfertigung von Gewalt. Auch heute setzen muslimische Akteure in gesellschaftspolitischen Konflikten nach innen gerichtete und religiös artikulierte Feindbilder zur Durchsetzung ihrer Ziele ein. Evident wird das gegenwärtig in den Anschlägen extremistischer Islamisten auf Individuen, Gruppen oder Regierungen, mit deren religiöser Praxis sie entweder nicht übereinstimmen (z. B. die Heiligenverehrung der Mystiker5) oder deren Kooperation mit westlichen Staaten sie als unislamisch betrachten (z. B. die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Verbindungen des saudischen Herrscherhauses mit dem Westen). Aber auch in den Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten wurde und wird der Vorwurf der Apostasie zur Legitimierung von Gewalt herangezogen. Oftmals sind die religiöse und die politische Dimension der Feindbildkonstruktion kaum voneinander zu trennen, denn zumeist wird ein religiös konstruiertes Feindbild, basierend auf dem Vorwurf der Apostasie, gezielt in politischen Konflikten eingesetzt. Das gilt umso mehr für den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, der ursprünglich auf politische Streitfragen zurückgeht. Die religiöse Umdeutung des Konfliktes erfolgte erst Jahre später. Der Ursprung und die Deutung des Streits zwischen Sunniten und Schiiten sollen im Folgenden dargestellt werden.
Der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten: Eine historische Herleitung Die Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten nahm mit dem Tod Mohammeds am 8. Juni des Jahres 632 ihren Anfang.6 Ursächlich waren Uneinigkeiten unter den Muslimen darüber, wer die politische und religiöse Leitung der Umma übernehmen und damit Nachfolger Mohammeds werden sollte. Die Mehrheit der Muslime, die sogenannten ahl as-sunna (arab.: An5 Diese Richtung des Islam wird als Sufismus bezeichnet (vgl. allgemein Schimmel 2005). 6 Ausführliche Beschreibungen über die Hintergründe des Konfliktes sind u. a. bei Halm
2005 und Endreß 1997 zu finden.
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hänger der Tradition), war der Auffassung, dass der Prophet keinen Nachfolger bestimmt habe. Sie wollten ihn daher aus der Gruppe der engsten Gefährten Mohammeds auswählen. Für eine Minderheit gab es zum Zeitpunkt von Mohammeds Tod allerdings einen klar designierten Nachfolger: Ali ibn Abi Talib (598–661), den Schwiegersohn und Vetter des Propheten. Dafür hatten sie zwei Argumente: Zum einen forderten sie, dass der Familie des Propheten (arab.: ahl al-bait) ein Vorrecht auf die Nachfolge eingeräumt werden müsse. Da der Prophet keine leiblichen Söhne hinterlassen hatte, sahen sie in Ali den legitimen Nachfolger Mohammeds. Zum anderen beriefen sie sich auf eine Überlieferung, nach der Mohammed auf dem Rückweg von seiner letzten Mekka-Wallfahrt zu seiner Gemeinde gesagt haben soll: „Allen, denen ich gebiete, soll auch Ali gebieten!“ (Nagel 2006: 28; Ende 2005: 71). Nach Mohammeds Tod setzte sich jedoch die Mehrheit durch. Nicht Ali wurde zum Nachfolger bestimmt, sondern Abu Bakr (632–634), ein alter Weggefährte des Propheten. Diesem folgten zwei weitere Vertraute Mohammeds nach: Umar (634–644) und Uthman (644– 656). Letzterer war ein Repräsentant des Clans Umayya, dessen Mitglieder Mohammed lange Zeit feindlich gegenübergestanden und sich erst nach der Eroberung Mekkas zum Islam bekannt hatten (vgl. Halm 2002: 24). Daher sahen die Anhänger Alis insbesondere in Uthman, aber auch in Abu Bakr und Umar, Usurpatoren der Macht, deren Rechtmäßigkeit sie bis heute nicht anerkennen (vgl. Radtke 2005: 56; Halm 2005: 13). Zwar wurde Ali, nachdem Uthman ermordet worden war, zum vierten ‚rechtgeleiteten‘ Kalifen ernannt (656–661), doch sein Kalifat war geprägt von blutigen innerislamischen Auseinandersetzungen, in deren Verlauf er sich aus Medina in die Stadt Kufa im heutigen Irak zurückziehen musste. Alis Herrschaft endete mit seiner Ermordung. Er wurde zum ersten Märtyrer der Schia. Doch auch mit dem Tod Alis war der Streit um die Nachfolge nicht beendet, vielmehr konsolidierte sich der Bruch zwischen der ‚Partei Alis‘ (arab.: šī‘at ‘alī 7) und den ahl as-sunna, die mit dem Kalifen Muawiya (661–680), einem Verwandten Uthmans, erneut die Herrschaft über die politisch gespaltene Umma übernommen hatten. Erst ab dem Jahr 680 erhielt der bis dahin ausschließlich politische Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten eine religiöse Dimension. Muawiya hatte den Anspruch auf das Kalifat inzwischen an seinen Sohn Yazid (680–683) vererbt. Hasan, der älteste Sohn Alis und zweite schiitische Imam, hatte nach dem Tod seines Vaters auf das ihm von der ‚Partei Alis‘ angetragene Kalifat verzichtet. Deswegen drängte die schiitische Opposition Husain, den zweiten Sohn Alis, die Macht über die Umma zu ergreifen und sicherte 7
Hiervon leitet sich die Bezeichnung ‚Schiiten‘ bzw. ‚Schia‘ ab.
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ihm für die Herausforderung Yazids ihre uneingeschränkte Unterstützung zu. Am 10. Oktober des Jahres 680 trafen die weit überlegenen Truppen des amtierenden Umayyaden-Kalifen Yazid in einem blutigen Scharmützel auf den Prophetenenkel Husain und dessen Anhänger. Die Anhänger der ‚Partei Alis‘ waren trotz ihres Versprechens nicht erschienen, um Husain beizustehen. Die Kämpfe endeten mit der Erstürmung von Husains Lager. Er und fast alle seine männlichen Begleiter fanden dabei – aus schiitischer Perspektive – den Märtyrertod, nur ein Sohn Husains überlebte. Damit war die Spaltung der Umma in Sunniten und Schiiten endgültig besiegelt. Nach dem sogenannten Massaker von Kerbela nahm die bis dahin politische Opposition der šī‘at ‘alī religiöse Züge an: „Erst der Tod des dritten Imams [Husains] und seiner Gefährten ist der big bang, der den rasch expandierenden Kosmos des Schiitentums erschafft und in Bewegung setzt. Für die Schiiten ist Kerbela der Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubens, Höhepunkt eines göttlichen Heilsplanes, dessen Verheißungen all denen zuteil werden, die für die Seite des gemarterten Imams Partei ergreifen“ (Halm 2005: 21).
Bei den Anhängern der ‚Partei Alis‘ löste die Tatsache, dass sie Husain bei Kerbela nicht beigestanden hatten, eine schwere Gewissenskrise aus. Einige von ihnen formierten sich zu einer Gruppe, die sich ‚die Büßer‘ (arab.: attawwābūn) nannten. Sie gilt als die Keimzelle der religiösen Schia, die von einem starken Passions- und Märtyrerkult geprägt ist. In den Aschura-Riten verleihen die Schiiten bis heute ihrer Buße für das Versagen bei Kerbela rituell Ausdruck. Heinz Halm schreibt: „Noch heute antworten Schiiten auf die Frage, warum sie bei den Riten zur Erinnerung an Kerbela sich selbst geißeln oder mit Schwertern verwunden: ‚Um zu zeigen, daß, wenn wir in Kerbela dabei gewesen wären, wir dem Imam beigestanden und unser Blut vergossen hätten und mit ihm gestorben wären‘“ (Halm 2005: 24).
In den Jahrhunderten, die auf die Schlacht von Kerbela folgten, entwickelten sich der sunnitische und der schiitische Islam in rechtlicher, theologischer und ritueller Hinsicht unterschiedlich. Die Jurisprudenz und Theologie beider ‚Denominationen‘ basieren zwar auf dem Koran und – mit manchen Abweichungen – auf der Prophetentradition, die Schiiten berufen sich jedoch mit den Direktiven ihrer Imame noch auf eine weitere Quelle. Denn die Imame, insbesondere Imam Ali, nehmen in der schiitischen Theologie eine bedeutende Rolle ein. So glauben Imamiten an eine erbliche Nachfolge der Herrschaft Mohammeds durch insgesamt zwölf unfehlbare und sündlose Imame. Dabei existiert der zwölfte Imam nach schiitischer Vorstellung in der Verborgenheit. Er wird dereinst als von Gott ‚Rechtgeleiteter‘ (arab.: mahdī) wiederkommen, „um die Welt mit Gerechtigkeit zu erfüllen, so wie 161
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sie jetzt mit Ungerechtigkeit erfüllt ist“ (Halm 2005: 37), und damit den ‚reinen Urislam‘ wiederherstellen. Aus der Perspektive des sunnitischen Islam gilt die ausgeprägte schiitische Verehrung der Imame hingegen als Sünde, da sie dem Prinzip des Monotheismus (arab.: tauh. īd) widerspreche. Bis heute greifen Sunniten und Schiiten auf Feindbilder zurück, die ihre Wurzeln in den oben beschriebenen Ereignissen der Frühzeit des Islam haben. Sie machen sich dabei den Impetus religiöser Wahrheitsansprüche zunutze, um den Gegner zu diskreditieren und die eigene, oftmals politische Position zu untermauern. Die Verknüpfung von Politik und Religion, die seit dem Tod Mohammeds in den innerislamischen Feindbildern angelegt ist, spielt auch heute noch in Konflikten zwischen Muslimen eine bedeutende Rolle. In den folgenden Ausführungen zu den Feindbildern von Sunniten und Schiiten werden Stereotypen skizziert, die seit Jahrhunderten gebräuchlich sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich alle Sunniten und Schiiten mit ihnen identifizieren können. Vielmehr bemühen sich viele Muslime um eine gegenseitige Annäherung.
Feindbild ‚Schiit‘ Aus sunnitischer Perspektive gilt die Schia seit der Zeit, in der sich eine eigenständige sunnitische Theologie und Rechtswissenschaft herausbildete (ab dem 8./9. Jahrhundert), als Häresie, der lediglich eine Minderheit8 der Muslime folge. Die Beschreibung der Schia als Häresie war vor allem dem Bemühen geschuldet, eine sunnitische Orthodoxie durchzusetzen. Deswegen grenzten sunnitische Gelehrte alle abweichenden religiösen Ansichten aus der eigenen Gruppe aus und werteten sie als Sekten oder Häresien ab (vgl. Brinkmann 2010: 26). Entsprechend wird die Schia in sunnitischen Polemiken bis heute nicht als eine eigene Denkschule innerhalb des Islam, sondern als eine heimtückische und gegen den Islam gerichtete religiöse Bewegung charakterisiert. Sie sei besonders gefährlich, da sie islamisch auftrete und damit arglose Sunniten zu täuschen vermöge. Realiter sei sie aber das Gegenteil des ‚wahren‘ Islam, nämlich eine andere, feindselige Religion (vgl. Ende 2007: 76). Die sunnitischen Feindbildkonstrukteure greifen, damals wie heute, insbesondere die Überzeugungen der Schiiten bezüglich der Prophetennachfolge und ihre ‚Verklärung‘ Alis und der nachfolgenden Imame als unfehlbare Märtyrer auf. Besonders harsch prangern viele Sunniten an, dass Schiiten die ersten drei ‚rechtgeleiteten‘ Kalifen Abu Bakr, Umar 8 Ca. 10 bis 15 Prozent der weltweiten muslimischen Bevölkerung (vgl. Radtke 2005: 55).
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und Uthman nicht anerkennen und als Usurpatoren herabwürdigen, aber gleichzeitig den vierten Kalifen Ali über alle Maßen verehren. Diese Verehrung drückt sich unter anderem dadurch aus, dass es unter Schiiten üblich ist, das islamische Glaubensbekenntnis (arab.: šahāda) um die walāya, eine auf Ali bezogene Huldigungsformel, zu erweitern.9 Auch in deutschsprachigen Internetforen ist das Verhältnis der Schiiten zu den ersten drei Kalifen und zu Ali ein Thema unter Sunniten. In einem sunnitisch dominierten muslimischen Diskussionsforum im StudiVZ heißt es etwa: „Akhi [arab.: mein Bruder], bis heute lehnen die Schiiten Abu Bakr und Umar Ibn Khattab als rechtmäßige Kalifen ab. Warum sollen wir den Dialog mit Abtrünnigen führen? Sie versuchen stets, uns zu bekehren. Wenn sie wirklich den wahren Dialog wollen, dann sollen sie nicht nur ihren Standpunkt vertreten. Bis heute kommen sie mit einem unechten Hadith, der besagt, dass der Prophet (SWS) Ali abi Talib als seinen Nachfolger ernannt hat. Das ist ein absoluter Quatsch und Lüge, um die schiitische Lehre zu legitimieren“ (www.studivz.de).
Drastischer thematisiert ein weiterer Diskussionsteilnehmer desselben Internetforums die schiitischen Praktiken, die aus dem frühislamischen Nachfolgekonflikt erwachsen sind: „Die Ahnen der Schiiten waren Hass machende Leute, verantwortlich dafür, Uneinigkeit und Verwirrung unter der muslimischen Ummah zu stiften. Heutzutage lebt diese Tradition bei den Schiiten weiter, die mit der Praktik von Tabarra [rituelles Verfluchen] damit fortfahren, die gottesfürchtigen Vorreiter des Islam zu verfluchen und zu beleidigen, hetzen und versuchen Hass und Uneinigkeit zwischen die Gläubigen zu bringen“ (www.studivz.de).
Aufgrund ihrer Ablehnung der ersten drei Kalifen hat sich in anti-schiitischen Kreisen der Begriff Rafidit (von arab. rāfidī . : Abkehrer oder Abtrünniger) als Schimpfname für Schiiten etabliert (vgl. Faath 2010: 16f.). Populär in Erscheinung trat diese Negativ-Bezeichnung vor einigen Jahren in der Tonbandaufnahme einer Rede des al-Qaida-Führers im Irak, Abu Musa azZarqawi (1966–2006), in der er 2005 seine Anhänger aufforderte, gegen die Amerikaner und Schiiten Krieg zu führen. Dabei bezeichnete er die Schiiten als Rafiditen, denen er vorwarf, heimlich mit den Kreuzfahrern (Amerikanern) zu kooperieren (vgl. Brinkmann 2010: 34). Seit dem 20. Jahrhundert wird die westliche und vor allem die US-amerikanische Präsenz im Nahen Osten in Polemiken von Muslimen vielfach als „Wiederauflage der Kreuzzüge und damit als religiöse[r] oder weltanschauliche[r] Dominanzversuch“ 9 Das schiitische Glaubensbekenntnis lautet dann: „Es gibt keinen Gott außer Gott und
Mohammed ist der Gesandte Gottes und Ali ist der Freund Gottes.“
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(Würtz 2007: 160) gedeutet. Seit der Kolonialisierung weiter Teile des Nahen und Mittleren Ostens durch europäische Mächte im 19. und 20. Jahrhundert gilt der Kreuzfahrer oder ‚Franke‘, wie die christlichen Eroberer in Anlehnung an historische Bezeichnungen des Mittelalters auch genannt werden, als Erzfeind des Islam. Dennoch – und das spricht dafür, dass der innere Feind oftmals bedrohlicher wirkt als der äußere – hielten es Sunniten zeitweise für verdienstvoller, einen ‚schiitischen Häretiker‘ zu töten, als einen ‚Franken‘ (vgl. Brinkmann 2010: 40f.). Ein weiteres Element des Feindbildes, das Sunniten von der Schia zeichnen, hängt unmittelbar mit der Art und Weise zusammen, mit der die Schiiten mit ihrem Status als Minderheit umgehen. Im Laufe der islamischen Geschichte war die Schia „meist in der Opposition, gelegentlich verfolgt, verachtet und unterdrückt“ (Halm 2005: 8). Zum Schutz vor Übergriffen und Diskriminierungen hat das Umsetzen des koranischen Prinzips der taqīya10 (arab.: Furcht, Vorsicht) im schiitischen Islam eine lange Tradition. Dieses Prinzip erlaubt es Muslimen, ihre religiöse Zugehörigkeit gegenüber Andersgläubigen zu verschweigen, sofern das eigene Leben bedroht ist (vgl. Brinkmann 2010: 32; Ende 2007: 83). Ein gängiger Vorwurf von sunnitischer Seite lautet deshalb, dass Schiiten keine loyalen Untertanen bzw. Staatsbürger seien, sondern Lügner, die ihre wahren religiösen Ansichten verschleierten, um das Sunnitentum und die sunnitisch dominierten Staaten zu unterwandern und zu schädigen (vgl. Faath 2010: 12f.; Brinkmann 2010: 32). Seit der Islamischen Revolution im Iran 1979, die zu einem gestiegenen Selbstbewusstsein schiitischer Bevölkerungsgruppen in den nah- und mittelöstlichen Staaten führte, haben diese Vorwürfe zugenommen. So schüren anti-schiitische Kreise die Angst vor einer inneren Destabilisierung sunnitisch dominierter Staaten, vor einem Kontrollverlust über die zentralen Ölregionen und vor der Entstehung eines schiitischen Halbmonds vom Libanon, über den Irak, den Iran bis zu den Golfstaaten (vgl. Brinkmann 2010: 39). Sie beschuldigen die Schiiten, als „fünfte Kolonne Irans“ (Faath 2010: 18) iranische Interessen zu vertreten und damit gezielt ihre Heimatländer von innen zersetzen zu wollen. Den schiitischen Machthabern des Iran werfen sie vor, ihre Machtambitionen in der Region rigoros zu verfolgen. Das zeige sich etwa in der Entwicklung des iranischen Atomprogramms, dem Vorantreiben einer aggressiven schiitischen Mission und der Unterstützung 10 Es basiert auf Sure 16, Vers 106 des Koran: „Diejenigen, die an Gott nicht glauben, nach-
dem sie gläubig waren – außer wenn einer (äußerlich zum Unglauben) gezwungen wird, während sein Herz (endgültig) im Glauben Ruhe gefunden hat, – nein, diejenigen, die (frei und ungezwungen) dem Unglauben in sich Raum geben, über die kommt Gottes Zorn […] und sie haben (dereinst) eine gewaltige Strafe zu erwarten“ (Übersetzung nach Paret 82001; Hervorh. von D. S.).
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politischer schiitischer Gruppen wie der Hisbollah im Libanon (vgl. Brinkmann 2010: 26; Faath 2010: 12f.). Der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad wird im medialen Diskurs daher häufig als Häretiker, Feind des Islam oder als Anhänger der altiranischen Religion des Zoroastrismus beschimpft (vgl. Brinkmann 2010: 26).11 Besonders erbittert leisten seit dem 18. Jahrhundert Anhänger der von Saudi-Arabien ausgehenden, rigoristischen Reformströmung des Wahhabismus12 Widerstand gegen die Anerkennung der Schia als legitime ‚Denomination‘ innerhalb des Islam. Wahhabiten, die sich selbst als ahl at-tauh. īd (arab.: Bekenner der Einheit [Gottes]) bezeichnen, vertreten die Auffassung, dass nur derjenige ein wahrer Muslim sei, der sich zur wahhabitischen Lesart des Koran und entsprechender Lebensweise in Wort und Tat bekenne. Nach wahhabitischer Lehrmeinung sind alle anderen Muslime Ungläubige, die es zu bekehren und nötigenfalls zu bekämpfen gilt (vgl. Preuschaft 2010: 317; Agai 2007: 192ff.). Damit konstruieren die Wahhabiten ein inner islamisches Feindbild, das alle Muslime umfasst, die sich nicht zu der von ihnen propagierten Lesart des Islam bekennen, seien es nun Sunniten oder Schiiten. Als besonders sündhaft prangern die Wahhabiten allerdings die zentralen Glaubenskonzepte und Riten der Schia an, die sie als unzulässige Neuerungen (arab.: bid‘a) betrachten (vgl. Ende 2007: 78). Vor allem die schiitische Praxis des Pilgerns zu den Gräbern der Imame lehnen die Wahhabiten als Verstoß gegen das Prinzip des Monotheismus ab. Deshalb zerstörten Anhänger der wahhabitischen Lehre im 18. und 19. Jahrhundert mehrfach schiitische Schreine in Medina, Kerbela und Nadschaf. Im 20. Jahrhundert erlebte der Wahhabismus im Zuge der islamischen Erneuerung im Nahen und Mittleren Osten eine Renaissance. Erneut wurden die Gräber der Imame in Medina geschändet. In den letzten Jahrzehnten haben wahhabitische Positionen einen starken Einfluss auf islamistische Bewegungen wie den Salafismus ausgeübt (vgl. Agai 2007: 192).13 Seitdem kommt es immer wieder zu Anschlägen sunnitischer Extremisten auf Schiiten, wie beispielsweise im Irak und in Pakistan (vgl. z. B. Der Spiegel vom 3.9.2010). . 11 Gleichwohl gilt Ahmadinedschad aufgrund seines Einsatzes für die islamische Einheit in
einigen (sunnitischen) Kreisen als islamische „Retterfigur im Widerstand gegen den Westen“ (Brinkmann 2010: 26). 12 Der Wahhabismus hat seinen Ursprung in der sunnitischen hanbalitischen Rechtsschule und beruht auf den Lehren Muhammad ibn Abd al-Wahhabs (1703–1792). 13 Als Salafismus werden diejenigen Strömungen des Islam bezeichnet, deren Anhänger sich an der Zeit der ‚Altvorderen‘ (arab.: as-salaf as-s . . ālih) . der Frühzeit des Islam orientieren und sich für ihre Lebens- und Glaubenspraxis ausschließlich auf den genauen Wortlaut von Koran und Sunna stützen. Ursprünglich diente der Begriff zur Bezeichnung einer reformistischen Strömung des frühen 20. Jahrhunderts, deren Anhänger eine Modernisierung des Islam anstrebten. Heute wird der Begriff zumeist für neofundamentalistische und bisweilen auch für militante Strömungen im Islam verwendet (vgl. u. a. Agai 2007: 195f.).
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Solche Attentate sind ein Beispiel dafür, wie ein abstraktes Feindbild für konkrete politische Handlungen genutzt werden kann. Betrachtet man die einzelnen Elemente des sunnitischen Feindbildes vom Schiiten in einer Gesamtschau, so zeigt es einen illoyalen Untertanen bzw. Bürger, der sowohl die Macht der weltlichen (sunnitischen) Herrschaft als auch die Grundfesten des Islam untergräbt, indem er unter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit und Regierungstreue unbescholtene Sunniten für seine schiitische ‚Häresie‘ zu missionieren versucht, alle Schiiten politisch gegen die Sunniten zu einen anstrebt und nicht nur den Propheten Mohammed durch die übermäßige Huldigung Alis beleidigt, sondern auch die ersten drei Kalifen, indem er sie nicht anerkennt.
Feindbild ‚Sunnit‘ Ebenso wie die „Feindpropaganda“ (Ende 2007: 76) der Sunniten knüpft auch die der Schiiten an die politischen Auseinandersetzungen um die Leitung der Umma in der Frühzeit des Islam an. So schreibt ein Mitglied des Internetforums Shia-Forum: „Umar ernannte Uthman zum Khalifen und der besetzte alle Schlüsselpositionen im islamischen Staat mit den Männern der Bani Umayya. Von da an besaßen die Bani Umayya absolute Macht über die islamische Gemeinschaft. Sie nutzten ihre Macht, um ihren Hass gegen die Ahl-ul-Bayt auszuleben und die Anhänger von Imam Ali zu massakrieren. Die Shia von Ali wurde verfolgt und in den Gefängnissen der arabischen Städte zu Tode gefoltert“ (www.shia-forum.de).
In diesem Zitat wird der Kernpunkt des schiitischen Feindbildes vom Sunniten formuliert: die illegitime Machtaneignung über die islamische Gemeinschaft zuungunsten der Familie des Propheten. Außerdem veranschaulicht das Zitat das schiitische Selbstbild, eine verfolgte Minderheit zu sein. Diese historische Erfahrung dient den Schiiten seit der islamischen Frühzeit als Deutungsmuster für politische und soziale Konflikte. Ihre zahlenmäßige Unterlegenheit wandeln sie ins Positive: Sie nennen sich selbst die ‚Besonderen‘ bzw. die ‚Ausgezeichneten‘ (arab.: al-hā.ssa). Im Kontrast dazu findet . ˇ die Bezeichnung das ‚gemeine Volk‘ (arab.: al-‘āmma) für Sunniten in schiitischen Polemiken vielfach Verwendung. Sunniten werden außerdem häufig mit dem Attribut nāsibī im Sinne von ‚fanatischer Ali-Gegner‘ bedacht . (vgl. Ende 2005: 70). Bis zur Iranischen Revolution 1979 war das schiitische Selbstbild das eines „still duldenden Märtyrers“ (Halm 2005: 94), der die Verfolgungen hinnahm und darauf wartete, dass der verborgene Imam am Tag seiner messianischen Rückkehr die legitime Führung über die musli166
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mische Umma antreten werde. Die Machtübernahme Ruhollah Khomeinis (1902–1989) im Iran bedeutete jedoch für die zuvor eher apolitische, quietistische Schia eine Zäsur. Denn Khomeini interpretierte die Schia politisch. Bei seiner Interpretation der Schia handelte es sich „um eine moderne Revolutionsideologie, eingehüllt in das Gewand traditioneller schiitischer Bilder und Symbole, die indes eine gänzliche Umdeutung und Neubewertung erfahren. Schia ist hier gleichbedeutend mit dem Kampf für Gerechtigkeit, gegen Fremdherrschaft, Tyrannei, Feudalismus und Ausbeutung“ (Halm 2005: 97).
Seitdem ziehen viele Schiiten aus ihrem Selbstbild, eine von Gott ausgezeichnete und gleichsam von Sunniten verfolgte Minderheit zu sein, die Verpflichtung, für die Schwachen und Erniedrigten gegenüber den Herrschenden einzutreten. Während Schiiten seit Khomeini ihren politischen Widerstand religiös herleiten, werfen sie den Sunniten vor, seit jeher ungerechte Herrscher zu stützen oder zu akzeptieren (vgl. Faath 2010: 12f.). Sie verweisen dabei auf die aus ihrer Sicht ungerechtfertigte Begünstigung der drei ersten Kalifen Abu Bakr, Umar und Uthman durch die frühen Sunniten. Aufgrund ihrer Unterstützung der ‚sündigen‘ drei Kalifen hätten sich auch die frühen Sunniten zutiefst schuldig gemacht, da sie Gottes Willen, nach dem Ali dem Propheten nachfolgen sollte, nicht gefolgt seien: „It is believed that a wicked and ruthless tyrant came to usurp the Caliphate that rightfully belonged to the family of the Prophet. This motif would run throughout Shia interpretations of history. Henceforth the Shia would view the mainstream of Sunni Islam, although ostensibly successful and the majority of Muslims, as representative of an illegitimate and degenerate empire that could never be the true people of God“ (Geaves 2009: 45).
Viele Schiiten werfen den Sunniten allerdings nicht nur vor, den Willen Gottes und Mohammeds in Fragen der Nachfolge missachtet, sondern darüber hinaus auch aktiv die Sunna verfälscht zu haben, um ihre Machtambitionen zu stützen und den Führungsanspruch der Familie des Propheten zu untergraben (vgl. Ende 2007: 81f.). Offen bezichtigen sie deshalb die ersten drei Kalifen der Lüge, da viele der Aussprüche Mohammeds, die der Sunna zugrunde liegen, von diesen überliefert worden sind. Diese Vorwürfe gegen die ersten Kalifen bilden ein bedeutendes, stets wiederkehrendes Motiv in der traditionellen schiitischen Literatur (vgl. Ende 2005: 73). Es wurde unter Schiiten üblich, die Prophetengefährten und insbesondere die Kalifen Umar und Uthman aufgrund ihres ‚sündigen‘ Verhaltens zu verfluchen.14 Rosemary Stanfield Johnson schildert eindrücklich, wie unter der Herrschaft der Safawiden in Persien (1501–1722), die die Zwölferschia als 14 Arab.: tabarra’ (wörtlich: sich lossagen).
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offizielle Religion einführten (vgl. Rambod 2010: 276f.), die Praxis des Verfluchens politisch gegen die sunnitische Bevölkerung eingesetzt wurde. So sei es gängig gewesen, dass Schah Tahmasp I. (1514–1576) schiitische Prediger aufforderte, das sunnitische Freitagsgebet zu stören, indem sie zusammen mit den schiitischen Gläubigen die Feinde Alis15 rituell verfluchten. Auch sei die Praxis des Verfluchens ein Mittel zur Denunziation der Feinde des safawidischen Regimes gewesen. Die folgende Schilderung basiert auf dem Bericht des sunnitischen Gelehrten Mirza Makhdum Sharifi (gest. 1587): „The shah instituted a second measure designed to encourage the public cursing of the enemies of ‘Ali. He assembled a group of seven tabarrā’īyān with voices ‘as loud as buffaloes’ to curse in the midst of the people. A tabarrā’ī was an agent of the shah. He was ‘one who disavows himself of something or someone’. […] the disavowers where given a list of ninety individuals to denounce publicly. These ninety where selected by the shah himself, and their names inserted into the sermon. […] At the end of the chain of the accursed, the people would answer in unison: bīsh bād kam mabād (‘May it be more, not less!’). The tabbara’īyān [sic!] also attended the gatherings of the shah at court, and after ritual cursing was completed the shah filled their mouths with silver coins“ (Stanfield Johnson 1994: 130; Hervorh. i. Orig.).
Zwar ließ Khomeini die Praxis des Verfluchens nach der Islamischen Revolution im Iran verbieten, um Sunniten und Schiiten einander anzunähern (vgl. Brinkmann 2010: 28). Das änderte jedoch nichts daran, dass das Verfluchen unter Schiiten – wenn heute auch umstritten – noch immer ausgeführt wird. Im Internet äußert sich ein Schiit dazu folgendermaßen: „Barak‘Allahu fikun [arab.: der Segen Gottes sei bei euch], meine Geschwister. Das Verfluchen ist keine Pflicht, allerdings ist es im Prinzip das Gegenteil von Segnen. Wir sprechen den Segen auf Muhammad (s.) und seine Familie (a.). Wieso sollten wir dann nicht die Feinde Muhammads (s.) und seiner Familie (a.) verfluchen? Allerdings sollte man dies in der Öffentlichkeit möglichst unterlassen. Ich meine vor allem, wenn bestimmte Personen verflucht werden, da es einzelne Gruppen stören könnte, und dies würde zu Fitna [Spaltung der Umma] führen“ (www.shia-forum.de).
Ein anderes Mitglied des schiitischen Onlineforums schreibt: „Der Feind von den Ahl ul-bait ist der Feind Allahs und der Feind Allahs ist auch mein Feind. Ich halte meinen Mund nicht, ist mir egal Bruder, ich sage 15 Stanfield Johnson führt aus, dass es sich bei den Feinden Alis um die zehn Persönlichkei-
ten des frühen Islam handelt, die aus sunnitischer Sicht ‚für das Paradies gesegnet sind‘. Das sind Abu Bakr, Umar, Uthman, Ali b. Abu Talib (der von der Verfluchung ausgenommen ist), Sad b. Abu Waqqas, Talha b. Ubaiyd Allah, Zubayr b. al-Awwam, Abd al-Rahman b. Awf, Said b. Zayd und Abu Ubayda b. al-Jarrah. Des Weiteren verfluchen sie die beiden Prophetengattinnen Aisha und Hafsa sowie die vier Begründer der sunnitischen Rechtsschulen (vgl. Stanfield Johnson 1994: 129).
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es vor Allen, dass ich diese 3 Kalifen nicht leiden kann. Ich habe nicht gesagt, es sei erlaubt, sie zu verfluchen, doch wenn wir den Mund halten, sind wir nichts“ (www.shia-forum.de).
Das Verfluchen der ersten drei Kalifen ist wohl diejenige Praxis, mit der Schiiten ihr Feindbild vom Sunniten rituell am stärksten lebendig halten. Wie verbreitet diese Gepflogenheit noch heute ist, zeigt die Forderung von Yussuf al-Qaradawi, einem der einflussreichsten sunnitischen Theologen der Gegenwart, dass die Schiiten endlich aufhören sollten, die Prophetengefährten zu verleumden (vgl. Brinkmann 2010: 36). Fasst man die einzelnen Elemente des schiitischen Feindbildes vom Sunniten zusammen, so bezieht sich dieses vor allem auf die von den Sunniten betriebene Verehrung der ersten drei Kalifen. Denn diese seien Sünder, weil sie sich unrechtmäßig die Macht über die Umma angeeignet und aus politischen Gründen die Sunna verfälscht hätten. Das Vergehen aller Sunniten besteht nach Meinung der Schiiten darin, dass sie wider besseren Wissens ihrem Geschichtsbild treu bleiben und die ‚wahren‘ Muslime diskriminieren bzw. verfolgen. Mithilfe des Feindbildes vom ‚sündigen‘ Sunniten konstruieren Schiiten Selbstbilder, mit denen sie ihre eigene Reinheit und Rechtschaffenheit hervorheben. Auch dafür sind Beispiele im Internet zu finden: „Während es bei uns Fatwas [islamische Rechtsgutachten] dafür gibt, kein Unrecht zu begehen, niemals unschuldigen Menschen in irgendeiner Weise Leid zufügen zu dürfen. Während es bei uns Fatwas dafür gibt, so zu agieren, damit die Einheit der Ummah bewahrt wird, damit jede Art von Fitna [Spaltung der Umma] vermieden wird, damit jede Art von Hass gegenüber Ethnien, anderen Völkern oder Glaubensgemeinschaften ausgeschlossen wird. Sieht es bei den anderen [den Sunniten] etwas anders aus. Aber ist es nicht die andere Seite, die gegen uns hetzt, die gegen uns den Hass schürt, die ihren Anhängern eintrichtert, dass wir Kuffar [arab.: Ungläubige] sind? Von der Religion Rasulallahs [arab.: des Gottgesandten] ausgetretene? Ist es nicht die andere Seite, die Fatwas gegen uns erlässt, um uns zu bekämpfen und uns als Feinde zu betrachten? Und was ist mit den Fatwas und Predigten, die den Tod der Schiiten rechtfertigen und nicht nur den Tod der Schiiten, sondern eines jeden einzelnen Menschen auf dieser Erde, der nicht die gleiche Ideologie teilt“ (www.shia-forum.de).
Ausblick Am 15. Dezember 2010 forderten zwei Selbstmordanschläge vor der schiitischen Imam-Hussein-Moschee in der iranischen Hafenstadt Tschahbahar 38 Tote und über 50 Verletzte. Zu der Tat bekannte sich die militante sunnitische Gruppe Dschundallah (arab.: Soldaten Gottes) (vgl. Die Tageszeitung vom 15.12.2010). Die Opfer des Anschlages hatten in der Moschee der Er169
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öffnungszeremonie des Aschura-Festes beigewohnt, welches an den Märtyrertot des Prophetenenkels Husain in der Schlacht von Kerbela erinnert. Der Anschlag zeigt, wie gravierend noch heute die Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten ist. Er ist aber auch ein Beispiel dafür, dass es bei den blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern der beiden islamischen ‚Denominationen‘ zumeist nicht um Dispute auf theologischer Ebene geht. Vielmehr dienen die alten Feindbilder häufig vor allem der Propaganda in gesellschaftspolitischen Konflikten. Der Anschlag von Tschahbahar ereignete sich im Zusammenhang des Kampfes radikal-sunnitischer Gruppen um die politische Autonomie Belutschistans im Dreiländereck von Iran, Pakistan und Afghanistan. Die Belutschen sind eine ethnische Minderheit in dieser Region, die sich zum sunnitischen Islam bekennt. Die Anschläge im Iran begründen die sunnitischen Aktivisten damit, ihre von den Schiiten unterdrückten Glaubensbrüder befreien zu wollen. Damit erhält der politische Konflikt um die Autonomiebestrebungen der Belutschen einen religiösen Rahmen, der auf die traditionellen Differenzen zwischen Sunniten und Schiiten verweist. Der 15. Dezember war ein wohlgewähltes Datum für den Anschlag, ist das Aschura-Fest doch der symbolische Ausdruck für die Spaltung des Islam in Sunniten und Schiiten. Es scheint, als sei der ursprünglich politische Konflikt um Mohammeds Nachfolge – nachdem er im Laufe der Jahrhunderte religiös umgedeutet und festgeschrieben wurde – auch heute wieder ein primär politischer: Die Einteilung in ‚wahre‘ und ‚falsche‘ Muslime erfolgt heute häufig nach dem potenziellen Nutzen in einem politischen Konflikt.
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Postmodernes Feindbild und aufgeklärte Islamophobie? Grenzen der Analysekategorie ‚Feindbild‘ in der Islambildforschung Tim Karis
„Islamfeindschaft in Deutschland ist kein Konstrukt, sie findet tagtäglich statt“ Thorsten Gerald Schneiders (2009: 10).
In Deutschland und an anderen Orten der Welt werden Muslime regelmäßig aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diffamiert, beleidigt und tätlich angegriffen. Dies lässt sich im Alltag beobachten, in Studien nachvollziehen, aus politischen Debatten heraushören und in den Massenmedien erkennen. Es ist ein Verdienst Schneiders’ und anderer Autoren, auf entsprechende Missstände hingewiesen und damit zu einer Versachlichung der Debatte im Sinne des sozialen Friedens beigetragen zu haben. Insofern soll in diesem Artikel keineswegs bestritten werden, dass Islamfeindschaft ein in der Gesellschaft beobachtbares Phänomen darstellt.1 Vielmehr geht es mir darum, den Begriff ‚Islamfeindschaft‘ bzw. den in der Islambildforschung häufiger verwendeten Terminus ‚Feindbild Islam‘ als analytische Kategorie kritisch unter die Lupe zu nehmen.2 Als Islambildforschung bezeichne ich dabei denjenigen Forschungszweig, in dem massenmediale Darstellungen des Islams untersucht werden. Diskutiert werden soll, wozu die Kategorie ‚Feindbild‘ diese Forschung einerseits in ihren Interpretationen befähigt und welche Phänomene zu beschreiben sie andererseits nicht in der Lage ist. Ziel der Darstellung ist es, zu einer Vertiefung der theoretischen Grundlagen der Forschung beizutragen und neue Fragestellungen zu entwickeln. 1 Noch weniger soll hier in den Chor derjenigen eingestimmt werden, die in den notwen-
digen Hinweisen auf in der Gesellschaft verbreitete Islamfeindschaft eine überambitionierte ‚politische Korrektheit‘ und eine Gefahr für die kritische Rede zu entdecken glauben. Diese sich gegen vermeintliches ‚Gutmenschentum‘ richtende Perspektive ist auch Grundlage der Polemiken der islamfeindlichen Website Politically Incorrect und der ebenso abenteuerlichen wie beleidigenden Ausführungen des ehemaligen Berliner Finanzsenators Thilo Sarrazin (Deutschland schafft sich ab!) und seiner Apologeten, von denen sich der Verfasser ausdrücklich distanziert. 2 Die Tauglichkeit der Kategorie in Bezug auf andere Gegenstände wird damit nicht in Ab rede gestellt.
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Meine These lautet, dass die Verwendung der Analysekategorie ‚Feindbild‘ die Islambildforschung derzeit eher blockiert als voranbringt. Die Gründe dafür liegen erstens darin, dass der Begriff ‚Feindbild‘ eine Eindeutigkeit und Eindimensionalität der empirischen Befunde impliziert, die sich in aller Regel im Untersuchungsmaterial nicht finden lässt. Die medialen Darstellungen sind vielmehr von Ambivalenzen und Brüchen geprägt und zudem hochgradig selbstreflexiv. Statt den Feindbild-Begriff aufgrund dieser Befunde aufzugeben, sind in der Islambildforschung verschiedentlich Modifikationen des Begriffs wie ‚postmodernes Feindbild‘ oder auch ‚aufgeklärte Islamophobie‘ vorgeschlagen worden, die allerdings wenig zu einem tieferen Verständnis des Phänomens beitragen, sondern eher einer Flucht in die Paradoxie gleichkommen. Das zweite hier vorzutragende Argument gegen die Verwendung des Feindbild-Begriffs in der Islambildforschung ergibt sich aus theoretischen Überlegungen: Die Verwendung des Begriffs setzt ein essentialistisches Medienverständnis voraus und führt geradewegs in dichotome Analyseanlagen, in denen einer Entität ‚Islam‘ eine Entität ‚Westen‘ gegenübergestellt wird. Die Grenzziehung Islam/Westen wird dadurch, so meine These, weiter zementiert und nicht im Sinne der kritischen Stoßrichtung der Islambildforschung infrage gestellt. Aufgrund dieser Einwände werde ich dafür plädieren, den FeindbildBegriff in der Islambildforschung aufzugeben. Abschließend werde ich kurz einen Vorschlag skizzieren, unter welchen theoretischen Prämissen und mit welchen Fragestellungen die Islambildforschung künftig weiterarbeiten könnte, ohne ihr kritisches Potential aufzugeben.
Die Kategorie ‚Feindbild Islam‘ in der Islambildforschung Am Beginn der Überlegungen steht ein Abgrenzungsproblem: Welche Studien können dem Forschungsfeld der Islambildforschung überhaupt zugerechnet werden? Die Unübersichtlichkeit des Feldes rührt erstens daher, dass die Auseinandersetzung mit medialen Islamdarstellungen in sehr vielen Disziplinen stattfindet.3 So finden sich neben Studien aus Kommunikationsund Medienwissenschaft auch Studien aus Islam- und Politikwissenschaft 3 Daneben existiert eine Vielzahl von Studien, die sich mit Islamfeindlichkeit außerhalb der
Massenmedien befassen, beispielsweise Untersuchungen zur Islamfeindlichkeit politischer Parteien (vgl. zur CDU/CSU Shakush 2009) oder zur Islamfeindlichkeit der christlichen Kirchen (vgl. zur katholischen Kirche Paul 2009 sowie zur evangelischen Kirche Just 2009). Flankiert werden diese Untersuchungen von Beiträgen aus der Geschichtswissenschaft, in denen aktuelle Konflikte zum Anlass genommen werden, die Geschichte der Beziehung zwischen ‚Westen‘ und ‚Islam‘ nachzuzeichnen (vgl. exemplarisch Cardini 2004).
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sowie aus Soziologie und Psychologie. Zweitens findet Islambildforschung nicht nur in Deutschland und in Bezug auf deutsche Medien, sondern auch international statt. Drittens ist fraglich, was überhaupt unter einer medialen Islamdarstellung verstanden werden soll. Sind damit nur solche medialen Aussagen gemeint, die unmittelbar ein Phänomen namens ‚Islam‘ charakterisieren, also Aussagen wie ‚der Islam ist nicht demokratiefähig‘? Oder wird im Sinne eines pars-pro-toto-Effekts angenommen, dass Aussagen über die Handlungen einzelner Muslime oder die Situation in einzelnen, mehrheitlich von Muslimen bevölkerten Ländern Auswirkungen auf das allgemeine Islambild der Rezipienten haben? Ganz offenkundig stellt Letzteres die forschungsleitende Annahme einer großen Zahl von Studien dar, seien dies Studien zur Darstellung der Frau im Islam,4 Studien zur Darstellung mehrheitlich von Muslimen bevölkerter Länder5 oder Studien zu einzelnen Konfliktereignissen und deren Protagonisten.6 Im Umkehrschluss ist damit die Annahme impliziert, dass aus Medienaussagen über einzelne Muslime oder einzelne, auf irgendeine Weise mit dem Islam in Verbindung gebrachte Ereignisse ein allgemeines, mediales Islambild abzulesen sei. Alle Studien, die von dieser Annahme ausgehen, lassen sich unter dem Label ‚Islambildforschung‘ zusammenfassen. Das Kernanliegen der Islambildforschung ist die Kritik der medialen Darstellung des Islams. Diese Kritik kann dabei von sehr unterschiedlicher Reichweite sein. Auf einer basalen Ebene finden sich beispielsweise kritische Hinweise auf in der Berichterstattung falsch verwendete Termini. Die Islamwissenschaft ist diejenige Disziplin, die aus ihrer Expertise bezüglich des Gegenstands heraus besonders häufig auf Ungenauigkeiten und Fehler in der Sprache der Journalisten hingewiesen hat. So werde beispielsweise der arabische Begriff für ein religiöses Rechtsgutachten (fatwa) häufig mit ‚Todesurteil‘ übersetzt, weil der Begriff in den westlichen Medien erstmals 4 Den Studien gemein ist häufig das Ergebnis, muslimische Frauen würden in den westli-
chen Medien als „Opfer und Objekt der Unterdrückung religiös-patriarchalischer Gesellschaftsformen betrachtet“ (Hafez 2002a: 19; vgl. auch Schiffer 2005: 82; Röben/Wilß 1996; Schröttle 2009). 5 Als am besten erforscht gelten die Nahost-Region und der Irak (vgl. Hafez 2002a: 13). Daneben fokussieren Länderstudien häufig die Türkei (vgl. z. B. Gür 1998). Auch die Inlandsberichterstattung über türkische Migranten war Gegenstand der Forschung (vgl. Gökce 1988). 6 So wurde beispielsweise im Zusammenhang mit der Berichterstattung über die Golfkrise 1990/91 in deutschen Zeitungen eine Feindbildkonstruktion in Bezug auf die Person Saddam Husseins konstatiert (vgl. Ohde 1994). Auch bezüglich des Irak-Kriegs von 2003 existiert eine entsprechende Untersuchung, im Rahmen derer ein Übergang von einem nach dem 11. September 2001 entstandenen ‚Feindbild bin Laden‘ zu einem ‚Feindbild Saddam Hussein‘ identifiziert wird. In dieser Studie wird der Irak-Krieg als ein Konflikt beschrieben, der ohne intensive, politisch inszenierte Feindbildkonstruktion nicht hätte stattfinden können (vgl. Kleinsteuber 2003: 233).
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1989 im Zusammenhang mit der durch Ayatollah Chomeini im Rahmen einer fatwa ausgesprochenen Verurteilung Salman Rushdies bekannt wurde (vgl. Schiffer 2005: 125).7 Die Kritik am medialen Islambild reicht jedoch wesentlich weiter und kulminiert in dem Vorwurf, Journalisten rekurrierten in ihren Berichten und Kommentaren auf ein Set von Stereotypen und Vorurteilen gegenüber dem Islam. Dazu zählten die Annahme einer inhärenten Gewaltbereitschaft des Islams, die Annahme der Rückständigkeit der islamischen Kultur gegenüber der westlichen, die Annahme einer Unterdrückung der Frau in islamischen Gesellschaften sowie die Wahrnehmung des Islams als monolithischer Block. Diese Vorurteile gelten in der Forschung als historisch tradiert. Das aktuelle Islambild habe demnach eine „historische Tiefendimension […], die auch dann unsere Wahrnehmung steuert, wenn sie nicht mehr bewusst ist“ (Naumann 2009: 19).8 Der Begriff ‚Feindbild Islam‘ ist eine in der Islambildforschung verwendete Sammelbezeichnung für dieses Set von historisch tradierten, negativen Vorstellungen vom und Einstellungen zum Islam (vgl. exemplarisch Hippler/Lueg 2002). Welche Vorurteile und Stereotype konkret als zum ‚Feindbild Islam‘ zugehörig definiert werden, schwankt dabei von Studie zu Studie. Auch wird der Begriff nicht in allen Studien – oder lediglich kursorisch – verwendet. Dennoch hat eine Vielzahl von Studien Versuche zum Inhalt, ein ‚Feindbild Islam‘ bzw. die Stereotype und Vorurteile, aus denen es besteht, in der Berichterstattung nachzuweisen. Dabei wird das Vorhandensein des Feindbildes nicht nur dort angenommen, wo Vorurteile explizit verbalisiert werden, etwa wenn offen davon gesprochen wird, der Islam sei per se eine aggressive Religion. Vielmehr zeige sich das Feindbild auch in der Rhetorik der Journalisten, also in den verwendeten Sprachbildern und Metaphern (vgl. z. B. Bernard/Gronauer/Kuczera 1994; Wagner 2009). Ferner führe die Existenz des Feindbildes dazu, dass der Islam nur in solchen Zusammenhängen in den Medien gezeigt werde, die dem Feindbild entsprä7 Ein Überblick über falsch verstandene oder falsch übersetzte Begriffe findet sich bei Sa-
mir Aly (2002: 745ff.).
8 So findet sich in der Forschung eine Reihe von Darstellungen, in denen aktuelle Islamvor-
stellungen mit historischen Islambildern verglichen und auf diese zurückgeführt werden. Genannt wird beispielsweise der Diskurs um die ‚Türkenfrage‘ in der Frühen Neuzeit (vgl. Höfert 2009). Naumann blickt noch weiter zurück und verweist auf frühe theologische Differenzen: „Das bis heute unterschwellig wirksame Bild, das sich ein erschrecktes Abendland bereits im 7. und 8. Jahrhundert vom Islam und von den Arabern bildete, arbeitet sich an der Gestalt Ismaels ab und tröstet sich mit Paulus, wonach der Sohn der Sklavin Hagar und eben deshalb auch dessen islamische Nachfahren keinen Anteil am Gotteserbe habe“ (Naumann 2009: 22). Aly sieht die Wurzeln des ‚Feindbilds Islam‘ gar in einem Araber-Feindbild aus vorislamischer Zeit (vgl. Aly 2002: 133–272) und bezeichnet es als „uralte[s] Missverständnis“ (Aly 2002: 5).
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chen, d. h. vom Islam und Muslimen werde überhaupt nur dann berichtet, wenn es um Gewalt, Demokratiedefizite oder Frauenunterdrückung gehe (vgl. Hafez 2002b: 221). Als Ausweis des ‚Feindbildes Islam‘ gelten also erstens die Sprache der Berichterstattung und zweitens ihr sehr eingeschränktes Themenspektrum. In ihrer Frühphase hat die Islambildforschung sich primär auf den erstgenannten Aspekt konzentriert und in vielen Einzelstudien Hinweise auf ein ‚Feindbild Islam‘ in der Sprache der Medien identifiziert. Zu Beginn konzentrierte sich die Forschung auf einzelne Journalisten, wie etwa die Nahost-Korrespondenten Peter Scholl-Latour und Gerhard Konzelmann, und kritisierte deren zum Teil martialische Rhetorik (vgl. Klemm/Hörner 1993). Später blickte man vermehrt auf die Sprachverwendung in der Berichterstattung eines Mediums insgesamt, d. h. Adressaten der Kritik waren nun nicht mehr einzelne Journalisten, sondern ganze Redaktionen (vgl. z. B. Thofern 1998 zum Islambild in Der Spiegel).9 In der aktuellen Phase der Islambildforschung steht das Themenspektrum der Berichterstattung im Mittelpunkt der Betrachtung. Mehr und mehr hat sich in der Forschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass die mediale Darstellung den Islam auch dann in ein negatives Licht rücken kann, wenn die dargebrachten Informationen und Aussagen nach Auffassung der Forscher sprachlich unproblematisch und möglicherweise sogar sachlich korrekt waren.10 Man stellte fest, dass nicht allein die islamophobe Rhetorik der Medien kritikwürdig war, sondern erkannte ein implizites Aufscheinen des Feindbildes in der medialen Kopplung des Islams mit ‚negativen‘ Themen wie beispielsweise Gewaltereignissen: „Durch die Kopplung des Gewaltaspekts mit dem Islam [erzeugt] die deutsche Presse das Bild inhärenter 9 Die Islambildforschung hat sich lange Zeit fast ausschließlich mit Printmedien beschäf-
tigt, seien es Tageszeitungen (vgl. z. B. Aly 2002), Nachrichtenmagazine (vgl. z. B. Thofern 1998) oder eine Frauenzeitschrift (vgl. Amanuel 1996). Audiovisuelle Medien blieben also zunächst außerhalb der Betrachtung. Untersuchungen zur Islamdarstellung im Hörfunk fehlen bis heute vollständig. Inzwischen gibt es vereinzelt Studien zur Fernsehberichterstattung. Zu nennen sind die Studie von Kai Hafez und Carola Richter (2008) zum Islambild von ARD und ZDF sowie die Studie von Susan Schenk (2009), in der die Berichterstattung deutscher und arabischer Medien verglichen wird. Seit kurzem sind auch vermehrt Islamdarstellungen im Internet Gegenstand der Betrachtung, insbesondere die offen islamfeindliche Internetseite Politically Incorrect (vgl. Schiffer 2009). 10 Dieser Perspektivwechsel setzte sich mit der verstärkten Aktivität der Kommunikationswissenschaft im Forschungsfeld durch und gründet auf der Tradition der Nachrichtenwertforschung. Daneben erfolgte durch das Engagement der Kommunikationswissenschaft eine Empirisierung oder Methodisierung (zumeist im Sinne einer Quantifizierung) der Forschung, die zuvor von Einzelfallanalysen geprägt gewesen war. Hafez erhob 2002 in einer Langzeitstudie erstmals Basisdaten zum medialen Islambild. Wichtige Beiträge zur Grundlagenforschung finden sich daneben auch in der Studie von Aly (2002). Ein zentrales Ergebnis beider Arbeiten besteht in dem empirischen Nachweis einer erheblichen Zunahme im Umfang der Berichterstattung seit den 1970er Jahren.
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islamischer Gewaltbereitschaft“ (Hafez 2002b: 221). Eines der wichtigsten Ergebnisse der jüngeren Islambildforschung lautet, dass der Islam denjenigen Gegenstand der Auslandsberichterstattung darstellt, der den höchsten Belastungen durch „negative Ereignisvalenzen“ (Hafez 2002a: 122) ausgesetzt sei.11 Das heißt mit anderen Worten: Nichts in den Medien wird negativer dargestellt als der Islam. Diese Forschungsergebnisse sollen hier nicht in Zweifel gezogen werden. Auch die Berechtigung der daraus abgeleiteten Medienkritik seitens der Islambildforschung wird nicht in Abrede gestellt. Wenn auch ein Rückgang islamfeindlicher Tendenzen in Deutschland nicht zu verzeichnen ist,12 so kann doch als wahrscheinlich gelten, dass die Islambildforschung zur Entstehung eines kritischen Bewusstseins in Wissenschaft und Öffentlichkeit in Bezug auf mediale Islamdarstellungen beigetragen hat. Dies äußert sich beispielsweise darin, dass heute Podiumsdiskussionen stattfinden, in denen Jugendliche darauf hingewiesen werden, dass ihre Islambilder medial vermittelt sind (vgl. Hafez 2009: 100). Ebenso begrüßenswert ist, dass der Einsatz für eine „differenzierte Medienberichterstattung“ zu den Zielen der Deutschen Islam-Konferenz zählt (Deutsche Islam-Konferenz 2008: 2). Diskussionswürdig ist hingegen, inwieweit die Verwendung des Feindbild-Begriffs in der sozialwissenschaftlichen Forschung eine präzise Beschreibung und ein abstraktes Verständnis des Phänomens ermöglicht. Dabei stellt sich erstens die Frage, ob der Begriff ‚Feindbild‘ in Anbetracht der empirischen Befunde der Islambildforschung glücklich gewählt ist. Gegen die Begriffsverwendung könnte sprechen, dass gerade in jüngeren Studien die Islamdarstellung als eher heterogen ausgewiesen und Brüche und Ambiguitäten in der Berichterstattung beobachtet werden. Der Feindbild-Begriff hingegen suggeriert eindeutige und eindimensionale Befunde und kann derartige Inkonsistenzen nicht abbilden. Zweitens ist aus einer theoretischen Perspektive einzuwenden, dass die Verwendung der Kategorie ‚Feindbild‘ eine dichotome Analyseanlage nahelegt, die sich für die kritische Stoßrichtung der Islambildforschung als kontraproduktiv erweist.
11 In einer jüngeren Studie verfolgt Hafez diese Perspektive weiter. Er identifiziert 81 Pro-
zent der Thematisierungen des Islam in TV-Nachrichtenmagazinen als „konfliktorientiert“ und sieht in der negativen Darstellung des Islam die „Agenda des politischen Journalismus“ (Hafez/Richter 2008: 10; 12). 12 Beschrieben wird vielmehr eine Zunahme islamfeindlicher Einstellungen: „Die Vorstellungen der Deutschen über den Islam waren bereits in den vergangenen Jahren negativ, doch sie haben sich in der jüngsten Zeit noch einmal spürbar verdüstert“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.5.2006: 5; vgl. auch Nils Friedrichs in diesem Band).
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Einwände aus Sicht der Empirie Die Frage, ob die Kategorie ‚Feindbild Islam‘ die Befunde der Islambildforschung adäquat abbildet, ist nur abhängig davon zu beantworten, wie die Islambildforschung diesen Begriff definiert. Systematische Definitionen sind jedoch kaum vorhanden, da der Terminus ‚Feindbild Islam‘ in der Forschung als loser Sammelbegriff für verschiedene Stereotype und Vorurteile fungiert. Wenn überhaupt Definitionen genannt werden, beziehen sich diese auf den Feindbild-Begriff im Allgemeinen: „Wird in einer Gesellschaft oder einem Teil von ihr ein dichotomisches Wahrnehmungsmuster propagiert bzw. sozial vermittelt, das nur noch negative Einstellungen gegenüber einer anderen Gruppe akzeptabel erscheinen läßt, kann man von einem ‚Feindbild‘ sprechen“ (Weller 2002: 49; Hervorh. von T. K.).
Vorausgesetzt wird hier – und in vielen weiteren Definitionen des Feindbild-Begriffs – eine ausschließlich negative Darstellung. Dass eine solche in der medialen Islamdarstellung im Ganzen nicht gegeben ist, ist offenkundig und wird auch in der Forschung nicht bestritten. Aus dieser Diskrepanz zwischen Definition und Befund wird jedoch so gut wie nie die Konsequenz gezogen, das Vorhandensein eines ‚Feindbildes Islam‘ in den Medien gänzlich zu bestreiten.13 Vielmehr wird die Uneindeutigkeit der Befunde entweder schlichtweg ignoriert, oder es finden sich Bemühungen, den Widerspruch begrifflich aufzulösen. Im Sinne der erstgenannten Strategie wird beispielsweise in einer Studie von Susan Schenk die vorgefundene Heterogenität der Islamdarstellung zwar konstatiert, aber nicht interpretiert (vgl. Schenk 2009: 123). All jene Aussagen im Material, die nicht dem ‚Feindbild Islam‘ entsprechen, werden als (erfreuliche) Ausnahmen von der Regel betrachtet, aber nicht systematisch untersucht. In anderen Studien wird das Fazit gezogen, ein Feindbild sei zwar vorhanden, aber nicht voll ausgeprägt (vgl. z. B. Hafez 2009: 100). Den Versuch einer begrifflichen Auflösung des Problems unternehmen Thomas Kliche, Suzanne Adams und Helge Jannik, die für die Einordnung der medialen Islamdarstellung den Begriff ‚postmodernes Feindbild‘ vorschlagen. Das Feindbild, so die AutorInnen, habe sich pluralisiert, vieles werde als gleichzeitig und widersprüchlich wahrgenommen. Entsprechend „flirren [die Register] und wechseln und relativieren sich gegenseitig“ (Kliche/Adams/Jannik 1997: 20). Es sei daher ausgeschlossen, die klassische Feindbildthese als Erklärungsmuster für die Interpretation
13 Eine Ausnahme bildet die Studie von Anne Hoffmann (2004), in der die Autorin den
Feindbild-Begriff aufgrund ihrer empirischen Ergebnisse aufgibt.
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der medialen Islamdarstellungen aufrechtzuerhalten. Außerdem werfen die AutorInnen die bedenkenswerte Frage auf, warum, „wenn wir es mit einem Stereotyp zu tun haben […], ein solcher Aufwand zu seiner Inszenierung betrieben und die mythologische Aufladung der Mittlerbegriffe (Islamismus, Fundamentalismus, Terrorismus usf. […]) aufwendig vorgeführt wird – etwa durch die Verkopplung von Religion und Gewalt also nicht selbstverständlich scheint“ (Kliche/Adams/Jannik 1997: 18).
Würde tatsächlich ein Feindbild vorherrschen, so die AutorInnen, wäre seine andauernde Thematisierung hochgradig redundant. Dass in großem Umfang Islamberichterstattung stattfinde, verweise in dieser Perspektive also eher auf soziale Unklarheiten und Ambiguitäten als auf etwas so Eindimensionales wie ein Feindbild. Die Ambivalenzen in der Berichterstattung erscheinen den Autoren als Symptome einer von Kontingenzerfahrung geprägten Wirklichkeitskonstruktion und die Medienberichte selbst als „verzweifelte Versuch[e], die Eindeutigkeit der Orientierung zu heilen, die Unverbrüchlichkeit des Fortschritts zu reparieren“ (Kliche/Adams/Jannik 1997: 20). Um diese Vielschichtigkeit der medialen Darstellung abbilden zu können, schlagen Kliche, Adams und Jannik vor, von einem ‚postmodernen Feindbild‘ zu sprechen. Der Begriff ist zwar nicht ganz uncharmant, weil in ihm die Ambivalenz, die er bezeichnen will, schon auf der Bezeichnungsebene zum Ausdruck kommt. Damit, so könnte man argumentieren, würde der Begriff ‚Feindbild‘ schon durch sein Präfix ‚postmodern‘ im Forschungsprozess permanent infrage gestellt. Trotz dieser möglichen Vorzüge des Vorschlags von Kliche, Adams und Jannik überwiegt meines Erachtens jedoch der Einwand, dass die Verwendung eines so eindeutig besetzten Begriffs wie den des Feindbildes – sei es auch mit einer relativierenden Attribuierung – letztlich zu Missverständnissen führen muss und damit auch dem Gegenstand nicht mehr gerecht wird.14 Ähnlich verhält es sich im Übrigen mit dem Terminus ‚aufgeklärte Islamophobie‘, den Kai Hafez ins Spiel gebracht hat (Hafez 2002b: 225; Hafez 2009: 100). Durch die Verwendung dieses Begriffs liefe man sogar Gefahr, die Islamophobie als vermeintlich aufgeklärtes Phänomen ungewollt salonfähig zu machen – was Hafez zweifellos fernliegt. 14 Ergänzend ließe sich gegen den Ansatz von Kliche, Adams und Jannik vorbringen, dass
die AutorInnen eine Retrofiktion aufbauen: Sie gehen davon aus, dass zwar im aktuellen Diskurs (der Postmoderne) kein klassisches Feindbild mehr existiert, dass dies jedoch zu einem früheren Zeitpunkt der Fall gewesen ist. Ihre Diagnose, dass „die Zeiten klar denotierter, eindeutiger, konsistenter und kontinuierlicher sozialer Kategorisierung“ (Kliche/ Adams/Jannik 1997: 21) vorbei sein könnten, setzt dieses voraus, harrt jedoch bezogen auf die mediale Islamdarstellung einer empirischen Überprüfung.
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Einwände aus Sicht der Theorie Damit sind die Einwände gegen den Feindbild-Begriff vorgebracht, die sich aus den empirischen Befunden ergeben. Daneben ist jedoch auch auf einige theoretische Implikationen hinzuweisen, die es noch dringlicher machen, den Feindbild-Begriff in der Islambildforschung aufzugeben. Das Problem besteht zum einen im essentialistischen Medienverständnis der Islambildforschung und zum anderen in der dichotomen Analyseanlage, welche die Forschung sich durch die Verwendung des Feindbild-Begriffs einhandelt. In der Islambildforschung wird, wie dargestellt, die These vertreten, dass der Islam besonders häufig in negativen Zusammenhängen wie Gewalt, Unterdrückung und Krieg Gegenstand der Berichterstattung wird. Problematisch seien diese Negativ-Berichte, so argumentiert beispielsweise Hafez, vor allem aufgrund des Ausbleibens positiver und neutraler Berichterstattung, die relativierend wirkend könne (vgl. Hafez 2009: 105). Unklar bleibt in dieser Argumentation, wie ein ‚ausgewogenes‘ Verhältnis zwischen Negativ- und Positivdarstellung auszusehen hätte. Erfordert jeder Beitrag über islamistischen Terrorismus eine anschließende Relativierung durch die Schilderung einer friedlichen muslimischen Religionsausübung? Oder nur jeder zweite? Auch Sabine Schiffer spricht eher unkonkret von „differenzierenden Sendungen“ (Schiffer 2007: 186) und vertritt die Auffassung, man müsse in den Medien „nur alle Menschen einfach vorkommen lassen“, womit „nur der Realität Tribut gezollt“ (Schiffer 2007: 198) würde.15 Offenkundig ist es ausgeschlossen, im wörtlichen Sinne alle Menschen in den Medien vorkommen zu lassen – was auch Schiffer sicher nicht bestreiten würde. Es geht mir hier jedoch nicht um Spitzfindigkeiten, sondern um ein grundsätzliches Problem der Islambildforschung, das an diesem Punkt erkennbar wird: Ihr Maßstab dafür, wie die Medien über den Islam berichten sollen, ist ‚die Realität‘. 15 Schiffers Forderung verwundert insofern, als die Autorin selbst in ihrer Studie zum me-
dialen Islambild wichtige Hinweise darauf gegeben hat, dass auch vermeintlich neutrale Darstellungen des Islam sich als problematisch erweisen können. Schiffer stellt fest, dass die Kopplung von Islam mit negativen Themen wie Gewalt und Terrorismus sehr häufig über die Verbindung von visuellen Elementen mit Textelementen funktioniert. Symbole, die traditionell in einem neutralen Sinne für den Islam standen – wie beispielsweise der Halbmond – würden häufig in Zusammenhang mit Berichten über Islamismus und Terrorismus verwendet. Damit werde das Halbmond-Symbol in der Wahrnehmung der Zuschauer zu einem Symbol für Terrorismus, „womit dann allerdings zur Symbolisierung des Islams kein Motiv mehr übrig bleibt“ (Schiffer 2005: 74). Schon die Nennung des Begriffs ‚Islam‘ sei, so Schiffer, keineswegs ein ‚neutraler‘ Vorgang: „Da der ISLAM seit Jahren immer wieder als rückständig dargestellt wird, können wir davon ausgehen, dass die Nomination desselben bereits das Konzept RÜCKSTÄNDIGKEIT impliziert“ (Schiffer 2005: 156; Hervorh. i. Orig.).
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Zwar wird regelmäßig bekundet, dass es „objektive Berichterstattung nicht geben [kann]“ (Schiffer 2007: 168) bzw. dass es „sicher keine Generalformel zur Abbildung der Realität in den Medien“ (Hafez/Richter 2008: 14) gebe. Doch wird es stets als Aufgabe der Medien verstanden, Realität so naturgetreu wie möglich abzubilden. Dieser Gedanke ist in Bezug auf terminologische Ungenauigkeiten ebenso virulent wie in Zusammenhang mit dem als unzureichend beschriebenen Themenspektrum. Stets besteht der Kern der Kritik in dem Vorwurf der Inkorrektheit oder Unvollständigkeit. Wenn es also objektive Berichterstattung nicht geben kann, so der Tenor der Forschung, dann doch sicher objektivere. Hafez geht explizit von der „intersubjektiven Überprüfbarkeit eines Realitätsentwurfs“ (Hafez 2002a: 16) aus, womit er einen dritten Weg zwischen Essentialismus und Konstruktivismus beschreiten will, jedoch letztlich in den Bahnen des Essentialismus verbleibt. Denn, so würde man aus konstruktivistischer Sicht einwenden, „um zu klären, ob eine Teilerkenntnis des Absoluten und eine Annäherung an die Wahrheit geglückt ist, muss man doch diese Teilerkenntnis mit der Wahrheit selbst vergleichen“ (Pörksen 2004: 339f.). Schuld an der nicht adäquaten Abbildung der Wirklichkeit sei, so die in der Forschung verbreitete Annahme, die fehlende Sachkenntnis der Journalisten (vgl. z. B. Hafez 2009: 111). Schon 1993 klagte der Islamwissenschaftler Akbar S. Ahmed in einem Interview: „Anyone who can make a documentary or spends an hour shooting Muslim groups suddenly becomes an authority, becomes a media expert on Islam“ (Schlesinger 1993: 38). Auch wenn eine solche Kritik im Einzelfall ihre Berechtigung haben mag, so übersieht die Islambildforschung hier doch einen grundsätzlichen Mechanismus der Massenmedien: den Zwang zur Selektion. „Fernsehen kann […] nicht umfassend genau sein – nicht weil Journalistinnen und Journalisten ‚voreingenommen‘ sind [und man darf ergänzen: auch nicht weil sie unwissend sind], sondern weil es objektiv unmöglich ist. Sie müssen die Welt repräsentieren“ (Hall 2001: 354).
Salopp gesprochen: Selbst der kenntnisreichste Islambildforscher müsste mit Vereinfachungen agieren, wollte er einen Sachverhalt in 3:30 Minuten verständlich machen. Auch Islambildforscher können nicht für sich beanspruchen, den Islam in seiner ganzen Vielfalt und in einem absoluten Sinne vollständig zu überblicken. Und auch Islambildforscher könnten nicht objektiv sagen, was erstens wahr und zweitens von solch öffentlicher Relevanz ist, dass gerade dies (und nicht etwas anderes) Gegenstand medialer Betrachtung werden muss. Jede Aussage über den Islam ist also Ergebnis einer Selektionsentscheidung, die prinzipiell nach ihrer Referenz befragt werden kann: Warum erscheint eine bestimmte Aussage über den Islam und 182
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keine andere?16 Die Islambildforschung kann sich also bei ihren Forderungen nach einer anderen Darstellung des Islams in den Medien nicht einfach auf ‚die Realität‘ berufen, sondern muss kenntlich machen, nach welchen Kriterien Selektionsentscheidungen ihrer Auffassung nach getroffen werden sollen. Dies erweitert die oben besprochene Problematik um den Punkt, dass Islambildforschung auf der Suche nach Negativ-Darstellungen des Islams auch immer sichtbar machen muss, was überhaupt unter einer Positiv-Darstellung zu verstehen sein soll. Kai Hafez und Carola Richter haben in ihrer Studie von 2008 einige, in diesem Zusammenhang erhellende Beispiele für Positiv-Darstellungen im Sinne einer „neue[n] Ausgewogenheit“ (Hafez/Richter 2008: 11) benannt. Das sind „Themen wie: weibliche Fußballfans im Iran; erster Muslim im amerikanischen Kongress oder Aufklärungsshows in Ägypten“ (Hafez/ Richter 2008: 12). Problematisch an diesen Beispielen ist, dass hier solche Topoi der Berichterstattung als positiv gelten, die nach gängigem Verständnis mit dem Westen assoziiert werden: Gleichberechtigung der Geschlechter, Trennung von Religion und Politik und sexuelle Aufklärung. Nach diesem Muster erschiene der Islam also immer dann als positiv, wenn er westlichen Selbstbildern besonders nahekommt, womit die Perspektive auf den Islam eurozentrisch bliebe. Anders gesagt taugen die genannten Beispiele nur deshalb als Bestandteil einer Nachrichtensendung, weil sie gängigen Vorstellungen über den Islam und Muslime zuwiderlaufen. Weibliche Fußballfans in Österreich wären sicherlich kaum einen Beitrag wert gewesen. Damit wird ein stereotypes Islambild letztlich mehr bestätigt als revidiert, denn Anlass der Berichterstattung sind jeweils Muslime, die von einem Muster abweichen, das schon allein durch die sichtbar gemachte Abweichung wieder aufgerufen ist. Mit der Verwendung des Begriffs ‚Feindbild Islam‘ und einer darauf bezogenen Unterscheidung zwischen ‚negativen‘ und ‚positiven‘ Darstellungen des Islams vollzieht die Forschung folglich eine Grenzziehung zwischen Westen und Islams, hinter die sie in der Interpretation ihrer Befunde nicht mehr zurückkommt. Um dies noch einmal zu verdeutlichen, wird nun eine einzelne Studie aus dem Forschungsfeld etwas ausführlicher diskutiert, in der sich die geschilderte Problematik unmittelbar widerspiegelt. In ihrer Studie Civilization vs. Barbarism (2007) geht die Soziologin Romy Wöhlert der Frage nach, was die Funktion des ‚Feindbildes Islam‘ ist. Ihre Antwort lautet kurz gefasst: Das ‚Feindbild Islam‘ dient der westlichen Identitätsstiftung. Diese 16 Die gewählte Formulierung verweist auf die Frage Michel Foucaults: „Wie kommt es,
dass eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere an ihrer Stelle?“ (Foucault 1973: 42). Die Diskurstheorie Foucaults stellt, wie unten gezeigt wird, einige Konzepte bereit, die in der Islambildforschung gewinnbringend eingesetzt werden können.
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Position ist in der Islambildforschung durchaus verbreitet, wurde jedoch durch Wöhlert erstmals auf eine empirische Grundlage gestellt.17 Wöhlert geht davon aus, dass der Islam in den Medien als Other konzipiert und ins Verhältnis zu einem Self (dem Westen) gesetzt wird: „Thus, at the same time as we talk about the uncivilized, barbaric, and evil Other, we also learn something about ourselves. The question that arises from that diagnosis is whether we actually learn more about our own image and self-perception than about the ‘real’ image of Arabs and Muslims?“ (Wöhlert 2007: 3).
Die Negativ-Darstellung des Other, so Wöhlert, diene der Positiv-Darstellung, Selbstvergewisserung und Stabilisierung des Eigenen. Um dies zu belegen, untersucht Wöhlert in ihrer Studie auch – ein weiteres Novum im Forschungsfeld – die mediale Darstellung des Westens. Dabei geht sie davon aus, dass im Rahmen der medialen Islam-Darstellung regelmäßig auf ein Set von westlichen Normen und Werten rekurriert wird, gleichsam als Gegenentwurf zum Islambild. Im Ergebnis wird diese These bestätigt. Jedoch stellt Wöhlert fest, dass nicht nur westliche, sondern mitunter auch muslimische Akteure mit diesem westlichen „cultural pattern“ (Wöhlert 2007: 253) assoziiert werden. Das Bild der Muslime sei folglich, trotz mehrheitlich negativer Assoziationen, „by no means only shaped by negative features and does not result in an image of […] Muslims that form the complete opposite to the Western self-perception“ (Wöhlert 2007: 263). Identitätskonstruktion müsse folglich als ein multidimensionaler und dynamischer Prozess verstanden werden (vgl. Wöhlert 2007: 266). Dieses sehr ambivalente Fazit zeugt davon, dass Wöhlerts Begrifflichkeiten nicht ausreichen, um die Heterogenität der medialen Darstellung und das vermeintlich dahinterstehende dichotome Grundmuster gleichzeitig zu erfassen. Dies wird an einigen Formulierungen Wöhlerts deutlich: „The complexity of an outgroup as well as the possible sameness of Self and Other is definitely reflected upon by the Self.“ Oder: „The Other is not solely negative and not solely constructed as different from the Self“ (Wöhlert 2007: 266; 273). Wenn das Andere aber nicht oder nicht immer anders ist als 17 Zuvor war die identitätsstiftende Funktion des ‚Feindbildes Islam‘ schlicht behauptet
(vgl. Ruf 2009: 121) oder eher beklagt worden: „Die Soziologie bemerkt dazu kühl, ohne Abgrenzung sei eine kollektive Identität nun einmal nicht zu haben“ (Jonker 2009: 271). Vertreten wird daneben regelmäßig die Auffassung, das Vorhandensein eines ‚Feindbildes Islam‘ sei mit dem Wegfall des ‚Feindbildes Kommunismus‘ im Zuge von Glasnost, Perestroika und dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu erklären: „Von einem Feindbildwechsel kann insofern gesprochen werden, als seit 1985 der Kommunismus als Feindbild entfiel. Dagegen lag in einem sogenannten fundamentalistischen Islam seit der Iranischen Revolution das Potential bereit, den Kommunismus als Feindbild abzulösen“ (Bernard/ Gronauer/Kuczera 1994: 205; kritisch zu dieser These Weller 2000: 139).
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das Selbst, inwieweit ist es dann überhaupt noch anders? Es zeigt sich, dass Wöhlert aus der sozialpsychologischen Grundposition nicht herauskommt, weil sie pauschal eine Grenze ‚Westen/Islam‘ entlang der Demarkationslinie ‚Self/Other‘ voraussetzt, die nur in Ausnahmefällen überschritten wird. Wenn Wöhlert also beschreibt, dass Self und Other sich annähern, muss sie die Unterscheidung ‚Westen/Islam‘ aufrechterhalten, um überhaupt noch etwas bezeichnen zu können. Wie Hafez kann folglich auch Wöhlert die ‚positive‘ Seite der Unterscheidung nicht bezeichnen, ohne auf den Westen zu rekurrieren. Die dichotome Anlage der Analyse, die mit der Verwendung der Feindbild-Kategorie einhergeht, erweist sich damit als kontraproduktiv für die medienkritischen Absichten der Islambildforschung: Es wird eine Grenze ‚Westen/Islam‘ zementiert, die infrage zu stellen das eigentliche Anliegen der Forschung sein sollte.
Islambildforschung ohne Feindbild-Begriff Es liegen insofern sowohl empirische als auch theoretische Argumente vor, den Terminus ‚Feindbild Islam‘ in der Islambildforschung aufzugeben. Man mag darüber spekulieren, inwieweit die genannten Probleme dazu beigetragen haben, dass derzeit eine gewisse Stagnation im Forschungsfeld festzustellen ist. Als Beispiel kann die Studie von Schenk dienen, in der die Autorin am Ende einer breit angelegten empirischen Untersuchung konstatiert: „Die Ergebnisse zum Islambild in den untersuchten internationalen Nachrichtensendern […] gehen größtenteils mit dem bisherigen Forschungsstand einher“ (Schenk 2009: 125). Zweifellos ist es notwendig, vorhandene Befunde regelmäßig durch weitere Untersuchungen zu prüfen. Dies gilt insbesondere, wenn diese – wie in der Studie von Schenk – mit Al Jazeera English erstmals auch Sender in die Analyse einschließen, der den Islam aus einer arabischen Perspektive heraus betrachtet. Jedoch zielen Untersuchungen wie diejenige Schenks fast ausschließlich in die Breite, d. h. sie führen zu einer Akkumulation von immer mehr Texten und Medienbeiträgen, deren AutorInnen eine islamfeindliche Haltung attestiert wird. Neue Fragen an das Material, die auf ein tieferes Verständnis des Phänomens zielen könnten, werden auf diese Weise nicht gestellt. Aber auch alte Fragen bleiben vielfach unbeantwortet, weil bei Schenk und anderen Autoren all diejenigen Aussagen zum Islam, die nicht in das Feindbild-Raster passen, im toten Winkel bleiben. Will man die Stagnation im Forschungsfeld aufbrechen, den empirischen Befunden der Forschung begrifflich gerecht werden und die theoretischen Probleme der Islambildforschung beheben, ist es zielführend, den 185
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Feindbild-Begriff und die damit einhergehenden Grundannahmen aufzugeben. Von dieser Überzeugung ausgehend habe ich in meiner aktuellen Forschungsarbeit eine alternative Perspektive auf den Komplex ‚Islam und Medien‘ entwickelt, die ich im Folgenden kurz skizzieren möchte.18 Ausgangspunkt meines Vorschlags ist es, den Vergleich zwischen medialem Islambild und Realität, der die Grundlage der bisherigen Islambildforschung darstellte, aufzugeben. Journalismus ist kein „Abbildungsunternehmen“ (Pörksen 2004: 342) der Realität. Eine Forschung, die mediale Darstellungen auf Basis eines Vergleichs mit der Realität kritisiert, gibt letztlich vor, welche Selektionsentscheidungen die Medien treffen sollen. Damit löst sich die Unvollständigkeit der Darstellung allerdings nicht auf, sondern verschiebt sich lediglich. Diese Verschiebung kann, sofern sie eintritt, aus einer normativen Perspektive durchaus als erfreulich bewertet werden, doch könnten auch die Selektionskriterien der Kritiker auf dieselbe Weise in Zweifel gezogen werden wie jene der Medien. Aus dieser Herangehensweise erwächst damit letztlich eine Auseinandersetzung um die ‚wahre‘ Deutung des Islams, die nicht eigentlich Gegenstand kommunikationswissenschaftlicher Forschung sein kann. Mein Gegenvorschlag nimmt Bezug auf die Diskurstheorie Michel Foucaults und den darin entwickelten Begriff der ‚Aussage‘. Kurz gefasst geht Foucault davon aus, dass eine einzelne Aussage im Diskurs ihre Bedeutung und Plausibilität aus der Gesamtheit der Aussagen im Diskurs erhält. Die Aussagen formieren eine Ordnung des diskursiv ‚Sagbaren‘, und nur gemäß dieser Ordnung können neue Aussagen überhaupt getroffen werden. Nach diesem Prinzip entstehen in den Massenmedien nach und nach soziale Wissensordnungen, die durch die Dauertätigkeit der Massenmedien fortgeschrieben und aufrechterhalten werden und insofern eine historische Dimension haben. An anderer Stelle habe ich vorgeschlagen, solche Ordnungen als ‚Mediendiskurse‘ zu bezeichnen (vgl. Karis 2010). Der Mediendiskurs ist definiert als emergente, komplexe und dynamische Wissensordnung, die sich um einen zentralen Begriff gruppiert und medialen Aussagen über das Phänomen, das mit diesem Begriff bezeichnet wird, Plausibilität verleiht. Bezogen auf den Islam besteht die Annahme also darin, dass in Jahrzehnten der Berichterstattung ein Mediendiskurs ‚Islam‘ entstanden ist, der nicht aus einer außermedialen Referenz, sondern aus sich selbst heraus seine Plausibilität und gesellschaftliche Wirksamkeit entfaltet. Um diesen Medi18 Detaillierte Ausführungen finden sich in meiner Dissertation mit dem Arbeitstitel Der
Islam des Fernsehens. Diskurse und Narrative in den Tagesthemen 1978–2010. Der Vorschlag wird darin im Rahmen einer empirischen Untersuchung auch auf seine Anwendbarkeit hin überprüft.
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Postmodernes Feindbild und aufgeklärte Islamophobie?
endiskurs ‚Islam‘ kritisieren zu können, ist es daher erforderlich, ihn nicht mit ‚der Realität‘ zu vergleichen, sondern ihn in seinem historisch kontingenten Geworden-Sein zu dekonstruieren. Die Fragestellung der Islambildforschung lautet dann nicht mehr: Was wird über den Islam ausgesagt und ist diese Aussage korrekt? Sondern: Wie ist der Mediendiskurs ‚Islam‘ entstanden und aus welchen Elementen setzt er sich zusammen? Durch diese theoretische Neuausrichtung wird es auch möglich, die Unterscheidungen ‚negativ/positiv‘ und ‚Islam/Westen‘, mit denen die Islambildforschung bislang operierte, zu hinterfragen. Zu beschreiben ist, wie solche Unterscheidungen überhaupt entstehen und nach welchen Kriterien zu einem je spezifischen historischen Zeitpunkt Grenzen gezogen werden, die es plausibel erscheinen lassen, von ‚negativer‘ oder ‚positiver‘ Darstellung bzw. von ‚Westen‘ und ‚Islam‘ zu sprechen. Die zentrale Fragestellung einer so ausgerichteten Islambildforschung könnte mithin lauten: Wie vollzieht sich die Signifikation von ‚Islam‘ als Einheit der Differenz zwischen Self und Other, zwischen ‚negativ‘ und ‚positiv‘? Auf welche Weise diese Fragestellungen für die empirische Arbeit operationalisiert werden können, kann hier nicht im Detail besprochen werden. Als wichtige Prämisse ist jedoch zu nennen, dass Mediendiskursanalysen notwendig diachrone Untersuchungen sind, in denen gegenwärtige Medienwirklichkeiten mit vergangenen Medienwirklichkeiten – und nicht mit der Realität per se – verglichen werden. Es empfiehlt sich insofern, mit dem Wechsel in der theoretischen Anlage der Islambildforschung auch den im Feld zu konstatierenden Mangel an Längsschnittstudien zu beheben. Ferner empfiehlt sich ein offenes, induktives Vorgehen, d. h. die Daten werden nicht mit einer vorab formulierten Hypothese, wie sie im Feindbild-Begriff zum Ausdruck kommt, konfrontiert, sondern Thesen werden sukzessive aus dem Material heraus entwickelt. Anhaltspunkte für ein konkretes Instrumentarium sind in der Grounded-Theory-Methodologie (vgl. Glaser/ Strauss 1967) zu finden, die sich auch für diskurstheoretisch informierte Medienanalysen nutzbar machen lässt (vgl. z. B. Viehöver 2004). Der Islambildforschung mangelt es, so könnte man die obigen Ausführungen kurz zusammenfassen, an gerade jener Ambiguitätstoleranz, die sie von den Medienschaffenden regelmäßig einfordert. Dieser Forderung kann die Forschung selbst nicht gerecht werden, solange sie mit dem FeindbildBegriff operiert. Ambiguitätstoleranz ist dabei keineswegs gleichbedeutend mit einer höheren Akzeptanz dessen, was in der Forschung als Islamfeindschaft beschrieben worden ist. Im Gegenteil: Ein tieferes theoretisches Verständnis ihres Gegenstandes kann die Islambildforschung in die Lage versetzen, den Islam der Medien noch umfassender, effektiver und präziser zu kritisieren. 187
Tim Karis
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Die Bilder der Deutschen vom Islam. Soziale Katego risierungen und die Entstehung von Feindbildern Nils Friedrichs
Im Sommer 2010 haben die provokativen Thesen aus Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab! eine kontroverse Debatte ausgelöst. Denn während die politische und gesellschaftliche Elite seine Unterstellung eines mangelnden Integrationswillens muslimischer Migranten kritisierte, erfuhr er in der Bevölkerung breite Zustimmung. So meinten 56 Prozent im ZDF Politbarometer vom 10.9.2010, Sarrazin habe mit seinen Thesen recht (vgl. ZDF Politbarometer vom 10.9.2010). Dies muss bedenklich stimmen, wenn man sich vor Augen führt, dass in Sarrazins Buch nicht bloß Kritik am Islam geübt wird. Es ist vielmehr vom „wachsenden Einfluss islamischer Glaubensrichtungen mit autoritären, vormodernen, auch antidemokratischen Tendenzen“ die Rede, die „eine direkte Bedrohung unseres Lebensstils darstellen“ (Sarrazin 2010: 266). Diese Formulierungen wirken jedoch noch fast harmlos, wenn einige Seiten weiter zu lesen ist, „dass sich der Islam in der großen Mehrheit seiner Strömungen der Aufklärung verweigert“. Deswegen könne „er nicht gedacht werden ohne Islamismus und Terrorismus, auch wenn 95 Prozent der Muslime friedliebend sind“ (Sarrazin 2010: 277). Auf Basis solcher Äußerungen kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass der Autor ein Feindbild ‚Islam‘ konstruiert. Dennoch scheint eine große Zahl der Deutschen diese Aussagen nicht nur zu tolerieren, sondern auch zu teilen. Muss angesichts dieser hohen Zustimmung zu Sarrazins Thesen angenommen werden, dass sich in Deutschland ein gesellschaftlich geteiltes Feindbild ‚Islam‘ entwickelt hat? Im vorliegenden Aufsatz soll dieser Frage nachgegangen werden, indem Assoziationen der deutschen Bevölkerung mit dem Islam untersucht werden. Wird der Islam nur mit negativen Eigenschaften verbunden, oder gibt es doch eine gewisse Ambivalenz in seiner Wahrnehmung? Wie entstehen solche (extremen) Bilder von einer Gruppe? Mithilfe sozialpsychologischer Theorien zu Intergruppenkonflikten werden Prozesse der Generierung negativer Eigenschaftszuschreibungen diskutiert und im Anschluss auf ihre empirische Evidenz hin untersucht. Der Fokus liegt dabei auf der Erklärung der Mechanismen sozialer Kategorisierung, welche die Konstruktion von Feindbildern ermöglichen. Dabei gliedert sich der Aufsatz in drei Abschnitte. Auf der Basis von Überlegungen aus der klassischen 191
Nils Friedrichs
Vorurteilsforschung wird in einem ersten Schritt der Versuch unternommen, Kriterien für die Definition von Stereotypen und Vorurteilen herauszuarbeiten, um anschließend zu diskutieren, inwieweit sich diese Kategorien soziologisch als Feindbilder interpretieren lassen. In einem zweiten Schritt sollen die Prozesse der Herausbildung positiver und negativer Assoziationen mit Gruppen ausführlich in den Blick genommen werden, die ihrerseits die Möglichkeitsbedingungen für die Entstehung von interreligiösen Konflikten darstellen. Da Menschen sich nicht nur als Individuen per se, sondern ebenso als Mitglieder von Gruppen betrachten, wird davon ausgegangen, dass die Wahrnehmung von diskontinuierlichen Merkmalen welcher Art auch immer zwischen Individuen (oder Gruppen) zur Herausbildung von Ingroups und Outgroups führt, die miteinander in einen sozialen Vergleich treten. Dabei gilt es auch zu thematisieren, inwieweit soziale Kategorisierungen entlang des Merkmals Religion plausibel erscheinen. In einem dritten Schritt sollen schließlich empirische Ergebnisse im Mittelpunkt stehen. Hier geht es vor allem um die Frage, inwieweit Christen dem Islam eher negative Images zuordnen und dem Christentum demgegenüber eher positive Eigenschaften zuschreiben. Anders ausgedrückt: Es geht um die Frage, ob die Religionszugehörigkeit der christlichen Mehrheitsbevölkerung in Deutschland zu sozialer Kategorisierung in der Weise führt, dass das Christentum auf- und der Islam abgewertet wird. Gleichzeitig sollen die Zuschreibungen der Christen mit denen der Konfessionslosen verglichen werden, die einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung stellen. Zentral ist dabei vor allem die Überlegung, dass die Arten der Kategorisierung durch Christen und Konfessionslose systematische Differenzen aufweisen müssten.
Stereotyp, Vorurteil und der Begriff des Feindbildes Den Begriff des Feindbildes wird man im ‚Mainstream‘ der soziologischen und sozialpsychologischen Forschung als analytischen Begriff vergebens suchen. Lässt sich daraus schließen, dass dieser Begriff für eine soziologische Analyse nicht tragfähig ist? Ein solches Urteil wäre verfrüht, scheint der Feindbildbegriff in seiner Verwendung in der Alltagssprache doch mit negativ besetzten Merkmalszuschreibungen in Verbindung zu stehen, wie sie in der Stereotypen- und Vorurteilsforschung thematisiert werden. Eine Annäherung an den Begriff des Feindbildes sollte daher bei klassischen sozialpsychologischen Definitionen der Begriffe Stereotyp und Vorurteil ansetzen. Erst im Anschluss wird zu klären sein, inwieweit und unter welchen Bedingungen sich Vorurteile und Stereotype möglicherweise als Feindbilder interpretieren lassen. Definitionen der Begriffe ‚Stereotyp‘ und ‚Vorurteil‘ beziehen sich in 192
Die Bilder der Deutschen vom Islam
der Sozialpsychologie häufig auf die grundlegenden Werke von Gordon W. Allport (1971) und Henri Tajfel (1982). Trotz dieser gemeinsamen Grundlagen zeigen die gängigsten sozialpsychologischen Konzeptualisierungen eine erstaunlich hohe Variabilität; sie verwenden oder betonen zum Teil höchst unterschiedliche Elemente. Zuweilen gewinnt man den Eindruck, dass die verschiedenen Autoren völlig unterschiedliche Phänomene untersuchen. Auch werden die Begriffe ‚Stereotyp‘ und ‚Vorurteil‘ in einigen Ansätzen synonym gebraucht, während sie in anderen eindeutig unterschieden werden. Um beide Begriffe definitorisch fassen und voneinander abgrenzen zu können, wird der Fokus auf die Bestimmung des Vorurteilsbegriffs gelegt. Die Unterschiede zum Stereotypbegriff werden aufgezeigt, so dass neben der Abgrenzung der beiden Begriffe zugleich ihre Verhältnisbestimmung möglich wird. Es lassen sich dabei in den gängigen sozialpsychologischen Definitionsversuchen zumindest vier Merkmale erkennen, die den meisten Ansätzen gemeinsam sind. Die ersten beiden finden in allen Definitionen Berücksichtigung, während die letzten beiden nur in einigen Arbeiten auftreten: Als erstes zentrales Merkmal lässt sich benennen, dass Vorurteile bestimmte Eigenschaftszuschreibungen an soziale Gruppen oder Personen in ihrer Rolle als Mitglieder sozialer Gruppen darstellen.1 Zum Zweiten gehen diese Zuschreibungen mit positiven oder negativen Bewertungen einher.2 Im Gegensatz hierzu fasst die klassische Sozial- und Kognitionspsychologie in Anlehnung an die Überlegungen von Tajfel Stereotype als soziale Kategorisierungen auf, mit denen kein positives oder negatives Werturteil verbunden ist (vgl. Tajfel 1982: 50). Juliane Degner, Thorsten Meisner und Klaus Rothermund grenzen die beiden Begriffe entsprechend dieses Ansatzes wie folgt ab: „Während Stereotype die Inhalte und Struktur mentaler Repräsentation bezeichnen, bei denen es vorerst unerheblich ist, ob diese Inhalte bewertet sind, bezeichnen Vorurteile dagegen eine direkte und starke Assoziation zwischen sozialer Kategorie und Bewertung, ohne einer näheren inhaltlichen Spezifizierung zu bedürfen“ (Degner/Meisner/Rothermund 2009: 76; Hervorh. von N. F.).
Auf der Basis dieser Differenzierung kann der Untersuchungsgegenstand näher bestimmt werden: Im Folgenden werden lediglich Vorurteile, nicht Stereotype untersucht, denn die Thematisierung von spezifischen Merk1 Eine Ausnahme stellen hier die Forschungsarbeiten von Andreas Zick (vgl. Zick 1997;
2
Küpper/Zick 2010) dar. Er definiert das Vorurteil als negative Bewertung einer Gruppe und deren Angehöriger aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit, ohne dabei explizit den Aspekt der Eigenschaftszuschreibung zu benennen (vgl. Küpper/Zick 2010: 13). Aufgrund der Tatsache, dass in der Regel negative Bewertungen als Ursache für die Entstehung sozialer Konflikte betrachtet werden können, konzentrieren sich die Konzepte üblicherweise auf negative Bewertungen, prinzipiell sind jedoch auch positive Werturteile als Gegenstand von Vorurteilen vorstellbar.
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malszuschreibungen zu Gruppen in Kombination mit deren (negativer) Bewertung im Kontext von Überlegungen zu einer Soziologie des Feindbildes erscheint sinnvoller, da diese Werturteile als konstitutiver Bestandteil von Feinbildern betrachtet werden können. Die bewertenden Eigenschaftszuschreibungen an Gruppen oder Gruppenmitgliedern werden drittens um den Aspekt der Übervereinfachung ergänzt, der vor allem von Tajfel und Jörg Stolz (2000) starkgemacht wird. Die Komplexität der Eigenschaften von Gruppen und deren Angehörigen wird also auf wenige (bewertende) Eigenschaften reduziert.3 Darüber hinaus – und dies ist der vierte und letzte Aspekt – zeichnen sich die Zuschreibungen nach Allport und Tajfel durch Verallgemeinerung aus. Mögliche Erfahrungen mit einzelnen Mitgliedern einer Gruppe werden also generalisierend auf die gesamte Gruppe übertragen.4 Im Zusammenhang mit dem Aspekt der Generalisierung thematisiert Allport das Problem, dass Vorurteile durch eine nicht hinreichende Überprüfung der entsprechenden Eigenschaftszuschreibung an den realen Gegebenheiten gekennzeichnet seien. Die Frage, ob die Wahrscheinlichkeit, dass die zugeschriebene Eigenschaft die Realität abbildet, hinreichend hoch ist, um dieses Urteil als ‚richtig‘ einzustufen, könne in der sozialen Praxis kaum überprüft werden (vgl. Allport 1971: 22).5 Entsprechend könne keine exakte Trennlinie zwischen hinreichend begründeten Urteilen und Vorurteilen gezogen werden. Allport begibt sich auf eine Ebene der quasi objektiven Beweisbarkeit von Zuschreibungen, wenn er hervorhebt, der Gegenstand (des Vorurteils) werde in eine ungünstige, nicht selbst verschuldete Lage versetzt (vgl. Allport 1971: 23). So wie Allport an dieser Stelle argumentiert, geht er davon aus, dass eine empirisch-messbare Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit des Urteils darüber entscheidet, ob man es mit einem Vorurteil zu tun hat. Stolz thematisiert das Problem dagegen nicht als eines der (empirischen) Wahrheit, er spricht in diesem Kontext vielmehr von einer Frage der ‚Realitätsadequanz‘ (vgl. Stolz 2000: 36) und eröffnet damit eine neue Lesart. 3 Stolz betont den Aspekt der Übervereinfachung, der für Vorurteile und Stereotype glei-
chermaßen zutrifft. Demnach entstünden Stereotype zunächst über "normale kognitive Prozesse", würden jedoch anschließend auch die „Ursachen von verzerrten Kognitionen“ darstellen, so dass Stereotype sich über diesen Prozess selbst zirkulär verstärkten (Stolz 2000: 84). 4 Darüber hinaus enthält Allports Definition ein weiteres Merkmal, das es verdient, beachtet zu werden: Vorurteile seien relativ stabil. Ein Vorurteil „widersteht […] hartnäckig allem Beweismaterial, das es widerlegen kann“ (Allport 1971: 23). Drohe seine Widerlegung, werde die Bewertung demgegenüber vielmehr auf eine affektive Ebene verlegt. 5 In den meisten Definitionen des Vorurteilsbegriffs wird auf diesen Aspekt weitestgehend verzichtet, obgleich er sprachlich impliziert ist. Insbesondere für die empirisch-quantitative Forschung wäre man gut beraten, neben der Erhebung von bewertenden Eigenschaftszuschreibungen auch das Wissen um sowie die persönlichen Kontakte zu der betreffenden Gruppe stärker zu berücksichtigen.
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Während Allport mit der Einbeziehung eines Nichtverschuldens auf Seiten der vom Vorurteil Betroffenen in seine Definition in einer Logik der Wahrheit im Sinne von ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ verhaftet bleibt, argumentiert Stolz auf Basis einer Logik der Angemessenheit, welche die Frage der Wahrheit nicht notwendigerweise aufgreifen muss. Denn unter Rückgriff auf Übervereinfachung und Generalisierung kann einem Urteil die Angemessenheit abgesprochen werden, wodurch es den Charakter eines Vorurteils erhält, ohne einen ‚wahren Kern‘ von vornherein bestreiten zu müssen.6 In diesem Artikel sollen Vorurteile allgemein als übervereinfachte, generalisierende Merkmalszuschreibungen an Gruppen und ihre Angehörigen verstanden werden, die eine (zumeist negative) Bewertung eben jener Gruppen und Gruppenmitglieder enthalten. In welchem Verhältnis steht ein auf diese Weise konzeptualisiertes Verständnis des Vorurteils zu einem Begriff des Feindbildes? Kann ein negatives Vorurteil gegenüber einer Gruppe und deren Angehörigen bereits ein Feindbild konstituieren bzw. können solche Zuschreibungen als Elemente zur Konstruktion von Feindbildern interpretiert werden? Auf der Basis des hier entwickelten Begriffsverständnisses von Vorurteilen soll folgender Vorschlag gemacht werden: Lassen sich einzelne negative Vorurteile in Bezug auf eine spezifische Gruppe ermitteln, so reicht dies noch nicht aus, damit von einem Feindbild die Rede sein kann. Findet sich hingegen ein konsistentes, überwiegend von negativen, übervereinfachten und generalisierten Eigenschaftszuschreibungen an eine spezifische Gruppe gekennzeichnetes Gesamtbild, so soll von einem Feindbild gesprochen werden.7
Die Konstruktion von Feindbildern auf der Basis sozialer Kategorisierung Ein Feindbild wurde als ein relativ homogenes Gesamtbild von negativen Vorurteilen bezogen auf eine Gruppe oder deren Angehörige definiert. Entsprechend müssten der Entwicklung von Feindbildern dieselben Prozesse 6 Stolz löst sich gerade aufgrund dieses Problems vom Vorurteilsbegriff und verwendet
stattdessen den Terminus „negative Einstellungen zu ausländischen Personen“ (Stolz 2000: 36). Berücksichtigt man jedoch die Frage der Realitätsadequanz in der Formulierung der Items, lässt sich dieses Problem möglicherweise lösen. 7 Dem Autor ist bewusst, dass sich auch bei der hier vorgeschlagenen Konzeption des Feindbildes das Problem der Grenzziehung stellt. Wie viele Zuschreibungen sind vonnöten bis tatsächlich von einem Feindbild gesprochen werden kann? Wie stark müssen die Vorurteile sein, damit sie ein Feindbild konstituieren? Für die empirische Forschung empfiehlt es sich, die Abgrenzungsentscheidung jeweils bezogen auf den konkreten Forschungsgegenstand und die verwendeten Variablen zu treffen und zu begründen.
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zugrunde liegen, die zur Ausbildung von Vorurteilen führen. Die Ansätze zu diesem Thema sind zahlreich, handelt es sich hier doch schließlich um eines der am besten erforschten Gebiete der Sozialpsychologie. Grundsätzlich ist dabei zwischen zwei Forschungsrichtungen zu unterscheiden. Die erste Forschungstradition verortet die Neigung zur Ausbildung von Vorurteilen in der menschlichen Persönlichkeit. Im Zentrum persönlichkeitspsychologischer Ansätze zur Erklärung von Vorurteilen steht die Frage, inwieweit die Entwicklung von Vorurteilen nicht aus bestimmten sozialen Kontexten erklärt werden kann, sondern in den individuellen Dispositionen und Eigenschaften einer Person selbst zu suchen ist (vgl. Stößel/Cohrs/Riemann 2009: 96).8 Der bedeutendste Ansatz innerhalb dieser Forschungstradition ist wohl das Konzept der ‚autoritären Persönlichkeit‘ von Theodor W. Adorno (1995). Die Bedeutung der theoretischen Überlegungen zu autoritären Persönlichkeitsstrukturen für die Vorurteilsforschung liegt vor allem in der These, dass autoritäre Menschen die Welt grundsätzlich als bedrohlich und unsicher wahrnehmen (vgl. Maslow 1943). Zur Herstellung von Sicherheit werden andere Menschen und Gruppen daher je nach Möglichkeit entweder dominiert oder man ordnet sich ihnen unter, um ihren Schutz zu genießen. Eine daraus resultierende Tendenz zur Hierarchisierung, die mit einer Übergeneralisierung in der Bewertung im Sinne von ‚besser‘ oder ‚schlechter‘ einhergeht, befördert in der Konsequenz die Entwicklung von Vorurteilen (vgl. Maslow 1943: 404f.). Die zweite Forschungstradition, die vor allem in der zeitgenössischen europäischen Vorurteilsforschung vertreten wird, erklärt die Entstehung von Vorurteilen auf der Ebene von Intergruppenbeziehungen (vgl. Zick 1997: 54). Im Zentrum dieser Forschungstradition steht die Social Identity Theory (SIT) nach Tajfel (1981).9 Dieser Ansatz, dessen Ziel in der Erklärung sozialer Differenzierungsprozesse liegt, ist der Vorurteilsforschung im engeren Sinne eigentlich gar nicht zuzurechnen (vgl. Zick 1997: 55). Gleichwohl enthalten die zentralen Annahmen zu sozialen Kategorisierungsprozessen substantielles Erklärungspotential zum Verständnis der Entstehung von Vorurteilen und somit auch der Konstruktion von Feindbildern. Tajfels Überlegungen basieren dabei im Wesentlichen auf den Annahmen der Realistic Group Conflict Theory (RCT), die als erster Ansatz einer auf in8 Es ist auch bei dieser Forschungstradition zu beachten, dass die Entwicklung der mensch-
lichen Persönlichkeit nicht losgelöst von sozialen Faktoren gedacht wird. Jedoch werden Persönlichkeitseigenschaften als „stabile Beziehungen zwischen den Situationen und den Reaktionen einer Person“ (Asendorpf 32004: 36) konzipiert. Situative Bedingungen spielen bei der Erklärung von Einstellungen und Verhalten folglich keine so große Rolle. 9 Den Kern der Überlegungen von Tajfel stellt die Annahme dar, dass Menschen sich selbst stets auch als Mitglieder sozialer Gruppen wahrnehmen und die Bewertung der eigenen Gruppe Auswirkungen auf die Bewertung der eigenen Person hat (vgl. Tajfel 1981: 254).
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Die Bilder der Deutschen vom Islam
tergruppale Konflikte ausgerichteten Sozialpsychologie verstanden werden kann und maßgeblich von Muzafer Sherif geprägt wurde. Sherif geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe die Identität eines Individuums, seine Einstellungen und sein Verhalten prägt. Dies gelte auch dann, wenn die Gruppenmitglieder selbst nicht anwesend seien (vgl. Sherif 1970: 9). Die zentrale Annahme Sherifs lautet, dass Individuen sich in bestimmten Situationen „in terms of their group identification“ (Sherif 1970: 12; Hervorh. i. Orig.) verhalten. Individuelle Dispositionen würden hingegen nur die Stärke von prosozialem oder ablehnendem Verhalten gegenüber anderen Gruppen beeinflussen (vgl. Sherif 1970: 13). Konflikte zwischen Gruppen können diesem Ansatz zufolge also nicht primär über individuelle Eigenschaften erklärt werden. So führt Sherif aus: „Modern warfare is conflict between social units with definite organizations and value systems. It is not simply a sum total of personal frustrations among the populations translated into aggressive acts“ (Sherif 1970: 14).
Damit grenzt Sherif sich von der klassischen Fokussierung auf Persönlichkeitsmerkmale zur Erklärung von Vorurteilen ab, ohne dabei ihren Einfluss im Sinne einer Stärkung oder Schwächung der Vorurteile zu negieren. Ein Zugang, der sich ausschließlich auf den Einfluss individueller Merkmale konzentriert, läuft dagegen Gefahr, diesen Prozessen und Dynamiken auf sozialer Ebene nicht angemessen Rechnung tragen zu können. Die konfliktfördernde Bedingung liege also nicht in individuellen Dispositionen, sondern im Ringen von sozialen Gruppen um reale knappe Ressourcen auf einer intergruppalen Ebene.10 Die Implikationen dieses Ansatzes für die Vorurteilsforschung bestehen in der Annahme, dass die Zuschreibungen negativer Eigenschaften zur Konkurrenzgruppe zunehmen, wenn diese Gruppe aufgrund der Knappheit einer Ressource als Bedrohung wahrgenommen wird. Vorurteile werden nach der RCT somit „als Produkte eines Wettbewerbskonflikts um eine begrenzte Ressource verstanden“ (Zick 1997: 108). Dabei erfüllen sie eine Abgrenzungsfunktion gegenüber anderen Gruppen, die mit einer Identifikation mit der Eigengruppe einhergeht. Empirisch stützen zahlreiche Befunde aus Sherifs Forschung diese Annahme. In seinen Summer Camp Studies11 untersuchte er die Bildung und Entwicklung von 10 Diese Ressourcen müssen nicht notwendigerweise materieller Art sein. So nennt She-
rif unter anderem auch Werte, eine reale oder wahrgenommene Bedrohung der eigenen Gruppe, politische Ziele oder Prestige als mögliche Ressourcen (vgl. Sherif 1970: 15). 11 Die Summer Camp Studies waren eine Reihe von Experimenten aus den Jahren 1949, 1953 und 1954 mit Jungen im Ferienlager, bei denen das Intergruppenverhalten untersucht werden sollte. Zur Auswahl der Jungen, die an den Experimenten teilnahmen, untersuchte er zunächst, ob diese psychische Störungen bzw. Auffälligkeiten zeigten. Außerdem stellte er sicher, dass alle aus etwa demselben Milieu (weiße Jungen der Mittelschicht) stammten.
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Nils Friedrichs
Intergruppenbeziehungen auf der Basis relativ homogener Stichproben. In der Beobachtung von sportlichen Wettkämpfen wie Baseball, Football oder Tauziehen zwischen den Jungen, bei denen die Gewinner einen Preis erhielten, fand er heraus, dass die Konkurrenz der Gruppen zu feindseligen Haltungen und generalisierten negativen Eigenschaftszuschreibungen führte. Sherif erklärte diesen Befund mit dem Bestreben, die Eigen- von der Fremdgruppe abzugrenzen (vgl. Sherif 1970: 81). Auch diese Ergebnisse können als Plädoyer für einen Zugang gelesen werden, der sich primär auf die Prozesse, die sozialen Kategorisierungen zugrunde liegen, konzentriert. In einer ersten Variante der Studie aus dem Jahre 1940 hatten die Jungen Gelegenheit, sich vor der Einteilung in Gruppen individuell kennenzulernen und Freundschaften zu schließen. Die Gruppen wurden erst später bestimmt, wobei die neuen Freundschaften teilweise bewusst getrennt wurden, indem die befreundeten Jungen unterschiedlichen Gruppen zugeteilt wurden. Es zeigte sich, dass die spontan geschlossenen Freundschaften sich nach der Gruppeneinteilung auflösten und die Mitglieder der Eigengruppe als Freunde deutlich präferiert wurden. Sherif erklärt diesen Befund wie folgt: „As the results show, friendship choices shift readily from strictly interpersonal attractions toward in-group exclusiveness, as a part of group formation and functioning“ (Sherif 1970: 75). Obgleich zu diesem Zeitpunkt noch keine klare Konkurrenzsituation vorhanden war, konnten die Autoren bereits Präferenzen für die eigene Gruppe nachweisen. Das Ergebnis veranlasste Sherif jedoch nicht dazu, seine Annahmen zu modifizieren. Tajfel entwickelte seine Theorie unmittelbar im Anschluss an die Überlegungen von Sherif. Auch er verortet die Entstehung von diskriminierenden Verhaltensweisen und Vorurteilen auf der Gruppenebene, grenzt sich jedoch von Sherif ab, indem er das Augenmerk deutlich auf die Identifikation mit der Eigengruppe legt, die aus seiner Sicht bei Sherif als theoretisches Problem nahezu unthematisiert bleibt (vgl. Tajfel/Turner 1986: 8). Entsprechend postuliert er, „that the institutionalization, explicitness, and objectivity of an intergroup conflict are not necessary conditions for behavior in terms of »group« extreme, although they will often prove to be sufficient conditions“ (Tajfel/ Turner 1986: 9).
In „relevant intergroup situations“, in denen die Gruppenzugehörigkeit an Bedeutung gewinne, sei damit zu rechnen, dass Individuen sich nicht mehr ihren individuellen Eigenschaften entsprechend verhielten, sondern auf der Basis ihrer Gruppenzugehörigkeit im Verhältnis zu anderen Gruppen (vgl. Über diese relative Homogenität der Stichprobe wollte er sicherstellen, dass keine individuellen Dispositionen bestehen, welche die Entstehung von Intergruppenkonflikten fördern könnten.
198
Die Bilder der Deutschen vom Islam
Tajfel/Turner 1986: 10). Dies geschehe in der Weise, dass die eigene Gruppe im Vergleich zur Fremdgruppe bevorzugt werde, was Tajfel als „in-group bias“ (Tajfel/Turner 1986: 13) bezeichnet. Diese Tendenz sei Ergebnis sozialer Kategorisierung per se, was in Minimalgruppen-Experimenten empirisch nachgewiesen werden könne. So stellte die Forschergruppe um Tajfel in Experimenten mit Schülern, die anderen Mitgliedern der Eigen- oder aber der Fremdgruppe Geld zuteilen konnten, fest, dass diese bestrebt waren, maximale Differenzen zwischen den Gruppen herzustellen, anstatt den größtmöglichen Output für beide Gruppen zu erreichen (vgl. Tajfel/Billig/ Bundy/Flament 1971: 172). In einer Variation dieses Experiments, in der die Gruppen anhand der Präferenz für Gemälde von Kandinsky oder Klee gebildet wurden, fand er zudem heraus, dass Ähnlichkeit (hier des Kunstgeschmacks) der Gruppenmitglieder weniger ausschlaggebend zur Ausbildung eines in-group bias war als das Wissen um eine zufällig ausgewählte Gruppenmitgliedschaft (vgl. Billig/Tajfel 1973: 47f.). Er erklärt seine Ergebnisse unter Rückgriff auf die Strukturierungs- und Orientierungsfunktion sozialer Kategorisierung. Danach stellen soziale Kategorisierungsprozesse ein Orientierungssystem zur Verfügung, in dem das Individuum sich verorten kann. Diese Selbstzuschreibung gehe mit einer in hohem Maße relationalen und komparativen Identifikation mit der Eigengruppe einher, was Tajfel als soziale Identität versteht. Um einen positiven Selbstwert auf der Gruppenebene zu erreichen, müsse die soziale Identität positiv evaluiert werden, so dass die Eigengruppe im Vergleich zu einer oder mehreren relevanten Fremdgruppen möglichst gut abschneiden sollte (vgl. Tajfel/Turner 1986: 16). Im Anschluss an diese Überlegungen stellt sich die Frage, was die Bedingungen sind, unter denen eine relevante Intergruppen-Situation vorliegt, in der die soziale Identität bedeutsam wird. Das Verhalten im Sinne der Gruppenzugehörigkeit tritt nach Tajfel vor allem bei der Wahrnehmung einer geringen Mobilität in der Gruppenzugehörigkeit (social mobility) und bei einer Integration der Gruppenzugehörigkeit in das Selbst-Konzept auf (vgl. Tajfel/Turner 1986: 11; 16). Die soziale Identität werde dann relevant, wenn ein Gruppenmerkmal „evaluative significance“ (Tajfel/Turner 1986: 16) besitze, d. h. im konkreten Kontext Personen vorhanden und sichtbar sind, die das Gruppenmerkmal nicht teilen. Diese Personen müssen zudem als relevante Vergleichsgruppe wahrgenommen werden. Nach Amélie Mummendey und Thomas Kessler ist das der Fall, wenn ein Vergleichsrahmen für die rivalisierenden Gruppen gegeben ist. Sie nehmen in ihrem stark an die Überlegungen Tajfels orientierten Eigengruppen-Projektions-Modell an, „dass zwei oder mehrere soziale Gruppen für einander zu relevanten Vergleichsgruppen werden, wenn sie als zugehörig zu einer gemeinsamen (übergeordneten) Kategorie wahrgenommen werden“ (Mummendey/Kessler 2008: 517). Sie 199
Nils Friedrichs
kritisieren die Autoren der klassischen Arbeiten zu Intergruppenbeziehungen jedoch dafür, dass diese zwischen der Bevorzugung der Eigen- und Abwertung der Fremdgruppe nicht angemessen differenzierten. Mummendey, Kessler und Otten sehen die Eigengruppenpräferenz psychologisch als das primäre Phänomen. Die Diskriminierung der Fremdgruppe geschehe erst in einem zweiten, nachgeordneten Schritt (vgl. Mummendey/Kessler/Otten 2009: 47). Sie erklären diesen zweiten Schritt als Resultat einer Generalisierung der (positiv bewerteten) Eigenschaften der Eigengruppe auf die übergeordnete Inklusivkategorie. Die Eigengruppe werde somit als prototypischer für die übergeordnete Kategorie wahrgenommen als die Fremdgruppe, was zu einer Abwertung der Fremdgruppe führe (vgl. Mummendey/Kessler 2008: 518). Indem die Forscher die Entstehung von Vorurteilen auf einen sozialen Vergleich zwischen Eigen- und Fremdgruppe im Hinblick auf eine übergeordnete Kategorie (Inklusivkategorie) zurückführen, gelingt es ihnen, die Variabilität sozialer Kategorisierungen und damit auch sozialer Diskriminierungen in den Blick zu nehmen. So kritisieren sie den klassischen Ansatz, das Problem von Diskriminierungen könne dadurch gelöst werden, dass die Individuen sich primär auf die übergeordnete Inklusivkategorie konzentrieren und diese so zu ihrer neuen Eigengruppe machen. Das würde das Problem lediglich verschieben (vgl. Mummendey/Kessler/Otten 2009: 51f.). Denn die vormalige übergeordnete Kategorie, die nun als neue Eigengruppe in Erscheinung tritt, wird ihrerseits auf neue Fremdgruppen treffen, die unter einer neuen übergeordneten Inklusivkategorie verglichen werden. Damit werden dieselben Effekte produziert. Dieser Theorie liegt die Annahme zugrunde, dass soziale Kategorisierungen per se hierarchisch strukturiert sind, so dass beliebige Kombinationen vorstellbar werden. Für die Frage nach der Entstehung von Feindbildern auf der Basis sozialer Kategorisierungen enthält dieser Ansatz entscheidende Implikationen, denn er lässt offen, auf welcher Ebene soziale Kategorisierungen im Falle von gesellschaftlichen Konflikten vorgenommen werden, d. h. an welchen Stellen die Grenze zwischen Eigen- und Fremdgruppe gezogen wird.
Religion als Merkmal sozialer Kategorisierung in Deutschland Inwieweit ist es plausibel, dass die Religion als Merkmal sozialer Kategorisierung dient? Folgt man der Argumentation von Tajfel, so sollten die Kriterien einer geringen Mobilität und der Integration in das Selbst-Konzept erfüllt sein. Eine relativ geringe Mobilität scheint hier gegeben: Zwar ist es in Deutschland möglich, die religiöse Zugehörigkeit nach eigenem Belieben zu wechseln oder auch ganz aufzugeben, aber unabhängig von dem 200
Die Bilder der Deutschen vom Islam
Hindernis einer möglichen engen Verbundenheit mit der eigenen Religion muss das Individuum hierfür einen gewissen organisatorischen Aufwand in Kauf nehmen. So muss zumindest Kontakt mit der Religionsgemeinschaft, der man beitreten möchte, aufgenommen werden. Auch der Austritt aus einer der Kirchen muss bei einer Behörde persönlich erklärt werden und ist in einigen Bundesländern zudem mit einer Bearbeitungsgebühr verbunden. In jedem Fall ist es nicht möglich, die eigene religiöse Mitgliedschaft im sozialen Vergleich mit anderen Religionsgemeinschaften situativ zu wechseln. Mit dem zweiten Kriterium scheint es schon schwieriger zu sein, denn zum einen basiert die Ingroup im Falle einer Religionsgemeinschaft nicht mehr unbedingt auf direkten Face-to-Face-Kontakten, zum anderen kann eine Identifikation mit der Religion in Deutschland im Zuge fortschreitender Säkularisierungsprozesse nicht mehr als selbstverständlich angenommen werden.12 Zieht man jedoch empirische Ergebnisse zur Bedeutung des Christentums in Deutschland heran, so können die erwähnten Einwände zum Teil relativiert werden. So entdeckt Detlef Pollack in seinen Analysen etwa, dass zwei Drittel der west- und immerhin ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung angeben, sich mit dem Christentum zu identifizieren (vgl. Pollack 2009: 126). Auch Gert Pickel stellt eine starke christliche Prägung für Europa und zumindest Westdeutschland fest, welche sich primär auf das soziale Engagement der christlichen Kirchen konzentriere und unabhängig von einer individuellen religiösen Bindung betrachtet werden müsse (vgl. Pickel 2009: 99). Olaf Müller betont, dass „der europäische Kulturraum von den meisten Menschen durchaus als (christlich-)religiös geprägt angesehen“ wird. So würden dem Christentum „Verdienste um den kulturellen und sozialen Zusammenhalt“ (Müller 2011: 172) zugeschrieben, was jedoch eine kritische Betrachtung der Religion keinesfalls ausschließe. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse darf in Deutschland – in den alten Bundesländern gewiss in einem deutlich stärkeren Maße als in den neuen – davon ausgegangen werden, dass sich ein beachtlicher Teil der Bevölkerung durchaus mit dem Christentum identifiziert. Es dürfte folglich auch bei der Bildung einer sozialen Identität von Bedeutung sein. Dabei darf eine Identifikation mit dem Christentum jedoch gerade nicht mit Religiosität gleichgesetzt werden. Vielmehr deuten die Ergebnisse darauf hin, dass es sich in der Wahrnehmung der Menschen vor allem um eine christlich-kulturelle Prägung Deutschlands handelt. Andererseits deutet die geringere Identifi12 Säkularisierung wird hier im Sinne Peter L. Bergers verstanden, der davon ausgeht, dass
die Religion in der Moderne ihren Charakter „objektiver Wirklichkeit im Bewusstsein“ und somit „die Selbstverständlichkeit intersubjektiver Plausibilität“ (Berger 1973: 144) zunehmend verliert, was unmittelbar Implikationen für eine rückläufige Identifikation mit religiösen Inhalten beinhaltet.
201
Nils Friedrichs
kation mit dem Christentum sowie die niedrigere Befürwortung kirchlichen Engagements im Bereich sozialer Dienste und der Erziehung in den stärker säkularisierten, postkommunistischen Ländern an, dass das Ausmaß der christlich-kulturellen Prägung nicht unabhängig von weiteren Faktoren gedacht werden kann. Ausgehend von den Überlegungen der SIT kann angenommen werden, dass die religiöse Zugehörigkeit hier eine entscheidende Rolle spielt. Obgleich allein die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft gerade in Deutschland mitnichten mit einer intrinsischen religiösen Verbundenheit einhergehen muss, wird hier die These formuliert, dass die Zugehörigkeit einen wichtigen Faktor zur Ermöglichung einer Identifikation mit dem Christentum darstellt. Diese kann, muss aber nicht notwendigerweise in einem Zusammenhang mit der individuellen Religiosität stehen. In gewisser Weise wird die hier aufgestellte These auch von den Ergebnissen von Stefan Huber und Volkhard Krech unterstützt. In ihren ländervergleichenden Analysen fanden sie einen relativ starken Einfluss der Zugehörigkeit zum Christentum auf das religiöse Selbstbild. Sie führen diesen Effekt „nicht auf das Allgemeine der individuellen Relevanz der Religiosität“ zurück, „sondern auf das Besondere des Zugangs über die religiöse Identität“ (Huber/Krech 2008: 67). Obwohl in Deutschland insgesamt von einer relativ hohen christlich-kulturellen Prägung ausgegangen werden kann, sollte diese bei den Kirchenmitgliedern größer als bei Konfessionslosen sein. Auf der Basis dieser These stellt sich empirisch die Frage, welche Konsequenzen die geschilderten Identifikationspotentiale für die Entwicklung von Vorurteilen und die Konstruktion von Feindbildern besitzen. Ein Szenario der Intoleranz von säkularen Menschen wird von José Casanova entwickelt, wenn er postuliert, die Grenze der Toleranz der Säkularen sei erreicht, sobald es um den Islam gehe (vgl. Casanova 2007: 64). Auch Volkhard Krech findet bei Nichtreligiösen eine geringere Zustimmung zu Aussagen, die den Wert verschiedener Religionen betonen (vgl. Krech 2007: 39). Dass eine Religionszugehörigkeit die Offenheit für religiöse Pluralität fördert, stellen auch Huber/Krech fest. Sie gehen davon aus, dass das Vorhandensein einer religiösen Position eine positive Sichtweise auf religiöse Vielfalt generell begünstigt (vgl. Huber/Krech 2008: 74). Folgt man den Interpretationen von Krech und Huber/Krech, so lässt sich sagen, dass eine religiöse Position überhaupt erst dazu führt, sich mit Religionen auseinander zu setzen. In der Logik der Theorien sozialer Kategorisierung würden diese Ergebnisse eher gegen eine interreligiöse Abgrenzung und vielmehr für eine Grenzziehung zwischen religiösen und säkularen Menschen sprechen. Gordon Allport und J. Michael Ross stellten jedoch fest, dass Kirchgänger stärker zu ethnischen Vorurteilen neigten als Menschen, die nicht den Gottesdienst besuchen (vgl. Allport/Ross 1967: 441). Müller verweist 202
Die Bilder der Deutschen vom Islam
in diesem Zusammenhang auf die Ambivalenz der Religion. So sage das Toleranzgebot zum einen noch nichts über seine tatsächliche alltagspraktische Befolgung aus, zum anderen würden Religionen zudem auch immer zur Abgrenzung verwendet und enthielten somit die Gefahr des Dogmatismus (vgl. Müller 2003: 189). Insgesamt kann also von einer Abgrenzung der Konfessionslosen von der Religion ausgegangen werden. Ob die Religion für Christen ebenfalls eine Abgrenzungsfunktion übernimmt, scheint deutlich weniger klar zu sein. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass Krech und Huber/Krech ihre Ergebnisse auf Aussagen zu religiöser Vielfalt beziehen, in denen das komparative Element der Bewertung der eigenen im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften nicht enthalten ist. Durch die im Eigengruppen-Projektions-Modell angenommene Abhängigkeit der sozialen, komparativen Kategorisierung von einer übergeordneten Inklusivkategorie als Referenzrahmen werden hier zwei Ausrichtungen des sozialen Vergleichs angenommen, die sich auf unterschiedliche Inklusivkategorien beziehen. Es wird für die Gruppe der Christen von einer Kategorisierung entlang der Merkmale Islam vs. Christentum ausgegangen, deren Referenzrahmen durch die Inklusivkategorie Religion repräsentiert wird. Folglich müsste das Christentum aufgewertet, der Islam hingegen abgewertet werden, da der Islam in diesem Szenario von den Christen als relevante Vergleichskategorie betrachtet und somit zur Abgrenzung herangezogen wird. Für die Gruppe der Konfessionslosen soll hingegen postuliert werden, dass die Trennung eher entlang der Merkmale religiös vs. säkular verläuft. Die übergeordnete Kategorie wäre mit dem Begriff der Weltanschauung angemessen zu beschreiben, die sich in religiöse und säkulare Deutungsmuster untergliedert. Konfessionslose sollten daher keine allzu starken Differenzen in den Eigenschaften beider Religionsgemeinschaften sehen, sie sollten das Christentum und den Islam jedoch insgesamt ablehnen.
Datengrundlage und Variablen Zur Überprüfung der theoretisch angenommenen Zusammenhänge wird auf quantitative Daten zurückgegriffen, die im Rahmen des Forschungsprojekts Die Legitimität des religiösen Pluralismus: Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in der europäischen Bevölkerung unter der Leitung von Detlef Pollack erhoben wurden. Das Projekt ist angesiedelt am Exzellenzcluster Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Die Erhebung erfolgte in fünf europäischen Ländern (Deutschland, Dänemark, Frankreich, Niederlande und Portugal), wobei die hier präsentierten Ergebnisse 203
Nils Friedrichs
auf den Daten der deutschen Stichprobe basieren. Es wurden auf der Basis einer ADM-Stichprobe13 2043 persönliche Interviews im Sommer 201014 in Deutschland geführt (CAPI15). Zur Messung von Vorurteilen wurde den Befragten eine Liste mit neun ‚Images‘ vorgelegt, bei denen sie angeben sollten, ob sie das betreffende Merkmal mit dem Islam und dem Christentum assoziieren. Diese Eigenschaften waren Fanatismus, Gewaltbereitschaft, Rückwärtsgewandtheit, Engstirnigkeit, Benachteiligung der Frau, Friedfertigkeit, Toleranz, Solidarität und Achtung der Menschenrechte. Dabei wird angenommen, dass die ersten fünf eindeutig negative Konnotationen haben, die letzten vier hingegen positiv besetzt sind.16 Aufgrund der Allgemeinheit der Eigenschaften und der Tatsache, dass keine Binnendifferenzierungen innerhalb beider Religionsgemeinschaften abgefragt wurden, genügen die abgefragten Images auch den Kriterien der Übervereinfachung und Verallgemeinerung, so dass es sich hierbei um eine valide Messung von Vorurteilen handeln dürfte. Nach einer univariaten Auswertung wurden die Ergebnisse nach dem Merkmal der Religionszugehörigkeit differenziert. Die Religionszugehörigkeit wurde dabei dichotomisiert, so dass lediglich die Merkmale ‚Christ‘ für Katholiken und Protestanten sowie Angehörige der Frei- und Orthodoxen Kirchen und ‚konfessionslos‘ für diejenigen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören, als Ausprägungen einbezogen wurden. Es handelt sich durchweg um deskriptive Analysen, die keine unmittelbaren Kausalschlüsse zulassen. Dennoch kann untersucht werden, ob und inwieweit sich soziale Kategorisierungs- und Abgrenzungstendenzen in den Daten wiederfinden.
Ergebnisse Vergleicht man die Eigenschaftszuschreibungen zum Islam mit denen zum Christentum, so scheinen sich die Assoziationen geradezu diametral gegenüber zu stehen (vgl. Abb. 1). Fällt das Stichwort Islam, so denken die Menschen in Deutschland offenbar zuerst an die Benachteiligung der Frau (81,9%), Fanatismus (72,2%) und Gewaltbereitschaft (61,8%). Auch Engstirnigkeit assoziieren immerhin 53,1 Prozent der Befragten mit dem Islam. Demgegenüber werden Fanatismus und Gewaltbereitschaft lediglich 13 Bei dem Stichprobendesign der Arbeitsgemeinschaft deutscher Marktforschungsinstitute
(ADM) wird eine Zufallsstichprobe auf der Basis eines dreistufigen Verfahrens aus der Grundgesamtheit aller deutschen Privathaushalte gezogen. 14 Die Datenerhebung erfolgte vor dem Ausbruch der Debatte um die Thesen von Thilo Sarrazin, so dass hieraus resultierende Verzerrungen ausgeschlossen werden können. 15 Computer Assisted Personal Interview. 16 In der Erhebung sind negative und positive Eigenschaften gemischt abgefragt worden.
204
Die Bilder der Deutschen vom Islam
90% 80%
islam
70%
christentum
60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% Achtung der Menschenrechte
solidarität
benachteiligung der Frau
toleranz
engstirnigkeit
rückwärtsgewandtheit
Friedfertigkeit
gewaltbereitschaft
Fanatismus
Abb.1: Images vom Islam und vom Christentum
zu 9,3 Prozent und 5,2 Prozent als charakteristisch für das Christentum eingeschätzt. Die Benachteiligung der Frau sehen knapp über 10 Prozent (10,4%) als Merkmal des Christentums. Das Christentum wird hingegen zu über 50 Prozent mit Friedfertigkeit (57,9%) und Achtung der Menschenrechte (55,2%) assoziiert. Knapp weniger als die Hälfte (49,8%) halten das Christentum zudem für solidarisch. Alle drei Eigenschaften wollen dem Islam hingegen weniger als 10 Prozent der Bürger zusprechen.17 Auch im Hinblick auf Toleranz finden wir erhebliche Unterschiede in den Zuschreibungen, obwohl es so zu sein scheint, dass Toleranz generell nicht das erste ist, woran die Menschen bei beiden Religionsgemeinschaften denken. So wollen dem Christentum immerhin noch 44,8 Prozent Toleranz attestieren, während den Islam nur 4,8 Prozent für tolerant halten. Dies ist zugleich das Image mit der geringsten Zustimmungsquote bei den Assoziationen mit dem Islam. Insgesamt fällt auf, dass die negativen Eigenschaftszuschreibungen beim Islam stärker ausfallen als dies für die positiven Merkmale beim Stichwort Christentum gilt. Das ist insofern relevant, als dieser Befund die Annahme der SIT, die eine Überbetonung der positiven Eigenschaften der 17 Zustimmung in Prozent: Friedfertigkeit 7,6%; Solidarität 8,5%; Achtung der Menschen-
rechte 6,5%.
205
Nils Friedrichs
Eigengruppe ins Zentrum der Überlegungen stellt, zumindest etwas relativiert. Dennoch bleibt festzuhalten, dass sich massive Differenzen in den Eigenschaftszuschreiben zu den beiden Religionsgemeinschaften feststellen lassen. Allein beim Merkmal Friedfertigkeit ergibt sich eine Differenz von 50,3 Prozentpunkten. Noch größer sind die Differenzen bei den Eigenschaften Gewaltbereitschaft und Fanatismus (56,6 und 62,9 Prozentpunkte). Wenn es um die Frage geht, ob die Religion Frauen benachteilige, unterscheiden sich die beiden Religionen in der Bewertung gar um 71,5 Prozentpunkte. Und selbst bei den Eigenschaften, bei denen die Unterschiede deutlich geringer ausfallen, liegen sie immerhin noch bei 17,5 Prozentpunkten bei Rückwärtsgewandtheit und 25 Prozentpunkten bei Engstirnigkeit. Selbst diese geringeren Differenzen sind statistisch gesehen gravierend. Obgleich die Ergebnisse der reinen Häufigkeitsauszählung die Vermutung nahe legen, dass es sich hierbei um die Entwicklung eines positiven Bildes vom Christentum auf der einen und eines entsprechend negativen Bildes vom Islam auf der anderen Seite handelt, wäre diese Schlussfolgerung an dieser Stelle der Analyse verfrüht. Es ist vorstellbar, dass ein Teil der Befragten die beiden Religionsgemeinschaften nicht primär positiv oder negativ betrachtet, sondern es eher zur Ausbildung einer ambivalenten Wahrnehmung kommt. Um die Frage beantworten zu können, ob dies zutrifft, wurden die Häufigkeiten der Nennungen der positiv und negativ besetzten Merkmale getrennt und jeweils für den Islam und das Christentum zu einem Index summiert. Für beide Religionsgemeinschaften gilt also im Bereich der positiven Eigenschaften eine mögliche Variation von null bis zu vier Nennungen (Merkmale: Friedfertigkeit, Toleranz, Solidarität, Achtung der Menschenrechte), bei den negativen Attributen sind minimal null und maximal fünf Nennungen möglich (Merkmale: Fanatismus, Gewaltbereitschaft, Rückwärtsgewandtheit, Engstirnigkeit, Benachteiligung der Frau). Diese Berechnung des Index wurde ausschließlich auf Basis der Unterscheidung ‚positive/negative Konnotation‘ vorgenommen. Dass die verschiedenen Vorurteile zum Teil sehr unterschiedliche Eigenschaften beschreiben, bleibt also unberücksichtigt. Auf der Basis der theoretischen Vorüberlegungen scheint die Differenz zwischen den negativen Merkmalen für die prinzipielle Erklärung der Konstruktion von Feindbildern nicht so entscheidend zu sein. Im Anschluss wurden die Häufigkeiten der Nennungen von positiven und negativen Bildern über Kreuzauswertungen zueinander in Beziehung gesetzt. Dies wurde separat für das Christentum und den Islam durchgeführt. Aufgrund der Betonung der Entwicklung positiver Vorurteile für die Eigengruppe, bzw. im vorliegenden Kontext für die ‚bekannte‘ Gruppe, sollen zunächst die Ergebnisse für die Bilder vom Christentum in den Blick genommen werden (vgl. Tab. 1). 206
Die Bilder der Deutschen vom Islam negative Merkmale des Christentums 0
positive Merkmale des Christentums
Gesamt
1
2
3
4
5
Gesamt
0
5,7%
6,6%
4,4%
3,0%
0,8%
0,1%
20,6%
1
9,9%
3,1%
2,8%
1,3%
0,3%
0,1%
17,6%
2
11,9%
3,2%
2,2%
0,5%
0,1%
0,1%
18,1%
3
14,3%
4,0%
1,4%
0,9%
0,2%
0,1%
20,8%
4
18,2%
2,3%
1,2%
0,4%
0,3%
0,4%
22,9%
60,0%
19,2%
11,9%
6,0%
1,9%
1,0%
100,0%
Tab. 1: Bild der Deutschen vom Christentum
Da für die Definition des Feindbildbegriffs festgelegt wurde, es müsse sich um ein konsistentes negatives Gesamtbild handeln, soll empirisch nur dann von einem Feindbild die Rede sein, wenn mindestens zwei negative aber nur maximal ein positives Merkmal benannt wurden. Für ein insgesamt positives Bild im Sinne des in-group-bias soll das gleiche gelten. Es liegt also dann ein positives Bild vor, wenn mindestens zwei positive Merkmale und maximal ein negatives vorhanden sind. Die Werte, die diesen Kriterien entsprechen, sind in den Tabellen jeweils fett umrandet dargestellt. 44,4 Prozent der Befragten assoziieren mit dem Christentum nur positive Eigenschaften, so dass hier von einem ausschließlich positiven Bild des Christentums gesprochen werden kann. Ein überwiegend positives Bild, bei dem zumindest auch ein negatives Merkmal des Christentums genannt wurde, haben 9,5 Prozent der Befragten. Nach diesen Kriterien verfügen also insgesamt über 50 Prozent (53,9%) der Deutschen über ein positives Bild vom Christentum. Gibt es demgegenüber so etwas wie ein Feindbild ‚Islam‘ in Deutschland? Nach den festgelegten Kriterien zur Bestimmung des Feindbildes zeigt sich bei dreiviertel (75,2%) der Deutschen ein entsprechendes Bild (vgl. Tab. 2). Dabei benennt die überwiegende Mehrheit von 67,5 Prozent nur negative Eigenschaften, lediglich 7,7 Prozent sehen wenigstens eine positive Eigenschaft des Islam bei gleichzeitig zwei bis vier negativen Eigenschaften. Es liegt also bei der deutlichen Mehrheit der Deutschen ein Feindbild ‚Islam‘ vor. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, inwieweit die Entwicklung dieses Feindbildes als Ergebnis sozialer Kategorisierung verstanden werden kann, also ob die negativen Eigenschaftszuschreibungen zum Islam mit der Betonung eines positiven Bilds vom Christentum einhergehen. 207
Nils Friedrichs negative Merkmale des Islam 0
positive Merkmale des Islam
Gesamt
1
2
3
4
5
Gesamt 83,4%
0
4,7%
11,1%
11,6%
16,8%
1
1,0%
1,3%
1,9%
1,6%
2,3%
1,9%
10,0%
2
0,5%
0,6%
0,6%
0,5%
0,9%
0,7%
3,9%
3
0,7%
0,0%
0,1%
0,1%
0,3%
0,2%
1,5%
4
0,5%
0,2%
0,0%
0,0%
0,0%
0,5%
1,3%
7,4%
13,3%
14,3%
19,0%
22,1% 24,0%
100,0%
18,4% 20,7%
Tab. 2: Bild der Deutschen vom Islam
Um diese Frage beantworten zu können, wurde das Ergebnis in einem zweiten Schritt nach der Häufigkeit der Nennung positiver Images beim Christentum differenziert. Dabei wird zwischen drei Graden der sozialen Kategorisierung unterschieden. Stehen sich die Zuschreibungen zum Islam und zum Christentum diametral gegenüber, so dass dem Islam ausschließlich negative, dem Christentum hingegen nur positive Attribute zugeschrieben werden, so soll von starker sozialer Kategorisierung (im Sinne der SIT) gesprochen werden. Wird der Islam hingegen ‚nur‘ überwiegend mit negativen und das Christentum ‚nur‘ überwiegend mit positiven Merkmalen charakterisiert, so liegt lediglich eine schwache soziale Kategorisierung vor. Diese analytische Unterscheidung erscheint notwendig, denn wenn ein negatives Islambild, das jedoch auch ein positives Element enthält, zusammen mit einem positiven Bild des Christentums, in dem auch ein negatives Merkmal zu finden ist, auftritt, so lässt dies eine deutlich größere Ambivalenz in Bezug auf eine klare Trennung im Sinne von ‚wir‘ und ‚die Anderen‘ erkennen. Dennoch sollte auch bei einer solchen Ambivalenz noch von sozialer Kategorisierung gesprochen werden, da eine klare Differenzierung zwischen der Eigen- und der Fremdgruppe erkennbar bleibt. Eine mittelstarke soziale Kategorisierung findet sich schließlich, wenn dem Islam nur negative, dem Christentum hingegen ein negatives Image zugeordnet wird und umgekehrt, also zumindest ein positives Merkmal des Islam mit ausschließlich positiven Eigenschaften des Christentums einhergeht (vgl. Tab. 3). Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Bevölkerung tatsächlich auf der Basis des Merkmals ‚Religion‘ soziale Kategorisierungen vornimmt, wie es in der SIT postuliert wird. 208
Die Bilder der Deutschen vom Islam Bilder des Islam nicht deutlich negativ nicht deutlich positiv Bilder des nur positiv Christentums überwiegend positiv Gesamt
nur negativ
überwiegend negativ
Gesamt
15,6%
26,5%
4,0%
46,1%
7,5%
34,3%
2,6%
44,4%
1,6%
6,9%
1,0%
9,4%
24,7%
67,6%
7,6%
100,0%
Tab. 3: Kreuztabelle: Bilder des Islam und Bilder des Christentums
In Tabelle 4 sind die Ergebnisse zur sozialen Kategorisierung nochmals zusammenfassend dargestellt. Immerhin 34,3 Prozent der Befragten nehmen eine klare Kategorisierung in dem Sinne vor, dass ein ausschließlich aus positiven Eigenschaftszuschreibungen zusammengesetztes Bild des Christentums mit einem (Feind-)Bild des Islam einhergeht, das nur aus negativen Merkmalsassoziationen besteht. Die beiden anderen angenommenen Intensitäten sozialer Kategorisierung finden sich demgegenüber nur in verschwindend geringem Ausmaß. Stärke der sozialen Kategorisierung Starke soziale Kategorisierung
34,3%
Mittlere Kategorisierung
9,5%
Schwache Kategorisierung
1,0%
Summe soziale Kategorisierung
44,8%
Tab. 4: Stärke der Sozialen Kategorisierung
So zeigt sich, dass etwas weniger als 10 Prozent (9,5%) eine mittlere Kategorisierungsintensität aufweisen. Lediglich ein Prozent der Befragten zeigt eine schwache Kategorisierung. Die Tatsache, dass knapp die Hälfte der Deutschen soziale Kategorisierungen vornimmt und starke soziale Kategorisierungen zudem deutlich häufiger auftreten als schwache soziale Kategorisierungen, kann als Bestätigung dafür gelesen werden, dass es sich hier um Differenzierungsprozesse auf der Basis eines Gruppenmerkmals handelt. Das Bekannte wird favorisiert, das Unbekannte abgewertet, indem der eigenen Gruppe positiv, der anderen Gruppe negativ besetzte Attribute zugeordnet werden. 209
Nils Friedrichs
Inwieweit aber identifizieren sich Christen eher mit dem Christentum als dies bei Konfessionslosen der Fall ist? Hierfür wurden die Ergebnisse nochmals nach der Religionszugehörigkeit differenziert (vgl. Tab. 5). Stärke der Kategorisierung
Christen
Konfessionslose
Starke soziale Kategorisierung
40,7%
21,8%
Mittlere soziale Kategorisierung
10,1%
8,3%
Schwache soziale Kategorisierung
0,9%
1,2%
Summe sozialer Kategorisierung
51,7%
31,3%
Tab. 5: Stärke der sozialen Kategorisierung differenziert nach Religionszugehörigkeit
Wie theoretisch angenommen wurde, sind deutliche Unterschiede in der Stärke der sozialen Kategorisierung zwischen Christen und Konfessionslosen erkennbar. Während bei fast 41 Prozent der Christen ein sehr positives Christentumsbild bei einem gleichzeitig deutlich negativen Bild des Islam vorliegt, findet sich diese Merkmalskombination lediglich bei knapp 22 Prozent der Konfessionslosen. Auch wenn man die gemäßigteren Kriterien für soziale Kategorisierung verwendet, ändert sich das Bild nicht. Bei über der Hälfte der Christen (51,7%) gehen positive Merkmalszuschreibungen zur eigenen Religion mit tendenziell überwiegend negativen Attribuierungen der fremden Religion gegenüber einher. Dies lässt sich nur bei 31,3 Prozent der Konfessionslosen beobachten. Die Ergebnisse sprechen für die Annahme, dass – aufgrund einer stärkeren Identifikation mit dem Christentum – bei konfessionell Gebundenen eher eine Betonung der positiven Eigenschaften des Christentums in Kombination mit einer Abwertung des Islam auftritt als bei Menschen ohne religiöse Zugehörigkeit. Es ist also davon auszugehen, dass der soziale Vergleich hier in der Tat unter der Inklusivkategorie ‚Religion‘ stattfindet. Für die Konfessionslosen scheint die Identifikation mit dem Christentum trotz kultureller Prägung eben nicht so weit zu gehen, dass die Gruppe der Christen als das ‚Eigene‘ bezeichnet werden kann. Trifft diese Überlegung zu, so ist zu erwarten, dass das Bild der Konfessionslosen vom Christentum deutlich negativer ausfällt, als dies bei den Christen der Fall ist. Dann wäre die geringere soziale Kategorisierung der Konfessionslosen – mittels der Inklusivkategorie Religion – im Vergleich zu den Christen wahrscheinlich auf eine negativere Bewertung des Christentums, nicht auf ein positiveres Bild vom Islam zurück zu führen. Denn die Stärke der sozialen Kategorisierung sagt zunächst noch wenig über das Islambild von Konfessionsungebundenen und Angehörigen des Christen210
Die Bilder der Deutschen vom Islam
tums aus. Betrachtet man hierzu die Ergebnisse, so haben insgesamt 75,4 Prozent der Christen ein eher negatives Islambild, bei den Konfessionslosen sind es sogar 80 Prozent (vgl. Tab. 6). negative Merkmale des Islam
Konfessionslose
Positive Merkmale des Islam
0
1
2
3
4
5
Gesamt
0
4,1%
10,3%
11,5%
16,1%
21,5%
22,7%
86,3%
1
0,8%
1,5%
1,2%
1,0%
2,9%
3,1%
10,5%
2
0,0%
0,3%
0,0%
0,3%
0,0%
0,8%
1,5%
3
0,3%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,3%
0,7%
4
0,0%
0,2%
0,2%
0,0%
0,0%
0,7%
1,0%
5,3%
12,4%
12,9%
17,5%
24,4%
27,6%
100,0%
Gesamt
Tab. 6: Das Bild der Konfessionslosen vom Islam
Es kann also nicht behauptet werden, Konfessionslose hätten weniger Vorurteile als Christen. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein, wobei die Differenz von 4,6 Prozentpunkten nicht überbewertet werden sollte. Umgekehrt zeigt sich, dass nur 35,6 Prozent der Konfessionslosen ein deutlich positives Bild vom Christentum haben, gegenüber 62,2 Prozent Christen, auf die das zutrifft (vgl. Tab. 7). Folgt man der Argumentation von Mummendey, die betont, die positive Bewertung der Eigengruppe sei der primäre Effekt, so scheinen die knapp zwei Drittel der Christen, die eine solche Bewertung vornehmen, sogar eher erstaunlich wenig zu sein. negative Merkmale des Christentums
Christen
positive Merkmale des Christentums
Gesamt
Gesamt
0
1
2
3
4
5
0
3,5%
4,6%
2,8%
1,6%
0,4%
0,1%
13,0%
1
10,3%
2,3%
2,7%
1,2%
0,1%
0,0%
16,7%
2
13,3%
3,0%
1,9%
0,5%
0,1%
0,1%
18,8%
3
15,9%
4,2%
1,7%
1,0%
0,2%
0,2%
23,1%
4
23,1%
2,7%
1,4%
0,5%
0,4%
0,3%
28,4%
66,0%
16,9%
10,5%
4,8%
1,2%
0,6%
100,0%
Tab. 7: Das Bild der Christen vom Christentum
Während sich Christen also relativ stark mit dem Christentum identifizieren, sind die Konfessionslosen hier deutlich distanzierter. Sie markieren damit durchaus eine Grenze zwischen religiös und säkular, indem sie 211
Nils Friedrichs
der Religion weniger positive Merkmale zuschreiben, als Christen das tun. Gleichzeitig verfügen jedoch nur 22,2 Prozent der Konfessionslosen über so etwas wie ein Feindbild Christentum. Es muss also auch bei den Konfessionslosen ein immenser Unterschied zwischen dem Bild vom Christentum verglichen mit jenem vom Islam festgestellt werden. Dass Konfessionslose sich mit Religionsangehörigen sozial vergleichen, lässt sich also nicht eindeutig und umfassend feststellen, obgleich durchaus Tendenzen für soziale Vergleichsprozesse beobachtbar sind. Bedenkt man aber, dass über ein Drittel der Menschen ohne Religion sogar ein sehr positives Bild von der christlichen Religion hat, muss eher von einer nicht zu unterschätzenden kulturellen Prägung auch der Konfessionslosen durch das Christentum ausgegangen werden.
Zusammenfassung Die Analysen konnten zeigen, dass ein Großteil der Menschen in Deutschland dem Islam nicht nur kritisch gegenüber steht, sondern ein ganzes Set von Vorurteilen hegt, die durchaus mit dem Begriff des Feindbildes bezeichnet werden können. Dies ist bei Konfessionslosen sogar in noch etwas stärkerem Maße der Fall als bei Christen. Da Religion ihnen generell weniger vertraut sein dürfte, nehmen sie den Islam möglicherweise noch einmal zusätzlich als fremd wahr. Dass die Hälfte der Christen ein Feindbild in Kombination mit einem deutlich positiven Bild der eigenen Religion entwickelt, spricht dafür, dass hier eine Kategorisierung im Sinne eines ‚Wir‘ und ‚die Anderen‘ entsteht, die die eigene Religion als ‚das Bessere‘ ansieht, um sich vom Islam abzugrenzen. Solidarisierungstendenzen der Christen mit dem Islam sind hingegen nicht erkennbar gewesen. Das spricht dafür, dass Theorien sozialer Kategorisierung, wie die SIT und das EigengruppenProjektions-Modell, auch im Falle so globaler Kategorien wie der Religionszugehörigkeit durchaus Erklärungspotential besitzen. Konfessionslose differenzieren entgegen der Annahme deutlich zwischen beiden Religionen. Das Christentum betrachten sie auch eher ambivalent als ablehnend. Dieses Ergebnis kann auch als Hinweis darauf gelesen werden, dass sie die Religion weniger als Merkmal sozialer Kategorisierung betrachten, es für sie also eine weniger relevante Eigenschaft im sozialen Vergleich darstellt. Die Tatsache, dass Konfessionslose kein eindeutiges Bild vom Christentum haben und auch die Christen ‚nur‘ zu etwa 50 Prozent in der angenommenen Weise kategorisieren, spricht dafür, dass die Entstehung von Vorurteilen nicht allein durch Prozesse des sozialen Vergleichs auf der Basis von Gruppenidentitäten erklärt werden kann. Zusätzlich sollten auch soziodemographische 212
Die Bilder der Deutschen vom Islam
Merkmale wie das Alter und der Bildungsgrad einbezogen werden. Ebenso sollten individuelle Dispositionen und die Lebensumstände der Befragten berücksichtigt werden. Darüber hinaus sollte auch näher untersucht werden, welche Bedeutung der formalen Religionszugehörigkeit im Leben der Menschen zugesprochen werden kann. So ist bei diesem Merkmal nicht klar, inwieweit es tatsächlich auch im Selbstkonzept der Individuen repräsentiert ist. So sollten die Differenzierungsprozesse bei Christen, deren Religion einen hohen Stellenwert für sie besitzt, und bei überzeugten Atheisten ungleich stärker ausfallen. Auch kann über diese Variable nicht abgegrenzt werden, ob die Identifikation mit dem Christentum eher einer kulturellen oder religiösen Prägung geschuldet ist. Hier sollten zusätzlich Aussagen zur religiösen Orientierung und zur Relevanz der Religion im eigenen Leben einbezogen werden. Zuletzt ist ebenfalls davon auszugehen, dass auch individuelle Merkmale einen Teil zur Erklärung von Vorurteilen beitragen können. Man sollte ihre Bedeutung also auch bei der Fokussierung auf eine intergruppale Ebene keinesfalls unterschätzen. Abschließend kann gesagt werden, dass die Bilder der Deutschen vom Islam nicht nur Vorurteile beinhalten, sondern dass es in der Tat zur Kon struktion eines Feindbildes kommt. Jedoch scheint es bei seiner Entstehung weniger um konkrete (Ressourcen-)Konflikte als viel eher um die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden zu gehen.
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215
Von Ketzern und Terroristen? Zum analytischen Nutzen eines interdisziplinären Feindbildbegriffs Eva-Maria Schrage
In öffentlichen Debatten ist es populär geworden, von Feindbildern zu sprechen. Der Begriff wird nicht nur in Berichten über Kriege und andere gewalttätige Konflikte verwendet, sondern geistert auch durch die Diskussionen über Vorurteile und Stereotype in der europäischen Gesellschaft (vgl. z. B. Wagenlehner 1989: 6; Heine 1996: 10). Für den Gebrauch in den Sozial- und Geisteswissenschaften erweist sich dieses scheinbar so plausible Konzept jedoch bei näherer Betrachtung als recht diffus. Es gibt eine Vielzahl von Sammelbänden und Monographien, die jeweils ein bestimmtes Feindbild zum Gegenstand haben: Das Feindbild Judentum (vgl. Rensmann/Schoeps 2008) etwa, das Feindbild Christentum im Islam (vgl. Spuler-Stegemann 2004a), das Feindbild Zuwanderer (vgl. Sir Peter Ustinov Institut 2009) oder das Feindbild Amerika (vgl. Diner 2002). Die Rede vom Feindbild Islam (vgl. Karis i. d. B.; sowie z. B. Heine 1996; Hippler/Lueg 2002; Königseder 2009) ist in einem ganzen Forschungszweig gängig geworden und sicherlich das aktuellste Beispiel für einen medialen Feindbild-Diskurs. Was man allerdings vergeblich sucht, sind systematische Arbeiten zum Begriff des Feindbildes selbst sowie vergleichende, interdisziplinäre Studien dazu. Ein und derselbe Begriff wird auf die gegenseitige Wahrnehmung von Konfliktparteien in bewaffneten Auseinandersetzungen1 und auf innergesellschaftliche Vorurteile gegenüber Minderheiten angewendet, ohne dass die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Feindbildkonstruktionen reflektiert werden. Wir haben Fallstudien zu Feindbildern aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen, in denen der Feindbildbegriff unterschiedlich verwendet wird, bewusst in diesem Band zusammengestellt. Das Interesse am beständig in der Forschung gebrauchten, aber kaum geklärten Begriff des Feindbildes brachte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zusammen, die kaum mehr teilten als die Arbeit im thematischen Feld ‚Religion und Politik‘.2 In 1 Diesbezüglich siehe z. B. die Monographie Wie Feindbilder entstehen. Eine Theorie eth-
nischer und religiöser Konflikte von Günther Schlee (2006).
2 Das Projekt entstand in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe des Exzellenzclusters Re-
ligion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
217
Eva-Maria Schrage
keiner der von uns vertretenen Disziplinen – den Geschichtswissenschaften, der Theologie, der Religionswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Kommunikationswissenschaft oder der Soziologie – gibt es ein theoretisch ausgearbeitetes Feindbildkonzept. Feindschaft und Konflikte zwischen Gesellschaften und Gruppen sind allerdings Phänomene, mit denen es beinahe jeder kulturinteressierte Geistes- und Sozialwissenschaftler einmal zu tun bekommt. Die meisten von uns beschäftigen sich in ihren aktuellen Projekten mit konkreten Fragestellungen, für die das Konzept des Feindbildes relevant ist. Die Beiträge über Ketzer, Terroristen und andere soziale Konstruktionen des Feindes in diesem Band zeigen, wie man den Begriff variabel anwenden kann; oder die Autoren tragen Argumente vor, in bestimmten Fällen auf ihn zu verzichten (vgl. Jensz; Karis i. d. B.). Der Begriff des Feindbildes wird zwar nicht in allen Beiträgen dieses Bandes einheitlich verwendet, aber die empirischen Ergebnisse lassen sich sinnvoll miteinander verbinden. Für einen interdisziplinären Begriff des Feindbildes gilt, wie für alle Begriffe, dass seine Angemessenheit nur in Relation zum jeweiligen Gegenstand bestimmt werden kann. In diesem Artikel werden die Fallstudien in der Gesamtschau und insbesondere ihre Konsequenzen für den Nutzen eines interdisziplinären Feindbildbegriffes diskutiert. Die empirischen Ergebnisse zu Feindbildern vom Mittelalter bis in die Gegenwart werden so in einen Zusammenhang gebracht. Dabei werden auch Impulse aus gesellschaftlichen Debatten, soziologischen Modellen und dem Forschungsstand rund um Feindbilder aufgegriffen. Ziel ist es zu zeigen, wie der Feindbildbegriff als Analysekategorie abgegrenzt und nutzbar gemacht werden kann. Dafür wird zunächst die Politisierbarkeit des Feindbildbegriffes thematisiert, die einen kritischen Umgang mit dem Konzept notwendig macht. Sodann werden einige theoretisch-systematische Zugänge zur Entstehung und den Funktionen von Feindbildern skizziert, um den Begriff inhaltlich zu bestimmen. Die vielfältigen Fallstudien dieses Bandes werden darüber hinaus eingeordnet, indem Feindbilder in Kriegen und Konflikten und der aktuelle Diskurs um Feindbilder in der europäischen Gegenwartsgesellschaft getrennt behandelt werden. Der Artikel schließt mit einigen Überlegungen zur Frage nach der gesellschaftlichen Universalität und den Chancen des Abbaus von Feindbildern. Auch in diesem Artikel kann keine umfassende Soziologie des Feindbildes entwickelt werden, und es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Die vorliegende Skizze soll vielmehr auf Bedenkenswertes hinweisen und Anregungen für detailliertere Forschungen geben.
218
Von Ketzern und Terroristen?
Zur Problematik der politischen Instrumentalisierbarkeit des Feindbildbegriffs In den Sozial- und Geisteswissenschaften sollte der Begriff des Feindbildes schon aufgrund seiner politischen Instrumentalisierbarkeit sorgfältig bestimmt werden. Die Propaganda mit Feindbildern wird heute im Wesentlichen als illegitime politische Strategie wahrgenommen, wodurch die Verwendung des Begriffes selbst zum Politikum geraten kann: Feindbilder sind dann immer nur die Feindbilder der Anderen. Verena Voigt hat in ihrem Beitrag beispielsweise rekonstruiert, dass im Israelisch-Palästinensischen Konflikt der Vorwurf, Feindbilder aufrechtzuerhalten und Hass zu fördern, von beiden Konfliktparteien bewusst politisch instrumentalisiert wird. Indem Regierungsvertretungen und Lobbygruppen beider Seiten Belege dafür sammeln, dass die gegnerische Konfliktpartei weiterhin mit Feindbildern Propaganda betreibe, machen Israelis und Palästinenser sich gegenseitig für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich (vgl. Voigt i. d. B.). Der Vorwurf der Feindbildpropaganda ist zum Bestandteil von ‚Metadiskursen‘ geworden, die manchmal auch sehr merkwürdige Formen annehmen können. Die Islamdebatten der Gegenwart sind ein aktuelles Beispiel für eine solche Diskussion über Feindbilder. Ohne die Berechtigung von politischen Diskussionen um das Konfliktpotential religiöser Vielfalt in Frage zu stellen, haben Vorurteilsforscher etwa vielfach rassistische und islamfeindliche Einstellungen in den Medien und in der Gesellschaft nachweisen können (vgl. z. B. Schneiders 2009a; Leibold/Kühnel 2008; Königseder 2009; Friedrichs i. d. B.). Diese Untersuchungen sind nicht mehr und nicht weniger berechtigt als Forschungen über die Verbreitung von Antisemitismus und religiöser Intoleranz in muslimischen Milieus (vgl. z. B. Schneiders 2010; Wetzel 2009; Benz/Wetzel 2007; Tibi 2004; Spuler-Stegemann 2004b). Solche Ergebnisse können – eigentlich unnötig zu erwähnen – natürlich immer diskutiert, kritisiert und sogar falsifiziert werden. Manchmal verfolgen Kritiker der Vorurteilsforschung aber keine erkenntnisorientierten, sondern politische oder persönliche Interessen: So wurde das renommierte Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) 2008 allein dafür angefeindet, dass eine Tagung mit dem Titel Feindbild Muslim – Feindbild Jude (vgl. Benz 2009) veranstaltet wurde. Betont pro-israelisch und philosemitisch argumentierenden Islamgegnern hatte es nicht gepasst, dass Ressentiments gegen Muslime und Juden miteinander verglichen (nicht gleichgesetzt!) wurden. Auf den Sammelband Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen (Schneiders 2009a) erschien ein Jahr später Feindbild Islamkritik. Wenn die Grenzen zur Verzerrung und Diffamierung überschritten werden als Replik (Krauss 219
Eva-Maria Schrage
2010). Wie man schon dem Klappentext der letzteren Publikation entnehmen kann, setzt der Herausgeber voraus, dass sich Wissenschaft, Medien und Politik mit islamischen Verbänden und Konvertiten gegen die so genannten ‚Islamkritiker‘3 verschworen hätten. Mit anderen Worten: Man beansprucht, dass ‚Islamkritiker‘ nicht Urheber, sondern Opfer einer Feindbildkonstruktion geworden sind. Kaum ein Beitrag im genannten Buch genügt wissenschaftlichen Kriterien. Das lässt sich etwa daran erkennen, dass ein Artikel über die problematischen Argumentationsstrukturen von ‚Islamkritikern‘ (vgl. Schneiders 2009b) folgendermaßen kommentiert wird: „Nun, wenn man die Tatsachen schlecht leugnen kann, so kritisiert man eben die Methodik. Ein alter Trick“ (Meier 2010: 132). Hier wird eine der Grundtechniken des wissenschaftlichen Argumentierens – die Methodenkritik – sogar explizit als „Trick“ abgelehnt, während nicht belegte Behauptungen zu „Tatsachen“ erklärt werden. Zum Schein wird manchmal sogar in radikalen politischen Kreisen die Norm aufgegriffen, dass Feindbilder gesellschaftlich nicht wünschenswert sind. So heißt es auf der offen islamfeindlichen Website Politically Incorrect4 (auch: PI-News): „Der Islamkritiker ist das Feindbild Nummer eins der deutschen Medien“ (Politically Incorrect 2009). Die Autoren dieser Website, auf der Muslime als „Muselpack“ (zit. n. Shooman 2009: 81) beschimpft werden, instrumentalisieren den Feindbildbegriff, um zu behaupten, ‚Islamkritiker‘ würden in den deutschen Medien ungerecht behandelt. Nur wenn man den Feindbildbegriff grundlegend bestimmt, kann man solche Argumentationen als politisch motiviert entlarven: Ob ein Feindbild vorliegt, ist nämlich keineswegs eine Frage des politischen Standpunkts. Nicht jede Kritik, nicht jede negative Darstellung, nicht jedes Vorurteil oder Fremdbild kann als Feindbildkonstruktion bezeichnet werden. Das ist auch für eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung von Bedeutung: Vorurteile und Fremdbilder sind zwar ebenso wie Feindbilder identitätsstiftend, aber sie machen nicht das Schicksal der Welt vom Sieg über einen vermeintlichen Feind abhängig. Feindbilder hingegen lassen sich sogar von einem konkreten Gegenüber lösen und abstrahieren: So entstehen Feindbilder 3 Der Terminus ‚Islamkritik‘ ist problematisch, weil es sich um einen politischen Kampf-
4
begriff handelt. Ihrem Selbstverständnis nach sehen sich die meisten ‚Islamkritiker‘ und ‚Islamkritikerinnen‘ als Verteidiger der liberalen, säkularen Demokratien in Europa, während sie den Islam generalisierend als Gegenkonzept dazu konstruieren. ‚Islamkritik‘ hat oft zur Prämisse, dass das Schicksal Europas davon abhängt, ob die vermeintliche Bedrohung durch ‚den Islam‘ bewältigt werden kann. Damit unterscheidet sich die ‚Islamkritik‘ als Ausdrucksform eines Weltbildes von gewöhnlicher Kritik an muslimischen Gemeinden und Verbänden, einzelnen Muslimen oder auch der Kritik an religiösen Positionen und Praktiken im Islam, mit der sachlich und konkret auf Missstände hingewiesen werden soll (vgl. dazu auch Schneiders 2009b: 405f.; Akgün 2011: 48–63). Für eine detaillierte Analyse der Website Politically Incorrect vgl. Shooman 2008; 2009.
220
Von Ketzern und Terroristen?
wie Kommunismus, Kapitalismus, Religion – die dann gefährlich werden, wenn in Individuen oder bestimmten Bevölkerungsgruppen vermeintlich die Urheber des Übels gefunden werden. Ein interdisziplinärer Begriff des Feindbildes kann damit vielleicht ein soziales Phänomen bezeichnen, das sich – trotz inhaltlicher Überschneidungen – von Vorurteilen und Fremdbildern unterscheidet.
Zur Abgrenzung des Begriffs: Entstehung und Funktionen von Feindbildern Für die Entstehung, Transformation und Art der Rezeption von einzelnen Feindbildern kann man, wie unsere Fallstudien zeigen, viele Erklärungen finden. Im jeweils konkreten historischen und gesellschaftlichen Kontext wird zumeist verständlich, wie Feindbilder konstruiert werden und wirken. Die Feindbilder in Vormoderne und Moderne, die in den Beiträgen unseres Bandes rekonstruiert werden, variieren in vielerlei Hinsicht: Einige wurden von Regierungen und politischen Parteien, andere von Klerikern in die Welt gesetzt; die Autorinnen und Autoren beschreiben Beispiele für sehr populäre, aber auch gesellschaftlich umstrittene Feindbilder. Einige Kon struktionen haben gleichsam ihr Haltbarkeitsdatum überschritten, während an anderer Stelle historische Feindbilder in der Gegenwart zu neuem Leben erweckt werden. Schon aufgrund dieser Vielfalt erweist es sich als schwierig, die Fragen nach der Entstehung und den Funktionen von Feindbildern theoretisch und systematisch zu beantworten. Allerdings können zwei Erklärungen für die Entstehung von Feindbildern herausgearbeitet werden, die in den Analysen unserer Autoren und Autorinnen besonders häufig aufgegriffen werden: Die Wurzeln von Feindbildern werden einerseits in Prozessen der Konstruktion kollektiver Identitäten gesucht, andererseits aber auch in den Interessenkonstellationen in politischen Krisen, Konflikten und Kriegen (vgl. auch Platt 2003). Die Autoren unserer Beiträge können die Entstehung der untersuchten Feindbilder zumeist auf mindestens einen der beiden Faktoren zurückführen. Eva Schaten rekonstruiert den Anti-Hispanismus im frühneuzeitlichen England als typisches Beispiel für ein staatlich gesteuertes Kriegsfeindbild, während Nils Friedrichs überzeugend zeigen kann, dass es einen Zusammenhang zwischen der positiven Bewertung der eigenen Religion bzw. Identität (Christentum) und der Abwertung einer anderen Religion (Islam) gibt. Bei extremen, mit Gewalt- und Kriegserfahrungen verbundenen Feindbildern, die Verena Voigt am Beispiel des Israelisch-Palästinensischen-Konfliktes und Harutyun Harutyunyan anhand des Tür221
Eva-Maria Schrage
kenbildes von Armeniern untersuchen, scheinen politische Propaganda und Identitätsstiftung zusammenzufallen. Feindbilder erhöhen darüber hinaus in solchen Kriegssituationen die Kampfmoral und sind Strategien, mit Gewalt, Tod und Schuld umzugehen. Die offensichtlich identitätsstiftende Funktion von Feindbildern legt nahe, die Ursachen ihrer Entstehung in Prozessen der Identitätskonstruktion zu suchen, vor allem, weil die damit verbundene Errichtung sozialer Grenzen eine universelle Gegebenheit von Gesellschaft ist. Ein Feindbildkonzept kann etwa an die sozialpsychologische Vorurteilsforschung angelehnt werden.5 Das ist schon deshalb sinnvoll, weil diese Forschungstradition über theoretische Modelle verfügt, die zum Verständnis von Feindbildern sehr hilfreich sind (vgl. Friedrichs i. d. B.). In der Sozialpsychologie nimmt man zur Prämisse, dass Menschen sich selbst und andere immer als Angehörige von Gruppen wahrnehmen. Das impliziert ein Wahrnehmungsschema, das ‚uns‘ von ‚den Anderen‘ unterscheidet. Und weil Menschen nach einem positiven Selbstbild streben, neigen sie dazu, die eigene Gruppe auf- und andere Gruppen abzuwerten. Wenn so Vorurteile entstehen, kann vielleicht auch die Genese von Feindbildern mit den Mechanismen sozialer Kategorisierung erklärt werden (vgl. auch Tajfel 1982). In ihrem soziologischen Modell der Konstruktion kollektiver Identität weisen Eisenstadt und Giesen darauf hin, dass die Errichtung sozialer Grenzen mit der Unterscheidung zwischen Freund und Feind („friends and foes“) einhergeht: „Collective identity is produced by the social construction of boundaries. These boundaries divide and separate the real manifold processes of interactions and relationships; they establish a demarcation between inside and outside, strangers and familiars, kin and akin, friends and foes, culture and nature, enlightenment and superstition, civilization and barbary. Constructing boundaries does necessarily entail a process of inclusion and exclusion – and of what in sociological parlance was often designated as ‘in-groups’ and ‘out-groups’“ (Eisenstadt/Giesen 1995: 74; Hervorh. i. Orig.).
Kollektive Identitäten sind demnach mit wertenden Unterscheidungen zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ verbunden. Einige der genannten Unterscheidungen finden sich sogar als Bestandteile von Feindbildern in unseren Fallstudien, besonders diejenige zwischen Zivilisation und Barbarei bzw. Kultur und Natur (vgl. insb. Harutyunyan, Jensz, Voigt, Karis i. d. B.). Umgekehrt ist deshalb aber nicht jede Unterscheidung von ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ mit einem Feindbild verbunden. Vielmehr kann man erkennen, dass durch Identitäten nicht nur inhärent Grenzen errichtet werden, son5 Einige Überlegungen dazu auch bei Bernhardt 1994: 11f.
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dern meistens auch Wege ihrer geordneten Überschreitung vorgezeichnet werden: Dazu zählen Konversion und Einbürgerung ebenso wie das mühsame Erlernen sozialer Routinen, d. h. zu verstehen‚ ‚wie man sich richtig benimmt‘ in einem Umfeld, in dem man nicht sozialisiert wurde (vgl. Eisenstadt/Giesen 1995: 77–84). ‚Fremdenfeindlichkeit‘ ist daher keineswegs eine notwendige Bedingung für die Entstehung von Feindbildern, wenngleich wir dazu neigen, Feindbilder intuitiv mit der Dämonisierung von Fremden gleichzusetzen (vgl. Jensz i. d. B.). Der klassische Soziologe Georg Simmel (1992b) weist etwa darauf hin, dass Fremde auch als objektiv und exotisch wahrgenommen werden. Gleichzeitig können auch Mitglieder einer Gemeinschaft zum Feindbild werden, wie ‚Ketzer‘ im mittelalterlichen Christentum oder Schiiten im sunnitischen Islam (vgl. Steckel bzw. Schlicht i. d. B.). Feindbilder basieren damit keineswegs per se auf Unterschieden und auf Fremdheit. Schon Sigmund Freud beobachtete, dass überaus ähnliche Gruppen erbittert verfeindet sein können, und nannte dieses Phänomen den „Narzißmus der kleinen Differenzen“ (Freud 1930: 85). Man könnte sagen, dass die Konstruktion sozialer Grenzen von Ambivalenzen und Doppeldeutigkeiten gekennzeichnet ist: „Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst, nicht anders als die Armen und die mannigfachen »inneren Feinde« – ein Element, dessen immanente und Gliedstellung zugleich ein Außerhalb und Gegenüber einschließt“ (Simmel 1992b: 765). Für Feindbilder hingegen ist typisch, dass kein Raum für solche Ambivalenzen bleibt. Vielmehr führen Feindbildkonstruktionen dazu, dass die Logik der Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ ins Absolute getrieben wird. Während der Fremde die Grenzen eines Kollektivs unter dessen Bedingungen überschreiten kann, ist der Feind davon kategorisch ausgeschlossen. Genauso kann man Feindbilder auch von Vorurteilen unterscheiden, die allein noch nicht zu Bestandteilen von Ideologien und festgefügten Weltbildern taugen. Vielmehr entstehen Feindbilder, wenn Vorurteile und Stereotype gebündelt, verdichtet und gesteigert werden (vgl. Bernhardt 1994: 12f.). Ein Feindbild ist demnach eine soziale Konstruktion, die dann vorliegt, wenn eine Wahrnehmung von Individuen oder Gruppen sich zu einem konsistenten, festgefügten, negativen Bild zusammenfindet. Feindbilder können dabei gleichermaßen Konstruktionen äußerer und innerer Bedrohungen darstellen. Einmal in die Welt gesetzt, steuern Feindbilder ihrerseits als soziale Kategorien die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität: Individuen oder Gruppen, die als Feinde definiert sind, werden in ihrem Handeln und in ihrem Verhalten anhand des Feindbildes interpretiert. Deshalb gehört der Vorwurf, die Feinde würden ihre Mitmenschen täuschen oder 223
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sich verstellen, zum Standardrepertoire einer jeden Feindbildkonstruktion. Feindbilder können in unterschiedlichem Maße auf sozialen Realitäten und kollektiven Erfahrungen basieren, wodurch sie Akteuren subjektiv zumindest mit dem sprichwörtlichen ‚Körnchen Wahrheit‘ plausibel werden. Sozial wirkmächtige Feindbilder sind mit einer hermetischen Sicht der Welt verbunden. Deshalb scheitern meistens Versuche, sie mit Sachargumenten zu widerlegen. Man kann Feindbilder aber nicht allein aus unbewussten Prozessen der Konstruktion kollektiver Identitäten erklären, weil dieser theoretische Zugang vor allem die unintendierten Anteile ihrer Entstehung beleuchtet. Zwar sind Feindbilder oft dann am wirkmächtigsten, wenn ihr konstruierter Charakter latent bleibt und sie Akteuren damit als vollkommen selbstevident und unhinterfragbar erscheinen. Aber unsere Fallstudien zeigen auch, dass die Konstruktion von Feindbildern keineswegs immer unbewusst geschieht, sondern häufig auch Bestandteil politischer Strategien ist (vgl. Pelinka 2008; Benz 1996; Heine 1996). Die gefährlichsten Feindbilder entstehen dann, wenn diffuse Vorurteile, Ressentiments und Stimmungen von gesellschaftlichen Eliten (oder solchen, die es werden wollen) zu konsistenten Bilder zusammengefügt und bewusst verbreitet werden. So formuliert der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz die Beziehung zwischen Vorurteil und Feindbild: „Vorurteile verdichten sich zu Feindbildern, die als Bestandteile politischer Ideologien instrumentalisiert werden können“ (Benz 1996: 7). Keineswegs schließen sich also strategische Feindbildkonstruktion und unbewusste Wirkung aus: Wenn ein Demagoge aus instrumentellen Gründen ein Feindbild verbreitet, soll das der Rezipient gar nicht bemerken, sondern manipuliert werden. Die Wirksamkeit von propagandistischen Feindbildern wird auch auf gesellschaftliche Krisen zurückgeführt. In geschichtswissenschaftlichen Studien wird besonders häufig auf den Umstand hingewiesen, dass Feindbilder einen ‚Sündenbock‘ schaffen. Dadurch werden einzelne gesellschaftliche Gruppen oder äußere Feinde für Missstände verantwortlich gemacht, die andere, zumeist unbekannte Ursachen haben (vgl. Bernhardt 1994; Benz 1996). Feindbilder reduzieren die Komplexität von Gesellschaften und bieten scheinbar einfache Antworten und Lösungen für Probleme. Rassistische Feindbilder in den europäischen Gegenwartsgesellschaften werden auf der individuellen Ebene manchmal mit diesem Mechanismus erklärt: Menschen, die mit den Anforderungen der modernen Gesellschaft und der Auflösung traditionaler Milieus nicht zurechtkommen, neigen dazu, z. B. ethnozentrische Deutungsmuster zu übernehmen. Allerdings ist diese These durchaus umstritten, weil nachweislich auch sozial integrierte Individuen empfänglich für Feindbilder sind (vgl. z. B. D’Amato 2009). 224
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In den Fallstudien zeigt sich, dass schon in der Vormoderne die unterschiedlichsten Feindbilder politisch instrumentalisiert wurden – etwa das des Schiiten im frühen sunnitischen Islam oder auch das des Spaniers im frühneuzeitlichen England. In der Moderne scheint es besonders viele Beispiele für Feindbilder zu geben, die für politische Zwecke eingesetzt wurden. Das populärwissenschaftliche Buch Gesichter des Bösen. Über die Entstehung unserer Feindbilder (Keen 1993) bietet dazu viel interessantes Anschauungsmaterial. Ist von Feindbildern die Rede, so werden die meisten Menschen vielleicht erst einmal an die bösartigen Karikaturen denken, welche die nationalsozialistische Propaganda von Juden entworfen hat, oder auch an Kriegspropaganda aus den Weltkriegen und dem Kalten Krieg. Solche propagandistischen Feindbilder sind besonders offensichtlich in hermetische Weltbilder eingebettet und dämonisieren den vermeintlichen Feind auf bizarre Art und Weise. Erfolgreiche propagandistische Feindbilder sind zudem nicht zu lösen von denjenigen gesellschaftlichen Kontexten, in denen sie erscheinen und wirken können. Das nationalsozialistische Feindbild des Juden instrumentalisierte zweifellos den Antisemitismus des 19. Jahrhunderts bzw. den jahrhundertealten religiösen Antijudaismus – und damit Ressentiments, die schon vorher, wenn auch in anderer Form, verbreitet waren. Knüpfen die Darstellungen von Feinden nicht an vorhandene Deutungsmuster an, verursachen sie Erschrecken oder wirken sogar manchmal (ungewollt) komisch. Deshalb konnten ‚Ketzer‘ zu einem Motiv der Popkultur werden, das man heute veralbern kann (vgl. Steckel i. d. B.). Der Beitrag von Sita Steckel zeigt darüber hinaus, dass das Feindbild des ‚Ketzers‘ aus Streitigkeiten um die rechtgläubige Interpretation des Christentums entstand. Wenn man diese Fallstudie mit den kultursoziologischen Begrifflichkeiten von Eisenstadt betrachtet, könnte man sagen: Es ging um die ‚richtige‘ Verwirklichung einer religiösen Vision, die Implementierung des göttlichen Willens in der Welt. In Konfliktfällen enthalten solche universalistischen Weltbilder nach Eisenstadt das Potential für sozialen Ausschluss und Gewalt (vgl. Eisenstadt 2006: 519f.). Feindbilder werden so mit dem Gegenpol der göttlichen Ordnung in Verbindung gebracht. Deshalb finden sich häufig klassische Motive von Tierähnlichkeit, Barbarei, Inzest und Kannibalismus in den Konstruktionen des Feindes. Feindbilder bringen damit auch die Kontingenz und Fragilität von Gesellschaft zum Ausdruck, wodurch die Furcht vor dem inneren Feind eigentlich die Furcht vor dem Zusammenbruch von Solidarität und Ordnung ist. Auch in der Gegenwart werden Feindbilder häufig als Umkehrungen der idealisierten sozialen Ordnung konstruiert – wenngleich diese bekanntermaßen auch ohne Bezug zu Gott auskommen kann. Im Gegenteil lässt sich beobachten, 225
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dass der ‚religiöse Fanatismus‘ als negatives Gegenbild zur freien säkularen Gesellschaft konstruiert wird. In vielen Beiträgen kommt zum Ausdruck, dass die beschriebenen Konflikte oft einen anderen Gegenstand haben als die kulturellen Konzepte, um die vordergründig gestritten wird. Deshalb sollte man die Bindung der Feindbilder an Weltbilder funktional interpretieren: Feindbilder sind selten die alleinige Ursache von Konflikten, sondern bringen die entsprechende Partei jenseits des tatsächlichen Konfliktgegenstandes auf die richtige Seite der Geschichte. Der Zusammenhang zwischen Feindbildern und Weltbildern erscheint im Lichte der Fallstudien als vielschichtig und komplex. Religionen und Ideologien werden manchmal nur zur Legitimation von Feindbildern mit politischen Ursachen herangezogen, aber manchmal können sie auch als eigenständige Einflussfaktoren im Prozess der Entstehung solcher Konstruktionen identifiziert werden.
Feindbilder und Gewalt Über Feindbilder zu sprechen bedeutet immer, sich auch mit Gewalt zu beschäftigen – mit Kriegen, Konflikten und auch den Völkermorden des 20. Jahrhunderts. Während es Feindbilder nicht nur in Krisensituationen gibt, scheinen kollektive Gewaltausbrüche zumindest in modernen Gesellschaften fast immer mit Feindbildern verbunden zu sein. Außerdem fördern gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Gesellschaften oder gesellschaftlichen Gruppen die Entstehung neuer Feindbilder. Der heikle Punkt an solchen Feindbildkonstruktionen ist, dass sie durchaus auf kollektiven Erfahrungen basieren können. Dieses Faktum sollte man ernstnehmen, wenn man sich mit Feindbildkonstruktionen beschäftigt. Der Sammelband hat zur Frage der Bedeutung von Feindbildern in Zeiten der Gewalt zwei aktuelle Beiträge vorzuweisen. Harutyun Harutyunyan und Verena Voigt untersuchen Feindbilder, die in langwierigen Kriegen und auf Grundlage massiver traumatischer Gewalterfahrungen entstanden sind. In diesen Analysen zeigt sich auch, wie Feindbilder sich im Spannungsfeld von Kontinuität und Wandel historisch weiterentwickeln. Es lässt sich anhand solcher Fallstudien auch rekonstruieren, dass Feindbilder nicht dem militärischen Feind, politischen Gegner oder sogar den Mördern von einst entsprechen, sondern soziale Konstruktionen mit eigenen Funktionen in Konflikt- und Krisensituationen sind. Im Nahostkonflikt nehmen viele Palästinenser Israelis als ‚zionistische Kolonialisten‘ wahr, während viele Israelis in der Gegenseite generell ‚arabische Terroristen‘ sehen. Diese Bilder beruhen auf realen Erfahrungen, weil 226
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einerseits die Gründung des Staates Israel ihre Wurzeln in der Besiedlung arabischer Gebiete hat und andererseits viele Israelis im Laufe des Konfliktes durch Terroranschläge arabischer Attentäter ihr Leben oder ihre Angehörigen verloren haben. Solche negativen kollektiven Erfahrungen in einem langwierigen und bewaffneten Konflikt wurden in überzeichneter und generalisierender Weise zu konsistenten Feindbildern entwickelt, die sowohl politische wie auch soziale und psychologische Funktionen haben. So legitimieren diese Bilder Gewalt gegen die andere Partei, die auf diese Weise als reiner Akt der Selbstverteidigung dargestellt werden kann. Mit der Behauptung, dass die andere Seite gar keinen Frieden wolle, kann außerdem die eigene Verweigerung politischer Zugeständnisse begründet werden. Der ‚böse Feind‘ trägt die alleinige Schuld am Konflikt, wodurch sich jede Partei unschuldig wähnen kann und sich mit legitimen Interessen der Gegenseite nicht mehr zu beschäftigen braucht. Nicht zuletzt dienen die Feindbilder dazu, angesichts ständig eskalierender Gewalt ein positives Selbstbild zu bewahren. Dabei kann der Feind als ‚Sündenbock‘ für alle Übel in der eigenen Gesellschaft verantwortlich gemacht und die eigene Schuld daran zurückgewiesen werden. Diese Konstellation ist nicht nur im Israelisch-Palästinensischen-Konflikt zu beobachten, sondern wird in soziologischen Analysen von Feindbildern häufig herausgearbeitet. Der Soziologe Ulrich Beck beschreibt etwa die Logik von Feindbildkonstruktionen, die sich in vielen unserer Beiträge widerspiegelt: „Das Interessante ist die Vertauschung und Verzahnung von außen und innen, von Aktivität und Passivität, von Gewalt, Macht und Zustimmung in der Feindkonstruktion. Diese funktioniert nach dem alten »Petz-Prinzip«. Der andere ist schuld! Alle Initiative geht vom Feind aus. Er bedroht mich, und nicht umgekehrt, eine Wahrnehmung, die allerdings auf beiden Seiten vorherrscht. Das Feindbild ist ja nicht der Feind selbst, sondern ein Bild, das vom »Feind« hergestellt wird. Gemäß der »Petz-Logik« des Feindbildes kann ich aber zugleich meine Hände in Unschuld waschen. Das Feindbild macht den Fremden zum Feind, hebt aber die Aktivität seines Schöpfers zugleich auf und besagt: Er ist der Feind, der mich bedroht, nicht mein Feindbild ihn“ (Beck 1993: 134; Hervorh. i. Orig.).
Keineswegs müssen aber die Bedrohungen, die von den Schöpfern und Rezipienten der Feindbilder wahrgenommen werden, deshalb fiktiv sein. Der Völkermord an den Armeniern (1915/16) ist die Grundlage dafür, dass die historische Konstruktion eines ‚Erzfeindes der Armenier‘ auf die heutige Türkei angewendet wird. Indem die Republik Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches den Völkermord weiterhin leugnet, wird den Opfern und ihren Nachfahren bis in die Gegenwart Unrecht zugefügt. Beim Feindbild des ‚barbarischen Türken‘ handelt es sich aber trotzdem um eine 227
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soziale Konstruktion, durch die ein historisches Ereignis und die Gewalttaten identifizierbarer politischer und individueller Akteure generalisiert werden. Mit Hilfe des Feindbildes werden auf der kollektiven Ebene traumatische Gewalterfahrungen verarbeitet, indem der Täter zu einem Repräsentanten von etwas ‚universell Bösem‘ gemacht wird. Das Feindbild des Türken erhielt darüber hinaus im Bergkarabach-Krieg (1992–1994) die Funktion eines typischen, Gewalt legitimierenden Kriegsfeindbildes, indem es auf die turksprachigen Aserbaidschaner angewendet wurde. Es folgt damit jener Logik der Schuldzuweisung, die von Beck (s. o.) skizziert wurde: Obwohl Armenien in der neuen Situation eine reguläre Kriegspartei war, nahmen sich Armenier – durch die Übertragung des Feindbildes – als reine Opfer wahr. Es ist anzunehmen, dass in der aserbaidschanischen Gesellschaft unter umgekehrten Vorzeichen eine ähnliche Selbstwahrnehmung vorherrscht. Feindbilder, die in Kriegen oder im Zuge ethnischer und religiöser Gewalt entstehen, zählen zu den idealtypischen Feindbildern. Die Bilder des Feindes in Kriegen erscheinen unerbittlich und erschreckend, und sie sind – wie in den Fallstudien gezeigt – multifunktional und meistens gesellschaftlich allgemein geteilt. Im Mittelpunkt steht aber die Legitimation von Gewalt gegen andere Menschen sowie die Stärkung der Kampfmoral in ‚heißen‘ Konfliktphasen. Feindbilder können Gewalt aber nicht nur legitimieren, sondern auch über die akute Konfliktphase hinaus eine eigenständige Ursache von Gewalt werden. Vielleicht könnte man sogar sagen: Propagandistische Feindbilder sollen die Gewaltbereitschaft ansonsten eher wenig kampffreudiger Menschen erhöhen und können auch gleichzeitig für generell gewaltbereite Individuen zu einer willkommenen Begründung von Gewalt werden. Dennoch sollte man sich vor dem vorschnellen Schluss hüten, dass Feindbilder alleinige Ursache von Gewalt, Zerstörung und ethnischen Konflikten sind – auch wenn sie zweifellos eine wichtige Rolle in solchen Situationen spielen (vgl. auch Riegler 2008: 76). Der Soziologe Zygmunt Bauman schreibt in seiner Studie Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust über den Zusammenhang von Antisemitismus und Holocaust: „Wer den Antisemitismus als einzige Ursache des Holocaust begreift, übersieht ein anderes schwieriges Problem. Der Antisemitismus – ob in religiöser oder wirtschaftlicher, kultureller oder rassistischer, gewalttätiger oder versteckter Form – ist seit Jahrtausenden ein fast weltweit anzutreffendes Phänomen, der Holocaust dagegen ist beispiellos. Fast alle seine Merkmale sind einzigartig und mit keinem anderen historischen Massaker in der Judenverfolgung vergleichbar, egal wie grausam man vorging oder als wie fremd, feindselig und gefährlich die Opfer zuvor hingestellt worden waren“ (Bauman 1992: 46).
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Völkermorde sind ohne Feindbilder und Dehumanisierung der Opfer nicht denkbar, aber sie sind keine alleinige Erklärung für solche Gewaltausbrüche. An anderer Stelle in seiner Studie weist Bauman auf der Grundlage der Rezeption sozialpsychologischer Forschungen darauf hin, dass z. B. bestimmte Strukturen von Autorität sowie Formen der Routinisierung von Gewalt wichtige Faktoren sind, ohne die der Völkermord an den Juden Europas nicht zu verstehen ist (vgl. Bauman 1992: 35; 166–183).6 Extreme Gewaltausbrüche sind also nicht linear aus der Dämonisierung der Opfer zu erklären.
Feindbilder nach dem Kalten Krieg: Feindlose Staaten oder Kampf der Kulturen? Seit 1989 haben die populären, mit dem Ost-West-Gegensatz verbundenen Feindbilder erstaunlich schnell an Bedeutung verloren. Nachdem es in Westeuropa nach 1945 keinen klassischen zwischenstaatlichen Krieg mehr gegeben hatte, waren nun auch die Bedrohungsszenarien des Kalten Krieges Vergangenheit. Aber die Geschichte der Feindbilder in Europa endet keineswegs mit der bislang letzten großen militärischen Bedrohung. Spätestens nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 erschien eine neue Interpretationsfolie, mit der sich die Welt in Freund und Feind teilen ließ: Der militante Islamismus war zu einer globalen Bedrohung für Sicherheit und Frieden geworden. Auf dieser Grundlage wurde die Idee vom ‚Kampf der Kulturen‘ (i. engl. Orig.: The Clash of Civilizations7), die schon in den 1990er Jahren diskutiert wurde, immer populärer. Samuel P. Huntington, der Urheber des Konzepts, nahm an, dass das Erstarken ethnischer und religiöser Identitäten nach dem Ende des Kalten Krieges letztendlich zu neuen Konflikten an den Grenzen von Kulturkreisen (civilizations) führen würde: „For peoples seeking identity and reinventing ethnicity, enemies are essential, and the potentially most dangerous enmities occur across the fault lines between the world’s major civilizations“ (Huntington 2002: 20). Huntington ging also davon aus, dass, wer Identität sucht, einen Feind braucht. Oder sollte man eher sagen: ein Feindbild? Mit einem solchen Denken kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass die Welt sich gar nicht verändert hat, sondern der Westen das ‚Feindbild Kommunismus‘ durch das ‚Feindbild Islamismus‘ (vielleicht 6 Vgl. dazu aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive Hilberg 1997; Browning 2003. 7 Die Idee vom Clash of Civilizations formulierte Huntington schon 1993 in einem Artikel
in Foreign Affairs (vgl. Huntington 1993).
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sogar: das ‚Feindbild Islam‘) ersetzt hat. Das liegt aber wahrscheinlich auch daran, dass Huntington letztendlich die neue, unübersichtliche Weltordnung nach dem Zusammenbruch des Ostblocks mehr oder minder mit einem Schema zu erklären versuchte, das im Denken der alten Ordnung verhaftet ist. Die Welt ist aber nicht mehr so strukturiert wie während des Kalten Krieges, als die Sowjetunion und die USA tatsächlich eine dominierende politische Rolle in ihrer jeweiligen Hälfte der Welt hatten. Kulturkreise sind schwerer zu definieren als politische Entitäten, und ‚der Westen‘ bildet keineswegs einen einheitlichen Block. George W. Bush artikulierte z. B. nach dem 11. September 2001 zwar Feindbilder wie das von der ‚Achse des Bösen‘. Diese Rhetorik funktionierte aber zumindest in Europa nicht wie geplant, sondern machte ihn im Gegenteil zu einem der unbeliebtesten Politiker der westlichen Welt. Man konnte letztendlich mit dem ‚Feindbild Islamismus‘ in Europa keinen Krieg begründen. Ulrich Beck versuchte am Anfang der 1990er Jahre ebenfalls, die Konsequenzen des Zusammenbruchs der alten Weltordnung für die europäischen Staaten – besonders im Hinblick auf Feindbilder – zu erfassen. Er postulierte, es sei nun der ‚feindlose Staat‘ entstanden, der aber nicht mit einem ‚feindbildlosen‘ Staat zu verwechseln sei: „Feindlosigkeit heißt nicht Feindbildlosigkeit, im Gegenteil entsteht damit umgekehrt ein unstillbarer Bedarf nach neuen Feindbildern“ (Beck 1995: 176). Die Feindbilder im feindlosen Staat zeichneten sich dadurch aus, dass sie keine Einheit mehr stifteten: „Jeder hat seinen Feind, aber gerade deswegen nicht mehr den einen gemeinsamen, integrierenden Feind“ (Beck 1995: 171). Mit anderen Worten: Feindbilder sind in den westlichen Gesellschaften nach dem Ende des Kalten Krieges notwendigerweise umstritten, vielleicht deshalb, weil es trotz Terrorismus keine offensichtliche existentielle Bedrohung gibt. Für eine Analyse von Feindbildern in der Gegenwartsgesellschaft sind die Entwürfe von Huntington und Beck gleichermaßen wenig zufriedenstellend. Die Implikationen von Huntingtons Ansatz scheinen einerseits die Komplexität der Diskurse um den Islamismus – in denen auch von Anfang an die Kritik an diesem Feindbild vorkam – zu verfehlen. Andererseits ist das Feindbild Islam in den letzten Jahren gesamtgesellschaftlich zu populär geworden, um einfach Beck in der Annahme zu folgen, es gäbe keine inte grierenden Feindbilder mehr. Das kann man anhand der Migrationsdebatten zeigen, die in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erhalten haben als Feindbilder in der Außenpolitik.
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Feindbilder in den zeitgenössischen Migrationsdebatten Die europäischen Gesellschaften sind gegenwärtig ständig mit dem Islam beschäftigt. Das liegt nicht nur daran, dass muslimische Bürger europäischer Staaten zunehmend religiöse Rechte fordern. Vielmehr scheint sich die Erfahrung einer Bedrohung durch Islamisten in teilweise unheilvoller Weise mit den Debatten um Migration und auch einer diffusen Fremdenfeindlichkeit verbunden zu haben. Rechtspopulistische Parteien wie die Schweizerische Volkspartei (SVP)8 oder die niederländische Partij voor de Vrijheid (PVV; niederländ.: Partei für die Freiheit) haben sich inzwischen in Europa etabliert und verdanken ihre Wahlerfolge in nicht geringem Maße der Artikulation islamfeindlicher Positionen. Dabei werden manchmal im wahrsten Sinne des Wortes Feindbilder konstruiert: In der Schweiz tauchten vor der Volksabstimmung über ein Verbot des Baus von Minaretten Plakate auf, auf denen raketenförmige Minarette aus einer Schweizer Flagge wuchsen. Die muslimischen Gemeinden in der Schweiz wurden dadurch pauschal mit Terroristen in Verbindung gesetzt, wobei die Assoziation erzeugt wurde, dass Minarette gar nicht der Religionsausübung dienten, sondern als Waffen in einem ‚Kampf der Kulturen‘. Eine solche Wahrnehmung des Islam ist nicht auf die rechtspopulistischen Parteien beschränkt, sondern scheint inzwischen in den westeuropäischen Gesellschaften weit verbreitet zu sein. In unserem Band finden sich zur aktuellen Islamdebatte sehr unterschiedliche, empirisch fundierte Beiträge. Nils Friedrichs kann belegen, dass es in der Gesellschaft der Bundesrepublik auch ohne eine rechtspopulistische Partei ein sehr populäres ‚Feindbild Islam‘ gibt. Er kann anhand einer repräsentativen Befragung nachweisen, dass negative Einstellungen gegenüber dem Islam – die sich in der Zuschreibung negativer Attribute wie Fanatismus, Gewaltbereitschaft, Rückwärtsgewandtheit, Engstirnigkeit und Benachteiligung der Frau manifestieren – in der Bevölkerung weit verbreitet sind. 67,5% der Befragten sprechen dem Islam nur negative Eigenschaften zu. Die Konsistenz des negativen Bildes lässt es sinnvoll erscheinen, nicht nur von Vorurteilen, sondern von einem Feindbild zu sprechen (vgl. Friedrichs i. d. B.). Tim Karis weist in seinem Aufsatz über den ‚Islam der Medien‘ aber auch darauf hin, dass die theoretische Prämisse einer Unterscheidung zwischen ‚uns‘ und ‚den Anderen‘ in der Vorurteilsforschung die Gefahr mit sich bringen kann, sich mit allzu vorgefertigten Modellen ins Feld zu begeben. Die Forschung zementiere so dichotome Wahrnehmungsstrukturen wie ‚Islam 8 Die SVP ist vor allem durch die Befürwortung der Minarettverbotsinitiative bekannt ge-
worden.
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vs. Westen‘, die sie eigentlich dekonstruieren wolle. Karis gibt einen wichtigen Hinweis darauf, dass ungeachtet der unzweifelhaften Präsenz von Islamfeindlichkeit in der Gesellschaft die Wahrnehmung von Muslimen nicht immer und überall durch ein ‚Feindbild‘ bestimmt ist. Wenn man sich mit den Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen beschäftigen möchte, so zeigt der Autor überzeugend, kann die reine Beschäftigung mit negativen Wahrnehmungen nicht ausreichen – auch dann nicht, wenn diese eine ungleich größere gesellschaftspolitische Relevanz haben (vgl. Karis i. d. B.). Eine Feindbildthese kann demnach die Gefahr mit sich bringen, dass man die Komplexität sozialer Realität und widersprüchliche Wahrnehmungen übersieht. Man sollte sich also in der Analyse von Gruppenbeziehungen nicht nur auf die Vorurteilsforschung beschränken, sondern auch integrative Mechanismen mit in den Blick nehmen. So ist das Feindbild ‚Islam‘ in den europäischen Gesellschaften nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in den Medien zum Gegenstand von Kritik geworden. Die Vielstimmigkeit und Offenheit in demokratischen Gesellschaften ist möglicherweise ein wirksames Gegengift gegen die Verankerung von Feindbildern. Politisch extremistische Kreise kultivieren jedoch auch in pluralen Gesellschaften klare Feindbilder, die genauso zur Legitimation von Gewalt herangezogen werden wie diejenigen in Kriegen. Am 22. Juli 2011 tötete der Norweger Anders Behring Breivik durch einen Bombenanschlag im Regierungsviertel von Oslo und bei einem Angriff auf ein Zeltlager der sozialdemokratischen Partei auf der Insel Utøya 77 Menschen. Verletzt und schwer traumatisiert wurden noch viele mehr. Der kaltblütige Mörder wähnte sich offenbar als Verteidiger des christlichen Abendlandes. Breivik hatte im Vorfeld der Tat ein über 1500 Seiten langes Manifest verfasst, in dem er ‚kulturellen Marxismus‘ und ‚Political Correctness‘ für die vermeintlich drohende Islamisierung Europas verantwortlich macht. Das Pamphlet des Täters nimmt inhaltlich nicht nur Bezug auf offen islamfeindliche (v. a. Websites, Blogs), sondern auch auf ‚islamkritische‘ politische Diskurse, die in den letzten Jahren durch rechtspopulistische Parteien im Mainstream der europäischen Gesellschaften angekommen sind. Linke und liberale Parteien werden in diesen Diskussionen genauso für die vermeintliche Islamisierung Europas verantwortlich gemacht wie ‚der Islam‘ selbst. Mit dem Feindbild ‚Islam‘ ist das Feindbild des ‚linken Multikulturalisten‘ verbunden, der der Islamisierung Europas Vorschub leistet, indem er für eine liberale Gesellschaft einsteht. Es ist also kein Zufall, dass Breivik die sozialdemokratische Regierung und ein Ferienlager sozialdemokratischer Jugendlicher als Ziele für seine Anschläge wählte: Er hatte seine Opfer als die Feinde der europäischen Kultur identifiziert. Der Schreck über die Bluttat war in den europäischen Gesellschaften auch deshalb so groß, weil das Verbrechen eine schmerzhafte Frage auf232
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drängte: In welchem Zusammenhang steht das Massaker von Norwegen mit den Islamdebatten in der europäischen Gesellschaft? Hatten etwa auch die rechtspopulistischen Diskurse im politischen Mainstream den Täter ermutigt und Menschen zur Zielscheibe eines Terroristen gemacht? Als sicher kann gelten, dass die Anschläge von Oslo der europäischen Gesellschaft einen Spiegel vorgehalten haben. Obwohl in den Stunden nach der Tat Unklarheit über die Identität des Täters und die Hintergründe des Verbrechens herrschte, tauchten in den internationalen Medien innerhalb kürzester Zeit Analysen auf, die schon erklärten, warum Norwegen von Islamisten angegriffen würde. Laut einer Meldung von Spiegel Online wurde der Terroranschlag auch in islamistischen Internetforen bejubelt (vgl. z. B. Spiegel Online vom 22.7.2010; 25.7.2010). Die Verwirrung der Medien war nicht bemerkenswert, weil ein islamistischer Terroranschlag so unwahrscheinlich gewesen wäre. Vielmehr war irritierend, dass das Wahrnehmungsschema eines Konfliktes ‚Islamismus vs. Westen‘ offenbar eine andere Erklärung für die Vorgänge im wahren Wortsinne undenkbar machte. Es ist wenig verwunderlich, dass auch Islamisten darauf hereinfielen. Breivik hat die Methoden genau derjenigen Jihadisten kopiert, deren Feindbild ‚der Westen‘ ist. Die Konstrukteure von Feindbildern in echten oder vermeintlichen Konflikten beschuldigen sich gegenseitig oft am lautesten, während sie sich gleichzeitig nicht selten in geradezu bizarrer Weise immer ähnlicher werden. Die hohe Aufmerksamkeit für Feindbilder in den wissenschaftlichen und publizistischen Debatten der westlichen Gesellschaften hat ihre Wurzeln in der historischen Erfahrung und partikularen Rezeption zweier Weltkriege und der Völkermorde des 20. Jahrhunderts. Es entstand ein Bewusstsein dafür, dass Feindbilder oft Bestandteile von Gewaltspiralen sind – ganz gleich ob sie populär sind oder nur von Extremisten geteilt werden. Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Feindbildern zeigt sich damit nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart. Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz schreibt dazu: „Das negative Fremdbild steht am Anfang der agierten Feindseligkeit, wie sie als individuell fremdenfeindliches Delikt (gegen Ausländerunterkünfte in direkter Konfrontation, aber auch beiläufig), als gemeinsamer Angriff gegen stigmatisierte Minderheiten (Pogrom), als kollektive Raserei gegen Fremde (wie im September 1992 in Rostock geschehen) bis hin zum organisierten und geplanten Völkermord zum Ausdruck kommt“ (Benz 1996: 7).
Diesen Gedanken kann man aufgreifen und vielleicht im Lichte dieser Erörterungen und unserer Fallstudien ein wenig modifizieren. Feindbilder sollten nicht als alleinige Ursachen von Gewalt, sondern vielmehr als Legitimations- und Rationalisierungsstrategien für unter normalen Umständen unmoralische Handlungen betrachtet werden. Beck bemerkt hierzu 233
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treffend, dass Feindbilder eine „Umwertung der Werte“ (Beck 1995: 155) ermöglichen. Das gilt für Feindbilder in der Geschichte ebenso wie in der Moderne, und in Kriegszeiten ebenso wie in Zeiten des Friedens.
Abschließende Gedanken: Kann man Feindbilder bekämpfen? Mit dem bisher Gesagten sollte deutlich geworden sein, dass ein interdisziplinär verwendbarer Feindbildbegriff durchaus für die Forschung nutzbar gemacht werden kann. Wenngleich die Bedingungen der Entstehung und Wirksamkeit der in diesem Band analysierten Konstruktionen unterschiedlich sind, lassen sich die meisten von ihnen durch das Konzept des Feindbildes miteinander vergleichen. Die Feindbilder, anhand derer Minderheiten in der europäischen Gesellschaft wahrgenommen werden, funktionieren nicht grundsätzlich anders als solche, die in Kriegen die Wahrnehmung des Gegners bestimmen: In beiden Fällen handelt es sich um konsistente und festgefügte, negative Bilder eines gefährlichen Feindes, von dessen Bezwingung das Schicksal der Gemeinschaft oder sogar der Welt abhängt. In Kriegs- und Krisenzeiten scheinen Feindbilder jedoch besonders wirksam zu sein, durch Gewalterfahrungen gleichsam evidenter und nachvollziehbarer zu werden. Sie lassen sich auch deshalb leichter verbreiten, weil Zeiten des sinnlosen Leidens, des Elends und der Verzweiflung es erforderlich machen, den Schuldigen außerhalb der eigenen Gesellschaft zu suchen. Eine Reflexion über Feindbilder ist in solchen Situationen akuter Bedrohungen kaum zu erwarten und wahrscheinlich auch gar nicht möglich. Konkrete Feindbilder, die mit Kriegs- und Konflikterfahrungen verbunden sind – wie im Israelisch-Palästinensischen Konflikt solche von ‚arabischen Terroristen‘ und ‚imperialistischen Zionisten‘ – werden wohl erst dann zu bekämpfen sein, wenn die betreffenden Konflikte beendet sind und nicht zuletzt ausreichend Zeit vergangen ist. Feindbilder haben das Potential, die Selbstwahrnehmung von ganzen Gesellschaften zu bestimmen und sie davor zu bewahren, die eigene Schuld an Missständen und am Leid anderer anzuerkennen. Feindbilder aufzugeben ist deshalb gerade nach Kriegen ein schmerzhafter Prozess. An unterschiedlichen Konfliktschauplätzen sind Versuche zu beobachten, Feindbilder abzubauen. In Israel und den Palästinensergebieten gibt es etwa Projekte, mit denen Israelis und Palästinenser zusammengeführt werden sollen (z. B. Seeds of Peace; Givat Haviva). Menschen sollen sich bewusst machen, dass Feindbilder immer Zerrbilder sind, die nicht realen Individuen entsprechen. Falsche Vorstellungen von der Gegenseite sollen durch zwischenmenschliche Kontakte abgebaut werden. Harutyunyan 234
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nimmt in seinem Beitrag ebenfalls an, dass die Entlarvung der Feindbilder als historische Konstrukte zu ihrem Abbau beitragen kann. Eine empirische Untersuchung zu solchen Projekten fehlt in unserem Sammelband. Wohl aber gibt es Beispiele für Feindbilder, die ihre Funktion verloren haben – wie das Feindbild des ‚Ketzers‘ oder das des Spaniers in England. Das Projekt der Europäischen Union hat aus ehemaligen Kriegsgegnern enge Bündnispartner gemacht. Das zeigt, dass Feindbilder vor allem dann überwunden werden können, wenn die gemeinsamen Interessen der Parteien schwerer ins Gewicht fallen als die historische Last einer vermeintlichen Feindschaft. In anderer Hinsicht haben in Europa Feindbilder eine erhebliche Haltbarkeit gezeigt. Von den 1990er Jahren bis in die ersten Jahre des neuen Jahrtausends beschäftigten Antisemitismus-Debatten mit prominenten Protagonisten wie Jürgen Möllemann und Martin Walser die Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Rensmann 2005). Das Feindbild ‚Jude‘ war, so zeigte sich, trotz aller Aufklärung fester in der Gesellschaft verankert als etwa das vom einstigen ‚Erbfeind Frankreich‘. Obwohl der Antisemitismus in Deutschland schon lange nicht mehr salonfähig war, wollte man in manchen Milieus eher das Feindbild des Juden aufrecht erhalten als die Schuld am Holocaust in letzter Konsequenz anzuerkennen. Im heutigen Europa ist mit dem Islamdiskurs ein neues Feindbild auf der Bildfläche erschienen. Man könnte daraus schließen, dass Menschen immer das Bild eines vermeintlichen Feindes vor Augen haben müssen, um ihre eigene Identität zu definieren. Das wäre aber ein zu einfacher und vor allem zu bequemer Schluss. Dass es in Gesellschaften immer Feindbilder geben muss, ist keineswegs nachgewiesen. Die Meinungsfreiheit in der offenen Gesellschaft macht es erheblich schwieriger, solche Konstrukte unwidersprochen in die Welt zu setzen. Versucht wird es trotzdem immer wieder – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Feindbilder sind in vielen Fällen Bestandteile politischer Strategien, und sie werden bewusst als einfache Erklärungen für Probleme mit komplizierten Ursachen verbreitet. Mit Feindbildern mobilisiert man Gesellschaften schlimmstenfalls für Kriege, die wiederum neue Feindbilder schaffen. Innenpolitisch verletzen polemische Feindbilder manchmal die Würde ganzer Bevölkerungsgruppen und tragen nichts zur Lösung echter Konflikte bei. Feindbilder vermitteln ganzen Gesellschaften das Gefühl, im Recht zu sein, während sie in Wahrheit gerade unsensibel für Unrecht machen. In liberalen und demokratischen Gesellschaften, die zudem eine lange Zeit des Friedens genießen, ist eine faire politische Kultur möglich. Auf bestehende Feindbilder hinzuweisen und sie in Bezug zu historischen Konstruktionen zu setzen ist der Beitrag, den Wissenschaftler zur Versachlichung der Debatte leisten können. 235
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