Von Jagenden und Gejagten: Die Jagd als humanimalische Praxis in Deutschland 9783839454121

Die Jagd ist in Deutschland eine fest verankerte Tradition und Praxis, die mitunter zu kontroversen Diskussionen führt.

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German Pages 338 Year 2021

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Table of contents :
Inhalt
I Einleitung
1.1 Situierung der Ethnografie
1.2 Übersicht über die vorliegende Arbeit
II Das Jagdrevier
2.1 Das Jagdrevier als Feld der Ethnologin
2.2 Das Jagdrevier als Ort der untersuchten Praxis
III Tiere
Die gejagten Tiere
3.1 Wild(e Tiere)
3.2 Jagdhunde
3.3 Nachsuche und Weidgerechtigkeit als Antwort auf das leidende Tier
IV Die Jagenden
4.1 Weidgerechtigkeit und jagdliches Selbstverständnis: Brauchtum, Normen und Werte
4.2 Weidgerechtigkeit als jagdliches Selbstverständnis: Habitus, Distinktion und ein paar »schwarze Schafe«
4.3 Jagen als leibliche Praxis
V Konklusion und Ausblick
5.1 Konklusion: Die Jagd als humanimalische Praxis
5.2 Vom Individuum zum Bestand? Die Effizienz der Jagd
Glossar: Jagdsprachliche Ausdrücke
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Zeitungsartikel
Internetquellen
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Von Jagenden und Gejagten: Die Jagd als humanimalische Praxis in Deutschland
 9783839454121

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Tanja Theißen Von Jagenden und Gejagten

Kultur und soziale Praxis

Tanja Theißen, geb. 1989, studierte Philosophie, Soziologie und Kulturwissenschaft in Freiburg im Breisgau und Koblenz. Als Stipendiatin der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities der Universität zu Köln promovierte sie im Fach Ethnologie. Sie lebt in der Eifel und forscht zu Mensch-Tier-Beziehungen.

Tanja Theißen

Von Jagenden und Gejagten Die Jagd als humanimalische Praxis in Deutschland

Als Dissertation angenommen von der Universität zu Köln (2019).

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Tanja Theißen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5412-7 PDF-ISBN 978-3-8394-5412-1 https://doi.org/10.14361/9783839454121 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

I 1.1 1.2

Einleitung........................................................................... 7 Situierung der Ethnografie ........................................................... 7 Übersicht über die vorliegende Arbeit ................................................ 14

II Das Jagdrevier .................................................................... 33 2.1 Das Jagdrevier als Feld der Ethnologin .............................................. 33 2.2 Das Jagdrevier als Ort der untersuchten Praxis...................................... 52 III

Tiere Die gejagten Tiere .................................................................. 89 3.1 Wild(e Tiere)........................................................................ 95 3.2 Jagdhunde ........................................................................ 122 3.3 Nachsuche und Weidgerechtigkeit als Antwort auf das leidende Tier ................ 149 Die Jagenden ...................................................................... 181 Weidgerechtigkeit und jagdliches Selbstverständnis: Brauchtum, Normen und Werte...................................................... 181 4.2 Weidgerechtigkeit als jagdliches Selbstverständnis: Habitus, Distinktion und ein paar »schwarze Schafe«................................216 4.3 Jagen als leibliche Praxis .......................................................... 238

IV 4.1

V Konklusion und Ausblick .......................................................... 297 5.1 Konklusion: Die Jagd als humanimalische Praxis ................................... 297 5.2 Vom Individuum zum Bestand? Die Effizienz der Jagd................................ 311 Glossar: Jagdsprachliche Ausdrücke ................................................... 319 Abbildungsverzeichnis ................................................................. 323 Literaturverzeichnis.................................................................... 325 Zeitungsartikel .......................................................................... 333

Internetquellen ......................................................................... 334

I

Einleitung

1.1

Situierung der Ethnografie

»Im Namen der Tierliebe?«, fragt die Stolberger Zeitung (Gego 2019: 3) Anfang März des Jahres 2019. Was dieser Überschrift folgt, ist ein Artikel über die Sachbeschädigung an Hochsitzen und anderen jagdlichen Einrichtungen, welche sich in den letzten Monaten nicht nur in der Nordeifel, sondern auch in den umliegenden Gegenden des Aachener Landes gehäuft hatten. Ich beginne die Einleitung in diese Ethnografie über die Jagd mit diesem Beispiel, weil es exemplarisch verdeutlicht, wie umstritten die Jagd im gegenwärtigen Deutschland ist. Wieder einmal ist die Jagd Thema in der regionalen Presse, in der seit Monaten immer wieder eine Debatte über das Jagdgesetz in Nordrhein-Westfalen (NRW) entflammte. Ein Gesetz, welches formal regelt, wie, wo und wann gejagt werden darf. Ein Gesetz also, welches nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung zu betreffen scheint. Tatsächlich sind nur etwa 89.000 Menschen von den etwa 18 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern dieses Bundeslandes im Besitz eines Jagdscheins.1 Wie die folgenden Zitate aus Briefen von Leserinnen und Lesern an die Regionalpresse zeigen, fühlen sich emotional jedoch weit mehr Menschen angesprochen, wenn es um die Jagd geht: »Tiere töten ist kein Hobby […]. Es ist abartig, Freude an der Jagd zu haben« (Schaffarczky 2019: 19). »Zutiefst verstörend, andererseits aber auch für die Jagd-Lobby typisch empfand ich die Aussage, dass Jagd ›Spaß‹ bereite. […] Solche und ähnliche Äußerungen liest und hört man immer wieder von den Freunden des Tötens« (Rocker 2019: 19). Jägerinnen und Jägern wird von ihren Kritikerinnen und Kritikern ein »brauchtumsorientierte[s], verkrustete[s] SchwarzWeiß-Denken« (Ahaus 2019: 25) unterstellt, »ohne die Natur als schützenswertes Ganzes zu betrachten« (ebd.), weshalb sie »sich daher an die eigene Nase fassen [sollten], wenn sie die Buhmänner der Nation sind« (Gluth 2019: 25). Dagegen,

1

Auch auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland bezogen sind Jägerinnen und Jäger eine relativ geringe Minderheit. Im Jahr 2018 gab es bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 84 Millionen Menschen circa 385.000 Jägerinnen und Jäger in Deutschland (vgl. jagdverband.de 2019).

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Von Jagenden und Gejagten

dass sie als »blutrünstige […] Liefestyle-Jäger […] keinerlei Respekt für die Geschöpfe des Waldes« (Schulz 2019: 25) hätten, wehren sich ihrerseits die Jägerinnen und Jäger. Sie fühlen sich »persönlich beleidigt und diskriminiert« (Casteel 2018: 27) durch »selbsternannte vermeintliche Tier- und Umweltschützer« (Amian 2018: 27), die »sinnvernebelt und mit reichlich Schaum vorm Maul […] die Novellierung des Jagdgesetzes [nutzen], um gegen Jagd und Jäger auszukeilen« (Spindler 2018: 27). Während der Jagd in Deutschland von der einen Seite also vorgeworfen wird, »[d]ie natürliche Vernetzung aller Lebewesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) im Rahmen ihrer Lebensgemeinschaften […] durch die geheime Freude vieler am Töten oft unwiederbringlich [zu zerstören]« (Pommering 2018: 27), verteidigen sich Jägerinnen und Jäger dagegen damit, dass sie »sehr viel Demut vor der Schöpfung [haben], sonst würden sie bestimmt nicht so viel Zeit und Geld investieren, um die Artenvielfalt in unserer Natur zu erhalten« (Corsten 2018: 27). Neben einem objektivierbaren Nutzen der Jagd, wie der Bestandsregulation zur Eindämmung von Wildschäden und Tierseuchen, betonen sie vor allem, dass »Demut vor der Kreatur und der Schöpfung, kurz jagdlicher Anstand […] in der Jägerschaft [weiter verbreitet ist]« (Schmitz 2018: 27), als die Kritikerinnen und Kritiker glauben. Wenngleich es sich bei Jägerinnen und Jägern in Deutschland also um eine relativ geringe Minderheit handelt, so jedoch um eine Minderheit, die äußerst emotionsgeladene Debatten auslösen kann. Gleichzeitig weckt die Jagd ›vor der Haustüre‹ auch die Neugierde vieler Menschen in Deutschland, wie der Erfolg des belletristischen Sachbuchs Beute – Mein Jahr auf der Jagd von Pauline de Bok (2018) deutlich zeigt. In dieser Ethnografie soll es nun um jene gehen, die diese Debatten auslösen – die Jagenden und die Gejagten. Ich werde eine kurze Beschreibung der Umstände dieser Ethnografie geben, bevor ich in Kapitel 1.2 eine ausführliche Übersicht über die einzelnen Kapitel biete. Diese kann auch als Inhaltsangabe dieser Arbeit gelesen werden und soll ein Verständnis des Kontextes eines jeden Kapitels ermöglichen, ohne einen chronologischen Lesefluss des gesamten Buches vorauszusetzen. Wie die einleitenden Stimmen aus der Regionalpresse deutlich machen, haben die meisten Menschen in Deutschland eine Meinung zum Thema Jagd – meist eine emotionsgeladene. Wenn es um die Jagd geht, dann geht es immer auch um die Beziehung von Menschen zu nicht-menschlichen Lebewesen, den Aspekt des Tötens, um das menschliche Selbstverständnis und besonders um das Selbstverständnis der Jägerinnen und Jäger. Die Komplexität dieses jagdlichen Beziehungsgeflechtes zwischen Menschen und Tieren, kulturellen, gesellschaftlichen und moralischen Normen, Werten und Vorstellungen verschwindet in öffentlichen Debatten um die Jagd meist vorschnell hinter der übermächtigen Frage nach dem Richtig oder Falsch. Daher ist Grundlagenarbeit gefragt. Unter Grundlagenarbeit verstehe ich eine Ethnografie, die in Methode und Darstellung so nah wie möglich an der

I Einleitung

Lebenswelt der Jägerinnen und Jäger bleibt und durch dichte Beschreibung eine Analyse des Verhältnisses von Jagenden und Gejagten erlaubt. Ich untersuche anhand einer von mir durchgeführten Feldforschung in der Nordeifel, was es heißt im gegenwärtigen Deutschland auf der Jagd zu sein. Diese Ethnografie kann daher als Beitrag für ein komparatistisches Vorhaben in der Ethnologie der Jagd verstanden werden – und leistet auch einen Beitrag zu der von Widlok (2016) aufgeworfenen Frage nach dem »universal hunter«. Der Titel »Von Jagenden und Gejagten« besagt schon, dass hierbei die Beziehung der Jägerinnen und Jäger zu ihren Beutetieren im Fokus steht. Insofern ist diese Arbeit nicht nur ein Beitrag für anknüpfende ethnologische, sozial- und kulturanthropologische Vergleiche, sondern eröffnet als Fallstudie auch Einsichten für das aufblühende Feld der Human-Animal-Studies. Meine Forschung entspricht einem phänomenologisch inspirierten, praxeologischen Ansatz. Teil dieses Forschungsansatzes war es daher auch, die Jagd ›am eigenen Leibe‹ zu erfahren, weshalb ich nicht nur an verschiedenen Jagden als Helferin oder Beobachterin teilnahm, sondern mich schließlich auch zur Jägerin ausbilden ließ. Die vorliegende Ethnografie ist das Ergebnis dieser dreieinhalbjährigen Forschungszeit. Ziel dieser Arbeit ist es auch, eine noch bestehende Forschungslücke zu schließen. Obwohl die Jagd als Forschungsgegenstand in der Ethnologie etabliert ist (vgl. u.a. Lee/DeVore 1968), eröffnet sich die Jagd in westlich-geprägten Ländern des global north als Desiderat. Von einigen Ausnahmen einmal abgesehen (vgl. Howes 1981; Dahles 1990, 1993; Goveroff 1993; Dizard 1994; Franklin 1996, 2001; Marvin 2005; Heinzer 2015; Gieser 2017, 2019), gibt es wenig ethnografisches Material über die dort gegenwärtig ausgeübten Jagdpraktiken. Desweiteren zählen auch die Werke von Stahl (1979), Lindner (1937, 1940, 1985), Hiller (2002), Rösener (2004), Theilemann (2004) und Maylein (2010) zu den nennenswerten, kulturwissenschaftlich relevanten Studien zur Jagd spezifisch für den deutschsprachigen Raum. Jedoch wird die Jagd in diesen Arbeiten tendenziell auf ihre Historie oder auf ihre gesellschaftliche Funktion hin untersucht. So mangelt es weiterhin an einer ethnografischen Darstellung dieser Praxis, die auf der tatsächlichen Partizipation daran aufbaut und dieses leibliche Engagement nutzt, um neue analytische Schlüsse daraus zu generieren. Vorschläge dazu kommen jüngst auch von Gieser (2017, 2019). Auch die Volkskunde bietet auf diesem Gebiet wenig Material. Da die Jagd nicht genuin in der »Alltagskultur der kleinen Leute« (Hiller 2002: 19) beheimatet ist, schien diese Praxis bisher für die Volkskunde kein relevantes Forschungsfeld gewesen zu sein (vgl. ebd.). Insofern trägt meine Ethnografie dazu bei, eine bisher wenig bearbeitete Forschungslücke zu schließen und folgt zudem Kurt Lindners Aufruf nach »mehr Wissenschaft vom Jäger und weniger vom Wild« (Lindner 1968: 7). Das Wild bleibt in dieser Ethnografie dabei keineswegs unberücksichtigt. Jedoch sind für mich nicht wildtierbiologische Erkenntnisse wesentlich, sondern mich interessiert, in welcher Beziehung Jagende und Gejagte zueinanderstehen.

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Von Jagenden und Gejagten

Der Titel-Zusatz »Die Jagd als humanimalische Praxis« deutet schon an, dass ich die gejagten Tiere als konstitutiv für das Wesen der Jagdpraxis begreife. Daher ist diese Arbeit sicherlich auch in der Tradition des animal turn zu lesen, der sich hinwendet zu jenen nicht-menschlichen Interaktionspartnerinnen und -partnern in einer mehr-als-menschlichen Lebenswelt. Dabei ist es das Interesse dieser interdisziplinären Strömung, auf die Rolle aufmerksam zu machen, welche andere Tiere in diesem sozio-kulturellen Gefüge spielen (vgl. Manning/Serpell 1994; Taylor/Signal 2011; Andersson-Cederholm et al. 2014). Gerade für die ethnologische Forschung stellen sich mit dem Aufkommen der »multispecies ethnography« (Kirksey/Helmreich 2010) entscheidende Fragen über Methoden, Darstellungsweise und Analyse dieser humanimalischen Lebenswelt. Den Terminus humanimalisch übernehme ich von Signal und Taylor (2011), die auf diesen Begriff zurückgreifen, um ein Feld zu beschreiben, dass »a much more messier terrain of interconnected ›things’« (Taylor 2011: 5) ist, als die herkömmliche strukturelle Dichotomie von ›Kultur‹ und ›Natur‹, ›Mensch‹ und ›Tier‹ beschrieben hat. Der Begriff des Humanimalischen greift Haraways (2003) Idee der naturecultures auf und fokussiert sie auf jene spezifisch humananimalische Beziehungen. Dabei verweist der Terminus humanimalisch auf eine »mutual determination« (Beatson 2011: 23), die darin begründet ist, dass die Konsequenzen des menschlichen Handelns in ihrer lebendigen Umwelt dieses Handeln wiederum selbst festlegen (ebd.). Tatsächlich heben die Autorinnen und Autoren des Buches auch die politische Dimension des Begriffs hervor. Die humanimalische Perspektive soll dementsprechend auch bei der Suche nach »appropriate ways to treat animals« (Taylor 2011: 4) helfen. Wenngleich ich den Begriff in seiner beschreibenden Qualität der gegenseitigen Determination hervorragend geeignet finde, um die Kontur meiner Arbeit deutlich werden zu lassen – immerhin stellt die Jagd eine besondere Mensch-Tier-Situation (vgl. Breyer/Widlok 2019) voller gegenseitiger Determinationen dar –, so distanziere ich mich jedoch von den politischen Zielen, die dieser Begriff evoziert. Beschreibe ich die Jagd nun also als humanimalische Praxis, so entspricht dies nicht einer vorab aufgestellten These, sondern der Titel ist auch das Ergebnis meiner Feldforschung. Tatsächlich habe ich diese Arbeit vor drei Jahren unter dem Arbeitstitel »Die Jagd als kulturelle Praxis« begonnen. Jedoch zeigten sich im Verlaufe des Feldaufenthaltes immer deutlicher jene »mutual determinations«, weshalb ich den Titel schließlich diesen Erfahrungen anpasste. Die Jagd ist mehr als eine von menschlichen Wesen aktiv ausgeübte Praxis, die von ihrer lebendigen Umwelt nur passiv erlitten wird – dies ist wohl die Kernaussage dieser Ethnografie. Wenngleich sie ihren menschlichen Kern, meine menschliche Perspektive, meine menschlichen Wahrnehmungen und Analysen nicht überwinden kann (und muss), so beschreibe ich auch die mehr-als-menschlichen Einflüsse, denen die Jagd in einer sogenannten ›Kulturlandschaft‹ unterliegt. Diese Darstellung entspricht auch am ehesten den jagdlichen Erfahrungen jener Menschen, die ich während meiner

I Einleitung

Feldforschung kennengelernt habe. Die Jagd als humanimalische Praxis zu verstehen, ist gleichzeitig ein Angebot. Es kann Ausgangspunkt für weitere Diskussionen über die Jagd sein. Eine solche Diskussion möchte ich auch im Anschluss an die Analyse eröffnen. Auf dem gelegten Fundament dieser Ethnografie stelle ich die These auf, dass die humanimalische Beziehung im Begriff ist, sich zu verändern. Effizienz spielt aus unterschiedlichen Gründen zunehmend eine größere Rolle für die Jagdpraxis. Ich diskutiere daher unter der Überschrift »Vom Individuum zum Bestand?« inwiefern die Beziehung der Jagenden zu den Gejagten dieser Tendenz unterlegen ist. Aus methodologischen Gründen – auf die im Folgenden noch näher einzugehen ist – habe ich mich als Jägerin ausbilden lassen. Damit mache ich schon deutlich, dass ich die Jagd nicht kategorisch ablehne. Dennoch hätte ich mir zu Beginn meiner Forschung nicht vorstellen können, tatsächlich auf ein Tier zu schießen und es zu töten. Persönliche Haltungen können sich im Laufe einer Feldforschung verändern. In meinem Fall war das so – so ehrlich muss ich sein. Dabei liegt das Wesenhafte einer Ethnografie auch darin, in gewisser Weise eine Momentaufnahme zu sein. Es ist die Darstellung der Jagd, wie sie zu einer bestimmten Zeit von bestimmten Individuen in einer bestimmten Landschaft ausgeübt wurde. Daran ist nichts verwerflich, denn gerade solche Momentaufnahmen tragen zum Verständnis eines bestimmten Phänomens oft mehr bei, als der Versuch einer umfassenden Enzyklopädie. Ich arbeite daher auch weitestgehend ohne Statistiken. Statt quantitativer Ergebnisse, die zweifelsohne objektiv korrekt sein mögen, sich aber oft genug in einer farblosen Allgemeingültigkeit verlieren, der jeder Sinn für Details verloren gegangen ist, arbeite ich hauptsächlich qualitativ. Situationen, Gespräche, ausführliche Beschreibungen und auto-ethnografische Daten formen mein Material. Mein Zugang zur Jagd gestaltete sich während meiner Feldforschung vielseitig, wobei er in gewisser Weise durch die geografische Lage meines Feldes limitiert war. Die Situierung des Feldes in der Nordeifel hatte zur Folge, dass ich zu bestimmten Jagdarten Zugang hatte, insbesondere zur Ansitzjagd und zur Drückjagd, während ich die Pirsch, die Wasserjagd, die Feldjagd oder die Gebirgsjagd nicht kennengelernt habe – dies zu versuchen, hätte den Rahmen einer dreijährigen Forschungszeit sicherlich gesprengt. Bei der Ansitzjagd handelt es sich um die häufigste Jagdart in Deutschland, wie auch die Drückjagd in ganz Deutschland populär ist. Bei der Ansitzjagd warten Jägerinnen und Jäger auf einem Hochsitz bis Wild auftaucht. Die Hochsitze sind architektonisch sehr unterschiedlich und heißen dementsprechend Kanzeln, Leitern oder Böcke. Von ihrer Konstruktionsweise hängt ab, wie sehr die Jagenden der Wind-und-Wetter-Welt während des Ansitzes [der Zeit auf dem Hochsitz] ausgesetzt sind. Die Ansitzjagd gehört zur Einzeljagd, bei der die oder der Jagende alleine jagt. Sie ist in der Regel spontan durchführbar und findet meist abends oder morgens statt. Bei der Drückjagd handelt es

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Von Jagenden und Gejagten

sich um eine Form der Gesellschaftsjagd, die von einer Jagdgesellschaft, inklusive Helferinnen und Helfern und gegebenenfalls Jagdhunden gebildet wird. Der Organisationsaufwand hierfür ist groß – zumal der Jagdtag meist mit dem Schüsseltreiben [dem gemeinsamen Essen] beendet wird. Als sogenannte Treiberinnen und Treiber haben die Helferinnen und Helfer die Aufgabe, die gejagten Tiere zu beunruhigen, indem sie in losen Reihen das Jagdrevier durchstreifen, während die Jagenden auf Hochsitzen auf das aufgescheuchte Wild warten. Die Drückjagd unterscheidet sich von Treibjagden, die eher in flachen Landschaften auf Wiesen und Feldern durchgeführt werden. Bei der Drückjagd sollen die Treiberinnen und Treiber keinen großen Lärm machen, um die Tiere nicht in Panik zu versetzen. Sie sollen nur verunsichert werden, damit sie langsam losziehen, um einen anderen Ort aufzusuchen – und unterwegs möglichst auf die Jägerinnen und Jäger treffen, was durchaus nicht immer der Fall ist, wie ich noch ausführlich beschreiben werde. Die Nordeifel weist als Mittelgebirgslandschaft bestimmte Charakteristika auf. Ein geringes Temperaturmittel ist ebenso typisch, wie hohe Niederschlagsmengen und der fast ständige Westwind. Es ist eine ländliche Gegend, die vor allem durch Wälder und Wiesen geprägt wird. Dörfer in allen Größen strukturieren die Landschaft ebenso, wie Straßen und Wege, die sich wie ein Netz durch die Landschaft ziehen. Hinzu kommen Pfade und Pfädchen menschlichen und nicht-menschlichen Ursprungs. Wasser ist auf diese oder jene Weise überall zu finden: Als Bach oder Fluss, als Stausee oder als Moor formt es die Landschaft auf unterschiedliche Art mit. Neben der Landwirtschaft wird die Landschaft forstwirtschaftlich genutzt. Beides hat einen deutlichen Einfluss auf die Jagd. Im Jahr 2004 ist auf einem ehemaligen belgischen Truppenübungsplatz der Nationalpark Eifel entstanden, der als jagdliche Landschaft ebenfalls eine Rolle in dieser Ethnografie spielt. Hauptsächlich waren die Jagdreviere, zu denen ich Zugang hatte, der Gemeinde Simmerath und den Städten Monschau und Stolberg zugeordnet. Ich subsumiere mein Feld im Folgenden aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung weiterhin als Nordeifel, wenngleich die Jagdreviere in Zweifall und am Gut Schwarzenbruch genaugenommen nicht mehr in der Nordeifel liegen. Zweifall liegt in den nördlichen Ausläufern der Eifel, Schwarzenbruch dagegen liegt schon im Aachener Land, wo es deutlich milder und die Landschaft zersiedelter ist. Ebenso habe ich in einem Jagdrevier geforscht, welches schon jenseits der belgischen Grenze liegt, was jedoch für den regionalspezifischen Fokus der Arbeit keine weitreichenden Konsequenzen hat. Abgesehen von einigen juristischen Details, auf die ich gegebenenfalls eingehen werde, ähneln sich die ostbelgische und die westdeutsche Jagdpraxis stark. Die Jagdreviere, in denen ich jagdlich aktiv war, sind in der landschaftlichen Zusammensetzung dagegen sehr verschieden: Mal dominiert Fichtenwald ein Revier, in einem anderen sind es Wiesen und Felder mit Feldgehölzen, Hecken und kleinen Waldstücken oder Moorlandschaft. Während ich also Gelegenheit hatte, die Nordeifel als jagdliche Landschaft sehr gut kennenzulernen, so lassen sich

I Einleitung

die Ergebnisse jedoch nicht grundsätzlich deutschlandweit verallgemeinern. Unter Umständen müssen daher zusätzliche, regionalspezifische Untersuchungen angestrebt werden. Geforscht habe ich sowohl in privaten Jagdrevieren, als auch in Jagdrevieren, die vom Forstamt Hürgtenwald2 oder dem Nationalpark Eifel verwaltet wurden. Private Jagdreviere sind Jagdreviere, welche von einzelnen oder mehreren Personen gepachtet werden, oder in deren Privatbesitz sind. Jagdrevier im Privatbesitz habe ich in meinem Feld jedoch nicht vorgefunden. Den Zugang zu den jagdlichen Aktivitäten in ihren Revieren kontrollieren die Pächterinnen und Pächter selbst. Jagd wird hier in der Freizeit der Jägerinnen und Jäger betrieben, die dieser Aktivität daher als Selbstzweck und unter dem Aspekt des Vergnügens nachgehen. Eine andere Situation findet sich bei den Jagdveranstaltungen des Forstamts oder des Nationalparks. Wie ich in Kapitel 2.2 – Das Jagdrevier als Ort der untersuchten Praxis noch ausführlicher darstellen werde, wird die Jagd hier seitens der Verantwortlichen vielmehr als Mittel zu einem übergeordneten Zweck betrieben. Das Forstamt betreibt die Jagd, um die Wirtschaftlichkeit der von ihm verwalteten Wälder zu erhalten, während der Nationalpark die Jagd als »Wildtiermanagement« betreibt, mit dem Ziel eine bestimmte Art der Landschaft zu kreieren. Als Angestellte des Landes sind hier die jeweiligen Revierförsterinnen und -förster für die Jagd, aber auch für die Forstwirtschaft, beziehungsweise für das Nationalpark-Management zuständig. Da es sich sowohl beim Forstamt, als auch beim Nationalpark um staatliche Institutionen handelt, fasse ich sie unter den Begriffen der institutionalisierten Jagd, beziehungsweise der institutionellen Jagdveranstaltungen, zusammen. Ich werde auf die Relevanz dieser Unterschiede an gegebener Stelle verweisen. Der Zugang zu den privaten Jagdveranstaltungen beruhte auf meinen persönlichen Kontakten zu den Pächterinnen und Pächtern, beziehungsweise ihren Jagdaufseherinnen und Jagdaufsehern und dort regelmäßig jagenden Jägerinnen und Jägern. Die Teilnahmemöglichkeit an der institutionalisierten Jagd – vor allem als Helferin – ist zunächst auch durch diese persönlichen Kontakte vermittelt gewesen, da sich die jagdlichen Aktivitäten von vielen der Jägerinnen und Jäger, die ich kennengelernt habe, überschnitten. Sie waren nicht nur in privaten Jagdrevieren assoziiert, sondern nahmen oft genug parallel auch an den institutionellen Jagdveranstaltungen teil. Über diese anfängliche persönliche Kontaktvermittlung hinaus, hatte ich als Treiberin schließlich aber auch deshalb einen sehr leichten Zugang zu den Jagden, weil Helferinnen und Helfer immer gesucht werden. Als Treiberin auf

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Formal handelt es sich bei dem Forstamt Hürtgenwald um das Forstamt Rureifel-Jülicher Börde, in welches der Bezirk Hürtgenwald eingegliedert wurde. Landläufig wird jedoch immer noch vom »Forstamt Hürtgenwald« gesprochen und auch meine Bekannten beziehen sich unter diesem Namen darauf, weshalb ich mich entschieden habe, diese Bezeichnung zu übernehmen.

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Von Jagenden und Gejagten

privaten und institutionellen Jagdveranstaltungen zu helfen, bot mir einen guten Einstieg in die Feldforschung, da hierfür kein Jagdschein notwendig ist. Nach dieser konzeptuellen Übersicht, leite ich nun über zu der inhaltlichen Übersicht über das vorliegende Buch.

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Übersicht über die vorliegende Arbeit

In der vorliegenden Arbeit fasse ich die Ergebnisse dieser Feldforschung unter der These von der humanimalischen Jagd zusammen. Eine Form für diese Ergebnisse zu finden, war dabei nicht immer leicht – war da draußen im Feld der gelebten Erfahrung doch Alles mit Allem verwoben, verknüpft und verkettet. Eine wissenschaftliche Arbeit verlangt dagegen nach Selektion, Struktur und Analyse. In gewisser Weise bleibt diese Arbeit jedoch der gelebten Erfahrung ›da draußen‹ verhaftet, indem sie jene Pole zur Struktur erhebt, zwischen denen das passiert, was ich als humanimalische Jagd beschreibe. Was sich – ganz im Sinne des phänomenologischen In-der-Welt-Seins – als unhintergehbar für die Jagd herausstellte, war jene Triangulation bestehend aus dem Jagdrevier, den Jagenden und den Gejagten. Dementsprechend nehme ich dieses drei Akteure als Ausgangspunkte für die Wahl der Struktur. Alle drei prägen durch ihre agency mit, was die Jagd im gegenwärtigen Deutschland als humanimalische Praxis ausmacht. An dieser Stelle folgt jedoch schon ein Wort der Vorsicht und Erklärung. Ich komme in die Verlegenheit, den Terminus agency nicht einfach so stehen lassen zu können – was zweifelsfrei bequem wäre. Wenn ich über die agency der Landschaft, des Windes und des Wetters spreche, so kann damit nicht das selbe Phänomen gemeint sein, wie im Falle der Jagenden und Gejagten – das jedenfalls deutet die phänomenologische Beschreibung an. Indem Bruno Latour (2005) den Begriff der agency zu einem der Stützpfeiler seiner Akteur-Netzwerk-Theorie gemacht hat, hat er ihn fundamental demokratisiert. Im Bezug auf diese ethnografische Analyse hat seine Konzeption jedoch irgendwann zu der hermeneutischen Frage geführt, ob nun die Jägerinnen und Jäger ein gejagtes Tier erschießen – oder das Gewehr. Wenngleich ein weiter gefasstes Verständnis von agency den Blick korrekterweise auch auf nicht-menschliche Faktoren lenken kann, kann er auch dazu führen, dass spezifische Formen von agency – insbesondere die Tatsache, dass einige Akteurinnen und Akteure über Intentionalität und Relationalität verfügen, andere dagegen nicht – verschleiert werden.3 Aus diesem Grund bin ich um einen differenzier-

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Für eine Kritik an dieser Unbestimmtheit gewisser praxistheoretischer Strömungen siehe auch Schürmann: »Hier rächt sich, das Verhältnis zum eigenen philosophischen Moment ungeklärt zu lassen. Man klärt dann einfach empirisch drauf los, wer sozialer Akteur ist.« (2017: 23)

I Einleitung

ten Gebrauch dieses Begriffs bemüht, den ich an gegebener Stelle auch deutlichen machen werde. Grundsätzlich definiere ich die agency der Wind-und-Wetter-Welt als Wirkungsmacht. Wirkungsmacht charakterisiert sich dadurch, dass sie zwar phänomenal auf die Praxis der Jagd einwirkt, diese Wirkung jedoch nur unilinear verläuft und kein Bewusstsein-habendes Subjekt voraussetzt. Wind und Wetter sind dementsprechend Phänomene, die weder durch Intentionalität, noch durch Relationalität gekennzeichnet sind: Es ist keine Absicht in dieser Wirkungsmacht erkennbar, ebenso wenig, wie effektiv auf sie zurück gewirkt werden könnte. Die agency der Jagenden und der Gejagten, die ich als Handlungsmacht bezeichnen werde, ist dagegen sehr wohl durch Intentionalität und Relationalität gekennzeichnet. Beide sind handelnde Parteien, die sich ihrer gemeinsamen humanimalischen Situation auch bewusst sind. Obwohl ihre Möglichkeiten auf diese Situation Einfluss zu nehmen nicht gleichförmig sind, können beide sich handelnd darauf beziehen. Das Ziel dieser Ethnografie ist es daher, die Handlungsmacht der Gejagten in ihren Möglichkeiten und ihren Einschränkungen ebenso herauszustellen, wie die der Jagenden. Um dieses Phänomen zu beschreiben, werde ich mich der von Waldenfels (2006) geprägten Figur des Antwortens auf einen fremden Anspruch bedienen. Wie ich zeigen werde, eignet sie sich als phänomenologisches Analysewerkzeug auch im Bezug auf mehr-als-menschliche Situationen.

Das Jagdrevier Ich beginne meine Analyse mit dem Jagdrevier und gehe dabei auf dessen doppelte Bedeutung für diese Arbeit ein. Ich beschreibe es nicht nur als einen bestimmten landschaftlichen Ort, sondern auch als den Ort der akademischen Praxis. Mit den Grenzen der Jagdreviere steckte ich gewissermaßen auch die Grenzen meines Forschungsfeldes ab. Begrenzend für meine Forschung wirkt nicht nur die konkrete landschaftliche Gegebenheit, in der ich akademisch tätig war, sondern auch meine Fragestellung, die mich leitet und die Methoden, die ich wähle. Das Jagdrevier als ethnografischer Ort charakterisiert sich daher als event (Casey 1996; Pink 2009), weil hier Materialität, Zeit, Leiblichkeit, Bewegungen, Historizität, Normen und Werte zusammenkommen. Um diesen Ort wissenschaftlich zu skizzieren, bediene ich mich auch der phänomenologischen Theorie und möchte daher von einer phänomenologisch inspirierten Ethnografie sprechen. Ich habe diese theoretische Fundierung ausgewählt, weil sie mit ihrem Grundsatz, »auf die Sachen selbst« (Husserl 1968: 6) zurückzukommen, meinem Forschungsinteresse entspricht. Die »Sachen«, auf die ich durch diese Ethnografie zurückkommen will, sind die praktische Jagdausübung und die Erfahrungswelt von Jägerinnen und Jägern. Dass die Phänomenologie eine gute Grundlage dafür bildet, liegt an dem »insistently descriptive character of the phenomenological enterprise« (Casey 1996: 13). Dieser unter-

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stützt die ethnografische Methode der »dichten Beschreibung« (Geertz 2003) und bietet ihr ein zusätzliches theoretisches Fundament. Die Entscheidung für diese theoretische Fundierung beruht auf jener Wesensverwandtschaft zwischen ethnografischer und phänomenologischer Methode, deren gemeinsames Ziel es ist, die Genese von Erfahrungen zu beschreiben und zu verstehen. Dass dies ein aussichtsreiches Unterfangen sein kann, beweisen unter anderem die Arbeiten von Csordas (1997), Goulet (1998), Downey (2005), Willerslev (2007) und Throop (2010). Nicht zuletzt sind auch die einflussreichen Werke Ingolds (z.B. 2000, 2011) durch das phänomenologische Denken vor allem Heideggers und Merleau-Pontys geprägt. Um eine Praxis wie die Jagd angemessen beschreiben zu können, werde ich mit der Leiblichkeit ein weiteres Grundthema der Phänomenologie aufgreifen, welches auch methodologisch relevant für diese Ethnografie ist. Die Jagd affiziert das leibliche In-der-Welt-Sein von Jagenden und Gejagten auf spezifische Weise, welche praxistheoretisch als »teleoactive structure[…]« (vgl. Bedorf/Gerlek 2017: 6) verstanden werden kann. Hier kennzeichnet sich wiederum die wesensmäßige Nähe von Phänomenologie und Praxistheorie, ist doch »das Mitagieren von Dingen und Artefakten« (ebd.) im Bezug auf die Leiblichkeit konstitutiv für beide Theoriefelder (vgl. hierzu auch Heideggers Konzept des Zu-Handen-Seins). Die Leiblichkeit ist Grundvoraussetzung dafür, dass die Umwelt als humanimalisch konstituiert bedeutsam wird. Sie ermöglicht es Jagenden und Gejagten, sich bedeutungsvoll aufeinander beziehen zu können, woraus ich in der vorliegenden Arbeit das Konzept der humanimalischen Intersubjektivität entwickeln werde. Insofern der Leib der »Nullpunkt aller […] Orientierungen« (Husserl 1952: 158) ist, betrifft die Leiblichkeit die Perspektive einer Ethnografie. Die sinnlich-leibliche Verfasstheit bildet aber nicht nur die Zugangsmöglichkeit der Ethnologin oder des Ethnologen zum Feld, sondern sie entspricht vielmehr einer wertvollen Quelle der Erkenntnis (vgl. Downey 2005; Pink 2009; Downey et al. 2015). Aufgrund dieser theoretischen Überlegung habe ich unter anderem auch den apprenticeship approach als methodischen Zugang ausgewählt. Meinem Feld begegnete ich daher von Anfang an in der Doppelrolle als Ethnografin und Jungjägerin. Dass ich mich dazu entschieden habe, mich zur Jägerin ausbilden zu lassen, hatte großen Einfluss auf die von mir gesammelten Daten – folglich spielen auto-ethnografische Momente in dieser Arbeit eine große Rolle. Selbst Jägerin werden zu wollen, bedeutete für mich, einen Weg einzuschlagen, der nicht nur ein erfahrungsbasiertes Verstehen der Jagdpraxis erlaubt (vgl. Pink 2009: 65). Vielmehr stellte sich meine Feldforschung so nicht nur als teilnehmende Beobachtung und als beobachtende Teilnahme dar, sondern sie beinhaltete auch Elemente einer »radical participation« (Goulet, 1998: xi). Die Jagd stellte schließlich auch mein Selbstverständnis in Frage, indem ich entscheiden musste, ob ich ein Tier töten würde. Diese Doppelrolle als Ethnografin, die etwas über die Jagd in Deutschland lernen möchte und als Jungjägerin, die das Jagen lernen möchte, hat nicht nur theo-

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retische Implikationen. Ganz praktisch erweiterte diese Herangehensweise meine Zugangsmöglichkeit zum Feld, indem sie mir die aktive Teilnahme an der Jagd erlaubte, die in Deutschland relativ streng reglementiert ist. Wollte ich aber tatsächlich verstehen, was Jägerinnen und Jäger machen, wenn sie auf die Jagd gehen, war die Ausbildung zur Jägerin der konsequenteste Weg, dies herauszufinden. Um aber eine möglichst adäquate Darstellung der Jagd verfassen zu können, blieben andere ethnografische Methoden, wie das Beobachten und das Führen von Gesprächen weiterhin unverzichtbar. Aber auch im Bezug auf die anderen Jägerinnen und Jäger, die ich im Laufe der Feldforschung kennenlernte, stellte sich meine methodologische Herangehensweise als sinnvoll dar, indem sie mir den Zugang zu dieser Gruppe erleichterte. Ihre – teils jahrzehntelange – Erfahrung war ein geeignetes Gegengewicht zu meinen Erfahrungen als Jungjägerin. Indem sie mich an ihrem jagdlichen Alltag teilhaben ließen, boten sie dieser Arbeit erst Grund und Boden. Durch sie hatte ich nicht nur Zugang zu den verschiedenen Jagdarten, sondern auch zu den ethisch-moralischen Werten der Jägerinnen und Jäger, welche diese Praxis normativ strukturieren. Mit meiner Methodologie und der sie fundierenden Theorie habe ich eine Antwort auf die Anforderungen meines Forschungsfeldes gefunden. Die unterschiedlichen Ansätze haben schließlich dazu geführt, dass ich ein facettenreiches Bild der Jagd in der Nordeifel als humanimalische Praxis zeichnen kann. Das Jagdrevier als konkreter Ort, an dem Jagdpraxis stattfindet, ist Thema der zweiten Hälfe dieses Kapitels. Das von mir abgesteckte Feld ist als Ort jagdlicher Praktiken, sozialer und humanimalischer Beziehungen, sowie kultureller Werte und Normen nicht ausgeschöpft – es ist vor allem auch materielle Landschaft. Diese Landschaft ist dabei mehr als der bewachsene und bewaldete Boden der Jagd und verdient daher eine analytische Hinwendung. Wie schon einleitend ausgeführt, hat die Landschaft einen großen Einfluss darauf, wie Jagd stattfindet. So hat die Landschaft, in der ich Feldforschung betrieben habe, meine Forschung zu einer Feld-, Wald- und Wiesenforschung gemacht, was großen Anteil an den Inhalten dieser Ethnografie hat. Um sich Landschaft jedoch aus einer phänomenologisch-ethnologischen Perspektive anzunähern, bedarf es zunächst der Klärung des Landschaftsbegriffes. Beide Disziplinen favorisieren einen nicht-statischen, korrelativen Landschaftsbegriff, der immer schon an ein wahrnehmendes Subjekt gekoppelt ist (vgl. Casey 1996; Ingold 1993, 2000, 2011; Janowski/Ingold 2012). Insbesondere für die ethnologische Forschung bedeutet das, dass Landschaft mehr sein muss, als das, was auf den ersten Blick ersichtlich ist: »There is thus […] a second landscape which is produced through local practice and which we come to recognize and understand through fieldwork and through ethnographic description« (Hirsch 1995: 2). Obwohl mir die Landschaft der Nordeifel nicht unbekannt war, eröffnete sie sich mir durch die Praxis der Jagd auf andere Weise. Orte luden sich mit neuen Bedeutungen auf und an andere gelangte ich durch die Jagd überhaupt zum ersten Mal. Das, was

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sonst zwischen den Wegen lag, wurde durch die Jagd begehbar. Wieder andere Teile der Landschaft, wie Wälder und Maisfelder rückten von der Peripherie des Wegesrandes in das Zentrum jagdlichen Handelns. Das Jagdrevier eröffnete sich vor allem jenseits befestigter Wege, so schien es mir. Auch um Grenzen muss es gehen, wenn es um das Jagdrevier geht. Auf den ersten Blick scheinen sie in den Karten der Jagdreviere genau gezogen zu sein. Durchgezogene, kompromisslose Linien bestimmten den Bereich, in dem Jägerinnen und Jäger die Jagd ausüben durften. Jenseits der Grenzen begannen die Nachbarreviere. So liegt in Deutschland, einem wild gemusterten Teppich gleich, Jagdrevier an Jagdrevier. Einige befriedete Bezirke, wie zum Beispiel Ortschaften, Autobahnen und Friedhöfe sind ausgenommen, für andere, wie bspw. Nationalparks, gibt es Sonderreglungen – ansonsten herrscht in Deutschland die gesetzliche Pflicht zur flächendeckenden Bejagung, welche hauptsächlich der Regulierung von Wildbeständen dienen soll. Was auf den entsprechenden Landkarten eindeutig aussieht, ist in der Wirklichkeit der Jagenden und der Gejagten komplexer und die Grenzen sind poröser, als sie aussehen. Jagdreviere schließen weder die gejagten Tiere ein, noch dürfen sie andere Landnutzungspraktiken ausschließen. Die Jagdreviere der Nordeifel werde ich daher auch unter dem Aspekt der »contested landscapes« (Bender/Winder 2001) analysieren, wollen hier doch unterschiedliche Ansprüche zugleich verwirklicht werden. Jagdliche Landschaft ist das Jagdrevier daher nur in der Perspektive der Jägerinnen und Jäger. Dabei wird ihr Jagdrevier durch all die anderen Landnutzungspraktiken mitgeprägt und wird materiell durch diese Ansprüche strukturiert. In diesem Kapitel soll es daher auch um die Konflikte gehen, die aus dieser landschaftlichen Situation entstehen. Nicht zuletzt ist das Jagdrevier aber auch materielle und geografische Gegebenheit, sowie es dem Wind und dem Wetter ausgesetzt ist. Als lebendige Umwelt ist es nicht nur der Ort für verschiedene Landnutzungspraktiken, wie Forst- und Landwirtschaft, den institutionalisierten Naturschutz oder Freizeitaktivitäten. Es ist auch Heimstätte für Pflanzen, Menschen und Tiere. Um erfolgreich zu Jagen, müssen die Jägerinnen und Jäger verstehen, welche Wirkungsmacht die Landschaft auf die Gejagten hat. Diesen Aspekt analysiere ich unter dem Abschnitt der humanimalisch konstituierten Landschaft und diskutiere dahingehend auch das von Ingold (2000) vorgeschlagene dwelling-Konzept. Für das jagdliche Engagement der Jägerinnen und Jäger ist dabei besonders wichtig, welche affordances (Gibson 1979) und resistances (Macnaghten/Urry 2000) die Landschaft ihres Jagdreviers für die dort lebenden jagdbaren Tiere darstellt. Ich stelle dar, inwiefern das wohnende Eingebunden-Sein des Wildes nicht nur die jagdliche Perspektive auf eine Landschaft bestimmt, sondern auch die jagdlichen Aktivitäten der Menschen dadurch beeinflusst werden, wie die Tiere auf Veränderungen in ihrem Habitat antworten. Die Jägerinnen und Jäger müssen sich also, um erfolgreich zu sein, in ihrem Jagdrevier als humanimalisch konstituierter Landschaft auskennen. Sie müssen mit ihrer

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lebendigen Umwelt vertraut sein und in der Lage sein, sie zu lesen, zu entschlüsseln (vgl. Tilley 1994: 26) und zu wissen »›how to go on‹ at a practical level« (ebd.). Unter das praktische Wissen von der humanimalisch konstituierten Landschaft des Jagdreviers fällt auch die jagdliche Infrastruktur. Ihr und ihrer »material agency« (Harvey/Knox 2015: 4) widme ich einen gesonderten Abschnitt. Ich werde anhand verschiedener Situationen während der Feldforschung zeigen, dass sich die praktische Bedeutung der jagdlichen Infrastruktur nur im Kontext der humanimalisch konstituierten Landschaft eröffnet. In dieser von menschlicher und nicht-menschlicher Einflussnahme geprägten Landschaft gibt es Phänomene, die sich unabänderlich vollziehen und ebenfalls großen Einfluss auf die Jagd als humanimalische Praxis haben. Dazu gehören nicht nur Wind und Wetter, sondern auch natürliche Rhythmen und Zyklen, wie die Jahreszeiten, der Wechsel von Tag und Nacht, sowie die Mondphasen. Diese Phänomene verdienen ebenfalls einige Gedanken, weil sie für die Jagenden eine taskscape darstellen, deren Ablauf durch bestimmte unabänderliche Zyklen vorgegeben wird (vgl. Ingold 1993: 160). Mit einer kurzen Beschreibung der taskscape eines Jagdjahres beende ich dieses Kapitel. Ich werde mich ihm jedoch noch einmal in Kapitel 4.3 – Die Jagd als leibliche Praxis aus einer anderen Perspektive zuwenden, wenn es darum geht, zu beschreiben, wie die Jagd die Leiblichkeit der Jagenden affiziert. Eines der Hauptmotive für Jägerinnen und Jäger und solche, die es werden, ist das ›DraußenSein‹ auf der Jagd. Indem die Jagd und das Jagdrevier dieses ›Draußen-Sein‹ auf eine spezifische Art ermöglichen, lohnt sich an dieser Stelle jener Rückblick, der zugleich den Gang dieser Ethnografie zurück an ihren Ausgangspunkt holt.

Die Gejagten Im Kapitel Tiere stehen nicht nur die gejagten Tiere im Zentrum der Analyse, sondern auch die Jagdhunde. Auf die jagdbaren Tiere beziehen Jägerinnen und Jäger sich durch den verallgemeinernden Terminus Wild. Dieser stellt in ihrem Klassifikationssystem eine exklusive Kategorie dar. Dabei ist Wild eine in sich diverse Kategorie, die es zu analysieren gilt. Geht es um die tierischen Jagdhelfer, so beziehe ich mich ausschließlich auf Jagdhunde, da die Jagd mit Hunden die größte Relevanz für die Jagdpraxis in der Nordeifel und in Deutschland allgemein hat. Die Jagdhunde bilden gleichermaßen auch die Überleitung zum spezifisch humanen der humanimalischen Jagd: Die Jagd mit Jagdhunden hat nicht nur praktische, sonder auch moralische Implikationen, wie die Analyse der Nachsuche, der Suche nach verletzten Tieren, zeigen wird. Dieser humanen Kondition der Jagd wende ich mich im Kapitel Die Jagenden ausführlich zu. Die Situation zwischen den Jagenden und den Gejagten in der Nordeifel ist komplex. Zwar ist das Verhältnis zwischen jagenden Menschen und gejagten Tieren vor allem von menschlichen Vorstellungen geprägt, jedoch begegnen sich auf

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der Jagd nicht einfach ›der Mensch‹ und ›das Tier‹. Aufgrund ihrer Vielfältigkeit wäre die Jagd in Deutschland wohl am treffendsten als »humans-animals-situations« (Widlok 2019: 204) charakterisiert. Das Mensch-Tier-Verhältnis auf der Jagd ist der Gegenstand unterschiedlichster Forschungsinteressen und analytischen Vorgehensweisen, weshalb ich mich an dieser Stelle kurzfassen möchte und nur auf einige zentrale Aspekte hinweise. Symbolismus und Funktionalismus haben dieses Verhältnis in der ethnologischen Forschung bisher vornehmlich aus einer abstrakten Perspektive beleuchtet (vgl. bspw. Shanklin 1985; Kirksey/Helmreich 2010; Barnhard 2004). Auch aus historischer Perspektive ist die Jagd und das gejagte Tier vor allem symbolisch bedeutsam. Für Europa und für koloniale Kontexte gibt es die geisteswissenschaftliche Tradition, die Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten als Analogon gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu deuten (vgl. bspw. Eckhardt 1976; Cartmill 1993; Theilemann 2004; Spehr 1993; Widlok 2008). Den RitualCharakter der Jagd haben insbesondere Dahles (1990, 1993) und Howe (1981) für die europäische Jagdtradition herausgearbeitet. Nicht zuletzt kann die Beziehung zum gejagten Tier auch als Teil einer Identitätskonstruktion aufgefasst werden, wie McLeod (2004) nachweist. Das Verhältnis der Jagenden und der Gejagten in der Nordeifel ließe tatsächlich ebenfalls zahlreiche dieser genannten Konzeptualisierungen zu. Jedoch wäre die Beziehung der Jägerinnen und Jäger zu den gejagten Tieren aus phänomenologischer Perspektive damit nur unzureichend beschrieben. Diese humanimalische Situation ist mehr als eine Projektionsfläche für kulturelle Rituale und Symbole oder integraler Teil übergeordneter Funktionsstrukturen. Ich werde mich dieser Beziehung daher phänomenologisch annähern und mich – den Fokus auf die gejagten Tiere gerichtet – den Möglichkeitsbedingungen der gegenwärtigen Jagdpraxis widmen. Im Ergebnis möchte ich die humanimalische Jagd als das Resultat einer »Antwortlogik« (Waldenfels 2006: 62) definieren, an der Jagende und Gejagte beteiligt sind und die weder ein erstes, noch ein letztes Wort kennt (vgl. ebd.: 65). Der Vorteil dieser Herangehensweise ist es, auch die Handlungsmacht der Gejagten angemessen darstellen zu können. Diese blieb bisher noch unterrepräsentiert. Bevor ich aber zu dieser humanimalischen Intersubjektivität komme, welche dieser »Antwortlogik« zu Grunde liegt, bedarf es einer Klärung der Kategorien, in welche die jagdbaren Tiere unterteilt werden können. Bejagt werden dürfen in Deutschland nur bestimmte unter das Jagdrecht fallende Tiere. Diese klassifizieren sich juristisch als Wild, weil sie herrenlose Tiere sind, die keiner gesonderten Schutzkategorie unterliegen. Dabei benennt der Name dieser Kategorie auch schon ein zentrales Attribut der Tiere: Ihre Wildheit. Meine Definition von der Wildheit dieser Tiere übernehme ich von Cartmill (1993), da sie mir an handlichsten und zugleich am zutreffendsten erscheint: »[W]ir definieren wilde Tiere in diesem Zusammenhang als solche, die den Menschen scheuen oder angreifen« (ebd.: 47). Wild ist und war immer eine exklusive Kategorie. Zudem ist sie auch, wie erwähnt, ei-

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ne diverse Kategorie, in die nicht nur essbare Arten fallen, oder auch Arten, deren Bejagung aus wirtschaftlicher oder ökologischer Perspektive notwendig erscheint. Darüber hinaus gibt es auch historische Gründe, warum eine Tierart zum Wild gezählt wird. Auch dafür, dass die verschiedenen jagdbaren Arten teils sehr unterschiedlich bewertet werden, gibt es historische Gründe. So entstand im Mittelalter die Klassifizierung des Wildes in Hochwild und Niederwild, die sich auf den sozialen Status ihrer Jägerinnen und Jäger bezieht. Während einige Tiere von vielen Jägerinnen und Jägern also sehr geschätzt werden, wie das Rotwild, dem die »Aura des Adels, ja sogar übernatürlicher Hoheit angedichtet« (Rösener 2004: 148) wird, stellt sich die Jagd auf andere Tiere eher als »Kampf gegen ein scheinbar kulturunzuträgliches Wachsen des ›Raubzeugs’« (Theilemann 2004: 137-138) dar. In einem Exkurs zur Jagdtrophäe und zur Trophäenjagd mache ich deutlich, wie unterschiedlich Jägerinnen und Jäger sich auf die jagdbaren Tiere in ihren Revieren beziehen. Wesentlich hierfür sind nicht nur strukturelle Determinanten wie das Reviersystem, sondern dieser Umstand hat auch bestimmte geistesgeschichtliche Gründe. So ist die Jagdtradition in Deutschland weitestgehend von einer paternalistisch-kreationistischen Ideologie geprägt, die gegenwärtig auch innerhalb der Jäger_innenschaft kritisiert wird (vgl. Maylein 2010: 905). Auch wenn diese Kritik in Teilen nicht unberechtigt sein mag, ziele ich mit meiner Arbeit nicht darauf ab, über richtige und falsche Jagd zu entscheiden – eine solche Entscheidung zu fällen, würde ich mir ohnehin nicht anmaßen. Worauf ich vielmehr abziele, ist jenen ›blinden Fleck‹ offenzulegen, der in bisherigen Analysen zur Jagd in Deutschland – ob kritisch oder nicht – unberücksichtigt blieb: Die Jagd ist fundamental humanimalisch geprägt. Dazu gehört auch, zu erkennen, dass es die Gejagten selbst sind, die Einfluss auf die Bedingungen ihrer Bejagung nehmen. Wenngleich ihre Handlungsmacht insofern begrenzt ist, als sie nicht über eine »corporate agency« (Archer 2000) verfügen, um kollektiv jene »anthropomorphic relations of power and domination within they are enmeshed« (Carter/Charles 2011: 258) zu verändern, so antworten die Gejagten dennoch effektvoll auf ihre lebendige Umwelt. Gegenwärtig ist in Deutschland zu erkennen, wie die Gejagten die Prämissen der Jagd verändern, indem sie durch ihr Handeln Antworten von den Jägerinnen und Jägern auf die gemeinsame humanimalische Situation fordern: Während die Bestände einiger Arten massiv zurückgehen, erhöhen sich die Bestände anderer Arten so stark, dass nicht nur der Wildschaden ansteigt, sondern auch die Wahrscheinlichkeit für Tierseuchen. Die Antworten der gejagten Tiere auf ihre lebendige Umwelt verschärfen die Konflikte in der contested landscape teilweise deutlich. So stellt von Eggeling schon 1988 fest, dass die »zahlreiche[n] Zwänge von außen einen neuen Typus des Jägers […] entstehen lassen müssen, wenn Jagd im traditionellen Sinne auf die Dauer überhaupt noch möglich sein soll« (ebd.: 48). Damit fordert er vor allem, dass die Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten anderen, als ›rationaler‹ einge-

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stuften, Kriterien folgen muss, um eine gesellschaftliche Daseinsberechtigung zu haben. Die gegenwärtig in Deutschland praktizierte Jagd ist dabei, Antworten auf solche Ansprüche zu formulieren. Ich werde daher diskutieren, inwiefern das sich verändernde Verhältnis zwischen Jagenden und Gejagten auch an den formalen Kategorien abzulesen ist, in welche Jägerinnen und Jäger das Wild traditionell unterteilen. Die Jagd als Bestandsregulation deckt sich dabei mit der Entwertung der Kategorien Hochwild und Niederwild und der Betonung der wertneutral formulierten Kategorien Schalen-, Feder- und Haarwild. Aus phänomenologischer Perspektive erscheinen mir aber besonders die Kategorien der ›Kulturfolger‹ und ›Kulturflüchter‹ sinnvoll, um die Jagd als humanimalische Praxis zu verstehen, da diese auf die Möglichkeitsbedingungen der humanimalischen Begegnung verweisen. Während der erste Teil dieses Kapitels sich vor allem auf die strukturellen Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung konzentriert, betone ich im zweiten Teil die individuelle Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten. Meine These lautet, dass Jagende und Gejagte auf der Jagd zunächst nicht auf einer strukturellen Ebene für einander bedeutsam sind, sondern durch ihre leibliche Anwesenheit – beziehungsweise Abwesenheit. Die Ergebnisse meiner Feldforschung belegen dies. Das Füreinander-bedeutsam-Werden definiere ich daher in Anlehnung an die phänomenologische Theorie der Intersubjektivität als humanimalische Intersubjektivität. Das Kriterium der humanimalischen Intersubjektivität liegt in der Fähigkeit zur intentionalen Bezugnahme menschlicher und einiger nicht-menschlicher Lebewesen aufeinander. Gerade im Fall der Jagd sind die Gejagten für die Jagenden nicht nur einfach da, sondern sie werden bedeutsam für die eigene Wahrnehmung und Deutung der Umwelt. Die Erfahrungen der Jägerinnen und Jäger, auf die ich mich beziehe, sprechen dafür, dass es nicht nur den jagenden Menschen gelingt, sich bis zu einem gewissen Grad in das gejagte Beutetier einzufühlen und dessen wahrscheinliches Verhalten zu antizipieren, sondern, dass das auch umgekehrt der Fall ist. Wenngleich die »Differenzen in der organischen und intentionalen Konstitution derart [sind], dass man von artspezifischen Grenzen der Empathie sprechen muss« (Breyer 2015: 193), so spielt die grundsätzliche Möglichkeit des Perspektivwechsels für die Jagdpraxis der Jägerinnen und Jäger eine große Rolle. Vergleichbare Beispiele für diese intersubjektive Einfühlung geben auch Sharp und Sharp (2015) sowie Willerslev (2007). In ihren Ethnografien zeigt sich, dass dieser Perspektivwechsel auch in anderen Jagdkulturen bekannt ist. So stellt Willerslev fest: »hunters are both humans and the animals they hunt, both predators and prey, and so on. This condition of fundamentally liminality or in-betweeness seems to have no ending« (ebd.: 12). Begründet werden kann solche Liminalität nur durch die phänomenologische Grundstruktur der humanimalischen Intersubjektivität. Wie diese auch im Handeln der Jägerinnen und Jäger in der Nordeifel wirksam ist, zeige ich anhand meines ethnografischen Materials. Diese Form der Intersubjektivität stellt

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für mich daher ein weiteres Indiz für meine These von der Jagd als humanimalischer Praxis dar. Jagdhunde, um die es ebenfalls in diesem Kapitel gehen wird, haben einen ganz besonderen Stellenwert für die humanimalische Jagd. Ortega y Gasset (1985) sieht im Jagdhund die Möglichkeit für die menschlichen Jägerinnen und Jäger, ihre eigene menschliche Unzulänglichkeit zu überbrücken (vgl. ebd.: 51). Auch in der Eifel ist die Jagd mit Hunden weit verbreitet und Hundeführerinnen und Hundeführer in der Regel geschätzte Mitglieder der Gemeinschaft der Jagenden. In diesem Teil der Arbeit möchte ich zweierlei beleuchten: Zum Einen möchte ich eine kurze Übersicht darüber geben, auf welche Weise Hunde in Deutschland auf der Jagd eingesetzt werden. In allen Fällen, so viel vorweg, machen sich die jagenden Menschen die physiologischen und sensorischen Fähigkeiten der Hunde in Kombination mit der Landschaft, in der gejagt wird, zu Nutze. Diese Kombination aus den Fähigkeiten der Hunde, den Erfordernissen der Jagd und der züchterischen Selektion durch die menschlichen Jägerinnen und Jäger führt dazu, dass Jagdhunde Inkorporationen jener von Haraway (2003) charakterisierten naturecultures sind. Zum Anderen werde ich näher auf die spezifische Mensch-Tier-Beziehung zwischen Jägerinnen und Jägern und ihren Jagdhunden eingehen. Die ethnografische Beschreibung von Situationen, in denen Jagdhunde und Menschen gemeinsam jagen, zeigt, dass der Status des Jagdhundes ambivalent ist. Der Jagdhund ist nicht nur domestiziertes Haustier, sondern auch »von jeher und aus eigenem Antrieb ein begeisterter Jäger« (Ortega y Gasset 1985: 51). Wenngleich der Prozess der Domestikation wohl weniger jener »paradigmatic act of masculine, single-parent, self-birthing« (Haraway 2003: 27) war, als der er in Teilen der Wissenschaftsgeschichte beschrieben wird, sondern viel eher auf gegenseitiger Flexibilität, gepaart mit einem gewissen Opportunismus beider Seiten, beruht (vgl. ebd.: 29), so ist dieser Prozess für Jägerinnen und Jäger äußerst erfolgreich verlaufen. Dabei ist der Jagdhund gegenwärtig viel mehr als nur ein Arbeitstier, oder gar ein Werkzeug menschlicher Intentionen. Die humanimalische Beziehung zwischen Jägerinnen und Jägern und ihren Jagdhunden ist eine persönliche. Sie weist Elemente wie gegenseitigen Respekt, gegenseitiges Vertrauen und – in jedem Falle seitens der Jägerinnen und Jäger – in der Regel emotionale Betroffenheit auf. Nichtsdestotrotz, Jagdhunde sind nicht nur domestizierte Haustiere, sondern sie können situativ auch zum ›wilden‹ Tier werden. Aus diesem Grund changiert die Beziehung der Jägerinnen und Jäger zu ihren Jagdhunden immer auch zwischen Risiko und Vertrauen. Ganz besonders deutlich wird das, wenn ich die Konflikte beleuchte, die daraus resultieren können, wenn Jagdhunde Teil der Jagdgesellschaft sind. Um die Menschen sinnvoll bei der Jagd zu unterstützen, müssen die Hunde in den entscheidenden Momenten von der Leine gelassen werden und selbstständig arbeiten. Ab jetzt können die Menschen, welche diese Mensch-TierBeziehung in weiten Teilen dominieren, die Hunde nicht mehr kontrollieren und

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müssen ihnen vertrauen. Vertrauen bedeutet dabei nach Ingold (2000) auch immer ein Risiko einzugehen: »[T]he risk that the other on whose actions I depend, but I cannot in any way control, may act contrary to my expectations« (ebd.: 70). Nicht immer, so habe ich es auch während meiner Feldforschung erlebt, erfüllen die Jagdhunde die Erwartungen ihrer Menschen. Dennoch gehören Jagdhunde als fester Bestandteil zur humanimalischen Jagdpraxis in Deutschland dazu. Dabei sind sie, wie angedeutet, mehr als ein fleischgewordenes Werkzeug ihrer Menschen (vgl. Haraway 2003: 27) – Jägerinnen und Jäger verstehen sie als Partnerinnen und Partner. Das ist mehr als eine sentimentale Metapher, beschreibt »Partnerschaft« doch die Beziehung zwischen Hund und Mensch auf der Jagd am Ehesten. Diese Beziehung analysiere ich aus einer phänomenologisch-philosophischen Perspektive und komme zu dem Schluss, dass es in dieser Beziehung auch zu einem humanimalischen Verstehen zwischen Mensch und Hund kommen kann. Darauf möchte ich abschließend eingehen und beschreiben, inwiefern die humanimalische Intersubjektivität auch ein Verstehen zwischen zwei Spezies erlaubt. Während sie als rudimentärer Grundzug schon die gegenseitige Bezugnahme von Jagenden und Gejagten ermöglichte, übersteigt das humanimalische Verstehen diese noch. Bei dieser empathischen Form des Verstehens geht es nicht um ein »becom[ing] coincident with the animal […] to [claim] that humans and animals relate to each other through empathy« (Painter 2007: 109). Vielmehr geht es um ein Verstehen, welches in der gemeinsamen Biografie und im geteilten Alltag von Hunden und ihren Menschen begründet ist. Die Suche mit Hunden nach verletztem Wild charakterisiert sich auf besondere Weise als jenes humanimalische Verstehen. In Kapitel 3.3 ist es mein Ziel, die Nachsuche nicht nur als praktische Herausforderung darzustellen, die sich Hunden und Menschen bei dieser Aktivität stellt. Zugleich verweise ich auf den moralischen Aspekt, welcher der Nachsuche innewohnt. Insofern sie für die Jägerinnen und Jäger auch die praktische Umsetzung ihrer Jagdethik, der Weidgerechtigkeit, ist, stellt sich dieses Kapitel auch als Überleitung zu meiner Analyse des spezifisch menschlichen der humanimalischen Jagd dar. Wenngleich ich mich erst im nächsten Kapitel ausführlich der Jagdethik widme, muss sie schon vorausgesetzt werden, um die Nachsuche angemessen zu analysieren. Gemäß der Weidgerechtigkeit, die einen kurzen, möglichst schmerzlosen Tod des gejagten Tieres fordert, handelt es sich bei der Nachsuche um den Teil der Jagd, der gar nicht vorkommen sollte. Zwar können auch Unfälle im Straßenverkehr Grund dafür sein, jedoch ist ein unsauberer Schuss die häufigste Ursache dafür, dass Nachsuchengespanne, bestehend aus Jägerinnen und Jägern mit ihren speziell ausgebildeten Hunden, zum Einsatz kommen. Die Nachsuche ist nicht nur ein gutes Beispiel dafür, dass und wie sich nicht-menschliche Lebewesen gemeinsam bestimmte Fähigkeiten aneignen können, sondern sie zeigt auch, wie die Konstruktion und Organisation menschlichen Wissens durch die Interaktion mit diesen nicht-menschlichen Lebewesen beein-

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flusst wird (vgl. Savalois et al. 2013: 79). Nachsuchenhunde tragen wesentlich dazu bei, dass ihre menschlichen Partnerinnen und Partner das vergangene Geschehen am Ort des Fehlschusses nachvollziehen und sich auf die Suche nach dem verletzten Tier machen können. Besonders geübte Nachsuchengespanne verfügen über hohes soziales Prestige innerhalb der Jäger_innenschaft. Die hohe Wertschätzung der Nachsuche liegt im moralischen Kontext der weidgerechten Jagdpraxis begründet, der Nachsuchenführerinnen und -führer in besonderer Weise entsprechen. Dabei nehmen sie auch immer Risiken in Kauf, wenn sie sich auf die Suche nach verletzten Tieren machen. Nicht wenige Menschen und Hunde werden bei der Nachsuche verletzt – oft auch durch das gesuchte Tier. Während die Jagd im Normalfall durch formale Sicherheitsmaßnahmen strukturiert ist, verlassen Hunde und Menschen bei der Nachsuche oftmals diese sichere Zone, weil die Suche sie auch in unbekanntes Terrain führt. Indem sie sich in der Regel für fremde Jägerinnen und Jäger in diese Grenzregionen der Jagd begeben, erfahren Nachsuchengespanne jene Anerkennung, die sich wiederum nur aus dem ethischen Fundament der Jagd ergibt – der Weidgerechtigkeit.

Die Jagenden Das Kapitel über die Jagenden eröffnet das spezifisch menschliche der gegenwärtigen Jagdpraxis in Deutschland. Hier gehe ich zunächst auf die Normen und Werte ein, welche unter dem Terminus Weidgerechtigkeit die Jagdpraxis regulieren. Es handelt sich hierbei um eine Handlungsmaxime, die in weiten Teilen in die Jagdgesetzgebung eingeflossen ist. Andererseits beinhaltet sie auch Aspekte, die über eine formale Regelung hinausgehen, weshalb die Weidgerechtigkeit auch als »Ehrenkodex« (vgl. Dahles 1990; Hiller 2002; Theilemann 2004; Maylein 2010; Schriewer 2015) verstanden werden kann. Ich stelle in diesem Kapitel die These auf, dass Weidgerechtigkeit als »einheitsstiftende[s] Erzeugungsprinzip« (Bourdieu 1987: 283) nicht nur einen bestimmten Habitus hervorbringt, der für Solidarität in der Gruppe sorgen kann, sondern auch Distinktion innerhalb der Gruppe und nach außen erlaubt. Im letzten Unterkapitel analysiere ich die Jagd als leibliche Praxis. Diese Analyse bezieht sich vor allem auf den jagenden Leib und steht mit den ersten beiden Unterkapiteln deshalb in Verbindung, weil die weidgerechte Jagd als moralische Haltung der Jagenden auch bestimmte leibliche Fähigkeiten von ihnen einfordert. Ich beginne meine Analyse der Weidgerechtigkeit, indem ich sie in Bezug zu bestimmten Ritualen setze, welche unter dem »jagdlichen Brauchtum« subsumiert werden. Jägerinnen und Jäger haben bestimmte Rituale, auf die sie – insbesondere am Ende einer Jagd – zurückgreifen können. Innerhalb der Jäger_innenschaft wird diskursiv zwischen Weidgerechtigkeit und Brauchtum getrennt. So heißt es in einem Artikel in der Jagdzeitschrift PIRSCH, dass das jagdliche Brauchtum nicht mit Weidgerechtigkeit und Jagdethik verwechselt werden solle, da es »›nur‹ deren

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Träger [ist]« (Syskowski 2016: 11). Ich gehe in meiner Analyse der Frage nach, ob sich diese Trennung phänomenologisch aufrechterhalten lässt. Dazu untersuche ich das Ritual des Strecke Legens, bei dem am Ende einer Gesellschaftsjagd das tote Wild von den Jägerinnen und Jäger aufgereiht wird, damit diese den Tieren ihren Respekt erweisen können. Meine These lautet, dass solche Rituale schlecht vom Konzept der Weidgerechtigkeit getrennt werden können, da sie dazu beitragen, den liminalen Status zu überwinden, in den Jägerinnen und Jäger sich durch das bewusste Töten dieser Tiere begeben haben. Solche Rituale sind daher am besten verstanden als »symbolischer Ausdruck kollektiver Sorge« (Turner 2005: 47). Als »sinnreiche Mittel zur Mobilisierung, Kanalisierung und Kontrolle starker Emotionen« (ebd.), sind sie in der Lage, die moralische Integrität der Jagenden kollektiv wiederherzustellen. Um diese Wirkung zu verstehen, ziehe ich Gernot Böhmes (2013) phänomenologische Annäherung an den Atmosphären-Begriff heran. Ich komme zu dem Schluss, dass das Brauchtum einen so hohen Stellenwert hat, weil es die Weidgerechtigkeit atmosphärisch im Erleben der Jagenden konkretisiert. Für die Jagenden ist es daher mehr, als das »›Drum und Dran‹ der Jagd« (Maylein 2010: 762). In der Erfahrung sind Brauchtum und Weidgerechtigkeit eng miteinander verwoben, wenngleich sie strukturell getrennt voneinander konzeptualisiert werden können. Die Weidgerechtigkeit prägt aber nicht nur bestimmte Rituale. Sie prägt als »Ehrenkodex« viel mehr das jagdliche Selbstverständnis der weidgerechten Jägerinnen und Jäger. Als Ehrenkodex entspricht die Weidgerechtigkeit ganz und gar jenem »subjektive[n], aber nichtindividuelle[n] System verinnerlichter Strukturen« (Bourdieu 1993: 112), welches in der Lage ist, einen bestimmten Habitus auszuprägen und »gemeinsame Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« (ebd.) hervorzubringen. Formal dürfen sich alle Jägerinnen und Jäger als weidgerecht verstehen, die kein geltendes Recht verletzen. Der Ehrenkodex Weidgerechtigkeit kann jedoch deutlich enger gefasst werden (vgl. hierzu Dahles 1990: 257). Um das Konzept besser zu verstehen, begebe ich mich auf Spurensuche in der Geschichte der Jagd. Ohne vorab zu sehr ins Detail zu gehen, lässt sich sagen, dass bis heute bestimmte Werte und Normen den Diskus um die weidgerechte Jagd bestimmen, die einer adeligen Jagdtradition entstammen; insbesondere ist das die Affektkontrolle (Theilemann 2004). Jedoch lässt sich feststellen, dass die Weidgerechtigkeit als Werte- und Normengefüge auch Veränderungen unterlegen ist, was nicht nur durch die sozial durchmischte Jäger_innenschaft begründet ist, sondern auch durch die gesamtgesellschaftliche Situierung der Jagd. Was ›gute‹ und was ›schlechte‹ Jagdpraxis ist, wird also immer schon kollektiv ausgehandelt. Das vornehmliche Interesse dieses Kapitels gilt daher der Frage, inwiefern diese Heterogenität für das Selbstverständnis sich als weidgerecht verstehender Jägerinnen und Jäger praktisch wirksam wird. Interessant ist, dass die weidgerechte Jagd zwar durchaus sehr uneinheitlich definiert wird und »vielgestaltige[…] Selbstkon-

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struktionsofferten« (Theilemann 2004: 101) bietet, aber dennoch auch eine stark integrierende Funktion hat. Obwohl das Konzept nicht ohne Kritik ist (vgl. Bode/Emmert 2000; Maylein 2010) versteht sich eine Mehrheit der Jägerinnen und Jäger als weidgerecht. Einen Grund dafür sehe ich darin, dass es für die Jagenden eine schützende Funktion hat. Es bietet Narrative und Konzepte an, die Jägerinnen und Jäger nutzen können, um ihr soziales Prestige zu steigern. Mit dem sozialen Typus der »schwarzen Schafe«, welche – »[w]ie in der Gestaltpsychologie Figur und Grund einander bedingen [Herv. i. O.]« (Turner 2005: 124) – die Weidgerechtigkeit umso deutlicher hervortreten lassen, und dem Konsum von Wildfleisch beschreibe ich solche von Jägerinnen und Jägern genutzten Konzepte. Sie definieren die weidgerecht Jagenden als die ›guten‹ Jägerinnen und Jäger und erlauben die Akkumulation sozialen Prestiges innerhalb und außerhalb der ›sozialen Jagdreviere‹. Das Narrativ des ›selbst produzierten Fleisches‹ hilft Jägerinnen und Jägern im gegenwärtigen Deutschland besonders gut, an gesellschaftlicher Kontur zu gewinnen und sich in Differenz zur Mehrheitsgesellschaft (vgl. Bourdieu 1987: 279) zu bestätigen. Dabei ist gerade der Konsum von Wildfleisch, so lege ich dar, auch ein Beispiel dafür, dass die Weidgerechtigkeit historisch immer schon ein wandelbares Konzept war, welches sich stets im Bezug zur Gesamtgesellschaft veränderte und verändert. Mein Vorschlag lautet daher, die Weidgerechtigkeit als Figuration (Elias 1997: 70) zu verstehen. Ich komme zu dem Schluss, dass sie gerade in Krisen-Zeiten, in denen die Jagenden »eine weitverbreitete Ablehnung wahrnehmen« (Schriewer 2015: 140), ein stark nachgefragtes Konzept ist. Als Figuration kann sie sich in gewissem Maße an einen gesamtgesellschaftlichen Werte- und Normenkanon anpassen. Durch diese prozesshafte Aushandlung und Anpassung verliert sie ihren normativen Charakter als etablierter ethisch-moralischer Orientierungsrahmen jedoch nicht, sondern dieser wird dadurch eher noch verstärkt. Im letzten Teil dieser Arbeit lege ich den Fokus auf das Jagen als leibliche Praxis und analysiere, welche Rolle Wahrnehmung, leibliche Fähigkeiten und Ausrüstung für die Jagd spielen. Auch für diese Betrachtung bleibt die Weidgerechtigkeit zentral. Mit ihr hat sich eine Jagdethik herausgebildet, welche nicht das effiziente, sondern das affektkontrollierte Jagen vorzieht. Damit bildet die Weidgerechtigkeit den ethisch-moralischen Rahmen für eine Jagdmentalität, die dem ›Natur-Erleben‹ und dem ›Draußen-Sein‹ Raum eröffnet. Das ›Natur-Erleben‹ und das ›Draußen-Sein‹ werden von Jägerinnen und Jäger mehrheitlich als Hauptmotiv genannt, warum sie Jagen. Zum Einen ist das der gesamtgesellschaftlichen Einbettung der Jagd geschuldet, die im Naturgenuss einen eher nachvollziehbaren Wert erkennt, als im Töten von Tieren. So fällt auch das Motiv ›Beute machen‹ deutlich seltener, wenngleich es wohl offensichtlich das ist, was die Jagd von anderen Outdoor-Aktivitäten unterscheidet. Jedoch wäre es zu kurz gegriffen, zu glauben, dass Jägerinnen und Jäger einfach eine gesellschaftlich akzeptierte Unwahrheit äußern, wenn sie das

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Von Jagenden und Gejagten

›Draußen-Sein‹ und den ›Naturgenuss‹ so stark hervorheben. Tatsächlich ist die Situation komplexer. Dazu gehört, dass Jägerinnen und Jäger in der Regel nicht wirtschaftlich abhängig sind von ihrem Jagderfolg. Dies ermöglicht, neben einer restriktiven Jagdethik, wie der Weidgerechtigkeit, eine hohe Frustrationstoleranz gegenüber Jagdtagen, an denen keine ›Beute gemacht‹ wurde. Damit einher geht wiederum die Möglichkeit, auch den kontemplativen Aspekt der Jagd aufzuwerten. Weil das ›Draußen-Sein‹ in der Wertschätzung der Jagenden eine so hohe Position einnimmt, ist es das Ziel dieses Kapitels, jene spezifische Erfahrungsqualität des ›Draußen-Seins‹ ernstzunehmen. Ihr werde ich phänomenologisch nachgehen und stelle schließlich die These auf, dass der Reiz des ›Draußen-Seins‹ während der Jagd vor allem in der synästhetischen Wahrnehmungsstruktur liegt. Auch werde ich der jagenden Frau einige gendertheoretische Gedanken widmen, insofern die Jagd weithin als männlich Praxis gilt (Haraway 1995: 130; Ortner 2000: 8). Statistiken über jagende Frauen scheinen dies zu bestätigen, weshalb ich aus leibphänomenologischer Perspektive untersuche, ob es einen Grund für diese geschlechtsspezifische Ungleichheit unter Jagenden gibt. Abschließen werde ich das Kapitel mit einem Blick auf das, was passiert, wenn Jägerinnen und Jäger erfolgreich waren, beenden. Hier interessiert mich zum Einen das Aufbrechen, das Aufschneiden und Ausnehmen der toten Tiere. Es ist notwendig, damit aus dem toten Tier ein Lebensmittel werden kann. Zum Anderen eröffnet das Ende einer erfolgreichen Jagd auch Gedanken über das Vergehen der Leiblichkeit. Jagen ist eine sehr spezifische leibliche Praxis. Dabei ist der Leib für Jagende und Gejagte ihr »Mittel überhaupt, eine Welt zu haben« (Merleau-Ponty 1966: 176). Auf der Jagd wird er auf vielfältige Weise affiziert. Ich untersuche daher zunächst, wie die Jagd die Aufmerksamkeit der Jagenden lenkt und welche Fähigkeiten sie erfordert. Über den jagenden Menschen schreibt Ortega y Gasset (1985), er sei der »wache Mensch« (ebd.: 94). Aus phänomenologischer Perspektive ist damit jedoch keine uneingeschränkte Aufmerksamkeit gemeint, sondern vielmehr eine punktuelle, auf besondere Weise durch die Praxis des Jagens geschulte Aufmerksamkeit. Die »Attentionalität« (Breyer 2011: 142), jene »Grundstruktur der Erfahrung« (ebd.: 147), ermöglicht dabei, dass geübte Jägerinnen und Jäger über eine, an den Herausforderungen der Jagd geschulte, Wahrnehmungsfähigkeit verfügen. Eine geschulte Wahrnehmung gehört dabei ebenso zu den jagdlich relevanten Fähigkeiten, wie der Umgang mit der Waffe, auf den ich in einem Exkurs genauer eingehe. Der Umgang mit einer schussbereiten Feuerwaffe zeigt, dass praktische Fähigkeiten jene »practical ›hands-on‹ experience« (Ingold 2000: 291) benötigen, um sich zu entwickeln. Jedoch lässt sich gerade am Beispiel der Waffenhandhabung ebenfalls nachweisen, dass auch theoretische Instruktionen unabdingbar für eine »praktische […] Beherrschung« (Bourdieu 1993: 122) sind und dass das Verhältnis zwischen Praxis und Theorie, konkreter Erfahrung und abstrakten Mechanismen nicht so dichotom zu verstehen ist, wie Merleau-Ponty und auch Ingold es oftmals zu konzeptualisieren

I Einleitung

scheinen. Dabei hat die »praktische Beherrschung« der Jagd auch moralische Implikationen für die Jagenden – auch das lässt sich besonders deutlich am Umgang mit der Waffe zeigen. Weidgerechtigkeit stellt sich insofern nicht nur als geistige Haltung dar, sondern sie erfordert von den Jagenden Können im Umgang mit der Schusswaffe. Erst wenn sie am eigenen Leib »die Übereinstimmung […] zwischen Intention und Vollzug [erfahren]« (Merleau-Ponty 1966: 174), dürfen weidgerechte Jägerinnen und Jäger tatsächlich auf ein lebendiges Tier schießen. Wer durch einen unsicheren oder fahrlässigen Schuss ein Tier verletzt, statt es sauber zu töten, läuft dagegen Gefahr, als nicht-weidgerecht stigmatisiert zu werden. Um zu verstehen, warum das ›Draußen-Seins‹ unter Jägerinnen und Jäger so positiv besetzt ist, muss die sinnlich-leibliche Erfahrungsstruktur als grundsätzlich synästhetisch verstanden werden, so meine These. Die synästhetische Qualität des ›Draußen-Seins‹ eröffnet Jagenden eine bestimmte Erlebensqualität, die sich stark vom häuslichen, dörflichen oder städtischen Alltag unterscheidet. In meiner Diskussion um das sinnlich-leibliche Erleben während der Jagd verteidige ich eine leibphänomenologische Perspektive auf das menschliche Sensorium gegenüber der Position, wie sie von der Anthropology of the Senses vertreten wird (vgl. Howes 1991, 2003; Classen 1997, 2005). Wenn ich das Wahrnehmungserleben während der Jagd als synästhetisch verstehe, so ist damit kein chaotisches »synesthetic mingling of sensation« (Howes 2005: 9) gemeint – schon deshalb nicht, weil jede Sinnesmodalität »eine nie völlig übertragbare Seinsstruktur mit sich trägt« (Merleau-Ponty 1966: 263). Jedoch beschreibe ich, dass und wie Jägerinnen und Jäger die Jagd immer als multisensorisch erleben – wenngleich dem Sehen eine übergeordnete Bedeutung zukommt. Mit der »Attentionalität« ist jene Struktur gefunden, die sinnstiftend all die Wahrnehmungsangebote selektiert, ohne dass dazu bestimmte kulturelle Schemata »independently of, or prior to, their application in particular situations of use« (Ingold 2000: 162) existieren müssen, wie die Anthropology of the Senses vorschlägt. Und doch sehe ich beide Positionen nicht als unvereinbar. Weil die Phänomenologie jene fundamentale Korrelation zwischen wahrnehmendem Subjekt und Wahrnehmungsgegenstand konsequenter und in gewisser Weise voraussetzungsloser denkt als andere Modelle, erscheint sie mir die geeignetere Grundlage zu sein, das sinnlich-leibliche Erleben während der Jagd zu analysieren. Dennoch plädiere ich an dieser Stelle dafür, das phänomenologische Konzept als Boden zu verstehen, auf dem schließlich kulturelle Modelle und Schemata wachsen können. Gerade im Bezug auf das Sehen während der Jagd zeigt sich, dass die Wahrnehmungsaktivität durchaus nicht unabhängig von einem gewissen Grad der Abstraktion und theoretischer Instruktion abläuft. Die überindividuellen Schemata, gemeinsamen Werte und Normvorstellungen, nach denen das Wahrgenommene bewertet wird, zeigen das. Der Reiz des ›Draußen-Seins‹, so die leibphänomenologische Basis bis dahin, liegt vor allem in der synästhetischen Erfahrung der »weather-world« (Ingold 2011:

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96). Dabei tauchen die jagenden Leiber in Umwelterfahrungen ein, die sehr verschieden von der häuslichen Umgebung sind. Nicht immer ist diese Erfahrung angenehm; Wind und Wetter sind oft genug äußerst widerständig. Wenngleich auch in diesem ungemütlichen Umwelterleben ein positiv besetzter Wert erkannt wird, so setzen sich Jagende diesen Bedingungen, für die ihre Leiber evolutionär bedingt ausnehmend schlecht ausgestattet sind, nicht schutzlos aus. Durch ihre Ausrüstung unterstützen sie ihre Leiblichkeit. Dabei dämpft diese Ausrüstung das leibliche Erleben entweder oder sie verstärkt es im Sinne der Jagenden. Die wesentlichste Veränderung ist dabei die Feuerwaffe. Dabei haben schon die ersten modernen Feuerwaffen-Typen das ausgelöst, was auch gegenwärtig noch so gut wie jede technische Innovation mit sich zu bringen scheint: Einen Sturm der Entrüstung. Auch aktuell wird angesichts neuer technischer Möglichkeiten immer wieder der »Verlust jägerischen Könnens« (Hiller 2002: 185) und eine damit einhergehende Ignoranz der »Poesie des Weidwerks« (ebd.: 187) beklagt. In einer Betrachtung der jagdlichen Ausrüstung interessiert mich daher besonders die Frage, worin das »jägerische Können« und die »Poesie des Weidwerks« bestehen, wenn sie seit mindestens 160 Jahren regelmäßig in Gefahr gewähnt wurden und doch fortzubestehen scheinen. Im synästhetischen Wahrnehmungserleben und der an den Erfordernissen der Jagd geschulten Wahrnehmung, glaube ich darauf eine Antwort gefunden zu haben. Desweiteren erscheint mir auch im Bezug auf die Ausrüstung die Rolle der Weidgerechtigkeit interessant. Zum Einen ist sie restriktiv, so dass nur ein Minimum an technisch möglichen Arten, Tiere zu töten mit weidgerechter Jagd einhergeht. Zum Anderen reguliert die Weidgerechtigkeit die Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten so, dass den Jagenden eine Verantwortung für die Gejagten zukommt. Sofern technische Innovationen diese Beziehung nicht gefährden und sie sogar unterstützen, läuft das Konzept der Weidgerechtigkeit technologischen Entwicklungen nicht entgegen. Meine These lautet daher, dass die Ausrüstung der Jagenden nicht nur praktische, sondern auch ethische Aspekte beinhaltet. Letztendlich macht nicht die Ausrüstung ›Beute‹, sondern die jagenden Menschen. Ich habe schon angedeutet, dass es sich bei diesen statistisch eher um jagende Männer handelt. Aus diesem Grund stellt sich die unausweichliche Frage, ob die Jagd tatsächlich eine männliche Praxis ist, wie sich wissenschaftsgeschichtlich verschiedene Disziplinen einander in einem »Zirkelschluss« immer wieder versicherten (vgl. Kästner 2009: 52-53). Besonders relevant für diese langlebige Lehrmeinung, die erst ab den 1970er Jahren zunehmend kritisch überarbeitet wurde, war das »Man the Hunter«-Modell (vgl. Lee/De Vore, 1968), welches insbesondere von Washburn und Lancaster (1968) vertreten wurde. Wenngleich Ortner (2000) strukturalistisch begründet, warum Frauen in vielen Kulturen aus gesellschaftlichen und kulturellen Gründen von der Jagd ausgeschlossen sind, gibt es meines Erachtens aus leibphänomenologischer Perspektive keinen Grund dafür, warum Jagen eine männliche Aktivität darstellen sollte. Umso fragwürdiger erscheint mir eine solche

I Einleitung

These aus wissenschaftlicher Perspektive, weil die Dichotomie zwischen ›männlich‹ und ›weiblich‹ spätestens durch Judith Butlers (1993) Arbeiten zum Thema Geschlecht und gender zunehmend aufgeweicht wird. Aus historischer Perspektive und auf der soziologischen Ebene finden sich dagegen mit der industriellen Revolution und einer damit einhergehenden Krisenerfahrung des Patriarchats in Europa (vgl. Spehr 1993: 133) durchaus Gründe dafür, dass die Jagd zu einer Männerdomäne werden konnte. Auch das Narrativ von der Leben spendenden Frau und dem Leben nehmenden Mann (vgl. Testart 1986: 25) hat seinen Anteil daran gehabt, »das Territorium Jagd vor weiblichen Eindringlingen« (Kästner 2009: 52) zu schützen. Insofern also das Leib-Schema »both individually and socially sketched out« (Fielding 2014: 521) ist, eröffnet sich das phänomenologische »Ich kann« (MerleauPonty 1966: 166) der Jagd oft genug auch als ein weibliches »self imposed I cannot« (Young 1980: 146). Nun ist zu beobachten, dass die Anzahl der weiblichen Jagenden zunimmt und so das selbst- und fremdauferlegte »I cannot« immer wieder in ein »Ich kann« verwandelt wird. Ich argumentiere dafür, dass dies auf der einen Seite strukturelle Gründe hat, auf der anderen Seite aber auch ein Belegt dafür ist, dass die Jagd nicht grundsätzlich eine männliche Aktivität ist. In diese Argumentationslinie passt auch, dass die Jägerinnen, die ich kennengelernt habe, die Jagd nicht grundsätzlich anders zu erleben schienen und sie auch nicht grundsätzlich anders bewerteten als die Jäger – eine Feststellung, die ich auch auf den Moment des Tötens ausweiten möchte. Viel eher plädiere ich dafür, dass sich unterschiedliche Bewertungen des Erlebens und unterschiedliche Jagdstile, sowie die Haltung zur Jagd im Allgemeinen eher durch die persönliche Disposition eines Menschen erklären lassen, an der das biologische Geschlecht sicherlich einen, aber nicht den alleinigen Anteil hat. Mit der Schussabgabe erreicht die Jagd ihren alles entscheidenden Höhepunkt. Die Aufmerksamkeit, so habe auch ich es am eigenen Leib erlebt, bündelt sich auf den kleinen Bildausschnitt im Zielfernrohr. Während die Anspannung zuvor anstiegt, das Herz schneller zu schlagen beginnt, ist dieser Moment geprägt von einer seltsamen Gelassenheit, die nicht nur erfahrene Jägerinnen und Jäger erlebten, sondern von der mir auch Jungjägerinnen und Jungjäger nach ihrem ersten Schuss berichteten. Das seltsame an dieser Gelassenheit liegt darin, dass sie Fehl am Platz zu sein scheint, entscheidet doch der nächste Moment darüber, ob das Tier sauber getroffen wird und alles ›gut gegangen hat‹ oder ob der Schuss die schwerwiegende Konsequenz einer Nachsuche mit sich bringt. Und doch ist diese Gelassenheit, die Ruhe im Körper, die Konzentration auf das Kommende, wohl die wichtigste Fähigkeit die Jägerinnen und Jäger benötigen, damit der Schuss überhaupt gelingen kann. Ist der Schuss tatsächlich erfolgreich gewesen, folgt die Rote Arbeit. Nun müssen sich die Jägerinnen und Jäger mit dem toten Körper des Tieres auseinandersetzen. Dabei erleben sie diesen toten Körper als dem eigenen Leib nicht unähnlich. Der letzte Abschnitt dieser Arbeit ist daher dem Übergang vom Leben

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Von Jagenden und Gejagten

zum Tod gewidmet, der sich auf der Jagd nur allzu oft vollzieht. Trotz aller mechanischen Hilfen ist das Aufbrechen des Tieres, das Öffnen der Bauchhöhle und das Entnehmen der Organe eine körperlich herausfordernde Arbeit. Unempfindlichkeit gegenüber Blut, unangenehmen Gerüchen und der Haptik eines auskühlenden, ehemals lebendigen Körpers sind hierzu von Nöten. Das Aufbrechen ist dabei im Sinne der Weidgerechtigkeit Ehrensache für erfolgreiche Jägerinnen und Jäger. Sie sehen darin auch eine weitere Möglichkeit, ihren Respekt gegenüber dem toten Tier zum Ausdruck zu bringen, indem sie das Fleisch – zumindest der essbaren Arten – nicht verludern, also verkommen lassen. Angesichts dieser oft anstrengenden Arbeit ist Sharp und Sharp (2015) zuzustimmen: Dagegen ist das Töten der Beute – obwohl moralisch der schwerwiegendste Akt der Jagd – »the easy part« (vgl. Sharp/Sharp 2015: 26). Leibphänomenologisch wende ich mich dem Ende der erfolgreichen Jagd auch deshalb zu, weil hier der Übergang von Lebendigkeit zur reinen Körperlichkeit analysiert werden kann. Ich möchte in diesem Kapitel daher auch darstellen, inwiefern der Tod sich auch nach einem sauberen tödlichen Schuss noch als Prozess darstellt. Zudem ermöglicht dieser Moment den Jagenden auch einen Bezug zu ihrer eigenen organischen Körperlichkeit, die sie stellvertretend am toten Tier berühren können. In solchen Momenten verquicken sich Leben und Tod und es wird deutlich, dass der Respekt, der dem Tier durch das Strecke Legen entgegengebracht wird, in gewisser Weise auch der eigenen Sterblichkeit gilt. Indem Jägerinnen und Jäger das Wildfleisch der erlegten Tiere konsumieren, verkehrt sich dieser Moment wiederum. So dient das Fleisch nicht nur als Nahrung, sondern zugleich wird das Leben des getöteten Tieres in das eigene Leben inkorporiert.

II Das Jagdrevier

2.1

Das Jagdrevier als Feld der Ethnologin

Bevor ich mich dem Jagdrevier als Ort der jagdlichen Praxis zuwende, möchte ich das Jagdrevier als ethnologisches Feld beleuchten. Das Jagdrevier ist in diesem Sinne doppeldeutig – es eröffnet sich nicht nur als eine bestimmte materielle, sondern auch als akademische Landschaft. Mit den Grenzen der Jagdreviere habe ich mein Feld abgesteckt. Zweifellos sind es poröse Grenzen, aber davon wird später zu sprechen sein. Das Jagdrevier als ethnografischer Ort ist vor allem ein Geschehen, ein event, wie Sarah Pink (2009) in Übereinstimmung mit Edward Casey (1996) konstatiert. Als Geschehen führt er Lebewesen, ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Geschichten ebenso zusammen, wie bestimmte soziale Konstellationen, Theorien und Machtverhältnisse (vgl. Pink 2009: 120; Casey 1996: 26). Die Ethnografie ist eine Momentaufnahme, welche das Geschehen in verschiedenen Jagdrevieren nachzeichnet, an dem ich teilnahm. Schon weil der ethnografische Ort immer auch ein bestimmter materieller Ort zu einer bestimmten Zeit ist, sind die Ergebnisse dieser Arbeit nur teilweise verallgemeinerbar. Auch meine Positionierung im Feld, meine Fragestellung und die methodische Herangehensweise, die zu dieser Ethnografie geführt hat, grenzen das Feld ein. Dies ist kein Fehler, der zu vermeiden gewesen wäre. Es ist vielmehr die Natur der ethnografischen Darstellung. Ein Fehler wäre es, auf diesen Umstand nicht zu sprechen zu kommen und so Neutralität explizit oder implizit zu versprechen, die nicht einzulösen ist. Um diesem Fehler vorzugreifen, stelle ich dem Abschnitt über das Jagdrevier als Ort der jagdlichen Praxis diesen Abschnitt über das Jagdrevier als Ort der ethnografischen Praxis voran, der auf die Möglichkeiten dieser phänomenologisch inspirierten Ethnografie eingeht. Ihr Wert liegt darin, dass sie durch präzise Beschreibung ein Bild davon zeichnet, wie Jagd gegenwärtig in einem Teil Deutschlands stattfindet. Was dabei in diesem Bild vorkommt und aus welcher Perspektive es dargestellt ist, ist untrennbar mit dem methodologischen Zugang und meinem Selbstverständnis als Ethnografin verknüpft. Es wäre naiv anzunehmen, als Ethnografin könnte ich zum gänzlich »uninteressierten Zuschauer« (Husserl 1963: 73) werden. Insofern diese »Ichspaltung« (ebd.) nie vollständig gelingen wird, ist auch meine Persönlichkeit zu einem gro-

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Von Jagenden und Gejagten

ßen Anteil in den Entstehungsprozess dieser Ethnografie eingeflossen (vgl. Hastrup 1995). Daran schließt sich an, auf welche Art ich den Zugang zu meinem Feld, der Jagd, umgesetzt habe und meine Daten gesammelt habe. Das ethnografische Selbstverständnis zu thematisieren, ist daher wichtig, um einen angemessenen Zugang zu der entstandenen Ethnografie zu schaffen. Meine Fragestellung bezieht sich im engeren Sinne darauf, was Jägerinnen und Jäger tun, wenn sie auf die Jagd gehen. Im weiteren Sinne geht es um ihr praktisches Wissen, um ihre spezifische Mensch-Tier-Beziehung und schließlich um die jagdliche Ideologie, durch welche sie ihrem Tun auf normativer Ebene Bedeutung verleihen. Meine Fragestellung grenzt sich ab von anderen Fragestellungen, die sich aus dem Phänomen ›Jagd in Deutschland‹ ebenfalls ableiten. Wildtierbiologische, ökologische, ökonomische, soziologische, historische oder ethische Fragestellungen spielen für diese Arbeit eine untergeordnete Rolle. Sie grenzt sich deshalb ab, weil es der Ethnografie primär darum geht, dem praktischen Wissen der Jägerinnen und Jäger einen Vorrang zu gewähren. Um es mit Michael Jackson (1996) zu sagen: »In prioritizing the knowledge with which people live rather than the knowledge with which Western intellectuals make sense of life, ethnography helps us to place practical and social imperatives on a par with scholastic rules and abstract understanding. […] Fieldwork brings home to us the ontological priority of social existence and fieldwork-based writing affirms that truth must not be seen as an unmasking, but a form of disclosure which does it justice.« (ebd.: 4) Um die Praxis der Jagd zu verstehen, reicht es nicht, sie durch abstrahierende Schlussfolgerungen erklären zu wollen. Die theoretische Erklärung muss sich immer an der gelebten Praxis der Jagd messen lassen können. Jagd, wie ich sie während meines Feldaufenthaltes erlebt habe, findet nicht als einseitige, menschliche Aktivität statt, welche die gejagten Tiere ausschließlich passiv erfahren, sondern sie wird durch diese Tiere maßgeblich geformt. Mein Ziel ist es daher, die Jagd in dieser Ethnografie als eine humanimalische Praxis darzustellen und damit auch den jagdlichen Erfahrungen jener Menschen, die ich während meiner Feldforschung kennengelernt habe, zu entsprechen.

Die phänomenologisch inspirierte Ethnografie Ihre theoretische Fundierung findet diese Ethnografie über die Jagd daher auch in der Phänomenologie. Ich möchte mich dem phänomenologischen Grundsatz anschließen, »auf die Sachen selbst« (Husserl 1968: 6) zurückzukommen und die Beschreibung der praktischen Jagdausübung und die Erfahrungswelt von Jägerinnen und Jägern ins Zentrum zu rücken. Für die Priorisierung des lebensweltlichen Wissens der Jägerinnen und Jäger bildet die Phänomenologie eine geeignete Grund-

II Das Jagdrevier

lage. Als Korrelationsphilosophie betont sie, dass das Wissen, welches Individuen sich aneignen, nie unabhängig von ihrer jeweiligen lebensweltlichen Situierung ist. Sie kann sich als Erweiterung ethnologischer Theorien verstehen lassen, denn jenseits reduktionistischer Erklärungsmodelle übt sich die phänomenologische Methode zunächst in der Beschreibung des phainomenon, des Erscheinenden. Indem es auch ihr um detaillierte Beschreibung von Erfahrungen und deren Genese geht, besteht eine unübersehbare und fruchtbare Wesensverwandtschaft zwischen ethnografischer und phänomenologischer Methode: »The insistently descriptive character of the phenomenological enterprise in philosophy rejoins the emphasis in anthropology on precise description in the field« (Casey 1996: 13). Die erkenntnistheoretische Parallele hat dazu geführt, dass sich mit dem phenomenological turn eine phänomenologisch inspirierte Ethnologie etablieren konnte (vgl. Jackson 1996: 12; Ram/Houston 2015). Die Gedanken von Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty haben ihre Spuren in der Cultural Anthropology und der Ethnologie hinterlassen, wie sich in den Arbeiten von Csordas (1997), Goulet (1998), Downey (2005), Willerslev (2007), Throop (2010) und nicht zuletzt Ingold (1993, 2000, 2011) zeigt. Dabei gibt es keine klar definierte ›phänomenologische Ethnografie‹. Vielmehr – und deshalb möchte ich auch lieber von ›phänomenologisch inspirierter‹ Ethnografie sprechen – gibt es verschiedene Anknüpfungspunkte an die philosophische Tradition. Insofern erkennt Gieser (2017) in der Phänomenologie auch nicht »another Western philosophy but rather a method of detailed description« (ebd.: 232). Die Chance einer »phenomenological anthropology« (ebd.: 234) sieht er darin, dass sie das philosophische Unterfangen, die Tiefe des Erlebens zu offenbaren, sogar noch überschreitet (vgl. ebd.). Dabei ist für die Phänomenologie grundlegend, dass sie das »[G]eradehin«, das »natürlich in die Welt hineinerfahrende [Herv. i. O.]« Erleben – die Phänomenalität der natürlichen Einstellung – ernst nimmt (vgl. Husserl 1963: 72). Das ›Alltagswissen‹ erfährt hier eine philosophische Aufwertung. Die Relevanz des Alltäglichen wird auch von der Ethnologie unterstrichen. Michael Jackson (2015) beschäftigt sich mit dem Einfluss der Husserl’schen Phänomenologie auf die Ethnologie und erkennt: »For anthropologist, perhaps the most compelling of Husserl’s arguments in the Crisis is that scientific theories and systems of believe have their origins in mundane non-forms of consciousness and practical activity« (ebd.: 296). Auch der Erkenntnisgewinn, den die Ethnologie ermöglicht, begründet sich oft genug in jenem Alltagswissen. Die phänomenologische epoché1 , das »uni1

Unter der epoché versteht Husserl das ›Einklammern‹ der Weltwahrnehmung und aller daraus resultierenden Gewissheiten des philosophierenden Subjekts. Vorausgegangen ist diesem Einklammern die Suche nach »absoluter Wissenschaftsbegründung« (Husserl 1963: 49) – und damit nach dem, was als evident, also unbezweifelbar, gelten darf. Der epoché geht daher ein radikales Zweifeln an allen Gewissheiten darüber, dass und wie die Welt ist, voraus. Jene Weltwahrnehmung, die trotz des »universale[n] Außergeltungsetzen[s]« (ebd.: 60) ihres ontologischen Status fortläuft, bildet die Grundlage für Husserls weitere Überlegun-

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Von Jagenden und Gejagten

versale Außergeltungsetzen« (Husserl 1963: 60), deutet Jackson (1996) im Bezug auf die Ethnologie richtig als einen praktischen Relativismus: »[T]he suspension of inquiry into the divine or objective truth of particular customs, beliefs, or worldviews in order to explore them as modalities or moments of experience« (ebd.: 10). Für diese phänomenologisch inspirierte Ethnografie über die Jagd heißt das, dass ich der jagdlichen Praxis das Wort überlassen möchte, um mich schließlich reflektierend damit auseinanderzusetzen. Die Jagd als humanimalische Praxis zu verstehen, ist dabei ein Angebot. Es kann Ausgangspunkt für weitere Diskussionen über die Jagd sein. Das sinnlich-leibliche Erleben als Erkenntnisquelle Um eine Praxis wie die Jagd angemessen beschreiben zu können, greife ich ein weiteres Grundthema der Phänomenologie auf – die Leiblichkeit. Was ich in meiner Ethnografie beschreibe, sind Situationen, die sich durch menschliche, wie nichtmenschliche agency konstituieren.2 Die Leiblichkeit ist für Jagende und Gejagte

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gen. Husserl löst das Problem, welches er sich gestellt hat, auf, indem er argumentiert, dass eines unbezweifelbar ist – nämlich der Akt des Zweifelns für das zweifelnde Ich (ego). Diese Korrelation aus einem Wahrnehmungsgegenstand, z.B. ›fortlaufendes Welterleben‹ (Noema) in einer bestimmten Wahrnehmungsweise, z.B. ›zweifelnd‹ (Noese) und dem wahrnehmende Subjekt bildet die Grundlage der phänomenologischen Methode. Daraus ergibt sich jene grundlegende Korrelation: Wahrnehmungsgegenstand und wahrnehmendes Subjekt sind im Wahrnehmungsakt immer schon miteinander verwoben, wobei dieser Wahrnehmungsakt nicht einseitig aufzulösen ist. Hieraus beginnt Husserl Schritt für Schritt eine Weltgewissheit zu konstituieren, die schließlich auch Intersubjektivität, Sozialität und damit die gesamte Lebenswelt einschließt. Auch wenn Husserls Phänomenologie nicht ohne Kritik bleibt (vgl. bspw. Schmitz 2011: 42), so gilt sie doch als eine der einflussreichsten Strömung der neueren Philosophie-Geschichte, die über die eigene Disziplin hinaus Inspiration ist – wie auch die phänomenologischen Fährten und Spuren innerhalb der Cultural Anthropology beweisen. Eine Übersetzung von agency ins Deutsche fällt nicht immer leicht und ist gespickt mit Fallstricken. Was unter dem englischen Wort agency problemlos zusammengefasst werden kann, ermöglicht im Deutschen vielerlei – oft fein nuancierte – Deutungen. So lässt sich agency unterscheiden in Handlungsmacht und Wirkungsmacht. Handlungsmacht beschreibt dabei eine relationale agency. Aus diesem Grund möchte ich auch Latours (2005) Konzept von agency nicht folgen. Die, in seiner Akteur-Netzwerk-Theorie etablierte agency ist zwar für eine Netzwerk-Analyse dienlich, kann aber die von mir beschriebene Unschärfe nicht aufzulösen. Das handelnde Individuum verfügt über ein intentionales Bewusstsein, um eine Handlung auszuüben; außerdem über eine relationale Reflexivität, die es ihm ermöglicht, sich selbst als handelnd im Bezug auf eine Umwelt wahrzunehmen, von der es ebenfalls als Handelndes erkannt wird. Die gejagten Tiere verfügen in diesem Sinne über Handlungsmacht, ebenso, wie die Jagenden. Wirkungsmacht dagegen setzt weder Relationalität voraus, noch Reflexivität oder ein intentionales Bewusstsein. Die Landschaft, in der gejagt wird, verfügt dagegen über agency als Wirkungsmacht. Sie hat wesentlichen Einfluss darauf, wie und wo Jagd stattfinden kann, ohne dass sie die genannten Kriterien erfüllt. Auch sie charakterisiert sich also durch etwas, das man im Englischen problemlos als agency bezeichnen würde.

II Das Jagdrevier

die Grundvoraussetzung und Zugangsmöglichkeit dafür, Teil dieser Situationen zu sein. Durch ihre Leiblichkeit verorteten sie sich im Jagdrevier und durch ihre Leiblichkeit findet jagdliche Aktivität erst statt. Wenngleich die Gespräche, die ich mit Jägerinnen und Jägern geführt habe, immer eine Bereicherung waren, so eröffnete mir mein leibliches Engagement primär den Zugang zu meinem Feld und damit zu meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern und den Themen, über die wir uns unterhalten haben. Das zu tun und das zu lernen, was ›die Anderen‹ tun, ermöglicht eine andere Ebene des Verstehens und des Zugangs zur Jagd als humanimalischer Praxis. Diese Form von »experience-based empathetic understandings of what others might be experiencing and knowing« (Pink 2009: 65) war das Ziel, als ich mich entschied, mich zur Jägerin ausbilden zu lassen. Den Leib, der nicht weniger ist als der »Nullpunkt aller […] Orientierungen« (Husserl 1952: 158), als Quelle der Erkenntnis zu verstehen, ist das Gerüst meiner Ethnografie. Diese Herangehensweise und ihr phänomenologischer Einfluss hat sich in der Ethnologie und Cultural Anthropology ebenfalls etabliert. Gerade die oben aufgeführten Ethnografien von Jackson, Csordas, Downey und Throop thematisieren die Relevanz der Leiblichkeit und der Sinne für das Verstehen-wollen noch fremder Praktiken. Während Vertreterinnen und Vertreter der Anthropology of the Senses, wie David Howes und Constance Classen (vgl. hierzu z.B. 2005) in den Sinnen und der sinnlich-leiblichen Wahrnehmung vor allem ein Forschungsfeld sehen, verstehen die Verfasser jener oben genannten phänomenologisch inspirierten Ethnografien die sinnlich-leibliche Verfasstheit vor allem als Zugangsmöglichkeit zu ihrem Feld. Während Husserls Philosophie sich jedoch von verschiedenen Seiten vorwerfen lassen muss, in letzter Konsequenz dualistisch zu bleiben (vgl. Schmitz 2011: 159), wird die Leib-Thematik von anderen Phänomenologinnen und Phänomenologen weitergedacht. Merleau-Ponty hat sich der Leiblichkeit als einem Grundthema seiner Philosophie (vgl. Merleau-Ponty 1966) gewidmet. Er denkt den lebendigen Leib konsequenter als Husserl oder auch Heidegger es getan haben, weshalb seine Philosophie als eine »philosophy of our embodied humanness [Herv. i. O.]« (SheetsJohnstone 2011: xxv) beschrieben werden kann. Im Leib erkennt Merleau-Ponty das »Subjekt der Wahrnehmung« (Merleau-Ponty 1966: 263), wesentlich charakterisiert als »ich kann« (ebd.: 166). Jagen zu können, bedeutet ein praktisch-leibliches Verständnis für die Jagd zu haben. Damit einher geht auch eine bestimmte Haltung gegenüber der Lebenswelt. Konkret geht es um Techniken des Hörens, des Gehens, des Wartens, nicht zuletzt des Sehens – kurz des Wahrnehmens, welches sich aus den praktischen Anforderungen der Jagd entwickelt. Auch schon bevor ich meine Ausbildung zur Jägerin begonnen hatte, begleitete ich Jägerinnen und Jäger und nahm an Jagden teil. Dabei wurde mir klar, dass sie ihre Umwelt auf eine bestimmte Weise wahrnahmen, zu der ich manchmal keinen oder nur wenig Zugang hatte. Jägerin zu werden, würde für mich nicht nur eine theoretische Wissenserweiterung bedeuten, sondern auch eine Erweiterung meines leiblichen Vermögens. Ich

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sah darin die Chance »to effect understanding through bodily techniques« (Jackson 1983: 337). Umso mehr freute mich ein Kompliment von Hermann, einem Jäger, welchen ich häufiger begleitete: Eines Herbstmorgens, es ist noch dunkel. Mit dem Auto sind wir unterwegs durch den Wald. Ziel ist ein Hochsitz tief im Wald, den wir noch vor der Morgendämmerung erreichen wollen. Während der Fahrt sehe ich einige dunkle Bewegungen, die eine Böschung hinaufspringen. Kleine dunkle Flecken im Rest des Scheinwerferlichtes. »Muffel. Da!«, sage ich. Hermann sieht sie in diesem Moment auch und lobt mich: »Du hast schon ein gutes Auge!«

Ethnologin und Jungjägerin: Der apprenticeship approach als methodischer Zugang Meinem Feld begegnete ich von Anfang an als Lernende im doppelten Sinne: Als Ethnologin wollte ich die Jagd durch das praktische Engagement der Jagenden kennen lernen. Ich habe sie begleitet, um zu verstehen, was sie tun, wenn sie auf der Jagd sind. Außerdem wollte ich ihre Geschichten, ihre Biografien, ihre Motive kennenlernen, um ihre Art zu Jagen besser zu verstehen. Ich wollte ihre Werte und Normen ebenso verstehen, wie ethische und moralische Vorstellungen. Als angehende Jägerin wollte ich das Jagen lernen. Ich nahm teil, ich beobachtete, beobachtete mich, ich führte Gespräche und zum Schluss ging ich selbst auf die Jagd. Manches Mal empfand ich tiefes Befremden. Nicht gegenüber der Jagd im Allgemeinen, aber gegenüber einzelnen Erfahrungsmomenten: Da war der Geruch des dampfenden Gemischs aus Blut und Panseninhalt, wenn ein erlegtes Tier aufgebrochen [ausgenommen] wurde, der mir unangenehm war. Befremden empfand ich auch gegenüber dem Wort erlegen, welches ein Euphemismus für ›töten‹ ist, wie auch Heidi Dahles im Bezug auf die niederländische Jagd anmerkt (vgl. Dahles 1990: 254). Vielleicht adaptierte ich das Wort genau aus diesem Grund auch selbst sehr schnell. Es ist leichter auszusprechen und lässt sich leichter schreiben, als ›töten‹ – und tatsächlich habe ich selten gehört, dass Jägerinnen und Jäger ›töten‹ sagten. Befremden empfand ich auch gegenüber dem knackenden Geräusch, wenn die langen Beine von Rotwild vor dem Aufbrechen mit einer Astschere in der Hälfte durchtrennt und abgeknickt wurden. Dagegen sagte mir das feierliche Zeremoniell des Streckelegens zu. [Die erlegten Tiere werden am Ende einer Jagd in einer bestimmten Reihenfolge aufgereiht und die Jagdgesellschaft versammelt sich um sie, um ihren Respekt auszudrücken.] In meiner Wahrnehmung lief jedoch dieses Zeremoniell dem vorhergehenden emotionslosen, effizienten Einsammeln und Abtransportieren der Tierkörper aus dem Wald zuwider. Befremdlich erschien mir zu Beginn auch die Präsenz von Gewehren, die so selbstverständlich Teil der Jagd sind.

II Das Jagdrevier

Tod und Waffen sind keine alltäglichen Anblicke in meiner akademisch geprägten Biografie. Insgesamt kreierte all das anfänglich eine eigentümliche Atmosphäre. Atmosphären sind nicht einfach da, sie sind leiblich wahrnehmbar und sie gehen diejenigen an, die sie vernehmen (vgl. Böhme 2003: 31). Meine leibliche Wahrnehmung dieser Atmosphäre war daher auch nicht neutral. Mehr als einmal fragte ich mich, ob ich die Jagd nun ›gut‹ fand oder nicht. Meine Eindrücke und all das sinnlich-leiblich Erfahrene untermauerten meinen Dialog mit mir selbst. Wenngleich der Ablauf von Jagden vergleichbar war und schließlich zum Schluss zu einer Art Routine geworden war, so hatte sich meine Wahrnehmung dieser Atmosphäre doch verändert. Nach Monaten im Jagdkurs, beim Schießtraining und des Begleitens erfahrener Jägerinnen und Jäger hatte sich mein Wissen und mein Können erweitert. Mit dem Lernen einhergehend, veränderte sich auch meine Urteilskompetenz: Statt mich zu fragen, ob die Jagd nun ›gut‹ oder ›schlecht‹ war, begann ich viel häufiger danach zu fragen, ob ›richtig‹ oder ›falsch‹ gejagt wurde: Waren die Tiere sauber erlegt worden? Mussten viele angeschossene Tiere am Ende einer Jagd nachgesucht werden? Hatten die Tiere, die auf der Strecke lagen, den Letzten Bissen [einen Zweig von Fichte, Tanne, Kiefer, Erle oder Eiche] im Äser [Maul]? Mit und mit urteile nicht mehr nur die Ethnologin, sondern auch die angehende Jägerin, deren Verständnis für die Jagd in einem bestimmten Milieu geprägt worden war: »[F]rom a phenomenological standpoint, forms of cultural understanding and practice, established canons of norms, values, and morality, our taken for granted assumption about what is true, good, and beautiful, are not simply objectively given to social actors. They are instead considered to be (inter)active achievements that are mediated through our always-embodied modes of being-in-theworld.« (Throop 2015: 75) Zwar war aus meinem leiblichen »ich kann« noch kein ›ich kann jagen‹ geworden, aber der Zugang zur Jagd hatte sich mit den gewonnenen Erfahrungen erheblich erweitert. Als Ethnologin die Praxis des Jagens kennenlernen und verstehen zu wollen, hat seine Grenzen, wenn sie nur als Beobachterin teilnimmt. Durch den apprenticeship approach versprach ich mir die Chance, meine aktive Teilnahme an der Jagd zu erweitern, um dem Ziel einer angemessenen ethnografischen Darstellung der Jagd näher zu kommen. Ethnografische Methoden, wie das Beobachten von Jagdpraktiken und das Führen von Gesprächen mit Jägerinnen und Jägern, blieben weiterhin unverzichtbar für meine Feldforschung. Durch den apprenticeship approach wurden sie aber um einen wesentlichen methodologischen Aspekt erweitert: »[E]thnography is a process of creating and representing knowledge (…) that is based on the ethnographer’s own experience. It does not claim to produce an objective or truthful account of reality, but should aim to offer versions of the ethno-

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graphers‹ experience of reality that are as loyal as possible to the context, negotiations and intersubjectivities through which the knowledge was produced.« (Pink 2009: 8) In Pinks Sinne ermöglicht der apprenticeship approach eine ethnografische Darstellung zu verfassen, die auch auf den praktischen Erfahrungen der Ethnografin mit der Jagd beruht. Diese wäre jedoch wertlos, wenn ich nicht eine Art der Rückversicherung, der Orientierung und Erweiterung meiner eigenen Erfahrungen gehabt hätte. Methodisch erreichte ich das durch das Begleiten und Beobachten erfahrener Jägerinnen und Jäger, sowie durch die Gespräche mit ihnen. Diese Methoden verschafften mir Zugang zu Aspekten der Jagd, die jenseits meiner eigenen Erfahrungen lagen. Zugleich konnte ich dadurch meine eigenen Erfahrungen mit denen der anderen Jägerinnen und Jäger abgleichen. Gerade die Tatsache, selbst das zu lernen, was die erfahrenen Jägerinnen und Jäger, die ich begleitete, schon lange praktizierten, bot großes Potenzial für meine Feldforschung. Meine Ausbildung zur Jägerin war nicht nur häufig der Ausgangspunkt für Gespräche, sondern förderte auch die Akzeptanz für mein Vorhaben – und sie verschaffte mir Wissen über die Jagd, welches durch teilnehmende Beobachtung oder Gespräche alleine schwer zugänglich geblieben wäre. Auch kleine, unscheinbare Dinge, die im Gespräch zugunsten von ›spannenderen‹ und ›wichtigeren‹ Dingen übergangen werden, machen die Jagd aus: Die Langeweile, wenn nichts passiert und sich die Stunden auf dem Hochsitz scheinbar unendlich hinziehen. Das Rauschen der Stille, wenn nichts zu hören ist. (Während der teilnehmenden Beobachtung wurden solche Situationen deutlich abgeschwächt. Meist unterhielten wir uns dann einfach – nicht notwendigerweise nur über die Jagd.) Für mich gehörte auch das relativ ungeschützte Erleben von Wind und Wetter zu jenen bedeutungsvollen Erfahrungen. Solche Situationen sind im Erleben von erfahrenen Jägerinnen und Jägern so selbstverständlich geworden, dass sie nicht mehr der bewussten Reflexion darüber wert zu sein scheinen. Mein eigenes Engagement eröffnet mir daher diese Details für die Gespräche mit ihnen darüber. Der apprenticeship approach in Kombination mit anderen ethnografischen Methoden stellte für die Konzeption meiner Feldforschung daher den sinnvollsten Weg dar. Durch ihn konnte ich meinen Zugang zur Jagd bestmöglich erweitern und die Grundlage für eine reichhaltige, phänomenologisch inspirierte Ethnografie schaffen.

Oszillation zwischen Beobachten und Teilnehmen: Ansitzjagden, Drückjagden, Brauchtum, Organisation, Nachsuchen Methodologisch oszillierte meine Feldforschung zwischen Beobachtung und Teilnahme. Was dabei überwog, hing von den Zugangsmöglichkeiten ab. Während mir zu Beginn der Feldforschung die Teilnahme als Jägerin noch nicht möglich war, da

II Das Jagdrevier

ich zu diesem Zeitpunkt noch keinen Jagdschein besaß, bestand mein Engagement in den Jagdrevieren vor allem darin, erfahrene Jägerinnen und Jäger zu begleiten. Dabei hatte ich vor allem Einblick in die Jagd vom Hochsitz aus. Als Treiberin habe ich auf den Drückjagden vom Forstamt Hürtgenwald, sowie dem Nationalpark Eifel geholfen. Bei den Ansitzjagden konnte ich an der Aktivität der Jagenden bis zu einem gewissen Grad gleichberechtigt teilhaben. Bei den Drückjagden, großen Bewegungsjagden auf Rot-, Reh-, Schwarz-, oder Muffelwild, habe ich als eine von vielen anderen Treiberinnen und Treibern beim Ablauf der Jagd mitgeholfen. Vor allem auf den großen Drückjagden kamen viele unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Aufgaben und Positionen zusammen. Teil einer solch vielseitigen Gruppen sein zu können, war für meine Feldforschung sehr wertvoll. Meine Teilhabe vor Ort hat geholfen, einen Überblick über die jagdliche Praxis, ihren Ablauf, die Organisation und die zugrunde liegenden Normen und Werte zu bekommen. Zunächst scheint der noch fehlende Jagdschein eine Zugangsbeschränkung zur Jagd darzustellen. Aber gerade dieser oft auf das Beobachten akzentuierten Teilnahme verdankt diese Ethnografie sehr viel von ihrem Fundament. Ansitzjagden Ab September 2016 begann ich, einige meiner jagenden Bekannten auf ihre morgendlichen und abendlichen Ansitze zu begleiten. Meist saßen wir schon lange auf den Hochsitzen und warteten, bevor überhaupt mit dem Erscheinen der gejagten Tiere zu rechnen war. Es war wichtig, ›nicht zu spät zu sitzen‹. Diese Zeitangabe war nicht weiter zu präzisieren. Sie beruhte vielmehr auf den Erfahrungen der Jägerinnen und Jäger mit dem Tagesrhythmus der gejagten Tiere an einem bestimmten Ort. Aber auch dieser Rhythmus war nicht fix. Erst recht nicht, ob überhaupt Wild erschien. Oft genug saßen wir an, ohne dass wir Anblick hatten, also ein jagdbares Tier gesehen haben – oder gar ein Schuss gefallen wäre. Dann gab es aber auch jene Ansitze, bei denen sich ihre Erfahrung bestätigte und tatsächlich Wild erschien. Jeder Ansitz trug dazu bei, dass sich auch mein Wissen um die Jagd als humanimalische Praxis erweiterte. Zu Beginn meiner Feldforschung stand ich noch ganz am Anfang jenes Erfahrungswissens. Aber auch als ich Gelegenheit hatte, alleine anzusitzen, war ich froh um die Ratschläge derjenigen, die schon länger in den Revieren jagten: Wann macht es Sinn, wo zu warten? Mit welchen Tieren ist zu rechnen? Von ihren Hochsitzen aus beobachteten die Jagenden die Umgebung und warteten auf den Moment, in dem Wild auftauchte. Sie erklärten mir, aus welcher Richtung sie mit anwechselndem [heran-, hervorkommendem] Wild rechneten. Auch hier spielte jenes jagdliche Erfahrungswissen die größte Rolle. Ich saß neben ihnen und nahm teil an ihrem Beobachten. Auch ich beobachtete die Umgebung und prägte so die Situation mit, die ich beobachtete. Meine Aktivität war an dieser Stelle schon eher auf die Teilnahme, als auf das Beobachten akzentuiert. War das eine Bewegung

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da hinten? Oder doch nur Farn, das sich im Wind bewegte? Wie viele Enden [die Anzahl der Geweihsprossen] hatte das Geweih von dem Hirsch? Woher sind die Wildschweine gekommen? Wenn wir glaubten, etwas entdeckt zu haben, war ich ganz und gar in diese Situation involviert und ein reflektierendes Zurücktreten, war erst in zeitlichem Abstand möglich. Über unsere Beobachtungen zu sprechen, bot eine Art Rückversicherung und gegenseitig handelten wir das Zentrum unserer Aufmerksamkeit aus. Dadurch, dass ich selbst Jägerin werden wollte, war meine Teilnahme an diesen Ansitzen auch keinesfalls ein ›interessenloses‹ Beobachten, denn ich wollte von diesen Jägerinnen und Jägern etwas lernen und meine Wahrnehmung schulen. Angeleitete wurde ich während der Ansitze durch das, was für sie relevant war und worauf sie mich hinwiesen. So fand durch ihre Anleitung »an education of attention« (Gibson 1979: 254) statt, die mein leibliches Vermögen betraf und mich auf das vorbereitete, was ich als Jägerin tun würde. Zunehmend begann ich, meine Umgebung selbstständig auf ihre jagdlichen Qualitäten zu beobachten. Was zunächst ein passives Abwarten gewesen zu sein schien, trug nun Züge einer bewussten Wahrnehmungsaktivität. Dann gibt es jene Situationen, in denen die Ethnografin augenblicklich von der Teilnehmenden zur Beobachterin wird. Wenn die Jägerin oder der Jäger, welche ich begleitete, ihr Gewehr tatsächlich in die Hand nahmen, anlegten und gegebenenfalls schossen, reduzierte sich meine Teilnahme nur noch darauf, anwesend zu sein. 30. September 2016, Lammersdorf: Hüttenkanzel, Ansitz mit Hermann Vor uns liegt eine Grünäsungsfläche, die vom Wald eingerahmt wird. Mein Blick bleibt automatisch an zwei ›Knubbeln‹ hängen, die da eben noch nicht waren. Sind es die Häupter von Rehen? Hirschkühen? Ich stoße Hermann an und nicke nur mit dem Kopf in die Richtung der Tiere. Während wir uns unterhalten haben, sind diese beiden Tiere aus der Dickung [Gruppe dicht beieinanderstehender, noch junger Bäume] herangekommen. Es folgen noch mehr. »Rehe? Hirsche? Ich kann das so schlecht erkennen.«, sage ich leise. »Rotwild.«, antwortet Hermann. Es ist ein kleines Rudel mit vier Alttieren und zwei Kälbern. Ihnen folgt ein Hirsch. Sie haben es alle nicht eilig. Der Hirsch treibt eines der weiblichen Tiere vor sich her, flehnt und die Kälber halten sich dicht an den Leibern ihrer Mütter. Hermann hält das Gewehr längst in den Händen – ich habe kaum die Bewegung gesehen, mit der er es genommen hat. In kurzer Reihenfolge entsichert er und sticht ein. [Das Einstechen ist die letzte Handbewegung vor dem Schuss. Jägerinnen und Jäger stechen ihre Waffe nur dann ein, wenn sie ihr Ziel schon sicher im Visier haben.] Dann legt er das Gewehr auf den Fensterrahmen links von mir. Das Rudel zieht stetig weiter. Ich halte mir die Ohren zu, während der Lauf der Waffe den Tieren folgt. Ich kann ihre Bewegungen nur an der Bewegung des Laufs erahnen, da sie längst aus meinem Sichtfeld verschwunden sind. Hermann, der

II Das Jagdrevier

inzwischen schräg vor mir steht, schießt aber nicht, lässt nur unablässig den Lauf den Tieren folgen. Ich nehme die Finger von den Ohren. Obwohl der vordere Teil des Laufes noch immer aus dem Fensterchen des Hochsitzes ragt, ist klar, dass er nicht mehr schießen wird. Da ist keine Spannung mehr in seinen Bewegungen, der rechte Zeigefinger berührt den Abzug kaum noch. Mit Hermann, der seit gut vierzig Jahren aktiv jagt, erlebte ich diese Situation einige Male. Für mich bot sich in diesen Momenten die Gelegenheit, die Jagd so kennenzulernen, wie ich sie mir allem Lernen und allem leiblichen Engagement zum Trotz nicht innerhalb dieser Feldforschung aneignen würde – aus der Perspektive eines erfahrenen Jägers. Solche Jägerinnen und Jäger verfügen über ein leibliches Wissen, ein routiniertes Können, welches sich flexibel auf die gegebene Situation einstellt. Wenngleich mir die Routine in diesen Momenten wie eine Selbstverständlichkeit vorkam, so merkte ich später durch mein eigenes jagdliches Engagement, dass ihre Art zu Jagen durchaus keine Selbstverständlichkeit war. Mit dem Erhalt des Jagdscheines war dieses Lernen nicht abgeschlossen – im Gegenteil. Als ich zum ersten Mal alleine mit der eigenen geladenen Waffe auf dem Hochsitz saß, entfaltete sich diese Aktivität des Ansitzens in einer unbekannten Intensität. Objektiv war es keine andere Aktivität geworden. Ich tat das Gleiche, was ich so oft gemeinsam mit Hermann, Heike und Simon schon gemacht hatte, aber plötzlich bemerkte ich, wie wenig fraglos das war, was ich monatelang als selbstverständliche, routinierte Praxis kennen gelernt hatte. Mir fehlte plötzlich soviel Wissen, es stellten sich mir Fragen, die sich mir nicht gestellt hatten, als ich Beobachtende und nicht Jägerin gewesen war. Dieses unbedingte EingebundenSein in die jagdliche Praxis machte all das, was ich beobachtete hatte und was mir erzählt worden war, fraglich. »Jeder ist für seinen Schuss verantwortlich.« Mehr als ein Dutzend Mal hatte ich diesen Satz gehört. Seine Bedeutung erschloss sich mit erst, als ich in der Situation war, diejenige zu sein, die den Schuss im Zweifel verantworten musste. 02. September 2017, Hürtgenwald: Gemeinschaftsansitz der Jungjägerinnen und Jungjäger Die letzte Jagd, bevor ich meine Feldforschung beenden wollte. Das Forstamt Hürtgenwald hat alle Jungjägerinnen und -jäger der Region eingeladen. Ich habe Glück. Kaum sitze ich gegen halb sieben morgens auf meinem Hochsitz, da entdecke ich ein Rottier [erwachsenes weibliches Rotwild] und ihr Kalb. Sie äsen [fressen] auf der Grasschneise, die durch den Fichtenwald verläuft, in dem ich sitze. Am Waldrand, mit Blick auf die Schneise und den Wald gegenüber, steht mein Hochsitz. Die Tiere stehen etwa einhundertfünfzig Meter entfernt. Die Helligkeit war an diesem grauen, wolkenverhangenen Morgen unbemerkt gekommen. Ab und zu zogen Nebelschwaden auf.

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Dennoch kann ich die beiden gut im Zielfernrohr erkennen. Ich sitze da mit entsicherter Waffe und das Hirschkalb steht breit im Absehen. [Markierung im Zielfernrohr, die anzeigt, wo der Schuss auftreffen wird.] Keine Kälte mehr. Mein Bein schläft ein, ich merke es erst viel später. Alles was ist, ist der Blick durch das Zielfernrohr. Die schwarze Nadel zeigt genau auf die Schulter des Kalbes. Sie bewegt sich im Takt meines Atems um einige Millimeter. Meine Brust wird eng. Was im Zielfernrohr nur einige Millimeter sind, sind in einhundertfünfzig Metern Entfernung schon einige Zentimeter. Hinter der Schulter sitzen Herz und Lunge. Der Körper des Kalbes ist nicht sehr groß. Da machen einige Zentimeter den Unterschied zwischen Tod und verletzt Überleben aus. Mein Finger bewegt sich nicht. Er liegt gerade am Abzugsbügel. Dann fällt ein Schuss von weiter weg. Alles in mir scheint darauf hinzuzielen, jetzt auch abzudrücken. Aber nichts passiert. Nicht, dass ich es nicht wollte. Und ich wusste auch, dass ich es könnte. Ich fühlte nicht einmal etwas. Nichts wie Bedauern, Mitleid, moralische Bedenken – nichts, was mein Zögern hätte rechtfertigen können. »Wieso schieße ich jetzt nicht einfach?«, frage ich mich. »Ich tue es. Ich tue es einfach.«, denke ich. Einfach den Finger krumm machen, sich vom Knall überraschen lassen, wie ich es auf dem Schießstand schon so oft getan hatte. Einige Augenblicke wandelt das Kalb um seine Mutter herum. Kein sauberer Schuss mehr möglich. Dann steht es wieder breit da, das Haupt zum Boden gesenkt. Äsend. Mein Zeigefinger bewegt sich zum Abzug. Nur die kleinste Druckerhöhung und der Schuss bricht. Auch das kenne ich vom Schießstand. Aber der Papp-Rehbock dort bewegt sich eben nicht. Ich habe Angst davor, einen Hochschuss zu verursachen oder in die Läufe zu schießen. All die Geschichten kenne ich ja – ich wünschte, ich würde sie nicht kennen. Aber was, wenn ich wirklich einen Fehlschuss abgebe? Ich schieße nicht. Meine Zweifel und die Unsicherheit sind zu groß und die Angst das Tier nicht zu töten, sondern nur anzuschießen, überwiegt. Mit der Entscheidung zum apprenticeship approach hatte ich mich entschieden, den Jagdschein zu machen und selbst auf die Jagd zu gehen. Diese Form des unmittelbaren InvolviertSeins ist schon von Jackson (1989) als »radical empiricism« und von Goulet (1998: xi) als »radical participation« thematisiert worden: Eine Teilnahme, die deshalb radikal ist, weil sie an die Ethnografinnen und Ethnografen irgendwann Fragen nach deren Selbstverständnis richtet. Der Gegenstand der Ethnografie durchzieht die Ethnografin oder den Ethnografen dann in seiner Persönlichkeit. So war die Frage nach dem Verständnis der Jagd als humanimalischer Aktivität plötzlich eine Frage meines Selbstverständnisses als Jägerin und Ethnografin geworden: Wollte ich einen Fehlschuss riskieren oder wollte ich diese Feldforschung abschließen, ohne die Erfahrung gemacht zu haben, selbst ein Tier getötet zu haben?3 3

Dass ich schließlich doch noch die Möglichkeit dazu hatte, diese moralisch schwerwiegendste Handlung zu vollziehen, die ich in Kapitel 4.3 – Die Jagd als leibliche Praxis auch noch be-

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Drückjagden Drückjagden boten eine weitere Möglichkeit, an der Jagd als humanimalischer Praxis teilzuhaben. Neben einigen privat organisierten Drückjagden waren es vor allem die des Forstamts Hürtgenwald, sowie des Nationalparks Eifel, an denen ich von Oktober bis Dezember meist mehrmals in der Woche als Treiberin teilnahm. Als Treiberin hatte ich die Möglichkeit, als beobachtende Teilnehmerin aktiv beim Ablauf der Jagd mitzuhelfen. Diese Jagdveranstaltungen dauerten von morgens früh bis in den späten Nachmittag. Die Teilnahme an diesen Jagdveranstaltungen ermöglichte mir, mehr über das jagdliche Selbstverständnis von Jägerinnen und Jägern, das Brauchtum, die Organisation und auch das Nachsuchenwesen zu lernen. All das sind wichtige Aspekte der Jagd. Auf den Drückjagden von Forstamt und Nationalparkverwaltung bot sich schon aufgrund der Größe der Jagdveranstaltungen ein guter Zugang dazu. Auf diesen regionalen Jagdveranstaltungen, die zahlreiche Jägerinnen und Jäger, Treiberinnen und Treiber, sowie ein großes Maß an Organisation voraussetzten, wurden all diese Dinge zentral koordiniert. Der Zugang zu diesen Jagden war für mich relativ niedrigschwellig. Zum Einen fuhr ich meistens mit Heike auf diese Jagden, die gemeinsam mit ihrem Jagdterrier Franz ebenfalls als Treiberin und Hundeführerin bei diesen Jagden dabei war. Da Heike über einen äußerst ausgeprägten Bekanntenkreis verfügt, hatte ich schnell Anschluss an eine Personengruppe, die ebenfalls sehr regelmäßig an diesen Veranstaltungen teilnahm. Zum Anderen sind Treiberinnen und Treiber immer gesucht, denn es handelt sich um eine anstrengende Tätigkeit, die eine gute körperliche Verfassung voraussetzt. Der Großteil der Treiberinnen und Treiber bestand in der Regel aus dem Personal des Forstamts und des Nationalparkforstamtes. Aber immer wieder gab es auch Freiwillige, so dass ich in der Gruppe der Treiberinnen und Treiber keinen Sonderstatus hatte. Neben der aktiven Teilnahme an den Treiben, boten sich viele Gelegenheiten mit Jägerinnen und Jägern, aber auch mit den nicht-jagenden Helferinnen und Helfern ins Gespräch zu kommen. Meine Tätigkeit als Treiberin und meine gleichzeitige Teilnahme an der Jagdausbildung, sowie mein Promotionsthema bildeten eine gute Gesprächsgrundlage, um informelle Gespräche mit verschiedenen Personen zu führen. Dabei habe ich diese Gespräche – im Gegensatz zu jenen ethschreiben werde, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar. Meine Feldforschung habe ich zwar im September 2017 abgeschlossen, jedoch bin ich auch während des Schreibprozesses immer wieder zur Jagd gegangen, wodurch sich dann im September 2018 schließlich die Möglichkeit ergab, diese Erfahrung zu machen. Ich habe mich entschieden, diese Textpassage dennoch so in der Arbeit stehen zu lassen, weil sie zeigt, dass ich als Ethnologin während der Feldforschung natürlich auch von einer gewissen Erwartungshaltung an die Ergebnisse meines Feldaufenthaltes geleitet wurde. Ob berechtigt oder nicht, latent war die Vorstellung präsent, dass meine Feldforschung womöglich ›unvollständig‹ bleiben könnte, wenn ich diese Erfahrung nicht selber machen würde.

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nografischen Gesprächen, zu denen ich mich mit einigen Jägerinnen und Jägern dezidiert verabredete – nie aufgenommen. Sie haben höchstens als anonymisierte Gedächtnisprotokolle Einzug in mein Feldtagebuch gefunden. Oft haben wir uns über konkrete Ereignisse des Jagdtages unterhalten. Dabei habe ich durch diese Gespräche viel über die jagdlichen Normen und Werte gelernt und darüber, was als ›gute‹ oder ›schlechte‹ Jagdpraxis verstanden wird. Zusätzlich boten diese Gespräche einen Überblick über Themen, die den Jägerinnen und Jägern wichtig sind. Ohne dass ich sie dazu aufgefordert hatte, erzählten mir viele von ihnen auf diesen Veranstaltungen von sich aus, was ich unbedingt in meine Arbeit aufnehmen sollte. Dabei ging es – zumal eine allgemeine Unzufriedenheit mit der gerade gültigen Version der Landesjagdgesetzgebung herrschte – meist um politische und gesellschaftliche Forderungen. Eine größere gesellschaftliche Akzeptanz der Jagd als eine Form des aktiven Naturschutzes war eine solche Forderung. Vor allem aber der Wunsch danach, dass die politische Gestaltung der Gesetzgebung sich weniger einer »grünen Ideologie« verpflichtete, als vielmehr den praktischen Ansprüchen der Jagd. Während ich am Ende der Drückjagdsaison sehr viele dieser Menschen auf diesen Jagden immer wieder getroffen hatte, habe ich im Laufe meiner Feldforschung auch solche Jägerinnen und Jäger kennengelernt, welche aufgrund ihres jagdlichen Selbstverständnisses nicht an solchen Bewegungsjagden teilnahmen.4 Die Teilnahme an Drückjagden gab mir daher auch Einblick in verschiedene Formen des jagdlichen Selbstverständnisses. Die Analyse zu diesem Thema hat in Kapitel IV – Die Jagenden Einzug in diese Arbeit gehalten. Brauchtum Neben den Werten und Normen der Jagenden, boten die großen Drückjagden ebenfalls einen Überblick über die konkrete Jagdpraxis. Vor allem der atmosphärische Rahmen, den Jägerinnen und Jäger solchen großen Jagdveranstaltungen geben, war während meiner Feldforschung ein wiederkehrendes Moment. Diese Atmosphäre wird vor allem durch das jagdliche Brauchtum kreiert und ist fester und wertgeschätzter Bestandteil einer Jagd.5 Insbesondere das Ende eines 4

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Nicht an Drückjagden teilzunehmen, entspricht einem bestimmten jagdlichen Selbstverständnis. Jägerinnen und Jäger, die gegen Drückjagden sind, argumentieren meist, dass dort »zu viel geballert« wird. Zum Einen bezieht sich diese Kritik auf die Art des Jagens, die weniger selektiv ist, als der Ansitz, zum Anderen bezieht sie sich darauf, dass die Schüsse auf Drückjagden oft ungenau sind. Die Schüsse auf der Drückjagd fallen in der Regel auf sich bewegende Tiere. Eine präzise Schussabgabe ist dann schwierig. Drückjagden werden von ihren Gegnerinnen und Gegnern daher oft als nicht weidgerecht angesehen. Unbeliebt bei der Mehrheit der Jäger_innenschaft hat sich die Verwaltung des Nationalparks Eifel im Jahr 2004 gemacht, als Aspekte dieses Brauchtums zeitweise abgeschafft wurden. Darunter fielen das Schüsseltreiben, das Streckelegen und das Verblasen der Strecke. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass die »traditionelle Jagd […] mit Sinn und Zielen eines

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Jagdtages wird durch das Ausüben verschiedener Handlungen markiert. Um der Jagd diesen atmosphärischen Rahmen zu geben, leisten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer »ästhetische Arbeit« (Böhme 2003: 25). Zur Produktion dieser Atmosphären gehören bestimmte Bestandteile, wie das gemeinsame Essen – Schüsseltreiben genannt – oder der Brauch des Streckelegens und der Ehrung der erfolgreichen Schützinnen und Schützen, also jener Personen, die erfolgreich gejagt haben und ein Tier zur Strecke gebracht haben. Die erlegten Tiere werden an einem zentralen Ort in einer streng vorgegebenen Reihenfolge aufgereiht. Die Jagdleiterinnen und Jagdleiter halten eine Ansprache und Jagdhorn-Bläserinnen und -bläser spielen bestimmte Melodien, die teils den erlegten Tieren und teils der menschlichen Jagdgesellschaft gewidmet sind. Was zunächst fremd gewesen war, wurde mit jeder Jagd vertrauter und ich konnte bald die Abläufe voraussagen, wusste, wann der Hut gezogen wurde und konnte die Melodien mitsummen. Schließlich lernte ich auch das Jagdhorn-Spielen und hatte damit auch selbst Anteil an der Kreation des atmosphärischen Rahmens einiger Jagden an denen ich teilnahm. Doch schon als Beobachtende hatte ich etwas über die Jagd und ihr Brauchtum verinnerlicht: Spezifische jagdliche Werte, wie Respekt vor den Gejagten und Mitjagenden, sowie Weidgerechtigkeit im Allgemeinen waren in Gesprächen für mich oft abstrakte Werte geblieben. Durch das jagdliche Brauchtum konkretisierten sie sich jedoch und erhielten eine intersubjektive Erfahrbarkeit. Das Brauchtum, welches speziell auf größeren Jagdveranstaltungen wie den Drückjagden in ritualisierter Art durchgeführt wird, ist damit wesentlicher Teil der Jagd als humanimalischer Praxis. Eine nähere Analyse zu diesem Thema folgt in Kapitel IV – Die Jagenden. Organisation Meine Teilnahme an Drückjagden bot auch in weiterer Hinsicht einen Zugang zur Jagd. Solche großen Jagdveranstaltungen setzten viel Organisation voraus. Um eine erfolgreiche Jagd durchzuführen, ist großes jagdliches Erfahrungswissen über das Jagdrevier und die dort lebenden Tiere notwendig. Durch die Teilnahme an den Drückjagden wurde ich zur Beobachterin des organisatorischen Aufwandes und des spezifischen Wissens, welche dieser jagdlichen Veranstaltung zugrunde liegen. Themengebiete, die konstitutiver Teil dieser Ethnografie geworden sind, wie bspw.

Nationalparks nicht vereinbar [ist]« (Jäger 2004: 18). Darauf reagierten Jägerinnen und Jäger empört und riefen zum Boykott dieser Veranstaltungen auf. Entsprechend wird dazu der ehemalige Präsident des Landesjagdverbandes Nordrhein-Westfalen Heeremann zitiert, der diesen Beschluss als »bedauerlichen, amtlich angeordneten Kulturverlust« kritisiert, denn »[j]agdliche Tradition bringt Respekt und Achtung zum Ausdruck, auf die kein Jäger verzichten sollte« (ebd.: 20). Während meiner Feldforschung waren diese Elemente des jagdlichen Brauchtums wieder in den Ablauf der Nationalpark-Jagden aufgenommen worden.

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die Rolle der Landschaft und des Wetters, konnten das nur werden, weil ich durch meine beobachtende Teilnahme und durch Gespräche gelernt habe, wie sehr diese Gegebenheiten die Jagd beeinflussen. In besonderer Weise bot sich mir dieser Zugang, als ich auf einigen Jagden in den Büros der Verantwortlichen saß. Hier habe ich ebenfalls nur beobachtend teilgenommen. Jedoch bekam ich so Zugang zu den organisatorischen Aufgaben, die im Hintergrund einer Jagd ablaufen. Die Jagenden und die Gruppen der Treiberinnen und Treiber müssen koordiniert werden und mit möglichst wenigen Fahrzeugen an ihre Einsatzorte gebracht werden. Am Ende der Jagd müssen die erlegten Tiere eingesammelt und möglichst schnell zum Aufbrechen gebracht werden, damit die Qualität des Fleisches nicht zu sehr leidet. Die Verantwortlichen für diese Aufgaben müssen sich in den großen Revieren gut auskennen. In den Wildkammern, wo die erlegten Tiere aufgebrochen werden, müssen dabei immer auch genügend Helferinnen und Helfer sein. Zunächst hatte ich die Vorstellung, selbst bei diesen Aufgaben zu helfen. Jedoch habe ich das nicht umsetzen können, da diese Aufgabe meist von erfahrenen Personen übernommen wurde, die in der Lage waren, die Tiere sehr effizient für die Kühlkammer vorzubereiten. Obwohl ich tatsächlich auch schon Tiere unter Anleitung aufgebrochen hatte, fehlte mir die Erfahrung, um hier mithelfen zu können. Während ich bis zu einer halben Stunde für diese Aufgabe gebraucht hatte, benötigten diese Menschen vor Ort oft nur fünf Minuten. Das Aufbrechen ist dabei eine von vielen leiblichen Fähigkeiten, die sich Jägerinnen und Jäger aneignen müssen. Meine geringe Erfahrung mit dem Aufbrechen zeigte mir im Kontrast zu diesen routiniert arbeitenden Jägerinnen und Jägern, wie wenig die Jagd bisher in mein leibliches Können übergegangen war. Dennoch boten mir meine eigenen leiblichen Erfahrungen überhaupt erst die Möglichkeit, zu verstehen, was diese Menschen dort taten und welches Können sie dabei zeigten. Nachsuchen Vor allem Fehlschüsse verursachen großen Aufwand für die Verantwortlichen einer Jagd. Um die dreißig bis vierzig Schützinnen und Schützen nahmen in der Regel an den großen Drückjagden von Forstamt und Nationalpark teil. Fehlschüsse gab es – wenn es auch meist nicht viele waren – auf jeder Jagd. Von ihren Jagdgästen in der Regel unbemerkt, organisieren die Verantwortlichen die sogenannten Nachsuchen. Dazu stehen professionelle Nachsuchengespanne bereit: Jägerinnen und Jäger, die mit speziell ausgebildeten Hunden die verletzten Tiere suchen und erlegen, beziehungsweise kontrollieren, ob die Schützinnen oder Schützen vorbeigeschossen haben. Wie auch das Einsammeln und Aufbrechen der erlegten Tiere, finden Nachsuchen nach Jagdende im Hintergrund einer solchen Veranstaltung statt. Über Hermann habe ich Kontakt zu einem solchen Nachsuchenführer bekommen, der bereit war, mich auf seine Einsätze mitzunehmen. So erweiterte sich mein Zugang

II Das Jagdrevier

zur Jagd als humanimalischer Praxis noch einmal deutlich. Die Nachsuche ist unverzichtbarer Teil der Jagd, wie sie gegenwärtig in Deutschland stattfindet. In ihr findet sich das Argument, die Jagd als humanimalische Praxis zu charakterisieren, im doppelten Sinne, was in Kapitel III – Tiere noch ausführlich dargestellt wird: Zum Einen konstituiert das nachgesuchte Tier diesen Aspekt der Jagd wesentlich mit, zum Anderen haben aber auch die Jagdhunde großen Anteil an dieser humanimalischen Situation. Auf sie und ihre Sinne müssen sich die Menschen bei der Nachsuche ganz besonders verlassen. Hat der Hund Witterung aufgenommen, lassen sich die Nachsuchenführerinnen und -führer von ihm anleiten. Die Beziehung zwischen Hund und Hundeführerin oder Hundeführer ist dabei durch eine spezielle Ausformung der humanimalischen Intersubjektivität gekennzeichnet, dem humanimalischen Verstehen, welches ich noch ausführlich charakterisiere. Selbst einen solchen Nachsuchenhund führend, wird meine beobachtende Teilnahme und meine Aufmerksamkeit dieses Mal nicht durch einen Menschen angeleitet, sondern durch die Wahrnehmung des Hundes. Die Hunde folgen unsichtbaren Geruchsfährten, während die menschliche Fähigkeit zur Nachsuche sich auf die visuell wahrnehmbaren Spuren reduziert, die ein verletztes Tier hinterlässt. Die professionellen Nachsuchenführerinnen und -führer verfügen über das Können, die Nachsuche mit ihren Hunden jenseits verbaler Sprache auszuhandeln. Dazu gehört auch, dass sie erkennen müssen, ob ihr Hund wirklich der richtigen Fährte folgt. Bei diesem Aushandlungsprozess war meine Teilnahme weitestgehend auf die Beobachtung beschränkt. Da jedoch die Kommunikation zwischen Mensch und Hund in weiten Teilen eine non-verbale ist, ermöglichte mir meine beobachtende Teilnahme dennoch einen angemessenen Zugang zur dieser humanimalisch konstituierten Situation. Dieses Mit-Erleben eröffnete mir auch einen besseren Zugang zu weiterführenden Gesprächen über dieses Thema und machte es mir schließlich möglich, die Nachsuche in ihrer praktischen und moralischen Dimension ethnografisch angemessen darstellen zu können.

Konklusion Ob mein forschendes Engagement mehr auf der Beobachtung oder auf der Teilnahme akzentuiert war, war vor allem durch die konkrete Situation vorgegeben, in der ich mich befand. Dabei verhalten sich die unterschiedlichen Gewichtungen durchaus komplementär zueinander. Diese Ethnografie allein auf autoethnografischen Daten fußen zu lassen, wäre der Jagd, wie ich sie während meiner Feldforschung kennengelernt habe, nicht gerecht geworden. Die jahrelange Erfahrung anderer Jägerinnen und Jäger half mir dabei, ein wesentlich adäquateres Bild der Jagd zu zeichnen. Von ihnen mit auf die Jagd genommen zu werden, ist für mich die tragende Zugangsmöglichkeit gewesen. Dabei gab es viele Aktivitäten, bei denen eine rein beobachtende Rolle gar nicht möglich gewesen wäre, wie ich am Beispiel des

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Beobachtens vom Hochsitz aus zeige. Beobachten und Teilnehmen waren schon durch meine leibliche Anwesenheit in der konkreten Situation untrennbar miteinander verstrickt. In dieser Abhandlung über das Jagdrevier als dem Feld der Ethnologin habe ich dargestellt, wie diese methodologische Verstrickung sich in vielen Situationen als positiv herausgestellt haben, insofern sie einander ergänzten. Die autoethnografischen Anteile sind notwendige Konsequenz des apprenticeship approach. Ziel dieser methodologischen Herangehensweise war es, den Zugang zu meinem Feld zu erweitern, indem ich mich selbst als Jägerin ausbilden ließ. Was es heißt, auf der Jagd zu sein, lässt sich zwar teilnehmend beobachten, selbst auf die Jagd gehen zu dürfen, erweitert jedoch Zugang und Teilhabemöglichkeiten wesentlich. Ich begegnete der Jagd ab September 2016 also als Lernende im doppelten Sinne: Zum Einen waren da die erfahrenen Jägerinnen und Jäger und deren jagdliche Aktivitäten, die ich kennen lernte. Zum Anderen lernte ich jedoch auch, was man in Deutschland formal können muss, um den Jagdschein zu erhalten. Dafür verbrachte ich zwei Abende der Woche im Jagdkurs der Kreisjägerschaft Aachen (KJS Aachen). Hinzu kamen wöchentlich ein bis zwei Besuche auf dem Schießstand. Wildtierkunde, theoretische und praktische Waffenkunde, Wald- und Feldbau, rechtliche Grundlagen der Jagd, aber auch Themen wie Hundewesen und Brauchtum standen von nun an bis April 2017 auf dem ›Stundenplan‹. Beide Arten des Lernens stellen – so unterschiedlich sie teilweise auch waren – die Grundlage für diese Ethnografie dar. Das gelehrte Wissen, welches der Jagdkurs uns vermittelte, sollte aus uns jedoch »nicht nur Jagdscheininhaber« im formalen Sinne machen, sondern »richtige Jäger« – eine Unterscheidung, die mir im Laufe meines Feldaufenthaltes noch häufiger begegnen sollte und auf die ich in Kapitel IV – Die Jagenden näher eingehen werde. Der Jagdkurs eröffnete mir daher auch den Zugang zu den Werten und Normen, welche angehenden Jägerinnen und Jägern vermittelt werden und welche idealerweise deren Handeln anleiten sollen. Neben dem gelehrten Wissen spielte auch das durch die jagdliche Praxis gewonnene Erfahrungswissen eine große Rolle. Zu diesem tacit knowledge erhielt ich durch die erfahrenen Jägerinnen und Jäger, die ich kennenlernte, Zugang. Das doppelte Lernen, welches der von mir gewählte methodologische Zugang implizierte, machte mich daher während meiner Feldforschung sensibel für den Unterschied zwischen gelehrtem und gelebtem jagdlichem Wissen. Der Besuch des Jagdkurses und mein Plan, den Jagdschein zu machen, erleichterten es mir von Anfang an, in die Gruppe der Jagenden integriert zu werden. Dazu kam, dass meine Anfangskontakte, wozu ich vor allem Hermann und Heike zähle, in der lokalen Jäger_innenschaft sehr gut vernetzt waren. Ebenso verdanke ich Georg, der zu jenen Jungjägerinnen und Jungjägern gehört, die mit mir den Jagdkurs besucht haben, viele Gelegenheiten, jagdlich und forschend tätig zu sein. Mein Plan, eine Ethnografie über die Jagd zu schreiben, hatte sich in diesem erweiterten jagdlichen Netzwerk schnell herumgesprochen, so dass ich häufig mit

II Das Jagdrevier

der Frage begrüßt wurde, was meine Doktorarbeit denn so mache. Ich empfand gegenüber meinem Vorhaben durchweg eine große Offenheit und oft genug die Bereitschaft, mich aktiv dabei zu unterstützen, wofür ich sehr dankbar bin. Auch wenn die Jagd als etwas traditionell Männliches gilt (vgl. Cartmill 1993: 282; Haraway 1995: 130; McLeod 2004: 177) und es noch immer deutlich weniger Jägerinnen als Jäger gibt6 , hat das Thema gender in meiner persönlichen Erfahrung keine relevante Rolle gespielt. Ich habe mich durch mein Geschlecht weder in der körperlichen Aktivität des Jagens eingeschränkt gefühlt, noch was den Zugang zur und Teilhabe an der Jagd angeht. »Blokes only«-Gruppen wie McLeod (2004) sie in ihrer Ethnografie über neuseeländische Jägerinnen und Jäger charakterisiert (vgl. ebd.: 128), habe ich, abgesehen von einer jagdlichen Burschenschaft, während der Feldforschung nicht kennengelernt.7 Jedoch beanspruche ich diesbezüglich keine Allgemeingültigkeit, da ich in einer relativ kleinen Gruppe von Jägerinnen und Jägern geforscht habe. Im Bezug auf die Zugangs- und Teilhabemöglichkeiten meiner Person habe ich die Tatsache, eine Frau zu sein, also nicht als Hindernis für meine Forschung erlebt. Im Gegenteil, gerade im Jagdkurs und auf dem Schießstand hatte ich vereinzelt eher das Gefühl, dass man mir wie auch anderen Frauen mit Zuvorkommenheit und Höflichkeit begegnete. Auf den Jagden, auf denen ich als Treiberin half oder als Jägerin teilnahm, wurden an mich die gleichen Anforderungen herangetragen, wie an die Männer. Als limitierende Faktoren erlebte ich in verschiedenen Situationen eher Alter und eine mangelhafte körperliche Konstitution. Ich habe das Jagdrevier eingangs als doppelsinnig verstanden und habe es bisher als Feld der Ethnologin charakterisiert. Dieses Feld ist aber als Ort jagdlicher Praktiken, sozialer und humanimalischer Beziehungen, sowie kultureller Werte und 6

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Laut Deutschem Jagdverband sind 7 Prozent der Personen, die einen Jagdschein besitzen, weiblich (vgl. jagdverband.de 2018a). Das entspricht in etwa auch dem Verhältnis von Jägern und Jägerinnen, welches ich auf Gesellschaftsjagden vorgefunden habe. Hier lag die Quote höchstens bei rund 10 Prozent Jägerinnen. Auch im Jagdkurs, an dem ich teilgenommen habe, stimmten die Zahlen in etwa mit der DJV-Statistik überein: Von circa 30 Personen waren 3 weiblich. Der historische Kontext für diese Zahlen ist darin zu sehen, dass Jagd seit dem Frühmittelalter immer auch »martial art« gewesen ist (vgl. Theilemann 2004: 122). Die traditionelle Verbindung zwischen jagendem Adel und Militär reicht in Deutschland bis ins frühe 20. Jahrhundert (vgl. ebd.: 149) und liefert somit historische Ansatzpunkte, wieso verhältnismäßig wenige Frauen Jägerinnen sind. Ausführlicher werde ich dieses Thema in einem Exkurs zur jagenden Frau im Kapitel 4.3 Jagen als leibliche Praxis behandeln. Auf die Existenz dieser Burschenschaft bin ich durch einen Aushang am Schießstand gestoßen. »Student und Jäger?« lautete die Überschrift des Aushangs und richtete sich damit an potentielle, explizit männliche Mitglieder. Da Burschenschaften in Deutschland traditionell männliche Verbünde sind, macht sich die genderspezifische Exklusivität in diesem konkreten Fall meines Erachtens jedoch am Selbstverständnis der Institution Burschenschaft fest und nicht an dem der Jagd.

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Normen nicht ausgeschöpft – es ist vor allem auch materielle Landschaft. Wenngleich diese Landschaft mir schon vor meiner Feldforschung so bekannt gewesen ist, dass ich ohne zu überlegen gesagt hätte: »Hier kenne ich mich aus.«, so lernte ich im Laufe meines Feldaufenthaltes, wie wenig ich mich tatsächlich jenseits der Wege auskannte. Die Jagdreviere der Nordeifel kennenzulernen, bedeutete, diese Landschaft neu kennenzulernen: »There is thus […] a second landscape which is produced through local practice and which we come to recognize and understand through fieldwork and through ethnographic description« (Hirsch 1995: 2). Wie schon in der Einleitung ausgeführt, hat die Landschaft einen großen Einfluss auf die Jagd. Die Landschaft, in der ich Feldforschung betrieben habe, machte meine Forschung zu einer Feld-, Wald- und Wiesenforschung. Sie bestimmte an welcher Art von Jagd ich überhaupt teilnehmen konnte, da nicht alle Jagdarten in jeder Landschaft gleichermaßen ausgeübt werden können. Die Drückjagd und die Ansitzjagd sind die Jagdarten, die der Nordeifeler Landschaft und den dort lebenden Tieren angemessen sind, wobei die Jagd auf Rot-, Reh-, und Schwarzwild [Wildschweine] den Großteil der jagdlichen Aktivitäten beansprucht. Auch das hängt mit der Landschaft, vor allem aber mit ihrer Nutzung, zusammen. In Folgenden möchte ich näher darauf eingehen, wie die landschaftliche Situation die Jagd als humanimalische Praxis formt.

2.2

Das Jagdrevier als Ort der untersuchten Praxis »In diese Handlung [das Jagen, eig. Anm.] einbezogen, die eine kleine zoologische Tragödie ist, haben Wind, Licht, Temperatur, Bodenform, Gestein und Pflanze ihre Rolle, sie sind nicht einfach da, wie für den Wanderer oder den Botaniker, sondern sie wirken mit; sie handeln. [Herv. i. O.]« (Ortega y Gasset 1985: 91)

In diesem Kapitel möchte ich den Ort beschreiben, an dem die Jagd stattfindet. Die Landschaft des Jagdreviers ist mehr als bloß der bewaldete und bewachsene Grund und Boden, auf dem gejagt wird. Sie konstituiert die Jagd ebenso mit, wie die Menschen und die Tiere, die sie bewohnen. Es ist daher kein Zufall, dass ich mit der Hinwendung zur Landschaft des Jagdreviers etwas in den Vordergrund rücke, was oft nur der unscharf bleibende Hintergrund für allerlei ›scharf gestellte‹ kulturelle und soziale Praktiken ist. Um der terminologischen Verwirrung vorzubeugen, die der Begriff ›Landschaft‹ durchaus in der Lage ist, auszulösen, definiere ich meinen Gebrauch des Wortes: Sich aus ethnologischer Perspektive mit Landschaft zu befassen, bedeutet, den Cartesianischen Dualismus von Subjekt und Objekt, Geist und Körper und schließlich auch von Kultur und Natur zurück zu lassen. Die Landschaft der Jagdreviere darf daher nicht als objektivierter, vom wahrnehmenden Subjekt befreiter Raum (vgl. Hirsch 1995: 9) analysiert werden. Dass ein

II Das Jagdrevier

solcher Landschaftsbegriff im westlichen Denken zwar Tradition hat, jedoch analytisch irreführend ist, zeigen zum Beispiel Ingold (1993, 2000, 2011), Tilley (1994), Hirsch (1995), Casey (1996), Bender und Winer (2001), Stewart und Strathern (2003), Bollig und Bubenzer (2009), Benediktsson und Lund (2010), sowie Janowski und Ingold (2012) in ihren Beiträgen zur Landschaftsdebatte. Das Jagdrevier ist keine fixe Landschaft, die sich für alle, die sie betreten, auf dieselbe Art und Weise eröffnet. Um dem Jagdrevier als jagdliche Landschaft näher zu kommen, braucht es also eine Re-Konzeptualisierung von Landschaft. Hierfür bietet sich die phänomenologische Methode an, »emphasising a qualitative description of the world that the observer encounters through his or her senses and bodily involvement« (Benediktsson/Lund 2010: 5). Das leibliche Engagement, das fundamentale In-der-Welt-Sein lässt die Landschaft, vor aller Abstraktion, als bewohnte und belebte Gegend bedeutsam werden. Landschaft ist, wie ich sie verstehe, »[l]ebendige Umwelt« (Stahl 1979). Die lebendige Umwelt verfügt über eine Wirkungsmacht, welche die Jagd beeinflusst. Die konkrete Landschaft, in der gejagt wird, wirkt darauf ein, wie gejagt wird. Für Jagende wie für Gejagte gilt: »we are not only in places but of them [Herv. i.O.]. Human beings – along with other entities on earth – are ineluctably placebound« (Casey 1996: 19). Die Frage, wie sich die Jagd praktisch gestaltet, ist daher eng verbunden mit der Frage, in welcher Landschaft gejagt wird. Im Verlauf dieses Kapitels werde ich zeigen, dass die Landschaften, in denen gejagt wird, gleichzeitig auch andere Arten der Landnutzung beherbergen. Wald, Felder und Wiesen der Nordeifel sind Erholungsgebiet. Sie sind aber auch wasser-, forst- und landwirtschaftlich genutzte Fläche. Zusätzlich beansprucht der institutionalisierte Naturschutz Teile der Landschaft für sich, was am Beispiel des Nationalparks dargestellt wird. Jagd findet da statt, wo sich auch all diese anderen Ansprüche verwirklichen. Teils ergänzen sie sich, oft konkurrieren sie aber auch miteinander. Insofern sind die Jagdreviere, in denen ich während meiner Feldforschung unterwegs war, ein gutes Beispiel für das, was Bender und Winer (2001) als »contested landscapes« bezeichnen. Die Betrachtung des Jagdreviers zeigt, dass es hierbei nicht um eine symbolische Deutungshoheit über eine bestimmte Landschaft geht. Stattdessen konkurrieren verschiedene Landnutzungen miteinander um ihre praktische Verwirklichung. Nachdem Landschaft als grundlegend umkämpft charakterisiert wurde, werde ich mich dem Jagdrevier als konstitutiver Kraft annähern. Hierbei gilt es, zunächst hervorzuheben, wie sich eine Landschaft als Jagdrevier eröffnet. Wie eingangs dargestellt, ist Jagdrevier-Sein keine objektive Größe von Landschaft. Jagdreviere sind zwar in großem Maße künstliche, von Menschen erschaffenen Areale. Sie aber als das materielle Ergebnis ausschließlich menschliche Aktivität zu verstehen, wäre irreführend. Wie sich das jagdliche Engagement von Menschen und Tieren im Jagdrevier ausgestaltet, ist beeinflusst von der qualitativen Beschaffenheit der Landschaft. Die jagdliche Infrastruktur antwortet auf die landschaftlichen affordances

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(Gibson 1979) und resistances (Macnaghten/Urry 2000), sowie die Landnutzungspraktiken der gejagten Tiere. Immer schon ist die Jagd auch beeinflusst von Wind und Wetter, sowie den großen und kleinen Rhythmen des Jahreszyklus. Im Folgenden möchte ich daher zeigen, wie sich das Jagdrevier – all diese Phänomene einschließend – als humanimalische Landschaft konstituiert.

Das Jagdrevier als contested landscape Die Vieldeutigkeit der Landschaft eröffnete sich mir, wann immer ich auf der Jagd war. Sei es, dass ich Jägerinnen und Jäger während ihrer Ansitze oder bei der Arbeit im Revier begleitete, als Treiberin auf Drückjagden half oder später selbst jagte – nie war die Landschaft nur Jagdrevier. Diese Vieldeutigkeit ist nicht nur eine Randerscheinung. Sie konstituiert das Jagdrevier wesentlich mit, da die Jagd in der Nordeifel nicht in einem abgeriegelten Gebiet stattfindet. Indem Jägerinnen oder Jäger ein Jagdrevier pachten, pachten sie nicht die Landschaft, sondern nur das Recht, dort jagen zu dürfen. Als Teil einer komplexen landschaftlichen Situation ist die Jagd daher nur eine von vielen Landnutzungspraktiken. Eine phänomenologisch inspirierte Beschreibung bestimmter Orte im Jagdrevier auf der Mikro-Ebene bleibt unvollständig, wenn ihr nicht eine weiter gefasste Darstellung dieser Landschaft vorangestellt wird. Christopher Tilley folgend, schließen beide Perspektiven auf das Jagdrevier einander nicht aus. Im Gegenteil: »A concept of place privileges difference and singularity; a concept of landscape is more holistic, acting so as to encompass rather than exclude« (Tilley 1994: 34). Für die jagdliche Landschaft gilt, dass sie auch durch landwirtschaftliche und forstliche Ansprüche, sowie durch die Freizeitgestaltung der Menschen geprägt wird. Ebenso stellen auch die dort lebenden wilden Tiere Ansprüche an die Landschaft. Das Jagdrevier ist ihr Habitat; die Landnutzung der Tiere damit ein wesentliches Merkmal des Jagdreviers als einer humanimalisch konstituierten Landschaft. Solch vielfältige Ansprüche sind keine Parallelen, die sich niemals berühren. Stattdessen wird Landschaft durch all diese Ansprüche ausgehandelt. »A landscape is nothing given, but rather continuously constructed and reconstructed, as well as contested« (Rössler 2009: 311). Gesetze und Grenzen verwalten die Landschaft auf abstrakter Ebene. Durch Gesetze wird geregelt, wer welchen Anspruch unter welchen Bedingungen an die Landschaft verwirklichen darf.8 Das Jagdrevier ist definiert durch seine Grenzen. Auf den Revier8

Am Beispiel des Rotwildes lässt sich zeigen, dass dies die tierischen Ansprüche ebenso betrifft, wie die menschlichen. Obwohl Rotwild sich in Deutschland stärker ausbreiten könnte, findet man es nur in Rotwild-Zonen – zu denen auch die Eifel gehört. Die Gebiete werden als adäquater Lebensraum ausgewiesen, welcher vom Rotwild akzeptiert wird. Außerhalb dieser Zonen erfährt es eine verstärkte Bejagung. Diese Regelung findet auch bei anderen Wildarten wie Dam- und Sikawild Anwendung und wird lokal auch für den Wolf diskutiert (vgl. Gabbert 2018: 23).

II Das Jagdrevier

karten sind dies zwar eindeutig nachvollziehbare, durchgezogene Linien, in der jagdlichen Praxis sind diese formalen Grenzen jedoch porös: Sie schließen weder die Tiere im Revier ein, noch schließen sie Erholungssuchende oder Forst- und Landwirtschaft aus. Landwirtschaft In der Nordeifel bilden die Land- und die Forstwirtschaft eine fast flächendeckende Nutzung der Landschaft jenseits bewohnter oder industriell genutzter Gebiete. Auch in dieser Landschaft gibt es ›Wildnis‹, wenn dieser Terminus nicht undurchdringliche, von Menschen unberührte Weiten meint. Stattdessen können unter Wildnis auch jene ungenutzten, nicht mehr genutzten und verwilderten Orte fallen, die keinen Widerspruch zur menschlichen Landnutzung bilden, sondern mit dieser koexistieren. Meist sind es kleinteilige Landschaftsbestandteile: Das Ufer eines Baches, Dickichte und Gebüsche zwischen bewirtschafteten Feldern und Wiesen. Wiesen, um die sich niemand mehr kümmert, unter Naturschutz gestellte oder sumpfige Flächen, die nicht mehr trocken gelegt werden. Wildnis findet sich nicht außerhalb der wirtschaftlich genutzten Fläche, sondern ebenso darin. Jedoch formt all das nur einen kleinen Teil der Landschaft. Vor allem Wiesen und Felder und deren landwirtschaftliche Nutzung prägen die Kulturlandschaft der Nordeifel. Die Landwirtschaft war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Lebensgrundlage der Bevölkerung – ob als Haupterwerb oder als Nebenerwerb. Arbeit finden die meisten Menschen, die dort leben, nun außerhalb des landwirtschaftlichen Sektors. Geblieben sind einige wenige Betriebe, in denen die Landwirtschaft hauptberuflich betrieben wird. Materiell manifestiert sich diese Entwicklung darin, dass viele kleine Parzellen zu großen Bewirtschaftungsflächen zusammengelegt werden: Große, meist symmetrisch angelegte Wiesen prägen das Landschaftsbild. Entweder dienen sie der Ernte von Heu und Gras oder dort werden Weidetiere gehalten. Vielerorts werden inzwischen auch Maisfelder angelegt. In einem Jagdrevier bieten Maisfelder und Wiesen Konfliktpotential, da sie besonders anfällig für Wildschäden sind – vor allem durch Wildschweine. Wenngleich meist ein Teil der Kosten für Wildschäden durch die Jagdgenossenschaften gedeckt wird, haften Jägerinnen und Jäger jedoch privat für darüber hinaus gehende Schäden. Diese finanziellen Schäden können sich auf Beträge belaufen, die so hoch sind wie die Jagdpacht selbst. 19. September 2015, Paustenbach: Kleine Drückjagd im Maisfeld Eine der ersten Jagden, bei der ich als Treiberin mithelfe: Mitte September, an einem Samstagnachmittag. Eine kleine Drückjagd durch den Mais ist geplant. Das Wetter ist herbstlich, der Himmel ist bewölkt. Wir stehen auf einer Anhöhe an einer Kreuzung von zwei Feldwegen in der Nähe eines Dorfes. Die letzten Häuser von Simmer-

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ath kann man von hier sehen. Jenseits der Kreuzung liegt ein großes, ausgedehntes Maisfeld. Ansonsten gibt es hier Wiesen und kleine Waldstückchen. Die Kall, ein mittelgroßer Bach, fließt weiter unten durch eine sumpfige Senke. An der Kreuzung treffen immer mehr Menschen ein. Vier Jägerinnen und Jäger sind da. Ich gehöre zu den sechs Treiberinnen und Treibern. Sie haben die Aufgabe, systematisch durch das Maisfeld zu gehen, um die Wildschweine aufzuscheuchen, die darin vermutet werden. Der Mais soll bald geerntet werden und im Feld wurden Wildschäden entdeckt. Nun sollen weitere Schäden verhindert werden. Die Jägerinnen und Jäger sitzen auf Hochsitzen – in diesem Fall offene Holzkonstruktionen, die am Rand des Feldes und am Waldrand aufgestellt sind – und versuchen, die Wildschweine zu erlegen, wenn sie aus dem Feld kommen. Wir Treiberinnen und Treiber stellen uns in einer Reihe am Rand des Maisfeldes auf. Nachdem wir das Jagdhorn-Signal »Treiber vor« gehört haben, bewegen wir uns in gleichmäßigem Tempo in den übermannshohen Mais hinein. Nach wenigen Schritten sehe ich niemanden mehr neben mir und höre nur noch wie ich rufe: »Hopp!… Hopp!« Und wie jemand neben mir ebenso ruft: »Hopp, hopp!« Ich orientiere mich an diesen Rufen und an den Maispflanzen, da sie in Reihen gepflanzt sind. So versuche ich Richtung und Geschwindigkeit an die Anderen anzupassen. Ich muss schon weit in das Feld vorgedrungen sein, als sich das Maispflanzenlabyrinth lichtet. Eine große, wüste Fläche liegt vor mir, die von außen nicht zu erahnen war. Alle Pflanzen liegen umgeknickt am Boden und welken vor ich hin. Die Kolben sind meist angefressen. Wildschweine. Als wir am anderen Ende des Maisfeldes wieder aus dem Labyrinth hervortreten, erfahre ich, dass einige der Anderen die Wildschweine gesehen haben. Wir sind immer noch in einer lebhaften Unterhaltung über unsere Erlebnisse im Maisfeld, als ein Schuss fällt. Gebannt schauen wir in die Richtung, aus der der Schuss kam. Am Ende werden wir das Feld zwei Mal durchkämmt haben und es werden zwei Wildschweine erlegt worden sein.

Die Stellen im Maisfeld, wo sich das Schwarzwild aufgehalten hatte, waren von diesem großflächig geschädigt worden. Da ihnen ein finanzieller Schaden droht, bejagen die Jägerinnen und Jäger diese Felder besonders intensiv, sobald der Mais reift – und damit für das Schwarzwild eine attraktive Futterquelle ist. Die Bejagung von Maisfeldern ist jedoch nicht leicht: Die Felder sind groß, die Pflanzen hoch und damit ist die Fläche auch von Hochsitzen aus sehr unübersichtlich. In vielen Fällen grenzen die Felder auch an Waldstücke, so dass sich die Wildschweine (aber auch andere Tiere) ungesehen hinein und hinaus bewegen können. Ob zum Zeitpunkt einer Jagd überhaupt Tiere im Feld sind, wissen die Menschen daher meist nicht mit Sicherheit. Das Durchkämmen des Maisfeldes mit Treiberinnen und Treibern ist dabei die Methode, die den größten Erfolg verspricht. Wenn auch keine Tiere im Feld sind, so vergrämt alleine der menschliche Geruch die Tiere für einige Zeit. Liegen die Maisfelder jedoch an viel befahrenen Straßen, was eine häu-

II Das Jagdrevier

Abbildung 1: Wildschäden durch Wildschweine in einem Maisfeld

fig anzutreffende Anordnung der Landschaft ist, so birgt diese Art der Bejagung Gefahrenpotenzial. Ein Pächter, in dessen Revier diese Situation vorzufinden ist, veranstaltet aus diesem Grund keine Drückjagden durch den Mais. Er stuft das Risiko für einen Verkehrsunfall durch das aus dem Feld getriebene Wild als zu hoch ein. Es bleibt ihm nur, sich auf den Hochsitzen, die er um die Felder herum aufgebaut hat, anzusetzen. Bejagungsschneisen können diese Situation entschärften. Solche bewusst nicht bepflanzten Schneisen im Feld würden die Chance auf Jagderfolg erhöhen, so die Argumentation der Jägerschaft (jagdverband.de 2018b). Aus landwirtschaftlicher Sicht fehlt dann aber ertragbringende Fläche. Die Ziele in der Landnutzung der Jagd kollidieren an dieser Stelle mit denen der Landwirtschaft. Auf Wiesen finden sich ebenfalls häufig Wildschäden. Auch hierbei sind es vor allem die Wildschweine, die diese verursachen, indem sie – auf der Suche nach Futter – die Oberfläche aufwühlen und so die Schäden verursachen. Für die Landwirtinnen und Landwirte bedeuten diese Schäden einen Futterausfall, den sie sich entschädigen lassen können. Anders als bei umgeknickten und angefressenen Maispflanzen, können Jägerinnen und Jäger versuchen, diese Schäden manuell wieder auszugleichen. Indem sie die Schäden selbst wieder zulegen und festtreten, versuchen sie, der finanziellen Belastung entgegenzuwirken. Diese Aktivität kann oft einige Stunden in Anspruch nehmen – manchmal mit dem Ergebnis, dass am nächsten Tag »die Wildschweine wieder da waren.« Oft lassen sich Landwirtinnen und Landwirte darauf ein und verzichten damit auf den finanziellen Ausgleich. Die Ausgleichszahlungen können aber auch Anreiz dafür bieten, Wildschäden künstlich zu erhöhen. Während meiner Feldforschung war auch dies Thema, wenngleich ich nur mittelbar Zeugin davon wurde. Nach einer Jagd habe ich mit zwei Bekannten zusammengesessen. Es wurden Jagdgeschichten und -erlebnisse ausgetauscht.

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Auch die Wildschadenproblematik kam zur Sprache. Ralf erzählt von einer Situation, die sich in einem Jagdrevier ergeben hatte, in dem er in der Vergangenheit gejagt hatte: Ralf: » […] Die [Pächter des Reviers] haben jetzt aber relativ viel Stress mit den Landwirten, weil die Mais streuen waren.« Andreas: »Was? Die Landwirte waren Mais streuen?« Ralf: »Jaja…« Tanja: »Ach? So herum habe ich das noch nicht gehört! Weil die mehr [Geld] für den Wildschaden haben wollen, oder was?« Ralf: »Genau. Es war seltsam. Es war seltsam, weil auf einmal so viel Wildschaden im Grünland war. Und dann haben die [Jagdpächter und Landwirte] sich nicht [auf den Schadensausgleich] einigen können und haben dann einen amtlichen Abschätzer gefunden. Da hat der amtliche Abschätzer auf der Wiese so Maishaufen gefunden. So. Aber weißt du, nicht am Hochsitz oder so, sondern hier mal so ›ne Tasse, da mal ›ne Tasse… ›n bisschen seltsam, ne? Und dann hat der [amtliche Abschätzer] gesagt: ›Also, hier ist ja nun irgendwas faul.‹ Und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Jagdpächter das machen.« Zunächst scheinen die jagdliche und die landwirtschaftliche Landnutzung einander ergänzende Ziele zu haben. Jägerinnen und Jäger wollen Wild jagen und einen möglichst geringen finanziellen Verlust, Landwirte dagegen wollen den Wildschaden auf ihren Ländereien gering halten oder eine finanzielle Entschädigung. Dass landwirtschaftliche und jagdliche Landnutzung zwar funktional kompatibel miteinander sind, heißt nicht, dass es phänomenal kein Konfliktpotential gibt. Der Fall, in dem die Wildschäden aktiv durch die Landwirtinnen und Landwirte herbeigeführt wurden, ist dabei nicht die Regel. Im Gegenteil, häufiger sind es Jägerinnen und Jäger, die verbotenerweise großflächig Mais ausstreuen, um Wildschweine oder anderes Wild vor ihre Hochsitze zu locken. Auch während meiner Feldforschung kam dies vor. Jener Vorfall kam vor allem deshalb zur Sprache, weil er aus der Perspektive von Ralf außergewöhnlich war. Aber auch in Fällen, die nicht betrügerisch motiviert sind, kritisieren Jägerinnen und Jäger die landwirtschaftliche Praxis, zum Beispiel fehlende Bejagungsschneisen. Auch die Tatsache, dass manche Felder fast nahtlos an Landschaftsbestandteile wie Wälder oder größere Gebüsche angrenzen, die optimale Deckung für die jene Schäden verursachenden Tiere bieten, ruft unter Jägerinnen und Jägern einen eindeutigen Tenor hervor: Eine solche landwirtschaftliche Struktur sei im besten Fall fahrlässig. Landwirtinnen und Landwirte argumentieren dagegen, dass sie alle wirtschaftlich nutzbaren Flächen bebauen müssen, damit sich ihre Landwirtschaft lohnt. Der wirtschaftliche Druck auf die Landwirtschaft in der Nordeifel hat sich erhöht. Diese antwortet darauf mit einem höheren Nutztierbestand, größeren Be-

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wirtschaftungsflächen und effizienteren Bewirtschaftungsstrategien. Diese materielle Struktur hat Einfluss auf die Jagdpraxis. Während einige, der jagdbaren Tiere durch diese Landschaftsstruktur keine nachteiligen Auswirkungen auf ihr Habitat erfahren, reduziert sich das Habitat anderer Arten dadurch radikal. In ganz Deutschland hat sich die Anzahl einiger Wildtiere deutlich minimiert. Der Rückgang an Fasanen, Rebhühnern und Hasen hat dazu geführt, dass die Jagd auf diese Tiere heute meist nur in sehr reduziertem Umfang passiert oder unterbleibt. Die Nordeifel ist aufgrund des nass-kalten Klimas für Fasane und Rebhühner kein angestammter Lebensraum. Welche Auswirkungen die sich verändernde Landwirtschaft auf die jagdliche Landschaft hat, signalisiert den Jägerinnen und Jägern hier vor allem die Anzahl der Hasen. Diese hat im Vergleich zu früheren Jahrzehnten stark abgenommen, weshalb vielerorts inzwischen teilweise freiwillig auf die Hasenjagd verzichtet wird oder sie wird stark eingeschränkt. In einem der Reviere, in denen ich geforscht habe, wurden Hasen vom Pächter daher nur zur »großen Jagd« Ende Oktober frei gegeben, während sie das restliche Jahr – unabhängig von Jagdund Schonzeiten – nicht gejagt wurden. Noch bis in die 1970er Jahre, so erzählten mir einige ältere Jäger, waren Treibjagden auf Hasen eine häufige Jagdart. Die Landschaft, damals noch kleinteiliger und vielfältiger, bot Hasen einen angemessenen Lebensraum. Die Erntephasen waren weniger und die Maschinen kleiner und langsamer, was der Hasenpopulation entgegenkam. Heute sind Treibjagden auf Hasen (und in anderen Teilen Deutschlands auf Fasane) zu einer seltenen Jagdpraxis geworden. Die intensiv betriebene Landwirtschaft hat aber auch Einfluss auf die Lebensbedingungen des Rehwildes. Mit Gregor unterhalte ich mich über dieses Thema. Als gelernter Landwirt und Jäger, kennt er beide Perspektiven: »Der erste Hase wird ja so im März, April gesetzt und nach etwa vier bis sechs Wochen sind die jungen Hasen selbstständig. Wenn jetzt Anfang April der erste Satz Hasen erfolgt ist, dann haben wir den 10. Mai, 15. Mai bevor sie selbstständig sind. Bis dahin halten sie sich ja sehr geduckt und werden einmal am Tag von der Häsin gesäugt. Und wenn denn jetzt Ende April oder Anfang Mai, wie es ja schon häufig ist, der erste Schnitt [die erste Grasernte im Jahr] erfolgt, dann sind die Junghasen mit weg. Und der zweite Schnitt ist in aller Regel eine Problematik für das Rehkitz, denn die Rehkitze werden Ende Mai, Anfang Juno gesetzt. Der zweite Schnitt erfolgt gewöhnlich um den 10. Juno, 15. Juno – und dann haben wir die Kitze drin. Das ist dabei die Problematik.« Hermann nimmt mich eines Tages im Frühsommer mit auf eine Wiese. Das Gras ist wadenhoch und der Landwirt hat ihm gesagt, dass er das Gras in den kommenden Tagen mähen möchte. Ich folge Hermann und höre ihm zu, wie er die Pflanzen aufzählt, die er vorfindet. Es seien nur noch wenige Sorten, die man heute auf den Wie-

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sen fände, erklärt er mir. Hauptsächlich seien es Löwenzahn und einige Gräser, die das häufige Düngen mit Gülle vertragen. Hermann hat einen Hammer, zwei Plastiksäcke, Kordeln und zwei schmale Pfähle dabei. Inmitten der Wiese schlägt er die Pfähle in einiger Entfernung zueinander in den Boden. Daran befestigt er mit der Kordel die Plastiksäcke, die sich nun knisternd und raschelnd im Wind bewegen. So entsteht eine Scheuche, die Ricken davon abhalten soll, ihre Kitze auf der Wiese abzulegen. Hermann kommentiert diese Aktion damit, dass diese Scheuchen ausreichten, damit den trächtigen Ricken diese Wiese unsicher erscheint. Wenn ihm die Landwirte einige Tage im Voraus Bescheid sagen, bevor sie mähen wollen, so freue ihn das, weil er dann solche Maßnahmen noch durchführen könne. Das häufige Ausfahren von Gülle als Dünger und der erhöhte Ernterhythmus führt auf den Wiesen zu einer Verarmung der Wiesenfauna und -flora, wie Hermann beim Durchqueren der Wiese feststellt. Dadurch verlieren viele Tiere Lebensraum und Nahrungsquellen. Die Intensität der landwirtschaftlichen Nutzung hat einen negativen Einfluss auf die Population von Hasen, aber auch von Insekten und am Boden brütenden Vögeln. Darüber hinaus beeinflusst sie die Lebensbedingungen des Rehwilds. Die Nachkommenschaft von Hasen und Rehen gehört wildtierbiologisch zu den Ablegetypen. Die Jungen sind kurz nach der Geburt noch nicht in der Lage, die Grasmulde, in der sie von ihren Müttern abgelegt wurden, zu verlassen. Bei Gefahr ducken sich Rehkitze und Junghasen und verschließen ihre Körperöffnungen, um möglichst geruchlos zu sein. So effektiv dieser Schutz gegenüber Fressfeinden, wie Füchsen und Wildschweinen, aber auch streunenden Hunden ist, so wirkungslos ist er gegenüber Kreiselmähern und Traktoren. Jägerinnen und Jäger wirken dieser Problematik in einigen Fällen gemeinsam mit Landwirtinnen und Landwirten entgegen, wie das Beispiel der Rehscheuche zeigt. Auch das Absuchen von Wiesen vor dem Mähen und das Bergen von gefundenen Tieren ist eine Maßnahme, um das Wild vor dem Mähen zu schützen. Sie zählt zu den öffentlichkeitswirksamsten Aktionen der Jäger_innenschaft. Fotos von geretteten Rehkitzen sind in jagdlichen Zeitschriften im Frühsommer ein häufig abgedrucktes Motiv. Voraussetzung für solche Aktionen ist, dass eine gute Beziehung der Jägerinnen und Jäger zu den Landwirtinnen und Landwirten im Jagdrevier besteht. Die Bilder geretteter Rehkitze stehen sinnbildlich für den hier skizzierten Konflikt. Verstärkt wird dieser Konflikt zwischen jagdlicher und landwirtschaftlicher Landnutzung dadurch, dass viele Landwirtinnen und Landwirte das Ernten und Einfahren des Grases oft nicht mehr selbst übernehmen. Aus Kostengründen investieren sie nicht mehr in eigene Maschinen, sondern nutzen die Dienste von Lohnfuhrunternehmen. Wenn das Gras hoch genug gewachsen ist und für einige Tage beständiges, trockenes Wetter herrscht, kann man auf den Wiesen der Nordeifel von früh morgens bis spät in den Abend die Traktoren, Maschinen und Ladewagen über die Wiesen fahren sehen. Dabei arbeiten Lohnfuhrunternehmen über-

II Das Jagdrevier

regional und durch die Abhängigkeit vom Wetter oft unter Zeitdruck. Oft bleibt dann kaum mehr Zeit, die großflächigen Wiesen vorher abzusuchen. Die intensiv betriebene Landwirtschaft beeinflusst die jagdlichen Aktivitäten, indem sie das Habitat der gejagten Tiere maßgeblich beeinflusst. Die landwirtschaftliche Umformung der Landschaft bedeutet aber nicht für alle Tiere eine Habitatsverschlechterung. Einige Tiere, wie Wildschweine, kommen so häufig vor, dass sie, trotz dem Versuch der intensiven Bejagung, einen ernsten wirtschaftlichen Schaden in den landwirtschaftlich genutzten Flächen verursachen. Auf die Bejagung anderer Tiere verzichten Jägerinnen und Jäger dagegen freiwillig oder sie dürfen gesetzlich gar nicht gejagt werden. Somit zeigt sich, dass entgegen einer anzunehmenden funktionalen Ergänzung, Konflikte zwischen jagdlicher und landwirtschaftlicher Landnutzung entstehen. Forstwirtschaft An einem sommerlichen Nachmittag fahre ich mit Dietmar, dem Gemeindeförster von Simmerath, durch einen von ihm bewirtschafteten Wald. Diesen Wald kenne ich schon von verschiedenen Ansitzen mit Hermann, der hier Jagdaufseher ist. Neben der forstlichen Bewirtschaftung wird der Wald auch als Jagdrevier verpachtet. Ich habe Dietmar gebeten, mir diesen Wald aus forstlicher Perspektive zu zeigen. Neben vielen meteorologischen und erdgeschichtlichen Faktoren beeinflusst auch das Wild das Waldbild. Dietmar zeigt mir an verschiedenen Orten, wo er Schäden an Bäumen festgestellt hat. Vor allem das Rotwild verursacht die Schälschäden an den Bäumen. Schließlich hält er vor zwei Stapeln mit Stangenholz. Gefällte Bäume liegen aufgestapelt auf einem Sammelplatz, um von dort aus in ein Sägewerk abtransportiert zu werden. Wir steigen aus und ich soll mir die Stapel aus der Nähe ansehen. Dietmar macht mich auf den Qualitätsunterschied aufmerksam. Tatsächlich erkenne ich, dass der eine Stapel Stammholz wesentlich mehr von braunen und schwarzen Stellen durchzogen ist. Hier ist Fäulnis in das Holz gedrungen. Zu diesen Baumstämmen sagt Dietmar: »Das sind jetzt die etwas schlechteren Sortimente. Meistens die, wo geschält worden ist. Das geht dann in die Spanplatten…« Die Waldlandschaft, durch die ich mit Dietmar gefahren bin, ist eine nicht unerhebliche Einnahmequelle der Gemeinde Simmerath. Waldbaulich sind es in den Wäldern der Nordeifel die Schäl- und Fraßschäden von Wildtieren, die zu größeren finanziellen Einbußen für die Forstwirtschaft führen. Rotwild, aber auch Reh- und Muffelwild, fressen die jungen Triebe und Knospen von ausschlagenden Bäumen und hemmen damit deren Wachstum. Vor allem schadet es den Bäumen jedoch, wenn Rot- oder Muffelwild mit ihren Zähnen die Rinde vom Stamm schält. Daher ist es aus forstlicher Sicht logisch, einen möglichst geringen Wildbestand anzustreben – vor allem beim Rotwild. Jedoch ist dieser Wald, durch den ich mit Dietmar

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gefahren bin, auch Rotwild-Zone – also ein ausgewiesener Rückzugsort für diese Tiere. Sie haben hier ihr Habitat. Dieses Habitat muss das Rotwild sich aber mit den forstlichen Ansprüchen an diesen Wald teilen und auch mit den Ansprüchen der Jagenden.

Abbildung 2: Schälschäden an jungen Bäumen

Ebenso ist dieser Wald ein beliebtes Freizeitgebiet, in dem viele Menschen verschiedenen Freizeitaktivitäten nachgehen. Vor allem an den Wochenenden und bei sonnigem Wetter sind sie zahlreich in den Wäldern unterwegs. Solange viele Menschen im Wald sind, bleibt das Rotwild in seinen Dickungen. Diese dicht bewachsenen, entlegenen Orte im Wald bieten den Tieren Ruhe und Sichtschutz vor Erholungssuchenden und Jagenden. Obwohl Rotwild tagaktiv ist, verlässt es diese Dickungen oft nur im Schutz der Dämmerung und in der Nacht. Das erhöht die Schälschäden in diesen Einständen und minimiert so den forstwirtschaftlichen Wert des Waldes. Dietmar und ich stehen abseits eines kaum befahrenen Weges in einem entlegenen Teil des Waldes. Hier zeigen viele Bäume weißliche, harzende Flecken an den Stämmen, wo die Rinde verletzt wurde. Es ist einer der Rückzugsorte, die das Rotwild aufsucht. Dietmar erklärt, wie er die Schäden deutet: »Aber man muss natürlich auch fairer Weise dazu sagen: Das Wild hat bestimmte Rückzugsecken. Und da bleibt es und verweilt es. Und wenn es nicht rauskommen kann [aufgrund der Freizeitaktivitäten oder Arbeiten im Wald] – manchmal hat es dann auch Langeweile. Manchmal ist das nicht der reine Äsungsaspekt, dann ist das auch eine Beschäftigungsgeschichte.« Die Schälschäden des Rotwildes entstehen nicht immer als Reaktion auf Hunger, sondern sind auch eine Antwort auf die umkämpfte Landschaft, in der das Wild

II Das Jagdrevier

lebt. Weil der Wald viele Besucherinnen und Besucher anlockt und in ihm gearbeitet wird, zieht sich das Rotwild zurück und verursacht vermehrt Schäden an Bäumen in diesen Rückzugsorten. Um diese Schäden auf einem wirtschaftlich erträglichen Maß zu halten, müssen Försterinnen und Förster sich mit Jägerinnen und Jägern einigen, wie viel Rotwild in einem Revier erlegt werden sollte. Für viele Jägerinnen und Jäger im gegenwärtigen Deutschland ist die Jagd auf Rotwild jedoch etwas Besonderes. Ein Phänomen, das seine Ursprünge Unterscheidung zwischen Hoch- und Niederwild hat, auf die ich in Kapitel 3.1.1 – Wild und seine Kategorien ausführlich eingehen werde. Rotwild, wie alles zum Hochwild gehörende Wild, war in den Zeiten des Jagdregals vom 12. bis ins 19. Jahrhundert nur dem Hochadel vorbehalten und das Geweih der Hirsche ist immer noch eine sehr gefragte Trophäe für viele Jagende. Während meiner Feldforschung war ich in kaum einem Haus, in dem eine Jägerin oder ein Jäger lebt, in welchem nicht der Kopfschmuck eines Hirsches gut sichtbar an der Wand aufgehangen war. Die Wertschätzung für das Rotwild durch die Jägerinnen und Jäger manifestiert sich aber auch in den Pachtpreisen. Reviere, in denen Rotwild vorkommt, sind wesentlich teurer in der Pacht als solche, in denen es nicht vorkommt. Für die Jägerinnen und Jäger, welche solche hohen Pachtbeträge bezahlen, liegt der Gegenwert im Wildreichtum des Jagdreviers. Sie sehen die Pacht auch als Ausgleichszahlung für die Schäden, die das Wild verursacht. Dietmar kennt diesen Konflikt aus seinem Berufsalltag: »Die [Pächterinnen und Pächter] sagen dann so: ›Ihr habt ja die Jagdpachteinnahme! Wenn ihr die nicht hättet, dann wäre ja…‹ Das ist eine reine Entschädigungszahlung. Und mit diesen Entschädigungen kommt man, wenn man im Rotwildgebiet ist, selbst mit den hohen, relativ hohen Pachten, die wir hier haben, nicht aus.« Der Grundkonflikt zwischen Jägerinnen und Jägern auf der einen und Försterinnen und Förstern auf der anderen Seite ist ein historischer, der in der funktionalen Ausdifferenzierung der Forstwirtschaft und der Jagd begründet liegt. Historisch betrachtet, ist dies ein relativ junges Phänomen, denn »[t]rotz der zunehmenden Eigenständigkeit beider Disziplinen waren die Berufsbezeichnungen Forstmann oder Förster und Jäger noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts weitgehend synonym« (Stahl 1979: 306). Notwendig wurde diese Ausdifferenzierung mit der Akzentuierung auf eine fachgerechte und nachhaltig betriebene Forstwirtschaft schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts angesichts der großteils völlig heruntergewirtschafteten Wälder in dieser Zeit (vgl. ebd.: 305). Die kommerziell betriebene Forstwirtschaft, wie sie heute in der Nordeifel weit verbreitet ist, ist die konsequente Weiterführung dieses Ansatzes. Historisch gesehen verläuft die Kommerzialisierung der Forstwirtschaft parallel mit einer Privatisierung der Jagd. Während die Holzwirtschaft in der Nordeifel zu einer wirtschaftlich bedeutsamen Einnahmequelle geworden ist, wird die Jagd größtenteils als private Freizeitgestaltung ausgeführt.

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Die Pächterinnen und Pächter privater Jagdreviere haben aufgrund dieser funktionalen Ausdifferenzierung kein Eigeninteresse an der im Jagdrevier stattfindenden Forstwirtschaft. Den Rotwildbestand durch hohe Abschusszahlen auf ein Maß zu reduzieren, welches einem forstwirtschaftlichen Schaden vorbeugt, ist für die meisten Jägerinnen und Jäger kein intrinsisches Motiv. Dies erhöht zwar den forstlichen Wert der Landschaft, macht die jagdliche aber ärmer. Hermann und Andreas fassen diesen Grundkonflikt wie folgt zusammen: Hermann: »Übertrieben gesagt: Der Förster hätte am liebsten gar kein Wild im Wald – vor allem kein Rotwild – damit bloß nicht ein Bäumchen angefuttert wird. Der Jäger hätte es am liebsten vor Wild wimmeln. Weil er es gerne sieht, weil er auch gerne jagt. Und so genau in der Mitte liegt die Wahrheit.«

Andreas: »Es wird behandelt, wie heilige Kühe – das Rotwild. Gerade von den Jägern. Von den Forstwirten wird es eigentlich eher verdammt. Von den Jägern aber hochgelobt. Und wenn man es irgendwann mal schaffen würde, das auf ein gesundes Mittelmaß [zu bringen], [da] wäre der Wildart Rotwild mehr mit getan. Und vor allen Dingen wäre auch sichergestellt, dass ein Fortbestand [des Waldes] über die nächsten Generationen aufrechterhalten werden könnte. Weil so wie es jetzt momentan gehandhabt wird, kann es nicht weitergehen. Es [das Rotwild] frisst – auf Deutsch gesagt – den Busch auf.«

Obwohl es in seinem Lebensraum eingeschränkt ist, ist der Bestand an Rotwild in der Nordeifel stabil bis steigend (vgl. umwelt.nrw.de 2017), was unterschiedliche Konsequenzen hat. Für die Jägerinnen und Jäger erhöht sich dadurch zwar die Chance, bei ihren Ansitzen Rotwild zu sehen und erlegen zu können. Aber der Druck auf den Wirtschaftswald erhöht sich ebenfalls. Um ein »gesundes Mittelmaß« zu finden, gibt es für Rotwild eine offizielle Abschussplanung. Die zu erreichenden Abschusszahlen werden im Jagdbeirat der Unteren Jagdbehörde festgelegt. Der Jagdbeirat besteht aus all jenen, die Ansprüche an die Landschaft stellen. Darunter sind die Jagdpächterinnen und -pächter, welche die Abschusszahlen vorschlagen, aber auch die Jagdgenossenschaft des betreffenden Reviers, sowie Vertreterinnen und Vertreter aus Forst- und Landwirtschaft und dem institutionalisierten Naturschutz. Sie können die Vorschläge der Jägerinnen und Jäger korrigieren. Die so ermittelten Abschusszahlen dienen als Kompromiss für die verschiedenen Ansprüche an die Landschaft als Habitat des Rotwildes, als Wirtschaftswald oder als Biotop. In der Ausübung der Jagd müssen sich die Jagenden nach den Abschussplänen richten, die für ihr Revier erstellt werden.

II Das Jagdrevier

29. Oktober 2016, Lammersdorf: Ansitz mit Hermann Ich fahre mit Hermann durch die Dunkelheit des Waldes. Unser Ziel ist die Felsenkanzel. Sie heißt so, weil die kleine Holzkammer, in wir uns ansetzen, auf einer Felsennase platziert ist. Wir müssen nur drei Holzsprossen hinaufsteigen, dann betreten wir schon das Innere der Kanzel. Drei Fenster gibt es, nach vorne, rechts und links hinausgehend. Eine Bank, auf die wir uns setzen. Vor uns fällt ein Hang, der mit lichtem Eichen- und Buchenwald bewachsen ist, steil ins Tal der Kall hinab. Hermann und ich richten uns ein. Schweigend öffnen wir die Fenster und klappen die Sitzbänke herum. Als wir sitzen, weist Hermann mich an, ab und zu mal aus dem linken Fenster zu schauen. »Kann sein, dass die hier hochkommen. Das Rotwild kommt erst von dahinten runter.« Er zeigt in die Kronen der Bäume des gegenüberliegenden Hanges und beginnt mir die Landschaft zu erklären: »Da unten ist die Kall. Und die kommen dahinten den Wald runter – von Silberscheid. Und dann hier rauf. Der Wechsel geht dann hier vorne schräg rüber. Manchmal wechseln die aber auch da links hoch.« »Und das manchen die immer zur gleichen Zeit?«, frage ich. »Jaaa… Ne, das kommt auch darauf an. Jetzt wo die hier die Windräder bauen, kommen die immer schon früher zurück. Das merken die sich und dann werden die heimlicher.« Während wir uns leise über alles Mögliche unterhalten, dämmert der Morgen. Von weiter weg ab und zu Autos; Menschen brechen zur Arbeit auf. Wir sitzen fern ab im Wald und hören zu. Und wir hören den Tieren zu, deren Tag ebenfalls beginnt. Vögel beginnen zu zwitschern, ein Specht klopft irgendwo. Auf der Windradbaustelle wird es lauter. Dumpfe Motorengeräusche. Dann bewegt sich im braun gewordenen Laub etwas. Tatsächlich steigt still und leise Rotwild den Hang hinauf. Ich flüstere »Da. Rotwild.« Sofort ist Hermann aufgestanden. Wir blicken durch unsere Ferngläser und beobachten die Tiere. Sie horchen nicht und bleiben nicht stehen. Zielstrebig und mit fließenden und weichen Bewegungen gehen sie ihren Weg. Hermann hat plötzlich das Gewehr im Anschlag und ich höre es leise Klicken, als er die Waffe entsichert. Langsam und so wahnsinnig still ziehen drei Stück Rotwild den Wechsel entlang, den Hermann beschrieben hatte. Es macht ein dumpfes Geräusch, als er den Lauf des Gewehres auf den hölzernen Fensterrahmen auflegt. Halb sitzend, halb stehend, nach vorne gebeugt, blickt er durch das Zielfernrohr. Dann folgen unendlich lange Sekunden. Ich vergesse, mir die Ohren zuzuhalten und als es knallt und höre einen Moment lang nichts mehr. Der Schuss absorbiert die Welt. Sekunden nach dem Schuss verharren wir. Dann bemerke ich den Geruch von Schwarzpulver in der Nase. Erst dann kommen die Geräusche wieder. Ich realisiere ein Pfeifen im Ohr, aber ich höre auch das Rascheln von Laub und sehe die beiden anderen Tiere fliehen. Das getroffene Tier überschlägt sich zwei Mal den Hang hinab, bleibt dann liegen und schlägt noch ein, zwei Mal heftig mit einem Hinterlauf. Hermann hat noch immer das Gewehr vor dem Gesicht, steht schräg im Anschlag. Falls es nötig

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werden würde, nachzuschießen. Aber es ist nicht nötig, das Tier ist tot. Einige Sekunden erhöhter Aufmerksamkeit, dann lässt alle Anspannung nach. Langsam sinkt das Gewehr in seiner Hand ab, er sichert es und stellt es in die Ecke zurück. Wir bleiben sitzen. »Kann sein, dass das Alttier noch mal zurückkommt. Das wäre was, wenn wir das auch noch bekommen.« Aber nichts passiert. Durch das Fernglas sehe ich das Tier liegen. Es sei ein Kalb, erklärt Hermann. »Aber eigentlich müssten wir auch die Alttiere dazu kriegen.« Wir sprechen über den Abschussplan, der 12 Stück Rotwild in diesem Jahr für dieses Revier vorsieht. Noch ist davon nichts erfüllt.

Obwohl die Quoten aus der Abschussplanung verbindlich sind, werden sie von den Jagenden nicht immer erreicht. Das liegt vor allem daran, dass die Jagd auf Rotwild in einer umkämpften Landschaft schwierig ist. Rotwild meidet die menschliche Präsenz und zieht sich daher vor allem tagsüber zurück. Indem es versteckte, schlecht zugängliche Orte aufsucht und zu einem nacht- und dämmerungsaktiven Tier geworden ist, entzieht sich das Rotwild der Begegnung mit Menschen. Für Jägerinnen und Jäger bedeutet das, dass sie sich eine gute Kenntnis über die Bewegungsmuster und Landnutzungspraktiken der Tiere aneignen müssen. Diese Kenntnis müssen sie in die infrastrukturelle Formung einer jagdlichen Landschaft aufnehmen. Die Felsenkanzel ist dafür ein gutes Beispiel: Sie befindet sich in einem sehr entlegenen Teil des Waldes. Hierher kommen kaum Erholungssuchende, denn die Hauptwege verlaufen anderswo. Auch forstlich erfährt der Wald noch wenig Aufmerksamkeit. Die hier wachsenden Eichen und Buchen sind noch zu jung, um forstwirtschaftlich interessant zu sein. Für das Jagdrevier sind solche, auf den ersten Blick peripher erscheinenden Orte von zentraler Bedeutung. Die Felsenkanzel steht an einem Wechsel, also einem häufig benutzten Weg des Rotwildes, den Hermann kennt. Er kennt aber nicht nur die Wege, welche das Rotwild in seinen täglichen Aktivitäten nutzt, sondern auch dessen Tagesrhythmus. Zusätzlich zu der ohnehin hohen Nutzung des Waldes als Forst- und Freizeitwald, wurden hier während meiner Feldforschung Windräder errichtet. Das Interesse der Windkraftindustrie an dieser Region hat dort, wo die Windräder gebaut wurden, zu einer gravierenden Veränderung in der jagdlichen Landschaft geführt. Abgesehen von der großflächigen Rodung haben die Bauarbeiten mittelfristig zu einer erhöhten Präsenz an Menschen, LKW, Autos sowie Schwertransportern geführt. In dieser Zeit war das scheue Rotwild noch heimlicher und seine Bejagung durch die Jägerinnen und Jäger noch schwieriger geworden. Die Abschüsse lagen weit unter der geforderten Quote. Die Antwort des Rotwildes auf diese Veränderungen in seinem Habitat hatte dazu geführt, dass die Jägerinnen und Jäger ihre jagdlichen Ansprüche im Revier kaum noch verwirklichen konnten. Dadurch hatte sich auch der Konflikt mit der forstlichen Nutzung verschärft.

II Das Jagdrevier

Die Antwort auf den Konflikt von forstwirtschaftlichen und jagdlichen Ansprüchen an eine Landschaft sind Jagden, die von den Forstämtern selbst organisiert werden. Neben der Ansitzjagd werden ab Ende Oktober bis Mitte Januar vor allem große Drückjagden organisiert. Die Wälder des Forstamts Hürtgenwald sind solche forstlich bejagten Wälder. Sie grenzen teilweise an den Wald, welchen Dietmar als Gemeindeförster verwaltet. Das Forstamt Hürtgenwald veranstaltete während meiner Feldforschung einige Drückjagden, an denen Jägerinnen und Jäger aus der ganzen Region teilnahmen. Für die Teilnahme an einer solchen Jagd mussten sie einen Geldbetrag zahlen. Dafür lag die Organisation und die Verantwortung für Planung und Ablauf der Jagd beim Forstamt. Solche Veranstaltungen beginnen morgens und enden abends. Ziel dieser forstlichen Art der Jagd ist es, in dem jeweiligen bejagten Gebiet des Forstbezirks in wenigen Stunden möglichst viele Tiere zu erlegen. Je höher die Zahl der erlegten Tiere am Ende der Jagd war, desto eher galt die Jagd als gelungen. Ich habe an vielen solcher Jagden während meiner Feldforschung teilnehmen können. Anwesend waren in der Regel zwischen dreißig und vierzig Jägerinnen und Jäger, wobei die Anzahl der erlegten Tiere meist zwischen zwanzig und vierzig lag. An einem einzigen Tag werden die Wildbestände eines Reviers also deutlich reduziert. Strukturell unterscheidet sich die forstliche Art zu jagen deutlich von der Art, wie die meisten Pächter in ihren Revieren gejagt haben. Für Jägerinnen und Jäger, die in einem privaten Jagdrevier jagen, stellt die Jagd einen Selbstzweck dar. Jagen ist für sie in der Regel eine Freizeitaktivität. Für die Jagden des Forstamts Hürtgenwald galt jedoch, dass sie dem Zweck des forstwirtschaftlich gewinnbringenden Waldes unterstellt waren. Für das forstliche Jagen gilt also, dass hohe Abschusszahlen durchaus ein intrinsisches Motiv darstellen. Der Nationalpark Eifel als jagdliche Landschaft Einen Sonderfall jagdlicher Landschaft in der Nordeifel stellt der Nationalpark Eifel dar. Errichtet im Jahr 2004 auf dem Gebiet eines ehemaligen belgischen Truppenübungsplatzes wird hier die Maxime »Natur Natur sein zu lassen« (nationalpark-eifel.de 2018) umgesetzt. Ideell wird ein bestimmtes Naturverständnis kultiviert, welches menschliche Einflussnahme weitestgehend ausklammert. Materiell soll ein Landschaftsbild entstehen, welches die ausgedehnten Buchenwälder, die vor etwa 10.000 Jahren die Landschaft der Nordeifel dominierten, zur Grundlage hat. Weil menschliche Einflussnahme auf diesem Gebiet auf ein Minimum reduziert werden soll, ruht auch die Jagd grundsätzlich auf der Fläche des Parks (ebd.). Faktisch wird aber gejagt, wenngleich die Termini ›Wildtiermanagement‹ und ›regulieren‹ anstelle von ›Jagd‹ und ›jagen‹ verwendet werden. Die Bejagung findet außerhalb sogenannter Ruhezonen vor allem an den Grenzen des Nationalparks statt. Gejagt werden vor allem Rot- und Rehwild, Wild-

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schweine, aber auch Muffelwild. Primär werden diese Jagden veranstaltet, um die natürliche Verjüngung des Waldes zu unterstützen. Damit die Bäume – vor allem die Buchen – ohne menschliche Schutzmaßnahmen aufwachsen können, darf nicht übermäßig viel Rot-, Reh- oder Muffelwild in dieser Landschaft leben. Ein Konflikt, wie er auch in den forstlich genutzten Wäldern vorkommt. Die Wilddichte im Nationalpark ist aber verhältnismäßig hoch, da die landschaftliche Nutzung der Institution Nationalpark den Ansprüchen dieser Tiere an ihr Habitat entspricht. Damit sich die »entstehende Wildnis« (ebd.) entwickeln kann, findet eine konsequente Besucherlenkung im Park statt. Durch das Wegegebot für die Besucherinnen und Besucher, sowie durch den Wegfall forstlicher Tätigkeiten, finden viele Tiere hier eine Landschaft vor, die ihren Habitatsansprüchen genügt. Zusätzlich wird die hohe Wilddichte im Nationalpark dadurch begünstigt, weil es dort noch keine tierischen Prädatoren gibt, welche den Wildbestand regulieren können. Die Jagd wird daher – obwohl zunächst ideell unvereinbar mit der Maxime des Nationalparks – notwendig. Darüber hinaus soll die Reduktion des Wildes im Nationalpark auch übermäßigem Wildschaden auf den angrenzenden land- und forstwirtschaftlichen Flächen vorbeugen, so die Argumentation (vgl. nationalparkeifel.de 2018). Diese Situation hat Konsequenzen für die Art, wie gejagt wird. 22. November 2016, Wahlerscheid: Drückjagd des Nationalparks Morgens gegen halb acht mit Heike nach Rothe Kreuz gefahren. Der Tag verspricht schön zu werden. Am Wochenende hatte es gestürmt und geregnet. Nun aber ist der Sturm vorbei und die Bäume haben ihr Laub endgültig verloren. Der verantwortliche Revierförster für diesen Teil des Nationalparks hatte ja schon vor einem Monat angekündigt, dass dies ›die große Jagd‹ wird. Tatsächlich sind am Sammelplatz schon zahlreiche Menschen anwesend, obwohl es erst viertel nach acht ist – die Ansprache an die Jagdgäste ist, wie immer, für neun Uhr angesetzt. Unter den fünfzig bis sechzig Personen sind etwa die Hälfte Treiberinnen und Treiber. Sowohl die Schützinnen und Schützen, als auch die Treiberinnen und Treiber tragen Signalkleidung. Orange-grünbraun ist das Farbspektrum der Kleidung. Oft in real tree-Carmouflage gemustert, gerade bei den Schützinnen und Schützen. Bevor wir in Gruppen aufgeteilt werden, werden die Treibenden und die Jagenden gesondert von den Verantwortlichen eingewiesen. Das kenne ich so noch nicht, denn sonst gibt es eine Ansprache für alle. Der Revierleiter stellt sich in die Mitte von uns Treiberinnen und Treibern und erklärt, worauf zu achten ist. Heute sind keine Hunde im Treiben. Die Bitte, durch alle Dickungen auch durch zu gehen und möglichst die Reihe halten. Wir hätten einen großzügigen Zeitrahmen für unseren Abschnitt, so dass niemand sich beeilen müsse. Falls Wild zwischen den Treiberinnen und Treibern nach hinten durchbricht, so sollen wir nochmal zurückgehen. »Und Sie müssen auch nicht besonders laut sein. Einfaches Rufen tut es. Mal ein ›Hopp, Hopp!‹ zwischendurch. Dann werden Sie auch von den Schützen

II Das Jagdrevier

schneller bemerkt.« Auch die Schützinnen und Schützen bekommen eine gesonderte Ansprache. Es wird einiges erwähnt, was immer erwähnt wird: Die Ansteller bringen sie zu den Ständen, von wo aus sie jagen, und werden sie dort wieder abholen. Vor Beginn des Treibens um 10.30 Uhr darf schon geschossen werden – selbstverständlich erst, sobald man den Schützenstand erreicht hat. Die Signalkleidung ist während der Jagdzeit am Körper zu tragen. In die Richtung, die mit einem auf Bäume gesprühten X oder einem Ausrufezeichen gekennzeichnet ist, darf nicht geschossen werden. ›Sie gefährden sonst Ihren direkten Nachbarn.‹ Gejagt wird ausschließlich auf Schalenwild. Natürlich soll immer auch mit Pilzsucherinnen und Pilzsuchern, sowie mit Naherholungssuchenden gerechnet werden. Gejagt wird nach der Uhrzeit von 10.30 Uhr bis 13.00 Uhr. Im Verlauf des Tages werden an die 200 Schüsse fallen. Der Jagdleiter spricht am Ende des Tages auch davon, dass es vermehrt Anrufe aus der Bevölkerung gegeben habe, was denn diese ganze Schießerei solle. Auch Jägerinnen und Jäger aus einem Nachbarrevier kommentieren die zahlreichen Schüsse kritisch, erfahre ich später. Die anderen Treiberinnen und Treiber sehen genau wie ich viel Wild an diesem Tag. Schon als wir aus dem Auto steigen, quert eine Rotte Sauen den Weg vor uns. In einer Buchenverjüngung durchbricht ein Alttier [erwachsenes weibliches Rotwild] unsere Treiberkette. Gegen Ende des Treibens, es ist Mittag geworden und wir gehen langsam durch einen Fichtenwald, sehen wir ein Rudel Rotwild in einem großen Kreis um uns herumwandern – nicht panisch, eher bedacht. An einige Stellen finden wir Pirschzeichen wie Losung und Fährten, die uns wissen lassen, dass hier sehr viel Wild in den Dickungen steckt. Und immer wieder fallen Schüsse. Mal näher, mal ferner. Beim Wildbergen geht es darum, alles erlegte Wild möglichst schnell in die Kühlkammer am Forsthaus zu bringen. Die Schützenstände werden der Reihe nach angefahren. Alle Treiberinnen und Treiber aus unserer fünfköpfigen Gruppe helfen mit: Ein totes Tier nach dem anderen wird auf den Frontlader des Bergegefährts, einem Unimog, gehievt. Ich stehe dabei und notiere die Nummer der Ohrmarken, welche die Tiere bekommen, sowie Gattung und Geschlecht in eine Tabelle, die schließlich zur Kontrolle und für die Statistik gebraucht wird. Wir bergen elf Stück Wild. Am Sammelplatz kommen auch die anderen der elf Gruppen zurück. Mit ähnlichen Anzahlen an totem Wild. ›Schlachtfest.‹, kommentiert jemand aus unserer Gruppe trocken. Schnell ist die Wildkammer voll und im Hof vor dem Forsthaus werden die Tiere aufgereiht, die noch in der Wildkammer aufgebrochen werden müssen. Es werden immer mehr und die Männer in der Wildkammer kommen mit dem Aufbrechen kaum hinterher. Die aufgebrochenen Tiere werden auf der Wiese aufgereiht. Langsam wird es dunkel. Als es schon vollkommen dunkel ist und der blutgetränkte Hof nur noch von der Hoflampe und dem grellen Licht von Scheinwerfern erleuchtet wird, versammeln die Jagdleiter die Jagdgesellschaft um die Strecke mit dem toten Wild. Es liegen nicht alle Stücke, die meisten hängen in der Wildkammer. Eine exemplarische Strecke wird mit

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den entsprechenden Jagdhornsignalen verblasen. Am Ende wurden 136 Stücke Wild erlegt. Weit über siebzig Stück Rotwild, ›was etwa zwanzig Prozent unseres Abschussbestandes ist. Meine Damen und Herren, liebe Jagdgäste, ich kann nicht sagen, dass ich unzufrieden bin.‹, sagt einer der Jagdleiter.

Um der Idee von ›unberührter Natur‹ zu entsprechen, findet die Jagd im Nationalpark räumlich und zeitlich sehr eingeschränkt statt. Gejagt wird nicht im ganzen Nationalpark zugleich, sondern nur in bestimmten Bezirken und nur für wenige Stunden. So sollen die jagdlichen Ansprüche an diese Landschaft, welche dominiert wird von einer ideellen Konzeptualisierung, die den menschlichen Eingriff als Störung versteht, minimiert werden. Eine Jagd, auf der über einhundert Tiere erlegt werden, würde also aus dieser Perspektive einen massiven menschlichen Eingriff in diese Landschaft darstellen. Als Erfolg wird die Jagd aber gewertet, weil sie die langfristige, materielle Umformung der Landschaft in eine ›wilde‹ Landschaft unterstützt. Nur für diesen Zweck wird gejagt. Die Nutzung der Landschaft für die Jagd ordnet sich hier also der dominanten Nutzung der Landschaft als Naturschutzfläche unter. Die Art, wie gejagt wird, ähnelt dabei ideell und strukturell sehr stark den Jagden, welche die Forstämter veranstalten.

Zusammenfassung: Das Jagdrevier als contested landscape Vieldeutig ist die Landschaft der Nordeifel, weil sich in ihr sehr unterschiedliche Ansprüche zugleich verwirklichen. Die Nordeifel als jagdliche Landschaft entspricht nur einer bestimmten Perspektive, ausgehend von der praktischen Jagdausübung. Diese wird in einer contested landscape immer schon durch andere Landnutzungspraktiken mitgeprägt und so wird auch das Jagdrevier materiell durch diese Ansprüche strukturiert. Wir dürfen also feststellen: »there is no absolute landscape« (Hirsch 1995: 23). Die Größe von landwirtschaftlichen Flächen und die Intensität der Bewirtschaftung, sowie der Stellenwert der Wälder als ökonomische Einnahmequelle, stellen Anforderungen an die Jagd. In einer Landschaft, die so stark von menschlichen Interessen geformt wurde, ist auch die Idee, »Wildnis« wieder erfahrbar zu machen, nicht ohne menschliche Einflussnahme möglich. Im Nationalpark ist die Jagd daher Teil der kontinuierlichen und langfristigen Formung der Nordeifeler Landschaft. Insofern die wild lebenden Tiere von diesen Veränderungen in der Landschaft betroffen sind und darauf antworten, ist sie immer schon eine humanimalisch konstituierte Landschaft. Für die jagdliche Landnutzung ist von besonderem Interesse, wie die jagdbaren Tiere auf Veränderungen in ihrem Habitat antworten, denn danach richtet sich die jagdliche Perspektive auf Landschaft. Die ethnografischen Beschreibungen einzelner Situationen zeigen, dass – obwohl

II Das Jagdrevier

die Landnutzungspraktiken zunächst miteinander vereinbar sind – Konfliktpotential vorhanden ist.

Die Wirkungsmacht der Landschaft Wie sich das Jagdrevier konstituiert, verweist aber auf viel mehr als nur auf die strukturierenden Kräfte konkurrierender Landnutzungspraktiken. Die Landschaft als lebendige Umwelt und als »weather-world« (Ingold 2011: 96) verfügt über eine Wirkungsmacht, die sich menschlicher Einflussnahme entzieht. So sehr menschliche Landnutzungspraktiken die materielle Struktur der Nordeifeler Landschaft geformt haben, so werden diese selbst von Kräften und Rhythmen jenseits menschlicher Handlungsmacht geformt. Der Wechsel von Tag und Nacht gibt vor, in welchem Rhythmus Menschen und Tiere leben – und damit, wann die Jägerinnen und Jäger auf die Jagd gehen. Die Jahreszeiten beeinflussen die Vegetation und den Jahreszyklus der Tiere – genauso, wie sie land- und forstwirtschaftliche Rhythmen vorgeben. An diese unveränderlichen Rhythmen passen Menschen und Tiere ihre Aktivitäten an (vgl. Ingold 1993: 163). Und auch diese Rhythmen hinterlassen ihre Spuren in der Landschaft. Die prozesshaften Veränderungen der Landschaft sind daher »neither purely natural nor are they purely man-made« (Bollig 2009: 17). Es wäre also analytisch irreführend, die jagdliche Landschaft der Nordeifel entweder als ›natürliche‹ oder als vom Menschen geschaffene Agrarlandschaft zu verstehen (vgl. Rössler 2009: 302). Jägerinnen und Jäger sind Teil dieser komplexen Situation, indem sie all diese Anforderungen in ihre jagdliche Landnutzung aufnehmen und beantworten müssen. Das jagdliche Engagement im Jagdrevier gleicht insofern dem steten Antwort-geben auf die Auf- und Anforderungen der Landschaft und der Tiere, die in ihr wohnen. Die lebendige Umwelt ist dabei für die Jagenden nicht Unter- und Hintergrund, sondern »a conversational partner« (Benediktsson/Lund 2010: 8). Um dieser Konversation weiter folgen zu können, wird nun das praktische Engagement der Jägerinnen und Jäger ins Zentrum gerückt, denn »[l]andscapes are experienced in practices« (Tilley 1994: 23). Die Wirkungsmacht der Landschaft erfahren sie, wann immer sie auf der Jagd sind. Sie entspricht nicht nur den materiellen landschaftlichen Gegebenheiten, sondern sie konstituiert sich auch durch Wind und Wetter, sowie jene lebensweltlichen Rhythmen.

Die Gegenständlichkeit der Landschaft: Das Jagdrevier als Wind-und-Wetter-Welt 02. Dezember 2016, Konzen: erfolglose Drückjagd am Brachkopf Es ist Anfang Dezember. Ein trüber Tag im Venn. Regen, Wolken und Nebel vermischen sich zu einem undurchdringlichen Grau, das über Allem liegt. Die Sicht ist schlecht – der Regen tut sein Übriges, um diese Jagd zu einem widrigen Unterfangen

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zu machen. Die kleine Drückjagd am Brachkopf ist schon lange im Voraus geplant gewesen. Das Revier um den Brachkopf liegt auf belgischer Seite und besteht aus Hochmoorlandschaft und Fichtenwald. Im Hof des Jagdhauses von einem der Pächter, welches am Rand des Reviers liegt, sammeln sich Menschen. Alle tragen irgendwo an ihrer Kleidung auffälliges Orange und alle haben versucht, sich möglichst wasserdicht anzuziehen. Gummistiefel, Regencapes, Regenjacken, Überziehhosen, Kapuzen… Jedes Mal, wenn ich als Treiberin in diesem Revier helfe, regnet es. Jedes Mal die Hoffnung bei allen, dass es vielleicht doch besser wird, dass das Wild vielleicht doch »auf die Läufe gebracht werden kann.« Die erfahrenen unter den Anwesenden wissen, dass sich auch die Tiere bei diesem klamm-kalten Wetter nicht gerne aus ihren schützenden Einständen aus dichtem Gewächs fortbewegen. Es regnet in Strömen, wir stehen im Venn. Hier stehend, ist das Jagdrevier nicht mehr übersichtlich – allen Karten zum Trotz, auf denen wir uns vorher angesehen haben, wo wir treiben werden und wo die Schützenstände sind. In einer lang gezogenen Reihe stellen wir uns entlang eines Waldweges auf. Auf das Kommando von Raimund, machen wir zeitgleich den ersten Schritt in die unebene, wild mit Büschen und Bäumen bewachsene Landschaft. Nach nur wenigen zurückgelegten Metern verliere ich meine Nachbarinnen und Nachbarn schnell aus den Augen. Wadenhohe Grasbüschel, dicht an dicht. Senken, Sumpflöcher, Bäche, Weidengebüsche – so groß, dass man nicht daran vorbeikommt. Nur durch – auf allen Vieren zur Not. Der Treiberstock, eine Verlängerung des Leibes. Ich taste mich vor, den Blick zum Boden. Nicht über Grasbüschel stolpern. Der Regen, der Nebel. Meine Nachbarinnen und Nachbarn flackern nur ab und zu als orange Punkte kurz auf, bevor die Landschaft sie schon wieder verschluckt hat. Bald bin ich nass. Vollkommen nass. Von außen der strömende Regen, von innen läuft mir Schweiß den Rücken hinab. Wir treiben »leise«. Ich höre nur ab und zu ein leises und verhalten gerufenes »Hopp!«. Öfter noch höre ich einen Stock, der gegen einen Baumstamm schlägt. Ein helles unnatürliches Geräusch, welches die Tiere, die hier leben, in Bewegung bringen soll – möglichst hin zu den Schützenständen. Auch wenn es so aussieht – wir sind nicht alleine in dieser stillen Regenlandschaft: Schmale Pfade ziehen sich durch das beige-braune Gras. Immer wieder treffe ich auf diese Wechsel. Ich folge ihnen, wenn die Richtung mit der unseres Treibens übereinstimmt. Auf ihnen lässt es sich gut gehen. Den Wechseln folgend, muss ich keine Sumpflöcher befürchten. Immer wieder Losung von Rotwild. Indem wir durch ihr Revier gehen, sollen wir Treiberinnen und Treiber die Tiere beunruhigen – sie aber nicht panisch machen, denn dann haben die Schützen kaum eine Chance einen sauberen Schuss abzugeben. Aber es bleibt still um uns. Nur der Regen und mein Atem. Kein Schuss fällt.

Nach dem Sumpf der Wald. Einer der Treiber ist schon vom anstrengenden Gehen durch das Moor erschöpft – er bleibt zurück, wir müssen öfters auf ihn warten. Durch den Fichtenhochwald lässt es sich dagegen gut gehen. Wir müssen nur ein

II Das Jagdrevier

Abbildung 3: Treiber auf Drückjagd im Venn

paar gut sichtbare Gräben und vermodernde Baumstämme überwinden. Kleine Äste knacken bei jedem Schritt unter unseren Füßen. Weiterhin das Tropfen des Regens, der auch im Wald unerbittlich weiter fällt. Bald treffe ich auf einen Jäger. Er sitzt in seinem Lodenmantel und unter einem Regencape auf einem Drückjagdbock. Das Gewehr ebenfalls unter dem Cape. Die Sicht für die Schützen ist hier ganz gut. Keine dichten Büsche auf Höhe des Wildes, nur schlanke Fichtenstämme. Relativ weit und tief können sie in den Wald sehen – aber im offenen Wald ist kein Tier. Die Tiere meiden die Offenheit dieser Landschaftsformation. Das weiß ich inzwischen aus Erfahrung. Und so ist es auch heute. Dafür treffen wir in einer Dickung aus jungen Fichten auf eine Rotte Wildschweine, aber sie lassen sich durch uns nicht aus der Dickung scheuchen. Mitten im Wald steht die Brachkopf-Hütte. Ein Bruchsteinhäuschen mit niedrigem Dach. Zwei dunkle, gemütliche Räume mit Tischen und Bänken. Feuer im Kamin, warmes Essen, heißer Kaffee, Süßigkeiten. Der Regen fällt weiter, die Wiese vor der Hütte ist aufgeweicht. Matsch überall. Still und dunkel hebt sich der aus Fichtenzweigen

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gelegte Rahmen auf der Wiese gegenüber ab. Hier hinein soll das erlegte Wild am Ende der Jagd gelegt werden, um ihm die letzte Ehre zu erweisen und die Schützen zu ehren. Ob dieser Ort heute noch genutzt würde? Fraglich. Kaum einer der Jagenden hatte Wild gesehen. Wir verbringen die Mittagsstunden unter schicksalsergebenem Gelächter in der Hütte. Kamin und Ofen heizen die Räume schnell auf. Jacken, Hosen, Handschuhe und Kappen hängen dicht am Ofen. Muffiger, nach Moor und Schweiß riechender Wasserdampf. Dann geht es ins Naturschutzgebiet. Entlang der Straße zwischen Lammersdorf und Fringshaus liegt es – wieder Moorlandschaft. Von der Straße aus schön anzusehen. Jetzt stehen wir mitten darin. Trügerisch kündigt das dunkelbraun gewordene Gras des Sommers festen Boden an und verbirgt kleine Tümpel. Die Geschichten, wie jemand darin stecken geblieben ist und von anderen hinausgezogen werden musste, werden immer wieder erzählt. Anekdoten. Man lacht darüber. Aber jetzt ist mir nicht zum Lachen zu Mute. Mein Blick sucht Heidelbeeren, denn die wachsen nur dort, wo der Boden fest ist. Wir gehen jetzt alle vollkommen still durch diese Regen- und Nebelwelt. Die Straße, ein fernes Rauschen. Ein Hirschrudel mit mindestens zwei starken Hirschen und etwa fünf Stück Kahlwild [weibliches Rotwild undifferenzierten Alters] wurde hier in den letzten Wochen beobachtet. Jetzt haben wir bis fast an Werners Pferdewiesen gedrückt. Nur noch ein Fichtenwald trennt uns von den Lammersdorfer Wiesen. Gesehen haben wir wieder nichts. Eine Diskussion darüber, ob man es riskiert, alles noch mal zurück zu drücken, entsteht. Der belgische Förster hat Einwände. Die Sorge, dass das Rotwild – falls wir ihm doch noch begegnen – auf die Straße läuft, ist nicht unberechtigt. Trotz der Einwände beschließen die Jagdaufseher und Pächter, dass man es versucht. Immer noch die Hoffnung, dass man den geforderten Abschusszahlen heute doch noch näherkommt. Aber wir sehen auch auf dem Rückweg kein einziges Tier. »Die haben sich bei dem Regen bestimmt in irgendwelche Dickungen eingeschoben – die bleiben da einfach liegen.« Immer wieder höre ich heute diese Erklärung. Der Jagdtag bleibt erfolglos.

Die Landschaft und der Anspruch der Pächter, die Abschussquoten in ihrem Revier zu erfüllen, machen die Drückjagd notwendig. Obwohl viele Jagende und Helfende an diesem Tag im Revier sind, bleibt der Jagdtag ohne Erfolg. Die Landschaft des Jagdreviers ist großflächig. Das Wetter veranlasst die gejagten Tiere sich in andere Teile des Reviers oder ganz aus dem Revier heraus zu bewegen. Obwohl schon am Morgen einige Personen vorhersagten, dass die Erfolgschancen bei diesem Regen nicht groß sind, bleibt den Pächtern unter diesen Umständen keine andere Wahl, um überhaupt ihre jagdlichen Ansprüche an diese Landschaft zu erfüllen. Analytisch ist hier die jagdliche Landschaft des Hohen Venns nicht von der Jagd-Praktik zu trennen. Um die Wirkungsmacht der Landschaft für die Jagd verständlich zu machen, ist das von Ingold (2000) vorgeschlagene dwelling-Konzept

II Das Jagdrevier

nützlich. Er schließt sich hier Heideggers Ideen zum Wohnen an (vgl. Ingold 2000: 186; Heidegger 2009: 146), denkt dieses Fundament jedoch weiter, indem er für die Erfahrung des In-der-Welt-Seins vor allem das praktische Engagement akzentuiert. Das In-der-Welt-Sein ist für Janowski und Ingold (2012) gleichzusetzen mit dem »existential involvement in the sensible world« (ebd.: 3), aus welchem sich das Wissen über diese Welt speist. Die dwelling-Perspektive berücksichtigt, dass sich Menschen und Tiere gleichermaßen ein praktisches Wissen von ihrer gemeinsamen Umwelt aneignen und umsetzen können. Während der Venn-Jagd ist das phänomenal erfahrbar geworden. Die Pächter des Reviers hätten theoretisch mehrere Möglichkeiten gehabt, das Wild, welches er laut Abschussplanung erlegen muss, zu jagen. Er tut dies nicht, indem er leise und heimlich mit geschulterter Waffe durch sein Revier pirscht. Auch setzt er sich nicht morgens oder abends auf einen Hochsitz, um das eventuelle Auftauchen des Wildes abzuwarten. Stattdessen führt er eine Drückjagd mit vielen Beteiligten durch. Dafür ist zum Einen das Ziel ausschlaggebend, an einem Tag möglichst viel Wild zu erlegen, um den Abschussplan zu erfüllen. Zum Anderen bietet sich die Drückjagd angesichts der unübersichtlichen Landschaft an, denn so kann mit der Hilfe von Treiberinnen und Treibern, sowie Schützinnen und Schützen an einem Tag eine möglichst große Fläche bejagt werden. Seine Kenntnis der Landschaft hat ihn diese Entscheidung fällen lassen. »Familiarity with the land, being able to read and decode its signs allows individuals to know ›how to go on‹ at a practical level« (Tilley 1994: 26). Dass und wie diese Drückjagd durchgeführt wird, entspricht den jagdlichen Erfahrungen der Verantwortlichen. Sie kennen die Landschaft aus früheren Jagden und wissen auch, wie sich das Wild bewegt. Während die Jagd aber nur an einigen Tagen im Jahr stattfindet, lebt das Wild ganzjährig im Hohen Venn. Es kennt die Landschaft und passt seine Bewegungen an diese Wind-und-Wetter-Welt an. Auch die jagdlichen Aktivitäten bleiben den Tieren nicht verborgen. Sie nehmen sie in ihre Kenntnis von der Landschaft auf und beantworten das Geschehen im Habitat damit, auszuweichen und andere Orte außerhalb des Reviers aufzusuchen. In der Mittagspause, sowie nach der Jagd, drehten sich viele Gespräche darum, die Erfolglosigkeit der Jagd zu erklären. Viele waren sich sicher, dass vor allem das vorsichtige Rotwild ›gewusst hat, was los ist‹ und sich daraufhin aus dem Revier herausbewegt hat. Jenseits des Jagdreviers herrscht eine strengere Schutzkategorie für die Landschaft. Bis vor wenigen Jahren war die Jagd dort grundsätzlich verboten, gegenwärtig dürfen dort nur die belgischen Forstbeamtinnen und -beamten jagen. Die Beteiligten dieser Jagd sind überzeugt davon, dass das Rotwild seinen Rückzugsort im Jagdrevier verlässt, sobald die Ruhe dort gestört wird. Dann zieht es dorthin, wo es gewohnt ist, ungestört zu sein. Auf anderen Jagden in diesem Revier wurde dieses Bewegungsmuster schon von den Jagenden beobachtet. Das Jagdrevier ist sehr weitläufig und die Landschaft für Menschen schwer zugänglich – weshalb es für das gejagte Wild überhaupt als Lebensraum in Frage kommt.

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Gleichzeitig macht dieser Umstand es schwer, die Tiere innerhalb der Grenzen des Jagdreviers zu halten. Im Laufe ihres Lebens lernen einige Tiere, dass ihnen die jagenden Menschen nicht an bestimmte Orte folgen. Dass dieses Wissen über die jagdliche Landschaft von diesen erfahrenen Tieren an ihre Nachkommen weitergegeben wird, steht für die meisten Mitglieder dieser Venn-Jagden außer Frage. Zusätzlich wird die jagdliche Landschaft durch das Wetter geprägt. Neben Rotwild zielte diese Jagd auf Reh- und Schwarzwild ab, aber auch wenn diese Tiere weniger dazu neigen, weit weg zu fliehen, war es für uns nicht möglich, sie auf die Läufe zu bekommen. Die Rotte Schwarzwild in der Fichtendickung bleib unsere einzige Begegnung mit Wild. Bei Regen und nasskaltem Wetter – so habe ich es auch auf anderen Jagden im Forstamt Hürtgenwald und im Nationalpark erlebt – ist deutlich weniger Wild zu sehen, als an sonnigen oder frostklaren Tagen. Die Jägerinnen und Jäger, mit denen ich bei Wind und Regen auf Drückjagden war, bestätigten mir das. Ob Wetter als gut oder schlecht bewertet wird, hängt jedoch von den Jagdpraktiken ab. Um vom Hochsitz aus an einer Wiese auf Wildschwein-Jagd zu gehen, ist nasses Regenwetter ideal: Sauwetter, so sagt eine viel zitierte JagdWeisheit, ist Sau-Wetter. Daher setzen sich viele Jägerinnen und Jäger bei Regen gezielt auf Wildschweine an. Auch bezüglich der Brunft von Reh- und Rotwild im Hochsommer und im frühen Herbst haben die Jagenden ein auf das Wetter bezogenes Wissen, ebenso wie über den Wind. Ist der Wind besonders stark, so kann er das jagdliche Engagement sogar völlig behindern. »Wenn der Wind jagt, muss der Mensch nicht jagen.« Auch im Jagdkurs lernten wir diesen Merksatz mit der Erklärung, dass die meisten Tiere sich auf ihr gutes Gehör verlassen, um Gefahren frühzeitig zu erkennen. Starker Wind irritiere die Tiere, so dass sie lieber an geschützten Orten bleiben. Dann lohne sich weder der Ansitz auf dem Hochsitz, noch die Drückjagd. In den Erklärungsversuchen, warum eine Jagd nicht den erhofften Erfolg gebracht hat, spielt daher auch die Landschaft als »weather-world« eine große Rolle. Bei einer solchen Bewegungsjagd wie am Brachkopf beginnt die Konversation mit der Landschaft schon bei der Planung. Ich unterhalte mich mit Raimund, der den Ablauf der Jagd geplant hat und frage ihn, worauf man dabei achten muss. »Na ja«, antwortet er: »Ich will mal sagen, dass vieles ja schon von der Geografie vorgegeben ist, ne? Also, wir haben den Hang hier und auch die Wege gibt es ja. Und dann gibt es die Dickungen – da macht es natürlich Sinn, durch zugehen. Andere Gebiete sind dann eher uninteressant, weil da eh kein Wild ist.« Die landschaftlichen Gegebenheiten sind den Jägerinnen und Jägern bekannt durch ihre Erfahrungen in dieser Landschaft, aber sie lassen sich nicht disziplinieren (Benediktsson/Lund 2010: 6). Auch wenn sich der Ablauf einer Jagd auf der Revierkarte sehr konkret planen lässt, so bleibt dennoch unberechenbar und unsicher, ob und wie dieser Plan umgesetzt werden kann. Darauf hat das Zusammenspiel von Jagenden und Gejagten mit den landschaftlichen Gegebenheiten und dem Wetter

II Das Jagdrevier

Einfluss. Nicht nur das Wetter und Moorlandschaften stellen resistances einer jagdlichen Landschaft dar, sondern auch dichter Wald, tiefe Täler und schroffe, felsige Abhänge, wie es sie in anderen Revieren gibt. Die Treiberinnen und Treiber kommen nur langsam weiter und solches Gelände hindert die Schützinnen und Schützen daran, die Landschaft von ihrem Stand aus visuell auf die Bewegungen der Tiere zu durchdringen. So zeigt sich die Landschaft auch als unnachgiebiger Konversationspartner: »[C]onversations do not always flow smoothly and the perceptual touching between humans and landscape is not necessarily comfortable« (Benediktsson/Lund 2010: 7). Hinzu kommen das Wetter und der unabänderliche Rhythmus der Jahreszeiten: Sie verändern die Landschaft ebenfalls und haben Einfluss darauf, wohin sich die gejagten Tiere zurückziehen. Von November bis Januar – die Zeit der großen Bewegungsjagden – sind die Tage besonders kurz. Morgens um acht Uhr ist es noch nicht ganz hell und spätestens um halb vier am Nachmittag wurden die Jagden beendet, da sonst die Dunkelheit die Landschaft noch widerständiger machen würde.

Humanimalische Infrastruktur Um eine Landschaft jagdlich nutzen zu können, verfügen Jägerinnen und Jäger über spezielle Infrastruktur. Die Hinwendung zur Infrastruktur zeigt, dass die Jagdreviere nicht willkürlich eingerichtet sind, sondern immer im Bezug auf die humanimalisch konstituierte Landschaft. Unter jagdlicher Infrastruktur verstehe ich von Jägerinnen und Jägern konstruierte, materielle Veränderungen der Landschaft, die zum Ziel haben, die Nutzung der jagdlichen Landschaft des Reviers zu verbessern. Jagdliche Infrastruktur tritt daher phänomenal in Erscheinung im Modus des Zuhanden-Seins (vgl. Heidegger 2001: 68, 71). Sie ist die materielle Manifestation des Beziehungsdreiecks zwischen Jagenden, Gejagten und der Landschaft. Ziel der jagdlichen Infrastruktur ist es, diese Beziehung zugunsten der Jagenden zu stabilisieren, sie zu erweitern und zu reproduzieren (vgl. Harvey/Knox 2015: 4). Es sind Einrichtungen und Zuwege, die im engeren und weiteren Sinne für jagdliche Aktivitäten errichtet wurden und die über eine Wirkungsmacht, eine »material agency« (ebd.) verfügen. In jenen Revieren, in denen ich unterwegs war, bestand die jagdliche Infrastruktur aus Hochsitzen ebenso wie Pirschwegen, die zu den Hochsitzen führten. Diese Einrichtungen leiten und kanalisieren die Bewegungen der Jägerinnen und Jäger im Jagdrevier. Jagdhütten sind ebenfalls strukturell wichtige Orte. Hier versammeln sich die Jägerinnen und Jäger eines Reviers oft vor und nach der Jagd. Außerdem gibt es hier oftmals Plätze, von denen aus die Jagenden Zugriff auf Leitungswasser und Elektrizität haben und die daher gut geeignet sind, um erlegte Tiere aufzubrechen. Des Weiteren fielen unter die jagdliche Infrastruktur Veränderungen der Landschaft, die der Habitatsverbesserung der gejagten Tiere dienen.

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Ziel ist es, die Tiere langfristig an das Jagdrevier zu binden. In den Jagdrevieren, in denen ich die Jägerinnen und Jäger begleitet habe, waren das vor allem Wiesen, die in nahrungsärmeren Fichtenwäldern angelegt wurden oder Wildäcker, welche die Flora der Wiesenlandschaft ergänzten. Sie dienen der Verbesserung des Nahrungsangebotes für die Wildtiere. Ebenso gehören Fütterungseinrichtungen für Notzeiten, Lockfütterungen und künstlich angelegte Mahlbäume [mit Buchenteer bestrichene Baumstämme, an denen die Wildschweine sich gerne reiben], Luderplätze [Orte, wo Aas oder die unverwertbaren Reste aufgebrochener Tiere für Füchse abgelegt werden] und Salzlecksteine zu der jagdlichen Infrastruktur, durch welche die Jagenden die jagdliche Landschaft ihres Reviers prägten. Die genannten Einrichtungen decken nicht alles ab, was an jagdlicher Infrastruktur möglich ist. Abhängig von der Landschaft und den Jagdarten sind weitere vielfältige infrastrukturelle Veränderungen möglich. Um zu zeigen, wie sich die Landschaft eines Jagdreviers als humanimalisch konstituiert eröffnet, ist eine phänomenologische Beschreibung einzelner Einrichtungen jedoch sinnvoller als ein vollständiger Überblick über alle möglichen infrastrukturellen Einrichtungen. Ihre materielle Wirkung entfalten solche Einrichtungen nicht aus sich heraus, sondern sie entfalten sie nur in Korrelation mit der Landschaft des Jagdreviers. Sie müssen sich in die humanimalisch konstituierte Landschaft integrieren. Maßgeblich dafür, wo jagdliche Infrastruktur entsteht, ist, wie die Landschaft für die gejagten Tiere bedeutsam wird. Welche Wege nehmen sie? Wo suchen sie Schutz? Wo finden sie Futter? Sind sie ganzjährig im Revier oder verlassen sie es von Zeit zu Zeit? Fährten, Spuren, Federn, Ausscheidungen, abgeworfene Geweih- und Gehörnstangen, aber auch die jeweiligen Rufe der Tiere zeigen Jägerinnen und Jägern die Anwesenheit bestimmter Tiere im Revier an (vgl. Lye 2016). Markierungen, wie Wildwechsel, aufgewühlte Wiesen und zertretene Felder, Schäden an der Baumrinde oder die Eingänge zu Erdbauten deuten an, wo sich die Tiere im Jagdrevier aufhalten. Von einigen Jägerinnen und Jägern erfuhr ich, dass man am Geruch erkennt, ob Wildschweine gerade in der Nähe sind. Auch im Jagdkurs lernen wir das. Tatsächlich nahm ich diesen »Maggi«-ähnlichen Geruch häufiger wahr, wenn ich als Treiberin durch die Wälder gegangen bin. Diese Beispiele zeigen, dass die Präsenz der Tiere im Revier für geübte Jägerinnen und Jäger wahrnehmbar ist, denn »[i]t is not possible to go anywhere without leaving some kind of mark in the course of movement« (Lye 2016: 233). Obwohl sie in der Regel keine bewusste Markierung der Landschaft darstellen (vgl. ebd.: 251) – meistens ist es nicht die Intention der Tiere, an dieser Stelle die Landschaft zu markieren –, sind diese, »Pirschzeichen« genannten Markierungen für die Jagenden sehr wichtig. Wie sie ihre Jagdreviere infrastrukturell einrichten, wird vom »course of movement« der gejagten Tiere vorgegeben. Die Pirschzeichen geben Auskunft über die Lebensgewohnheiten des gejagten Wildes. So ist an ihrem Wegenetz, den Schlammbädern, den Wildschäden und ihren Ruheplätzen erkennbar, wo sich die Tiere aufhalten und dass auch sie

II Das Jagdrevier

über eine Infrastruktur verfügen. Je erfahrener Jägerinnen und Jäger sind, desto eher sind sie in der Lage, die jagdliche Infrastruktur erfolgreich in ihr Revier zu integrieren: »the experienced hunter is a knowledgeable hunter« (Ingold 1993: 153). Diese Integration gelingt, wenn jagdliche und tierische Infrastruktur miteinander korrespondieren.

Hochsitze und Kirrungen: Jagdliche Infrastruktur als zentraler Ort in der humanimalisch konstituierten Landschaft Hochsitze Hochsitze sind ein bedeutender Teil dieser jagdlichen Infrastruktur. Sie erlauben es den Menschen, von einer erhöhten Position aus zu jagen. Hochsitze sind Konstruktionen, auf denen die Jagenden sitzend oder stehend auf Wild warten. Es gibt verschiedene Arten von Hochsitzen, die aus Holz oder Metall gefertigt werden: Es können einfache Leitern sein, die an Baumstämmen befestigt sind. Solche Leitern verfügen nur über eine Sitzfläche, eine Rückenlehne und ein Geländer, welches auch zur Gewehrauflage bei der Schussabgabe dienen kann. Die Jägerinnen und Jäger sind Sonne, Wind und Niederschlag auf solchen Leitern ungeschützt ausgesetzt. Andere Hochsitze sind eher kleine Plateaus aus Holz mit halb hohen Wänden und einer Sitzbank. Oft haben sie auch ein Dach, welches vor Regen und Sonne schützt. Kanzeln sind dagegen kleine Kammern, innen oft mit Styropor oder Teppich ausgekleidet. Durch eine Tür gelangt man ins Innere. Darin befindet sich ein Sitzplatz und durch Fenster lässt sich die Landschaft beobachten. Kanzeln bieten den größten Schutz vor Witterung, schränken jedoch das Wahrnehmungsfeld der Jägerinnen und Jäger deutlich mehr ein, als offenere Konstruktionen. Die jeweilige Konstruktion hat also einen großen Einfluss auf die Jagd als leibliche Praxis. Alle Hochsitze haben in der Regel gemeinsam, dass sie den Jagenden eine erhöhte Position in der Landschaft ermöglichen – etwa zwei bis drei Meter vom Boden entfernt. Ausnahmen sind ebenerdige Kanzeln. Sie werden dort aufgestellt, wo eine erhöhte Position aufgrund der Topografie nicht notwendig ist. Der Hochsitz dient aber nicht nur der besseren Übersicht, sondern er ermöglicht auch eine sichere Schussabgabe. Vom Hochsitz aus können Jägerinnen und Jäger auch in relativ ebenem Gelände von oben nach unten schießen. Falls ein Schuss sein Ziel verfehlt, versinkt die Kugel im Boden. In einer Landschaft, in der neben den Jagenden auch andere Menschen ihren Aktivitäten nachgehen, dient die jagdliche Infrastruktur auch dazu, Sicherheit zu gewährleisten. Wie und wo Hochsitze aufgestellt werden, ist zwar im Wesentlichen abhängig davon, wo Wild vorkommt. Jedoch müssen Jägerinnen und Jäger auch andere Einschränkungen berücksichtigen. So müssen Hochsitze rechtlich vorgegebene Mindestabstände zur Reviergrenze, zu bewohntem Gebiet und zu Fütterungen aufweisen. Sind diese Vorgaben erfüllt, können die Jagenden Orte suchen, an denen ihre jagdliche Infrastruktur sinnvoll ist.

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Abbildung 4: Eine Kanzel

02. Juli 2017, Gut Schwarzenbruch: Errichten einer Kanzel Revierarbeiten an einem kühlen, regnerischen Julitag: Eine Leiter soll aufgestellt und eine Kanzel umgestellt werden. Wir fahren in ein kleines Wäldchen, welches an ein Feld mit reifendem Mais grenzt. Dort will Richard, der Pächter, die Leiter an einen Schwarzwildwechsel setzen. Zunächst wird eine Stelle ausgesucht. Er und seine Helfer gehen diskutierend im Wäldchen umher und überlegen, wo der beste Platz für die Leiter ist. Georg und ich hören zu. Wir sind nur zum Helfen hergekommen und kennen uns in diesem Revier noch nicht gut aus. Die Wechsel des Schwarzwildes verlaufen aber auch für uns gut sichtbar durch die hohen Brennnesseln, durch die wir gehen. Um eine Birke halten sich die Tiere besonders gerne auf – um sie herum ist kein Bewuchs mehr, nur noch blanke Erde. Die Birke ist ihr Mahlbaum, an dem sie sich gerne kratzen. Die schuppige Rinde ist von dieser Aktivität schon weich, abgerundet und erdfarben. Richard wird sie später mit Buchenteer bedecken. Die klebrigzähe, schwarze Masse hat einen strengen Brandgeruch. Wir Menschen empfinden diesen einstimmig als unangenehm, für die Wildschweine ist es ein Lockmittel. Die Hauptwindrichtung muss beachtet werden, denn der Wind muss von vorne kommen.

II Das Jagdrevier

Sonst hat herankommendes Wild sofort Witterung von den auf der Leiter sitzenden Menschen. Ebenso spielt der Bewuchs der umstehenden Bäume eine Rolle. Der sollte nicht zu dicht sein, damit ein gut einsehbares Schussfeld entsteht. Ein Baum kommt der idealen Stelle am nächsten und an seinem Stamm wird die Leiter befestigt. Auch die Kanzel soll in jenes kleine Wäldchen versetzt werden. Hinter dem Wald verläuft die Autobahn. Von der Autobahn-Böschung beginnend, zieht sich das kleine Wäldchen hin zu einem Maisfeld. Eine alte Rückegasse führt geradewegs von oben hinab zum Maisfeld – gerne als Direktweg von den Wildschweinen angenommen, wie wir an den Fährten im nassen Boden erkennen können. Der Betrag für den Wildschaden im Maisfeld war im letzten Jahr sehr hoch, erzählt der Pächter. »Deswegen bauen wir jetzt die Kanzel und die Leiter hier hin.« Der Standort der Kanzel ist ebenso diskussionswürdig. Er wird zunächst wieder durch den Wechsel und die Hauptwindrichtung vorgegeben. Ebenso wichtig sind aber auch Aspekte wie der Reitweg, der zwischen Wäldchen und Maisfeld verläuft und von Reiterinnen und Reitern, sowie Spaziergängerinnen und Spaziergängern häufig genutzt wird. Diese dürfen durch Schüsse nicht gefährdet werden. Ebenso wenig die Verdichtungsanlage, die kaum einhundert Meter weit von Wildwechsel entfernt ist und aufgrund der Hauptwindrichtung in Schussrichtung liegt. Auch muss eine Mindestdistanz zwischen Kanzel und Wechsel für einen sauberen Schuss erhalten bleiben. (»Wenn wir die [Kanzel] nach da oben stellen, kommen die [Wildschweine] alle spitz. Da musst du ja schon zwischen die Lauscher [Ohren] halten!«) Aber auch die bevorstehende Teilrodung des Wäldchens für eine neue Gastrasse hin zur Verdichtungsanlage beeinflusst die Diskussion der Männer. Am Ende fällt die Entscheidung auf eine Stelle, die der beste Kompromiss all dieser Faktoren ist. Das Revier von Richard liegt nicht in der Nordeifel, sondern im Aachener Land, weiter nördlich. Eine Autobahn, wie es sie in diesem Revier gibt, gibt es in den Revieren der Nordeifel nirgendwo. Jedoch stellen auch Bundes- und Landstraßen Jägerinnen und Jäger vor die gleiche Problematik, weshalb dieses Beispiel auch auf die Nordeifeler Reviere anzuwenden ist. Es zeigt, wie jagdliche Infrastruktur durch die Landschaft des Jagdreviers bedingt wird. Das Maisfeld hat als Futterquelle Aufforderungscharakter für die Wildschweine. Dieser Aufforderung folgen die Tiere regelmäßig, wie an ihren Wechseln auf dem Waldboden und den Fährten auf dem Reitweg zu erkennen ist. Sie führen von den Ruheorten der Tiere in der Autobahnböschung auf direktem Wege zum Maisfeld. Dabei integrieren die Wildschweine auch die menschliche Infrastruktur (die ehemalige Rückegasse und den Reitweg) in ihr Bewegungsmuster. Diese humanimalische Infrastruktur greift der Pächter auf. Das Maisfeld stellt für ihn einen Ort des Konflikts dar und der Wechsel der Wildschweine auf der gut einsehbaren Rückegasse eine landschaftliche affordance für seinen Hochsitz. Die Nähe zur Autobahn und zur Verdichterstation stellt dagegen eine landschaftliche resistance dar – ebenso, wie der Reitweg. Die

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jagdliche Bedeutung dieses Wäldchens konstituiert sich durch die wechselseitige Bezugnahme von Jagenden und Wildschweinen. Kirrungen Kirrungen, Lockfütterungen für Wildschweine, sind ebenfalls ein gutes Beispiel dafür, wie Orte wechselseitig für Jagende und gejagte Tiere bedeutsam werden. Jägerinnen und Jäger legen diese Lockfütterungen an, um die Wildschweine vor ihre Hochsitze zu locken – eine Maßnahme, die gesetzlich streng geregelt ist und ausschließlich für Schwarzwild erlaubt ist. Dessen Bejagung im Wald gilt aufgrund der Nachtaktivität und des unsteten Lebenswandels der Tiere als besonders schwierig. Vor allem im Wald finden die Tiere wegen ihrer relativ geringen Körpergröße im Farn und im Unterholz auch bei Mondlicht noch gute Deckung. Die Kirrungen sind ein Hilfsmittel, die Tiere aus den Dickungen des Waldes vor den Hochsitz zu locken. Dazu müssen Jägerinnen und Jäger sie jedoch an Orten anlegen, welche den Wildschweinen zusagen und ein gutes Sichtfeld sowie ein sicheres Schussfeld bieten. 24. September 2015, Lammersdorfer Wald: Die Kirrung Ein Septembervormittag. Es ist kühl, am Morgen hat es noch geregnet. Ich steige mit Hermann aus seinem Lada – wir sind mitten im Revier, mitten in einem Fichtenwald. Ein paar Meter vom Wegesrand entfernt, hebt sich dunkelbraun eine Kanzel gegen den milchigen Himmel. Hermann will die Kirrung, die in Schussweite vom Hochsitz entfernt liegt, mit Mais auffüllen. Wir stehen noch beim Hochsitz, da erkennt er schon, dass es sich lohnt zur Kirrung zu gehen: »Die sind da gewesen. Das sehe ich, wenn der Ast davon ist.« Ich bin zum ersten Mal dabei und habe noch nie eine Kirrung gesehen. Sehe auch keinen Ast von hier aus – jedenfalls keinen speziellen. Stattdessen sehe ich den Wald. Hier vorne ist er noch licht, später werden die Fichten dichter. Am Boden ein Wirrwarr aus sehr vielen Ästen. Es wachsen hier auch Binsen, denn der Boden ist etwas sumpfig. Ich folge Hermann, der einen kleinen Plastikeimer mit zur Kirrung nimmt. In dem Plastikeimer befindet sich der Mais. Nach etwa fünfzig Metern stehen wir an der Kirrung. Sie besteht aus drei kleinen, im Erdboden ausgehöhlten Mulden, in die Hermann jeweils eine gute Handvoll Mais hinein gibt. Um die Mulden ist der Boden platt getreten. Gräulicher Schlamm klebt an den noch stehenden Binsen am Rande des Schauplatzes. In den weichen, noch nassen Erdboden haben sich die Trittsiegel der Wildschweine eingeprägt. Kein Zweifel, um die Kirrung herum hat große Aktivität stattgefunden. »Einen halben Liter Mais pro Kirrung dürfen wir. Mehr nicht.«, erklärt Hermann. Nachdem er den Mais in die Mulden gefüllt hat, legt er einen mittelgroßen, relativ schweren Stein darauf. Der Stein hatte ein gutes Stück von der Mulde entfernt gelegen. Ich hatte ihn nicht bewusst wahrgenommen, bevor Hermann sich ihm zugewandt hatte. Er muss die Kirrung für andere Tiere unzugänglich machen – auch das ist eine gesetzliche Vorgabe. Im Gegensatz zu Rot- und Rehwild

II Das Jagdrevier

schaffen Wildschweine es, diesen Stein vom Mais wegzurollen. Auf den Stein legt er wiederum die wenige Zentimeter dicke Scheibe eines schmalen Fichtenstammes. Dagegen lehnt er noch einen kräftigen, kurzen Ast. Beides hatte ebenfalls neben der Kirrung gelegen. Diesen Ast hatte Hermann gemeint, als er gesehen hatte, »dass der Ast davon ist.« Wäre die Kirrung von den Wildschweinen verschmäht geblieben, hätte er den Ast schon vom Wegesrand aus aufrecht gegen die Konstruktion gelehnt stehen sehen. »Wundert mich eigentlich, dass die da waren. Ich habe hier erst von zwei Wochen eines erlegt. Dann kommen die manchmal wochenlang gar nicht mehr.«, sagt Hermann noch, als wir zum Auto zurück gehen.

Abbildung 5: Eine Kirrung

Im Vordergrund: Die leere Kirrung. Im Hintergrund: Die Kanzel in Schussweite. Die Kirrung ist ein Ort im Revier, an dem sich die humanimalisch konstituierte Landschaft des Jagdreviers zentriert. Die Kirrung von Hermann liegt in Schussweite vor dem Hochsitz. Der Hochsitz ist so ausgerichtet, dass der Blick der darin sitzenden Jägerinnen und Jäger aus dem Fenster genau auf die Kirrung und das Gelände dahinter fällt. Ihre leibliche Wahrnehmung wird auf diese Weise auf diesen Ort gelenkt. Regelmäßig wird etwas Mais oder Getreide ausgelegt. Vor anderen

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Tieren durch den Stein geschützt, wird dieser Ort so für die Wildschweine zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Indem die Wildschweine die Kirrung aufsuchen, sie annehmen [akzeptieren], machen sie den Ort für die jagdliche Aktivität erst wirklich bedeutsam. Hermann hat an der Kirrung vor einigen Wochen ein Wildschwein erlegt. Daher ist der Ort für ihn mit der Erfahrung eines erfolgreichen Jagdabends verbunden – zugleich antizipiert er aber auch die Erfahrung der Wildschweine. Der Tod eines Rottenmitglieds lässt sie vorsichtig werden. Aus Erfahrung weiß Hermann, dass die Tiere eine unabsehbare Zeit lang wahrscheinlich nicht mehr herkommen, bis der Ort irgendwann wieder zum Zentrum ihrer Aufmerksamkeit wird. Phänomenologisch sind Ortschaft und Leiblichkeit unauflöslich miteinander verbunden. Dabei bedingen sich die Aktivitäten der Wildschweine und die der Jagenden vor Ort wechselseitig – eine humanimalische Landschaft konstituiert sich. Um den richtigen Ort für ihre jagdliche Infrastruktur zu finden, müssen die Jagenden über praktisches Wissen verfügen. Je mehr Erfahrungen sie in einem Jagdrevier sammeln, desto leichter fällt es ihnen, die richtigen Orte für ihre jagdliche Infrastruktur zu finden. Es sind Orte, an denen sich die Wege der Gejagten und der Jagenden kreuzen können und in deren materieller Ausformung die Möglichkeit der Jagdausübung innewohnt. Orte mit diesen Qualitäten verfügen über eine »›operative intentionality‹ that elicits and responds to the corporal intentionality of the perceiving subject. Thus place integrates with body as much as body with place« (Casey 1996: 22). Dabei ist das Jagdrevier jedoch kein ›leerer Raum‹, der erst eingerichtet wird, bevor in ihm gejagt wird. Am Beispiel der umgesetzten Kanzel zeigt sich, was auch für alle anderen Jagdreviere gilt, in denen ich unterwegs war: Es gibt eine Historie des Jagdreviers, die sich in der Infrastruktur spiegelt. Die Anordnung der Infrastruktur verweist auf die Vor-Pächterinnen und -pächter oder darauf, dass sich Landschaften in stetem Wandel befinden. Der Plan ein Stück Wald zu roden, der Bau von Windrädern, das Abernten eines Maisfeldes – all das verändert die Bedeutung von Orten und damit auch, ob sie infrastrukturell bedeutsam sind. Das Errichten jagdlicher Einrichtungen wird durch den Wandel der Landschaften bedingt. »Building, then, is a process that is continually going on, for as long as people dwell in an environment« (Ingold 2000: 188). Jagdliche Infrastruktur charakterisiert sich daher »as dynamic relational forms […] to highlight movement, contingency, process and conflict« (Harvey/Knox 2015: 4).

Exkurs: Ortsnamen im Jagdrevier Von der Bedeutung eines Ortes erzählen in besonderer Weise auch die Namen, die ihm gegeben werden. Während im Forstamt Hürtgenwald und im Nationalpark Hochsitze mit Nummern in die Revierkarten eingetragen werden, haben Ansitzeinrichtungen in privaten Jagdrevieren traditionell Namen, die auf eigentümliche Weise die Verbindung der Jägerinnen und Jäger mit der Landschaft ihres Jagdreviers

II Das Jagdrevier

charakterisieren: Im Falle von Richards Revier bekam die umgesetzte Kanzel den Namen »Verdichterstation« – darin enthalten ist schon der Hinweis auf ihre Verortung in der Landschaft. »Nebelkanzel«, »Brunftwiese« »Grenzacker«, »Trifftnix«, »Patricks Sitz«, »B 399« »Felsenkanzel«, »Paradies« oder »Alter Sportplatz« sind weitere Namen für Ansitzeinrichtungen in verschiedenen Revieren. Die Namensgebung verweist aber nicht nur auf die Verortung im Revier (»B 399«, »Grenzacker«), sondern sie kann auch auf humanimalische Geschehnisse (»Trifftnix«, »Brunftwiese«), Eigenheiten der Landschaft (»Nebelkanzel«, »Felsenkanzel«), vergangene Orte (»Alter Sportplatz«) oder ehemalige Mit-Jägerinnen und Mitjäger (»Patricks Sitz«) und subjektive Empfindungen (»Paradies«) aufmerksam machen. In den Namen, welche die Jagenden den Hochsitzen geben, zeigt sich ihre Intimität mit der Landschaft. »Only those familiar with the story and the place would draw meaning from the name and […] a sense of their own identity and belonging and attachment to this landscape« (Smith 2003: 80). Mit der Namensgebung markieren Jägerinnen und Jäger die Hochsitze als besondere Ortschaften. Diese strukturieren die jagdliche Landschaft, sowie die Jagd als humanimalische Praxis. Materiell zentrieren sie die leibliche Anwesenheit von Jagenden und Gejagten mit dem Ziel des erfolgreichen Schusses.

Konklusion: Die humanimalische Landschaftskonstitution und der Zyklus des Jagdjahres Konstitutiv für das Jagdrevier sind die landschaftlichen Gegebenheiten. Dazu gehören nicht bloß Landschaftsformationen, sondern auch die Ansprüche anderer Landnutzungspraktiken in einer contested landscape – besonders aber die Bedeutung der Landschaft für die gejagten Tiere. Das Jagdrevier versammelt all das in sich und ist in diesem Sinne eine humanimalisch konstituierte Landschaft. Jägerinnen und Jäger müssen ihr jagdliches Engagement an diese vielschichtige Landschaft anpassen – ihre Infrastruktur ist die Antwort auf diese Anforderung. Der Erfolg der Jagenden ist auch ein Indikator dafür, wie gut die Infrastruktur mit der Landschaft korrespondiert. Dabei gelingt es Jägerinnen und Jägern umso besser, sich ›wohnend in ihrem Jagdrevier einzurichten‹, je vertrauter sie mit der Landschaft sind. In den Jagdrevieren, in denen ich unterwegs war, waren es oft die Jagdaufseherinnen und Jagdaufseher, die über jenes praktische Wissen verfügten. In diesen Fällen lebten die Pächterinnen und Pächter selbst nicht in der Nordeifel und hatten oft eine lange Anfahrt von ihrem Wohnort ins Revier. Sie waren dann immer nur für einige Tage oder am Wochenende zum Jagen in ihren Revieren. Die Jagdaufseherinnen und Jagdaufseher sind meist diejenigen, die auch in der Nähe der Reviere wohnen und sich das ganze Jahr um das Jagdrevier kümmern. Sie sind nicht nur lokale Ansprechpartnerinnen und -partner, sondern erledigen die alltäglichen Arbeiten im Revier. Solche Arbeiten sind bspw. das Kirren, das Ausbessern und das

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Von Jagenden und Gejagten

Freischneiden von Hochsitzen, das Pflegen von Wildäckern, der Abtransport von auf den Straßen verunfallten Wildtieren und natürlich die Jagdausübung. Durch dieses alltägliche jagdliche Engagement in der Landschaft wächst das Wissen über deren – für die Jagd zentrale – humanimalische Konstitution. Die humanimalisch konstituierte Landschaft ist immer auch schon weatherworld. Wind und Wetter sind maßgeblich dafür, ob die Jagd erfolgreich werden wird. Die Jagenden verfügen daher über ein auf das Wetter bezogenes common knowledge. Solches common knowledge wurde auch im Jagdkurs vermittelt und erfährt so – abseits des naturwissenschaftlich-wildtierbiologischen Diskurses – eine Formalisierung und Reproduktion. In den entsprechenden Situationen berufen sich Jagende auf solches Wissen und richten ihre jagdliche Aktivität auch danach aus. Auch Wind und Wetter tragen daher zu der humanimalischen Konstitution von jagdlicher Landschaft bei. Die Jagd ist aber nicht nur dem Wetter unterworfen. Sie richtet sich auch nach bestimmten Zyklen. Die Mondphasen sind ein solcher Zyklus. Vor allem der Vollmond ist für die menschliche Jagd ein wichtiges Datum, denn um nachts jagen zu können, muss die Sicht trotz Dunkelheit gut sein. In Nordrhein-Westfalen ist die Jagd zur Nachtzeit gesetzlich stark eingeschränkt. Zusätzlich dürfen Jägerinnen und Jäger die Zielfernrohre ihrer Waffen nicht mit Nachtzieloptiken aufrüsten. Sie sind daher auf den Vollmond angewiesen. Neben den Mondphasen richtet sich die Jagd aber vor allem nach dem Reproduktionszyklus der gejagten Tiere. Elterntiere genießen nach deutschem Jagdrecht uneingeschränkten Schutz.9 Der Lebenszyklus der Tiere wird wiederum hauptsächlich von den Jahreszeiten bestimmt, so dass letztendlich auch die Jagd sich diesem jahreszeitlichen Zyklus anpasst. Daher gibt es in Deutschland bestimmte Daten, die einen neuen Abschnitt im Jagdjahr eröffnen. Am Beispiel der in der Eifel besonders häufig gejagten Tiere möchte ich diesen Jahreszyklus kurz nachzeichnen, denn auch er konstituiert das Jagdrevier als humanimalische Landschaft mit. Nachdem momentan Mitte Januar die Jagdzeit für fast alles Wild in Nordrhein-Westfalen endet, geht am ersten Mai ›der Bock auf.‹ Während Ricken noch geschont bleiben, bis sie ihre Kitze zur Welt gebracht haben und diese selbstständig sind, dürfen Jägerinnen und Jäger jetzt Rehböcke, aber auch einjährige Rehe bejagen. Sobald die Jungfüchse selbstständig sind, beginnt die Jagdzeit des Fuchses. Ab August darf Muffelwild gejagt werden und es finden

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So dürfen führende Bachen – also weibliche Wildschweine mit Frischlingen –, trotz der allgemeinen Aufhebung der Schonzeit für Schwarzwild seit Februar 2018, dennoch nicht gejagt werden. Ohne die Mutter ist das Überleben der Frischlinge sehr unwahrscheinlich. Da aber die jagdliche Gesetzgebung dem Grundsatz des Tierschutzes untersteht, muss den Frischlingen ein langsamer Tod durch Verhungern oder Erfrieren erspart bleiben. Im Gegensatz zum Muttertier dürfen die Frischlinge jedoch ganzjährig bejagt werden, um die Wildschweinpopulation auf tierschutzkonforme Weise zu reduzieren.

II Das Jagdrevier

die ersten Ansitze auf Rotwild statt, da die Kälber nun gesetzt sind. Führende Alttiere, also weibliches Rotwild mit Nachwuchs, ist davon ausgenommen. Ab September dürfen kommt das Rehwild hinzu. Im Herbst, um den Hubertustag am dritten November herum, beginnt vielerorts die Drückjagd-Saison. Jetzt erst können Bewegungsjagden stattfinden, denn nun dürfen alle Tiere, die in diese Jagdart involviert sind, gejagt werden. Um diese Zeit haben die Tiere auch schon Fettreserven für den Winter gespeichert, weshalb sich die Jagden auch wegen des Fleisches lohnen. Ab Mitte Januar endet die Zeit der Drückjagden und für fast alles Wild beginnt die Schonzeit. Bis Ende Februar finden noch Fuchsjagden statt. Der Pelz des Fuchses ist nun besonders dicht. Von März bis zum ersten Mai ruht die Jagd im Allgemeinen. Im frühen Frühjahr beginnt die Phase jagdlicher Inaktivität. Aber auch dann sind die Jägerinnen und Jäger in ihren Jagdrevieren unterwegs. Es ist die Zeit der Reparaturen nach dem Winter. Zum Aufgang der Bockjagd müssen Hochsitze geprüft, ausgebessert und eventuell neu ausgerichtet werden. Vielleicht haben sich landschaftliche Veränderungen ergeben, so dass neue Infrastruktur notwendig wird und alte entfernt werden kann. Im Frühjahr müssen die Wildäcker umgepflügt und neu eingesät werden. Das Jagdrevier als humanimalisch konstituierte Landschaft stellt sich für die Jagenden damit ganzjährig als taskscape dar, deren Ablauf durch bestimmte Zyklen vorgegeben wird (vgl. Ingold 1993: 160). Jägerinnen und Jäger binden diese Zyklen, wie auch die Wind-und-Wetter-Welt in ihre Aktivitäten ein. So müssen sie auch lernen, wie diese Wind-und-Wetter-Welt für die Tiere bedeutsam wird, die sie jagen wollen. Indem sich Jägerinnen und Jäger durch ihre jagdlichen Aktivitäten Kenntnisse über diese Landschaft aneignen, lernen sie sie als humanimalisch konstituiert kennen. Im Jagdkurs nach den Motiven, den Jagdschein zu machen, gefragt, antworteten sehr viele der Befragten, dass sie »mehr über die Zusammenhänge in der Natur lernen« wollen und dass sie gerne »draußen sind«. Indem die Jagd und das Jagdrevier so sehr von nicht-menschlicher Wirkungsmacht geprägt sind, erleben Jagenden dieses Draußen-Sein auf eine fundamentale Art.

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III Tiere Die gejagten Tiere

»Der Mensch kann nur in die Natur zurückkehren, wenn er das, was er noch vom Tiere hat, vorübergehend in sich wachruft. Und das kann er seinerseits nur erreichen, in dem er sich zu einem andern Tier in Beziehung setzt. Tier, reines Tier, ist aber nur das wilde, und die Beziehung zu ihm ist die Jagd.« (Ortega y Gasset 1985: 88) Nicht alle Tiere, die in der Nordeifel leben, werden bejagt. Tatsächlich sind es gemessen an der Vielzahl der Spezies, die dort beheimatet ist, nur wenige Tiere, die für menschliche Jägerinnen und Jäger zum Beutetier werden. In diesem Kapitel soll es nun um jene Tiere gehen, die zu den jagdbaren Arten gehören. Zu diesen Arten gehören bestimmte freilebende Tiere, die niemandem gehören. Ein Kriterium für die Jagdbarkeit von einem Tier ist also seine ›Herrenlosigkeit‹. Haus- und Hoftiere sind daher in der Regel von der Jagd ausgenommen. Ein Sonderfall stellt der Abschuss von Katzen und Hunden dar, auf den ich noch eingehen werde. Die Klassifizierung der Tiere sieht jedoch auch innerhalb der herrenlosen, frei lebenden Tiere eine weitere Unterscheidung vor, die sich auch rechtlich manifestiert. Von den herrenlosen, nicht geschützten Tieren sind wiederum nur einige wenige Spezies jagdlich interessant – während meiner Feldforschung beschränkte sich die Anzahl der jagdbaren Arten in Nordrhein-Westfalen auf 23, von denen nicht alle gleichermaßen für die Jagd in der Nordeifel bedeutsam waren. Die jagdbaren Arten sind eine historische Kategorie. In ihr sind traditionell Tiere zu finden, die entweder als essbar klassifiziert wurden, aufgrund ihrer Pelze und Felle interessant waren, oder als in irgendeiner Weise schädlich für menschliche Interessen eingestuft wurden. Im Laufe der Jahrhunderte fanden innerhalb dieser Kategorie Veränderungen statt. Einige Arten, wie Wolf, Luchs, Bär und Wisent waren zumindest zeitweise aus der wilden Fauna in Deutschland verschwunden, weil sie ausgestorben oder ausgerottet worden waren. Andere Arten wurden im Zuge des insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert an Einfluss gewinnenden Naturund Artenschutzes unter strengen Schutz gestellt und formal von der Jagd ausgenommen, wie bspw. Greife und Eulenvögel. Unter Schutz stehen ebenfalls jene

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Von Jagenden und Gejagten

ehemals jagdbaren Arten, wie Luchs und Wolf, die sich seit circa 20 Jahren wieder in Deutschland ansiedeln. Wurden diese Tiere bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als Nahrungskonkurrenten und als Gefahr für die bäuerlichen Viehbestände bis zur Ausrottung bejagt, sind sie zur Zeit noch streng geschützt. So fallen Wölfe noch unter die höchste Schutzkategorie, die Pflanzen und wilden Tieren zuteil werden kann – der Richtlinie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume, sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen der Europäischen Union (EU), kurz FaunaFlora-Habitat-Richtlinie.1 Umgekehrt erweiterte sich die Kategorie der jagdbaren Arten auch, weil Neozoen dazu kamen. Gegenwärtig sind dies in NRW vor allem Waschbären, Nutria, Nil- und Kanadagänse. All jene jagdbaren Tiere gehören also zu einer speziellen Kategorie von Tieren, deren Name gleichsam eines ihrer Attribute ist: Wild. Im Folgenden werde ich zunächst auf diese Kategorie eingehen und in einem zweiten Schritt analysieren, auf welche Weise, Jagende und Gejagten auf der Jagd füreinander bedeutsam werden. Die Phänomenalität dieses gegenseitigen Bedeutsam-Seins von Jagenden und Gejagten bezeichne ich als humanimalische Intersubjektivität. Die Gewissheit von Jagenden und Gejagten um die Anwesenheit der jeweilig anderen Partie ist der Grundzug der Jagd. Humanimalische Intersubjektivität wird vor allem in der praktischen Jagdausübung erfahrbar. Wie die gejagten Tiere für menschliche Jägerinnen und Jäger bedeutsam werden, hat jedoch auch philosophische und anthropologische Implikationen. Für die gegenwärtige Jagd in (post-)industriell geprägten Ländern gibt es nur wenige ethnografische Analysen (Howe 1981 [Großbritannien]; Dahles 1990 [Niederlande]; Franklin 1996 [Australien]; Dizard 2003 [USA]; McLeod 2004 [Neuseeland]; Marvin 2005 [Großbritannien]; Heinzer 2015 [Schweiz]; Gieser 2019 [Deutschland]). Historischen Arbeiten über die europäische Jagdtradition, thematisieren das Verhältnis von Jagenden und Gejagten vor allem aus der Perspektive der europäischen Philosophie- und Sozialgeschichte (Eckard 1976; Stahl 1979; Cartmill 1993; Theilemann 2004; Schriewer 2015). Wie für jede ethnografische Darstellung gilt auch für diese, dass die ihr zugehörige Ideengeschichte bedeutsam ist, will man das gegenwärtige Verhältnis von Jagenden und Gejagten angemessen verstehen. Jenseits dieses theoretischen Fundaments manifestiert sich die humanimalische Intersubjektivität jedoch vor allem im jagdlichen Engagement. Das 1

Wie veränderlich diese Kategorien sind, in die Menschen wilde Tiere einordnen, ist wohl am eindrücklichsten an der Diskussion um den Wolf erkennbar. Diese Debatte erstreckt sich von einer auf den Schutz der Tiere bedachten ›Willkommenskultur‹ (Die »Willkommen Wolf«Kampagne des Naturschutzbundes, vgl. nabu.de 2019, verleitet in diesem stark politisierten Diskurs geradezu zu dem Begriff ›Willkommenskultur‹) bis zur Forderung, den Wolf wieder dem Jagdgesetz zu unterstellen, wodurch er formal wieder zu den jagdbaren und nicht zu den streng geschützten Arten gehört (vgl. wildundhund.de 2016). Tatsächlich wäre das ausgesprochen wechselhafte Wolf-Mensch-Verhältnis in Deutschland eine eigne wissenschaftliche Arbeit wert und kann im Zuge dieser Ethnografie nur gestreift werden.

III Tiere

Verhältnis von Jagenden und Gejagten zueinander ist zunächst die Begegnung von jagender und gejagter Leiblichkeit. Die jagdliche Situation zwischen Tieren und Menschen ist komplex: Für die Nordeifel gilt, dass sie von menschlichen Vorstellungen über ›den Menschen‹ und ›das Tier‹ geformt ist und von historisch gewachsenen jagdlichen Werten und Idealen durchzogen ist, ebenso wie sie von gesellschaftlichen Strömungen beeinflusst wird. Betrachtet man diese Faktoren, so scheint es vor allem eine menschliche Definition zu sein, was Jagd ist und wie sie stattfindet. Sie lässt sich als Ritual verstehen und dient der gesellschaftlichen Machtdemonstration (Howe 1981; Cartmill 1993). Dahles (1990, 1993) erkennt in ihr ein Spiel, welches menschlichen Regeln folgt und dazu dient symbolisch soziale Beziehungen zu festigen. McLeod (2004) analysiert, dass die Jagd in Neuseeland große Bedeutung für die männlich-rurale Identität hat. Auch historische Arbeiten zur Jagd in Deutschland betonen den symbolischen Wert der Jagdausübung. Herrschende Eliten demonstrierten so langen ihren gesellschaftlichen Vorrang gegenüber anderen Gruppen (Eckhardt 1976; Hiller 2002; Teilemann 2004). Vor allem für frühe menschliche Gesellschaften wird der funktionale Aspekt der Jagd betont, indem sie als wichtiger Beitrag zum Lebensunterhalt herausgestellt wird (Barnhard 2004; Rösener 2004; Maylein 2010). Symbolismus und Funktionalismus sind in der Ethnologie gerne gewählte Konzepte um die Beziehung zwischen Menschen und anderen Tieren zu analysieren (vgl. Shanklin 1985; Kirksey/Helmreich 2010: 450). So treffend diese Argumentationen sein mögen, sie zeichnen dennoch ein unvollständiges Bild der Jagd der deutschen Gegenwart. Jagd als Beitrag zum Lebensunterhalt ist hier nicht notwendig. Der ökonomische Nutzen der Jagd hält sich in Grenzen, wie meine Gespräche mit Jägerinnen und Jägern deutlich zeigen. Alle bestätigen mir, dass die Jagd rein finanziell ein Verlustgeschäft ist. Pacht, Ausrüstung, Arbeitsaufwand – all dem steht der Erlös aus dem Verkauf von Wildfleisch oder der Felle verschwindend gering entgegen. Ein wirtschaftliches Interesse ist es also nicht, welches Menschen in der Nordeifel dazu bringt, sich als Jagende in Beziehung zu bestimmten Tieren zu setzen. Das Verhältnis von Jagenden und Gejagten symbolisch deuten zu wollen, macht die Jagd zur Metapher. Gerade die europäische Jagdtradition wird gerne metaphorisch gedeutet (Howe 1981, Dahles 1990, Theilemann 2004). Die Jagd steht dann für eine soziale Ordnung aus herrschender und beherrschter Gruppe, wobei die gejagten Tiere dabei symbolisch mit bestimmten Werten, wie Mut, Kraft oder List aufgeladen werden können (vgl. Dahles 1990: 214). Vor Dahles hat auch Howe (1981) die Tradition der englische Fuchsjagd in diesem Sinne analysiert: »hunters in many societies, both primitive and modern, implicitly identify themselves with at least some of the animals they pursue, and by killing them, they symbolically transfer certain of their qualities to themselves« (Howe 1981: 293). So zutreffend diese Analysen im Einzelnen auch sind, so unzureichend sind sie jedoch, um die Jagd im gegenwärtigen Deutschland in ihrer humanimalischen

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Von Jagenden und Gejagten

Qualität zu verstehen. Hierzu muss auch bedacht werden, dass ›Wild‹ eine historische Kategorie ist. In dieser Tatsache liegt begründet, warum Jägerinnen und Jäger auch gegenwärtig noch eine Vorliebe für bestimmte Tierarten und im speziellen für bestimmte Trophäen haben. Was jedoch den symbolischen Transfer bestimmter Wesenszüge, wie Mut, Stärke, Kraft oder Klugheit angeht, die laut Dahles und Howe vom erlegten Tier auf die Jägerin oder den Jäger übertragen werden, so ist dies als alleinige Erklärung für solche Vorlieben nicht ausreichend. Grundsätzlich, darauf weist Willerslev (2007) hin, besteht ein Problem, will man sich der Jagd als symbolischer Metapher annähern: »This is because the notion of metaphor supposes a prior distinction between a domain in which social relations are constitutive and literal (the social world of humans) and another in which they are representational (the natural world of animals).« (ebd.: 18) Eine solche Trennung zwischen sozialer und natürlicher Welt ist nicht haltbar und wird durch die Jagd selbst widerlegt. Wie schon die Analyse der Landschaft zeigt, kann die Dichotomie zwischen reiner Natur und menschlicher Kulturwelt als voneinander getrennten Sphären nicht aufrechterhalten werden. Hinzu kommt, dass es nicht mehr alleine die Jägerinnen und Jäger selber sind, die darüber entscheiden, welche Tiere sie jagen wollen. Ob und wie stark eine Tierart bejagt wird, hängt auch von externen Kriterien ab. Wildschweine sind hierfür ein geeignetes Beispiel. Die symbolische Übertragung von Stärke, Mut und Wehrhaftigkeit scheint im Bezug auf diese Tiere naheliegend (vgl. Dahles 1990: 214). Auch wird die Klugheit der Tiere von allen Jägerinnen und Jägern betont, mit denen ich über die Jagd auf das Schwarzwild geredet habe. Während unter vielen Jägerinnen und Jägern die Jagd auf das wehrhafte Wild so beliebt ist, dass ihr sogar eine eigene Zeitschrift gewidmet wird (Sauen, so der Name der Zeitschrift, beschäftigt sich thematisch mit allen Facetten der Schwarzwildjagd), ist es andererseits vor allem ihre zahlenmäßige Präsenz und ihr teilweise stark schädigendes Verhalten in der contested landscape der Nordeifel, welches sie zu Hauptbeutetieren macht. Durch den finanziellen Schaden, der durch die Wildschäden entsteht, ist die Jagd auf Wildschweine für viele Jägerinnen und Jäger obligatorisch. Es ist mehr als die Frage nach der Henne und dem Ei, wenn man den Grund für die Popularität der Wildschweinjagd sucht. Vielmehr gilt für die Jagd in der Nordeifel, aber auch für die Jagd in Deutschland allgemein, dass sie missverstanden wäre, begriffe man sie nur als ein Spiel, dessen Regeln alleine die Jägerinnen und Jäger bestimmen. Die paradoxe Situation besteht darin, dass die gegenwärtige Jagd zwar letztendlich immer eine anthropomorphe Praxis bleibt, da ihre Ausübung in weiten Teilen durch menschliche Normen, Werte, Vorstellungen und Gesetze definiert ist. Jedoch wird sie so fundamental durch die gejagten Tiere mitbestimmt, dass diese Tiere mehr sein müssen als eine Projektionsfläche für kulturelle Rituale

III Tiere

und Symbole oder als integraler Teil übergeordneter Funktionsstrukturen. Ortega y Gasset (1985) schreibt: »[D]as Jagen ist […] eine Beziehung, die gewisse Tiere dem Menschen auferlegen« (ebd.: 86). Darin liegt die Erkenntnis, dass die gejagten Tiere mehr sind, als die passiv Empfangenden menschlicher Jagdpraktiken. Wenngleich ich ihm nicht dahingehend folgen möchte, dass dies im Wesen der Tiere begründet ist, so verweist Ortega y Gasset auf etwas Zentrales: Die Gejagten sind für die Jagd konstitutiv. Ihre konstitutive Leistung gibt den Gejagten eine bestimmte Handlungsmacht, die sich weniger aus dem Wesen der gejagten Tiere ergibt, sondern vielmehr aus der Situation der Jagd heraus. Darauf werde ich im Folgenden auch unter dem Aspekt der humanimalischen Intersubjektivität noch näher eingehen. Wie ich in der Analyse zum Jagdrevier schon beschrieben habe, so bestimmen auch externe Faktoren in weiten Teilen mit, wie und wo gejagt wird. Die Ausbreitung bestimmter Tiere, ihr Verhalten und das Konfliktpotential, das in der humanimalisch konstituierten Landschaft liegt, fordern Antworten von den Jägerinnen und Jägern. Die Jagenden in der Nordeifel sind nicht nur die agierenden, sie werden vom Wild und der Landschaft oft genug in die Situation der Reagierenden gebracht. Im Folgenden werde ich daher beschreiben, wie sich zwischen Jagenden und Gejagten eine »Antwortlogik [Herv. i. O.]« (Waldenfels 2006: 62) entfaltet, die weder ein erstes, noch ein letztes Wort kennt (vgl. ebd.: 65). Ein Blick auf die Jagdstatistik des Landes NRW zeigt, dass im Jahr meiner Feldforschung die am häufigsten erlegten Wildarten nicht das symbolträchtige Rotoder Schwarzwild waren. Stattdessen waren es Ringeltauben, gefolgt von Rabenkrähen und Rehwild – jene Wildarten also, welche laut Dahles traditionell nicht so stark symbolisch aufgeladen sind. Sie erklärt die signifikante jagdliche Hinwendung zu diesen Wildarten, die auch in den Niederlanden so zu erkennen ist, dadurch, dass die Zugangsmöglichkeiten zur Jagd für die Bürgerinnen und Bürger ab Beginn des 20. Jahrhunderts niedrigschwelliger wurden und mehr Menschen die Möglichkeit hatten, auf die Jagd zu gehen. Gleichzeitig erhöhte sich dadurch der Jagddruck auf alle in den Revieren lebenden jagdbaren Tiere. Auch im Bezug auf Deutschland lässt sich dieses Phänomen beschreiben. Das Interesse der niederländischen Jägerinnen und Jäger an diesen Wildarten, so weist Dahles nach, geht einher mit einer symbolischen Aufwertung dieser Tiere. An diesen zuvor ›verschmähten‹ Tieren finden die niederländischen Jägerinnen und Jäger nun plötzlich ebenfalls jene relevanten Attribute, welche sie traditionell nur einigen wenigen Tieren zugestanden hatten (vgl. Dahles 1990: 217). Diese symbolische Umdeutung ist insofern interessant, als dass sie die Jagenden als Antwortende zeigt. Rabenkrähen und Ringeltauben profitieren von der Nähe zu menschlichen Siedlungen und der durch menschliche Aktivität gestalteten Landschaft, ebenso wie Wildschweine und Füchse. Bemerkbar macht sich das an ihrer zahlenmäßigen Präsenz und den Wildschäden, die sie anrichten. Ihr Verhalten lässt sich somit als Antwort auf ihre humanimalische Umwelt verstehen und geht der Reaktion der menschlichen

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Jägerinnen und Jäger darauf voraus. Jenseits aller kulturellen Symbolik motiviert auch die Angst vor sich ausbreitenden Seuchen, wie Tollwut, Staupe und aktuell der Afrikanischen Schweinepest die menschlichen Jägerinnen und Jäger, die Jagd auf bestimmte Arten zu verstärken. Unabhängig von Symbolismus und Metaphorik ist die Jagd also zunächst eine humanimalische Aushandlung der gemeinsamen Umwelt. Die Gejagten verfügen in dieser Aushandlung über eine Handlungsmacht2 , die in bisherigen Arbeiten zur deutschen Jagd noch nicht explizit thematisiert wurde. Diese besteht zum Einen darin, dass die gejagten Tiere den oben beschriebenen Aufforderungscharakter gegenüber den Jägerinnen und Jägern haben und ihnen Antworten abverlangen. Zum Anderen können sie sich aber auch einer Bejagung aktiv und bewusst entziehen. Auf diese Form der Handlungsmacht, die sich ebenfalls dadurch charakterisiert, dass sie als Antwort auf eine bestimmte humanimalische Situation wiederum eine Antwort der Jagenden verlangt, gehe ich nun näher ein. Konzeptionell halte ich das agency-Konzept, welches Carter und Charles (2011) im Bezug auf nicht-menschliche Tiere in Anlehnung an Margret S. Archer (2000) vorschlagen, hier für sinnvoll. Ich verstehe den Original-Terminus agency im Sinne der von mir beschriebenen Handlungsmacht und übersetze ihn im Folgenden daher auch so. Die Handlungsmacht, wie Carter und Charles sie verstehen, definiert sich durch die Situierung eines (nicht-)menschlichen Lebewesens in seiner humanimalischen Umwelt. »[A]nimals exercise agency by virtue of the social relations within which they are located, and that this is a sociological conceptualization of agency which incorporates animals as well as humans and enables an interplay between them.« (Carter/Charles 2011: 260) Diese Definition hat den Vorteil, die Handlungsmacht der Gejagten analytisch schärfer zu fassen, als es das Latour’sche Konzept ermöglicht. Zentral hierfür ist, dass sie ›handlungsinitiativ‹ agieren können. Dabei gibt es jedoch Abstufungen, weshalb zwei Formen der Handlungsmacht unterschieden werden können: Die primary agency, besteht in der grundsätzlichen Möglichkeit des Individuums, 2

Wie schon erwähnt, stößt der englische Terminus agency auch im Bezug auf das humanimalische Verhältnis von Jagenden und Gejagten an seine Grenzen. Wenngleich dem agencyKonzept von Latour (2005) zu verdanken ist, dass auch die Wirkungs- und Handlungsmacht nicht-menschlicher Lebewesen, aber auch die von Gegenständen in geisteswissenschaftlichen Analysen berücksichtigt wird, so bleibt das Konzept jedoch zu unscharf, als das es jene intentionale Bezogenheit der menschlichen und der tierischen Antworten greifen kann. Indem die Gejagten sich in ihrem Verhalten intentional und in gewisser Weise reflexiv auf die humanimalische Situation beziehen, in der sie leben, beeinflussen sie die Jagd als Handelnde. Bestimmte Wetterphänomene, welche ebenfalls Einfluss auf die Jagd haben, wie bspw. der Wind, haben dagegen nur eine unilineare Wirkungsmacht.

III Tiere

seine lebensweltliche Situation zu reflektieren und dementsprechend Einfluss zu nehmen. Die höherstufige corporate agency setzt den bewussten Zusammenschluss mehrerer Individuen voraus, die in einer vergleichbaren Situation leben und die auch die Intention miteinander teilen können, diese kollektiv zu verändern. Während die primacy agency vielerlei Formen menschlichen und nicht-menschlichen Bewusstseins einschließt, haben nur wenige Lebewesen die Möglichkeit als corporate agency zu handeln. Auch für die gejagten Tiere gilt daher: »[T]hey cannot organize collectively to resist the anthropomorphic relations of power and domination within they are enmeshed. They can, however, act individually to avoid particular effects of this relations.« (Carter/Charles 2011: 258) Ohne im strengen Sinne planvoll oder kollektiv zu agieren, prägen und strukturieren die Gejagten die jagdlichen Aktivitäten der Jagenden. Verstärkt wird diese Handlungsmacht durch die Gesetzgebung, die wiederum einer gesellschaftlichen Haltung zum Tier entspricht. Die gejagten Tiere, wie auch jene nicht jagdbaren Arten, verleiblichen die von Haraway charakterisierten »naturecultures [eigene Herv.]« (Haraway 2003): Sie haben nie nur ihre biologische Natur, sondern sind auch von einer sozialen Natur durchzogen, die ihr Leben – und Sterben – ebenso prägen kann, wie ihre Biologie ihr Leben prägt. Die Kategorien, in welche die Tiere eingeteilt sind, zeigen dies.

3.1

Wild(e Tiere)

Die menschliche Gesellschaft, in der die Jägerinnen und Jäger der Nordeifel sozialisiert sind, bezieht sich auf vielfältige Weise auf nicht-menschliche Tiere – die verschiedenen Kategorien, die es für sie gibt, machen das deutlich. Die Hinwendung zu den Individuen der jeweiligen Kategorien ist sehr unterschiedlich. Während Haus- und bestimmte Hoftiere oft Quasi-Familienmitglieder sind und dementsprechend von den menschlichen Familienmitgliedern einen Personenähnlichen Status erhalten, leben die sogenannten Nutztiere oft eher anonym – gerade in der konventionellen Landwirtschaft. Hier erfährt in der Regel nicht das einzelne Tier als Individuum menschliche Aufmerksamkeit, sondern nur als Teil eines ›Bestandes‹. All diesen Tieren ist gemeinsam, dass sie mehr oder weniger zahm sind. Tiere, die nicht durch den Menschen gezähmt sind, werden gemeinhin als Wildtiere bezeichnet. Aber auch diese Kategorie ist heterogen. Einige Arten scheuen die menschliche Präsenz. Andere profitieren von der Nähe zum Menschen in diversen Abstufungen bis hin zu ›wilden Parallelgesellschaften‹ in Städten. In der Kategorie der wilden Tiere ist für menschliche Jägerinnen und Jäger wiederum nur das Wild relevant. Wild ist in der Ordnung der wilden Tiere eine exklusive

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Kategorie, wenngleich dieser Begriff ursprünglich noch alle wildlebenden Tiere bezeichnete. Das Wort »Wild« kann bis in das Vorgermanische zurückverfolgt werden, wo es vermutlich die Bedeutung ›umherstreifen‹, ›wandern‹ hatte (vgl. Willkomm 1990: 28). Mit dem herrschaftlichen Jagdregal, welches ab dem Mittelalter die freie Jagd für die meisten nicht-adeligen Menschen einschränkte, konkretisierte sich der Begriff strukturell. Aus der Zeit des Jagdregals stammt auch die Unterscheidung zwischen Hoch- und Niederwild, welche bis in das 20. Jahrhundert Gültigkeit hatte. Gegenwärtig ist Wild der »Sammelname für alle jagdbaren Tiere« (ebd.: 27), wobei ich zeigen werde, dass diese Kategorie in sich divers ist. Zugleich gibt es verschiedene Möglichkeiten, innerhalb der Kategorie Wild zu differenzieren. Aber auch inhaltlich ist das Wort »wild« in seinem adjektivischen Sinne für die Jagd bedeutsam. Wie Cartmill (1993) schon feststellt, gibt es vielerlei Definitionen von »wild«. Damit ein Tier als Beutetier für die menschlichen Jägerinnen und Jäger in Frage käme, müsse es ein Gegenentwurf zum zahmen Tier sein, also jenen Tieren, welche »freundlich zu Menschen oder ihnen gefügig« sind (ebd.: 46). »[W]ir definieren wilde Tiere in diesem Zusammenhang als solche, die den Menschen scheuen oder angreifen« (ebd.: 47). Dieser Definition sei jedoch hinzugefügt, dass es in der Nordeifel kaum Tiere gibt, die Menschen angreifen – Wildschweine bilden eine Ausnahme. Sie sind das einzige Wild, welches unter Jägerinnen und Jägern als wehrhaft gilt, also in bestimmten Situationen – insbesondere um den Nachwuchs zu schützen – auch aktiv zum Angriff auf Menschen übergeht. Wie erwähnt, sind nicht alle Tiere, die nach dieser Definition wild sind, auch jagdbar. Von den frei lebenden, wilden Tieren sind wiederum nur jene Arten jagdbar, die nicht unter bestimmte Naturschutzgesetze fallen. Solche Tiere unterstehen einem umfassenden rechtlichen Schutz – meist, weil es sich um selten gewordene und in ihrer Art bedrohte Tiere handelt. Diese Kategorien sind jedoch flexibel und veränderbar und historisch betrachtet, hat es immer wieder Verschiebungen von der einen in eine andere Kategorie gegeben. Aktuellstes Beispiel für diese Variabilität ist, wie ich gezeigt habe, der Wolf. Wie wenig die Theorie der symbolischen Herrschaft der Jägerinnen und Jäger über die ›Natur‹ und das ›Reich der Tiere‹ gegenwärtig noch praktisch zutrifft, ist auch daran zu erkennen, dass über den Transfer einer Tierart von der einen in eine andere Kategorie in Deutschland nicht nur von Jägerinnen und Jägern entschieden wird. Ob Tiere von der einen in die andere Kategorie gelangen, liegt im politischen Entscheidungsbereich – die Jäger_innenschaft ist in solchen Entscheidungsprozessen nur eine von mehreren Stimmen. Auch Vertreterinnen und Vertreter aus Land- und Forstwirtschaft und dem institutionalisierten Naturschutz sind an solchen Verfahren beteiligt. Welche Tiere für Jägerinnen und Jäger jagdbar sind, obliegt also in Deutschland einer relativ demokratischen Entscheidung.

III Tiere

Nicht jagdbar sind in der Regel Haus- und Hoftiere, da diese nicht herrenlos sind, sondern im Besitz einer Person sind. Eine Ausnahme bilden Hunde und Katzen, die in bestimmten, gesetzlich beschriebenen Situationen durch Jägerinnen und Jäger erlegt werden dürfen.3 Verwilderte Katzen und wildernde Hunde dürfen dann von Jägerinnen und Jägern getötet werden, wenn dies zum Schutz anderer Wildtiere nötig ist. Während meiner Feldforschung war der Abschuss von Katzen durch eine politische Entscheidung zwar formal verboten worden. Unter den Jägerinnen und Jägern löste dieses Thema jedoch immer wieder kontroverse Diskussionen aus. Zum Einen betonten viele von ihnen, dass es zu viele verwilderte Katzen gäbe, die eine ernstzunehmende Gefahr für die ohnehin rückläufige Singvogel- und Hasenpopulation seien. Aus einer utilitaristischen Perspektive hätten sie den Abschuss einzelner Katzen rechtfertigen können, um Singvögel, Hasen und andere Wildtiere zu schützen. Dem entgegen stand jedoch die Gewissheit der Jägerinnen und Jäger, dass der Abschuss von Katzen von der nicht-jagenden Öffentlichkeit nicht akzeptiert wird. Katzen, unabhängig davon, ob sie tatsächlich Teil einer menschlichen Familie sind oder verwildert, von Menschen unabhängig leben, genießen im gesellschaftlichen Diskurs um Tiere den Status eines schützenswerten Haustieres. Jägerinnen und Jäger fürchten um ihre gesellschaftliche Akzeptanz, wenn das Thema zur Sprache kommt (vgl. Schriewer 2015: 140). Auch wenn es ihnen die Situation erlaubt, üben viele den Abschuss von Katzen daher nicht aus. Hermann: »Wie viele Leute können auch, wenn sie in Urlaub fahren, ›ne Katze nicht mehr gebrauchen. Dann kommen die auf die Idee: Fahren wir irgendwo hin, wo Bauernhöfe sind. Gerade Raffelsbrand [eine Siedlung aus mehreren Bauernhöfen] eignet sich ja sehr, um mal ›ne Katze, die du quit werden willst und nicht töten willst, laufen zu lassen. Selber hatten die [Bewohnerinnen und Bewohner eines der Bauernhöfe] ein oder zwei [Katzen] und auf einmal waren zwanzig auf dem Heustall. Das ist tödlich für so eine Gegend – für die ganze Singvogel-Welt, für die Junghäschen und was die [Katzen] alles nehmen… Das ist einfach viel zu viel. Aber das zählt einfach nicht bei den Naturschutzverbänden und den Grünen. Die Jäger sind wieder die bösen Katzentöter und wir sind hinter nichts Anderem her, als hinter Katzen! Also, so ein Quatsch, ne!? Es gibt zwar solche Vögel, so Ausnahmen, aber das sind wirklich Ausnahmen.«

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Wie kontrovers das Töten von Hunden und Katzen gesellschaftlich diskutiert wird, ist an der Gesetzgebung zu diesem Thema erkennbar. Während es in den meisten deutschen Bundesländern erlaubt ist, dürfen in NRW seit 2015 keine Katzen mehr durch Jägerinnen und Jäger getötet werden. Mit dem Wechsel der Landesregierung 2018 soll diese Gesetztesnovellierung eventuell wieder rückgängig gemacht werden. Anmerkung Stand 03/2019: Das Erlegen von Katzen bleibt auch weiterhin verboten, so der aktuelle Gesetzesentwurf.

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Hermann steht dazu, dass er auch schon mal eine Katze erschossen hat, von der er wusste, dass sie niemandem gehörte. Sein Beweggrund war, dass das Tier sich hauptsächlich in einem Naturschutzgebiet aufgehalten hat, wo selten gewordene Vögel, wie das Braunkehlchen, der Wendehals und Bekassinen leben. Jedoch differenziert er sein Handeln vom Handeln jener »Ausnahmen«, die »[h]inter den Häusern den Leuten die Katzen weg[schießen]«, da ihm durchaus bewusst ist, wie viel vielen Menschen an ihren Katzen gelegen ist und dass das Töten von potentiellen Haustieren in der nicht-jagenden Gesellschaft ausgesprochen negativ wahrgenommen wird. Auch Gregor ist sich dieser Schwierigkeit bewusst, sieht aber im Zweifel nicht die Jäger_innenschaft in der Pflicht. »Ja, das ist natürlich eine heiße Kiste. Das verstehe ich ja auch nicht, dass wir uns eine Jacke anziehen, die uns nichts Anderes wie schmutzig machen kann. […] Lass‹ das ein Gesellschaftsproblem sein. Wenn da einer meint, er soll uns das verbieten? Wunderbar. Dann muss die Gesellschaft auch diese Überpopulation an Katzen in den Griff kriegen.«

Am Beispiel des Abschusses von Katzen wird deutlich, wie unterschiedlich Tiere in der deutschen Gesellschaft bewertet werden. Die Kategorie der Haustiere ist dabei emotional so stark besetzt, dass sich das auch in politischen Entscheidungen manifestiert. Wenngleich sie zwar kritisch gesehen wird, so ist die Jagd als legitimes Mittel zur Reduktion bestimmter Tierarten und zum Erhalt der Artenvielfalt in der Gesellschaft weitgehend akzeptiert. Gesamtgesellschaftlich sind jene – teils radikalen – Gruppierungen in der Minderheit, welche sich für ein allgemeines JagdVerbot aussprechen. Sobald jedoch Tiere, die zur Kategorie Haustier gehören, ›ins Visier‹ der Jagd gelangen, untersteht die Nützlichkeit der Jagd der Unversehrtheit jener tierischen Individuen. Der Grund dafür, dass jene Tiere nicht gejagt werden dürfen, ist nicht dadurch zu erklären, dass Katzen als Haustiere tendenziell im Besitz eines anderen Menschen sind – immerhin ging es in der gesetzlichen Regelung ausschließlich um Katzen, die als verwildert definiert wurden und damit als herrenlos gelten. Vielmehr kann es nur der Status ›der Katze‹ als Haustier gewesen sein, der zur Herbeiführung solcher politischen Entscheidungen geeignet war. Ebenso verhält es sich mit dem Abschuss wildernder Hunde. Auch der ist in NRW theoretisch möglich. Gregor erzählte mir von einer Situation, in der er einen wildernden Hund hätte erschießen dürfen. Getan hat er es nicht und begründet dies mir gegenüber mit der Feststellung, dass nicht der Hund das Problem sei, sondern »das Problem am anderen Ende der Leine liegt«. Neben der eher abstrakten Sorge um gesellschaftliche Sanktionen, sind es auch oft persönliche Gründe, warum Jägerinnen und Jäger weder Katzen noch Hunde erschießen wollen. Viele von ihnen unterhalten selbst solche emotionalen Beziehungen zu ihren Haustie-

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ren. Die meisten Jägerinnen und Jäger, welche ich kennengelernt habe, besaßen mindestens einen Jagdhund. Jagdhunde gehören, wie auch Frettchen und bestimmte Greifvögel zu einer besonderen Kategorie von Haustieren. Sie dienen den jagenden Menschen als Jagdgehilfen. In Kapitel 3.2 werde ich auf diese besondere Form der Mensch-TierBeziehung gesondert eingehen. Ich werde mich dabei auf die Jagd mit Hunden beschränken, da diese für die Jagdpraxis in der Nordeifel die größte Bedeutung hatte, während die Jagd mit Greifvögeln oder Frettchen keine praktische Relevanz hatte.4 Dass Jagdhunde für die deutsche Jagdpraxis einen hohen Stellenwert haben, zeigt sich auch daran, dass das Hundewesen ein Ausbildungsfach im Jagdkurs für uns angehende Jägerinnen und Jäger war – und der Umgang mit dem Jagdhund damit zum Grundwissen zählt. Jagdhunde, wie auch die anderen tierischen Jagdgehilfen transzendieren die Kategorien ›wild‹ und ›zahm‹. Sie sind nicht ›wild‹ im oben definierten Sinne, da sie keine Scheu vor dem Kontakt mit Menschen haben. Obwohl sie Menschen im Allgemeinen nicht scheuen und sogar Vertrauen zu ihren Menschen haben, sind diese Tiere auch nicht ganz und gar zahm. Wie ich am Beispiel der Jagdhunde zeigen werde, sind Jagdhunde ihren Menschen nicht immer gefügig. Auf der Jagd verfolgen sie auch eigene Interessen, welche sich nicht immer mit denen der menschlichen Jägerinnen und Jäger decken. Auch ein gut erzogener Jagdhund kann sich in gewissen Situationen mehr als wilder Jäger, denn als zahmes Haustier zeigen. Beenden möchte ich dieses Kapitel, indem ich auf das Nachsuchenwesen eingehe. Auch hier ist es die Beziehung von Mensch und Hund, die in den Fokus rückt. Während der Nachsuche auf verletzte Tiere müssen menschliche Jägerinnen und Jäger eng mit ihren Jagdhunden zusammenarbeiten. Die humanimalische Intersubjektivität wird dann zwischen Jagdhund und Hundeführerin, beziehungsweise Hundeführer im Bezug auf das verletzte Tier ausgehandelt. Das Nachsuchenwesen charakterisiert die Jagd noch einmal auf fundamentale Weise als humanimalisch konstituiert. Es verweist darüber hinaus auch auf gültige Normen und Werte der deutschen Jagdpraxis. Obwohl ich die Nachsuche noch in Kapitel III – Wilde Tiere verhandle, verweist das Nachsuchenwesen gleichsam auch schon auf die menschlichen Jagenden und auf ihr Selbstverständnis. 4

Mit Simon und seinem Vater habe ich zwei Jäger kennengelernt, welche den Falknerschein besaßen und mit Adlern und Falken auf die Jagd gingen. Diese Form der Jagd praktizierten die beiden jedoch nicht in der Nordeifel. Da die Jagd mit Greifvögeln sich besonders für die Kaninchen- und Taubenjagd eignet, kommen ihre Greifvögel in Revieren im Aachener Land zum Einsatz. Hier dominieren Felder, Wiesen und ein milderes Klima die Landschaft und stellen besonders für Wildkaninchen einen geeigneten Lebensraum dar. Da der Einsatz von Feuerwaffen zu jagdlichen Zwecken in bewohnten Gebieten großes Gefahrenpotential darstellt, ist die Jagd mit Greifen auch in urbanen Landschaften bedeutsam. Die Jagd mit Frettchen hat dagegen niemand von den mir bekannten Jägerinnen und Jägern ausgeübt.

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3.1.1

Wild und seine Kategorien

Für meine Feld-, Wald- und Wiesenforschung waren lange nicht alle jagdbaren Tiere relevant. Die Nordeifel ist Heimat verschiedener Wildarten, wobei insbesondere Rot-, Reh-, Muffel- und Schwarzwild, sowie Füchse bejagt wurden. Hasen wurden kaum gejagt, was mit ihrem abnehmenden Bestand zu tun hat. Auch Tauben, Krähen und Elstern wurden während meiner Feldforschung nur sehr selten gejagt, obwohl sie sehr zahlreich in der Nordeifel vorkommen. Enten und Gänse jagte in dieser Zeit niemand der Jägerinnen und Jäger, die ich kennengelernt habe. Die Menschen antworten mit der Jagdausübung auf ihre lebendige Umwelt. Dabei lässt sich für die deutsche Jagdtradition feststellen, dass es »zu keiner Zeit […] nur eine oder die Einstellung zum Wild gegeben [hat] [Herv. i. O.]« (Stahl 1979: 53). Immer schon werden und wurden die Tiere, welche unter die Kategorie ›Wild‹ fallen, sehr unterschiedlich bewertet. Ausdruck dafür sind und waren die unterschiedlichen Klassifikationen, die für Wild aufgestellt werden. Dass diese historisch variabel sind, zeigt sich daran, dass sich in Deutschland seit etwa drei Jahrzehnten ein Wandel dieser Kategorien vollzieht. Auf diesen Wandel werde ich im Folgenden näher eingehen.

Hochwild, Niederwild und Raubzeug Traditionell wenden Jägerinnen und Jäger auf die jagdbaren Tiere die kulturspezifische Unterscheidung in Hoch- und Niederwild, sowie Raubzeug an. Welche Tiere gehegt und geschützt werden und welche dagegen ›bekämpft‹ werden müssen, war lange Zeit ausschließlich Sache der Jägerinnen und Jäger. Gegenwärtig sind es vermehrt wildtierbiologische Erkenntnisse, das öffentliche Interesse am gesetzlich verbürgten Tierschutz, sowie die Ansprüche von Forst- und Landwirtschaft, welche die Beziehung zwischen Wildtieren und Jagenden mitgestalten. Tiere, die für viele Jahrhunderte dem Adel und einer jagenden Elite vorbehalten waren, werden nun auch von nicht-jagenden Menschen bewertet, wodurch auch die Klassifizierung der Tiere einem breiteren gesellschaftlichen Diskurs unterworfen ist. Auch viele Jägerinnen und Jäger sind inzwischen der Meinung, dass die Unterscheidung in Hochund Niederwild nicht mehr zeitgemäß ist. Gregor betont, diese Unterscheidung seien »alte Zöpfe«, die abgeschnitten werden müssten. Für ihn, wie auch viele Andere, entsteht so eine Hierarchie, die an ideologische Werte, nicht aber an wildtierbiologische Erkenntnisse geknüpft ist und damit in der gegenwärtigen Jagdpraxis mehr als fraglich sei. Er plädiert für die relativ junge Kategorisierung in Schalen-, Haar- und Federwild, die sich nach physiologischen und damit neutraleren Kriterien richtet. Dennoch gibt es die Unterscheidung in Hoch- und Niederwild und sie hat auch Bedeutung für die Jagdpraxis, bspw. für die Verpachtung von Jagdrevieren. Die Anwesenheit von Hochwild wirkt sich erhöhend auf die Attraktivität

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und den Preis eines solchen Reviers aus. Während aber die Hierarchie in Hochund Niederwild für viele andere Jägerinnen und Jäger immer noch bedeutsam ist, was sich tatsächlich leicht an den Pachtpreisen der entsprechenden Reviere ablesen lässt, ist die Bezeichnung ›Raubzeug‹ für einiges, als schädlich bewertete Wild dagegen gänzlich verklungen. Tiere, die selbst Jagd auf andere Tiere machen, werden schlicht Prädatoren genannt. Weiterhin gibt es eine über das jagdbare Wild hinausgehende Unterscheidung in ›Kulturfolger‹ und ›Kulturflüchter.‹ All diese Klassifikationen geben Auskunft über die Beziehung, die Jägerinnen und Jäger zu den gejagten Tieren kultivieren. Die hierarchische Unterscheidung in Hoch- und Niederwild hat ihre Ursprünge im Mittelalter. Die geschichtlichen Entwicklungen brachten mit sich, dass die freie Jagd – also das Recht eines Jeden, auf die Jagd zu gehen – zu Gunsten der herrschenden Eliten aufgehoben wurde.5 Mit der Herrschaft über ein bestimmtes Territorium ging nicht nur die Herrschaft über die dort lebenden Menschen einher, sondern zunehmend auch das Privileg der Jagdausübung. »Für die entstehenden Landesherrschaften war der Wildbann ein wesentliches Fundament« (Eckhardt 1976: 28). Jedoch stand auch dem niederen Adel das Recht der Jagdausübung zu – ebenso, wie dem Klerus, einer stetig an Macht und Einfluss gewinnenden Klasse (vgl. ebd.: 28). Damit vervielfältigten sich die Herrschaftsansprüche der unterschiedlichen Adelsgeschlechter und Herrschaftsklassen zunehmend, was dazu führte, dass die jagdbaren Tierarten feiner unterschieden werden mussten. Als Hochwild wurden dann jene Arten bezeichnet, »die im Mittelpunkt der herrschaftlichen Jagdleidenschaft standen und daher ausschließlich den ›hohen‹ Landesherren zur Bejagung vorbehalten bleiben sollten« (Hiller 2002: 175). Zum Hochwild zählten traditionell Rotwild, Wildschweine, Wisente, Bären, Elche, Damwild, Mufflons, Stein- und Gamswild, sowie das Auerwild. Die Zuordnung einer Tierart zum Hoch- oder Niederwild macht sich also am sozialen Status der Jägerinnen und Jäger fest, welche die Jagd auf diese Tierart ausüben durften. Dem Rotwild, welches auch schon in der christlichen Metaphorik seinen festen Platz hatte, kam bald schon eine hervorgehobene Stellung zu: »In der hochmittelalterlichen Literatur wurde dem Hirsch […] erstmals eine Aura des Adels, ja sogar übernatürlicher Hoheit angedichtet« (Rösener 2004: 148). Diese privilegierte Stellung des Rotwildes unter anderen Tierarten wirft auch gegenwärtig noch ihre Schatten – nicht nur dann, wenn landläufig auch vom »König der Wälder« gesprochen wird, wenn der Rothirsch gemeint ist. Wie die Analyse der Landschaft zeigte, bemisst sich der jagdliche Wert einer Landschaft darin, welche und wie viele Tiere im Revier vorkommen. Dass jene Jagdreviere, in denen Rotwild dauerhaft lebt, besonders wert-

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Eine ausführliche Darstellung des historischen Kontexts ist bspw. bei Eckhardt (1976), Hiller (2002) und Rösener (2004) nachzulesen.

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geschätzt und dementsprechend teuer verpachtet werden, erklärt sich durch das Prestige, welches mit dem Rotwild historisch konnotiert ist.

Abbildung 6: Erlegter, kapitaler Rothirsch

Im Äser [Maul] des Tieres: Der Letzte Bissen, eine symbolische Ehrung des Tieres durch den Jäger. Während die Dominanz des Adels im Laufe der Jahrhunderte nach einem kurzen und prächtigen barocken Aufblühen langsam verschwand, blieb die jagdliche Klassifikation des Wildes davon bis weit in das 20. Jahrhundert unberührt. Wie Theilemann (2004) detailreich schildert, ist Jagd für den an Bedeutungsverlust leidenden Adel weiterhin ein identitätsstiftendes Refugium. Jene Verbliebenen der Adelsgeschlechter prägten die Jagdkultur in Deutschland auch dann noch nachhaltig, obwohl oder vielmehr weil sie ansonsten gegenüber der emporkommenden Industrie-bürgerlichen Gesellschaft an sozialem Einfluss eingebüßt hatten. Qua Geburt, dementsprechender Sozialisation und dazugehörigem Traditionsbewusstsein empfanden sie sich als die »hirschgerechten« (vgl. Hiller 2002: 83) und damit ›wahren‹ Jägerinnen und Jäger. Als ›jagende und schreibende Elite‹ knüpften sie an diese jahrhundertelange Tradition an und begannen Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt, die ideale Beziehung von Jagenden und Gejagten zu prägen (vgl. Theilemann 2004) – ein Aspekt auf den ich in Kapitel 4.2 – Weidgerechtigkeit als Mittel der Distinktion näher eingehen werde. Jene jagdlichen Bräuche und Regelwerke, die seit jeher adelige Tradition waren, waren das Maß der Dinge für die neuen und neureichen Jägerinnen und Jäger, jenen Emporkömmlingen, denen die Abschaffung des Jagdregals von 1848/49 und ihre finanziellen Möglichkeiten zur Partizipation an der Jagd verholfen hatten. Wir können sagen, dass sich »die schrumpfenden Wälder Nordwesteuropas während des späten Mittelalters in exklusive Tummelplätze des Adels [verwandelten]« (Cartmill 1993: 80) und es bis in das beginnende

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20. Jahrhundert blieben. Während die Jagd auf Hochwild weiterhin dem Adel und dem Geldadel vorbehalten war, konnte sich parallel »eine bäuerliche Jagdkultur entfalten, die sich vor allem auf Niederwild konzentrierte und von der Jagd mit der Schrotflinte […] geprägt war« (Hiller 2002: 116). Rehe, Füchse, Dachse, Hasen, Kaninchen, Fasanen, Tauben und Enten waren die Beutetiere dieser Jägerinnen und Jäger. Später weitete sich die bäuerliche Jagd auch auf Teile des Bürgertums aus, die sich die Pacht eines Hochwild-Reviers nicht leisten konnten, was zur Entstehung einer bürgerlichen Jagdtradition beitrug. Allen diesen Jägerinnen und Jägern gemein war die Einstellung zum sogenannten Raubzeug – jenen Tieren, die vor allem für das jagdbare Wild als schädlich bewertet wurden. Jagd, so schon das adelige Selbstverständnis, entspricht dem »Kampf gegen ein scheinbar kulturunzuträgliches Wachsen des ›Raubzeugs’« (Theilemann 2004: 137-138). Mit den jagdbaren Tierarten und ihrer Unterscheidung in Hoch- und Niederwild war das Fundament einer Hierarchie gelegt. An ihrem unteren Ende fanden sich all jene Arten wieder, welche jenen ›adeligen‹ Tieren Schaden konnten. Deren natürliche Feinde wurden schnell zu den natürlichen Feinden der Jägerinnen und Jäger. In einer zunehmend vom Menschen gestalteten Landschaft wurde die hegende Rolle der Jägerinnen und Jäger immer wichtiger: Als um ›ihr‹ Wild besorgte Beschützerinnen und Beschützer nehmen sie »der ›Natur‹ ihren Schrecken« (Maylein 2010: 744), wodurch »das Wild dem Vieh auf der Weide [gleicht], über welches der Jäger seine schützende Hand hält« (ebd.). Ziel war es, in kleiner werdenden Habitaten einen möglichst großen und gesunden Wildbestand zu erhalten. Das Ideal eines gesunden Wildbestandes und einer Hierarchie der Lebewesen hängt eng mit einem Naturverständnis zusammen, welches vor allem durch die Werke von Philosophen wie Nietzsche angelegt wurde und im Nationalsozialismus weiter kultiviert wurde (vgl. Cartmill 1993: 189). Auch die Beziehung der Jagenden zu den Gejagten wurde hierdurch stark beeinflusst, waren die Jägerinnen und Jäger nun weniger Jagende, als – um es zugespitzt zu formulieren – Hirtinnen und Hirten, die mit »gottväterliche[m] Blick auf die Kreaturen des eigenen beengten Reviers« (Maylein 2010: 905) schauten. Zu dieser paternalistisch-kreationistischen Jagdmoral gehörte auch die Vorstellung, dass nur die starken und prestigereichen Tiere es verdienten, gehegt und beschützt zu werden, während das Revier nicht nur vom Raubzeug, sondern auch von den schwachen und kümmernden Tieren ›befreit‹ werden musste. Die Idee, ›schlechte Vererber‹ auszumerzen, damit die ›guten Vererber‹ sich fortpflanzen können, leitete auch bis spät in das 20. Jahrhundert die Jagdausübung in vielen Revieren an – und tut es wohl gelegentlich immer noch. Gerade bei Reh- und Rotwild bemaß sich ›gut‹ und ›schlecht‹ vor allem an der Gestalt der Gehörne und Geweihe der männlichen Tiere. Ein großer, starker Kopfschmuck wurde als untrüglicher Ausdruck hervorragender körperlicher Konstitution bewertet, während die zurückgebliebenen und verformten Knochen auf den Häuptern der Tiere

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ihre Minderwertigkeit anzeigten. Eine Annahme, die besonders im Bezug auf das Rehwild aus wildtierbiologischer Sicht fragwürdig ist. Nicht zuletzt führten solche ›züchterischen‹ Bemühungen auch deshalb nicht so zuverlässig zum Erfolg, wie man glaubte, weil die Rolle des weiblichen Wildes in dieser Konzeption fälschlicher Weise vollkommen negiert wurde.

Exkurs: Jagd-Trophäen und Trophäen-Jagd Ein Grund für diese züchterische Entwicklung der Jagd, ist der mit diesen Tierarten verbundene Trophäen-Kult. Während das Hirschgeweih als Jagdtrophäe schon seit der Neuzeit an Bedeutung gewann, beginnt der Trophäen-Kult um RehbockGehörne erst mit dem Aufblühen der bürgerlichen Jagd Ende des 19. Jahrhunderts. Jagdtrophäen haben bis heute kaum an Reiz verloren, wenngleich die Einstellung zu ihnen, wie auch zum gejagten Wild selbst, sich im Laufe der Zeit verändert hat. Grundsätzlich eignen sich viele Körperteile als Jagd-Trophäe: Über Zähne, Geweihe und Gehörne, Federn, Haare bis hin zu einzelnen Knochen reicht die Palette traditioneller Jagd-Trophäen, wobei klar definiert ist, welche Art von Trophäe für welche Tierart angemessen ist. Interessant ist dabei, dass es einige Trophäen nur vom männlichen Wild gibt. Während bei Wildschweinen und Füchsen einzelne Zähne von beiden Geschlechtern als Trophäe anerkannt sind, gibt es zum Geweih und Gehörn meistens kein äquivalentes Gegenstück der weiblichen Tiere. Für den deutschsprachigen Raum kann das Aufkommen von Jagdtrophäen bis in das 16. und 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden, wobei sich beim Adel besonders Hirschgeweihe großer Beleibtheit erfreuten, schienen sie doch die hervorragenden Fähigkeiten der Erlegerinnen und Erleger zu demonstrieren (vgl. Stahl 1979: 267, 269) und entsprachen »dem fürstlichen Bedürfnis der Zeit nach prunkhafter, machtvoller Selbstdarstellung« (ebd.: 270). Bald schon entwickelte sich daraus ein höfischer »Trophäenkult« (vgl. Schriewer 2015: 136), bei dem zunehmend die herrschaftliche Machtdemonstration im Vordergrund stand. Nicht die individuelle Trophäe war von Bedeutung, sondern die Massenstrecken höfischer Jagden und die schiere Quantität der Trophäen – wenn gleich auch einzelne Trophäen an Wert gewannen, sofern sie abnorm geformt waren. Mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, dem Machtverlust des Adels, der sozialen Öffnung der Jagd für Nicht-Adelige und den entsprechenden philosophischen Strömungen, veränderte sich ab dem 19. Jahrhundert die Jagd. Diese philosophischen Strömungen versteht Spehr (1993) als »Transzendentalismus« (ebd.: 129), der sich durch die Tendenz charakterisiert, »die Natur als Gegen-Ort der Zivilisation, bzw. der Industriegesellschaft zu sehen und die so verstandene Natur zum

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Ort metaphysischer Erfahrung zu machen« (ebd.).6 Damit einhergehend verändert sich auch die Jagd: »Die fiebrige Sensibilität, der tiefe Ernst, der Drang nach einem entgrenzenden Erlebnis« (Ahne 2016: 89), welche diese Naturerfahrung begleiteten, veränderten auch die Jagdausübung und den Stellenwert der Trophäe. Für das »von dem erneuerten Naturgefühl getragene Waidwerk« (Stahl 1979: 87) symbolisiert sie nun weniger die gesellschaftliche Macht einer Klasse, als vielmehr die individuelle Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten. Auch der in England aufkommende Gedanke des Tierschutzes prägte in dieser Zeit die Jagd, so dass »das Naturerlebnis zum hauptsächlichen Inhalt des Jagens geworden war« (Stahl 1979: 89) und »die Wertschätzung des einzelnen erlegten Stückes das Vergnügen der Massenstrecken weitgehend abgelöst hatte« (ebd.). Diese Entwicklungen ebneten einem eher qualitativen Trophäenkult die Bahn. Den Grundstein legte wiederum die soziale Diversifikation der Jäger_innenschaft. Nach 1848/49 konnten mehr Jägerinnen und Jäger Jagdreviere pachten, wobei die Reviere mit dem weiterhin prestigeträchtigen Rotwild besonders beliebt waren und oft nur von wohlhabenden Eliten gepachtet werden konnten. In diesem Zuge erfuhr auch das Rehwild als Jagdbeute eine Aufwertung. Durch sein Gehörn wurde der Rehbock der ›Hirsch‹ der weniger gut situierten Jägerinnen und Jäger. Das Rehwild, offiziell zum Niederwild zählend, erhielt so einen herausgehobenen Status in dieser Wildklasse und über den selektiven Abschuss von Rehböcken mit dem Ziel, starke Trophäen ›zu züchten‹, wurde innerhalb der Jäger_innenschaft wohl ebenso viel Tinte vergossen, wie beim Rotwild. Statt der gesellschaftlichen Macht einer Klasse waren die Jagdtrophäen nun Indikatoren für gute Hegerinnen und Heger und damit für weidgerechte Jägerinnen und Jäger, die ihr Wild vor negativen Einflüssen schützen konnten. Starke Trophäen waren die Belohnung für die richtige Selektion durch die Jagenden und bewiesen, dass sich im Revier die richtigen ›Vererber‹ durchgesetzt hatten, so die Meinung der zeitgenössischen Jagdlehre. Während dem weiblichen Wild dabei nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wurden in den meisten Revieren vermehrt und oft überproportional viele männliche Tiere gejagt. Wildtierbiologische Erkenntnisse sollten die Jagdstrategien der Jäger_innenschaft dann erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts verändern. Gelehrt wurde nun, dass weniger ein einzelner starker männlicher ›Vererber‹ als vielmehr eine ausgeglichene Alters- und Geschlechtsstruktur im Revier zu einem gesunden Wildbestand führt. Auch die Unterscheidung zwischen Hoch- und Niederwild wurde zunehmend kritisiert. Dass aber die Trophäen traditionell für viele Jägerinnen und Jäger immer noch eine Rolle spielen, zeigt sich deutlich daran, dass sie in vielen Wohnungen als dekoratives Element vorkommen. 6

Eine Tendenz, die, folgt man dem amerikanischen Umwelthistoriker William Cronon, auch gegenwärtig noch das Naturverständnis westlich-industrieller Gesellschaften prägt (vgl. Cronon 1996).

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Abbildung 7: Die präparierte Trophäe eines erlegten Rehbocks

Das Hirschgeweih an der Außenfassade eines Hauses deutet an, dass hier eine erfolgreiche Jägerin oder ein erfolgreicher Jäger lebt. Rehgehörne, Pelze, Zähne und ganze Präparate erlegter Tiere sind die materiellen Beweise erfolgreicher Jagdtage. Ich stehe mit Philippe und seinem Vater in ihrem Jagdzimmer, einem kleinen Raum, dessen Wände holzvertäfelt sind. Während auf der einen Seite eine hölzerne Schrankwand steht, in der die Jagdkleidung der beiden verstaut ist, hängen an zwei der anderen Wände einige Dutzend Rehbock-Trophäen. Sie bestehen aus den bräunlichen Gehörnstangen der Böcke, die aus dem kalkweißen Schädelknochen herausragen. Vom Schädel der Tiere ist der Hinterkopf mit einem sauberen Schnitt abgetrennt worden. Die Vorderseiten mit dem Nasenbein und den Gehörn-Stangen sind auf kleinen Holztafeln angebracht worden. Die Holztafeln hängen in gleichen Abständen zueinander an der Wand. Es sind um die vierzig Trophäen, die hier hängen. Die Stangen der Trophäen sind unterschiedlich lang und unterschiedlich geformt. Manche Stangen haben keine Sprossen und Vereckungen – sogenannte Spießer. Bei anderen Schädelknochen sieht man nur den Ansatz eines Gehörns. Andere Gehörne sind vereckt und dicker mit markanten Hornperlungen. Alle Gehörne zeigen unterschiedliche Brauntö-

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ne, welche sie von der Rinde der Bäume und Büsche angenommen haben, wo der jeweilige Rehbock den abgestorbenen Bast von den neu gewachsenen Knochenstangen gefegt hat. Während ich mich mit Philippe und seinem Vater über die Jagd unterhalte, kommen wir auch auf diese Trophäen zu sprechen, die hauptsächlich Philippes Vater gehören. »Das ist das Ergebnis von zweiundvierzig Jahren Jagd.«, sagt er zu mir.

Die Trophäe als Erinnerung zu behalten, ist unter den Jägerinnen und Jägern, die ich kennengelernt habe, weitverbreitet gewesen. Sie steht dann nicht nur für das jeweilige Tier, welches erbeutet wurde, sondern auch für den ganzen Hergang der Jagd. Die Geschichten, die mir zu einzelnen Trophäen erzählt wurden, handelten oft von den vergeblichen Versuchen, dem Tier habhaft zu werden, von Spannung und von dem Moment, als es schließlich gelang. Ihre Rechtfertigung erhalten Trophäen hierbei durch das individuelle Andenken, welches mit ihnen verknüpft ist. Orthodoxe Jägerinnen und Jäger wertschätzen die Trophäe als Symbol für die Begegnung mit dem einzelnen Tier. Die Trophäe ist für sie das Andenken an jenes Tier, welchem sie nach Abwägung und Selektion – und manchmal erst nach Jahren des Beobachtens und Abwartens – das Leben genommen haben. Die Trophäe des Tieres aufzuhängen oder auszustellen, ist für sie eine Geste des Respekts. »Warum soll ich mir die Knochen an die Wand hängen?«, lautete die Gegenfrage, wenn ich mich bei Anderen nach dem völligen Fehlen von Trophäen in ihren Wohnungen erkundigte. Diese Jägerinnen und Jäger argumentierten, dass sie sich an spezielle Erlebnisse auch ohne Trophäe erinnern könnten. Trophäen seien – nicht immer, aber oft genug – der Ausdruck einer falschen Ideologie, jenes Trophäen-Kults, der falsche Bejagungsmotive begünstige, in dem sich die Jagenden zu sehr auf das männliche Wild fokussierten. Diese Jägerinnen und Jäger grenzen sich bewusst von einer solchen Ideologie ab. Das einzelne Tier, welches sie erlegen, schätzen sie deshalb nicht weniger. Tatsächlich hatte der Wunsch nach einer Jagdtrophäe um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert dafür gesorgt, dass in Teilen Deutschlands »das Geschlechterverhältnis und die Altersstruktur von Wildbeständen in großen Gebieten völlig unnatürlich beeinflußt wurden« (Stahl 1979: 278). Breite Kritik an den Folgen der vor allem auf das einzelne männliche Tier ausgerichteten ›Trophäen-Jagd‹, formierte sich jedoch erst Ende der 1970er Jahre angesichts überhöhter Wildbestände, enormer Wildschäden und dem desaströsen Zustand vieler Wälder. Diese Strömung mündete in der Gründung des Ökologischen Jagdverbandes (ÖJV), der eine Jagdausübung nur noch nach streng wildtierbiologischen und ökologischen Fakten forderte und sich damit in Opposition zur traditionellen Jagd dieser Zeit stellte. Die bisher gültigen Maßstäbe der Jagd und mit ihr das hegerische Selbstverständnis der Jäger_innenschaft und ihre paternalistische Beziehung zum Wild wurden in Zweifel gezogen. Nicht mehr der große, wohlgenährte Bestand an Trophäenträgern sollte nun gute Jägerinnen und

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Jäger auszeichnen, sondern der auf ein wirtschaftlich verträgliches Maß reduzierte Wildbestand. Die Feststellung von Eggelings (1988), dass schon die »zahlreiche[n] Zwänge von außen einen neuen Typus des Jägers […] entstehen lassen müssen, wenn Jagd im traditionellen Sinne auf die Dauer überhaupt noch möglich sein soll« (ebd.: 48) ist eine Diagnose, die diesem Zeitgeist entspricht. Dabei geht es auch um die Frage nach dem Stellenwert der Jagdtrophäe.

Schalenwild, Haarwild und Federwild Dieser neue »Typus des Jägers« entsteht Ende des 20. Jahrhunderts mit dem Ziel, Jagd zu Gunsten eines zahlenmäßig angepassten Bestandes und nur nach wildtierbiologischen Kriterien durchzuführen. Mit dem Versuch dieser Neuausrichtung nahm die Bedeutung der alten Kategorien in vielen Bereichen ab. Vor allem dort, wo die Jagd weniger zum privaten Vergnügen Einzelner stattfand, sondern vielmehr einer als notwendig angesehenen Bestandsregulierung diente, setzte sich ein differenziertes Verständnis der Jagd und der Beziehung zum gejagten Wild durch. Die Unterscheidung in Hoch- und Niederwild oder Raubzeug passte nicht mehr in diesen Kontext, da sie eine Hierarchie auswies, welche in dieser zweckorientierten Form der Jagdausübung überholt schien. Stattdessen etablierten sich Kategorien, die wertfreier sein sollten, als die alten und sich daher an physiologischen Merkmalen der Tiere festmachten. Unter Schalenwild wird seitdem alles Wild gezählt, welches Schalen [Hufen] hat. Darunter fallen in der Nordeifel Rotwild, Rehwild, Schwarzwild und Muffelwild. Alles übrige Wild wird entsprechend seines Haaroder Federkleides in die Kategorien Haar- beziehungsweise Federwild unterteilt. Die Jagd als konsequente ›Bestandsregulation‹ ist das immanente Ziel dieser Art zweckorientierten Jagens, wie es auch im Forstamt Hürtgenwald sowie im Nationalpark Eifel umgesetzt wird. Die Beziehung zum gejagten Wild, die sich in der konventionellen und privaten Jagd meist auf die Devise ›Wahl vor Zahl‹ herunterbrechen ließ, wurde von dieser neuen Jagd-Ideologie in ihr Gegenteil verkehrt. Die Jagd nach einzelnen Trophäenträgern auszurichten, so die Argumentation, geht immer zu Ungunsten einer wildtierbiologisch sinnvollen Bejagung und Reduktion. Es soll daher vor allem nach dem Motto ›Zahl vor Wahl‹ gejagt werden, wobei ein Kronenhirsch (männlicher Rothirsch mit ausgeprägtem Geweih) dabei nicht wertvoller sein konnte, als Kahlwild (weibliches Rottier, ohne Kopfschmuck). Gegenwärtig gibt es daher unterschiedliche Ausrichtungen innerhalb der Jäger_innenschaft, wenn es um die Frage geht, welche Bedeutung das einzelne Tier für die Jagd hat. Auch hierfür ist das Phänomen der Trophäe ein deutlicher Indikator. 21. Oktober 2016, Wahlerscheid: Drückjagd des Nationalparks Als »Jagd aus« und »Halali« von den Jagdhorn-Bläserinnen und -bläsern gespielt worden sind, löst sich die Jagdgesellschaft schnell auf. Sie hatte um die exemplarische

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Strecke, bestehend aus einem Stück Rotwild, einem Stück Rehwild und einem Stück Schwarzwild, gestanden. Ein letzter Blick in die geöffnete Wildkammer, in welche die drei ›Ausstellungsstücke‹ nun transportiert werden, verrät, dass man den Hirschen die Geweihstangen abgesägt hat. »Der Nationalpark will das so. Die wollen keine Trophäen. Wird sofort alles vernichtet.« erklärt Heike mir, als ich sie frage, was es damit auf sich hat. Alle Geweihe und Gehörne zu vernichten, ist ein Statement des Nationalparks Eifel für das dort praktizierte Verständnis von Jagd: Jagd ist kein Selbstzweck, sondern unterliegt einem übergeordneten Ziel, nämlich dem Schutz der Flora und einer Anpassung des Wildbestandes. Diese Auffassung von Jagd deckt sich auch mit der Entwertung der Kategorien Hoch- und Niederwild. Die Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten folgt demnach rationalen Kriterien. Das einzelne Wildtier ist vor allem Teil eines Bestandes, den menschliche Jägerinnen und Jäger als PrädatorenErsatz gegebenenfalls regulieren müssen. Obwohl diese utilitaristische Sichtweise offiziell auch vom Deutschen Jagdverband (DJV) propagiert wird, und das Narrativ des Prädatoren-Ersatzes unter allen Jägerinnen und Jägern, die ich kennengelernt habe, beliebt war, üben einzelne Individuen dennoch einen ungebrochenen Zauber auf viele Jägerinnen und Jäger aus. Am Ende von Jagden habe ich beim zeremoniellen Aufreihen des toten Wildes oft beobachtet, wie leicht ein erlegter Hirsch mit starkem Geweih die kollektive Aufmerksamkeit der Jagdgesellschaft versammeln konnte. Bei anderer Gelegenheit erfuhr ich, dass der Pächter eines Jagdreviers eine empfindliche Geldstrafe androhte, falls seine Jagdgäste fälschlicherweise einen Zukunftshirsch erlegen sollten – einen Hirsch also, der noch ein paar Jahre verschont bleiben sollte, bevor er reif sein würde. So ist das Prestige, welches historisch mit bestimmten Wildarten verbunden ist, noch immer mehr als ein dumpfes Grollen aus einer jagdlichen Vorzeit.

›Kulturfolger‹ und ›Kulturflüchter‹ Nicht immer sind es, wie wir gesehen haben, die Jägerinnen und Jäger alleine, welche sich bewusst ein prestigereiches Beutetier aussuchen und es nach reiflichem Beobachten und Abwägen wohlüberlegt erlegen. Zu den Tieren, die in die Kategorie der Gejagten fallen, gehören auch jene, bei denen die Jagd nicht Wahl, sondern gesellschaftliche Notwendigkeit ist. Die verwüsteten Felder und Wiesen, der Druck auf die natürliche Verjüngung der Bäume, die Angst vor Seuchen und Krankheiten, der abnehmende Bestand anderer Tierarten – all das sind Gründe, warum in der Eifel Wildschweine, Reh- und Rotwild, sowie Füchse besonders stark bejagt werden. Es ließe sich einwenden, dass Schwarzwild ebenso wie Rotwild zum Hochwild gehört. Und auch die Jagd auf den Fuchs von Jägerinnen und Jägern mehrheitlich als anspruchsvoll und spannend bewertet wird. Somit haben diese Tiere nach Dahles Analysen zur Klassifizierung des Wildes jagdlich interessante Attribute, wie Wehr-

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haftigkeit, Schnelligkeit und List und würden ohnehin weit oben auf der Liste der Lieblingsbeute der Jagenden stehen (vgl. Dahles 1990: 176). Doch um die Jagd im gegenwärtigen Deutschland adäquat zu verstehen, ist es notwendig, die Möglichkeitsbedinungen für diese humanimalische Ausgangssituation zu untersuchen, mit der Dahles ihre Analyse beginnt. Hierbei zeigt sich, dass die Verhaltensstrategien der bejagten Tierart ebenso Einfluss darauf haben, ob und wie Tiere bejagt werden. Für die Jagdpraxis bedeutend ist daher eine weitere Klassifizierung des Wildes – nämlich die in hemerophile und hemerophobe Arten, kurz ›Kulturfolger‹ und ›Kulturflüchter‹. Dies ist ein Einteilungskriterium, welches nicht nur auf das jagdbare Wild angewandt wird, sondern letztlich auf alle wild lebenden Tiere. Die Termini ›Kulturfolger‹ und ›Kulturflüchter‹ sind hilfreich, weil sie auf die Phänomenalität humanimalischer Begegnungen verweisen. Um jedoch einem potentiellen Missverständnis vorzubeugen, betone ich, dass ich diese Begriffe nicht im Sinne einer dualistischen Trennung zwischen der ›Kultur‹ auf der einen und der ›Natur‹ auf der anderen Seite verstanden wissen möchte. Vielmehr ist für die Klassifizierung in ›Kulturfolger‹ und ›Kulturflüchter‹ das Verhalten der Tiere im Bezug auf das Zusammenleben mit dem Menschen in einer durch menschliche Eingriffe geprägten Landschaft entscheidend. Deutlich wird hierdurch, über welche unterschiedlichen Formen der Handlungsmacht die Tiere im Bezug auf die Jagdausübung verfügen. Besonders die ›Kulturfolger‹ stellen für Menschen oft eine Herausforderung dar, da diese Tiere die Nähe zum Menschen akzeptieren und sogar suchen, ohne jedoch im klassischen Sinne domestiziert zu sein. Immer noch bleiben sie nach der hier gewählten Definition wilde Tiere; sie sind nicht zahm und dem Menschen nicht gefügig. Durch ihr Verhalten vermischen diese Tiere die Sphäre des ›Wilden‹ mit der Sphäre des ›Domestizierten‹. Ihre Handlungsmacht liegt darin, dass sie die Menschen durch ihre Präsenz zu einem antwortenden Handeln auffordern – auch dort und dann, wo und wann es den Menschen ungelegen ist. Die verstärkte Jagd auf gewisse hemerophile Arten ist auch immer schon eine Form dieses AntwortGebens. Dagegen liegt die Handlungsmacht der hemerophoben Arten darin, dass auch ihr sich entziehendes Verhalten beeinflusst, wie und ob überhaupt auf diese Arten gejagt wird. So wird die Jagd auf das Rotwild einerseits als gesellschaftliche Notwendigkeit verhandelt, welche sich aus der contested landscape ergibt. Neben den kleiner gewordenen und umkämpften Lebensräumen, reagiert das Rotwild zusätzlich sehr empfindlich auf Störungen in seinem Habitat. Es zieht sich zurück und wird heimlich und nachtaktiv. Je heimlicher es ist, desto schwieriger ist andererseits die Jagdausübung. Andere Tierarten, wie Hasen, sind auf spezielle Habitate und eine artenreiche Nahrungsgrundlage festgelegt und antworten mit ausbleibendem Nachwuchs, wenn sie diese nicht mehr vorfinden. Bei den Rebhühnern, dem Birk- und dem Auerwild hat das dazu geführt, dass sie aus dem Katalog der jagdbaren Arten genommen wurden oder eine ganzjährige Schonzeit haben.

III Tiere

In seinem Verhalten als ›Kulturfolger‹ oder ›Kulturflüchter‹ prägt das Wild die Jagdausübung und stellt das Selbstverständnis der Jägerinnen und Jäger in Frage. Während sich die hemerophilen Arten vermehrt den häuslichen Sphären des menschlichen Daseins annähern und dort genügend Nahrung und Lebensraum finden, ziehen sich jene Arten zurück, die sich durch die menschliche Anwesenheit gestört fühlen. Für die Jagenden bedeutet das, dass sie ihre Jagdpraxis dieser humanimalischen Phänomenalität anpassen müssen. Ihrem gegenwärtigen Selbstverständnis folgend sind Jägerinnen und Jäger Grenzgängerinnen und Grenzgänger zwischen dem ›Wilden‹ und der häuslichen Sphäre: Indem sie den ›Kulturflüchtern‹ Schutz bieten und die Anzahl und Annäherung der ›Kulturfolger‹ regulieren sollen, haben sie die Aufgabe, für ein dem menschlichen Maßstab entsprechendes Gleichgewicht zu sorgen. Jedoch zeigt sich momentan im öffentlichen Diskurs, dass Jägerinnen und Jäger daran auch scheitern können und in dieser Folge ihr Nutzen für die Gesellschaft und ihre Akzeptanz in Frage gestellt wird. Neben dem Narrativ von der Rückkehr des Wolfes ist es vor allem immer wieder das Schwarzwild, welchem diverse Zeitungsartikel derzeit gewidmet werden7 : Wildschweine, die sich in Vorgärten aufhalten, die Wiesen umpflügen und – im Zuge einer deutschlandweiten Diskussion über die Ausbreitung der Afrikanischen Schweinepest – auch die Angst vor der Seuche, die diese Tiere übertragen können, schüren. Damit einhergehend wurde die Verantwortung der Jäger_innenschaft diskutiert – vor allem dann, wenn offensichtlich ist, dass auch die menschliche Bejagung nicht dazu führt, dass unerwünschte Begegnungen zwischen Menschen und wilden Tieren ausbleiben. Am Beispiel der Wildschweine ist dies gegenwärtig besonders deutlich, jedoch gilt diese Feststellung auch für andere human-animalische Kollisionen, wie zum Beispiel im Bezug auf das Rotwild. Theoretisch könnten die menschlichen Jägerinnen und Jäger mit ihren technologischen Möglichkeiten leicht jene Wildarten stärker bekämpfen, sofern sie gesellschaftlich als schädlich eingestuft werden. Jedoch gehört zur gegenwärtigen kulturspezifischen Konzeption des Wildes, dass es nur nach strengen Vorschriften getötet werden darf, die dem ethisch-moralischen Prinzip der Weidgerechtigkeit entsprechen.8 Die Weidgerechtigkeit markiert hier den Unterschied zwischen Jagen und bloßem Töten. Diese normative Selbstregulierung der Jäger_innenschaft, welche auch in die Jagdgesetzgebung Einzug gehalten hat, verstärkt formal die Hand-

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Zum Beispiel Kuckelkorn (2017): »Waldumbau: mehr Futter für Wildschweine«, in Aachener Zeitung: 17; Gabbert (2017): »Wildschweine werden zum Problem«, in Aachener Zeitung: 15; Kasties (2016): »Im Frühling erwachen Wildtiere im Wald«, in Stolberger Nachrichten: 15; Wehner (2018): »Wie Ebola für den Menschen«, in Frankfurter Allgemeine Zeitung: 7.; Laermann (2018): »Eine andere Sicht auf die Schweinepest«, in Aachener Nachrichten: 15. Auf das Konzept der Weidgerechtigkeit werde ich ausführlich in Kapitel 4 – Die Jagenden eingehen.

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lungsmacht der Gejagten. Historisch liegt der Grund für diese Selbstbeschränkung, die durchaus nicht selbstverständlich ist, in der Zeit nach 1848: Mit dem Wegfall des adeligen Jagdregals drohten vielerorts die Wildbestände einzubrechen, da zunächst gejagt werden durfte, wie und wo es möglich war. Um den Bestand der Wildarten zu schützen, wurden bald schon Schonzeiten und weitere gesetzliche Einschränkungen festgelegt (vgl. Frank 2012: 10). Der Erhalt der jagdbaren Arten und zugleich die Regulierung der Bestände auf ein gesellschaftlich tragfähiges Maß, welches auch das Umsetzen wirtschaftlicher Interessen ermöglicht, waren offiziell die Ziele der Jagd ab Beginn des 20. Jahrhunderts. Beeinflusst wurde die rechtliche Gestaltung der Jagd dabei auch durch die Tierschutzbewegung des 19. Jahrhunderts (vgl. Stahl 1979: 86). Das alte Konzept der Weidgerechtigkeit erfuhr hierdurch eine Um-Akzentuierung zugunsten des Tierwohls. Die selektive Jagd, der wohlüberlegte Schuss, die Begründbarkeit des Todes eines Tieres – diese auch heute gültigen Prämissen – sind, den moralischen Vorstellungen einer Zeit und einer Gesellschaft entsprechend, an das individuelle Tier geknüpft, für das die Jägerinnen und Jäger rechtlich verantwortlich sind. Diese paternalistische Konzeption von Jagd führt nun dazu, dass die Jagenden im Bezug auf die Handlungsmacht der Gejagten nicht immer eine passende Antwort finden können.

Konklusion: Die phänomenalen Umstände der humanimalischen Begegnung Gemeinsam ist all diesen Kategorien, in die sich die jagdbaren Tiere einteilen lassen, dass sie menschlichen Kriterien entsprechen. Die Klassifizierung in Hochwild, Niederwild und Raubzeug ist eine wertende Einteilung, welche sich aus dem historischen Referenzrahmen des sozialen Prestiges ihrer Jägerinnen und Jäger erklärt. Schalen-, Haar- und Federwild sind dagegen beschreibende Bezeichnungen, die sich an den äußeren Merkmalen der Tiere festmachen, welche die Jagenden als zentral festlegen. Auch die Klassifizierung in ›Kulturfolger‹ und ›Kulturflüchter‹ verliert ihren anthropomorphen Grundzug nicht – letztendlich bleibt die menschliche Spezies das Maß der Dinge. Jedoch zeigt sich, dass diese Fremdzuschreibung auf anderen Prämissen beruht: Nicht Symbolismus und Abstraktion formen diese Kriterien, sondern die phänomenalen Umstände der humanimalischen Begegnung. Die Jagd ist die existenzielle Begegnung zwischen Mensch und Tier. Im Gegensatz zu den bisher angesprochenen Kategorien weist die Unterscheidung in ›Kulturfolger‹ und ›Kulturflüchter‹ darauf hin, dass die Umstände dieser Begegnung nicht alleine von den menschlichen Jägerinnen und Jägern bestimmt werden. Sie ist daher für eine phänomenologische Beschreibung der Jagd von Bedeutung, da sie sich auf die Möglichkeitsbedingungen der gegenwärtigen Jagdausübung bezieht. Die nachhaltigen Veränderungen der Landschaft und ihre Nutzungsweisen haben dafür gesorgt, dass bestimmte Tierarten sich so stark vermehrten, dass ihr hoher Bestand von der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft und teils vom institu-

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tionalisierten Naturschutz als schädlich bewertet wird – so wie das Rotwild in den Wäldern des Nationalparks und des Forstamts. Während die Schädlichkeit als jagdimmanente Klassifikationen (Raubzeug) zugunsten wildtierbiologischer Erkenntnisse und eines gesellschaftlichen Diskurses um den Stellenwert des Tieres abgemildert wurde (Prädatoren), taucht sie nun wieder auf. Am Beispiel der Wildschweine in der Eifel zeigt sich, dass die Handlungsmacht einer bestimmten Tierart auf die sozioökologische Umwelt so groß sein kann, dass dies zu einer Fremdbestimmtheit der Jagd führen kann, wie sie die Jäger_innenschaft gerade erlebt. Gegenwärtig sehen viele Jägerinnen und Jäger sich durch die erhöhte Population bestimmter Tierarten zu ›Schädlingsbekämpferinnen‹ und ›Schädlingsbekämpfern‹ gemacht. Im Bezug auf das Schwarzwild heißt es hierzu zum Beispiel vom Präsidenten des Deutschen Jagdverbandes: »[W]ir Jäger sind keine Schädlingsbekämpfer« (vgl. faz.net, 2018). Er positioniert sich gegen eine Forderung des Deutschen Bauernverbandes, die Wildschweinbestände um etwa 70 Prozent zu senken. Auch das sich in die verbliebenen Lebensräume zurückziehende Rotwild löst einen ähnlichen Interessenskonflikt zwischen Forstwirtschaft und Jagd aus. Da es gegenwärtig vor allem externe Interessen sind, die entscheiden, welche Wildarten wie stark bejagt werden müssen, fühlen Jägerinnen und Jäger sich in ihrer Kompetenz und ihrem Selbstverständnis hintergangen. Nicht immer sind die passenden Antworten auf solch humanimalische Kollisionen leicht zu finden. Jedoch zeigen diese Kollisionen auch, in welchem Umfang die gejagten Tiere die Jagd beeinflussen. Die phänomenalen Möglichkeitsbedingungen der Jagdpraxis auszuloten, hilft, die Gejagten als Handelnde zu begreifen, was konventionelle Analysen der Jagd bisher nicht geschafft haben. Es ist nicht falsch, die Jagd als Spiel oder Ritual herrschaftlicher Machtdemonstration zu verstehen (Howe 1981, Dahles 1993), denn auch heute spielt der traditionelle Symbol-Charakter bestimmter Wildarten – und vor allem bestimmter Individuen, wie dem männlichen Rothirsch mit seinem Geweih – noch eine Rolle für die Jagdpraxis vieler Jägerinnen und Jäger. Dieser Ansatz verkennt jedoch die Handlungsmacht der Gejagten und macht sie zu Statisten, zu den passiven Trägern symbolischer Attribute. Wie fundamental die gejagten Tiere die Jagd mitprägen, kann dieser Ansatz jedoch nicht greifen. Während der Bestand einiger Tierarten wie Hase, Rebhuhn oder Auerhahn weithin trotz aller Bemühungen von Jägerinnen und Jägern sinkt, vermehren sich andere Tierarten entgegen allen jagdlichen Bemühungen so rapide, dass Krankheiten, wie Tollwut, Staupe, Myxomatose oder die Afrikanische Schweinepest die betroffenen Bestände reduzieren. Diese Entwicklungen konterkarieren das Selbstverständnis der gegenwärtigen Jägerinnen und Jäger als Prädatoren-Ersatz und Hegerinnen und Heger. Es sind demnach nicht alleine die Menschen, welche die Bedingungen der Jagd prägen. Wie gejagt wird und auf welche Tiere sich die Jagd richtet, hängt auch von den Gejagten und ihrer Handlungsmacht auf ihre lebendige Umwelt ab. Es ist

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somit auch das Wild, welches seine Jägerinnen und Jäger auffordert, zu jagen, zu hegen, zu schonen.

3.1.2

Humanimalische Intersubjektivität

Bisher habe ich mich den gejagten Tieren genähert, indem ich auf sie als Wild, als kulturelle Kategorie, eingegangen bin. Diese schematische Annäherung hat gezeigt, dass diese Kategorie eine historische ist, die in sich veränderlich ist. Dafür, Wild als historisch variabel zu charakterisieren, spricht auch, dass einige Tierarten für die Jagdpraxis herausgefallen sind, während andere schon durch ihre zahlenmäßige Präsenz zu Hauptbeutearten werden. In der Situation, in der sich deutsche Jägerinnen und Jäger gegenwärtig befinden, sind es vor allem einige Arten, die Aufforderungscharakter für die Jagd haben. Durch die Größe ihres Bestandes und ihren Einfluss auf das humanimalische Zusammenleben verfügen die gejagten Tiere über eine Handlungsmacht, welche die Jagdpraxis deutscher Jägerinnen und Jäger nach Antworten befragt. Auf struktureller Ebene wird die Handlungsmacht der Gejagten durch das kulturelle Selbstverständnis der Jagenden, aber auch durch Jagd- und Naturschutzgesetze verstärkt. Werte, Normen und Gesetze definieren, auf welche Art und Weise Wild überhaupt gejagt werden darf. Um jedoch die Frage zu beantworten, wie die Gejagten während der tatsächlichen Jagdausübung für die Jägerinnen und Jäger bedeutsam werden, sind die bisher getroffenen allgemeinen Feststellungen noch nicht hinreichend. Erst eine phänomenologisch inspirierte Analyse der Begegnung von Jagenden und Gejagten ist ein tragfähiges Instrument, um auch die individuelle Handlungsmacht der Gejagten fassen zu können. Auch wenn noch mehr dazu gehört, so verwirklicht sich Jagd erst im Aufeinandertreffen von Jagenden und Gejagten. Durch ihre leibliche Anwesenheit – beziehungsweise Abwesenheit – werden Jagende und gejagte Tiere füreinander bedeutsam. Dieses Füreinander-bedeutsam-werden definiere ich in Anlehnung an die phänomenologische Theorie der Intersubjektivität als humanimalische Intersubjektivität. Ich schließe mich Breyer (2015) an, der definiert, dass »[m]it Intersubjektivität […] im Begriffsrahmen der modernen Subjektphilosophie nach der (transzendental verstandenen) Sozialität des Menschen gefragt [wird]« (ebd.: 13). Das aufblühende Feld der Human-Animal Studies legt nahe, dass diese transzendentale Sozialität auch auf nicht-menschliche Tiere ausgeweitet werden muss. Nichtmenschliche Tiere gestalten und prägen jene Sozialität mit. Kriterium der humanimalischen Intersubjektivität ist, dass menschliche und nicht-menschliche Tiere intentional Bezug aufeinander nehmen – die jeweils andere Spezies ist nicht nur einfach da, sie ist bedeutsam für die eigene Wahrnehmung und Deutung der gemeinsamen lebendigen Umwelt. Die Anwesenheit der anderen Spezies gestaltet das praktische Engagement eines Individuums mit. Boden für jene intentionale Bezugnahme und damit für die humanimalische Intersubjektivität ist, Husserls und

III Tiere

Merleau-Pontys Ideen folgend, die Leiblichkeit von Jagenden und Gejagten. In der Phänomenalität der Leiblichkeit liegt auch begründet, dass andere Lebewesen der eigenen oder einer anderen Spezies nicht als unbelebte Gegenstände wahrgenommen werden, sondern als lebendige Subjekte, die auf leibliche Bezugnahmen auch antworten können. Diese von humanimalischer Intersubjektivität durchzogene lebendige Umwelt qualifiziert sich damit als gemeinsame und geteilte Lebenswelt. Dies setzt nicht voraus, dass die gemeinsame Lebenswelt dabei die gleiche Bedeutung für alle ihre (nicht-)menschlichen Bewohnerinnen und Bewohner entfaltet. Jedoch beweist sich schon durch die gegenseitige Bezugnahme und das potentiell unendliche gegenseitige Antwort-Geben zwischen verschiedenen Spezies, dass die gemeinsame Lebenswelt der Boden der humanimalischen Intersubjektivität ist. Die humanimalische Intersubjektivität eröffnet die Lebenswelt als miteinander geteilte Lebenswelt. Die Jagd stellt einen besonderen Fall dieser humanimalischen Intersubjektivität dar. Sie ist nicht durch eine andauernde und unmittelbare Interaktion der menschlichen und nicht-menschlichen Individuen charakterisiert. Bei der Jagd, wie sie in der Nordeifel praktiziert wird, beschränkt sich das Aufeinandertreffen von Jagenden und Gejagten auf ein existenzielles Minimum. Die gejagten Tiere partizipieren an dieser humanimalischen Intersubjektivität, indem sie lernen die jagdlichen Aktivitäten der Menschen zu antizipieren und ihnen auszuweichen. Für das Tier gilt, »daß das ganze Leben […] in der steten Erwartung eines Angriffs geformt ist« (Ortega y Gasset 1985: 36). Die gejagten Tiere lernen nicht nur, die menschlichen Aktivitäten zu antizipieren, sondern sie passen ihren Lebensrhythmus dieser Situation an. Dabei ist das ausweichende Verhalten keine mechanische Reiz-ReflexReaktion, sondern es ist erlernt und variiert – abhängig von der Begegnungssituation zwischen Wildtier und Mensch. Die meisten Jägerinnen und Jäger sind sich sicher, dass die gejagten Tiere zwischen Begegnungen mit ungefährlichen Menschen, wie bspw. Spaziergängerinnen und Spaziergängern, und Begegnungen mit potentiell gefährlichen Menschen, also Jägerinnen und Jägern, unterscheiden können und sich dementsprechend verhalten. Gregor erläutert mir das anhand seiner Erfahrungen mit den Rehen, die in einem stadtnahen Revier leben. »Je mehr das Wild an die Öffentlichkeit gewöhnt ist… Ich kenne das aus dem Aachener Wald: Solange die Leute da spazieren gehen… Die können von mir aus rauchen, die können Jogging machen, die können sich unterhalten, alles kein Problem! In dem Moment, in dem man aber stehen bleibt und die [Rehe] intensiv beobachtet, dann werden sie unsicher und springen ab.« Die gejagten Tiere antworten auf die lokale und historische Situation, in der sie sich gemeinsam mit ihren menschlichen Jägerinnen und Jägern befinden. Für die Nordeifeler Jagd bedeutet das, dass sie lernen den Menschen auszuweichen oder

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gerade jene Landschaften bevölkern, die für die Jagd aus topografischen oder juristischen Gründen schlecht oder gar nicht zugänglich sind. So ist der Nationalpark Eifel ein wichtiges Rückzugsgebiet für das Rotwild. In dichter besiedelten Landschaften ist das hemerophobe Rotwild dagegen nachtaktiv geworden, um dem Kontakt mit Menschen auszuweichen. Hemerophilen Arten wie Rehe, aber auch Individuen, die keine Ausweichmöglichkeiten haben, passen sich dagegen an die menschliche Anwesenheit an. Wildschweine kommen erst mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden und in sehr unregelmäßigen Abständen zu den Kirrungen. Fotos von verschiedenen Wildkameras helfen den Jägerinnen und Jägern dann nur bedingt dabei, vorauszusagen, wann dort ein Tier erscheint. Die gejagten Tiere lernen, wie groß der Abstand zu Menschen sicherheitshalber mindestens sein muss und erkennen am Verhalten und an den Bewegungen, ob der jeweilige Mensch eine potentielle Gefahr ist oder nicht. Für jede Form von Unruhe in ihren Habitaten sind sie sensibel, wobei sie in der Lage sind, zu unterscheiden, welche Unruhe eine potenzielle Gefahr impliziert und welche nicht. Immer wieder beobachte ich auf Spaziergängen insbesondere in der Dämmerung Rehe und sogar auch Rotwild, das sich zur Nahrungsaufnahme nur unweit von Wegen befinden. Herr Leubner erzählt mir von vergleichbaren Erfahrungen aus seinem Revier: »Also, diese Angst, wir vergrämen hier unser Wild… Lieber Gott, die sind das doch heutzutage alle gewohnt. Wenn ich überlege, wo bei uns das Rehwild steht und das Schwarzwild liegt?! Das Schwarzwild liegt neben dem Eifelsteig [ein populärer Wanderweg]. Zehn Meter daneben. Und die mucksen sich nicht. Das Rehwild steht unterhalb von der Vennbahn [in einen Radweg umgebaute Bahntrasse] – zehn Meter – und man hört die Kinder schreien auf ihren Fahrrädchen und die Mütter brüllen und das Rehwild äst völlig ungestört… Die sind so daran gewöhnt.« Sehr oft wurde mir während der Feldforschung auch folgende Geschichte vom Rotwild im Nationalpark Eifel erzählt. Bevor die Landschaft zum Nationalpark umgewandelt wurde, war auf dem Gelände das belgische Militär stationiert. Von den militärischen Übungen ließ sich das dort lebende Rotwild nicht beunruhigen – auch dann nicht, wenn dort Panzerübungen gemacht wurden. Die Tiere hätten gewusst, dass die Schüsse nicht ihnen gegolten haben und daher seien sie äsend [fressend] auf den Freiflächen stehen geblieben, so die Geschichte. Die Geschichten über das Wissen des Wildes charakterisieren jene humanimalische Intersubjektivität, welche sich aus der Situierung der Tiere und der Menschen ergibt. Jägerinnen und Jäger antworten wiederum mit der Art ihrer Jagdausübung auf diese Situation. 30. September 2016, Lammersdorf: Ansitz mit Hermann Hermann und ich verlassen den Hochsitz schweigend. Ebenso schweigend folgen wir dem Pirschweg der vom Hochsitz durch den Wald zurück zum Waldweg führt, wo das

III Tiere

Auto geparkt ist. Wir wissen nicht, wie weit das Rotwild, welches wir vom Hochsitz aus gesehen haben, in den Bestand gezogen ist. Für den Fall, dass es noch in der Nähe ist, sind wir vorsichtig, um es nicht zu beunruhigen. Hermann geht vor mir. Seine Bewegungen sind ruhig und reduziert, fast lautlos, dabei doch fließend und zielstrebig. Ich versuche es ihm gleichzutun. Das leise Rascheln der Kleidung, die gedämpften Schritte auf dem Waldboden und die fallenden Regentropfen sind zu hören. Wir schleichen nicht, wählen unsere Schritte aber mit Bedacht und gehen langsamer als üblich. Erst als wir wieder auf dem Waldweg sind, ändert sich Hermanns Gang. Er wird schneller und seine Schritte knirschen nun laut auf dem feinen Splitt des Weges. Mir erscheint das alles unglaublich laut – dabei gehen wir ganz gewöhnlich. »Ganz normales Spaziergangtempo und ganz normal reden. Damit hat das Wild kein Problem.«, kommentiert er unsere neue Präsenz. Für Jägerinnen und Jäger hängt der Jagderfolg auch davon ab, dass sie unterscheiden können, an welcher Form menschlicher Anwesenheit sich das Wild stört und an welcher nicht. Sind sie im Revier, wollen sie Unruhe vermeiden. Unruhe ist dabei nicht gleichbedeutend mit menschlicher Anwesenheit und den Geräuschen, die diese Anwesenheit verursacht. Was Unruhe ist, hängt vielmehr von der Situation ab. Auf dem Waldweg müssen Hermann und ich unsere Präsenz nicht verstecken. Das hier lebende Rotwild kennt Menschen und die Geräusche ihrer alltäglichen Aktivitäten auf den Wegen. Die Art und Weise, wie Hermann und ich uns auf dem Waldweg bewegen, lässt unsere Anwesenheit deutlich wahrnehmbar werden. Indem wir durch die Qualität unserer Bewegungen unsere Präsenz anzeigen, demonstrieren wir unsere Ungefährlichkeit. Jenseits des Weges sind wir jedoch eine potentielle Störung. Menschliche Bewegungen jenseits der Wege sind selten und daher ein Grund für die Tiere, misstrauisch zu werden und sich tiefer in die Dickungen des Waldes zu drücken. Auf dem Rückweg vom Hochsitz durch den Wald waren wir daher so leise wie möglich. Unser Ziel war es, die Tiere nicht zu beunruhigen und zu vermeiden, dass sie noch heimlicher werden. Für das Wild ist es überlebenswichtig, die Aktivitäten ihrer Jägerinnen und Jäger zu erahnen. Oft handeln die Erzählungen von Jägerinnen und Jäger daher von Begegnungen mit Tieren, die das gelernt haben. Diese Begegnungen sind selten und meist nur sehr kurz. 28. Juli 2017, Brachkopf: Ansitz mit Simon und Tim, Lange Schneise Ein regnerischer Abend Ende Juli. Simon hat mich mit zum Ansitz auf der Kanzel »Lange Schneise« am Brachkopf genommen, wo er auf männliches Rehwild gewartet hat. Im Juli haben in Belgien nur Rehböcke Jagdzeit. Ich habe ihn begleitet. Nachdem nur Rotwild in einiger Entfernung auf der langen Schneise aufgetaucht ist, packen wir nach etwa zwei Stunden unsere Sachen und baumen wieder ab. Es dämmert schon

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deutlich im Wald. Wir gehen einen Waldweg entlang zurück zum Auto. Tim ist auch im Revier. Zu Beginn des Abends hat Simon ihn auf seinen Wunsch nach »Reenert Hött«, einer Hütte im Wald, gefahren, von wo aus er losgezogen ist. Nun holen wir ihn wieder dort ab. Tatsächlich sitzt Tim schon auf der Bank vor der kleinen Hütte, als wir dort ankommen. Hut und Gewehr neben sich. Auch er hatte Anblick: Es war sogar ein Rehbock. »Aber natürlich ganz zum Schluss. Als man fast nichts mehr sehen konnte. Da kam der raus.«, erzählt er. »Bestimmt ein Alter. Die kommen immer so spät raus.«, vermutet Simon. »Ich stand auf der Schneise…« »Bist du doch noch dahin?« »Ja zum Schluss. Ich wollte mal gucken. Und dann sehe ich den. Ich bin sofort in den Wald und wollte zu dem Sitz. Aber als ich da war…« »… War er weg?« »Weg! Ich hab den nicht mehr gesehen.« »Der wird auch nicht umsonst so alt geworden sein.«, stellt Simon abschließend grinsend fest.

Die humanimalische Intersubjektivität ermöglicht es Jägerinnen und Jägern dem gejagten Tier als individuellem Lebewesen zu begegnen, welches sich intentional auf seine Umwelt bezieht und sich dementsprechend planvoll in ihr bewegt. Während meiner Feldforschung habe ich zahlreiche Geschichten über einzelne Tiere gehört, die zwar immer wieder gesehen wurden, jedoch nie oder erst nach vielen Jahren von einer Jägerin oder einem Jäger erlegt wurden. Nicht nur der Rehbock, dem Tim im letzten Licht des Abends noch begegnete, ist ein Beispiel hierfür. Hermann erzählt mir vom Brachkopf-Hirsch. Über Jahre werden im Frühjahr die abgeworfenen Geweihstangen des Tieres gefunden. Das Tier selbst sieht jedoch niemand. Die Geweihstangen sind groß und oft vereckt und erzählen von einem kräftigen Tier. Mit den Jahren bilden sich die Stangen dann zurück und auch die Vereckungen werden weniger – der Hirsch wurde älter. Erlegt wurde er schließlich auf einer Jagd des belgischen Forstamts mit etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren – was für einen frei lebenden Rothirsch relativ alt ist. Der alte Keiler, von dem Herr Leubner mir erzählt, hinterließ im Jagdrevier nie mehr als seine Fährten. Gesehen hat er das Tier dann ein einziges Mal in einer Winternacht und danach nie wieder. In den Erzählungen der Jägerinnen und Jäger erhalten solche Tiere oft die anthropomorphe Aura einer Persönlichkeit. Die Beispiele, in denen Jägerinnen und Jäger ihr Verhalten an das antizipierte Verhalten der Tiere anpassen – und umgekehrt – zeigen, dass die humanimalische Intersubjektivität die Möglichkeit eines Perspektivwechsels beinhaltet. Wenngleich niemand sicher sein kann, ob diese Antizipationen mit der Wirklichkeit des jeweils anderen Tieres übereinstimmen und »die Differenzen in der organischen und intentionalen Konstitution derart [sind], dass man von artspezifischen Grenzen der Empathie sprechen muss« (Breyer 2015: 193), sind diese Antizipationen für die Handlungen und das Verhalten von Jagenden und Gejagten dennoch wirksam. Die humanimalische Intersubjektivität hat damit großen Einfluss auf die Jagd und

III Tiere

ihre praktische Logik. Die Jagdlogik, nach welchen Regeln und unter welchen Umständen wann und wo welche Tiere gejagt werden, ist zum großen Teil durch das jagdliche Selbstverständnis und die Jagdgesetze gerahmt. Jedoch entfaltet sie sich innerhalb dieses Rahmens noch viel feinkörniger. Zu dieser praktischen Logik gehört neben den formalen Regeln auch jenes im zweiten Kapitel ausgeführte jagdliche Wissen über die Landschaft als Wind-und-Wetter-Welt. Entscheidend dafür, wie die Jagd ausgeht, ist aber die in der humanimalischen Intersubjektivität implizierte Fähigkeit zum Perspektivwechsel. »Jeder Jäger weiß, daß ihm beim Tier am meisten dessen Abwesenheit zu schaffen macht.«, schreibt Ortega y Gasset (1985: 50). Für die gejagten Tiere ist diese Abwesenheit jedoch überlebenswichtig. Die Fähigkeit, jenen Perspektivwechsel zumindest in seinen Grundzügen zu vollziehen, ermöglicht es ihnen, sich so zu verhalten, dass sie unentdeckt bleiben. Für Jägerinnen und Jäger erhöhen sich durch einen erfolgreichen Perspektivwechsel ihre Erfolgschancen. Die humanimalische Intersubjektivität erlaubt es ihnen, sich bis zu einem gewissen Grad in die gejagten Tiere einzufühlen und »die Umgebung automatisch vom Blickpunkt des Wildes aus wahr[zu]nehmen, ohne daß […] [sie ihren] eigenen aufgeben. Die Sache ist an und für sich paradox und scheint sich selbst zu widersprechen, sie läßt sich aber nicht leugnen.« (Ortega y Gasset 1985: 91) In der Tat findet sich dieses Phänomen überall dort, wo Menschen wilde Tiere jagen. Besonders Sharp und Sharp (2015), sowie Willerslev (2007) geben mit ihren Ethnografien über die Subsistenz-Jagd in den Polarkreisregionen Nordamerikas und Sibiriens anschauliche Beispiele dafür, wie sich diese intersubjektive Einfühlung der jagenden Menschen auf ihre Beutetiere vollzieht. Willerslev beschreibt die zugrunde liegende mimetische Annäherung wie folgt: »hunters are both humans and the animals they hunt, both predators and prey, and so on. This condition of fundamentally liminality or in-betweeness seems to have no ending« (Willerslev 2007: 12). Charakteristisch für die dort beschriebenen Arten der Jagd ist, dass die Jägerinnen und Jäger möglichst nah an das gejagte Tier herankommen müssen, um es erfolgreich erlegen zu können. Phänomenologisch vollzieht sich dabei eine Einfühlung, die nicht nur konzeptueller sondern vor allem leiblich-kinästhetischer und optischer Art ist. Willerslev beschreibt, wie die Jägerinnen und Jäger den gejagten Elchen nahe kommen, indem sie sich der gejagten Spezies mimetisch annähern. Die Problematik bei dieser Art der Mimesis besteht für die Jagenden nicht in der empathischen Einfühlung in das gejagte Tier – vielmehr sehen die Yukaghir die größte Gefahr darin, dass sie ihre menschliche Perspektive in dieser Grenzregion der Mimesis verlieren und so ganz und gar zum Beutetier werden (vgl. Willerslev 2007: 89). Auch die Dénesuliné in den North-West Territories Kanadas nutzen jene Möglichkeit, sich bis zu einem gewissen Grad in die gejagten Rentiere einzufühlen, für die Jagd. Dabei müssen sie antizipieren, wie nah sie den Tieren kommen können, ohne dass diese die Flucht ergreifen. Wie auch für Hermann die Qualität unserer Bewegungen zentral war, um keine Störung für das

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Rotwild zu sein, so passen die Denésuliné ihre Bewegungen ebenfalls dem antizipierten Empfinden der Rentiere an: Die Jägerin oder der Jäger »does not sneak from cover to cover. The pattern of movement must remain fluid and nonthreatening, obvious to the caribou but not worthy of attention.«(Sharp/Sharp 2015: 246) Wie das Wild spezifische Jagdsituationen wahrnimmt, leitet die Jagd in großem Maße an. Ob bei der Ansitzjagd, wenn die Jagenden versteckt auf Hochsitzen auf die Begegnung mit Wild hoffen, oder auf großflächig organisierten Drückjagden: Das Wichtigste ist, dass das Wild durch die menschliche Anwesenheit nicht unnötig verunsichert wird, bevor die Jagd begonnen hat oder wenn sie endet. Dazu gehört auch, dass für die Jägerinnen und Jäger bestimmte Verhaltensregeln gelten, welche sich einzig und alleine durch die humanimalische Intersubjektivität begründen lassen. Mitte/Ende Mai, Gut Schwarzenbruch: Ansitz mit Georg Georg und ich sitzen auf »Sauen 1«. Es ist Anfang Mai und die Jägerprüfung ist noch nicht lange her. Da wir noch keine Waffen besitzen, sind wir zum Beobachten hergekommen. Wir haben Glück: Zwei Rehe erscheinen in unserem Blickfeld. Eine Ricke und ein Schmalreh tauchen immer wieder auf, um kurze Zeit später wieder im Blätterdickicht zu verschwinden und dann plötzlich wieder da zu sein. Das Licht schwindet, das Grün des Waldes verfärbt sich immer mehr in ein Blau. Die Luft riecht schon nach der Kühle der Nacht. Als wir beschließen, abzubaumen, sind die Tiere wahrscheinlich noch in der Nähe, jedoch haben wir sie seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Wie wir es gelernt haben, klopft Georg kurz einige Male mit den Fingerknöcheln gegen den hölzernen Rahmen des Hochsitzes. Wir wiederholen das Klopfen in einigem Abstand solange, bis wir glauben, dass die Tiere skeptisch geworden sind und tiefer in das Buschwerk am Waldrand gezogen sind und sich von uns nicht mehr stören lassen. Wir packen unsere Sachen zusammen und klettern die Leiter der Kanzel hinunter. Wenngleich Georg und ich keine endgültige Sicherheit hatten, dass die beiden Rehe noch in der Nähe waren, wollten wir sie nicht stören. Wir wollten vermeiden, dass unsere Anwesenheit heute Abend sie misstrauisch macht und sie diesen Ort in Zukunft vielleicht meiden. In unserem Verhalten haben wir uns auf das Wissen erfahrener Jägerinnen und Jäger verlassen. Im Jagdkurs wurde uns erklärt, dass jeder Zusammenhang zwischen dem Menschen als Jäger und damit als Gefahr für das Wild vermieden werden muss. Gregor fasst dies wie folgt zusammen: »Du musst immer darauf achten, dass es keinen Zusammenhang zwischen Jäger und Gefahr gibt. Oder Tod. Und deswegen auch: Wenn ich etwas erlegt habe, erst mal sitzen bleiben. Erst mal gucken, was ist los? Ist noch Wild da? So, und dann, wenn jetzt wirklich noch welches da ist, mache ich mich irgendwie bemerkbar, um es etwas zu vergrämen. Aber ohne, dass es für die Tiere zum Stress wird. Metallische Geräusche

III Tiere

sind ein Problem – die sollte man auf jeden Fall vermeiden. Wenn ich jetzt auf einem Hochsitz sitze, die ja meistens aus Holz sind, dann klopfe ich einfach mal. [Gregor klopft auf den hölzernen Tisch.] So, und dann werden die aufmerksam und gucken mal. Oft äsen [fressen]sie dann auch noch weiter. Dann klopfe ich nochmal und beim dritten oder vierten oder fünften Mal fangen sie an, etwas unsicher zu werden und ziehen sich zurück. Und das ist das, was ich will, ja? Dann baumt man ab und geht zu dem Stück hin. Damit eben, wie gesagt, kein Zusammenhang zwischen Gefahr und Jäger … also, dass der Jäger praktisch Gefahr für das Wild ist – dass dieser Zusammenhang nicht entsteht. Wenn ich jetzt ständig immer zur gleichen Kanzel laufe, dann wird das Wild von allein unsicher und [denkt]: ›Da sitzt der schon wieder. Da kommt der schon wieder. Gehen wir lieber dahinten hin.‹«

Das Bewusstsein für die, der humanimalischen Intersubjektivität folgende Jagdlogik ist für Gregor Voraussetzung dafür, erfolgreich jagen zu können. Vor allem Gregors Unterscheidung zwischen Geräuschen, die das Wild vergrämen ohne, dass es zum Stress für das Tier wird (das Klopfen auf Holz) und Geräuschen, von denen Jägerinnen und Jäger sicher sind, dass die Tiere sie mit akuter Gefahr verbinden (metallische Geräusche, wie sie bspw. in der Handhabung einer Feuerwaffe entstehen), zeigt, wie differenziert diese antizipierende Einfühlung abläuft und sich als Jagdlogik entfaltet. Auch für den Erfolg einer gemeinschaftlichen Jagdveranstaltung spielt die humanimalische Intersubjektivität eine Rolle. Nachdem ich als Treiberin an einigen größeren Drückjagden teilgenommen habe, unterhalte ich mich mit Andreas über diese Art der Jagd. Er ist der Meinung, dass das Bewusstsein für die humanimalische Intersubjektivität zum Handwerk von Jägerinnen und Jägern gehört und gibt ein Beispiel dafür, wie sich ein Mangel von diesem Bewusstsein auswirkt.

Tanja: »Ich war zwar jetzt noch nicht auf so vielen Jagden dabei – aber wenn nicht so viel war [zur Strecke kam], da haben die Leute [Jägerinnen und Jäger] immer gesagt: Ja, die sind rüber ins Nachbarrevier. Also, ist es schon so, dass die Tiere mitkriegen, wenn Jagd ist? Und dass sie wissen, wohin sie [flüchten] können?« Andreas: »Aber das ist für mich ein Zeichen, dass die Jägerschaft ihr Handwerk überhaupt nicht versteht. Wenn ich auf den Drückjagden sehe: Es ist nicht zu vermeiden, dass mit den Autos ins Revier gefahren wird. Das ist im Prinzip aber auch nicht das Thema. Auf den Hauptwegen sind die Tiere den Fahrzeuglärm eh gewohnt. Aber wenn dann vermehrt Türen geschlagen werden und lautes Gelaber und hast du nicht gesehen… Solange das alles im normalen Rahmen abläuft, sprich wie Wanderer oder Spaziergänger oder der gleichen, stört sich das Wild nicht daran. Aber die [Tiere] haben ganz schnell spitz, was da abgeht. Und viele Jäger verhalten sich einfach nicht

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dementsprechend. Klar, wenn dann die Türen geschlagen werden, ist das Wild von vornherein auf und fort.« Die genannten Beispiele zeigen, dass die gejagten Tiere in der Erfahrung von Jägerinnen und Jägern als Lebewesen bedeutsam werden, welche die Fähigkeit haben, menschliche Aktivitäten zu antizipieren. Sie erleiden die Jagd nicht als passive Objekte menschlicher Handlungen, sondern sie sind Handelnde. Ihre Handlungsmacht stellt sich im von mir gewählten Sinne dar als »a consequence of their deep implication in relation with humans« (Carter/Charles 2011: 264). Diese Handlungsmacht hat Aufforderungscharakter gegenüber den menschlichen Jägerinnen und Jägern und ist damit ein Anspruch an ihre jagdlichen Aktivitäten, der ihnen Antworten abverlangt (vgl. Waldenfels 2006: 59). Zumindest rudimentär müssen sich die Jagenden in die gejagten Tiere einfühlen, um erfolgreich zu sein. Für die gejagten Tiere ist es wiederum überlebenswichtig, jagende Menschen von ungefährlichen Menschen zu unterscheiden und das Verhalten der Jagenden zu antizipieren. Aus gegenseitigen Antworten leiten Jägerinnen und Jäger wiederum Verhaltensregeln ab, die im antizipierten Empfinden jener wilden Tiere begründet sind. Die Wildheit der Tiere impliziert auch, dass Jagende und Gejagte einander während der Jagd meist nur aus der Distanz begegnen. In der Regel – nämlich dem Schuss aus einer Distanz von etwa 40 Metern bis 150 Metern – gibt es sogar im Moment des Tötens keinen leiblichen Kontakt zwischen Jagenden und Gejagten. Dennoch sind die gejagten Tiere und die Jägerinnen und Jäger nur qua ihrer leiblich-wahrnehmbaren Anwesenheit, beziehungsweise Abwesenheit für die andere Spezies bedeutsam. Die Jagd entspricht daher einem »situativ verkörperten Anspruch« (Waldenfels 2006: 59) den Jagende und Gejagte gegenseitig aneinander richten und der – der Logik der Jagd folgend – Antworten von der jeweils anderen Spezies verlangt. Mit der humanimalischen Intersubjektivität ist daher die phänomenologische Grundstruktur der Jagd gefunden.

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Jagdhunde »Damit tritt der Hund in die Jagd ein, und das ist der einzige denkbare, wirkliche ›Fortschritt‹ bei der Jagd; er besteht nicht in der direkten Betätigung der Vernunft, sondern darin, daß der Mensch ihre Unzulänglichkeit anerkennt und zwischen seine Vernunft und das Tier ein anderes Tier einschaltet.« (Ortega y Gasset 1985: 51)

Jagdhunde sind fester Bestandteil der deutschen Jagdpraxis. Sie genießen bei Jägerinnen und Jägern hohes Ansehen und eine Vielzahl der Gespräche, die auf den Jagden, so wie im Jagdkurs stattfanden, drehten sich um sie. Dabei ist der Staus

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des Jagdhundes ambivalent: Zunächst ist er ein Jagdhelfer für die menschlichen Jägerinnen und Jäger – ein Arbeitstier also. Damit ist die gegenwärtige Beziehung zwischen Hunden und Menschen jedoch nicht erschöpft. Zu ihren Hunden hegen die meisten Jäger und Jägerinnen eine emotionale Beziehung. So ist der Hund nicht nur nützlich, sondern darüber hinaus auch ein Familienmitglied, für das sie Verantwortung übernehmen. Die enge persönliche Beziehung zwischen Hund und Jägerin, beziehungsweise Jäger ist dabei eingebettet in eine historisch enge Beziehung zwischen Menschen und Hunden – gerade während der Jagd. Diese Beziehung des Menschen zum Hund vervielfältigt sich weiter, weil der Jagdhund nicht nur domestiziertes Haustier, sondern zugleich auch den Status eines wilden Jägers für sich beanspruchen kann. Welches Ansehen die Jagd mit dem Hund in Deutschland genießt, zeigt sich daran, dass das Fach Hundewesen für alle angehenden Jäger und Jägerinnen verbindlich ist. Ungeachtet der persönlichen Beziehungen zu Hunden, welche die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in unserem Jagdkurs mitbrachten, mussten sie sich intensiv mit den Themen Jagdhunderassen, Erziehung, Hundehaltung und ihrem Gebrauch bekannt machen und wurden darin geprüft. Nicht jeder Hund ist aber gleichzeitig ein Jagdhund. Ob er in diese Kategorie gehört, ist zunächst formal durch die Rasse festgelegt, welcher er angehört. Da es für Jagdhunde traditionell eine Vielzahl von Einsatzgebieten während und nach der Jagd gibt, werden die einzelnen Rassen wiederum in Rassegruppen, die sich an den Einsatzgebieten orientieren, eingeordnet. Hunde einer Jagdhund-Rasse müssen, um aber tatsächlich als Jagdhunde anerkannt zu werden, spezielle Prüfungen absolvieren, in denen ihnen Aufgaben aus ihren Arbeitsbereichen gestellt werden. Auf den Jagden, an denen ich teilgenommen habe, habe ich nur den Bruchteil dieser Arbeitsfelder kennengelernt. Aufgrund der landschaftlichen Gegebenheiten in der Nordeifel wurden die anderen Arbeitsfelder dagegen kaum oder gar nicht ausgeübt. Im folgenden Kapitel werde ich Situationen während und nach der Jagd beschreiben, die charakteristisch für die Arbeit mit Hunden sind. Hauptsächlich möchte ich auf diejenigen Einsatzmöglichkeiten von Jagdhunden eingehen, welche für die Jagd in der Eifel besonders relevant sind, jedoch werde ich auch einen Überblick über andere Einsatzfelder von Jagdhunden geben, die in der Eifel nicht ausgeübt werden und darauf verweisen, warum das nicht der Fall ist. Ich werde argumentieren, inwiefern Jagdhunde als domestizierte Tiere entgegen der traditionellen Trennung zwischen dem Wilden und dem Domestizierten Aspekte von Wildheit aufweisen. Weil der Hund auch ein ›wildes Tier‹ sein kann, changiert die Hund-Mensch-Beziehung während der Jagd zwischen Risiko und Vertrauen. Aus dieser besonderen Form der humanimalischen Jagd ergeben sich auch Konflikte, die ich beleuchten werde. Zum Schluss möchte ich das Verhältnis zwischen menschlichen Jägern und Jägerinnen und ihren Jagdhunden aus einer phänomenologischphilosophischen Perspektive analysieren. Diese Perspektive erlaubt zu verstehen,

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dass und wie es zu einem humanimalischen Verstehen zwischen Mensch und Hund kommen kann. Wie auch zwischen Jagenden und Gejagten basiert das Verhältnis zwischen Menschen und Hunden auf humanimalischer Intersubjektivität. Besonders ist hierbei, dass die menschlichen Jägerinnen und Jäger sich das sinnliche Wahrnehmungsvermögen der Hunde zu Nutze machen. Hund und Mensch werden während der Hundearbeit füreinander bedeutsam, weil der Mensch den Jagdhund dazu motivieren kann, in seinem Sinne zu kooperieren. Begründen lässt sich die Kooperationsbereitschaft des Hundes durch das Machtverhältnis, welches diese humanimalische Beziehung strukturiert. Dieses Machtverhältnis ist ein asymmetrisches, welches dem Menschen erlaubt, den Hund in seinem Sinne durch Zuchtauswahl genetisch zu prädisponieren und zu erziehen. Gleichzeitig übersteigt die Beziehung von Hund und Mensch jedoch die Form einer einseitigen Dressur. Vor allem charakterisiert sich die Beziehung zwischen Jägerinnen und Jägern zu ihren Hunden durch Momente des gegenseitigen Verstehens und Vertrauens. In der Ausbildung erlernen Hunde und Menschen zwar grundsätzliche Verhaltensmuster für die humanimalische Kommunikation. Während der Jagd zeigt sich dieses humanimalische Vertrauen und Verstehen jedoch als etwas, das über erlernte Reiz-Reaktionsschemata hinaus geht. Ich werde anhand einzelner Situationen aufzeigen, dass humanimalisches Verstehen und Vertrauen zwischen Hunden und Menschen nicht das Ergebnis einer Dressur ist, sondern dass Hunde und Menschen es sich im Laufe ihres gemeinsamen Zusammenlebens und -arbeitens aneignen. Zwischen Menschen und Jagdhunden besteht daher eine spezifische Ausprägung der humanimalischen Intersubjektivität.

Jagdhunde in der Nordeifel: Während der Jagd 03. November 2016, Hürtgenwald: Drückjagd des Forstamts Hürtgenwald Unsere Gruppe von Treiberinnen und Treibern kämpft sich durch eine unwegsame Dickung. Viele Wildschweine müssen in diesem Brombeer-, Farn- und BäumchenDickicht ihr Zuhause haben; die Zeichen sind offensichtlich. Die Tunnel, die sie sich durch die Dickung gebahnt haben, Fährten [Hufabdrücke beim Schalenwild, hier von Wildschweinen], Losung [Exkremente] und ihre Liegeplätze sind überall zu sehen. Da ist auch die Maggi-Note wieder in der Luft, welche die Anderen eben schon wahrgenommen haben – auch ich rieche sie dieses Mal. Aber um uns herum regt sich nichts, während wir uns durch Dornen und Wildschwein-Tunnel schlagen. Kein Rascheln, kein Quieken oder Grunzen, kein Getrappel. Außer uns Menschen kündigt nur Franz‹ helles Bellen und das Glöckchen an seinem Halsband von Bewegungen im Dickicht. Franz ist ein Deutscher Jagdterrier, ein kleiner schwarzer Hund mit rotbrauner Fellzeichnungen über den Augen, an der Brust und den Pfoten. Sein Fell ist fest und kurz;

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es fühlt sich rau an, wenn man ihn streichelt. Wie bei vielen Jagdterrieren ist seine Rute [Schwanz] kupiert. Bei einigen Jagdhunde-Rassen ist das mit der Begründung erlaubt, Verletzungen während der Arbeit vorzubeugen. Solche Verletzungen, wie sie sich Franz vielleicht zufügen könnte, während er immer wieder zwischen uns Menschen hin und her läuft – von Dornen völlig unbeeindruckt. Seine kurzen Läufe erlauben es ihm, problemlos durch das Dickicht hindurch zu laufen. Als wir Menschen es endlich hindurch geschafft haben, hat niemand von uns ein Schwein gesehen. Die beiden Mitarbeiter vom Forstamt stellen fest, dass heute eindeutig Hunde fehlen. »Kann sein, dass die [Schweine] da noch drin sind. Die warten das ab.«, vermutet der eine von ihnen. Er bekommt Zustimmung von den Anderen. Diese Situation zeigt, wie Jagdhunde in der Nordeifel auf Drückjagden zum Einsatz kommen. Sie helfen den menschlichen Treiberinnen und Treibern, indem sie durch Büsche und Dornen stöbern. Gerade in für Menschen unzugänglichem Gelände sind Jagdhunde eine große Hilfe. In unserer Gruppe waren wir vier Menschen und ein Hund. Franz9 war viel flinker und schneller als wir Menschen. Kreuz und quer lief er in den Brombeeren, Fichten und Farnen umher – fortwährend kläffend. Sein Gebell und das Glöckchen an seinem Halsband ließen nicht nur uns Menschen wissen, wo er war. Franz‹ Präsenz war auch sofort für das gejagte Wild vernehmbar. Als ich ihn kennenlernte, war Franz ein ehrgeiziger Jäger. Sobald Heike ihn auf einer Jagd aus dem Auto entließ, zitterte der Hund. Nicht vor Kälte, wie ich zunächst annahm, sondern – wie mir Heike erkläre – vor Anspannung. »Terrier.«, sagte sie dann. »Die sind alle so bekloppt.« Tatsächlich wird Jagdterrieren eine besonders große Jagdleidenschaft nachgesagt, der Franz auch entsprach. Zu Beginn einer Drückjagd konnte man ihm ansehen, dass er den Moment kaum erwarten konnte, endlich geschnallt [von der Leine gelassen] zu werden und auf die Jagd zu gehen. Auf der Jagd zu sein, bedeutete für Franz, loszulaufen, den Fährten und Spuren von Wild zu folgen und uns bellend mitzuteilen, wo er war und ob er dort etwas Interessantes wahrnahm. Hunde, so haben Telemetrie- und GPS-Systeme regelmäßig bewiesen, laufen während des Treibens das Vielfache im Vergleich zu den menschlichen Treiberinnen und Treibern. Jagdterrier wie Franz sind kleine Hunde und eignen sich für das Treiben besonders gut, denn aufgrund ihrer Körpergröße

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Franz lernte ich 2015 kennen. Da war er mit neun Jahren schon eher ein Senior unter den Hunden. Mit und mit ließen seine körperlichen Fähigkeiten in den letzten drei Jahren nach. Heike holte ihn immer weniger mit zu Jagden, bis er schließlich erblindete und auch nicht mehr gut hörte. Von da an kam Franz nicht mehr mit auf Drückjagden. Im Frühjahr 2018 wurde er eingeschläfert. Zu seinen altersbedingten Schwächen war auch noch ein schnell wuchernder Krebs dazu gekommen, so dass Franz‹ Tierärztin keine Hoffnung mehr für ihn sah.

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können sie sich auch problemlos durch Gebüsche und Dickungen hindurch bewegen, die für die großen, breiten Körper von Menschen nur schwer zugänglich sind. Dabei blieb Franz in der Regel in der Nähe von Heike und leistet somit einen Beitrag zu der Jagdstrategie, das Wild auf die Läufe zu bringen und in Richtung der Jäger und Jägerinnen zu drücken. Je mehr Hunde in einem Treiben mit jagen, desto wahrscheinlicher ist es für die Jagdgesellschaft, dass vor allem Wildschweine tatsächlich aufgescheucht wurden und sich nicht einfach überlaufen ließen. Im Zuge des gegenseitigen Antizipierens von Jagenden und Gejagten lernen einzelne Tiere, vor allem Rehe und Wildschweine, dass die Flucht nach vorne nicht immer die beste Taktik ist, um sich in Sicherheit vor den menschlichen Jägerinnen und Jägern zu bringen. Gerade erfahrene Tiere lassen sich auch überlaufen. Sie verhalten sich so unauffällig wie möglich, drücken sich auf den Boden und warten ab, bis die Gefahr vorüber ist. Vor allem gegenüber menschlichen Treiberinnen und Treibern kann das ein erfolgreiches Verhalten sein. Auf Drückjagden bilden die Menschen Reihen, um so das Gelände in einem möglichst gleichmäßigen Abstand von etwa fünf bis zehn Metern in ruhigem Tempo zu durchstreifen. Ziel ist es, die Tiere zu beunruhigen und zur Flucht nach vorne zu bringen – jene Richtung, in der die Jäger und Jägerinnen auf ihren Ständen schon warten. Einmal habe ich als Treiberin erlebt, dass ein Reh keine fünf Meter vor mir aufgesprungen und in die entgegengesetzte Richtung geflohen ist – nach hinten und nicht, wie erwartet nach vorne in Richtung der Schützinnen und Schützen. Auch wenn ich es nicht mit Sicherheit sagen kann, so vermute ich, dass das Reh an diesem Tag nicht erlegt wurde. Nach der Jagd stand ich mit anderen Treiberinnen und Treibern, so wie Jägern und Jägerinnen zusammen und erzählte von meinem Erlebnis. Das Ergebnis war, dass mir viele solcher Geschichten erzählt wurden, sogar von Hasen, die sonst bei Beunruhigung schon frühzeitig mit Flucht antworten. Kommentiert wurde das abschließend damit, dass manche Tiere das gelernt haben. Jagdhunde sind wendig und schnell. In solchen Fällen, wie dem oben beschriebenen, können sie sich dem fliehenden Tier flexibler nähern als die Menschen. Sie können ihm auch dorthin folgen, wo es für diese zu unwegsam ist. Für die menschlichen Treiberinnen und Treiber ist es also eine große Hilfe, wenn Hunde im Treiben sind. Unser Erlebnis in der Dickung entsprach dieser Logik. Franz erleichterte uns die Arbeit enorm. Während wir noch dabei waren uns einen Weg zu bahnen, oder auf allen Vieren durch einen der Wildschwein-Tunnel krochen, hatte Franz sich schon mehrfach durch die Dickung bewegt. Aber obwohl wir ihn dabei hatten, kamen wir uns recht hilflos vor, denn auch er konnte nicht zugleich überall sein. Wir waren uns sicher, dass die Wildschweine mit uns zusammen im Dickicht waren. Ihr Geruch verriet ihre Anwesenheit. Dennoch war es für uns unmöglich, sie heraus zu drücken. Wir vermuteten, dass sie sich vielleicht in einem großen Kreis um uns

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herum bewegten.10 Es war möglich, dass sie die Nervenstärke hatten, sich nicht von uns erschrecken zu lassen. Trotz des Lärms, den wir mit unseren »Hop!«-Rufen machten und einem kläffenden Hund bei uns, bleiben sie vielleicht einfach in einer besonders dicht bewachsenen Ecke des Brombeer-Gebüschs und warteten ab. Der Kommentar des Forstamtsmitarbeiters fasst daher die Situation gut zusammen: Um wirklich erfolgreich zu sein, hätte es mehrerer Hunde bedurft. Mehr Hunde bedeuteten mehr Stress für die Wildschweine und größeren Jagddruck. Die Hunde hätten einander unterstützen können und eventuell flüchtende Wildschweine auch außerhalb der Brombeeren verfolgen können, so die Theorie. Ortega y Gasset weist darauf hin, dass der Hund »von jeher und aus eigenem Antrieb ein begeisterter Jäger war« (1985: 51) – schon bevor es ein Zusammenleben und -arbeiten von Hunden und Menschen gegeben hat. Die Erfahrung, dass Hunde einen eigenen Antrieb zur Jagd haben, machen Jägerinnen und Jäger auch gegenwärtig. Einige der Vorkommnisse in dieser humanimalischen Jagd-Partnerschaft zeigen sehr deutlich, dass die Hunde dabei auch und vor allem ihrem eigenen Jagdtrieb folgen. 24. November 2017, Konzen: Drückjagd am Brachkopf Eine dichte Naturverjüngung aus Birken, Erlen und Fichten. Viel Farn und Binsen darum. Das Gelände ist unübersichtlich. Hermann und noch einige andere Treiberinnen und Treiber sind nun in der Naturverjüngung. Bei ihnen sind die beiden Jagdterrier von Alphonse und Eboni, Hermanns elfjährige Deutsch Drahthaar-Hündin. Als Drahthaar ist Eboni – im Gegensatz zu den Terriern – fast zu groß, um problemlos durch Fichtendickungen und Gebüsche zu laufen. Drahthaare sind relativ große Hunde mit kurzem rauen, graumeliertem Fell. Eboni ist eher bräunlich. Sie hat einen braunen Kopf mit hellbraunen Augen, jedoch recht wenig von dem typischen Bart an der Schnauze, der charakteristisch für diese Rasse ist. Wie auch bei Franz, so wurde auch ihre Rute kupiert. Die meiste Zeit ist Eboni in der Nähe von Hermann geblieben. Nun jedoch ändert sich das. Plötzlich wird es laut. War vorher nur Wind, Regen und die hellen Glöckchen an den Halsbändern der Terrier zu hören, so wird die Atmosphäre nun von Hundegebell dominiert, welches sich ekstatisch steigerte. Drei Hunde bellen nun durcheinander und ihrem Gebell ist zu entnehmen, dass sie sich sehr schnell in der

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Ein Verhalten, welches ich auch schon bei einem Rudel Rotwild während eines anderen Treibens im Nationalpark beobachtet hatte. Wir Treiberinnen und Treiber drückten durch einen lichten Fichtenwald. Wir konnten weit in den Wald hinein blicken und schon bald fiel uns das Rudel von etwa acht bis zehn Tieren auf. Anstatt in einer Richtung vor uns davon zu ziehen, trotten sie stetig und ohne in Panik zu fallen in einem großen Radius von mehreren hundert Metern um unsere Treiberkette herum und wichen dann nach hinten aus, als sie bemerkten, dass wir – einer bestimmten Richtung folgend – sie nicht weiter verfolgten.

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Naturverjüngung bewegen. Dann menschliche Rufe. Ich erkenne nicht, was die Quelle der plötzlichen Aufregung ist. Alphonse pfeift durch seine Hundepfeife und grelle, laute Pfiffe ertönen. Die Terrier ignorieren das – sie kommen nicht zu uns zurück. Ebenso wenig kommt Eboni zurück. Es ist eine hektische, von dem Lärm in der Naturverjüngung beherrschte, soundscape, die uns erfasst und unsere Aufmerksamkeit lenkt. Ich gehe zu Raimund herüber, der die ganze Zeit neben mir gegangen ist. Er ruft mir etwas von einem Hirsch zu, der in der Naturverjüngung gewesen sein solle. An ihrem sich entfernenden Gebell erkennen wir, dass Eboni wohl der Hirschfährte folgt. Sie wird etwa eine Stunde verschwunden bleiben, während die beiden Terrier nach einigen Minuten wieder bei uns sind. Alphonse und Raimund, beides erfahrene Hunde-Leute, versichern mir, dass die Hunde, wenn sie Erfahrung haben, auf der eigenen Fährte wieder zurückkommen würden. An diesem Tag verschwinden auch zwei Border-Terrier während des Treibens. Sie sind jedoch erst sieben Monate alt und haben kaum Erfahrungen mit Jagden. Tatsächlich werden die Border-Terrier erst am Abend gefunden. Sie waren zu belgischen Jägern gelaufen, die an der Jagd im Nachbarrevier teilgenommen hatten. Die Jäger bringen die Hunde am Abend mit zum Sammelplatz an der Brachkopf-Hütte, wo die Jagdgesellschaften aus beiden Revieren sich treffen.

Dass alle Hunde am Abend des Jagdtages wieder bei ihren Besitzerinnen und Besitzern waren, war nicht selbstverständlich. Franz, so erzählt Heike es mir, war nach einer Jagd auch schon mal drei Tage verschwunden, bevor er auf einem Bauernhof in der Nähe des Jagdreviers wieder auftauchte. Heike hat es geholfen, dass ihre Handynummer auf dem Halsband von Franz vermerkt ist – eine weitverbreitete Praxis unter Hundeführerinnen und Hundeführern [Jägerinnen und Jäger, die während der Jagd ihren Hund dabei haben]. Auch wenn es nicht oft vorkommt, dass ein Hund für mehrere Tage verschwunden ist, so sind Hunde, die während eines Treibens verloren gehen und am Abend von Jägern oder Jägerinnen wieder zum Sammelplatz mitgebracht werden, keine Seltenheit. In dem Moment, in dem die Hunde ›ihre eigene‹ Jagd veranstalten, sind sie weit davon entfernt – manchmal im wörtlichsten Sinne – zu tun, was die Jäger und Jägerinnen von ihnen als domestizierte Haustiere und ausgebildete Jagdhunde erwarten. Sie sind insofern kein Werkzeug menschlicher Intentionen, als welches die Geschichte der Domestikation sie gerne darstellt. »Humanist technophiliacs depict domestication as the paradigmatic act of masculine, single-parent, self-birthing, whereby man makes himself repetitively as he invents (creates) his tools. The domestic animal is the epoch-changing tool, realizing human intention in the flesh, in a dogsbody.« (Haraway 2003: 27-28) Während der Jagd bekommt diese Erzählung der Domestikation als einseitigem, von Menschen planvoll durchgeführten Prozess, Brüche. Fern ab davon, aus-

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schließlich den jagenden Menschen zu dienen, bewegt sich der Jagdhund während der Jagd in der ambivalenten Zone zwischen domestiziertem Haustier und wildem Jäger. Weder ist er ganz und gar zahm, noch ist der jagende Hund ein wildes Tier, im gleichen Sinne wie es die gejagten Tiere sind. Die Jagdhunde haben durchaus ein eigenes Interesse an einem Zusammenleben mit ihren Menschen. Kein Jagdhund, den ich während meiner Feldforschung kennengelernt habe, hat es nicht genossen, gestreichelt und gekrault oder gelobt zu werden. Während der Jagd zeigt sich die Beziehung zwischen menschlichen Jägerinnen und Jägern und jagenden Hunden als das, was Haraway für die gesamte Ko-Evolution von Hund und Mensch feststellt: »Flexibility and opportunism are the name of the game for both species.« (ebd) Den Besitzerinnen und Besitzern der Hunde war es dabei jedoch nie egal, wenn ihre Hunde plötzlich verschwunden waren. Die Sorge um den verschwundenen Hund war seinem Menschen anzumerken, wenn nach mehrmaligem Rufen und nach einigen langen Minuten des Abwartens klar war, dass das Tier nicht so schnell wiederkommen würde. Dennoch wurde ein Treiben deshalb nicht abgebrochen. Niemand ging während der Jagd los, um den Hund zu suchen. Stattdessen beruhigende Worte der Anderen und zu sich selbst: Der Hund würde schon wieder auftauchen. Er würde der eigenen Fährte, dem Lärm und den Gerüchen der Menschen folgen, würde wohl von einem anderen Jäger oder einer anderen Jägerin gefunden und am Ende zum Sammelplatz mitgebracht werden. In allen Fällen, die ich erlebt habe, war das am Ende auch so. Kein Hund blieb verschwunden. Aber die Sorge und die Unsicherheit bevor es ein Wiedersehen gab, waren deutlich. An ihr zeigte sich, dass die Beziehung zwischen Hund und Mensch mehr ist als eine Zweckgemeinschaft. Sie hat eine emotionale Komponente.

Jagdhunde in der Nordeifel: Nach der Jagd 10. November 2016, Wolfgarten: Nachsuche nach einer Nationalpark-Drückjagd Es ist Nachmittag geworden. Während der Großteil der Jagdgesellschaft zum gemeinsamen Essen nach Wolfgarten gefahren ist, beginnen Andreas und Sebastian mit der ersten Kontrollsuche des Tages. Heute gibt es einige Nachsuchen für die Nachsuchenteams. Die beiden parken die Autos auf einem Waldweg. Oberhalb des Weges in einem Ginstergebüsch steht der Schützenstand, von wo aus ein Jäger heute Vormittag während der Drückjagd einen Hirsch beschossen hat [auf das Tier geschossen hat, wobei diese Formulierung bewusst offen lässt, ob das Tier getötet, angeschossen oder ganz verfehlt wurde]. Der Schütze ist sich sicher, verfehlt zu haben. Um sicher zu sein, dass das Tier nicht doch getroffen oder verletzt ist, wird eine Kontrollsuche durchgeführt. Im hinteren Teil von Andreas‹ Geländewagen werden nun die Hunde unruhig. Bisher haben sie ruhig auf ihren Decken gesessen oder gelegen, nun beginnen sie hin

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und her zu laufen, aus dem Fenster zu schauen und fiepen ein wenig. Das Rascheln ihrer Hundewesten ist zu hören. Während Flo, eine hell gefärbte Jagdterrier-Hündin, und Bazi, ein junger Bayrischer Gebirgsschweißhund (BGS), im Auto bleiben, darf Ico, der erfahrenste der drei Hunde, hinaus klettern. Auch Ico ist ein BGS, ein mittelgroßer, recht kräftiger Hund. Er hat, wie alle BGS kurzes, glattes Fell. Der Körper ist dunkelbraun, während der Kopf schwarz gefärbt ist. Andreas zieht ihm die wärmende grüne Weste aus und die Schutzweste an. Die Schutzweste leuchtet blau, orange und gelb. An seinem Halsband wird das Telemetriegerät befestigt, dessen Gegenstück in einer Jackentasche von Andreas steckt. Zum Schluss wird der Schweißriemen, eine etwa 15 Meter lange, leuchtend orange Leine, noch am Rückenteil der Schutzweste in eine Öse eingehakt. In dichtem Gebüsch, wie diesem Ginster, ist sie nützlich, da sie den Menschen visuell anzeigt, wo der Hund in etwa gerade ist, auch wenn er schon viele Meter ins Dickicht verschwunden ist. Wir gehen los. Sebastian geht vor und führt uns zum Schützenstand. Er wiederholt, wie es aus der Perspektive des Schützen zu dem Fehlschuss kam. Im Ginster, nicht weit vom Schützenstand entfernt, sehen wir schon ein gelbes Band in den Zweigen hängen. Es ist das Anschussband. [Ein Band aus festem Krepp. Es gibt diese Bänder in unterschiedlichen Farben, die jeweils unterschiedliche Bedeutungen haben. Mit rotem Band wird von der Schützin oder dem Schützen die Stelle markiert, wo ein totes Tier liegt, mit gelb die Stelle eines (vermeintlichen) Anschusses. Diese Bänder werden vor der Jagd an alle Jägerinnen und Jäger ausgeteilt.] Jetzt beginnt Icos Arbeit. Wir sehen überall am Boden Fährten [Trittsiegel, in diesem Fall von Rotwild] und Losung [Exkremente] – vieles davon scheint schon älter zu sein. Ico hält die Nase dicht am Boden und verfolgt zielstrebig etwas. Es scheint jedoch nicht die Fährte des verletzten Hirsches zu sein, denn einige Male ermahnt Andreas seinen Hund: »Ico, hiiier.« Woran er erkennt, dass der Hund irgendetwas anderes als die Fährte des gesuchten Tieres verfolgt, kann ich nicht erkennen. Wir schlagen uns etwa eine viertel Stunde kreuz und quer durch das Dickicht, als Andreas und Sebastian schließlich einhellig feststellen, dass der Hirsch wohl nicht getroffen ist. »Da können wir einen Haken dran machen.«, sagt Andreas und wir klettern zurück hinab auf den Weg zu den Autos. Der nächste Einsatz ist nicht weit weg. Wir fahren gut fünfhundert Meter entlang des Weges. Das Ginstergebüsch endet und geht in einen hochstämmigen Wald über. Fichtenwald grenzt an Buchenwald. In diesem Fall ist klar, dass das Tier getroffen ist und irgendwo liegen muss. Ico wird wieder aus dem Auto gelassen. Dann geht es hinauf in den Buchenwald. Das nasse, rostrote Laub raschelt unter unseren Schritten. Wieder unterhalten sich Andreas und Sebastian über den Ablauf und wir halten Ausschau nach dem gelben Anschussband. Im Buchenlaub sind die gelben Bänder leicht zu finden. Ico wird an der markierten Stelle angesetzt und beginnt mit seiner Arbeit. Ich hatte Andreas vorher gefragt, woher er wusste, dass es sich bei der vergangenen Kontrolle nicht gelohnt hatte, weiter zu suchen. Er hatte geantwortet, dass man das

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an der Art und Weise erkenne, wie der Hund arbeite. Ico sei nicht so konzentriert gewesen, habe sich ablenken lassen und wäre anderen Dingen, bzw. Gerüchen nachgegangen. Man hätte ihm gleich angesehen, dass da nichts ist. Nun verhält sich der Hund anders. Ico läuft zielstrebig. Andreas kommentiert: »Jetzt ist er viel konzentrierter und läuft viel schneller. Er ist bei der Sache.« Während er eben vor und wieder zurückgelaufen ist, behält er nun eine Richtung bei. Er läuft auch keine Kreise mehr, wie zuvor. Der ein oder andere Schlenker nach rechts und links ändert nichts daran, dass der Hund einer Richtung folgt. »Woher weiß der Hund denn, welche Fährte unter den ganzen Fährten, die er hier riecht, die von dem verletzten Tier ist?« »Die haben an den Schalen [Hufen] Duftdrüsen sitzen und wenn die verletzt sind, ist das Tier ja voller Adrenalin. Das riechen die Hunde.« Nach einigen hundert Metern können wir die Fährte auch mit bloßem Auge erkennen: Viel Schweiß [Blut] klebt an einem Stein. Es folgen weitere große Flecken auf dem Laub. Wir folgen Ico, der den Schweißriemen hinter sich herzieht. Wir kommen in einen lichten Fichtenwald. Laut dem Schützen, wegen dem wir nun hier sind, ist das Rudel mit dem angeschossenen Tier in diesen Wald hinein geflüchtet. Umgestürzte Baumstämme behindern unseren Weg, während wir Ico hinterhergehen. Andreas hält den Schweißriemen locker in der rechten Hand. Es dauert nicht lange, dann können wir das tote Tier sehen. Wir sehen die helle Flanke hinter einem Baumstamm. Regungslos liegt das Schmaltier [weibliches, etwa einjähriges Rotwild] dort. Der Einschuss ist bei genauem Hinsehen zu erkennen, der größere Ausschuss bleibt vom Körper des Tieres verborgen. Ein bläulicher Schleier hat sich über die offenen Augen des toten Tieres gelegt. Ico läuft aufgeregt schnuppernd um ›seine‹ Beute herum.

Das Nachsuchenwesen (auf das ich noch ausführlicher in Kapitel 3.3 zu sprechen komme) hat sich für Jagdhunde als regelrechtes Spezialgebiet herausgebildet. Hierfür werden Schweißhunde, wie die Bayrischen Gebirgsschweißhunde von Andreas, eingesetzt. Der Name Schweißhund referiert hierbei auf den jagdlichen Ausdruck für Blut. Als Schweiß wird unter Jägerinnen und Jägern Blut bezeichnet, welches aus dem Körper eines Tieres der Kategorie Wild durch eine Verletzung entwichen ist. Schweißhunde können einem verletzen Tier aber auch dann folgen, wenn noch kein Blut aus dem Körper ausgetreten ist. Schon während der ersten paar hundert Meter der oben beschriebenen Suche, hatte Ico die Fährte des angeschossenen Schmaltiers in der Nase. Auch ohne dass das Tier einen Tropfen Blut verloren hat, orientierte er sich an den Gerüchen und den Bodenverletzungen, welches das Tier auf seiner Flucht hinterlassen hatte. Bei Schweißhunden wird großer Wert auf das selbstständige, ruhige und konzentrierte Arbeiten gelegt, welches den Hunden in der Jäger_innenschaft großes Ansehen verleiht. Ihre wichtigste Fähigkeit ist ihre gute Nase. Damit ist nicht die Wahrnehmungsfähigkeit der Hunde gemeint, denn Schweißhunde riechen nicht

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besser als andere Hunde. Viel mehr bezieht sich diese Aussage auf die Arbeitsweise der Hunde, denn Schweißhunde zeichnen sich dadurch aus, dass sie Fährten sauber arbeiten. [Sie folgen einzelnen Fährten besonders ausdauernd und konzentriert, ohne sich von sogenannten Verleitfährten ablenken zu lassen. Verleitfährten sind Fährten, welche in der Nähe der eigentlichen Fährte verlaufen, oder diese sogar kreuzen, bspw. wenn das nachgesuchte Tier im Rudel oder in der Rotte mit anderen Tieren geflohen ist.] Nicht jeder Hund aus der Rassegruppe Schweißhunde kann auch als solcher geführt werden. Um als Schweißhund arbeiten zu können und in dieser Tätigkeit anerkannt zu werden, müssen die Hunde spezielle Prüfungen absolvieren. Zunächst müssen sie, wie alle jagdlich geführten Hunde [Jagdhunde, die auch als solche eingesetzt werden und nicht nur qua ihrer Rasse als Jagdhund klassifiziert werden.] eine Art Grundausbildung vorweisen – die Gesetzliche Brauchbarkeits- und Jagdeignungsprüfung, meist kurz Brauchbarkeitsprüfung genannt. Hier wird vor allem der Gehorsam des Hundes geprüft, aber auch die Hund-Mensch-Beziehung im Allgemeinen, sowie das Verhalten des Hundes in Kontakt mit Wild. Diese Grundausbildung macht aus einem Jagdhund einen »vielseitig einsetzbaren Jagdgebrauchshund« (Hilpisch 2014: 418), welcher neben dem Stöbern auch einfache Suchen nach totem Wild oder das Apportieren von erlegtem Wild beherrscht. Schweißhunde müssen jedoch, um offiziell als solche geführt zu werden, neben der Brauchbarkeitsprüfung weitere spezielle Prüfungen absolvieren, die sich an den Aufgabenfeldern des Nachsuchenwesens orientieren. Dabei werden auch solche Szenarien, wie die beschriebene Verleitfährte, nachgestellt. Andreas‹ Hund Ico hat die wichtigsten Prüfungen bestanden und hat somit seine Eignung als Jagdhund und konkret Schweißhund auch formal bewiesen. Historisch geht der Schweißhund auf den Leithund zurück, welcher für die Hetzjagd mit einer Hundemeute eingesetzt wurde. »Leithunde waren besonders ruhige und fährtentreue Hunde, mit denen die Fährte des einzelnen Hirsches bestätigt wurde« (Hilpisch 2014: 426) wobei die »ruhige und konzentrierte Arbeit auf der gesunden Hirschfährte, am langen Leitseil […] später zur Grundlage für die Nachsuche auf angeschweißtes Hochwild [wurde] [eig. Herv.]« (Hilpisch 2014: 426). Die Fähigkeit eines Hundes, sogar der »gesunden Hirschfährte«, also einem unverletzten Tier über weite Strecken – manchmal auch über mehrere Kilometer – folgen zu können, macht sich das heutige Nachsuchenwesen zu nutze. Das »Leitseil« hat damals schon eine ähnliche Funktion gehabt, wie sie gegenwärtig der leuchtend orange Schweißriemen hat, den Ico trug. Während die Stöberhunde grundsätzlich ohne Leine ihrer Arbeit nachgehen, tragen die Schweißhunde bei der Nachsuche einen Schweißriemen, der auch in unübersichtlichem Gelände anzeigt, wo der Hund gerade ist. Tatsächlich ist der Hund selbst für das menschliche Auge in dichtem Bewuchs oft nicht immer so schnell zu finden. Zusätzlich bietet die Leine auch die Möglichkeit, den Hund zu kontrollieren und ihn festzuhalten. Da Hunde viel schneller als Menschen sein können – vor

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allem in jenem unwegsamen Gelände, in welches sich angeschweißte, also verletze Tiere flüchten –, ist es für die Hundeführerinnen und Hundeführer manchmal notwendig, den Hund zurückzuhalten, um ihm zu folgen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn nicht klar ist, ob das Tier wirklich tot ist, denn auch schwer verletzte Tiere können durch die Begegnung mit einem Hund (aber natürlich auch mit einem Menschen) in Panik versetzt werden. Unter Umständen können sie dann noch weit fliehen und damit die Arbeit der Nachsuche unnötig erschweren. Um dem vorzubeugen, treffen Hundeführerinnen möglichst zeitgleich mit ihren Hunden bei dem Tier ein, um es gegebenenfalls sofort töten zu können und auch ihre Hunde vor der Begegnung mit wehrhaftem Wild zu schützen. Auf den Drückjagden kamen Hunde nur als Schweißhunde und als Stöberhunde zum Einsatz11 : Nach der Jagd suchten sie verletzte oder tote Tiere nach und während der Jagd halfen sie stöbernd den Treiberinnen und Treibern das Wild auf die Läufe zu bringen. Nicht alle Hunde, die auf den Jagden zum Stöbern eingesetzt wurden, waren tatsächlich Stöberhunde. Diese Kategorie von Hunden umfasst nur einige wenige Rassen. Zu den Stöberhunden gehören klassischerweise kleinere oder mittelgroße Hunderassen, die für die Jagd auf kleineres Wild in Feld und Wald gezüchtet werden. Ihre Aufgabe ist es, sich durch dichtes Gebüsch, Feldbewuchs oder Schilf zu bewegen und dort Wild aufzustöbern. Das selbstständige, ausdauernde und spurlaute [einer Spur bellend folgen] Jagen gehört zu ihren wichtigsten Eigenschaften. Sie qualifizieren sich aber auch für die großen Drückjagden der Nordeifel, bei denen das waldige Gelände ebenfalls Ausdauer und eine mittlere Körpergröße voraussetzt. Auf diesen Jagden wurden neben den Stöberhunden aber auch viele Hunde anderer Rassen eingesetzt. So auch der Jagdterrier Franz. Jagdterrier gehören zu den Erdhunden, die vor allem für die Baujagd unter der Erde, zum Beispiel in Fuchsbauten, eingesetzt werden. Aufgrund ihrer kurzen Läufe stoßen Terrier, ebenso wie Teckel, beim Stöbern auch an ihre körperlichen Grenzen. Dennoch stöbern Terrier gerne, was daran liegt, dass sie den Mangel an körperlicher Größe, der ihnen das ausdauernde Laufen über unwegsames Gelände erschwert, durch ihre Wildschärfe [einen besonders großen und unnachgiebigen Jagdtrieb] kompensieren. Terrier verfügen über gewisse Wildschärfe, da sie eigentlich zum Rattenfang in Haus und

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Auf Ansitzjagden sind nur selten Hunde mit auf dem Hochsitz. Immer wenn ich mit Hermann angesessen habe, hatte er Eboni zwar dabei, ließ sie jedoch im Auto, während wir auf dem Hochsitz warteten. Während des Ansitzens nutzten Jägerinnen und Jäger den Vorteil, ein Tier ›aus dem Nichts heraus‹ zu erlegen. Die dabei benötigte Ruhe setzt voraus, dass auch die Hunde sich vollkommen ruhig verhalten – auch wenn sie Wild wahrnehmen. Für Hunde, die sonst gelernt haben, den Menschen anzuzeigen, wenn sie Wild in der Nase haben, ist das schwierig. Heike war die Einzige, die ich kennengelernt habe, welche ihren BGS Timber auch mit auf den Hochsitz genommen hat.

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Hof oder als »›Kampfhunde‹ gegen Raubwild« (Hilpisch 2014: 432) gezüchtet wurden. Dabei »wurde die Schärfe in der Zucht lange Zeit überbetont« (ebd.). Das hat zur Folge, dass diese ›rassetypische Selbstüberschätzung‹ mitunter sehr gefährlich für die Hunde werden kann. Diese Eigenschaft kann Hunde auch in Situationen bringen, denen sie rein physiologisch nicht gewachsen sind. So stellen sie sich auch der Begegnung mit wehrhaftem Wild, wie Wildschweinen. Um auf einer Jagd als stöbernder Hund eingesetzt zu werden, müssen Jagdhunde mindestens die Brauchbarkeitsprüfung absolviert haben. Darüber hinaus ist jedoch keine weitere Prüfungen notwendig. Mit dem Stöbern und der Nachsuche wurden die beiden wesentlichen Arbeitsgebiete für Jagdhunde in der Nordeifel vorgestellt. Vor allem für die großen Bewegungsjagden auf Schalenwild, wie Reh-, Schwarz-, Muffel- und Rotwild stellten Jagdhunde eine große Hilfe dar, um das Wild durch Stöbern und Bellen aufzuscheuchen oder verwundete und tote Tiere zu suchen. In beiden Fällen machen sich die jagenden Menschen die physiologischen und sensorischen Fähigkeiten jagender Hunde in Kombination mit der Landschaft, in der gejagt wird, zu Nutze. Auch für die weiteren Einsatzgebiete gilt, dass die Hundearbeit immer in Beziehung zu einer bestimmten, der Landschaft angepassten Jagdform steht. Die daraus resultierenden Aufgaben prägen wiederum das Erscheinungsbild, den Charakter und damit die Zucht der Hunde.

Die verschiedenen Jagdhund-Rassen und die Frage nach der Wildheit der Jagdhunde Die Arbeit von Jagdhunden ist über das Stöbern und das Nachsuchen hinaus vielseitig. Andere Arbeitsgebiete für Jagdhunde sind die Erdarbeit, das Vorstehen, das Apportieren und vereinzelt das Brackieren. Infolge der vielseitigen Fähigkeiten der Hunde haben sich im Verlauf des humanimalischen Zusammenlebens von Hunden und Menschen daher – durch züchterische Selektion nicht unwesentlich beeinflusst – verschiedene Hunderassen herausgebildet, die wiederum in bestimmte Rassegruppen eingeteilt werden. Seine Rasse erlaubt es, den Hund auf eine sehr rationale Weise zu konzeptualisieren. Das zentrale Kriterium ist die Brauchbarkeit einer bestimmten Rasse für die Jagdpraxis der Jägerin oder des Jägers. Jagdhunde sind jedoch als die jeweilige Fleischwerdung eines Rassestandards nicht hinreichend verstanden. Darüber hinaus unterhielten all die Jägerinnen und Jäger, die ich kennengelernt habe, eine emotionale Beziehung zu ihren Hunden. Familienmitgliedern gleich, bezog man sich auf die Tiere, denen ein eigener Charakter zugestanden wurde. Dieser quasi-personale und individuelle Status von Jagdhunden übertrifft an Komplexität die bloße Zuordnung eines Hundes zu einer Rasse und einer Rassegruppe bei weitem. Tatsächlich beschrieben alle Jägerinnen und Jäger, die einen Jagdhund besaßen, diesen vor allem durch Charaktereigenschaften, Vor-

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lieben und Abneigungen – weniger aufgrund von Rasse-Charakteristika. So weiß Hermann über Eboni, dass »sie sofort da [ist]«, wenn die Begegnung mit einem Fuchs in Aussicht steht. Franz dagegen reagierte freudig-aufgeregt, wenn man ihn auffordernd fragte: »Franz, wo sind die Schweine?« Viele Unterhaltungen zwischen Hundeführerinnen und Hundeführern drehten sich um Verhaltensweisen und Eigenschaften der Hunde – nicht als dem Ergebnis einer Zucht, sondern dem Ergebnis einer individuellen Biografie. Momente dieser Biografie, welche die meisten Jägerinnen und Jäger schon seit dem Welpenalter der Hunde miterlebt haben, begründeten die Persönlichkeit des Hundes. Die Jagdhunde in dieser Ethnografie werden daher von ihren Menschen nicht nur als die Anhäufung bestimmter Gene verstanden, wie es Rasseportraits suggerieren. Sie sind die Individuen, die sie sind, auch als Ergebnis einer Anhäufung von biografischen Momenten, Erfahrungen, Sozialisation und Erziehung. Dennoch haben die speziellen Gen-Kombinationen, die einem Hund einer bestimmten Rasse ebenfalls zugrunde liegen, unbezweifelbar einen Anteil an dessen Individualität. Die Rassen und die Rassegruppen, denen ein Hund angehört, prägen sein Leben ebenso, wie später seine individuelle Biografie. Jägerinnen und Jäger suchen sich einen Hund aus, der zu ihrer Jagd-Praxis passt. Die Rassegruppen sind damit Prädispositionen für das jagdliche Leben eines Hundes und den Erfahrungen, die er machen wird. Die Rassegruppen bezeichnen das hauptsächliche Arbeitsfeld, für welches sich die jeweilige Hunderasse aufgrund ihrer physiologischen und psychischen Eigenschaften besonders eignet. Jagdhunde werden also nicht nur durch die Rasse, sondern auch die Rassengruppe kategorisiert, der sie angehören. In der Praxis ergeben sich hierbei jedoch auch Mehrfachzuschreibungen. So wird der Terrier, wie in den Beispielen gezeigt wurde, als Stöberhund eingesetzt. Formal gehört er in die Kategorie der Erdhunde – jene Hunde, die aufgrund ihrer physiologischen und charakterlichen Eigenschaften in die Bauten von Beutetieren klettern können. Durch ihre geringe Größe und die kurzen Läufe passen die Hunde durch die Eingänge der Erdbauten von Beutetieren wie Füchsen und Dachsen oder – im Falle des Zwergteckels – sogar Kaninchen. Terrier, aber auch die verschiedenen Teckel-Rassen sind darüber hinaus wildscharfe Hunde. Sie klettern also nicht nur in die Bauten hinein, sondern ihre Aufgabe besteht darin, die Beutetiere zu sprengen. Die Jagdhunde sollen sie dazu zu bringen, den Bau zu verlassen. Bei dieser Form der Jagd, der Baujagd, wartet dann die Jägerin oder der Jäger am Ausgang des Baus, um das Beutetier dort zu erlegen. Gerade bei Füchsen oder Dachsen können Erdhunde dabei auch auf Gegenwehr treffen, so dass Mut und Robustheit ebenfalls zu deren Eigenschaften gehören. Die Baujagd, für welche die Erdhunde Spezialisten sind, wird in den Nordeifeler Jagdrevieren jedoch nicht intensiv praktiziert. Das liegt vor allem daran, dass sich die jagdlichen Aktivitäten vor allem auf das dort häufig vorkommende Schalenwild konzentrieren. Dachse und Füchse werden, wie das Schalenwild, eher auf der Ansitzjagd erlegt, so dass

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die kleinen Terrier und Teckel vor allem als »vielseitige kleine Waldgebrauchshunde« (Hilpisch 2014: 430) eingesetzt werden, wie es auch bei Franz der Fall war. Auch werden einige Teckel und Terrier als Schweißhunde geführt, die Wild nachsuchen. Da sich auch die Nachsuchenaktivitäten in der Nordeifel vor allem auf Schalenwild konzentrieren, stellen die kurzen Läufe und die geringe Körpergröße dieser Hunde jedoch eine Einschränkung dar. Bei der Verfolgung, dem Stellen und Binden – also dem Hindern des aufgefundenen, verletzten Tieres an einer weiteren Flucht – haben größere Schweißhunde einen Vorteil gegenüber Teckeln und Terrieren. Diese kleinen Hunde werden daher häufig in Kombination mit einem größeren Hund zur Nachsuche eingesetzt. Eboni, die Deutsch Drahthaar-Hündin von Hermann, ist ein Vorstehhund, aber auch sie arbeitet nur selten als ein solcher. Vorstehhunde werden klassischerweise für die Jagd auf Wiesen und Feldern genutzt, um dort den menschlichen Jägerinnen und Jägern Wild anzuzeigen. Dabei führen sie ihre namensgebende Eigenschaft, das Vorstehen, aus: Hierbei handelt es sich um ein Jagdverhalten, welches Hunderassen dieser Kategorie auszeichnet. »[S]ie stoßen in Deckung liegendes Wild, sobald sie es durch die Nase gefunden haben, nicht nach Art der Stöberhunde oder Bracken sofort heraus, um es zu verfolgen, sondern sie bleiben wie gebannt vor dem Wild stehen.« (ebd.: 435). Kennzeichnend dafür ist, dass die Hunde eine bestimmte Körperhaltung einnehmen, wenn sie »wie gebannt stehen« bleiben. Mit drei Läufen [Beinen] stehen sie fest am Boden, nur eine Vorderpfote wird angehoben – so stehen die Hunde ganz still, wenn sie ein Beutetier wahrgenommen haben. Ohne dieses zur Flucht zu animieren, zeigen die Hunde den menschlichen Jägerinnen und Jägern, wohin sie kommen müssen. Das Vorstehen ist eine erbliche Veranlagung vieler Hunde. Da es aber für eine bestimmte Jagdart in einer bestimmten Landschaft nützlich ist, wurde es durch eine selektive Zucht bei einigen Hunden verstärkt ausgebildet. Die Jagd mit dem Vorstehhund eignet sich vor allem für Feld- und Wiesenlandschaften und das dort vorkommende Wild. In solch offenen Landschaften ist es für menschliche Jägerinnen und Jäger schwer, von ihren Beutetieren – vor allem Federwild und Hasen – unentdeckt zu bleiben, wenn sie die Wiesen und Felder nach ihnen absuchen. Die Vorstehhunde übernehmen daher das Anpirschen bis auf Schussdistanz. Im Umkehrschluss eignen sich unübersichtliche, hügelige, waldige und Buschwerk-reiche Landschaften wie die Nordeifel weniger für diese Jagdform. Von den landschaftlichen Widerständen unabhängig, finden Vorstehhunde in ganz Deutschland immer weniger Einsatz als »Feldjagdspezialisten« (ebd.: 435), was vor allem daran liegt, dass die Feld- und Wiesenlandschaft als Habitat jagdbarer Arten immer mehr verarmt. Auch Eboni ist ein Beispiel dafür, dass sich aufgrund der landschaftlichen Veränderungen auch die Einsatzgebiete der Vorstehhunde verändern. Nur wenige Male im Jahr haben Eboni und Hermann Gelegenheit, an Feldjagden auf Fasane, Hasen und Füchse

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teilzunehmen. Eboni, in der Nordeifel jagdlich sozialisiert, kennt daher die Waldjagd besser als die Feldjagd. Auch Apportieren können die meisten Jagdhunde, ohne dass sie speziell darauf trainiert werden müssen. Mit den Retriever-Rassen gibt es auch hierfür jagdliche Spezialisten. Zu den Eigenschaften der Retriever gehört eine Vorliebe für Wasser, die sich aus der Historie der Rasse und der dazugehörigen jagdlichen Landschaft ergibt. Die Retriever stammen aus Großbritannien und Neuseeland, wo sie speziell für die Wasserjagd und das Bringen von kleinerem, erlegtem Wild, wie bspw. Enten, gezüchtet wurden. Obwohl sie auch an Land leichteres Wild apportieren könnten, werden diese Hunde nur selten jagdlich ausgebildet. In der Eifel finden sich für sie kaum angemessene Einsatzmöglichkeiten. Die Wasserjagd findet hier selten statt und auch an Land konzentriert sich die Jagd eher auf Wildarten, welche zum Apportieren zu schwer und zu groß sind. Als Waldgebrauchshunde sind die Retriever nur bedingt einsetzbar, da sie meistens stumm jagen (vgl. Hilpisch 2014: 445), also nicht bellen, wenn sie die Fährte oder Spur von Wild verfolgen – was in den unübersichtlichen Eifelrevieren ein Nachteil ist. Im Gegensatz zu den meisten Jagdhunde-Rassen verfügen Retriever, die mehr zum Finden und Apportieren von schon totem Wild gezüchtet wurden, kaum über Wildschärfe (vgl. ebd.). In der Nordeifel, wie auch in ganz Deutschland, werden Retriever-Hunde daher selten als Jagd- und mehr als Familienhunde gehalten. Keinen Einsatz in ihrem Spezialgebiet finden Bracken in der Nordeifel. Das Brackieren bezeichnet die großflächige Suche nach Wild in unzugänglichem Gebiet. Bracken, die auch Laufhunde oder Jagende Hunde genannt werden, sind die älteste Form der Jagdhunde. Genetisch stammen die meisten heute gezüchteten Rassen von Bracken ab, die vor allem ursprünglich dort zum Einsatz kamen, »wo das Wild eher dünn gesät oder die Reviere schwer zugänglich waren« (Hilpisch 2014: 421). Die Aufgabe der Bracken ist es, in einer solchen Landschaft das Wild nicht nur zu finden, sondern es laut jagend [bellend] in Richtung der menschlichen Jägerinnen und Jäger zu treiben. Bei dieser Jagdform legen die Hunde weite Strecken auf der selbstständigen Suche nach Wild zurück. In Deutschland gibt es kaum mehr die landschaftlichen Voraussetzungen, die Jägerinnen und Jägern das Brackieren ermöglichen. Das großflächige Suchen und zum Menschen Treiben von Wild ist für Wild und Hund in einer von Straßen durchzogenen Landschaft sehr gefährlich. Hinzu kommt, dass das Brackieren in Deutschland strengen Auflagen unterliegt. So muss ein Jagdrevier hierzu mindestens 1000 Hektar groß sein – eine seltene Größe für Jagdreviere in der Nordeifel, die durchschnittlich 300 bis 400 Hektar groß sind. Obwohl das »eigentliche Brackieren […] im jagdlichen Alltag an Bedeutung stark verloren [hat]« (ebd.), waren auf den Drückjagden häufig Bracken dabei. Als laute Jägerin ist die Bracke sehr beliebt auf solchen Jagden. Das gejagte Wild vernimmt die Hunde früh und beginnt daher auch schon zeitig, sich aus seinen Einständen zu bewegen – das Ziel des Treibens auf einer Drückjagd. Das selbst-

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ständige Suchen und ihr Mut, auch wehrhaftes Wild zu stellen, wertschätzen auch jene Hundeführerinnen und Hundeführer, die ihre Bracken als Schweißhunde führen. Obwohl sie nicht zu der Rassenkategorie der Schweißhunde gehört, wurde die Alpenländische Dachsbracke als einzige Nicht-Schweißhunde-Rasse vom Jagdgebrauchshundeverein (JGHV) formal als Schweißhund anerkannt (vgl. ebd.: 427). Dass das Brackieren in den klein strukturierten Jagdrevieren und der umkämpften Landschaft kaum mehr eine Rolle spielt, zeigt auch einen allgemeinen Wandel der Jagd mit dem Hund. Bevor Feuerwaffen die Regel wurden, waren Jagdhunde notwendig, um Wild finden, hetzen, stellen und töten zu können. Gegenwärtig hat sich die Jagd in die Richtung der Ansitzjagd oder der Drückjagd mit möglichst kontrolliert jagenden Hunden gewandelt. Dieser Wandel spiegelt sich in der Zucht und der Prüfung von Jagdhunden deutlich wider. Obwohl nur wenige Jagdhunde ausschließlich für ein einziges Arbeitsfeld gezüchtet werden, haben sich die dargestellten Spezialgebiete herausgebildet. Diese spiegeln sich auch in der Zucht von Jagdhunden wider, wo rassetypische Verhaltensweisen ebenso wichtig sind, wie das rassetypische Erscheinungsbild, sowie der Charakter und die körperliche Gesundheit eines Hundes. Die Zuchtprüfungen ermöglichen den jeweiligen Hundezucht-Vereinen und -Klubs, die von ihnen festgelegten Rassestandards beizubehalten. Durch die Zuchtpapiere eines Hundes lässt sich daher auch nachvollziehen, ob die Elterntiere eines Welpen gesund und charakterlich brauchbar für die Jagd waren und wie gut sie in diesen Prüfungen abgeschnitten haben. Damit erhoffen sich Jägerinnen und Jäger Chancen, dass auch die Welpen diese Verhaltensmuster und diese Eigenschaften aufweisen. Die Zuchtpapiere sind damit der Nachweis über Herkunft und Elterntiere und damit eine feste Referenz. Die genetische Identität eines Hundes durch Zuchtpapiere nachzuweisen, ist für die Jagd nicht grundsätzlich zwingend. Für die Brauchbarkeitsprüfung, die für alle Hunde, die jagdlich geführt werden, erforderlich ist, benötigen Hundeführerinnen und -führer keine Papiere ihrer Tiere. Jedoch zeigt sich die formale Macht der Papiere aber schon daran, dass die Zulassung der Hunde zu weiteren Prüfungen wiederum nur mit diesen möglich ist. Dem Hund mit Papieren und Prüfungen kommt in der Gemeinschaft der Jägerinnen und Jäger daher ein hohes Prestige zu. Diese Tatsache wird argumentativ durch das Ziel eines gesunden Hundes gerechtfertigt, der sich auch charakterlich für die weidgerechte Jagd eignet. Aus diesem Grund sind auch nicht alle Hunderassen durch den JGHV als Jagdhunde anerkannt.12

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Hunde, welche zu den gefährlichen Rassen (Listenhunde) gezählt werden, werden nicht als Jagdhunde anerkannt, weil sie als charakterlich schwierig bewertet werden: »Solche Hunde jagen stumm, sind nicht wildscharf, sondern wilde ›Beißmaschinen‹ mit geringer Reizschwelle und eine Zumutung für das Wild. Mit solchen Hunden ist eine tierschutzgerechte Jagd nicht möglich« (Hilpisch 2014: 447).

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Es bleibt die Frage zu beantworten, inwiefern Hunde, welche sich durch züchterische und charakterliche Standards als Jagdhund eignen, auch wilde Tiere sein können. Zunächst scheint dem einiges zu widersprechen: Jagdhunde sind domestizierte Tiere, sie werden sehr selektiv gezüchtet und ausgebildet. Zur Jagd werden sie nicht gezwungen, sie scheinen gerne mit den menschlichen Jägerinnen und Jägern zusammenzuarbeiten. Am Beispiel der stöbernden Hunde wird dies besonders deutlich. Die stöbernden Hunde laufen frei von Leine und menschlicher Einflussnahme durch das Gelände. Sie sollen selbstständig und ausdauernd Wild aufstöbern, jedoch ohne es zu hetzen, da die Hatz eines Tieres diesem unnötigen Stress verursacht und daher nicht mit der weidgerechten und tierschutzgerechten Jagd konform ist. Meist hatten die ausgebildeten Jagdhunde, die ich kennengelernt habe, tatsächlich kein Interesse daran, weit von ihren Menschen wegzulaufen. Es kann aber – wie ich beschrieben habe – auch passieren, dass sich ein Hund entscheidet, seiner Nase zu folgen. Jenseits der Reviergrenze, dem Ziel und Zweck oder der Ethik menschlicher Jagden, veranstalten Hunde dann ihre eigene Jagd. In solchen Situationen kann es durchaus zu Hetzjagden der Hunde kommen, die nichts mit der kontrollierten Form der Jagd zu tun haben, welche die menschlichen Jägerinnen und Jäger zum Ziel haben. Daran zeigt sich, dass auch der Jagdhund ein wildes Tier sein kann – wenngleich seine Wildheit ambivalent ist. Der Grund für diese Ambivalenz liegt in der Natur der humanimalischen JagdPartnerschaft zwischen Mensch und Hund. Obwohl sie selten gewaltsamen Zwang gegenüber dem Hund beinhaltet, ist sie keine gleichberechtigte. Schon die Zucht und die Ausbildung sind Formen von Kontrolle (vgl. Ingold 2000: 72), wenn auch »more subtle forms of manipulation« (ebd.). Jagdhunde absolvieren eine gründliche Ausbildung. Diese verstehen die Jägerinnen und Jäger jedoch eher als eine Kanalisierung ohnehin schon vorhandener Anlagen. Mehr noch: Jägerinnen und Jäger argumentieren, dass die Jagd Hunden ermögliche, sich wirklich artgerecht zu verhalten, indem sie so ihren Willen, Beute zu machen und zu Jagen, ausleben können. Der Wille eines Hundes zur Jagd, den ich als Jagdtrieb bezeichnen möchte, ist der Grund, warum der Hund Menschen bei ihrer Jagd nützlich ist. In diesem Jagdtrieb liegt aber auch die Wildheit der Jagdhunde begründet. Wildheit wurde zuvor als ein Verhalten charakterisiert, welches dem Menschen gegenüber weder freundlich noch fügsam ist. Die Wildheit des Jagdhundes ist daher eine anderer Art Wildheit, als die der gejagten Tiere, denn in der Regel sind die Jagdhunde ihren Menschen durchaus freundlich gesonnen. Meistens kommen sie sehr schnell herbei gelaufen, wenn ihr Name gerufen wird und folgen ihren Menschen ohne großen Druck. Sie zeigen durch ihre Körpersprache Freude an, wenn sie gestreichelt werden oder man in freundlicher Stimmlage zu ihnen spricht. Sie kennen ihren Platz in der Welt ihrer Menschen – im Auto der Jägerinnen und Jäger, aber auch bei ihnen zu Hause, wo sie ihre gepolsterten Liegeplätze, ihre Körbchen und ihre Rückzugsorte haben. Sie wissen, wo Futter und Wasser zu finden sind. Sie kennen

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den Tagesablauf ihrer Menschen, in den sie integriert sind. Größtenteils ist die Beziehung zwischen Jagdhunden und Menschen von beiden Seiten durch Zahmheit und Freundlichkeit geprägt. Die Wildheit der Jagdhunde zeigt sich daher nur in jenen Momenten des ›nicht-fügsam-Seins‹ gegenüber menschlicher Einflussnahme. Dass Hunde während eines Treibens ihre eigene Jagd veranstalten, ist zwar nicht gewünscht, aber es kommt vor. Es kommt vor, weil die Jagdhunde mehr sind, als ein Werkzeug für die menschlichen Jägerinnen und Jäger – sie verfügen ebenso über Handlungsmacht.

Konflikte »Jagd ohne Hund ist Schund« – diese Aussage ist nicht nur Ausdruck einer pragmatischen Beziehung zwischen Menschen und Hunden, sondern sie trägt auch moralische Implikationen in sich. Weil es für weidgerechte Jägerinnen und Jäger eine moralische Pflicht ist, ein verletztes Tier nachzusuchen, um es gegebenenfalls so schnell wie möglich zu töten und so ›von seinem Leid zu erlösen‹, trägt gerade die Arbeit der Schweißhunde zu einer weidgerechten, also ›richtigen‹ Art des Jagens bei, so lautet der allgemeine Tenor in der deutschen Jäger_innenschaft. Dabei wurde deutlich, dass Hund nicht gleich Hund ist. Die Jagd mit dem Hund entspricht nur dann der Weidgerechtigkeit, wenn der Hund entsprechende Papiere hat, die seine charakterliche Eignung bezeugen und er eine entsprechende Ausbildung genossen hat, die ihm als Jagdhund das nötige Ansehen garantiert. Der allgemeinen Anerkennung des Jagdhundes für die deutsche Jagdtradition zum Trotz gibt es momentan auch Konflikte, die sich aus dieser Form der humanimalischen Jagd ergeben. Diese Konflikte möchte ich nun kurz skizzieren. Zum Einen birgt die Jagd mit Hund auch ein gewisses Gefahrenpotential für die Jagdhunde – während des Treibens als Stöberhund oder bei der Nachsuche. Zum Anderen gibt es auch gemäß der Logik der weidgerechten Jagd Gründe, die gegen die Jagd mit Hunden sprechen, gerade bei Drückjagden. Drückjagden, wie sie in der Nordeifel häufig sind, bergen Gefahrenpotential für die Jagdhunde. So ist es durchaus keine übervorsichtige Maßnahme der Jagdleiterinnen und Jagdleiter, den allgemeinen Informationen für die Jagdgäste auch die Adresse der nächstgelegenen Tierklinik beizufügen. Im Treiben sind meist mutige Hunde. Hunde, die aufgrund ihrer Rasse und ihrer Persönlichkeit prädisponiert sind, den Kontakt mit Wild nicht zu scheuen, ihn vielleicht auch zu suchen. Eine Notiz aus meinem Feldtagebuch soll daher exemplarisch dafür sein, was während meiner Feldforschung tatsächlich häufiger vorkam.

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14. November 2016, Vicht: Drückjagd des Forstamt Hürtgenwald Zwei Terrier in Tierklinik nach Begegnung mit Wildschwein. Heike hatte beide in der Gruppe. Hatte Verbandsmaterial in ihrer Tasche und übernahm die ›Erstversorgung‹. Jägerinnen und Jäger, die ihre Hunde schnallen [von der Leine lassen] und ins Treiben lassen, wissen, dass dies unter Umständen zu schweren Verletzungen der Hunde führen kann. Auch Schweißhunde, die bei einem verletzen Tier ankommen, sind dieser Gefahr ausgesetzt. Geweihe und Gehörne aber auch die Zähne von Wildschweinen, sind für Hunde gefährlich. Besonders, wenn ein verletztes Tier unter starken Schmerzen leidet, wehrt es sich oftmals im wahrsten Sinne des Wortes todesmutig gegen alles, was ihm nahe kommt. Es ist nicht selten, dass Hunde bei solchen Begegnungen schwer verletzt werden. Auch versehentliche Schüsse auf Hunde sind in der Vergangenheit vorgekommen. War es lange Zeit noch üblich, Hunde ohne jegliche Schutzmaßnahmen von der Leine zu lassen, so hat sich das spätestens im vergangenen Jahrzehnt grundlegend geändert. Auch ohne eine formale Verpflichtung dazu, schützen Hundeführerinnen und Hundeführer ihre Hunde wenigstens mit signalfarbenden Halsbändern – wenngleich auch diese in Kritik geraten sind, da sie weniger deutlich sichtbar sind, als eine Schutzweste in leuchtenden Farben. Die Schutzwesten bergen allerdings das Risiko, dass Hunde dehydrieren, wenn sie schnell und lange mit solchen Westen laufen. Diese Westen sind aus einem festen textilen Material, welches sie nicht nur sichtbar macht und vor Dornen schützt, sondern auch vor den Waffen anderer Tiere. Das macht sie warm und schwer. Solche Westen werden daher weniger von den Hunden im Treiben getragen, als von Schweißhunden. Auch die beiden Hunde von Andreas wurden bei ihren Einsätzen stets mit diesen Westen ausgerüstet. Er fühlt sich moralisch dazu verpflichtet, seinen Hunden diese Schutzkleidung anzuziehen. Andreas: »[…] wobei man sagen muss, dass diese Westen ihr Geld wirklich wert sind. Ist zwar keine billige Geschichte: So eine Weste kostet im Schnitt was von fünfhundert Euro, aber letztendlich ist das ein Tierarztbesuch…« Tanja: »Und es ist ja praktisch die Berufsbekleidung der Hunde, oder?« Andreas: »Isso. Weil wenn man das gewissenhaft betreibt, ist man das eigentlich seinem Hund schuldig. Man hat eine Verpflichtung gegenüber dem Hund. Und da gehört das mit dazu. Es gibt mittlerweile die Möglichkeit der Hundeschutzweste – und dann sollte man sie auch in Anspruch nehmen.« Das hier dargestellte Konfliktpotential betrifft das leibliche Wohlergehen der Hunde. Möglicherweise nicht unversehrt von einer Jagd zurückzukommen – oder überhaupt nicht mehr – ist das ›Berufsrisiko‹ von Jagdhunden. Es ist aber auch ein moralischer Konflikt für die Hundeführerinnen und -führer, welcher aus der emotionalen Beziehung zwischen Hunden und Menschen rührt. Die Hunde gehorchen

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ihren Besitzerinnen und Besitzern, von denen sie zur Jagd ausgebildet wurden. Hierbei machen die Menschen sich den Jagdtrieb der Hunde zunutze und lenken ihn gemäß dem Zweck ihrer Jagd. Ohne dass ihre Menschen ihnen die Gelegenheit zur Jagd geben würden, wäre es allerdings unwahrscheinlich, dass der jeweilige Hund in jene konfliktreichen Situationen der Jagd kommen würde, denen er ausgesetzt ist. Dass diese Argumentation von vielen Hundeführerinnen und Hundeführern geteilt wird, zeigt sich darin, dass es inzwischen common sense unter Jägerinnen und Jägern ist, die Jagdhunde zu schützen. Gerade Schweißhunde kommen Wild, und besonders verletztem Wild, aufgrund ihrer Rasse, ihren Eigenschaften und ihrer Ausbildung besonders nahe. Die Jägerinnen und Jäger, die diese durch menschliche Zuchtselektion geprägten und nach menschlichen Bedürfnissen ausgebildeten Hunde halten, entsprechen ihrer moralischen Verantwortung, indem sie die Hunde durch ihre Ausrüstung schützen wollen.13 Ein weiterer Konflikt bezüglich der Jagd mit Hunden ergibt sich aus der sich entfaltenden Logik, wenn jagende Hunde im Treiben sind. Paradoxerweise liegt die Ursache für den Konflikt gerade in den Fähigkeiten der Hunde, über weite Flächen zu jagen und auch in unwegsamem Gelände zu stöbern – jene Fähigkeiten also, welche sich die Jägerinnen und Jäger zunutze machen. Die Hunde, welche im Treiben laut bellend stöbern, sollen das Wild auf die Läufe bringen. Jedoch ist das Ziel der Drückjagd, das Wild nur zu beunruhigen, so dass es die Stände der Jägerinnen und Jäger in einigermaßen ruhigem Tempo passiert. Dies entspricht der tierschutzgerechten und damit weidgerechten Jagd, die zum Ziel hat, das gejagte Tier mit einem sauberen Schuss sofort zu töten. Das ist jedoch schwierig, wenn ein Tier der Schützin oder dem Schützen hochflüchtig [in Panik und hohem Tempo fliehend] begegnet. Besonders störungsempfindliche Tiere wie Rotwild, reagieren auf laut jagende Hunde, die sich ihnen in hohem Tempo nähern, jedoch meist genau so. Der daraus entstehende Konflikt entsteht also nicht zum Nachteil der Hunde, sondern zum Nachteil der gejagten Tiere. Jagd mit Hund – auch Schund? Diese Frage wird innerhalb der Nationalpark-Forstämter, welche im Herbst und Winter 2016/2017 die großen Drückjagden organisierten, diskutiert worden sein. Und die Antwort wird wohl teilweise ›Ja‹ gelautet haben, was erklärt, warum sich folgende Szene zu Beginn meiner Feldforschung abspielte: 22. November 2016, Wahlerscheid: Drückjagd im Nationalpark Mit Heike nach Rothe Kreuz. Es ist viertel nach acht morgens und der Tag verspricht schön zu werden. Am Wochenende hatte es gestürmt und geregnet. Nun aber ist der

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Oder sie entsprechen ihr nicht. Jedoch habe ich während meiner Feldforschung nicht erlebt, dass Schweißhunde ohne solche Westen arbeiteten. Da ich jedoch vor allem professionellen Schweißhundeführerinnen und -führern begegnet bin, ist dies keine allgemeingültige Aussage.

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Sturm vorbei und die Bäume haben ihr Laub endgültig verloren. Der Leiter des hiesigen Nationalpark-Forstamts hatte vor einem Monat schon angekündigt, dass dies »die große Jagd« wird. Tatsächlich sind am Sammelplatz schon sehr viele Menschen. Mit Timber [Heikes BGS] an der Leine gehen wir zu den Anderen. »Hast du deinen Hund dabei?«, wird Heike etwas irritiert von einem Nationalparkmitarbeiter gefragt. Er fügt hinzu: »Heute wird doch ohne Hunde gejagt.« »Was meinst du, wie der mir die Bude auf den Kopf stellt, wenn ich versuche, mich in Jagdklamotten aus der Tür zu schleichen?!«, entgegnet Heike. Bevor wir dann zur Jagd aufbrechen, sitzt Timber dann auch wieder in Heikes Auto in seiner Box. Diese Situation verdichtet folgende Elemente der humanimalischen Jagd: Jagdhunde müssen zur Jagd nicht gelockt oder gezwungen werden. Sie jagen gerne. Timber, Heikes überaus temperamentvoller BGS-Rüde, kennt den Ablauf eines Jagdtages: Er erkennt Muster in Heikes Tagesablauf, die ihm zeigen, dass es heute eine Jagd gibt. Indikatoren sind für ihn bspw. die Kleidung, die Heike anzieht, oder dass sie ihre Waffe aus dem Waffenschrank nimmt. Heike bildet Timber als Schweißhund aus. Sie nimmt ihn aber gelegentlich auch als stöbernden Hund zu Jagden mit. Timbers Jagdeifer, teils seiner genetischen Abstammung, teils seinem individuellen Charakter geschuldet, ist für die Menschen von Vorteil. Gerade Wildschweine können Jagdhunde besser aus ihren Rückzugsorten herausholen, als die menschlichen Treiberinnen und Treiber. Wenn Timber jagt, unterscheidet er jedoch nicht, ob er Wildschweine oder Rotwild jagt. Für eine Jagd, die aber vor allem auf Rotwild abzielt, können Hunde daher mehr Schaden als Nutzen anrichten. Die Verantwortlichen der Nationalpark-Drückjagden reagierten auf diese Logik. Während sie auf professionelle Nachsuchengespanne, bestehend aus gut ausgebildeten und erfahrenen Schweißhunden und ihren Hundeführern, beziehungsweise Hundeführerinnen, bei jeder Jagd großen Wert legten, verzichteten sie nicht nur während der beschriebenen Jagd auf Hunde im Treiben, sondern auch an anderen Jagdtagen. Warum es ein Vorteil sein kann, ohne Hunde zu jagen, zeigt der folgende Auszug. Er stammt aus der Begrüßungsrede des Jagdleiters einer Nationalpark-Drückjagd an die Jagdgäste. 28. November 2016, Wolfgarten: Nationalpark-Drückjagd »[…] Beim Rothirsch sind Kälber beiderlei Geschlechts frei und Schmaltiere, Schmalspießer [einjährige, noch nicht geschlechtsreife Tiere] ohne Längenbegrenzung14 und – da wir heute ohne Hunde jagen – nicht-führende Alttiere [weibliches Rotwild; »nicht führend« bedeutet ohne Kalb]. Das heißt, kommt Ihnen ein einzelnes Alttier, gehen wir davon aus, dass sich aufgrund der leise treibenden Treiber Alttier und Kalb nicht getrennt haben. Kommt es Ihnen einzeln, ist es nicht mehr führend. Dann ist das Kalb entweder gestreckt [erschossen] – wir haben schon einige Kälber erlegt – oder bei

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Ihrem Nachbarn gestreckt worden. Wenn Ihnen ein Verband aus mehreren Stücken Kahlwild kommt und da ist ein Kalb dabei, dann können Sie selbstverständlich nicht eines der Alttiere schießen, sondern zuerst muss das Kalb erlegt werden. Danach gehe ich davon aus, dass da nicht-führende Alttiere und Schmaltiere vor Ihnen stehen, die Sie dann auch schießen können. […]« Grundsätzlich gilt für die deutsche Jagdpraxis, dass der Schutz von Elterntieren im Sinne einer tierschutzgerechten Jagd Vorrang hat. Daraus ergibt sich für die Jägerinnen und Jäger, die an einer Bewegungsjagd teilnehmen, dass sie keine Tiere töten dürfen, die Nachwuchs haben, der noch nicht selbstständig ist. An der Elternzeit der Tiere orientieren sich auch die Schonzeiten der Jagd. Aber auch über die Schonzeiten hinaus, also auch dann, wenn die jungen Tiere schon fast selbstständig sind, keine Muttermilch mehr benötigen und alle physiologischen Funktionen ausgereift sind, werden einige Tierkinder von ihren Eltern noch geführt. [In dieser Zeit werden die Jungtiere durch ihre Eltern angeleitet und lernen ihr Habitat kennen.] Gerade die Kälber vom Rotwild sind noch Monate nach ihrer Geburt auf ihre Mütter angewiesen. Auch darauf müssen Jägerinnen und Jäger Rücksicht nehmen, wenn sie für sich beanspruchen, weidgerecht zu jagen. Tierkindern die Eltern ›wegzuschießen‹ gilt als nicht weidgerecht und ist damit ›schlechte‹ Jagdpraxis, da die Jungtiere ohne die Anleitung ihrer Eltern oft nicht überleben und einen Tod (z.B. durch langsames Verhungern) erleiden, der von Jägerinnen und Jägern als ›qualvoll‹ und damit als vermeidbar gewertet wird. Nicht immer ist es für Jägerinnen und Jäger leicht zu erkennen, ob ein Alttier ein Kalb hat – vor allem dann nicht, wenn es die Jägerin oder den Jäger schnell passiert. Normalerweise bleiben Kälber immer in der Nähe ihrer Mütter. In Panik, zum Beispiel aufgrund eines laut und schnell jagenden Hundes (oder zu lauter menschlicher Treiberinnen und Treiber), kann es jedoch passieren, dass Mutter und Junges getrennt werden. Der Konflikt zwischen dem Wunsch Beute zu machen und der oft nur kurzen Chance dazu, kann dazu führen, dass Rottiere auf der Strecke liegen, welche noch ein Kalb hatten. Um diesem Irrtum vorzubeugen und generell den Stress für die gejagten Tiere während der Jagd zu minimieren, ist es eine Möglichkeit, Hunde aus dem Treiben zu nehmen. Vor allem, wenn sich die Jagd auf störungsempfindliche Tiere wie Rotwild richtet.

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Wie im Exkurs Trophäenjagd – Jagdtrophäen beschrieben, markiert das Geweih eines Hirsches traditionell seinen Wert, zum Beispiel als Zukunftshirsch. Der Nationalpark kritisiert diese Jagdmentalität, weshalb Größe und Länge der Geweihstangen keine Rolle bei der Entscheidung spielen sollen, ob der Hirsch erlegt werden darf oder nicht.

III Tiere

Von Jagdhunden und ihren Menschen: Humanimalisches Verstehen als spezifische Form humanimalischer Intersubjektivität Die Beziehung zwischen Jagdhund und seinem Jäger oder seiner Jägerin ist getragen von rationalen und emotionalen Momenten. Rational ist der Beginn der Beziehung zwischen Hund und Mensch: Jägerinnen und Jägern, die sich entscheiden, einen Jagdhund führen zu wollen, müssen sich zunächst auf eine Rassengruppe und eine Rasse festlegen. Die eigene Jagdpraxis spielt dafür eine entscheidende Rolle. In der Eifel, wo die meisten Jägerinnen und Jäger vom Hochsitz aus oder auf Drückjagden im Wald auf Schalenwild jagen, werden vor allem Jagdhunde geführt, die Schalenwild nachsuchen, oder die stöbernd im Treiben unterwegs sind. Dementsprechend werden die Tiere ausgebildet. Andere Ausbildungsfächer und dafür prädestinierte Rassen sind in der Eifel weniger populär, da sie kaum zum Einsatz kämen. Ist diese rationale Entscheidung getroffen, treten andere Aspekte der Hund-Mensch-Beziehung in den Vordergrund. Alle Jägerinnen und Jäger, welche ich kennenlernte und die einen Jagdhunde besaßen, unterhielten eine emotionale Beziehung zu dem Hund und umgekehrt. Davor, diese Beziehung mit »Liebe« zu verwechseln, warnt Donna Haraway in ihrer Analyse über das Verhältnis zwischen Arbeitshunden und ihren Menschen: »Respect and trust, not love, are the critical demands of a good working relationship between these dogs and humans.« (Haraway 2003: 39). Die meisten Hundeführerinnen und Hundeführer, die ich kennengelernt habe, würden aber bestätigen, dass sie zu ihren Hunden eine Beziehung haben, die Respekt und Vertrauen an Emotionalität noch übersteigt. Dennoch sind dies die Kernelemente für die Beziehung zwischen Jagdhunden und ihren Menschen. Vor allem das gegenseitige Vertrauen zwischen Jagdhund und Mensch ist fundamental für die humanimalische Beziehung. Beide Spezies sind nur dann gemeinsam erfolgreich, wenn sie sich aufeinander verlassen können, wobei den Jägerinnen und Jägern hierbei eine größere Verantwortung für diese Beziehung zukommt, da sie nicht vollkommen gleichberechtigt ist und Machtdifferenzen zugunsten der Menschen beinhaltet. Auf diese patriarchale Beziehungsstruktur (vgl. Ingold 2000: 72), die Menschen durch Zucht, Ausbildung und Gestaltung der Lebensumstände des Hundes dominieren, reagieren die Hundeführerinnen und Hundeführer. Sie sehen sich in der Pflicht, ihre Hunde so gut es geht zu schützen, für ihre Gesundheit zu sorgen und zu entscheiden, welchen Risiken ihre Hunde eingehen sollen. In dem Moment aber, in dem Jägerinnen und Jäger ihre Hunde von der Leine lassen, müssen sie ihren Hunden vertrauen und auch die Ungewissheit aushalten, vor der keine noch so gute Hundeausbildung schützt: In diesem Moment geben sie die letztmögliche handfeste Kontrolle über den Hund auf. »Trust, therefore, always involves an element of risk – the risk that the other on whose actions I depend, but I cannot in any way control, may act contrary to my expectations« (ebd.: 70). Mit

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Andreas unterhalte ich mich über diesen Aspekt seiner Arbeit. Als Schweißhundeführer begegnet er dieser Situation auf seinen Nachsuchen sehr häufig: »Wenn man seinen Hund schnallt [von der Leine lässt] ist jegliche Möglichkeit der Einflussnahme … weg. Man muss dann wissen, wie der Hund arbeitet. Kommt ja auch darauf an, wo man das macht. Also, da irgendwo zwischen Autobahnen würde ich das mit Sicherheit nicht machen.« Die ambivalente Beziehung zwischen Jägerinnen und Jägern und ihren Hunden beinhaltet beide Elemente: Kontrolle und Vertrauen. Die Kontrolle ist dabei niemals vollkommen. Indem die Menschen Jagdhunde als eigenständige Wesen respektieren und behandeln, müssen sie ihnen vertrauen. Vertrauen heißt, die Unsicherheit in Kauf zu nehmen, wenn Hunde während einer Jagd oder Nachsuche plötzlich nur noch ihren eigenen Interessen folgen und vielleicht für Stunden oder sogar Tage verschwinden. All diese Fälle habe ich während meiner Feldforschung miterlebt oder sie waren Gegenstand von Unterhaltungen. In solchen Situationen zeigte sich aber auch, dass die Hunde immer mehr als nur ›Arbeitsmaterial‹ für die Jägerinnen und Jäger waren, denn das Verschwinden eines Hundes oder ein verletzter Hund stießen nie auf Gleichgültigkeit. Die Betroffenheit, die Sorge und die Hoffnung, die ich miterlebt habe, zeigten jene Emotionalität auf, die Respekt überschreitet und den Hund eher als Familienmitglied kennzeichnet, denn als reines Arbeitstier. Die Jagd mit Jagdhunden charakterisiert sich als eine besondere Form der humanimalischen Jagd, bei der zwei Spezies zusammenarbeiten. Vertrauen in und Respekt für die Arbeit der Jagdhunde sind ebenso Elemente dieser Hund-MenschBeziehung, wie eine emotionale Hinwendung zu dem (nicht-)menschlichen Partner. Diese drei Elemente bedürfen jedoch einer phänomenologischen Klärung. Die Prämisse dafür, dass es zwischen Hunden und Menschen eine emotionale Beziehung geben kann, dass gegenseitiges Vertrauen und gegenseitiger Respekt möglich sind, ist das humanimalische Verstehen. Jemanden zu verstehen, heißt eine Beziehung zu ihm oder ihr zu unterhalten, die es erlaubt einander zu kennen. Jemanden zu kennen, bedeutet »to be in the position to approach him directly with a fair expectation of the likely response, to be familiar with that persons’s history and sensible to his tastes, moods and idiosyncrasies« (Ingold 2000: 72). Die Voraussetzung dafür, dass Hunde und Menschen gemeinsam auf die Jagd gehen können, ist, dass sie sich auf diese Weise kennen und vertrauen, die Ingold beschreibt und welche die Grundlage für das humanimalische Verstehen ist. Die Jagdhunde wissen, was von ihnen erwartet wird, ebenso wie die Jägerinnen und Jäger versuchen, den Erwartungen ihrer Hunde zu entsprechen. Als Heike Timber mit auf die Jagd genommen hat, die eigentlich ohne Hunde stattfinden sollte, war sie nicht die einzige. Den Hund trotzdem mitzunehmen schien daher nicht nur für Heike verpflichtend, um die Erwartungen des Hundes an den Jagdtag nicht gänzlich zu enttäuschen. Zu dieser Entscheidung hatte verstärkend beigetragen, dass Heike Timber zugetraut hatte, seine enttäuschten Erwartungen zu Hause am Inventar auszulassen. Eine

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solche Entscheidung samt ihrer Erklärung deutet auf eine Beziehung hin, die von gegenseitigem Verstehen geprägt ist. Das gegenseitige Verstehen erwächst daraus, den jeweils Anderen zu kennen. Für dieses Einander-Kennen spielt die Leiblichkeit von Hund und Mensch eine tragende Rolle. Als leibliche Wesen haben Hunde und Menschen gleichermaßen die Fähigkeit, ihre Umwelt wahrzunehmen und sich selbst als wahrnehmbaren Teil dieser zu verstehen. Erst indem Mensch und Hund füreinander wahrnehmbar und in ihrer leiblichen Kinästhetik als Lebewesen mit einem Bewusstsein füreinander erkennbar sind, ist die Grundlage für einen, von gemeinsam konstituierten Sinn getragenen, alltäglichen Umgang gelegt. Qua ihrer Leiblichkeit kommunizieren Mensch und Hund ihre Weltwahrnehmung – sind sie sehr aufeinander eingespielt und kennen sich schon gut, kann das in weiten Teilen ohne Missverständnisse oder Konflikte funktionieren. Um Missverständnissen und Konflikten vorzubeugen, werden Hunde von Menschen ausgebildet. Hierbei gibt es einige verbale Kommandos, die Hunde erlernen müssen und auch darüber hinaus findet verbale Kommunikation zwischen Hunden und Menschen statt. Sie stellt eine Erleichterung der Hund-Mensch-Kommunikation dar und trägt zum humanimalischen Verstehen bei. Aber diese verbale Kommunikation bewirkt das gegenseitige Verstehen nicht – sie setzt es voraus. Es ist die leibliche Konstitution von Hund und Mensch, die ermöglicht, dass die verbale Kommunikation ein sinnvoller Beitrag zum ergebnisorientierten humanimalischen Verstehen sein kann. Interessant ist, dass die Kommunikationsstruktur zwischen Hund und Mensch nicht unilinear verläuft: Es ist zwar so, dass die Jägerinnen und Jäger ihren Hunden verbale Kommandos erteilen können, aber die Sprache, deren Teil sie sind, ist mehr-alsmenschlich. Die Hund-Mensch-Kommunikation kann nur funktionieren, indem beide Spezies schon über non-verbale Ausdrucks- und Verstehensmöglichkeiten des jeweils Anderen verfügen. Diese vielschichtige Sprache beschreibt dabei nur die Kommunikationsstruktur. Ob die Kommunikation funktioniert, ist damit noch nicht gesichert. So sind auch die Kommandos der Menschen weniger Befehle, als viel mehr Aufforderungen – dass und wie die Hunde darauf reagieren, ist durch sie noch nicht gesichert. Die Hunde, die während des Treibens ihre eigene Jagd unternahmen, verweigern sich in diesem Moment ihrem Namen, den Kommandos oder den Hundepfeifen. Wie subtil die Kommunikation zwischen Mensch und Hund verlaufen kann, das beweist auch folgende Situation. Wieder war ich mit Andreas und seinen Hunden nach einer Jagd für Nach- und Kontrollsuchen unterwegs. 15. Dezember 2016, Wolfgarten: Nachsuchen auf Nationalpark-Drückjagd An diesem Nachmittag dauert es sehr lange, bis klar ist, wie viele Nachsuchen es gibt. Neben Andreas und seinen Hunden sind auch noch andere Nachsuchengespanne im

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Einsatz. Obwohl sich die Arbeit auf einige Gespanne verteilt, ist die Zeit knapp. Als wir erst gegen drei Uhr nachmittags vom provisorischen Büro in der Kermeter-Schänke aufbrechen, scheint die Sonne schon im Westen zu versinken. Es sind die kürzesten Tage des Jahres. Eile ist angesagt. Die erste Kontrollsuche verläuft nicht erfolgreich. Wir folgen den Hunden, die Hunde folgen einer Fährte. Aber es ist keine Verwundfährte. Als Andreas Ico mit einem kurzen Kommando zu sich holt, kommt der Hund ohne zu zögern. »Wenn das was wäre [wenn hier tatsächlich ein Tier angeschossen worden wäre], würde der sich anders verhalten. Dann würde der sich nicht so leicht von der Fährte abholen lassen.«, erläutert er mir.

Hierbei zeigte sich, wie sehr das humanimalische Verstehen darauf beruht, dass Hund und Mensch einander kennen. Ico wusste, was er zu tun hatte und sein Hundeführer wusste, wie der Hund wahrscheinlich reagieren würde, wenn an diesem Ort des Fehlschusses ein Tier verwundet worden wäre. Er kennt seinen Hund und dessen Verhalten aus ähnlichen Situationen in ihrer gemeinsamen Vergangenheit und ist daher in der Lage, zu verstehen, was der Hund ihm in dieser Situation kommuniziert. Da die Zeit an diesem Nachmittag knapp war, bestand die Leistung der Hundegespanne darin, möglichst effizient miteinander zu arbeiten. Ico ließ sich nach kurzer Zeit von der Fährte zurückrufen und gab damit zu verstehen, dass er seine Aufgabe verstanden hatte und dass es sich hier nicht lohnte, weiter zu suchen. Es bedurfte nur einer sehr knappen Kommunikation, bis klar war, dass diese Kontrollsuche abgehakt werden konnte. Das Können, welches sich Hund und Mensch in ihrer gemeinsamen Arbeit aneignen, resultiert dabei aus dem ständigen Umgang von Hund und Mensch miteinander – nicht nur während der ›Arbeit‹, sondern auch in der ›Freizeit.‹ Die humanimalische Intersubjektivität, welche als rudimentärer Grundzug in der Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten schon erkennbar war, verfeinert sich in der Beziehung zwischen Jagdhund und Jägerin oder Jäger. Während die gegenseitige intentionale Bezugnahme von Jagenden und Gejagten ein gegenseitiges Antizipieren nicht überschreitet, ermöglicht sie zwischen Jagdhund und Mensch sogar etwas, das phänomenal als gegenseitiges Verstehen in Erscheinung tritt. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass sich die humanimalische Intersubjektivität zwischen Jägerinnen, Jägern und Jagdhunden nicht wesentlich, sondern nur graduell von der humanimalischen Intersubjektivität unterscheidet, wie sie auch schon in der Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten zu finden ist. Die humanimalische Intersubjektivität ermöglicht die Konstitution einer als gemeinsam erfahrenen Lebenswelt von menschlichen und nicht-menschlichen Tieren. Ihr Grundzug ist das gegenseitige Gewahr werden, wie es zwischen Menschen und anderen Tieren auf vielfältigste Weise vorkommt. Ein Vogel, beispielhaft für ein wildes Tier, fliegt auf, flüchtet, vielleicht warnend zwitschernd, wenn ein Mensch seinem Platz in der Hecke zu na-

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he kommt. Er entspricht diesem Grundzug schon. Darüber hinaus verfeinert sich diese humanimalische Intersubjektivität. Für Jagende und Gejagte bedeutet sie die Möglichkeit, das Verhalten der jeweils anderen Partei antizipieren zu können und darauf zu antworten. Dabei bleibt die Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten in der Regel eine Beziehung auf Distanz. Dagegen kennzeichnet sich die Beziehung zwischen Jägerinnen, Jägern und Jagdhunden als eine durch leibliche Nähe strukturierte. Der Alltag, die Ausbildung und der stete leibliche Kontakt von Hundeführerinnen und Hundeführern mit ihren Jagdhunden ermöglicht eine intensive Beziehung zwischen beiden Spezies, die eine mehr-als-menschliche Sprache hervorbringt. Auch wenn diese Sprache vor Konflikten und Missverständnissen nicht schützt, so ermöglicht sie dennoch eine fortlaufende, bedeutungsvolle Kommunikation und ein gegenseitiges Verstehen. Dass Hunde und Menschen einander im weitesten Sinne verstehen können, eine erfolgreiche Kommunikation aufrecht erhalten und gemeinsam Jagen können, führt dazu, dass diese humanimalische Beziehung Elemente wie gegenseitigen Respekt, gegenseitiges Vertrauen und emotionale Betroffenheit beinhaltet.

3.3

Nachsuche und Weidgerechtigkeit als Antwort auf das leidende Tier »Die Jagd ist wie jede menschliche Tätigkeit in ihre Ethik eingebaut, die Tugenden von Lastern unterscheidet.« (Ortega y Gasset 1985: 61)

Was Jägerinnen und Jäger zu Weidfrauen und -männern macht, ist gemäß ihrem Selbstverständnis ihre moralische Haltung zum Tier und dessen Tod. Eine abschließende, vollständige Definition des ethischen und moralischen Konzepts der Weidgerechtigkeit ist aufgrund seiner Wandelbarkeit schwierig. Dennoch werde ich mich in Kapitel 4.1 Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime um eine Annäherung an diesen Begriff bemühen. Dieses Kapitel ist als Hinleitung darauf zu verstehen und beschreibt einen Aspekt der Jagd, für den diese Ethik zentral ist. Das Nachsuchenwesen habe ich zuvor als eines von vielen Arbeitsgebieten für Jagdhunde dargestellt. Nun möchte ich darauf zurückkommen und es nicht nur in seiner praktischen, sondern auch in seiner moralischen Dimension darstellen. Im Folgenden werde ich einige Nachsuchen-Situationen beschreiben und sie gemäß dieser beiden Dimensionen analysieren. Da dies ohne eine Definition des Konzepts Weidgerechtigkeit jedoch auf sandigem Boden gründen würde, definiere ich sie vorab gemäß der für die Nachsuche wichtigsten Kriterien. Die Jägerinnen und Jäger dazu befragt, wurde Weidgerechtigkeit vor allem mit »Respekt« konnotiert und dem Wunsch, den gejagten Tieren durch die Jagd »so wenig Leid wie möglich zuzufügen«. Schon diese vorläufige Definition trägt allerlei Implikationen in sich, auf die ich im folgenden

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Kapitel näher eingehen werde. Ich bleibe zunächst bei den Auswirkungen, welche dieser Anspruch für die Organisation der Jagd hat. Indem sie sich in die Position bringen, bestimmte Tiere töten zu können, sehen sich Jägerinnen und Jäger auch in der Verantwortung für die Umstände des Sterbens dieser Tiere. Ihr Bekenntnis zur Weidgerechtigkeit ist gleichsam ein Bekenntnis zu dieser Verantwortung, aber es manifestiert sich hier auch die, die deutsche Jagdtradition anleitende, Grundannahme einer ontologischen Ungleichheit von Mensch und Tier. Das gejagte Tier muss dem jagenden Menschen untergeordnet sein, kommt dem Menschen doch eine Verantwortung für das Tier zu, die kein Äquivalent auf der Seite des Tieres hat: Zwar sieht sich der Mensch verantwortlich für die Umstände, unter denen er Tiere hält, jagt oder tötet – nicht aber, so scheint es ihm, sind die Tiere auf irgendeine vergleichbare Weise für den Menschen verantwortlich. Weidgerechtigkeit charakterisiert sich daher als »aus dem anthropozentrischen Humanismus hergeleitete Jagdmoral« (Hiller 2002: 126). Diese vorläufige Annäherung deutet an, warum das Nachsuchenwesen für das Selbstverständnis der Jäger_innenschaft einen hohen Stellenwert hat.

Nachsuche-Situationen: Der Fehlschuss Die Nachsuche ist jener Bestandteil der Jagd, den es im besten Falle nicht gibt. Eine Nachsuche auf ein verletztes Tier findet meist dann statt, wenn die Jagd von ihrer Idealtypik des sauberen Schusses abgewichen ist. Der saubere Schuss, der das Tier gekonnt und unmittelbar tödlich trifft, ist das Ideal der sich zur Weidgerechtigkeit bekennenden Jägerinnen und Jäger. Um diesem Ideal so nah wie möglich zu kommen, verbringen sie viel Zeit damit, ihre Waffen einzuschießen [schießen auf unbelebte Zielscheiben, um die Treffgenauigkeit der Waffe zu prüfen] und auf dem Schießstand Übungsschüsse auf Pappbilder von Rehböcken, laufenden Keilern und sitzenden Füchsen zu machen. Dennoch kommt er vor – der Fehlschuss. Ein Tier ganz zu verfehlen, ist dabei die eine Sache. Es jedoch nicht richtig – also nicht tödlich – zu treffen, ist eine andere Sache. Das verletzte Tier stellt eine Aufforderung für die weidgerechten Jägerinnen und Jäger dar. Das Tier muss, im Sinne der Weidgerechtigkeit, so schnell wie möglich vom Leid seiner Verletzung erlöst werden. Diese Maxime hat auch Einzug in die jagdliche Gesetzgebung gefunden, die definiert, dass »[z]um Zwecke der Bewahrung vor vermeidbaren Schmerzen oder Leiden krankgeschossenes Wild stets unverzüglich zu erlegen [ist]« (MüllerSchallenberg/Hugenroth 2015: 138). Dass Erlösung hier den Tod und nicht einen Tierarztbesuch bedeutet, deutet an, dass die Beziehung der Jagenden gegenüber dem gejagten Tier zwar Verantwortung und auch eine Form des Mitleidens aufweist, sie aber keineswegs mit der Emotionalität und Verantwortung gleichzusetzen ist, die bestimmten Haus- oder Hoftieren zuteil wird. Dabei sind es nicht nur durch einen Fehlschuss herbeigeführte Verletzungen, die eine solche moralische

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Aufforderung nach Erlösung darstellen. Auch für Wildunfälle auf der Straße gilt das, sofern das Tier den Unfall überlebt hat. Obwohl auch einige Wildunfälle während meiner Zeit im Feld passiert sind, beziehe ich mich im Folgenden einzig auf die Nachsuchen, die im Anschluss einer Jagd stattgefunden haben. Hierbei werden es die großen Drückjagden des Nationalparks sein, aus denen mein Material stammt. Auch wenn es sich dabei in gewisser Weise um einen Mikrokosmos der Jagd handelt, so steht aber gerade dieser Mikrokosmos exemplarisch dafür, welchen Stellenwert das Nachsuchenwesen für die deutsche Jagd der Gegenwart hat. Die folgenden Situationen beschreiben exemplarisch, wie bestimmte Momente der Jagd dazu führen, dass anschließend eine Nachsuche stattfinden muss und wie sie stattfindet. Beginnen möchte ich mit einem Jagdtag Ende November, an dem ich Gelegenheit hatte, den Verlauf der Jagd vom Schützenstand aus zu beobachten. Teilnehmend beobachtend hatte ich diesen Vormittag unter den Jägerinnen und Jägern verbracht, die als Jagdgäste des Nationalparks an der Drückjagd teilgenommen hatten. 28. November 2016, Wolfgarten: Drückjagd des Nationalparks Mein Hochstand, auf dem ich nun von halb zehn morgens bis ein Uhr mittags stehe, liegt in einem engen Bachtal mit Sichtkontakt zu meinem Nachbarschützen. Der Tag ist sonnig, aber eisig kalt. Selbst um die Mittagszeit und in der Sonne wird die Temperatur kaum Plusgrade erreichen. Zwar bin ich warm angezogen, aber nach den ersten anderthalb Stunden friere ich dennoch. Lieber wäre ich jetzt Treiberin, da die Bewegung einen warm hält. Immer wieder fallen Schüsse – mal weit entfernt, mal laut und nah. Das Echo der Schüsse hallt in den waldigen Tälern. Ich trete von einem auf das andere Bein und frage mich, ob ich so zitternd überhaupt in der Lage wäre einen sauberen Schuss abzufeuern. Erste Erfahrungen mit der Waffe habe ich auf dem Schießstand schon gemacht. Die Zeit zieht sich, bisher habe ich nur wenig Wild gesehen. Das ändert sich, als eine Rotte Wildschweine anwechselt [sich nähert]. Die Rotte besteht aus einer Bache [erwachsenes, weibliches Wildschwein], die voran geht, gefolgt von zwei, drei relativ großen und kräftigen Tieren. Dann folgen die kleineren, schmaleren Stücke: Überläufer [einjährige Wildschweine] und Frischlinge [Wildschweine, die jünger als ein Jahr sind]. Ich zähle 19 Stück, aber es ist schwer, den Überblick zu behalten, denn die Tiere drängen sich eng aneinander. Das ist ihre Überlebensversicherung, denn es dürfen nur einzelne, freistehende Stücke beschossen werden. Alles andere ist von der Jagdleitung untersagt, da Krankschüsse [Schüsse, die ein Tier nur verletzen] sonst wahrscheinlicher werden und die ohnehin anspruchsvolle Arbeit der Nachsuche unnötig vermehrt wird. Ob die Schweine das gelernt haben, oder ob es ihr Instinkt ist, weiß ich nicht. Ich sehe ihnen nach, wie sie unweigerlich in Richtung der tödlichen Gefahr laufen, nämlich zu meinem Nachbarn. Er könnte trotz allem Gedränge zum Schuss kommen, denke ich und merke, wie sich mein Körper anspannt. Aber se-

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kundenlang passiert nichts. Dann, als ich denke, dass die Schweine schon vorbei sein müssten, schießt er. Ein unglaublich lauter, harter Knall löst alle Spannung in mir. Das Echo des Schusses will nachhallen, wird aber schon vom tobenden Krach der fliehenden Wildschweine eingeholt und übertönt. Wildes Quieken und laut krachende Äste. Von Panik getrieben rennen die Tiere los und sind nur noch als schwarze Punkte erkennbar. Die Rotte ist gesprengt: Die eine Hälfte galoppiert den steilen Hang hinab Richtung Bach, die anderen Tiere haben kehrtgemacht und kommen auf dem Wechsel zurück in meine Richtung. In vollem Galopp kommen einige Tiere wieder an mir vorbei, die Pürzel [Schwänze] in die Höhe – ein untrügliches Zeichen, dass nun sehr viel Adrenalin im Körper der Tiere ausgeschüttet wird. Irgendwann, die Wildschweine sind längst aus unserem Wahrnehmungsfeld verschwunden und es ist wieder Ruhe eingekehrt, kommen einige Treiber an unseren Schützenständen vorbei. Ich höre, wie mein Nachbar sich rufend mit ihnen unterhält. Ich verstehe zwar nichts, kann mir aber denken, dass es darum geht, zu klären, ob er getroffen hat. Diese Vermutung bestätigt sich, als einer der Treiber tiefer hinab in den Hang steigt. Nun höre ich, wie er zu dem Schützen ruft: »Nichts!« Das Wildschwein liegt nicht [ist nicht tödlich getroffen und vor Ort verendet]. Dann, nach einigen Minuten des weiteren Suchens, machen die drei Treiber mit ihrer Arbeit weiter. Sie kommen nun langsam in meine Richtung. Einen der Männer erkenne ich. Es ist Heinz, ein Mitarbeiter des Nationalparks. Der Schütze hat einen Frischling beschossen, der aber nicht liege, bestätigt er mir auf meine Nachfrage. Da müsse die Nachsuche auf jeden Fall gemacht werden.

Obwohl Fehlschüsse wie dieser das Unerwünschte und das zu Vermeidende sind, gehören sie zur Jagd dazu. Sobald wir im Jagdkurs auf das Thema Fehlschüsse und Nachsuchen zu sprechen kamen, haben alle Dozenten – wie auch alle anderen der erfahrenen Jägerinnen und Jäger, mit denen ich mich unterhalten habe – darin übereingestimmt, dass so etwas jeder und jedem von uns im Laufe seines jagdlichen Lebens wohl einmal passieren würde. »Wem das noch nie passiert ist, der hat auch nicht gejagt.« So oder so ähnlich wurden wir darauf vorbereitet, dass auch wir eines Tages für eine Nachsuche verantwortlich sein könnten. So versuchte man uns Neulingen damit wohl auch die Angst davor zu nehmen, Fehler zu machen. Dabei ist in der Gemeinschaft der Jägerinnen und Jäger nicht der Fehlschuss das eigentlich Verwerfliche. Wer einen Fehlschuss verursacht hat, ist deshalb nicht gleich als nicht-weidgerechter Jäger oder als nicht-weidgerechte Jägerin disqualifiziert. Stattdessen sind es die Umstände, die zählen. In meinem Beispiel hat der Jäger, dem der Fehlschuss unterlaufen ist, zunächst nichts falsch gemacht. Im Gegenteil, er hat sich genau an die jagdlichen Vorgaben der Jagdleitung gehalten. Ähnlich wie auch bei den Jagden des Forstamts wurde in den Begrüßungsreden durch die Verantwortlichen stets darauf verwiesen, dass der Zweck dieser Veran-

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staltung ist, Beute zu machen. Die Begrüßungsrede am Morgen dieses Jagdtages macht das exemplarisch deutlich: 28. November 2016, Wolfgarten: Drückjagd des Nationalparks Jagdleiter: »[…] Sollte es der Fall sein, dass viele, viele Schüsse fallen und bei dem herrlichen Nebel schallt das auch ganz ordentlich, weiß ich, dass man unruhig wird und dass man auch schießen will und dass man Gelegenheiten nutzen möchte. Darum bitte ich auch: Nutzen Sie die guten Gelegenheiten! Machen Sie Strecke. Dafür machen wir das hier! […] Aber lassen Sie sich nicht aus der Ruhe bringen, machen Sie keinen Quatsch – und mir keine Sorgen. Sollte Ihnen ein Fehler passieren, stehen Sie bitte dazu, kommen Sie direkt zu mir. Dann sprechen wir darüber und dann müssen im Ernstfall auch Folgen getragen werden […].« Allen Jägerinnen und Jägern dürfen, bei dem Versuch »Strecke zu machen«, Fehler passieren. Die Aufforderung, »Strecke zu machen«, bedeutet jedoch nicht, dass die Schützinnen und Schützen wahllos auf alle Tiere schießen dürfen. Die Sicherheitsbelehrung, die vor Beginn einer jeden Gesellschaftsjagd verlesen wird, benennt klar die Pflichten der Jägerinnen und Jäger. Sie müssen das Tier, welches sie erlegen wollen, korrekt ansprechen [Beurteilung des Tieres gemäß Spezies, Geschlecht und grob des Alters, so wie seines gesundheitlichen Zustandes und den jeweiligen Freigaben]. Außerdem dürfen sie niemanden außer das Beutetier durch ihren Schuss gefährden. Mein Nachbarschütze hatte insofern alles richtig gemacht. Er hat abgewartet, bis die Wildschweine in seinem Schussfeld waren und er weder mich noch sonst jemanden durch seinen Schuss gefährdet hätte. Gezielt hatte er Richtung Bachtal, auf das er freie Sicht hatte und wo im Falle eines Fehlschusses der bewachsene Boden als Kugelfang diente. Er hat außerdem auf einen Frischling gezielt und damit auch den Vorgaben genüge getan, vor allem die Jungtiere zu jagen. Darüber hinaus hat er darauf geachtet, dass er ein einzelnes Tier beschossen hat. Ich hatte gesehen, dass die Frischlinge die letzten in der Gruppe waren und somit war die Wahrscheinlichkeit gering, dass er mit seinem Schuss ein anderes Tier hinter dem Frischling übersehen hätte. Sein Schuss war also gemäß den Vorgaben korrekt. Jedoch ist ein Frischling nicht sehr groß. Ein so kleines Tier in Bewegung ist ein schwieriges Ziel für einen sauberen Schuss. Ein solcher Fehlschuss gehört demnach zu jenen verzeihlichen Fehlern, die keine schwerwiegende Sanktionierung in der Gruppe der Jägerinnen und Jäger herbeiführen. Der Schütze disqualifizierte sich auch nicht als ›schlechter‹, oder nicht-weidgerechter Jäger, wie es bei anderen Jägerinnen und Jägern der Fall war, die gegen diese Vorgaben verstoßen hatten. Weil es solche Situationen, wie die oben beschriebene, auf Drückjagden recht häufig gibt, haben die Verantwortlichen dieser Jagden auch die Nachsuchen schon in ihre Organisation einbezogen. Für die Nachsuchen stehen professionelle Nachsuchengespanne, bestehend aus den Nachsuchenführern oder -führerinnen und ihren Schweißhunden

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zur Verfügung. Andreas und seine beiden Bayrischen Gebirgsschweißhunde Ico und Bazi waren auf allen Nationalpark-Drückjagden Teil dieser Nachsuchengespanne. Zu den Standards des Nationalparks gehört es, für die Nachsuchen-Arbeit nur solche Hunde und Hundeführer, bzw. Hundeführerinnen zuzulassen, welche eine anerkannte Schweißhundestation betreiben. Um diesen Titel führen zu dürfen, müssen die Nachsuchenteams sich nicht nur durch bestandene Hundeprüfungen qualifizieren, sondern vor allem durch Praxis-Erfahrung. Nur wer nachweisen kann, dass er oder sie jährlich regelmäßig eine bestimmte Anzahl an schwierigen Nachsuchen erfolgreich absolviert hat, wird durch den Landesjagdverband anerkannt. Ziel dieser Art der Formalisierung ist es, die Jagd tierschutzgerecht durchführen zu können.

Nachsuche-Situationen: Die Fährte aufnehmen Um verletzten Tieren, wie dem angeschossenen Frischling, ›unnötiges Leid zu ersparen‹, ist es wichtig, dass erfahrene Nachsuchengespanne sie schnell finden. Hunde und Hundeführerinnen, bzw. Hundeführer mit viel Erfahrung werden dafür angesehen, durch Routine und Praxiserfahrung genügend Können aufweisen, um eine Nachsuche schnell und kompetent durchzuführen. Dieses Können ist nach Ingold »incorporated into the modus operandi of the body, through practice and experience in an environment [Herv. i. O.]« (2000: 291). Die Fähigkeiten erfahrener Nachsuchengespanne können also nicht theoretisch erlernt werden, um sie anschließend in der Praxis ›auszuprobieren‹. Vielmehr ist es so, dass Hunde und Menschen sich diese Fähigkeiten erst vor Ort »through practical, ›hands-on‹ experience« (ebd.) aneignen müssen. Konkret bezieht sich das Können der Hunde und ihrer menschlichen Partnerinnen und Partner darauf, das vergangene Geschehen am Ort des Fehlschusses zu verstehen. Die Menschen haben dazu nur wenige Anhaltspunkte, wie die Anschussbänder, die markieren, an welcher Stelle im Gelände ein Tier – wahrscheinlich – getroffen wurde, oder Schnitthaar [Haare eines Tieres, die durch ein Geschoss abgerissen wurden und gegebenenfalls am Ort des Anschusses aufzufinden sind]. Eventuell finden sich dort sogar Knochensplitter. Haare und Knochensplitter können erfahrenen Jägerinnen und Jägern Rückschlüsse darüber geben, an welcher Körperstelle das Tier getroffen wurde. Mehr als diese materiellen Hinweise, die mündliche Überlieferung und eventuelle Aufzeichnungen des Schusshergangs haben die Nachsuchenführerinnen und Nachsuchenführer nicht, um zu entscheiden, ob eine Nachsuche notwendig ist, oder nicht. Die Erfolgsaussichten einer Nachsuche sind dabei – je nach Schwere der Verletzung – sehr unterschiedlich. So sind es die Hunde, auf deren Wahrnehmung sie sich verlassen müssen. Die Hunde der Nachsuchengespanne tragen wesentlich zum menschlichen Wissen über die Situation vor Ort bei. Die Analyse der Nachsuche muss daher berücksichtigen, dass und wie die Konstruktion und Organisation menschlichen Wissens auch von der In-

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teraktion mit nicht-menschlichen Lebewesen beeinflusst wird (vgl. Savalois et al. 2013: 79). Das impliziert wiederum zweierlei: Zum Einen ist hierbei eine anhaltende, sinnvolle Kommunikation zwischen Hunden und Menschen notwendig, die jenes humanimalische Verstehen voraussetzt, welches ich im vorherigen Kapitel schon vorgestellt habe. Zum Anderen gehört zu dieser Wissensproduktion, dass auch die Hunde sich im Laufe ihrer Nachsuchen-Karriere einen Erfahrungsschatz aneignen und ein Können für die Nachsuche ausbilden. Ingold (2000) öffnet sein skill-Konzept ausdrücklich auch für nicht-menschliche Lebewesen (vgl. ebd.: 291). Geübte Schweißhunde bestätigen diese Annahme. Je erfahrener sie sind, desto effektiver und konzentrierter arbeiten sie. Bei Ico und Bazi war oft zu erkennen, dass Ico der ältere und damit der geübtere Hund war, der schon viele Nachsuchen in seinem Leben erfolgreich absolviert hatte. Während Bazi noch umher lief und an verschiedenen Stellen zu riechen begann, hatte Ico den Ort des Geschehens durch seine Bewegungen und seine Nase schon eingegrenzt. Sofort begann er mit seiner Arbeit. Die Nase dicht am Boden, suchte er eine für das menschliche Auge meist unsichtbare Fährte. Bazi, der jüngere, folgte ihm, sobald er wahrgenommen hatte, dass sein Kollege an einer offensichtlich interessanten Fährte arbeitete.

28. November 2016, Wolfgarten: Nachsuche im Anschluss an eine NationalparkDrückjagd Wir folgen Ico, der uns am langen Schweißriemen durch den Fichtenwald führt. Das Tempo des Hundes erhöht sich. Wir könnten nahe am gesuchten Frischling sein. Bazi ist ebenfalls angespannt und drängt vorwärts. Er zieht an seinem Schweißriemen, den ich in den Händen halte. Ich kann seiner Kraft kaum mehr etwas entgegensetzen, so sehr drängt der Hund in eine Richtung. Er zwingt mich, meine Schritte deutlich zu beschleunigen, was bei diesem bewachsenen, holprigen Untergrund immer die Gefahr birgt, zu stolpern. Mehr als einmal passiert mir das auch. Weiter vorne beginnt Ico dunkel und tief zu bellen und ich höre Andreas‹ Stimme, wie er den Hund lobt und dann sehr heftig »Schone!« ruft. Ico ist bei dem gesuchten Frischling angekommen. Und er scheint ihn als seine Beute zu betrachten, denn »Schone!« bedeutet, dass der Hund sich zurückhalten und den toten Tierkörper nicht anschneiden [anbeißen] soll. Inzwischen habe ich den Riemen losgelassen und Bazi läuft eilig zu Ico. Nach einigen Nachsuchen mit Ico und Bazi kann auch ich schon erkennen, dass Bazi die Fährte des Frischlings nicht selbstständig mit der Nase verfolgt hatte. Vielmehr orientiert er sich mit seinem Blick an Ico und war einfach dorthin gelaufen, wo er Ico gesehen hatte. Ich sehe nun den Körper des Frischlings zwischen den Hundeköpfen. Die Hunde werden ausgiebig gelobt und wieder an die Leine genommen. Ralf, der Ansteller, nimmt inzwischen den Frischling an sich.

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Die Fähigkeiten, die sich Nachsuchen-Hunde im Laufe ihres Lebens aneignen, sind weder genetisch programmiert, noch sind sie das Ergebnis einer Ausbildung, verstanden als eine mechanistische ›Reiz-Reaktion-Dressur‹. Bazi und Ico werden in ihrer Ausbildung zwar auch auf Kommandos trainiert. So reagierten die Hunde zum Beispiel damit, dass sie von ›ihrer‹ Beute zurücktraten und den Menschen den Vortritt ließen, wenn Andreas sie mit einem lauten und bestimmten »Schone!« ermahnte. Ihre eigentliche Aufgabe als kompetente Nachsuchen-Hunde besteht aber nicht darin, Kommandos mit immer gleichen Bewegungsmustern zu beantworten, sondern sie müssen selbstständig arbeiten. Das heißt, sie sollen im Sinne ihrer menschlichen Führerinnen und Führer eine Fährte ausarbeiten und ihr entweder solange folgen, bis sie das verletzte oder tote Tier finden, oder sie sollen anzeigen, dass sich hier keine Suche lohnt. Damit bewegen sich die Hunde bei ihrer Arbeit immer im Bereich einer Balance zwischen Autonomie und Gehorsam ihren Menschen gegenüber (vgl. Savalois et al. 2013: 81). Obwohl die Hundeausbildung damit sowohl Elemente von trust als auch von domination aufweist (vgl. Ingold 2000), ist für die erfolgreiche Nachsuchenarbeit das Vertrauen in das Können der Hunde der zentrale Aspekt der humanimalischen Arbeit. Die Fähigkeiten der Hunde, einer bestimmten Fährte zu folgen, auf die sie angesetzt werden, erfordert von ihnen ein hohes Maß an Selbstständigkeit. Es ist damit weit von einer reinen Dressur entfernt. Stattdessen werden auch die Hunde umso geübter, je mehr unterschiedliche Nachsuchen-Situationen sie meistern müssen.

Abbildung 8: Bei der Nachsuche

Bazi befand sich während meiner Feldforschung erst in der Ausbildung und stand noch am Anfang seines Arbeitslebens als Schweißhund. Bei der Suche nach dem Frischling hat seine Körpersprache uns Menschen gezeigt, dass Bazi sich noch mehr an seinem erfahreneren Kollegen orientiert, als dass er selbstständig beginnt,

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die Fährte auszuarbeiten. Junge Hunde können auf diese Weise von erfahrenen Hunden lernen, wie Andreas mir später erklärt. So würden sie lernen, worauf es ankäme und könnten dann mit und mit auch selbst Nachsuchen absolvieren. Nicht zu unterschätzen ist für die Nachsuchenarbeit aber vor allem das eigene Interesse der Hunde daran, einer Fährte zu folgen. Erfahrene Hunde folgen vielversprechenden Fährten mit großer Ausdauer und Konzentration und müssen dabei oft weite Strecken zurücklegen und das verwirrende Gewirr anderer Fährten ausblenden. Ihr Wille, dem verletzen Tier zu folgen, wird durch die Erfahrung intensiviert, dass am Ende einer Krankfährte meist ›ihre Beute‹ und Lob von ihren Menschen wartet. Diese Erlebnisse motivieren die Hunde, sich auch beim nächsten Mal um das Auffinden eines Tieres zu bemühen. Für Bazi war der gefundene Frischling daher eine wichtige Erfahrung, die dazu betragen wird, dass er ›weiß, worum es geht‹, wenn Andreas ihn alleine auf die Suche schickt. Durch die regelmäßige Zusammenarbeit können auch die Hundeführerinnen und -führer an der Körpersprache und den Bewegungen der Hunde erkennen, ob sich ein Einsatz lohnt oder nicht. Die Kommunikation zwischen Hund und Mensch während der Nachsuche wird meist durch die Leiblichkeit der Hunde angeleitet. Sie reagieren so nicht nur auf die verbalen Kommandos ihrer Führerinnen und Führer, sondern artikulieren durch Bewegungen und Gebell ihre Wahrnehmung der Umgebung. Je vertrauter die Hunde mit ihrer Arbeit sind, desto mehr können sich Mensch und Hund auf die Nachsuche konzentrieren ohne sich stets des jeweils anderen versichern zu müssen. Hunde und Menschen lernen also mit jedem Einsatz ihre sensorische Wahrnehmung auf eine bestimmte Weise zu trainieren. Geübte Nachsuchengespanne können mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt beurteilen, ob ein Schuss eine Verletzung beim Tier hervorgerufen hat oder ob er ›vorbei ging‹, während weniger geübte Nachsuchengespanne hierbei eher Fehler machen.

»Die feinen Unterschiede«15 Geübte Nachsuchengespanne können sich ihre Erfahrung durch den Titel anerkannte Schweißhundestation sogar formal bestätigen lassen – das wiederum geht mit steigendem sozialen Prestige innerhalb der Gruppe der Jägerinnen und Jäger einher. Dieser Titel hat aber auch den praktischen Vorteil, dass sich so die Chance auf weitere Nachsuchen-Einsätze erhöht – und damit die Chance das eigene Können weiter zu verbessern. Andreas erklärt mir, mit welchen Auflagen es für ihn als Hundeführer verbunden ist, eine anerkannte Schweißhundestation zu führen.

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Die Überschrift entleihe ich Bourdieu (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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»In NRW ist es so: Wir brauchen, um die Anerkennung zu bekommen, jedes Jahr mindestens 15 erschwerte erfolgreiche Nachsuchen [Nachsuchen, bei denen die Arbeit für die Hunde besonders schwierig war. Entweder, weil das verletzte Tier noch eine weite Strecke zurückgelegt hat, oder weil es wenig Schweiß verloren hat, oder die Wetterbedingungen die Arbeit der Hunde erschwert haben, z.B. durch trockene Hitze oder starken Regen]. Um diese fünfzehn erschwerten Nachsuchen zu bekommen, brauche ich also im Schnitt 45 erfolgreiche Nachsuchen [Nachsuchen, bei denen das Tier schließlich tatsächlich tot oder verletzt von den Hunden gefunden wird]. Und um die 45 erfolgreichen Nachsuchen zu bekommen, [brauche ich] locker das doppelte an Einsätzen, weil ja nicht jeder Einsatz erfolgreich ist. Es sind ja auch viele Kontrollen dabei [Nachsuchen im Anschluss an einen Fehlschuss, bei dem das Tier aber verfehlt wurde und unverletzt fliehen konnte] und die versauen einem dann natürlich den Schnitt. Aber die müssen ja auch gemacht werden. Deswegen sind wir dann schon bei 90 Einsätzen, um 15 erschwerte zu bekommen. Das ist über die Jahre gemittelte mal so die Faustregel.«16 Dadurch, dass er schon eine anerkannte Schweißhundestation hat, kann Andreas viele dieser neunzig Nachsuchen auf den Jagden des Nationalparks und des Forstamts absolvieren. Während es für Hundeführerinnen und Hundeführer, die sich noch keinen Namen innerhalb der lokalen Jäger_innenschaft gemacht haben, schwieriger ist, einen Zugang in das System zu finden, beschriebt Andreas seine Situation so: »Aber wenn man ein gewisses Level erreicht hat, ist das ein Selbstläufer. Ich mache im Jahr im Schnitt so zwischen 220 und 250 Nachsuchen.« Damit einhergehend wird Andreas durch die lokale Jäger_innenschaft im Bezug auf die Nachsuche eine »Kompetenz des Kenners« (Bourdieu 1987: 121) zugeschrieben. Diese Kompetenz kennzeichnet sich als eine »praktische Beherrschung [der Nachsuche, eig. Anm.], die […] nicht ausschließlich durch Regeln und Vorschriften weitergegeben wird, deren Erlernung vielmehr einen übers normale Maß hinausgehenden Kontakt voraussetzt […]« (ebd.). Damit setzt die »Kompetenz des Kenners« jene »skilled practice« (Ingold 2000: 415) voraus, die ebenso wenig als »application of objective 16

Zusätzlich gibt es Auflagen, wo diese Nachsuchen stattzufinden haben. Um vom Landesjagdverband Nordrhein-Westfalen (LJV NRW) anerkannt zu werden, müssen sie in NRW stattfinden. Sie müssen zudem von einer weiteren Person bezeugt werden. In der Regel werden diejenigen als Zeugen benannt, welche das Schweißhundegespann zum Ort des Anschusses gebracht haben oder die Schützinnen und Schützen, welche den Fehlschuss verursacht haben und oft auf den Nachsuchen dabei sind. Von Andreas habe ich jedoch oft die Aussage gehört, dass »Papier geduldig ist«, wenn wir über die Protokollierung von Nachsuchen gesprochen haben. Diese Aussage weist darauf hin, dass durch schriftliche Zeugnisse alleine noch nicht viel über die tatsächliche Qualität eines Nachsuchengespanns gesagt ist. Was eine größere Rolle spielt, so habe ich es während der Feldforschung erfahren, ist der Ruf, den die Gespanne innerhalb der Gemeinschaft der lokalen Jägerinnen und Jäger haben.

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knowledge« (ebd.) verstanden werden kann. Die nachfolgende Szene, die sich bei der Organisation der Nachsuchen ereignet hat, zeigt, dass mit dem sozialen Prestige einer anerkannten Schweißhundestation auch eine gewisse Autorität einhergeht. Sie demonstriert ebenfalls, wie exklusiv dieses System gegenüber Nachsuchengespannen sein kann, die sich diese Kompetenz noch nicht erarbeitet haben. 30. November 2016, Wolfgarten: Im Anschluss an eine Nationalpark- Drückjagd Im provisorischen Büro der Kermeterschenke. Ralf telefoniert mit diversen Menschen, denn es müssen noch Nachsuchen für den folgenden Tag organisiert werden, für den es zu wenige Schweißhunde-Gespanne gibt. Während eines dieser Telefonate kommt der Name einer Frau ins Spiel. Ralf wendet sich an Andreas: »Ist das in Ordnung, wenn wir die mal anrufen, Andreas?« Dieser antwortet: »Ja, wenn die ›nen vernünftigen Hund hat?! Um so mehr wir morgen sind, desto besser. Ich kann wirklich nur bis mittags bleiben. [Während der Drückjagd-Saison haben verlässliche und gute Nachsuchengespanne oft viele Tage hintereinander Jagden, für die sie angefragt werden] … Wer ist das denn?« Ralf nennt ihren Namen. »Kenn‹ ich nicht. Nie gehört. Hat die denn eine Schweißhundestation?«, hakt Andreas nach. Ralf leitet die Frage weiter an seinen Gesprächspartner am Telefon und verneint dann. »Dann nicht.« Damit ist das erledigt. Obwohl Andreas und Sascha noch Nachsuchen-Teams brauchen würden, die ihnen morgen helfen könnten, hält Andreas es für keine gute Idee, jemanden ohne anerkannte Schweißhundestation zum Nachsuchen zu holen. »Das können wir uns nach letzter Woche nicht erlauben!« Hintergrund ist, dass der Nationalpark in der Kritik eines Jägers aus einem Nachbarrevier stand. Dieser hat hinterfragt, ob für die Nachsuchen wirklich nur qualifizierte Nachsuchengespanne eingesetzt wurden. Das war zwar der Fall, jedoch zeigt dieser Vorfall auch, dass der Nationalpark bei der Durchführung seiner Jagden durchaus Aufmerksamkeit auf sich zieht. Diese systematische Begrenzung an Nachsuchenteams dient daher dem Ziel, einen gewissen objektivierbaren ›Qualitätsstandard‹ für das Nachsuchenwesen im Nationalpark aufrecht zu erhalten und sich vor externer Kritik zu schützen. Diese Art der Formalisierung und Standardisierung zeigt, wie die institutionell betriebene Jagd von Nationalpark und Forstamt im Zusammenspiel mit Richtlinien des LJV und der Jagd-Gesetzgebung zu einer Objektivierung des Nachsuchenwesens führt. Die Nachsuche vernünftig, also weidgerecht zu gestalten, ist nicht mehr nur eine vage moralische Pflicht, sondern die weidgerechte Nachsuche lässt sich durch Zahlen und Quoten greifbar und normierbar machen. Die Organisation der Nachsuchen wird bei den Jagden des Nationalparks zentral von den Jagdleiterinnen und -leitern durchgeführt. Sie findet statt, nachdem die Jagd schon beendet ist. Die Jägerinnen und Jäger sind schon von ihren Drückjagdböcken durch die Ansteller und Anstellerinnen abgeholt worden [von ortskundi-

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gen Helferinnen und Helfern die dafür verantwortlich sind, die Schützinnen und Schützen zu ihren Schützenständen zu bringen, sie vor Ort über ihre direkte Umgebung und mögliche Gefahrenquellen zu informieren und nach Ende der Jagd dort wieder abzuholen]. Ist die Jagd beendet, befindet sich die Jagdgesellschaft nicht mehr im Revier, sondern an einem zentralen Sammelplatz, wo meist auch das gemeinsame Essen, das Schüsseltreiben, stattfindet. Bevor die Jagdgäste zum Essen gehen können, müssen sie den Anstellern und Anstellerinnen auch ihr Anschussprotokoll übergeben. Das Anschussprotokoll ist ein Bogen Papier, den alle Jägerinnen und Jäger vor Beginn der Jagd erhalten. Hier müssen sie ihren Namen und jeden abgefeuerten Schuss mit Uhrzeit und beschossener Wildart eintragen. Die Anschussprotokolle werden am Ende der Jagd eingesammelt und von der Jagdleitung ausgewertet. Damit werden die vielen, fast ununterscheidbaren Schüsse, die im Laufe einer Drückjagd fallen, differenzierbar und individuell. Auch muss jeder Fehlschuss im Anschussprotokoll als solcher bekannt gemacht werden. Die Jägerinnen und Jäger, die einen Fehlschuss gemacht haben, müssen diesen schließlich den Nachsuchenführerinnen und -führern genau beschreiben. So ist der Fehlschuss auf einer Drückjagd nicht die Privatangelegenheit der Schützin oder des Schützen, sondern eine semi-öffentliche Tatsache innerhalb der Jagdgesellschaft. 15. Dezember 2016, Wolfgarten: Nachsuche im Anschluss an eine NationalparkDrückjagd Im provisorischen Büro in der Kermeterschenke übernimmt der Jagdleiter die Koordination der weiteren Abläufe. Die Jagdgäste sitzen nebenan im Restaurant. Stimmengewirr, das Klappern von Besteck und der Geruch von Sauerkraut dringt zu uns herein. Die Jagd ist zwar vorbei, aber es gibt noch viel für die Verantwortlichen zu tun. Dazu gehört auch, die Nachsuchen zu klären und auf die anwesenden Nachsuchengespanne aufzuteilen. Der Jagdleiter ist ein junger Förster, der laut Gabi, einer erfahrenen Revierförsterin des Nationalparks, noch nicht so viele Jagden geleitet hat. Außer mir sitzen noch einige andere Menschen im Büro. Einige davon kenne ich, wie die beiden Ralfs und Andreas. Andere kenne ich nicht. Klar ist aber, dass sie alle eine Rolle in der nun folgenden Arbeitsteilung haben werden – entweder als Ortskundige, oder als Nachsuchenführer. Im Büro herrscht ein Kommen und Gehen. Die Ansteller geben die ausgefüllten Anschussprotokolle der Schützinnen und Schützen ab. Ab und zu kommt Maren, die Kellnerin der Kermeterschenke, herein und verteilt alkoholfreie Hefeweizen, Cappuccino und Kaffee, fragt nach Deckeln und sammelt leere Tassen und Gläser ein. Die Diskussion der Beteiligten dreht sich um das Einsammeln der toten Tiere und ihren Transport in die große Wildkammer [gekühlter Raum, wo die toten Tiere bis zur weiteren Verarbeitung aufhängt werden], ebenso wie um die Nachsuchen. Es wird über »Definitive« und »Kontrollen« gesprochen, weitere ortskundige Ansteller werden angerufen und herbeizitiert, um die Nachsuchengespanne zu den Orten der Fehlschüs-

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se zu bringen. Die Atmosphäre ist von Unruhe geprägt. Die Zeit für die Nachsuche ist – wie immer – knapp und es gibt zu wenige Ortskundige. Es müssen Prioritäten gesetzt und Abläufe koordiniert werden. Nach der Jagd beginnt für die Verantwortlichen die weitere Organisation des Geschehens nach dem Schuss. Alle Schützinnen und Schützen sind von ihren Schützenständen zurückgekehrt. Die ersten toten Tiere werden geborgen, mit Ohrmarken registriert, in Listen eingetragen und auf Anhänger verladen. Von hier werden sie zum Aufbrechen transportiert. Dies geschieht entweder am zentralen Treffpunkt, wenn dort eine Kühlkammer vorhanden ist, oder dort, wo sich die jeweilige Kühlung befindet – oft einige Kilometer weit weg. Nach dem die Tiere ausgenommen sind, werden sie entweder sofort weiterverkauft, oder vor Ort weiterverarbeitet. Das Einsammeln und Aufbrechen übernehmen beim Nationalpark die Angestellten. Meistens gibt es dann personelle Überschneidungen, da diese Personen auch oft die ortskundigen Ansteller und Anstellerinnen sind. Zugleich warten die Nachsuchengespanne darauf, mit ihrer Arbeit beginnen zu können. Da die Nachsuchengespanne oft nicht selbst ortskundig sind, müssen sie und gegebenenfalls die Schützinnen und Schützen, welche einen Fehlschuss verursacht haben, zum Ort der Nachsuche gebracht werden. Damit die tatsächlich angeschossenen Tiere möglichst schnell nachgesucht werden können, beginnt die Arbeit der Jagdleiterinnen und Jagdleiter in Zusammenarbeit mit den Nachsuchenführerinnen und -führern zunächst damit, zu entscheiden, was Definitive und was Kontrollsuchen sind. Definitive sind Nachsuchen, bei denen klar ist, dass ein Tier angeschossen wurde. Bei den Kontrollen ist die Ausgangslage unsicherer: Hier sind die Schützinnen und Schützen sich entweder unsicher, ob sie vorbei geschossen haben oder ob sie das beschossene Tier vielleicht doch getroffen haben könnten. Oder sie geben an, verfehlt zu haben. Selbst wenn sie sicher sind, dass sie verfehlt haben, wird im Anschluss eine Kontrollsuche durchgeführt. Die Notwendigkeit einer Kontrolle auch in scheinbar eindeutigen Situationen resultiert daraus, dass bei der Schussabgabe alles sehr schnell geht. In den Sekunden zwischen dem Aufmerksam-Werden auf das Beutetier und dem Abdrücken des Abzugs passiert viel. Das Tier wechselt an [kommt herbei] und wird von dem oder der Jagenden in diesem Moment angesprochen [beurteilt]. Passt das Tier in die Freigabe, muss die Waffe schnell aufgenommen und in den Anschlag gebracht werden. Während das Gewehr feste an die Schulter gepresst wird, fokussiert der Blick der Jagenden schon den sich bewegenden Körper des Tieres durch das Zielfernrohr und versucht ihn einzufangen. Büsche, Bäume und andere Pflanzen verdecken es vielleicht immer wieder. Der Lauf des Gewehrs schwingt mit den Bewegungen des sich unruhig bewegenden Tieres mit. Schließlich zielt der Blick im Zielfernrohr für einen Bruchteil einer Sekunde auf eine Stelle am Körper des Tieres. Trifft das Geschoss hier auf den Körper auf, ist es tödlich getroffen. Das Abdrücken des Ab-

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zugs muss im selben Augenblick schon passiert sein, denn sonst trifft das Geschoss vielleicht schon an einer ganz anderen Stelle auf. Die Gleichzeitigkeit vom betäubend-scharfen Knall des Schusses in den Ohren, dem blendenden Mündungsfeuer, dem Rückstoß der Waffe, den der ganze Körper auszugleichen sucht – all das sind Faktoren, die es den Schützinnen und Schützen erschweren, genau beobachten zu können, wo sie abgekommen sind [wo der Schuss das Tier getroffen hat oder eben nicht]. So bleibt auch bei einem Fehlschuss die Notwendigkeit einer Nachsuche, soll wirklich jeder Zweifel ausgeschlossen werden. Werden die Nachsuchen organisiert, zeigen sich auch die »feinen Unterschiede« zwischen Fehlschüssen, die passieren dürfen und solchen, die nicht passieren sollten. Während mein Nachbarschütze keine Verstöße gegen die formalen Sicherheitsregeln oder die Weidgerechtigkeit begangen hat, gab es auch solche Fälle, in denen klar war, dass gegen solche Regeln verstoßen worden war. Niemand, der ein solches Vergehen begangen hat, wird von der Jagdleitung öffentlich sanktioniert. Die Sanktionen erfolgen subtiler. 30. November 2016, Wolfgarten: Drückjagd des Nationalparks Anschussprotokolle werden durchgelesen, laut vorgelesen, diskutiert. »Der Manni schon wieder!«, wird kommentiert. Manni ist bekannt dafür, dass er viel Strecke macht. Und daher auch die eine oder andere Nachsuche provoziert. Jedoch gilt er als guter Jäger und wird deshalb nicht als »Schießer« im negativen Sinne bezeichnet. Über diejenigen, die unverantwortlich handeln, mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Standkarten und Anschussprotokolle nicht wahrheitsgemäß ausfüllen, wird anderes geredet, als über Manni. Einer der Jagdgäste hat in ein Rudel Mufflons geschossen, hat zwei Tiere angeschossen und danach ein weiteres erlegt. Er hat damit die vorgegebene Reihenfolge missachtet: Eigentlich ist für alle Schützinnen und Schützen nach zwei »ungeklärten Anschüssen« Schluss – sie dürfen nicht weiter schießen. »Wer war das denn?«, fragt der eine Ralf. »Weiß ich nicht, einer von den Gästen von xx [Namen nicht verstanden]. Ich kenn‹ den nicht, der war das erste Mal da.«, antwortet der andere Ralf. »Und das letzte Mal.«, fügt Andreas hinzu. Alle nicken zustimmend. Indem die Fehlschüsse der Jagdleitung bekannt gemacht werden müssen, damit eine Nachsuche stattfinden kann, werden sie auch schon Objekt einer Beurteilung gemäß kultureller Normen und Werte. Die Autoritäten der Jagd, die Jagdleitung und die Nachsuchenführerinnen und -führer, entscheiden, ob es sich um einen akzeptablen Fehlschuss handelt – wie im Fall von Manni und meinem Nachbarschützen – oder ob der Fehlschuss ernstere Konsequenzen nach sich zieht – wie im Fall des unbekannten Schützen aus dem vorherigen Beispiel. Um im Nationalpark mit jagen zu dürfen, müssen Jägerinnen und Jäger sich bewerben. Das tun viele Jägerinnen und Jäger aus der Nordeifel – vor allem, weil die Chance in den wildreichen Landschaften des Nationalparks Beute zu machen, hoch ist. Wer sich als gute Schützin

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oder guter Schütze einen Namen gemacht hat, wird meist wieder eingeladen. Auch Hermann ist als guter Jäger in de Region bekannt und wird regelmäßig vom Nationalpark eingeladen. Wer einmal zur Gruppe der Wieder-Eingeladenen gehört, hat sich gemäß den Standards der Verantwortlichen für die Nationalpark-Jagden, als guter Jäger oder gute Jägerin qualifiziert. Wer dagegen von ihnen nicht mehr als Jagdgast berücksichtigt wird, hat damit eine Form subtiler Sanktion erfahren. Bevor aber diese sozialen Konsequenzen gezogen werden, hat ein Fehlschuss praktische Konsequenzen. Hunde und Menschen begeben sich in eine Grenzsituation am Rande der Jagd. Für die meisten der Jagdgesellschaft ist die Jagd schon vorbei: Abschiedsrituale wie das gemeinsame Essen und das Verblasen der Strecke werden vollzogen, während die Jagd abseits dieser Zeremonie noch einmal aufzuerstehen scheint. 13. Dezember 2016, Wahlerscheid: Nachsuchen im Anschluss an eine NationalparkDrückjagd Beim Nachsuchen wiederholt sich die Jagd vom Morgen auf eigentümliche Art: Man kehrt an bestimmte Orte zurück und ein Teil des vergangenen Geschehens an diesem Ort muss rekonstruiert werden. Andreas, so wie der ortskundige Ansteller und ich stehen an einem Ort im Wald, haben einen Zettel dabei, auf dem Pfeile und grobe Entfernungswerte vom Schützen eingetragen sind. Es ist das Anschussprotokoll, auf dem auch der Name des Schützen vermerkt ist, ebenso, wie die Wildart, um die es geht. Auch die ungefähre Uhrzeit ist vermerkt. All das nimmt Andreas und seinen Hunden nicht die Aufgabe ab, sich jetzt und hier im Gelände orientieren zu müssen und Karte und Umwelt irgendwie in Einklang zu bringen. Nicht immer ist das einfach. Die Wirklichkeit ist komplexer als Pfeile, geschätzte und manchmal verschätze Entfernungen es vermuten lassen. Hier stehend, lernen wir auch etwas über die heutige Jagd aus der Perspektive der Tiere, die hier gejagt wurden. Wir lernen, auf welchem Weg sie herkamen, wo eines von ihnen angeschossen wurde und der plötzliche Schuss sie in Panik ausbrechen ließ. Am Anschuss finden wir Schweiß. Wir Menschen lernen etwas über die Flucht der Tiere – vermittelt durch die Hunde, die uns schnuppernd Auskunft darüber erteilen, auf welchen Wegen die Tiere geflohen sind. An der Fährte und am letzten Wundbett lernen wir auch etwas über das Ende ihres Lebens und ihren Tod. Jede Nachsuche birgt auch Risiken. Während die Jagd für die Jagdgäste durch Sicherheitsbelehrungen, Verhaltensvorschriften, Kleiderordnung und Landschaftsmarkierungen durch die Verantwortlichen so sicher wie möglich gestaltet wird, liegt die Nachsuche in der Peripherie dieser Sicherheitszone. Wer sich auf eine Nachsuche begibt, muss sich auf die Nase der Hunde verlassen. Dazu gehört auch, sicheres Terrain zu verlassen. Die Jagd vom Hochsitz führt die Jagenden zwar abseits der Wege, aber noch durchziehen Pirschpfade die Landschaft. Sie sind dort angelegt, wo die Jagenden auch mit Waffe und Rucksack noch festen Boden unter

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den Füßen haben und Halt finden. Die Treiberinnen und Treiber bei den Drückjagden müssen sich schon durch Büsche, Dickungen, Brombeeren und Talschluchten kämpfen, die weit weniger gangbar sind. Jedoch wird das Treiben durch die Organisatoren und Organisatorinnen so ausgerichtet, dass das Gelände für Menschen und Hunde noch irgendwie zu bewältigen ist. Dort, wohin ein verletztes Tier flieht, ist das Gelände oft genug weniger entgegenkommend. Haben Wege und Pirschpfade affordance-Charakter für die Bewegungen der Jägerinnen und Jäger und können Treiberinnen und Treiber sich oftmals entlang der Wege des Wildes – der Wildwechsel – bewegen, so findet die Nachsuche oft abseits dieser Wege statt. Verletze Tiere verstecken sich meist, um zu sterben. Man findet sie – wenn man sie findet – in tiefen Gebüschen an unwegsamen Orten. Trifft der Tod sie auf der Flucht mit ihrem Rudel oder ihrer Rotte, so kann es sein, dass sie irgendwo auf dem Weg der Gruppe verenden. Es kann aber auch passieren, dass sie Abhänge hinunterfallen, in tiefen Gräben liegen oder im Dickicht eines Gebüschs. Alle diese Fälle hat es während meiner Feldforschung gegeben und sie sind nur eine kleine Auswahl an Widerständen, die ein Nachsuchengespann bewältigen muss. Wie unangenehm Äste und Dornen das Gesicht zerkratzen können, habe ich als Treiberin oft genug erlebt. So wunderte es mich nicht, dass nicht nur Andreas‹ Hunde durch ihre Hundewesten geschützt werden, sondern auch er selbst über eine Schutzausrüstung verfügt. Die Körper von Hund und Mensch sollen durch diese Ausrüstung so gut es geht vor den resistances der lebendigen Umwelt geschützt sein. Nicht zuletzt gehören auch die verletzten Tiere zu dieser widerständigen Umwelt. Auch vor ihnen soll die Ausrüstung Mensch und Hund schützen. 10. November 2016, Wolfgarten: Nachsuche im Anschluss an eine NationalparkDrückjagd Ico wird seine Schutzweste angezogen. […] Andreas selbst hat eine spezielle Nachsuchenhose und -jacke an, die aus widerstandsfähigem Material bestehen, das vor Dornen, Ästen und im Zweifel auch vor den Attacken von Wildschweinen schützt. Das Material ist leuchtend orange, gelb und rot. Obwohl das Material fest und widerstandsfähig ist, muss es zugleich Bewegungsfreiheit ermöglichen. Außerdem trägt er feste Bergsteigerschuhe, einen Helm mit Gesichtsschutz, Handschuhe und natürlich sein Gewehr. Der Kunststoffschaft des Gewehrs ist ebenfalls orange – unterbrochen von real tree-Camouflage. Kleidung und Gewehr sollen durch ihre Farbe dazu beitragen, dass ihre Trägerinnen und Träger auch schon von weitem und in unübersichtlichem Gelände gesehen werden. Der Lauf des Gewehrs ist, typisch für eine Nachsuchenwaffe, einige Zentimeter kürzer, als bei gewöhnlichen Waffen. Der Grund dafür ist, dass der Lauf nicht so schnell in Ästen eines Gebüschs hängenbleiben soll. Die Laufmündung ist mit Kreppband verschlossen. Es kann bei einer Schussabgabe leicht vom Projektil durchschlagen werden, verhindert aber zugleich, dass der Lauf verstopft wird. Regen,

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die Nadeln von Bäumen oder nasser Schnee könnten sonst dort hinein rieseln und im entscheidenden Moment den Austritt der Kugel verhindern, verzögern oder auch nur die Schussbahn des Projektils verändern. Wie andere Nachsuchenführerinnen und -führer trägt Andreas das Gewehr nicht, indem er den Gewehrriemen über die Schulter oder quer über die Brust gelegt hat. Er trägt es wie einen Rucksack auf dem Rücken, so dass es nicht verrutschen kann und er stets beide Hände frei hat. Auch der Saufänger an seinem Gürtel ist auffällig. Der Saufänger ist ein großes Messer mit langer und breiter Klinge. Viele Jägerinnen und Jäger tragen Messer bei sich, aber selten ein solch großes Messer wie einen Saufänger. Andreas benötigt es vor allem, um verletzte Tiere abzufangen [ein verletztes Tier mit einem gezielten Messerhieb zu töten]. Als wir über seine Ausrüstung sprechen, erklärt er mir, dass er das Messer nur für bestimmte Gelegenheiten benötigt: »Also Sauen bis, ich sage mal 60 Kilo, die fange ich mit dem Messer ab. Wenn die Hunde dran sind.« Der Saufänger ist lang genug, um mit genügendem Kraftaufwand auch die Borsten und die Fettschichten der Wildschweine zu durchstechen. Bei kräftigeren Tieren würde Andreas sich jedoch nicht auf das Messer verlassen. Ohnehin sei das Gewehr für ihn das wichtigste Werkzeug, um ein verletztes Tier zu töten: »Die Tötungskraft einer Langwaffe ist durch nichts zu ersetzen. Viele nehmen dann auch keine Langwaffe mit, sondern nur ›ne Pistole oder ›nen Revolver. […] Das finde ich sowas von abartig, weil du bringst einfach nicht die Energie ins Ziel. Ein Büchsengeschoss hat eine Mündungsenergie von sagen wir mal so …ja, 3800 bis 5500 Joule. ›ne Kurzwaffe – eine 44-Magnum aus einem 7-Zoll-Lauf, also schon das Maximum – bringt maximal 1000 Joule. Für eine gesunde Sau ist das mit Sicherheit nicht das Thema. Aber wenn die Sau angeschossen ist, ist die voll gepumpt mit Adrenalin und dann muss das was sein, was tot macht. Ist einfach so. Da kann ich nicht mit so einem Schreckschussapparat rumlaufen – das ist Unsinn.« In den Jackentaschen von Andreas sind ein Erste-Hilfe-Set, sein Handy, das Gegenstück zu den Telemetriegeräten der Hunde und Anschussband – auch in blau. Blaues Anschussband verwendet Andreas, wenn er den Verlauf einer Nachsuche markiert, weil er sie möglicherweise nicht an diesem Tag zu Ende bringen kann. Das kräftige Blau, so erklärt er mir, sei auffällig und schnell wieder zu finden, da es keine natürliche Farbe in unserer Landschaft sei. Die Ausrüstung eines Nachsuchengespanns zeigt durch ihre Materialität schon an, dass Menschen und Hunde sich während der Nachsuche in Grenzgebiete begeben. Ihre Körper sind geschützter, als die der Schützinnen und Schützen, aber auch der Treiberinnen und Treiber. Die Kleidung soll jedoch nicht nur vor der widerständigen Landschaft schützen, sondern auch vor Verletzungen durch das nachgesuchte Wildtier, dem die Nachsuchenden mit dem Versuch es zu töten, unter Umständen sehr nahekommen. Mit jeder Nachsuche, die Mensch und Hund beginnen, betreten sie einen Weg, von dem sie nicht wissen, wohin er führt. Während die vorangegangene Jagdveranstaltung eingehegt war – Reviergrenzen, Zeitfenster, Schützenstände,

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die nicht verlassen werden dürfen, festgelegte Wege, denen gefolgt wird – führt die Nachsuche ins Offene. Sie ist weniger kalkulierbar und kann gefährlich sein. 10. November 2016, Wolfgarten: Nachsuchen im Anschluss an eine NationalparkDrückjagd Andreas, Ralf und ich stehen vor der Kermeterschänke. Die nächsten beiden Kontrollen stehen bevor und wir erwarten den Fehlschützen. Ralf hat die andere Kontrollsuche verursacht. Er wendet ein, dass er sich eigentlich sicher ist, dass er danebengeschossen hat. »Kannste eigentlich einklammern.« sagt er zu Andreas. Schließlich kommen zwei Männer auf uns zu. Es sind der erwartete Schütze und sein Ansteller. Es stellt sich heraus, dass der Schütze aus einem Rudel Muffel zwei Tiere erlegt hat und dann auf ein drittes geschossen hat. Bei diesem Tier ist er sich nicht sicher, ob er es verfehlt hat. Nachdem er Andreas den Schusshergang erklärt hat, bietet er an, mitzukommen und die Stelle zu zeigen. Ich merke, dass ihm die Situation unangenehm ist. »Natürlich kommst du mit!«, herrscht Andreas ihn ungewohnt harsch an. Ralf fragt Andreas ein wenig ironisch in breitem Eifeler Platt, ob er wisse, wo der Schütze während der Jagd gestanden hat und ohne eine Antwort abzuwarten, beantwortet er die Frage gleich selbst. »Das ist da zur Urftstaumauer runter. Und du weißt, wie es da aussieht? 45 Grad bergab geht’s da.« Damit geht Andreas in die Schänke ins Büro, um Bescheid zu sagen, dass er jetzt mit den Suchen beginnt. Der Mann, der die Kontrollsuche verursacht hat, steht neben mir und sieht immer noch etwas unsicher aus. Kleinlaut sagt er zu mir, dass es ihm ja leidtue. Und eigentlich sei er sich auch fast sicher, dass er nicht getroffen habe. Aber zur Sicherheit wäre es besser, dass man vielleicht doch mal nachsuche. Ich versuche ihn etwas aufzumuntern und sage so etwas wie: So etwas könne jedem mal passieren. Der Mann erwidert, dass das ja trotzdem an einem hängen bliebe. Daran, wie oft er sich entschuldigt, ist ihm anzumerken, dass er den Schuss wohl gerne wieder rückgängig machen würde. Sein schlechtes Gewissen begleitet uns, als wir schließlich losfahren. Der Nachmittag wird langsam golden, die Luft draußen immer kälter. Als wir in den Wald biegen, wird es merklich dunkler. Die Sonne sinkt unerbittlich und wenn es dunkel ist, müssen die Nachsuchen auf den nächsten Tag verlegt werden, was die Arbeit für die Hunde erschwert, weil die Fähren dann nicht mehr so frisch sind. Während der Autofahrt will ich von Andreas wissen, was ihn bei seiner Arbeit wirklich ärgere. Auch diese Nachsuche bietet offenbar Anlass zum Ärger. »Die Unvernunft der Leute. Ich meine, hier im Nationalpark geht das eigentlich. Hier hat man eigentlich nur vernünftige Leute. Aber auch so was wie jetzt, ärgert mich: Der … [der Schütze mit dem Fehlschuss, dessen Kontrollsuche Andreas nun macht], der hat an der Stelle schon zwei Stück erlegt. Da ist es jetzt voll von Fährten. Deswegen ist das ja auch ganz gut, dass der Nationalpark sagt, dass, wenn du zwei Mal daneben geschossen hast, Hahn in Ruh‹ ist [es darf nicht mehr geschossen werden].

III Tiere

Sonst haben die Hunde da so ein Gewirr, dass die gar nicht mehr wissen, wo sie hin sollen. Nach etwa einer viertel Stunde parken wir die Autos im Wald. Der Schütze erklärt noch mal, wo der Schützenstand steht, wo er das Tier beschossen hat und wohin es floh. Einige hundert Meter unterhalb des Waldweges, auf dem wir noch stehen, glitzert der Urftsee. Im mir zieht sich alles zusammen. Der Hang ist unglaublich steil und er ist gespickt mit scharfen Schieferfels-Rippen. Für Andreas und die Hunde beginnt heute zum zweiten Mal das Ankleiden: Schutzkleidung, Schutzwesten, Telemetriegeräte, Schweißriemen, Gewehr, Helm und schließlich Steigeisen, die Andreas sich unter seine Schuhe schnallt. Er lässt nun den jungen Bazi arbeiten. Der Hund saust den Hang hinab, als wüsste er, wo es hingeht. Andreas folgt dem Hund und wir anderen folgen Andreas. Das trockene Eichenlaub der hier wachsenden Bäume nimmt dem Untergrund den letzten Halt. Ich setzte einen Fuß in den Hang und rutsche sofort einen halben Meter nach unten. Von Baumstamm zu Baumstamm hangel ich mich den Hang hinab. Irgendwann erreichen wir den Schützenstand. Ab jetzt geht es parallel zum Hang und ich bin nicht unglücklich darüber. Bazi wird dort angesetzt, wo der Anschuss am ehesten stattgefunden hat, falls der Schütze das Tier doch getroffen haben sollte. Nach etwa 300 Metern beschließt Andreas, dass hier nichts ist. Der Hund folge zwar einer Fährte, aber das sei die des Muffelrudels, erklärt er. Wir machen uns auf den Rückweg, der mir nicht so schlimm vorkommt, wie das Hinabklettern. Es wird schon dämmrig, als wir wieder bei den Autos sind. »Können wir dann meine Kontrollsuche auch noch machen?«, fragt Ralf. »Klar. Wenn das doch eh hier in der Nähe ist.«, antwortet Andreas. »Aber ich bin sicher, dass da nichts ist. Die Kugel ist an ›nem Stamm abgeflitscht. Da kann eigentlich nichts sein.«, wiederholt Ralf nochmal. Tatsächlich sollte er Recht behalten. Wieder folgen wir Bazi circa eine Viertelstunde durch ein Fichtenwäldchen. Zunächst scheint es, als folge der Hund einer sehr interessanten Fährte, dann beginnt er immer wieder von der Richtung abzuweichen und Kreise zu laufen. Wieder entscheidet Andreas, dass hier nichts ist. Die Arbeit ist für heute beendet. Nun ist es fast vollständig dunkel. Diese letzte Beschreibung einer Nachsuche habe ich ausgewählt, da sie exemplarisch deutlich macht, dass Nachsuchengespanne sich während ihrer Arbeit oftmals in Gefahr begeben. Dem Fangschuss, mit dem ein verletztes Tier schließlich getötet wird, geht eine Nachsuche voraus, die auch trainierte und geübte Hunde und Menschen an ihre körperlichen Grenzen bringen kann. Der Abhang, den wir hinabgeklettert sind, habe ich beispielhaft für solches Terrain gewählt. Während die Hunde sich dort schnell und einigermaßen mühelos bewegen konnten, bot er den Menschen wenig Halt. Obwohl Andreas und seine Hunde gut ausgerüstet sind, sind ihre Einsätze doch nie ganz ungefährlich. Dass Andreas den Fehlschützen da-

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zu aufforderte, ihn zu begleiten, war nicht die Regel, wie er mir später erzählte.17 Er macht das nur, wenn er glaubt, jemand habe sich fahrlässig oder leichtsinnig verhalten. Diese ›Erziehungsmaßnahme‹ sollte dem Schützen zeigen, welche Konsequenzen sein Verhalten hatte und entspricht damit einer wenig subtilen Sanktion. Dabei hatte der Schütze im Bezug auf die Richtlinien und Vorgaben der Jagdleitung keinen Fehler gemacht. Er hatte zwar schon zwei Tiere beschossen, bevor er den Fehlschuss abgab, aber da diese Tiere tödlich getroffen waren, hatte er weiter schießen dürfen – im Gegensatz zu jenem Schützen der erst mit dem dritten Schuss ein Tier erlegt hatte, nachdem er zwei Fehlschüsse verursacht hatte. Dass Andreas sein Verhalten als leichtsinnig einstufte, lag also nicht an einem formalen Regelverstoß, sondern ergibt sich nur aus der Verortung dieser Situation in einer äußerst widerständigen Landschaft. Darüber hinaus zeigt das Beispiel auch, dass der Fehlschuss ein Makel für die Schützin oder den Schützen darstellt. Nach den großen Drückjagden wurde oft die Anzahl der Schüsse, die im Laufe des Tages gefallen waren mit der Anzahl der toten Tiere verglichen. Zeigte sich, dass viel mehr Schüsse gefallen waren, als Tiere auf der Strecke lagen, fiel schnell das abwertende Urteil, das »heute aber viel geballert worden« sei. In der Gemeinschaft der Jägerinnen und Jäger, die für sich beanspruchen, weidgerecht zu jagen, sind sogenannte »Schießer« verpönt. Als »Schießer« gelten solche Jägerinnen und Jäger, welche jede noch so unwahrscheinliche Gelegenheit zum Schuss nutzen – einfach um geschossen zu haben. Historisch ist diese Kategorie von Jägerinnen und Jägern schon in Konrad Eilers 1904 erschienenem Werk über die »Philosophie des Weidwerks« zu finden und gehört dort neben anderen zwielichtigen Gestalten, wie dem »Sonntagsjäger«, dem »Aasjäger«, dem »Jagdschinder« oder dem »Wilderer« in die Gruppe derer, die »sich in irgendeiner Form gegen die rechtlich oder moralisch anerkannten Prinzipien des deutschen Weidwerks ›versündigen’« (zitiert nach Hiller 2002: 100). Stattdessen gilt der wohlüberlegte, saubere Schuss, der tödlich trifft, als Ideal. Der Schütze, der den Fehlschuss auf das Mufflon abgegeben hat, hat diesem Ideal nicht entsprochen und war merklich betrübt darüber. Die Aussage, »dass das ja trotzdem an einem hängen bliebe«, ist Ausdruck dieses Makels, der mit einem Fehlschuss auf einer Gesellschaftsjagd einhergeht. Auch wenn der Schütze keine weiteren Konsequenzen oder Sanktionen zu befürchten hat, so bleibt doch ›etwas‹ an ihm hängen. Der Aufwand, mit dem Nachsuchen betrieben werden – besonders von professionellen Nachsuchenführerinnen und -führern – zeigt, wie sehr die Nachsuche in der

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Im Merkblatt für Jagdgäste in den Verwaltungsjagden des Landesbetriebes Wald und Holz NRW, zu denen auch die Nationalpark-Jagden gehören, heißt es dazu »Der Jagdgast ist – nach Aufforderung durch einen Forstbediensteten – verpflichtet, sich an einer erforderlichen Nachsuche zu beteiligen [eig. Herv.]«, jedoch war es nicht die Regel, dass die Fehlschützinnen und -schützen auf den Nachsuchen dabei waren.

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gegenwärtigen deutschen Jagd verankert ist. Sie ist unerlässlich für das Selbstverständnis aller Jägerinnen und Jäger, die sich zur weidgerechten Jagd bekennen und damit dazu, die gejagten Tiere respektvoll zu behandeln. Dazu gehört, Verantwortung für ihr Leiden und ihr Sterben zu übernehmen. Die Nachsuchengespanne personifizieren diese Verantwortung. Um verletztes Wild aufzuspüren und zu erlegen, begeben sie sich teilweise in gefährliche Situationen und investieren viele Stunden und Tage in diese Aktivität. Andreas übt die Arbeit als anerkannter Schweißhundeführer in seiner Freizeit neben seinem Beruf als Förster und Berufsjäger aus. Finanziell lohnt sich das nicht, wie er mir erzählt. Zwar erhält er vom Jagdverband eine Aufwandsentschädigung – die genannte Summe bezeichnet Andreas angesichts der anfallenden Kosten jedoch als »Peanuts«. Nach seinen Motiven gefragt, warum er diesen Aufwand betreibt, antwortet er: »Ich habe eine sehr hohe Achtung vor der Kreatur. Sonst würde ich das mit den Nachsuchen nicht so machen. Ich suche ja nicht für den Revierpächter nach – oder für den Schützen, sondern ganz alleine im Auftrag des Wildes. Um es von Qualen zu erlösen.« Es ist seine Konzeption des Tieres, als leidensfähigem Lebewesen, die für ihn das zentrale Motive seiner Arbeit als Nachsuchenführer darstellt. Während dieser Arbeit verliert die Konzeption des ›leidenden Tieres‹ für Andreas ihre Abstraktheit und manifestiert sich als das konkrete leidende Tier, welches er nachsucht. Besser als die meisten andere Jägerinnen und Jäger wissen die Nachsuchenführer und -führerinnen, wie es ist, einem unter Verletzungen und Schmerzen leidenden Tier zu begegnen. Das Leid dieser Tiere ist kein abstraktes, sondern es äußerst sich sehr konkret in seinen leiblichen Gebärden, Schmerzenslauten und oftmals deutlich sichtbaren Verletzungen, wie austretendem Blut und offenen Wunden. Der unmittelbare, dem anhaltenden Leiden ein Ende setzende Tod kann angesichts dieser Begegnung als »Erlösung« verstanden werden. Gemäß der weidgerechten Jagd muss er die notwendige Antwort auf dieses konkrete Leid sein. Für Andreas, wie auch für andere anerkannte Schweißhundeführer und führerinnen, die zu praktischen Kennerinnen und Kennern auf dem Gebiet der Nachsuche geworden sind, geht ihr Expertentum innerhalb der Gruppe der sich als weidgerecht definierenden Jägerinnen und Jäger einher mit hohem sozialen Prestige. Dieses Prestige steht den Kosten und dem Aufwand entgegen, die der Nachsuche geschuldet sind. Es erhebt die betreffenden Personen zu moralischen Instanzen mit einer gewissen Autorität, die in der Lage sind, andere Jägerinnen und Jäger – teils subtil, teils weniger subtil – für etwaiges Fehlverhalten sanktionieren zu können. Die Analyse der Nachsuche als jagdliche Praxis zeigt, dass die Jagd in Deutschland nicht nur durch gesetzliche Vorgaben geregelt ist, sondern ebenso durch informelle Normen und Werte. Der Mikrokosmos der Gesellschaftsjagd, welcher auch auf den Drückjagden des Nationalparks erfahrbar ist, macht deutlich, welche Bedeutung die Wertekonstellation Weidgerechtigkeit für die soziale Gruppe der Jägerinnen und Jäger hat. Der Person des Nachsuchenführers

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oder der Nachsuchenführerin kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Besonderheit der Nachsuche liegt darin, dass sie abseits des gesteckten Rahmens einer Jagd abläuft. Sie ist damit offener für Risiken und Gefahren, denen sich die Menschen und Hunde aussetzen. Dass es sich bei der Nachsuche um eine Tätigkeit im Grenzgebiet der jagdlichen Praxis handelt, ist schon an der Ausrüstung des Nachsuchengespanns zu erkennen. Während der Nachsuche lassen sich Gefahren weniger gut abschätzen und aussperren, als während der eigentlichen, wohl organisierten Jagdveranstaltung. Daher sind auch die Leiber von Menschen und Hunden besser geschützt als die der anderen Jagdhunde, Jägerinnen und Jäger. An der institutionalisierten Organisation der Nachsuchen und der moralischen Autorität, welche die Nachsuchenführerinnen und -führer inne haben, wird deutlich, dass sie gleichsam ein zentrales Moment der gegenwärtigen deutschen Jagdpraxis darstellt.

Exkurs: Grenzfälle Das Motiv der Nachsuche ist es, dem Ideal der verantwortungsvollen Jagd zu entsprechen, die das gejagte Tier als empfindsames Wesen anerkennt, dem unnötige Qualen zu ersparen sind. Dieses Ideal ist deckungsgleich mit der tierschutzkonformen Jagd, welche mit der Aufnahme des Tierschutzgedankens in das deutsche Grundgesetz rechtlich verbindlich für die Jagdausübung ist.18 Im Folgenden werde ich jedoch auch Grenzfälle der Nachsuche beschreiben. Diese Situationen zeigen, dass die Nachsuche sowohl räumliche als auch moralische Grenzgebiete beinhalten kann. Ein räumlicher Grenzfall für die Nachsuche tritt dann ein, wenn ein verletztes Tier bei seiner Flucht Reviergrenzen überquert. Da Jägerinnen und Jäger sich beim Führen einer Waffe, also dem Tragen der einsatzbereiten Waffe, an sehr strenge gesetzliche Vorgabe halten müssen, ist es ihnen nicht erlaubt, ein Nachbarrevier mit dieser Waffe zu betreten, ohne die vorherige Einwilligung der dortigen Jagdausübungsberechtigten eingeholt zu haben. Im Bezug auf die Nachsuchen zeigt sich dann, dass Jagdausübungsrecht und der Gedanke des Tierschutzes während einer Nachsuche auch kollidieren können – dann nämlich, wenn es für die oder den Nachsuchenden notwendig ist, eine Reviergrenze zu übertreten, um dem verletzen Tier

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Hierzu heißt es: »Zweck des TierSchG [Tierschutz-Gesetz, eig. Anm.] ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpft dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen« (zitiert nach Müller-Schallenberg/Hugenroth 2015: 222) und weiter, dass niemand einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen darf (vgl. ebd.). Die Jagd ist zwar als »vernünftiger Grund« legitimierend, um Tiere zu töten. Aber für ihre Ausführung gilt, dass auch Jägerinnen und Jäger dabei kein vermeidbares Leid verursachen dürfen. Nicht nur ethisch-moralisch ist die Nachsuche also eine Antwort auf konkretes Tier-Leid, sondern auch rechtlich.

III Tiere

weiter zu folgen. Hierfür gibt es die Möglichkeit, dass Reviernachbarn sogenannte Wildfolgevereinbarungen treffen. Diese regeln, unter welchen Umständen Jägerinnen und Jäger aus Nachbarrevieren, mit geladener Waffe Reviergrenzen übertreten dürfen. Eine solche Vereinbarung ist jedoch nicht verpflichtend, so dass das Tierwohl dem Jagdausübungsrecht im Zweifel untergeordnet ist. Diese Regelung kann von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich sein, in NRW herrscht aktuell jedoch die oben beschriebene Situation. An dieser Stelle zeigt sich, welche Autorität anerkannten Schweißhundestationen zugestanden wird: Sie sind von dieser Regelung befreit und dürfen – ohne eine vorherige Einverständniserklärung abzuwarten – ein verletztes Tier solange verfolgen, bis sie es gefunden und getötet haben. Auch wer einem verletzen Tier über Stunden und Grenzen hinweg durch die Landschaft folgt, kann nicht sicher sein, es schließlich erlegen zu können. Nicht alle Nachsuchen enden an dem Tag, an dem sie begonnen werden, wie dieser kurze Eintrag aus meinem Feldtagebuch zeigt. 22. November 2016, Wahlerscheid: Im Anschluss an eine Drückjagd des Nationalparks Andreas ist erfolglos von der letzten Suche zurückgekommen. Beim Schüsseltreiben [gemeinsames Essen] in der Alten Molkerei sitzt er am selben Tisch, wie Heike und ich. Ich frage ihn, warum er die Nachsuche abgebrochen hat. »Es war ja schon dunkel und das riskier‹ ich nicht. Das ist kein Tier wert.« Er wird mit einem Kollegen, der aus dem Nordkreis kommt, morgen weite suchen. Auch wenn die Fährten für die Hunde dann wesentlich schwerer zu arbeiten sind, denn schon als Heike und ich zur Alten Molkerei gefahren sind, hat es zu regnen begonnen. Dass eine Nachsuche ein tatsächliches Risiko birgt, liegt nicht nur an der eventuellen Gegenwehr des gesuchten Tieres. Wind und Wetter, sowie der Rhythmus von Tag und Nacht schränken die Nachsuche ebenfalls ein. Trotz ihrer Ausrüstung, welche die Leiber von Hunden und Menschen verstärkt, bleibt die lebendige Umwelt, durch die sich ein Nachsuchengespann bewegen muss, widerständig. Zu den Fähigkeiten, die erfahrene Nachsuchenführerinnen und -führer sich aneignen, gehört auch, dieses Risiko realistisch einzuschätzen. Sie bedenken die möglichen Risiken im Voraus. Das kann bedeuten, eine Nachsuche rechtzeitig abzubrechen, bevor es für Hunde und Menschen zu gefährlich wird, wie im aufgezeigten Fall. Das kann aber auch die Entscheidung sein, mit einer Nachsuche zu warten oder sie auf den nächsten Tag zu verschieben. Eine Nachsuche zu verschieben, dem verletzen Tier nicht sofort zu folgen, schien der Weidgerechtigkeit für mich auf den ersten Blick zu widersprechen. Jedoch folgt diese Entscheidung der sich bei der Jagd entfaltenden Logik. Im Jagdkurs haben wir gelernt, dass wir nach dem Schuss Geduld haben sollen – gleich, ob wir ein Tier vom Hochsitz aus erlegt haben und es tot dort liegen sehen oder es angeschossen haben und es aus unserem Blickfeld verschwunden ist.

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Die Begründung dafür lautete, dass wir das Tier zunächst »in Ruhe krank werden lassen« [sterben lassen] sollen, um es nicht unnötig aufzumüden [aufzuscheuchen], indem wir uns ihm verfrüht annähern. Nach dem Schuss »eine Zigarette lang« sitzen zu bleiben, bevor man zum erlegten Tier oder zum Anschuss gehen darf, gehört vielleicht zu den schwersten Übungen für Jungjägerinnen und Jungjäger. Wie quälend lang wenige Minuten sein können, habe ich erlebt, als Hermann zwei Rottiere [weibliches Rotwild] erlegt hat. Obwohl wir die toten Tiere mit unseren Ferngläsern sehen konnten und sicher waren, dass sie auch wirklich tot waren, blieben wir sitzen. Hermann begründete das damit, dass wir abwarten würden, ob der Rest des Rudels nicht zurückkäme. Erst als wir sicher sein konnten, dass die Tiere sich zurückgezogen hatten, kletterten wir vom Hochsitz und den Hang hinab zu den toten Tieren. Auch nach einem Fehlschuss warten weidgerechte Jägerinnen und Jäger mit der Nachsuche. Dies entspricht dem Motiv der Weidgerechtigkeit, weil sie – ähnlich der Situation mit Hermann – die überlebenden Tiere zur Ruhe kommen lassen wollen und den getroffenen Tieren Zeit geben wollen, zu sterben. Neben den sauberen Schüssen, die ein Tier sofort tödlich treffen, gibt es viele Schüsse, die zwar tödlich sind, aber nicht unmittelbar. Oft leben die Tiere noch einige Minuten mit ihren Verletzungen, bevor sie daran sterben. Wer sich ihnen in diesen Minuten des Sterbens nähert, provoziert damit in der Regel, dass die Tiere trotz ihrer Verletzungen fliehen werden, sobald sie hören, riechen oder sehen, dass sich ihnen Menschen oder Hunde nähern. Einem verletzen Tier diesen, als unnötig angesehenen, Stress zu verursachen, gilt als nicht weidgerecht. Während der Jagden des Nationalparks wurden diese ›Zigaretten-Pausen‹ schon aus organisatorischen Gründen eingehalten: Bevor ein Tier nachgesucht werden konnte, musste erst die Jagd beendet werden, alle Jagenden zum Sammelplatz gebracht und die Listen ausgewertet werden. Bis die ersten Tiere nachgesucht wurden, vergingen meistens mindestens anderthalb Stunden. So ersparen sich die Nachsuchengespanne außerdem in manchen Fällen unnötige Mühe: Eine kurze Totsuche auf ein verendetes Tier ist für die Schweißhunde eine leichte Aufgabe. Eine lange Suche nach einem verletzten Tier, welches im schlimmsten Fall durch die Hunde mehrmals aus dem Wundbett aufgemüdet wird, ist nicht nur nicht weidgerecht, sondern kostet auch viel Zeit. Nicht immer sind Nachsuchen erfolgreich. Während meiner Feldforschung habe ich auch mitbekommen, dass Tiere trotz der Erfahrung der Gespanne einfach nicht gefunden werden konnten. Auch dies sind Grenzfälle der Nachsuche, denn immer wurden diese Suchen von der Ungewissheit belastet, ob da vielleicht doch noch ›was dran gewesen wäre‹. Oft waren es Fälle, in denen der Schütze oder die Schützin sich sicher war, dass er oder sie das Tier durch einen Schuss verletzt hatte. Eventuell wurde am Anschussort sogar Schnitthaar oder Schweiß gefunden und die Nachsuche begann vielleicht auch erfolgversprechend. Und doch schien sich die Fährte der Tiere irgendwann zu ›verlaufen.‹ Die Hunde suchten, aber es war nicht

III Tiere

mehr klar, wem oder was sie folgten. Einige solcher Suchen habe ich begleitet. Irgendwann rief Andreas die Hunde zu sich und brach die Suche ab. Eine Nachsuche abzubrechen, obwohl sie wahrscheinlich berechtigt ist, bedeutet auch, die moralische Verantwortung auf sich zu nehmen, einem Tier nicht seine Leiden beenden zu können. Es waren nicht viele Situationen, die so endeten, aber es hat sie gegeben. Im Nachhinein wurde am Treffpunkt noch unter den Nachsuchengespannen diskutiert, ob es lohnte am nächsten Tag weiter zu suchen. Oder es wurde mit den Verantwortlichen zusammen in den Listen nachgeschaut, ob das gesuchte Tier vielleicht von einem Nachbarschützen oder einer Nachbarschützin erlegt worden sein könnte. Manchmal war das der Fall. Man hatte ein Tier nachgesucht, welches sich bereits in der Kühlkammer befand. Manchmal wurde am nächsten Tag weitergesucht. Manchmal mit Erfolg, aber nicht immer konnte ein Tier gefunden werden. Manchmal wurde nicht weitergesucht. Was mit diesen Tieren geschehen war, konnte niemand mit Sicherheit sagen. Vor allem dann, wenn ein Jagdtag viele Nachsuchen verursacht hatte, war es auch eine Frage der Effizienz, wie viel Zeit einem einzelnen Tier gewidmet werden konnte, wenn es noch viele andere Tiere gab, welche gesucht werden mussten. Daran zeigt sich, dass die Weidgerechtigkeit eine Moral ist, die sich allein an menschlichen Maßstäben messen lassen muss. Die Jägerinnen und Jäger sind niemandem Rechenschaft schuldig, außer ihrem, in der sozialen Gruppe der Jäger_innenschaft, geformten Gewissen. Kann eine Entscheidung gegenüber dieser Gruppe ausreichend begründet werden – und die Autorität erfahrener Nachsuchenführerinnen und -führer erlaubt dies oft schon qua ihres Status innerhalb der Gruppe – so bleibt von der erfolglos abgebrochenen Nachsuche nur jene Ungewissheit. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Nachsuchende haben in ihrer Arbeit eine relativ hohe Autonomie. Gegebenenfalls haben sie sogar das Recht, Reviergrenzen ungefragt zu übertreten und Tiere in fremden Revieren zu töten. Sie können entscheiden, wie weit sie bei einer Nachsuche gehen wollen, haben die Deutungshoheit über das Verhalten ihrer Hunde und sind oft in der lokalen Jäger_innenschaft eine Autorität. Mit diesem Status einher gehen auch Pflichten – vor allem, die Pflicht zur weidgerechten Jagd oder die formale Pflicht, in Form von Protokollen Rechenschaft über die Arbeit zu leisten. Sie übernehmen mit ihrer Arbeit eine Verantwortung für das Risiko, welches sie und ihre Hunde eingehen. Die hier skizzierten Situationen machen deutlich, dass bei der Nachsuchenarbeit nicht immer alle Ansprüche in gleichem Maße erfüllt werden können. Oft findet die Nachsuche in moralischem Grenzgebiet statt.

Konklusion: Das leidende Tier. Hinwendung zur Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime An den verschiedenen Nachsuchen-Situationen lässt sich aufzeigen, welch hohen Stellenwert das Nachsuchenwesen für die weidgerechte Jagd hat. Zudem zeigen diese

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Beispiele, dass im Bereich der Nachsuche eine starke Tendenz zur Institutionalisierung und Professionalisierung zu beobachten ist. Das Nachsuchenwesen zu organisieren, anerkannte Schweißhundestationen einzuführen, um Qualitätsstandrads zu etablieren, macht die Nachsuche zu einer exklusiven Praxis – vor allem im Bereich der institutionalisierten Jagd von Nationalpark und Forstamt. Es führt auch dazu, dass es im Bereich der Nachsuche zu einer verstärkten Konzentration der erforderlichen Fähigkeiten bei einigen wenigen Hunden und Menschen kommt. Jene ohnehin geübten und erfahrenen Nachsuchengespanne werden bevorzugt angefragt und haben so die Möglichkeit, ihr Können nicht nur unter Beweis zu stellen, sondern es auch von Einsatz zu Einsatz weiter zu intensivieren, was zu einer größeren leiblichen Routine bei Mensch und Hund führt. Nachsuchenführerinnen und -führer mit anerkannten Schweißhundestationen verfügen durch ihre leiblichen Fähigkeiten nicht nur über ausgedehnte rechtliche Möglichkeiten, sondern sie verfügen auch über Autorität in der sozialen Gruppe der Jägerinnen und Jäger. Mit der anerkannten Schweißhundestation geht daher ein hohes soziales Prestige innerhalb der Jäger_innenschaft einher. Neben den Hundeführerinnen und -führern mit anerkannten Schweißhundestationen, von denen es in Deutschland ein flächendeckendes Netz gibt19 , führen viele weitere Jägerinnen und Jäger Nachsuchen durch. Auch Heike, die Timber als Schweißhund ausbildet, arbeitet als Nachsuchenführerin – ohne jedoch eine anerkannte Schweißhundestation zu haben. Der auf Schweiß geprüfte Hund ist dabei die Mindestanforderung, um in der Gruppe der Jägerinnen und Jäger als Schweißhundeführerin oder -führer anerkannt zu werden. Indem Timber zum Ende meiner Feldforschung bestimmte Prüfungen bestanden hat, legitimiert Heike sich als Nachsuchenführerin. Zuvor hat sie sich in einer Grauzone bewegt. Zwar können auch Hunde ohne Prüfungen gute Schweißarbeit leisten, jedoch erhöht sich ihre Akzeptanz innerhalb der lokalen Jäger_innenschaft erst mit dem Bestehen dieser Prüfungen. Davon abweichend gibt es auch Jägerinnen und Jäger, die mit Hunden Nachsuchen durchführen, die dazu nicht die entsprechenden Prüfungen haben. Ihre Akzeptanz im Bereich des Nachsuchenwesens ist seitens der Jäger_innenschaft jedoch oftmals gering. Häufig habe ich in Gesprächen abfällige Bemerkungen über Personen registriert, die offenbar für diese Arbeit formal nicht ausreichend qualifiziert waren. Begründet wurde diese Abneigung damit, dass solche Hunde und ihre Führerinnen und Führer nicht geeignet seien, um der weidgerechten Jagd zu dienen. Der Nationalpark, wie auch das Forstamt Hürtgenwald reagieren auf ihre rechtliche Verpflichtung zur tierschutzgerechten Jagd, indem sie nur

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Für das Land NRW führt der Landesjagdverband im Jahr 2018 ca. 40 anerkannte Schweißhundestationen auf. Diese sind auf die unterschiedlichen Regionen verteilt. Während der Drückjagd-Saison wurde Andreas in der Nordeifel daher auch von Kollegen aus anderen Regionen unterstützt und umgekehrt.

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Nachsuchengespanne verpflichten, die sich formal dafür qualifiziert haben. Sie reagieren damit aber auch auf den Druck seitens der Jagdgäste und der jagdlichen Öffentlichkeit, die eine weidgerechte Jagd erwarten. Die rechtliche Verpflichtung zur tierschutzkonformen Jagd ist dabei die juristische Annäherung an die Weidgerechtigkeit – jene, der deutschen Jagdtradition immanente Ethik. Prosaisch beschreibt Stahl (1979) das Idealbild des weidgerechten Jägers. Er stellt ihn uns als einen nachdenklichen Menschen vor, dem der von ihm herbei geführte Tod ein Rätsel ist und bleibt. »Der Jäger steht vor dem erlegten Wild und zugleich vor dem ungelösten Rätsel. In seiner Ratlosigkeit gibt er dem Hirsch einen Fichtenzweig als letzten Bissen in den Äser und bemüht sich um nichts anderes als sein steinzeitlicher Vorfahr, dem es um Aussöhnung mit dem getöteten Tier, dessen Seele, dessen Geist und Gott zu tun war.« (Stahl 1979: 97) Die Nachsuche ist innerhalb der gegenwärtigen deutschen Jagdpraxis nur in diesem Zusammenhang der »Aussöhnung« angemessen zu verstehen. Auch in nicht-europäischen Kontexten gibt es die Nachsuche als Teil der Jagdpraxis. Bei Sharp und Sharp (2015) ist nachzulesen, dass das Verfolgen eines verletzten Tieres auch für die Jagdpraxis der Denésuliné ein grundlegender Aspekt ist und das auch dort die Nachsuche nicht nur einen praktischen Aspekt hat – nämlich den des Nahrungserwerbs in den Weiten der kanadischen Tundra. Zwar, so schreiben sie, war es viel erfolgversprechender für die Jäger und Jägerinnen, ein verletztes Tier zu verfolgen, als ein gesundes, aber die Nachsuche auf ein verletztes Tier hat auch eine moralische Implikation. »It was not only practice – it became a reorganized moral component in how Denésuliné should relate to the animal/spirit that allowed themselves to be killed to ensure Denésuliné survival« (Sharp/Sharp 2015: 88). Sharp beschreibt jedoch weiter, dass die moralische Verpflichtung zur Nachsuche für die Jagdpraxis der Denésuliné stark an Bedeutung verloren hat, als moderne Repetierer20 gebräuchlich wurden. Damit war es möglich, Schüsse aus weiterer Distanz und in schnellerer Abfolge abzugeben, so dass eine größere Anzahl an Tieren erlegt werden konnte, als mit den älteren Waffensystemen. Das Motiv des ausreichenden Nahrungserwerbs verlor daher für die Nachsuche an Gewicht. Es ist interessant, dass die moralische Verpflichtung zur Nachsuche vor allem dann hoch zu sein scheint, wenn sie einen konkreten Vorteil für die Jagdenden hat. Für die gegenwärtige deutsche

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Halbautomatische Gewehre für den Kugelschuss auf weite Distanz, die über ein Magazin für mehrere Patronen verfügen. Sie gewährleisten eine schnelle Abfolge mehrerer Schüsse, da nach der Schussabgabe das Wiederladen aus dem Magazin durch die Betätigung des Kammerstängels erfolgt. Das hat den Vorteil, dass Repetierer – im Gegensatz zu älteren Waffensystemen – nicht erst erneut geöffnet und mit einer Kugel bestückt werden müssen, was im Vergleich sehr zeitintensiv ist.

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Jagdpraxis steht der Nahrungserwerb nicht im Vordergrund der Jagdpraxis. Dennoch stellt sich die Nachsuche als zentraler Moment der Jagdausübung dar. Auf die Frage, welchen Vorteil die Mühe einer Nachsuche für die deutschen Jägerinnen und Jäger hat, bin ich mit dieser Betrachtung des Nachsuchenwesens schon ein Stück weit eingegangen. Die Nachsuche entspricht der Weidgerechtigkeit. Sich als weidgerechte Jägerin oder weidgerechter Jäger zu qualifizieren, bedeutet, in der Gruppe der etablierten Jägerinnen und Jäger anerkannt werden zu können. Welchen Stellenwert das hat, zeigt auch ein Blick in die Geschichte der Weidgerechtigkeit und der Jagd in Deutschland, auf die ich im folgenden Kapitel eingehen werde. Indem sie sich entscheiden, Jägerinnen und Jäger zu sein, entscheiden sich diese Menschen auch dafür, andere Lebewesen zu töten. Um die Jagd vom ›Abknallen‹ oder ›Abballern‹ anderer Lebewesen abzugrenzen, braucht es Werte und Normen, welche nicht nur den Umgang mit dem absichtlich herbei geführten Tod regeln, sondern auch die damit verbundenen Emotionen kanalisieren. Die Weidgerechtigkeit legt fest, wie sich ›gute‹ Jägerinnen und Jäger verhalten und welche Normen und Werte sie durch ihre Jagdausübung zum Ausdruck bringen. Zur weidgerechten Jagd gehört weit mehr als nur die in diesem Kapitel beschriebene Praxis der Nachsuche. Das Brauchtum ist ebenfalls ein wichtiger Indikator hierfür. Jedoch zeigt sich vor allem das Nachsuchenwesen als Antwort auf konkretes Leiden und damit als die Übernahme von Verantwortung für den Tod eines Tieres. Dem Tier unnötiges Leid zu ersparen und ein verletztes Tier von seinem Leiden zu erlösen, ist im Selbstverständnis der Jägerinnen und Jäger das zentrale Motiv der Nachsuche. Eine derartige Antwort auf die Leiden des gejagten Wildes ist in der deutschen Jagdtradition jedoch nicht immer selbstverständlich gewesen. Die Beschreibungen der höfischen Massenstrecken sind keineswegs durch das gegenwärtige Verständnis von Weidgerechtigkeit gekennzeichnet; ebenso wenig wie die Jagdmethoden. Viel eher lässt sich diese ›Jagdkultur‹ als »›Massenmord‹ an Wildtieren« bezeichnen (vgl. Rösener 2004: 285). Eine mitleidende oder einfühlende Haltung gegenüber den Leiden der gejagten Tiere sieht sie nicht vor. Betrachtet man einzelne Jagdmethoden, wie sie vor allem zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert vorherrschten, so tun sich diese vor allem durch ihre Grausamkeit hervor, welche »mit dem sog. ›Fuchsprellen‹ einen zweifelhaften Höhepunkt erreichten« (Hiller 2002: 170). Hierbei werden lebende Füchse zur Unterhaltung der höfischen Jagdgesellschaft immer wieder in die Höhe geworfen, um sie auf dem Boden aufprallen zu lassen – so lange, bis sie irgendwann an ihren Verletzungen verenden. Stahl analysiert diese Jagdmethoden im Zusammenhang mit den geistigen Strömungen, welche in dieser Zeit vorherrschten. »Zur Erlegung des Wildes war anscheinend jede erdenkliche Methode recht […] nicht nur, weil es zu Schaden ging, sondern vor allem, weil es heillos und unvernünftig war. Diese landläufige Anschauung fand Eingang in die Philosophie, und

III Tiere

wir begegnen ihr an hervorragendster Stelle bei Descartes, der die Tiere als Maschinen und Automaten ohne Verstand und Vernunft, ohne Geist und Seele sah.« (Stahl 1979: 65) Ein Tier als Automat oder als Maschine zu konzeptualisieren, ist eine Idee, die auch schon vor Descartes geäußert wird. Besonders populär wird sie jedoch für die »mechanistische« Philosophie (vgl. Cartmill 1993 118), welche im 17. Jahrhundert einen Umbruch der geistigen Strömung unter europäischen Intellektuellen darstellt. Die wegweisenden Fortschritte in der Mechanik hatten diese philosophische Strömung im 16. und 17. Jahrhundert begünstigt. Die scholastischen Weltanschauungen des Mittelalters wurden als überholt angesehen, während von nun an »die natürliche Welt als ungeheure Maschine begriffen« (Cartmill 1993: 118) wird, welche das Werk eines »himmlischen Uhrmacher[s]« (ebd.) ist. Die menschliche Spezies erhält in dieser Kosmologie einen herausragenden Platz, als einziges Teilchen dieser Weltmaschine, welches über ein Bewusstsein verfügt. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass es keinen Grund gibt, einem Tier eine Leidensfähigkeit zuzusprechen. Folglich sind die Schmerzensäußerungen von Tieren besser verstanden, als das »Kreischen kaputtgehender Maschinen« (ebd.: 121). Gleichzeitig hat es zu jeder Zeit auch Zeugnisse von Menschen gegeben, welche anderen Tieren mit einer empathischen, mitfühlenden Haltung begegneten. Im Bezug auf die Jagd gab es diese Zeugnisse oftmals in Form von Lehrbüchern für angehende Jägersleute (vgl. Cartmill 1993: 104). Es sind »Beweise eines liebevollen Beobachtungs- und Einfühlungsvermögens und damit eines tiefen Verständnis für Verhalten und Wesen des Wildes« (Stahl 1979: 59). Die Haltung ihrer Verfasser scheint dem gegenwärtigen Verständnis von Weidgerechtigkeit deutlich näher zu sein, als die dominanten philosophischen Strömungen dieser Zeit. Die paradoxe Gleichzeitigkeit sehr unterschiedlicher Haltungen gegenüber dem Wild seitens der Menschen, lässt sich erklären, so argumentiert Stahl und deutet damit etwas Wichtiges an: »[N]eben solchen das Bild jener Epoche bestimmenden Auswüchsen muß man sich auch […] des Berufsjägers erinnern, dessen Tagewerk im Hintergrund blieb, aber eine sehr viel nähere Beziehung zum Wild bedingte, als die fürstliche Herrschaft durch pompöse Jagdfeste und Massenstrecken zu erfahren vermochte.« (ebd.: 80) Was Stahl hier als zentral für die Haltung gegenüber dem gejagten Wild erkennt, ist die lebensweltliche Nähe der Jagenden zu den Gejagten. Das Verhältnis der höfischen Jagdgesellschaft zur Jagdpraxis ist vor allem durch Distanz gekennzeichnet. In abgeriegelten Jagdgattern wartet die jagende Elite auf Tribünen darauf, dass das gejagte Wild zu ihnen in das Gatter getrieben wird. Von hier aus können sie es erlegen. Diese Form der eingestellten Jagd war »[v]on allen widrigen Zufällen gelöst«

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Von Jagenden und Gejagten

(Rösener 2004: 284) und ist als »das Abschießen eingesperrten Wildes« (ebd.) wohl am Besten beschrieben. Die lebensweltliche Nähe zu den gejagten Tieren ist in dieser Zeit eher bei jenen zu finden, welche tagtäglichen Umgang mit dem Wild hatten. Das waren vor allem die am Hof angestellten Berufsjäger. Sie gehörten einer Jägerzunft an, die sich als »›hirschgerechte‹ Jäger nach mittelalterlicher Prägung« (vgl. Hiller 2002: 83) verstand. In diesem Milieu wurzelt auch die Weidgerechtigkeit und die weidgerechte Jagd, wie sie auch gegenwärtig verstanden wird. Zunächst bezog sich der Terminus Weidgerechtigkeit nicht unmittelbar auf das gejagte Wild, sondern kennzeichnete eher Verhaltensregeln innerhalb der sozialen Gruppe. Hier ging es vor allem darum, jagdliche Vorschriften einzuhalten und die Traditionen der Jägerzunft zu wahren (vgl. Stahl 1979: 72). Erst ab Ende des 18. Jahrhunderts änderte sich das. Wie in diesem Kapitel schon angesprochen, änderte sich die allgemeine Haltung zur Natur und damit auch zum gejagten Tier mit der anbrechenden Epoche der Romantik. Die Romantisierung der ›Natur‹ als Gegenkonzept zur voranschreitenden Industrialisierung stilisiert »das völlige Aufgehen des Jägers in der Natur, deren Kenner und deren Teil er ist« (ebd.: 83). Für die Entstehung des gegenwärtigen Verständnisses von Weidgerechtigkeit ist jedoch auch wichtig, dass sich zeitgleich der Tierschutzgedanke aus Großbritannien nach Deutschland ausbreitet. Die philosophischen Ideen Jeremy Benthams, der 1789 die Handlungsmaxime aufstellte, dass im Umgang mit Tieren nicht zähle, ob sie denken oder reden könnten, »but, Can they suffer?« (Bentham 1823: 236). Zwar bezog sich dieser zunächst vor allem auf die Nutz- und Arbeitstiere der damaligen Gesellschaft, aber die Auswirkungen auf die Jagd blieben nicht aus. Nun werden »zunehmend Stimmen laut, die diese entsetzlichen Jagdpraktiken […] als ›unweidmännisches Morden‹ bezeichneten« (Hiller 2002: 170). Die Jägerinnen und Jäger dieser Zeit, jene intimen Kennerinnen und Kenner der Natur, erkannten im gejagten Tier keine Automaten oder Maschinen, sondern Lebewesen – Kreaturen, die ebenfalls in der Lage waren, zu leiden und Schmerzen zu empfinden. Dass und wie sich dieser Wandel vollziehen konnte, ist nicht nur auf veränderte abstrakte Ideen über das Wesen der Welt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zurückzuführen. Auch gesellschaftliche Umbrüche haben dazu beigetragen, dass sich die Mentalität der Jägerinnen und Jäger im Bezug auf das gejagte Tier verändert hatte. Ab dem 19. Jahrhundert stand nun die persönliche und individuelle Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten im Vordergrund der Jagdideologie. Dies hatte Auswirkungen auf das Verständnis von Weidgerechtigkeit: »Hatte man als waidgerecht ursprünglich bestimmte, dem Stande des Jägers gemäße Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen bezeichnet, so waren nunmehr in zunehmendem Maße ethische Kriterien in den Mittelpunkt der Wertung gerückt« (Stahl 1979: 91). Im nächsten Kapitel möchte ich auf diesen Wandel noch intensiver eingehen, aber schon bis hier zeigt sich, dass das Nachsuchenwesen praktischer Ausdruck dieser ethischen Kriterien ist.

III Tiere

Die moralische und später rechtlich zementierte Verpflichtung zur tierschutzkonformen und damit weidgerechten Jagd verlangt, dass verletztes Wild von ›seinem Leid erlöst‹ werden muss. Ich habe am Beispiel der Nationalpark-Jagden gezeigt, wie diese moralische Verpflichtung zu einer starken Institutionalisierung des Nachsuchenwesens geführt hat. Sie bevorzugt Nachsuchengespanne, die sich in außergewöhnlichem Maße auf diese Aufgabe spezialisiert haben und damit nach Ingold besonders skilled sind. Das Können dieser Menschen und Hunde wird im Zuge der Institutionalisierung anerkannt und formalisiert – sie dürfen den Titel anerkannte Schweißhundestation tragen. Das skill-Konzept versteht das Können dieser Nachsuchengespanne als eine aus der Routine resultierende und auf die Aufgabe der Nachsuche bezogene Schärfung der sinnlichen Wahrnehmung. Routine und Erfahrung ermöglichen diese Schärfung der sinnlichen Wahrnehmung. Dazu gehört, sich am Anschussort zu orientieren, einen Anschuss zu rekonstruieren, die Fährte eines verletzen Tieres zu finden, ihr konzentriert zu folgen und eventuell ein verletztes Tier schnell und sauber zu töten. In anderen Fällen müssen sie entscheiden, ob eine Kontrollsuche tatsächlich zu einem verletzten Tier führt oder ›abgehakt‹ werden kann. Die gemeinsame Arbeit setzt ein humanimalisches Verstehen von Hunden und Menschen voraus, welches in der phänomenologischen Leiblichkeit begründet ist. Die Nachsuchengespanne bewegen sich während ihrer Arbeit oft durch schwieriges Gelände. Die Ausrüstung schützt ihre Leiber vor Wind und Wetter, Dornen und unwegsamem Gelände und nicht zuletzt vor der Wehrhaftigkeit der gesuchten Tiere. Hunde und Menschen gehen dabei einer Tätigkeit nach, die Risiken birgt. Die moralische Verantwortung der Hundeführerinnen und -führer liegt also auch darin, zu entscheiden, ob das Gespann die oftmals unbekannten Risiken, die eine Nachsuche birgt, auf sich nimmt – oder nicht. Den Risiken für Leib und Leben des Nachsuchengespanns stehen die Leiden des verletzten Tieres gegenüber. Dass die Nachsuche die Antwort auf das konkrete Leiden eines verwundeten Tieres werden konnte, geht vor allem auf eine veränderte Haltung ›dem Tier‹ gegenüber zurück. Indem sich philosophische Gegenpositionen zu der Cartesianischen Philosophie etablierten, hat ›das leidende Tier‹ für die europäische Geistesgeschichte ein bis dahin unbekanntes moralisches Gewicht gewonnen. In der europäischen Jagdtradition spiegelt sich diese Entwicklung in der Um-Akzentuierung der Weidgerechtigkeit hin zu einer Ethik, in deren Fokus der moralisch zu rechtfertigende Tod des gejagten Tieres steht. Der saubere Schuss avanciert zum Ideal der Jäger_innenschaft – gelingt er nicht, so sind die Jägerinnen und Jäger aufgefordert, das verletze Tier zu suchen, um es ›von seinem Leid zu erlösen‹. Um das Tier möglichst schnell zu finden, haben sich mit den Nachsuchengespannen Spezialistinnen und Spezialisten innerhalb der Jäger_innenschaft herausgebildet. Nachsuchenführerinnen und -führer, die viele Einsätze erfolgreich beenden, genießen Ansehen in der Gruppe der Jägerinnen und Jäger. Dieses soziale Prestige ist jedoch nur innerhalb und durch die Wertekonstellation der Weidgerechtigkeit zu erklären.

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IV Die Jagenden

4.1

Weidgerechtigkeit und jagdliches Selbstverständnis: Brauchtum, Normen und Werte »[E]s ist nicht einmal gesagt, daß es nicht die größte und moralischste Huldigung ist, die wir bei gewissen Gelegenheiten gewissen Tieren erweisen können, sie unter gewissen Formen und Riten zu töten.« (Ortega y Gasset 1985: 64)

03. November 2016, Hürtgenwald: Das Ende der Drückjagd vom Forstamt Hürtgenwald am Hubertustag Ein sonniger Herbsttag im Hürtgenwald. Der Betriebshof des Forstamts füllt sich langsam und die ersten geborgenen Tiere werden auf Anhängern, Front- und Heckladern herbeigebracht. Menschen in orange-grüner Kleidung kommen die lange Einfahrt entlang. Ihre Autos, meist Geländewagen, stehen entlang der Einfahrt und auf einem schlammigen Parkplatz, der mit rotweißem Plastikband eingerahmt ist. Einige von ihnen lassen Hunde aus dem Kofferraum und führen sie an der Leine Richtung Hof. Dort ist auch ein weißer Pavillon aufgebaut. Darunter stehen zwei Mitarbeiterinnen des Forstamts und beginnen damit, Erbsensuppe und Getränke an die Ankommenden zu verteilen. Die Leute, fast alles Männer, stehen auf dem Hof vor dem alten Forsthaus in losen Gruppen zusammen, halten ihre Plastik-Suppenteller oder ihr Getränk in der Hand und alle scheinen schnell miteinander ins Gespräch zu kommen. Obwohl es erst kurz nach zwei ist, wird das Licht schnell blasser und die Schatten länger. Es ist das Ende einer Drückjagd. Heike und ich hatten heute Vormittag mit Franz, Heikes Terrier, als Treiberinnen geholfen. »Folge mir einfach unauffällig.«, sagte Heike nun grinsend, als wir Richtung Pavillon gehen. Vorbei geht es an der großen Wiese, auf der eine rechteckige Fläche mit Fichtenzweigen umrandet wurde und ein Feuer aus alten Hochsitzen brennt. Der Rauch zieht über die Wiese, das Gelände des Betriebshofes und hinein in den Wald aus dem wir alle nun zurück gekommen sind. Am Rande der Wiese steht eine etwa zwei Meter hohe Holzkonstruktion mit zwei Holzrutschen, die von oben nach unten reichen. Eine Art Galgen, an dem die toten Tiere später mit

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Von Jagenden und Gejagten

Metallangeln und Fleischerhaken entlang der Rutschen hochgezogen werden. Wasserschläuche baumeln an den Seiten der Kanthölzer herab. Daneben stehen einige Mülltonnen. Zu dem Galgen werden schon die ersten erlegten Tiere in Schubkarren gefahren, wo sie von einigen Männern in weißen Metzger-Schürzen mit den Hinterläufen an die Fleischerhaken aufgehangen und mit der Metallangel hochgezogen werden. Gleich darauf beginnen die Männer damit, die toten Tiere aufzubrechen. [Sie werden mit Messern aufgeschnitten und ihre Organe entnommen.] Dann gehen wir an der Wildkammer vorbei, einem Gebäude ähnlich einer Scheune, in das man durch ein großes Tor hineinsehen kann. Der Innenraum ist mit weißen Fliesen gekachelt, eine schwere Metalltür führt in die Kühlkammer. Abzieher stehen in der Ecke des Vorraums neben einem Waschbecken mit Seifenund Desinfektionsspender. Noch ist hier alles sauber. Später werden hier die aufgebrochenen Tiere hineingebracht und der Boden wird mit Schlamm und Blut braun-rot verschmiert sein. Heike und ich gehen durch die Menschengruppen Richtung Verpflegungspavillon. Dann – Heike hat Suppe in der Hand, ich ein Stück Christstollen – stellen wir uns abwechselnd zu verschiedenen Leuten dazu. Heike kennt die Meisten hier und stellt mich sofort allen vor. Die Gespräche drehen sich vor allem um den heutigen Tag. Wer hat was gesehen oder erlegt? Wie viele Schüsse wurden gezählt? Oder es geht um die Hunde. Eindeutig ist jedenfalls, dass jagdliche Themen dominieren – vor allem, wenn man sich doch nicht so gut kennt und die Gespräche eher Smalltalk sind. Als sie gegessen hat, holt Heike Timber, ihren Bayrischen Gebirgsschweißhund, aus dem Auto, der dann wiederum von Hunden und Menschen begrüßt wird. Die ersten aufgebrochenen Tiere werden in das Fichtenzweig-Karree gebracht. Während an den Galgen die Männer in den nun blutverschmierten Schürzen schwitzend arbeiten, gehen die Ersten Richtung Wiese. Mit und mit füllt sich das Innere des Karrees. Ordentlich und nach Größe und Wildart sortiert, werden Rotwild, Schwarzwild, Rehwild und Muffelwild aufgereiht. Alle Tiere liegen in der gleichen Position auf der Strecke [Anordnung der erlegten Tiere. Kann sich auch nur auf die Anzahl, der an einem Jagdtag erlegten Tiere beziehen]. Sie liegen auf der rechten Seite, mit dem Herzen nach oben. Einige haben einen Fichtenzweig im Äser [Maul], andere nicht. Ich frage mich, ob der letzte Bissen hier nicht gegeben wurde, oder ob er beim Bergen oder Aufbrechen des Tieres herausgefallen ist. Wie viele andere gehen Heike und ich mit Timber ebenfalls die Strecke ab. Dabei wird zwar die Fichtenzweig-Umrandung übertreten, jedoch tritt niemand über die gebildeten Reihen. Timber schnüffelt interessiert, während Heike die Schüsse anhand der toten Tiere kommentiert. Daran, wie viel von dem Tierkörper noch weggeschnitten werden muss, kann sie erkennen, ob es ein sauberer Schuss war. Nur wenige Tiere, vor allem Rehe und Muffel, sind zerschossen. Der Blick fällt auf das Rot und Rosa des Fleisches, die weißen Sehnen und Knochen drängen

IV Die Jagenden

sich ihm auf. Erst wo Läufe in unnatürlichen Winkeln abstehen und der Blick der Betrachtenden so unverhohlen in das Innere des Körpers dringen kann, lässt sich die Brutalität dieses Todes nicht verstecken. Einer Mahnung gleich, unangemessen und irgendwie obszön, liegen die zerschossenen Tiere da. Dagegen wirken die sauber erlegten Tiere beinahe unversehrt. Nur ein langer Schnitt von der Kehle über den Bauchraum zu den Hinterläufen und der grau-blaue Schimmer über ihren Augen lässt eindeutig erkennen, dass sie tot sind.

Abbildung 9: Das Ende eines Jagdtages: Begutachtung der Strecke

Obwohl noch Nachsuchen laufen, beginnt die Jagdleitung damit, das Zeremoniell zum Ende der Jagd einzuleiten, denn schon jetzt sind einige Leute nach Hause gefahren. Einige Mitarbeiter des Forstamts gehen umher und fordern den Rest der Jagdgesellschaft auf, zur Strecke zu kommen. Heike findet, dass sich das nicht gehört, vor dem Verblasen der Strecke nach Hause zu fahren. »Wir könnten uns alle was Anderes vorstellen und nach Hause zu fahren.«, sagt sie im Bezug auf diese Leute. »Aber die, die schlagen sich noch die Wampe voll und dann sind die weg. Ich würde auch jetzt gerne schon auf dem Nachhauseweg sein…« Heike muss nach der Jagd noch zu ihrer Spätschicht als Altenpflegerin. Als wir uns an der Strecke aufstellen, sind die Meisten aber noch da. Einige scheinen sich inzwischen umgezogen zu haben. Das Signal-Orange ist weniger geworden, dafür dominieren deutlich mehr Oliv- und Brauntöne die Kleidung. Auf der Strecke liegen nun circa dreißig Tiere. Die Jagdleitung stellt sich vor der Strecke – mit Blick auf die Gesichter der Tiere – auf. Sie besteht aus drei Männern vom Forstamt. Einer von ihnen hält ein Bündel Fichtenzweige in der Hand. Jeder der Zweige hat etwa die Länge und Breite einer Hand. Gegenüber der Jagdleitung, auf der anderen Seite der Strecke, haben sich fünf Jagdhorn-Bläser aufgestellt. Die Jagdgesellschaft, es sind vielleicht noch dreißig Personen, verteilt sich lose hinter den drei Verantwort-

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lichen. Um uns herum wird sich noch vereinzelt leise unterhalten. Die Gespräche verstummen jedoch weitestgehend, als einer der drei Männer hervortritt und sich zur Jagdgesellschaft wendet. Er dankt den Schützinnen und Schützen, allen Helferinnen und Helfern – insbesondere den Treiberinnen und Treibern und den Hundeführerinnen und Hundeführern – für ihren Beitrag zu diesem gelungenen Jagdtag. Mit der Strecke ist er zufrieden, hätte sich jedoch vielleicht noch etwas mehr Schwarzwild gewünscht. Den Schützinnen und Schützen dankt der Jagdleiter vor allem dafür, dass diese so sauber geschossen haben und urteilt, dass an diesem Tag »gut gehandwerkt« wurde. Die Schützen, die heute ein Tier erlegt haben – es sind an diesem Tag ausschließlich Männer – werden namentlich aufgerufen und es wird gesagt, was sie heute erlegt haben. Die Genannten treten aus der Gesellschaft vor und gehen zum Jagdleiter. Dabei nehmen sie Hüte, Kappen oder Mützen ab. Der Jagdleiter nimmt einen Fichtenzweig, streift damit über ein Tier der gleichen Art, wie das vom Schützen erlegte, steckt den Zweig dann mit einem »Weidmannsheil« an die jeweilige Kopfbedeckung des Schützen und gibt ihm die Hand. Dieser erwidert den Händedruck, dankt dem Jagdleiter mit »Weidmannsdank« und geht zurück in die Gruppe. Als alle Schützen ihre Erlegerbrüche erhalten haben, fordert der Jagdleiter die Jagdhorn-Bläser auf, die Strecke zu verblasen. Die Bläser haben das Jagdhorn in der rechten Hand. Die linke stützen sie in die Hüfte. Etwa gleichzeitig nehmen sie dann das Horn zum Mund und die ersten Töne erklingen. »Hirsch tot«. Dann »Sau tot«, »Reh tot« und »Muffel tot«. Jeder Wildart entspricht ein »Tot«-Signal, wie die kurzen Stücke heißen. Sie dauern höchstens eine Minute. In Tempo und Melodie unterscheiden sie sich, die Endung ist jedoch die gleiche. Nach einer kurzen Atempause kommt das Signal »Jagd vorbei«, ein langsames Stück. Direkt daran anschließend, nimmt eine neue Melodie Fahrt auf: Das »Halali« ist länger, schneller und schwungvoller als alle zuvor gespielten Stücke und markiert das offizielle Ende des Jagdtages. Obwohl ich den Ablauf und auch die Signale schon auswendig mitsummen kann, ergreift mich doch ein seltsam melancholisches Gefühl. Ehrfurcht vielleicht. Jedenfalls bekomme ich Gänsehaut, die nicht nur von der aufziehenden Kälte kommt. Als der letzte Ton in der kühlen Abendluft verklingt, ist es hier draußen schon merklich kälter und dunkler geworden. Die Sonne ist schon hinter den Wipfeln der Fichten verschwunden und das Licht dunstig-bläulich. Die Jagdgesellschaft ist nun von Aufbruchsstimmung gepackt. Auch Heike und ich gehen nun mit Timber zügig zum Auto, während die Mitarbeiter des Forstamts schon begonnen haben, die ersten Tiere in die Kühlkammer zu bringen. Sobald wir im Auto sitzen, ist die andächtige Atmosphäre von eben verschwunden. Der Alltag greift nach uns. Heike schaut auf die Uhr, ob sie es noch rechtzeitig zur Spätschicht schafft. Ich habe gleich noch Jagdkurs und muss mich ebenfalls etwas beeilen, da ich noch duschen und mich umziehen will. Aufräumarbeiten und Heimwege stehen an.

IV Die Jagenden

Abbildung 10: Im Vordergrund: Schützen mit Erlegerbruch an ihren Kopfbedeckungen. In der Mitte: Die Strecke. Im Hintergrund: Jagdhornspieler spielen ein Tot-Signal.

Das Ende dieser Drückjagd im Hürtgenwald kann exemplarisch für alle Gesellschaftsjagden stehen, an denen ich während meiner Feldforschung teilgenommen habe. Während im Hintergrund die Nachsuchen laufen, deren Relevanz für die weidgerechte Jagd ich im vorherigen Kapitel schon dargestellt habe, rücke ich nun durch den Rückgriff auf das jagdliche Brauchtum den sozialen Aspekt der Weidgerechtigkeit in den Vordergrund. Die Frage nach der Weidgerechtigkeit ist die Frage nach den kulturellen Werten und Normen der Jägerinnen und Jäger. Entsprechend dieser Werte und Normen entscheidet sich, wer eine gute Jägerin und wer ein guter Jäger ist oder wer zu den oft ins Feld geführten »schwarzen Schafen« gehört (vgl. Schriewer 2015: 141). Dabei entspricht die Weidgerechtigkeit einer Art »Ehrenkodex« (ebd.: 139), welcher oftmals nicht explizit rechtlich geregelt ist, aber innerhalb der Jäger_innenschaft für Solidarität sorgen soll (vgl. Dahles 1990; Hiller 2002; Theilemann 2004; Maylein 2010). Dieser Ehrenkodex erzeugt einen bestimmten jagdlichen Habitus als dem »einheitsstiftenden Erzeugungsprinzip aller Formen von Praxis« (Bourdieu 1987: 283), weshalb die Weidgerechtigkeit vor allem als allgemeine Handlungsmaxime für die Weidfrauen und Weidmänner verstanden werden darf. Inwiefern Weidgerechtigkeit auch sozial bedeutsam ist, zeigt sich bei der Beschreibung des Abschlussrituals, wo die weidgerechte Gesinnung intersubjektiv wahrnehmbar gezeigt werden kann. Ein Arrangement aus Stimmungen, Bräuchen und Gepflogenheiten, so oder so ähnlich vollzogen, beendete eine traditionelle Jagd offiziell. Unverkennbar trägt dieses Ritual die Charakteristik des von van Gennep beschriebenen rite de passage (2005). Es gleicht einer Beerdigung und markiert damit die Schwelle, an der die

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gejagten Tiere vom Lebewesen zum Lebensmittel werden. Mit dem Hörnerklang und dem Letzten Bissen werden die getöteten Tiere im Namen der Jagenden geehrt. Angesichts dieser Symbolik ist es nachvollziehbar, dass weidgerechte Jägerinnen und Jäger Heike zustimmen würden, dass das vorzeitige Verlassen der Jagdveranstaltung moralisch fragwürdig ist. Die Dramatik und die Dringlichkeit dieses Rituals begründet sich für die weidgerecht Jagenden vor allem in der Tatsache, dass die Jagdgesellschaft kollektiv für den Tod dieser Lebewesen verantwortlich ist, die den Jagenden in ihren leiblichen Qualitäten als sehr ähnlich empfunden werden. Ihnen wird zugesprochen, Angst und Schmerzen zu spüren. Alle Jägerinnen und Jäger, die schon einmal ein fliehendes Tier auf einer Drück- oder Treibjagd erlebt haben, werden Ortega y Gassets (1985) Beobachtung bestätigen können, dass diese Tiere wohl auch Todesangst empfinden: »Die Angst, die das Wild fliehend macht, saugt die ganze Landschaft auf, saugt sie aus und zieht sie hinter sich her, und selbst dem Jäger, der äußerlich ruhig ist, klopft das Herz schneller und stärker in der Brust« (ebd.: 52). Angesichts dieser leiblichen Verbundenheit, die auf eine irgendwie geartete Verwandtschaft zu verweisen scheint – wenigstens ist das nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen –, laufen die Jagenden Gefahr, dass sie sich schuldig zu machen, wenn sie dieses Tier töten. Zwar »jagt [man] nicht, um zu töten, sondern umgekehrt, man tötet, um gejagt zu haben« (ebd.: 69), aber am Ende einer erfolgreichen Jagd steht nun mal notwendigerweise der Tod. Die moralische Liminalität der Jägerin oder des Jägers ist offenkundig. Rituale, wie das Strecke Legen und Verblasen dienen insofern auch dazu, diesen liminalen Status zu überwinden und die eigene moralische Integrität wiederherzustellen. Einem Orchester gleich vollzieht die Jagdgesellschaft am Abend dieses Ritual. Scheinbar allgemein bekannte Normen, Gebote und Regeln dirigieren den Ablauf. Einer im Geschehen immanenten Logik folgend, vollzieht sich ein Akt nach dem nächsten. Das von Heike erwähnte vorzeitige Heimfahren einiger Weniger ist zwar bedauerlich, es kann das Ritual in seiner Gesamtheit jedoch nicht gefährden. Gemeinschaftlich wird von der verbliebenen Mehrheit der Jagdgesellschaft eine bestimmte Atmosphäre kreiert, wobei die mit Fichtenzweigen gerahmte Fläche den Mittelpunkt bildet, um welchen sich die kollektive Aufmerksamkeit und die Bewegungen der Jagdgesellschaft ordnen. Es bildet als Ritualort den räumlichen Gegensatz zur Wildnis (vgl. Turner 2005: 43). War die Jagd für die Einzelnen noch unübersichtlich, so eröffnet das Ritual eine Sichtbarkeit Aller für Alle. Während sich zuvor Jagende und Gejagte, Hunde und menschliche Helferinnen und Helfer durch das Jagdrevier bewegt haben, sich versteckt haben und durch Büsche und Gebüsch gestöbert sind, kehrt hier nun Ruhe und eine klare Ordnung ein. Nicht nur die Mitglieder der Jagdgesellschaft finden sich an ihrem vorgesehenen Platz ein. Auch die toten Tiere werden geordnet und aufgereiht, mit der linken Seite, der Herzseite, nach oben. Als alle Jagenden und alle Gejagten schließlich an der Strecke versammelt sind, liegt der Geruch des Feuers in der Luft. Langsam flauen die Gespräche ab und

IV Die Jagenden

man wartet auf den Beginn der Ansprache des Jagdleiters. Die Kühle des aufziehenden Abends durchzieht eine unbestimmte Atmosphäre – irgendwo zwischen Feierlichkeit und Melancholie. Diese Atmosphäre ist nicht auf einzelne Handlungen oder Gegenstände zu reduzieren. Und doch stiftet sie das untrügliche Gefühl mit den richten Menschen am richtigen Ort das Richtige zu tun. Insofern die Weidgerechtigkeit ein Konzept ist, welches vor allem deshalb so bedeutsam ist, weil es einen Identifikationsrahmen schafft, ist zu analysieren, wie dieses Wir-Gefühl geschaffen wird. Wie Gernot Böhme (2013) in seiner phänomenologischen Annäherung an den Atmosphären-Begriff schon ausgearbeitet hat, sind Atmosphären das Ergebnis einer ästhetischen Arbeit (vgl. ebd.: 25). Dass, was im Sinne der aisthesis das Ergebnis dieser Arbeit ist, ist die Gesamtwahrnehmung dieser Zeremonie. Sie lässt sich nicht auf Einzelheiten reduzieren, sondern ist symphonisch aus vielen kleinen bewusst und unbewusst wahrgenommenen Einzelheiten erwachsen. Die Atmosphäre dieses Abends lässt sich weder an einzelnen Gegenständen festmachen, noch ist sie im Besitz einer einzelnen subjektiven Erfahrung. Sie ist vielmehr intersubjektiv erfahrbar im kollektiven Handeln aller Beteiligten. Ontologisch überwinden Atmosphären damit die Dichotomie von Subjekt und Objekt (vgl. ebd.: 34). Die Atmosphäre des Abschlussrituals entfaltet ihre phänomenale Wirkungsmacht nicht als das Ergebnis einer mentalen Projektion der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die arrangierte Gegenständlichkeit des Rituals. Aber auch die rituellen Handlungen und Gegenstände, wie die gespielten Jagdhorn-Melodien oder das Arrangement der toten Tiere und die Übergabe der Fichtenzweige können eine solche Atmosphäre nicht aus sich heraus kreieren. Folgerichtig stellt sich die Atmosphäre phänomenologisch als Korrelation dar: Sie ist »die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen« (ebd.). Die Kreation einer solchen Atmosphäre macht das Konzept der Weidgerechtigkeit leiblich wahrnehmbar, weil sie »aufs Gemüt [wirkt], sie Stimmungen [manipuliert], sie die Emotionen [evoziert]« (ebd.: 39). In diesem Sinne ist Atmosphäre generell und die Atmosphäre des Abschlussrituals speziell nie neutral. Diese Atmosphäre dient als Träger des Konzepts Weidgerechtigkeit und ist äußerst wirkmächtig, weil sie ein abstraktes moralisches Konzept leiblich wahrnehmbar macht. Das jagdliche Brauchtum bildet den Rahmen dieser Atmosphärenarbeit, die keinem anderen Zweck dient, als der weidgerechten Gesinnung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer intersubjektiv Ausdruck zu verleihen. Obwohl das jagdliche Brauchtum nicht mit Weidgerechtigkeit und Jagdethik verwechselt werden solle, da es »›nur‹ deren Träger [ist]« (Syskowski 2016: 11), zeigt sich im Rückgriff auf den Atmosphären-Begriff, dass die Weidgerechtigkeit als ethischmoralische Haltung auf eben solche Träger angewiesen ist. Zwar definierte der Jagdleiter in seiner Rede die Jagd klar als Handwerk – es wurde an diesem Tag »gut gehandwerkt« –, aber nach Meinung vieler Jägerinnen und Jäger adelt erst das Brauchtum die Jagd vom Handwerk zum Weidwerk. So frage ich Tim und Si-

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mon danach, was die weidgerechte Jagd für sie ausmacht. Bald dreht sich das Gespräch auch um das jagdliche Brauchtum und seinen Zweck. Fehle das Brauchtum, so sind sich die beiden einig, sei das »gar keine Jagd mehr« (Tim), sondern »nur noch Management« (Simon). Auch öffentlich bekennen sich Jägerinnen und Jäger zu diesem Empfinden: »Eine Gesellschaftsjagd ohne Bruchübergabe, Strecke legen, Hörnerklang? Nein – da fällt mir eine Absage leicht«, schreibt ein Jäger in einer Diskussion über die Notwendigkeit von Brauchtum im Jagdmagazin PIRSCH (Steiner 2016: 12). Das jagdliche Brauchtum, so heißt es weiter, sei »im Sinne des ›Beutemachens‹ eher nicht von Nöten«, aber es sei »das ›Salz in der Suppe’« (ebd.). Wie wenig die »Suppe« ohne dieses »Salz« auskommt, hat sich 2004 gezeigt, als das Ministerium für Landwirtschaft, Naturschutz, Umwelt und Verbraucherschutz NRW, welches die Leitung des Nationalparks Eifel als letzte politische Instanz inne hat, unter anderem das oben aufgeführte Ritual des Strecke Legens abschaffen wollte. Begründete wurde diese Entscheidung damit, dass die »traditionelle Jagd […] mit Sinn und Zielen eines Nationalparks nicht vereinbar [ist]« (Jäger 2004: 18). Tatsächlich ist das Konzept der Weidgerechtigkeit nicht unangefochten, wie ich im Bezug auf seine Historie zeigen werde. Gerade die institutionalisierte Jagd, wie sie von Forstamt und Nationalpark durchgeführt wird, steht der Ideologie der Weidgerechtigkeit sogar an zentralen Punkten strukturell entgegen, weshalb diese Entscheidung vor allem ein jagdpolitisches Statement sein sollte. Öffentlichkeitswirksam wurde den Nationalpark-Jagden von Jägerinnen und Jägern daraufhin ein »amtlich angeordnete(r) Kulturverlust« (ebd.: 20) attestiert. Nach deutlichem öffentlichen Protest wurden diese Elemente des jagdliche Brauchtum wieder eingeführt. Andreas, der Berufsjäger und Nachsuchenführer, hat diese Zeit mitbekommen und bestätigt, dass diese politische Entscheidung bei den Jägerinnen und Jägern vor Ort nicht auf Gegenliebe stieß – darunter auch Personen, welche lokal für die Nationalpark-Jagden verantwortlich waren. Andreas: »Im ersten Jahr wurde das Verblasen der Strecke abgeschafft. Dann aber, nach einem großen Veto aller Beteiligten, wurde das wieder eingeführt.« Tanja: »Wer wollte das denn überhaupt abschaffen?« Andreas: »Das kam vom Ministerium. Das war Quatsch!« Andreas hält die Entscheidung, das Brauchtum schließlich doch wieder einzuführen, für richtig: »Vom Gesetz her darf im Nationalpark halt nicht gejagt werden. Also muss man das Ganze halt anders nennen. Spielt aber keine Rolle, denn es wird genau so nach den gesetzlichen Gegebenheiten der deutschen Weidgerechtigkeit gejagt – nur dass es nicht Jagd heißt, sondern Wildtiermanagement. Und da [zur Jagd] gehört in meinen Augen das Strecke verblasen dazu. Das Strecke verblasen ist in meinen Augen der äußere Aus-

IV Die Jagenden

druck für die Achtung der Schöpfung, der Natur gegenüber. Ich achte ja die Kreatur, indem ich sie verblase.« Weil eine Mehrheit derjenigen, die tatsächlich im Nationalpark jagten, das so ähnlich sah, fanden während meiner Feldforschung am Ende der Nationalpark-Jagden die Bruchübergabe, sowie das Legen und Verblasen der Strecke ebenso statt, wie auf allen Forstamts- oder privaten Jagdveranstaltungen, an denen ich teilgenommen habe. Auch wenn ein Unterschied zwischen jagdlichem Brauchtum und Weidgerechtigkeit bestehen mag, so zeigt dieses Beispiel, dass das jagdliche Brauchtum von einer Mehrheit der Jägerinnen und Jäger dennoch als wesentlich erachtet wird. Auch in der Gruppe der Jägerinnen und Jäger, welche ich kennengelernt habe, verhielten sich alle affirmativ zur Weidgerechtigkeit. Eine phänomenologische Herangehensweise zeigt, dass das ideologische Konzept der Weidgerechtigkeit leiblich und intersubjektiv erfahrbar ist. So ist das ritualisierte Bekenntnis zur Weidgerechtigkeit, wie in der Zeremonie des Strecke Legens vollzogen, vor allem deshalb so bedeutsam, weil es das Wesenhafte (eidos) der Weidgerechtigkeit zum Vorschein bringt. Das Wesen von Weidgerechtigkeit ist dabei jedoch nicht durch einzelne Akte – zum Beispiel jenes Strecke legen – vollständig erfahrbar. Dinglichen Gegenständen gleich, gibt es sich der phänomenalen Anschauung immer nur perspektivisch.1 Umso mehr ergibt sich hieraus die Forschungsaufgabe, die unterschiedlichen Aspekte der Weidgerechtigkeit zu beschreiben und sich so 1

Nach Kant bleibt das Wesen eines Dinges, das Ding an sich, dem Erkenntnisvermögen notwendig verschlossen, weil sich in der Anschauung eines Dinges immer nur einzelne Aspekte jenes Dinges eröffnen. So erkennt die Philosophin den Tisch, an dem sie arbeitet, als Tisch. Jedoch verschließt dieser Tisch in seiner Konkretion (bestimmte Farbe, bestimmte Form) den Blick auf das Wesen des Tisches. Nicht alle Tische haben die selbe Form oder Farbe und können dennoch als Tisch erkannt werden. Es sind auch Tische denkbar, die keine vier Tischbeine haben. Ein Tisch, der schief ist, kann unter Umständen nicht als solcher praktisch nutzbar sein – als Tisch, wenn auch als fehlerhafter, kann er aber dennoch erkannt werden. Das Wesen des Tisches, der Tisch an sich, müsste jedoch alle potentiell möglichen Wesensmerkmale in sich vereinen, eine Vorstellung, welche den menschlichen Verstand jedoch übersteigt. Für Husserls Phänomenologie stellt sich dieses Problem jedoch nicht auf solch drastische Weise: Zwar ist es auch für die phänomenologische Philosophin unmöglich, den Tisch in der Gesamtheit einer potentiell unendlichen Reihe seiner perspektivischen Abschattungen unmittelbar anzuschauen. Zu jedem Zeitpunkt würde die jeweils eingenommene Perspektive andere mögliche Perspektiven verdecken. Jedoch sucht sie auch nicht nach dem Tisch an sich, sondern sie forscht nach dem Wesenhaften des Tisches qua dessen konkretem, perspektivischen In-Erscheinung-Treten. So ist nach Husserl jede Wahrnehmungsanalyse schon Wesensanalyse (vgl. Husserl 1963: 104-105). Wenn nicht der Tisch an sich gefunden werden kann, so verraten doch auch schon alle irgendwie konkret in Erscheinung tretenden Tische etwas über das Wesensnotwendige des Tischs. Auch mit normativen Dingen, wie der Weidgerechtigkeit verhält es sich derart. Wenn es auch unmöglich ist, ein für alle Mal definieren zu wollen, was Weidgerechtigkeit ist, so kann es doch schon aufschlussreich sein, zu analysieren,

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dem Wesenhaften des Phänomens anzunähern. All die verschiedenen Aspekte tragen zur Genese der geteilten jagdlichen Lebenswelt der Jägerinnen und Jägern bei, indem sie diese durch wiederkehrende Traditionen, Gebärden, Werte und Normen als bekannt – als familiär – strukturiert. Diejenigen, für die sich die weidgerechten Werte in ihrer Jagdpraxis bestätigen, inkorporieren sie als das Wesenhafte ihrer Praxis. In der Durchführung bestimmter Rituale kann diese Haltung durch bestimmte Gesten intersubjektiv geteilt werden. Im kollektiven Resonanzraum des Rituals wird die persönliche Haltung aber nicht nur ausdrücklich leiblich mit den Anderen geteilt, sondern sie intensiviert sich. Der Ausdruck der persönlichen Haltung wird von ihnen gespiegelt und kommt verstärkt als Eindruck, das Richtige zu tun, zurück. Das Gefühl, das Richtige zu tun, wenn die Tiere aufgereiht, Brüche übergeben und erhalten werden, Kopfbedeckungen gezückt und Hände geschüttelt werden, man andächtig schweigt, zuhört und zuschaut, schafft ein leiblich wahrnehmbares Wir-Gefühl. Die Weidgerechtigkeit und die dazugehörigen Bräuche und Rituale sind mehr als ein leeres Rollenspiel. Sie dienen den Jagenden als persönliche Orientierung und der intersubjektiven Bestätigung dieser Orientierung – sie sind »symbolischer Ausdruck kollektiver Sorge« (Turner 2005: 47) um den eigenen moralischen Status, der durch den Akt des Tötens in Gefahr geraten ist. Das Kreieren einer solchen ›stimmungsvollen Atmosphäre‹ wie beim Strecke Legen und Verblasen ist für weidgerechte Jägerinnen und Jäger ihre Möglichkeit, ihren moralischen Staus wieder zu festigen: Solche Rituale sind für sie also in der Tat die »größte und moralischste Huldigung« (Ortega y Gasset 1985: 64) der getöteten Tiere.

Was ist Weidgerechtigkeit? So bedeutend Weidgerechtigkeit als normativ-moralischer Identifikationsrahmen ist, so schwierig ist aber auch eine vollständige Definition des Konzepts. Wie angedeutet handelt es sich bei der Weidgerechtigkeit nicht um ein klar abgegrenztes Regelwerk. Schon ein Blick in das Bundesjagdgesetz zeigt dies. Hier findet sich der Begriff zwar schon im ersten Paragraphen, jedoch in einer denkbar vagen Formulierung: »Bei der Ausübung der Jagd sind die allgemein anerkannten Grundsätze deutscher Weidgerechtigkeit zu beachten« (zitiert nach Müller-Schallenberg/Hugenroth 2015: 18). Gesetzlich wird dabei vor allem das Tierwohl in den Vordergrund der Jagdausübung gestellt. Dazu gehört »das Ersparen unnötiger Qualen für das Wild sowie die Beachtung des Wildes als Geschöpf der Natur« (ebd.: 22-23). Bei der Ausübung der Jagd ist dem Wild eine »Chance zu lassen« (ebd.). Dies ist im Weiteren vor allem durch den Verweis auf das Tierschutzgesetz und im Bezug auf bestimmte Jagdmethoden definiert. was als weidgerecht erkannt wird und was nicht. Auf diese Suche macht sich das vorliegende Kapitel.

IV Die Jagenden

Verwiesen sei auf den Paragrafen 19 des BJG, welcher eine Auflistung »sachlicher Verbote« enthält. Sehr konkret werden hier einzelne Jagdmethoden aufgeführt, die verboten und damit als nicht weidgerecht klassifiziert sind. So sind bspw. das Auslegen von Giftködern oder Schlingen und das Benutzen von bestimmten Totschlag-Fallen verboten. Auch das Töten von Wild aus Motorfahrzeugen oder aus Flugzeugen heraus, die Jagd mit Bolzen oder Pfeilen oder die Jagd mit Hilfe künstlicher Lichtquellen, worunter zur Zeit in NRW auch Nachtzielgeräte fallen, entsprechen nicht der rechtlich verbürgten Definition von Weidgerechtigkeit. Diese Liste umfasst mehr als zwanzig Punkte, wobei diese sachlichen Verbote als »nicht abschließend« (ebd.: 93) zu verstehen sind. Sie werden weiterhin durch das Tierschutzrecht, aber auch durch die »Grundsätze der Weidgerechtigkeit« (ebd.) ergänzt. Dies bestätigt, dass es sich bei dem moralischen Konzept Weidgerechtigkeit um ein Konzept handelt, welches sich einer vollständigen Definition entzieht und moralischen Spielraum zu lässt. Dieser moralische Spielraum, so will ich im zweiten Abschnitt dieses Kapitels zeigen, bietet den Jagenden auch den Raum zur Distinktion innerhalb der Gruppe der Jagenden. Zunächst möchte ich jedoch darauf verweisen, dass diese gesetzlichen Einschränkungen auch einen grundsätzlichen Aspekt der Weidgerechtigkeit charakterisieren. Dass die Jagdausübung durch konkrete Verbote eingeschränkt wird, ist paradigmatisch für das bürgerliche Jagdverständnis nach 1848/1849. Schon »die bürgerlichen Jäger um 1900 [lehnten] Jagdmethoden kategorisch ab, die durch künstliche Mittel dem Wild die Entkommenschance nahmen« (Hiller 2002: 174). Unter solch »künstliche Mittel« fällt heute nicht nur die Jagd von motorisierten Fahrzeugen aus, sondern auch der Einsatz von Nachtzielgeräten. Solche Regeln dienen dazu, sicherzustellen, dass die Jägerinnen und Jäger der Gegenwart trotz ihrer technischen Möglichkeiten den Wildbeständen ein Überleben ermöglichen. Die Weidgerechtigkeit regelt also, unter welchen konkreten Bedingungen die Jagd stattfinden darf. Mit dem Versuch, die Beziehung der Jagenden zu den Gejagten zu regeln, ist die Bedeutung der Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime aber nicht erschöpft. Zusätzlich »[ist] ein anständiges Verhalten gegenüber Jagdnachbar und Mitjagenden an den Tag zu legen. Letztendlich darf – im Sinne einer weidgerechten Jagd – der Jagdbetrieb und die Jagdleidenschaft nur in Wahrung des Ansehens der Jägerschaft ausgeübt werden« (Müller-Schallenberg/Hugenroth 2015: 22-23). Was das genau bedeutet, bleibt offen und setzt eine normativ wirksame »Welt des Alltagsverstandes« (Bourdieu 1993: 108) schon voraus. Ähnlich vage definiert auch der Deutsche Jagdverband Weidgerechtigkeit in seiner Präambel als die ethische Basis für das Handwerk Jagd (vgl. jagdverband.de 2017). Als eine Ethik ernst genommen, betrifft das Konzepts Weidgerechtigkeit nicht nur einzelne für sich stehende jagdliche Handlungen, sonder sie betrifft vor allem die Handlungen von Personen in ihrem lebensweltlichen Zusammenhang. Gemäß phänomenologischer und praxistheoretischer Überlegungen sind diese Subjekte die Jägerinnen und Jäger als leiblich-per-

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sonale Einheit, die sich durch das Grundvermögen des »Ich kann« (Husserl 1952: 253) charakterisieren. Für Husserl impliziert dieses »Ich kann« jedoch kein »leeres Können, sondern eine positive Potentialität« (ebd.: 255). Die »positive Potentialität« des »Ich kann« besteht gemäß dieser theoretischen Überlegungen vor allem darin, gemäß eines der gemeinschaftlich konstituierten Lebenswelt angepassten »Alltagsverstand[s]« (Bourdieu 1993: 108) zu handeln. Die alltäglichen Erfahrungen als Teil einer heterogenen Gesellschaft, in der Jagd nicht immer unkritisch verhandelt wird, tragen zur Genese des »Habitus des Subjekts« (Husserl 1952: 277) ebenso bei, wie die Erfahrungen in der Gemeinschaft mit gleich gesinnten Jägerinnen und Jägern. Insofern lässt sich die Weidgerechtigkeit nicht nur als ein formales Regelwerk begreifen. Konsequent weitergedacht, beschreibt sie gleichsam die inkorporierten Überzeugungen der Jägerinnen und Jäger und damit ihr jagdliches Selbstverständnis. Weidgerechtigkeit kann – wie auch andere Formen von Gerechtigkeit – als ein Sammelbegriff für normative Vorstellungen, traditionelle Werte und Konventionen, sowie konkrete Verhaltensvorschriften verstanden werden. Sie bezieht sich auf den Umgang mit den gejagten Tieren ebenso, wie auf den Umgang der Jägerinnen und Jäger untereinander. Diese Ideale, Werte und Normen können formaler, aber auch informeller Natur sein. Was weidgerecht ist und was nicht lernen Jungjägerinnen und Jungjäger [noch unerfahrene Jägerinnen und Jäger] in der Regel von erfahreneren Weidfrauen und Weidmännern. Das individuelle Verständnis dessen, wie man sich weidgerecht verhält, ist daher nicht zuletzt eine Frage der jagdlichen Sozialisation. Neben den klar definierten gesetzlichen Vorgaben zur weidgerechten Jagd sind es jene weniger konkreten »allgemein anerkannten Grundsätze deutscher Weidgerechtigkeit« (vgl. Müller-Schallenberg/Hugenroth 2015: 18) recht verstanden »als subjektives, aber nichtindividuelles System verinnerlichter Strukturen« (Bourdieu 1993: 112), welche in der Lage sind, einen bestimmten Habitus auszuprägen. Aus den Normen und Werten, welche durch die Weidgerechtigkeit zusammengefasst werden, resultieren im Sinne Bourdieus »gemeinsame Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata« (Bourdieu 1993: 112), welche die Jagdausübung als soziale Praxis anleiten und jenes schon erwähnte Identifikationspotential entwickeln. Obwohl oder gerade weil sich eine Mehrheit der Jägerinnen und Jäger in Deutschland mit der Weidgerechtigkeit als Normen- und Wertekonstellation identifiziert, ist es nicht nur schwierig, sondern auch analytisch irreführend, den Versuch einer abschließenden Definition zu machen. Gerade die offene Idee dessen, was Weidgerechtigkeit jenseits ihres gesetzlichen Rahmens ist, erlaubt Jägerinnen und Jägern, ihr jagdliches Selbstverständnis im Namen der Weidgerechtigkeit zu schärfen und sich gegenüber anderen Jägerinnen und Jägern abzugrenzen. Obwohl sich eine Mehrheit der deutschen Jägerinnen und Jäger zur Weidgerechtigkeit bekennt, bietet sie Raum zur individuellen Auslegung. Dabei ist sie jedoch kein unkritisches Konzept. Der Versuch des Nationalparks, sich jagdpolitisch von der Weidgerechtigkeit

IV Die Jagenden

zu distanzieren, verweist darauf. Ein Blick in die Historie des Konzepts ist hilfreich, um zu verstehen, warum die Weidgerechtigkeit nicht unangefochten ist. Die historische Betrachtung der Weidgerechtigkeit zeigt aber auch, welches ideologische Gewicht

Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime. Eine historische Betrachtung Die Weidgerechtigkeit im gegenwärtigen Verständnis ist ein noch relativ junges Phänomen: »Der Begriff ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts« (Schriewer 2015: 129). Wenngleich das Wort selbst schon älter ist, wird Weidgerechtigkeit erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts als Begriff für eine Handlungsmaxime gebräuchlich, welche ethisch-moralische Vorstellungen für die Jagdausübung meint. Zuvor zielte der Begriff mehr auf das handwerkliche Können adeliger Jägerinnen und Jäger ab. In diesem alten Verständnis von Weidgerechtigkeit ist »der Jäger ein Spezialist im Sinne der ars venatoria, ein Meister der Jagdkunst« (Rösener 2004: 269). Erst ab den 1870er Jahren verändert sich die Bedeutung von Weidgerechtigkeit hin zu einem Konzept, welches vor allem die Jagdethik – und damit nicht nur das richtige, sondern auch das gute Jagen – meint. Im Folgenden werde ich die Geschichte dieses Konzepts darstellen, da dies für das gegenwärtige Verständnis von Weidgerechtigkeit unerlässlich ist. Ebenso ist es notwendig auf die Kritik einzugehen, die sich seit den 1970er Jahren daran entwickelt hat. Historisch betrachtet, ist die gegenwärtige Idee von Weidgerechtigkeit weitestgehend geprägt von einem Jagdverständnis, welches Hiller als spezifisch »bürgerlich« charakterisiert: »Es ist bezeichnend für das bürgerliche Jagdverständnis um 1900, daß weder ständische Privilegien noch soziale Unterschiede, sondern ausschließlich ethische Normen, also die ›weidgerechte Gesinnung‹ den Jäger zum echten Weidmann adelte« (Hiller 2002: 120). Im Kern trifft diese Kennzeichnung auch auf das Selbstverständnis der allermeisten Jägerinnen und Jäger zu, die ich kennengelernt habe. Heute wie damals grenzen sich weidgerechte Jägerinnen und Jäger bewusst von anderen Jagenden ab, welche bestimmte moralische Standards nicht einhalten. Es ist kein Zufall, dass dieser Begriff ab 1848/49 an Konjunktur gewinnt. Diese historische Situation charakterisiert sich dadurch, dass das Recht zur Jagdausübung nun nicht mehr das Privileg einer schon etablierten Gruppe ist, sondern plötzlich auch jagdliche Außenseiter das Feld der Jagd betreten (Elias 1993). Das Jagdausübungsrecht wird ab 1848/1849 an Grund und Boden gebunden – und steht damit plötzlich auch der bürgerlichen und bäuerlichen Bevölkerung zu, sofern sie über Grundbesitz verfügen.2 Nach 1848/49 kommt es daher nach Meinung der eta2

Dabei bilden die 1801 an Frankreich gegangenen linksrheinischen Gebiete – zu denen auch die Nordeifel zählte – eine Ausnahme. Hier wurde das adelige Jagdregal durch die französische Verwaltung aufgehoben und die fürstlichen Wälder in Nationalforste umgewandelt.

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blierten Jägerinnen und Jäger – vor allem also der adeligen Jagenden – jedoch zu einer »Verrohung bei der Jagdausübung« (Rösener 2004: 371). Um dieses Urteil einordnen zu können, ist eine Betrachtung der historischen Situation hilfreich. Hintergrund bildete das vor 1848/1849 bestehende und seit Jahrhunderten andauernde, adelige Jagdrecht, in dessen Folge es zu überhöhten Wildbeständen und hohen Wildschäden gekommen war. Da dem adeligen Jagdvergnügen eine Reduktion des Wildbestandes auf ein wirtschaftlich verträgliches Maß diametral gegenüberstand, herrschte vor allem in der bäuerlichen Bevölkerung ein angespanntes Verhältnis zur Jagdpraxis der herrschenden Klasse vor. Die bäuerliche Bevölkerung hatte nicht nur unter den Jagdfronen zu leiden, sondern auch unter den teils enormen Wildschäden (vgl. hierzu Eckardt 1976). »Wie tief dieser Haß [auf das überhegte und geschützte Wild in feudalem Besitz, eig. Anm.] wurzelt, ist schon daran zu erkennen, daß bereits in den Forderungen aus der Zeit der Bauernkriege um 1520, vermehrt in der Zeit der Französischen Revolution nach 1789 und wiederum in der Revolution von 1848, die Wildschäden und ihre Abwendung durch ›Freie Jagd‹ oder Totalabschuß mit an erster Stelle standen.« (von Eggeling 1988: 47) Tatsächlich konnte die Forderung nach der Freien Jagd im Zuge der 1848erRevolution durchgesetzt werden. Die Jagdausübung in den ersten Jahren nach der Revolution war daher von der radikalen Reduktion der Wildbestände geprägt, die teilweise mit »dem ausdrücklichen Befehl einer völligen Ausrottung in freier Wildbahn« (Stahl 1979: 28) einhergingen. Dafür, dass sich viele Wildarten tatsächlich stark dezimierten, war jedoch nicht nur die Jagd alleine verantwortlich. Weitere Faktoren, wie die voranschreitende Industrialisierung, die sich ausbreitenden Ballungsräume und das ansteigende Bevölkerungswachstum führten dazu, dass sich der Lebensraum vieler Tiere merklich reduzierte. Nach der Abschaffung des adeligen Jagdprivilegs interessierte sich eine größer werdende Gruppe für die Jagd – neben der bäuerlichen und ländlichen Bevölkerung kamen auch aus den Städten

Diese unterlagen, ebenso wie das Jagdrecht, der französischen Verwaltung. Diese trug Sorge dafür, dass die Wildbestände deutlich reduziert wurden. Es kam kaum noch zu Klagen seitens der bäuerlichen Bevölkerung. Auch nach dem Sieg über Napoleon 1814/1815 blieb eine gewisse Jagdfreiheit in den linksrheinischen Gebieten erhalten (vgl. hierzu Rösener 2004: 375). Zu einer Rückkehr zum adeligen Jagdprivileg kam es nicht mehr, weil »das liberale französische Rechtssystem im Bewusstsein der linksrheinischen Bevölkerung bereits so feste Wurzeln geschlagen hatte« (ebd.: 357-358). Ab 1934 endete jedoch der linksrheinische ›Sonderweg‹. Nichtsdestotrotz ist für diese Untersuchung aber auch die jagdliche Entwicklung in den anderen deutschen Provinzen zu betrachten. Die dort geführten Diskurse um Jagdfreiheit und Weidgerechtigkeit sind für alle folgenden Entwicklungen von Bedeutung – insbesondere für das Reichsjagdgesetz von 1934, die Jagdgesetzgebung der BRD und das gegenwärtige Verständnis von Weidgerechtigkeit.

IV Die Jagenden

die bürgerlichen Jägerinnen und Jäger hinzu. Der Ausbau des Schienennetzes tat ein Übriges, um die Jagd einer größeren Gruppe zugänglich zu machen (vgl. Hiller 2002: 73). Diese äußerst komplexe gesellschaftliche Situation führte dazu, dass die Jagd sehr bald neu strukturiert, oder anders formuliert, wieder eingeschränkt wurde. Allen voran waren an dieser Neu-Strukturierung jene beteiligt, für welche die neue Jagdfreiheit Nachteile – wirtschaftlicher, wie sozialer Art – mit sich brachte. Theilemann (2004) analysiert, dass es besonders der »im urbanen Raum kaum noch als kulturprägend wahrgenommene Adel« war, der weiterhin ein besonderes Interesse an der Jagd hatte (ebd.: 63). Wurde dem Adel nach 1848/1849 viel von seiner gesellschaftlichen Vormachtstellung genommen, so blieben ihm oftmals nur noch die Ländereien. Als Großgrundbesitzerinnen und -besitzer konnten die Mitglieder dieser adeligen Gruppe oft genug durch ihre Güter und Forsten eine elitäre Stellung im ländlichen Raum verteidigen. Entsprechend wenig verwunderlich ist es, dass eine restriktivere Neu-Organisation der Jagd zwischen 1850 und 1880 maßgeblich aus diesen Kreisen vorangetrieben wurde (vgl. ebd.: 113). Nur wenige Jahrzehnte nach 1848/1849 sollte die Jagd wieder zum Privileg werden. Eine der zentralsten Einschränkung mit äußerst weitreichenden Folgen für die soziale Zusammensetzung der Jäger_innenschaft war die Einführung einer Mindestgröße für Jagdreviere. Die sogenannten ›Handtuch-Reviere‹ verschwanden und folglich durfte nur noch die großgrundbesitzende Gruppe die Jagd auf dem eigenen Grund und Boden ausüben. Grundstücke, die dieser Mindestgröße nicht entsprachen, wurden zu Gemeinschaftsrevieren zusammengefasst. Das Jagdrecht konnte finanziell durch das Entrichten einer Pacht erworben werden. Begründet wurde dieser Schritt damit, dass so bestimmten, jagdlich-egoistischen Tendenzen der einzelnen Grundstücksbesitzerinnen und -besitzer Einhalt geboten werden konnte und der Jagddruck auf die Wildtierpopulationen verringert würde. Das sogenannte Preußische Reviersystem, welches bis heute in Deutschland Gültigkeit hat, entstand und wurde zum Vorbild für viele weitere deutsche Provinzen. Diese Maßnahme führte tatsächlich zu einer Stabilisierung der bejagten Arten, aber auch dazu, dass Besitzerinnen und Besitzer von kleineren Grundstücken von der Jagd ausgeschlossen wurden, sofern sie nicht über entsprechende finanzielle Mittel für die Pacht verfügten. Soziologisch markiert diese Neu-Organisation auch den Beginn der Jagd als Freizeitbeschäftigung (groß-)bürgerlicher Pächterinnen und Pächter. Während diese um 1850 nur vereinzelt am Rande der urbanen Ballungszentren auftreten, verändert sich diese Situation in den 1880er Jahren grundlegend: »[S]o kann festgestellt werden, daß bis zu 70 % der gemeinschaftlichen Jagdbezirke einiger Kreise von Jägern gepachtet wurden, die aus dem gehobenen Bürgertum stammen« (Hiller 2002: 73). Mit der infrastrukturellen Erschließung Deutschlands durch die Schienennetze weitete sich dieses Phänomen auch auf ländliche Regionen jenseits der Metropolen aus (vgl. ebd.: 74). Durch das neue Großbürgertum, welches sich

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sehr bald aus dem industriellen Milieu heraus differenzierte (vgl. Elias 1997: 35), veränderte sich die Jagd durch die »kapitalkräftige[n] Jäger aus der Stadt« (Hiller 2002: 70-71) jedoch nicht nur in ihrer sozialen Durchmischung. Auch ideologisch vervielfältigte sich die Einstellung zur Jagd weiter. Vielerorts bemühte sich »der zur Jagd gelangte Bürger« (von Eggeling 1988: 48), die Jagdpraxis der etablierten Jägerinnen und Jäger zu übernehmen, da dies »den Ausübenden [adelte] und ihm das Flair gehobener Lebensart [gab]« (ebd.). Jedoch emanzipierten die bürgerlichen Jägerinnen und Jäger sich teilweise sehr selbstbewusst vom Vorbild der adeligen Jagd. Nicht nur die gesamtgesellschaftliche Vormachtstellung des Adels war seinen Mitgliedern nicht mehr sicher. Auch auf dem Feld der Jagd drangen durch großbürgerliche Neulinge gleichsam Konkurrenten in die jagdlich-adelige Lebenswelt mit ihren Werten und Normen und ihrem Habitus.3 Es waren die Be3

An dieser Stelle ließe sich ausführlich darauf eingehen, welche wachsende Bedeutung die Jagd in den Kolonien – insbesondere in Osteuropa und in Afrika – für die adelig-etablierten Jägerinnen und Jäger zur sozialen Abgrenzung hatte: »Wenn jeder mäßig Neureiche sich ein Revier kaufen […] konnte, taugte die Jagd an sich nicht mehr zum sozialen Ausweis einer engeren Führungsschicht« (Spehr 1993: 135) und exklusivere Jagdpraktiken wurde stärker nachgefragt. Da eine dem Thema angemessene Ausführlichkeit an dieser Stelle den Rahmen und das zentrale Thema der Arbeit sprengen würde, muss ich auf diesen Aspekt in aller Kürze eingehen. Besonders die afrikanischen Kolonien boten Anreiz für das »imperial hunting« (Theilemann 2004: 183) nach britischem Vorbild, wobei diese Anreize noch durch die entstehende Jagdliteratur oder zumindest durch verfügbare Ego-Dokumente unterstützt wurden: »Afrika bot – nach Indien – schlicht mehr als selbst Rußland […]. Hier bot sich scheinbar kinderleicht alle Exotik, die man sich vorstellen konnte« (ebd.: 186-187). Während die Großprädatoren Bär und Wolf zunehmend und schließlich gänzlich in Mitteleuropa ausgerottet worden waren, ließ sich hier ein Jagderlebnis diskursiv kultivieren, welches den Topos der Lebensgefahr für die Jägerinnen und Jäger noch kennt. In seinen Ratschlägen für die Jagd in den »Deutschen Schutzgebieten« in Ostafrika betont von Wissmann 1895 daher zwar die »größeren Entbehrungen, Anstrengungen und Gefahren«, und dass »[d]as Poetische, daß daheim unserer Jagd den Reiz verleiht« in Afrika ebenso fehle, wie das »opulente[] Jagdfrühstück, bei dem die Ereignisse [der Jagd, eig. Anm.] im fröhlichen Kreise noch einmal durchgesprochen werden« (ebd.: 89). Dafür verspricht er das »Gefühl des ungebundenen, freien Jägers, den kein Jagdgesetz, keine Grenze einschränkt bei der Verfolgung der erlesenen Beute« (ebd.). Während in Deutschland mit der Aushandlung der Weidgerechtigkeit ein affektkontrolliertes Jagen propagiert wurde, galt diese Selbstverpflichtung in Afrika nicht so zwingend: »[A]uf Menschen wie auf Tiere schießen zu dürfen, gehörte zum Standradrepertoire der Abenteurer- und Jugendliteratur, die das koloniale Frontgefühl nach Hause transportierten« (Spehr 1993: 135). Der Ende des 19. Jahrhunderts entstehende Jagdtourismus verspricht aber nicht nur den Sieg über ›die Wildnis‹, sondern hilft auch dabei, die gesellschaftlichen Umwälzung in den Heimatländern der Jägerinnen und Jäger zu verarbeiten. Die erfolgreiche Jagd festigte ihre brüchig gewordene Identität: »Dafür, daß hier alles klappte, dankte der imperiale Jäger dem Wild mit stiller Zuneigung« (ebd.: 137). Um die attraktive afrikanische Fauna für die Jagd weiterhin nutzen zu können, kann der imperialen (Großwild-)Jagd in Afrika auch eine nicht unerhebliche Bedeutung für eine »neue Ära der Conservation« (ebd.) zugesprochen werden.

IV Die Jagenden

gegnungen mit jenen Vertreterinnen und Vertretern des Großbürgertums, die »in echtem Jagdfieber degustierend, ja abschreckend das andere Lebensgefühl industriebürgerlicher ›Moderne‹ vor[exerzierten]« (Theilemann 2004: 105) und so dazu beitrugen, dass ab 1870 die »Beschwörung ›weidmännischer Tugenden’« (Hiller 2002: 75) gerade in den adeligen Kreisen der Jagd besonders populär wurde. Dem »ungehemmte[n] Jagdneid« und den »unweidmännisch-urbane[n] Kaufhausallüren« (Theilemann 2004: 105) dieser gesellschaftlichen Emporkömmlinge mussten die etablierten adeligen Jägerinnen und Jäger ihre »ebenso antikapitalistisch wie naturbewahrend akzentuierte Wertewelt entgegenstellen« (ebd.: 106). Nicht nur solche »Prestigejäger« (von Eggeling 1988: 48) betraf die Kritik der etablierten Jägerinnen und Jäger, sondern sie richtete sich vor allem auch gegen die kleinbäuerliche und kleinbürgerliche Jagdpraxis (vgl. Franck 2012: 2; Hiller 2002: 115; von Eggeling 1988: 48). Diese stellte sich insbesondere als Niederwild-Jagd dar und beinhaltete mehrheitlich die Jagd mit Fallen und der Schrotflinte (vgl. Hiller 2002: 116). Nicht nur aus Tierliebe, sondern auch als Reaktion darauf, dass der Adel sich seines »historische[n] Recht[s] auf die Jagdausübung« beraubt sah (vgl. Hiller 2002: 360), begann eine Aushandlung der Normen, Werte und Verhaltensvorschriften für die Jagd. Was bisher eindeutig und selbstverständlich gewesen war, war nun plötzlich fraglich geworden. Dies betraf auch die Beziehung von Jagenden und Gejagten zueinander. Um nachzuvollziehen, warum der alte Adel diesen Kampf um die Deutungshoheit der Jagd so vehement kämpfte, ist es wichtig zu verstehen, welchen Stellenwert die Jagd für ihn hatte. Als »praeludium belli« (Rösener 2004: 262) hatte die Jagd vor allem den Zweck, junge adelige Männer und Ritter auf kriegerische Aktivitäten vorzubereiten. Die strengen höfischen Regeln und Vorschriften, welche die feudale Jagd regelten, aber auch die blutigen Herausforderungen, denen sich die jungen Jäger stellten, dienten darüber hinaus auch der »Versittlichung des Jägers und seiner Charakterbildung« (vgl. ebd.: 262-263). Da ein Großteil der Bevölkerung ab dem 12. Jahrhundert mehr und mehr von der Jagd ausgeschlossen wurde, diente die Jagdausübung der herrschenden Klasse über viele Jahrhunderte hinweg auch als Demonstration der Machtverhältnisse – die jagenden Adeligen zeigten sich als adelige Jägerinnen und Jäger unmissverständlich als die Herrscherinnen und Herrscher über Land, Leben und Tod. All diejenigen, welche dieses Machtverhältnis wildernd in Frage stellten, hatten strenge Strafen zu befürchten. Wie

Bald vollzog sich daher ein ähnlicher Prozess der Restriktion, wie in den Heimatländern. So wurde 1903 in Deutsch-Ostafrika die »Jagd- und Wildschutzverordnung« erlassen, die einen ebenso exklusiven Charakter hatte, wie sie die Neu-Strukturierung der Jagdgesetze in vielen deutschen Provinzen fünfzig Jahre zuvor auch hatte. Vor allem die indigene Bevölkerung und ihre traditionellen Jagdpraktiken wurden nun von der Jagd weitestgehend ausgeschlossen (vgl. ebd.: 137-138).

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Widlok (2015) feststellt, waren die Strafen »extremely harsh because more was at stake than the theft of meat. Poaching was considered an attack on the established political order itself« (ebd.: 209). Für wildernde Personen – sei es, dass sie dies aus einer unpolitischen Jagdleidenschaft taten oder tatsächlich aus Gründen des sozialen Protest, oder schlicht aus der Not heraus – drohte bis in das 18. Jahrhundert noch die Todesstrafe (vgl. Eckhardt 1976: 131). Die Jagd als Machtdemonstration ist daher ein nicht zu unterschätzender Faktor, weshalb der Adel seine gesellschaftliche Vormachtstellung für die Jagd zu verteidigen suchte, wo es eben ging. Die öffentliche Auseinandersetzung um den Begriff der Weidgerechtigkeit kann daher auch als Ausdruck der »Orientierungslosigkeit vieler Jäger« (Hiller 2002: 75) verstanden werden und entspricht nicht nur der »von Stahl konstatierte[n] vermehrte[n] Hinwendung des von einem ›erneuerten Naturgefühl getragenen‹ Jägers zum Wildtier« (ebd.) – wenngleich dieser Aspekt ein wichtiger Bestandteil der Weidgerechtigkeit wurde. Die Konstitution von Weidgerechtigkeit als ethischmoralischem Konzept der Jagd ist in diesem Sinne aber eben auch der erfolgreiche Versuch vor allem des Landadels, auf dem Feld der Jagd erneut eine »Führungskompetenz zu etablieren« (Theilemann 2004: 112). Tatsächlich gelingt es dem Adel, diesen normativen und moralischen Führungsanspruch umzusetzen. Politisch und militärisch weiterhin gut vernetzt, nehmen hauptsächlich adelige Personen die Führungsrollen der um 1870 sprunghaft entstehenden lokalen und regionalen jagdlichen Vereinigungen an. Die Entstehung dieser jagdlichen Vereinigungen wird wenig überraschend von »sehr große[n] Teile[n] der deutschen Jäger aus Adel und Bürgertum« (Franck 2012: 2) initiiert. Diese Organisationswelle gipfelte in der Gründung des Allgemeinen Deutschen Jagdschutzverein (ADJV), dessen Ziel die »Einigkeit der deutschen Jäger« (ebd.: 3) im Sinne der Weidgerechtigkeit und zum Schutz des Wildes vor Jagdfrevel und Wilderei war. Sinn dieser Vereinigungen war es, das jagdliche Milieu standes- und schichtübergreifend »ideologisch wie sozial« (Theilemann 2004: 114) zu stabilisieren. Auch die bäuerlichen und (klein-)bürgerlichen Jagenden wurden durch diese Vereinigungen angesprochen, am Diskurs um jagdpraktische und -politische Fragen teilzunehmen. Als Teil einer solchen Vereinigung waren sie aber auch eingeladen, sich als Jägerinnen und Jäger im normativ richtigen, nämlich adeligen Sinne zu verstehen. Worin besteht nun aber der Kern dieses spezifisch adeligen Verständnisses von Weidgerechtigkeit, welches schließlich auch für die bürgerliche Jagd maßgeblich werden wird? Affektkontrolle und Disziplin sind die beiden Hauptaspekte, welche die adelige Jagd ausmachen. Dabei kann die adelige Jagd symbolisch auch als Akt der patriarchalen Machtausübung gedeutet werden, welcher auf existenzielle Art und Weise über wertvolles und weniger wertvolles Leben entscheidet. Im Folgenden werde ich dies erläutern. Mit den internen Regeln und Verhaltensvorschriften, welche adelige Jägerinnen und Jäger über Generationen hinweg zu befolgen lernten, lässt sich die adelige Jagd mit Theilemann als »ritualisierte Kampfinsze-

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nierung« zur »Ableitung und Sublimierung individueller Kraft« (2004: 133) verstehen. Diese Kampfinszenierung stellte die individuelle Potenz der Jagenden, aber auch die ›Gott gegebene‹ Potenz ihrer genetischen Abstammung dar, welche sich mit jedem getöteten Tier als »(scheinbar) natürliche Dominanz« (ebd.: 125) bestätigte. Das »›Ideal‹ des ›Edlen Weidwerkes’« (ebd.: 133), seine Regeln und Verhaltensvorschriften, diente dazu, diese zu zügeln. Nicht nur körperliche Kraft und der Wille zur Dominanz gegenüber der (gesellschaftlichen) Lebenswelt, sondern auch »Selbstdisziplin am realen Tötungshandwerk« (ebd.) wurden somit durch die adelige Jagd geformt und trainiert. Die adelige Jagd ist in diesem Sinne eng verbunden mit einer bestimmten Konstruktion von Männlichkeit, die ich in Kapitel 4.3 – Die Jagd als leibliche Praxis noch ausführlicher untersuchen werde. Mehr noch als das und genderübergreifend fungiert der adelige »[j]ägerische Tatendrang […] auch als Affektkontrolle« (ebd.). Diese Form der affektkontrollierten Jagd hat mit der (klein-)bäuerlichen Jagd der post-1848/1849-Periode nichts gemein. Während die bäuerliche Jagd alleine eine zahlenmäßige Minimierung der Wildbestände zum Ziel hatte, symbolisierte die kapitale Trophäe die Belohnung der adeligen Jägerinnen und Jäger für ein diszipliniertes, geduldiges, in die Zukunft gerichtetes jagdliches Handeln. Es lässt sich schwer übersehen, dass hier Auswahl und Selektion und nicht ungebändigter, profaner Tötungswille der Entscheidung über Leben und Tod Pate stehen. Die Jagd auf die ›wertvollen‹ Tierarten – als Hoch- oder Niederwild klassifiziert – diente dazu, die starken ›Zukunftstiere‹ von den schwächeren ›Kümmerern‹ zu trennen. Darüber hinaus »fühlte sich der Weidmann aufgrund seiner moralisch normierten Herrscherstellung autorisiert, je nach jagdlichem Nutzen zwischen ›guten‹ und ›bösen‹ Tieren zu unterscheiden« (Hiller 2002: 127). So wurde das wertvolle Wild, also jene Tiere mit wie immer geartetem »jagdliche[n] Nutzen« nicht nur bejagt, sondern auch beschützt und gehegt. Dagegen stellte sich die Jagd auf Prädatoren eher als »Kampf gegen ein scheinbar kulturunzuträgliches Wachsen des ›Raubzeugs’« (Theilemann 2004: 137-138) dar. Hatte der Adel also seine gesellschaftliche Vormacht nach 1848/1849 weitgehend eingebüßt, so ermöglichte ihm die Jagd, nicht nur eine standesgemäße Freizeitbeschäftigung, sondern auch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit innerhalb seiner lebendigen Umwelt. Wie sehr diese von der adeligen Jagd geprägten Ideale aber auch für die bürgerliche Jagd wirksam wurden, lässt sich an einigen zeitgenössischen Phänomenen erkennen. Wie schon angedeutet, hatten die schon etablierten jagdlichen Ideale eine große Anziehungskraft auf einen Teil der neu hinzugekommenen Jägerinnen und Jäger. Um sich von bestimmten ›jagdlichen Außenseitern‹ zu distanzieren, übernahm ein Teil der neu hinzugekommenen Jäger_innenschaft die Vorbehalte der Etablierten gegen bestimmte Jagdpraktiken – darunter die Wilderei, die kleinbäuerliche Jagd, aber auch die Jagdpraxis der gesellschaftlichen Konkurrenz. So liest sich die zeitgenössische Kritik des bürgerlichen Jägers Oberländer in der Deutschen Jagdzeitung von 1909 auch als eine Kritik gegen die industriell-bürger-

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lichen Emporkömmlinge. Öffentlichkeitswirksam beklagt dieser, dass »Jagdprotztum ganz naturgemäß zum Schießertum« führe, welches »gleichbedeutend ist mit gemeiner Aasjägerei« (zitiert nach Hiller 2002: 74) und damit nicht mit dem adeligen Ideal der Weidgerechtigkeit vereinbar. Die Gegenfigur zu den weidgerechten Jägerinnen und Jägern wildert, jagt des Fleisches wegen oder betreibt die Jagd alleine aus gesellschaftlicher Geltungssucht. So sehr das adelige Ideal der weidgerechten Jagd als Demarkationslinie diente, so sehr wirkte es auch integrierend: »Es sollte also nicht die soziale Herkunft oder finanzielle Potenz ausschlaggebend sein, sondern lediglich die ›Gesinnung‹ den weidgerechten Jäger auszeichnen.« (Hiller 2002: 77) Ein derartig machbares Ideal lud eine große Gruppe der neuen bürgerlichen Jägerinnen und Jäger ein, sich mit der Weidgerechtigkeit als etabliertem Normen- und Wertegestell zu identifizieren, ohne seinen sozial-intgerativen Zweck für die Gruppe der Etablierten explizit zu befürworten. Während die Weidgerechtigkeit jagdpolitisch einer Bewahrung der adeligen Vormachtstellung dienen soll, erfährt sie bald eine Vereinnahmung als dezidiert ethische Grundlage der Jagd an deren diskursiver Aushandlung nicht nur der jagende Adel teilnimmt, sondern vor allem auch die neu hinzugekommenen bürgerlichen Jagenden. So entwickelt sich bald innerhalb der Jagdliteratur ein spezifisches Genre, welches Ausdruck dieser bürgerlichen Adaption ist. Die von Hermann Löns und Anderen erzählten Jagdgeschichten charakterisieren sich dadurch, dass »der bloße Tötungsakt gegenüber der spannungsgeladenen Naturschilderung() in den Hintergrund rückt«, ebenso, wie »das nahezu stereotyp vorgetragene ›schlechte Gewissen‹ und die ›auflodernde Reue‹, die der Jäger bis heute gewohnt ist, mit einer stillen Gedenkminute am gestreckten Hirsch oder Reh zu zelebrieren« (Hiller 2002: 178). Damit wird Weidgerechtigkeit bewusst als ein »ethisch fundiertes Gegenbild« zu anderen, als elitär kritisierten Jagdpraktiken entworfen (vgl. ebd.: 82). Auf der Grundlage eines adeligen Jagdverständnisses und seiner bürgerlichen Adaption wird um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit der Weidgerechtigkeit ein ethisch-moralisches Jagdverständnis mit hohem Identifikationspotential etabliert. Es ermöglicht von nun an, die wahren Jägerinnen und Jäger von den »Sonntagsjäger[n], den ›Schießer[n], Aasjäger[n], Jagdschinder[n]‹ und Wilderer[n]« zu unterscheiden, die sich alle »in irgendeiner Form gegen die rechtlich oder moralisch anerkannten Prinzipien des deutschen Weidwerks ›versündigen’« (Hiller 2002: 100). Damit einhergehend prägte auch die Wertschätzung des gejagten Tieres als leidensfähigem Individuum die humanimalische Beziehung von Jagenden und Gejagten. Normativ war die Weidgerechtigkeit also schon länger gültig, bevor der Begriff 1934 durch das Inkrafttreten des Reichsjagdgesetzes (RJG) Einzug in die jagdliche Gesetzesgebung hielt. Dieses griff einen schon bestehenden Entwurf aus den 1920er Jahren auf, welcher in den deutschen Provinzen eine einheitliche Rechtslage schaffen sollte, was jedoch aus Gründen politischer Instabilität nicht durchgesetzt

IV Die Jagenden

werden konnte. Viele Elemente, die schließlich das RJG ausmachten, fanden sich auch schon in diesem Entwurf wieder (vgl. Franck 2012: 11). Auch die Tendenz, die Jäger_innenschaft sozial zu entmischen, wird durch diese Gesetzgebung verstärkt. Es ist klar erkennbar, dass die Jagd in der Zeit des Nationalsozialismus eine »Elite-Freizeit« (Spehr 1993: 170) und damit das Privileg einer Minderheit ist. Hatte die kleinbäuerliche und kleinbürgerliche Jagd bis 1934 vor allem als Jagd mit der Schrotflinte und als Fang- und Fallenjagd ihre Nische gefunden, schränkte das RJG vor allem diese Jagdpraktiken im Sinne der Weidgerechtigkeit rechtlich wieder ein. Zum ersten Mal findet sich die »Verpflichtung zur Waidgerechtigkeit und zur Hege«4 (Franck 2012: 12) als rechtlich bindend in der deutschen Jagdgesetzgebung. Konkret bedeutete dies neben einer Verschärfung von Schonzeiten und dem Schutz seltener Tierarten auch das Verbot, bestimmte Fallen für die Jagd einzusetzen und mit Schrot auf bestimmte Wildarten zu schießen. Außerdem wurde das Ablegen einer Prüfung Pflicht, um eine Jagderlaubnis zu erhalten, womit das Jagdrecht nun rechtlich vom Jagdausübungsrecht getrennt war. Der Effekt dieser Maßnahmen war, dass die deutsche Jäger_innenschaft sozial wieder homogener wurde, wobei dieser relativ kleinen Gruppe privilegierter Jägerinnen und Jäger ein möglichst attraktiver Wildbestand zur Verfügung stand. Es muss an dieser Stelle nochmal betont werden, dass diese verschärfte Gesetzgebung zwar von der nationalsozialistischen Regierung umgesetzt wurde, sie aber im Kern auch den früheren Bestrebungen der jagdlich-adeligen Elite entspricht. Strengere Schonzeiten und das Verbot bestimmter, nun normativ als ›grausam‹ bewerteter Fallen, wie der Fuchs- oder der Wolfsangel waren schon viele Jahrzehnte zuvor ein immer wiederkehrendes Thema gewesen – zumal sich auch Tierschutzvereinigungen zunehmend kritisch mit der Jagd auseinandersetzen (vgl. Stahl 1979: 91). Was jedoch ab 1934 hinzu kam, waren bisher ungekannte Veränderungen der Jagdpraxis. Dazu zählt der »Übergang zu exzessiver Winterfütterung«, ein gesteigerter Trophäenkult, aber auch der »krampfhaft-künstliche Aufbau eines Popanz von jagdlichem Brauchtum« (Spehr 1993: 171-172) im Namen der Weidgerechtigkeit. Wenngleich viele Aspekte des jagdlichen Brauchtums ihre Wurzel tatsächlich in der tieferen Vergangenheit der mittelalterlichen und höfischen Jagd haben (z.B. das 4

Auf das Konzept der Hege, welches mit dem gegenwärtigen Verständnis von Weidgerechtigkeit untrennbar verknüpft ist, ist gesondert einzugehen. An dieser Stelle reicht die gegenwärtige Definition von Hege als »die [zahlenmäßige, eig. Anm.] Anpassung von Wildbeständen an ihren Lebensraum sowie Erhalt und Schaffung von notwendigen Strukturen der Lebensräume« (Krüger 2014: 624) aus, wenngleich ich betonen möchte, dass es sich hierbei um ein Konzept handelt, welches einem historischen Wandel unterlag und unterliegt. Die Schreibweise von Weid- und Waidgerechtigkeit und ihres Synonyms Weid- und Waidmännischkeit war vor 1934 eher uneinheitlich. Die nationalsozialistische Führung legte schließlich die Schreibweise mit ›ai‹ fest. Gegenwärtig findet man wieder beide Schreibweisen, wobei der Deutsche Jagdverband die Schreibweise mit ›ei‹ übernommen hat.

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Strecke Legen), wurde ab 1934 ein einheitliches Brauchtum geschaffen zu dem auch ›hinzuerfundene‹ Aspekte kamen (z.B. diverse »Tot«-Signale). An der eingangs beschriebenen Szene des Strecke Legens und Verblasens lässt sich erkennen, dass dieses Brauchtum trotz seiner teils noch jungen und politisch weitgehend unaufgearbeiteten Vergangenheit einen bedeutenden Identifikationsrahmen für viele der gegenwärtigen Jägerinnen und Jäger bildet. Das Konzept der Weidgerechtigkeit, aber auch viele Bräuche und Traditionen als Ergebnis dieser »faschistische[n] Brauchtums-Fiktion« (Spehr 1993: 172), sind heute noch aktuell und teils sehr populär. Sicherlich ist diese Situation auch davon geprägt, dass die Inhalte des Reichsjagdgesetzes nach dem Zweiten Weltkrieg »mit hoher Kontinuität« (ebd.: 173) an die neu zu schaffende Gesetzgebung der jungen Bundesrepublik Deutschland angeknüpft haben. So weist das Bundesjagdgesetz von 1953 »keine einschneidende Umgestaltung« (Rösener 2004: 378) auf. Wie ich gezeigt habe, trifft dies auch auf die Verpflichtung zur Weidgerechtigkeit zu. Was jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg und vor allem in den 1970er Jahren sehr wohl stattfand, ist eine neue Ausrichtung des Konzepts Weidgerechtigkeit als Reaktion auf die insgesamt vielfältigen »Bestrebungen von Natur- und Tierschutzverbänden, die Jagd radikal einzuschränken« (ebd.: 379). Wenn die Weidgerechtigkeit in der heutigen Fassung des Bundesjagdgesetzes vor allem auf tierschutzrechtliche Aspekte bezogen ist, ist dies offenkundig eine Antwort auf die Kritik am »Edelhobby« (Bode/Emmert 2000) Jagd, auf die ich im Folgenden näher eingehe.

Die Kritik am Konzept Weidgerechtigkeit Seit den 1970er Jahren formierte sich eine bis heute andauernde Kritik an der traditionellen Jagd und damit auch am Konzept der Weidgerechtigkeit. Die Jagd, so eine Kernforderung, solle sich den ökologischen Erfordernissen einer Industrie- und Freizeitgesellschaft und vor allem den Erfordernissen der Forstwirtschaft anpassen. Um diese Kritik nachvollziehen zu können, werde ich mit einigen Worten erläutern, wie das Konzept der Weidgerechtigkeit mit dem der Hege zusammenhängt. Beginnen möchte ich jedoch am Heiligabend des Jahres 1971. Die an diesem Tag in der ARD gezeigte Dokumentation »Bemerkungen über den Rothirsch« von Horst Stern dürfte den Weihnachtsfrieden in einigen jagdlichen Haushalten erheblich gestört haben. Öffentlichkeitswirksam benennt sie das ›Waldsterben von unten‹ durch zu hohe Rot- und Rehwildbestände. Eine natürliche Verjüngung des Waldes sei fast unmöglich geworden, weil große Teile der jungen Bäume ohne Schutzmaßnahme wie Zäune von den Tieren gefressen oder beschädigt würden. Schuld daran seien vor allem die Jägerinnen und die Jäger und ihr Jagdethos, den Stern in seinem Film hinterfragt und kritisiert. In einem zeitgenössischen Kommentar im SPIEGEL heißt es dazu: »Weil die Weidmänner ›einen unvorstellbaren Kult mit Geweihen‹ betreiben, weil sie schmucklose Ricken, Hirschkühe und Jungtiere nur

IV Die Jagenden

ungern schießen, sei das Reh- und Rotwild zu einer Waldplage geworden. SternKommentar: ›Zu viel Boom, zu wenig Bum.‹« (o.V. 1971: 120) Gesehen werde muss diese Kritik vor dem historischen Hintergrund der weidgerechten Jagd und insbesondere ihrem Verständnis von Hege. Hege ist ein zentraler Aspekt der jagdpraktischen Umsetzung von Weidgerechtigkeit und kann als Schutz und Fürsorge verstanden werden, welche weidgerechte Jägerinnen und Jäger ›ihrem‹ Wild zu kommen lassen. Schon während der herrschaftlichen Jagd vor 1848/1849 kannten die adeligen Jägerinnen und Jäger das Konzept der Hege. Darunter fiel vor allem der Schutz der jagdbaren Tiere vor Hunger, Großprädatoren und vor allem Wilderei – vornehmlich mit dem Zweck, die Wildbestände so groß wie möglich zu halten, damit das adlige Jagdvergnügen keinen Abbruch erleiden musste (vgl. Krüger 2014: 624). Nachdem 1848/1849 das Jagdregal abgeschafft und das Recht zur Jagd den jeweiligen Grundbesitzenden zustand, änderte sich, wie ich beschrieben habe, die Jagdausübung radikal. Vor allem der entmachtete Adel, der sich seines Jagdprivilegs beraubt sah, erkannte in der bäuerlichen Jagd eine »Verwilderung bei der Jagdausübung« (Franck 2012: 2). Der Ausrottung, so die retrospektive Wahrnehmung, entgingen einige Tierarten nur, »weil es doch eine ganze Menge adeliger Großgrundbesitzer, aber auch zahlreiche Forstbeamte in den Staatsforsten gab, die dagegenhielten und den Wildbestand hegten« (ebd.). Das Prinzip der Hege erlebte damit für die neu entstehende Gruppe der (groß)bürgerlichen Jägerinnen und Jäger, aber auch den alteingesessenen Landadel und die großgrundbesitzende Gruppe eine Renaissance. Die hegenden Jägerinnen und Jäger adelten sich durch einen zahlreichen Wildbestand von guter Konstitution als Weidfrauen und Weidmänner. Im Sinne der Hege wurde nun geschont, verschont, und vor allem gefüttert. Die Gründe dafür sind komplex. Neben einer bestimmten, aus der Tradition der Romantik herangewachsenen, christlich-paternalistischen Ideologie gegenüber der Natur im Allgemeinen und dem Wild im Besonderen, können hierfür im Bezug auf das genannte soziale Milieu auch gesellschaftliche Gründe ins Feld geführt werden. Paradoxerweise lag gerade in der Demokratisierung der Jagd die Möglichkeit für diese Gruppe, ihre durch Geld oder Geburt gewonnene »Primärgruppenidentität« (Theilemann 2004: 97-98) zu bestätigen. »Jeder Gutsbesitzer oder Jagdpächter, dem aus Gründen gesellschaftlicher Attraktivität, privaten Genusses oder eben auch jagdlich-hegerischen Eifers daran lag, Stände [Wildbestände, eig. Anm.] mit guten bis wettbewerbsfähigen Geweihund Gehörnträgern zu erhalten, mußte sich umso mehr darauf in strenger Selbstzucht üben, um die Bestandshege nicht durch unpflegerischen, etwa vorzeitigen Abschuß, zu ruinieren und sich nicht skrupelloses Töten einer unfertigen Kreatur im ›unzünftigen‹ Sinne vorwerfen zu lassen.« (Theilemann 2004: 140-141)

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Im Winter wurden daher Heu, Kastanien und Kraftfutter in die Wälder gebracht, um das Wild möglichst ohne Verluste durch den Winter zu bringen (vgl. Hiller 2002: 131). Der Tod durch Verhungern ist dabei im Sinne der Weidgerechtigkeit als Qual zu verstehen, welche dem Wild, allem voran dem hoch geschätzten Rotwild, zu ersparen ist. Ein zusätzlicher Effekt dieser Zufütterung, der schwerlich übersehen werden kann, ist eine verbesserte Konstitution von Geweih und Gehörn. Starke Trophäen wurden alsbald zum Indiz für einen gesunden Wildbestand und damit Ausweis weidgerechter Jägerinnen und Jäger, die ihrer Pflicht als Hegerinnen und Heger verantwortungsbewusst nachgekommen sind. Neben der auf Schonung akzentuierten Hege, kam um 1900 die Hege mit der Büchse hinzu, die jenen selektiven Wahlabschuss meint, »dem in erster Linie das für die ›Aufartung‹ des Bestandes ungeeignete ›windige Kroppzeug, (die) Kümmerer, Schwächlinge und Kranken‹ zum Opfer fielen« (ebd.: 145). Diese Ideologie erkennt in der kapitalen Trophäe mit schweren Stangen und vielen Sprossen den Lohn für Selbstbeherrschung und Geduld bei der Jagdausübung. Selbstbeherrschung und Geduld kennzeichnen, wie ich ausgeführt habe, die weidgerechten Jägerinnen und Jäger nach adeligem Vorbild. Es ist nicht zu übersehen, dass diese adelige HegeIdeologie nachhaltigen Einfluss auf die sich ausweitende bürgerliche Jagd hatte und bis heute hat. Durch die im Entstehen begriffene Jagdliteratur nach dem Vorbild von Hermann Löns und durch Publikationen in Jagdzeitschriften wurde das Ideal der Hege öffentlichkeitswirksam verbreitet. Die nicht »ausschließlich auf kapitale Trophäen ausgerichtete Jagd, sondern die an den Gehörnen und Geweihe orientierte hegerische Zuchtauswahl« (Hiller 2002: 147) wurde so zum Ideal stilisiert, dem Jägerinnen und Jäger, aller sozialen Gruppen nacheiferten, wollten sie sich als weidgerecht verstehen. Die »Aufartung« der Wildbestände durch die Hege wurde in den folgenden Jahrzehnten ein immer zentraleres Motiv, welches unter der nationalsozialistischen Herrschaft zunehmend politisiert wurde. Das Ziel der Jagdkunde, so formulierte es 1934 der Direktor des Instituts für Jagdkunde der Universität Göttingen, sei es, die »wissenschaftlichen Grundlagen für eine Aufartung des deutschen Wildes und für die Haltung und Hege von Wildständen zu liefern […].« (vgl. Spehr 1993: 172). Der Zusatz, dass »Haltung und Hege« auch »mit den Bedürfnissen der Landeskultur, insbesondere der Landwirtschaft und der Forstwirtschaft im Einklang stehen« sollten, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Fokus der Hege-Bemühungen vor allem auf einem zahlreichen Wildbestand und der Produktion von vorzeigbaren Trophäen beruhte. Verpflichtende Geweih- und Gehörnausstellungen, bei denen die Trophäen nach einem eigens hierfür entwickelten Punktesystem bewertet werden, unterstützen den züchterischen Anspruch der Jägerinnen und Jäger gegenüber formal wilden Tieren noch zusätzlich. Was folgte war ein Phänomen, welches Schriewer (2015) mit dem Begriff der »›Überhege’« (ebd.: 132) bezeichnet: »Hege und Weidgerechtigkeit erwiesen sich nach ihrer Verankerung im Reichsjagdgesetz als effektive Grundlage für eine Jagd-

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praxis, mit der trotz steigender Abschusszahlen eine Erhöhung der Schalenwildpopulation zu erreichen war« (ebd.: 129). Dieses Phänomen sollte mit der weidgerechten Jagd auch nach dem Zweiten Weltkrieg verknüpft bleiben. Während sich schon bald abzeichnete, dass diese Form der Jagdausübung nicht ohne Konflikte mit den »Bedürfnissen der Landeskultur« und insbesondere der Forstwirtschaft zu vereinbaren war, boten lokale, regionale und nationale Trophäenausstellungen oder der in diesem jagdlichen Milieu entwickelte, persönliche Ehrgeiz nach vorzeigbaren Trophäen weiterhin Anreize für die Hege der Wildbestände. Befeuert wurde diese Situation auch durch die kleinteilige Revierstruktur. Nach der Demokratisierung des Jagdrechts und seiner Bindung an das Grundeigentum entstanden eine Vielzahl kleiner und kleinster Jagdreviere. Auch die ins Bundesjagdgesetz übernommene Vorgabe einer Mindestgröße von 350 Hektar für ein Revier änderte daran nur wenig – beanspruchen viele Wildarten, darunter auch das Rotwild, oft genug ein Territorium jenseits solcher menschlichen Grenzen und Größenvorgaben. Um also die Tiere möglichst im eigenen Revier zu halten, waren reich bestückte Fütterungen das Mittel der Wahl vieler Jägerinnen und Jäger – ein Problem, welches auch gegenwärtig und trotz weitgehendem Fütterungsverbot gelegentlich noch aktuell ist. Die »Bemerkungen über den Rothirsch« müssen dennoch als der Beginn einer Neuausrichtung der Jagdpraxis verstanden werden, die bis heute – uneinheitlich und mit regionalen Verschiebungen – andauert. Dass ein solcher auf die Hege fokussierter Jagdethos angesichts gravierender Wildschäden gegenüber der nicht-jagenden Bevölkerung nicht mehr zu rechtfertigen sei, ist bis heute auch das Kernargument des Ökologischen Jagdverbandes (ÖJV). Die Jagd dürfe nicht, wie in feudaler Vorzeit, der privilegierte Zeitvertreib einiger Weniger auf Kosten der nicht-jagenden Gesellschaft sein. Stattdessen sollen Jägerinnen und Jäger ihrer ökologischen Verantwortung nachkommen, die eben nicht nur die jagdbare, trophäentragende Fauna betrifft, sondern ebenso die übrige Fauna und Flora einschließt. Mit dieser Forderung formierte sich der ÖJV Ende der 1980er Jahre als Gegenstimme zum DJV. Der ÖJV positioniert sich in seinem Selbstverständnis damit auch gegen die Weidgerechtigkeit, aber auch gegen die Hege, da diese »Begriffe tief in einem traditionellen Jagdverständnis verwurzelt [sind], das die Jagd als Selbstzweck sieht« (oejv.de 2015). Wilhelm Bode und Elisabeth Emmert, die Bundesvorsitzende des ÖJV, fordern in ihrem Buch daher auch titelgebend eine »Jagdwende« vom »Edelhobby« hin zu einem »ökologischen Handwerk« (Bode/Emmert 2000). Das Konzept der Weidgerechtigkeit steht, so die Verfassenden, dieser notwendigen Jagdwende im Weg, da es schon seit seinem Aufkommen nach dem Ersten Weltkrieg »dazu [führte], ökologisch unangepaßte Wildbestände der Cerviden [der Hirschartigen, eig. Anm.] ›waidgerecht‹ zu garantieren« (ebd.: 137). Als nicht mehr zeitgemäß empfindet auch Maylein (2010) die weidgerechte Jagd. Auch er sieht ökologische Notwendigkeiten durch die Weidgerechtigkeit negiert, die in seinen Augen eine

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»›Jagd- oder Jägergerechtigkeit‹ [ist], da sie allein den egoistischen Interessen des Jägers dient, die berechtigten Interessen der Land- und Forstwirtschaft negiert, Erholungssuchende als Störfaktoren bezeichnet und das Jagdrevier als kleinen, abgegrenzten Herrschaftsraum fehlgeleiteter jagdlicher Vorstellungen definiert, in denen der Sieg über die Vernunft in vielen kleinen alltäglichen Handlungen reproduziert wird.« (ebd.: 867) Vor dem Hintergrund solcherlei Kritik an der traditionellen Jagd erklärt sich auch die jagdpolitische Entscheidung im Nationalpark Eifel, sich symbolisch von dem Ideal der Weidgerechtigkeit zu distanzieren. Aller Kritik zum Trotz gehören Weidgerechtigkeit und Hege jedoch bis heute nicht nur zu den gesetzlichen Pflichten der Jäger_innenschaft, sondern sie konstituieren deren Selbstverständnis maßgeblich. Die Kritik an den egoistischen Tendenzen der weidgerechten Jagdpraxis hat jedoch auch dazu geführt hat, dass das Konzept der Weidgerechtigkeit normative Verschiebungen erlebt hat – auch das darf nicht übersehen werden. So heißt es im ersten Paragrafen des Bundesjagdgesetzes zwar zu Hege weiterhin: »Die Hege hat zum Ziel die Erhaltung eines den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepassten artenreichen und gesunden Wildbestandes« – jedoch nun mit dem Zusatz »sowie die Pflege und Sicherung seiner Lebensgrundlagen« (zitiert nach Müller-Schallenberg/Hugenroth 2015: 17). Während das Füttern des Wildes ab den 1970er Jahren von vielerlei gesetzlichen Einschränkungen betroffen ist, hat die Hege mit der Büchse auch heute noch die Aufgabe, kranke und schwache Tiere ›zu entnehmen‹. Argumentativ stützen sich die Jägerinnen und Jäger nun aber nicht mehr auf eine »Aufartung« des Wildbestandes, sondern darauf, ihrer ›ökologisch sinnvollen’’5 Rolle als Prädatoren-Ersatz nachzukommen, um für einen ›angepassten Wildbestand‹ zu sorgen. Die humane Behandlung des Wildes schließt dabei Winterfütterungen in Notzeiten von starkem Frost und hohen Schneelagen dabei genauso ein, wie der möglichst schmerzfreie Tod.

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Ich setze ›ökologisch sinnvoll‹ hier bewusst in Anführungszeichen. Zwar können sich alle Beteiligten, die über den Nutzen der Jagd in Deutschland debattieren, leicht auf diese Formulierung einigen, dass Jagd einen ökologischen Sinn haben soll. Tatsächlich entspricht diese Formulierung aber nur einer Fiktion von Objektivität. Wie ich in Kapitel 2.2 schon ausgeführt habe, definieren die unterschiedlichen Parteien aus Jagd, Forst- und Landwirtschaft und institutionalisiertem Naturschutz sehr unterschiedlich, was genau dieser ökologische Sinn jedoch ist. Sinngemäß gilt das auch für die Formulierung ›angepasster‹ Wildbestand, die insofern ebenfalls irreführend ist. Was hier sprachlich erzeugt wird, ist die Idee eines ökologischen Gleichgewichts, welches durch den (jagenden) Menschen zerstört wurde und nun durch die ›Anpassung‹ der Wildbestände, einer mechanischen Konterbewegung gleich, wiederhergestellt werden kann. Faktisch haben Jägerinnen und Jäger eine ganz andere Vorstellung davon, wann ein Wildbestand »an die landeskulturellen Verhältnisse« ›angepasst‹ ist, als die Forst- oder Landwirtschaft, Naturschutzverbände oder auch die Freizeitgesellschaft.

IV Die Jagenden

Weiterhin gewinnt das Hege-Konzept an neuen Interpretationen dazu, die als Antwort auf die Kritik daran zu verstehen sind. Hege definiert der DJV als »›Erhalt und Pflege‹ von Tierbeständen« und meint damit dezidiert auch die nicht-jagdbaren Tierarten. In den Vordergrund werden »Biotopschutz, Biotopvernetzung und gezielte Schutzmaßnahmen für gefährdete Arten« (jagdverband.de 2018c) gerückt. Es erfolgt eine diskursive Profilierung der Jagenden, die eben nicht nur jagdegoistische Interessen verfolgen, sondern durch ihr jagdliches Engagement vor allem auch für den allgemeinen Naturschutz mit Zeit, Geld und Mühe einstehen – so sieht das gegenwärtige Idealbild der deutschen Jäger_innenschaft aus. Dass dieses Idealbild jagdpolitisch nicht nur intrinsische Motivation aufweist, sondern auch durch externen Druck jagdlicher und nicht-jagdlicher Gruppierungen entstanden ist, ist schwerlich von der Hand zu weisen. Dies soll nicht in Abrede stellen, dass eine Mehrheit der Jägerinnen und Jäger mit ihrer Jagdpraxis tatsächlich einen Beitrag zur ›ökologisch sinnvollen‹ Jagd leisten will – ohne dabei jedoch auf ihre ethischmoralischen Handlungsmaxime, die Weidgerechtigkeit, zu verzichten. Warum die Idee der weidgerechten Jagd weiterhin für viele Jägerinnen und Jäger so populär ist, liegt an der gesamtgesellschaftlichen Situation der Jagd. Die Jagd ist, wie in Kapitel 2.2 schon dargelegt, nicht mehr Privatangelegenheit der Jägerinnen und Jäger. Die »ökologischen« Jägerinnen und Jäger, Land- und Forstwirtschaft, aber auch diverse Naturschutzverbände, die einen Verlust der Biodiversität unter anderem durch zu hohe Wildbestände bemängeln und die der Jagd kritisch gegenüberstehenden Bevölkerungsgruppen – sie alle formen und prägen die Jagd gegenwärtig diskursiv mit. Meist manifestiert sich dies formal in der Rechtslage oder institutionell durch die behördliche Zuständigkeit – so untersteht die Jagd in NRW dem Ministerium für Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz und ist damit schon institutionell mit jenen gesellschaftlichen Bereichen verbunden worden, die im Jagdrevier ihre eigenen Interessen hegen. Die Weidgerechtigkeit und das in ihr integrierte Konzept der Hege wollen viele Jägerinnen und Jäger nicht aufgeben, weil es für sie den schmalen Grad ihres Selbstbildes markiert. Die Weidgerechtigkeit ist als ethisches Konzept die Demarkationslinie, die ihnen erlaubt, sich überhaupt als Jägerin oder Jägern zu verstehen – und nicht als fremdbestimmte Schädlingsbekämpferinnen und -bekämpfer, die bloß töten, statt zu jagen. Diese Selbstbild der weidgerechten Jägerinnen und Jäger ist gleichsam ein Streben nach kollektiver Autonomie und individueller Selbstwirksamkeit.

Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime 28. Februar 2017, Lammersdorf: Ansitz wegen verletztem Hirsch Ich habe mich am Nachmittag mit Hermann für ein Gespräch über die Jagd verabredet. Als ich bei ihm zuhause ankomme, kündigt er an, dass er eigentlich am liebs-

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ten noch in den Wald gehen will. Er möchte sich auf einen Hirsch ansetzen. Zwar haben Rothirsche längst Schonzeit, aber dieses Exemplar scheint stark verletzt zu sein. Kurz darauf sitzen wir in warmer Jagdkleidung im Auto und fahren gegen fünf Uhr nachmittags ins Revier. Es ist noch hell, die Tage werden langsam länger. Obwohl es leicht schneit, ist dies nur noch ein letztes Aufbäumen des Winters. Der Boden ist zu mild, als dass die Flocken liegenblieben und der alte Schnee ist längst weggetaut. Auf der Fahrt erzählt Hermann mir ausführlicher von dem Hirsch. Vor Wochen schon hat Dietmar, der Förster, ihn wegen des Hirsches angerufen. Dietmar hatte das Tier gesehen und bemerkt, dass es stark hinkte und schwankte. Seiner Meinung nach, konnte der Hirsch kaum die nächste Nacht überlebt haben. Er sagte Hermann Bescheid, der als Jagdaufseher die Aufgabe hat, sich um die verletzten Tiere im Revier zu kümmern. Beide Männer suchten am nächsten Tag die Dickungen in der Nähe ab. Aber sie fanden den Hirsch nicht. Klatschnass von den Fichtenzweigen, brachen sie die Suche nach einigen Stunden ab. Das war Ende Januar. Nun ist es schon Ende Februar und der Hirsch wurde immer wieder von Dietmar oder Hermann gesehen. Obwohl er ihn einige Male zu Gesicht bekam, konnte Hermann ihn nie so genau beobachten, als dass er hätte sagen können, welcher Art die Verletzung nun wirklich war. Hermann: »… ich konnte den nie komplett sehen und nie breit sehen. Ich konnte den nur von hinten sehen. Der war total eingefallen. Wahrscheinlich hat der einen Lauf [Bein], der so krank ist… Ich hoffe, dass man den mal ein bisschen deutlicher sieht.« Ich frage nach, was passiert, wenn wir ihn heute sehen würden: »Darf man den dann auch erschießen, auch wenn Schonzeit ist? Wegen des Tierschutzes?« Hermann: »Ja, da muss der aber wirklich so [krank] sein, dass man wirklich im Sinne des Tierschutzes sagen kann: ›Okay, das geht jetzt vor. Du musst dem Tier jetzt diese Qualen ersparen – und das Tier erholt sich auch nicht mehr von diesen Qualen…‹ Das wäre ja eine andere Sache, wenn der nur den Lauf was steif hätte. Das ist zwar ›ne Verletzung, aber da kommt der mit durch. Das ist kein Problem. Aber wenn der was hat, wo man sagen kann: ›Irgendwann kippt der jetzt aufgrund der Verletzung so um, oder quält sich derart, … dass wirklich ein Schuss – selbst in der Schonzeit – ›ne Erlösung für das Tier ist.‹ Das muss man dann eben entscheiden, wenn man den ein bisschen deutlicher sieht. Heute Morgen hatte ich, wo ich den so kurz sah, allerdings den Eindruck [dass man ihn erlegen müsste], weil der konnte ja noch nicht mal weg trollen [wegtraben]… der konnte nur weggehen! Und das sagte der Förster ja auch, als er den gesehen hat. Der sagte: ›Der ist fast bei jedem Schritt zusammengebrochen! Der kann nicht weit kommen. Der liegt bestimmt da oben irgendwo und ist verendet.‹ Ja gut, das war er aber nicht. Das ist ja jetzt drei, dreieinhalb Wochen her…! Und der lebt immer noch. Aber der kann ja nicht umherziehen und äsen [fressen], darum steht der immer an dieser Fütterung. Ich sehe da auch solche dicken Lorbeeren [Kot]. Ich kann mir vorstellen, das ist von dem Hirsch. Die der direkt an der Fütterung fallen lässt… Vielleicht steht der die halbe Nacht da. Der geht gar nicht mehr von der Fütterung

IV Die Jagenden

weg – zumindest mal vierzig, fünfzig Meter, um sich da nieder zu tun und wiederzukäuen. Der bleibt einfach da stehen. Jeder Schritt tut dem wahrscheinlich unendlich weh, ne?« Der Ansitz verläuft jedoch ereignislos. Wir sehen weder den Hirsch noch sonst ein Tier vom Hochsitz aus. Um viertel vor sieben baumen wir ab. Nun ist es schon fast völlig dunkel. Der Hirsch bleibt verschwunden. Hermann hatte ihn nicht gefunden. Was aus ihm geworden ist, bleibt ungewiss – zumal Hermann einige Monate später als Jagdaufseher in ein anderes Revier gewechselt ist. Die hier beschriebene Szene bietet einen guten Einblick in das Selbstverständnis von weidgerechten Jägerinnen und Jäger. Gemäß diesem Selbstverständnis übernehmen Jägerinnen und Jäger Verantwortung für das Leben und das Sterben des Wildes. Dem Ideal des pflichtbewussten Jagdaufsehers folgend, »der in nimmermüdem Einsatz für ›sein‹ Wild sorgt« (Hiller 2002: 92), hatte Hermann viele Stunden seiner meist sehr knappen Zeit damit verbracht, den verletzen Hirsch zu finden. Als bestätigte Jagdaufseherinnen und Jagdaufseher,6 sind Jägerinnen und Jäger in besonderem Maße gesetzlich dazu verpflichtet, sich um verletzte Tiere zu kümmern. Faktisch ist es jedoch schwierig zu überprüfen, ob und inwiefern jemand dieser Pflicht nachkommt, da es für Jagdaufseherinnen und Jagdaufseher keine direkte Kontrollinstanz gibt. In dem von mir gewählten Beispiel hat Hermann auch gegenüber dem Förster keinerlei Verpflichtung, Rechenschaft über seine Bemühungen bei der Suche nach dem Tier abzulegen. Obwohl er also keine formale Sanktion hätte fürchten müssen, macht dieses Beispiel deutlich, dass die Weidgerechtigkeit vor allem an das individuelle Gerechtigkeitsempfinden der oder des Einzelnen geknüpft ist. Um dem gejagten Wild gerecht zu werden, gehört für Hermann und für die meisten anderen Jägerinnen und Jäger mehr dazu, als das Ausüben von Brauchtum und traditionellen Ritualen – sie ist internalisierte Handlungsmaxime für die alltägliche Jagdpraxis. Was als richtige und gute Jagdpraxis empfunden wird, ist dabei zwar ein überindividuelles Ideal, aber nur in den individuellen Praktiken findet es Ausdruck. Auch der Ort, an dem Hermann den kranken Hirsch gesucht hat, verrät einiges über das gegenwärtige Verständnis von Weidgerechtigkeit. Die Fütterung, eine aus Holzbalken errichtete Raufe, in der Heu liegt, versammelt nicht nur das 6

Als bestätigte Jagdaufseherinnen und Jagdaufseher kümmern sich Jäger und Jägerinnen stellvertretend für die Pächterinnen und Pächter, die oft genug nicht in der Nähe ihres Jagdreviers wohnen, um alle Belange, die das Jagdrevier betreffen. Sie müssen bspw. im Fall von Wildunfällen im Straßenverkehr für die Polizei erreichbar sein. Dafür sind sie auch mit bestimmten Rechten versehen, welche jagdpraktisch bedeutsam sind. Um Jagdaufseherin oder Jagdaufseher zu werden, müssen Jägerinnen und Jäger über einige Jahre regelmäßig den Jagdschein gelöst haben, was als Ausweis praktischer Erfahrung dienen soll und zudem einen Kurs besuchen und eine Prüfung ablegen.

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Futter suchende Wild und die Futter herbeischaffenden Jägerinnen und Jäger vor Ort, sondern materialisiert die Ideale und Werte der Jagenden. Wenngleich die Zeit der kalorienreichen Kastanien-, Rüben- und Hafermast nach der Kritik an der »Überhege« durch gesetzliche Verbote vorbei ist, ist die Winterfütterung von Rotwild mit kalorienarmem Heu in einem kurzen Zeitfenster von Januar bis März in Nordrhein-Westfalen gegenwärtig erlaubt. Die meisten Jägerinnen und Jäger befürworten dies auch und würden es als nicht weidgerecht und damit in einem moralischen Sinne verwerflich ansehen, das Wild in ihren Revieren im Winter hungern zu lassen, selbst wenn das der ›natürliche‹ Lauf der Dinge wäre, wie die »ökologische Jagd« argumentiert. Die sich als weidgerecht verstehenden Jägerinnen und Jäger halten dagegen, dass die Fütterung von Rotwild im Winter zu rechtfertigen ist, weil ›der Mensch‹ das ›den Tieren‹ schuldig sei. Weil er sie um ihren natürlichen Lebensraum (im Fall vom Rotwild weitläufige Steppenlandschaften) und ihren natürlichen Lebensrhythmus (Tagaktivität) gebracht habe, müsse er Verantwortung für diese Tiere tragen. Der Grad zwischen Weidgerechtigkeit und »Jagdgerechtigkeit« ist offenkundig schmal – nach welcher Seite das Urteil kippt, hängt auch vom Standpunkt der Betrachtenden ab. Dass sich diese paternalistische Einstellung vor allem auf das jagdlich interessante Wild bezieht, ist ein alter Vorwurf von Kritikerinnen und Kritikern der Weidgerechtigkeit. Es gilt jedoch auch zu bemerken, dass die Situation zwischen Jagenden und Gejagten komplexer ist. Betrachtet man sie aus einer humanimalischen Perspektive, so fällt auf, dass gegenwärtig nicht (nur) die jagdliche Attraktivität ausschlaggebend für die menschliche Fürsorge ist. Vor allem die Lebensweise und die Anpassungsfähigkeit einzelner Arten hat Aufforderungscharakter für diese Fürsorge. Die Hege dient vor allem den hemerophoben Arten, wie Rotwild, während das hemerophile Arten, wie Füchse, Waschbären, Rehe oder Schwarzwild eindrücklich zeigen, dass sie einer solch schützenden Hand nicht bedürfen. Die hemerophilen Arten behaupten ihren Lebensraum in der humanimalischen Lebenswelt des gegenwärtigen Deutschlands sehr gut – oft zum Leidwesen der menschlichen Bevölkerung. Dem Vorwurf, dass von der Hege immer nur die jagdlich interessanten Arten profitieren, steht zudem entgegen, dass auch Reh- und Schwarzwild klassischerweise zu dieser Gruppe zählen, die jedoch in der Regel nicht gefüttert werden. Die Fütterung ist also ein Ort, an dem sich ein wesentlicher Aspekt der weidgerechten Einstellung zum Wild manifestiert: Das individuelle Tier nicht nur als Beute zu betrachten, sondern auch seine Bedürfnisse zu kennen und das Tier als empfindendes leibliches Wesen zu respektieren. Diskursiv ist der Begriff ›Respekt‹ eng mit der Weidgerechtigkeit als ethischer Basis der Jagd verbunden. So soll sich für Gregor in der weidgerechten Jagd der »Respekt vor dem Wild ausdrücken. Gleichzeitig aber auch die verantwortungsvolle Nachhaltigkeit.« Ähnlich formuliert es Herr Leubner, für den sich in der richtig durchführten Jagd »ein uralter Respekt vor der Natur« zeigt. Geschieht es mit »Re-

IV Die Jagenden

spekt und Verantwortung«, ist es für Georg moralisch akzeptabel, als Jäger ein Tier zu töten. Nicht zufällig trägt auch eine bekannte Jagdzeitschrift den Untertitel »Respekt vor dem Wilden« im Namen. Dass dieser Respekt mehr ist als eine abstrakte Idee, zeigt sich daran, dass er sich in verschiedenen Handlungen der Jägerinnen und Jäger verwirklicht. Darunter auch Rituale, wie die eingangs beschriebene Zeremonie des Strecke Legens und Verblasens. Zunächst gibt es keine Notwendigkeit dafür, die toten Tiere nochmals aufzureihen und eigens für sie komponierte Jagdhorn-Signale zu spielen. Diese »Riten als Praktiken sind sich Selbstzweck und finden schon in ihrer Ausführung ihre Erfüllung. Sie sind Akte, die man ausführt, weil ›es sich so gehört’«(Bourdieu 1993: 39). Für die Meisten sind sie keine lästige Pflicht – sie sind Ausdruck einer Überzeugung.

Das weidgerechte Töten Auch den Akt des Tötens können Jägerinnen und Jäger als respektvoll empfinden. Zunächst scheint es ein Widerspruch zu sein, dass im absichtlichen Herbeiführen seines Todes, der Respekt vor einem Lebewesen gewahrt bleiben kann. Für Jägerinnen und Jäger löst sich dieses Paradoxon dann auf, wenn das Wie und das Warum des Tötens bestimmten moralischen Standards entsprechen. So stellt Herr Leubner im Bezug auf eine jagdkritische Öffentlichkeit fest: »Ich glaube, man muss den Leuten auch erst mal klarmachen, dass zwischen Töten und Töten ein Unterschied ist.« Tatsächlich ist der Unterschied zwischen ›bloßem Töten‹ und dem ›weidgerechten Erlegen während der Jagd‹ für Jägerinnen und Jäger fundamental wichtig, um ihre moralische Integrität aufrecht zu erhalten. Die Weidgerechtigkeit ermöglicht ihnen, den Respekt vor dem gejagten Tier auch im Moment von dessen Tötung und darüber hinaus in ihrem Gefühlsleben aufrecht erhalten zu können. Ohne dass diese mit ›Spaß‹ zu verwechseln ist, erklärt sich dadurch auch die positive Gefühlslage von Jägerinnen und Jägern angesichts eines sauber erlegten Tieres. So erzählt Herr Leubner, der von Beruf Lehrer ist, von Unterhaltungen mit seinen Schülerinnen und Schülern. Die wollten von ihm wissen, ob ihm als Jäger das Töten von Tieren Spaß mache. Seine Antwort darauf wiederholt er für mich und sie beschreibt anschaulich, wie diese positiven Emotionen mit dem Jagderfolg verbunden sind: »Ich sage: ›Das ist der falsche Begriff. Ich sitze ja nicht da und schlag‹ mir auf die Schenkel und schreie Hurra!‹ […] [Jagd] ist ja auch ein enormer Aufwand. Wieso betreibe ich den? Weil es mir auch Spaß macht. Nochmal: Das Schießen ist… Jeder Jäger, der sagt ›Das Schießen ist nicht wichtig.‹, der lügt. Natürlich ist das wichtig. Ich will irgendwann Beute machen.« Um diese teils divergierenden Emotionen, die die Jagd mit sich bringt, kanalisieren zu können, reguliert die Weidgerechtigkeit die Umstände des Tötens und konstituiert

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ein jagdliches Selbstverständnis, welches die moralische Integrität der Jagenden bewahren kann. Sie dient insofern auch als lebensweltliche Orientierung. Auch für Hermann ist das Töten eines Tieres nicht das eigentlich Verwerfliche: »[…] Dass wir Tiere töten, um sie für uns zu nutzen – wir dürfen das. Aber das Entwürdigende bei den Tieren – das sehe ich auf der Jagd nicht so. Ein Tier hat draußen ein ganz freies Leben gehabt, das äst friedlich auf der Wiese – in der Regel, wenn du auf dem Ansitz bist. Dann macht’s ›Bumm!‹ und das ist in der Regel schon tot, bevor es hingefallen ist. Das hört in der Regel auch den Knall noch nicht mal mehr! Das ist doch ein ganz anderes Töten, als das, was wir machen mit unserer Massentierhaltung!« Hermann bezieht sich in seiner Aussage auf die Jagd von Hochsitz aus. Hierbei warten die Jagenden darauf, dass das gejagte Tier vor dem Hochsitz erscheint. Tatsächlich ist diese Form der Jagdausübung »die Regel«, denn eine Mehrheit der gejagten Tiere werden auf diese Art erlegt. Sie wird von vielen Jägerinnen und Jägern hochgeschätzt. Zum Einen ist die Ansitzjagd spontan und ohne großen Aufwand durchführbar und zum Anderen ist die Wahrscheinlichkeit, einen sauberen Schuss abzugeben, sehr hoch. Die Jagenden suchen sich einen Hochsitz im Revier aus, von dem sie denken, dass sie dort Erfolg haben könnten und warten dort mit ihrer Waffe ab. Haben die Jagenden alles richtig gemacht und dazu noch 07.September 2018, Hürtgenwald: Ansitz-Woche des Forstamts Georg und ich sitzen in einer Kanzel vor einer lang gezogenen, schmalen, abfallenden Wiese in Mitten eines Fichtenwaldes. In der Breite misst die Grünäsungsfläche vielleicht zwanzig Meter. Sie wird von Fichtenhochwald auf der rechten Seite und Farn und Büschen auf der linken Seite gesäumt. Der Abend dämmert schon mit der Kühle der ersten Septembertage. Da der Himmel klar ist, ist es jedoch noch recht hell. Ein kühler Wind weht uns in die Gesichter, während wir unsere Blicke über die Landschaft, die sich vor uns ausbreitet, gleiten lassen. Wir sitzen schon fast zwei Stunden hier. Dann ist da plötzlich ein dunkler Knubbel, der aus dem Farn und dem Gebüsch auftaucht. Lautlos und in etwa 120 Metern Entfernung steigt Rotwild auf die Grünäsungsfläche. Erst ein Alttier [erwachsenes, weibliches Rotwild] und dann ihr Kalb. Wenn sich eine gute Gelegenheit ergibt, so würde Georg schießen – das hatte er schon bevor die Jagd-Woche begonnen hatte, beschlossen. Sofort halten wir unsere Ferngläser in den Händen und Herzklopfen breitet sich in meiner Brust aus. Es wäre Georgs erstes erlegtes Tier. Die beiden Tiere wandern langsam immer näher auf uns zu. Sie äsen, gehen einige Schritte, bleiben dann wieder äsend stehen. Ab und zu hebt eines von beiden das Haupt und sichert einen Moment lang. Die sich stetig bewegenden Lauscher [Ohren] des Kalbs sehen für die Größe seines Hauptes viel zu groß aus. Es ist nicht halb so groß gewachsen, wie seine Mutter. Sein Fell ist heller als das rostrote Fell der Mutter. Meist

IV Die Jagenden

steht es dicht an deren Seite. Wenn es sich von ihr wegbewegt, so sind es nur wenige Schritte. Auf diese Momente muss Georg warten. Leise hat er das Fernglas beiseitegelegt und sich den Gehörschutz angezogen. Jetzt kommt es darauf an, keinen Fehler zu machen. Keine zu schnelle Bewegung und kein auffälliges Geräusch. Georg nimmt das Gewehr, welches neben ihm in der Ecke gestanden hat, vorsichtig und ohne Eile hoch und legt den Lauf auf den Holzrahmen des Fensters, durch welches wir schauen, auf. Der Gewehrriemen dient als Auflage für den Lauf. Den Schaft zieht Georg feste an seine rechte Schulter heran. Sein Blick geht nun genau durch das Zielfernrohr. Ich lege leise das Fernglas bei Seite und halte mir die Ohren zu, denn ich weiß genau, dass der Schuss fallen wird. Obwohl die Tiere wachsam sind, wähnen sie sich in keiner akuten Gefahr. Auch in unsere Richtung schauen sie nicht auffällig oft. Wenn, dann senken sie den Blick auch bald wieder. Ich kann nicht sagen, ob sie uns bemerkt haben. Aber falls dem so ist, so scheinen wir ihnen keine Angst zu machen. Wir warten. Langsam, aber stetig ziehen die Tiere noch näher zu uns. Ich sehe, wie Georg seinen Blick aus dem Zielfernrohr nimmt und tief ein- und ausatmet. Er wartet einen Augenblick lang ab, beobachtet die Tiere mit bloßem Auge. Erst dann senkt er seinen Oberkörper wieder hinter das Gewehr. Die Tiere stehen nun keine hundert Meter mehr von uns entfernt. Georg drückt den Abzugbügel mit zwei Fingern nach vorne und sticht so die Waffe ein. Der letzte Handgriff bevor der Schuss fallen könnte. Die Tiere äsen noch immer, bewegen sich voneinander weg und wieder aufeinander zu. Dann steht das Kalb breit vor uns. Der Bruchteil einer Sekunde und dann der Schuss. Das Kalb fällt – eindeutig getroffen – und springt dann noch ein Mal, zwei Mal, auf. Georg repetiert durch. Die Mutter des Kalbs ist mit wenigen Sprüngen in den Tiefen des Gebüschs verschwunden. Noch immer bleibt Georgs Blick im Zielfernrohr. Sein Körper ist angespannt, bereit, ein zweites Mal zu schießen, sollte das Kalb wider Erwarten wieder aufspringen. Doch das Kalb ist tot. Georgs Körperhaltung entspannt sich sichtlich, sein Blick taucht hinter dem Zielfernrohr auf. »Das liegt.«, sagt er, in seiner Stimme eine Mischung aus Anspannung und Erleichterung. »Das liegt.«, bestätige ich.

Wenn die Jagenden sich richtig verhalten, wissen die gejagten Tiere nicht, dass sie in diesem Moment Gejagte sind. Sie verhalten sich ruhig und bewegen sich eher langsam, so dass die Jagenden sie beobachten können. Während die Jägerinnen und Jäger die Tiere beobachten, wägen sie ab, ob sie schießen werden. In der oben beschriebenen Szene spielte eine Rolle, dass der Förster Georg bestimmte Tiere freigegeben hatte. Sowohl das Alttier als auch das Kalb wären frei gewesen. Weidgerecht ist in dieser Situation aber nur der Schuss auf das Kalb, denn die Mutter des Kalbs kann auch ohne ihr Kalb überleben, während das umgekehrt nicht der Fall ist. Ebenfalls entspricht es der Weidgerechtigkeit, solange mit dem Schuss abzuwarten, bis das Tier gut steht. Erst als Georg sicher war, hat er die Waffe angelegt und im richtigen Moment abgedrückt – als das Tier gut sichtbar vor ihm stand und das

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Geschoss sicher ins Leben ging [in den Brustkorb, wo es Herz und Lunge sofort zerreißt]. Das Ansprechen und der schmerzfreie Tod durch einen sauberen Schuss sind für viele Jägerinnen und Jäger die praktischen Entsprechungen des Respekts vor dem Leben eines Tieres, welcher noch dessen Sterben prägt. Anschließend hat Georg dem toten Tier einen kleinen Fichtenzweig in den Äser [Maul] gelegt. Während ich das Auto geholt habe, blieb er noch eine Weile neben dem toten Tier hocken. Wir haben beide unsere Jagdhörner dabei und verblasen das Kalb gemeinsam. Dann noch ein kurzer Moment des Innehaltens, bevor wir das langsam auskühlende tote Tier in den Kofferraum des Autos gelegt haben und zum Aufbrechen Richtung Forsthaus gefahren sind. Das erste erlegte Tier ist für Jungjägerinnen und Jungjäger in gewisser Weise eine Initiation. Zwar ist man mit der bestandenen Jagd-Prüfung offiziell Jägerin oder Jäger, aber wirklich als Jägerin oder Jäger fühlen sich viele erst nach diesem Erlebnis. Nun müssen sie sich als weidgerecht beweisen, um in der Gruppe der etablierten Jägerinnen und Jäger aufgenommen zu werden. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass die Bedeutung des sauberen Schusses sich beim ersten Schuss auf ein Tier kulminiert. Schon vor ihrem jeweils ersten Schuss bestätigen Georg und KP, dass sie »tierischen Respekt« davor haben. Georg fügt hinzu: »Und ich glaube auch, dass mich das auch Überwindung kosten wird, überhaupt abzudrücken. Und dass ich dann auch eine ganze Zeit – bis die Truhe wieder leer ist – genug habe.« Neben KP und Georg, haben unter anderem auch Elke und Philippe mit mir zusammen den Jagdschein gemacht. Beide treffe ich wieder, nachdem sie ihr erstes Tier erlegt haben. Elke erzählt mir, welche Bedenke sie vom ersten Schuss hatte: »Meine Horror-Vision war, dass ich beim ersten Schuss treffe, aber nicht richtig. Also, dass ich ein Tier nur verletzte. Und da habe ich immer gesagt: Wenn mir das passiert, dann höre ich auf. Das hätte ich auch getan. Jetzt war es eben so: Das lag direkt, bumm. Das ist dann wo ich sage: Damit kannst du leben. Das ist auch in Ordnung. Aber wenn ich jetzt ein Tier nur krank geschossen hätte? Das würde mich schon ziemlich belasten.« Auch Philippe hatte kurz nach Erhalt des Jagdscheins im Revier seines Vaters die Gelegenheit, sein erstes Tier – einen Rehbock – zu erlegen. Ich frage ihn, ob er in diesem Moment auch überlegte habe, nicht zu schießen. Philippe: »Ne. In dem Moment war da kein Denken dran. Das war… Wir wussten, dass er [der Rehbock] da ist. Wir wussten, dass zu viele [Rehe] da sind. Das war einfach nur: Mach es vernünftig. Guck, dass das Tier keine Qual hat.« Philippe sieht sein jagdliches Tun auch deshalb als weidgerecht an, weil er vor dem Schuss die gesamte Situation im Revier seines Vaters berücksichtigt hat. Der Bestand an Rehwild war dort stabil und so suchte er das »Böckchen« aus, »weil es

IV Die Jagenden

kein Anspruch auf ein Territorium hatte, weil es einfach zu schwach war.« Philippe argumentiert für sein jagdliches Selbstverständnis gemäß dem gegenwärtig verhandelten Ideal der weidgerechten Jagenden, die auch Prädatoren-Ersatz sind. Weidgerechtigkeit bedeutet für ihn daher auch, dafür zu sorgen, dass es nicht zu viele Rehe in diesem Revier gibt. Mit dem selektiven Abschuss verhindert er, dass die saisonal einzelgängerisch lebenden Rehe sozialen Stress bekommen, weil ihre Territorien zu klein werden – oder, weil sie sich, wie im Fall des Rehbocks, kein eigenes Territorium erkämpfen können. In diesem Sinne argumentieren Jägerinnen und Jäger mit der Weidgerechtigkeit nicht nur für das Wohl eines einzelnen Tieres, sondern auch für das Wohlergehen des Bestandes einer Tierart und das ›ökologische Gleichgewicht‹. Und doch ist für die Weidgerechtigkeit charakteristisch, dass sie sich als Handlungsmaxime auf das einzelne, individuelle Tier bezieht. Seine Fähigkeit Leiden zu können bedingen das Wie seines Todes. So definiert es auch Gregor für sich: »Es ist für mich eine weidmännische Sache, das Tier mit möglichst wenig Schmerzen zu erlegen. Und wie gesagt: Da kommt es nicht auf ein Kilo Fleisch an, das ich eventuell kaputt schieße.«

Konklusion: Über das gegenwärtige Verständnis von weidgerechter Jagd Als Handlungsmaxime bezieht sich die Weidgerechtigkeit also zunächst auf die gejagten Tiere. Auch wenn die Leidensfähigkeit der gejagten Tiere nicht von Anfang an in gleichem Maße die Jagdpraxis beeinflusste, so wurde in den Jahren nach 1848/1849 der Grundstein für jene spezifische Jagdmentalität gelegt, aus der sich das gegenwärtige Verständnis von ›guter Jagd‹ entwickeln konnte. Eine starke Affektkontrolle und Selbstdisziplin sind bis heute gültige Normen und Werte, die einer genuin adeligen Tradition entstammen, für welche die Jagd keine wirtschaftliche Notwendigkeit war. Dieser wirtschaftliche Luxus eröffnete Spielräume für die humanimalische Beziehung von Jagenden und Gejagten. Bis heute prägt die Weidgerechtigkeit in diesem Sinne als ethisch-moralische Maxime die Haltung, mit der die Jägerinnen und Jäger dem Wild begegnen: Sie verstehen es als lebendiges Wesen, welches dem jagenden Menschen in seiner Leiblichkeit nicht unähnlich ist. Für die weidgerecht Jagenden stellt dieser Umstand eine Aufforderung dar, der sie auf verschiedene Weise nachkommen. Obwohl es sich um formal herrenlose Tiere handelt, fühlen sich weidgerechte Jägerinnen und Jäger verantwortlich für das Wild. Mit der im vorherigen Kapitel beschriebenen Nachsuche, der Fütterung in Notzeiten und dem sauberen Schuss habe ich Beispiele dafür gegeben, wie diese Verantwortung aussehen kann. Diese Beispiele zeigen auch, dass die gegenwärtige Konzeption von Weidgerechtigkeit in unterschiedlichen Graden formal geregelt ist: Die Nachsuche und der saubere Schuss sind als Handlungsmaxime auch durch das Tierschutzgesetz gedeckt. Eine Zuwiderhandlung verletzt nicht nur die Weidgerechtigkeit als Ehrenkodex, sondern auch die juristischen Pflichten der Jägerinnen

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und Jäger. Die Fütterung von bestimmten Wildarten in sogenannten Notzeiten ist ein Beispiel dafür, wie das Jagdrecht eine traditionelle Auffassung von Weidgerechtigkeit auch einschränkt – in diesem Fall zu Gunsten einer Bestandsregulation. Mit dem rituellen Brauchtum beleuchte ich einen weniger formalen Aspekt der Weidgerechtigkeit, der für das jagdliche Selbstverständnis vieler weidgerechter Jägerinnen und Jäger aber ebenso zentral ist. Das Ritual des Strecke Legens und Verblasens am Ende einer Jagd ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Durch das Kreieren einer bestimmten feierlichen Atmosphäre haben die Jagenden die Möglichkeit, den Respekt gegenüber dem gejagten Individuum intersubjektiv erfahrbar zum Ausdruck zu bringen. Die jagdlichen Rituale sind, wie alle Rituale, »sinnreiche Mittel zur Mobilisierung, Kanalisierung und Kontrolle starker Emotionen« (Turner 2005: 47). Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass Jägerinnen und Jäger mit ihrem Tun »den Tod [bringen]« (Ortega y Gasset 1985: 59) und »besonders der absichtlich herbeigeführte, der Totschlag, immer etwas Schreckenerregendes [ist]« (ebd.), besteht ein Bedarf an solchen rituellen Mitteln, diesem Tun etwas von seinem Schrecken zu nehmen. So gehört »[z]um guten Jäger […] eine Unruhe im Gewissen angesichts des Todes, den er dem bezaubernden Tier bringt. Er hat keine letzte und gefestigte Sicherheit, daß sein Verhalten richtig ist. Aber, man verstehe dies richtig, er ist auch des Gegenteils nicht sicher« (Ortega y Gasset 1985: 61). Die Fokussierung der weidgerechten Jagd auf ihre Rituale, ihr Brauchtum, ihre Normen und Werte sind der erfolgversprechendste Weg, diese Sicherheit, dass das jagdliche Töten im Rahmen des moralisch Erlaubten liegt, herzustellen. Aller Kritik zum Trotz ist die Weidgerechtigkeit daher nach wie vor das identitätsstiftende Element einer Mehrheit der deutschen Jägerinnen und Jäger. Im nächsten Kapitel möchte ich ausführlicher auf die emische Bedeutungszuschreibung durch die Jägerinnen und Jäger eingehen. Ich werde aufzeigen, wie das Konzept der Weidgerechtigkeit diskursiv verhandelt wird und das jagdliche Selbstverständnis als »strukturierende Struktur« (Bourdieu 1993: 98-99) prägt. In diesem Sinne ist die Weidgerechtigkeit in der Lage, einen bestimmten Habitus auszuformen. Der Habitus der weidgerechten Jägerinnen und Jäger dient den Jagenden dazu, sich intern von jenen »schwarzen Schafen« abzugrenzen, aber auch dazu, sich gegen Kritik an ihrer Jagdpraxis zu schützen. Wie zentral die Weidgerechtigkeit als lebensweltliche Orientierung ist, werde ich abschließend am Beispiel von Krisen-Zeiten analysieren.

4.2

Weidgerechtigkeit als jagdliches Selbstverständnis: Habitus, Distinktion und ein paar »schwarze Schafe«

Während ich die Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime vor allem gegenüber dem gejagten Tier beleuchtet habe, wende ich mich nun ihrem spezifisch sozialen As-

IV Die Jagenden

pekt zu. In diesem Kapitel beschäftige ich mich mit der Frage nach dem jagdlichen Selbstverständnis – wie also Jägerinnen und Jäger sich als solche selbst verstehen und verstanden wissen wollen. Das jagdliche Selbstverständnis korreliert in diesem Sinne mit der Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime. Dies bedeutet, die soziale Gruppe der Jäger und Jägerinnen und ihre diskursive Annäherung an die Weidgerechtigkeit näher zu beleuchten. Als eine spezifische Form von Gerechtigkeit hängt das Konzept nicht nur von juristischem Recht ab. Als »Ehrenkodex« (Schriewer 2015: 139; Dahles 1990: 257) entscheidet vor allem das konkrete Empfinden der einzelnen Jägerinnen und Jäger darüber, wie sie der Jagd als einer humanimalischen Praxis gerecht werden. Weil dieses Empfinden wenig einheitlich ist, erlaubt das Konzept Weidgerechtigkeit interne Distinktion. Als etabliertes Werte- und Normengefüge wirkt es dagegen nach Außen zugleich einheitsstiftend. Es ist ein wichtiges Werkzeug für Jägerinnen und Jäger, sich argumentativ gegen Angriffe auf ihre Jagdpraxis zur Wehr zu setzen (vgl. Schriewer 2015: 141). Während sich auch innerhalb der Jäger_innenschaft Widerstand gegen die konventionelle, weidgerechte Jagd zugunsten einer ›ökologischen Jagd‹ formiert, wird die Jagd von Teilen der mehrheitlich nicht-jagenden Gesellschaft oftmals noch kritischer gesehen. Radikale Jagdgegnerinnen und -gegner fordern sogar ein völliges Verbot der Jagd (vgl. hierzu bspw. peta.de 2016; animalliberationfront.de 2008). Trotz aller Kritik bleibt die Weidgerechtigkeit ein bedeutsamer Aspekt des jagdlichen Selbstverständnisses einer Mehrheit der Jägerinnen und Jäger, weil sie – wie im vorherigen Kapitel gezeigt – darauf ausgelegt ist, das Bedürfnis der Jägerinnen und Jäger zu befriedigen, ihr jagdliches Tun rituell und ideologisch abzusichern. In diesem Kapitel werde ich auch auf die Grenzen der Weidgerechtigkeit eingehen. Wenngleich die Weidgerechtigkeit im Bezug auf den Tierschutz und die Jagdmethoden formal geregelt ist, so setzen Jägerinnen und Jäger durch ihre Jagdpraxis auch Vorstellungen von Weidgerechtigkeit um, die weniger formal geregelt sind. Weiterhin wird das Verständnis dessen, was weidgerecht ist, immer auch durch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, Normen und Wertvorstellungen geprägt, die Jäger und Jägerinnen für ihr jagdliches Selbstverständnis aufgreifen. Ihre individuelle und kollektive Jagdpraxis ist insofern das Korrelativ einer prozesshaften Figuration (Elias 1997: 70) von Weidgerechtigkeit. Beginnen möchte ich diese Analyse über das distinktive Potential der Weidgerechtigkeit als jagdlichem Selbstverständnis mit einem Blick in die Wohnzimmer der Jagenden. Dort habe ich mit ihnen über ihr jagdliches Selbstverständnis gesprochen. Ihre Motivation, warum sie Jägerin oder Jäger geworden sind und wie sie sich als solche verstehen, ist untrennbar mit bestimmten weidgerechten Idealen und Werten verbunden. Auf einige dieser normativen und ideellen Aspekte werde ich im Folgenden exemplarisch eingehen, um sie anschließend auf einer über-individuellen Ebene zu analysieren. Über Weidgerechtigkeit als ethisch-moralischen Konzept zu sprechen, scheint einem sich an konkreten Phänomenen orientierenden phänomenologisch-praxeo-

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logischen Anspruch zunächst zu widersprechen. Jedoch trägt diese Perspektive zu einem besseren Verständnis der Jagd als humanimalischer Praxis bei. Wie erwähnt sind es eben jene spezifisch menschlichen Ideale und Vorstellungen, welche die humanimalische Jagd wohl am deutlichsten prägen. Dazu gehört auch, dass es sich hierbei nicht um überzeitliche Werte und Ideale handelt, sondern diese werden diskursiv verhandelt und sind veränderlich. Gerade die Gespräche, die ich als Ethnologin und Jungjägerin – und damit als (noch) nicht etabliertes Mitglied der Gruppe – mit den Jägerinnen und Jägern während meiner Feldforschung geführt habe, gestalteten sich insofern als sehr fruchtbar, weil sie Anlass und Plattform boten, aus der persönlichen Perspektive weidgerechtes gegenüber nicht-weidgerechtem Verhalten abzugrenzen. Diese Gespräche waren also wichtiger Teil der diskursiven Aushandlung dessen, was gegenwärtig als ›gute‹ Jagdpraxis anerkannt wird. Umso interessanter ist diese Analyse, weil sie zeigt, wie das Verständnis von Weidgerechtigkeit auch von gesamtgesellschaftlichen Normen und Werten beeinflusst wird. Am Beispiel des Fleischkonsums werde ich darauf exemplarisch eingehen. Die folgende Analyse soll daher auch zeigen, wie sich die Normen und Ideale der weidgerechten Jagd an bestimmte, nicht genuin jagdliche Normen und Werte anpassen. Ich werde daher untersuchen, welche alten und neuen Ideale unter dem Begriff Weidgerechtigkeit heute verhandelt werden und inwiefern sich hier ein Prozess vollzogen hat. In einem letzten Schritt werde ich zeigen, dass und wie die Weidgerechtigkeit nicht nur distinguierend, sondern auch einheitsstiftend wirkt. Obwohl es teils sehr verschieden ausgelegt wird, ist das Konzept in der Lage, den Jägerinnen und Jägern lebensweltliche Orientierung zu verschaffen.

In den Wohnzimmern: Das weidgerechte Selbstbild Nicht nur durch die Unterhaltungen präsentierten die Jägerinnen und Jäger mir ihr jagdliches Selbstverständnis. Traf ich mich mit ihnen in ihrem Zuhause, was bis auf wenige Ausnahmen die Regel war, so lernte ich auch die Dinge kennen, welche dieses Zuhause ausmachten. »[D]ie meisten Gegenstände«, so schreibt Daniel Miller, »[befinden sich] nicht zufällig hier, sondern weil sie in irgendeiner Beziehung zu dem Bewohner des Haushalts stehen.« (2012: 11) Diese Feststellung trifft auf die Haushalte von Jägerinnen und Jägern in gleichem Maße zu, wie auf jeden anderen Haushalt. Ohne dass ich meine Forschung darauf konzentrieren möchte, drängten sich die Jagd und das jagdliche Selbstverständnis oftmals auch in ihrer materiellen, gegenständlichen Form geradezu auf. »Es ist das Haus mit dem Geweih über dem Eingang«, lautete das oft gehörte Ende einer Wegbeschreibung, wenn ich jemanden zum ersten Mal besuchte. In den Wohnungen waren es Bücher, Bilder, Fotografien, der Jägerbrief [jenes Dokument, welches mit der bestandenen Prüfung überreicht wird] und nicht zuletzt Jagdtrophäen, die zu einem übergeordneten Muster, zu einer ästhetischen Ordnung der Dinge beitrugen (vgl. Mil-

IV Die Jagenden

ler 2012: 219). Hundekörbchen, eingezäunte Gärten oder Ausläufe, sowie Futterund Wasserschalen zeugten von den vierbeinigen Mitgliedern des Haushalts. Während einige Dinge meist in Schränken versteckt blieben, wie Waffen und Munition oder die Jagdkleidung, gab es andere Gegenstände, die geradezu präsentiert wurden. Besonders auf Trophäen traf dies oft genug zu. Während die Hauswand von Hermanns Fachwerkhaus außen von Hirschgeweihen geziert wurde, die teils noch von seinem Vater stammten, wachte in seiner Küche stets der präparierte Kopf eines Springbocks über uns. Neben exotischen Trophäen reihten sich Rehbock- und Schwarzwild-Trophäen an anderen Wänden aneinander. Bei Hermann und Herrn Leubner zeugten diese von langjähriger jagdlicher Praxis. Aber auch von ihrem Selbstverständnis als weidgerechte Jäger. Die Trophäen blieben als gegenständliches Andenken und Wertschätzung des gejagten Tieres erhalten. Bei anderen war es vielmehr das völlige Fehlen dieser Trophäen, welches sich mir aufdrängte. Wie bei Heike und Andreas, so fehlten auch bei Gregor die »Staubfänger« (Gregor) und »die Knochen an der Wand« (Heike und Andreas). Aber auch trotz ihrer Abwesenheit wusste man sich in einem jagdlichen Haushalt verortet. Jägerbrief und Fotografien, Dokumente der Hundeprüfung und des beruflichen Werdegangs, wie der Hirschfänger [langes, Schwert-ähnliches Messer], der fertig ausgebildeten Berufsjägern überreicht wird, stellten ebenfalls eine Ordnung her, die gleichermaßen in der Lage war, das jagdliche Selbstbild dieser Jägerinnen und Jäger zu materialisieren. Fehlte in ihren Wohnungen jene sentimentale Symbolik, so traf dies in gewisser Weise auch auf ihre Jagdpraxis zu: Heike mochte zwar das gesellschaftliche Beisammensein der Bewegungsjagden und auch Einladungen zu Ansitzjagden nahm sie an. Was die Jagd aber wirklich für sie ausmachte, war die Arbeit mit ihrem Hund – sei es im Treiben oder auf der Nachsuche. Heike gehörte auch zu den Menschen, denen es sichtlich wenig ausmachte, sich auf der Jagd auch mal schmutzig zu machen. Worauf es Heike bei einer ›guten‹ Jagdpraxis und damit bei der Weidgerechtigkeit ankam, waren weniger bestimmte Konventionen, sondern das Ergebnis der jagdlichen Aktivität. Wenngleich er sie schätzte, war die Teilnahme an der Abschlusszeremonie nach Gesellschaftsjagden für Andreas weniger wichtig als die ausstehenden Nachsuchen. Für ihn bestanden die Nachmittage nach den Jagden darum daraus, im Sinne der Weidgerechtigkeit und im schnell schwindenden Licht nach verletzten Tieren zu suchen. Ohnehin war seine Einstellung zur Jagd – wohl schon aus beruflichen Gründen – von einer gewissen Sachlichkeit geprägt. Wie auch bei Heike war die Jagdkleidung Arbeitskleidung. Das Gewehr war nicht verschnörkelt und verziert, sondern schlicht und praktisch. Das stilistische Statement lautete Pragmatismus. Auch das jagdliche Selbstbild von Gregor – laut eigener Aussage ganz und gar der Rationalität und der Naturwissenschaft verpflichtet – hatte in seiner Wohnung keinen Platz für Trophäen zur Zierde gelassen. Jagdtrophäen waren keine Erinnerungsstücke für ihn, sondern Ausdruck eines oft genug irrational anmutenden Kultes, dem er mit wissenschaftlichen Erklärungen entgegen

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zu treten suchte. Die Präsenz oder das Fehlen von Dingen bot Gesprächseinstiege – und mehr noch: Sie waren in der Lage das jagdliche Selbstverständnis der Bewohnerinnen und Bewohner widerzuspiegeln. So divers und individuell die Wohnungen eingerichtet waren, so divers und individuell waren auch die Biografien und die Ansichten dieser Bewohnerinnen und Bewohner. Und doch erzählten die Dinge auf unterschiedliche Weise immer auch die Geschichte einer Zugehörigkeit zur Gruppe der Jägerinnen und Jäger.

Abbildung 11: Verschiedene Jagdtrophäen.

»Die Jagd gehört in die Mitte der Gesellschaft.«, sagt Gregor zu mir. Dass sie dort auch angekommen ist, zeigt ihm auch die soziale Zusammensetzung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Jagd-Kurse der Kreisjägerschaft Aachen. »Alles kommt darin vor. Der Handwerker genau wie der Straßenfeger, sag ich jetzt mal. Und der Professor genau wie … der Landwirt.« Tatsächlich zeichnete sich auch der Jagd-Kurs, an dem ich teilgenommen habe, durch Heterogenität aus. Diese Heterogenität spiegelt sich in den normativen Bewertungen der Jägerinnen und Jäger wider. Was ›gute‹ oder ›schlechte‹ Jagdpraxis ist, beurteilen Jägerinnen und Jäger ihrem Habitus entsprechend teils sehr unterschiedlich. Der Habitus ist daher die »Inkorporierung der Struktur des sozialen Raumes« (Bourdieu 1987: 285). Die habituellen Werturteile spiegeln die Erfahrungen einer Person, die sich in diesem sozialen Raum verorten muss, wider. Diese Werturteile bringen explizit und implizit ein Klassifikationssystem hervor, welches gleichsam »die Grundlage der den immanenten Regelmäßigkeiten einer Soziallage angepassten Praxisformen dar[stellt]« (Bourdieu 1987: 258). Die Jagdausübung ist von solchen habituellen Werturteilen ebenso betroffen, wie andere Praktiken, welche Raum für Distinktion bieten. Insofern bestätigen die internen Distinktionsbestrebungen der Jägerinnen und Jäger Gregors Eindruck von einer sozial durchmischten Jäger_innenschaft.

IV Die Jagenden

Rechtlich betrachtet, dürfen sich alle Jagdscheininhaberinnen und -inhaber, welche durch ihre Jagdausübung kein geltendes Recht verletzen, als weidgerecht verstehen. Von dieser juristisch-puristischen Definition grenzen sich solche Jägerinnen und Jäger ab, die durch ihren Habitus eine engere Definition von Weidgerechtigkeit verkörpern. Ein bestimmter Kleidungsstil, die Wertschätzung diverser Bräuche und Traditionen, sowie der Gebrauch der Sprache sind hier distinguierend. Die Weidgerechtigkeit als Ehrenkodex können Jägerinnen und Jäger also verletzen, ohne dass sie dabei das Recht übertreten müssten (vgl. hierzu Dahles 1990: 257). Ein bestimmtes, sehr stark auf Tradition und Brauchtum fokussiertes Verständnis von Weidgerechtigkeit verteidigen seine Vertreterinnen und Vertreter damit, dass zur ›guten‹ Jagd-Praxis nicht nur das korrekt durchgeführte Handwerk, wie der saubere Schuss, gehört, sondern auch ein angemessener Stil. Sie betonen, mit der Jagd keine Barbarei zu betreiben (vgl. Theilemann 2004: 106) und kultivieren die Jagdausübung hin zu einer stärkeren Affektkontrolle (Elias 1997). Dazu gehört zum Beispiel der Gebrauch der jagdlichen Sprache. Diese Spezialsprache7 verfügt nicht nur über bestimmte technical terms, sondern sie unterscheidet sich auch durch zahlreiche veränderte Wortbedeutungen von der deutschen Alltagssprache. Dazu kommt, dass die jagdliche Sprache eine deutlich euphemistische Tendenz hat – vor allem, aber nicht nur, im Bezug auf das Töten von Tieren (vgl. Dahles 1990: 254). Nicht alle Jägerinnen und Jäger verwenden diese jagdliche Sprache in gleichem Maße. Wer sie in der Gesellschaft mit anderen Jägerinnen und Jägern ohne Zögern und fehlerfrei verwendet, distanziert sich von all jenen, die (noch) nicht über die »Kompetenz des Kenners« (Bourdieu 1987: 121) verfügen. Traditionen und Bräuche sind für diese Jägerinnen und Jäger mehr als das »›Drum und Dran‹ der Jagd […] und der ritualisierten Waidgerechtigkeit« (Maylein 2010: 762), sondern machen die Jagd erst zur Jagd. Mit Elke und Martina habe ich zwei Jägerinnen gefunden, welche den Jagdschein gemacht haben, um »ein bisschen mehr von der Natur [kennenzulernen]« (Martina). Nach ihrer Motivation ge-

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Da es sich um eine Spezialsprache handelt, vereinfacht die Jägersprache unter anderem die Kommunikation der Jagenden, da sie häufig bestimmte, für die Jagd relevante Sachverhalte präziser auszudrücken vermag, als es die deutsche Alltagssprache könnte. So finden sich zahlreiche technical terms, die eben jenen Zweck erfüllen. Für Jägerinnen und Jäger ist es einfacher vom Absehen [visuelle Hilfe zur Zielerfassung im Zielfernrohr], einem Wechsel [von Tieren häufig genutzter Weg] oder einem Sprung [Verbund mehrerer Rehe] zu sprechen. Daneben gibt es auch genügend Beispiele für Worte, die als Ersatz für bereits bestehende Begriffe dienen. Diese sind teils sehr euphemistisch und in der Tat geeignet »Abschreckendes zu verhüllen« (von Eggeling 1988: 70) – jedenfalls rein sprachlich. So töten Jägerinnen und Jäger nicht – sie erlegen ein Tier, strecken es oder fangen es ab. Anstatt von Blut, sprechen sie von Schweiß und von Losung, statt von Kot. Auch die sprachliche Objektivierung, nicht von einem Tier, sondern von einem Stück zu sprechen, dürfte schon in der Lage sein, das Misstrauen nicht-jagender Menschen hervorzurufen.

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fragt, warum sie den Jagdschein gemacht hat, antwortet Elke ähnlich: »Zum Einen ist es sicherlich die Natur und ich liebe Tiere.« Jedoch betonen beide, dass ihnen auch »das gesellige Beisammen-Sein« (Elke) und der »«gesellschaftliche Aspekt« (Martina) der Jagd wichtig sind. Ich frage Martina, was sie damit genau meint. »Einfach, dass es auch was mit Gesellschaft, mit [dem] entsprechenden Verhalten zu tun hat und jetzt nicht zu, zu plump oder zu… Das sollte schon alles mit Niveau stattfinden und mit einem schönen Abschluss dann. Und wie du sagst, mit dem Verblasen der Strecke oder… So ein bisschen traditionelle Werte sollten halt schon hochgehalten werden – das finde ich [ist] schon ein Aspekt. Dass man nicht nur auf die Jagd geht um der Jagd Willen – wie die Bauern früher: Nur damit sie die Schweine aus ihren Feldern kriegen in ihrer Eigenjagd oder so was…« Auch für Elke ist die Gesellschaft, in der sie sich befindet, wichtig. Sie erzählt mir von einem Jagdtag, den sie sehr genossen hat. Dort hat sie nicht nur ihr erstes Tier erlegt, sondern sie hat dort vor allem auch die Atmosphäre sehr geschätzt. Sie erklärt, warum: »Nun macht der M. das auch sehr feierlich. Strecke legen war jetzt zwar nicht – für ein Tierchen legt man ja keine Strecke –, aber es bekam den letzten Bissen und es wurde auch verblasen und du kriegst dann auch den [Erleger-]Bruch. Also, das ist schon alles… Ich sage mal, mit dem erlegten Wild gehen die sorgsam um. Das wird nicht über den Boden geschleift, [der] Kopf knallt gegen einen Stein… Das gibt es da nicht. Das wäre auch nicht meins. Also, bei dem ist das noch sehr traditionsreich und der legt da auch Wert drauf. Wenn du eine Jagdeinladung kriegst, da steht dann auch: Wir machen das traditionell – also bitte nicht mit irgendwelchen Camouflage-Dingern kommen, sondern ziehen Sie sich bitte entsprechend an. Wir machen das traditionell.« Gemäß dem Selbstverständnis dieser Jagdgesellschaft bezieht sich der »sorgsame« Umgang bei Weitem nicht nur auf das erlegte Wild. Auch für das angemessene Erscheinungsbild der Jagdgesellschaft hat der Gastgeber gemäß seines inkorporierten Habitus Sorge getragen. Mit den »Camouflage-Dingern« spielt er auf ein bestimmtes Tarnmuster an, welches in den letzten Jahren bei einigen Jägerinnen und Jägern in Deutschland populär geworden ist. Das Muster lehnt sich entweder an bestimmte militärische Tarnfleckmuster an, oder stellt ein realistisch aussehendes Ast- oder Schilfgewirr (real tree camouflage) dar. Wenngleich diese Kleidung zum Zweck der besseren Tarnung für die Jagd sinnvoll sein kann, so ist die soziale Wirkung solcher Muster jedoch bei einigen Jägerinnen und Jägern umstritten, verleiht sie ihren Trägerinnen und Trägern doch all zu leicht ein »kriegerisches Aussehen« (vgl. Bertram 2016: 13). Der Kommentar in der Einladung lässt erkennen, dass es nicht ein Kleidungsstück ist, welches hier zur Debatte steht, sondern der »›socially

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informed body‹ that is structured according to socially inscribed patterns of sense and taste« (Throop/Murphy 2002: 188). Es geht hier um mehr als nur darum, eine optische Distinktion von anderen Jagenden zu vollziehen. Es gehört für diese Gruppe Jägerinnen und Jäger schlicht zu ihrem jagdlichen Selbstverständnis dazu, angemessen gekleidet zu sein. So leisten sie einen Beitrag zu der Atmosphäre, die Elke und Martina als »feierlich« oder »mit Niveau« beschrieben haben. Nicht alle Jägerinnen und Jäger legen so viel Wert auf einen bestimmten Kleidungsstil oder das Einhalten aller mit der Jagd verbundenen Traditionen und Bräuche. Auch wenn die meisten Jägerinnen und Jäger sich auf bestimmte Aspekte des traditionalen Verhaltens einigen können, wie das bereits angeführte Ritual des Strecke Legens und Verblasens zeigt, so variiert die Vorstellung dessen, wie die weidgerechte Jagd umgesetzt wird, graduell. Im Bezug auf die Kleidung gibt es daher auch zahlreiche Jägerinnen und Jäger, die durchaus nichts Anstößiges an CamouflageMustern finden können und sich dennoch selbstverständlich als weidgerecht bezeichnen würden. Für sie stehen in der Regel andere Aspekte im Vordergrund ihres weidgerechten Selbstverständnisses, wie ein handwerkliches Geschick beim Aufbrechen, Erfahrung bei der Nachsuche oder Schießfertigkeiten. Die »vielgestaltigen Selbstkonstruktionsofferten« (Theilemann 2004: 101), welche Jagdkleidung aufgreifen und umsetzten kann – irgendwo zwischen »›lodengrünem Unterhosenträger‹ [sic!] und ›realtree-neonpinkem Jagd-Yuppi’« (Bartl 2016: 14) – können zwar innerhalb der Gemeinschaft der Jagenden kritisiert werden, jedoch bewegen sie sich noch innerhalb der ›Reviergrenzen‹ der Weidgerechtigkeit. Gleiches gilt für den Sprachgebrauch oder das genaue Einhalten von Traditionen und Bräuchen. Eine deutlich harsche Abgrenzung findet dort statt, wo diese Grenzen verletzt werden. Zum Einen bemühen sich die weidgerechten Jägerinnen und Jäger um eine ideologische Abgrenzung von der »ökologischen« Jagd, zum Anderen wollen sie nicht mit den »schwarzen Schafen« in Verbindung gebracht werden. Die Abgrenzung von der »ökologischen« Jagd bezieht sich vor allem darauf, dass sich die weidgerechten Jägerinnen und Jäger nicht bloß darauf reduzieren lassen wollen, »Schädlingsbekämpfer« im Wald zu sein, deren Aufgabe mit dem Abschuss ›überzähliger‹ Tiere erledigt ist. Sie distanzieren sich von der Ideologie einer zweckrationalen Jagd durch Ausführung und betonte Wertschätzung ihres Brauchtums. Jenes Spott-Gedicht über die Jagdpolitik des Ökologischen Jagdverbandes (ÖJV), welches in den Sozialen Medien kursiert, trifft den Kern der Abgrenzungsbemühungen seitens der weidgerechten Jägerinnen und Jäger von der »ökologischen« Jagd wohl deutlicher als eine wortreiche Analyse: »Kein Rehwild zieht am Waldesrain. Die Amseln warnen nur zum Schein. Die Mücken ziehen ihre Runden, sie haben noch kein Tier gefunden.

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Kein Ast der unter Schalen bricht, denn tote Stücke wechseln nicht. Vom Bock, der schöpfte an der Quelle, nur eine graue Fegestelle. Vom Damwild, was hier zahlreich war, ist nicht ein einziges mehr da. Vom Rotwild, was hier zog im Wald, ist lang der letzte Tritt verhallt. Still ruht der Teich im Mondesschein, denn an der Suhle ist kein Schwein. Im Schilf – im Bruch auch keine Sau, ich weiß ich bin beim ÖJV.« (Verfasser/Verfasserin unbekannt)

Während aber die »ökologischen« Jägerinnen und Jäger immerhin als Jägerinnen und Jäger anerkannt werden, weil sie einer bestimmten, wenn auch als falsch angesehenen, ethisch-moralischen Überzeugung folgen, werden die »schwarzen Schafe« gar nicht als Jägerinnen und Jäger im eigentlichen Sinn betrachtet. In der Wahrnehmung der weidgerechten Jägerinnen und Jäger scheinen sie keiner irgendwie gestalteten Moral zu folgen.

»Schwarze Schafe« Warum eine solche Abgrenzung notwendig ist, erklärt Hermann mir im Bezug auf die öffentliche Diskussion um die Jagd. In seiner Dienstzeit als Polizist ist Hermann auch einigen jagdlichen Vergehen in der Eifel nachgegangen und versteht, woher das teils sehr kritische Bild der Öffentlichkeit gegenüber der Jagd kommt. Dennoch resümiert er: »[…] Aber ich kenne genauso viele vernünftige, anständige Jäger, die ein gutes Jägerhandwerk durchführen, [die] für die Natur da sind… Aber nur die ›schwarzen Schafe‹ werden bekannt!« Diese Argumentation, dass die meisten Jägerinnen und Jäger ›anständig‹ Jagen und die »Verstöße […] mit den ›schwarzen Schafen‹ erklärt [werden], die es nun einmal überall gebe« (Schriewer 2015: 141), war auch während meiner Feldforschung ein gängiger Topos. Eine Abgrenzung zu zweifelhaften Gestalten ist auch Herrn Leubner wichtig. Als ich ihn und seinen Sohn Philippe zu Hause besuche, erzählt er mir, dass er solche »schwarzen Schafe« durchaus auch schon kennengelernt hat und mit ihnen in Konflikte geriet. Tanja: »Um was drehen sich diese Konflikte? Wenn man das konkretisieren möchte?« Herr Leubner: »Das geht sich zum Beispiel darum, dass gegen Schonzeitverbote verstoßen wird. Das geht sich darum, dass gegen Nachtjagdverbote verstoßen wird. Das

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geht sich auch darum, dass mit enormem Fütterungsaufwand Wild geschossen wird. Das geht sich darum, dass auch außerhalb der Jagdzeiten geschossen wird.« Tanja: »Also alles Dinge, die Sie auch schon erlebt haben?« Herr Leubner: »Alles Dinge, die ich auch erlebt habe – wo ich auch sage: ›Leute, wir brauchen Regeln! Wenn sich aber keiner mehr daran hält, werden sie absurd.‹ Also eine Gesellschaft lebt davon, dass sie sich insgesamt – also die Mehrheit – an Regeln hält. Nämlich, eine Gesellschaft, in der sich keiner mehr an Regeln hält, die bricht auseinander. Da ist die Jägerschaft genauso betroffen, wie jede andere soziale Gruppe. Also, ich halte die Einhaltung von Regeln – obwohl man sich über die ein oder andere Gesetzgebung wundern kann – halte ich die Einhaltung von Regeln für enorm wichtig. Sonst funktioniert das System nicht mehr. Wenn wir hier alle mit den Flinten herumlaufen, auf alles ballern, was kommt, was ist das für eine Jagd? Und dann finde ich auch, dass die Wertschätzung dieses Lebens, was man da auslöscht… Wie soll ich sagen?… den Bach runter geht.« Auch von sogenannten »Trophäen-Jägerinnen« und »Trophäen-Jägern« grenzt sich Herr Leubner ab. Obwohl er, wie viele andere Jägerinnen und Jäger, die Trophäen von erlegtem Wild als Erinnerungsstücke durchaus zu schätzen weiß. Der Unterschied, so macht er am Beispiel der Schwarzwildjagd deutlich, liegt in der Motivation, auf die Jagd zu gehen. Herr Leubner beansprucht für seine Jagdpraxis, dass sie vor allem ökologisch sinnvoll sein soll. Diese Einstellung zur Jagd und das damit einhergehende Selbstverständnis als Jäger materialisiert sich an seiner TrophäenWand. Dort finden sich auf braunen Holzplatten auch einige Keiler-Waffen [die oberen und unteren Eckzähne männlicher Wildschweine]. Herr Leubner: »Das sind Überläuferkeiler [einjährige männliche Wildschweine] bis auf einen, das ist oben der zweite [Er zeigt auf die Trophäen-Wand und deutet auf vier Zähne, die größer sind, als der Rest.], das ist ein erwachsener Keiler. Und ich habe an die siebzig Sauen geschossen. Das sind alles Frischlinge gewesen. Die, die man wirklich sinnvollerweise wegschießt. Aber ich habe da eigentlich auch gar kein Interesse dran, dass da ein großer Keiler liegt. Wenn es mal passieren sollte, sage ich nicht Nein. Dass ich aber alles andere stehen und liegen lasse, um nur auf dicke Keiler zu gehen…?« [Er lässt diese rhetorische Frage unbeantwortet im Raum stehen.] Herr Leubner verwirklicht eine Jagdpraxis, die der moralischen Vorstellung der Weidgerechtigkeit entspricht und von Selbstbeherrschung und Affektkontrolle geleitet wird. Auch sein Sohn Philippe jagt nach dieser Handlungsmaxime und distanziert sich von den »schwarzen Schafen« – besonders von den sogenannten »Schießern«. Ihnen wird nachgesagt, nur auf die Jagd zu gehen, um ›zum Schuss‹ zu kommen und über ein wenig affektkontrolliertes Verhalten zu verfügen. Philippe entrüstet sich über solche Jagdpraktiken: »Wenn es raschelt, direkt die Waffe

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hochzunehmen? Das kann ich nicht verstehen.« Sehr drastisch grenzt sich auch Elke von den Jagdpraktiken solcher »Schießer« ab. »Ein guter Jäger ist für mich nicht jemand, der alles abballert, was ihm vor die Schnütz kommt! Das, denke ich, hat mit Jagd auch nichts zu tun.« Ich frage Elke, was sie über diese Menschen denkt. Elke: »Im weitesten Sinne Tiermörder.« In diesem Sinne betont auch Martina, dass für sie ›auf der Jagd sein‹ mehr bedeutet, als der erfolgreiche Schuss. Sie stellt ihr jagdliches Selbstverständnis dem Verhalten der »schwarzen Schafe« gegenüber. »Auf jeden Fall geht es mir nicht darum, einfach auf irgendwas drauf zu schießen. Ich wäre da jetzt auch nicht enttäuscht, wenn ich vom Ansitz komme und habe dann nichts geschossen. Andere werden dann so ein bisschen nervös – das kenne ich auch aus dem Bekanntenkreis. Dann ist der Abend auch nicht gut verlaufen, wenn die gar nichts bekommen haben. Und dann wird am Ende eventuell noch auf irgendwas drauf geschossen – das würde ich also nicht tun. Ich sehe das lieber so: Ich weiß, dass das von der Natur ist. Dass das nicht wie im Lehrbuch ist. Und wenn das Stück [Tier] eben nicht kommt oder nicht gut steht, dann lässt man es eben.« Nicht nur die erfahrenen Jägerinnen und Jäger, die mit jenen fragwürdigen Praktiken der »schwarzen Schafe« in Kontakt gekommen waren, distanzierten sich deutlich von ihnen. Auch Jungjägerinnen und Jungjäger8 wie Georg, Martina, Elke und Philippe betonten ein Selbstbild, welches möglichst weit von diesen Personen angesiedelt war. Der Nutzen einer solch einstimmig vorgetragenen Abgrenzung liegt offenkundig darin, die moralische Integrität der eignen communitas (Turner 2005) zu stärken. Turner stellt die communitas der Sozialstruktur gegenüber, da sie »den ganzen Menschen [betrifft], der in Beziehung mit anderen ganzen Menschen steht. Struktur andererseits hat keine kognitive Qualität […]« (Turner 2005: 124) – und auch keine ethisch-moralische möchte ich hinzufügen. Besonders während des Vollzugs von Ritualen, wie dem Strecke Legen und Verblasen zeigen sich die kognitiven Qualitäten der communitas der weidgerechten Jägerinnen und Jäger ebenso, wie

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Es pricht natürlich viel dafür, dass gerade Jungjägerinnen und Jungjäger, die sich mit bestandener Jagdprüfung erst in der Gruppe der etablierten weidgerechten Jägerinnen und Jäger beweisen müssen, Wert auf eine solche Selbstdarstellung legen. Je erfahrener und vor allem anerkannter die Jägerin oder der Jäger in der Gruppe war, desto eher erlaubten sie sich mir gegenüber auch Eingeständnisse, dass auch sie schon mal einen sprichwörtlichen »Bock geschossen« hatten.

IV Die Jagenden

die ethisch-moralischen: Hier wird als Gruppe ein Ziel verfolgt, nämlich eine Atmosphäre zu kreieren, welche dem individuellen Gefühl von Respekt und Achtung gegenüber dem gejagten Tier Ausdruck verleiht. Aber »[w]ie in der Gestaltpsychologie Figur und Grund einander bedingen« (ebd.), so bedingen sich auch weidgerechte Jagd und »schwarze Schafe«. Die »schwarzen Schafe« lassen die eigenen weidgerechten Werte und Normen ungleich deutlicher hervor scheinen. Die zahlreichen Geschichten über sie sind die Kontrastfolie des eigenen jagdlichen Selbstverständnisses – und Mahnung zugleich.

Distinktionsbestrebungen jenseits der Jagdreviere: Wildfleisch Die Abgrenzungsbestrebungen der weidgerechten Jägerinnen und Jäger verlaufen jedoch nicht nur in Richtung »ökologischer« Jagd und »schwarze Schafe«. Auch gegenüber der nicht-jagenden Gesellschaft findet eine bewusste Distinktion statt, wobei hier vor allem Aspekte eine Rolle spielen, welche den weidgerecht Jagenden auch jenseits der Gruppen der Jägerinnen und Jäger zu symbolischem Kapital verhelfen. Schriewer geht davon aus, dass Jägerinnen und Jäger besonders im Kontakt mit nicht-jagenden Personen oft automatisch eine defensive Haltung einnehmen, »weil sie eine weitverbreitete Ablehnung wahrnehmen« (2015: 140). Tatsächlich entspricht diese Reaktion auch dem, was ich häufig erlebt habe. Weil der Angriff manchmal die beste Verteidigung zu sein scheint, werfen Jägerinnen und Jäger vielen nicht-jagenden Menschen, die sich kritisch zur Jagd positionieren, gerne Naivität im Bezug auf eine ›sich selbst regulierende »Natur«› und oft genug einen »missverstandenen Tierschutzgedanken« (Schriewer 2015: 140) vor. Dabei wird dieser Diskurs eingehegt von gesamtgesellschaftlichen Wertvorstellungen und Normen, die wiederum Anteil an der Weidgerechtigkeit als Figuration haben. Besonders im Bezug auf den Konsum von Fleisch spitzt sich diese Kritik zu, weshalb ich dieses Beispiel auswähle, um aufzuzeigen, dass und wie die weidgerechte Haltung den Jagenden als Distinktionsmerkmal Orientierung bietet. Ich habe schon erläutert, dass die weidgerechte Jagd den Jägerinnen und Jägern erlaubt, den Respekt vor dem gejagten Tier als empfindsamem Lebewesen sogar im Akt des Tötens aufrecht erhalten zu können. Insofern die Weidgerechtigkeit das Wie – nämlich der saubere Schuss – und das Warum des Todes regelt, ist es für die Jägerinnen und Jäger unproblematisch. Mit Simon unterhalte ich mich über sein jagdliches Selbstverständnis und das Warum des Tötens. Simon weist auf zwei Merkmale hin, die so oder so ähnlich auch von vielen anderen Jägerinnen und Jägern erwähnt wurden: »Ja, ich sag auch immer: Das mache ich ja jetzt auch nicht aus dem Grund ›Joa, ich schieße das jetzt.‹, sondern ich sehe das ja auch immer… Zum Beispiel Fuchs. Da gibt es so viele von… Da geht es ja auch dann wirklich um das Regulieren. […] Und ja. Ich

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denke dann so und dann ist das in Ordnung. Bei dem anderen Wild sage ich halt: Besseres Fleisch kannste nicht haben. Wenn du Bio haben willst, dann ist das 100 Prozent Bio!« Neben dem ökologischen ›Gleichgewicht‹ misst Simon auch dem Wildfleisch als Produkt seiner jagdlichen Aktivitäten einen hohen Stellenwert bei.9 Das Wildbret [Wildfleisch] – wenigstens der essbaren Tiere – zu konsumieren, ist in gewisser Weise die stringente Weiterführung der Weidgerechtigkeit als inkorporierter ethisch-moralischer Handlungsmaxime. Dabei ist der Weg vom Leben zum Lebensmittel lang. Nun möchte ich jedoch mit dem fertigen Endprodukt beginnen – dem zum Lebensmittel verarbeiteten Fleisch. Dieses spielte für Georg eine Rolle, als er beschloss, den Jagdschein zu machen. »Ich finde es also absolut mies, dass wir in den Supermarkt gehen und ein Kilo Gehacktes für 3,99 Euro kaufen können. Das kann nicht funktionieren… Weder von der Qualität des Fleisches, wie auch im Umgang mit dem Tier. Und wenn man dann selber sein Essen schießen muss, dann reduziert man wahrscheinlich auch seinen Fleischkonsum, was eh Not tut – in meinen Augen – und man hat eine bessere Qualität. Das war also der Ansatz bei mir. Aber nicht hauptsächlich wegen des Schießens, sondern das Naturerleben können, das tiefe Einblick haben.« Neben dem ökologischen Nutzen der Jagd und dem stillen Naturgenuss, argumentieren heute viele Jägerinnen und Jäger auch mit der Fleischproduktion. KP findet ebenfalls, dass die Jagd »eine viel ehrlichere Sache« sei, wenn es um das Lebensmittel Fleisch gehe. Als ich KP im Jagdkurs kennenlernte, ernährte er sich aus ethischer Überzeugung vorwiegend vegetarisch. Jedoch sagte er von Anfang an, dass der Verzicht auf Fleisch nicht für »selbst Geschossenes« gelte, denn eigentlich esse er gerne Fleisch. Weil er die industrielle Fleischproduktion jedoch nicht unterstützen wolle, habe er damit vor einigen Jahren aufgehört. KP erzählt im Gespräch mit Georg und mir von einem Erlebnis, welches für ihn wesentlich dazu beitrug, den Jagdschein zu machen. Ein guter Freund, der Jäger war, hatte ihn mit auf die Jagd genommen. »Jetzt war das ein schöner Wintertag im November, es hatte auch geschneit, und da hatte er direkt auch zwei Überläufer [einjährige Wildschweine] geschossen. Und dann waren die halt tot und wir zwei mussten dann… in medias res. Ich habe dann natürlich 9

Einen ähnlichen Stellenwert hat auch der Pelz einiger Tiere, wie der Füchse oder der Waschbären. Im Verlauf werde ich jedoch ausschließlich auf den Aspekt des Wildfleisches eingehen. Dieser spielt für die Jagenden selber eine größere Rolle, da in der Eifel mehr essbare Arten gejagt werden, als pelztragende.

IV Die Jagenden

auch geholfen und dann hat es bei mir halt irgendwo auch ›klick‹ gemacht. Dann habe ich für mich halt gedacht: Das ist eine ganz tolle Art – Wie du es auch siehst, Georg! – Tiere zu erlegen. Die haben da nichts gemerkt. Die sind einfach gelaufen, waren in ihrer Rotte, es hat zwei Mal geknallt und dann hat es [das Wildschwein] auch nicht mal mehr gequiekt – das eine hat ein bisschen gequiekt, das andere überhaupt nicht – dann lagen die beiden da. Saubere Schüsse. Und dann habe ich mir gedacht: Mensch, wenn du so für dein eigenes Fleisch verantwortlich bist, dann kannst du es auch irgendwo wieder essen.«

Auch Gregor schätzt das Wildfleisch sehr – jedoch nicht nur aufgrund seiner persönlichen ethisch-moralischen Einstellung. Er findet vor allem naturwissenschaftlich-objektivistische Gründe dafür, das Fleisch von dem Wild, welches er gejagt hat, wertzuschätzen. So urteilt er: »[…] dass die Jagd ein Lebensmittel hervorbringt, das eben in seiner physiologischen Zusammensetzung und seiner Wertigkeit, ich möchte sagen, von nichts Anderem übertroffen wird« und führt das auf die vielfältige Nahrungskomposition zurück, die wilde Tiere zu sich nehmen. Jägerinnen und Jäger betonen gerne, selbst für ihren Fleischkonsum verantwortlich zu sein. In ihrem jagdlichen Selbstverständnis bringen weidgerechte Jägerinnen und Jäger dem Lebensmittel Fleisch dadurch in der Regel eine besondere Achtsamkeit entgegen. »Nachhaltigkeit« und der »bewusste Umgang mit Lebensmitteln« sind dabei die Stichworte eines Zeitgeistes, der – argumentativ – auch die Jäger_innenschaft erreicht hat. So stellt Alexander Schwab in seiner Streitschrift für die traditionelle Jagd fest, dass »der bodenständige Braten […] sozusagen das edle Weidwerk bürgerlicher Prägung [erdet]« (2018: 36) und möchte die »Verwertung, gekoppelt mit dem Konzept der nachhaltigen Nutzung« (Schwab 2018: 36) im Vordergrund der Jagdausübung verstanden wissen. Gegenüber der nicht-jagenden Gesellschaft gewinnt die »soziale Identität« der Jagenden durch das Narrativ des ›selbst produzierten Fleisches‹ an Kontur und bestätigt sich in Differenz (vgl. Bourdieu 1987: 279) zu all jenen, die ihren Fleischkonsum aus den potentiell moralisch zweifelhaften Quellen industrieller Massentierhaltung beziehen. Aber auch in der Binnenperspektive der Jäger_innenschaft beinhaltet diese Wertschätzung eine Steigerung des sozialen Prestiges und hilft dabei, sich als weidgerecht verstehen zu können. Der Respekt vor dem wilden Tier wird damit nicht nur auf das lebende Individuum und seinen Tod bezogen, sondern lässt sich – im Falle der essbaren Arten – auch über dessen Tod ausdehnen. Die Wertschätzung des Fleisches drückt für viele Jägerinnen und Jäger ebenso den Respekt vor dem ausgelöschten Leben aus, wie es die rituellen Zeremonien tun. Jägerinnen und Jäger, die das Fleisch verludern [verkommen] lassen, disqualifizieren sich dagegen als »Schießer«, denen es um nichts als das Töten oder die Trophäe geht.

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Am Beispiel des Wildbrets zeigt sich auch, dass die Weidgerechtigkeit ein Normen- und Wertegestell ist, welches einem historisch-gesellschaftlichen Wandel unterliegt. Während bestimmte Werte und Normen an Akzeptanz verlieren, gewinnen andere Aspekte an Bedeutung dazu – so auch die Jagd zur Lebensmittelproduktion. Der Fleischgewinn war für die adelige Jagd und zu Beginn der bürgerlichen Jagdtradition kein adäquates Motiv, im Gegenteil. Gerade in der Zeit nach 1848/49 als die Jagd für eine Vielzahl von Jägerinnen und Jägern aus unterschiedlichen sozialen Herkünften geöffnet war, galt »der plebejische »unweidmännische Jäger« (»pot hunter«), dem es nur um das Fleisch zu tun war, allgemein als gesellschaftlich und moralisch minderwertig im Vergleich zu dem schneidigeren, sportlichen Jäger, der aus Vergnügen tötet und nicht aus vulgärer Notwendigkeit« (Cartmill 1993: 281). Eine ähnliche Einschätzung jener zeitgemäßen Jagdkultur findet sich in Konrad Eilers »Philosophie des Weidwerks« (1904). Jene Jägerinnen und Jäger, die des Wildbrets wegen jagten, betrieben die Jagd »als eine zweifelhaft legitimierte, nichtprofessionelle ›Fleischmacherei‹ […], die nichts mit dem ›hehren‹ Weidwerk gemein hatte« (Hiller 2002: 89). Ein stärkerer Kontrast zur heutigen Situation ist schlecht vorstellbar, wobei sich eine solche Veränderung nur in einer entsprechenden gesellschaftlichen Situation vollziehen kann. Nur dann, wenn die Nahrungsmittelproduktion und insbesondere die Fleischproduktion weitestgehend durch Industrialisierung gesichert ist, hat der Konsum von Fleisch oder der Verzicht darauf jenes Distinktionspotential entwickeln können, wie es gegenwärtig zu beobachten ist. Die Art und Weise sich zu ernähren, ist für eine Mehrheit nicht mehr von Zwängen, sondern von vielfältigen Wahlmöglichkeiten geprägt und gleicht damit einem inkorporierten Glaubensbekenntnis. Vor allem die steigende Zahl an Vegetarierinnen und Vegetariern, beziehungsweise Veganerinnen und Veganern (vgl. vebu.de 2017) zeigt, dass – wie auch in KPs Fall – vor allem der Verzicht auf Fleisch eine Antwort auf das Phänomen »ein Kilo Gehacktes für 3,99 Euro« ist, welches offenkundig von vielen Menschen als Problem bewertet wird. Im Lichte dieser Entwicklung kann auch der Konsum von Wildfleisch eine Steigerung des kulturellen und sozialen Kapitals sein, von dem vor allem Jägerinnen und Jäger profitieren. Darauf deutet auch folgender Auszug aus dem Editorial der Zeitschrift Rheinisch-Westfälischer Jäger hin, deren Herausgeber der Landesjagdverband NRW ist: »Die seit Jahren immer intensiver geführte Debatte um konventionelle Tierhaltung in Deutschland kann uns Jägern ungemein nutzen. Denn die meisten Menschen sind keine Vegetarier oder gar Veganer. Sie schätzen ein gutes Stück Fleisch auf dem Teller. Aber sie hinterfragen zunehmend, woher ihr Essen kommt und sind bereit, Geld für Qualität zu investieren. Genau an dieser Stelle können wir Jäger erheblich punkten und Akzeptanz für das Waidwerk schaffen. […] Deshalb muss sich jeder von uns wieder viel mehr als Wildbret- oder als Pelzjäger verste-

IV Die Jagenden

hen. Keine Sorge – wir können uns weiter an Rehgehörnen, Hirschgeweih, Keilergewaff oder Gamskrucken erfreuen. […] Wir werden in Zukunft in einer immer städtischer geprägten Gesellschaft nur dann weiter jagen können, wenn wir glaubhaft vermitteln können, dass wir das sauber tun. Das heißt, indem wir jede Kreatur ehren, sie tierschutzgerecht und schmerzlos erlegen – und danach möglichst vollständig verwerten. Wenn wir also im besten Sinne waidgerecht jagen.« (Höltmann 2019: 3) Wie gut sich das Wildbret als Werbeträger für die Jagd eignet, zeigt sich auch daran, dass am Gebäude des Forstamts in Hürtgen ein zur Hauptstraße gerichtetes Plakat hängt, welches ein Reh in einem frühlingsgrünen Wald zeigt. Auf dem unteren Rand des Plakats befindet sich ein Schriftzug, der lautet: »Weil man Freiheit einfach schmeckt.« Das Plakat wirbt dafür, dass man im Forstamt Wildfleisch kaufen kann, aber es zeigt auch eindrücklich wie vielseitig die Jagd Leben und Tod betrifft. Das Fleisch eines Lebewesens, welches durch die eigene Hand den Tod fand, zum Lebensmittel zu machen und dieses zu konsumieren, ist dabei wohl die konsequenteste Vereinigung beider Pole. Dass bestimmte Eigenschaften des gejagten Tieres durch den Akt des Tötens auf die Jägerinnen und Jäger übergehen sollen, ist kein unbekanntes Phänomen in der ethnologischen Forschung. Auch Dahles leitet aus dieser Tatsache ab, dass die niederländischen Jägerinnen und Jäger die Attribute Kraft und Stärke an ihren Beutetieren besonders wertschätzen, weil sie durch den Akt des Tötens gleichermaßen den menschlichen Erlegerinnen und Erlegern zuteilwerden (vgl. Dahles 1990: 253). Mit besonderer Signifikanz lässt sich dieses Phänomen auch beim Konsum von Wildfleisch erkennen: Mit einer beachtlichen Übereinstimmung priesen viele Jägerinnen und Jäger weniger den Geschmack des Fleisches, als vielmehr seine Herkunft. »100 Prozent Bio«, so beschrieb nicht nur Simon das Fleisch. Die eng mit ›Natur‹ und ›Natürlichkeit‹ assoziierte Herkunft des Fleisches, seine ›Reinheit‹, kurz seine strukturelle Opposition zur Künstlichkeit der industriellen Massentierhaltung mit ihrem durch FleischSkandale und Medikamenten-Einsatz als ›unrein‹ empfundenen Fleisch liegt auf der Hand. Durch den Konsum von Wildfleisch können Jägerinnen und Jäger diese ›Reinheit‹ im wörtlichen Sinne inkorporieren. Dass Jägerinnen und Jäger Wildfleisch als gesund und damit ›rein‹ erklären, reiht sich ein in die universale Tradition kultureller Nahrungsklassifikationen. Jägerinnen und Jäger in Deutschland gehen nicht alleine des Fleisches wegen auf die Jagd. Aber die Wertschätzung, die sie dem Produkt Wildfleisch entgegenbringen, ist dennoch mehr als eine Image-Kampagne. Sie ist Teil ihres Verständnisses von Weidgerechtigkeit und damit Teil ihres Selbstbildes als guter Jäger, beziehungsweise gute Jägerin. Der bewusste Konsum von Wildbret ist auch deshalb ein so bedeutsamer Teil dieses Selbstverständnisses, weil er noch auf einen anderen wichtigen Aspekt bezogen ist. Während es nach 1848/1849 für die etablierten

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weidgerechten Jägerinnen und Jäger wichtig war, nicht aus ökologischer oder wirtschaftlicher Notwendigkeit, sondern »aus Vergnügen« (Cartmill 1993: 281) Tiere zu jagen, hat sich dies heute in das Gegenteil verkehrt. Etabliert und weidgerecht sind diejenigen, die nicht zum Spaß auf Tiere schießen. Insofern verwundert es auch nicht, dass Jägerinnen und Jäger sogar auf Distanz zu älteren Konzeptionen von Weidgerechtigkeit gehen. Mit der Weidgerechtigkeit sind auch bestimmte Verhaltensregeln für die Jagenden gemeint. Darunter fallen auch solche, die regeln, wann ›gute‹ Jägerinnen und Jäger schießen dürfen. Gegenwärtig ist das der Fall, wenn ein sauberer Schuss möglich ist. Dagegen gibt es ältere Regeln für die Schussabgabe, die ebenfalls im Namen der Weidgerechtigkeit aufgestellt wurden, bei denen der unmittelbare Tod des gejagten Tieres nicht im Fokus steht. Solche Regeln entstehen vor allem dort, wo die Jagd als Sport bewertet wird. Für die niederländischen Jagdtradition analysiert Dahles, dass auch dort ähnliche selbst auferlegte Regeln nur dem einen Zweck dienen: »to delay the killing and heighten the attraction of shooting« (Dahles 1993: 180). Ebenso ist die britische Fuchsjagd bestimmten Regeln unterworfen, deren Ziel es ist, »to create the challenges that are fundamental for hunting to be a sporting activity« (Marvin 2005: 17). Beide Jagdtraditionen erkennen die sportlichen Aspekte der Jagdausübung an und betonen sie durch solche Regeln. Obwohl die sportlichen Motive für die deutsche Jagdtradition tatsächlich immer schon weit weniger wichtig waren, als in diesen Ländern (vgl. Schwab 2018: 36), hat der »schneidigere, sportliche Jäger« (Cartmill 1993: 281) auch hier eine gewisse Tradition. Er bildete die – meist adelige oder großbürgerliche – Gegenfigur zu all jenen, die aus wirtschaftlicher Notwendigkeit auf die Jagd gingen. Er konnte es sich leisten, seinen Jagderfolg dem sportlichen Ehrgeiz unterzuordnen und betrachtete es als unzivilisiert, des Fleisches wegen auf die Jagd zu gehen. Die Jagd als Sport verstanden, verlangt nach Regeln, die einen ›fairen Wettkampf‹ erlauben. Dem gejagten Tier muss eine irgendwie geartete Chancengleichheit gelassen werden, so dass die technologische Überlegenheit der menschlichen Jagenden der Gegenwart kompensiert wird und die Jagd spannend bleibt. So bekennen sich einige Jägerinnen und Jäger zu solchen Regeln. Für sie gilt es bspw. als nicht weidgerecht, auf einen Infanteristen [einen am Boden sitzenden Fasan] zu schießen, sei dieser doch »unsportlich leicht zu treffen« (Syskowski 2016: 11). Dieses sportliche Verständnis der Jagd wird jedoch von Jägerinnen und Jägern zunehmend in Frage gestellt. Gregor grenzt sein jagdliches Selbstverständnis deutlich gegen ein solches Verständnis der Jagd ab, da es mit seiner Vorstellung von Weidgerechtigkeit nicht vereinbar ist. Er kritisiert, dass »Weidgerechtigkeit oft in manchen Jägeraugen auch mit Fairness verwechselt [wird].« Darin sieht Gregor eine Widersprüchlichkeit.

IV Die Jagenden

»Es kann für mich nicht fair sein, dass bspw. gesagt wird, man schießt nicht auf einen Infanteristen, sprich auf einen Fasan, der am Boden sitzt. Ich frage mich, was soll der Quatsch? Wenn dieses Tier dadurch mit einem sauberen Schuss erlöst worden ist, dann ist das für mich weidgerecht. Dann ist das, ohne dass es den Schuss gehört hat, zu Tode gekommen. Dann zu sagen: ›Der muss erst fliegen, damit der noch eine Chance hat.‹ Ja, was soll das mit dieser Chance? Das ist für mich Quatsch. Ich will das Tier erlegen. Wenn das Tier eine Chance haben soll, dann brauche ich ja nicht zu schießen. Da schieße ich überhaupt nicht.«

Das Befolgen von Regeln, die einzig der Spannungserzeugung dienen, hält Gregor für nicht weidgerecht: »Das hat für mich nichts mit Jagd zu tun…! Das ist Sportschießen! Das ist verwerflich bis zum Geht-nicht-mehr, das auf eine lebende Kreatur zu machen!« Die Jagd möchte Gregor nicht als Sport verstanden wissen, weil für ihn dadurch weder das Wie noch das Warum des Tötens gerechtfertigt sind. Damit teilt er die Meinung vieler Jägerinnen und Jäger, welche sich deutlich davon distanzieren, »zum Spaß« auf Tiere zu schießen. Dem setzen sie ein jagdliches Selbstbild entgegen, welches die als notwendig angesehene Kontrolle des Wildbestandes ebenso betont, wie den Wert des Wildfleisches. Auch wenn »die Kontrolle des Wildbestandes noch nie ein entscheidendes Motiv für die Jagd war« und »Jäger […] nicht widerwillig aus reinem Pflichtgefühl durch die Wälder [stapfen]« (Rösener 2004: 376), so hat der hedonistisch motivierte, »sportliche[] Jäger, der aus Vergnügen tötet und nicht aus vulgärer Notwendigkeit« (Cartmill 1993: 281) als jagdliches Ideal spätestens seit den 1970er Jahren ausgedient. Der viel zitierte »ökologische Nutzen« der Jagd kann daher – ebenso wie der hervorgehobene Konsum von Wildfleisch – als Ausdruck einer Entwicklung des Konzepts Weidgerechtigkeit verstanden werden. Diese Figuration des Konzepts Weidgerechtigkeit verlief dabei gemäß der zunehmend kritischen Infragestellung der Jagd als »Edelhobby« (Bode/Emmert 2000). Sie adaptierte gesamtgesellschaftliche Normen und Werte, die es Jägerinnen und Jägern erlauben, ihre Daseinsberechtigung auch an den gesellschaftlichen Grenzen ihrer Jagdreviere zu verteidigen. Das Resultat dieser Entwicklung ist, dass weidgerechte Jägerinnen und Jäger ein jagdliches Selbstbild von sich kultivieren, welches vor allem rationale Beweggründe hervorhebt. Zusätzlich erlaubt es ihnen so, die eigene Position im sozialen Raum zu stärken. Jägerinnen und Jäger beanspruchen für sich und ihr Tun Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit der ›Natur‹. Die Wertschätzung von Wildfleisch als Nahrungsmittel ist ein Phänomen, welches exemplarisch für diese Entwicklung stehen kann.

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Konklusion: Weidgerechtigkeit als Orientierungsrahmen Aller Bemühungen zum Trotz kann die Jagd als Freizeitgestaltung für viele nichtJagende oftmals nicht vollständig rational eingeholt werden. Am wenigsten lässt sich dabei wohl jenes Paradox auflösen, dass Jägerinnen und Jäger für sich beanspruchen, die Tiere, die sie töten gleichzeitig wertzuschätzen. Wie ich gezeigt habe, ist dies für die weidgerecht Jagenden nur ein scheinbares Paradox. Indem die Weidgerechtigkeit das Wie und das Warum des Tötungsaktes ethisch-moralisch regelt, bestimmte Rituale für den Umgang mit den erlegten Tieren vorschreibt und mit dem Konsum des Wildbrets sogar eine Möglichkeit aufzeigt, jenen Respekt vor den gejagten Tieren über deren Tod hinaus zum Ausdruck zu bringen, löst es sich auf. Die Kohärenz ihres Tuns bleibt den Jagenden erhalten. Gerade im Bezug auf den Konsum von Wildfleisch, stattet die Weidgerechtigkeit sie sogar mit dem Gefühl einer gewissen moralischen Überlegenheit gegenüber all jenen aus, die ihr Fleisch nicht selbst produzieren, sondern die durch ihren Fleischkonsum sogar noch die moralisch fragwürdig gewordene industrielle Fleischproduktion und die damit einhergehende Massentierhaltung fördern. Abschließen möchte ich diese Betrachtung der Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime mit einigen Gedanken zu deren Orientierungspotential. Einleitend habe ich die Weidgerechtigkeit als historisches Konzept vorgestellt und bin darauf eingegangen, dass dieses insbesondere nach 1848/1849 an Konjunktur gewann, weil es den etablierten Jägerinnen und Jägern ein Identifikationspotential gegenüber den Neuankömmlingen und Außenseitern ermöglichte. Nur die weidgerechten Jägerinnen und Jäger, waren ›richtige‹ Jägerinnen und Jäger im moralischen wie praktischen Sinne. Für die humanimalische Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten hatte diese Entwicklung einen bis heute anhaltenden Effekt: Die weidgerechte Jagd ist bis heute geprägt durch Affektkontrolle und Selbstbeherrschung seitens der Jagenden, die wiederum mit einer ausgeprägten Sensibilität für das gejagte Tier als leidensfähigem Lebewesen einhergeht. Diese Haltung wird in der Regel mit ›Respekt‹ beschrieben. Dem gejagten Tier wird diese respektvolle Haltung seitens der Jagenden zu Teil, weil es dem jagenden Menschen in seiner Lebendigkeit ähnlich zu sein scheint. Diese Parallele respektieren Jägerinnen und Jäger, indem die weidgerechte Jagdausübung sich vor allem an dieser Leidensfähigkeit orientiert. Die praktische Umsetzung der weidgerechten Jagd hat daher zum Ziel, dass dem gejagten Wild unnötige Qualen erspart bleiben (vgl. Müller-Schallenberg/Hugenroth 2015: 22-23). Die bewusste Selektion, sowie der saubere Schuss sind die Hauptkriterien für diese praktische Umsetzung der weidgerechten Jagd. Der Respekt vor dem gejagten Tier als einem den Jagenden in seiner Lebendigkeit irgendwie ähnelnden Lebewesen reduziert sich für die meisten Jägerinnen und Jäger jedoch nicht auf die handwerkliche Fertigkeit, einen schnellen, relativ schmerzlosen Tod herbeizuführen. Rituale, vor allem das eingangs beschriebene Ritual des Strecke Legens und Ver-

IV Die Jagenden

blasens, sind für sie wichtig. Es sind intersubjektive erfahrbare Ausdrucksformen ihres jagdlichen Selbstverständnisses als weidgerecht. Der Respekt vor dem Leben und dem Sterben der gejagten Tiere bleibt durch das Ritual erhalten und markiert zusätzlich einen Übergang vom getöteten Lebewesen zum toten Tier, schließlich in vielen Fällen zum Lebensmittel. Zusätzlich stärken solche Rituale auch die Gruppensolidarität der Jägerinnen und Jäger. Sie versichern sich auf diese Weise ihrer moralischen Integrität. Der Tod der gejagten Tiere – das Wie und Warum ihres Todes – unterliegt bestimmten normativen und moralischen Vorstellungen. Diese zu verletzen, bedeutet die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der weidgerechten Jägerinnen und Jäger aufs Spiel zu setzen und eines jener »schwarzen Schafe« zu sein, deren Platz außerhalb der Gruppe ist. Die betonte Distanzierung von jenen »schwarzen Schafen« seitens der weidgerechten Jägerinnen und Jäger wird umso vehementer, je fragwürdiger die moralische Integrität der ganzen Gruppe ist. In einer Gesellschaft wie der deutschen, in der das Töten von Tieren zur Fleischherstellung nicht mehr selbstverständlich Teil des öffentlichen Lebens der meisten Menschen ist, ist dieser Akt zunehmend moralisch fragwürdig geworden. Auch Jägerinnen und Jäger betrifft dies, wenn sie in der Position sind, ihr Tun erklären zu müssen. Vor allem in Gesprächen mit nicht-jagenden Bekannten, Freundinnen und Freunden oder der nicht-jagenden Familie steht die moralische Zuverlässigkeit der Jägerin oder des Jägers auf dem Prüfstand. Alle Jägerinnen und Jäger, die ich kennengelernt habe, haben erzählt, dass sie diese Situation schon erlebt haben. Hier – an den Grenzen der community of practice, die zugleich eine moralische Gemeinschaft ist – kommt der Weidgerechtigkeit eine bedeutende Rolle zu. Sie stellt die entsprechendeIdeologie bereit, nach der die Jagenden keine skrupel- und gewissenlosen Subjekte sind, die »zum Spaß« Tiere töten. Gerade in Zeiten, in denen die Jagd öffentliche Diskussionen auslöst, finden auch innerhalb der Jäger_innenschaft normative Aushandlungsprozesse statt, was ›gute‹ Jagd ist. Diese Prozesse sind und waren notwendig für das Entstehen des Konzeptes Weidgerechtigkeit im gegenwärtigen Sinne und lassen es nicht unberührt. Mit der Abschaffung des adeligen Jagdregals 1848/1849 verschwand auch die Jagd als Vergnügen einiger Weniger in Form von höfischen Inszenierungen weitgehend. Anstatt der Massenstrecken und pompösen Jagdfeste rückte die individuelle Begegnung von Jagenden und Gejagten, sowie die Wertschätzung des Natur-Erlebnisses in den Vordergrund der eher landadelig-(groß)bürgerlich akzentuierten Jagd. Die Grundlage der gegenwärtigen Konzeption von Weidgerechtigkeit war gelegt. Mit der Etablierung des Reichsjagdgesetzes 1934 wurde die Weidgerechtigkeit teilweise formalisiert, indem sie zusammen mit dem Konzept der Hege zum ersten Mal juristischer Bestandteil der Pflichten der Jagenden wurde. Einhergehend mit dieser Pflicht zur Weidgerechtigkeit und zur Hege verstärkte sich der paternalistische Status der Jagenden. Eine Fürsorgepflicht für das Wild

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zu haben, hatte bis dahin ohnehin schon das jagdliche Selbstbild der etablierten Jägerinnen und Jäger geprägt – nun bestätigte sich dieses als richtig empfundene Selbstverständnis wiederum institutionell. Da die Hege der Wildbestände jedoch zeit- und kostenintensiv war, entwickelte sie sich auch zum Distinktionsmerkmal, welches teils noch bis heute wirkt. Eine gute Jägerin oder ein guter Jäger verdiente sich die Jagdtrophäe als Lohn für die hegende Fürsorge dem Wild gegenüber. Der selektive Wahlabschuss war und ist oftmals weniger wirtschaftliche oder ökologische Notwenigkeit, als vielmehr die Belohnung für die Mühen der Hege. Er unterschied die weidgerechten Jägerinnen und Jäger von den ›Schießerinnen‹ und ›Schießern‹, die durch mehr oder weniger willkürliches Abschießen von Wildtieren einen »Jagdfrevel« begingen. Nach anhaltenden Diskussionen vor allem in den 1970ern über den gesellschaftlichen Schaden, welchen die teils massiv überhegten Wildtiere vor allem in den Wäldern verursachten, wurde vermehrt über den ökologische Nutzen der Jagd diskutiert. Sollten die weidgerechten Jägerinnen und Jäger nun im Sinne einer abstrakten Idee vom ökologischen Gleichgewicht selbst zu ›Schießerinnen‹ und ›Schießern‹ werden? Die weiterhin ansteigenden Populationen einiger zu Schaden gehender Wildarten in Wald und Feld und die damit verbundenen hohen Wildschadenszahlungen wogen schwer und beeinflussten das Konzept der Weidgerechtigkeit dahingehend, dass die Bestandsregulation gegenwärtig zu einem wichtigen Faktor für das Selbstverständnis der Jägerinnen und Jägern geworden ist. Obwohl sie sich intern von den Zielen der »ökologischen« Jagd distanzieren, hat sich die Kritik an der Jagd als »Edelhobby« (Bode/Emmert 2000) wenigstens diskursiv durchsetzen können. Mit der Jagd für eine Bestandsregulation zu sorgen und im Namen der Hege Biotop-Schutz zu leisten, ist wichtiger Teil der Öffentlichkeitsarbeit auch der konventionellen weidgerechten Jagd geworden. Die Weidgerechtigkeit wurde als ideologisches Konzept von all diesen Entwicklungen beeinflusst. Sie kann in diesem Sinne als Figuration verstanden werden, die sich zwar prozesshaft an bestimmte gesamt-gesellschaftliche Werte und Normen anpasst, ihren normativen Charakter als etablierter ethisch-moralischer Orientierungsrahmen dadurch jedoch nicht verliert, sondern eher noch verstärkt. Am Beispiel der Bestandsregulation zeigt sich dies deutlich. Sie ist nicht nur für die »ökologischen« Jägerinnen und Jäger ein Hauptargument für die Jagd, sondern auch die institutionelle Stimme der weidgerechten Jagd, der Deutsche Jagdverband, spricht sich für die Jagd zur Bestandsregulation aus. Wenngleich weidgerechte Jägerinnen und Jäger in der Wahrnehmung ihrer »ökologisch« jagenden Kolleginnen und Kollegen aufgrund der stark ausgeprägten Selektion und Affektkontrolle bei der Jagd zu Ineffektivität neigen mögen, so trifft diese Kritik ihr Ziel meist nicht. Für viele Jägerinnen und Jäger bleibt die Weidgerechtigkeit attraktiv, weil für sie eine ›gute‹ Jagdpraxis nicht mit einer effektiven Jagdpraxis gleichzusetzen ist. Der Respekt und die Wertschätzung des gejagten Individuums, nicht ihre Effektivität, ist der Kern der weidgerechten Jagd. So bildet die Bestandskontrolle nicht das Kern-

IV Die Jagenden

motiv des jagdlichen Selbstverständnisses weidgerechter Jägerinnen und Jäger, auch wenn sie ein gerne gebrauchtes Argument ist. Die sich als weidgerecht verstehenden Jägerinnen und Jäger verbinden und wertschätzen aber mit einer guten Jagdpraxis neben dem Respekt vor dem gejagten Individuum auch andere Aspekte. Der Entwurf seines jagdlichen Selbstbildes, welches Georg noch vor Erhalt des Jagdscheins zeichnet, soll an dieser Stelle exemplarisch für viele ähnliche Aussagen von Jägerinnen und Jägern stehen. »Ich sehe mich in Ruhe auf dem Hochsitz, dem Wald beim Dunkelwerden zuzugucken – das finde ich sensationell! Und ich muss auch sagen, einfach dieses Gucken und Beobachten ist für mich genauso spannend, wie dann auch bestimmt eines Tages wirklich mal abzudrücken und zu sagen, das esse ich jetzt.«

Abbildung 12: Blick aus der Kanzel bei der Ansitzjagd

Der »Naturgenuss« und das »Natur-Erleben« spielen für weidgerechte Jägerinnen und Jäger eine mindestens ebenso wichtige Rolle für ihre Motivation zur Jagd, wie in der Regel auch der Konsum des Wildfleisches. Die Betonung des »›Drum und Dran‹ der Jagd, der Romantik, der Brauchtumspflege und der ritualisierten Waidgerechtigkeit« (Maylein 2010: 762) ist für sie nicht willkürliche Zier, sondern elementarer Bestandteil ihrer Jagdpraxis. Es sind diese spezifisch menschlichen Ideale, welche die humanimalische Beziehung der Jagenden zu den Gejagten gegenwärtig strukturieren. Dabei sind diese Ideale eingebettet in ein gesamtgesellschaftliches Normengefüge, in welchem das Wohl des einzelnen Tieres zumindest diskursiv einen hohen Stellenwert hat. Die Weidgerechtigkeit hat für die Jagenden also auch einen sozialen Aspekt, indem sie ein etabliertes Konzept zur Verfügung stellt, welches als Figuration aus einem gesamtgesellschaftlichen Prozess erwachsen ist und

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weiterhin daran wächst. In ihrer konzeptionellen Offenheit bietet die Weidgerechtigkeit den Jagenden nicht nur einen Spielraum, das eigene jagdliche Selbstverständnis zu kultivieren. Zugleich bietet sie auch einen eingehegten Bereich moralischer Integrität, der die heterogene Gruppe der weidgerechten Jägerinnen und Jäger aufnehmen kann.

4.3

Jagen als leibliche Praxis

4.3.1

Der jagende Leib: Wahrnehmung, Fähigkeiten und Ausrüstung

Die Wahrnehmung der jagdlichen Landschaft: Im Spannungsfeld aktiver und passiver Aufmerksamkeit

»Unwillkürlich strömt dem Jäger die Seele über und spannt sich über sein Schußfeld wie ein Netz, das da und dort von den Krallen der Aufmerksamkeit gespannt wird.« (Ortega y Gasset 1985: 52) Jagen ist für die Jägerinnen und Jäger nicht nur ideell mehr als das Töten von Tieren. In diesem Kapitel möchte ich mich der Jagd als einer spezifisch leiblichen Praxis zuwenden und analysieren, wie vielseitig der lebendige Leib der Jägerinnen und Jäger auf der Jagd eingebunden ist. Die sinnliche Wahrnehmung, bestimmte Fähigkeiten, die Jägerinnen und Jäger sich aneignen müssen und die Frage, inwiefern Technik und Ausrüstung die Leiblichkeit der Jagenden beeinflussen, stehen im Vordergrund dieser Analyse. Auch auf die gendertheoretische Frage nach der jagenden Frau möchte ich in einem Exkurs zu sprechen kommen und hier dem Aspekt nachgehen, warum nur eine kleine Minderheit von sieben Prozent der Jagenden in Deutschland weiblich ist. Aus strukturalistischer und leibphänomenologischer Perspektive suche ich nach Erklärungen dafür und frage schließlich, inwiefern die Jagd tatsächliche eine männliche Praxis ist (vgl. Lee/De Vore, 1968; Washburn/Lancaster 1968). Wenn die Jagd erfolgreich ist, werden auf der Jagd schließlich Tiere getötet. Daher wird es auch um den Übergang von der Leiblichkeit zur reinen Gegenständlichkeit gehen, den dieser Akt des Tötens mit sich bringt. Zu Beginn des Kapitels möchte ich der Frage nachgehen, welche spezifisch leiblichen Erfahrungen die Jagd eröffnet. Immer wieder habe ich während meiner Feldforschung die Aussage gehört, dass es vielen vor allem um »die Natur«, das »Naturerleben« und das »Draußen-Sein« geht. Dies deckt sich auch mit einer vom Deutschen Jagdverband erhobenen Mitglieder-Befragung: Hier wurden Jägerinnen und Jäger nach ihren Gründen gefragt, warum sie den Jagdschein gemacht haben und auch hier waren das Erleben von Natur, sowie der aktive Naturschutz die am Häufigsten ge-

IV Die Jagenden

nannten Gründe (vgl. ljv-nrw.de, 2019). Was aber macht dieses Naturerleben aus? Diese Frage führt unmittelbar zu der Überlegung, auf welche Weise der Leib in die Jagd als humanimalische Praxis eingebunden ist. Ich werde untersuchen, wie sich jenes Naturerleben phänomenologisch darstellt und erhebe daran anknüpfend die These, dass die Jagd die Möglichkeit eröffnet, spezifische sinnlich-leibliche Erfahrungen zu machen. Die phänomenologisch-deskriptive Herangehensweise, sowie phänomenologische Theorien zur Leiblichkeit werden mich daher auf diesem Weg begleiten, denn schließlich ist der Leib »unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben« (Merleau-Ponty 1966: 176). Das im vorherigen Kapitel genauer untersuchte Konzept der Weidgerechtigkeit, welches für eine affektkontrollierte Jagd steht, steht ideell auch Pate für eine Jagdmentalität, die diesem Naturerleben den nötigen Raum lässt. Wenn die vorherrschende Jagdpraxis nicht alleine durch Effizienz motiviert ist, kann sich auch Kontemplation als Motivation etablieren. Im Naturerleben einen eigenen Wert zu erkennen, erhöht so auch die Frustrationstoleranz weidgerechter Jägerinnen und Jäger gegenüber den erfolglosen Ansitzen und Jagdtagen. Diese sind in der Regel deutlich in der Überzahl.10 Das Naturerleben zu betonen, trägt dazu bei, den Jagdtag dennoch als positiv zu bewerten, indem es den anerkannten kulturellen Wertvorstellungen der Gemeinschaft entspricht. Die Jagd hat ihre sehr spezifische Weise, die Leiblichkeit der Jägerinnen und Jäger zu affizieren, ihr In-der-Welt-Sein zu strukturieren und ihre Aufmerksamkeit zu lenken. Das In-der-Welt-Sein stellt die phänomenale Grundstruktur allen bewussten Lebens dar. Es wird nicht nur von Phänomenologen, wie Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty, sondern auch von phänomenologisch inspirierten Denkerinnen und Denkern wie Ingold als »opposed to a self-contained individual confronting a world ›out there’« (2000: 173) verstanden. Mit dieser Welt, in der es immer schon ist, ist das Lebewesen qua seines lebendigen Leibes verbunden. Den menschlichen Leib wiederum definiert Merleau-Ponty als das Feld eines »nichttheoretischen Bewußtseins« (1966: 73) und damit »einer lebendigen Logik, die von sich selbst keine Rechenschaft ablegt« (ebd.). Um der Motivation vieler Jägerinnen und Jäger näher zu kommen, macht es Sinn, den Spuren des jagenden Leibes zu folgen. Das bedeutet, sich den Wind um die Nase wehen zu lassen, zu frieren, zu schwitzen und auch mal nass zu werden, denn das In-der-Welt-Sein während der Jagd ist durchaus nicht immer angenehm. 10

Es gibt keine gesicherte Statistik darüber, wie oft und lange eine Jägerin oder ein Jäger erfolglos auf die Jagd geht, bis er oder sie schließlich doch Erfolg hat. Private Einschätzungen von den Jägerinnen und Jägern, die ich kennengelernt habe, zeichnen jedoch ein eindeutiges Bild: Zwischen zwölf und dreißig Ansitze sind für sie nötig. Jedoch variieren solche Einschätzungen individuell sehr stark, was abhängig ist von den Lebensumständen der Personen und dem Zeitaufwand, mit dem sie der Jagd nachgehen. Eindeutig ist jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit, erfolglos von der Jagd zurückzukehren, wesentlich höher ist, als Jagderfolg gehabt zu haben.

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14. Juni 2017, Zweifall: Ansitz fahrbarer Fuchssitz Es dauert einige Minuten, bis Georg und ich in der Kanzel unsere Sachen ausgepackt haben und uns eingerichtet haben. Die Kanzel steht auf einer Wiese in einem Bachtal. Gut hundert Meter hinter uns verläuft ein Waldweg tiefer in den Wald hinein. Vom Dorf aus sind wir diesem Weg etwa anderthalb Kilometer bis hierher gefolgt. Gegenüber steigt die Wiese bis zum Rand eines Fichtenwaldes an. Das ist unser Schussfeld. Hier hätten wir einen sicheren Kugelfang. Nebenan auf der Wiese endet das Schussfeld schon – dort grasen Schafe. Wir hoffen auf einen einjährigen Rehbock. Oder auf eine Rotte mit jungen Wildschweinen, denn auch die hat der Pächter Georg freigegeben. Ich begleite Georg heute ohne Waffe. Unsere Ferngläser liegen in Griffweite, die Rucksäcke stehen neben unseren Füßen, wo sie nicht stören und die Handys sind auf lautlos gestellt. Auf der Bank, auf der wir sitzen, liegen alten Polster von Gartenmöbeln, was den Komfort deutlich anhebt. Jedoch ist die Kanzel etwas zu schmal, so dass unsere Beine wenig Bewegungsfreiheit haben. Jetzt, zu Beginn des Ansitzes merken wir das noch nicht so deutlich, aber bald schon werden unsere Füße einschlafen. Nachdem wir uns eingerichtet haben, lädt Georg das Gewehr. Es klickt leise, als er das Magazin in den Vorderschaft unter das Patronenlager steckt. Dann repetiert er eine Patrone ins Lager, sichert die Waffe und legt sie probehalber auf der geöffneten Fensterluke auf und sieht durch das Zielfernrohr. Auch durch mein Fernglas kann ich die Details der Landschaft haarscharf erkennen – bis hinein in das Dunkel des gegenüberliegenden Waldrandes. Einzelne Grashalme, den Stacheldraht, Fichtenäste, die Schafe… »Der Wind steht gut.«, stellt Georg fest. Manchmal erreicht ein sanfter, kühler Wind aus Nordosten das Innere der Kanzel, aber es bleibt angenehm warm dabei. Die erste halbe Stunde vergeht schnell: Wir orientieren uns. Mein Blick schweift prüfend umher. Er sucht nach Schemen und Bewegungen in der Landschaft, die ein Tier sein könnten und bleibt immer wieder an der ein oder anderen markanten Stelle hängen. Was ist dieser dunkle Fleck? Ich fokussiere meine Wahrnehmung und identifiziere den dunklen Fleck durch das Fernglas als Grasbüschel – sicher nicht zum letzten Mal, sieht es doch im ersten Moment aus wie die Silhouette eines Rehs. Was bewegt sich dort am Waldrand? Nur ein Ast im Wind. Auch nicht die letzte optische Täuschung an diesem Abend. Kein Knacken oder Brechen, das ein Tier ankündigt, aber das beständige Zwitschern der Vögel. Riecht es nach Maggi, könnten Wildschweine in der Nähe sein. Neugierig sammle ich die Eindrücke der Landschaft und suche in ihr. Irgendwann erschlafft diese anfängliche Aufmerksamkeit. Dann beginnt das Warten darauf, dass etwas passiert. Wir blicken auf die abendliche Landschaft. Die langsam untergehende Sonne wirft ein goldenes Abendlicht in die hochgewachsenen Gräser und die rötlichen Sauerampfer-Blüten. Ab und an wecken wir doch unsere Aufmerksamkeit, lenken den Blick erneut durch das Fernglas, durch die Landschaft. Immer noch ein Grasbüschel. Die Zeit verliert sich im Warten. Die Enge der Kanzel wird deutlich spürbar.

IV Die Jagenden

Gerne würde ich aufstehen, mir die Beine vertreten, oder sie wenigstens ausstrecken. Das geht jedoch nicht. Also warten. Das Abendlied der Amseln. Nachtfalter beginnen auf der Wiese vor uns zu tanzen. Ab und zu bewegen sich die Schafe kollektiv von der einen in eine andere Ecke ihrer Wiese. Die Stille ist laut und unser Flüstern scheint nicht dazu zu passen. Aber ist da überhaupt irgendetwas, weshalb wir flüstern? Ist da überhaupt ein Tier – abgesehen von den Schafen –, das uns vernehmen könnte?, frage ich mich. Ich glaube, dass da nichts ist. Kein Reh, kein Wildschein, auch kein Fuchs. Nichts. Aber ich glaube das nur, weil ich nichts sehe, nichts höre. Genauso gut könnten uns unzählige Augenpaare vom Wald aus beobachten. Immer wieder schlafen unsere Beine und Füße ein. Das Stillsitzen wird immer anstrengender, je länger wir warten. Um uns wird es langsam Nacht. Wie lange wir bleiben werden, hängt davon ab, was wir noch sehen können. »Jetzt könnte ich auf jeden Fall noch schießen, wenn sich noch was tut.«, sagt Georg, nachdem er durch das Zielfernrohr der Waffe geschaut hat. Es ist merklich dunkler geworden. Auch ich nehme mir seine Waffe und schaue durch das Zielfernrohr hindurch: Die Landschaft erscheint als kreisrunder Ausschnitt. Tatsächlich kann ich die Zaunpfähle am Ende der Wiese noch sehr gut erkennen, während sie mit bloßem Auge langsam zu einer gräulichen Masse mit dem Waldrand verschmelzen. Aber bald schon sind alle Farben fahl geworden. Auch das letzte Licht schwindet von Minute zu Minute. Die Welt um uns herum nimmt alle erdenklichen Graustufen bis ins tief Schwarze an. Die aufkommende Nacht und die Kühle bringt neue Gerüche mit sich. Durhdringende Stille. Keine Amsel ist mehr zu hören. Auch ist es merklich kälter geworden. Ich kremple nun doch die Ärmel meiner Bluse herunter. Plötzlich, irgendwann zwischen zehn und halb elf, ist es dann vollständig dunkel geworden. Wir sehen den ersten Stern. »Ne, das hat jetzt keinen Wert mehr.«, überlegt Georg. Der Mond ist heute Nacht zu schmal, als dass er ausreichend Licht spendete. Wir bleiben noch ein paar Minuten sitzen, dann beginnen wir, unsere Sachen zu packen. Als wir die Fensterläden der Kanzel zugeklappt haben, zerreißt Georgs Taschenlampe die Dunkelheit abrupt. Im kalten, weißen Schein des künstlichen Lichts entlädt er die Waffe. Das Klicken des Patronenlagers und das metallische Klimpern der herausgenommenen Munition scheinen unnatürlich laut zu sein – so sehr habe ich mich an die Stille gewöhnt. Es dauert, bis wir alles gepackt haben. Besonders leise sind wir jetzt nicht mehr. Falls irgendein Tier in unserer Nähe gewesen sein sollte, hätte es nun auf jeden Fall Notiz von unserer Anwesenheit nehmen müssen. Man wird sich, so denke ich, wohl irgendwann daran gewöhnen, die meisten Handschläge auf ein Minimum zu reduzieren, ebenso, wie die Ausrüstung. Das Gewehr muss man blind beherrschen, um es notfalls auch in völliger Dunkelheit sicher zu entladen und zu sichern. Hermann hat das schon oft gesagt. An dieser Stelle merke ich wieder, dass ich wirkliche noch eine Anfängerin bin. Das

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alles ist weit davon entfernt, meine Lebenswelt zu sein. Im Schein der Taschenlampe gehen wir zurück über die Wiese zum Weg.

Zunächst scheint die Jagd vom Hochsitz aus, wie sie in Deutschland die Regel ist, über wenig Aktivität seitens der Jagenden zu verfügen. Die Jagenden warten oft stundenlang auf dem Hochsitz verborgen und versuchen dabei, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Meist erlaubt die räumliche Begrenzung der Hochsitze ohnehin keinen größeren Bewegungsspielraum. Sicherlich geht es für viele Jägerinnen und Jäger bei der Jagdausübung auch um diese Form der Kontemplation. »Dem Wald beim Dunkel-werden zusehen« hat es Georg genannt. »Man lernt, sich selbst auszuhalten.«, erzählt mir ein anderer Jäger nach einem morgendlichen Gemeinschaftsansitz, der für alle Beteiligten ereignislos verlief. Manchmal mache er auf dem Hochsitz dann Atemübungen aus dem Yoga, erzählt er mir noch. Auch wenn Jägerinnen und Jäger durchaus Gefallen an diesem kontemplativen Aspekt der Jagd finden und ihn auch als Teil des Draußen-Seins und des Naturerlebens zu schätzen wissen, besteht ein Ansitz nicht alleine aus dem passiven Erleben von Umweltreizen. Wie die Beschreibung von Georgs und meinem Ansitz an jenem Sommerabend zeigt, besteht das Jagen auch aus einer aktiven auf die lebendige Umwelt gerichteten Wahrnehmung. Die Jagenden nehmen aufmerksam wahr, was um sie herum geschieht, damit ihnen möglichst nichts entgeht. Es ist wie Ortega y Gasset eingangs schildert: Die Jagenden verleiben sich die Landschaft, in der sie sich befinden, durch ihre Wahrnehmung ein. An manche Dinge krallt sich ihre Aufmerksamkeit eher fest, als an anderen. So können auch Grasbüschel oder sich im Wind bewegende Zweige sofort ihr Interesse wecken, weil dahinter etwas anderes vermutet wird. Ist dort vielleicht ein Reh?, fragen wir uns und fokussieren unseren Blick und unsere Aufmerksamkeit. Dagegen verändert sich das Licht eher beiläufig. Erst als die Landschaft auch durch das Fernglas oder das Zielfernrohr undeutlich wird und Grau in Grau ineinander zu fließen scheint, affiziert dies unsere Aufmerksamkeit. Wir müssen feststellen, dass es jetzt zu spät ist für einen sauberen Schuss. Was wir während des Ansitzes erlebt haben, ist jene »doppelte Struktur der Aufmerksamkeit als aktive Initiierung und Durchführung eines interessengeleiteten Wahrnehmungsverlaufs und als passives Affiziertwerden durch Reize« (Breyer 2011: 142), welche als »Attentionalität [die] Grundstruktur der Erfahrung« (Breyer 2011: 147) bildet. Die Aufmerksamkeit der Jagenden und Gejagten strukturiert sich in diesem Sinne als Synthese aus passiv vernommenen Wahrnehmungseindrücken und aktiv gelenkter Wahrnehmungsaktivität. Es ist einerseits »eine universale Aufmerksamkeit, die sich nicht auf einen Punkt richtet, sondern bemüht ist, überall zu sein« (Ortega y Gasset 1985: 94). Andererseits bedeutet das nicht, dass Jagende und Gejagte sich ihre Umwelt in ganzer Fülle und Vollständigkeit bewusst machen können. Viel-

IV Die Jagenden

mehr geht es bei dieser Aufmerksamkeit um eine Selektion der Wahrnehmung, die Wichtiges von Unwichtigem zu trennen in der Lage ist. Wichtig ist hierfür ein gewisses Interesse des Aufmerkens, welches nicht zufällig ist, sondern das Ergebnis von Habitualitäten: »Jenseits von bewusster Lenkung der Aufmerksamkeit und passivem Angezogenwerden durch punktuelle Reize entwickelt sich das Interesse als durch Habitualitäten geprägte Tendenz zur besonderen Beachtung bestimmter Aspekte des Wahrnehmbaren und Erkennbaren.« (Breyer 2011: 143) Als Lernende im Feld der Jagd, die Georg und ich zu diesem Zeitpunkt noch sind, beginnen wir erst, bestimmte Habitualitäten zu entwickeln. Oft genug überprüfen wir an diesem Abend mit dem Blick durch das Fernglas, ob wir nicht doch etwas übersehen. Sobald wir ein Geräusch hören, das wir nicht zuordnen können, folgt erneut dieser prüfende Blick. Wir schulen unsere Aufmerksamkeit, deren Wesen »das wissende Nichtwissen einer noch ›leeren‹ und gleichwohl schon bestimmten Intention [ist]« (Merleau-Ponty 1966: 49). Diese Schulung ist eine Gewöhnung der Sinne an die Erfordernisse der Jagd. So wie Jagende sich skilled practices (Ingold 2011), bspw. das Schießen mit Gewehr und Flinte durch Übung aneignen müssen, so erfordert die Jagd auch eine bestimmte Schulung der Wahrnehmungsaktivität – eine skilled perception. Daher möchte ich nun dem Sensorium einige theoretische Gedanken widmen, denn schließlich sind es die Sinne, welche jenes Wahrnehmen konstituieren.

Der Blick der Jagenden: Gedanken zur Konstitution des Wahrnehmungsvermögens und dem leiblichen Können »Der Jäger ist der wache Mensch«, schreibt Ortega y Gasset (1985: 94). Diese Wachsamkeit der Jagenden ist zunächst und vor allem eine Wachsamkeit des Blicks. »Aber dieses Schauen bei der Jagd, von dem seltsamerweise die ganze schwere Arbeit der Jagd abhängt, ist, wie man merkt, kein beliebiges Schauen.« (ebd. 93-94) Tatsächlich bedarf das Schauen bei der Jagd Übung, hängt der Jagderfolg doch wesentlich davon ab, zunächst nichts zu übersehen und schließlich ein Tier vor dem Schuss mit dem Blick korrekt zu beurteilen, sowie Schusswinkel und Entfernung richtig einzuschätzen. Der Sehsinn ist für die Jagenden also zentral. Diese Aussage zu treffen, bedeutet keineswegs einem ungeprüften Okularzentrismus (vgl. Jay 1993) aufzusitzen, welcher dem westlichen Denken »an obsession with the eye« (Ingold 2000: 245) attestiert. Der Vorwurf jenes Okularzentrismus findet seinen Ursprung im Cartesianischen Denken, welches sich durch die Betonung eines starken Dualismus von Objekt und Subjekt auszeichnet. Der Sehsinn ist diesem dualistischen Denken zufolge der edelste aller Sinne (vgl. Fabian 1983: 106) – scheint er es doch am ehesten zu vermögen, die Welt aus der Distanz sinnlich zu vergegenständlichen. Wenngleich das Sehen im Folgenden für die Analyse der Jagd als

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leiblicher Praxis eine besondere Rolle spielen wird, so wird sich aber zeigen, dass dieses Sehen keineswegs im Sinne eines »peculiarly modern project of objectification« (Ingold 2000: 253) Distanz schafft. Es ist ein anderes Sehen, um das es hier gehen wird. Merleau-Ponty beschreibt es als Chiasmus, der jede Distanz nimmt: »[G]egeben ist etwas, dem wir uns annähern können, indem wir es mit dem Blick abtasten, Dinge, die wir nie ›ganz nackt‹ zu sehen vermögen, weil der Blick selbst sie umhüllt und sie mit seinem Fleisch bekleidet« (1964: 174). Jägerinnen und Jäger erfahren diese Form des Sehens während der Jagd und es sind die Anforderungen der Jagd selbst, die diesen Blick kultivieren. Dabei sehen Jägerinnen und Jäger nicht besser als andere Menschen – ebenso, wie Schweißhunde nicht besser riechen als andere Hunde – beide schulen die jeweilige Sinnesmodalität jedoch durch die Praxis intensiver als vergleichbare ›Artgenossinnen‹ und ›Artgenossen‹. Keine Frage, auch horchend, reichend und spürend orientiert sich der jagende Leib.11 Mehr als einzelne Sinnesmodalitäten scheint es aber vielmehr ihr Zusammenspiel zu sein, welches das Draußen-Sein während der Jagd konstituiert und für viele Jägerinnen und Jäger so reizvoll ist. Im Folgenden befasse ich mich daher mit der Konstitution des sinnlichen Erlebens. Ich werde darlegen, warum ich den leibphänomenologischen Ansatz Merleau-Pontys teile und ihn gegenüber dem Ansatz der Anthropology of the Senses vorziehe. Merleau-Ponty greift die Ideen Husserls zum Leib als dem »Nullpunkt aller […] Orientierungen« (Husserl 1952: 158) auf. Er denkt sie jedoch weiter, so dass der Leib in gewisser Weise zum »Nullpunkt« seines philosophischen Werkes wird.12 Jenes »nicht-theoretische[] Bewußtsein[]« (Merleau-Ponty 1966: 73), als welches die Leiblichkeit im alltäglichen Erleben erfahrbar wird, verweist nach Merleau-Ponty auf ein »Wissen, das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zu Verfügung steht« (ebd.: 174). Diese Erkenntnis ist ein Angriff auf die Fragelosigkeit, mit der bis dahin die Trennung von Körper und Geist, Subjekt und Objekt die westlichen Wissenschaften dominiert hatte. Auch für die Ethnologie bietet dieser

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Der Geschmackssinn tritt dagegen bei der Jagd als weniger relevant in den Hintergrund und gewinnt erst beim Konsum des Wildfleisches als quasi-moralischer Sinn an Bedeutung. Er erlaubt es, den moralischen Wert der Weidgerechtigkeit sinnlich geradezu zu inkorporieren. Merleau-Pontys Hauptwerk, die »Phänomenologie der Wahrnehmung« (1966) ist das Fundament dieser Philosophie, welche in seinem Spätwerk (vgl. 1964) ihre konsequente Fortführung findet. Während er das sinnliche Erleben mithin immer schon als fundamental für das In-der-Welt-Sein erkannt hat, erreicht die Verquickung von Wahrnehmendem und Wahrgenommenen durch Begriffe, wie chair, Reversibiltät und Zwischenleiblichkeit nun eine bis dahin nicht ausgesprochene Tragweite. Das In-der-Welt-Sein gestaltet sich nun vielmehr als Bündnis von Wahrnehmenden und Wahrgenommenen: »[D]ieses Bündnis zwischen den Dingen und mir, das darin besteht, daß ich ihnen meinen Leib leihe, damit sie sich in ihn einschreiben.« (ebd.: 191)

IV Die Jagenden

Schritt Möglichkeiten, diese oft kritisierten Dichotomien einzuklammern. Zweifelsohne ein attraktiver Anreiz, der sich in der Entstehung einer phänomenologisch inspirierten Ethnologie verwirklicht (vgl. Csordas 1997; Goulet 1998; Downey 2005; Willerslev 2007; Throop 2010). Das bedeutet, dass das leiblich-sinnliche Vermögen zu dem voraussetzungslosen Boden der Forschung wird und kognitivistischen Interpretationsansätzen vorrangig sein muss. Ich erkenne diese Vorrangigkeit mit meinem phänomenologisch inspirierten Ansatz an und folge Ingolds Kritik an kognitivistischen Erklärungen: »cultural models are supposed to exist independently of, or prior to, their application in particular situations of use« (Ingold 2000: 162). Auch das von Bourdieu erkannte Prinzip des Habitus kritisiert a priorische Erklärungsmodelle. Wenngleich es zunächst nicht in allen Punkten mit einer phänomenologischen Perspektive kompatibel zu sein scheint, so lässt sich ihre Verwandtschaft doch nicht übersehen. Beide rücken jene »situations of use« in den Fokus ihrer theoretischen Ansätze (vgl. Bedorf/Gerlek 2017: 6). Das In-der-Welt-Sein für die Phänomenologie und die Praxis für Bourdieu erheben gleichermaßen den Anspruch, jenen kulturellen Modellen überhaupt erst Grund und Boden zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich übersieht ein rein kognitivistisches Erklärungsmodell die konstitutive Wirkung von Praxis, welche bestimmte kulturelle Gruppen erst entstehen lässt. Dennoch plädiere ich dafür, die beiden Ansätze auf dem nun geschaffenen Boden des sinnlich-leiblichen In-der-Welt-Seins zu verbinden. Jägerinnen und Jäger können nicht nur qua ihrer leiblichen Praxis des Jagens als kulturelle Gruppe verstanden werden. Sie teilen auch gemeinsame Werte und Vorstellungen, deren Vermittlung durchaus auf kulturellen Schemata beruht. So spielen bspw. Erzählungen und formale Instruktionen, wie im Jagdkurs oder im Umgang mit der Feuerwaffe für das Entstehen von kulturspezifischem Wissen ebenso eine Rolle, wie das praktische Engagement. Im Zuge der Rezeptionsgeschichte bleibt der phänomenologische Ansatz für die Ethnologie nicht unangefochten. Mit der Anthropology of the Senses, vertreten vor allem von Constance Classen (1997, 2005) und David Howes (1991, 2003), bildet sich Kritik an der phänomenologischen Leib-Konzeption und ihren Konsequenzen für die ethnologische Forschung. Die Kritik daran lautet im Wesentlichen, dieser Ansatz gehe von »asocial, contextless models of perceptual systems« (Howes 2003: 51) aus. Weil diese die »cultural dimension of perception« (Howes 2009: 14) nicht berücksichtigten, sei ein phänomenologischer Ansatz zur Erforschung des sinnlich-leiblichen Erlebens und des daraus resultierenden kulturspezifischen Wissens unbrauchbar. Diesen Vorwurf halte ich für nicht gerechtfertigt. Ich teile vielmehr Michael Jacksons Ansicht: »Practical understanding can do without concepts« (1989: 339). Mit den Vertreterinnen und Vertretern der Praxistheorie lehne ich die Annahme ab, dass sinnlich-leibliche Erfahrung ausschließlich dann bedeutsam ist, nachdem sie durch einen nachträglichen geistigen Akt gemäß kulturspezifischer Schemata organisiert wurde. Ein solcher Ansatz, wie er von der Anthropology of the Senses

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verfolgt wird, läuft Gefahr, den Leib und die sinnliche Erfahrung nur zum Träger von Bedeutung zu reduzieren und damit dem Cartesianischen Körper/GeistDualismus verhaftet zu bleiben (vgl. Ingold 2000: 282-283). So ist für eine Analyse der Jagd die sinnlich-leibliche Erfahrung selbst schon eine Untersuchung wert, da sie der ethnologischen Erforschung einen wertvollen Zugang zur Erfahrung des Jagens bietet. Andererseits schult die Praxis des Jagens die Wahrnehmung nicht unabhängig von jenen »incorporeal ›ideas‹ and ›beliefs‹ of a culture« (ebd.: 284). Zwar geht es für Jungjägerinnen und Jungjäger zunächst darum, die Welt gemäß den Anforderungen der Jagd neu zu entdecken – jedoch tun sie das nicht unabhängig von bestimmten Konzepten, Vorstellungen und Idealen, welche in der Historie der Jagd begründet liegen. Trotz der ontologischen Priorität des sinnlichleiblichen Erlebens findet Jagd weiterhin in einer normierten und normierenden gesellschaftlichen Situation statt. Um dem sinnlich-leiblichen Erleben während der Jagd näherzukommen, werde ich zuerst dem Blick einige Gedanken widmen, bevor ich mich dem synästhetischen Zusammenspiel der Sinne während der Jagd zuwende. In einem nächsten Schritt werde ich dann analysieren, wie sich das Draußen-Sein während der Jagd phänomenal darstellt. Der Blick der Jägerinnen und Jäger ist ein suchender und er ist erfolgreich, wenn er den Jagenden erlaubt, ein potentielles Beutetier nicht nur aus der Ferne zu vernehmen, sondern ihm auch aus der Ferne näher zu kommen. Wie nah sie dem Tier dabei kommen können, hängt vor allem von der Erfahrung ab, die sie im Laufe ihres jagdlichen Engagements sammeln.

29. Oktober 2016, Lammersdorf: Ansitz Felsenkanzel mit Hermann Rotwild kommt den Hang vor uns heraufgezogen. Vollkommen gelassen. Hermann und ich beobachten sie konzentriert. Die Gestalten der ziehenden Tiere formen sich aus ihren Bewegungen aus. Ein Hirsch und ein Spießer [junger Hirsch, dessen Geweih noch nicht über mehrere Sprossen verfügt], so wie Kahlwild [weibliche Tiere]. Ich versuche, durch das Fernglas zu erkennen wie viele Enden [Sprossen] das Geweih des Hirsches hat, scheitere aber. Das Fell der Tiere und das Geweih des Hirsches sind fast gleichfarbig mit dem Laub und den schmalen Eichenstämmen. Die Silhouette des Tieres scheint mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Es ist für mich kaum möglich, das Tier mit meinem Blick genau zu erfassen. Hermann hat ebenfalls sein Fernglas vor den Augen. Flüsternd geben wir uns weiter, was wir erkennen. Er schätzt den Hirsch auf sechs Jahre und identifiziert eines der weiblichen Tiere als Schmaltier [einjähriges Tier vor dem ersten Kalb]. Ich bin nicht im Stande dies zu erkennen. Angestrengt konzentriere ich mich auf das, was ich sehe. Ich bin nicht hier in der Kanzel. Ich spüre keine Kälte mehr, bin nur noch mein Blick. Und mein Blick ist dort draußen. Mein Blick ist die Bewegung. Die Bewegungen der Tiere sind alles, was in diesem Augenblick für mich ist.

IV Die Jagenden

Am Ende dieses Ansitzes wird Hermann zwei Tiere erlegt haben und die Jagd als leibliche Praxis wird uns noch auf andere Weise fordern. Zuvor jedoch schauen wir gespannt. Zwar hören wir auch, wie die Tiere den belaubten Hang hinaufsteigen, denn ihre Schritte verursachen ein raschelndes Geräusch. Aber es ist vor allem das Sehen, dass unsere Aufmerksamkeit lenkt und mithin meine ganze Leiblichkeit zentriert bis hin zum völligen Ausblenden anderer leiblicher Empfindungen, wie der Kälte, die mich zuvor in Anspruch genommen hatte. Von mir hat jene Spannung Besitz ergriffen, die laut Schmitz im »vitalen Antrieb« (2011: 15) des leiblichen Erlebens mit Engung verbunden ist (vgl. ebd.) und der »Weite und Dauer des Dahinlebens« (ebd.: 19) entgegengestellt ist. Gut getarnt, vor dem Hintergrund des graubraunen Laubwaldes verschwimmen die Schemen der grau-braunen Tiere. Weil ihre Leiber in Bewegung sind, ist es gar nicht so einfach, eines von ihnen genau mit dem Blick festzuhalten. In dem Moment, in dem ich eines der Tiere erfasst hatte, hatte es sich auch schon weiterbewegt und entglitt mir. Hermann erkannte als erfahrener Jäger Details, die ich noch nicht erkennen konnte, obwohl wir beide das Gleiche sahen und ich durch den Jagdkurs auch schon eine Vorstellung hatte, worauf Jägerinnen und Jäger beim Ansprechen eines Tieres achten sollen. Der Blick des Kenners erkennt körperliche Merkmale der Tiere, die etwas über Geschlecht und Alter aussagen. Die Form des Bauches und des Kopfes geben den weiblichen Tieren entweder ein ›erwachsenes‹ oder ein eher ›jugendliches‹ Aussehen. Das Alter eines erwachsenen Hirsches zu schätzen, ist schwer, aber auch hier gibt es Indikatoren: Der Vorschlag des Tieres – also die Proportion der vorderen Körperhälfte – sieht bei älteren Tieren bulliger und gedrungener aus, während sie bei jüngeren Tieren schlanker wirkt. Auch der Träger [Hals] lässt erkennen, wie viel Muskelmasse sich im Laufe eines Hirschlebens schon aufgrund des schweren Geweihs aufgebaut hat. Um dies jedoch erkennen zu können, bedarf es eines geschulten Blicks. Mir als angehender Jägerin, die noch nicht viele Rotwild-Individuen gesehen hatte, viel es schwer, all die Dinge zu sehen und – vor allem – sie in der Weise zu beurteilen, wie das Hermann gelang. Dass ich etwas anderes als Hermann wahrnahm, bedeutet nicht, dass wir unsere Wahrnehmung a priori nach unterschiedlichen kulturellen Modellen anordneten. Im Gegenteil, denn wenigstens theoretisch hatte ich gewusst, worauf ich achten musste: das ›jugendliche‹ Aussehen, im Vergleich zu dem ›erwachsenen‹ Kopf des Kahlwildes, die gesamte Statur der Tiere, besonders aber der Bauch und der Vorschlag. Aber tatsächlich hatte ich einfach noch nicht genug solcher Situationen erlebt, um zu wissen, was ich sah. Mein Blick kam den Tieren noch nicht so nah, wie Hermann ihnen kam. Nicht nur auf dem Hochsitz eignen sich die Jagenden eine bestimmte Weise des Sehens an. Auch auf dem Weg durchs Revier, beim Spaziergang mit dem Hund oder der Fahrt mit dem Auto zeigt sich ihnen die Landschaft mit steigender Erfahrung mehr und mehr als jagdliche Landschaft. Sie kultivieren eine Art des Sehens, welche die Kleinigkeiten beachtet, die eine Landschaft als humanimalisch konsti-

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tuiert erkennbar machen. Was andere übersehen, zieht die Aufmerksamkeit der Jagenden auf sich: Eine Wiese, die mit braunen Flecken übersät ist, die eindeutig auf die nächtlichen Aktivitäten von Wildschweinen verweisen, einen Wechsel, der den Feldweg kreuzt und auf die Wiese führt. Haare in dem niedrig gezogenen Stacheldraht, die aus dem Pelz eines Fuchses stammen, der diesem Wechsel ebenfalls gefolgt ist, um vielleicht auf der aufgewühlten Wiese Mäuse zu jagen. Kotkügelchen eines Hasen, die Fährte eines Rehs im Schlamm, die helle Stelle am Stamm eines Bäumchens am Wegesrand, wo Rotwild die Rinde abgeschält hat – nur um einige Beispiele zu nennen, die mir auf meinen Wegen durch das Jagdrevier nun auffallen, während ich ihnen vor Beginn der Feldforschung kaum Aufmerksamkeit geschenkt hätte – so ich sie denn bemerkt hätte. Und doch eröffnet sich die Landschaft den Jagenden nicht mit einem Blick. Auch hier braucht es Übung und Erfahrung. Die wachsende Erfahrung entlockt auch vertrauten Orten noch zuvor Unbekanntes. Nicht alles davon affiziert die Aufmerksamkeit in gleichem Maße, aber die Fegestelle, wo ein Rehbock die juckende Basthaut seines Gehörns an einem jungen Bäumchen abgescheuert hat, wird sicherlich auffallen. Sie ist gleichsam eine Aufforderung, sich in den nächsten Tagen in dieser Ecke des Reviers anzusetzen, um den Rehbock ins Glas zu bekommen [mit dem Fernglas zu beobachten] und ihn mit dem Blick kennenzulernen. Wenn Martina ihren Wunsch, den Jagdschein zu machen, damit begründet »etwas mehr von der Natur zu lernen« und – ähnlich wie viele Andere – das Naturerleben als Motivation nennt, dann geht es auch um solche Erfahrungen. Als Jägerinnen und Jäger lernen sie, mehr zu sehen als sich beim oberflächlichen Betrachten zeigt. »Throughout life one can keep on seeing new things in an otherwise permanent world, not by construction the same sense data according to novel conceptual schemata, but by a sensitisation or ›fine-tuning‹ of the perceptual system to new kinds of information.« (Ingold 2000: 166) Ich habe anhand von Beispielen analysiert, wie sich dieses ›fine-tuning‹ der Wahrnehmung angesichts einer eigentlich bekannten Umwelt vollziehen kann. Es geht dabei zunächst und vor allem um das leibliche Engagement der Jagenden, »the conditions and contexts of practical life within which people develop and embody their own skills of action and perception« (ebd.: 284). Dieses praktische Engagement stellt den Boden bereit, damit sich Jägerinnen und Jäger bestimmte Sehgewohnheiten antrainieren. Je mehr praktische Erfahrung diese haben, desto besser entwickelt sind ihre »skills of action and perception« (Ingold 2000: 284) und umso mehr kann sich ihnen ihre jagdliche Lebenswelt eröffnen. Wie ich gezeigt habe, gilt das für die Jagd vor allem im Bezug auf das Sehen. Jedoch eignen sich Jägerinnen und Jäger diese Sehgewohnheiten nicht völlig unabhängig von kulturellen Schemata an. Sie erfordern auch »an education of attention« (Gibson 1979: 254), welche

IV Die Jagenden

auch formale Instruktionen beinhalten darf, ohne dass der Wert der »conditions and contexts of practical life« dabei verloren ginge. Solcherlei »skilled visions« (Grasseni 2007) setzen einen »besonderen ›Blick[]‹ auf die Welt« (Lohmar 2017: 154) voraus. Wie dieser besonders gut geschulte Blick entsteht, ist auch Thema der genetischen Phänomenologie, welche vor allem in der »Sedimentation unserer Erfahrung« (ebd.: 150) den Grund hierfür erkennt. Im Zuge dieser sedimentierten Einzelerfahrungen erkennen wir irgendwann einen bestimmten »›Typus‹, der unsere Wahrnehmungsprozesse anleitet« (ebd.: 150). In der praktischen Ausbildung von Jägerinnen und Jägern spielt besonders die Vermittlung solchen Könnens eine Rolle. »A skilled vision implies an active search for information from the environment, and is only obtained through apprenticeship and an education of attention« (Grasseni 2004: 53). So lernen angehende Jägerinnen und Jäger zunächst auch anhand von Fotos, ein Tier korrekt anzusprechen.13 Der Dozent wies uns im Jagdkurs auf bestimmte charakteristische Merkmale hin, die uns helfen sollten, ein Tier als jung oder alt, männlich oder weiblich, krank oder gesund zu klassifizieren. So legte er erste Sedimente für den geschulten Blick an, die später dazu beitragen sollen, unsere »aktive Wahrnehmung« (Lohmar 2017: 150) anzuleiten und bestimmte leiblich-kognitive Modelle zu entwickeln. Wenn uns im Jagdkurs wiederholt gesagt wurde, dass wir hier nur auf eine Prüfung vorbereitet werden und das richtige Lernen erst nach der Prüfung beginnen würde, so galt das für den jagdlichen Blick in besonderer Weise: »Vision, like the other senses, needs education and training in relationship of apprenticeship and within an ecology of practice« (Grassini 2004: 41). Wie meine Beispiele zeigen, braucht dies Übung und Gewohnheit. Hermann ist in der Lage, Schmaltier von Alttier zu unterscheiden, während sich dieses Wissen meinem Blick trotz erster Anleitungen noch verschließt. Viele Jahre Jagd-Erfahrung und der Anblick vieler Rotwild-Individuen bilden, als sich in seiner Erfahrung ablagernde Sedimente, irgendwann das Fundament für Hermanns Blick, um den ›Typus Schmaltier‹ zu erkennen. Auch jene optischen Täuschungen, die meinen Blick ein Reh erkennen ließ, wo bei näherem Hinsehen nur ein Grasbüschel war, kennt Hermann aus eigener Erfahrung. »Wenn ich mich an einer Wiese ansetze, zähle ich immer erst die Maulwurfhügel. Wenn es dunkel wird, fangen die sonst irgendwann an, sich zu bewegen.« Solch eine Bemerkung ist jedoch mehr als eine Anekdote. Sie verweist auf eine Routine, die

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Schon in dem jagdsprachlichen Ausdruck Ansprechen für »Anschauen«, »Beobachten«, »Beurteilen« ist erkennbar, wie bedeutsam das Sehen bei der Jagd ist. In der Tat sprechen die Jagenden die gejagten Tiere mit ihrem Blick an, richtet doch der Blick Fragen an das gejagte Tier. Der Blick fragt und beantwortet, ob die Jagenden gemäß gesetzlicher und ethischer Richtlinien dieses eine Tier töten dürfen und ist damit ein gutes Beispiel für das Ineinandergreifen von Praxis und kulturellen Modellen.

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auch erlaubt, potentielle Fallstricke und Täuschungen von vornherein ausfindig zu machen und zu korrigieren. Die Fähigkeit, derlei Details wahrzunehmen, ist also keineswegs ein Können a priori. Sie entsteht aus der Praxis der Jagd heraus. Und auch wenn diese Praxis in besonderem Maße vom Blick der Jagenden angeleitet wird, so ist das Jagen doch nicht nur reines Sehen. Von dieser Analyse des Blicks komme ich also nun zu dem Zusammenspiel der Sinnesmodalitäten und dessen Bedeutung für die Jagd als leibliche Praxis. Für Merleau-Ponty charakterisiert sich die Wahrnehmung als immer schon synästhetisch. »Es gibt mithin gar nicht die Sinne, sondern allein das Bewußtsein« (Merleau-Ponty 1966: 255), wenngleich dies im Wahrnehmungserleben nicht immer gleich zu Tage tritt: »Die synästhetische Wahrnehmung ist […] die Regel, und wenn wir uns dessen selten bewusst sind, so weil das Wissen von der Wissenschaft unsere Erfahrungen verschoben hat.« (Merleau-Ponty 1966: 268) Nach Merleau-Ponty ist eine Auflösung der synästhetischen Erfahrung nur in einem nachträglichen Schritt durchführbar. Der Wahrnehmung, wie sie unser alltägliches Dahinleben konstituiert, entspricht diese Auflösung jedoch nicht. Auch die beschriebenen sinnlichen Erfahrungen während des oben erwähnten Ansitzes entsprechen in meinem Erleben viel eher jener synästhetischen Wahrnehmung. Jedoch zerfasere ich dieses Erleben gemäß dessen, was mir im Bezug auf die Praxis der Jagd als wichtig erscheint zunächst reflektierend, dann erinnernd und nun wiederum durch die Verschriftlichung. Ich reflektiere, was ich sehen, hören, riechen und fühlen kann. Obwohl ich sicherlich einen bestimmten Geschmack auf der Zunge hatte, fällt diese Wahrnehmung schon hinter die anderen zurück. In meinem Feldtagebuch tauchen jene Sinneseindrücke wiederum chronologisch geordnet auf, einer nach dem anderen erinnernd beschrieben. Der oben beschriebene Ansitz mit Georg an jenem Sommerabend versucht, möglichst viel meiner Wahrnehmungen wiederzugeben und ist ein ausführliches Beispiel für die multisensorische Erfahrung der Ansitzjagd. Vergleiche ich diese Notiz mit jenen Notizen über Ansitze, die Monate später mit mehr Routine stattfanden, so kristallisiert sich eine Hierarchie heraus, mit der mir die einzelnen Sinnesmodalitäten bewusst wurden. Dies ist umso mehr der Fall, als dass mit der zunehmenden Routine auch eine zunehmende Rationalisierung des Erlebens stattfindet. Es ist eindeutig das Sehen, welches eine herausragende Position einnimmt. Wenn ich einige der späteren Ansitze also kurz und knapp damit beschreibe, dass ich nichts gesehen habe, bedeutet das selbstverständlich nicht, dass ich wirklich nichts gesehen habe, denn mindestens die Veränderung der Landschaft während des Ansitzes könnte ich noch beschreiben. Aber ich habe tatsächlich nichts für die Praxis der Jagd Bedeutsames gesehen. Wenn also die sinnlich-leibliche Wahrnehmung wesenhaft synästhetisch ist, so bedeutet das nicht, wie Howes

IV Die Jagenden

dem phänomenologischen Konzept vorwirft, dass dies ein chaotisches und sinnfreies »synesthetic mingling of sensation« (Howes 2005: 9) ist. Das synästhetische Fundament der Wahrnehmung impliziert nicht, dass immer alle Eindrücke aller Sinnesmodalitäten gleichermaßen bewusst werden. Wenngleich dieses synästhetische Fundament als solches zwar unhintergehbar erhalten bleibt, so verändert sich doch die Bewertung der einzelnen Sinnesmodalitäten, zumal jeder Sinn »eine nie völlig übertragbare Seinsstruktur mit sich trägt« (Merleau-Ponty 1966: 263). Im Falle des Jagens tritt der Sehsinn überproportional deutlich im Bewusstsein der Wahrnehmenden zu Tage und ist Gegenstand von Reflexion und Schulung. Dem zugrunde liegt jedoch die synästhetische Einheit des sinnlichen Erlebens, die darauf beruht, dass »die Sinne miteinander [kommunizieren]« (ebd.: 264). Um eine Antwort auf die Frage zu finden, was den Reiz der Jagd als jenes Naturerleben und Draußen-Sein ausmacht, wiegt die Einheit des sinnlich-leiblichen Erlebens schwer. Was Jägerinnen und Jäger auf der Jagd erfahren, ist ein Draußen-Sein, das ihnen etwas abverlangt. Das Jagen erfordert von ihnen vielerlei Eigenschaften, wie einen geschulten Blick. Vor allem aber erfordert es die Bereitschaft, sich einer Umwelt auszusetzen, die – egal wie domestiziert sie auf den ersten Blick erscheint – widerständig ist. Im Folgenden werde ich diese ›Widerständigkeit‹ näher beleuchten und analysieren, inwiefern sie das synästhetische Wahrnehmen der Jagenden affiziert. Zunächst möchte ich jedoch kurz einen weiteren Ansitz charakterisieren, der schon auf jene ›Widerständigkeit‹ der Umwelt verweist – aber auch auf die Gewohnheit, mit der Jägerinnen und Jäger sich in dieser Umwelt einrichten. 18. August 2017, Zweifall: Ansitz in der Kälte Ein kühler Abend im August. Vielleicht zwölf oder dreizehn Grad sind es heute, wenn überhaupt. Den ganzen Tag hatte es schon geregnet, jetzt aber reißen die Wolken langsam ein wenig auf. Der Jagdpächter hat heute einige Jägerinnen und Jäger in sein Revier für einen Ansitz eingeladen. Hauptsächlich soll sich die Jagd auf Wildschweine richten. Tatsächlich können wir darauf hoffen, dass es die Tiere auf die aufgeweichten Wiesen zieht. »Sauwetter ist Sau-Wetter.« Zu dritt gehen wir die Wiese hinauf, Georg und ich mit unseren Gewehren in der Hand und den Rucksäcken auf dem Rücken. Weil wir diese Ecke des Reviers bisher noch nicht kennen, begleitet uns Bernd, der Jagdaufseher, um uns den Hochsitz zu zeigen und uns über die Topografie der Umgebung aufzuklären. Der Sitzt steht am Rand der steilen Wiese, die wir gerade heraufgestiegen sind. Durch das Gehen ist mir schön warm geworden. Nach einigen Minuten des Anstiegs stehen wir vor dem hölzernen Hochsitz. Vor dem Sitz breitet sich die Wiese aus, hinter uns klettert Fichtenwald den steilen, felsigen Hang empor. Das Schussfeld liegt vor dem Sitz. Von hier aus, so Bernd, dürften wir nur bis zu dem Zaun in der Mitte der Wiese schießen. Weiter in Richtung des Waldrandes gegenüber stehen Rinder. Zusätzlich verläuft ein Weg hinter der Wiese durch den Wald, den wir

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von Hochsitz aus nicht einsehen können. »Da habt ihr also keinen Kugelfang.«, erklärt Bernd. Schon während wir die Wiese hinauf zu unserem Ansitz gehen, sind die Stellen auf der Wiese deutlich zu erkennen. Hier waren in der letzten Zeit auf jeden Fall Wildschweine. Ob sie frisch sind, lässt sich durch den Regen nicht mehr sagen. Bernd, der fast täglich im Revier unterwegs ist, weiß jedoch, dass einige der aufgewühlten Stellen noch keine zwei Tage alt sind. Aus dem Wald hatte die Rotte es nicht weit bis auf die Wiese. Der Wald gab ihnen gute Deckung und sobald sie sich gestört fühlten, war ihr Weg in die sichere Dickung kurz. Heute Abend scheint es wegen des noch recht wolkenverhangenen Himmels schneller dunkel zu werden. Mein Zielfernrohr ist für solche Lichtverhältnisse nicht optimal. Wenigstens Georg wird aber durch das seine lang genug gute Sicht haben, denn es verstärkt das Restlicht viel besser. Bernd weist uns auch darauf hin, dass von der Straße und der Tankstelle unterhalb der Wiese immer etwas Licht streut, so dass es hier niemals völlig dunkel sei. Unser Sitz ist eher eine Leiter. Sie ist breit und geräumig mit einer Sitzfläche und einer einfachen Bretterwand vorne, welche Windschutz, Tarnung und Gewehrauflage zugleich ist. Es gibt ein Dach, sodass wir vor den Regentropfen geschützt sind, die immer noch aus den nassen Zweigen fallen. Der Nachteil dieser Kanzel ist, dass sie am Einstieg nach unten hin offen ist. Irgendwann wird uns die Kälte die Beine hinaufziehen, das ahnen Georg und ich schon, als wir uns dort einrichten. Noch ist mir jedoch warm. Zunächst nehmen wir aus unseren Rucksäcken alles, was wir benötigen. Dann stellen wir sie dort ab, wo sie nicht stören Die Gewehre laden wir und stellen sie gesichert vor uns. Zusätzlich hat Georg auch das Nachtsichtgerät dabei. Es ist zwar schwer, aber ich muss zugeben, dass es einen gewissen Reiz hat, nachts die Landschaft noch fast so gut erkennen zu können, wie im Hellen. Wir brauchen nicht lange, dann haben wir uns eingerichtet. Es ist mir dieses Mal deutlich leichter gefallen, mich zu sortieren und alle notwendigen Handschläge zu erledigen, als noch bei den allerersten Ansitzen. Langsam kristallisiert sich heraus, wo Fernglas und Kopfhörer am schnellsten und lautlosesten griffbereit sind und wo der Rucksack am wenigsten störend ist. Auch den Probeanschlag mit dem Gewehr führe ich heute nicht so oft aus, wie sonst. Dazu hat das Übungsschießen auf dem Schießstand viel beigetragen. Obwohl wir an diesem Abend lange sitzen, bleibt es ein ereignisloser Ansitz. Irgendwann kommt unaufhaltsam die Kälte dazu und auch ein zusätzlicher Fleecepullover hilft nicht mehr. Gegen Mitternacht baumen Georg und ich ab. Auch wenn wir keinen Anblick hatten, so habe ich an diesem Abend doch das Gefühl, etwas dazu gewonnen zu haben. Der ganze Abend hatte für mich den Charakter von etwas Vertrautem. Selbst die Geräusche der Nacht schienen normal zu sein. Sogar meine Augen habe ich ab und zu geschlossen, um zu dösen – in der sicheren Annahme, dass die Wildschweine sich durch knackende Äste und ihr typisches Grunzen laut genug ankündigen würden, so dass Georg und ich sie hören könnten. Alles hatte so funktioniert, dass der Ablauf des Ansitzes reibungslos war: Ich habe nicht lange suchen müssen und auch mei-

IV Die Jagenden

ne Waffe kann ich inzwischen ›blind‹ entladen und entspannen. So etwas wie Routine hatte sich eingestellt. Nur die klammen Finger hemmen diesen Bewegungsablauf.

Die Gegensätzlichkeit der beiden beschriebenen Ansitze ist offensichtlich – nicht nur aufgrund der sich ganz und gar unterschiedlich darstellenden Wind-undWetter-Welt. Auch was meine Routine in der praktischen Handhabung angeht, könnten die Ansitze kaum unterschiedlicher sein. Mitte August hatte sich schon eine Gewöhnung eingestellt, die auf die wiederholten Ansitze der letzten Wochen zurückzuführen ist und die mir in dieser Situation das Gefühl einer »praktische[n] Beherrschung« (Bourdieu 1993: 122) gab. Diese Art der Beherrschung hängt für Ingold mit dem Können zusammen, welches eine Person bei der Ausführung einer Tätigkeit aufweist (vgl. Ingold 2000: 162). Diese Fähigkeiten, so versteht er sie, konstituieren »a mastery that we carry in our bodies« (ebd.). Sie können in der Regel nicht durch formale Instruktionen erlernt werden, sondern sind »developmentally incorporated into the modus operandi of the body through practice and experience in an environment« (ebd.: 291). Wenn Ingold also ganz im Sinne einer Praxistheorie bestimmte kognitivistische Erklärungen, wie zum Beispiel kulturelle Schemata, für unzureichend hält, um zu erklären, wie sich Lebewesen sinnlichleiblich in ihrer Umwelt orientieren, so findet er in den spezifischen Aufgaben und Anforderungen, die sich ihnen tagtäglich stellen, einen überzeugenderen Ansatz: »And if people from different backgrounds orient themselves in different ways, this is not because they are interpreting the same sensory experience in terms of alternative cultural models or cognitive schemata, but because, due to their previous bodily training, their senses are differently attuned.« (Ingold 2000: 162) Auch die Ansitzjagd entspricht einer solchen Aufgabe. Sie stellt bestimmte Anforderungen an die Jagenden und sensibilisiert ihr sinnlich-leibliches Wahrnehmen dementsprechend. Obwohl jeder Ansitz in seinem situativen Setting einzigartig ist, so ähneln sie sich in Funktion und Ablauf dennoch. Um also eine solche »praktische Beherrschung« zu erreichen, müssen Jägerinnen und Jäger sich mit diesen Anforderungen vertraut machen. Martina formuliert es so: »Das muss dir bekannt vorkommen. Jetzt [als noch unerfahrene Jungjägerin] ist jede Situation neu.« Dies erreichen die Jägerinnen und Jäger vor allem durch Wiederholung und Übung. Meine Ansitz-Routine machte sich für mich in bestimmten Momenten bemerkbar: Der Blick durchs Zielfernrohr, der nicht nur seltener, sondern auch präziser wurde, aber auch der Umgang mit den Gegenständen, die ich dabei hatte, sind Indizien, an denen ich diese Übung festmachen konnte. Auch die Vertrautheit mit der Waffe schlug sich leiblich nieder: Weniger Probeanschläge waren nötig und die Handgriffe, um die Waffe zu entladen und zu entspannen ›saßen‹. Dieser Gegenstand – ein Gegenstand, der nicht nur Werkzeug für die Jagenden ist, sondern auch für sie

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und andere Menschen mit einem falschen Handschlag zur Lebensgefahr werden kann – war mir vertraut geworden. Die so erreichte Gewohnheit »ist der Ausdruck unseres Vermögens, unser Sein zur Welt zu erweitern oder unsere Existenz durch Einbeziehung neuer Werkzeuge in sie zu verwandeln« (Merleau-Ponty 1966: 173). Bei der Jagd geschieht beides: Die skilled perception erweitert jenes Sein zur Welt als eine sensibilisierte Aufmerksamkeit, mit der die Jagenden ihre Umwelt wahrnehmen. Insbesondere die Feuerwaffe erweitert als Werkzeug die Reichweite des jagenden Leibes enorm. Sie erlaubt es ihnen, Tiere aus relativ großer Distanz zu töten und ist für die gegenwärtigen Jägerinnen und Jäger unverzichtbarer Teil ihrer jagdlichen Praxis. Erst die Hybridität aus Leib und Jagdwaffe macht aus ihnen Jagende. Dabei sind solche Fähigkeiten »not an attribute to an individual body in isolation« (Ingold 2000: 291), sondern sie verweisen auf die intersubjektive Grundstruktur von Praxis, die zentral für die »Akkumulation kulturellen Wissens und dessen geregelte Anwendung in der lebensweltlichen Praxis« (Breyer 2011: 145) ist. In der Zeit zwischen den beiden beschriebenen Ansitzen sind Georg und ich nicht nur sehr regelmäßig zur Jagd gegangen, sondern unsere Erfahrung erweiterte sich auch durch die Gespräche mit anderen Jägerinnen und Jägern. Trafen wir uns vor und nach den Ansitzen in der Jagdhütte des Pächters, so war dies meist eine gesellige Runde von mehreren teils sehr erfahrenen Jägerinnen und Jägern. Viel von dem, was wir später als Fähigkeiten in den modus operandi unserer Leiber inkorporierten, war geschärft durch diese Unterhaltungen, in denen es meist um die Erlebnisse während der Jagd gegangen war. Diese Situation stellt daher auch beispielhaft dar, inwiefern Praxis und abstraktes Wissen einander bedingen. So wusste ich aus solchen Unterhaltungen, dass ich beim Ansitz auf Schwarzwild durchaus auch mal die Augen zu machen konnte. Indem die anderen Jägerinnen und Jäger von ihren Begegnungen mit Schwarzwild auf dem Hochsitz erzählten, lernte ich, dass Wildschweine in der Regel akustisch und olfaktorisch deutlich vernehmbar waren, wenn sie sich näherten. So ist eine Veränderung von leiblichen Fähigkeiten und damit des Körperschemas (Merleau-Ponty) – jenem Einheit stiftenden Prinzip – nur dort möglich, »wo ein Leib immer schon von anderen umgeben und der Veränderung ausgesetzt ist« (Kirstensen 2012: 36). Der jagende Mensch ist zwar der »wache Mensch« (Ortega y Gasset 1985: 94) – das bedeutet jedoch nicht, dass diese Wachsamkeit mit einer völlig uneingeschränkten Aufmerksamkeit zu verwechseln ist. Vielmehr stellt sie sich als punktuelle, auf besondere Wiese durch die Praxis geschulte Aufmerksamkeit dar. Die notwendigen Fähigkeiten entsprechen jedoch nicht einem einmal erreichten Standard. Sie müssen weiterhin aus-geübt werden. In der Zeit des Niederschreibens dieser Arbeit bin ich deutlich weniger zur Jagd gegangen, als in den Monaten der Feldforschung zuvor. Dies machte sich darin bemerkbar, dass die oben beschriebene »rhythmic fluency« (Ingold 2000: 353) von Bewegungen und Handlungsabläufen wieder öfter ins Stocken geriet.

IV Die Jagenden

Exkurs: Waffenhandhabung. Zwischen Theorie und Praxis Gerade der Umgang mit der Waffe zeigt zum Einen, dass – im Gegensatz zu Merleau-Pontys und Ingolds Annahme – die formale Instruktion beim Erlernen bestimmter »techniques du corps« (Mauss 1935) nicht zu unterschätzen ist. Zum Anderen lässt sich an diesem Beispiel aber auch sehr deutlich zeigen, wie sich die Akquirierung leiblicher Fähigkeiten vollzieht. Zunächst sind der Umgang mit der Waffe und die Schießfertigkeiten kein »Wissen, das in den Händen ist« und »allein der leiblichen Betätigung zu Verfügung steht« (Merleau-Ponty 1966: 174), oder als tacit knowledge durch »practical ›hands-on‹ experience« (Ingold 2000: 291) und Imitation (vgl. ebd.: 353) erreicht wird – im Gegenteil. Bevor wir den Umgang mit der Waffe auf dem Schießstand ausprobieren durften, gab es formale Instruktionen was die korrekte – also sichere Handhabung – anging. Das beinhaltete Theorie-Unterricht zum technisch-mechanischen Aufbau verschiedener Waffentypen, mit denen wir erst danach jenen ›hands-on‹-Kontakt haben durften. Aber auch Bewegungsabläufe, die wir einzuhalten hatten, fielen unter diese theoretischen Instruktionen, die von einem bestimmten kulturspezifischen, auf die Idee von ›Sicherheit‹ ausgerichteten Standard im Umgang mit Feuerwaffen geprägt waren. Wenngleich uns das zunächst noch wenig ›sagte‹ und sich all die Regeln und Vorschriften, technischen Details und mechanischen Auswirkungen erst in der praktischen Umsetzung mit konkreter Bedeutung aufluden, so waren diese Instruktionen dennoch Voraussetzung für das weitere praktische Erlernen des Schießens. Diese weiteren praktischen Übungen mit der Waffe in den Händen waren dann tatsächlich weit weniger von der Vermittlung theoretischer Konzepte abhängig. Die Schießübungen mit der Waffe auf dem Schießstand gestalteten sich vielfältig: Mit Schrot schossen wir auf sich schnell bewegende Tonscheiben, die von einer Wurfmaschine in unterschiedliche Richtungen in die Luft geschleudert wurden. Die Herausforderung hierbei liegt darin, nicht auf die Tonscheibe zu zielen, sondern die schnelle Flugbahn leiblich mit der Waffe in der Hand nachzuziehen, die Scheibe einzuholen und mit dem Schuss ›abzuholen‹. Wenn der Lauf der Waffe die Scheibe durch eine harmonische Bewegung erreicht hat, lohnt es sich abzudrücken. Der größte Fehler wäre, in diesem Moment innezuhalten, zu zielen und dann erst abzudrücken, denn so verfehlt die Schrotgarbe das Ziel mit Sicherheit. »Beim Abdrücken mitschwingen!«, riefen uns die Schießlehrer zu. Was sich leicht sagte und für uns alle logisch nachvollziehbar war, war dennoch nicht so leicht umzusetzen. 80 bis 100 Schüsse, so lautet die Faustregel, brauchen Anfängerinnen und Anfänger, um »ein Gefühl dafür« zu bekommen. Die Akquirierung dieses »Gefühls« kostete die Meisten von uns mehr oder weniger viel Mühe. »Das Phänomen der Erwerbung einer Gewohnheit als Verwandlung und Erneuerung des Körperschemas« ist dabei kein intellektualistisches Unterfangen (vgl. Merleau-Ponty 1966: 172) und

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Abbildung 13: Verschiedene Feuerwaffen. In der Nordeifel wird hauptsächlich mit Büchsen [Langwaffe mit Kugellauf] gejagt.

folglich halfen ab diesem Zeitpunkt auch theoretische Erklärungen und Instruktionen nur noch begrenzt weiter. Wie wir stehen sollten und wie wir die Waffe halten, hochnehmen und anschlagen sollten, wussten wir nun zwar. Dies umzusetzen, war jedoch etwas gänzlich anderes. Jede und jeder von uns musste für sich selbst lernen, einen noch relativ fremden Gegenstand in das subjektive Leibschema zu integrieren. Wie fremd die Waffe in ihrer Funktionsweise und ihrer Materialität noch war, bezeugten Hämatome an den Schultern, weil die Waffe nicht fest genug an die Schulter gedrückt worden war. So hatte sich der Rückstoß gegen die Schulter entladen können. Eine weitere schmerzhafte Erfahrung, die nicht wenige von uns erlebten, waren Quetschungen der Haut von den Metallverschlüssen der Waffen. Drei von zehn Tontauben – wie die Scheiben heißen – zu treffen, die Minimalanforderung zum Bestehen der Prüfung, schien in den ersten Wochen für manche, mich eingeschlossen, ein fernes Ziel. Erst durch stetige Wiederholung und die Unterstützung eines Schießlehrers, entwickelte ich irgendwann langsam ein Gefühl dafür, wie ich die Waffe richtig anschlug und die Tontaube mit dem Lauf der Waffe in einer flüssigen Bewegung einholte, um, ohne diesen flüssigen Bewegungsablauf zu unterbrechen, abzudrücken. In diesem Moment war das Wissen, dass ich treffen würde, »in den Händen« (Merleau-Ponty 1966: 174). Das Vergnügen,

IV Die Jagenden

dann das Zerschellen der Tonscheibe zu beobachten, ist groß. Ein Gefühl für einen erfolgreichen, sauberen Schuss zu bekommen, heißt nicht, diesen jedes Mal gleichermaßen abrufen zu können. Das Schießen als leibliches Vermögen entspricht nach Merleau-Ponty der Fähigkeit, »Situationen gewisser Gestalt in Lösungen eines gewissen Typs zu entsprechen« (ebd.: 172). Für das Schießen mit der Flinte heißt das, in unterschiedliche Richtungen geworfene Tonscheiben auf ihrer Flugbahn mit einer sich ausbreitenden Schrotgarbe zu treffen. Gerade das Schießen auf Tontauben bedeutet aber, dass »die Situationen von einem Fall zum anderen sehr verschiedene sein [können] und die ihnen entsprechenden Bewegungen sich […] weit weniger durch partielle Identität der Elemente als durch Gemeinsamkeit des Sinns ähneln.« (Ebd.) Statt einen immer gleichen Bewegungsablauf auszuüben, verfügen geübte Schützinnen und Schützen vielmehr über die Fähigkeit, den eigenen Leib und die Waffe in der Bewegung zu einer hybriden Einheit werden zu lassen, die sich situativen Anforderungen anpasst. Auch beim Kugelschuss ist die gefühlte Einheit von Mensch und Waffe seitens der Schützinnen und Schützen zentral. Während es beim Schießen mit der Flinte auf Tontauben gerade nicht darauf ankam, innezuhalten und zu zielen, lernten wir dagegen mit der Büchse [Gewehr mit Kugellauf] auf der 100- und auf der 50-Meter-Bahn möglichst präzise zu schießen. Aus dem Lauf einer Büchse wird, anders als beim Schrotschuss pro Schuss nur ein Projektil aus dem Lauf der Waffe abgefeuert. Den sauberen Schusse übten wir mit Hilfe von Pappscheiben, auf die wir schossen. Auf der 100-Meter-Bahn ist auf dieser ein Rehbock aufgemalt und das Ziel ist es, sitzend und mit aufgelegter Waffe möglichst genau ins Leben zu treffen. Im vorderen Schulterbereich des Rehbocks, wo bei einem echten Tier Herz und Lunge liegen, sind Ringe mit unterschiedlichen Werten eingezeichnet – je mehr der Schuss im Leben sitzt, also sofort tödlich ist, desto höher die Punktzahl. Hier besteht die Herausforderung für die Schützinnen und Schützen darin, möglichst genau zu zielen und ruhig abzudrücken, um die Waffe nicht zu verreißen – auch nicht um wenige Millimeter, denn auf die Distanz werden aus Millimetern entscheidende Zentimeter. Das gilt auch beim Schuss auf den Laufenden Keiler, so der Name der Schießübung auf 50 Meter Entfernung. Auch hier gilt es, möglichst ins durch Ringe gekennzeichnete Leben zu schießen. Zusätzlich bewegt sich die Pappscheibe mit dem aufgemalten laufenden Keiler jedoch am Ende Bahn von rechts nach links, was einen sauberen Schuss schwieriger macht. Während auf der 100-Meter-Bahn der Schuss auf der Ansitzjagd geübt wird, dient die Übung am Laufenden Keiler dazu, eine Drückjagd-Situation zu simulieren. Auf einer Drückjagd schießen Jägerinnen und Jäger in der Regel im Stehen und ohne die Waffe auflegen zu können, auf sich bewegende Tiere. Der Unterschied zwischen Übung und tatsächlicher Jagdsituation ist deutlich: Die aufgemalten Tiere sind bewegungslos auf diese Pappscheiben gebannt, während lebendige Tiere nie völlig regungslos auf den Schuss warten und noch im entscheidenden Moment eine unerwartete Bewe-

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gung machen können. Während die Pappscheibe mit dem aufgemalten Keiler in gleichmäßigem Tempo von Stahlseilen gezogen wird, bewegen sich die gejagten Tiere auf Drückjagden über unebenes Gelände und auch ihre Bewegungen selbst sind weit weniger ebenmäßig. Die Schüsse auf Drückjagden sind daher ungleich schwieriger, als die Übung auf dem Schießstand. In Kapitel 3.3 bin ich mit Augenmerk auf die Nachsuche schon auf die Folgen von Fehlschüssen auf Drückjagden eingegangen. Ein Schuss, der nicht tödlich ist, sondern ein Tier unter Umständen nur schwer verletzt, ist mit der Maxime der Weidgerechtigkeit nicht vereinbar. Um sich als weidgerecht verstehen zu können, müssen Jägerinnen und Jäger ihre Schießfertigkeiten also so lange an Pappbildern trainieren, bis sie geübt genug für den Schuss auf ein lebendiges Beutetier sind. Auch wenn die Übungen auf dem Schießstand nicht mit den Situationen draußen im Revier zu vergleichen sind, so trainieren sie doch die Integration des Gewehres ins Leibschema.

Abbildung 14: Rehbock-Scheibe

IV Die Jagenden

Abbildung 15: Einschusslöcher ›in den Ringen‹

»Mit der Waffe Eins werden« und »nicht bewusst abdrücken, sondern sich vom Knall überraschen lassen« lauteten die Anweisungen unserer Schießlehrerinnen und -lehrer. Wie aber präzise schießen ohne bewusst abzudrücken? Kann man überhaupt unbewusst abdrücken?, fragte ich mich, nach dem ich die ersten Male sehr bewusst abgedrückt hatte – und die Waffe dabei jedes Mal verrissen hatte. Erst durch die wiederholte Übung begannen diese Hinweise irgendwann für mich Sinn zu machen. Der Abzug der Waffe verfügt über einen Druckpunkt, der sich zwar in Newtonmetern angeben lässt, aber vor allem eine Sache des Gefühls ist. Übersteigt der Druck des aufliegenden Zeigefingers diesen Punkt, bricht der Schuss. Gerade als Anfängerin war ich versucht, den Moment, in dem der Schuss bricht, zu kontrollieren, um mich gerade nicht von dem damit einhergehenden Knall und dem Rückstoß überraschen zu lassen, da ich dazu neige, mich beim Knall zu erschrecken. Das Ergebnis des bewussten Abdrückens waren Einschusslöcher fernab der Ringe. Erst nach vielen Wiederholungen nahm das Erschrecken ab, während andere Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kurses sich als ›Naturtalente‹ beim Schießen herausstellten. Was ihnen leicht fiel, musste ich mir härter erarbeiten: Ruhe und Stabilität in meinem Leib zu erzeugen. Bewusst ein- und auszuatmen, war für mich bis dato eher eine Körpertechnik, die ich mit meditativen Übungen assoziierte. Tatsächlich liegt darin aber auch der Erfolg von Schützinnen und Schützen. Wenn der Atem aus Mund und Nase ausgeströmt und die Lungen leer sind, bleibt der Leib bis zum nächsten Einatmen in einer trägen Stabilität verhaftet. Wird nun der Druck des Zeigefingers auf den Abzug stetig erhöht, fängt der abgeschlaffte Rumpf den Rückstoß auf, statt sich unter der Anspannung des Einatmens an ihm

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zu stoßen. Während dieser bewusste Wechsel von An- und Entspannung im Sitzen und mit aufgelegter Waffe noch leichter durchzuführen ist, wird es am Laufenden Keiler komplexer. Ein sicherer Stand, leicht breitbeinig und ganz leicht nach vorne gebeugt, sorgen für Stabilität. Nun kommt jedoch die Herausforderung dazu, im Rumpf stabil, in der Hüfte jedoch beweglich zu bleiben, um die Bewegung des Laufenden Keilers mit der feste an die Schulter gepressten Waffe mitzugehen, den ›Keiler‹ mit dem Lauf der Waffe zu überholen und in diesem Moment den Druck auf den Abzug so zu erhöhen, dass der Schuss bricht und das Projektil sein Ziel erreicht. Ob ich dies wirklich verstanden hatte, zeigte sich jedoch nicht daran, dass ich jeden dieser Schritte aufsagen konnte, sondern daran, wo die Einschusslöcher auf der Pappscheibe lagen. Schießen zu können, baut also tatsächlich zunächst auf dem theoretischen Wissen auf, wie es geht. Durch Übung und Routine entsteht schließlich jenes wirkliche Verstehen, welches bedeutet »die Übereinstimmung […] zwischen Intention und Vollzug [zu erfahren]« (Merleau-Ponty 1966: 174).

Die synästhetische Qualität des Draußen-Seins während der Jagd Mit derlei Fähigkeiten und ihrer Waffe ausgerüstet, begeben sich Jägerinnen und Jäger dann auf die Jagd. Die Betrachtung des menschlichen Sensoriums, seine synästhetische Zusammensetzung und die praktische Schulung des sinnlichen-leiblichen Zur-Welt-Seins (Merleau-Ponty) erlauben nun einen Fortgang dieser Analyse. Wie ich eingangs angekündigt habe, wende ich mich nun nochmal dem synästhetischen Welterleben und der Erfahrung des Draußen-seins der Jagenden zu. Wie besonders die Schilderung des Ansitzes in jener kalten Augustnacht zeigt, können die Jagenden ihre Umwelt durchaus auch als sehr widerständig erleben. Während des besagten Ansitzes manifestierte sich die ›Widerständigkeit‹ der Umwelt in der alles umklammernden Kälte, die in der warmen Kleidung zuerst erträglich erscheint, mit und mit aber die Beine hinaufklettert und den ganzen Leib umschließt. So gehört auch das Schauen nicht zu einem ›leiblosen Blick‹, sondern ist eingebettet in das Zusammenspiel von Leib und Umwelt. Nicht das Beobachten alleine macht also die sinnlich-leibliche Erfahrung des Jagens aus, sondern eben dieses Zusammenspiel, welches keineswegs immer angenehm ist. Es verlangt von den Jagenden auch Durchhaltevermögen und eine gewisse Frustrationstoleranz. Tim und Simon reflektieren über die Ansitzjagd und überlegen, dass diese in einigen Situationen zunächst wenig reizvoll erscheint. Simon: »Wenn man sich dann mal abends – Freitagabends, Samstagabends – [an]setzt und…« Tim: »…Und du denkst dir: Wie dumm bist du eigentlich. Du sitzt hier…!« Simon: »…und die Leute gehen jetzt raus, feiern, was trinken, oder so…« Tanja: »Und ihr sitzt in der Kälte!« (lachend)

IV Die Jagenden

Simon: »…Und wir sitzen da, im Winter, auf der Kanzel, frieren, nichts zu sehen…!« (lacht) Tim: »Ja. Da musst du schon bescheuert für sein!«

Die Qualität dieses sinnlich-leiblichen Erlebens, das deutet auch die Aussage von Tim und Simon an, könnte kaum verschiedener sein, als jene Erlebensqualität des häuslichen Alltags. Schon die Architektur der Hochsitze von denen aus gejagt wird, sind für diese Form der Erfahrung bedeutsam. Ihr architektonischer Pragmatismus ist einerseits zwar auf die Erfordernisse der Jagd zugeschnitten und ermöglicht bestimmte Wahrnehmungserlebnisse, wie den erhöhten Blick, der eine Übersicht über die Landschaft erlaubt. Andererseits bietet diese Form der Architektur in den meisten Fälle kaum Komfort – im Zweifel auch kein Dach über dem Kopf oder getäfelte Holzwände, die vor plötzlichem Niederschlag schützen könnten. Meist dürftig isoliert und nur in den wenigsten Fällen wirklich dicht, zieht es durch die Spalten und Ritzen der Bretterwände, durch das Fenster, durch welches der Blick in die Landschaft fällt. Während das Inventar des häuslichen Alltags in der Regel ergonomisch angepassten Komfort bietet, sitzen die Jagenden meist auf kaum gepolsterten Bänken oder Stühlen, die nur einen geringen Bewegungsspielraum erlauben. Gut im Wind zu sitzen, bedeutet für Jägerinnen und Jäger, dass der Wind ihnen möglichst frontal entgegen weht, um den menschlichen Geruch aus ihrem Schussfeld zu tragen. Zugleich bedeutet es, diesem Wind mindestens an Kopf und Gesicht unentwegt ausgesetzt zu sein. Was im Sommer und an warmen Herbsttagen noch problemlos erträglich ist, erfordert spätestens an kalten Wintertagen und -nächten gute Ausrüstung, welche die ›Widerständigkeit‹ der Wind-und-WetterWelt abmildert. Da die meisten jagdlichen Aktivitäten erst im Spätsommer und Herbst beginnen und im frühen Frühjahr enden, ist Kälte eine vertraute Begleiterin der Jägerinnen und Jäger – gerade in der Eifel, wo geringe Durchschnittstemperaturen und hohe Niederschlagsmengen die Regel sind. Gerade dieses dem Wind und dem Wetter ausgesetzt sein, ermöglicht aber erst jene Erfahrungsqualität, die unter dem Terminus des ›Draußen-Seins‹ positiv bewertet wird. Die dürftige Abgeschlossenheit der Hochsitze lassen die Windund-Wetter-Welt den Leib der Jagenden berühren und umschließen. Sie kann auf ihn einwirken und ihn manchmal, wie im Falle klammernder Kälte, auch vereinnahmen. Jägerinnen und Jäger sind wärmenden oder brennenden Sonnenstrahlen, Niederschlag in jeder Form und kühlenden oder gar eisigen Windböen ausgesetzt, ohne dass schützende Hauswände, mehrfach-verglaste Fensterscheiben, Heizung oder Klimaanlage dieses Erleben abmildern. Zwar findet sich in der Landschaft der Eifel kaum irgendwo ›ungezähmte Wildnis‹, aber die Landschaft der Felder und Wälder bietet den Jagenden dennoch eine Erfahrungsstruktur, die sich vom häuslichen, dörflichen und städtischen Alltag unterscheidet. Und wenn sich der Unter-

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schied auch nur an Kleinigkeiten, wie dem Schlamm manifestiert, der die Schritte der Jagenden auf dem Pirschweg zum Hochsitz unsicherer macht, so liegt auch in diesem Detail schon eine Einladung, jenes Draußen-Sein zu erleben. Werden Schlamm und Matsch im häuslichen Alltag eher vermieden und als störend empfunden, so ist der unwegsame Pfad eine Einladung für das grobe Profil der Schuhe und Gummistiefel der Jagenden. Dabei handelt es sich bei dem Draußen-Sein und dem häuslichen Alltag nicht um zwei getrennte Sphären. Auch wenn sich die Erfahrung, ›draußen zu sein‹ qualitativ von jener häuslichen Sphäre unterscheidet, so darf dies keinesfalls mit ›purer Natur‹ verwechselt werden, denn »the world can appear in this latter guise only to a creature that can disengage itself« (Ingold 2000: 167). Von der jagdlichen Umwelt, in die sich die Jagenden begeben, sind sie aber keineswegs entkoppelt. Sie stellt auch keinen Gegen-Ort zum häuslichen Alltag dar, denn beides gehört gleichermaßen der selben Lebenswelt der Jagenden an. Das Smartphone oder Mobiltelefon, das schon aus Sicherheitsgründen für kaum eine Jägerin oder einen Jäger auf der Jagd fehlen darf, ist wohl das beste Beispiel dafür, wie diese Sphären sich auf der Jagd miteinander vermengen. Dennoch eröffnet das Draußen-auf-der-Jagd-Sein eine spezifische Qualität des Erlebens. Der Reiz des Draußen-Seins auf der Jagd liegt zum Einen in der synästhetischen Wahrnehmung der Wind-und-Wetter-Welt. Die Jagenden sind, sobald sie in Jagdkleidung und mit geschulterter Waffe die letzte Türe dieser häuslichen Sphäre hinter sich geschlossen haben – und sei es die ihres Geländewagens –, umschlossen von einer unendlichen Dichte an Wahrnehmungsangeboten der jagdlichen Landschaft, in der sie sich nun befinden. Unterschiedlich stark dringen einzelne Umwelteindrücke ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Die undurchdringliche Dichte dieser multisensorischen Wahrnehmung verlangt nach Selektion. Besonders geübte Jägerinnen und Jäger wissen, wie wir gesehen haben, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten. Doch egal wie fokussiert ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Aspekte auch ist, so verschwindet dasjenige, was nicht direkt im Zentrum dieses Aufmerkens ist, deshalb nicht einfach. Es ist dabei mehr als nur ein Hintergrund der sinnlich-leiblichen Erlebensstruktur, da es das Gefühl von DraußenSein ebenso mitkonstituiert, wie jene bewusst wahrgenommenen Aspekte. Draußen zu sein, bedeutet sinnlich-leiblich die Unabwendbarkeit der lebendigen Umwelt zu erfahren, in welche die Jagenden eingebettet sind. Diese zeichnet sich vor allem durch Wind-und-Wetter-Phänomene aus, aber auch durch sich unaufhaltsam verändernde Lichtverhältnisse, so wie das An- und Abschwellen der Geräuschkulisse jener humanimalischen Landschaft und ihren manchmal eindeutigen, manchmal diffusen Gerüchen. Während im häuslichen Alltag dem Einbruch von Dunkelheit, Kälte und übermäßiger Wärme in der Regel unmittelbar etwas entgegengesetzt werden kann – das Anknipsen von elektrischem Licht, das Aufdrehen der Heizung oder das Anschalten der Klimaanlage oder eines Ventilators – so entzieht sich dieses Draußen einem Einwirken oder einer Regulation weitestgehend. Es lässt sich

IV Die Jagenden

nicht von der Hand weisen, dass die sinnlich-leibliche Erfahrung des Jagens in einem mehr oder minder deutlichen Gegensatz zur Erfahrungswelt des häuslichen Alltags steht. Auf Wind und Wetter haben die Jagenden ebenso wenig Einfluss wie auf die Lichtverhältnisse – um erfolgreich zu jagen, müssen sie sich mit Leib und Waffe in dieser Umwelt einrichten.

Die Ausrüstung: Von den Möglichkeiten den jagenden Leib zu unterstützen Ihre Ausrüstung hilft den Jägerinnen und Jägern dabei, sich auf der Jagd draußen einzurichten. Neben Kleidung und Waffe besteht diese Ausrüstung in der Regel auch aus technischen Geräten, welche dazu konzipiert sind, den Leib der Jagenden und ihr sinnliches Vermögen zu unterstützen und zu verstärken, oder zu schützen und zu dämpfen. Um zu beschreiben, wie sich die Jagd als leibliche Praxis darstellt, kann der Aspekt der Ausrüstung und der Technik also nicht unberücksichtigt bleiben. Ich werde daher im Folgenden kurz charakterisieren, wie ihre Ausrüstung die Leiblichkeit der Jagenden unterstützt und dann der Frage nachgehen, welchen Einfluss sie auf den Reiz der Jagd hat. Die meisten Jägerinnen und Jäger nehmen nicht nur ihre Waffe und Munition mit, wenn sie raus gehen14 , sondern sie haben in der Regel eine Jagdausrüstung. Diese kann minimalistisch gehalten sein, oder auf jede Eventualität ausgelegt sein. »Mehr als in meine Jackentaschen passt, brauche ich nicht – und die Waffe habe ich ja eh dabei.«, sagte mir ein älterer Jäger, der mich und Heike eines Wintermorgens nach einem Gemeinschaftsansitz mit seinem Auto von unseren Hochsitzen abholte. Tatsächlich habe ich aber nur wenige Jägerinnen und Jäger kennengelernt, welche wie dieser Mann, ohne einen Rucksack zum Ansitz gegangen sind. Während der Jagd entbehren Jägerinnen und Jäger zunächst an Komfort, wie ich am Beispiel der pragmatischen Architektur von Hochsitzen und dem relativ ungeschützten Erleben von Wind und Wetter gezeigt habe. Auch erscheint der menschliche Leib zunächst eher defizitär in Anbetracht der teils unwirtlichen Bedingungen, denen sich Jägerinnen und Jäger – speziell im Winter – aussetzen. So richtig Ingolds Feststellung ontologisch auch sein mag, dass die Welt, die wir bewohnen uns nicht entgegensteht, sondern uns umschließt (vgl. Ingold 2000: 168), so richtig ist auch, dass dieses von der Welt umschlossen Sein phänomenal nicht immer als harmonisch, sanft oder angenehm in Erscheinung treten muss. Auf der Jagd zu sein, heißt also nicht 14

Statt zu sagen, dass man »auf die Jagd geht«, hatte es sich unter vielen Jägerinnen und Jägern, mit denen ich gesprochen habe, eingebürgert zu sagen, man »gehe raus«. Nicht nur, dass das schneller gesagt ist und diese Formulierung vielleicht auch eine gewisse Selbstverständlichkeit suggeriert, mit der die Jagd zum Leben dieser Menschen dazu gehört oder wenigstens dazugehören soll – sie referiert eben auch auf jenes Draußen-Sein, in das man auf der Jagd eintaucht. Und auch wenn es sich nicht um zwei völlig verschiedene, klar abgegrenzte Sphären handelt, so sagt diese Formulierung doch etwas über diese spezifische Qualität des Jagens als leibliche Praxis aus.

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nur die Umwelt multisensorisch und mit geübtem Blick wahrzunehmen. Es heißt auch, den Leib für die Jagd auszurüsten, denn die Umwelt ist nicht nur affordance (Gibson 2015), sondern kann auch resistance (Macnaghten/Urry 2000). Mit dem Jäger, der nicht mehr als seine Waffe und das, was in seine Jackentaschen passt, zur Jagd mitnimmt, unterhalten Heike und ich uns noch etwas über dieses Thema. Er erklärt während der Autofahrt Richtung Jagdhaus, dass jedoch eines unverzichtbar sei, nämlich gute Kleidung. Doch was ist gute Kleidung? Die Textilen, auf die Jägerinnen und Jäger heute zurückgreifen können, sind vielfältig. Wolle, Loden, Filz und Leder gehören dabei ebenso zu den Materialien, aus denen die Kleidung der Jagenden besteht, wie High-Tec-Fasern, die nicht nur vor Dornen, sondern auch vor den Zähnen von Wildschweinen schützen. Atmungsaktiv, wasserdicht und elastisch oder isolierend, warm und gefüttert, mit vielen Taschen und Reißverschlüssen, braun- oder olivfarben, Signalkleidung, Tarnkleidung – für jede jagdliche Eventualität gibt es ein vielseitiges Angebot an Bekleidung, von modischen Detailfragen ganz abgesehen. Natürlich erfüllt Kleidung einen sozialen Zweck für die Jägerinnen und Jäger, wie ich in Kapitel 4.2 – Weidgerechtigkeit als Mittel der Distinktion schon erläutert habe. Aber vor allem muss sie zweckmäßig sein und ihr erster Zweck ist der Schutz des menschlichen Leibes vor den Widrigkeiten des draußen auf der Jagd Seins. Sinnvoll ist die Kleidung dann, wenn sie sich nicht nur dem jagenden Leib anpasst. Sie muss sich auch den landschaftlichen Herausforderungen und der Wind-und-Wetter-Welt, in der gejagt wird, anpassen. Für die Jagd in der Eifel, wo es viel regnet, Schnee und Eis keine Seltenheit sind, die Landschaft hügelig und die Jagdreviere manchmal unwegsam sind, erweisen sich Jagdstiefel oder Schuhe mit grobem Profil als sinnvoll. Sie verhindern nicht nur das Wegrutschen auf schlammigen Wegen oder rutschigen Hochsitz-Leitern, sondern schützen gleichzeitig die Füße vor Nässe und Kälte. Ein Hut kann nicht nur Schutz vor Niederschlag sein, sondern auch Sonnenschutz. Nicht nur die Schuhe und die Kopfbedeckung, auch die spezielle Jagdkleidung dient dazu, das Empfinden von Nässe, Wind und Kälte abzumildern. Draußen, jenseits der häuslichen Sphäre, wo ein Dach über dem Kopf nicht selbstverständlich ist, erleben die Jagenden ihre Leiblichkeit oftmals als angreifbar und verletzlich. Die Kleidung übernimmt die schützende und umhüllende Funktion für diesen Kälte, Wind und Nässe gegenüber sehr empfindlichen Leib. Für die meisten ist jedoch weit mehr als nur gute Kleidung unverzichtbar. Elke erläutert mir, was sie typischerweise mit auf die Jagd nimmt.

Elke: »Fernglas, die Ohr-Pömpels [Gehörschutz], Messer habe ich drin. Dann habe ich auch Gummihandschuhe drin – für den Notfall. Und ja… so was ich denn dann glaube, was ich noch brauche. Also Tempotaschentücher, Handy, und Taschenlampe und… Und das ist alles nicht schwer! Aber alles zusammen? Hat dann schon sein Gewicht. Ich

IV Die Jagenden

würde mich auch gar nicht so vollpacken. Jetzt muss man dazu sagen: Da wo die Jagd [das Jagdrevier] ist, das ist relativ bergig. Wenn man da den Berg hoch kommt… Da muss man dann kein zusätzliches Gewicht mitschleppen.«

Elkes Auflistung an Gegenständen kann als typisch angesehen werden. Wenngleich andere Jägerinnen und Jäger vielleicht das eine weglassen oder etwas Anderes noch mitnehmen, so finden sich die meisten dieser Dinge wohl in fast jedem Jagdrucksack. Dabei helfen Taschentücher nicht nur bei laufenden Nasen, sondern sie dienen vor allem dazu, einen Anschuss [Stelle im Gelände, wo ein Tier angeschossen wurde] zu markieren, wenn das Tier nicht in der Nähe verendet und im Zweifel eine Nachsuche erforderlich ist. Der Anschuss sollte für die Hunde möglichst präzise markiert sein. Das Weiß der Taschentücher ist im Grünbraunbeige der Landschaft gut zusehen, so wie auch gelbes oder rotes Kreppband. Die Latexhandschuhe sind zum Schutz vor Wildtierkrankheiten und Seuchen nützlich und beim Ausnehmen von erlegtem Wild auch hygienischer. Dann finden sich in den Taschen und Rucksäcken der Jägerinnen und Jäger auch solche Dinge, welche die Jagd schlicht angenehmer machen oder speziellen Zwecken dienen, wie die kleinen, Pfeifen-ähnlichen Lockinstrumente für die Lockjagd auf Rehböcke oder Füchse. Nachtsichtgeräte und Wärmebildkameras erlauben es, auch in der Dunkelheit beobachten zu können. Selbst wenn sie aus juristischen Gründen nicht als Nachtzieloptik mit der Jagdwaffe verbunden werden dürfen, helfen sie den Jägerinnen und Jägern dennoch beim Ansprechen von Wild. Zur Winterzeit gehören auch Wärmepads, die sich in die Schuhe kleben lassen, eine isolierende Sitzunterlage oder gar ein Ansitzsack [Schlafsack-ähnlicher Kleidungsgegenstand] zu beliebten Ausrüstungsgegenständen. Manche Jägerin und mancher Jäger nimmt zusätzlich zur Jagdwaffe auch noch eine Pistole oder einen Revolver mit auf die Jagd, die sich in einigen Situationen besser als das Gewehr eignen, um einen Fangschuss [Schuss, der ein verletztes Tier tötet] aus nächster Nähe abzugeben. Für die Rote Arbeit [Aufbrechen und Ausnehmen eines toten Tieres], die im Zweifel auch schon im Revier getan werden muss, gibt es neben dem Jagdmesser auch diverse andere hilfreiche Gegenstände, welche diese Arbeit unterstützen. In meinem Rucksack findet sich eine etwa handgroße, scharfe Säge mit stabilem Kunststoffgriff, um den Brustbeinknochen durchzutrennen. All diese Ausrüstungsgegenstände unterstützen in einer Weise die Leiblichkeit der Jagenden. Sie erfüllen diesen Zweck entweder, indem sie die leibliche Empfindsamkeit dämpfen oder indem sie sie noch verstärken. Die Kleidung, der Hut und die Schuhe umhüllen den menschlichen Leib schützend und mildern so die Einflüsse der Umwelt ab. Neben bestimmten Materialien helfen auch Technologien dabei, die Empfindsamkeit des Leibes abzumildern. Die Wärme-Pads für die Schuhe sind ein Beispiel dafür. Auch der Gehörschutz dient dazu, die Reizbarkeit des menschlichen Gehörs bei der Schussabgabe nicht zu sehr zu strapazieren.

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Sitzt der Gehörschutz korrekt, also dicht auf den Ohren, verstummt die Umwelt und sogar der ohrenbetäubend laute Knall eines Schusses ist erträglich. Der Gehörschutz ist jedoch auch in anderer Hinsicht ein interessantes Beispiel. Neben jenen Standard-Ausführungen, die aus halbrunden, mit Schaumstoff gefütterten Plastikschalen bestehen, die mittels eines Bügels auf die Ohren gesetzt werden können, gibt es auch den elektronisch verstärkten Gehörschutz. Dieser vermag nicht nur Geräusche abzumildern, sondern kann sie auch verstärken und ist damit zugleich ein Beispiel für jenen anderen Aspekt der jagdlichen Ausrüstung – nämlich als die leibliche Empfindsamkeit verstärkend. Jedes Knacken und Rascheln, welches das menschliche Gehör – wenn überhaupt nur leise – vernehmen kann, wird durch diese Technik um ein Vielfaches verstärkt. Wie die auditive Wahrnehmung durch solche Technologie erweitert wird, so können Zielfernrohr, Fernglas, Wärmebildkamera und Nachtsichtgerät das visuelle Wahrnehmen schärfen, erhöhen und verbessern. Was mit bloßem Auge verschwimmt, wie Zaunpfähle, Grashalme, Schatten und Licht, wird mit einem Blick durch das Fernglas wieder scharf und klar erkennbar. Mit dem Zielfernrohr und dem darin eingebauten Absehen können Jägerinnen und Jäger ihre Umwelt wortwörtlich ins Visier nehmen. Das Absehen ist im Zielfernrohr eingebaut und besteht entweder aus schwarzen Hilfslinien oder einem elektronisch einschaltbaren rot leuchtenden Punkt. Die Linien und der Punkt sind auf die Stelle des Bildausschnittes zentriert, wo das Projektil auftreffen würde, wenn in diesem Augenblick ein Schuss abgegeben würde. In der Regel sind die Zielfernrohre verstellbar, so dass das Ziel herangezogen und vergrößert werden kann. Nachtsichtgeräte und Wärmebildkameras dienen dazu, das Sehen bei Dunkelheit zu ermöglichen. Wo vorher die Schwärze der Nacht die Landschaft verschluckt hat, taucht sie per Knopfdruck wieder auf. Auch wenn all diese Nachtsichtgeräte bisher nicht als Nachtzielgeräte zur tatsächlichen Jagdausübung genutzt werden dürfen, sind sie dennoch bei vielen Jagenden beliebt – vermitteln sie doch einen Überblick über das nächtliche Geschehen vor Ort, welches dem menschlichen Sensorium ohne dieses Hilfsmittel ansonsten verschlossen bliebe. Beide optischen Hilfen gibt es auch mit elektronischen Entfernungsmessern, die berechnen, wie weit ein anvisiertes Objekt entfernt ist. Gerade in die technologische Erweiterung des Sehens als für die Jagd zentrale Sinnesmodalität ist bis heute viel Erfindungsgeist geflossen. Aber auch an anderer Stelle ermöglichen Technologien einen erweiterten Überblick über das Geschehen im Jagdrevier. So gehören elektronische Meldesysteme an Lebendfallen, Wildkameras und Fotofallen, die Signale und Bilder aus dem Revier in Echtzeit auf das Smartphone senden können, inzwischen zum Standardrepertoire vieler Jägerinnen und Jäger. Solcherlei technologische Hilfsmittel vermitteln eine effiziente Überwachung des Jagdreviers bei zeitgleicher Reduktion der leiblichen Präsenz der Jagenden im Revier. Für die meisten Jägerinnen und Jäger, welche die Jagd als Hobby ausführen, werden solcherlei Technologien als praktisch bewertet. Gerade wer nicht in der Nähe des Jagdreviers lebt, kann effizienter Jagen, wenn

IV Die Jagenden

er oder sie weiß, zu welcher Tages- oder Nachtzeit die Kirrung oder die Salzlecke wahrscheinlich aufgesucht wird. Weniger Störung im Revier durch die Jagenden führt auch bei den Gejagten zu geringerem Stress – so die Idee der Jagenden, die auf diese Technologien zurückgreifen. In der Historie menschlicher Jagdausübungen haben verschiedene Technologien, mit deren Hilfe die menschlichen Jägerinnen und Jäger ihre leiblichen Fähigkeiten erweitert und verstärkt haben, eine lange Tradition. Ohne eine Genese all dieser Gegenstände ins Feld zu führen, liegt auf der Hand, dass wohl die Entwicklung der Feuerwaffen die bedeutsamste für die deutsche Jagdpraxis darstellt. Wie auch für andere Ausrüstungsgegenstände, so gilt, dass »these [technologies] reshape the affordances of nature by expanding the range of possible actions available to the body« (Michael 2000: 112). In geradezu beispielloser Weise erweitert die moderne Feuerwaffe die tödliche Durchschlagskraft bisheriger Waffensysteme und damit den potentiellen Jagderfolg ihrer Nutzerinnen und Nutzer. Setzte der Jagderfolg bis dahin eine relativ große Nähe zwischen Jagenden und Gejagten voraus, so waren nun tödliche Schüsse aus einer Distanz möglich, die mit Speeren und Pfeilen nur schwer erreicht werden konnte. Wie sehr die Jagdpraxis von den Waffentechnologien abhängt, lässt sich am Beispiel der Feuerwaffe gut nachvollziehen. Während die Pirsch, das unbemerkte Anschleichen der Jagenden an ihre Beutetiere, für die Jagd mit Pfeilen und Speeren unabdingbar war, wird dies mit der sich erhöhenden Reichweite und der Entwicklung der Zielfernrohre zunehmend unnötig. So kann Hiller jagdhistorisch für den deutschen Raum nachweisen, »daß gerade die weittragenden und dennoch sicher tötenden Waffen die Pirsch […] in den Hintergrund gedrängt haben.« (2002: 186) Die Pirschjagd galt lange »als die typische Jagd der Deutschen« (ebd.: 177) und war »wegen der erforderlichen Fähigkeiten und des sich während des ›Pürschganges‹ bietenden Naturgenusses so außerordentlich beliebt. » (ebd.) Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war sie praktisch jedoch immer weniger relevant, was jedoch auch geo-strukturelle und soziale Gründe hatte, auf die ich im vorherigen Kapitel eingegangen bin. Die Ansitzjagd, die diesen geo-strukturellen Bedingungen entgegenkam und heute die populärste Jagdart in Deutschland darstellt, galt damals eher als minderwertig: »Der Ansitz in Erdlöchern, Schirmen oder auf Kanzeln galt bis zur Jahrhundertwende […] durchweg als die typische Jagdmethode der neidischen Nachbarn oder der Bauern, denen es weniger um die Poesie des Weidwerks, als um das hinterlistige Niederschießen […] ging.« (Hiller 2002: 187). Wenn also die von der Firma Mauser entwickelten Karabiner 98, jene »Jahrtausendentwicklung« (Reb 2014: 677) im Bereich der Waffentechnik »ein Proteststurm gegen die als ›Kilometerbüchsen‹ bezeichneten Waffen« (Hiller 2002: 184) unter vielen zeitgenössischen Jägerinnen und Jägern auslösten, so richtete sich dieser nicht alleine gegen die Technik selbst. Das Gewehr, welches nicht nur präzise Schüsse abzu-

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geben vermochte, sondern auch bis dahin ungekannte Reichweiten ermöglichte, stand im Einklang mit dem sich ohnehin vollziehenden Wandel der Jagdpraxis. Dieser strukturelle Wandel hin zur Ansitzjagd wurde von diesen Jägerinnen und Jägern mit dem »Verlust jägerischen Könnens« (ebd.: 185) und damit mit dem Verlust von Weidgerechtigkeit gleichgesetzt. Heute wird die, durch diesen und folgende Waffentypen erreichte Präzision dagegen geradezu als Inbegriff für die weidgerechte Jagd erklärt, erleichtert sie doch jenen sauberen Schuss. Eine solch veränderte Beurteilung technischer Neuerungen gab es auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei der Zieloptik. Ein Rückblick in das beginnende 20. Jahrhundert zeigt das: »Natürlich schoss ein Jungjäger zu Hermann Löns’ seligen Zeiten nur über offene Visierung. Zielfernrohre waren verpönt. Man gestattete sie allenfalls älteren Herren mit nachlassender Sehkraft, aber irgendwie blickte man auch mitleidsvoll auf sie herab.« (Nußmen 2017: 10) Heute gehören Zielfernrohre zur herkömmlichen Ausrüstung der Jagenden und eher das Fehlen eines solchen wirft Fragen im Bezug auf die Weidgerechtigkeit auf. Lässt sich so überhaupt sicher ansprechen? Und doch wird auch gegenwärtig jede technologische Entwicklung verlässlich von Kritik und Skepsis begleitet. Kritikerinnen und Kritiker mahnen angesichts der technischen Möglichkeiten, dass »[d]ie Jagd […] vom Menschen nicht unbegrenzt ausgeführt werden [soll]« (Adler 2017: 15). Letztendlich bleibt auch die Debatte um das Verhältnis von Jagenden und Gejagten von den technologischen Entwicklungen nicht unbeeinflusst. Wie schon ihre Vorgängerinnen und Vorgänger, so sehen auch einige Zeitgenossinnen und Zeitgenossen die jagdliche Ethik von der Technik überrollt (vgl. Bertram 2017: 14) und stellen angesichts einer »Aufrüstung der Jagd« (ebd.) fest: »Nicht alles, was technisch möglich ist, ist ethisch vertretbar.« (Ebd.) Während sich diese Kritikerinnen und Kritiker im Namen der Weidgerechtigkeit auf »eine soziale Haltung gegenüber dem Wild« (Adler 2017: 15) berufen, argumentieren Befürworterinnen und Befürworter ebenfalls mit dem Verweis auf die Weidgerechtigkeit. So sehen sie in neuen Technologien keinen Verstoß gegen weidgerechte Prinzipien. Stattdessen böten viele Technologien, wie eine verbesserte Optik »in erster Linie Sicherheit in Sachen Waidgerechtigkeit, Tier- und Muttertierschutz. […] Fehlabschüsse durch falsches Ansprechen gehören damit der Vergangenheit an. » (Teppe 2017: 15). Auch helfen Technologien wie Wildkameras, die Jagd »effektiver und für das Wild störungsärmer« (Meyer 2017: 16) zu gestalten, indem »man sich so manchen unnötigen Ansitz [erspart].« (Ebd.) Interessanterweise sind es also Kritikerinnen und Kritiker, ebenso wie Befürworterinnen und Befürworter, welche sich für die Beurteilung neuer technologischen Möglichkeiten gleichermaßen auf die Weidgerechtigkeit beziehen, als jenem Kodex, der die Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten reguliert. Wie auch immer diese Bewertung ausfällt, ob die »neutechnischen Zugriffsmög-

IV Die Jagenden

lichkeiten, die die ›totale Jagd‹ propagieren« (Adler 2017: 15) Unbehagen auslösen, oder ob sie schlicht dem Wunsch vieler Jagenden nach Effizienz nachkommen und »die Erfolgsaussichten bei überschaubarem Zeitbudget erhöhen« (Nußmen 2017: 10) – eines ist klar: Die Ausrüstung der Jagenden hat nicht nur praktische, sondern auch ethische Aspekte.

Konklusion: Der Reiz der Jagd Die Jägerinnen und Jäger, die ich kennengelernt habe, haben die Ansitzjagd in der Regel nicht als minderwertig empfunden und standen in der Regel auch den technischen Innovationen als praktische Hilfsmittel eher offen gegenüber. Dennoch wird auch gegenwärtig jener »Verlust jägerischen Könnens« (Hiller 2002: 185) und eine damit einhergehende Ignoranz der »Poesie des Weidwerks« (ebd.: 187) von einigen Jägerinnen und Jägern beklagt. Tim und Simon, beide Ende zwanzig, sind ein Beispiel dafür. Sie äußerten sich im Gespräch über ihre Jagdpraxis, die Ansitzjagd, und übten auch Kritik daran: Simon: »Wenn man vielleicht auch sagt, die Jagdart… wie man es macht. Was mich zum Beispiel total fasziniert: Ein Bekannter von mir der fährt einmal im Jahr nach Schottland. Das ist natürlich ein ganz anderes Jagen da. Du pirschst dich da wirklich ran, robbst da über den Boden. Das sind Heidelandschaften da, ne… Das ist natürlich was ganz Anderes, wie hier. Du sitzt hier…« Tim: »…drei Stunden auf dem Hochsitz.« Simon: »Ja! Und wartest einfach.« Tim: »…und wartest einfach.« Simon: »… und da bist du unterwegs. Du guckst mit dem Glas und wenn du was siehst, versuchst du, näher ran zu kommen. Also einfach eine ganz andere Art zu Jagen. Also, ich glaube, das würde mich noch mehr reizen. Ob das jetzt ein Bock ist, oder ein Elch – mich würde da eher das Wie faszinieren. Also, ich glaube, da würde noch mehr alles zusammen kommen.« Tim: »Ja. Hier… in unserer ›Totschießbude‹ [Kanzel]… Du sitzt und wartest.« Simon: »Das kann jeder.« Was Tim und Simon eher als der erfolgreiche Schuss interessiert, ist eben jene »Poesie des Weidwerks«. Es geht für sie um die Herausforderung dieses »jägerischen Können[s]«, um das »erst mal soweit kommen«, wie Hermann es in einem Gespräch über den Reiz der Jagd formuliert hat, und diese Dramaturgie der Spannung beinhaltet auch die Möglichkeit des Scheiterns. In diesem Fall wäre ein Jagdtag erfolglos, nicht, weil einfach kein Wild vor der Kanzel auftauchte, sondern weil man womöglich selbst für dieses Scheitern verantwortlich ist. Gleichzeitig bedeutet dies aber auch, dass die erfolgreiche Jagd einen anderen Stellenwert erhält. Das Resultat wäre eine Selbstwirksamkeit als Jagende, welche nicht so sehr im Schat-

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ten einer als übermächtig empfundenen Infrastruktur und Technologie steht. In diesem Sinne verwunderte es mich auch nicht, dass Simon und Tim nicht nur von anderen Jagdpraktiken als den heimischen fasziniert waren, sondern auch von anderen Waffensystemen. Simon: »Wenn es hier Bogenjagd gäbe, ich würde das machen!« Tanja: »Weg von den Feuerwaffen…?« Simon: »Ja. Weil, das ist wirklich noch Jagen. Weil beim Bogen musst du wirklich – ja klar, so nah wie möglich – aber so, ich glaube, 20 Meter…« Tim: »Ja, so 20 Meter.« Tanja: »Oh, was?! Das ist schwierig.« Simon: »Mehr darf es nicht sein. So, und da spreche ich eigentlich von ›Jagd‹. Wo wirklich die Herausforderung ist, wirklich so nah wie möglich da ran zu kommen. Das ist doch… ja.« Trotz ihres Wunsches nach mehr Selbstwirksamkeit auf der Jagd ist es nicht so, dass Tim und Simon die konventionelle Ansitzjagd nicht gerne ausüben. In ihrem Wunsch, eine bestimmte Erlebensqualität noch zu intensivieren, (»da würde noch mehr alles zusammenkommen«), geht es nicht um eine völlig neue Erfahrung. Es geht ihnen darum, das, was die Jagd ausmacht, noch einmal auf andere herausforderndere Weise zu erleben. Der Gegenstand dieser Erfahrung, das auf der Jagd Sein, als ein bestimmtes leibliches Engagement in der Umwelt ist und bleibt jedoch das Fundament dieses Wunsches. Es scheint mir daher auch lohnenswert zu sein, diesen Aspekt weiter zu verfolgen. Wenn trotz aller technischen Neuerungen bis heute jener ›Naturgenuss‹ während der Jagd in Gefahr gewähnt wird, so muss er sich – all jenen Innovationen im Bereich Ausrüstung und Waffentechnik zum Trotz – auch bis heute erhalten haben. Dieser Gedanke führt mich zurück zu dem Ausgangspunkt dieses Kapitels, nämlich der Frage, auf welche Weise der jagende Leib phänomenal angesprochen wird. Dabei hat sich das Draußen-Sein als zentraler Moment herausgestellt, der von vielen Jägerinnen und Jägern als positiv bewertet wird. Es gestaltet sich, wie ich gezeigt habe, als ein synästhetisches Erleben, welches die Aufmerksamkeit der Jagenden multisensorisch affiziert. Und doch unterscheidet sich das Draußen-Sein während der Jagd trotz allen kontemplativen Aspekten von anderen Outdoor-Aktivitäten, wie Wandern, Reiten, Radfahren, Laufen oder einem Spaziergang. Tim: »Also, wenn ich nur sage: ›Ich liebe die Natur.‹ Dann könnte ich ja auch so raus gehen… Aber beim Jagen ist das einfach noch mal was ganz Anderes.« Tanja: »Aber was ist das denn eigentlich? Also, warum kann nicht einfach so rausgehen?« Tim: »Weil man gerne Beute machen möchte!«

IV Die Jagenden

›Beute‹ machen jedoch nicht die Ausrüstungsgegenstände oder die Waffen alleine. Beute zu machen, bleibt trotz allen technischen Erweiterungen der Leiblichkeit, auf die Jägerinnen und Jäger gegenwärtig zurückgreifen können, ihnen selbst vorbehalten. Auch in der Erfahrung, Beute zu machen, liegt der Reiz der Jagd. Die Wildkameras im Revier ersetzen den Ansitz und das Warten der Jagenden nicht, selbst wenn sie es lenken. Der Entfernungsmesser im Zielfernrohr ist solange nutzlos bis ein Blick hindurch gelangt, der fähig ist, zu erkennen, was er sieht. Auch schießt kein Gewehr von alleine und der saubere Schuss will gelernt sein. Das Erlernen dieser leiblichen Fähigkeiten lässt sich technologisch nicht ersetzen. Konstitutiv für die Jagd, wie sie gegenwärtig von den deutschen Jägerinnen und Jägern verstanden wird, ist ihre potentielle Erfolglosigkeit. Diese potentielle Erfolglosigkeit hat Geschichte und war die meiste Zeit in der Beziehung von Jagenden und Gejagten in den unzureichenden Möglichkeiten der Jägerinnen und Jäger begründet. Spätestens mit der Entwicklung der Feuerwaffe und korrelativen gesellschaftlichen Entwicklungen, vor allem der Industrialisierung und der Zersiedelung der Landschaft, veränderte sich dieses Verhältnis der Jagenden gegenüber den Gejagten in eine bestimmte Richtung: »From trust to domination« (Ingold 2000: 61). Teil dieser menschlichen Dominanz im Feld der Jagd ist es sicherlich, zu entscheiden, unter welchen Bedingungen die Jagd noch Jagd ist und sich vom reinen Töten unterscheidet. Im Falle der deutschen Jagd wird diese als leibliche Praxis gegenwärtig von Jagdmoral, Gesetzen und Normen so stark reglementiert, dass die Jägerinnen und Jäger auch heute noch zur Jagd aufbrechen, ohne wissen zu können, ob sie erfolgreich sein werden. Dazu trägt gegenwärtig auch bei, dass im Sinne der Weidgerechtigkeit in Deutschland viele potentiell sichere Methoden, wilde Tiere zu fangen und zu töten, schlicht gesetzlich verboten sind. Das beinhaltet auch eine restriktive Lenkung der technischen Innovationen. Weiterhin können Jägerinnen und Jäger nicht bestimmen, ob und wann die Tiere, die sie jagen dürfen, ihnen tatsächlich begegnen werden. Sie haben auch keinen Einfluss auf Wind und Wetter. All diese Faktoren lassen sich schlecht kontrollieren und haben großen Anteil an der Jagd, die daher mit Recht als humanimalisch verstanden werden darf. Trotz der modernen Ausrüstung und den technischen Möglichkeiten, die Jagende gegenwärtig nutzen können, bleibt der Verlauf der Jagd für sie dennoch unvorhersehbar. Um die Herausforderungen der Jagd meistern zu können und schließlich das Ziel der Jagd zu erreichen, nämlich Beute zu machen, verlassen Jägerinnen und Jäger sich vor allem auf ihre Wahrnehmungsfähigkeit. Die Ausrüstung, die sie bei sich haben – und ist sie technisch noch so anspruchsvoll – ist kein Ersatz für die skilled perception der Jagenden. Diese können mit ihrer Ausrüstung zwar ihre Leiblichkeit erweitern, können sie jedoch nicht ersetzen. Unersetzlich bleibt dagegen die »education of attention« (Gibson 1979: 254) der Jagenden, die durch Gewöhnung und Routine jene für die Jagd benötigten Fähigkeiten formiert. Die besonders erfolgreichen und damit guten Jägerinnen und Jäger waren dementsprechend während

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meiner Feldforschung auch nicht die nur gut ausgerüsteten, sondern jene im Feld der Jagd besonders erfahrenen Menschen. Etwas Wesentliches der deutschen Jagdpraxis der Gegenwart liegt auch darin begründet, dass sie nicht unbedingt erfolgreich sein muss. Dass sich Menschen dazu entscheiden, Jägerin oder Jäger zu sein, ist keine wirtschaftliche Notwendigkeit, sondern sie sind mehrheitlich Freizeitjägerinnen und -jäger. Zum DraußenSein auf der Jagd können also auch jene kontemplativen Aspekte gehören, die in der Tat einen großen Stellenwert für viele Jägerinnen und Jäger haben. Ich habe gezeigt, dass aus phänomenologischer Perspektive einiges dafür spricht, der Jagd eine bestimmte Erfahrungsqualität zuzuerkennen, welche sich von der Sphäre des häuslichen Alltags unterscheidet. Dass Jägerinnen und Jäger das auf die Jagd Gehen auch als »Rausgehen« bezeichnen, ist sicherlich keine leere Worthülse, sondern verweist auf jene spezifische Art des synästhetischen Erlebens während der Jagd. Hinzu kommt aus leiblicher Perspektive jedoch noch etwas Entscheidendes: Der Reiz der Jagd liegt nicht nur in dieser Kontemplation begründet, sondern er entspricht auch einer leiblich-sinnlichen Reizung. In dem Moment, in dem Jägerinnen und Jäger ein Tier im Visier haben, kulminiert sich alle Aufmerksamkeit auf den Moment des Abdrückens. So unterschiedlich jeder Schuss sein mag – der routinierte, wie auch der ungeübte Schuss – sie alle ähneln sich in ihrer Weise, wie sie das leibliche Erleben strukturieren. Es gibt ein Davor und ein Danach und auf das Danach läuft die Jagd hinaus. Danach erst entscheidet sich, ob das Tier sauber getroffen wurde, oder nicht.

Exkurs: Die jagende Frau. Gendertheoretische Anmerkungen über das Jagen Im europäischen Vergleich jagen nur in Norwegen prozentual mehr Frauen, als in Deutschland. In Deutschland sind etwa sieben Prozent der Jäger_innenschaft weiblich, die Tendenz ist steigend. Nordrhein-Westfalen liegt mit etwa zehn Prozent leicht über dem bundesweiten Durchschnitt, was im Jahr der letzten statistischen Erhebung einer Anzahl von ca. 6.730 jagenden Frauen entspricht (Quelle: ljv-nrw.de 2019). Eine Frauenquote von etwa zehn Prozent stimmt auch mit dem überein, was ich auf großen Gesellschaftsjagden des Nationalparks und des Forstamts durchschnittlich an Schützinnen und Hundeführerinnen gezählt habe. Euphorisch gefeiert werden diese Frauen in öffentlichen Publikationen der großen Dachverbände. Franz Josef Schulze Thier, zuständig für Jägerinnen im Präsidium des LJV NRW, erkennt in ihnen einen »Stabilisierungs- und Kultivierungsfaktor für die Jagd« (ebd.) und trifft damit auch im Kern die Äußerungen über jagende Frauen, die ich von anderen – männlichen – Jägern zu diesem Thema gehört habe. So komme ich auch im Gespräch mit Andreas auf die steigende Anzahl jagender Frauen zu sprechen. Er hält dies für »eine gute Entwicklung« und erklärt mir, warum:

IV Die Jagenden

Andreas: »Ich finde es gar nicht schlecht, dass in ›ner Jäger-Clique auch mal ›ne Frau drin ist, weil die bringen oftmals einen anderen Blickwinkel in die Geschichte. Das ist gar nicht so verkehrt.« Tanja: »Nicht nur, dass dann die Witze anständiger werden?« Andreas: »Ne, ich glaube das schon. Dass sie Witze anständiger werden, glaube ich nicht!« Tanja: »Wieso ein anderer Blickwinkel? Kannst du ein Beispiel dafür sagen?« Andreas: »Also die Frauen, die ich bis jetzt kennengelernt habe, die das [Jagen] vernünftig betreiben, die sind, was ihr Tun anbelangt, konsequenter und – ja, wie soll ich das beschrieben? Das hat in der Regel mehr Hand und Fuß. Weil als Jäger schießt man … auf lebende Tiere. Und dieser Verantwortung muss man sich erst mal bewusst werden – was da alles von abhängt. Beziehungsweise, was für Kriterien man erst mal erfüllen muss, um das vernünftig zu machen. Das ist zwar das Erste: Den Jagdschein haben. Aber meines Erachtens kommt dazu, dass man sich ständig weiterbilden muss, zum Einen. Zum Anderen auch seine Schießfertigkeiten überprüfen sollte.« Tanja: »Und das machen Frauen eher als Männer?« Andreas: »Ja.«

Weidwerkende Frauen scheinen also gegenwärtig durchaus von ihren männlichen Kollegen geschätzt zu werden. Zusätzlich nennen beide Geschlechter weitestgehend die selben Gründe, warum sie jagen. In einer vom Deutschen Jagdverband beauftragten Umfrage gaben 85 Prozent der Befragten als Hauptgrund für den Jagdschein an, dass sie »in der Natur sein« wollen. Es folgt, bei Männern und Frauen ebenfalls gleichermaßen hoch bewertet, der Wunsch, einen »aktiven Beitrag zum Naturschutz« zu leisten. Während aber für die weiblichen Teilnehmerinnen darüber hinaus auch die »Hundeausbildung« eine große Bedeutung hat, den Jagdschein gemacht zu haben, stand bei den Männern statistisch »der Verzehr von Wildbret« weiter vorne (vgl. ljv-nrw.de 2019). Obwohl sich Männer und Frauen also in ihren Motiven zur Jagd nur geringfügig unterscheiden und obwohl den jagenden Damen von der männlichen Mehrheit großzügig verbaler Beifall gespendet wird, sind zehn Prozent eine relativ geringe Minderheit. Die jagende Frau ist und bleibt also eher eine Exotin. Wenngleich sich seitens der Jagdverbände in Form von zahlreichen Extra-Angeboten für die weiblichen Mitglieder auch redlich um diese Exotinnen gekümmert wird, so »[beharrt] die Geschichte […] darauf, daß Jagen eine männliche Innovation und Besonderheit war« (Haraway 1995: 130). Zusätzlich ist seitens männlicher Vertreter der Disziplinen Paläoanthropologie, Archäologie, Primatologie und Ethnologie viel Gedankengut darin investiert worden, diese scheinbar naturgegebene Geschlechterdivergenz auch wissenschaftlich zu verteidigen, wie Kästner (2009) darlegt. Obwohl ich dies während meiner Feldforschung glücklicherweise nicht persönlich erfahren habe, scheint mancher-

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Von Jagenden und Gejagten

orts eine gewisse Angst davor zu herrschen, dass »Flintenweiber, Labbymuttis [Jägerinnen, die einen Labrador führen, eig. Anm.] oder Pinktarn-Püppis« (Nüsse 2016: 30) diese Bastion erobern. Wenn jagende Frauen also hier den ›Untergang des Abendlandes‹ anzukündigen scheinen, werden anderenorts Lobeshymnen auf den weiblichen »Stabilisierungs- und Kultivierungsfaktor« angestimmt. Im Folgenden möchte ich der jagenden Frau daher nun einige gendertheoretische und phänomenologische Gedanken widmen. Die Frauen, die ich während der Feldforschung kennengelernt habe, wussten zwar sehr gut, warum sie selbst den Jagdschein machten. Warum die Jagd weiterhin eher eine Männerdomäne darstellt und noch relativ wenige Frauen jagen, darauf wussten auch sie meist keine Antwort. Auch mit Elke unterhalte ich mich darüber. Tanja: »Hast du eigentlich eine Idee, warum so wenige Frauen Jägerinnen sind?« Elke: (überlegt einen Moment) »Also, ich glaube, das liegt schon so… Wie zu den Neandertal-Zeiten. Der Neandertaler [-Mann] ist zur Jagd gegangen und die Frau hat die Beeren gesammelt. Und ich denke mal, dass es vielen Frauen auch … unangenehm ist, so ein Tier auszunehmen. So nach dem Motto: ›Uah, Blut.‹ Die sind ja eigentlich immer alle nur schön und … Aber nichts Handfestes dran! Ich denke, es hat was damit zu tun, dass es von Urzeiten an festgelegt ist: Der Mann ist der Jäger und die Frau bleibt zu Hause und kümmert sich um was auch immer… Und du siehst das ja jetzt in dem Jagdkurs, der jetzt läuft, sind neun Frauen… Also, es wird mehr, ne?«15 Dass historische und vor allem frühgeschichtliche Gründe die Geschlechterdivergenz bei der Jagd erklären könnten, war nicht nur Elkes Überlegung. Tatsächlich war ich überrascht, wie oft dieses Argumentationsmodell herangezogen wurde – wie übrigens von vielen auch das Jagen als eine Art menschlicher ›Ur-Trieb‹ anerkannt wurde. Ich kann daher Widloks Feststellung bestätigen: »Assumptions about hunting in early human society continue to fuel the modern imagination about ›human nature‹, […] as well as about the nature of social relations among humans – all above, gender relations« (2015: 209). Dass sich die Vorstellungen über jagende Frauen zu ändern beginnen und nicht für unumstößliche Naturgesetze gehalten werden, zeigt sich dadurch, dass noch weit häufiger auf die stetig steigende Anzahl von Jagdscheinanwärterinnen verwiesen wurde. Es hatte sich also etwas verändert – nicht seit nur seit der Frühzeit, sondern speziell in den letzten Jahrzehnten. 15

Diese Angabe bezieht sich als ein Vergleich auf die Anzahl der Frauen, die in unserem Kurs saßen. Unser Lehrgang startete mit fünf Frauen. Jedoch, auch das ist ein Trend der letzten Dekade, steigt die Anzahl der Jagdscheininhaber und Jagdscheininhaberinnen auch geschlechterübergreifend. Während wir insgesamt zu 36 Personen in unserem Kurs waren, haben an jenem Folge-Kurs, auf den Elke sich bezieht, 45 Personen teilgenommen.

IV Die Jagenden

Obwohl die griechischen und römischen Gottheiten der Jagd, Artemis und Diana, weiblich sind, ist die Jagd in Europa auch in der Antike eine männlich dominierte Praxis. Von der Antike bis in die Neuzeit erprobten vor allem adelige junge Männer bei der Jagd ihre körperlichen Fertigkeiten – vor allem für kriegerische Aktivitäten (vgl. Rösener 2004: 145). Das bedeutet nicht, dass Frauen grundsätzlich von der Jagd ausgeschlossen waren. Vor allem die Beizjagd, die Jagd mit Greifvögeln, ist für einige Jahrhunderte eine Jagdform gewesen, an der Frauen erwiesenermaßen teilnahmen. Funde von Greifen wie Sperber und Habicht in germanischen Frauengräbern legen nahe, dass sie aktiv an der Beizjagd teilnahmen. Auch für Frauen an den mittelalterlichen Höfen trifft dies zu, wie bildliche Darstellungen von Beizjägerinnen zeigen (Rösener 2004: 78, 188-189). Von einigen Ausnahmen abgesehen, darunter auch einige absolutistische Monarchinnen wie die habsburgische Kaiserin Elisabeth von Österreich, sind es ab dem Feudalismus bis in die jüngere Vergangenheit aber vor allem Männer, die der Jagd nachgehen. Noch bis in das frühe 20. Jahrhundert trainierte die Jagd »Selbstdisziplin am realen Tötungshandwerk, formte in beliebigen Dosen standesgemäße Männlichkeit und präparierte Entscheidungsfähigkeit bis ins Alltagsleben eines Landrates oder Beamten hinein« (Theilemann 2004: 133). Durch das Jagen und Erlegen von Wild übten Männer bestimmter Stände also vor allem Fähigkeiten wie Selbstdisziplin und Entscheidungskompetenz – Fähigkeiten, die sie auch mit ihrem öffentlich-gesellschaftliches Leben assoziierten. Eine so definierende Konzeption von Männlichkeit, als transzendierendem, für die Gesellschaft konstitutiven Gestaltungs- und Schöpfungswillen, entspricht auch Sherry B. Ortners (2000) strukturalistischer Analyse von ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ und ihren strukturellen Äquivalenten ›Kultur‹ und ›Natur‹. Ortner untersucht, dass Zuordnungen in ›Männlich‹ und ›Weiblich‹, sowie ›Kultur‹ und ›Natur‹ einen universalen Charakter haben – und dass das ›Weibliche‹ eher der ›Natur‹ zugeordnet wird, das ›Männliche‹ eher der ›Kultur‹. Das fundamentale ihrer Analyse ist die Feststellung, dass die ›Natur‹ der ›Kultur‹ auf der Suche nach überdauernden Symbolen und Artefakten tendenziell untergeordnet wird. Indizien für ihre These findet Ortner in allen von ihr betrachteten Kulturen, indem sie den sozialen Status bestimmter nach Geschlecht aufgeteilter Aktivitäten analysiert. Vor allem jene Aktivitäten mit hohem sozialem Stellenwert wie die Leitung sakraler Akte und wichtiger Rituale, die Kriegsführung, aber auch die Jagd sind in der Regel Männern vorbehalten (ebd.: 8). Ihren hohen Stellwert erhalten solche Aktivitäten, weil sie in besonderer Weise die chaotisch und ungeordnet erscheinende ›Natur‹ zu transzendieren und eine gesellschaftliche Ordnung zu erschaffen in der Lage sind. Auch für eine Analyse der Jagd in Deutschland scheinen Ortners Feststellungen einen gewissen Reiz zu haben. Seit dem Feudalismus qualifizierte sich auch die Jagd in Deutschland als Instrument für die Demonstration einer herrschaftlichen Ordnung. Nicht also aufgrund ihres destruktiven Charakters, sondern als Teil der

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politischen Führung erhält die Jagd ihr hohes soziales Prestige: »[W]e realize that it is not the killing that is the relevant and valued aspect of hunting and warfare; rather it is the transcendental (social, cultural) nature of these activities.« (Ortner 2000: 14) Zumindest symbolisch erhält sich der Charakter und das hohe soziale Prestige der Jagd als Ausdruck von Macht auch in Deutschland. Und dies sogar bis in die jüngere Vergangenheit – man sei nur an die Tradition der Staatsjagden in der Bundesrepublik erinnert, die erst seit wenigen Jahren öffentlich als anachronistisch in Frage gestellt werden (vgl. faz.net 2015). Warum bleiben Frauen nun aber so universal von solchen Aktivitäten mit besonders hohem sozialen Prestige ausgeschlossen? Die Antwort darauf liegt für Ortner in der weiblichen Physiologie. Frauen sind als menschliche Wesen zwar am Projekt der Transzendierung der ›Natur‹ beteiligt, denn auch sie erschaffen bleibende kulturelle Werte, Symbole und Artefakte. Jedoch scheinen sie aufgrund ihres Menstruationszyklus und ihrer Fähigkeit zur Mutterschaft mehr an den ›Natur-Zustand‹, den es zu transzendieren gilt, gebunden zu sein. Universal werden Frauen daher tendenziell als »closer to nature than men« (Ortner 2000: 12) konzeptualisiert.16 »In other words, women’s body seems to doom her to mere reproduction of life; the male, in the other hand, lacking natural creative functions, must (or has the opportunity to) assert his creativity externally, ›artifically‹ through the medium of technology and symbols. In doing so, he creates relatively lasting, eternal, transcendent objects, while the woman creates only perishables – human beings.« (ebd.: 14) Ihre Fähigkeit zur Mutterschaft diente auch in Deutschland lange dazu, Frauen größtenteils auf diese Rolle zu reduzieren. In einer patriarchalen Sozialordnung, wie sie in Deutschland bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschte, blieben Frauen daher, auch wenn es sie mindestens vereinzelt als aktive Jägerinnen wohl immer gegeben hat, als Teilnehmerinnen von dieser männlich dominierten Aktivität mehrheitlich ausgeschlossen. Wie lassen sich nun aber die beiden Phänomene erklären, die für die gegenwärtige Jagd in Deutschland so spezifisch erscheinen? Zum Einen gehen immer mehr Frauen auf die Jagd und zum Anderen ist es gerade die Suche nach ›Natur‹ und nicht ihre Transzendierung, welche die Jagenden der Gegenwart motiviert. Die

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Ich möchte kurz auf Artemis und Diana zurückkommen. Wenn sie heute vor allem als Göttinnen der Jagd verstanden werden, so benennt dies noch nicht ihren ganzen Wirkungsbereich. Beide gehörten »ursprünglich dem Kreis der Mutter- und Erdgöttinnen an, und als Tierherrinnen waren sie vor allem Beschützer der Tiere und zugleich Mittler zwischen Tier und Mensch« (Stahl 1979: 56). Auch hier findet sich also diese von Ortner ermittelte strukturelle Nähe des ›Weiblichen‹ zur ›Natur‹, aber auch die ›weibliche‹ lebensspendende Fähigkeit zu Mutterschaft.

IV Die Jagenden

Epoche der Aufklärung in Kombination mit der Industrialisierung als europäischer Sonderfall scheint eine Antwort vorzuzeichnen. Zunächst ist zwar die strukturalistische Annahme, dass die ›Kultur‹, beziehungsweise die ›Zivilisation‹ der (erstrebenswerte) Gegen-Ort zu der ungezähmten, chaotischen ›Natur‹ sei, in der europäischen Geistesgeschichte nicht fremd. Im Mittelalter wird diese Konzeption vor allem durch das Christentum gestützt; sie erhält sich jedoch auch darüber hinaus in der Periode der Aufklärung als »Gegensatzpaar von Naturzustand und Zivilisation« (vgl. Spehr 1993: 129). Mit der voranschreitenden Industrialisierung, die dank technologischer Innovationen diese kultur- und zivilisationsbejahende Tendenz zunächst noch bestärkt, verkehrt diese sich aber schließlich. Die zunehmende Verstädterung und Verschmutzung der Umwelt und auch das in den Straßen der Städte sichtbare soziale Elend, welches ebenfalls mit der Industrialisierung einherging, trugen dazu bei, dass die ›Natur‹ »jetzt als Gegen-Ort zur Zivilisation […] erfahren und mit irrationalistischen Erlösungshoffnungen aufgeladen werden [konnte]« (Spehr 1993: 130). Diese »irrationalistischen Erlösungshoffnungen« packen jedoch nicht jedes Mitglied der industriellen Gesellschaft zugleich. Vor allem jene, die durch die bürgerlich-industrielle Revolution etwas zu verlieren hatten, waren davon betroffen. Wie ich schon ausführlich in Kapitel 4.2 – Weidgerechtigkeit als Mittel der Distinktion erläutert habe, war das vor allem der Adel. Während in der Vorzeit noch die Sphäre der ›Kultur‹ als rein und geordnet verstanden wurde und gegenüber einer chaotischen und gefährlichen ›Natur‹ abgegrenzt wurde, bildete plötzlich die durch die Industrialisierung und Zersiedelung schon lange verloren gegangene ungezähmte Natur einen Zufluchtsort. Wie ich gezeigt habe war es speziell die Jagd, die für diese gesellschaftliche Gruppe attraktiv war. »Jagd bot Erlebnis nicht nur einer scheinbaren Fluchtwelt, wo alles besser, ›sauberer‹ sei und zuginge, als im Alltag. Jagd ritualisierte einen Zugang aller Beteiligten zu einer förmlichen Gegenwelt mit urtümlicher Prägung« (Theilemann 2004: 69). Jedoch stürzte die industrielle Revolution auch das bis dahin sozial konstitutive Patriarchat in eine Krise. Ende des 19. Jahrhundert waren nicht nur traditionale Standesunterschiede von Auflösungsprozessen betroffen, sondern auch die traditionalen Geschlechterrollen wurden durch die an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnenden Frauenbewegungen in ganz Europa hinterfragt. Die gesellschaftliche Ordnung, so musste es vielen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen vorgekommen sein, war im Umbruch; das wiederum löste bei bestimmten Gruppen jene Sehnsucht nach Stabilität aus. »Die transzendentalistische Imagination bediente jetzt vorwiegend Männerbedürfnisse, wurde Ausdruck der Krisenerfahrung des Patriarchats um die Jahrhundertwende, seines Zivilisationsüberdruß und seiner Eskapismuswünsche« (Spehr 1993: 133). So wurde der nach ›Natur‹ suchenden Transzendentalismus »zu einer reinen Männerbewegung« (ebd.), die gerade auch »das Territorium Jagd vor weiblichen Eindringlingen« (Kästner 2009: 52) zu schützen suchte. Das kulturelle Bestreben, jenen ›Natur-Zustand‹ zu transzendieren, hatte

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Von Jagenden und Gejagten

im Europa des frühen 20. Jahrhunderts so erfolgreich funktioniert, dass nun der Wunsch aufkeimte, jene kulturellen Verpflichtungen der Zivilisation wenigstens zeitweise vergessen zu dürfen. Ortega y Gasset (1985) attestiert dem Grafen Yebes daher: »Und das ist es nun, warum Sie jagen. Wenn Sie die ärgerliche Gegenwart satthaben, wenn Sie müde sind ›ganz Mensch des 20. Jahrhunderts‹ zu sein, nehmen Sie die Flinte, pfeifen Ihrem Hund, und gehen in den Wald und geben sich für ein paar Stunden oder ein paar Tage dem Vergnügen hin, ›Steinzeitmensch zu sein‹.« (Ortega y Gasset 1985: 83) Dass Leiden wie »Zivilisationsüberdruß« und »Eskapismuswünsche« genuin männlich sind, lässt sich schwerlich aufrechterhalten. Durch ihren Wunsch als Jägerinnen ›in der Natur‹ zu sein, demokratisiert sich der Transzendentalismus der Gegenwart. Kann also auch die, der ›Natur‹ strukturell scheinbar nähere, Frau sich der Natur entfremdet fühlen? Wie dies geschehen kann, darauf hat die Soziologie des 19. und 20. Jahrhunderts unter anderem mit der Marx’schen Kapitalismus-Kritik und dem Begriff der »Risikogesellschaft« (Beck 1986) schon Antworten gefunden. Paradigmatisch für das bisher besprochene und in gewisser Weise aufschlussreich ist jedoch auch der folgende Kommentar einer – offenbar nicht jagenden – Dame in der Jagdzeitschrift Pirsch aus dem Jahr 1969: »Ich bin vielmehr der Meinung, daß jagdausübende Frauen lediglich eine Folgeerscheinung der Gleichberechtigung und des Wohlstandes, also eine Zeiterscheinung sind. […] Zum jagdlichen Handwerk gehören aber Selbstüberwindung und Härte und daran müssen Frauen scheitern… […] Das paßt in keine Frauenseele, die darauf ausgerichtet ist, Leben zu geben und nicht Leben zu nehmen… Jagd ist eben Männersache!« (zitiert nach Nüsse 2016: 30) Indem die Frau jagt, so die Argumentation, muss sie unglücklich scheitern, weil sie sich ihrem Wesen (»Frauenseele«) entfremdet hat, welches seiner ›Natur‹ gemäß dazu da ist, Kinder zu gebären und nicht Tiere zu töten. Im Umkehrschluss muss das Töten von Tieren also von Männern übernommen werden und die Jagd Männersache bleiben. Mehr als jede wortreiche Analyse definiert die Dame den Sachverhalt dessen, was Ortner (2000) als »the woman problem« bezeichnet: »the woman’s nearly unquestioned acceptance of her own devaluation« (ebd.: 15). Wenngleich man trefflich über die essentialistische Argumentationsstruktur streiten kann, so bleibt festzuhalten, dass die Autorin in einem Punkt zweifelsohne Recht behält: Frauen, die in ihrer Freizeit die Jagd als Hobby ausüben, sind in Europa weitestgehend eine Folgeerscheinung des Kampfes der Frauenbewegung um gesellschaftliche Gleichberechtigung und der gesicherten wirtschaftlichen Existenz, welche – geschlechterübergreifend – die Grundlage der Freizeitjagd ist. Indem Frauen gegenwärtig in gleichem Maße wie Männer soziale und gesellschaftliche Positionen inne ha-

IV Die Jagenden

ben können, erleben beide Geschlechter auch in gleichem Maße den Wunsch, jenem Eingebunden-Sein in der häuslichen Sphäre wenigstens partiell eine andersartige Erfahrungswelt entgegenzusetzen. Das könnte erklären, warum die Jagd in Deutschland statistisch zunehmend weiblicher wird. Die emanzipatorischen Bestrebungen der Frauen des frühen 20. Jahrhundert veränderten dabei den kulturellen und historischen Kontext genauso mit, wie die voranschreitenden technischen Innovationen, welche gleichermaßen auch Leib und Leben der Männer dieser Zeit beeinflussten. Während die Umbrüche Spehr zufolge (vgl. 1993: 133) für viele Männer jedoch eher bedrohlich zu wirken schienen, eröffneten sie Frauen tendenziell neue Möglichkeiten. Dass die Jagd dabei vielleicht nicht das erste Feld ist, in das die emanzipierten Frauen drangen, liegt sicherlich auch daran, dass die Jagd zu diesem Zeitpunkt schon viel von ihrer gesellschaftlichen Relevanz eingebüßt hatte. Andere gesellschaftliche Bereiche, wie Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und vor allem Politik stellten daher einen relevanteren Bereich ›weiblicher Eroberungslust‹ dar.

Abbildung 16: Das Titelblatt einer bekannten Jagd-Zeitschrift. Wenngleich die jagende Frau in Deutschland statistisch noch eine Exotin ist, ist sie medial präsent.

Nach diesen eher strukturellen Überlegungen möchte ich das Phänomen der jagenden Zeitgenossin nun aber auch aus leibphänomenologischer Perspektive beleuchten. Im Bezug auf die Ausübung der Jagd spielt daher eine zentrale Rolle,

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dass »[d]as Bewußtsein […] ursprünglich nicht ein ›Ich denke zu…‹, sondern ein ›Ich kann‹ [ist]« (Merleau-Ponty 1966: 166). Dieses »Ich kann«, so die feministische Kritik an der klassischen Phänomenologie, ist in besonderem Maße ein männliches »Ich kann«, dem in der weiblichen Erfahrung nur all zu oft »a self imposed I cannot« (Young 1980: 146) entgegensteht. Wenn die oben zitierte Autorin also schreibt, dass die Jagd bestimmte Fähigkeiten und Fertigkeiten erfordert, an denen Frauen scheitern müssen, so verweist dies auf ein Leibschema, welches sich als »both individually and socially sketched out« (Fielding 2014: 521) auszeichnet. Es beschreibt die Frau als das ›schwache Geschlecht‹. Tatsächlich macht ihre Physiologie den Körper der Frau in bestimmten Phasen ›störanfälliger‹, was Ortner mit Verweisen auf Simone de Beauvoir am Beispiel der Schwangerschaft und ihren Folgen zeigt (vgl. Ortner 2000: 13). Biologisch ist ebenfalls bewiesen, dass die Frau über weniger Muskelmasse verfügt, als der Mann – ebenfalls ein Indikator dafür, dass das ›schwache Geschlecht‹ keine rein gesellschaftliche Konstruktion männlicher Dominanz ist. Jedoch können wir im Bezug auf die Jagd nicht bei bei solchen biologischen Determinanten und jenem selbst- und fremdauferlegten »I cannot« stehen bleiben – schließlich wird jenes »I cannot« durch die jagenden Frauen immer mehr in ein »Ich kann« umgewandelt. Mit Martina unterhalte ich mich ebenfalls über die deutlich höhere Anzahl jagender Männer. Für Martina ist dies aber kein Grund zur Annahme, dass Frauen die Jagdausübung schlechter gelingt als Männern: Martina: »Und außerdem muss ja jeder seine jagdlichen Erfahrungen alleine sammeln. Das ist ja eine Sache, da kann einem ja keine Gruppe bei helfen. Das muss jeder alleine ausführen – letztlich. Jeder muss sich ja jetzt selber behaupten.« Das biologische Faktum der geringeren Muskelmasse ist für die Jagdausübung im gegenwärtigen Deutschland kein hinreichendes Ausschlusskriterium mehr – wenn es je eines darstellte.17 Spätestens mit den Folgen der zunehmenden Industrialisierung und der Frauenbewegungen verwandelte sich so manches »I cannot« in ein »Ich kann« – physiologisch, wie auch gesellschaftlich. Auch für die Jagd gilt das. Hier spielt Muskelkraft immer weniger eine, im wahrsten Sinne des Wortes, tragende Rolle – eine Entwicklung, die mit dem Aufkommen der Feuerwaffentechnik noch nicht endet. Mit Simone de Beauvoir lässt sich daher feststellen: »the physiological given that women are muscularly weaker than men becomes varyingly 17

Schwer vorstellbar, dass einem einzelnen frühzeitlichen Jäger das Bergen eines großen Beutetieres alleine gelang. Auch er wird sich beim Transport der Beute nicht alleine auf ein paar Prozent mehr Muskelmasse verlassen haben können, sondern mit anderen Mitgliedern seines Verbandes kooperiert haben – ebenso, wie auch die gegenwärtigen Jäger und Jägerinnen beim Bergen starker Stücke auf (maschinelle) Hilfe angewiesen sind.

IV Die Jagenden

meaningful depending on the cultural and historical context« (de Beauvoir 2010: 46). Es bleibt also die Frage bestehen, ob es leibphänomenologische Gründe dafür gib, dass die Jagd weniger oft von Frauen ausgeübt wird. Eine solche Annahme wäre nur dann zu rechtfertigen, wenn die leibliche Erfahrung des Jagens eine ist, welche der »natürlichen Einstellung« eines spezifisch weiblichen Welterlebens – so dieses definiert werden kann – in irgendeiner Weise entgegensteht. Ich möchte das aus folgenden Gründen verneinen. Zunächst bieten all jene jagenden Frauen, die ich während meiner Feldforschung kennengelernt habe, schon einen unbezweifelbaren Grund, dass die Jagd nicht grundsätzlich eine männliche Aktivität sein muss. Auch habe ich keine Indizien dafür gefunden, dass sich das ›auf der Jagd sein‹ für Frauen phänomenal anders darstellt, als für Männer. Das bezieht sich meiner Meinung nach auch auf die Erfahrung des Tötens. Dass das Töten von einer Frau grundsätzlich anders erfahrbar wird, als von einem Mann, nur weil sie eine Frau ist, ist für mich eine Annahme, für die ich in der Interaktion und in den Gesprächen mit anderen Jägerinnen und Jägern keine Belege gefunden habe. Dabei gibt es sicherlich Unterschiede, wie jemand die Jagd und insbesondere das Töten erlebt. Was eine Person an der Jagd schätzt und wie sie sich dabei erlebt, hängt meines Erachtens aber deutlich mehr mit der Persönlichkeit und der individuellen Biografie zusammen. Inwiefern die Jagd als attraktive Freizeitgestaltung erfahren wird, ist – so möchte ich festhalten – eher eine Typ-Frage. So gibt es einerseits Männer, die kein Interesse daran haben, Jäger zu sein. Andererseits gibt es jene Frauen, wie Heike, Martina, Elke, und viele weitere inklusive mir selbst, welche die Jagd als positive Bereicherung ihres »Ich kann« durchaus in ihr Frau-Sein integrieren. Während also die Biologie gegenwärtig kein »›fixed destiny‹ for women« (Fielding 2014: 520) darstellt, heißt das nicht, dass sie völlig irrelevant für die Jagd ist. Zwar wird der Phänomenologie gerne vorgeworfen wird, dass sie – einem zweiten Cartesianischem Dualismus gleich – zu einem »disembodiment« von Biologie und Organismus führe (vgl. Ingold 2000: 170). Jedoch wird ihre menschliche Biologie für Jägerinnen und Jäger oft genug phänomenal bedeutsam. Sie bleibt zwar meist tatsächlich im natürlichen Dahinleben weitestgehend unbemerkt, rückt jedoch im Falle von Dysfunktionen plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Jagende erleben das, aller Technik zum Trotz, besonders dann, wenn der biologische Prozess des Alterns ihnen ihre jagdliche Aktivität mehr und mehr einschränkt und schließlich versagt – wenn sie Probleme bekommen, die Leitern zum Hochsitz heraufzuklettern, sie Fernglas und Waffe nicht mehr ruhig halten können und die Sehkraft nachlässt. Die Biologie ist also tatsächlich ein »fixed destiny« – jedoch sowohl für Frauen als auch für Männer, deren Leiblichkeit dem biologischen Verfall gleichermaßen gewidmet ist. Im nächsten Abschnitt möchte ich darauf eingehen, wie die Jagd den Jägerinnen und Jägern ein ansonsten eher abstrakt bleibendes Wissen über die eigene Leib-Körperlichkeit eröffnet. So ist es das aufgebrochene Tier, welches den eigentlich versteckt im Inneren der Leib-Hülle arbeitenden Organismus

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für sie sogar greifbar macht. Letztendlich betasten die Jagenden mit jedem Tier, das sie töten und aufbrechen, auch ihre eigene körperliche Sterblichkeit.

4.3.2

Der gejagte Leib: Der Übergang vom Leben zum Tod – Abdrücken, Aufbrechen, Ähnlichkeiten

Der Schuss: Der Übergang vom Leben in den Tod »Alles dies bezieht sich auf jene letzte Szene, die den Abschluß der Jagd bildet und in der das herrliche Fell des Tieres mit Blut befleckt und jener Körper, der reine Beweglichkeit war, in die absolute Paralyse des Todes verwandelt wird.« (Ortega y Gasset 1985: 61) Der saubere Schuss ermöglicht den unmittelbaren Übergang vom Leben in den Tod. Damit ist jedoch noch nicht alles über die Jagd gesagt und auch jener Übergang, der von Jagenden als abruptes Ereignis beschrieben wird, gestaltet sich bei näherem Betrachten weniger als augenblickliche Umwandlung, denn als prozesshaftes Geschehen. Leiblichkeit wird nicht von einer Sekunde auf die andere zu toter Gegenständlichkeit. Im Folgenden werde ich mich daher dem erfolgreichen Abschluss der Jagd, dem Sterben und dem Tod der Gejagten zuwenden und näher auf den Übergang vom Leben zum Lebensmittel eingehen. Zunächst möchte ich mit dem Schuss beginnen, der das gejagte Tier tötet. Dann werde ich die darauffolgende Rote Arbeit, das Aufbrechen und Ausnehmen der Tiere, beschreiben, welches im Falle der essbaren Arten notwendig ist. Die Rote Arbeit markiert am deutlichsten jenen Übergang der Leiblichkeit zur Gegenständlichkeit und schließt die Betrachtung der Jagd als humanimalischer Praxis ab. 05. September 2018, Zweifall: Erstes erlegtes Tier Die erste wirkliche Gelegenheit zum Schuss für mich. Ich sitze seit zwei Tagen auf diesem Hochsitz namens Haferstück, der an einer von Eichen- und Fichtenwald umrahmten, langgezogenen Wiese steht. An diesem Abend bin ich eigentlich nicht mehr davon ausgegangen, dass ich noch Anblick haben werde. Doch dann taucht plötzlich – wie aus dem Nichts – ein Rottier [weibliches Rotwild] auf der Grünäsungsfläche auf und zwei weitere Tiere folgen. Arglos mäandern sie in meine Richtung. Sie äsen, heben das Haupt, senken es wieder, tun ein paar Schritte… Ich beobachte sie fast zwanzig Minuten lang erst durch das Fernglas, dann durch das Zielfernrohr. Die Tiere passen zur Freigabe des Revierförsters. Ich entscheide, zu schießen, ziehe meinen Gehörschutz an und lege an. Obwohl die Tiere immer wieder inne halten und um sich schauen, nehmen sie mich nicht als Gefahr wahr. Arglos gehen sie ihrer Beschäftigung nach. Ich warte, bis das Rottier, welches ich ausgewählt habe, breit in meinem Visier steht und keines der anderen Tiere verdeckt. Beim nächsten Blick durchs Zielfernrohr rast

IV Die Jagenden

mein Herz. Bewusst atme ich ein und aus, presse die Waffe an die Schulter. Ich war noch nie so sicher, dass ich treffen würde, wie in diesem Moment, als ich entsichere, den Finger auf den Abzug lege und stetig den Druck darauf erhöhe. Die Nadel des Absehens [schwarze Linie im Zielfernrohr] steht genau auf dem Blatt [Schulter]. Später als ich denke, bricht der Schuss mit einem lauten Knall. Ich kann mich nicht erinnern, dass das Abdrücken eine bewusste Bewegung war. Im gleichen Moment vom Schuss getroffen, überschlägt sich das Rottier zwei Mal, bleibt dann auf der Seite liegen und schlägt heftig mit den Beinen. Die anderen Tiere sind sofort in gestrecktem Galopp in den Wald geflüchtet. Durch das Zielfernrohr starrend, verharre ich mit dem Blick bei dem Tier. Aber ich weiß in diesem Moment, dass ich es tödlich getroffen habe und dass das Schlagen der Läufe normal ist. Dennoch will ich sichergehen. Ohne den Blick aus dem Zielfernrohr zunehmen, repetiere ich mit einer Handbewegung schnell die nächste Patrone aus dem Magazin ins Patronenlager. Erst als die letzten Zuckungen abklingen und das Tier still liegt, entspannt sich meine Körperhaltung. Ich sichere die Waffe und bemerke erst jetzt den Geruch von Schwarzpulver. Die erste Minute ist verstrichen. Mein Atem hat sich beruhigt, auch das Herzklopfen ist weg und ich fühle mich seltsam ruhig. Wie ein Stillleben liegt die Szenerie mit dem toten Tier vor mir – vom abendlichen Vogelgezwitscher untermalt. Dann, nach weiteren Minuten des Abwartens, in denen nichts passiert, baume ich ab. Die anderen Tiere werden jetzt sicher nicht mehr zurückkommen. Meine Schritte zählend, schreite ich die Strecke zu dem toten Tier ab. Es sind circa achtzig Meter. Schritt für Schritt nähere ich mich dem bewegungslosen Körper. Schon von weitem sehe ich die Augen. Noch glänzen sie, noch ist der Körper warm. Ich bin ergriffen von diesem Moment, dieser Szene, die ich selbst herbeigeführt habe. Den letzten Bissen breche ich von einem Fichtenast ab und lege ihn dem toten Tier in den Äser [Maul]. Das scheint das Mindeste zu sein, was ich in diesem Moment noch tun kann, auch wenn ich weiß, dass das dem Tier aller Wahrscheinlichkeit nach egal sein wird – es ist tot.

Die modernen Feuerwaffen, welche Jägerinnen und Jäger in Deutschland zur Jagd nutzen, machen es möglich, dass der Tod die Gejagten meist unvermittelt trifft. Große Nähe zwischen Jagenden und Gejagten ist für den Erfolg die Jagd vom Hochsitz nicht notwendig. Mit geladener Waffe warten die Jagenden auf den richtigen Moment. Bleiben sie in ihren Verstecken von den Beutetieren unbemerkt, bedarf es nicht mehr als einer lautlosen Bewegung des Zeigefingers und im selben Augenblick durchdringt ein Geschoss mit einem lauten Knall die Hülle ihres Leibes. Mit der Vorstellung, dass das Tier »in der Regel schon tot [ist], bevor es hingefallen ist« und »den Knall nicht mehr hört« (Hermann), beschreiben Jägerinnen und Jäger häufig diesen Akt des Sterbens. Tatsächlich ist die Jagdmunition dahinge-

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Von Jagenden und Gejagten

hend konzipiert, möglichst viel Schaden im Wildkörper anzurichten.18 Trotzdem ist dieser Tod kein Ereignis, welches ein Lebewesen von einer zur anderen Sekunde in die Starre des Todes bannt. Von Weidwundschüssen [Schüsse, die ein Tier verletzen, aber nicht sofort töten], bei denen das getroffene Tier den Knall sowohl hört als auch unter großen Schmerzen erlebt, abgesehen, zieht sich auch das Sterben durch einen sauberen Schuss noch hin. Das Tier, welches ich in der vorhergehend beschriebenen Situation erlegt habe, habe ich sauber getroffen. Der Schuss war ein Blattschuss, der unmittelbar auf Höhe des Schulterblattes in den Leib des Tieres eindrang, weshalb die Munition sich augenblicklich zerlegte und somit das vom Brustkorb geschützte Leben [Herz und Lunge] zerriss. Bei Aufbrechen [Aufschneiden und Ausnehmen] des Tieres war dies mit bloßem Auge nachzuvollziehen. Während der Herzmuskel als solcher noch erkennbar war, waren die großen Venen und Arterien zerstört und auch die Lunge war größtenteils zerrissen. Während der Einschuss nur als kleines, kaum erkennbares, blutiges Loch im Fell des Tieres zu erkennen war, war die Zerstörung im Inneren ungleich massiver. Obwohl das Geschoss, welches ich durch eine kleine Fingerbewegung ausgelöst hatte, solch gravierende Verletzungen im Leib des Tieres ausgelöst hatte, kann ich nicht mit Sicherheit sagen, dass es den Knall nicht mehr gehört hat und nichts von dieser Wucht gespürt hat. Ich habe gesehen, wie das Tier, in dem Moment, in dem es vom Geschoss getroffen wurde, noch fliehen wollte und sich in dieser Folge überschlug. Auch das heftige Schlagen mit den Beinen sah für mich noch lebendig aus, auch wenn das Tier in diesem Moment wohl schon mehr tot als lebendig war. Nur wenige Sekunden dauerte dieser Moment an. Und nur einige Minuten vergingen, bis schließlich die Muskelzuckungen verklungen waren, die auf die letzten Nervenreize zurückzuführen sind. Auch wenn viel dafürspricht, dass das Rottier nicht viel von seinem Sterben wahrgenommen hat, so eröffnet es sich doch mehr als Prozess, denn als unmittelbare Verkehrung vom Leben in den Tod. 18

Im Gegensatz zu militärisch genutzter Munition, die nur dazu dienen soll, kampfunfähig zu machen, also zu verletzen, soll jagdliche Munition ausdrücklich töten. Sie soll derart schwere Verletzungen auslösen, dass das gejagte Tier daran möglichst schnell stirbt. Während militärische Munition aus Vollmantelgeschossen besteht, die im beschossenen Körper einen geraden Schusskanal hinterlassen, besteht jagdliche Munition dagegen aus sogenannten Deformations- oder Zerlegungsgeschossen. Diese pilzen auf oder (teil)zerlegen sich, sobald sie auf einen höheren Widerstand wie einen Knochen stoßen. Wie stark das Kaliber sein muss, hängt dabei von der gejagten Wildart ab. Jägerinnen und Jäger können aus einer Fülle an Kalibern dasjenige auswählen, welches am besten zu Größe und Gewicht ihrer Beutetiere passt. Kleine Kaliber eignen sich für die Fuchsjagd oder andere leichte Tiere, wie Rehe. In der Eifel wird eher großkalibrigere Munition verwendet, da sich die Jagd hier auch auf kräftigeres Schalenwild, wie Rot- und Schwarzwild richtet. Obwohl bei der Verwendung von zu starken Kalibern die Wahrscheinlichkeit hoch ist, das Wildbret [Fleisch] kaputt zuschießen, ist im Zweifel ein zu starkes Kaliber weidgerechter, als ein zu schwaches, da es immerhin mit Sicherheit tötet.

IV Die Jagenden

Als ich zu dem toten Tier komme, lege ich meine Hand auf seinen Körper. Dieser ist noch warm und fühlt sich weich an. Die dunklen Augen glänzen noch und scheinen bewegungslos ins Nichts zu starren. Aus früheren Erlebnissen mit erlegtem Wild weiß ich, dass es nicht lange dauern wird, bis sich ein bläulich-milchiger Schatten über die Augen legt. Auch der noch warme Körper des Tieres wird langsam zu kalter Gegenständlichkeit werden und die Gliedmaßen so steif, dass sie sich nicht mehr bewegen lassen. Aber auch dieser Prozess braucht seine Zeit. All die Hirschläuse und Zecken, die sich im Fell des Tieres befinden, scheint der Tod ihrer Wirtin noch nicht zu stören. Erst wenn die Körpertemperatur des toten Tieres weiter gesunken ist, werden sie sich von dem Körper fallen lassen. Indem langsam alles weicht, was auf die einstige Lebendigkeit des Tieres verweist, nimmt der Tod mehr und mehr Besitz von dem Tier. Wie ich aber beschrieben habe, ist die Grenze zwischen Leben und Tod weniger klar gezogen, als es die tödliche Wirkung eines sauberen Schusses suggeriert.

Aufbrechen: Der Übergang von Leiblichkeit zu Körperlichkeit Was nach dem Tod des Tieres folgt, ist die Rote Arbeit, das Aufbrechen und Ausnehmen des toten Tieres. Heute werden die Tiere hierfür meist zur Jagdhütte oder zu den Jägerinnen und Jägern nach Hause gebracht, wo eine entsprechende Infrastruktur das Aufbrechen nicht nur erleichtert, sondern oft auch hygienischer macht. Hydraulische Angeln, an denen die Tiere mit den Hinterläufen an Fleischerhaken hängend in eine rückenschonende Position gezogen werden können, Anschluss an das Leistungswasser, gekachelte Räume, Edelstahl. Gerade die großen Jagden des Forstamts Hürtgenwald und des Nationalparks Eifel setzen solche eine Infrastruktur und vor allem viele Helferinnen und Helfer, so wie Geländewagen und Anhänger voraus, da je nach Erfolg der Jagd bis zu vierzig und mehr Tiere aus dem bejagten Revier geborgen werden müssen. Um die Qualität des Wildbrets nicht zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen, muss sowohl das Bergen, wie auch das Aufbrechen schnell geschehen und dementsprechend gut organisiert sein. »Es wird zentral aufgebrochen.«, hieß es vor fast jeder dieser großen Jagden. Während die Schützinnen und Schützen zum Essen gingen, begann für Andere der Großteil der Arbeit erst. 21.Oktober 2016, Wahlerscheid: Drückjagd des Nationalparks Heike und ich haben nach dem Treiben und dem Ende der Jagd beim Bergen geholfen. Mit Ralf und einem weiteren Helfer sind wir mit einem Auto und einem Anhänger tief in den Wald gefahren, um so nah wie möglich an die toten Tiere heran zu kommen. Das Gelände ist steil. Wir können froh sein, dass die erfolgreichen Schützen und Schützinnen die leichteren der Tiere schon an den Wegesrand gezogen haben. Dennoch haben wir schwere Arbeit vor uns – gerade bei den ausgewachsenen Rotwildund Schwarzwild-Stücken. Als wir nassgeschwitzt auch das letzte Tier aus Ralfs Be-

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zirk auf den Anhänger gewuchtet haben, fahren wir Richtung Forsthaus. An Rothe Kreuz angekommen, geht es wieder in den Wald und bis zu einem sehr typischen Eifel-Fachwerkhäuschen mit akkurat geschnittener Wetterschutzhecke aus Buchen. Es ist Wohnhaus und Büro des Revierleiters von Wahlerscheid. Neben den Wohnräumen befindet sich eine Garage, aber auch eine Wildkammer. Sie besteht aus einem weiß gekachelten Raum und einer angrenzenden Kühlkammer. Hier hat die Arbeit schon begonnen. Die arbeitenden Männer tragen lange, weiße Kunststoff-Schürzen, die schon mit Blut bespritzt sind. Der mit hellen Kacheln geflieste Boden im vorderen Teil der Wildkammer, wo die Männer aufbrechen, ist zur Mitte hin leicht abschüssig. Hier ist eine Abflussrinne eingelegt. Von Zeit zu Zeit zieht jemand mit einem großen Gummiabzieher das Gemisch aus Blut und Wasser, das den ganzen Boden bedeckt, in die Rinne. Die anderen Männer brechen ein Tier nach dem anderen auf – Wildschweine, Rehe und Rotwild hängen in Reih und Glied mit gespreizten Hinterläufen an metallenen Angeln, die in einer Laufschiene verankert sind. Ist eines der Tiere fertig, wird es entlang der Laufschiene in die Kühlkammer gezogen. Einer der Männer aus Heikes Bekanntenkreis fordert mich auf, in die Wildkammer einzutreten, um zuzugucken. Zunächst kann ich nicht atmen. Ich versuche es, aber es stinkt bestialisch. Also atme ich nur noch durch den Mund und frage mich, ob und wie man sich an diesen beißenden Geruch nach halb verdautem Darminhalt, Pansen und Blut gewöhnen kann. Immer wieder platscht und klatscht es: Die Innereien der aufgehängten Tiere fallen in kurzen Abständen in schwarze große Kunststoff-Wannen, die vor den Männern aufgestellt sind. Blut spritzt auf meine Stiefel. So schnell wie die Männer arbeiten, kann ich kaum schauen. Für keines der Tiere scheinen sie länger als wenige Minuten zu benötigen, bis es fertig aufgebrochen ist.

Die vergangene, zur Körperlichkeit erstarrte Lebendigkeit der Gejagten fordert die Leiblichkeit der Jagenden heraus. Das Aufbrechen ist harte Arbeit, die sogar trotz mechanischer Unterstützung noch ein gewisses Maß an Kraft erfordert und zu dem eine gewisse Unempfindlichkeit gegenüber Gerüchen, dem Anblick von Blut und Innereien, sowie der Haptik eines toten Körpers. Ein paar Tage, nachdem ich Einblick in diese sehr effiziente Art des Aufbrechens nach den großen Drückjagden bekommen habe, hatte ich die Gelegenheit, selbst diese Arbeit durchzuführen. Weil das Aufbrechen eigentlich eine Art Ehrensache für die erfolgreiche Schützin oder den erfolgreichen Schützen ist, erschien es mir selbstverständlich, dass auch ich mich an dieser Aufgabe versuchen würde. Tatsächlich hatte ich zuvor schon oft dabei zugesehen, wie die toten Tiere aufgebrochen wurden. Fremd war mir der Ablauf daher eigentlich nicht. Jedoch erlebte ich nun, wie weit ich vom Können erfahrener Jägerinnen und Jäger noch entfernt war.

IV Die Jagenden

Abbildung 17: Wild hängend aufgebrochen

29. Oktober 2016, Lammersdorf: Aufbrechen nach erfolgreichem Ansitz »Brichst du auf?«, fragt Hermann, der an diesem Morgen zwei Stück Rotwild erlegt hat – ein Schmaltier und ein Kalb. »Ja, würde ich echt gerne.«, sage ich ohne zu zögern. »Na, gut.« Hermann reicht mir blaue Einweghandschuhe und sucht nach einem spitzen Messer, sowie einem Messer mit abgerundeter Klinge. Dieses dient dem Aufschneiden der Bauchdecke und verhindert durch die abgerundete Klinge, dass die Hülle des Pansens beschädigt wird. Das Austreten des Panseninhalts könnte schnell das Fleisch verderben. Ich beuge mich zu dem Tier herab. Die Augen sind von schon von jenem milchig-bläulichen Schleier überzogen, tot. »Dann fang mal an. Was würdest du jetzt als erstes machen?«, fragt Hermann mich. »Ich würde hier unten einen waagerechten Schnitt machen.« Ich zeige mit dem spitzen Messer auf eine Stelle am Bauch des Schmaltieres. Plötzlich wird mir ein bisschen flau im Magen, denn ich bekomme Angst, den Pansen kaputt zu machen. Zögerlich setzte ich das Messer an und komme kaum durch die Hautschicht durch. Was

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bei Anderen so einfach aussieht, ist plötzlich nicht einfach und schon gar nicht von der selbstverständlichen Leichtigkeit, mit der Geübte die Schnitte ansetzten und sie ohne Unterbrechung dorthin ziehen, wo sie enden sollen. Mehrmals muss ich das Messer neu ansetzen, um eine Hautfalte zu packen zu bekommen. Der Pansen ist jetzt schon voll Gas, der Bauch des Tieres daher fest und prall. Durch die Latex-Handschuhe entgleitet mir die einmal gepackte Haut schnell. Hermann hatte mir die Handschuhe mit den Worten gereicht, dass meine Hände sonst den ganzen Tag nach Blut und Rotwild riechen würden. »Oh Gott, bin ich zu tief?« »Nein, du bist noch nicht mal durch die Haut durch.« Noch ist nicht viel Blut geflossen. Beim zweiten Versuch rinnt jedoch mit einem Mal viel Blut aus dem Körper. Reflexartig ziehe ich das Messer zurück. Doch zu tief in den Körper gestochen? Aber noch ist alles gut, Hermann lässt mich weiterarbeiten und zeigt, was ich nun tun soll. Besonders geschickt stelle ich mich offenbar nicht an, so dass er schließlich fragt, ob das Messer stumpf sei. Es dauert einige Minuten, bis ich endlich einen Schnitt rund um das schon angedeutete Gesäuge angebracht habe, der bis hinter das Weidloch [After] reicht. Nun kann ich es herausschneiden und beiseitelegen. Als nächstes kommt das abgerundete Messer für die Bauchdecke an die Reihe. »Fühle mal mit dem Finger, ob du unter der Haut bist.« An der Stelle, von der ich das Gesäuge abgetrennt habe, kann ich nun meinen Zeigefinger unter die mit Fell bedeckte Haut stecken und fühle den warmen Pansen darunter. Hier setzte ich das Messer an. »Wohin?«, frage ich. »Bis zum Brustbein.« Die Bauchhöhle des Tieres öffnet sich hinter dem Messer. Einigermaßen leicht lässt es sich Richtung Hals ziehen und verursacht ein leises Ratschen. Dann treffe ich auf das Brustbein, jenen stabilen Knochen, an dem mit diesem Messer kein Weiterkommen ist. Halb geöffnet liegt das Tier nun da. Hermann übernimmt mit dem anderen schärferen Messer, weil man hierzu entweder viel Kraft oder Erfahrung braucht. Genau dort, wo die Rippenbögen auf das Brustbein treffen, ist es am Leichtesten. Dennoch sehe ich, dass dies auch für Hermann trotz seiner Erfahrung schwierig ist und Kraft kostet. Als das Brustbein knirschend aufgespalten ist, übernehme ich wieder. »Mit dem Messer trennst du den Hals entlang der Speiseröhre auf. Bis zum Kehldeckel. Fühl‹ mal, wo der ist. Das ist so ein Knubbel.« Ich umfasse mit meiner Hand die unter dem Fell des Tieres verborgene Speiseröhre und taste mich weiter Richtung Kiefer. Dann spüre ich eine Verhärtung oder einen Wulst. »Ja, hab‹ ich.« »Bis dahin.« Das klappt sehr gut und ohne Unterbrechung, denn die Haut ist recht weich und dünn

IV Die Jagenden

und kein Knochen ist im Weg. »Gut. Jetzt nimmst du wieder das Messer und packst mit der anderen Hand um die Luftröhre. Die ziehst du heraus.« Eigentlich soll eine Hand, die Messerhand, sauber bleiben, damit man nicht so leicht mit dem Messer abrutscht. Bei mir sind inzwischen beide Handschuhe gleichermaßen blutig. Die Luftröhre packe ich. Sie herauszuziehen geht schlecht. Die Luft- und die Speiseröhre hängen irgendwo dran. »Zieh‹ fester!«, ermuntert Hermann mich. Dazu muss ich mich überwinden und mir immer wieder sagen: Das Tier ist tot – ich kann ihm nicht mehr wehtun. Mit viel Kraft löse ich den Schlund und die Luftröhre von oben nach unten aus dem Hals. Wieder dieses Ratschen. Beide Röhren ziehe ich auf mich zu und durchtrenne sie oberhalb des Kehldeckels, damit keine Nahrungsreste herauslaufen können. Nun stehe ich über das tote Tier gebeugt und versuche mich zu orientieren. Das Tier liegt zwar nun aufgeschnitten vor mir, aber es ist für mich nicht einfach zu entscheiden, was nun geschehen muss. Bevor ich mit dem Aufbrechen begonnen hatte, hätte ich schwören können, den Ablauf auswendig aufsagen zu können und dementsprechend durchzuführen. Hermann leitet meine Handgriffe Schritt für Schritt an. Mit seiner Hilfe spreize ich die Vorderläufe des Tieres auseinander, so dass sich das Zwerchfell automatisch wie ein Segel aufspannt. Es trennt Bauchhöhle und Brustkorb. So aufgespannt, lässt sich leicht mit dem Messer von den Rippenbögen abtrennen. Inzwischen hat sich eine beachtliche Blutlache mit geronnen Blutklumpen im Tierkörper gebildet. Einiges läuft auf die braunen Blätter am Boden. Das meiste Blut läuft aber aus dem Tier heraus, als wir es auf die andere Seite wälzen, um auch dort das Zwerchfell durchzutrennen. Herz, Lunge, sowie Speise- und Luftröhre nehme ich heraus. Noch sind sie warm, noch dampft auch das Blut. Aber von Sekunde zu Sekunde kühlt der Körper mehr aus. Langsam kämpfe ich mich unter Hermanns Anweisungen weiter vor. Ich schwitze, obwohl ich die Jacke längst ausgezogen habe. Der pralle Pansen, die Gedärme und das Leben [Herz und Lunge] sind nicht nur sehr blutig und glitschig, so dass ich kaum Pack-an finde, um sie aus dem Körper heraus zu ziehen, sondern sie sind auch wirklich schwer. Alles scheint an irgendetwas anderem dran zu hängen. Ich bekomme einen Teil des Magens zu fassen und ziehe ihn und alles, was daran hängt, nach hinten weg aus dem Tier heraus. Es stinkt und platscht und alles ist immer noch ein wenig warm. Als Pansen und Darm neben dem Wildkörper liegen, hält Hermann mir ein in weiße Haut gepacktes Kleinteil des Organismus hin. »Die Leber.« Hermann schneidet sie mit ein oder zwei geschickten Handgriffe aus der Haut heraus und packt sie in eine kleine Plastiktüte. »Das jetzt in Butter und mit Zwiebeln anbraten – eine Delikatesse!« Auch das Herz packt Hermann in eine der mitgebrachten Plastiktüten. Der Körper des Tieres liegt nun hohl vor uns. Jetzt kann es in eine Kühlkammer gebracht und dann verkauft oder weiter zerwirkt [in küchenfertige Stücke zerteilt] werden. Hermann bedeckt den Aufbruch, der neben uns im Laub liegt,

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noch mit einigen Händen voller trockener Blätter, damit zufällig Vorbeikommende ihn nicht sofort sehen – das sei ja kein schöner Anblick. Beim Aufbruch handelt es sich um jene, für den Menschen ungenießbare Teile des Inneren. »Das holt sich der Fuchs. Da ist morgen nichts mehr von da…«, erklärt Hermann. Ich bin blutverschmiert und durchgeschwitzt. Außerdem habe ich Rückenschmerzen bekommen. Was ich, während ich in dem Hohlraum des Tierkörpers gearbeitet habe, nicht wahrgenommen hatte, war Ekel. Auch wenn es seltsam war, trotz der Latex-Handschuhe zu spüren, wie der tote Körper immer mehr und mehr auskühlt, so war ich doch zu sehr mit den Arbeitsschritten beschäftigt, als dass ich viel darüber hätte nachdenken können. Dann ziehen wir das Stück gemeinsam den Hang hinab. Jeder von uns hält einen Vorderlauf. Der Kopf des Tieres schleift über den Boden. Das sieht nicht schön aus, aber die Tragik des Anblicks geht in der Anstrengung verloren. Der tote Körper ist auch ohne den Großteil der Innereien immer noch schwer. Mühsam manövrieren wir uns den Hang hinab. Endlich sind wir bei dem Waldweg angekommen, wo wir Auto und Anhänger abgestellt haben. Wir hieven das Tier gemeinsam auf den Anhänger. Erneut klettern wir dann mit Messern und Plastiktüten den Hang hinauf. Nach einer kurzen Suche sehen wir auch das Kalb leblos im Laub liegen. Dieses Mal bricht Hermann auf. Er braucht nicht mal halb so lange wie ich. Seine Messerhand bleibt fast sauber und jeder Schnitt ist gleich zu Beginn mit dem richtigen Druck an der richtigen Stelle. Ich schaue Hermann fasziniert zu. Die Bewegungen sind fast ohne Unterbrechung und auch scheint es für ihn nur halb so anstrengend zu sein. Nur am Brustbein muss er gleich zwei Mal ansetzten. Die Leber, Herz und dieses Mal auch die Zunge kommen in separate Plastiktüten. Dem Kalb wird der linke Unterkiefer herausgebrochen, der als Identitätsnachweis für die Kontrolle der Abschussplanung einzubehalten ist. (Den Unterkiefer herauszutrennen, haben wir bei ›meinem‹ Tier vergessen und Hermann holt das vom Anhänger aus nach.) Das Kalb ist leichter als das Schmaltier. Wir schaffen es den Hang zum Anhänger herab und legen es zu dem Schmaltier. Dann lässt Hermann Eboni, seine Drathhaar-Hündin aus dem Auto, die nun an den toten Tieren schnuppern darf. Zum Abschluss spielt er mit seinem alten, schon ziemlich verbeulten Jagdhorn den beiden Tieren das Signal »Hirsch tot.« Die Melodie erklingt und wird von der milden Herbstluft durch den Wald getragen. Ein kurzes Innehalten. Dann erfolgt der Übergang in den normalen Tagesablauf. Heute Morgen um sieben Uhr sind wir in völliger Dunkelheit im Wald angekommen, jetzt ist es halb zwölf, ein heller, sonniger Vormittag. Hermann will die Tiere noch zu einem Restaurant in der Nähe bringen. Der Betreiber kauft oft Wildfleisch aus diesem Revier.

Diese Betrachtung der Jagd als leibliche Praxis zeichnet den Weg vom Lebewesen zum Lebensmittel nach. Ausschnitthaft zeigt sie, was es für die menschlichen Jagenden heißt, auf der Jagd zu sein und welche Fähigkeiten dafür von Nöten sind – angefangen bei den Wahrnehmungs- und Schießfertigkeiten bis hin zu den Hand-

IV Die Jagenden

griffen, die nach dem erfolgreichen Schuss erfolgen müssen, um aus dem toten Tier schließlich gegebenenfalls ein Lebensmittel herzustellen. Angesichts der Herausforderung, die das Bergen und Aufbrechen gerade von größeren Tieren darstellen kann, würde die meisten Jägerinnen und Jäger sicher Sharps und Sharps Feststellung zustimmen: »Finding and killing the prey are the easy part« (2015: 26). Das Töten ist dank der modernen Feuerwaffentechnik zu einem Akt aus der Ferne geworden, der nur eine kleine, wenn auch die wichtigste, Bewegung für die Jagd bedeutet. Es ist eine Bewegung, die ohne großen Kraftaufwand durchzuführen ist. Am eigenen Leib habe ich erfahren, wie wenig Kraft ich aufwenden musste, damit achtzig Meter entfernt von mir ein Tier stirbt, welches größer und schwerer war als ich selbst – nur den Druck auf meinen rechten Zeigefinger musste ich erhöhen. Bis die so erlegten Tiere dann aufgebrochen in die Kühlkammern der Metzgereien oder der Restaurants gebracht werden können, müssen die Jägerinnen und Jäger sich zunächst der Roten Arbeit widmen. Gegenwärtig reduziert diese sich für die Meisten auf das Aufbrechen und Ausnehmen der erlegten Tiere. Das Zerwirken des Körpers in küchenfertige Fleischstücke, erfolgt oft nicht durch die Jägerinnen und Jäger. Wenngleich sicherlich viele Jägerinnen und Jäger diese Arbeit selbst übernehmen, war es unter meinen Bekannten eher die Regel, die Tiere in der Decke [das Fell ist noch nicht abgezogen und der Körper mehr oder weniger in einem Stück] zu verkaufen oder in Metzgereien zu bringen.

Abbildung 18: Hermann ist dabei im Liegen aufzubrechen.

Das Aufbrechen rückt auch aus leibphänomenologischer Perspektive einen interessanten Aspekt ins Licht. Wenngleich der Tod, wie beim sauberen Schuss, einen abrupten Überfall darzustellen scheint, so erlaubt eine genaue Beobachtung, dass der Eintritt des Todes – so plötzlich er auch zu sein scheint – und das Sterben eher einen Prozess darstellen. Der Übergang von der wesenhaft lebendigen Leiblichkeit

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zur reinen Körperlichkeit dauert auch über den Eintritt des Todes hinaus an. Die vollständige Verwesung ihrer Beute suchen Jägerinnen und Jäger zu vermeiden. Sie unterbrechen diesen Prozess bewusst, damit das Fleisch noch zu ihrem Lebensmittel werden kann, indem sie nach dem Eintritt des Todes bestimmte Handlungen am toten Körper vornehmen. Sie entnehmen die Organe und müssen dafür sorgen, dass der tote Körper dann möglichst bald auf vier bis sieben Grad Celsius herab gekühlt wird, um ein Verderben des Fleisches durch das Aufkeimen von zersetzenden Kräften, wie Bakterien und Parasiten, zu verhindern. Und doch erleben die Jägerinnen und Jäger leiblich mit, wie der Übergang von lebendiger Leiblichkeit zur reinen Gegenständlichkeit unter ihren Händen voranschreitet. Der bläulich-milchige Schleier, der sich über die Augen der Tiere legt, ist ein solches Indiz, ebenso wie das Gas, das sich schon bald im Körper des toten Tieres bildet. Vor allem aber das Gerinnen des Blutes und das Erkalten der noch warmen Organe beim Aufbrechen lassen diesen Prozess sinnlich miterleben. Aus leibphänomenologischer Perspektive ermöglicht die Jagd den jagenden Menschen einen sinnlich wahrnehmbaren Bezug zu ihrer eigenen Körperlichkeit. Die Verwandtschaft aller Säugetiere zeigt sich vor allem an der Ähnlichkeit der organischen Anordnung im Inneren ihrer Leiber. Worauf ein lebendiger Mensch bei sich selbst jedoch keinen Zugriff hat, das eröffnet sich ihr oder ihm im wörtlichen Sinne, sobald er oder sie ein erlegtes Tier aufschneidet. Unwillkürlich wird er oder sie so an die eigene, meist im Hintergrund der bewussten Wahrnehmung verbleibende Körperlichkeit, an die organische Komposition des eignen Leibes, erinnert. Blitzt dieser Gedanke auf, so wird er jedoch spätestens dann beiseite geschoben, wenn die praktische Tätigkeit des Aufbrechens an diesem toten Körper vollzogen wird. Die Versenkung in diese Tätigkeit drängt nicht nur solche Gedanken in den Hintergrund, sie verändert auch die Wahrnehmung dieses toten Tieres. Während das passive Zuschauen mir durchaus noch unangenehm bis zum Empfinden von Ekel war, und ich mich fragte, wie man sich wohl an diesen Geruch gewöhnen könnte, so traten diese Widerstände in den Hintergrund meiner Aufmerksamkeit, sobald ich mich selbst dieser »practical ›hands-on‹ experience« (Ingold 2000: 291) widmete. Nun war meine Aufmerksamkeit vielmehr von der Umsetzung einer Aufgabe gelenkt – wenngleich ich das Erkalten der Organe und des Blutes, sowie den strengen Geruch und die glitschige Haptik der Innereien noch immer nicht als angenehm empfandt. Jedoch war es plötzlich unwichtig geworden und ich ganz und gar mit den nötigen Bewegungen beschäftigt. Wie blutverschmiert und durchgeschwitzt ich war, bemerkte ich erst, als ich fertig damit war. Das Suchen und Finden der richtigen Bewegungen, der Bewegungsqualität, besonders nach dem richtigen Druck auf das Messer, dürfte mich für jeden als Anfängerin identifizierbar gemacht haben. Mir fehlten noch jegliche skills, die Hermanns Bewegungen dagegen so flüssig, stimmig und mühelos erscheinen ließen (vgl. Ingold 2000: 291). Tatsächlich war Hermann nach dem Aufbrechen des Kalbs weit

IV Die Jagenden

weniger angestrengt als ich. Seine jahrzehntelange Erfahrung, all die Tiere, die er in seinem jagdlichen Leben schon aufgebrochen hatte – all das hatte ein Wissen entstehen lassen. Eben jenes »Wissen, das in den Händen ist, das allein der leiblichen Betätigung zu Verfügung steht« (Merleau-Ponty 1966: 174). Obwohl ich, bevor ich mit dem Aufbrechen begonnen hatte, überzeugt gewesen war, dass ich genau wusste, was zu tun war, also ein theoretisches Wissen über das Aufbrechen hatte, fehlte mir jenes praktische Wissen. Dieser frühe Versuch, ein Tier aufzubrechen, war daher keineswegs davon gekennzeichnet, die von Merleau-Ponty charakterisierte »Einheit der Wahrnehmung und der Bewegung, kurz die Intentionalität als Sinnlichkeit« (Kirstensen 2012: 32) zu erfahren. Ich würde also noch deutlich mehr Tiere aufbrechen müssen, bis sich jene »praktische Beherrschung« (Bourdieu 1993: 122) in meinem Leibschema sedimentiert haben würde. Jägerinnen und Jäger können die erlegten Tiere auf unterschiedliche Arten aufbrechen. Tatsächlich gibt es nicht die eine unabänderliche Abfolge an Bewegungen und Handschlägen. Während ich das Aufbrechen ungezählte Male bei erfahrenen Jägerinnen und Jägern beobachtet habe und mich schließlich unter der Aufsicht verschiedener Personen selbst daran versuchte, habe ich bemerkt, dass es viele Variationen des Ablaufs gibt. Jedoch gibt es seit einigen Jahren eine Debatte darüber, wie Jägerinnen und Jäger Tiere aufbrechen sollen. Gegenwärtig wird in den Jagdkursen vor allem das Aufbrechen am aufgehängten Tier gelehrt, wie im Beispiel der Nationalpark-Jagd. Hermann ist dagegen ein Verfechter der Variante ›im Liegen‹, so wie wir es im Wald mit den beiden Rottieren gemacht haben. Diese unterschiedlichen Varianten sind mehr als persönliche Variationen ein und der selben Aufgabe. Bei dieser Debatte geht es um mehr als nur das Aufbrechen. Die Hygiene mag der eine Aspekt sein, weshalb das Aufbrechen im Hängen in gekachelten und mit Edelstahl verkleideten Wildkammern inzwischen sehr populär ist. Ein Tier im Liegen aufzubrechen, ist allerdings nicht zwangsläufig unhygienisch – zu keinem Zeitpunkt war das Innere der Tiere mit Schmutz oder Erde kontaminiert. Ein anderer Aspekt ist jedoch, dass das Aufbrechen des aufgehängten Tieres – die Infrastruktur vorausgesetzt – schneller geht und sogar arbeitsteilig durchgeführt werden kann. Wir erinnern uns an jene Szene nach der Drückjagd im Nationalpark. Während die Schützinnen und Schützen ihre erlegten Tiere nur bis an den Weg ziehen mussten und die Arbeit dann in andere Hände weitergegeben haben, erledigt Hermann im Wald jeden Handschlag – vom Bergen bis zum Transport in die Kühlkammer – selbst. Im Nationalpark, und so auf jeder großen Drückjagd, passiert all das in verschiedenen Instanzen. Die Einen bergen, bringen die Tiere zum zentralen Aufbrechort, wo die Anderen schon mit der Arbeit begonnen haben und darauf warten, dass die Berge-Helferinnen und -Helfer, die Tiere von den Anhängern in Schubkarren zur Wildkammer bringen. Auch das Aufbrechen selbst funktioniert arbeitsteilig. Draußen werden, wenn nötig, schon die Beine der toten Tiere gekürzt und Schnitte in die Hinterläufe gesetzt, so dass die Tiere sofort an einer frei werdenden

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Angel aufgehangen werden können, wo sie von der nächsten Person übernommen und aufgebrochen werden. Aufgebrochene Tiere werden dann entlang der Metalllaufschiene weiter verschoben und in einem nächsten Schritt gewogen und in eine Liste eingetragen, die der Verwaltung durch die Revierleiter und -leiterinnen dient. Auf solch großen institutionellen Jagdveranstaltungen, wo die Jagd weniger Selbstzweck denn Mittel zu einem Zweck ist, entspricht sie mehr einem Verwaltungsakt. Standardisierte und normierte Arbeitsabläufe vereinfachen dieses Unterfangen. Wären alle Schützinnen und Schützen, die an diesem Tag ein Tier erlegt hatten, selbst für dessen Versorgung verantwortlich gewesen, so hätte der Ablauf der Jagd bis zum Strecke legen wohl ungleich länger gedauert. Diese Form des Aufbrechens entspricht ganz und gar Zweck und Infrastruktur jener institutionalisierten Jagd. Wo jedoch die Jagd mehr Privatvergnügen ist, ist sie oft auch einsamer. In privaten Jagdrevieren ist die Einzeljagd üblicher und auch die Infrastruktur in der Regel nicht so lückenlos und zentral erreichbar. Das Aufbrechen vor Ort ist damit oftmals die einzig praktikable Herangehensweise. Der Hang, in dem Hermann die beiden Tiere erlegt hatte, hätte kaum die Möglichkeit geboten, die Tiere irgendwie aufzuhängen. Die lichten Eichen waren jung, ihre Äste – so sie in erreichbarer Höhe waren – zu dünn, um auch nur das Gewicht des Kalbs zu tragen. Nicht aufgebrochen hätten beide Tiere ein Vielfaches mehr gewogen und Hermann und ich hätten sie unmöglich auf den Anhänger schaffen können. Auch in der oft baumlosen Vennlandschaft des Brachkopf-Reviers wäre es kaum möglich ein Tier hängend aufzubrechen. Ein erlegtes Tier, wie jenen kapitalen Hirsch, den Bernd im Venn erlegt hat, zu bergen, ist auch für sehr kräftige Menschen alleine nicht zu schaffen. Der unebene und wenig zuverlässige Untergrund des Moores macht es auch für bergefähige Fahrzeuge unmöglich, nah genug an den Hirsch herzukommen – ganz davon abgesehen, dass nach belgischem Naturschutzgesetz auch kein solches Fahrzeug an diesem Ort hätte sein dürfen. Das Aufbrechen vor Ort ist in solchen Fällen also die einzige Möglichkeit, die bleibt, um das Gewicht dieses schweren Tieres zu reduzieren. Und immer noch hatten wir zu sechst große Mühe den Hirsch an Seilen circa zweihundert Meter auf den nächsten Weg zu ziehen. Die unterschiedlichen Handgriffe beim Aufbrechen können also ganz und gar unterschiedlichen jagdlichen Situationen geschuldet sein, die entweder nach Effizienz verlangen oder nach handwerklichem Pragmatismus. All die Arbeit, der Schweiß und die Mühe, welche die erfolgreiche Jagd nach sich zieht, trägt unmittelbar zur Wertschätzung des so produzierten Wildbrets bei. Diese Wertschätzung äußerte sich auch in Hermanns spontanem Einfall, als er die Leber des Schmaltieres aus der schützenden weißen Haut gepellt hatte und in den Händen hielt. »Das jetzt in Butter und Zwiebeln anbraten – eine Delikatesse!«, freute er sich. Die Wertschätzung des Wildfleisches als Zugewinn an symbolischem Kapital habe ich im vorhergehenden Kapitel schon erläutert. Nachdem ich nun auch das Aufbrechen beschrieben habe, erschließt sie sich auch aus einer ganz

IV Die Jagenden

praktischen Perspektive. Dem Wildfleisch wird auch jene Wertschätzung zu Teil, weil den Jägerinnen und Jägern all jene Prozesse aus ihrer jagdlichen Praxis heraus bekannt sind, die notwendig sind, um aus einem toten Körper ein küchenfertiges Stück Fleisch zu machen. Mit dem Konsum von Wildfleisch inkorporieren sie jedoch nicht nur die Arbeit und die Anstrengung, die in diesem Produkt enthalten sind. Darin enthalten ist letztlich auch das Wissen über die humanimalisch konstituierte Landschaft und die humanimalische Intersubjektivität, die jenem Jagderfolg vorausgegangen sind.

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V Konklusion und Ausblick

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Konklusion: Die Jagd als humanimalische Praxis

Eingeleitet habe ich diese Arbeit mit der These, dass die Jagd in Deutschland eine mehr-als-menschliche Aktivität ist. In der vorliegenden Ethnografie habe ich – aufbauend auf meiner Feldforschung – den Versuch einer Analyse der Jagd als humanimalischer Praxis gemacht, welche, auf phänomenologischen Prämissen aufbauend, auch jene nicht-menschlichen Handlungs- und Wirkungsmächte einbezieht. Dabei charakterisiert sich die Jagd nicht nur als Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten, sondern wie ich gezeigt habe, konstituieren auch Landschaft, Wind und Wetter sie als lebendige Umwelt mit. Grund und Boden dieser Analyse bilden verschiedene Jagdreviere der Nordeifel. Als Momentaufnahme beschreibt diese Ethnografie zum Einen regionalspezifische Facetten der Jagdpraxis, zum Anderen erlaubt sie auch überregionale Aussagen darüber, unter welchen humanimalischen Prämissen die Jagd im Deutschland der Gegenwart stattfindet. Die Jagd als humanimalische Praxis zu verstehen, heißt, nicht bei der Beziehung der Jagenden und Gejagten alleine stehenzubleiben, sondern die Jagd als Teil eines komplexen Gefüges aus ökologischen, kulturellen, geografischen, historischen und ökonomischen Voraussetzungen zu beschreiben. Wie einleitend definiert, übernehme ich den Begriff humanimalisch von Signal und Taylor (2011). Zentral ist für die Definition dieses Begriffs als »mutual determination« (Beatson 2011: 23). In dieser Ethnografie finden sich zahlreiche Beispiele dafür, wie die Jagenden und die Gejagten die Situation, in der sie sich befinden, gemeinsam prägen und sich gegenseitig als handelnde Lebewesen wahrnehmen. Diese deskriptive Feststellung bedeutet keineswegs, dass Jagende und Gejagte gemeinsame Interessen haben, oder gar, dass die gejagten Tiere sich freiwillig zur Beute ihrer Jägerinnen und Jäger machen, wie es in anderen Kosmologien konzipiert ist (vgl. bspw. Willerslev 2007; Sharp/Sharp 2015). Jedoch ist die Jagd, und das ist das Ergebnis dieser phänomenologisch inspirierten Analyse, als Aktivität, die alleine den jagenden Menschen eine Handlungsmacht zugesteht, missverstanden. Auch entspricht dieses Verständnis nicht der Vorstellung, welche die Jägerinnen und Jäger von ihren Beutetieren haben. Damit die Jagd auf sie überhaupt moralisch gerechtfertigt werden kann und nicht mit

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Mord gleichgesetzt werden muss, nehmen die gejagten Tiere in der Kosmologie der Jagenden zwar eine ontologisch andere Stellung ein, als menschliche Artgenossinnen und Artgenossen (vgl. Schwab 2018: 28-29, 48). Dennoch sehen Jägerinnen und Jäger in ihnen auch ›entfernte Verwandte‹. Zum Einen werden die gejagten Tiere als leidensfähige Lebewesen anerkannt, welche somit moralische Ansprüche an die Jagenden stellen. Meine Diskussion der Nachsuche und der Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime hat dies deutlich gemacht. Zum Anderen wird ihnen auch eine gewisse Handlungsmacht über die Jagd zugestanden. Bemerkbar macht sich diese in den vielen halb ernst gemeinten, halb im Spaß gesagten Äußerungen über das Wissen der Tiere um die Jagd. Besonders nach erfolglosen Jagdtagen, wenn Erklärungen dafür gesucht werden, warum kein Wild zur Strecke kam, habe ich häufiger gehört, wie Jägerinnen oder Jäger sagten, dass »die das eben gewusst haben« und daher frühzeitig an andere Orte gezogen sind. Dass die Gejagten tatsächlich um ihre Situation wissen, zeigte diese Ethnografie. Die gejagten Tiere erleiden die Jagd nicht nur passiv – sie können sich ihr bewusst entziehen und fordern so die Jägerinnen und Jäger auf, ihre Jagdstrategien anzupassen. Wenngleich der Spielraum begrenzt ist – die Gejagten sind an ihre Habitate gebunden und unterliegen auch artspezifischen Prädispositionen –, so ist meine These, dass den Gejagten eine nicht zu vernachlässigende Handlungsmacht zukommt. Diese ist zwar nicht mit der menschlichen zu vergleichen, denn die Gejagten verfügen nicht über eine corporate agency (vgl. Carter/Charles 2011: 258). Sie können sich nicht in einem menschlichen Maß kollektiv organisieren, »to resist the anthropomorphic relations of power and domination within they are enmeshed.« (Ebd.) Auch folgt die Jagd vor allem menschlichen Vorstellungen und Idealen bezüglich ihres Nutzens, ihrer Praktizierung und ihrer Ethik. Dennoch ist sie in großem Maße festgelegt durch jene »mutual determination« von Jagenden und Gejagten. Phänomenal erfahrbar wird das im jagdlichen Alltag jener Jägerinnen und Jäger, die ich während meiner Feldforschung kennengelernt habe. Individuell entziehen sich die Gejagten der Jagd viel häufiger, als das ihnen das nicht gelingt – das beweisen all die Stunden des vergeblichen Wartens auf Wild. Ich habe dafür argumentiert, dass das weniger ein Zufall ist als viel mehr die Antwort der Gejagten auf ihre lebendige Umwelt. Phänomenologisch zeigt sich die Jagd als ein fortlaufendes Antworten der Jagenden und der Gejagten auf ihre gemeinsame Situation. Um also die Jagd im gegenwärtigen Deutschland angemessen verstehen zu können, muss eine Analyse in der Lage sein, dieses humanimalische Wesen der Jagd zu fassen. Diese phänomenologisch inspirierte Ethnografie wagt einen solchen Versuch. Auch wenn sie ihr menschliches Zentrum nicht verlässt und daher von einem, diesem menschlichen Zentrum der Beschreibung geschuldeten, Anthropozentrismus durchzogen wird, so hat die Handlungsmacht der Tiere diese Ethnografie doch ebenso geformt, wie die Jagenden. Im Folgenden möchte ich zusammenfassend auf die wichtigsten Aspekte eingehen, welche die Jagd als hum-

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animalisch charakterisieren. Anschließend werde ich, ausgehend von den bisher getroffenen Aussagen, einige weiterführende Gedanken anhängen und fragen, inwiefern die Beziehung von Jagenden und Gejagten im Begriff ist, sich zu ändern. Zunehmend, so scheint es, werden die Jägerinnen und Jäger, wenn nicht zu Gejagten, so aber doch zu Getriebenen. Mit ihrer Jagdpraxis haben sie nicht mehr nur das individuelle Beutetier ›im Visier‹, sondern sie müssen diese mehr und mehr nach anderen gesellschaftlichen Kriterien ausrichten. Strukturell wird die Jagd in weiten Teilen immer mehr nach dem Kriterium der Effizienz bemessen. Darin begründet liegt auch eine Veränderung der Beziehung zwischen Jagenden und Gejagten: Die Gejagten rücken weniger als Individuen in das Interesse der Jagenden, sondern sind als »Bestand« Gegenstand eines gesellschaftlichen Diskurses über die Jagd. Wie ein Blick in die Geschichte zeigt, ist ein solcher Diskurs nicht neu – immer wieder hat es ihn gegeben und aus historischer Sicht ist auch die Beziehung von Jagenden und Gejagten immer wieder neuen Gedanken und geistigen Strömungen unterworfen gewesen, welche die Jagd als leibliche Praxis geprägt haben. Und doch ist dieser Diskurs gegenwärtig wieder von größter Aktualität und ihm sollen daher die ihm gebührenden Gedanken gewidmet werden. Zunächst möchte ich jedoch die Möglichkeitsbedingungen hierfür klären und auf die gegenwärtige Situation der Jagd und ihr humanimalisches Wesen zurückkommen. Ich habe in der vorliegenden Arbeit die Jagd als humanimalische Praxis gemäß der ihr innewohnenden Triangulation aus Jagenden, Gejagten und dem Jagdrevier analysiert. Die Analyse mit dem Jagdrevier zu beginnen, ist der phänomenologischen Ausrichtung dieser Ethnografie angemessen, da es mehr als ein bloßer Hinter- und Untergrund der Jagd ist. Vielmehr konstituiert die Landschaft, in der gejagt wird, diese Praxis mit. Als Ort der untersuchten Praxis ist das Jagdrevier mehr als nur der bewaldete und bewachsene Grund und Boden, auf dem gejagt wird. Um jedoch diese Wirkungsmacht1 von Landschaft analytisch einholen zu können, ist eine Kritik an einem statischen Landschaftsbegriff notwendig gewesen. Die Landschaft, so zeigt sich in der Erfahrung, ist nicht einfach da, sondern »[l]andscapes are experienced in practices« (Tilley 1994: 23). Eine solche Feststellung entspricht nicht nur dem phänomenologischen Charakter dieser Analyse, sondern sie ermöglicht zudem auch, die Jagd angemessen zu konzeptualisieren.

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Im Verlauf dieser Arbeit habe ich dargelegt, warum diese Wirkungsmacht als Form der agency nicht mit deren Ausprägung als Handlungsmacht verwechselt werden darf, über welche die Jagenden und Gejagten verfügen. Die Argumentation lautet, dass die agency der Landschaft als einer »weather-world« (Ingold 2011: 96) sich als Wirkungsmacht entfaltet, weil sie nur unidirektional wirkt. Sie setzt weder ein Bewusstsein, also Intentionalität, noch Relationalität voraus, während die Handlungsmacht sich sowohl relational als auch intentional auf eine Situation bezieht. Insofern macht es Sinn, von Latours (2005) agency Konzept abzuweichen, da dieses für meine Analyse zu unscharf geblieben wäre.

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Der erste Schritt, welcher bei dieser theoretischen Begehung des Jagdreviers getan werden muss, ist zu bedenken, dass die Landschaft der Jagdreviere nicht als objektivierbarer, vom wahrnehmenden Subjekt befreiter Raum (vgl. Hirsch 1995: 9) analysiert werden darf. Je nachdem, ob in ihr Jagdrevier, Heimstätte, ein potentielles Habitat, eine wirtschaftlich nutzbare Fläche oder der Ort von Erholung und Entspannung gesehen wird, eröffnet sich die Landschaft der Nordeifel den wahrnehmenden Subjekten anders. Auf die Mehrdimensionalität von Landschaft und ihre Auswirkungen auf die Jagd als humanimalische Praxis werde ich im Folgenden näher eingehen. Zunächst möchte ich jedoch nochmals die phänomenologischen Prämissen meiner Landschaftsanalyse des Jagdreviers eingehen. Edward Caseys (1996) Gedanken zur phänomenologischen Konstitution von Ort und Raum benennen diese Prämisse schon: »Human beings – along with other entities on earth – are ineluctably place-bound« (ebd.: 19). Für ihn ergibt sich daraus eine ontologische Vorrangigkeit von konkreten Orten gegenüber dem abstrakten Raum, wie er bspw. von Landkarten vermittelt wird. Wie diese Vorrangigkeit praktisch relevant wird, zeigt sich auf der Jagd: Wie und wo gejagt wird, ist zwar an ein planvolles Vorgehen der Jagenden gebunden, jedoch ist es weniger der Blick auf die Revierkarte, welcher den Jägerinnen und Jägern ein Verständnis für ihr Jagdrevier ermöglicht, sondern viel mehr ermöglichen erst die praktische Ortskenntnis ein angemessenes Verständnis der Revierkarte. Blickte ich zu Anfang meiner Feldforschung in Hermanns Revierkarten, so ließ mich dieser Eindruck verwirrt zurück. Ich hätte nicht gewusst, was die Landschaft jagdlich ausmacht. Erst nachdem wir einige Male zusammen im Revier unterwegs waren, eröffnete sich mir auch die Karte. Ich verband Eindrücke der Landschaft, Erlebnisse und Geschichten mit einzelnen kartografisch dargestellten Orten und konnte mir nun unter ihnen etwas vorstellen. Phänomenologisch sind Ortschaft und Leiblichkeit unauflöslich miteinander verbunden. Auf diese Korrelation verweist auch das In-der-Welt-Sein als fundamentale Konstante menschlichen, aber auch nicht-menschlichen Lebens. Wie für andere Tiere auch, so eröffnet sich eine Landschaft auch für Jagende und Gejagte gemäß ihres leiblichen Engagements darin. Im Falle der gejagten Tiere ist das Jagdrevier Heimstätte, wo sie ihrem artspezifischen Alltag nachgehen. Sie verfolgen dabei ihr eigenes Interesse an der Landschaft und verfügen über ein Wissen bezüglich jener Landschaft, in der sie nicht nur Gejagte sind, sondern auch Wohnende. Die Jagd ist für sie, wie auch für die Jagenden, nur ein Aspekt dieser Landschaft. Es ist daher das leibliche Engagement und das fundamentale Inder-Welt-Sein eines Lebewesens, welches die Landschaft vor aller Abstraktion als bewohnte und belebte Gegend bedeutsam werden lässt. Landschaft ist, so verstanden, lebendige Umwelt für ihre Bewohnerinnen und Bewohner. Als lebendig qualifiziert sich die Umwelt jedoch nicht alleine aufgrund der Bewusstsein-habenden Lebewesen, welche sie bewohnen und sich in ihrem leiblichen Engagement reflexiv auf sie beziehen können. Lebendig ist diese Umwelt

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auch durch die natürlichen Zyklen, Rhythmen und Veränderungen, denen sie als »weather-world« (Ingold 2011: 96) unterworfen ist. Wie die hügelige Topografie, die Materialität des Gesteins und der Erde, welche von Gewässern durchzogen wird, so sind es auch Wuchs und Verfall alles Lebendigen, die Jahreszeiten, der Zyklus von Tag und Nacht, die Mondphase und Wind und Wetter, welche eine Landschaft zu etwas Lebendigem machen. Diese Lebendigkeit ist jedoch mehr als nur Dekoration einer ethnografischen Beschreibung, sondern sie ist wohl verstanden als Wirkungsmacht, die auch die Jagd beeinflusst. Während einige dieser Phänomene von menschlicher oder tierischer Einflussnahme gänzlich unabhängig sind, wie Wind und Wetter, Jahreszeiten und der Rhythmus von Tag und Nacht, so oszillieren andere Phänomene zwischen einer scheinbaren Gegebenheit der ›Natur‹ und einer artifiziellen ›Kulturlandschaft‹. Dabei kristallisiert sich die Landschaft der Nordeifel stets als vieldeutig heraus: Diese spezielle Landschaft, das Wetter und der Wind ermöglichen neben der Jagd eine Vielzahl an Landnutzungspraktiken, während sie andere unmöglich machen. All diese Landnutzungspraktiken, vor allem die Landund Forstwirtschaft, der institutionalisierte Naturschutz und diverse Freizeitaktivitäten prägen das Landschaftsbild der Nordeifel wiederum selbst nachhaltig. Nicht immer sind dabei alle praktischen Interessen an der Landschaft im Einklang, wie gerade im Bezug auf die Jagd deutlich wird. Die Landschaft ist in diesem Sinne »continuously constructed and reconstructed, as well as contested« (Rössler 2009: 311). Nachdem ich das Jagdrevier als humanimalisch konstituierte Landschaft charakterisiert habe, werde ich auf diesen Aspekt des Umkämpft-Seins zurückkommen. Zunächst und vor allem lässt sich jedoch für die Nordeifel festhalten, dass ihre Landschaft »neither purely natural nor […] purely man-made« (Bollig 2009: 17) ist. Gerade im Bezug auf die Jagd in der Nordeifel ist diese Unterscheidung geradezu hinfällig, finden die wilden Tiere doch ebenso in jenen von Menschen angelegten Feldern und Forsten eine Heimat, wie auch in der »Wildnis« des Nationalparks. Wobei es eben jene scheinbare Wildnis ist, die umso deutlicher auf das menschliche Schaffen verweist. Gejagt wird an all diesen Orten. Und dennoch spielt für die Jagd diese Ambivalenz eine zentrale Rolle – und damit komme ich auf das Jagdrevier als humanimalisch konstituierte Landschaft zu sprechen. »[D]ie Jagd ist per definitionem das, was sich an der Grenze abspielt, wo das Menschliche auf das Wilde stößt.« (Cartmill 1993: 54-55). Wenngleich der Versuch, diese Grenze nachzuziehen und zu entscheiden, was »purely natural« und was »purely man-made« ist, zum Scheitern verurteilt ist, so kommt den Jagenden als »Grenzgänger[n]« (ebd.: 49) dennoch Bedeutung zu. Zwar verlassen sie nicht den Bereich der Kultur, um in eine ›pure‹ Natur einzutauchen, da Kultur und Natur immer schon miteinander verwoben sind. Um aber erfolgreich zu jagen, müssen die Jägerinnen und Jäger jedoch verstehen, wie sich eine Landschaft für ihre wilden Beutetiere eröffnet. Um zu verstehen, welche Bedeutung eine Landschaft für die Gejagten hat, müssen sie

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in gewisser Weise doch zu »Grenzgängern« (Cartmill 1993: 49) werden. Die Jägerinnen und Jäger müssen wissen, welche Tiere in ihrem Jagdrevier leben, wo sie sich wann aufhalten, welche Orte sie schätzen und welche sie meiden. Dieses Wissen setzt wiederum Erfahrungen vor Ort voraus, welche – von technischen Hilfsmitteln, wie Wildkameras unterstützt – durch das leibliche Engagement vor Ort gesammelt werden müssen. Die Erzählungen von Jägerinnen und Jägern, die schon länger in einem bestimmten Revier jagen, helfen dabei, ein Jagdrevier in seiner humanimalischen Konstitution zu verstehen, wie auch die schon vorhandene Infrastruktur. Hochsitze, die an bestimmten Orten aufgestellt werden, bilden einen Teil der materiellen Historie eines Jagdreviers. Vor allem aber, so war es auch während meiner Feldforschung, eröffnet sich die Bedeutung einer Landschaft für das gejagte Wild, wenn die Jagenden selbst im Revier unterwegs sind und nach Pirschzeichen, jenen mehr oder weniger auffälligen Spuren und Hinterlassenschaften von Tieren, Ausschau halten, die auf deren Anwesenheit schließen lassen. Diese helfen Jägerinnen und Jägern zu erkennen, welche Tiere in ihrem Revier leben. Wenngleich sie oftmals unauffällig und für den ungeübten Blick schwer zu erkennen sind, so machen sie die Präsenz der Tiere doch wahrnehmbar, denn »[i]t is not possible to go anywhere without leaving some kind of mark in the course of movement.« (Lye 2016: 233) Erfahrene Jägerinnen und Jäger erkennen so, welche Wege die Tiere nehmen und welche Orte sie aufsuchen, wohin sie sich zurückziehen, wo sie Nahrung finden und vieles mehr. Die praktische Bedeutung, welche die Landschaft für das gejagte Wild hat, zu kennen, erleichtert die Jagd. Dennoch haben Jagende keine Gewissheit, ob sie Wild begegnen werden, wenn sie zur Jagd aufbrechen. Planvoll, nicht zufällig und doch nicht vorhersagbar, mäandern die Tiere in ihrem Habitat umher. Sie tauchen mal hier und dann mal dort auf. Dabei hat auch das Wetter großen Einfluss auf ihre Aufenthaltsorte. Wind und Wetter in die jagdlichen Aktivitäten einzubeziehen, erhöht die Chance der Jagenden auf einen erfolgreichen Jagdtag. Jägerinnen und Jäger verfügen daher auch über ein auf das Wetter bezogenes common knowledge. Wie sich das jagdliche Engagement von Menschen und Tieren im Jagdrevier ausgestaltet, ist beeinflusst von der qualitativen Beschaffenheit der Landschaft und ihrer Bedeutung für die Gejagten. Um diese Wirkungsmacht der Landschaft für die Jagd verständlich zu machen, ist das von Ingold (2000) vorgeschlagene dwelling-Konzept nützlich. Es charakterisiert das In-der-Welt-Sein als »existential involvement in the sensible world« (Janowski/Ingold 2012: 3), aus dem ein praktisches Wissen über die lebendige Umwelt erwächst. Dabei berücksichtigt dieses Konzept, dass sich die Jagenden und die Gejagten gleichermaßen ein praktisches Wissen von ihrer gemeinsamen Umwelt, dem Jagdrevier, aneignen. Dieses hilft ihnen schließlich, »[to] make themselves at home in the world.« (Ingold 2000: 172) Während sich aber die Jagenden an die Grenzen ihres Jagdreviers halten müssen, sind die Reviergrenzen für die gejagten Tiere porös. Auch wenn ihre Bewegun-

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gen durch andere Grenzen eingeschränkt werden – Autobahnen, Siedlungen oder Zäune – so kennen besonders erfahrene, ältere Tiere sich in ihrem Habitat so gut aus, dass sie wissen, wie sie sich der Bejagung erfolgreich entziehen können. Mit ihrer jagdlichen Infrastruktur versuchen die Jägerinnen und Jäger daher, Orte zu schaffen, welche die Begegnung mit Wild wahrscheinlich machen. Ich definierte jagdliche Infrastruktur als von Jägerinnen und Jägern konstruierte, materielle Veränderungen der Landschaft, die das Ziel haben, die Nutzung der jagdlichen Landschaft des Reviers zu verbessern. Ziel der jagdlichen Infrastruktur ist es, die Beziehung zwischen Jagenden, Gejagten und der Landschaft zugunsten der Jagenden zu stabilisieren, sie zu erweitern und zu reproduzieren (vgl. Harvey/Knox 2015: 4). Meine Hinwendung zur Infrastruktur zeigte dabei, dass die Jagdreviere immer im Bezug auf die humanimalisch konstituiere Landschaft eingerichtet sind. Die »material agency« (ebd.) der jagdlichen Infrastruktur ist daher nicht universal, sondern sie entfaltet sich nur in Korrelation zu dem spezifischen Ort im Jagdrevier, an dem sie errichtet wurde, wie ich am Beispiel von Hochsitzen und Kirrung [Lockfütterung für Wildschweine] gezeigt habe. An der passenden Stelle gebaut, kann die Infrastruktur der Jagenden auf die Bewegungsmuster der gejagten Tiere antworten, sie aufgreifen und schließlich zugunsten der Jagenden leiten. Nicht zuletzt sind Jagdreviere aber immer auch »[c]ontested [l]andscapes« (Bender/Winer 2001). Die Grenzen all der Jagdreviere, die ich kennengelernt habe, waren nicht nur deshalb porös, weil sie die Gejagten nicht einsperrten, sondern auch, weil sie andere Landnutzungspraktiken nicht aussperrten. So waren die Jagdreviere nie nur Jagdreviere. Sie waren immer auch schon Siedlung, landwirtschaftlich oder forstwirtschaftlich genutzte Flächen, waren Orte der Erholung für die in den Dörfern und umliegenden Städten lebenden Menschen und einige Fläche waren vom institutionalisierten Naturschutz beansprucht, was wiederum Nutzungseinschränkungen für andere Praktiken mit sich brachte. In den Jagdrevieren der Nordeifel – wie wohl in den meisten Jagdrevieren Deutschlands – prallen vielerlei Interessen aufeinander, die mal mit den Interessen der Jägerinnen und Jäger in Einklang stehen und mal damit in Konflikt geraten. In meiner Analyse lege ich dar, dass und wie die Jagd in dieser contested landscape nicht nur den jagdinhärenten Interessen folgen kann. An die Jagd als Landnutzungspraxis werden seitens der Land- und Forstwirtschaft ebenso Anforderungen gestellt, wie von jenen, dem Naturschutz verpflichteten Institutionen und den Erholungssuchenden. Dabei darf die Jagd jene anderen Ansprüche nicht stören, oder sie ist sogar dazu aufgefordert, sie zu unterstützen. Ihrerseits haben diese Praktiken wiederum Einfluss darauf, wie sich die jagdliche Landschaft strukturell ausgestaltet. So analysiere ich, wie die Landwirtschaft zwar einerseits funktional mit der Jagd harmonisiert, phänomenal aber andererseits auch Konflikte durch hohe Wildschäden und rückläufige Zahlen einiger Tierarten vorhanden sind. Wirtschaftliche Schäden durch zu hohe Schalenwildbestände, vor allem von Rot-

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und Rehwild, prägen auch den Konflikt zwischen Jagd und Forstwirtschaft. Die großen Drückjagden, die von vielen Forstämtern ab Oktober in ihren Revieren durchgeführt werden, sind eine Antwort auf diesen Konflikt zwischen forstlichen und jagdlichen Ansprüchen an die Waldlandschaften nicht nur der Nordeifel. Mit dem Nationalpark Eifel beschreibe ich einen Sonderfall, bei dem die Jagd nicht wirtschaftliche, sondern ideelle Ziele unterstützen soll. Die menschliche Einflussnahme auf diesem Gebiet soll auf ein Minimum reduziert werden, damit »Wildnis« entstehen kann. Da im Nationalpark aber aufgrund fehlender Prädatoren eine hohe Wilddichte das Entstehen dieser geplanten Wildnis verhindert, wird die Jagd als »Wildtiermanagement« notwendig, obwohl sie zunächst unvereinbar mit der Maxime des Nationalparks erscheint. Wie das Jagdrevier als jagdliche Landschaft genutzt werden kann, ist also nie nur Aushandlung zwischen Jagenden und Gejagten, sondern alle, die Ansprüche an sie stellen, konstituieren auch die jagdliche Landschaft mit. Mehr als die Landschaft, prägen aber die gejagten Tiere die Jagd mit. Im Kapitel 3 – Tiere beschreibe ich, auf welche unterschiedliche Art und Weise die Gejagten Einfluss auf die Jagd nehmen und sie so zur humanimalischen Praxis machen. Zunächst war es jedoch notwendig, die Kategorie der jagdbaren Tiere näher zu charakterisieren. Dabei fällt auf, dass die Kategorie Wild einigermaßen willkürlich zu sein scheint. Es ist nicht nur eine flexible Kategorie, in die Tierarten hineinkommen und auch wieder herausfallen können, sie ist außerdem in sich äußerst divers. So sind die einzigen gemeinsamen Merkmale dieser Tiere ihre ›Wildheit‹ und ihre ›Herrenlosigkeit‹. Es handelt sich beim Wild also um Tiere, »die den Menschen scheuen oder angreifen« (Cartmill 1993: 47) und formal in Niemandes Besitz sind. Hinzu kommt, dass sie keiner besonderen Naturschutzrichtlinie unterliegen. Nicht jedes wilde Tier ist also Wild. Dabei faszinierten und faszinieren einige Arten die Jagenden mehr als andere, was sich nicht nur an der Unterscheidung zwischen Hoch- und Niederwild zeigt. Besonders der Trophäen-Kult, der vielerorts um das Geweih des Rothirschs betrieben wurde und betrieben wird, lässt erkennen, dass einige Tiere in der Wertschätzung der Jagenden deutlich höher angesiedelt sind, als andere. Und doch sind es nicht die jagenden Menschen alleine, die darüber entscheiden, welche Tierarten stark oder weniger stark bejagt werden. Auch wenn die Klassifizierung in Hoch- und Niederwild trotz der Versuche, sie durch die neutraleren Bezeichnungen Schalen-, Haar- und Federwild zu ersetzen, nicht gänzlich an Bedeutung verloren hat, so ist es phänomenal eine andere Klassifizierung, welche die Jagd gegenwärtig stark prägt. Wie stark bestimmte Arten bejagt werden, hängt auch davon ab, ob sie zu den sogenannten ›Kulturfolgern‹ oder ›Kulturflüchtern‹ zählen. Obwohl alle frei lebenden Tiere in diese Kategorien eingeteilt werden können, ergibt sich aus ihr im Bezug auf die jagdbaren Arten eine besondere Relevanz für die Jagd als humanimalische Praxis. Ob eine Tierart die Nähe zu Menschen und

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menschlichen Siedlungen eher als störend empfindet, oder ob sie für die Tiere sogar einladend ist, prägt die Aktivitäten der Jagenden deutlich mit. Phänomenologisch ist diese Kategorisierung also äußerst aussagekräftig, weil sie sich auf die Möglichkeitsbedingungen humanimalischer Begegnungen in einer gemeinsam konstituierten und geteilten Umwelt bezieht. Wie ich im Bezug auf die contested landscape schon erläutert habe, bilden Wildschäden durch Wildschweine und Rotwild großes Konfliktpotential zwischen der Jagd und der Landwirtschaft, beziehungsweise der Forstwirtschaft. Am Beispiel der Schwarzwildjagd möchte ich dies kurz nochmals verdeutlichen. In der Nordeifel sind es insbesondere die agrarisch genutzten Flächen zum Anbau von Maispflanzen, die geradezu einen Aufforderungscharakter für Schwarzwild haben, welches die Nähe zu Menschen durchaus nicht scheut. Hier finden die Tiere Deckung und Nahrung und sind in den Feldern für Jägerinnen und Jäger fast unsichtbar. Auf diese entgegenkommenden Lebensbedingungen antworten die Tiere mit einer hohen Reproduktionsrate, was wiederum den Druck auf die Jägerinnen und Jäger erhöht, die finanziell für den Schaden haften. Gerade ihre Nachtaktivität, ihre Flexibilität und ihre Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche Habitate, macht es für Jägerinnen und Jäger schwierig, den Tieren zu begegnen. Da aber die hohe Population auch anfällig für Seuchen, wie die Afrikanische Schweinepest (ASP) ist, ist die Aufforderung an die Jägerinnen und Jäger, Schwarzwild zu jagen, umso dringender. Eine Ausbreitung der Seuche zu verhindern ist – ebenso wie die Vermeidung von Wildschäden – die Pflicht der Jagenden (vgl. Müller-Schallenberg/Hugenroth 2015: 138-139). Indem also das Schwarzwild auf seine lebendige Umwelt geantwortet hat, fordert es wiederum die Jagenden zu einer Antwort auf diese humanimalisch konstituierte Umwelt auf. Dieses Beispiel verweist also auf jene grundsätzliche Feststellung: Die Gejagten haben Handlungsmacht darüber, wie die Jagd im gegenwärtigen Deutschland stattfindet. Dabei, so meine These, ist die Handlungsmacht nicht nur eine strukturelle, denn die Jagd ist die existenzielle Begegnung zwischen jagendem und gejagtem Individuum. Beide sind Teil einer geteilten und gemeinsam konstituierten Umwelt, an der sie aufgrund ihrer leiblichen Verfasstheit teilhaben und in der sie füreinander bedeutsam werden. Für eine phänomenologische Herangehensweise bedeutet das, Tiere als »unified psycho-physical beings« (Painter 2007: 108) zu erfahren, »with whom we enjoy intersubjective relations.« (Ebd.) Diese Form der Beziehungsstruktur bezeichne ich in Anlehnung an die phänomenologische Theorie als humanimalische Intersubjektivität. Kriterium der humanimalischen Intersubjektivität ist, dass menschliche und nicht-menschliche Tiere intentional Bezug aufeinander nehmen. Die jeweils andere Spezies ist nicht nur einfach da, sondern sie konstituiert Wahrnehmung und Deutung der Umwelt mit und sie erlaubt einen gewissen Grad der Einfühlung. Klar ist, dass es hierbei »artspezifische[] Grenzen der Empathie« (Breyer 2015: 193) gibt. Und dennoch zeigen die Ergebnisse meiner Feldforschung, dass diese Form der Intersubjektivität phänomenal erfahrbar

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ist. Zahlreiche selbst erlebte oder aus Erzählungen anderer Jägerinnen und Jäger stammende Beispiele, gestatten die Annahme, dass die Gejagten sich nicht nur intentional auf ihre lebendige Umwelt beziehen, sondern dass diese Bezugnahme ihnen bspw. auch erlaubt, das Verhalten der Menschen bis zu einem gewissen Grad zu antizipieren. Je nach Situation können die Gejagten zwischen gefährlichen und ungefährlichen Menschen unterscheiden. Insofern ermöglicht die humanimalische Intersubjektivität sogar einen gewissen Grad an Empathie. Dabei bestätigt diese Ethnografie über die Jagd auch die phänomenologische These, dass Empathie keineswegs »coincidence, identification, or (even) fellow-feeling« (vgl. Painter 2007: 109) erfordert, damit intuitives Verstehen – auch über artspezifische Grenzen hinweg – möglich ist. Ich schlage daher vor, die gegenseitige Bezugnahme von Jagenden und Gejagten aufeinander im Sinne Waldenfels‹ als eine »Antwortlogik« (2006: 62) zu verstehen. Solches Antworten »beschränkt sich nicht auf sprachliche Äußerungen« (ebd.: 61) und »bedeutet den Verzicht auf ein erstes – und somit auch auf ein letztes Wort« (ebd.: 65). In ihrer Möglichkeit des Antwort-Gebens auf die spezifische Situation in ihrem Habitat, welches zugleich auch das Jagdrevier ist, prägen die gejagten Individuen die Jagd als humanimalische Praxis mit. Sie verfügen über ein Wissen, nicht nur im Bezug auf die Landschaft, sondern können durch die humanimalische Intersubjektivität bis zu einem gewissen Grad auch das Verhalten der Menschen antizipieren. Daraus entsteht die ihnen eigene Handlungsmacht, ihre Landnutzung im Jagdrevier so anzupassen, dass sie den Jägerinnen und Jägern wahrscheinlich entgehen werden. Jagdhunde nehmen dabei in der Beziehung von Gejagten und Jagenden eine besondere Stellung ein. Sie sind weder ganz und gar gezähmtes Haustier, welches seinen Menschen gefügig ist (vgl. Cartmill 1993: 46), noch sind sie wild in der Weise, wie es die Gejagten des Jagdreviers sind. Anhand der Beschreibung einiger Situationen, in denen Hunde an der Jagd beteiligt waren, erläutere ich den ambivalenten Status des Jagdhundes zwischen zahmem Haustier und wildem Jäger. Ihre physiologischen, physischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten machen Hunde seit langer Zeit zu nützlichen Jagdgehilfen für Menschen. Daraus haben sich regelrechte Arbeitsgebiete für Jagdhunde entwickelt, die, durch züchterische Selektion unterstützt, jeweils darauf ausgelegte Hunderassen hervorbrachten. In der Nordeifel beschränkt sich die Einsatzmöglichkeit von Jagdhunden gemäß der Landschaft und den dort lebenden Tieren. Während meiner Feldforschung habe ich daher vor allem Jagdhunde kennengelernt, die auf die Jagd in waldigen Landschaften spezialisiert waren, wo sie Wild in für Menschen unpassierbaren Dickungen aufstöberten. Ein anderes Arbeitsfeld stellte die Nachsuche dar, bei der speziell ausgebildete Hunde verletzte Tiere suchen. Obwohl ich auch Beispiele dafür gefunden habe, dass der Einsatz von Jagdhunden zu Konflikten auf der Jagd führen kann, ist das Hundewesen anerkannter Teil der Jagdpraxis in Deutschland. Am Beispiel der Schweißhunde und des Nachsuchenwesens zeige ich, dass der Einsatz von

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Jagdhunden eng mit der Weidgerechtigkeit als Jagdethik verbunden ist. Insofern bildete meine Beschreibung des Nachsuchenwesens auch den Übergang zwischen den Gejagten und den Jagenden. Speziell ausgebildete Schweißhunde haben die Fähigkeit, verletzte Tiere über lange Strecken zu verfolgen. Sie führen ihre Menschen zu dem verletzten Tier, welches diese töten, um es nach der Logik der Weidgerechtigkeit von weiteren Schmerzen zu befreien. Weil das Tier und so auch das gejagte Tier als leidensfähig angesehen wird, stellt es moralische Ansprüche an seine Jägerinnen und Jäger. So ist die Jagd in Deutschland nur gemäß strenger Vorschriften erlaubt, welche dem Individuum einen möglichst schmerzfreien Tod und dem Bestand das Fortbestehen ermöglichen. Schweißhunde kommen immer dann zum Einsatz, wenn Wild verletzt, aber nicht getötet wurde – bspw. durch Autounfälle oder aber durch Fehlschüsse auf der Jagd. Schweißhunde riechen zwar nicht besser als andere Hunde, aber eine Kombination aus Genen und einer besonderen Ausbildung macht aus ihnen ausdauernde, selbstständig arbeitende Suchhunde. Die Analyse des Nachsuchenwesens diente mir insofern auch dazu, zu zeigen, dass Tiere sich ebenso wie ihre Menschen bestimmte leibliche Fähigkeiten aneignen können. Konkret beziehen sich die skills der Hunde und ihrer menschlichen Partnerinnen und Partner darauf, das vergangene Geschehen zum Beispiel am Ort des Fehlschusses zu verstehen und nachzuvollziehen, wohin das verletzte Tier geflohen ist. In besonderer Weise zeigt sich hier das humanimalische Wesen der Jagd, denn es ist die Interaktion mit ihren Hunden, welche dazu beiträgt, das Wissen der Menschen über die Nachsuche zu erweitern (vgl. Savalois et al. 2013: 79). Dabei wird die Kommunikation zwischen Hunden und Menschen auf der Nachsuche hauptsächlich von der Leiblichkeit der Hunde, ihren Bewegungen und deren Qualität angeleitet. Die Zusammenarbeit von Menschen und Hunden auf der Jagd verweist auf ein humanimalisches Verstehen, welches die bisher charakterisierte humanimalische Intersubjektivität zwar voraussetzt, sie aber sogar noch überschreitet. Es setzt eine enge individuelle Beziehung zwischen Hunden und Menschen voraus, welche sich auch in einer von Sinn getragenen Mensch-Hund-Kommunikation widerspiegelt. Auch wenn die Beziehung zwischen Jagdhunden und ihren Menschen keine gleichberechtigte ist, da schon die Ausbildung und Erziehung der Hunde durch die Menschen eine Form von Kontrolle ist (vgl. Ingold 2000: 72), so erschöpft sich diese Kommunikation nicht durch das Erteilen und Ausführen von Kommandos. Es setzt eine gemeinsame Sprache voraus, die mehr als menschlich ist. Eine solche Sprache können Menschen und Hunde nur miteinander aushandeln, weil sie durch ihre leibliche Verfasstheit über die Kapazitäten verfügen, die andere Spezies zu verstehen. Eine phänomenologisch inspirierte Ethnografie der Jagd beleuchtet das humanimalische Wesen der Jagd auf vielfältige Weise. Sie zeigt, dass auch die Gejagten über eine Handlungsmacht verfügen, welche die Jagd sehr deutlich prägt. Auch der Anteil der Jagdhunde an der Jagd ist eine Facette dieser humanimalischen Konsti-

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tution. Nichtsdestotrotz beschreibe ich in dieser Arbeit aber eine Praxis, die vor allem menschlichen Interessen, Normen und Werten folgt. Teil dieses menschlichen Aspekts der Jagd ist sicherlich auch, dass das Töten von Lebewesen zunächst moralisch fragwürdig ist. Daher gilt für die Jagenden, dass sie sich an bestimmte Vorschriften und Regeln halten, wenn sie Tiere töten. In Deutschland bestimmt die Weidgerechtigkeit, was den Unterschied zwischen Jagen und ›bloßem Töten‹ ausmacht und was ›gute‹ Jagdpraxis von ›schlechter‹ Jagdpraxis unterscheidet. Ich habe gezeigt, dass die Weidgerechtigkeit zwar teilweise gesetzlich verankert ist und regelt, unter welchen Umständen und auf welche Art und Weise gejagt werden darf. Andererseits entspricht sie mehr einem »Ehrenkodex« (Schriewer 2015: 139) als einem juristischen Kanon. Dieser hat weitreichende soziale Implikationen, indem er nicht nur das Verhalten der Jagenden gegenüber den Gejagten regelt, sondern auch das Verhalten der Jagenden untereinander. Das Kernelement der Weidgerechtigkeit, wie sie gegenwärtig von den Jägerinnen und Jägern konzeptualisiert wird, ist der Respekt vor dem gejagten Tier. Um diesen Respekt auch über dessen Tod hinaus noch aufrecht erhalten zu können, bedienen sich Jägerinnen und Jäger bestimmter Rituale und traditionellen Handlungen. Mit dem Ritual des Strecke Legens und Verblasens beschreibe ich, wie die Jagenden eine bestimmte, als feierlich gewertete Atmosphäre kreieren. Diese Atmosphäre ist weit mehr als ein bloßes »›Drum und Dran‹ der Jagd […] und der ritualisierten Waidgerechtigkeit« (Maylein 2010: 762). Mit Hilfe von Gernot Böhmes (2013) phänomenologischer Analyse des Atmosphären-Begriffs zeige ich, dass solche Rituale auch Träger des Konzepts Weidgerechtigkeit sind, indem sie dieses ansonsten eher abstrakte ethische Konzept intersubjektiv wahrnehmbar werden zu lassen. Eng mit der noch relativ jungen Geschichte der Weidgerechtigkeit als »Ehrenkodex« der Jäger_innenschaft verbunden, ist die historische Entwicklung der Jagd in Deutschland. Während die Jagd gegenwärtig von den Jägerinnen und Jägern vor allem als Freizeitgestaltung betrieben wird, war sie über viele Jahrhunderte auch Mittel zur Herrschaftsdemonstration der adeligen Klasse und des Klerus. Erst nach Abschaffung des Jagdregals in den Revolutionsjahren 1848/1849 demokratisierte sich der Zugang zur Jagd auch für Personen aus anderen sozialen Gruppen. Diese historischen Entwicklungen trugen dazu bei, dass das Konzept der Weidgerechtigkeit auch Aushandlungsgegenstand einer neu zu ordnenden Jagd mit einer sozial durchmischten Jäger_innenschaft war. Als Mittel der Distinktion ist die Weidgerechtigkeit auch heute noch wirksam. Wie meine Analyse zeigt, spricht die Weidgerechtigkeit zwar die Mehrheit der Jägerinnen und Jäger als ethisches Konzept an – was zu diesem »Ehrenkodex« jedoch neben den rechtlichen Verpflichtungen gehört, ist weiterhin das Feld von Distinktionsbestrebungen innerhalb der Jäger_innenschaft. Das Ergebnis dieser eher soziologisch motivierten Fragestellung ist insofern interessant, als es zeigt, dass die Weidgerechtigkeit zum Einen eine interne Differenzierung erlaubt, zum Anderen aber nach außen einheitsstiftend wirkt. Sie ermöglicht

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den Jägerinnen und Jägern zwar durchaus Spielräume bezüglich ihres jagdlichen Selbstverständnisses, andererseits erlaubt sie einer Mehrheit, sich als ›gute‹ Jägerinnen und Jäger zu verstehen und sich so gegen die »schwarzen Schafe« abzugrenzen. In Zeiten, in denen insbesondere die private Jagd durchaus auch Kritik erfährt, hat die Weidgerechtigkeit also auch eine beschützende Funktion, indem sich die Jägerinnen und Jäger durch sie ihrer moralischen Integrität versichern können. Dass Jägerinnen und Jäger um ihre moralische Integrität bangen, ist verständlich, schließlich »bringt [der Jäger] den Tod« (Ortega y Gasset 1985: 59). Dabei ist das Töten von Tieren nur ein Teil der Jagd – wenngleich derjenige, der wohl am emotionalsten aufgeladen ist. Die zahllosen Kommentare zur Jagd in den Medien während der Zeit meiner Feldforschung haben das bewiesen. Dabei gilt auch für die von mir untersuchte Jagdpraxis, »that the death of the animal need not to be the key-element« (Widlok 2015: 210). Im von mir untersuchten Feld der Jagd wird diese mehrheitlich als Freizeitgestaltung betrieben wurde und die Jägerinnen und Jäger in keiner Weise wirtschaftlich von der erfolgreichen Jagd abhängig waren. Wenngleich das Wildfleisch zwar einen hohen Stellenwert für sie hat, so ist es dennoch verzeihlich, wenn die Kühltruhe auch mal einige Zeit leer bleibt. Stattdessen wird das Motiv des Naturgenusses überproportional häufig aufgeführt, um zu begründen, warum sich jemand entschieden hat, Jägerin oder Jäger zu werden. Es erschien mir daher für diese Arbeit wichtig, dem »Rausgehen« auf die Jagd und dem damit verbundenen Draußen-Sein phänomenologisch nachzugehen. Dabei zeigte sich, dass die Jagd die Leiblichkeit der Jagenden auf eine bestimmte Art und Weise affiziert. So eröffnet das Draußen-Sein bestimmte, von der häuslichen Sphäre verschiedene Erfahrungsqualitäten, die als reizvoll bewertet werden. Das Draußen-Sein gestaltet sich dabei auch als ein Erfahren von Wind und Wetter, wie es in der häuslichen Sphäre meist vermieden wird. Letztendlich geht es bei der Jagd aber eben doch nicht nur um ein mehr oder weniger kontemplatives Erleben. Vielmehr gehen Jägerinnen und Jäger auf die Jagd um »Beute zu machen«. Dazu gehört, dass sie sich ein bestimmtes Können aneignen müssen. Ich diskutiere, daher, inwiefern die sensorische Wahrnehmung der Jagenden nicht durch eine apriorische »cultural dimension of perception« (Howes 2009: 14) gelenkt wird, sondern vielmehr das Resultat einer Sensibilisierung oder eines »›fine-tuning‹ of the perceptual system« (Ingold 2000: 166) ist, welches Jagende sich aneignen müssen, um erfolgreich zu sein. Dabei nimmt auch die Ausrüstung einen Platz in dieser Analyse ein, denn sie unterstützt die Leiblichkeit der Jägerinnen und Jäger, indem sie die Reichweite des Leibes erhöht (vgl. Michael 2000: 112). Ich greife daher auch die Debatte innerhalb der Jäger_innenschaft auf, wie viel Technik die Jagd braucht (vgl. Nußmen 2016: 10) und beleuchte den Einfluss der Ausrüstung auf den jagenden Leib phänomenologisch. Das Ergebnis dieser Betrachtung ist, dass die Jagd trotz der zunehmenden technologischen Möglichkeiten, noch immer die Wünsche der Jagenden nach dem Draußen-Sein zu erfüllen

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im Stande ist. Auch gegenwärtig erfahren Jägerinnen und Jäger auf der Jagd eine vom Alltag differenzierte sinnlich-leibliche Qualität des Erlebens. Die Frage, warum die Jagd in Deutschland weiterhin mehrheitlich von Männern ausgeübt wird, stand bis dahin noch im Raum. Daher ergänze ich meine Betrachtung der Jagd als humanimalische Praxis auch um gendertheoretische Überlegungen. Sie schließen sich meines Erachtens auch an die Frage nach der Jagd als leiblicher Praxis an, da es sich bei diesem »Ich kann« (Merleau-Ponty 1966: 166) Jagen, vorrangig um ein männliches »Ich kann« zu handeln scheint. Zwar erhöht sich der Anteil der jagenden Frauen seit einigen Jahren kontinuierlich, aber dennoch scheint die Jagd beispielhaft für ein spezifisch weibliches »self imposed I cannot« (Young 1980: 146) zu sein. Mit Hilfe von Sherry B. Ortners (2000) Analyse zur universalen Inferiorität des Weiblichen gegenüber dem Männlichen suche ich nach Gründen, warum die Jagd in Deutschland von diesem selbst auferlegten »I cannot« betroffen ist. Insofern der Leib aus feministisch-phänomenologischer Perspektive als »both individually and socially sketched out« (Fielding 2014: 521) zu verstehen ist, lässt sich zeigen, dass dieses selbst auferlegte Nichtkönnen die leibphänomenologische Erscheinung dessen ist, was Ortner als »the woman problem« (2000: 15) bezeichnet: Jene nahezu fraglose Akzeptanz der Frau gegenüber ihrer eigenen Herabwürdigung (vgl. ebd.). Die industrielle Revolution scheint in Europa für dieses ›Problem der Frau‹ einen historischen Wendepunkt dargestellt zu haben. Im Zuge der erstarkenden Frauenbewegungen wird diese Entwertung zunehmend in Frage gestellt. Dass die Jagd davon nicht in gleichem Maße betroffen ist, wie andere gesellschaftliche Bereiche, sehe ich auch im gesellschaftlichen Kontext begründet. Als Praxis der Machtdemonstration ist diese selbst einer zunehmenden gesellschaftlichen Entwertung preisgegeben. Es ist daher nachvollziehbar, dass sich die weiblichen Gleichberechtigungsbestrebungen vor allem auf jene Bereiche gerichtet haben, die mehr gesellschaftlichen Einfluss versprachen. Dafür, dass die Jagd aus leibphänomenologischer Perspektive einem weiblichen Welterleben prinzipiell entgegensteht oder sich strukturell in der weiblichen Erfahrung anders konstituiert als in der männlichen, habe ich nicht gefunden. Ich stelle daher die These auf, dass eine Affinität zur Jagd viel mehr Ausdruck von persönlichen Vorlieben ist, wobei die Person ein zu komplexes Gefüge ist, als das sie sich alleine auf ihr biologisches Geschlecht reduzieren ließe. Von diesen strukturellen Überlegungen wechsele ich zurück in die Mikroebene des leiblichen Erlebens der Jagd. Aller Technik zum Trotz erfordert die Jagd von den Jägerinnen und Jägern weiterhin bestimmte Fähigkeiten, die sie sich antrainieren müssen. Dazu gehört auch der Umgang mit der Schusswaffe. Hier zeigt sich auch, dass Weidgerechtigkeit nicht nur eine moralische Haltung ist, sondern sie auch ein leibliches Können von den Jägerinnen und Jägern fordert, damit sie dieser Haltung tatsächlich entsprechen zu können. Dabei hat gerade die Verbesserung der Feuerwaffentechnik dazu geführt, dass der tödliche Schuss – obwohl

V Konklusion und Ausblick

moralisch das schwerwiegendste der ganzen Jagd – zu den physisch am leichtesten zu bewältigenden Aufgaben der Jägerinnen und Jäger gehört. Ist der Jäger oder die Jägerin erfolgreich gewesen, folgt, sofern es sich um ein als essbar eingestuftes Individuum handelt, die Rote Arbeit, das Aufschneiden und Ausnehmen der Tiere. Die Bewältigung dieser Arbeit ist allen technischen Möglichkeiten zum Trotz eine relativ harte körperliche Arbeit. Insofern stimmen sicherlich die meisten Jägerinnen und Jäger Sharps und Sharps Feststellung über die Jagd der Dénesuliné im Norden Kanadas zu: »Finding and killing the prey are the easy part« (2015: 26) gegenüber dem, was danach folgen kann. In meiner Analyse der Weidgerechtigkeit als Mittel der Distinktion zeige ich, dass der Konsum des Wildfleischs für die sich als weidgerecht verstehenden Jägerinnen und Jäger einen Zugewinn an sozialem Prestige darstellt. Aus leibphänomenologischer Perspektive ist jedoch auch die Arbeit, die nach dem Erlegen des Wildes folgt und dem Lebensmittel Wild vorhergeht, eine Betrachtung wert. Es zeigt sich, dass der Tod des gejagten Individuums den Jagenden einen ›Blick in den Spiegel ihrer eigenen Leiblichkeit‹ ermöglicht, was zu den existenziellen Gegebenheiten der Jagd gehört. Zudem eröffnet sich der Tod während der Roten Arbeit als ein prozesshaftes Vergehen der Leiblichkeit in den Zustand einer unbelebten Gegenständlichkeit. Mit ihren Händen in der Bauchhöhle der erlegten Tiere hantierend, berühren die Jägerinnen und Jäger dieses sonst eher abstrakt bleibende Vergehen der Leiblichkeit. Schließlich liegt auch darin, dass mit dem Tod des gejagten Tieres etwas über die eigene Leiblichkeit ans Licht kommt, das Humanimalische der Jagd begründet.

5.2

Vom Individuum zum Bestand? Die Effizienz der Jagd

Nach diesen zusammenfassenden Betrachtungen wende ich mich nun einer aktuellen Entwicklung der Jagdpraxis zu. Schon in einigen der beschriebenen Situationen wird deutlich, dass die Jagd in Deutschland tendenziell immer mehr nach Effizienz ausgerichtet wird. Diese Tendenz hat Auswirkungen auf die Organisation und die Durchführung der Jagd, wie sich auch gegenwärtig schon an den großen Drückjagden des Forstamts Hürtgenwald und des Nationalparks Eifel zeigt. Ich möchte diese Tendenz mit Blick auf das Verhältnis zwischen Jagenden und Gejagten genauer in den Blick nehmen und stelle abschließend zur Diskussion, wie sich diese Entwicklung auf die Konzeption der gejagten Tiere auswirkt. Während die ideologische und ethische Konzeption der Weidgerechtigkeit das gejagte Tier als Individuum konzipiert, scheint die humanimalische Logik der Jagd nun dafür zu sorgen, dass die Jagenden sich zunehmend auf den Bestand einer zu bejagenden Tierart beziehen. Wie ich gezeigt habe, wird die Jagd von einer Mehrheit der Jägerinnen und Jäger als Hobby ausgeübt. Diese Ethnografie hat einen Einblick in das Selbstver-

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ständnis dieser Jägerinnen und Jäger geben können und es wurde deutlich, dass gemäß ihrem Selbstverständnis nicht unbedingt diejenigen als die ›guten‹ Jägerinnen und Jäger gelten, welche die meisten Tiere erlegt haben. Vielmehr werden all jene als ›gute‹ Jägerinnen und Jäger angesehen, die sich dem »waidgerechten und damit affektgebändigte[n] Jagen« (Maylein 2010: 866) verpflichtet fühlen. Die Weidgerechtigkeit zeigt sich also als eine, dem gejagten Individuum und nicht der Effizienz verpflichtete Jagdmentalität, was auch dem moralischen Empfinden einer Mehrheit der Jägerinnen und Jäger entgegenkommt. Auch wenn sie alle auf die Jagd gehen, um ›Beute zu machen‹, so steht für sie das Töten nicht im Fokus der Jagd als einer leiblichen Praxis. Wenngleich das ›Beute machen‹ das Ziel der Jagd ist, empfinden Jägerinnen und Jäger auch erfolglose Ansitze oder Jagdtage in der Regel nicht als vergeblich. So lernte ich von einer Jägerin den Spruch kennen: »Und hat der Jäger auch nichts geschossen, so hat er doch die frische Luft genossen.« Kurz und knapp beschreibt er die hohe Frustrationstoleranz, welche in der Ideologie der Weidgerechtigkeit begründet ist. Fast alle Jägerinnen und Jäger versicherten mir, dass auch der Anblick eines Tieres für sie einen erfolgreichen Jagdtag ausmachen kann. Tatsächlich entsprach das auch dem, was ich mit ihnen erlebt habe. Ein erfolgloser Ansitz endete meist mit jenen Worten, die Jägerinnen und Jägern wohlbekannten sind: »Das ist eben Jagd.« Hatten wir dagegen Anblick, ohne dass ein Schuss gefallen wäre, so wurde dies durchaus als positiv bewertet. Der Jagdtag, der dagegen mit einem erfolgreichen Schuss beendet wurde, blieb – wie in dieser Ethnografie sicherlich deutlich wurde – die Ausnahme. Die individuelle Begegnung mit den Tieren und das Draußen-Sein erfährt durch diese Jägerinnen und Jäger eine hohe Wertschätzung. Mit der Weidgerechtigkeit richtet sich die Jagdausübung nach einer Jagdethik, die solch einen eher zurückhaltenden und selbstgenügsamen Jagdethos nicht nur unterstützt, sondern ihm auch zugrunde liegt, wie Maylein (2010) elaboriert darlegt. Indem sich die Weidgerechtigkeit auf das gejagte Tier als ein schmerz- und leidensfähiges Individuum bezieht, stellt sie dementsprechend restriktive Vorschriften für die Umstände des Tötens auf. Ich habe weiterhin gezeigt, wie wichtig es für Jägerinnen und Jäger ist, zur Gruppe der weidgerecht Jagenden zu gehören. Durch unvorsichtiges und leichtsinniges Verhalten riskieren sie diese Zugehörigkeit und laufen Gefahr, als eines jener »schwarzen Schafe« zu gelten. Aber nicht nur Leichtsinnigkeit und mangelnde Vorsicht, sondern auch ein als übermäßig empfundener Drang ›Beute zu machen‹, kann eine Jägerin oder einen Jäger als »Schießerin« oder »Schießer« diskreditieren. Insofern ist die Affinität zur Ansitzjagd, die in der Regel gestattet nur ein einziges Tier pro Ansitz zu erlegen, auch praktischer Ausdruck des weidgerechten Habitus vieler Jägerinnen und Jäger. Dagegen scheinen die großen Drückjagden dieser affektgebändigten Jagd geradezu diametral entgegenzustehen. Damit möchte ich nicht sagen, dass die weidgerechte Jagd nicht die Intention der Veranstalterinnen und Veranstalter ist, im Ge-

V Konklusion und Ausblick

genteil. Diese identifizieren sich in der Regel ebenfalls im weitesten Sinne mit der Weidgerechtigkeit und sind auch dem gesetzlich verbürgten Tierschutz verpflichtet, weshalb auf den Drückjagden der Institutionen Forstamt und Nationalpark die Schützinnen und Schützen nicht nur dezidiert dazu aufgefordert wurden, bedacht abzudrücken, sondern insbesondere auch die Organisation des Nachsuchenwesens einem bestimmten, formal überprüfbaren, hohen Standard zu entsprechen hatte. Und dennoch offenbart die Drückjagd eine gänzlich anders geprägte Jagdlogik, als die Ansitzjagd. Hier steht nicht die Begegnung der Jagenden mit dem gejagten Individuum im Vordergrund, sondern diese Veranstaltungen sind in Organisation und Durchführung darauf ausgelegt, dass möglichst viel Wild zur Strecke kommt. An einem Tag möglichst viel ›Beute zu machen‹, ist der Grund für diese relativ aufwändig zu organisierenden Gesellschaftsjagden. Auch wenn die Schützinnen und Schützen stets zur Vorsicht aufgefordert werden, passieren auf Drückjagden aber auch eher Krank- und Fehlschüsse als auf der Ansitzjagd. Wie ich in Kapitel 3.3 dargestellt habe, liegt das in der Situationalität der Drückjagd begründet. Schnelle, saubere Schüsse auf sich bewegende Tiere sind auch für geübte Schützinnen und Schützen schwierig. Gemäß einer eng ausgelegten Weidgerechtigkeit scheint die Drückjagd also eine fragwürdige Jagdmethode zu sein. Und doch ist sie gegenwärtig durchaus populär, insbesondere dort, wo die Jagd strukturell weniger Freizeitgestaltung ist, denn als Mittel zum Zweck dazu dient, ein übergeordnetes Ziel zu erreichen. Diese Situation findet man auf der strukturellen Ebene vor allem in der institutionalisierten Jagd, wo die Jagdveranstaltungen zum Beispiel dazu beitragen, ein wirtschaftliches Ziel zu erreichen. Die private Jagd im eigenen oder im gepachteten Jagdrevier generiert dagegen in der Regel keinen finanziellen Gewinn für die Jagenden. Insofern sie hier zunächst und vor allem dazu dient, die Wünsche der Jägerinnen und Jäger auf der Mikroebene – der Erfahrungsebene – bspw. nach Naturgenuss, dem ›Beute machen‹ und dem Draußen-Sein zu befriedigen, habe ich die private Jagd als Selbstzweck bezeichnet. Das heißt nicht, dass sie nicht nachrangig auch dazu dient, ein übergeordnetes Ziel zu erreichen, wie zum Beispiel einen Beitrag zum Naturschutz zu leisten. Auch das Eindämmen von Wildschäden wird zunehmend zur Notwendigkeit, auch wenn mit Cartmill nochmals darauf hingewiesen sei, »daß die Kontrolle des Wildtierbestands noch nie ein Motiv für die Jagd war« (1993: 281). Insofern stoßen wir strukturell bei der institutionalisierten und der privaten Jagd auf relativ verschiedene Ausgangssituationen, die ich im Folgenden mit ethnografischem Material unterlegen möchte, bevor ich mich einigen abschließenden Gedanken widmen werde. In meinem Gespräch mit Elke darüber, was ›gute‹ Jägerinnen und Jäger ausmacht, erzählt sie mir von einem Bekannten, der für sie einen solchen personifiziert. Gleichzeitig kann dieser Mann auch exemplarisch für viele andere solcher ›guten‹ Jägerinnen und Jäger stehen, von denen mir immer wieder erzählt wurde.

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Elke: »Der ist ein guter Jäger, ja. In meinen Augen, ja. Der Mensch ist 75 Jahre alt und wenn man den anruft, sitzt er meistens auf dem Traktor, weil er irgendwas in seinem Revier macht. Sei es, einen Acker anlegen oder irgendwelche Bäume wegmachen, oder irgendwas. Das ist ein Mensch, der eine unheimliche Erfahrung hat, was die Jagd angeht und auch was damit zusammenhängt. Und der sich auch von einem Förster nicht unbedingt was sagen lässt. […] Ich glaube, das A und O für ihn ist mehr die Hege. Der Abschuss muss auch sein, damit es nicht Überhand nimmt. Aber wenn der Förster sagt: ›Sie müssen zehn Stück Kahlwild schießen!‹, dann schießt er vielleicht acht – und sagt: ›Die zwei? Da zahle ich dann lieber für. Das ist mir egal.‹ Der hat ja auch Dachs, Fuchs, Marder, Rotwild, Rehwild in seinem Revier, Schwarzwild sowieso… Der hat auch Muffelwild. Da ist einfach alles! Offenbar fühlen die Tiere sich ja auch wohl, also kann er ja nicht alles falsch machen. Das ist für mich ein guter Jäger. Ein guter Jäger ist für mich nicht jemand, der alles abballert, was ihm vor die Schnütz kommt! Das, denke ich, hat mit Jagd auch nichts zu tun.« Dieser Jäger kann es sich offenbar nicht nur moralisch leisten, seine persönliche Auslegung von weidgerechter Jagd auszuüben, sondern auch finanziell. Den Ansprüchen einer nach Effizienz ausgerichteten Jagd kann er sein finanzielles Kapital entgegenstellen. Er gewinnt damit nicht nur Boden in der contested landscape seines Jagdreviers, sondern auch soziales Prestige innerhalb der Gemeinschaft der weidgerechten Jägerinnen und Jäger. Der nicht nach Effizienz strebende, sondern am »Naturgenuss« ausgerichtet handelnde Jäger ist hier das Vorbild. Als Förster hat Dietmar eine andere Perspektive auf die contested landscape des Waldes. Einerseits kann er die Freude vieler Jägerinnen und Jäger darüber nachvollziehen, Rotwild in ihren Jagdrevieren zu haben und sagt über sich, dass auch er – wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen – die Tiere ebenfalls gerne hat: »Wir sind auch froh, wenn wir Rotwild sehen, dass wir Rotwild hier haben, dass wir hier gesunde Bestände haben.« Andererseits ist die Landschaft für ihn nicht nur Jagdrevier, sondern er arbeitet in ihr unter spezifisch forstwirtschaftlichen Prämissen, die diese Wahrnehmung lenken: »Wir hier als Förster, [gucken] ja schon auch, dass der Wald wächst und gedeiht. Und wir auch irgendwo in einer Form profitieren. Dass aber auch die Natur zu ihrem Recht kommt.« Dietmar hat Teile des von ihm bewirtschafteten Waldes an Jägerinnen und Jäger verpachtet, deren Affinität zur Ansitzjagd ihm, selbst Jäger, bekannt ist. Dennoch sieht er die Ansitzjagd durchaus auch kritisch. In dem von ihm verpachteten Revier gibt es relativ hohe Wildschäden und die Abschüsse von Rotwild sind seit einiger Zeit deutlich hinter den geplanten Abschusszahlen geblieben. Dietmar weiß daher auch die Vorteile der an Effizienz ausgerichteten Drückjagd zu schätzen, wie er mit dem Verweis auf den Nationalpark ausführt.

V Konklusion und Ausblick

Dietmar: »Und ich finde das auch vollkommen in Ordnung, dass, wenn man eine hohe Pacht bezahlt, dass man dann das über die Einzeljagd probiert hat zu realisieren. Das kann man probieren. Das kann man auch schaffen. […] Der Nationalpark macht das einfacher… anders. Die machen viele Bewegungsjagden. Ansitzdrückjagden aber eher. Also sprich keine, wie das früher war, so laut… Was auch eher Treibjagd ist. Was auch für die Tiere totaler Schwachsinn ist, was auch mit totalem Stress verbunden ist. Sondern wirklich eine leichte Beunruhigung – oft auch ohne Hunde. Was ich meine, was auch besser ist. Beim Schwarzwild vielleicht nicht, aber zumindest beim Rehwild und beim Rotwild. Da haben die natürlich oft in kurzer Zeit eine relativ hohe Strecke. Und dann haben die Tiere anschließend Ruhe. Und das halte ich für keine schlechte Jagdstrategie – aber akzeptiere natürlich voll und ganz das, was meine Jagdpächter hier machen, die eine Menge Geld bezahlen für die Jagd und probieren, das hier so zu realisieren. Aber, was wichtig ist, sie müssen Jagen. Und sie müssen natürlich auch vernünftig Jagen.«

Ich habe diese Passagen ausgewählt, weil sie darauf verweisen, wie unterschiedlich »vernünftige« Jagd ausgelegt werden kann. Effizienz kann Teil einer Definition von vernünftiger Jagd sein, oder dieser Definition entgegenstehen. Am Beispiel des Rotwildes steht hier die Effizienz der Jagd genauso zur Debatte, wie die Frage, was ein landschaftlich angepasster Wildbestand sein soll. Diese Diskurse sind nicht nur nicht neu. Sie sind genau genommen einige Jahrhunderte alt, wenn man bedenkt, dass ein auf ein wirtschaftlich verträgliches Maß reduzierter Wildbestand auch schon eine der Hauptforderungen aus der Zeit der Bauernkriege im 16. Jahrhundert war (vgl. Eckhardt 1976: 14). Dementsprechend ist die Frage des Jagdhistorikers Kurt Lindner aufzugreifen, ob hier wirklich »nur ein Schalenwildproblem« (1977: 443) verhandelt wird. Wenngleich Lindner durchaus Recht hat mit seiner Feststellung, dass es bei dem sogenannten »Schalenwildproblem« vor allem um das »Selbstverständnis der Jäger« (ebd.) und ganz allgemein um die »kosmische Stellung des Menschen« (ebd.) geht, so lag er jedoch in einer Sache falsch. Er vermutete, dass das »Schalenwildproblem« »mit all seinen Merkmalen zu jenen Tagesproblemen gehört, die gelöst werden müssen und auch gelöst werden und über die in zwei oder drei Jahrzehnten – wahrscheinlich schon viel früher – niemand mehr spricht, eben weil sie mit Sachverstand und in Abwägung unterschiedlicher Wünsche und Interessen zur allgemeinen Zufriedenheit geordnet werden.« (Lindner 1977: 443) Auch fast ein halbes Jahrhundert nachdem Lindner diese Vermutung gegenüber den Sachverständigen des Deutschen Rats für Landschaftspflege äußerte, hat sich das Problem nicht aufgelöst, im Gegenteil. In den Jagdmedien sind weiterhin jene Stimmen laut, die in Försterinnen und Förstern jene »›Holzzucht‹ treibende[n],

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vornehmlich forstwirtschaftlich ausgebildete[n] ›Waldbauern in Uniform’« (Hiller 2002: 83) erkennen, denen Wald grundsätzlich vor Wild geht. Von einer »allgemeinen Zufriedenheit« kann also nicht gesprochen werden. Die Vehemenz, mit der Jägerinnen und Jäger sich gegen eine rein nach Effizienz ausgerichteten Jagd wenden, ist tatsächlich nur mit einem Blick auf ihr jagdliches Selbstverständnis und die humanimalische Situation der Jagd in Deutschland zu verstehen. Die gejagten Tiere beziehen sich als ›Kulturflüchter‹ oder ›Kulturfolger‹ immer schon auf diese Situation. Durch Veränderung ihrer Lebensweise, sowie Zunahme oder Rückgang ihrer Population, antworten sie darauf und konstituieren die Bedingungen und die Logik der Jagd mit. Sie stellen einen Anspruch an die Jagenden. Aber nicht nur die gejagten Tiere stellen Ansprüche an die Jagenden, sondern auch all jene, welche die Landschaft des Jagdreviers ebenfalls für ihre Zwecke nutzen und so ebenfalls Einfluss auf die Lebensweise der Wildtiere nehmen. Bei Problemen, wie gegenwärtig durch die stellenweise als zu hoch empfundenen Schwarz- und Rotwildpopulationen, erwarten sie Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Interessen, oftmals durch eine effizientere Jagdausübung. Die Jagenden sind formal zu dieser Unterstützung verpflichtet, indem sie nach dem ersten Paragrafen des Bundesjagdgesetzes für einen »den landschaftlichen und landeskulturellen Verhältnissen angepassten artenreichen und gesunden Wildbestand« (zitiert nach Müller-Schallenberg/Hugenroth 2015: 17) zu sorgen haben. So kommt es zu einer weitreichenden Fremdbestimmung der jagdlichen Zwecke und Ziele durch andere gesellschaftliche Bereiche, die sich auf die gejagten Tiere als Bestand beziehen. Die Beziehung, in der die Jagenden in diesem Diskurs zu diesen Tieren stehen, ist die der Bestandsregulation. Das gejagte Individuum verliert sich dabei diskursiv in diesem Bestand. Nun ist es aber gerade die Begegnung der Jägerinnen und Jäger mit dem individuellen, gejagten Tier, welche im Vordergrund der privaten Jagdausübung steht und die den Reiz der Jagd für die meisten HobbyJägerinnen und Hobby-Jäger ausmacht – nicht eine effiziente Bestandsregulation. Auch die Weidgerechtigkeit als Handlungsmaxime, der sich eine Mehrheit der Jagenden verpflichtet fühlt, stellt eher das gejagte Tier und nicht den Bestand einer Tierart in das Zentrum ihrer Ethik. Es wird verständlich, dass die zunehmende Forderung nach mehr Effizienz in der privaten Jagd Unbehagen und Ohnmachtsgefühle auslösen kann. Jägerinnen und Jäger fühlen sich durch diese Forderung zunehmend in die Rolle von ›Schädlingsbekämpferinnen‹ und ›Schädlingsbekämpfern‹ versetzt, was ihrem Selbstverständnis als weidgerechte Jägerinnen und Jäger zuwiderläuft. Die großen Drückjagden der Institutionen Forstamt und Nationalpark stellen ein Paradebeispiel für eine effiziente Jagdart dar: In Durchführung und Organisation sind sie arbeitsteilig gestaltet und auf Effizienz ausgelegt. Aus diesem Grund wird sich sprachlich auf die daran teilnehmenden Jägerinnen und Jäger als Schützinnen und Schützen bezogen, da alleine dies ihre Aufgabe ist. Während die weidgerechten Jägerinnen und

V Konklusion und Ausblick

Jäger sich gerade dadurch als weidgerecht definieren, dass die Jagd für sie mehr ist und mehr von ihnen fordert als nur das Töten von Wild, definiert der erfolgreiche Schuss auf diesen Jagden Grund und Ziel der Anwesenheit der Schützinnen und Schützen. Revierkenntnis, eine Vertrautheit mit der lebendigen Umwelt und langfristige Hegemaßnahmen werden für die Teilnahme an der Jagd dagegen nicht vorausgesetzt. Die Ansteller sorgen dafür, dass die Schützinnen und Schützen im Revier an ihren Stand gebracht werden und erklären ihnen die Eigenheiten ihres Schützenstandes [der Ort, wo die Jagenden während der Jagd positioniert sind]. Das Aufbrechen wird, wie das Bergen der toten Tiere von eigens dafür anwesenden Helferinnen und Helfern übernommen, die sich wiederum durch Ortskenntnis und Können dafür qualifizieren. Auch die Nachsuche wird an Spezialistinnen und Spezialisten übergeben, wobei Effizienz hier vor allem der Weidgerechtigkeit und dem Tierschutz dient, die verlangen, ein verletztes Tier schnellstmöglich zu töten. Allen Vorbehalten ihrer Kritikerinnen und Kritiker zum Trotz erfreuen sich solche Drückjagden inzwischen nicht nur bei Försterinnen und Förstern großer Beliebtheit. Viele Jägerinnen und Jäger aus der näheren und weiteren Umgebung haben an solchen Jagden teilgenommen. Diese bieten ihnen – vor allem, wenn sie keine reguläre Jagdmöglichkeit haben – eine gut organisierte Jagdgelegenheit, die zwar mit einer finanziellen Aufwendung verbunden ist, ansonsten aber wenig Mühe macht. Gerade für Menschen, die zwar gerne jagen, sich aber nicht langfristig an ein Jagdrevier binden wollen, stellen solche Jagdveranstaltungen eine relativ unverbindliche Möglichkeit dar, der Jagd nachgehen zu können. Aber auch für private Jagdreviere stellen Drückjagden angesichts der humanimalischen Herausforderungen inzwischen oftmals das einzig adäquate Mittel der Wahl dar, damit die Jägerinnen und Jäger ihren Pflichten in dieser humanimalisch konstituierten und umkämpften Landschaft nachkommen können. So wurden während meiner Zeit im Feld auch in vielen privaten Jagdrevieren Drückjagden durchgeführt, um Konflikte bspw. mit der Forst- und der Landwirtschaft zu vermeiden, bei denen es immer auch um die gesellschaftliche Daseinsberechtigung der Jagd geht. Letztendlich unterliegt die Jagd als humanimalische Praxis auch solchen Veränderungen, die sich aus ihrer Situierung in der mehr-als-menschlichen Lebenswelt ergeben. Wenngleich sich Jagende phänomenologisch auf der Jagd nie auf ›den Bestand‹ einer Tierart beziehen, sondern als leibliche Wesen immer schon andere leibliche Individuen jagen, so ist die phänomenale Handlungsmacht dieser Tiere als Bestand nicht zu leugnen. Der Bestand der Tiere verlangt von den Jagenden, Antworten auf die gemeinsame humanimalische Situation zu finden. Eine mehr auf Effizienz ausgelegte Jagd, wie sie zunehmend geschieht, ist daher nicht als eine unabhängige Entscheidung der jagenden Menschen zu verstehen. Sie ist vielmehr die Antwort der Jagenden auf einen »situativ verkörperte[n] Anspruch« (Waldenfels 2006: 59) der Gejagten an sie in einer humanimalisch konstituierten Landschaft.

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Glossar: Jagdsprachliche Ausdrücke

Übersicht über einige, in dieser Ethnografie häufig genutzte jagdsprachliche Ausdrücke abbaumen vom Hochsitz herunterkommen, die Jagd beenden Ansitz Zeitraum, den Jagende wartend auf dem Hochsitz verbringen ansitzen auf der → Ansitzjagd sein Ansitzjagd Jagdart, bei der die Jagenden auf Hochsitzen das Erscheinen von Wild abwarten Anblick haben Wild während der Jagd sehen ansprechen ein Tier der Kategorie → Wild beobachten und beurteilen Alttier erwachsenes, weibliches Tier der Spezies Rotwild (auch Rottier) anschlagen die Waffe an die Schulter führen Äser Maul äse fressen aufbrechen Öffnen der Bauchhöhle und Entnahme der Organe Aufbruch unverwertbarer Rest, der vom Aufbrechen übrig bleibt Bruch, Brüche Zweige, die Jagenden zur (symbolischen) Kommunikation dienen Büchse Langwaffe aus der Art der Feuerwaffen für den Kugelschuss Dickung dicht gewachsener Wald oder Buschwerk Drückjagd Bewegungsjagd, Jagdart, bei der Wild von Treiberinnen und Treibern großflächig im Revier beunruhigt wird drücken Aktivität der Treiberinnen und Treiber während der → Drückjagd

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Von Jagenden und Gejagten

Einstand Rückzugsorte der gejagten Tiere Erlegerbruch → Bruch, der erfolgreichen Jagenden als Zeichen der Anerkennung überreicht wird Fährte Spur von → Schalenwild Flinte Langwaffe aus der Art der Feuerwaffen für den Schrotschuss Kanzel Hochsitz mit Dach, Wänden, Tür und Fenstern Kirrung Lockfütterung für Wildschweine kirren → Kirrung bestücken, auffüllen Kontrollsuche Form der → Nachsuche, bei der die (tödliche) Verletzung nach einem Fehlschuss ausgeschlossen werden soll Lauf, Läufe Bein, Beine von Wild Letzter Bissen → Bruch, der erlegtem Wild zur symbolischen Ehrerbietung durch die Jagenden in den Äser gelegt Losung Kot Pirschwege Pfade, von Jagenden angelegt, führen i.d.R. zu Hochsitzen Nachsuche Suche nach verletztem oder verendetem → Wild durch Jägerinnen und Jäger Nachsuchenfüher, Nachsuchenführerin Jäger oder Jägerin, die mit speziell ausgebildeten Jagdhunden die → Nachsuche verantwortet Nachsuchengespann Bezeichnung für die Gemeinschaft aus → Nachsuchenführerin oder → Nachsuchenführer mit ihrem oder seinem → Schweißhund Schalen Hufe bei Rot-, Schwarz-, Reh-, Muffel-, Elch-, Gams- und Steinwild Schalenwild Sammelbegriff für Rot-, Schwarz-, Reh-, Muffel-, Elch-, Gams- und Steinwild Schmaltier etwa einjährige, weibliche Rotwild- oder Rehwild-Individuen vor ihrem ersten Kalb oder Kitz Schwarzwild Wildschweine Schweiß Blut, das nach Verletzung aus dem eines Individuums der Kategorie → Wild ausgetreten ist

Glossar: Jagdsprachliche Ausdrücke

Schweißhunde Kategorie für Hunderassen, die speziell →Nachsuche gezüchtet und ausgebildet werden Schweißhundegespanne auf die → Nachsuche spezialisierte Jägerinnen (Nachsuchengespanne) Jäger mit ihren Jagdhunden (Schmal-)Spießer etwa einjährige, männliche Rehwild- oder -Individuen Strecke Anordnung der erlegten Tiere, kann sich auch nur auf die Anzahl, der an einem Jagdtag erlegten Tiere beziehen Strecke legen das erlegte Wild auf der → Strecke anordnen Stück, Stücke einzelnes Tier, bzw. mehrere Tiere der Kategorie → Wild Treiben Zeitraum während einer → Drück- oder → Treibjagd, in dem Treiberinnen und Treiber im bejagten Revier unterwegs sind, hat meist eine Dauer von zwei bis drei Stunden Überläufer etwa einjährige Schwarzwild-Individuen beiderlei Geschlechts Verleitfährte Fährte, die nicht der Fährte entspricht, welcher ein → Schweißhund folgen soll Wechsel häufig genutzte Pfade von → Wild Wild alle jagdbaren Tiere

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Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Foto, Tanja Theißen. Abb. 2: Foto, Tanja Theißen. Abb. 3: Foto, Tanja Theißen. Abb. 4: Foto, Tanja Theißen. Abb. 5: Foto, Tanja Theißen. Abb. 6: Foto, Tanja Theißen. Abb. 7: Foto, Tanja Theißen. Abb. 8: Foto, Tanja Theißen. Abb. 9: Foto, Tanja Theißen. Abb. 10: Foto, Tanja Theißen. Abb. 11: Foto, Tanja Theißen. Abb. 12: Foto, Tanja Theißen. Abb. 13: Foto, Tanja Theißen. Abb. 14: Foto, mit freundlicher Überlassung durch Georg Braun. Abb. 15: Foto, mit freundlicher Überlassung durch Georg Braun. Abb. 16: Foto, Tanja Theißen. Abb. 17: Foto, Tanja Theißen. Abb. 18: Foto, Tanja Theißen.

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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., Dispersionsbindung, 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Gabriele Dietze, Julia Roth (eds.)

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