Von deutscher Tonkunst: Eine Auslese aus dem musikalischen Schrifttum [Reprint 2019 ed.] 9783486751246, 9783486751239


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German Pages 88 Year 1925

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Table of contents :
Zum Geleit
Inhalt
Von der Macht der Musik. Ein Brief Martin Luthers an den Hofmusikus Ludwig Senfl
Die Wunder der Tonkunst.
Bach und Händel. Ein Vergleich
Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809
Mozart als Künstler und Mensch. Schilderung eines Zeitgenossen
Ludwig van Beethovens „Heiligenstädter Testament"
Die C dur Sinfonie von Franz Schubert
Carl Maria von Weber
Autobiographische Skizze
Anmerkungen
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Von deutscher Tonkunst: Eine Auslese aus dem musikalischen Schrifttum [Reprint 2019 ed.]
 9783486751246, 9783486751239

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Der

Dreiturmbücherei

Herausgeber! Jakob Brummer, München und Ludwig Hasenelcver, Würzburg

N r.

2

Albrecht Dürer: Laute »schlagender Engel Silberstiftzeichnung aus deni Kupferstichknbinett zu Berlin

Von deutscher Tonkunst Eine Auslese aus dem musikalischen Schrifttum Herausgegeben von

Dr.

Oskar Kaul

München und Berlin 1925 Druck und Verlag von R. Oldenbourg

Zum Geleit Musik gibt in doppeltem Sinne inneren Reichtum. Mit tausend Zungen die Herrlichkeit tönender Gewalten zu verkünden, eine Welt jv erschließen, die, von aller Erdenschwere erlöst, dem Menschen eins unerschöpfliche Quelle des Glücks bedeutet, darin beruht ihres Daseins höchster Zweck und tiefster Sinn. Ihn können Worte nicht umschreiben noch geistige Kräfte ergründen, denn nur im Klangerlebnis selbstdas in den Tiefen des Gefühls wurzelt und von Herzblut durch­ strömt ist, klärt sich der Sinn des Beethovenschen Gedankens: „Musik ist eine höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie." Und doch kann sich die geistige Macht des Wortes in dem vom Gefühl beherrschten Bereich der Tonkunst nicht verleugnen. Wenn es ihr hier auch versagt bleibt, den Schleier vom Allerheiligsten zu heben, so verbreitet sie -och Acht im Dorhof des Tempels und spendet ihren reichen Segen dem, der in jener Quelle des Glücks auch eine Quelle des Wissens ahnt und sucht. Sie schafft ihm ei» in großen Umrissen wie in den feinsten Einzelheiten tief erschautes Bild von der Ent­ wicklung der Musik, gibt Zeugnis vom Werden und Vergehen ihrer Erscheinungsformen im Wandel der Zeiten, läßt Gestalten und Schicksale der Tonkünstler in lebensvoller Wahrheit erstehen und leuchtet hinein in die Welt und in die Werkstatt des Schaffenden, um das Wesen seines Schöpfertums -em Verständnis nahe zu bringen. Auch aus dessen eigenem Munde läßt sie sich vernehmen, hat doch von je neben dem Denker, Forscher und Dichter der Musiker selbst über seine Kunst sich ausgesprochen und die Macht des Wortes an dem, was seine tönende Welt erfüllt, erprobt. Welch eine Summe von Geisteswerten liegt so zugleich mit den seelischen in dem Begriff Musik beschlossen und welche Fülle von Anregung, Belehrung und Genuß vermögen sie zu bieten! Auch um ihretwillen ist die Ton­ kunst für den Menschen höherer Bildung ein kostbarer Besitz, und mit ihnen beglückt sie nicht nur diejenigen, denen ein gütiges Geschick musikalisches Empfinden und Verständnis mit ins Leben gab, sondern jedermann, der für die Segnungen geistigen Wirkens empfänglich ist. s

Mit diesem Empfehlungsbrief möchte die vorliegende Auslese aus dem musikalischen Schrifttum in die Welt hinausgehen, um ihr Scherflein zur Pflege deutscher Geisteskultur beizutragen. Die er­ drückende Fülle des Stoffs schuf bei der Wahl auch die Qual, und manchem gerade ju dieser Sammlung berufenen Zeugnis des musik­ literarischen Schaffens mußte, so nachdrücklich es auch um Einlaß bat, mit Rücksicht auf den gebotenen Raum die Aufnahme un­ barmherzig verweigert werden. Was bei der Sichtung der zur engeren Wahl gestellten Masse schließlich übrig blieb, will vor allem dem Anspruch auf allgemeine Verständlichkeit genügen und nicht bloß dem Interesse eines spezifisch musikalischen Leserkreises dienen. So ergab sich die Auswahl aus dem Leitgedanken, von Schriften über das Wesen der Musik nur das jedermann Eingängliche in Betracht zu ziehen, sowie Künstler und Kunstwerke von Weltgeltung in der geistigen Perspektive großer Meister des Worts erscheinen zu lassen. Die Größten unter ihnen — ein Bach, Beethoven, Wagner — leben ja nicht nur als Musiker in der Nachwelt fort, sie sind Kultur­ träger geworden wie Dürer, Kant und Goethe und haben gleich ihnen teil an der Entwicklung des Geisteslebens. Daß die Sammlung hinsichtlich des Stoffes wie der Darstellung auf deutsches Gebiet sich beschränkt, bedarf keiner besonderen Rechtfertigung, bleibt doch ihr bester Zweck die Aufgabe, von deutscher Art zu zeugen. Innerhalb dieses Bereichs aber soll sie sachlich ein möglichst vielseitiges Bild bieten und selbst in dem bescheidenen Rahmen dieses Bändchens zeigen, in welch mannigfaltiger Weise die Tonkunst menschliches Denken und Dichten angeregt hat. Deshalb erschien es bei der Aus­ wahl angebracht, auch der literarischen Form der Aussprache weiten Spielraum zu gewähren, ganz abgesehen von dem erhöhten Reiz der Lektüre, der in dem Wechsel des äußeren Sprachgewandes beruht. So fanden neben Aufsätzen sachlich belehrender Art auch Bekenntnisse in Brief- und anderer Form Aufnahme, leuchten sie doch besonders tief in die Seele des Künstlers hinein. Und wenn überdies der Lese­ stoff auf die musikalische Novelle sich ausdehnt, so möchte auch da­ mit das Büchlein seinen Zweck nicht verfehlen. Wahrheit und Dichtung haben zum Preise der Tonkunst enge Gemeinschaft geschlossen, die deutsche Erzählerkunst liefert eine Fülle schönster Belege. Warum sollte nicht auch der Dichter hier zu Wort kommen, der das musikalische Erlebnis durch die Sprache wiederum zum Kunstwerk gestaltet? Bezüglich der Wahl der Autoren erübrigt sich eine nähere Begründung. Nicht weniger als der Stoff an sich gibt der Wert seiner literarischen Er-

fassung sowie die Persönlichkeit des Urhebers den Ausschlag. Auch den Musiker selbst über sich und seine Kunst sprechen zu lassen, hat nicht nur den Reit, daß wir den Meister der Töne zugleich in seinen Gedanken belauschen, von seiner Wortsprache geht vielmehr eine geheimnisvolle Macht aus, die uns auf goldener Brücke in das Wunderland seiner klingenden Träume entführt. Möchte das Büchlein Freunde finden und Nutzen stiften, indem es das Interesse an dem im musikalischen Schrifttum beschlossenen Geistesschatz weckt und fördert. Würzburg, im Oktober 1924.

Dr. Oskar Kaul.

Inhalt Zum Geleit.........................................................................................

Sette 5

Don der Macht der Musik.

Ein Brief M. Luthers an L. Senfl

9

Die Wunder der Tonkunst.

Von W. H. Wackenroder ....

11

Bach und Händel.

Em Vergleich...............................................

16

...................................

20

Mozart als Künstler und Mensch. Schilderung eines Zeit, genossen..................................................................................

31

L. v. Beethovens „Heiligenstädter Testament"...................

45

Die C-dur Sinfonie von Frz. Schubert. Von Rod. Schu, mann.....................................................................................

48

C. M. v. Weber.

Von Ph. Spitta..............................................

53

Von R. Wagner...........................

69

.

83

Ritter Gluck.

Von E. Th. A. Hoffmann

Autobiographische Skizze.

Anmerkungen................................................................................

Von der Macht der Musik. Ein Brief Martin Luthers an den Hofmusikus

Ludwig Senfl. (A«r dem Lateinischen.)

Gnade und Friede in Christo. Obwohl mein Name so verhaßt rst, daß ich befürchten muß, Ihr werdet meinen Brief kaum in Sicher­ heit empfangen und lesen, dennoch, mein bester Ludwig, wird diese meine Furcht von der Liebe zur Muflk besiegt, mit der ich Euch von meinem Gott wohl ausgerüstet und begnadet sehe. Solche Liebe weckt auch die Hoffnung in mir, mein Brief werde Euch keinerlei Fährlichkeit zuziehen; denn wer möchte selbst in Türkenland den tadeln, der die Künste liebt und den Künstler lobt? Ich wenigstens gebe selbst euren Herzögen in Bayern, ob sie mir gleich wenig geneigt sind, vor an­ dern von Herzen Lob und Ehre, weil sie die Musik so schätzen und werthalten. Und ist auch kein Zweifel, daß viele Samenkörner edler Tugenden in den Herzen anzutreffen, die von der Musik bewegt werden; welche aber nicht von ihr ergriffen sind, die dünken mich wie Klötze und Stein. Wir wissen ja, daß die Musik auch den Teufeln verhaßt und unerträglich ist. Und ich bin der Meinung und schäme mich nicht, es frei herauszusagen, daß nach der Theologie keine Kunst sei, so der Muflk könne gleichkommen, weil sie allein nächst der Theologie das gewährt, was sonst die Theologie allein vermag, nämlich Ruhe und ein fröhlich Gemüt, zum offenbaren Zeugnis, daß der Teufel, der Urheber der traurigen Sorgen und unruhigen Gedanken, die Stimme der Musik fast ebenso flieht wie Gottes Wort. So kommt es denn, daß die Propheten keiner Kunst so gern sich bedienten wie der Musik, und ihre Gottesweisheit haben sie weder der Geometrie noch Arith­ metik oder Astronomie zugeordnet, vielmehr der Musik beigesellt, denn Theologie und Musik dünkte sie eng verbunden, wenn es galt, in Psalmen und Gesängen die Wahrheit zu verkünden. Aber was preise ich jetzt die Musik und unterfange mich, auf einem so kleinen Blatt eine so große Sache abzumalen oder vielmehr zu verunstalten? Doch es fließt mir das Herz über vor Dankbarkeit gegen sie, die mich so oft erquickt und aus großen Nöten errettet hat.

Ich kehre zu Euch zurück mit der Bitte: wenn Ihr etwa ein Exemplar des Gesanges „In pace in id ipsum“ besitzet, wollet Ihr mir's lassen abschreiben und zusenden. Denn diese Melodie hat mich von Jugend auf ergötzt, und jetzt noch viel mehr, da ich auch die Worte verstehe. Es ist mir nämlich von dieser Antiphon »och kein mehrstimmiger Satz vorgekommen. Ich will nicht etwa mit der Mühe des Komponierens Euch beschwerlich fallen, sondern ich nehme an, daß Ihr eine solche Komposition schon besitzet. Ich hoffe, daß meines Lebens Ende nahe sei. Die Welt haßt mich und kann mich nicht leiden; ich wiederum bin der Welt überdrüssig und ver­ achte sie. Drum wolle der gute und treue Hirte meine Seele hinweg­ nehmen. Aus diesem Grunde hebe ich schon an, diesen Gesang zu singen und möchte ihn gern mehrstimmig hören. Wenn Ihr ihn nicht besitzet noch kennet, so sende ich Euch die Noten dazu, und Ihr könnet ihn nach meinem Tode, so es Euch gefällt, komponieren. Der Herr sei mit Euch in Ewigkeit, Amen. Verzeihet meine Kühnheit und die vielen Worte. Grüßet mir Euren ganzen Musik­ chor ehrerbietigst

Coburg, 4. Octobris 1530.

Martmus Luther.

Die Wunder der Tonkunst. Von Wilh. Heinr. Wackenroder.

Wenn ich es so recht innig genieße, wie der leeren Stille sich auf einmal, aus steier Willkür, ein schöner Zug von Tönen entwindet, und als ein Opferrauch emporsteigt, sich in Lüften wiegt, und wieder still jur Erde herabsinkt; — da entsprießen und drängen sich so viele neue schöne Bilder in meinem Herjen, daß ich vor Wonne mich nicht ju lassen weiß. — Bald kommt Musik mir vor, wie ein Vogel Phönix der sich leicht und kühn zu eigner Freude erhebt, zu eignem Behagen stolzierend hinaufschwebt, und Götter und Menschen durch seinen Flügelschwung erfteut. — Bald dünkt es mich, Musik sei wie ein Kind, das tot im Grabe lag — ein rötlicher Sonnenstrahl vom Himmel entnimmt ihm die Seele sanft, und es genießt, in himmlischen Äther versetzt, goldne Tropfen der Ewigkeit, und umarmt die Urbllder der allerschönsten menschlichen Träume. — Und bald — welche herrliche Fülle der Bilder! — bald ist die Tonkunst mir ganj ein Bild unsers Lebens: — eine rührend kurze Freude, die aus dem Nichts entsteht und ins Nichts vergeht — die anhebt und versinkt, man weiß nicht warum: — eine kleine fröhliche grüne Insel, mit Sonnenschein, mit Sang und Klang — die auf dem dunkeln, un­ ergründlichen Ojean schwimmt. Fragt den Tonmeister, warum er so herjlich fröhlich sei auf seinem Saitenspiel. „Ist nicht," wird er antworten, „das ganje Leben ein schöner Traum? eine liebliche Seifenblase? Mein Ton­ stück desgleichen." Wahrlich, es ist ein unschuldiges, rührendes Vergnügen, an Tönen, an reinen Tönen sich zu freuen! Eine kindliche Freude! — Wenn andre sich mit unruhiger Geschäftigkeit betäuben, und von verwirrten Gedanken, wie von einem Heer ftemder Nachtvögel und böser Insekten, umschwirrt, endlich ohnmächtig zu Boden fallen; — oh, so tauch' ich mein Haupt in dem heiligen, kühlenden Quell der Töne unter und die heilende Göttin flößt mir die Unschuld der

Kindheit wieder ein, baß ich die Welt mit frischen Augen erblicke, und in allgemeine, freudige Versöhnung zerfließe. — Wenn andre über selbsterfundene Grillen zanken, oder ein verzweiflungsvolles Spiel des Witzes spielen, oder in der Einsamkeit mißgestaltete Ideen brüten, die, wie die geharnischten Männer der Fabel, verzweiflungs­ voll sich selber verzehren; — oh, so schließ' ich mein Auge zu vor all dem Kriege der Welt — und ziehe mich still in das Land der Musik, als in das Land des Glaubens, zurück, wo alle unsre Zweifel und unsre Leiden sich in ein tönendes Meer verlieren — wo wir alles Ge­ krächze der Menschen vergessen, wo kein Wort- und Sprachengeschnatter, kein Gewirr von Buchstaben und monströser Hieroglyphenschrift uns schwindlich macht, sondern alle Angst unsers Herzens durch leise Be­ rührung auf einmal geheilt wird. — „Und wie? Werden hier Fragen uns beantwortet? Werden Geheimnisse uns offenbart?" — Ach nein! aber statt aller Antwort und Offenbarung werben uns luftige, schöne Wolkengestalten gezeigt, deren Anblick uns beruhigt, wir wissen nicht wie; — mit kühner Sicherheit wandeln wir durch das unbekannte Land hindurch — wir begrüßen und umarmen fremde Geisterwesen, die wir nicht kennen, als Freunde, und alle die Un­ begreiflichkeiten, die unser Gemüt bestürmen, und die die Krankheit des Menschengeschlechts sind, verschwinden vor unsern Sinnen, und unser Geist wird gesund durch das Anschauen von Wundern, die noch weit unbegreiflicher und erhabener sind. Dann ist dem Menschen, als möcht' er sagen: „Das ist's, was ich meine! Nun hab' ich's gefunden! Nun bin ich heiter und froh!" Laßt sie spotten und höhnen, die andern, die wie auf rasselnden Wagen durch's Leben dahin fahren, und in der Seele des Mensche» das Land der heiligen Ruhe nicht kennen. Laß sie sich rühmen ihres Schwindels, und trotzen, als ob sie die Welt mit ihren Zügeln lenkten. Es kommen Zeiten, da sie darben werden. Wohl dem, der, wann der irdische Boden untreu unter seinen Füßen wankt, mit heitern Sinnen auf luftige Töne sich rette» kann, und nachgebend mit ihnen bald sanft sich wiegt, bald mutig daher­ tanzt, und mit solchem lieblichen Spiele seine Leiden vergißt! Wohl dem, der (müde des Gewerbes, Gedanken feiner und feiner zu spalten, welches die Seele verkleinert) sich den sanften und mächtigen Zügen der Sehnsucht ergibt, welche den Geist ausdehnen und zu einem schönen Glauben erheben. Nur ein solcher ist der Weg zur allgemeinen, umfassenden Liebe, und nur durch solche Liebe gelangen wir in die Nähe göttlicher Seligkeit.---------

Dies ist das herrlichste und das wunderbarste Bild, so ich mir von der Tonkunst entwerfen kann, — obwohl es die meisten für eitle Schwärmerei halten werden. Aber aus was für einem magischen Präparat steigt nun der Duft dieser glänzenden Geistererscheinung empor? — Ich sehe zu — und finde nichts als ein elendes Gewebe von Zahlenproportionen, hand­ greiflich dargestellt auf gebohrtem Holj, auf Gestellen von Darmsaiten und Mesfingdraht. — Das ist fast noch wunderbarer, und ich möchte glauben, daß die «nstchtbare Harfe Gottes zu unsern Tönen mitklingt, und dem menschlichen Zahlengewebe die himmlische Kraft verleiht. Und wie gelangte denn der Mensch zu dem wunderbaren Ge­ danken, Hol; und Erj tönen zu lassen? Wie kam er zu der köstlichen Erfindung dieser über alles seltsamen Kunst? — Das ist ebenfalls wiederum so merkwürdig und sonderlich, daß ich die Geschichte, wie ich fie mir denke, kur; hersetzen will. Der Mensch ist ursprünglich ein gar unschuldiges Wesen. Wenn wir noch in der Wiege liegen, wird unser kleines Gemüt von hundert unsichtbaren kleinen Geistern genährt und erzogen, und in allen artigen Künsten geübt. So lernen wir durchs Lächeln nach und nach ftöhlich sein, durchs Weinen lernen wir traurig sein, durchs Angaffen mit großen Augen lernen wir, was erhaben ist, anbeten. Aber so wie wir in der Kindheit mit dem Spielzeuge nicht recht umzugehen wissen, so wissen wir auch mit den Dingen des Herzens noch nicht recht zu spielen, und verwechseln und verwirren in dieser Schule der Empfindungen noch alles durcheinander. Wenn wir aber zu den Jahren gekommen sind, so verstehen wir die Empfindungen, sei es nun Fröhlichkeit oder Betrübnis, oder jede andre, gar geschickt anzubringen, wo sie hingehören; und da führen wir sie manchmal recht schön zu unsrer eigenen Beftiedigung aus. Ja, obwohl diese Dinge eigentlich nur eine gelegentliche Zutat zu den Begebenheiten unsers gewöhnlichen Lebens sind, so finden wir doch so viel Lust daran, daß wir die sogenannten Empfindungen gern von dem verwirrten Wust und Geflecht des irdischen Wesens, worin fie verwickelt sind, ablösen, und sie uns zum schönen Angedenken besonders ausführen, und auf eigene Weise aufbewahren. Es scheinen uns diese Gefühle, die in unserm Herzen aufsteigen, manchmal so herrlich und groß, daß wir sie wie Reliquien in kostbare Monstranzen einschließen, freudig davor niederknieen, und im Taumel nicht wissen, ob wir unser eignes menschliches Herz, oder ob wir den Schöpfer, von dem alles Große und Herrliche herabkommt, verehren.

Zu dieser Aufbewahrung der Gefühle sind «un verschiedene schöne Erfindungen gemacht worden, und so find alle schönen Künste entstanden. Die Musik aber halte ich für die wunderbarste dieser Erfindungen, weil sie menschliche Gefühle auf eine übermenschliche Art schildert, weil sie uns alle Bewegungen unsers Gemüts um körperlich, in goldne Wolken luftiger Harmonien eingekleidet, über unserm Haupte zeigt — weil sie eine Sprache redet, die wir im ordent­ lichen Leben nicht kennen, die wir gelernt haben, wir wissen nicht wo und wie, und die man allein für die Sprache der Engel halten möchte. Sie ist die einzige Kunst, welche die mannigfaltigsten und wider­ sprechendsten Bewegungen unsers Gemüts auf dieselben schönen Harmonien zurückführt, die mit Freud" und Leid, mit Verzweiflung und Verehrung in gleichen harmonischen Tönen spielt. Daher ist sie es auch, die uns die echte Heiterkeit der Seele einflößt, welche das schönste Kleinod ist, das der Mensch erlangen kann; — jene Heiterkeit meine ich, da alles in der Welt uns natürlich, wahr und gut erscheint, da wir im wildesten Gewühle der Menschen einen schönen Zusammenhang finden, da wir mit reinem Herzen alle Wesen uns verwandt und nahe fühlen, und gleich den Kindern die Welt wie durch die Dämmerung eines lieblichen Traumes erblicken.-------Wenn ich in meiner Einfalt unter freiem Himmel vor Gott glückselig bin, — indes die goldne» Strahlen der Sonne das hohe blaue Zelt über mir ausspannen, und die grüne Erde rings um mich lacht, — da ist"s am rechten Ort, daß ich mich auf den Boden werfe, und in vollen Freuden dem Himmel laut jauchzend für alle Herrlich­ keit danke. Was aber tut alsdann der sogenannte Künstler unter den Menschen? Er hat mir zugesehen, geht, innerlich erwärmt, still­ schweigend heim, läßt sein sympathetisches Entzücken auf leblosem Saitenspiel weit herrlicher daherrauschen, und bewahrt es auf in einer Sprache, die kein Mensch je geredet hat, deren Heimat niemand kennt, und die jeden bis in die innersten Nerven ergreift. Wenn mir ein Bruder gestorben ist, und ich bei solcher Be­ gebenheit des Lebens eine tiefe Traurigkeit gehörig anbringe, weinend im engen Winkel sitze, und alle Sterne frage, wer je betrübter ge­ wesen als ich, — dann, — indes hinter meinem Rücken schon die spottende Zukunft sieht, und über den schnell vergänglichen Schmerz des Menschen lacht, — dann steht der Tonmeister vor mir, und wird von all dem jammervollen Händeringen so bewegt, daß er den schönen Schmerz daheim auf seinen Tönen nachgebärdet, und mit Lust und Liebe die menschliche Betrübnis verschönert und ausschmückt, und

so ein Werk hervorbringt, das aller Welt zur tiefsten Rührung ge­ reicht. — Ich aber, wenn ich längst das angstvolle Händeringen um meinen toten Bruder verlernt habe, und dann einmal das Werk seiner Betrübnis höre, — dann freu' ich mich kindlich über mein eignes, so glorreich verherrlichtes Herz, und nähre und bereichere mein Gemüt an der wunderbaren Schöpfung. Wenn aber die Engel des Himmels auf dieses ganze liebliche Spielwerk herabsehen, das wir die Kunst nennen, — so müssen sie wehmütig lächeln über das Kindergeschlecht auf der Erde, und lächeln über die unschuldige Erzwungenheit in dieser Kunst der Töne, wo­ durch das sterbliche Wesen sich zu ihnen erheben will.--------

Bach und Händel. Eia Vergleich. Maa kann nicht umhin, diese beiden Meister einander gegenüber, zusiellen, nicht um sich in müßigen Versuchen zu ergehen, auf welches dieser Häupter deutscher Tonkunst es gelingen möchte, mehr Ehren zu sammeln, sondern nur um auf das wundervolle Walten des Kunstgenius hinzuweisen, das diese beiden einander ergänzenden Geister zu derselben Zeit hervorrief. Die Richtung beider ging auf Verwirklichung der höchsten Kunstideale. Aber so verschieden ihr Wesen war, so abweichend wurden ihre Bahnen — für uns ein glück, licher Umstand! Wir haben nicht zwei sich bekämpfende Neben, buhler vor uns, sondern zwei sich ergänzende Naturen, gleichsam die Einheit des Genius der Tonkunst, zu mächtig, um in einem mensch, lichen Geiste Raum zu finden, in einer Zweiheit von Gestalten, die auch da, wo sie sich in demselben Kunstfache begegnen, in ihrer Art und Erscheinung zwar getrennt, in ihren letzten, höchsten Absichten aber eng miteinander verbunden sind. Ihr Zusammentreffen zu derselben Zeit scheint ebenso natürlich wie etwa dasjenige von Schiller und Goethe. Die wesentliche Verschiedenheit ihrer Begabung tritt aus der Gesamtheit ihres Kunstschaffens deutlich hervor. Bach wurde von seinen Anlagen getrieben, sich in alle Tiefen der religiösen Empfindung zu versenken und im Anschluß an eine besondere kirch­ liche Richtung seiner Zeit in die innersten Mysterien der Religion einzudringen. Mit der Oper hat er sich niemals befaßt, den Boden der eigentlich weltlichen Kunst außerhalb der Instrumentalmusik nur ausnahmsweise betreten. Trotzdem ist er nicht nur Lyriker und groß in der musikalischen Ausdeutung feinster Stimmungen und Seelen, regungen; in vielen seiner Werke bricht die elementare Leidenschaft eines Dramatikers durch und hebt seine kirchlichen Vokalwerke in eine Sphäre, die den herkömmlichen Begriffen von gottesdienstlicher Musik nicht überall entspricht. Seiner ganzen Empfindungs, und Gestaltungsweise nach subjektiver und moderner, eine Schöpferkraft, bei der sich Polyphonie und Homophonie aufs herrlichste durch, drungen haben und sämtliche Stile der Zeit eine großartige Synthese eingegangen sind, steht Bach ebenso bedeutend da als Vokal, wie als

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Jnstrumentalkomponist. Händel beherrschte nach außen hin einen weiteren Gesichtskreis, und der Dramatiker waltet bei ihm vor; die Oper war seine hohe Schule, die Geschichte der Boden, dem seine eigentlich epochemachenden Werke entsproßten; seine religiösen Über­ jeugungen wurzelten in der heiligen Geschichte, und frei von jeder Zeitanschauung strebte er das Ewige der göttlichen Gesetze unmittel­ bar aus der Offenbarung und den überlieferten Tatsachen zu er­ kennen; rein Kirchliches hat er wenig geschaffen, wohl aber im Oratorium die Versöhnung zwischen Religiösem und Weltlichem vollzogen; seine Kunstempfindung ist allgemeiner, objektiver und antiker, und der Verwendung des Tonmaterials nach ist er in erster Reihe Vokal­ meister. Dem entsprechend gestaltete sich auch das Leben beider. Bachs ganzes Dasein war nach außen hin wenig bewegt und bei weitem zurückgezogener. In die damalige Kunsibewegung hat er persönlich kaum eingegriffen. Sein Vaterland hat er niemals und selbst Leipzig während seines 27 jährigen Aufenthalts nur selten und auch bann nur auf kurze Zeit verlassen; es waren schon Ereignisse für ihn, wenn er einmal nach Dresden ging oder in Berlin den alten Fritz besuchte. Während Händel die Einflüsse dreier Nationen auf sich wirken ließ und von der italienischen und englischen so viel in sich aufnahm als hinreichte, um sein deutsches Wesen nicht zu ver­ wischen, blieb Bach der rein deutsche Tonmeister, und es ist fraglich, ob ein Aufenthalt in anderen Ländern eine ähnliche Wirkung auf ihn geäußert hätte wie auf Händel. Daß Bach sich in der Instrumental­ musik zuweilen an französische und italienische Muster anlehnt, ändert nichts an der Nationalität seiner Kunstempfindung; auch Händel wurde nicht zum Italiener oder Franzosen, als er anfangs Scarlatti und Steffani zu Vorbildern wählte, italienische Opern und Ouvertüren in ftanzöstscher Form setzte. Aber er erweiterte die Grenzen seiner Nationalität, wie im Leben so in der Kunst, während Bach und seine Angehörigen gerade durch ihre höchstmögliche Entwicklung der spezifisch vaterländischen Kunstanlagen dem Eindringen fremder Kunstelemente entgegenarbeiteten. Indem Händel auf allen Gebieten des Lebens «nd der Kunst seine Kräfte erprobte und stählte, sich durch Kirche, Kammer und das Gewühl der Oper zum Oratorium hindurch­ kämpfte, blieb Bach vor seiner Orgel und im stillen Heiligtum der kirchlichen Tonkunst. Außer in der Instrumentalmusik offenbart sich Bachs ganze geistige Fülle in seinen kirchlichen Werken, aber hier wie dort in einer Stärke, daß seine Werke gleich denen Händels über ihre Zeit hinaus zu unvergänglicher Dauer gelangt sind. 11/2

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Und während Händel sich in Italien und im großen, gewaltig be­ wegten Treiben Londons herumtummelte, blieb Bach sein Leben lang in den immerhin kleinen Verhältnissen kirchlicher Beamtung; sein Leipziger Kantorat bot bei aller Armseligkeit der Mittel seiner Kunst­ tätigkeit doch ein weites Feld; es gab viel zu komponieren, Auf­ führungen zu leiten, die Orgel zu spielen und zu unterrichten. Dennoch wäre es verfehlt, in Bach im Gegensatz zu dem weltkundigen Händel einen stets nur devoten, sich in sein Amt genügsam schickenden, welt­ fremden Kantor zu erblicken. Daß Bach bei aller Bescheidenheit sich seines Könnens wohl bewußt war, so daß er sich nicht scheute, im Jahre 1733 den sächsischen Hof um Verleihung des Hofkapellmeistertitels anzugehen, um damit einen Druck auf den Leipziger Rat ausüben zu können, ist mannigfach belegt, und eine Reihe von Eingaben und Forderungen, mit denen er dem Rat gegenübertrat, beweist, daß er in Dingen der Kunst und ihrer Würde unerbittlich war. Wie in seinen Werken, so steht Bach — soweit wir Zeugnis haben — auch als Persönlichkeit da: ehrfurchtgebietend und edel in seiner Ge­ sinnung, dazu fromm und weitherzig in seinem Urteil über Zeit­ genossen und Kollegen. Als er starb, betrauerten zahllose Schüler einen geliebten, hochverehrten Freund und Meister. Gestaltete sich Händels Leben nach außen hin allerdings bewegter und glänzender, so eben doch nur nach außen hin; innerlich blieb auch er wie Bach die in sich und nur für die Kunst lebende Natur. Der Zwiespalt in seinen jungen Jahren zwischen dem Drang zur Musik und den entgegen­ gesetzten Wünschen der Eltern, die ihn lieber als tüchtigen Rechts­ gelehrten gesehen hätten, der Aufenthalt in Hamburg mit seinem geistig zwar regsamen, aber doch auch ausgearteten Musikantenund Literatenleben voll Haß, Neid und anstößigster Zänkerei, die Reisen nach Italien mit ihre» Reizungen und Lockungen feinerer und höherer Art — alles das konnte ihn keinen Augenblick sich selbst untre« machen, sondern war nur Mittel, ihn mehr und mehr zu befestigen. Während seine Hamburger Kollegen in Kunsttätigkeit und Lebens­ weise dem galanten Zeitgeschmack huldigten, ermöglichte ihm seine haushälterische Sparsamkeit die Reise nach Italien aus eigenen Mitteln, wie er überhaupt niemals das harte Brot durch fesselnde Protektion zugeworfener Unterstützungen genoß, frei blieb von ftühzeitig einengenben Ämtern und der knechtenden Gunst der Höfe. Als in London nach jahrelangen Kämpfen der Bankerott der Oper ihn seines wohlerworbenen Vermögens beraubte, ging er doch mit Ehren daraus hervor und blieb stets rein von Eigennutz; denn während

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er sich selbst in nichts weniger als glänzender Lage befand, gab er Konzerte zum Besten wohltätiger Institute. Ruhig lehnte er den Doktortitel ab, durch den ihn die Universität Oxford auszuzeichnen vermeinte. Wie er mit größter Seelenruhe unterlassen hatte, beim Grafen Flemming in Dresden auf devote Manier zu antichambrieren, so gab er sich auch nicht dazu her, bei Privatmusiken den gehorsamen Diener der englischen Damen zu machen; „der ihm oft vorgeworfene abweisende und hochfahrende Sinn war nichts anderes als das ganz natürliche Betragen eines Mannes, der mit seinen eigenen Ideen vollauf zu tun und keine Zeit noch Lust hat, anderen Leuten zum Zeitvertreib zu dienen" (Chrysander). Über Bachs persönliches Wirken ist verhältnismäßig wenig Ausführliches bekannt. Aber wenn auch äußerlich still und eben, so war sein Dasein doch ebenfalls innerlich reich bewegt: ein rastloses, energievolles, ruhmwürdiges Streben und Ringen nach den höchsten Zielen — in der Großartigkeit seiner Resultate um so bewunderswürdiger, als die Enge und Beschränkt­ heit der Verhältnisse, in denen Bach lebte, nichts weniger als geeignet waren, den Genius zu beflügeln. Mit Händel gemein hatte er den rastlosen Fleiß, die niemals ermattende Arbeitskraft und die un­ glaubliche Schnelligkeit und Schlagfertigkeit in der Produktion. Der zwanzigste Teil der Werke beider würde ein ganzes heutiges Künstler­ leben ausfüllen. Beide teilten ferner den hohen sittlichen Ernst und die Reinheit des Kunststrebens. Ohne Sehnsuchtsblicke auf Ruhm und Reichtum trachteten sie nur sich selbst, der Kunst und ihrer Zeit zu genügen. Schlug ein Werk — und vielleicht gerade das beste — nicht durch, so hat weder der eine noch der andere mit der Welt ge­ grollt, sondern beide haben frisch weiter gearbeitet, geräuschlos aber sicher ihr Publikum erzogen und für das Höchste empfänglich ge­ macht. Bach wurde allerdings mehr als Orgelspieler und «egen seiner gewaltige» Herrschaft über die Ausdrucksmittel und Formen gerühmt, als seinem wahren Wesen nach erkannt; Händel kämpfte sich eher zu allgemeinerer Anerkennung durch — wenigstens in Eng­ land — und genoß einen internationalen Ruf. Bachs Werke sanken «ach seinem Tode lange in Vergessenheit, Händels Werke strahlten «eiter, und erst im Laufe des 19. Jahrhunderts hat das Gemein­ bewußtsein beide Meister wieder verknüpft, so daß sie nunmehr als herrliches Dioskurenpaar überall herrschen und segnen, wo immer erhabene Musik gepflegt und verstanden wird. (Aus A. v. Dommer,Schering: Handbuch der Musikgeschichte. Verlages Bretlkopf & Härtel -u Leipzig.)

Mit Genehmigung des

Ritter Gluck. Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809.

Novelle von E. Th. A. Hoffmann. Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage. Die Sonne tritt freundlich aus dem Gewölk hervor, und schnell verdampft die Nässe in der lauen Luft, welche durch die Straßen weht. Dann sieht man eine lange Reihe, buntgemischt — Elegants, Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntags­ kleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Ladenmädchen, Pro­ fessoren, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere usw. durch die Linden, nach dem Tiergarten ziehen. Bald sind alle Plätze bei Klaus und Weber besetzt; der Mohrrübenkaffee dampft, die Elegants zünden ihre Zigaros an, man spricht, man streitet über Krieg und Frieden, über die Schuhe der Madame Bethmann, ob sie neulich grau oder grün waren, über den geschlossenen Handelsstaat und böse Groschen usw., bis alles in eine Arie aus Fanchon zerfließt, womit eine ver­ stimmte Harfe, ein paar nicht gestimmte Violinen, eine lungen­ süchtige Flöte und ein spasmatischer Fagott sich und die Zuhörer quälen. Dicht an dem Geländer, welches den Weberschen Bezirk von der Heerstraße trennt, stehen mehrere kleine runde Tische und Gartenstühle; hier atmet man freie Luft, beobachtet die Kommenden und Gehenden, ist entfernt von dem kakophonischen Getöse jenes vermaledeiten Orchesters: da setze ich mich hin, dem leichten Spiel meiner Fantasie mich überlassend, die mir befreundete Gestalten znführt, mit denen ich über Wissenschaft, über Kunst, über alles, was dem Menschen am teuersten sein soll, spreche. Immer bunter und bunter wogt die Masse der Spaziergänger bei mir vorüber, aber nichts stört mich, nichts kann meine phantastische Gesellschaft ver­ scheuchen. Nur das verwünschte Trio eines höchst niederträchtigen Walzers reißt mich aus der Traumwelt. Die kreischende Oberstimme der Violine und Flöte und des Fagotts schnarrenden Grundbaß allein höre ich; sie gehen auf und ab fest aneinander haltend in

Oktaven, die das Ohr zerschneiden, und unwillkürlich, wie jemand, den ein brennender Schmerz ergreift, ruf' ich aus: „Welche rasende Musik! die abscheulichen Oktaven!" — Neben mir murmelt es: „Verwünschtes Schicksal! schon wieder ein Oktavenjäger!" Ich sehe auf und werde nun erst gewahr, daß, von mir un­ bemerkt, an demselben Tisch ein Mann Platz genommen hat, dec seinen Blick starr auf mich richtet, und von dem nun mein Auge nicht wieder loskommen kann. Nie sah ich einen Kopf, nie eine Gestalt, die so schnell einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht hätten. Eine sanft gebogene Nase schloß sich an eine breite, offene Stirn, mit merklichen Erhöhungen über den buschigen, halbgrauen Augenbraunen, unter denen die Augen mit beinahe wildem, jugendlichem Feuer (der Mann mochte über fünfzig sein) hervorblitzten. Das weichgeformte Kinn stand in seltsamem Kontrast mit dem geschloffenen Munde, und ein skurriles Lächeln, hervorgebracht durch das sonderbare Muskelspiel in den eingefallenen Wangen, schien sich aufzulehnen gegen den tiefen, melancholischen Ernst, der auf der Stirn ruhte. Nur wenige graue Löckchen lagen hinter den großen, vom Kopfe abstehenden Ohren. Ein sehr weiter, moderner Überrock hüllte die große hagere Gestalt ein. Sowie mein Blick auf den Mann traf, schlug er die Augen nieder, und setzte das Geschäft fort, worin ihn mein Ausruf wahrscheinlich unterbrochen hatte. Er schüttete nämlich aus verschiedenen kleinen Tüten mit sichtbarem Wohlgefallen Tabak in eine vor ihm stehende große Dose und feuchtete ihn mit rotem Wein aus einer Viertelsflasche an. Die Musik hatte aufgehört; ich fühlte die Notwendigkeit ihn anzureden. „Es ist gut, daß die Musik schweigt," sagte ich; „das war ja nicht auszuhalten." Der Alte warf mir einen flüchtige» Blick zu und schüttete die letzte Tüte aus. „Es wäre besser, daß man gar nicht spielte!" nahm ich noch­ mals das Wort. „Sind Sie nicht meiner Meinung?" „Ich bin gar keiner Meinung," sagte er. „Sie sind Musiker und Kenner von Profession..." „Sie irren; beides bin ich nicht. Ich lernte ehemals Klavtcrspielen und Generalbaß, wie eine Sache, die zur guten Erziehung gehört, und da sagte man mir unter anderem, nichts mache einen widrigeren Effekt, als wenn der Baß mit der Oberstimme in Oktaven fortschreite. Ich nahm das damals auf Autorität an und habe es nachher immer bewährt gefunden."

„Wirklich?" fiel er mir ein, stand auf, und schritt langsam und bedächtig nach den Musikanten hin, indem er öfters, den Blick in die Höhe gerichtet, mit flacher Hand an die Stirn klopfte, wie jemand, der irgendeine Erinnerung wecken will. Ich sah ihn mit den Musikanten sprechen, die er mit gebietender Würde behandelte. Er kehrte zurück, und kaum hatte er sich gesetzt, als man die Ouvertüre der „Jphigenia in Aulis" zu spielen begann. Mit halbgeschloffenen Augen, die verschränkten Arme auf den Tisch gestützt, hörte er das Andante; den linken Fuß leise bewegend, bezeichnete er das Eintreten der Stimmen: jetzt erhob er den Kopf — schnell warf er den Blick umher —die linke Hand, mit auseinander­ gespreizten Fingern, ruhte auf dem Tische, als greife er einen Akkord auf dem Flügel, die rechte Hand hob er in die Höhe: es war et» Kapell­ meister, der dem Orchester daS Eintreten des anderen Tempos an­ gibt — die rechte Hand fällt und das Allegro beginnt! — Eine brennende Röte fliegt über die blaffen Wangen: die Augenbraune» fahren zusammen auf der gerunzelten Stirn, eine innere Wut ent­ flammt den wilden Blick mit einem Feuer, das mehr und mehr das Lächeln wegzehrt, das noch um den halbgeöffneten Mund schwebte. Nun lehnt er sich zurück, hinauf ziehen sich die Augenbraunen, das Muskelspiel auf den Wangen kehrt wieder, die Augen erglänzen, ein tiefer, innerer Schmerz löst sich auf in Wollust, die alle Fibern er­ greift und krampfhaft erschüttert — tief aus der Brust zieht er den Atem, Tropfen stehen auf der Stirn; er deutet bas Eintreten des Tutti und andere Hauptstellen an; seine rechte Hand verläßt den Takt nicht, mit der linken holt er sein Tuch hervor und fährt damit über das Gesicht. — So belebte er das Skelett, welches jene paar Violinen von der Ouvertüre gaben, mit Fleisch und Farben. Ich hörte die sanfte, schmelzende Klage, womit die Flöte emporsieigt, wenn der Sturm der Violinen und Bässe ausgetobt hat und der Donner der Pauken schweigt; ich hörte die leise anschlagenden Töne der Violincelle, des Fagotts, die das Herz mit unnennbarer Weh­ mut erfüllen: das Tuttt kehrt wieder, wie ein Riese hehr und groß schreitet das Unisono fort, die dumpfe Klage erstirbt unter seinen zermalmenden Tritten. — Die Ouvertüre war geendigt; der Mann ließ beide Arme herab­ sinken und saß mit geschloffenen Augen da, wie jemand, den eine übergroße Anstrengung entkräftet hat. Seine Flasche war leer: ich füllte sein Glas mit Burgunder, den ich unterdessen hatte geben lassen. Er seufzte tief auf, er schien aus einem Traume zu erwachen.

Ich nötigte ihn zum Trinken; er tat es ohne Umstände, und indem er das volle Glas mit einem Zuge hinunterstürzte, rief er aus: „Ich bin mit der Aufführung zuftieden! das Orchester hielt stch brav!" „Und doch," nahm ich das Wort — „doch wurden nur schwache Umrisse eines mit lebendigen Farben ausgeführten Meisterwerkes gegeben." „Urteile ich richtig? — Sie sind kein Berliner!" „Ganz richtig; nur abwechselnd halte ich mich hier auf." „Der Burgunder ist gut: aber es wird kalt." „So lassen Sie uns ins Zimmer gehen und dort die Flasche leeren." „Ein guter Vorschlag. — Ich kenne Sie nicht: dafür kennen Sie mich aber auch nicht. Wir wollen uns unsere Namen nicht ab­ fragen; Namen sind zuweilen lästig. Ich trinke Burgunder, er kostet mich nichts, wir befinden uns wohl beieinander, und damit gut." Er sagte dies alles mit gutmütiger Herzlichkeit.. Wir waren ms Zimmer getreten; als er sich setzte, schlug er den Überrock aus­ einander, und ich bemerkte mit Verwunderung, daß er unter dem­ selben eine gestickte Weste mit langen Schößen, schwarzsamtne Bein­ kleider und einen ganz kleinen silbernen Degen trug. Er knöpfte den Rock sorgfältig wieder zu. „Warum fragten Sie mich, ob ich ein Berliner sei?" begann ich. „Weil ich in diesem Falle genötigt gewesen wäre, Sie zu ver­ lassen." „Das klingt rätselhaft." „Nicht im mindesten, sobald ich Ihnen sage, daß ich — nun, daß ich ein Komponist bin." „Noch immer errate ich Sie nicht." „So verzeihen Sie meinen Ausruf vorhin; denn ich sehe. Sie verstehen sich ganz und gar nicht auf Berlin und auf Berliner." Er stand auf und ging einige Male heftig auf und ab; dann trat er ans Fenster und sang kaum vernehmlich den Chor der Prieste­ rinnen aus der „Jphigenia in Tauris", indem er dann und wann bei dem Eintreten der Tutti an die Fensterscheiben klopfte. Mit Ver­ wundern bemerkte ich, daß er gewisse andere Wendungen der Me­ lodien nahm, die durch Kraft und Neuheit frappierten. Ich ließ ihn gewähren. Er hatte geendigt und kehrte zurück zu seinem Sitz. Ganz ergriffen von des Mannes sonderbarem Benehmen und den phantasti­ schen Äußerungen eines seltenen musikalischen Talents, schwieg ich. Nach einer Weile fing er an: „Haben Sie nie komponiert?" 8,3

„Ja; ich habe mich in der Kunst versucht: nur fand ich alles, was ich, wie mich dünkte, in Augenblicken der Begeisterung geschrieben hatte, nachher matt und langweilig; da ließ ich's denn bleiben." „Sie haben unrecht getan; denn schon, daß Sie eigne Versuche verwarfen, ist kein übles Zeichen Ihres Talents. Man lernt Musik als Knabe, weil's Papa und Mama so haben wollen; nun wird darauf­ los geklimpert und gegeigt: aber unvermerkt wird der Sinn emp­ fänglicher für Melodie. Vielleicht war das halb vergessene Thema eines Liedchens, welches man nun anders sang, der erste eigene Gedanke, und dieser Embryo, mühsam genährt von fremden Kräften, genas zum Riesen, der alles um sich her aufzehrte und in sein Mark und Blut verwandelte! — Ha, wie ist es möglich, die tausenderlei Arten, wie man zum Komponieren kommt, auch nur anzudeuten! — Es ist eine breite Heerstraße, da tummeln sich alle herum, und jauchzen und schreien: wir sind Geweihte! wir find am Ziel! — Durchs elfenbeinerne Tor kommt man ins Reich der Träume: wenige sehen das Tor einmal, noch wenigere gehen durch! — Abenteuerlich sieht es hier aus. Tolle Gestalten schweben hin und her, aber sie haben Cha­ rakter — eine mehr wie die andere. Sie lassen sich auf der Heer­ straße nicht sehen: nur hinter dem elfenbeinernen Tor sind sie zu finden. Es ist schwer, aus diesem Reiche zu kommen, wie vor Alzinens Burg versperren die Ungeheuer den Weg — es wirbelt — es dreht sich — viele verträumen den Traum im Reiche der Träume — sie zerfließen im Traum — sie werfen keinen Schatten mehr, sonst würden sie am Schatten gewahr werden den Strahl, der durch dies Reich fährt; aber nur wenige, erweckt aus dem Traume, steigen empor und schreiten durch das Reich der Träume — sie kommen zur Wahr­ heit — der höchste Moment ist da: die Berührung mit dem Ewigen, Unaussprechlichen! — Schaut die Sonne an, sie ist der Dreiklang, aus dem die Akkorde, Sternen gleich, herabschießen und euch mit Feuerfaden umspinnen. — Verpuppt im Feuer liegt Ihr da, bis sich Psyche emporschwingt in die Sonne." Bei den letzten Worten war er aufgesprungen, warf den Blick, warf die Hand in die Höhe. Dann setzte er sich wieder und leerte schnell das ihm eingeschenkte Glas. Es entstand eine Stille, die ich nicht unterbrechen mochte, um den außerordentlichen Mann nicht aus dem Geleise zu bringen. Endlich fuhr er beruhigter fort: „Als ich im Reiche der Träume war, folterten mich tausend Schmerzen und Ängste! Nacht war's und mich schreckten die grinsenden Larven der Ungeheuer, welche auf mich einstürmten und mich bald in den

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Abgrund des Meeres versenkten, bald hoch in die Lüfte emporhoben. Da fuhren Lichtstrahlen durch die Nacht, und die Lichtstrahlen waren Töne, welche mich umfingen mit lieblicher Klarheit. — Ich erwachte von meinen Schmerzen und sah ein großes, Helles Auge, das blickte in eine Orgel, und wie es blickte, gingen Töne hervor und schimmerten und umschlangen fich in herrlichen Akkorden, wie ich fie nie gedacht hatte. Melodien strömten auf und nieder, und ich schwamm in diesem Strome und wollte untergehen; da blickte das Auge mich an und hielt mich empor über den brausenden Wellen. — Nacht wurde es wieder, da traten zwei Kolosse in glänzenden Harnischen auf mich zu: Grundton und Quinte! sie rissen mich empor, aber das Auge lächelte: ,Jch weiß, was deine Brust mit Sehnsucht erfüllt; der sanfte, weiche Jüngling, Terz, wird unter die Kolosse treten; du wirst seine süße Stimme hören, mich wieder sehen, und meine Melodien werden dein sein.'" Er hielt inne. „Und Sie sahen das Auge wieder?" „Ja, ich sah es wieder! — Jahrelang seufzt' ich im Reich der Träume — da — ja da! Ich saß in einem herrlichen Tal und hörte zu, wie die Blumen miteinander sangen. Nur eine Sonnenblume schwieg und neigte traurig den geschlossenen Kelch zur Erde. Un­ sichtbare Bande zogen mich hin zu ihr — sie hob ihr Haupt — der Kelch schloß sich auf, und aus ihm strahlte mir das Auge entgegen. Nun zogen die Töne, wie Lichtstrahlen, aus meinem Haupte zu den Blumen, die begierig sie einsogen. Größer und größer wurden der Sonnenblume Blätter — Gluten strömten aus ihnen hervor — sie umflossen mich — das Auge war verschwunden und ich im Kelche." Bei den letzten Worten' sprang er auf und eilte mit raschen, jugendlichen Schritten zum Zimmer hinaus. Vergebens wartete ich auf seine Zurückkunft: ich beschloß daher, nach der Stadt zu gehen. Schon war ich in der Nähe des Brandenburger Tores, als ich in der Dunkelheit eine lange Figur hinschreiten sah und alsbald meinen Sonderling wiedererkannte. Ich redete ihn an: „Warum haben Sie mich so schnell verlassen?" „Es wurde zu heiß, und der Euphon fing an zu klingen." „Ich verstehe Sie nicht!" „Desto besser." „Desto schlimmer, denn ich möchte Sie gern ganz verstehen." „Hören Sie denn nichts?" „Nein."

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— „Es ist vorüber! — Lassen Sie uns gehen. Ich liebe sonst nicht eben die Gesellschaft; — aber — Sie komponieren nicht — Sie sind kein Berliner." „Ich kann nicht ergründen, was Sie so gegen die Berliner einnimmt? Hier, wo die Kunst geachtet und in hohem Maße ausgeübt wird, sollt' ich meinen, müßte einem Manne von Ihrem künst­ lerischen Geiste wohl sein!" „Sie irren! — Zu meiner Qual bin ich verdammt, hier, wie ein abgeschiedener Geist, im öden Raume umherzuirren." „Im öden Raume, hier, in Berlin?" „Ja, öde ist's um mich her, denn kein verwandter Geist tritt auf mich zu. Ich stehe allein." „Aber die Künstler! die Komponisten!" „Weg damit! Sie kritteln und kritteln — verfeinern alles bis zur feinsten Meßlichkeit; wühlen alles durch, um nur einen armseligen Gedanken zu finden; über dem Schwatzen von Kunst, von Kunstsinn, und was weiß ich — können sie nicht zum Schaffen kommen, und wird ihnen einmal so zumute, als wenn sie ein paar Gedanken ans Tages­ licht befördern müßten: so zeigt die furchtbare Kälte ihre weite Ent­ fernung von der Sonne — es ist lappländische Arbeit." „Ihr Urteil scheint mir viel zu hart. Wenigstens müssen Sie die herrlichen Aufführungen im Theater befriedigen." „Ich hatte es über mich gewonnen, einmal wieder ins Theater zu gehen, um meines jungen Freundes Oper zu hören — wie heißt sie gleich? — Ha, die ganze Welt ist in dieser Oper! Durch das bunte Gewühl geputzter Menschen ziehen die Geister des Orkus — alles hat hier Stimme und allmächtigen Klang — Teufel, ich meine ja ,Don Juan'! Aber nicht die Ouvertüre, welche Prestissimo, ohne Sinn und Verstand abgesprudelt wurde, konnt' ich überstehen; und ich hatte mich bereitet dazu durch Fasten und Gebet, weil ich weiß, daß der Euphon von diesen Massen viel zu sehr bewegt wird und unrein anspricht!" „Wenn ich auch eingestehen muß, daß Mozarts Meisterwerke größtenteils auf eine kaum erklärliche Weise hier vernachlässigt wer­ den, so erfreuen sich doch Glucks Werke gewiß einer würdigen Dar­ stellung." „Meinen Sie? — Ich wollte einmal .Jphigenia in Tauris' hören. Als ich ins Theater trete, höre ich, daß man die Ouvertüre der .Jphigenia in Aulis' spielt. Hm — denke ich, ein Irrtum; man gibt diese.Jphigenia'! Ich erstaune, als nun das Andante eintritt.

womit die .Jphigenia in Tauris' anfängt, und der Sturm folgt. Zwanzig Jahre liegen dazwischen! Die ganze Wirkung, die ganze wohlberechnete Exposition des Trauerspiels geht verloren. Ein stilles Meer — ein Sturm — die Griechen werden ans Land geworfen, die Oper ist da! — Wie? hat der Komponist die Ouvertüre ins Gelag hineingeschrieben, daß man sie, wie ein Trompeterstückchen, abblasen kann wie und wo man will?" »Ich gestehe -en Mißgriff ei». Indessen, man tut doch alles, um Glucks Werke zu heben." „Ei ja!" sagte er kurz, und lächelte dann bitter und immer bitterer. Plötzlich fuhr er auf und nichts vermochte ihn aufzuhalten. Er war im Augenblicke wie verschwunden, und mehrere Tage hinter­ einander suchte ich ihn im Tiergarten vergebens.-------Einige Monate waren vergangen, als ich an einem kalten regne­ rischen Abende mich in einem entfernten Teile der Stadt verspätet hatte und nun nach meiner Wohnung in der Friedrichstraße eilte. Ich mußte bei dem Theater vorbei; die rauschende Musik, Trompeten und Pauken erinnerten mich, daß gerade Glucks „Armida" gegeben wurde, und ich war im Begriff hineinzugehen, als ein sonderbares Selbstgespräch, dicht an den Fenstern, wo man fast jeden Ton des Orchesters hört, meine Aufmerksamkeit erregte. „Jetzt kommt der König — sie spielen den Marsch — o paukt, paukt nur zu! — 's ist recht munter! ja ja, sie müssen ihn heute elfmal machen — der Zug hat sonst nicht Zeit genug. — Ha ha — maestoso — schleppt euch, Kinderchen. — Sieh, da bleibt ein Figurant mit der Schuhschleife hängen. — Richtig, zum zwölften Mal! und immer auf die Dominante hinausgeschlagen. — O ihr ewigen Mächte, das endet nimmer! Jetzt macht er sein Kompliment — Armida dankt ergebenst. — Noch einmal? — Richtig, es fehlen noch zwei Soldaten! Jetzt wird ins Rezitativ hineingepoltert. — Welcher böse Geist hat mich hier festgebannt?" „Der Bann ist gelöst," rief ich. „Kommen Sie!" Ich faßte meinen Sonderling aus dem Tiergarten — denn niemand anders war der Selbstredner — rasch beim Arm und zog ihn mit mir fort. Er schien überrascht und folgte mir schweigend. Schon waren wir in der Friedrichstraße, als er plötzlich stillstand. „Ich kenne Sie," sagte er. „Sie waren im Tiergarten — wir sprachen viel — ich habe Wein getrunken — habe mich erhitzt — nach­ her klang der Euphon zwei Tage hindurch — ich habe viel ausgestanden — es ist vorüber!"

„Ich freue mich, daß der Zufall Sie mir wieder zugeführt hat. Lassen Sie uns näher miteinander bekannt werden. Nicht weit von hier wohne ich; wie wär' es..." „Ich kann und darf zu niemand gehen." „Nein, Sie entkommen mir nicht; ich gehe mit Ihnen." „So werden Sie noch ein paar hundert Schritte mit mir laufen müssen. Aber Sie wollten ja ins Theater?" „Ich wollte.Armida' hören, aber nun —" „Sie sollen jetzt .Armida' hören! kommen Sie!" Schweigend gingen wir die Friedrichstraße hinauf; rasch bog er in eine Querstraße ein, und kaum vermochte ich ihm zu folgen, so schnell lief er die Straße hinab, bis er endlich vor einem unansehn­ lichen Hause stillstand. Ziemlich lange hatte er gepocht, als man endlich öffnete. Im Finstern tappend erreichten wir die Treppe und ein Zimmer im oberen Stock, dessen Tür mein Führer sorgfältig verschloß. Ich hörte noch eine Tür öffnen; bald darauf trat er mit einem angezündeten Lichte herein und der Anblick des sonderbar ausstaffierten Zimmers überraschte mich nicht wenig. Altmodisch reich verzierte Stühle, eine Wanduhr mit vergoldetem Gehäuse und ein breiter, schwerfälliger Spiegel gaben dem Ganzen das düstere Ansehn verjährter Pracht. In der Mitte stand ein kleines Klavier, auf demselben ein großes Tintenfaß von Porzellan, und daneben lagen einige Bogen kastriertes Papier. Ein schärferer Blick auf diese Vorrichtung zum Komponieren überzeugte mich jedoch, daß seit langer Zeit nichts geschrieben sein mußte; denn ganz vergilbt war das Papier und dickes Spinnengewebe überzog das Tintenfaß. Der Mann trat vor einen Schrank in der Ecke des Zimmers, den ich noch nicht bemerkt hatte, und als er den Vorhang wegzog, wurde ich eine Reihe schöngebundener Bücher gewahr mit goldenen Auf­ schriften: Orfeo, Armida, Alceste, Jphigenia usw., kurz, Glucks Meisterwerke sah ich beisammenstehen. „Sie besitzen Glucks sämtliche Werke?" rief ich. Er antwortete nicht, aber zum krampfhaften Lächeln verzog sich der Mund, und das Muskelspiel in den eingefallenen Backen verzerrte im Augenblick das Gesicht zur schauerlichen Maske. Starr den düsteren Blick auf mich gerichtet, ergriff er eins der Bücher — es war „Armida" — und schritt feierlich zum Klavier hin. Ich öffnete es schnell und stellte den zusammengelegten Pult auf; er schien das gern zu sehen. Er schlug das Buch auf, und — wer schildert mein Erstaunen! ich erblickte kastrierte Blätter, aber mit keiner Note beschrieben.

Er begann: „Jetzt werde ich die Ouvertüre spielen! Menden Sie die Blätter um, und jur rechten Zeit!" Ich versprach das, und nun spielte er herrlich und meisterhaft, mit vollgriffigen Akkorden, das majestätische Tenrpo di Marcia, womit die Ouvertüre anhebt, fast ganz dem Original getreu: aber das Allegro war nur mit Glucks Hauptgedanken durchflochten. Er brachte so viele neue geniale Wen­ dungen hinein, daß mein Erstaunen immer wuchs. Vorzüglich waren seine Modulationen frappant, ohne grell zu werden, und er wußte den einfachen Hauptgedanken so viele melodiöse Melismen anzu­ reihen, daß jene immer in neuer, verjüngter Gestalt wtederzukehren schienen. Sein Gesicht glühte; bald zogen sich die Augenbraunen zu­ sammen und ein langverhaltener Zorn wollte gewaltsam losbrechen, bald schwamm das Auge in Tränen tiefer Wehmut. Zuweilen sang er, wenn beide Hände in künstlichen Melismen arbeiteten, das Thema mit einer angenehmen Tenorstimme; dann wußte er, auf ganz be­ sondere Weise, mit der Stimme den dumpfen Ton der anschlagenden Pauke nachzuahmen. Ich wandte die Blätter fleißig um, indem ich seine Blicke verfolgte. Die Ouvertüre war geendet und er fiel erschöpft mit geschloffenen Auge» in den Lehnstuhl zurück. Bald raffte er sich aber wieder auf und indem er hastig mehrere leere Blätter des Buches umschlug, sagte er mit dumpfer Stimme: „Alles dieses, mein Herr, habe ich geschrieben, als ich aus dem Reich der Träume kam. Aber ich verriet Unheiligen das Heilige, und eine eis­ kalte Hand faßte in dies glühende Herz! Es brach nicht; da wurde ich verdammt, zu wandeln unter den Unheiligen, wie ein abgeschiedener Geist — gestaltlos, damit mich niemand kenne, bis mich die Sonnen­ blume wieder emporhebt zu dem Ewigen. — Ha — jetzt lassen Sie uns Armidens Szene singen!" Run sang er die Schlußszene der „Armida" mit einem Ausdruck, der mein Innerstes durchdrang. Auch hier wich er merklich von dem eigentlichen Originale ab: aber seine veränderte Musik war die Glucksche Szene gleichsam in höherer Potenz. Alles, was Haß, Liebe, Ver­ zweiflung, Raserei in den stärksten Zügen ausdrücken kann, faßte er gewaltig in Töne zusammen. Seine Stimme schien die eines Jünglings, denn von tiefer Dumpfheit schwoll sie empor zur durch­ dringenden Stärke. Alle meine Fibern zitterten — ich war außer mir. Als er geendet hatte, warf ich mich ihm in die Arme und rief mit gepreßter Stimme: „Was ist das? Wer sind Sie?" Er stand auf und maß mich mit ernstem, durchdringendem Blick; doch als ich weiter fragen wollte, war er mit dem Lichte durch

die Türe entwichen und hatte mich im Finstern gelassen. Es hatte beinahe eine Viertelstunde gebauert; ich verzweifelte ihn wiederzu­ sehen, und suchte, durch den Stand des Klaviers orientiert, die Türe zu öffnen, als er plötzlich in einem gestickten Galakleide, reicher Weste, den Degen an der Seite, mit dem Lichte in der Hand hereintrat. Ich erstarrte; feierlich kam er auf mich zu, faßte mich sanft bei der Hand und sagte sonderbar lächelnd: „Ich bin der Ritter Gluck!"

Mozart als Künstler und Mensch. Schilderung eines Zeitgenossen.

Die Körperbildung dieses außerordentlichen Mensche« hatte nichts Auszeichnendes; er war klein, sein Angesicht angenehm, aber, wenn man das große, feurige Auge ausnimmt, kündigte es die Größe seines Genies auf den ersten Anblick nicht an. Der Blick schien unstet und jerstreut, außer wenn er bey dem Klavier saß; da änderte sich sein ganzes Antlitz! Ernst und ver­ sammelt ruhte dann sein Auge; auf jeder Muskelbewegung drückte sich die Empfindung aus, welche er durch sein Spiel vortrug und in dem Zuhörer so mächtig wieder zu erwecken vermochte. Er hatte kleine schöne Hände; bey dem Klavierspielen wußte er sie so sanft und natürlich an der Klaviatur zu bewegen, daß sich das Auge daran nicht minder, als das Ohr an den Tönen ergötzen mußte. Auch darin« zeichnete sich also Mozart vor den tummelnden Kraftgenies unserer Tage aus! Der kleine Wuchs seines Körpers kam von seiner frühen Geistes­ anstrengung her, und von dem Mangel an freyer Bewegung in der Zeit seiner Kindheit. Er war zwar von schönen Eltern erzeugt, und selbst ein schönes Kind gewesen; aber von dem 6ten Lebensjahre an war er an eine sitzende Lebensweise gebunden; um diese Zeit fing er schon an zu schreiben! Und wie viel hat der Mann nicht in seinem Leben geschrieben? Da Mozart bekanntermaßen in der Nacht am liebsten spielte und komponirte und die Arbeit oft dringend war: so kann sich jeder vorstellen, wie sehr ei» so fein organisierter Körper darunter leide» mußte! Sein früher Tod, (wenn er ja nicht auch künstlich befördert war), muß diesen Ursachen hauptsächlich zuge­ schrieben werden. Aber in dem unansehnlichen Körper wohnte ein Genius der Kunst, wie ihn nur wenigen Lieblingen die Natur verlieh! Die Größe und der Umfang seines Genies läßt sich nur nach dem so ftühen, so beyspiellos schnellen Gange seiner Entwickelung, und nach der hohen Stufe der Vollkommenheit abmessen, auf die

er in seiner Kunst gestiegen war. Kein Tonkünstler vor ihm hatte das weite Gebiet seiner Kunst so ganz umfaßt, und in jedem Zweige derselbe« so vollendete Produkte geschaffen, als Mozart. Von der Schöpfung einer Oper an bis zu dem einfachen Liede, von der kriti­ schen Erhabenheit einer Sinfonie bis zu dem leichten Tanzstückchen herab; im Ernsten und Komischen tragen seine Werke überall den Stempel der reichsten Phantasie, der eindringeadsten Empfindung, des feinsten Geschmackes. Sie haben eine Neuheit und Originalität, die eine getreue Beurkundung seines Genies ist. Selbst dasjenige, welches man ihm als Fehler vorwirft, zeuget von der Kraft seines freyen, eine neue Bahn gehenden Geistes. Dazu denke man noch die Vollkommenheit, die er zugleich im Klavierspielen erreicht hatte! Alle diese so seltenen, so mannigfaltigen und so innig ver­ webten Vorzüge bestimmen den Rang, der ihm unter den Genien der Künste gebührt. Er war unstreitig einer der großen, schöpferischen Geister, die in ihrer Kunst Epoche machen, weil sie dieselbe vervoll­ kommnen, oder doch ihren Nachfolgern neue Ansichten und Pfade eröffnen; nach deren Erscheinung aber die Kunst gewöhnlich still stehet, oder rückwärts geht. Eine auszeichnenbe Eigenheit seiner Werke ist die Verbindung der höchsten Kompositionskunst mit Lieblichkeit und Anmuth. Diese Vereinigung ist eine Aufgabe blos für Künstler von mozartischem Genie. Den Beweis davon giebt die Erfahrung. Wie selten trifft man auf Kompositionen, die den beyden Forderungen Genüge leisteten? Entweder sind es blos kontrapunktische Kunststücke, die wohl allen Regeln des Satzes zusagen mögen; aber Wärme, Anmuth und Lieblichkeit diese wahren Zaubermittel der Rührung, wußte ihnen ihr Meister nicht anzuziffern: oder es sind geistlose, fade Liedeleyen, ohne Sinn und Zusammenhang, kaum im Stande dem Ohre mit ihrem übersüßen Geklingel einen vorübergehenden Kitzel zu ver­ ursachen. Wie ganz anders ist es beym Mozart? Wie schmilzt in seinen Werken das, was man Kunst des Satzes nennt, mit Anmuth, Lieblich­ keit und Wohllaut so schön zusammen, daß das eine wegen des andern da zu seyn scheint — und beydes zur Hervorbringung des höchsten Effektes gleich wirksam ist! Und doch, wie mäßig und besonnen war er in dem Gebrauche der Süßigkeiten und Gewürze? Er kannte die hohe Forderung der Kunst und der Natur. Er schrieb was sein Genius ihm eingab, was sein richtiger Geschmack wahr fand, unbe­ kümmert ob es nach dem Geschmacke des Parterres seyn würde oder

nicht; und so bildete er sich selber das Publikum, überzeugt, daß wahre Schönheit, wie die Wahrheit, endlich doch erkannt wird und ge­ fällt. Dieß thaten immer große Künstler, welche die Kraft hatten einen eigenen Weg zu gehen, und der Mode nicht zu stöhnen. Die berühmtesten Tonkünstler erkannten die Größe seines Genies, und bewunderten seine Werke. Joseph Haydn, dieser Liebling der Grazien, der in seinem Alter noch das Gefühl eines Jünglinges zeigte, ist gewiß vor allen ein befugter und berufener Richter. Sein Urtheil ist unpartheyisch, weil er als ein redlicher Mann bekannt ist, und Mozarts aufblühender Ruhm dem seinigen im Wege stand. Schon im Jahre 1785 da Mozarts Vater noch lebte, sagte I. Hayden bey einer Zusammenkunft in Wie» zu ihm: „Ich sage Ihnen vor Gott und als em ehrlicher Man», daß ich ihre» Sohn für den größten Komponisten anerkenne, von dem ich nur immer gehört habe; er hat Geschmack und besitzt die gründlichste Kenntniß in der Kunst der Komposition." Im Jahre 1787 im Dezember schrieb eben dieser große Mann an einen Freund in Prag, der mit ihm seit langer Zeit in Briefwechsel stand, und ein Singspiel von seiner Komposition für Prag verlangte, folgenden merkwürdigen Brief: „Sie verlangen eine Opera buffa von mir; recht herzlich gern, wenn Sie Lust haben von meiner Singkomposition etwas für sich allein zu besitzen. Aber um sie auf dem Theater zu Prag aufzu­ führen, kann ich Ihnen dießfalls nicht dienen, weil alle meine Opern zu viel auf unser Personale (zu Esterhaz in Ungar«) gebunden sind, und außerdem nie die Wirkung hervorbringen würden, die ich nach der Lokalität berechnet habe. Ganz was anders wär es, wenn ich das unschätzbare Glück hätte ein ganz neues Buch für das dasige Theater zu komponiren. Aber auch da hätte ich noch viel zu wagen, in dem der große Mozart schwerlich jemanden andern zur Seite haben kann." „Denn, könnt ich jedem Musikfreunde besonders aber den Großen die unnachahmlichen Arbeiten Mozarts so tief «ad mit einem solchen musikalischen Verstände, mit einer so großen Empfindung in die Seele prägen, als ich sie begreife und empfinde: so würden die Nationen wetteifern ei» solches Kleinod in ihren Ringmauern zu besitzen. Prag soll den „theuern Mann fest halten — aber auch belohnen; denn ohne dieses ist die Geschichte großer Genies traurig, und giebt der Nachwelt wenig Aufmunterung zum fernern Be­ streben; weßwegen leider! so viel hoffnungsvolle Geister darnieder

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liegen. Mich zürnet es, daß dieser einzige Mozart noch nicht bey einem kaiserlichen oder königlichen Hofe engagirt ist. Verzeihen Sie, wenn ich aus dem Geleise komme: ich habe den Mann zu lieb.

Ich bin 2c.

Joseph Hayden. N. S. An das Prager Orchester und die dasige Virtuosen mein ergebenstes Kompliment."

Wenn ein Haydn so urtheilt, so begeistert spricht — ein Haydn, der allein unter allen Tonkünstlern über seinen Verlust zu trösten im Stande wäre, was will dann das Gekreische einiger kleinen Geister sagen, die an Mozarts Ruhme zu Rittern werden wollten? Der chursächsische Kapellmeister H. Naumann bezeugte bey seinem Aufenthalte zu Prag auf eine schöne Art seine Hochachtung und Bewunderung für Mozarts Talente und Werke in einer rühren­ den Anrede an seinen Sohn, als ihm derselbe von seiner Freundin Duschek vorgestellt wurde. Wer die redliche anspruchslose Denkungs­ art dieses berühmten Meisters kannte, wird an der Wahrheit seiner Gesinnungen gewiß nicht zweifeln. Wie sehr ihn Gluck geschätzt habe, ist schon erwähnt worden. Cherubini, dessen Geist dem Mozartischen am nächsten verwandt scheint, ist sein größter Bewunderer, und hat seine Werke zum Gegen­ stände seines beständigen Studium gemacht. Alle Neuern, wenn sie es auch nicht gestehen wollen, haben von Mozart gelernt, oder ahmen ihn nach! Ein noch lebender, nicht unberühmter Tonsetzer in Wien sagte zu einem andern bey Mozarts Tode, mit vieler Wahrheit und Auf­ richtigkeit: „Es ist zwar schade um ein so großes Genie; aber wohl uns, daß er todt ist. Denn, würde er länger gelebt haben, wahrlich! die Welt hätte uns kein Stück Brod mehr für unsere Kompositionen gegeben." Die zahlreiche Klaffe gründlicher Tonkünstler in Prag verdient mit Recht unter den Richtern über Mozarts hohen Werth einen an­ sehnlichen Platz. Die meisten von ihnen sprechen mit einer Achtung von Mozarts Werken, die ein rühmlicher Beweis ihrer Kenntnisse, und der Unbefangenheit ihres Herzens ist. — Einige, (lange noch nicht alle) sind in einer vorhergehenden Anmerkung genannt worden. Der brave Duschek mit seiner Gattin, die als Künstlerin und gebildete Frau im gleichen Maße auf Achtung und Beyfall Anspruch machen kann, waren Freunde und Bewunderer Mozarts. Wie viele treffliche

Künstler, auf die Böhmen stolz ist — wie viele gründliche und ge­ schmackvolle Dilletanten vom Adel und dem Bürgerstande, die in jedem andern Lande für Virtuosen gelten würden, müßte ich nennen, wenn ich alle Freunde und Verehrer seiner Werke und Talente in Böhmen herzählen wollte? Doch um Mozart als Tonkünstler ganz kennen zu lernen, ist es nöthig ihn bey seinem Schreibpulte, wenn er die unsterblichen Werke dichtete, zu beobachten! Mozart schrieb alles mit einer Leichtigkeit und Geschwindigkeit, die wohl beym ersten Anblick Flüchtigkeit oder Eile scheinen konnte; auch kam er nie während des Schreibens zum Klavier. Seine Imagination stellte ihm das ganze Werk, wenn es empfangen war, deutlich und lebhaft dar. Die große Kenntniß des Satzes erleichterte ihm den Überblick der gesammten Harmonie. Selten trifft man i» seinen Konzeptpartituren ausgebesserte oder überstrichene Stellen an. Daraus folgt nicht, daß er seine Arbeiten nur hingeworfen habe. In seinem Kopfe lag das Werk immer schon vollendet, ehe er sich zum Schreibpulte setzte. Wenn er den Text zu einer Singkomposition bekam, so ging er lange Zeit damit herum dachte sich ganz hinein, und erregte die Thätigkeit seiner Phantasie. Bey dem Klavier ar­ beitete er dann die Gedanken vollständig aus; und nun erst setzte er sich zum Schreiben hin. Daher war ihm das Schreiben eine leichte Arbeit, wobey er oft scherzte und tändelte. Es ist schon oben gesagt worden, daß er auch in seinen Mannsjahren halbe Nächte bey dem Klavier zubrachte, dieß waren eigentlich die Schöpferstunden seiner himmlischen Gesänge! Bey der schweigenden Ruhe der Nacht, wo kein Gegenstand die Sinne fesselt, entglühete seine Einbildungs­ kraft zu der regesten Thätigkeit, und entfaltete den ganzen Reichthum der Töne, welchen die Natur in seinen Geist gelegt hatte. Hier war Mozart ganz Empfindung und Wohllaut — hier stoßen von seinen Fingern die wunderbarsten Harmonien! Wer Mozart in solchen Stunden hörte, der nur kannte die Tiefe, den ganzen Umfang seines musikalischen Genies: frey und unabhängig von jeder Rücksicht durfte da sein Geist mit kühnen Fluge sich in die höchsten Regionen der Kunst schwingen. In solchen Stunden der dichterischen Laune schuf sich Mozart unerschöpflichen Vorrath; daraus ordnete und bildete er dann mit leichter Hand seine unsterblichen Werke. Übrigens wird jeder einsehen, daß eine reiche Ader der Gedanken dazu erfordert war. Ohne diese würde alle seine Kunst unfruchtbar geblieben seyn. Es gibt zwar Komponisten, die durch hartnäckigen

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Fleiß einige Gedanken erzwingen: aber wie bald versiegt ihre Quelle? Dann hört man sie nur wiederholen: ihre spätern Werke sind ge­ wöhnlich nur die Musterkarte der frühern. Diese Leichtigkeit, mit der Mozart schrieb, hat er, wie wir ge­ sehen haben, schon als Knabe gezeigt; ein Beweis, daß sie ein Werk des Genies war. Aber wie oft überraschte er damit in seinen letzten Jahren selbst diejenigen, die mit seinen Talenten vertraut waren? Die genievolle Eingangssinfonie zum Don Juan ist ein merkwürdiges Beyspiel davon. Mozart schrieb diese Oper im Oktober 1787 zu Prag; sie war nun schon vollendet, einstudirt, und sollte übermorgen aufgeführt werden, nur die Ouvertüre fehlte noch. Die ängstliche Besorgniß seiner Freunde, die mit jeder Stunde zunahm, schien ihn zu unterhalten; je mehr sie verlegen waren, desto leichtsinniger stellte sich Mozart. Endlich am Abende vor dem Tage der ersten Vorstellung, nachdem er sich satt gescherzt hatte, gieng er gegen Mitternacht auf sein Zimmer, fing an zu schreiben, und voll­ endete in einigen Stunden das bewundernswürdige Meisterstück, welches die Kenner nur der himmlischen Sinfonie der Zauberflöte nachsetzen. Die Kopisten wurden nur mit Mühe bis zur Vorstellung fertig, und das Opernorchester, dessen Geschicklichkeit Mozart schon kannte, führte sie prima vista vortrefflich auf. Die Musik zur Zauberflöte war schon im Julius 1791 fertig. In der Mitte des Augustus gieng Mozart nach Prag, schrieb da inner­ halb 18 Tagen La Clemenza di Tito, welche am 5fett September aufs Theater kam. In der Mitte dieses Monaths reifete er nach Wien zurück, und schrieb ein paar Tage vor der Vorstellung der Iauberflöte, die am 30. September geschah, die beste aller Ouver­ türen und den Priestermarsch zum Anfang des 2ten Aktes. Solche Beyspiele könnten häufig angeführt werden. Sein außer­ ordentliches Gedächtniß zeigte sich auch schon in der Jugend; das auf­ gefaßte Miserere in Rom giebt einen vollen Beweis davon. Er behielt es ungeschwächt bis an sein Ende. Da man seine Kompositionen unglaublich suchte: so war er nie sicher, daß ihm nicht ein neues Werk selbst während des Kopirens abgestohlen werde. Er schrieb daher bey seinen Klavier-Konzerten gewöhnlich nur eine Zeile für eine Hand auf, und spielte das übrige aus dem Gedächtnisse. So hat er einst ein Klavierkonzert, welches er schon seit geraumer Zeit nicht in Händen gehabt hatte, in einer musik. Akademie aus dem Gedächtnisse gespielt, indem er die Prinzipal­ stimme in der Eile zu Hause vergaß. 36

Mer wie ist Mozart ein so großer, ja ich möchte sagen, einziger Mann in seiner Kunst geworden? Hat er alles der Natur, oder seinem Studium, seiner Ausbildung zu danken? Einige teutschen Schrift­ steller sprechen von einer instinktartigen Beschaffenheit seines Geistes, welche ihn unwillkürlich zur Hervorbringung seiner Meisterwerke getrieben habe. Aber diese Herrn kennen sicher Mozarten gar nicht, und scheinen die Leichtigkeit, mit welcher er, wenn die Idee des Werkes einmal gebildet war, schrieb, für die instinktartige Wirkung seines Talentes zu halten. Freylich haben die Äußerungen des Genies, in wiefern es angeboren ist, etwas instinktartiges: aber nur Bildung und Übung — Studium giebt ihm Reife und Vollendung. Mozart hatte von Natur ein Genie empfangen wie Shakespeare, aber er übertraf diesen an Geschmack und Korrektheit. Er produzirte mit Verstand und Wahl. Diese so seltene Vereinigung eines feinen Ge­ schmackes und der richtigsten Beurtheilung mit den größten Natur­ anlagen, die Mozarten unter den Meistern seiner Kunst den ersten Rang giebt, war größtentheils sein Werk — das Werk seines Eifers, seines Fleißes; das Werk des tiefen und gründlichen Studiums der Kunst. Aus der Geschichte seiner Jugend haben wir gesehen, wie sorg­ fältig er jede Gelegenheit benützte, um zu lernen; wie weise und streng ihn sein Vater dazu leitete; wie tief er in die Geheimnisse der Kunst so früh schon eingedrungen war. Aber wir wollen ihn selbst darüber hören. Einst — (es war nach den ersten Proben seines Don Juan) — gieng Mozart mit dem damaligen Orchesterdirektor und Kapell­ meister Herr Kucharz spazieren. Unter andern vertraulichen Ge­ sprächen kam die Rede auf Don Juan. Mozart sagte: „Was halten sie von der Musik zum Don Juan? Wird sie so gefallen, wie Figaro? Sie ist von einer andern Gattung! Kuch. Wie können Sie daran zweifeln? Die Musik ist schön, originell, tief gedacht. Was von Mozart kommt wird den Böhmen gewiß gefallen. Moz. Ihre Versicherung beruhigt mich, sie kommt von einem Kenner. Aber ich habe mir Mühe und Arbeit nicht verdrüßen lassen, für Prag etwas vorzügliches zu leisten. Überhaupt irrt man, wenn man denkt, daß mir meine Kunst so leicht geworden ist. Ich ver­ sichere Sie, lieber Freund! niemand hat so viel Mühe auf das Studium der Komposition verwendet als ich. Es gibt nicht leicht einen be­ rühmten Meister in der Musik, den ich nicht fleißig, oft mehrmal durchstudirt hätte."

Und in der That, man sah die Werke großer Tonkünstler, auch da noch, als er bereits klassische Vollkommenheit erreicht hatte, auf seinem Pulte. Sein gewandter Geist wußte sich den Charakter eines jeden so anzueignen, daß er sie oft zum Scherze im Satze und Stile bis zum Täuschen nachahmte. Sein Gehör war so fein, faßte die Verschiedenheit der Töne so gewiß und richtig auf, daß er den geringsten Fehler oder Mißton selbst bey dem stärksten Orchester bemerkte, und dasjenige Subjekt oder Instrument, welches ihn begieng genau anzugeben wußte. Nichts brachte ihn so sehr auf, als Unruhe, Getöse oder Geschwätz bey der Musik. Da gerieth der so sanfte, muntere Mann in den größten Unwillen, und äußerte ihn sehr lebhaft. Es ist bekannt, daß er einst mitten im Spiele unwillig von dem Klavier aufstand, und die un­ aufmerksamen Zuhörer verließ. Dieses hat man ihm vielfältig übel genommen; aber gewiß mit Unrecht. Alles, was er vortrug, empfand er selbst auf das stärkste — sein ganzes Wesen war dann Gefühl und Aufmerksamkeit: wie konnte ihn also kalte Fühllosigkeit, Unauf­ merksamkeit: oder gar ein störendes Geschwätze in der Laune und Fassung erhalte»? Als begeisterter Künstler vergaß er da auf alle andere Rücksichten. Wie reizbar lebhaft sein Kunstsinn gewesen sey, kann man aus dem schließen, daß er bey der Aufführung einer guten Musik bis zu Thränen gerührt wurde: vorzüglich wenn er etwas von den beyden großen Haydn hörte. Aber nicht allein Musik, jeder andere rührende Gegenstand ergriff sein ganzes Gefühl und erschütterte ihn. Seine Einbildungskraft war immer thätig, immer mit Musik beschäftigt; daher schien er oft zerstreut und gedankenlos. So groß war Mozart als Künstler! Den Forscher der mensch­ lichen Natur wird es nicht befremden, wenn er sieht, daß dieser als Künstler so seltene Mensch, nicht auch in den übrigen Verhältnissen des Lebens ein großer Mann war. Die Tonkunst machte die tzauptund Lieblingsbeschäftigung seines ganzen Lebens aus — um diese, bewegte sich sein ganzes Gedanken- und Empfindungsspiel; alle Bil­ dung seiner Kräfte, die das Genie des Künstlers ausmachen, ging von da aus und bezog sich darauf. Ist es ein Wunder, wenn er den übrigen Dingen um sich weniger Aufmerksamkeit widmete? Er war Künstler, war es ganz und in einer bewundernswürdigen Größe: das ist genug! Wer mag indeß die Gränzlinien seiner Geistkräfte so genau ziehen, um behaupten zu können, Mozart habe außer seiner Kunst zu nichts 38

sonst Anlage oder Fähigkeit gehabt? Man setzt freylich das Wesen des Künstler-Genies in eine überwiegende Stärke der untern oder ästheti­ schen Kräfte der Seele, aber man weiß auch, daß die Künste besonders die Musik häufig einen scharfen Überblick, Beurtheilung und Ein­ sicht in die Lage der Dinge erfordern; welches bey Mozart um so gewisser vorauszusetzen ist, da er kein gemeiner mechanischer Virtuos eines Instrumentes war, sondern das ganze weite Gebieth der Ton­ kunst mit seltener Kraft und Geschicklichkeit umfaßte. Wie schön und beneidenswerth ist übrigens der Wirkungskreis eines Tonkünstlers? Mit seinen süßen Harmonien entzückt er tausend gefühlvolle Seelen; er schafft ihnen die reinste Wonne; er erhebt, besänftiget, tröstet! Auch dann wenn er nicht mehr ist, lebt er dennoch in seinen widerholenden Gesängen — Tausende segnen und be­ wundern ihn. Mozart hatte schon in seiner Jugend zu allen Kenntnissen, die man ihm beyzubringen für nöthig fand, eine große Anlage gezeigt, in allen schnelle Fortschritte gemacht; von der Arithmetik ist Er­ wähnung geschehen. Auch in seinen spätern Jahren liebte er diese Kenntniß sehr und war wirklich ein ungemein geschickter Rechen­ meister. Eben so groß war sein Talent zur Sprachwissenschaft; er verstand Französisch, Englisch, Italienisch und Teutsch. Die lateinische Sprache lernte er in spätern Jahren, und zwar nur so weit, als es zur Verständniß des Kirchentextes, den er allenfalls in Musik zu setzen hätte, erfordert war. In allen übrigen Sprachen hat er die guten Schriftsteller gelesen und verstanden. Er machte oft selbst Verse; meistens aber nur bey scherzhaften Gelegenheiten. In den übrigen Fächern hatte Mozart wenigstens so viel historische Kenntniß, als für einen Mann von Bildung nöthig war. Zu bedauern ist es, daß er nicht über seine Kunst schrieb! Aus einem Briefe, welchen er an F. v. Trattner, eine seiner Schülerinnen über den Vortrag der für sie gesetzten Klavierphantasie geschrieben hatte, konnte man sehen, daß er nicht nur die Prax, sondern auch die Theorie seiner Kunst vollkommen verstand. Der Brief ist, leider! nicht zu finden gewesen. In einem Heft einer musikalischen Zeitschrift von Berlin vor einigen Jahren wurde von Mozart behauptet, er habe eigentlich keine höhere Bildung gehabt. Es ist schwer zu errathen, was der Ver­ fasser mit den Worten höhere Bildung gemeint habe. Mozart hatte die Welt gesehen, er kannte die Schriftsteller der gebildesten Nationen, zeigte überall einen offenen und freymüthigen Geist: was fehlte ihm

also jur höheren Kultur? Muß man in Göttingen oder Jena studirt haben, um höhere Bildung zu erlangen? Oder besteht die höhere Bildung darin«, daß man weiß, was teutsche Schriftsteller sagen? daß man von allen zu schwatzen verstehet? Der moralische Charakter Mozarts war bieder und liebens­ würdig. Unbefangene Herzensgüte und eine seltene Empfindlichkeit für alle Eindrücke des Wohlwollens und der Freundschaft waren seine Grundjüge. Er überließ fich diesen liebenswürdigen Regungen ganz, und wurde daher mehrmal das Opfer seines gutmüthigen Zutrauens. Oft beherbergte und pflegte er seine ärgsten Feinde und Verderber bey fich. Er hatte zwar oft mit einem schnellen Blicke auch versteckte Charaktere aus dem Innersten ausgeholt: aber im Ganzen ge­ nommen, hatte er zu viel Gutmüthigkeit um Menschenkenntniß zu erlangen. Selbst die Art seiner Erziehung, die unstäte Lebensart auf Reisen, wo er nur für seine Kunst lebte, machte eine wahre Kenntniß des menschlichen Herzen unmöglich. Diesem Mangel muß man manche Unklugheit seines Lebens zu schreiben. Übrigens hatte Mozart für die Freuden der Geselligkeit und Freund­ schaft einen offenen Sinn. Unter guten Freunden war er vertraulich wie ein Kind, voll munterer Laune; diese ergoß fich dann meistentheils in de» drolligsten Einfällen. Mit Vergnügen denken seine Freunde in Prag an die schönen Stunden, die ste in seiner Gesellschaft ver­ lebten; sie können sein gutes argloses Herz nie genug rühmen; man vergaß in seiner Gesellschaft ganz, daß man Mozart den bewunderten Künstler vor sich habe. Nie verrieth er einen gewissen Kunst-Pedantismus, der an manchen Jüngern Apollos so widerlich ist. Er sprach selten und wenig von seiner Kunst, und immer mit einer liebenswürdigen Bescheidenheit. Hochschätzung des wahren Verdienstes und Achtung für die Person leiteten seine Urtheile in Kunstsachen. Es war gewiß rührend, wenn er von den beyde» Haydn, oder andern großen Meistern sprach: man glaubte nicht dem allgewaltigen Mozart, sondern einen ihrer be­ geisterten Schüler zu hören. Ich kann hier eine Anekdote nicht übergehen, die eben so sehr seinen geraden Sinn, und den Unwillen gegen lieblose Tadelsucht, als seine große Achtung für Joseph Haydn beweiset. Sie sey zugleich ein Beyspiel seiner guten Einfälle. In einer Privatgesellschaft wurde einst ein neues Werk von Joseph Haydn gemacht. Nebst Mozart waren mehrere Tonkünsiler gegenwärtig, unter andern L. K..., der noch nie jemanden gelobt

hatte, als sich selbst. Er stellte sich zum Mozart und tadelte bald dieses bald jenes. Mit Geduld hörte ihn dieser eine Zeit an; als es ihm aber zu lang dauerte, und der Tadler endlich wieder bey einer Stelle mit Selbstgenügsamkeit ausrief: „Das hätt' ich nicht gethan" — er­ wiederte Mozart: Ich auch nicht; wissen Sie aber warum? Weil wir es beyde nicht so gut getroffen hätten! — Durch diesen Einfall machte er sich einen unversöhnlichen Feind mehr. Mit einer solchen Bescheidenheit verband Mozart dennoch ein edles Bewußtseyn seiner Künstlerwürde. Wie wäre es auch möglich gewesen nicht zu wissen, wie groß er sey? Aber er jagte nie nach dem Beyfalle der Menge; selbst als Kind rührte ihn nur das Lob des Kenners. Daher war ihm alles gleichgültig, was blos aus Neugierde ihn anzugaffen gekommen war. Oft ging dieses Betragen vielleicht zu weit. Er war daher bisweilen auch in der Gegenwart großer Herrn vom höchsten Range zum Spielen nicht zu bewegen; oder er spielte nichts als Tändeleyen, wenn er merkte, daß sie keine Kenner oder wahre Liebhaber sind. Aber Mozart war der gefälligste Mann von der Welt, wenn er sah, daß man Sinn für seine Kunst besitze; er spielte Stunde» lang dem geringsten, oft unbekannten Menschen. Mit aufmunternder Achtsamkeit hörte er die Versuche junger Künstler an, und weckte durch eine liebevolle Beyfallsäußerung das schlummernde Selbstbewußtsein. Unser bester Klavierspieler und beliebter Tonsetzer Joh. Witassek dankt ihm diese Erweckung seines Talentes. Die wenigen Stunden die er bey Mozart zubrachte, schätzt er nach eigenem Geständnisse für einen großen Zuwachs zu seiner Ausbildung. Menschenfreundlich und uneigennützig war Mozart im hohen Grade. Darum sammelte er kein Vermögen. Ganz im Reiche der Töne lebend, schätzte er den Werth des Geldes und der übrigen Dinge zu wenig. Daher arbeitete er viel umsonst, aus Gefälligkeit oder Wohlthätigkeit. Jeder reisende Virtuos war gewiß, wenn er sich ihm durch Talent oder moralischen Charakter zu empfehlen wußte, eine Komposition für sich zu erhalten. So entstanden die Konzerte für die übrigen Instrumente, so eine Menge einzelner Singkomposttionen, unter andern die majestätigen Chöre zu dem Schauspiele, König Tamos, die den erhabensten Werken Händels und Glucks an die Seite gesetzt werden. Aber selbst die Bezahlung, die er für seine Arbeite» bekam, war meistens mittelmäßig. Der Theaterunternehmer Guardasoni zahlte ihm für Don Juan nur hundert Dukaten.

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Verstellung und Schmeicheley war seinem arglosen Herzen gleich fremd; jeder Zwang, den er seinem Geiste anthu» mußte, unaus­ stehlich. Freymüthig und offen in seinen Äußerungen und Antworten, beleidigte er nicht selten die Empfindlichkeit der Eigenliebe, und zog stch dadurch manchen Feind zu. Seine hohe Kunst und der liebenswürdige Charakter verschafften ihm Freunde, die ihn von ganzer Seele liebten und für sein Wohl eifrig besorgt waren. Es würde das Zartgefühl dieser edlen Menschen beleidigen, wenn fie hier namentlich angeführt würden; wie wäre es auch möglich alle zu kennen und zu nennen? Indem mir also diese Betrachtung verbiethet von der großmüthigen Freundschaft eines B. v. S., und des Kaufmannes B. in Wien zu reden: so sey es wenigstens erlaubt hier der ausgezeichneten Wohlthätigkeit eines Wiener Bürgers gegen Mozart zu erwähnen. Dieser brave Mann, ein Flecksieder vom Gewerbe, ohne Mozart persönlich zu kennen, blos von Bewunderung für seine Kunst hingerissen, verschaffte seiner kranken Gemahlin, (die nach der Verordnung der Ärzte wegen einer Lähmung am Fuße Bäder vom gekochten Magengekröße brauchen mußte), die Gelegenheit in seinem eigenen Hause durch geraume Zeit die Kur mit vieler Bequemlichkeit brauchen zu können. Er lieferte ihr nicht nur die Flecke unentgeltlich und ersparte dadurch Mozarten eine Auslage von mehreren hundert, Gulden, sondern verlangte auch für Logis und Kost gar nichts. Ähnliche Beyspiele eines solchen Enthusiasmus für die hohe Kunst Mozarts sind sehr häufig. Aber Mozart hatte auch Feinde, zahlreiche, unversöhnliche Feinde. Wie hätten ihm auch diese mangeln können, da er ein so großer Künstler und ein so gerader Mann war? Und diese waren die unlautere Quelle, aus welcher so viele häßliche Erzählungen von seinem Leichtsinne, seinen Ausschweifungen geflossen sind. Mozart war Mensch, folglich Fehlern unterworfen wie alle Menschen. Die nemlichen Eigenschaften und Kräfte, die das Wesen seiner großen Talente ausmachten, waren zugleich Reiz und Anlaß zu manchen Fehltritte: brachten Neigungen hervor, die freylich bey Alltags­ menschen nicht angetroffen werden. Seine Erziehung und Lebensart bis zu dem Zeitpunkte, da er stch in Wien niederließ, war auch nicht gemacht ihm Menschenkenntniß und Welterfahrung zu verschaffen. Denke man sich einen so zart organisirten Jüngling — einen Ton­ künstler von seiner Empfindung in einer Stadt, wie Wien, sich selbst überlassen? Braucht es mehr um zur Nachsicht gegen seine Fehler gestimmt zu werden? Man muß aber gegen diese Erzählungen über-

Haupt mißtrauisch seyn, da gewiß der größte Theil baare Unwahr­ heiten, und nichts als Schmähungen des scheelsüchtigen Neides sind. Wir haben dieß in Rücksicht seiner hinterlassenen Schulden schon bemerkt. Niemand wird es unbegreiflich finden, warum die Welt diesen Ausstreuungen so leicht Glauben beymißt, wenn er sich er­ innert, daß man gewöhnlich mit einem Tonkünstler den Begriff eines Verschwenders oder Wüstlings verbindet. Aber zahlreiche Beyspiele achtungswürdiger Künstler haben bewiesen, wie sehr dieses Vorurtheil einzuschränkea sey.

In seiner Ehe mit Konstanza Weber lebte Mozart vergnügt. Er fand an ihr ein gutes, liebevolles Weib, die sich an seine Gemüths­ art vortrefflich anzuschmiegen wußte, und dadurch sein ganzes Zu­ trauen und eine Gewalt über ihn gewann, welche sie nur dazu anwendete, ihn oft von Übereilungen abzuhalten. Er liebte sie wahr­ haft, vertraute ihr alles, selbst seine kleinen Sünden — und sie ver­ galt es ihm mit Zärtlichkeit und treuer Sorgfalt. Wien war Zeuge dieser Behandlung, und die Witwe denkt nie ohne Rührung an die Tage ihrer Ehe. Seine liebste Unterhaltung war Musik; wenn ihm seine Ge­ mahlinn eine recht angenehme Überraschung an einem Familienfeste machen wollte, so veranstaltete sie in Geheim die Aufführung einer neuen Kirchen-Komposition von Michael oder Joseph Haydn.

Das Billardspiel liebte er leidenschaftlich, vermuthlich weil es mit Bewegung des Körpers verbunden ist; er hatte ein eignes zu Hause, bey dem er sich täglich mit seiner Frau unterhielt. Die Schön­ heit der Natur im Sommer war für sein tieffühlendes Herz ein entzückender Genuß; er verschaffte sich ihn, wenn er konnte, und miethete daher fast alle Jahre Gärtchen in der Vorstadt, wo er den Sommer zuzubringen pflegte. Erstaunend ist die Arbeitsamkeit seiner letzten Lebensjahre. Aus dem vollständigen Verzeichnisse seiner Kompositionen seit dem Jahre 1784. bis zu seinem Tode, in welches er mit eigener Hand das Thema eines jeden Stückes und den Tag der Vollendung ein­ trug, sieht man wie viel er oft in einem Monathe gearbeitet hatte? Nur die Größe und Fruchtbarkeit seines Genies macht die Möglich­ keit so vielfacher Arbeit begreiflich.

So wurde Mozart ein Wunder seiner Kunst, der Liebling seines Zeitalters! Sein kurzes, aber glänzendes Künstlerleben macht in der Geschichte der Tonkunst eine neue Epoche.

Der große, feurige Geist, der in seinen Werken waltet und der volle Strom der Empfindung reißen jedes gefühlvolle Herz mit unwiderstehlicher Gewalt hin. Der süße Zauber seiner Harmonien entzückt das Ohr; die Fülle der Gedanken, das Neue in ihrer Ausführung machen das Gefallen seiner Mufik dauerhaft. Wer einmal an Mozart Geschmack gefunden hat, der wird durch andere Mufik schwer zu befriedigen seyn. Und alle diese Vollkommenheiten hat er in einem Alter erreicht, das für gewöhnliche Künstler kaum der Zeitpunkt der ersten Ausbildung ist! Da er starb, hatte sein Ruhm bereits eine Größe, wie fie nur selten auch der glücklichste Künstler hoffen darf — und wie kurz war sein Leben? Er hatte noch nicht das 35 te Jahr vollendet, als er starb! Was würde sein unerschöpflicher Geist der Welt noch geliefert haben?-------Wäre er nach England gegangen — sein Ruhm würde neben Händels unsterblichem Namen glänzen: in Teutschland rang sein Geist oft mit Mangel; seinen Grabeshügel zeichnet nicht einmal eine schlechte Inschrift aus! —

(Aus Fr. Nemetschek: Lebensbeschreibung deö k. k. Kapellmeisters Wolfgang Amadeus Mozart.)

Ludwig van Beethovens „Heiligenftädter Testament". „Für meine Brüder Carl und

Beethoven.

O ihr Menschen die ihr mich für feindseelig Drisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime Ursache von dem, was euch so scheinet, mein Her; und mein Sinn waren'von Kindheit an für das Zarte Gefühl des wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten dazu war ich intet aufgelegt, aber bedenket nur daß seit 6 jähren ein heilloser Zustand mich befallen, durch unvernünftige aerzte verschlimert, von jähr zu jähr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines dauernden Übels (dessen Heilung vieleicht jähre dauern oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für die Zer­ streuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussezen, o wie hart wurde ich dur(ch) die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehörs dann zurückgesioßen, und doch war's mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreyt, denn ich bin taub, ach wie wär es möglich daß ich dann die Schwäche eines Sinnes angeben sollte, der bey mir in einem vollkomenern Grade als_6et) andern seyn sollte, einen Sinn den ich einst in der grösten Vollkomenheit besaß, in einer Vollkomenheit, wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben noch gehabt haben — o ich kann es nicht, drum verzeiht, wenn ihr mich da zurück­ weichen sehen werdet, wo ich mich gerne unter euch mischte, doppelt wehe thut mir mein Unglück, indem ich dabey verkannt werden muß, für mich darf Erholung in Menschlicher Gesellschaft, feinere Unter­ redungen, wechselseitige Ergießungen nicht statt haben, ganz allein fast nur so viel als es die höchste Nothwendigkeit fodert, darf ich mich in gesellschaft einlassen, wie ein Verbannter muß ich leben, nahe ich mich einer Gesellschaft, so überfällt mich eine heiße ängstlichkeit, indem

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ich befürchte in Gefahr gesezt zu werden, meinen Zustand merken zu laßen — so war es denn auch dieses halbe jähr, was ich auf dem Lande zubrachte, von meinem vernünftigen Arzte aufgefodert, so viel als möglich mein Gehör zu schonen, kam er fast meiner jezigen natürlichen Disposizion entgegen, obschon, vom Triebe zur Gesell­ schaft manchmal hingerissen, ich mich dazu verleiten ließ, aber welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine flöte hörte und ich nichts hörte oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte, solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben — nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir un­ möglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte, und so fristete ich dieses elende Leben — wahrhaft elend, einen so reizbaren Körper, daß eine etwas schnelle Verändrung mich aus dem Besten Zustande in den schlechtesten Versezen kann — Geduld — so Heist es, Sie muß ich nun zur führerin wählen, ich habe es — dauernd hoffe ich soll mein Entschluß seyn, auszuharren, bis es den unerbittlichen Parzen gefällt, den Faden zu brechen, vieleicht geht's besser, vieleicht nicht, ich bin gefaßt — schon in meinem 28 jähre gezwungen Philosoph zu werden, es ist nicht leicht, für -en Künstler schwerer als für irgend jemand — Gottheit du siehst herab auf mein inneres, du kannst es, du weist, daß Menschen­ liebe und Neigung zum wohlthun drin Hausen 0 Menschen, wenn ihr einst dieses leset, so denkt, daß ihr mir unrecht gethan, und der unglückliche, er tröste sich, einen seines gleichen zu finden, der troz allen Hindernissen der Natur, doch noch alles gethan, was in seinem Vermögen stand, um in die Reihe würdiger Künstler und Menschen aufgenoinen zu werden — ihr meine Brüder Carl und , sobald ich tod bin und Professor schmid lebt noch, so bittet ihn in meinem Namen, daß er meine Krankheit beschreibe, und dieses hier geschriebene Blatt füget ihr dieser meiner Krankengeschichte bey, damit wenigstens so viel als möglich die welt nach meinem Tode mit mir versöhnt werde — Zugleich erkläre ich euch beyde hier für die Erben des kleinen Vermögens, (wenn man es so nennen kann) von mir, theilt es redlich, und vertragt und helft euch einander, was ihr mir zuwider gethan, das wist ihr, war euch schon längst verziehen, dir Bruder Carl danke ich noch ins besondre für deine in dieser leztern spätern Zeit mir bewiesene Anhänglichkeit, mein wünsch ist, daß euch ein besseres sorgenloseres Leben, als mir, werde, empfelt euren Kindern Tugend, sie nur allein kann glücklich machen, nicht

Geld, ich spreche aus Erfahrung, sie war es die mich selbst im Elende gehoben, ihr danke ich nebst meiner Kunst, daß ich durch keinen selbstmord mein Leben endigte—lebt wohl und liebt euch,—allen Freunden danke ich, besonders Fürst Lichnowski und Professor Schmidt. — Die Instrumente von Fürst L. wünsche ich, daß sie doch mögen aufbewahrt werden bey einem von euch, doch entstehe des wegen kein Streit unter euch, sobald sie euch aber zu was nüzlicherm dienen können, so verkauft sie nur, wie froh bin ich, wenn ich auch »och unter meinem Grabe euch nüzen kann — so wär's geschehen — mit freuden eil ich dem Tode entgegen — kömt er früher als ich Gelegenheit gehabt habe, noch alle meine Kunst-Fähigkeiten zu entfalten, so wird er mir troz meinem Harten Schicksaal doch noch zu frühe körnen, und ich würde ihn wohl später wünschen — doch auch dann bin ich zufrieden, befreyt er mich nicht von einem endlosen Leidenden zu­ stande? — komm wann du willst, ich gehe dir muthig entgegen — lebt wohl und vergeßt mich nicht ganz im Tode, ich habe es um euch verdient, indem ich in meinem Leben oft an euch gedacht, euch glücklich zu machen, seyd es —

Ludwig van Beethoven.

Heiglnstadt am 6tcn Oktober 1802. (Siegel)

Für meine Brüder Carl und lesen und zu vollziehen.

nach meinem Tode z«

Heiglnstadt, am rote» Oktober 1802 — so nehme ich den Ab­ schied von dir — und zwar traurig — ja die geliebte Hofnung — die ich mit hieher nahm, wenigstens bis zu einem gewissen Punkt geheilet zu seyn — sie muß mich nun gänzlich verlassen, wie die Blätter des Herbstes herabfallen, gewelkt sind, so ist — auch sie für mich dürr geworden, fast wie ich hieher kam — gehe ich fort — selbst der Hohe Muth — der mich oft in den Schönen Somertägen beseelte — er ist verschwunden — 0 Vorsehung — laß einmal einen reinen Tag der Freude mir erscheinen — so lange schon ist der wahren Freude inniger Widerhall mir fremd — 0 wann — 0 wann 0 Gottheit — kann ich im Tempel der Natur und der Menschen ihn wider fühlen — Nie? nein — 0 es wäre zu hart."

Die C dar=Sinfonie von Franz Schubert. Von Robert Schumann.

Der Musiker, der zum erstenmal Wien besucht, mag sich wohl eine Weile lang an dem festlichen Rauschen in den Straßen ergötzen können, und oft und verwundernd immer vor dem Stephansturme stehen geblieben sein; bald aber wird er daran erinnert, wie unweit der Stabt ein Kirchhofliegt, ihm wichtiger als alles, was die Stadt sonst an Sehenswürdigem hat, wo zwei der Herrlichsten seiner Kunst nur wenige Schritte voneinander ruhen. So mag denn, wie ich, schon mancher junge Musiker bald nach den ersten geräuschvollen Tagen hinaus­ gewandert sein zum Währinger Kirchhof, auf jenen Gräbern ein Blumenopfer niederzulegen, und wär' es ein wilder Rosenstrauch, wie ich ihn an Beethovens Grab hingepflanzt fand. Franz Schuberts Ruhestätte war ungeschmückt. So war endlich ein heißer Wunsch meines Lebens in Erfüllung gegangen und ich betrachtete mir lange die beiden heiligen Gräber, beinahe den einen beneidend, irr' ich nicht, einen Grafen Odonnell, der zwischen beiden mitten innen liegt. Einem großen Mann zum erstenmal ins Angesicht zu schauen, seine Hand zu fassen, gehört wohl zu Jedes ersehntesten Augenblicken. War es mir nicht vergönnt, jene Leiden Künstler im Leben begrüßen zu dürfen, die ich am höchsten verehre unter den neueren Künstlern, so hätte ich nach jenem Gräberbesuch so gern wenigstens jemanden zur Seite gehabt, der einem von ihnen näher gestanden, und am liebsten, dachte ich mir, einen ihrer Brüder. Es fiel mir ein auf dem Zuhausewege, daß ja Schuberts Bruder, Ferdinand, noch lebe, auf den er, wie ich wußte, große Stücke gehalten. Bald suchte ich ihn auf und fand ihn seinem Bruder ähnlich, wie mir nach der Büste schien, die neben Schuberts Grabe steht, mehr klein, aber kräftig gebaut, Ehrlichkeit wie Musik gleichviel im Ausdruck des Ge­ sichts. Er kannte mich aus meiner Verehrung für seinen Bruder, wie ich sie oft öffentlich ausgesprochen, und erzählte und zeigte mir vieles, wovon auch früher unter der Überschrift „Reliquien" mit seiner Bewilligung in der Zeitschrift mitgeteilt wurde. Zuletzt ließ er

mich auch von den Schätzen sehen, die sich noch von Fran; Schuberts Kompositionen in seinen Händen befinden. Der Reichtum, der hier aufgehäuft lag, machte mich freudeschauernd; wo zuerst hin­ greifen, wo aufhören! Unter andern wies er mir die Partituren mehrerer Symphonien, von denen viele noch gar nicht gehört worden sind, ja oft vorgenommen als zu schwierig und schwülstig zurück­ gelegt wurden. Man muß Wien kennen, die eigenen Konzertverhältnisse, die Schwierigkeiten, die Mittel zu größeren Aufführungen zusammenzufügen, um es zu verzeihen, daß man da, wo Schubert gelebt und gewirkt, außer seinen Liedern von seinen größeren Jnsirumentalwerken wenig oder gar nichts zu hören bekommt. Wer weiß, wie lange auch die Symphonie, von der wir heute sprechen, verstäubt und im Dunkel liegen geblieben wäre, hätte ich mich nicht bald mit Ferdinand Sch. verständigt, sie nach Leipzig zu schicken an die Direktion der Gewandhauskonzerte oder an den Künstler selbst, der sie leitet, dessen feinem Blicke ja kaum die schüchtern aufknospende Schönheit entgeht, geschweige denn so offenkundige, meisterhaft strahlende. So ging es in Erfüllung. Die Symphonie kam in Leipzig an, wurde gehört, verstanden, wieder gehört und fteudig, beinahe allgemein bewundert. Die tätige Verlagshandlung Breit­ kopf und Härtel kaufte Werk und Eigentum an sich und so liegt sie nun fertig in den Stimmen vor uns und vielleicht auch bald in Partitur, wie wir es zu Nutz und Frommen der Welt wünschten. — Sag' ich es gleich offen: wer diese Symphonie nicht kennt, kennt noch wenig von Schubert, und dies mag nach dem, was Schubert be­ reits der Kunst geschenkt, allerdings als ein kaum glaubliches Lob an­ gesehen werden. Es ist so oft und zum Verdruß der Komponisten gesagt worden, „nach Beethoven abzustehen von symphonisiischen Plänen", und zum Teil auch wahr, daß außer einzelnen bedeutenderen Orchesterwerken, die aber immer mehr zur Beurteilung des Bildungs­ ganges ihrer Komponisten von Interesse waren, einen entschiedenen Einfluß aber auf die Masse, wie auf das Fortschreiten der Gattung nicht übten, das meiste andere nur mattes Spiegelbild Beethovenscher Weisen war, jener lahmen langweiligen Symphonienmacher nicht zu gedenken, die Puder und Perücke von Haydn und Mozart passabel nachzuschatten die Kraft hatten, aber ohne die dazu gehörigen Köpfe. Berlioz gehört Frankreich an und wird nur als interessanter Ausländer und Tollkopf zuweilen genannt. Wie ich geahnt und gehofft hatte, und mancher viel­ leicht mit mir, daß Schubert, der formenfest, phantasiereich und viel­ seitig sich schon in so vielen anderen Gattungen gezeigt, auch die Sym11/4

phonie von seiner Seite packen, daß er die Stelle treffen würde, von der ihr und durch fie der Masse beijukommen, ist nun in herrlichster Weise eingetroffen. Gewiß hat er auch nicht daran gedacht, die neunte Symphonie von Beethoven fortsetzen zu wollen, sondern, ein fleißigster Künstler, schuf er unausgesetzt aus sich heraus, eine Symphonie nach der andern, und daß jetzt die Welt gleich seine siebente zu sehen bekommt, ohne der Entwicklung zugesehen zu haben und ihre Vor­ gängerinnen zu kennen, ist vielleicht das einzige, was bei ihrer Ver­ öffentlichung leid tun könnte, was auch selbst zum Mißverstehen des Werkes Anlaß geben wird. Vielleicht daß auch von den andern bald der Riegel gezogen wird; die kleinste darunter wird noch immer ihre Franz Schubertsche Bedeutung haben; ja die Wiener Symphonien­ ausschreiber hätten den Lorbeer, der ihnen nötig war, gar nicht so weit zu suchen brauchen, da er siebenfach in Ferdinand Schuberts Studiersiübchen in einer Vorstadt Wiens übereinander lag. Hier war einmal ein würdiger Kranz zu verschenken. So ists oft: spricht man in Wien z. B. von-------- , so wissen sie des Preisens ihres Franz Schubert kein Ende; sind sie aber unter sich, so gilt ihnen weder der eine noch der andere etwas Besonderes. Wie dem sei, erlaben wir uns nun an der Fülle Geistes, die aus diesem kostbaren Werke quillt. Es ist wahr, dies Wien mit seinem Stephansturm, seinen schönen Frauen, seinem öffentlichen Gepränge, und wie es von der Donau mit unzähligen Bändern umgürtet, sich in die blühende Ebene hinstreckt, die nach und nach zu immer höherem Gebirge aufsteigt, dies Wien mit all seinen Erinnerungen an die größten deutschen Meister, muß der Phantasie des Musikers ein fruchtbares Erdreich sein. Oft wenn ich es von den Gebirgshöhen betrachtete, kam mirs im Sinn, wie nach jener fernen Alpenreihe wohl manchmal Beethovens Auge unstät hinübergeschweift, wie Mozart träumerisch oft den Lauf der Donau, die überall in Dusch und Wald zu verschwimmen scheint, verfolgt haben mag und Vater Haydn wohl oft den Stephansturm sich be­ schaut, den Kopf schüttelnd über so schwindlige Höhe. Die Bilder der Donau, des Stephansturms und des fernen Alpengebirgs zusammen­ gedrängt und mit einem leisen katholischen Weihrauchduft über­ zogen, und man hat eines von Wien, und steht nun vollends die reizende Landschaft lebendig vor uns, so werden wohl auch Saiten rege, die sonst nimmer in uns angeklungen haben würden. Bei der Symphonie von Schubert, dem hellen, blühenden, romantischen Leben darin, taucht mir heute die Stadt deutlicher als je wieder auf, wird es mir wieder recht klar, wie gerade in dieser Umgebung solche

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Werke geboren werden können. Ich will nicht versuchen, der Sym­ phonie eine Folie zu geben, die verschiedenen Lebensalter wählen zu verschieden in ihren Text- und Bilderunterlagen, und der achtzehn­ jährige Jüngling hört oft eine Weltbegebenheit aus einer Musik heraus, wo der Mann nur ein Landesereignis sieht, während der Musiker weder an das eine noch an das andere gedacht hat, und eben nur seine beste Musik gab, die er auf dem Herzen hatte. Aber daß die Außenwelt, wie sie heute strahlt, morgen dunkelt, oft hinein­ greift in das Innere des Dichters und Musikers, das wolle man nur auch glauben, und daß in dieser Symphonie mehr als bloßer schöner Gesang, mehr als bloßes Leid und Freud, wie es die Musik schon hundertfältig ausgesprochen, verborgen liegt, ja daß sie uns in eine Region führt, wo wir vorher gewesen zu sein uns nirgends erinnern können, dies zuzugeben, höre man solche Symphonie. Hier ist, außer meisterlicher musikalischer Technik der Komposition, noch Leben in allen Fasern, Kolorit bis in die feinste Abstufung, Bedeutung überall, schärfster Ausdruck des einzelne», und über das Ganze endlich eine Romantik ausgegoffen, wie man sie schon anderswoher an Franz Schubert kennt. Und diese himmlische Länge der Symphonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, der auch niemals endigen kann und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen. Wie erlabt dies, dies Gefühl von Reichtum überall, während man bei anderen immer das Ende fürchten muß und so oft betrübt wird, getäuscht zu werden. Es wäre unbegreiflich, wo auf einmal Schubert diese spielende, glänzende Meisterschaft, mit dem Orchester umzugehen, hergenommen hätte, wüßte man eben nicht, daß der Symphonie sechs andere voraus­ gegangen waren, und daß er sie in reifster Manneskraft schrieb. Ein außerordentliches Talent muß es immer genannt werden, daß er, der so wenig von seinen Jnstrumentalwerken bei seinen Lebzeiten gehört, zu solcher eigentümlichen Behandlung der Instrumente, wie der Masse des Orchesters gelangte, die oft wie Menschenstimmen und Chor durcheinander sprechen. Diese Ähnlichkeit mit dem Stimmorgan habe ich, außer in vielen Beethovenschen, nirgends so täuschend und überraschend angetroffen; es ist das Umgekehrte der Meyerbeerschen Behandlung der Singstimme. Die völlige Unabhängigkeit, in der die Symphonie zu denen Beethovens steht, ist ein anderes Zeichen ihres männlichen Ursprungs. Hier sehe man, wie richtig und weise Schuberts Genius sich offenbart. Die grotesken Formen, die kühnen Verhältnisse nachzuahmen, wie wir sie in Beethovens spätern Werken

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antreffen, vermeidet er im Bewußtsein seiner bescheideneren Kräfte; er gibt uns ein Werk in anmutvollster Form und trotzdem in neuver­ schlungener Weise, nirgends zu weit vom Mittelpunkt wegführend, immer wieder zu ihm zurückkehrend. So muß "es jedem erscheinen, der die Symphonie sich öfters betrachtet. Im Anfänge wohl wird das Glänzende, Neue der Instrumentation, die Weite und Breite der Form, der reizende Wechsel des Gefühllebens, die ganze neue Welt, in die wir versetzt werden, den und jenen verwirren, wie ja jeder erste Anblick von Ungewohntem; aber auch dann bleibt noch immer das holde Gefühl etwa wie nach einem vorübergegangenen Märchenund Zauberspiel; man fühlt überall, der Komponist war seiner Ge­ schichte Meister, und der Zusammenhang wird dir mit der Zeit wohl auch klar werden. Diesen Eindruck der Sicherheit gibt gleich die prunkhaft romantische Einleitung, obwohl hier noch alles geheimnisvoll verhüllt scheint. Gänzlich neu ist auch der Übergang von da in das Allegro; das Tempo scheint sich gar nicht zu ändern, wir sind angelandet, wissen nicht wie. Die einzelnen Sätze zu zergliedern, bringt weder uns noch andern Freude; man müßte die ganze Symphonie abschreiben, vom novellistischen Charakter, der sie durchweht, einen Begriff zu geben. Nur vom zweiten Satze, der mit so gar rührenden Stimmen zu uns spricht, mag ich nicht ohne ein Wort scheiden. In ihm findet sich auch eine Stelle, da wo ein Horn wie aus der Ferne ruft, das scheint mir aus anderer Sphäre herabgekommen zu sein. Hier lauscht auch alles, als ob ein himmlischer Gast im Orchester herumschliche. Die Symphonie hat denn unter uns gewirkt, wie nach der Beethovenschen keine noch. Künstler und Kunstfreunde vereinigten sich zu ihrem Preise, und vom Meister, der sie auf das sorgfältigste einstudiert, daß es prächtig zu vernehmen war, hörte ich einige Worte sprechen, die ich Schuberten hätte bringen mögen, als vielleicht höchste Freudenbotschaft für ihn. Jahre werden vielleicht hingehen, ehe sie sich in Deutschland heimisch gemacht hat; daß sie vergessen, über­ sehen werde, ist kein Bangen da; sie trägt den ewigen Jugendkeim in sich. So hat denn mein Gräberbesuch, der mich an einen Verwandten des Geschiedenen erinnerte, mir einen zweiten Lohn gebracht. Den ersten erhielt ich schon an jenem Tage selbst; ich fand auf Beethovens Grab — eine Stahlfeder, die ich mir teuer aufbewahrt. Rur bei fest­ licher Gelegenheit, wie heute, nehm' ich sie in Brauch: mög' ihr An­ genehmes entflossen sein. —

Carl Maria von Weber. Von Philipp Spitta.

In keinem Lande hat die Verschiedenartigkeit der Dolksstämme den Charakter der Musiker und ihrer Werke stärker beeinflußt als in Deutschland. Die Sondereigentümlichkeiten haben sich zuweilen zu einer Schärfe ausgebildet, die dem unmittelbaren allgemeinen Verständnis geradezu zu wehren schien. Ein deutscher Künstler, der sich diesem allgemeinen Gesetze in keiner Beziehung unterworfen zeigt, ist folglich schon deshalb eine merkwürdige Erscheinung. Carl Maria von Weber ist gleichsam die verkörperte Verschmelzung der Deutschen von Süd und Nord, von Ost und West. Seiner Familie nach ein Oberösterreicher, ist er doch in Holstein geboren und ein Kind gewesen. Er hat als Kunstjünger zu den Füßen Michael und Joseph Haydns gesessen und in der Leitung der deutschen Oper zu Prag zum ersten Male seine volle Genialität als Dirigent bekundet. Württemberg und die Pfalz sahen ihn als großen Virtuosen, Klavierund Liederkomponisien seine Kraft entfalten. Aber unter norddeutschem Einfluß entstanden die Lieder aus „Leyer und Schwert", welche zuerst seinen Namen überall dahin trugen, wo die deutsche Zunge klang. Die Wiege seines Weltruhms endlich wurde Berlin. Doch der Jubel jenes denkwürdigen 18. Juni des Jahres 1821, als im Schauspielhause zu Berlin zum ersten Male die Töne des „Frei­ schütz" erklangen, scholl in kurzer Frist von den Ufern der Donau, wie von überall her aus den Ländern deutscher Sprache mit gleicher Ge­ walt zurück. Ihm gegenüber gab es keinen Unterschied der Stämme; er war, wenn je ein großer Musiker dies gewesen ist, ein Alldeutscher. Ein Historiker späterer Zeit wird vielleicht einmal auf den Ge­ danken kommen, die deutsche Musik des neunzehnten Jahrhunderts vom Standpunkte der Weberschen Kunst aus zu betrachten. Der Gedanke würde kein unglücklicher sein. Ohne Zweifel hat kein Künstler die moderne Musik kräftiger und auch nachhaltiger beeinflußt als Weber: noch die unmittelbare Gegenwart spürt auf dem Gebiete der Oper, in gewissen Zweigen des deutschen Liedes, in der Männer-

gesangskomposition, in der Technik des Klavierspiels, und vor allem in der Orchestrationskunst den engen Zusammenhang mit ihm. Unberührt von seinem Geiste ist kaum eine der Kunstgattungen geblieben, welche in unserem Jahrhundert mit Erfolg gepflegt wor­ den find. Es hat wohl keinen Künstler gegeben, dessen Tonsprache über­ zeugender, dessen Wirkung auf die Welt einleuchtender gewesen wäre. Aber dieser Künstler, von dem es uns scheinen will, er sei im Besitze eines Zauberwortes gewesen, auf das die Welt nur gewartet habe, um in Hellen Sang und Klang airszubrechen, er läßt sich auf rein musikhistorischem Wege schwer begreifen. Daß Mozart auf Haydn, Beethoven auf Mozart und Haydn gefolgt ist, verstehen wir ohne weiteres, hier haben wir das Gefühl einer Notwendigkeit. Weber steht außerhalb des Ringes. Er ist ganz anders geartet als jene großen Meister, anders auch als Schubert, anders als Spohr. Man darf behaupten, daß am Anfang unseres Jahrhunderts wohl kaum jemand eine Künstlererscheinung, wie er sie ist, geahnt haben wird. Und dennoch bewies das Jauchzen, mit welchem das deutsche Volk seinen Sang belohnte, daß er ein solcher war, der kommen mußte. Keine kurzlebige Tagesgröße, sondern ein Mann, der das Schaffen seines Jahrhunderts bestimmen half. Ein Geist voll neuer Ideen, die er in Werken ursprünglichster Art verkörperte. Und er teilte nicht das Schicksal neuernder Talente, auf deren Schultern andere steigen, die sie vergessen machen. Monteverdis Opern, Willaerts Madrigale mußten den Kompositionen der Nachfolger weichen. Webers Opern blühen heute wie vor sechzig Jahren, und völlig außer Kurs gesetzt ist er kaum nach einer Richtung seines vielseitigen Schaffens hin. Ich darf zur Erklärung dieser Erscheinung mit einem Bilde beginnen. In einem von hohen Berglehnen eingeschloffenen Tale zieht eine Schar von Wallern dahin. Meist sind es ernste, würdige Gestalten. Sie sind schon lange auf der Fahrt; man merkt es ihnen an: sie fühlen sich als eine Gemeinde. Der Charakter des Tales ist wechselnd: bald treten großartige Felsmassen bis an den Weg heran, bald führt der Pfad durch feierliche Waldesgründe, bald wieder dachen sich die Berge in anmutige Wiesen ab, ohne doch unterbrochen zu werden oder sich zu verlaufen. Aber unter de» Wanderern ist einer, der hat sich herzugefunden, man weiß nicht recht woher, ein kecker, jugendlicher Gesell. Den duldet es nicht länger bei den andern. Er verliert sich an der Bergeshalde, folgt verworrenen und ver­ wachsenen Pfaden. Er erreicht den Bergesrücken: da sieht er weit

hinaus in ein sonnenbeglänztes, gesegnetes Land. Jubelnd ruft er die andern, sie drängen nach aus ihrer Einsamkeit und steigen nieder in die freie weite Welt, dort erkennen sie langverlaffene Brüder wieder, mit denen sie nun vereint wirken und schaffen. Die deutschen Musiker des 18. Jahrhunderts lebten ihrer Kunst in eigner Weise. Sie bildeten eine Gemeinde für sich, auch die höchsten und genialsten rechneten sich zu dieser. Was sie von der übrigen Welt abschloß — ich möchte es nicht die Zunft nennen, dieses Wort würde nicht ganz paffen, aber der Stand war es. Aus dem Standesbewußtsein heraus betrachteten sie die Welt, und willig sahen sie sich durch ihren Stand beschränkt. Ich sage nicht, daß ihnen gefehlt hätte, was man allgemeine Bildung nennt: war dies wirklich hier und da der Fall, so hing es allerdings mit der Standesabgeschlossenheit zu­ sammen, aber eine notwendige Folge derselben war es nicht. Es wäre lächerlich, wollte man bestreiten, daß ein Gluck, ein Mozart eine große Vielseitigkeit der Kenntnisse und Interessen an den Tag ge­ legt haben. Aber alles, was außer der Musik den Geist bewegen und nähren, die Phantasie mit schönen und edlen Vorstellungen er­ füllen kann, erschien ihnen mehr nur als Mittel, das Leben äußerlich angenehmer zu gestalten. Sie bedurften dessen nicht, wenn sie eben nur als Musiker und an dem Platze ihre Pflicht taten, welcher ihnen in der Hierarchie der damaligen Gesellschaft angewiesen war. Dieser Platz war kein hoher. Der Abgeschlossenheit in untergeordneter Stellung, welche aber ge­ wisser Sicherheiten und Vorteile wegen nicht ungern ertragen wurde, hat Weber durch sein Beispiel ein Ende gemacht. Er hat etwas ge­ stürzt, was freilich in der neuen Zeit überhaupt nicht mehr völlig zu halten war. Er war auch nicht der einzige, den es in der herkömm­ lichen Standesenge der Musiker unerträglich dünkte. In Nord­ deutschland strebte Joh. Friedr. Reichardt ähnliches an, in Oester­ reich Beethoven; aber jenem fehlte die schöpferische Genialität, diesem die geistige Beweglichkeit und die Gunst der Lebensstellung. Weber nahm schon durch seine freiherrliche Geburt einen Platz auf den Höhen der Gesellschaft ein. Er zwang durch sein Beispiel die Welt, sich daran zu gewöhnen, daß auch eine berufsmäßige Ausübung der Kunst einem Hochgeborenen wohl anstehe. Seine umfassende Bildung war nicht äußerlich angelernt, sondern innerlich erworben; sie verband sich mit seinem Musikertum zu einem unlöslichen Ganzen. Nicht gering war sein schriftstellerisches und dichterisches Talent, für bildende Künste und mechanische Fertigkeiten besaß er Interesse und

Verständnis. Teils angeboren, teils durch seinen Verkehr mit Menschen jeden Ranges praktisch erworben, waren seine große Gewandtheit und feinen gesellschaftlichen Forme». Seine Erziehung zwar war keine regelmäßige gewesen. Aber das ruhelose-Wander» mit einem abenteuernden Vater hatte ihm von Kind auf eine Menge der ver­ schiedensten Eindrücke zugeführt, die sein lebhafter Geist ergriff und sein kluger Kopf sich nutzbar machte. Mit zwanzig Jahren hatte er mehr Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, als mancher Künstler der alten Zeit bis an seinen Tod zu erwerben vermocht hätte. Eine Natur, die allen Eindrücken weit offen stand, die sich mit Enthusiasmus hingab an die Schönheit der Welt. Und welch einer Welt! Wie aus zweihundertjährigem Schlummer war in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts das geistige Leben Deutschlands neugestärkt erwacht. Rasch entfaltete es sich zu einer Kraft und einem Reichtum, wie sie in unserer Geschichte nie zuvor dagewesen sind. Ließen die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse jeden Stützpunkt für einen neuen Aufschwung vermissen, so übernahm nun die Poesie die Führerrolle in der mächtigen Be­ wegung. Sie offenbarte sich in den höchste» Kunstwerken, welche die deutsche Literatur kennt, sie wies aber zugleich der Menschheit ihre höchsten zu erstrebenden Ziele. Ihr nach zog in glänzender Entwickelung die Wissenschaft der Geschichts- und Altertumsforschung, der Theo­ logie und Philosophie. Das deutsche Mittelalter mit seinen Ge­ sängen und Gestalten wurde wieder lebendig. Eine neue deutsche bildende Kunst erwuchs. Der Deutsche vermochte sich wieder seiner Nation zu freuen. Minder gewaltsam als jenseits des Rheines und langsamer bahnte sich auch bei ihm eine neue Ordnung der Gesellschaft an, als deren Grundlagen Humanität und Freiheit galten. Dieser Geistesftühling ohnegleichen gab de« Deutschen auch die Spann­ kraft, das furchtbare Schicksal der napoleonischen Herrschaft zu er­ tragen. Und als das Joch der Fremdherrschaft abgeschüttelt, als nach den siegreichen Schlachten von Leipzig und Waterloo endlich auch wieder ein einmütiges Gefühl patriotischer Begeisterung erwacht war, da mußte es wohl auf Augenblicke ein jeder Hochherzige emp­ finden, daß in einer Zeit wie diese, es eine Lust sei zu leben. Diese Zeit war Webers Zeit. Wenn ich aber sagte, das geistige Leben -er Deutschen habe zweihundert Jahre geschlummert, so sollte von diesem Urteil die Musik ausgenommen sein. Sie und sie allein war gediehen in der Periode äußerster Ermattung und Armseligkeit; alle inneren Lebenskräfte hatten sich gleichsam in die Musik zurück56

gezogen, die großen Tonmeister des 17. und 18. Jahrhunderts waren die einsamen Zeugen der Unverwüstlichkeit des deutschen Volks. Das Leben konnte ihnen außer der Religion kaum etwas ihren Geist Befruchtendes bieten. Sie mußten sich selbst genug sein und waren es. Die Schätze der Erfahrungen, Kenntnisse und Anschauungen stetig mehrend und läuternd, dergestalt Ererbtes zu Ererbtem häufend, lassen sie sich vergleiche» mit einer altbegüterten Aristokratie. Konserva­ tiv wie eine solche lehnten sie die innerlichen Berührungen mit dem Leben auch dann noch ab, als es dort schon anfing, ganz anders auszu­ sehen. Wer merkt es der Musik Haydns und Mozarts an, daß sie Zeit­ genossen von Klopstock und Herder, von Goethe und Schiller waren? überall der dichteste Zusammenhang mit der Musik der Vorgänger und Mitlebenden; aber auch fast nur mit dieser. Daß jenseits der Berge ihres Tales die Sonne aufgegangen war über dem weiten Lande, das merkten sie nicht, oder es kümmerte sie nicht. Nun erwäge man, welch eine Wirkung es tun mußte, als endlich jemand kam, der zu vereinigen suchte, was doch im tiefsten Grunde zusammengehörte. Ein genialer Musiker, dessen Geist aber tausend­ fältig beftuchtet war von allem, was die letzten fünfzig Jahre früh­ lingsfroh hatten keimen und wachsen sehen, und dem ein Gott ge­ geben hatte zu sagen, wie ihm zu Mute war. Spohr, Webers kon­ servativer Zeitgenosse, sprach etwas verächtlich über dessen Talent, für „den großen Haufen" zu schreiben. Wer aber war dieser große Haufen? Die deutschen Studenten, die Männer, die für Vaterland und Herd gelitten und gekämpft hatten, und die nun gegen Fremdländisches mit Waffen des Geistes auf der Wacht standen, alle jene begeisterten Seelen, die in vaterländischem Ruhm und Größe glücklich waren. Neben den Gebildeten — das verbrauchte Wort hatte damals noch seine frische Bedeutung — fand freilich auch der einfache Mann in Webers Weisen sein eigenstes Empfinden wieder. Jene schöne, fast ein halbes Jahrtausend zurückliegende Zeit schien wiederzukehren, wo im deutschen Volkslieder diejenigen Empfindungen Form ge­ wannen, in welchen die geschiedenen Stände sich als Volk zusammen­ fanden und verstanden. Nimmt Weber solchergestalt unter den deutsche» Musikern seiner Zeit eine vereinzelte Stellung ein, so gehört nun gerade er, wie er leibt und lebt, in das Kulturbild der zehner und zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts als ein wesentlicher Zug, als ein Ton, durch welchen andere erst sich zur vollen Harmonie ergänzen. Wenn der Zustand ein romantischer ist, in welchem neue Kulturelemente

in eine lang bestehende Ordnung der Dinge eindringen, dieselbe durch­ setzen und endlich auflösen, so war jene gesamte Periode von der Mitte des 18. Jahrhunderts an eine romantische. Auch Weber war in diesem Sinne Romantiker durch und durch. Der Widerspruch, den ein solcher Zustand bedingt, lag in ihm, ebenso wie die stete Unruhe, welche diesen Widerspruch begleitet. Aber derselbe mußte notwendigerweise bei einem Musiker anderer Art sein als bei einem Dichter oder Bildner. Goethe hat gesagt, um Großes in der Welt zu schaffen, müsse man eine große Erbschaft tun. Wenn irgendwer, so bekam zu Webers Zeit ein Musiker etwas zu erben. Hätte Weber die Erbschaft nicht anzutreten gehabt, so wäre bei all seinem geistigen Reichtum das Ergebnis seines Wirkens doch ein anderes und viel geringeres gewesen. Aber obgleich er abseits von den anderen stand, obgleich er als Jüngling den neuerungs- und originalitätssüchtigen, anregenden, aber unechten und unproduktiven Abt Vogler hoch ver­ ehrte, so verleugnete er doch nicht im entferntesten die Kunst seiner großen Vorgänger und Zeitgenossen. Mozart und Cherubim blieben zeitlebens seine höchsten Ideale und Beethoven lernte er mehr und mehr verehren und bewundern. So konnte er mit dem Strome der norddeutschen Geistesbewegung ziehen, und dennoch auch im Süden aller Herzen beglücken. Er war ein Sänger der Freiheit und des Volkes, der Millionen hingerissen hat durch den Schwung und das reine Pathos seiner Melodien. Und doch konnte ihn wieder die alte Ordnung der Dinge anheimeln, und wenn er während seiner Dres­ dener Zeit als verkappter Demagoge und Revolutionär argwöhnisch beobachtet wurde, so verkannte man vollständig seinen adligen und deutschen Fürsten aufrichtig ergebenen Sinn. Bekanntlich hat sich die deutsche Dichtung jener Zeit wieder in eine klassische und romantische Richtung gespalten. Letztere könnte man also mit Rücksicht auf den gesamten Charakter der Periode die potenzierte Romantik nennen. Auch zu ihr stand Weber in einem Verwandtschaftsverhältnis, doch ist dasselbe anderer Art, als es auf den ersten Blick als das natürliche angenommen werden könnte. Nicht sowohl die Dichtungen der Romantiker waren es, denen er sich hingegeben, mit denen er seine Töne zu vermählen gesucht hätte. Wohl aber sympathisierte er mit der Art, wie sie den Kreis allgemeiner geistiger Anschauungen, wie sie den Begriff von der Bestimmung der Kunst zu erweitern suchten. Er tat dies nicht als Gefolgsmann der Romantiker, sondern durch die eigenste Natur bewogen. Wenn nach Novalis' Ausspruch diejenige Kunst romantisch ist, welche auf eine

angenehme Art befremdet, so gibt es keinen Musiker, der diese Tendenz von frühester Jugend unzweideutiger gezeigt hätte als Weber. Die engere Verbindung der Kunst mit dem Leben, welche im Gegensatz zum Klassizismus die Romantiker anstrebten, wer hätte sie voll­ kommener verwirklicht als er? Er teilte ihr Interesse für Kultur und Kunst fremder Völker und Zeiten: groß war die Zahl der Opernsioffe aus dem spanischen Leben, welche ihn beschäftigten. Pizarro, Don Juan d'Austria, Columbus, Cid, die Drei Pintos sind teils un­ angefangen, teils unvollendet geblieben. Aber in der „Preciosa" hat er ein Bild spanischen Charakters gemalt, farbenreicher und reizvoller als je einem romantischen Dichter gelungen ist, und jeder weiß, wie er das Wesen des französischen Mittelalters und des wunderreichen Orients in den Tönen der „Euryanthe" und des „Oberon" zurück­ gespiegelt hat. Wenn Herder zuerst erkannt und die Romantiker den Gedanken weiter verfolgt hatten, daß hinter allen Kunstwerken der Geist der Völker stehe, welcher die letzte unterscheidende Eigentümlichkeit der­ selben bestimme, so ist in Webers Opern dieser Gedanke zur Tat geworden, indem er einer jeden ihr eignes Lokalkolorit gab. Die Lieder und Sagen des Volkes als unscheinbare Gefäße eines köstlichen Inhalts erkennen, sie sammeln und erklären, auch an dieser großen Aufgabe haben die Romantiker hochverdienstvoll mitgearbeitet. Weber aber war der erste große deutsche Musiker, den es nicht zu gering bäuchte, jene treuherzigen, schlichten, oft unbehilflichen Volkslieder­ texte, wie sie des „Knaben Wunderhorn", die Sammlung Büschings und von der Hagens und andere darboten, und die gesungen werden müssen, sollen sie leben, durch seine Töne zu neuem Dasein zu er­ wecken. Eine Lieblingsfigur der romantischen Dichter war der fahrende Sänger und Spielmann, eine Figur, die in der Volksanschauung zwar nie ihre Poesie ganz verloren hatte, die aber in Geringschätzung fallen mußte, wenn, wie im 17. und 18. Jahrhundert, das Volks­ leben selbst gering geschätzt wurde. Wenn sie nun in den Dichtungen der Brentano und Eichendorff wieder auflebte, so war Weber es, der sie durch seine Person gleichsam ins wirkliche Leben zurückführte. Daß bedeutende ausübende Musiker umherreisten, um sich hören zu lassen, war ja nichts Ungewöhnliches mehr. Aber man vergleiche z. B. die Konzertreisen Spohrs, wie er selbst sie uns schildert, mit dem, was wir über Weber wissen. Dort noch ganz der Musiker der alten Zeit, der in herkömmlichen Formen einem Hohen Adel und ver­ ehrungswürdigen Publikum aufwartet, wenn schon er in berechtigtem

Stolz seiner Persönlichkeit nicht zu nahe treten läßt. Hier dagegen ein bezauberndes Bild lebendigster Frische und launiger Ungebundenheit. Die eigentliche Zeit von Webers fahrendem Sängertum ist 1810—1813. Rastlos von Ort zu Ort ziehend, entzückt er durch seine feurigen, süßen und schalkischen Weisen jedes offne Herz, imponiert durch ihre kecke Regellosigkeit der Jugend, macht die Alten verdrießlich, regt alle auf und verschwindet schnell wieder aus ihrer Mitte. In seiner Person Adel des Gebarens und der Gesinnung mit lässiger Leicht­ lebigkeit verführerisch verbindend, in seinen Stimmungen schwankend zwischen ausgelassener Lust und tiefer Schwermut, gewährt er ein Bild, das ganz von romantischer Poesie umflossen ist und in der deutschen Kunstgeschichte einzig dasteht. Man denkt bei Weber ge­ wöhnlich nur an dessen letzte Lebensperiode, die mit dem „Freischütz" beginnt und dem „Oberon" abschließt. Das ist die Zeit seiner großen Werke. Aber durch die Gesamtheit seiner Persönlichkeit mit ihren vielfältigen Gaben hat er schon in der ersten Hälfte seines Künstler­ lebens, obgleich nicht in so weiten Kreisen, so doch gewiß nicht weniger intensiv gewirkt. Die neubelebte Freude an der alten Zeit, an ihrer Geschichte, ihrem Volksleben und Volksgesang gab jenem Abschnitte deutschen Kulturlebens sein Gepräge nicht nur hinsichtlich der Wissen­ schaft und Kunst, sondern auch der individuellen und gesellschaft­ lichen Lebensformen. In bezug auf diese verkörpert Weber jenen Spielmann aus alter Zeit, der, wie Eichendorff sagt, ins Land hinaus zieht und seine Weisen singend von Haus zu Haus geht. Was er sang, wenn er — etwa nach einem Konzert, wo er eine auserlesene Gesellschaft durch sein prachtvolles Klavierspiel und seine Gabe der freien Phantasie hingerissen hatte — wenn er dann mit den Studenten Heidelbergs durch die nächtlichen Gassen zog, Serenaden zur Guitarre improvisierend, oder wenn er auf ihren Gelagen, tüchtig Bescheid tuend, in ihrer Mitte saß, oder wenn er in Darmstadt vor Soldaten und ihren Mädchen auf den Tisch sprang und Schelmen­ lieder hören ließ, oder wieder wenn er in Baden-Baden mit dem Kronprinzen von Bayern, dem späteren Könige Ludwig L, ganze Sommernächte hindurch die Zither im Arm umherschweifte, oder wenn er mit seinem Freunde Alexander von Dusch im Fenster des Stiftes Neuburg bei Heidelberg eine Frühlingsmondnacht verträumte — was er da sang, das hat zwar meistens wohl der Wind verweht, wie der Augenblick es gebar. Aber die Art dieser seiner Gesänge ist doch in vielen Mustern erhalten geblieben. Es sind jene einfachen Strophen­ lieder, wie er sie zahlreich, namentlich mit Benutzung von Volks-

liedertexten gemacht hat, Lieder, teils zart und innig, teils unschuldig­ heiter, teils voll schelmischen Wesens und naturwüchsiger Derbheit. Zur Begleitung dient nur die Guitarre, das heute fast verachtete und doch für die einfache Begleitung des wirklichen Liedes fast un­ ersetzliche Instrument. Auch Webers Lieder hat man heute beiseite geschoben, aber sie gehören dennoch zu den Schätzen der deutschen Musik, welche dauern. Mit den Dichtungen aber der romantischen Schule hat Weber, wie gesagt, sich wenig zu schaffen gemacht. Sein Verhältnis ju der Poesie der ganzen Zeit, auch zu derjenigen unserer größten Dichter, ist überhaupt ein eigentümliches. Wie tief haben Schubert und Beethoven aus dem Born der Lyrik Goethes geschöpft! Auch Mozart hat wenigstens das eine Lied vom „Veilchen auf der Wiese" kompo­ niert. Unter Webers Liedern findet sich nicht ein einziges Gedicht von Goethe. Dies könnte einen persönlichen Grund haben: Goethe war durch schiefe Berichte Zelters gegen Weber voreingenommen und sein Benehmen gegen ihn konnte diesem nicht gefallen. Aber auch andere große Lyriker scheinen kaum für ihn vorhanden gewesen zu sein. Es ist, als ob — von den Volksliedern abgesehen — die meisten der übrigen Texte ihm durch den Zufall in die Hand gespielt wären. Von Tieck, einem Haupte der romantischen Dichterschule, mit dem Weber auch persönlich befreundet war, und den er als genialen Vor­ leser hoch verehrte, ist nur ein einziges Lied vorhanden. Spärlich vertreten sind Matthisson, Bürger, Voß, Schenkendorf. Überwiegend sind die Gubitz, Kannegießer, Mächler und ähnliche. Eichendorff, an den Weber in so vielen Zügen erinnert, fehlt ebenfalls ganz; und doch hatte dieser schon 1815 in dem Roman „Ahnung und Gegenwart" einen wahren Blumengarten seiner herrlichen Lieder geöffnet. Selbst Wilhelm Müller, dessen Namen mit demjenigen Schuberts so eng verwachsen ist, und der Weber einen Band seiner Gedichte öffentlich widmete, blieb unbeachtet. Nur aus Theodor Körners „Leyer und Schwert" entnahm er zehn Gedichte. Diese Er­ güsse einer hochherzigen, reinen, von Schillers Geiste getränkten Jünglingsseele waren freilich Webers innerstem Empfinden tief verwandt. Im allgemeinen aber darf man wohl sagen, daß er selbst zu sehr Poet war, um das Bedürfnis zu fühlen, sich von anderen Dichtern zahlreichere Anregungen zu holen. Von der romantischen Dichter­ schule mußte ihn auch ein anderer Umstand trennen. Eine der schwäch­ sten Seite derselben war das Dramatische. Weber aber war Dramatiker

vom Wirbel bis zur Sohle. In dieser Eigenschaft konnten ihm die Schlegel, Tieck, Arnim, Brentano und ihre Gefolgschaft nichts nützen. Die Verfasserin der „Euryanthe" darf man nicht als Gegenbeweis anführen. Dieses Gedicht, welches besser ist als sein Ruf, hat Weber größeren Teiles selbst gemacht. Weber ist der Schöpfer der deutschen romantischen Oper. Was dieser Begriff bedeutet, braucht nicht gesagt zu werden; ein jeder weiß es, wenn auch vielleicht nicht ein jeder ihn erklären kann. Sieht man genau ju, so bemerkt man auch, daß der Begriff musikalischer Romantik überhaupt zumeist von Weber abstrahiert ist. Auch Beethoven und Schubert sind voll von ihr; aber teils geht ihr Wesen nicht dermaßen in diesem Begriffe auf, teils hat es ihnen Weber mit den siegreichen Wirkungen seiner Dramatik zuvorgetan. Ein für das geschichtliche Verständnis wichtiger Gesichtspunkt ist es nun, daß die romantische Oper ohne die Mitwirkung der romantischen Dichter zustande gekommen ist. Der Name war schon vor Weber nicht ungeläufig. Aber er be­ deutete etwas anderes. Die Begriffe romantisch und romanhaft bezeichneten nahezu dasselbe, und gingen auf die Fabel, welche der gemeinten Oper zugrunde lag. Eine gewisse Art phantastischer und abenteuerlicher Erzählungen bildete sich in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters bei den romanischen Völkern aus. Vom vierzehnten Jahrhundert an kamen die Romane der Spanier und Franzosen »ach Deutschland. Einen neuen Zufluß erhielt der fabulierende Strom durch die orientalischen Märchen, welche 1704 zuerst durch Galland ins Französische, von da schon 1730 ins Deutsche übertragen wurden. Die erste deutsche romantische Oper in diesem Sinne ist 1766 ge­ schrieben; es ist Lisuart und Dariolette von Schiebeler, mit Musik von Joh. Adam Hiller. Auch bezeichnet sie ein Schriftsteller vom Jahre 1775 ausdrücklich so. Mittelalterliche Rittergeschichten, Sagen und Märchen galten als angenehmer Zeitvertreib und nichts weiter. Auch bedeutende Schriftsteller ließen sich wohl zu solchem Werk herbei, wie Wieland und Musäus, doch nicht ohne ein ironisches Lächeln. Für die Oper waren solche Stoffe aus zwei Gründen beliebt. Der dabei mögliche Ausstattungsprunk machte sie auch stolzen Hofbühnen als Festopern annehmbar. Und durch nichts ließ sich die naive Schaulust eines harmlosen Publikums besser befriedigen. „Rübezahl" von Schuster aus dem Jahre 1789 und „Oberon" von Vranitzky, der ein Jahr später entstand, sind solche Opern. Die Musik derselben ist von ahnungs-

loser Heiterkeit und Gemütlichkeit. Ernster ist der ebenfalls 1790 erschienene, wertvollere „Oberon" des Nordländers Kunzen, den er für Kopenhagen schrieb. Auch in Mozarts „Zauberflöte" wird ver­ sucht, freilich, was de» Dichter anbetrifft, in ungeschickter und un­ organischer Weise, dem Märchen eine ernste Folie unterzulegen. Aber eine durchschlagende Wandlung konnte hier erst eintreten auf Grund des Geistes der neuen Zeit. Wiederum war es Herder, der das große, lösende Wort sprach, Volkssagen und Märchen seien Resultate der sinnlichen Anschauung der Kräfte und Triebe des Volks­ glaubens, „wo man träumt, weil man nicht weiß, glaubt, weil man nicht sieht, und mit der ganzen, unzerteilten und ungebildeten Seele wirket." Erst einer solchen Anschauung war es möglich. Sage und Märchen nicht mehr als Spiel der müßigen Phantasie, sondern ernsthaft zu nehmen als verkörperte Symbole innerster Lebens­ potenzen eines Volks. Dies hat Weber mit vollster Hingabe getan, und er brachte zu seiner Aufgabe, als einzigster seiner Zeit, die Kraft eines genialen musikalischen Dramatikers mit. Und so erst, durch Ver­ tiefung des Gefühls für die Bedeutung der Sage und der Geschichte, entstand neben und zu dem romantischen Operntexte die wirklich romantische Opernmusik. Geschichte und Sage sind ihrer Natur nach episch. Und wenn das symbolische Wesen der Sage bei ihrer künstlerischen Behandlung durchgefühlt, wenn der Zeit und dem Volke, dem die Handlung an­ gehört, ein unterscheidendes individuelles Gesicht gegeben werden soll, dann wandeln sich leicht die einzelnen Individuen zu Typen um, in denen sich gewisse allgemeine Lebensmächte verkörpern, und der Nachdruck fällt weniger auf die Handlungen des einzelnen als auf die Darstellung der Zustände und die Stimmung der Massen. Dies sind die Voraussetzungen, unter denen man Webers Opern wird beurteilen müssen. Was dramatischer Konflikt heißt, ist in ihnen entweder überhaupt nicht vorhanden, wie im „Oberon", oder er ist wenig energisch, wie im „Freischütz", oder alltäglich, wie in der „Silvana". Aber hierin liegt kein Fehler, wie es ebensowenig viel verschlägt, daß in der „Euryanthe" der Konflikt in einer Weise über­ spannt ist, die unter anderen Verhältnissen ins Lächerliche führen würde. Es hat mich immer gewundert, wie schnell, von der Zeit des alten Zelter her, der den Text zum „Freischütz" ein „kolossales Nichts" nannte, bis auf heute so mancher über die Dichtungen der Opern Webers abgesprochen hat. Die Frage, ob denn Weber selbst von solchen Dingen nicht auch ein wenig verstanden habe, ist dabei.

glaub' ich, nicht ernsthaft genug gestellt worden. Er, der das derbe Wort gesprochen hat: „Glaubt ihr denn, daß ein ordentlicher Komponist sich ein Opernbuch in die Hand stecken laßt, wie ein Schuljunge den Apfel?", der das Theater kannte, wie irgend einer, und gleichsam zwischen den Coulissen aufgewachsen war! Seine Personen haben nicht die realistische Lebensfülle, wie diejenigen in Mozarts „Figaro" und „Don Giovanni". Aber der Hintergrund, den er öffnet, ist reicher. Schöne bewegte Bilder ziehen vorüber, ein jedes in seine besondere, leuchtende Farbe getaucht. Die Personen erscheinen fast mehr von den Zuständen und allgemeinen Stimmungen getragen, als daß sie dieselben bewirkten. Dies eben ist episch. Das Geheimnis des Genius aber ist es, daß Weber trotz dieser Art der Anschauung dennoch überall die volle dramatische Lebendigkeit herrschen läßt. Denn man kann, auf diesem Wege fortschreitend, allerdings dahin gelangen, daß die Individuen an sich überhaupt nichts mehr bedeuten, nicht mehr Typen, sondern Schemen sind, und alles sich in Schilderung und Stimmung auflöst. Das ist aber von Weber nie geschehen. Ich darf es wiederholen: ein Hauptmerkmal von Webers Natur scheint mir jene begeisterte Hingabe an die Welt zu sein, welche alle Sinne öffnet, um die Eindrücke des Lebens aufzunehmen. Aus Bruch­ stücken eines Romans, den er hinterlassen hat, und aus Mitteilungen seines Sohnes wissen wir, wie merkwürdig die Erscheinungen der Außenwelt auch auf seine musikalische Phantasie wirkten. Dieselben setzten sich unmittelbar in Tonbilder um. Eine Gegend, die er durch­ fuhr, spielte sich in seinem Innern wie ein Musikstück ab; vermittelst des Tonbildes, das in seinem Gedächtnis haftete, mußte und konnte er sich oftmals erst wieder auf das Gesehene besinnen. Ich glaube, es hängt mit dieser Begabung zusammen, wenn Webers Tongestalten immer mit merkwürdigster Prägnanz die Bewegungen und den sinnlichen Eindruck der Erscheinungen widerspiegeln, wie sie entweder auf der Bühne vor uns sichtbar sind, oder mittels der Worte des Gedichts innerlich vorgestellt werden. Äußerst selten ist diese Gabe musi­ kalischer Plastik bei den deutschen Komponisten. Mit Weber teilen sie von älteren Tonmeistern eigentlich nur noch Händel und Schütz, zwei übrigens von Weber grundverschiedene Naturen; hin und wieder tritt sie auch bei Mozart hervor. Ein Moment, wodurch Webers Lieder sich von denen Beethovens, Schuberts und Späterer unter­ scheiden, liegt hier. Selten genügt es ihm, nur die absolute Emp­ findung eines Gedichtes darzustellen. Um seine Phantasie anzuregen, denkt er sich lieber die Worte im Munde einer bestimmten Persönlich-

feit, oder stellt sich eine besondere Situation vor. Für ersteres mag das bekannte Lied „Unbefangenheit" als Beispiel dienen: ein Cha­ rakterbild von größter Schärfe und mit seiner schalkhaften Innigkeit etwas gänzlich Neues in der deutschen Musik. Eine Szene ist der berühmte „Reigen", von Voß gedichtet. Hier erleben wir eine voll­ ständige norddeutsche Bauernkirmeß: im Vordergründe die sich drehenden, jauchzenden Paare, im Hintergründe die fidelnden und blasenden — meist falsch blasenden — Dorfmusikanten. Solche Stücke sind auch in der musikalischen Form eigentlich keine Lieder mehr, sondern originelle Gebilde dramatischer Schilderung. Wir be­ sitzen deren von ihm eine bedeutende Anzahl, die man nicht ohne den größten Genuß studiert. Aber auch in der knappsten Liedform gelingt es ihm, einen stetig forttreibenden sichtbaren Vorgang einzu­ fangen. Bewunderungswürdig ist der Männerchor „Lützows Jagd". Hier sieht man die verwegenen Reiter aus dem Waldesdunkel hervor­ tauchen, heranbrausen, mit wildem Hurrah! vorüberstieben — und das alles in einem Tonbilde von einundzwanzig kurzen Takten. Viele seiner kleinen Lieder sind als Einlagen in Schauspiele komponiert, wo also die Rücksicht auf eine bestimmte Persönlichkeit und Situation unerläßlich war; und gerade sie gehören zu den reizvollsten. Für die Oper aber besaß Weber in dieser Unmittelbarkeit der musikalischen Wiedergabe sinnlicher Erscheinungen ein tzauptmittel zur dramatischen Charakterisierung. Es gibt keinen Komponisten, der mit solcher Energie den Hörer jedesmal in die Situation hinein­ zwänge, der mit so unfehlbarer Sicherheit auch die volle Grund­ stimmung, welche eine Person im Zuschauer erwecken soll, beim ersten Anfang zu treffen wüßte als er. Wenige kecke, scharfe Striche, und alles Nötige ist da. Und wie die Menschen und Dinge in der Wirklich­ keit sich scharf voneinander abheben, so auch in den Tonbildern, als welche sie aus Webers Phantasie reflektieren. Er besaß allerdings neben dieser Gabe noch eine andere: die einmal angenommene Miene kräftig festzuhalten. Der Grundton, in welchem eine Szene sowohl, wie eine Rolle, ja endlich eine ganze Oper verläuft, ist stets ein einheitlicher. Die Möglichkeit, Zeiten, Völker, Gegenden, Stände musikalisch zu charakterisieren, ist zuerst durch Weber ganz offenbar geworden. Darin, daß er solches anstrebte, zeigte er sich als modernen Menschen, dem Herders Ausspruch in Fleisch und Blut übergegangen war, daß jede einzelne Tat durch eine allgemeine Kraft bedingt sei und In ihr begriffen werden müsse. Ähnliches wollte vor und neben Weber

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sein Berliner Gegner Spontini, allein mit weniger reicher Phantasie; auch lag ihm mehr an der Darstellung großer geschichtlicher Momente und der hierj« nötigen Entfaltung der Massen, als an unterscheidender Charakterisierung der jedesmaligen Zeiten und Verhältnisse. Weber aber ist immer ein anderer: wenn er deutsches Volks- und Jägerleben nach dem Dreißigjährigen Kriege zu schildern hat, oder das franjösische Rittertum des Mittelalters, die Zauber des Orients, oder die Romantik Spaniens. Unerschöpflich ist er, neue charakterisierende Tonmittel zu finden; ein heutjutage sehr abgebrauchtes, die Benutzung natio­ naler Melodien, geht auf ihn zurück. Mag die Welt, welche in „Preciosa" und „Euryanthe" vor uns aufsteigt, auf Vorstellungen be­ ruhen, welche sich später als nur teilweise richtig erwiesen, was tut es? Im Kunstwerk leben diese Vorstellungen ihr selbständiges Leben, und werden sich behaupten, wie auch Schillers Dramen trotz ihrer historischen Unrichtigkeiten. Aber worin Weber Spontini so weit hinter sich läßt, daß von einer Vergleichung schon überhaupt nicht mehr gesprochen werden kann, das sind die Naturbilder seiner Opern. Die wiebererwachte Poesie hatte auch der Natur gleichsam ihre Sprache jurückgegebe», hatte ihr eine lebendige Seele eingehaucht, die mit der Lust und dem Leid der Menschenseele harmonisch zusammenklang, und hatte die ju phantastischen Gestalten verkörperten elementaren Naturmächte als solche wieder verstehen gelernt. Dieses Leben der Natur, das mit tausend geheimnisvollen Lauten dem verstehenden Ohre Unaus­ sprechliches juraunt — Weber hat es belauscht und in Kunstgebilden verkörpert, die neben dem Herrlichsten stehen, was je des Dichters Wort hervorzuzaubern vermochte. Wie die unheimlichen Sturm­ geister daherbrausen und den Ozean zu rasender Wut empören, wie das Meer, sich allgemach beruhigend, in feierlichem Abendsonnen­ glanze strahlt, wie im Mondlicht auf der leisatmenden Flut die Nixen ihren betörenden Gesang erheben, während am Strande die Elfen Oberons ihren luftige» Reigen schwingen — wo gäbe es Tonbilder, aus welchen ein solcher Naturhauch uns anwehte, wie aus diesen? Das Grausen in nächtiger Waldschlucht, die Sommermondnacht in tiefer Waldeinsamkeit, welche nur vom Schlag der Nachtigall und dem Zirpen der Grille belebt wird, der Abendfrieden im Burggarten, wenn von fern des Einsiedels Glöcklein tönt — doch, wozu auf­ zählen, was alle kennen, alle mit elementar-berauschender Gewalt an sich erfahren haben? Von den Mitteln, mit welchen Weber dies Kunstgebiet eröffnet hat, von dem seither alle Nutzen gezogen haben,

die ähnliches versuchten, nenne ich nur seine Kunst der Instrumentation. Hingerissen durch die Schönheit der „Euryaathe" schrieb Schumann einst in sein Tagebuch: „und wie klingen die Instrumente! aus der innersten Tiefe sprechen sie zu uns!" Wirklich scheinen sie dem Kom­ ponisten ihre Seele offenbart ju haben. Er gehört zu den größten und ideenreichsten Koloristen aller Zeiten. Wie Weber von dem patriotischen Pathos der Zeit der Freiheits­ kriege tief erfüllt war, so war er es auch von der echten Religiosität derselben. Sein „Freischütz" ist die erste Oper, in welcher Frömmigkeit und kindliches Gottvertrauen bedeutsame Momente bilden. Sie sind mit einer Innigkeit vom Komponisten erfaßt, die allein seinen religiösen Ernst beweisen würde, wüßte man nicht auch sonst von diesem. Jene alte Sitte, nach welcher die Komponisten am Schluffe eines größeren Werkes ju schreiben pflegten: Soli Deo gloria, „Gott allein die Ehre", eine Sitte, die anfangs unseres Jahrhunderts schon ab­ gekommen war, hat Weber noch beibehalten. Man pflegte sie zu­ meist nur bei kirchlichen und geistlichen Werken zu beobachten; Weber folgt ihr auch bei seinen Opern. Wie merkwürdig mischen sich auch hier wieder die alte und die neue Zeit in ihm! Es ist merkenswert, daß er Katholik war. Nicht als ob ich eine Parallele mit den romanti­ schen Dichtern ziehen wollte, die in krankhafter Überreizung sich dem Katholizismus zuwendeten. Webers Religiosität war eine durchaus gesunde. Aber in den Gestalten der Agathe und Euryanthe ist doch etwas Marienhaftes, das wohl nur den Katholiken gelingen konnte. Was auch immer in jener Zeit an edlen Regungen durch die Brust der Deutschen zog, es klingt aus Webers Musik zurück. Der kühne Schwung, die Lust, für die idealen Güter sich zu opfern, die tiefe, oft gegenstandslose Sehnsucht, die Reinheit und Zartheit der Liebesempfindung, alles strömt bei ihm in Tönen aus, die frisch von der Quelle kommen. Auch seine Jnstrumentalwerke sind voll dieses Geistes und nirgends stärker als bei den feurigen Allegros der Weberschen Ouvertüren, haben wir das Gefühl, als ob uns Flügel wüchsen, uns in jener schönen Begeisterung aufzuschwingen, welche nur die Jugend kennt. Jugend — daS ist das Wort, welches Weber und sein Wesen am erschöpfendsten bezeichnet. Jugend auch in ihrem liebenswürdigen Leichtsinn und in ihrer Unbehilflichkeit. Es ist ja nicht zu leugnen, daß seine Kompositionen an technischer Vollendung nicht immer den höchsten Anforderungen genügen. Aber bei einem Künstler von seiner Genialität sollten diese Schwächen niemals als Gegenstand

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des Tadels, sondern immer nur als Zeichen seiner Eigentümlichkeit bemerkt werden. Als ob Weber, der immer ganz dasjenige war, was er als Künstler schuf, dieser seiner Natur bis zum Letzten hätte treu bleiben sollen, ist er früh dahingeschieden. ■ Nach einigen Jahren häuslichen Glückes, das er sich schwer errungen hatte, zog — nein! wankte er noch einmal weit hinaus, um an fremdem Strande einsam zu verscheiden. So klingt das Leben des letzten fahrenden Spielmanns romantisch-wehmütig aus. Auch Mozart mußte davon in der Blüte des Lebens. Aber waren ihm auch nur fünfunddreißig Jahre beschieden, doch hinterläßt sein Lebenswerk den Eindruck höchster Reife, und daher auch der Abgeschlossenheit, soweit von solcher im Menschen­ leben überhaupt gesprochen werden kann. Bei Weber ist es anders. Gerade in seinen letzten Lebensjahren nimmt er einen so gewaltigen Aufschwung, zeigt einen so ungeahnten Erfindungsreichtum, öffnet derartig neue Aussichten für die Kunst, daß man meint, nun erst beginne er recht. Mozart starb früh, Weber zu ftüh. Mozart verließ das Leben nach kurzer Krankheit; eine sanfte Hand nahm ihn rasch hinweg. Weber hatte ein jahrelanges, qualvolles Leiden zu tragen. Wem aber dieser Ausgang den Reiz seines Lebensbildes trüben sollte, der möge sehen, wie er es trug. War er eine Jünglingsnatur, so war er es im edelsten Sinne: ein jugendlicher Kämpfer, ein aufwärts Strebender, der von dem eigenen Wesen mehr und mehr die Schlacken löste, seine Kräfte stählte, sein Ziel sich nicht hoch genug stecken konnte. Als solcher bewährte er sich leuchtend auch in seinem Leiden. Heroisch zwang er den Leib in den Dienst des Geistes. Wer merkt es dem „Oberon" an, daß ein langsam Sterbender ihn schrieb? Die Alten haben gesagt: wen die Götter lieb hätten, den nähmen sie früh von der Erde hinweg, damit sein Bild der Nachwelt in ewiger Jugend prange. Auch Weber war ein solcher Götterliebling.

Autobiographische Skizze. Von Richard Wagner. Ich heiße Wilhelm Richard Wagner und bin den 22. Mai 1813 in Leipzig geboren. Mein Vater war Polizeiaktuarius und starb ein halbes Jahr nach meiner Geburt. Mein Stiefvater, Ludwig Geyer, war Schauspieler und Maler; er hat auch einige Lustspiele geschrieben, worunter das eine: „Der bethlehemitische Kindermord" Glück machte; mit ihm zog meine Familie nach Dresden. Er wollte, ich sollte Maler werden; ich war aber sehr ungeschickt im Zeichnen. Auch mein Stiefvater starb zeitig, — ich war erst sieben Jahr. Kurz vor seinem Tode hatte ich: „Üb' immer Treu und Redlichkeit" und den damals ganz neuen „Jungfernkranz" auf dem Klavier spielen gelernt: einen Tag vor seinem Tode mußte ich ihm beides im Neben­ zimmer vorspielen; ich hörte ihn da mit schwacher Stimme zu meiner Mutter sagen: „Sollte er vielleicht Talent zur Musik haben?" Am frühen Morgen, als er gestorben war, trat die Mutter in die Kinder­ stube, sagte jedem der Kinder etwas, und mir sagte sie: „Aus Dir hak er etwas machen wollen." Ich entsinne mich, daß ich mir lange Zeit eingebildet habe, es würbe etwas aus mir werben. — Ich kam mit meinem neunten Jahre auf die Dresdner Kreuzschule: ich wollte studieren, an Musik wurde nicht gedacht; zwei meiner Schwestern lernten gut Klavier spielen, ich hörte ihnen zu, ohne selbst Klavier­ unterricht zu erhalten. Nichts gefiel mir so wie der „Freischütz": ich sah Weber oft vor unserm Hause vorbeigehen, wenn er aus den Proben kam; stets betrachtete ich ihn mit heiliger Scheu. Ein Haus­ lehrer, der mir den Cornelius Nepos explizierte, mußte mir endlich auch Klavierstunden geben; kaum war ich über die ersten Finger­ übungen hinaus, so studierte ich mir heimlich, zuerst ohne Noten, die Ouvertüre zum Freischütz ein; mein Lehrer hörte das einmal und sagte: aus mir würde nichts. Er hatte recht, ich habe in meinem Leben nicht Klavierspielen gelernt. Nun spielte ich nur noch für mich, nichts wie Ouvertüren, und mit dem greulichsten Fingersätze. Es war mir unmöglich, eine Passage rein zu spielen, und ich bekam deshalb einen 69

großen Abscheu vor allen Läufen. Von Mozart liebte ich nur die Ouvertüre zur „Zauberflöte"; „Don Juan" war mir zuwider, weil da italienischer Text darunter stand; er kam mir so läppisch vor. — Diese Beschäftigung mit Musik war aber nur große Nebensache: Griechisch, Lateinisch, Mythologie und alte Geschichte waren die Hauptsache. Ich machte auch Gedichte. Einmal starb einer unsrer Mitschüler, und von den Lehrern wurde an uns die Aufgabe gestellt, auf seinen Tod ein Gedicht zu machen; das beste sollte gedruckt werden: — das meine wurde gedruckt, jedoch erst, nachdem ich vielen Schwulst daraus entfernt hatte. Ich war damals elf Jahre alt. Nun wollte ich Dichter werden; ich entwarf Trauerspiele nach dem Vorbild der Griechen, wozu mich das Bekanntwerde» mit Apels Tragödien: Polyidos, die Ätolier usw. antrieb; dabei galt ich in der Schule für einen guten Kopf in litteris; schon in Tertia hatte ich die ersten zwölf Bücher der Odyssee übersetzt. Einmal lernte ich auch Englisch, und zwar bloß, um Shakespeare ganz genau kennen zu lernen: ich über­ setzte Romeos Monolog metrisch. Das Englische ließ ich bald wieder liegen, Shakespeare aber blieb mein Vorbild; ich entwarf ein großes Trauerspiel, welches ungefähr aus Hamlet und Lear zusammen­ gesetzt war; der Plan war äußerst großartig; zweiundvierzig Menschen starben im Verlaufe des Stückes, und ich sah mich bei der Ausführung genötigt, die meisten als Geister wiederkommen zu lassen, weil mir sonst in den letzten Akten die Personen ausgegangen wären. Dieses Stück beschäftigte mich zwei Jahre lang. Ich verließ darüber Dresden und die Kreuzschule und kam nach Leipzig. Auf der dortigen Nikolai­ schule setzte man mich nach Tertia, nachdem ich auf der Dresdner Kreuzschule schon in Sekunda gesessen; dieser Umstand erbitterte mich so sehr, daß ich von da an alle Liebe zu den philologischen Studien fahren ließ. Ich ward faul und lüderlich, bloß mein großes Trauer­ spiel lag mir noch am Herzen. Während ich dieses vollendete, lernte ich in den Leipziger Gewandhauskonzerten zuerst Beethovensche Musik kennen; ihr Eindruck auf mich war allgewaltig. Auch mit Mozart befreundete ich mich, zumal durch sein Requiem. Beethovens Musik zu „Egmont" begeisterte mich so, daß ich um alles in der Welt mein fertig gewordenes Trauerspiel nicht anders vom Stapel laufen lassen wollte, als mit einer ähnlichen Musik versehen. Ich traute mir ohne alles Bedenken zu, diese so nötige Musik selbst schreiben zu können, hielt es aber doch für gut, mich zuvor über einige Haupt­ regeln des Generalbasses aufzuklären. Um dies im Fluge zu tu», lieh ich mir auf acht Tage Logiers Methode des Generalbasses und

studierte mit Eifer darin. Das Studium trug aber nicht so schnelle Früchte, als ich glaubte; die Schwierigkeiten desselben reizten und fesselten mich; ich beschloß Musiker ju werden. — Währenddem war mein großes Trauerspiel von meiner Familie entdeckt worden: sie geriet in große Betrübnis, weil am Tage lag, daß ich darüber meine Schulstudien auf das gründlichste vernachlässigt hatte, und ich ward somit zu fleißiger Fortsetzung derselben streng ange­ halten. Das heimliche Erkenntnis meines Berufes jur Musik ver­ schwieg ich unter solchen Umständen, komponierte nichtsdestoweniger aber in aller Stille eine Sonate, ein Quartett und eine Arie. Als ich mich in meinem musikalischen Privatstudium hinlänglich heran­ gereift fühlte, trat ich endlich mit der Entdeckung desselben hervor. Natürlich hatte ich nun harte Kämpfe zu bestehen, da die Meinigen auch meine Neigung zur Musik nur für eine flüchtige Leidenschaft halten mußten, um so mehr, da sie durch keine Vorstudien, besonders durch etwa bereits erlangte Fertigkeit auf einem Instrument, ge­ rechtfertigt war. Ich war damals in meinem sechzehnten Jahre, und zumal durch die Lektüre Hoffmanns zum tollsten Mystizismus auf­ geregt: am Tage, im Halbschlafe hatte ich Visionen, in denen mir Grundton, Terz und Quinte leibhaft erschienen und mir ihre wichtige Bedeutung offenbarten: was ich aufschrieb, starrte von Unsinn. Endlich wurde mir der Unterricht eines tüchtigen Musikers zugeteilt; der arme Mann hatte große Not mit mir; er mußte mir erklären, daß, was ich für seltsame Gestalten und Gewalten hielt, Intervalle und Akkorde seien. Was konnte für die Meinigen betrübender sein, als zu erfahren, daß ich auch in diesem Studium mich nachlässig und un­ ordentlich erwies? Mein Lehrer schüttelte den Kopf, und es kam so heraus, als ob auch hier nichts Gescheites aus mir werden würde. Meine Lust zum Studium erlahmte immer mehr, und ich zog vor, Ouvertüren für großes Orchester zu schreiben, von denen eine einmal im Leipziger Theater aufgeführt wurde. Diese Ouvertüre war der Kulminationspunkt meiner Unsinnigkeiten; ich hatte sie eigentlich, zum näheren Verständnis desjenigen, der die Partitur etwa studieren wollte, mit drei verschiedenen Tinten schreiben wollen, die Streich­ instrumente rot, die Holzblasinstrumente grün und die Blechinstru­ mente schwarz. Beethovens Neunte Symphonie sollte eine Pleyelsche Sonate gegen diese wunderbar kombinierte Ouvertüre sein. Bei der Aufführung schadete mir besonders ein durch die ganze Ouvertüre regelmäßig alle vier Takte wiederkehrender Paukenschlag im Fortissimo: das Publikum ging aus anfänglicher Verwunderung über die Hart-

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näckigkeit des Paukenschlägers in unverhohlenen Unwillen, dann aber in eine mich tief betrübende Heiterkeit über. Diese erste Aufführung eines von mir komponierten Stückes hinterließ auf mich einen großen Eindruck. Nun kam aber die Julirevolution; mit einem Schlage wurde ich Revolutionär und gelangte zu der Überjeugnng, jeder halbwegs strebsame Mensch dürfe sich ausschließlich nur mit Politik beschäftigen. -Mir war nur noch im Umgang mit politischen Literaten wohl: ich begann auch eine Ouvertüre, die ein politisches Thema behandelte. So verließ ich die Schule und bezog die Universität, zwar nicht mehr, um mich einem Fakultätsstudium ju widmen — denn zur Musik war ich nun dennoch bestimmt —, sondern um Philosophie und Ästhetik zu höre«. Don dieser Gelegenheit, mich zu bilden, profitierte ich so gut als gar nicht; wohl aber überließ ich mich allen Studenten­ ausschweifungen, und zwar mit so großem Leichtsinn und solcher Hingebung, daß sie mich bald anwiderten. Die Meinigen hatten um diese Zeit große Not mit mir; meine Musik hatte ich fast gänzlich liegen lassen. Bald kam ich aber zur Besinnung; ich fühlte die Not­ wendigkeit eines neu zu beginnenden, streng geregelten Studiums der Musik, und die Vorsehung ließ mich den rechten Mann finden, der mir neue Liebe zur Sache einflößen und sie durch den gründ­ lichsten Unterricht läutern sollte. Dieser Man» war Theodor Weinlig, Kantor an der Thomasschule zu Leipzig. Nachdem ich mich wohl schon zuvor in der Fuge versucht hatte, begann ich jedoch erst bei ihm das gründliche Studium des Kontrapunktes, welches er die glückliche Eigenschaft besaß, den Schüler spielend erlernen zu lassen. In disser Zeit lernte ich erst Mozart innig erkennen und lieben. Ich komponierte eine Sonate, in welcher ich mich von allem Schwulste losmachte und einem natürlichen, ungezwungenen Satze überließ. Diese höchst einfache und bescheidene Arbeit erschien im Druck bei Breitkopf und Härtel. Mein Studium bei Weinlig war in weniger als einem halben Jahre beendet, er selbst entließ mich aus der Lehre, nachdem er mich so weit gebracht, daß ich die schwierigsten Aufgaben des Kontrapunktes mit Leichtigkeit zu lösen imstande war. „Das, was Sie sich durch dieses trockene Studium angeeignet haben, heißt: Selbständigkeit," sagte er mir. In demselben halben Jahre komponierte ich auch eine Ouvertüre nach dem jetzt etwas besser von mir verstandenen Vorbilde Beethovens, welche in einem der Leip­ ziger Gewandhauskonzerte mit aufmunterndem Beifall gespielt wurde. Nach mehreren anderen Arbeiten machte ich mich denn nun

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auch an eine Symphonie: an mein Hauptvorbild, Beethoven, schloß sich Mozart, zumal seine große c-Dur-Symphonie. Klarheit und Kraft, bei manchen sonderbaren Abirrungen, war mein Be­ streben. Mit der fertigen Symphonie machte ich mich im Sommer 1832 auf zu einer Reise nach Wien, aus keinem andern Zwecke, als um diese sonst so gepriesene Musikstadt flüchtig kennen zu lernen. Was ich dort hörte und sah, hat mich wenig erbaut; wohin ich kam, hörte ich „Zampa" und Straußsche Potpourris über „Zampa". Beides — und besonders damals — für mich ein Greuel. Auf meiner Rückreise verweilte ich einige Zeit in Prag, wo ich die Bekanntschaft Dionys Webers und Lomascheks machte; ersterer ließ im Konserva, torium mehrere meiner Kompositionen, unter diesen meine Sym­ phonie, spielen. Auch dichtete ich dort einen Operntext tragischen Inhaltes: „Die Hochzeit". Ich weiß nicht mehr, woher mir der mittelalterliche Stoff gekommen war; ein wahnsinnig Liebender ersteigt das Fenster zum Schlafgemach der Braut seines Freundes, worin diese der Ankunft des Bräutigams harrt; die Braut ringt mit dem Rasenden und stürzt ihn in den Hof hinab, wo er zerschmettert seinen Geist aufgibt. Bei der Totenfeier sinkt die Braut mit einem Schrei entseelt über die Leiche hin. Nach Leipzig zurückgekommen, komponierte ich sogleich die erste Nummer dieser Oper, welche ein großes Sextett enthielt, worüber Weinlig sehr erfreut war. Meiner Schwester gefiel das Buch nicht; ich vernichtete es spurlos. — Im Januar 1833 wurde meine Symphonie im Gewandhauskonzerte aufgeführt, und erhielt viel aufmunternden Beifall. Damals wurde ich mit Laube bekannt. Um einen Bruder zu besuchen, reiste ich nach Würzburg und blieb das ganze Jahr 1833 dort; mein Bruder war mir als erfahrener Sänger von Wichtigkeit. Ich komponierte in diesem Jahre eine dreiaktige romantische Oper: „Die Feen", zu der ich mir den Text nach Gozzis: „Die Frau als Schlange" selbst gemacht hatte. Beethoven und Weber waren meine Vorbilder: in den Ensembles war vieles gelungen, besonders versprach das Finale des zweiten Aktes große Wirkung. In Konzerten gefiel, was ich aus dieser Oper in Würzburg zu hören gab. Mit meinen besten Hoffnungen auf meine fertige Arbeit ging ich im Anfang des Jahres 1834 nach Leipzig zurück und bot sie dem Direktor des dortigen Theaters zur Auf­ führung an. Trotz seiner anfänglich erklärten Bereitwilligkeit, meinem Wunsche zu willfahren, mußte ich jedoch sehr bald dieselbe Erfahrung machen, die heutzutage jeder deutsche Opernkomponist zu gewinnen

hat: wir sind durch die Erfolge der Franzosen und Italiener auf unserer heimatlichen Bühne außer Kredit gesetzt, und die Aufführung unserer Opern ist eine $tt erbettelnde Gunst. Die Aufführung meiner „Feen" ward auf die lange Bank geschoben. Währenddem hörte ich die Devrient in Bellinis Romeo und Julie singen: — ich war erstaunt, in einer so durchaus unbedeutenden Musik eine so außerordentliche Leistung ausgeführt zu sehen. Ich geriet in Zweifel über die Wahl der Mittel, die zu großen Erfolgen führen können: weit entfernt war ich, Bellini ein großes Verdienst jujuerkennen; nichtsdesto­ weniger schien mir aber der Stoff, aus dem seine Musik gemacht war, glücklicher und geeigneter, warmes Leben zu verbreiten, als die ängstlich besorgte Gewissenhaftigkeit, mit der wir Deutsche meist nur eine erquälte Scheinwahrheit zustande brachten. Die schlaffe Charakter­ losigkeit unserer heutigen Italiener sowie der ftivole Leichtsinn der neuesten Franzosen schienen mir den ernsten, gewissenhaften Deutschen aufzufordern, sich der glücklicher gewählten und ausgebildeten Mittel seiner Nebenbuhler zu bemächtige», um es ihnen dann in Hervor­ bringung wahrer Kunstwerke entschieden zuvorzutun. Damals war ich einnndzwanzig Jahre alt, zu Lebensgenuß und freudiger Weltanschauung aufgelegt; „Ardinghello" und „das junge Europa" spukten mir durch alle Glieder: Deutschland schien mir nur ein sehr kleiner Teil der Welt. Aus dem abstrakten Mystizismus war ich herausgekommen, und ich lernte die Materie lieben. Schönheit des Stoffes, Witz und Geist waren mir herrliche Dinge: was meine Musik betraf, fand ich beides bei den Italienern und Franzosen. Ich gab mein Vorbild, Beethoven, auf; seine letzte Symphonie erschien mir als der Schlußstein einer großen Kunstepoche, über welchen hinaus keiner zu dringen vermöge und innerhalb dessen keiner zur Selbst­ ständigkeit gelangen könne. Das schien mir auch Mendelssohn ge­ fühlt zu haben, als er mit seinen kleinen Orchesterkompositionen hervortrat, die große abgeschlossene Form der Beethovenschen Sym­ phonie unberührt lassend; es schien mir, er wolle mit einer kleineren, gänzlich fteigegebenen Form beginnend, sich eine größere selbst er­ schaffen. — Alles um mich herum kam mir wie in Gärung begriffen vor: der Gärung sich zu überlassen, dünkte mich das Natürlichste. Auf einer schönen Sommerreise in die böhmischen Bäder entwarf ich den Plan zu einer neuen Oper: „Das Liebesverbot," wozu ich den Stoff aus Shakespeares „Maaß für Maaß" entnahm, nur mit dem Unterschied, daß ich ihm den darin vorherrschenden Ernst be­ nahm und ihn so recht im Sinne des jungen Europa modelte: die

freie, offene Sinnlichkeit erhielt den Sieg rein durch sich selbst über puritanische Heuchelei. — Noch im Sommer desselben Jahres, 1834, nahm ich die Musikdirektorstelle am Magdeburger Theater an. Die praktische Anwendung meiner musikalischen Kenntnisse für die Funktion eines Dirigenten glückte mir sehr bald: der wunderliche Verkehr mit den Sängern und Sängerinnen hinter Kulissen und vor den Lampe» entsprach ganj und gar meiner Neigung zu bunter Zerstreuung. Die Komposition meines „Liebesverbotes" wurde begonnen. In einem Konzert führte ich die Ouvertüre zu meinen „Feen" auf; sie gefiel sehr. Trotzdem verlor ich das Behage» an dieser Oper, und da ich zumal meine Angelegenheiten in Leipzig nicht mehr persönlich betreiben konnte, faßte ich bald den Entschluß, mich um diese Arbeit gar nicht mehr zu bekümmern, das hieß so viel, als sie aufgeben. Zu einem Festspiel für den Neujahrstag 1835 machte ich im Fluge eine Musik, welche allgemein ansprach. Der­ gleichen leicht gewonnene Erfolge bestärkten mich sehr in der Ansicht, daß, um zu gefallen, man die Mittel durchaus nicht zu skrupulös er­ wägen müsse. In diesem Sinne komponierte ich an meinem „Liebes­ verbot" fort; französische und italienische Anklänge zu vermeiden, gab ich mir nicht die geringste Mühe. Auf einige Zeit darin unter­ brochen, nahm ich die Komposition im Winter 1835 zu 1836 wieder auf und beendete sie kurz vor dem Auseinandergehen der Opern­ mitglieder des Magedburger Theaters. Mir blieben nur noch zwölf Tage bis zum Abgänge der ersten Sänger übrig; in dieser Zeit mußte also meine Oper studiert werden, wollte ich sie noch von ihnen auf­ führen lassen. Mit mehr Leichtsinn als Überlegung ließ ich nach zehn­ tägigem Studium die Oper, welche sehr starke Partien hatte, in Szene gehen; ich vertraute dem Souffleur und meinem Dirigenten­ stabe. Trotzdem konnte ich aber doch nicht verhindern, daß die Sänger ihre Partien kaum halb auswendig wußten. Die Vorstellung «ar allen wie ein Traum, kein Mensch konnte einen Begriff von der Sache bekommen; dennoch wurde, was Halbweg gut ging, gehörig applaudiert. Eine zweite Vorstellung kam aus verschiedenen Gründen nicht zustande. — Währenddem hatte sich denn auch der Ernst des Lebens bei mir gemeldet; meine schnell ergriffene äußere Selbständig­ keit hatte mich zu Torheiten aller Art verleitet, Geldnot und Schulden quälten mich auf allen Seiten. Es kam mir bei, irgend etwas be­ sonderes zu wagen, um nicht in das gewöhnliche Gleis der Not zu geraten. Ich ging ohne alle Aussichten nach Berlin und bot dem Direktor des Königstädtischen Theaters mein „Liebesverbot" zur

Aufführung an. Anfänglich mit den besten Versprechungen aus­ genommen, mußte ich nach langem Hinhalten erfahren, daß keine von ihnen redlich gemeint war. In der schlimmsten Lage verließ ich Berlin, um mich in Königsberg in Preußen um die Musikdirektorstelle am dortigen Theater zu bewerben, die ich späterhin auch erhielt. Dort heiratete ich noch im Herbst 1836, und zwar unter den miß­ lichsten äußeren Verhältnissen. Das Jahr, welches ich in Königsberg zubrachte, ging durch die kleinlichsten Sorgen gänzlich für meine Kunst verloren. Eine einzige Ouvertüre schrieb ich: Rule Britannia. Im Sommer 1837 besuchte ich Dresden auf eine kurze Zeit. Dort brachte mich die Lektüre des Bulwerschen Romans „Rienzi" wieder auf eine bereits gehegte Lieblingsidee zurück, den letzten römischen Tribunen zum Helden einer großen tragischen Oper zu machen. Durch widerliche äußere Verhältnisse daran verhindert, be­ schäftigte ich mich aber nicht weiter mit Entwürfen. Im Herbste dieses Jahres ging ich nach Riga, um die Stelle des ersten Musikdirektors bei dem unter Holtet neu eröffneten Theater anzutreten. Ich fand da vortreffliche Mittel für die Oper versammelt, und mit vieler Liebe ging ich an die Verwendung derselben. Mehrere Einlagen in Opern sind für einzelne Sänger in dieser Zeit von mir komponiert worden. Auch machte ich den Text zu einer zweiaktigen komischen Oper: „Die glückliche Bärenfamilie", wozu ich den Stoff aus einer Erzählung der Tausend und einen Nacht entnahm. Schon hatte ich zwei Nummern daraus komponiert, als ich mit Ekel inne ward, daß ich wieder auf dem Wege sei, Musik ä la Adam zu machen; mein Gemüt, mein tieferes Gefühl fanden sich trostlos verletzt bei dieser Entdeckung. Mit Abscheu ließ ich die Arbeit liegen. Das tägliche Einstudieren und Dirigieren Auberscher, Adamscher und Bellinischer Musik tat denn endlich auch das Seinige, das leichtsinnige Gefallen daran mir bald gründlich zu verleiden. Die gänzliche Unmündigkeit des Theater­ publikums unserer Provinzstädte in Bezug auf ein zu fällendes erstes Ur­ teil über eine neue, ihm vorkommende Kunsterscheinung — da es eben nur gewöhnt ist, bereits auswärts beurteilte und akkreditierte Werke sich vorgeführt zu sehen —, brachte mich zu dem Entschluß, um keinen Preis an kleineren Theatern eine größere Arbeit zur ersten Aufführung zu bringen. Als ich daher von neuem das Bedürfnis fühlte, eine größere Arbeit zu unternehmen, verzichtete ich gänzlich auf eine schnell und in der Nähe zu bewirkende Aufführung der­ selben: ich nahm irgendein bedeutendes Theater an, das sie einst auf­ führen sollt e, und kümmerte mich nun wenig darum, wo und wann

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sich das Theater finden werde. So verfaßte ich den Entwurf zu einer großen tragischen Oper in fünf Akten: „Rienzi, der letzte der Tribunen"; ich legte ihn von vornherein so bedeutend an, daß es unmöglich ward, diese Oper — wenigstens zum ersten Male — auf einem kleinen Theater zur Aufführung zu bringen. Außerdem ließ es auch der ge­ waltige Stoff gar nicht anders zu, und es herrschte bei meinem Ver­ fahren weniger die Abficht, als die Notwendigkeit vor. Im Sommer 1838 führte ich das Sujet aus. In dieser Zeit studierte ich mit großer Liebe und Begeisterung unserm Opernpersonale Mehuls „Jakob und seine Söhne" ein. — Als ich im Herbst die Komposition meines „Rienzi" begann, band ich mich nun an nichts als an die einzige Absicht, meinem Sujet zu entsprechen: ich stellte mir kein Vorbild, sondern überließ mich einzig dem Gefühle, das mich verzehrte, dem Gefühle, daß ich nun so weit sei, von der Entwicklung meiner künstle­ rischen Kräfte etwas Bedeutendes zu verlangen und etwas nicht Unbedeutendes zu erwarten. Der Gedanke, mit Bewußtsein — wenn auch nur in einem einzigen Takte — seicht oder trivial zu sein, war mir entsetzlich. Mit voller Begeisterung setzte ich im Winter die Komposition fort, so daß ich im Frühjahr 1839 die beiden großen ersten Akte fertig hatte. Um diese Zeit ging mein Kontrakt mit dem Theaterdirektor zu Ende, und besondere Umstände verleideten es mir, länger m Riga zu bleiben. Bereits seit zwei Jahren nährte ich den Plan, nach Paris zu gehen; ich hatte deshalb schon von Königs­ berg aus den Entwurf eines Opernsujets an Scribe geschickt, mit dem Vorschläge, denselben, falls er ihm gefiiele, für seine Rechnung auszuführen, und mir dafür den Auftrag, diese Oper für Paris zu komponieren, zu erwirken. Natürlich hatte Scribe dies so gut wie unbeachtet gelassen. Nichtsdestoweniger gab ich meine Pläne nicht auf, ich ging vielmehr tot Sommer 1839 mit Lebhaftigkeit wieder darauf ein, und vermochte kurz und gut meine Frau, sich mit mir an Bord eines Segelschiffes zu begeben, welches uns bis London bringe» sollte. Diese Seefahrt wird mir ewig unvergeßlich bleiben; sie dauerte drei und eine halbe Woche und war reich an Unfällen. Dreimal litten wir von heftigstem Sturme, und einmal sah sich der Kapitän genötigt, in einem norwegischen Hafen einzulaufen. Die Durch­ fahrt durch die norwegischen Schären machte einen wunderbaren Eindruck auf meine Phantasie; die Sage vom fliegenden Holländer, wie ich sie aus dem Munde der Matrosen bestätigt erhielt, gewann in mir eine bestimmte, eigentümliche Farbe, die ihr nur die von mir erlebten Seeabenteuer verleihen konnten. Von der äußerst

angreifenden Fahrt ausruhend, verweilten wir acht Tage in London; nichts interessierte mich so, als die Stadt selbst und die Parlaments­ häuser,— von den Theatern besuchte ich keines. In Boulogne-sur-mer blieb ich vier Wochen: dort machte ich die erste Bekanntschaft Meyerbeers, ich ließ ihn die beiden fertigen Akte meines „Rienzi" kennen lernen; er sagte mir auf das freundlichste seine Unterstützung in Paris zu. Mit sehr wenig Geld, aber den besten Hoffnungen betrat ich nun Paris. Gänzlich ohne alle Empfehlungen war ich einzig nur auf Meyerbeer angewiesen; mit der ausgezeichnetsten Sorgsamkeit schien dieser für mich einzuleiten, was irgend meinen Zwecken dienlich sein konnte, und gewiß dünkte es mich, bald zu einem erwünschten Ziele zu kommen, hätte ich es nicht so unglücklich getroffen, daß gerade während der ganzen Zeit meines Pariser Aufenthaltes Meyerbeer meistens und fast immer von Paris entfernt war. Auch aus der Ent­ fernung wollte er mir zwar nützlich sein, nach seinen eigenen Voraus­ sagungen konnten briefliche Bemühungen aber da von keinem Erfolge sein, wo höchstens das unausgesetzteste persönliche Eingreifen von Wirkung werden kann. Zunächst trat ich in Verbindungen mit dem Theater de la Renaissance, welches damals Schauspiele und Opern zugleich aufführte. Am geeignetsten für dieses Theater schien mir die Partitur meines „Liebesverbotes"; auch das etwas frivole Sujet wäre gut für die französische Bühne zu verarbeiten gewesen. Ich war dem Direktor des Theaters von Meyerbeer so dringend anempfohlen, daß er nicht anders konnte als mir die besten Versprechungen zu machen. Demzufolge erbot sich mir einer der fruchtbarsten Pariser Theaterdichter, Dumersan, die Bearbeitung des Sujets zu über­ nehmen. Drei Stücke, die zu einer Audition bestimmt wurden, übersetzte Dumersan mit dem größte» Glücke, so daß sich meine Musik dem neuen französischen Texte noch besser als auf den ur­ sprünglichen deutschen ausnahm; es war eben Musik, wie sie Franzosen am leichtesten begreifen, und alles versprach mir den besten Erfolg, als sofort das Theater de la Renaissance Bankerott machte. Alle Mühe, alle Hoffnungen waren so vergebens gewesen. In demselben Winter­ halbjahre, 1839 zu 1840, komponierte ich außer einer Ouvertüre zu Goethes „Faust", 1. Teil, mehrere französische Lieder, unter andern auch eine für mich gemachte französische Übersetzung der beiden Grena­ diere von H. Heine. An eine möglich zu machende Aufführung meines „Rienzi" in Paris habe ich nie gedacht, weil ich mit Sicherheit voraussah, daß ich wenigstens fünf bis sechs Jahre hätte warten müssen, ehe selbst im glücklichsten Falle solch ein Plan ausführbar 78

geworden wäre; auch würde die Übersetzung des Textes der bereits zur Hälfte fertig komponierten Oper unübersteigliche Hinderniffe in den Weg gelegt haben. — So trat ich in den Sommer 1840 gänz­ lich ohne alle nächste Ausstchten. Meine Bekanntschaften mit Habeneck, Halevy, Berlioz usw. führten durchaus zu keiner weitern Annäherung an diese: in Paris hat kein Künstler Zeit, sich mit einem anderen zu befreunden, jeder ist in Hatz und Eile um seiner selbst willen. Halevy ist, wie alle Pariser Komponisten unserer Zeit, nur so lange von Enthusiasmus für seine Kunst entflammt gewesen, als es galt, einen großen Sukzeß zu gewinnen: sobald dieser davongetragen und er in die Reihe der privilegierte» Komponisten-Lions eingetreten war, hatte er nichts weiter im Sinne, als Opern zu machen und Geld dafür einzunehmen. Das Renommee ist alles in Paris, das Glück und der Verderb der Künstler. Berlioz zog mich trotz seiner abstoßenden Natur bei weitem mehr an: er unterscheidet sich himmelweit von seinen Pariser Kollegen, denn er macht seine Musik nicht für's Geld. Für die reine Kunst kann er aber auch nicht schreiben, ihm entgeht aller Schönheitssinn. Er steht in seiner Richtung völlig isoliert: an seiner Seite hat er nichts wie eine Schar Anbeter, die, flach und ohne das geringste Urteil, in ihm den Schöpfer eines nagel­ neuen Musiksystems begrüßen und ihm den Kopf vollends ver­ dreht machen; — alles übrige weicht ihm aus wie einem Wahn­ sinnigen. — Den letzten Stoß gaben meinen früheren leichtfertigen Ansichten über die Mittel der Musik — die Italiener. Diese gepriesensten Helden des Gesanges, Rubini an der Spitze, haben mich vollends gegen ihre Musik degoutiert. Das Publikum, vor dem sie singen, trug das Seinige zu dieser Wirkung auf mich bei. Die große Pariser Oper ließ mich gänzlich unbefriedigt durch den Mangel alles Genies in ihren Leistungen: Alles fand ich gewöhnlich und mittelgut. Die mise en scene und die Dekorationen sind mir, offen gesagt, das liebste an der ganzen Academie Royale de musique. Viel eher wäre die Opera comique mich zu befriedigen imstande gewesen; sie besitzt die besten Talente, und ihre Vorstellungen geben ein Ganzes, Eigentümliches, welches wir in Deutschland nicht kennen. Das, was jetzt für dieses Theater geschrieben wird, gehört aber zu dem Schlechtesten, was je in Zeiten der Entartung der Kunst produziert worden ist; wohin ist die Grazie Mehuls, Jsouards, Boieldieus und des jungen Auber vor den niederträchtigen Quadrillenrhythmen ge­ flohen, die heutzutage ausschließlich dies Theater durchrasseln? — Das einzige, was Paris von Beachtenswertem für den Musiker ent#

hält, sind die Orchesterkonzerte im Saal des Conservatoirs. Die Aufführungen der deutschen Jnstrumentalkompositionen in diesen Konzerten haben auf mich einen tiefen Eindruck gemacht, und mich von neuem in die wunderbaren Geheimnisse der echten Kunst ein­ geweiht. Wer die Neunte Symphonie Beethovens vollkommen kennen lernen will, der muß sie vom Orchester des Confervatoirs in Paris aufführen hören. — Diese Konzerte stehen aber völlig allein da, nichts knüpft sich an sie an. Ich ging fast gar nicht mit Musikern um: Gelehrte, Maler usw. bildeten meinen Umgang: ich habe viel schöne Erfahrungen von Freundschaft in Paris gemacht. — Als ich so gänzlich ohne alle nächsten Aussichten auf Paris war, ergriff ich wieder die Kompo­ sition meines „Rienzi"; ich bestimmte ihn nun für Dresden, einmal, weil ich an diesem Theater die besten Mittel vorhanden wußte, die Devrient, Tichatschek usw., zweitens, weil ich auf Bekanntschaften aus meiner frühesten Zeit mich stützend dort am ersten Eingang zu finden hoffen durfte. Mein „Liebesverbot" gab ich nun fast gänzlich auf; ich fühlte, daß ich mich als Komponisten desselben nicht mehr achten konnte. Desto unabhängiger folgte ich meinem wahren künstle­ rischen Glauben bei der Fortsetzung der Komposition meines Rienzi. Mannigfacher Kummer und bittere Not bedrängten um diese Zeit mein Leben. Plötzlich erschien Meyerbeer wieder auf eine kurze Zeit in Paris. Mit der liebenswürdigsten Teilnahme erkundigte er sich nach dem Stande meiner Angelegenheiten, und wollte helfen. Nun setzte er mich auch in Verbindung mit dem Direktor der großen Oper, Löon Pillet: es war dabei auf eine zwei- oder dreiaktige Oper abge­ sehen, deren Komposition für dieses Theater mir anvertraut werden sollte. Ich hatte für diesen Fall mich bereits mit einem Sujetentwurfe vorgesehen. Der „Fliegende Holländer", dessen innige Bekanntschaft ich auf der See gemacht hatte, fesselte fortwährend meine Phantasie; dazu machte ich die Bekanntschaft von H. Heines eigentümlicher An­ wendung dieser Sage in einem Teile seines „Salons". Besonders die von Heine einem holländischen Theaterstücke gleichen Titels ent­ nommene Behandlung der Erlösung dieses Ahasverus des Ozeans gab mir alles an die Hand, diese Sage zu einem Opernsujet zu be­ nutzen. Ich verständigte mich darüber mit Heine selbst, verfaßte den Entwurf und übergab ihn dem Herrn Leon Pillet mit dem Vor­ schläge, mir danach ein französisches Textbuch machen zu lassen. So weit war alles eingeleitet, als Meyerbeer abermals von Paris fortging und die Erfüllung meiner Wünsche dem Schicksal überlassen

mußte. Bald war ich erstaunt, von Pillet zu erfahren, der von mir überreichte Entwurf gefalle ihm so sehr, daß er wünschte, ich träte ihm denselben ab. Er sei nämlich genötigt, einem älteren Versprechen gemäß einem andern Komponisten baldigst ein Opernbuch yi über­ geben: der von mir verfaßte Entwurf scheine ihm ganz zu solchem Zwecke geeignet, und ich würde wahrscheinlich kein Bedenken tragen, in die erbetene Abtretung einzuwilligen, wenn ich überlegte, daß ich vor dem Verlauf von vier Jahren mir unmöglich Hoffnung machen könnte, den unmittelbaren Auftrag zur Komposition einer Oper zu erhalten, da er erst noch Zusagen an mehrere Kandidaten der großen Oper zu erfülle» habe; bis dahin dürfte es mir natürlich doch auch zu lang werden, mich mit diesem Sujet herumzutragen; ich würde ein neues auffinden, und mich gewiß über das gebrachte Opfer trösten. Ich bekämpfte hartnäckig diese Zumutung, ohne jedoch etwas anderes als die vorläufige Vertagung der Frage ausrichten zu können. Ich rechnete auf eine baldige Wiederkunft Meyerbeers und schwieg.-------Während dieser Zeit wurde ich von Schlesinger veranlaßt, in dessen Gazette musicale zu schreiben: ich lieferte mehrere ausführliche Artikel „über deutsche Musik" usw. Vor allem fand lebhaften Beifall eine kleine Novelle, betitelt: „Eine Pilgerfahrt zu Beethoven". Diese Arbeiten haben mir nicht wenig geholfen, in Paris bekannt und be­ achtet zu werden. Im November dieses Jahres hatte ich die Partitur meines „Rienzi" vollständig beendigt, und sandte sie unverzüglich nach Dresden. Diese Zeit war der Kulminationspunkt meiner äußerst traurigen Lage: ich schrieb für die Gazette musicale eine kleine Novelle: „Das Ende eines deutschen Musikers in Paris", worin ich den un­ glücklichen Helden derselben mit folgendem Glaubensbekenntnis sterben ließ: „Ich glaube an Gott, Mozart und Beethoven." Gut war es, daß nun meine Oper beendet war, denn jetzt sah ich mich ge­ nötigt, auf längere Zeit der Ausübung aller Kunst zn entsagen: ich mußte für Schlesinger Arrangements für alle Instrumente der Welt, selbst für Cornet ä pistons übernehmen, denn unter dieser Bedingung war mir eine kleine Erleichterung meiner Lage gestattet. Den Winter zu 1841 durchbrachte ich somit auf das unrühmlichste. Im Frühjahr zog ich auf das Land nach Meudon; bei dem warmen Herannahen des Sommers sehnte ich mich wieder nach einer geistigen Arbeit; die Veranlassung dazu sollte mir schneller kommen als ich dachte. Ich erfuhr nämlich, daß mein Entwurf des Textes zum „Fliegenden Holländer" bereits einem Dichter, Paul Fouchö, über­ geben war, und ich sah, daß, erklärte ich mich endlich zur Abtretung

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desselben nicht bereit, ich unter irgendeinem Vorwande gänzlich darum kommen würde. Ich willigte also endlich für eine gewisse Summe in die Abtretung meines Entwurfes ein. Ich hatte nun nichts Eiligeres zu tun, als mein Sujet selbst, in deutschen Versen auszuführen. Um sie zu komponieren, hatte ich ein Klavier nötig, denn nach dreivierteljähriger Unterbrechung alles musikalischen Produzierens mußte ich mich erst wieder in eine musikalische Atmo­ sphäre zu versetzen suchen; ich mietete ein Piano. Nachdem es angekomme», lief ich in wahrer Seelenangst umher; ich fürchtete nun, entdecken zu müssen, daß ich gar nicht mehr Musiker sei. Mit dem Matrosenchor und dem Spinnerlied begann ich zuerst; alles ging mir im Fluge vonstatten, und laut auf jauchzte ich vor Freude bei der innig gefühlten Wahrnehmung, daß ich noch Musiker sei. In sieben Wochen war die ganze Oper komponiert. Am Ende dieser Zeit über­ häuften mich aber wieder die niedrigsten äußeren Sorgen: zwei volle Monate dauerte es, ehe ich dazu kommen konnte, die Ouvertüre zu der vollendeten Oper zu schreiben, trotzdem ich sie fast fertig im Kopfe Herumtrug. Natürlich lag mir nun nichts so sehr am Herzen, als die Oper schnell in Deutschland zur Aufführung zu bringen: von München und Leipzig erhielt ich abschlägige Antwort: die Oper eigne sich nicht für Deutschland, hieß es. Ich Tor hatte geglaubt, sie eigne sich nur für Deutschland, da sie Saiten berührt, die nur bei dem Deutschen zu erklingen imstande sind. — Endlich schickte ich meine neue Arbeit an Meyerbeer nach Berlin, mit der Bitte, ihr die Annahme an dem dortigen Hoftheater zu verschaffen. Mit ziemlicher Schnelle wurde diese bewirkt. Da bereits auch mein „Rienzi" für das Dresdner Hoftheater angenommen war, so sah ich nun der Aufführung zweier meiner Werke auf den erste» deutschen Bühnen entgegen, und un­ willkürlich drängte sich mir die Ansicht auf, daß sonderbarer Weise Paris mir vom größten Nutzen für Deutschland gewesen sei. Für Paris selbst war ich jetzt auf einige Jahre aussichtslos; ich verließ es daher im Frühjahr 1842. Zum ersten Male sah ich den Rhein — mit hellen Tränen im Auge schwur ich armer Künstler meinem deutschen Vater­ lande ewige Treue.

Anmerkungen Don der Macht der Musik

Der Name Luther ist mit der Geschichte der Tonkunst aufs engste verknüpft, und im Geiste der Reformation lebt ihres Urhebers Liebe zur Musik mächtig fort. Luther, selbst schöpferisch tätig im geistlichen Liede, legte den ersten Keim zur Blüte des evangelischen Kirchens gesanges, vor allem durch die Herausgabe des ersten „geistlichen Gesang-Büchleins" (zusammen mit seinem Freunde Johann Walther, kurfürstlich sächsischem Kapellmeister in Torgau; Wittenberg 1524). Was er zum Lobe der Tonkunst zu sagen hat, das kommt nicht weniger beredt in seinen „Tischreden" öfters zum Ausdruck. Der Adressat des Briefes, Ludwig Senfl, Hofkapellmeister in München, war ein hochgeschätzter Musiker seiner Zeit und bedeutender Meister im mehrstimmigen Vokalsatze. *

Die Wunder der Tonkunst Dieses Bekenntnis stammt aus der Feder eines Dichters, der an der Schwelle des romantischen Zeitalters steht. Wilh. Heinr. Wackenroder (1773—98), eine weiche, schwärmerische Poetenseele, fand das Glück seines kurzen Erdendasetns in der Begeisterung für die bildende Kunst und Musik. So wenig er zum Juristen taugte, dessen Beruf er auf Wunsch seines Vaters ergriff, so bestimmt fühlte er sich zum Dichter und besonders zum Musiker geschaffen. Am Schluß der „Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", einer Reihe von Aufsätzen zur Kunst, in denen der junge Poet die ge­ meinsam mit seinem Freunde Ludwig Tieck empfangenen künst­ lerischen Eindrücke sich von der Seele schrieb, taucht die fingierte Gestalt des Tonkünstlers Joseph Berglinger auf, und in dessen Lebensbilds spiegeln sich Meinungen und Schicksale des Dichters selbst wieder. Einen zweiten Teil der „Herzensergießungen" gab L. Tieck nach Wackenrobers Tod mit eigenen ergänzenden Aufsätzen 1799 heraus unter dem 83

Titel: „Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst." Ihnen ist bas obige Stück entnommen, ein echt romantisches Zeugnis, weil es ganz von der Macht des Gefühls und der Sehnsucht nach dem Unendlichen, deren Erfüllung die Hingabe an die Musik verheißt, beherrscht ist.

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Bach und Händel

Dem Vergleich zwischen den beiden größten deutschen Ton­ meistern in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind nur insoweit erläuternde Worte hinzuzufügen, als sie die schon angedeuteten biographischen Daten ergänzen. Joh. Seb. Bach (1685—1750) begann seine künstlerische Laufbahn als Violinist in der Privatkapelle des Prinzen von Weimar und erhielt 1703 die Stelle des Organisten an der Neuen Kirche in Arnstadt. Teils in gleicher Eigenschaft, teils als Kammermusikus setzte er seine praktische Tätigkeit in Mühlhausen (Thüringen), Weimar und Köthen (Anhalt) fort, um schließlich (1723) als Kantor an der Thomaskirche zu Leipzig jenen künstlerischen Wirkungskreis zu finden, der ohne seinen Namen heute nicht mehr zu denken ist. Bach ist der größte protestantische Kirchenkomponist aller Zeiten und bildet den Höhepunkt und Abschluß einer bedeutenden Epoche der Musikgeschichte. In seiner Kunst hat er ein mächtiges Denkmal deutschen Geistes geschaffen, welchem Schöpfungen wie die Matthäuspasfion, die k-moll-Meffe und das Wohltemperierte Klavier den Wert des Unvergänglichen verleihen. Das künstlerische Wirken G. Friede. Händels(i685—1759) lag für lange Zeit auf dem Gebiete der Oper. An der seit 1678 bestehenden deutschen Oper in Hamburg holte er sich seine ersten Lorbeeren, ging dann zwecks weiterer Studien für drei Jahre nach Italien, der Heimat des Mufikdramas und verlegte nach vorübergehendem Aufenthalt in Hannover den Schauplatz seiner künstlerischen Tätigkeit für immer nach England. In London gelangte er schnell zur Höhe seines Ruhmes, sowohl als Opernkomponist (u. a. Rinaldo, Rodelinde, Admet) wie als Leiter eines großzügigen Opernunternehmens, das er im Kampf mit wechselvollen Schicksalen bis 1740 am Leben erhielt. Von da ab widmete er sich ganz dem Oratorium und schuf im „Messias", „Judas Makkabäus", „Israel in Ägypten" u. a. m. Werke, an denen die Nachwelt die gewaltige Größe dieses Meisters bewundert.

Ritter Gluck Der Held der Erzählung trägt in der Musikgeschichte den Namen eines Reformators der Oper. Chr. Willibald Gluck (1714—1787) hat das große Verdienst, in der Oper den Anteil des Dichters, das Drama, wieder zu Ehren gebracht zu haben, nachdem der Sinn für die dramatischen Forderungen zugunsten einer einseitigen, durch das Gesangsvirtuosentum begünstigte» Pflege des rein Musikalischen namentlich bei den Meistern der neapolitanischen Schule mehr und mehr zu verflachen drohte. Rückkehr zur Wahrheit, Einfachheit und Natürlichkeit des Ausdrucks war das Ziel seiner Reform, die er, an­ fänglich in den Spuren der Italiener wandelnd, mit tatkräftiger Unterstützung des ihm wahlverwandten Textdichters Calzabigi im „Orpheus" erstmals in Angriff nahm. Bereichert auch durch das Studium der französischen Oper führte er sie in „Alceste", den beiden „Iphigenien" und „Armida" weiter durch und zeichnete als genialer Dramatiker die Bahn vor, welche im 19. Jahrhundert Richard Wagner, der Schöpfer des modernen Musikdramas, zu Ende ging. Oer Dichter der Novelle E. Th. A. Hoffmann (1776—1822), war zugleich Musiker, ein tüchtiger Komponist von Opern (deren bedeutendste „Undine"), Kirchen- und Kammermusik, sowie auch mehrere Jahre hindurch praktisch tätig als Musikdirektor in Bamberg. Hier erst gelangte er, nachdem er bereits als Mitarbeiter der „Allge­ meinen musikalischen Zeitung" bedeutende Proben seines musik­ schriftstellerischen Talents abgelegt hatte, zur Erkenntnis seiner eigent­ lichen — dichterischen Begabung, die er zunächst an musikalischen Stoffen betätigte. Mit den „Phantasiestücken in Callots Manier", denen unsere Novelle zugehört, begann der Aufstieg seines Dichterruhmes; in ihnen erkennt man bereits in scharfen Umrissen die merkwürdige Gestalt des phantastischen Erzählers, dessen eigenartige Kunst die Welt heute mehr denn je bewundert.

* Mozart als Künstler und Mensch Diese Porträtsktzze ist mit einem weder in der musikalischen noch literarischen Welt bekannten Namen unterzeichnet. Ihr Verfasser Franz Nemetschek war Gymnasialprofeffor in Prag und begeisterter Verehrer von Mozarts Kunst. Da sie sich aber auf eine mehrere Jahre bestehende persönliche Bekanntschaft mit dem Meister stützt, hat sie als Zeichnung nach dem Leben ihren Wert; denn sie vermittelt die

Persönlichkeit des Künstlers in der durch unmittelbare Anschauung bedingten Naturtreue. Wenn auch spätere Biographen, zunächst Otto Jahn und neuerdings vor allem Hermann Abert (der Jahns Werk völlig neu bearbeitet hat), dem Bilde Mözarts eine weit größere Tiefenwirkung gegeben haben, so bleibt doch jene zeitgenössische Schilderung ttotz ihres stark anekdotische» Charakters eine aufschluß­ reiche Quelle, die den Geist des unvergleichlichen Musikers, des Schöpfers von Figaros Hochzeit, Don Juan und Zauberflöte und Meisters des Klaviers und der Sinfonie zu lebensvoller Wirklichkeit heraufbeschwört.

* Ludwig van Beethovens „tzeiligenstädter Testament" Das Heiligenstädter Testament,

neben dem Brief „An die unsterbliche Geliebte" das denkwürdigste Dokument aus Beethovens Lebensgeschichte, läßt einen Tiefbltck in die Seele des Künstlers tu», wie er erschütternder kaum zu denken ist. Nur bitterster Schmerz und Verzweiflung konnte den erst 32# jährigen zu dem Entschluß treiben, mit dem Leben abzuschließen. Zum Schreckgespenst ward ihm die Ahnung künftiger Taubheit, die ihn schon seit Jahren gequält hatte und später ihm zur Gewißheit werden sollte. Zur Zeit, da Beethoven dies Testament niederschrieb, hatte er die höchsten Aufgaben seines Lebens noch vor sich; daß er sie erfüllen konnte, indem er die Menschheit mit den gewaltige» Offen­ barungen seiner Musik beglückte, dazu gab ihm trotz der Schwere seines Geschicks die sittliche Kraft den Mut, die den Verzweifelten zur sonnigen Höhe seines Schöpferglücks wieder emporhob und in dem Bekenntnis gipfelt: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greife», niederbeugen soll es mich gewiß nicht." Die frei gelassenen Stellen waren für den Nachtrag des Namens Johann (seines zweiten Bruders) bestimmt.

» Die c clur-Sinfonie von Franz Schubert Ein halbes Jahr vor seinem frühen Tode — im Alter von 31 Jahren — hat der Tondichter dies Werk vollendet und damit sein sinfonisches Schaffen zum Abschluß gebracht. Eine Krone von hellem Golde, deren Glanz auch gegenüber der morgenlichen Pracht

seines Liederfrühlings nicht verbleicht. Schubert, der Zeitgenosse Beethovens, sieht an der Schwelle eines neuen Zeitalters der Musik. Ist seine Kunst im instrumentalen Bereich noch von klassischem Geiste stark berührt, so leuchtet aus seinen Liedern das Frührot der musikali­ schen Romantik. In ihnen beruht die höchste Erfüllung seiner künstle­ rischen Sendung und seine geschichtliche Größe, denn er hat das neue deutsche Kunstlied geschaffen und, indem er den Segen seines melodien­ reichen Herzens über die deutsche Lyrik ausgoß, in seinen Gesängen ein bis heute unerreichtes Vorbild gegeben. Der zum ersten Male das Lob der Schubertschen C-äur-Sinfonie sang, stand ebenso — und noch viel tiefer — im Banne der Romantik. Ja dem großen Musiker Robert Schumann verehren wir zugleich den sinnigen Poeten sowie den mit kritischem Scharfblick begabten Meister der Feder, aus dessen Geisieswelt das deutsche musikalische Schrifttum den Antrieb zu kräftiger Entfaltung empfing. Seine Gründung der „Neuen Zeitschrift für Musik" im Jahre 1834 war für das deutsche Musikleben seiner Zeit ein Akt von hoher Bedeutung, denn deren Losungswort hieß: Kampf gegen das Rückständige und Mittelmäßige, gegen die Seichtheit des Kunstgeschmacks, Schutz und Förderung den wahren Talenten. Schumann führte ihn mit scharfer Waffe und heiliger Begeisterung, und was aus dem Kreise der „Davidsbündler", jenem nur in der Phantasie des Dichters bestehenden Ge­ heimbunde, an kritischen Gedanken über Kunst und Künstler durch das neugeschaffene Organ in die musikalische Welt ging, rüttelte heftig an der flachen Kunstgesinnung der vormärzlichen Philisterseele.

* Carl Maria von Weber Die erschöpfende Behandlung des Themas gestattet es, er­ läuternde Notizen auf den Verfasser des Aufsatzes zu beschränken. Philipp Spitta ist der Senior der erst seit fünfzig Jahren kräftig aufstrebenden Musikwissenschaft. Eine glückliche Verbindung von gründlicher und vielseitiger Gelehrsamkeit mit tiefem, warmem künstlerischen Empfinden berief ihn dazu, die Grundlage zu einer den andern Geisteswissenschaften bereits geläufigen Methode der musikhistorischen Forschung zu schaffen und selbst in klarer Erkenntnis ihrer Aufgaben und Ziele den entscheidenden Schritt zu ihrer Ver­ wirklichung zu tun. Unter seinen zahlreichen wertvollen Arbeiten ragt die monumentale Dach-Biographie als ein Standwerk der Musikliteratur hervor.

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Autobiographische Skizze

Mit deren Abfassung entsprach Wagner, wre er selbst in der Einleitung zum i. Bande seiner „Gesammelten Schriften und Dichtungen" berichtet, dem Wunsche seines Freundes, des Dichters Heinrich Laube, der sie für die von ihm redigierte „Zeitung für die elegante Welt" verarbeiten wollte, dann aber in Würdigung ihres literarischen Wertes ohne Änderung veröffentlichte. Eine umfang­ reiche Ausführung dieser Skizze hat Wagner später im ersten Teil seiner (1911 erstmals erschienenen) großen Autobiographie vorgelegt. Ungeachtet des rein menschlichen Interesses an den wechsel­ vollen und oft schweren Lebensschicksalen bietet diese Selbstschilderung einen überaus lehrreichen Einblick in Wesen und Wandlungen der Wagnerschen Kunstanschauung. Wenn auch in dämmerhafter Un­ klarheit, schwebte ihm schon in seiner Jugend das Ziel eines Musik­ dramas vor, das sich im Hinblick auf das Verhältnis von Musik und Dichtung von der bisherigen Oper entfernen müsse. Er sollte freilich das Ziel wieder gänzlich aus den Augen verlieren, ehe es für ihn — vom „Fliegenden Holländer" angefangen — bestimmtere Umrisse gewann, um schließlich in seinem letzten Schaffensstadium (Nibelungen­ ring, Tristan, Meistersinger, Parsifal) völlig begriffen und schöpferisch verwirklicht zu werden.