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German Pages 41 Year 2016
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 84
HERBERT SCHAMBECK
Von Bologna über Brüssel nach Lissabon Der Weg des Rechts in dem sich integrierenden Europa
Duncker & Humblot · Berlin
HERBERT SCHAMBECK
Von Bologna über Brüssel nach Lissabon
Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 84
Von Bologna über Brüssel nach Lissabon Der Weg des Rechts in dem sich integrierenden Europa
Von
Herbert Schambeck
Duncker & Humblot · Berlin
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Inhalt I.
Der Weg des Rechts in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II.
Kulturelemente des Rechts in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
III.
Streben nach Sicherheit und Frieden durch das Recht . . . . . 11
IV.
Bemühungen um eine neue Ordnung in Europa . . . . . . . . . . 14
V.
Entwicklungen der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . 17
VI.
Die EU – eine Rechtsgemeinschaft sui generis . . . . . . . . . . . . 21
VII. Die Grundrechte der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 VIII. Die Rechte der EU-Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 IX.
Der erweiterte Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
X.
Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . 34
XI.
Die Subsidiaritätsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
XII. Die EU: auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft . . . . . . . 38 Über den Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Wer sich mit der neuen Ordnung des sich integrierenden Europas auseinandersetzt, nimmt die Europäische Union als Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft wahr, die auch Werte ausdrückt durch das Recht. Sie ist daher auch eine Werte- und Rechtsgemeinschaft geworden. I. Der Weg des Rechts in Europa Dieser Begriff der Rechtsgemeinschaft geht auf Walter Hallstein1 zurück. Die Europäische Menschenrechtskonvention 19502 und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der EU waren nach Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union die Rechtserkenntnisquellen, aus welchen sich die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechtes entwickelten3; diese Grundsätze der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit4 sind Grundlage der EU und bestimmend für die Zukunft der neuen Ordnung des sich integrierenden Europas. Denkt man als Jurist an den Weg Europas durch das Recht in die Zukunft, möge man nicht den Weg des Rechts in der Geschichte Europas vergessen; diesen Weg verdeutlichte der Frankfurter Privatrechtslehrer und Rechtsphilosoph Helmut 1 Siehe Walter Hallstein, Die EWG – eine Rechtsgemeinschaft, in: Europäische Reden, hrsg. von Thomas Oppermann, Stuttgart 1979, S. 341 ff.; derselbe, Die europäische Gemeinschaft, Düsseldorf, 5. Aufl., 1979, S. 51 ff. 2 Menschenrechte, 6. Aufl., München 2010, S. 483 ff. 3 Beachte näher Rolf Schwartmann (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 4. Aufl., Heidelberg 2011, S. 7. 4 Präambel, Art. 2 und 6 des Vertrags über die Europäische Union (EUV).
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I. Der Weg des Rechts in Europa
Coing 1989 in seinem Vortrag über „Europäische Gemeinsamkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ treffend mit „Von Bologna bis Brüssel“ 5. Im Hinblick auf die Fortsetzung dieser Entwicklung soll aus heutiger Sicht für meine Ausführung das Thema lauten: „Der Weg des Rechts in Europa von Bologna über Brüssel nach Lissabon“. Wer den Weg des Rechts bedenkt, kann feststellen, dass das Recht, in welcher Form es immer auftrat, älter als der Jurist ist.6 Bevor sich ein eigener Berufsstand mit dem Recht beschäftigte, taten dies bekanntlich die Priester neben ihren eigentlichen religiösen Aufgaben. So sei daran erinnert, dass im 5. vorchristlichen Jahrhundert auch das Rom des Zwölftafelgesetzes keinen eigenen juristischen Berufsstand hatte; die pontifices7 setzten die Riten der Rechtsakte wie die von Sakralakten. Orare war nicht etwa nur das Wort für Beten, sondern auch der Parteienvortrag vor Gericht.8 Auch „kannte das antike Rom“, wie Theo Mayer-Maly hervorhob, „neben dem ius als einer von Menschen für Menschen gebildeten Ordnung das fas als eine den Göttern gegenüber zu respektierende Ordnung. Die römisch-katholische Kirche
5 Helmut Coing, Von Bologna bis Brüssel. Europäische Gemeinsamkeiten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Kölner Juristische Gesellschaft 1989, Schriftenreihe Band 9, Bergisch Gladbach/ Köln 1989. 6 Theo Mayer-Maly, Gedanken über das Recht, Wien/Köln/Graz 1985, S. 9 ff. sowie Herbert Schambeck, Von den Aufgaben des Juristen, Juristische Blätter, 114. Jg., 11/1992, S. 677 ff., Neudruck in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, ausgewählte Beiträge zur Staatslehre und zum Staatsrecht, hrsg. von Johannes Hengstschläger, Wien 2002, S. 3 ff. 7 Näher Franz Wieacker, Altrömische Priesterjurisprudenz, in: Festschrift für Max Kaser, Wien 1986, S. 347 ff. 8 Theo Mayer-Maly, Der Jurist, Tätigkeitsbericht der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1988/89, Sonderdruck Nr. 1, Wien 1988, S. 11.
II. Kulturelemente des Rechts in Europa
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unterscheidet auch heute noch zwischen göttlichem Recht (ius divinum) und menschlichem Recht (ius humanum)“.9 Dieses Ordnungsdenken war in und für Europa bestimmend; doch stellen wir zuvor die Frage nach Europa. II. Kulturelemente des Rechts in Europa Auf diese Frage: „Was ist Europa?“ antwortete der Römischrechtler Paul Koschaker in seinem Buch: „Europa und das römische Recht“: „Europa ist in erster Linie ein kulturelles Phänomen, eine eigentümliche Verbindung germanischer und klassischer, unter diesen vorzugsweise römischer Kulturelemente . . .“ 10. Diese Kulturelemente, welche die Einheit in Europa erleben ließen, waren zum einen durch das römische Recht und hernach durch das Recht der Kirche bestimmt. Es war das antike römische Recht, das im 6. Jahrhundert der byzantinische Kaiser Justinian in der Materialsammlung des Corpus Juris erfassen ließ. Das kanonische Recht trat, vor allem im Ehe- und Personenrecht, in ergänzender Bedeutung hiezu, es geht auf die Päpste des 13. und 14. Jahrhunderts zurück. Diese beiden genannten Rechte waren bestimmend für jenes gemeine Recht, also das Jus commune, das mit Ausnahme von England in Europa galt. Wie Coing schon betonte, waren „die Hauptländer . . . Italien, die iberische Halbinsel, Frankreich, Belgien und die Niederlande, das Deutsche Reich, Polen und Ungarn sowie Schottland. In gewissem Umfange, aber nicht im gleichen Maße wie die genannten Länder, sind auch die skandinavischen Staaten vom gemeinen Recht beeinflusst worden.
Mayer-Maly, Gedanken über das Recht, S. 12. Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, München/ Berlin 1966, S. 2. 9
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II. Kulturelemente des Rechts in Europa
Außerhalb dieser gemeinsamen Rechtskultur stand dagegen Russland. Es gehörte nicht zum Bereich der lateinischen Kultur; seine Kultur hat sich vielmehr unter dem entscheidenden Einfluss der byzantinischen entwickelt.“ 11 Neben Russland bildete auch England eine Ausnahme. Coing hob hervor: „Der Grund lag darin, dass in England schon zu dem Zeitpunkt, in dem das Jus Commune sich von Italien und Südfrankreich weiter auszubreiten begann, d.h. im 13. Jahrhundert, die Plantagenets bereits ein festes Gerichtssystem mit eigenen prozessualen Regeln geschaffen hatten, und sich eine an der Praxis dieser Gerichte orientierte und ausgebildete Juristengruppe gebildet hatte. Freilich ist auch an den englischen Universitäten in Oxford und Cambridge bis ins 18. Jahrhundert hinein nur das gelehrte Recht unterrichtet worden, und es hat ja auch in England bis in das 19. Jahrhundert hinein Bereiche gegeben, die nach ,Civil Law‘ entschieden wurden und für welche die im römisch-kanonischen Recht ausgebildeten Juristen zuständig waren.“ 12 Dieses römische Recht ging in seinem Geltungsgrund, wie auch schon Coing zu unterstreichen wusste, nicht auf eine staatliche Autorität, sondern auf „die Autorität der Wissenschaft“ zurück und ist „ein europäischer Vorgang gewesen“,13 in dem die Universität Bologna Zentrum der Rechtswissenschaft war; „von dieser Universität ist die Wiederentdeckung und damit auch die Neugeltung des römischen Rechts ausgegangen“.14 In diesem Zusammenhang wies Coing auf die Rechtsfakultäten von Neapel, Padua, Salamanca, Coimbra, Montpellier, Orleans, Löwen, Wien, Prag,
11 12 13 14
Coing, a. a. O., S. Coing, a. a. O., S. Coing, a. a. O., S. Coing, a. a. O., S.
2 f. 8 f. 3. 5.
III. Streben nach Sicherheit und Frieden durch das Recht
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Heidelberg, Köln, Krakau, Uppsala und Aberdeen hin.15 Die aus diesen Rechtsfakultäten hervorgegangenen Juristen waren als Richter, Verwaltungsbeamte und Advokaten tätig. Vergleicht man diesen Stand der Juristen mit der Geschichte des Rechts, so hat Theo Mayer-Maly recht: „Der Juristenstand ist . . . erheblich jünger als das Recht“.16 Dieser grundlegende Einfluss des römischen Rechts wurde später begleitet von dem Recht der katholischen Kirche, die im Hinblick auf ihre hierarchische Ordnung verschiedene Instanzen, vor allem in der Gerichtsbarkeit, hatte. III. Streben nach Sicherheit und Frieden durch das Recht Das Recht, welches damals in Europa von Juristen im Rechtsleben angewendet wurde, war das Recht, wie auch Coing unterstreicht, „das sie auf den Hochschulen gelernt hatten . . . Die Juristen sahen die lokalen Regelungen nur als lokale Sonderregelungen an, die nur in Einzelfragen Abweichungen vom römischen Recht bedingten.“ 17 Latein war damals die Gelehrtensprache und so auch die Sprache der Juristen. Zu diesem Rechtsdenken trat später der Einfluss des Rationalismus, der nach und teils neben dem Glauben als Quelle des Ordnungsdenkens die Vernunft treten ließ, die schließlich zur Vernunftrechtslehre18 und zu Kodifikationen19 führte. Als Beispiel hiefür seien genannt das Preußische Landrecht 1794, der Code Civil Frankreichs 1803 und das AllCoing, a. a. O., S. 6. Mayer-Maly, Der Jurist, S. 7. 17 Coing, a. a. O., S. 7. 18 Siehe Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 249 ff. 19 Näher Wieacker, a. a. O., S. 322 ff. 15 16
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III. Streben nach Sicherheit und Frieden durch das Recht
gemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs 1811, das noch heute gilt. Die Vernunft führte zu Kodifikationen des Rechts, die den Grund ihrer Geltung nicht in dem Wissen der Juristen hatten, sondern in der Autorität des jeweiligen Staates und im Fall von Monarchien in der Autorität des jeweiligen Herrschers. Auf diese Weise fand die jeweilige Staatlichkeit im Recht ihren normativen Ausdruck und wie auch Coing bereits unterstrich, „ging die Rechtseinheit des Jus Commune verloren“.20 In diesem Zusammenhang traten auf dem Weg der Selbstbesinnung des jeweiligen Staatsvolkes die Nation und das Demokratiebewusstsein im öffentlichen Leben sowie in der Politik in den Vordergrund. Coing21 weist aber auch auf Grenzen der Nationalisierung des Rechts und der Rechtswissenschaft hin. So war im 19. Jahrhundert das auf Napoleon zurückgehende Recht auch nach seiner Zeit von Grenzen überschreitendem Einfluss und „galt es für die europäischen Liberalen weitgehend als das ideale Recht“; daneben „hat dann auch die deutsche Pandektistik als eine Art allgemeine Theorie des Privatrechts europäische Bedeutung erlangt: sogar in Skandinavien und in England“. Als neue Fachrichtung war noch die Rechtsvergleichung zunächst des privaten und später auch des öffentlichen Rechts hinzugetreten. Leider führte diese Entwicklung weniger zu einer Solidarität der Völker und einem Miteinander der Staaten, sondern immer deutlicher werdend im 19. Jahrhundert trotz der Bemühungen des Wiener Kongresses 1814/15 zu einem Nebeneinander und schließlich zu einem Gegeneinander im 20. Jahrhundert, das mit rivalisierenden Nationen und Ge20 21
Coing, a. a. O., S. 10. Coing, a. a. O., S. 12.
III. Streben nach Sicherheit und Frieden durch das Recht
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gensätzen an Interessen in zwei Weltkriegen vielen Millionen das Leben kostete. Die Folge dieser konflikt- und opferreichen Entwicklung des 20. Jahrhunderts war hernach eine Sehnsucht und ein Streben nach Frieden. Bekanntlich hatte bereits Immanuel Kant22 seine Schrift „Zum ewigen Frieden“ 1795 verfasst, und schon während des Wiener Kongresses, also im 2. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, legte Karl Christian Friedrich Krause den „Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis eines allgemeinen Friedens und als rechtliches Mittel gegen jeden Angriff wider die innere und äußere Freiheit Europas“ 23 vor. Die Rivalität der Nationen, die Gegensätze an Interessen und die Machtansprüche der Herrscher verhinderten das Mit- und Füreinander in der Völkergemeinschaft und ließen erst nach den so opferreichen beiden Weltkriegen, die jedes Mal von Europa ausgingen und nahezu alle Erdteile in Mitleidenschaft bezogen haben, Initiativen zu organisierten Staatengemeinschaften wirksam werden und nach dem 1. Weltkrieg den Völkerbund mit Sitz in Genf und nach dem 2. Weltkrieg die Vereinten Nationen mit Sitz in New York entstehen. In der Zwischenzeit hatte Richard CoudenhoveKalergi 1923 in seinem Aufsehen erregenden Buch „Paneuropa“ 24 die europäischen Staaten zum Zusammenschluss in einem politisch-wirtschaftlichen Staatenbund aufgerufen.25
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Königsberg 1795. Karl Christian Friedrich Krause, Entwurf eines europäischen Staatenbundes als Basis eines allgemeinen Friedens und als rechtliches Mittel gegen jeden Angriff wider die innere und äußere Freiheit Europas, 1814, neu herausgegeben und eingeleitet von Hans Reichel, Leipzig 1920. 24 Richard Coudenhove-Kalergi, Paneuropa, Wien 1923. 25 Siehe Coudenhove-Kalergi, a. a. O., S. IX, S. 151 ff. 22 23
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IV. Bemühungen um eine neue Ordnung in Europa
IV. Bemühungen um eine neue Ordnung in Europa Zu einem konkreten Schritt für eine neue Ordnung Europas ist es zunächst 1949 in Westeuropa durch die Schaffung des Europarates26 als politische Einigung für alle europäischen Angelegenheiten, ausgenommen Wirtschafts- und Verteidigungsfragen, gekommen. Dem Europarat, der mittlerweile 47 Mitgliedstaaten umfasst, war es möglich, mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrecht und Grundfreiheiten 195027 und der Europäischen Sozialcharta 196128 zum Rechtsschutz des Einzelnen und so zur Weiterentwicklung der Grundrechte beizutragen. Von wirtschafts-, staats- und europapolitischer Bedeutung ist es durch den am 9. Mai 1950 in einer Erklärung der französischen Regierung verkündeten Plan des französischen Außenministers Robert Schuman29 nach einem Vorschlag des Leiters des französischen Planungsamtes Jean Monnet30 über die Vereinigung der deutschen und französischen Kohle- und Stahlindustrie gekommen. Dieser Plan wurde verwirklicht mittels des Pariser Vertrages vom 18. April 1951 durch die Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Montanunion, in der sich neben Frank-
Sammlung Europäischer Verträge (SEV) Nr. 1. SEV Nr. 5. 28 SEV Nr. 35; siehe Herbert Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung, Gedanken zur Europäischen Sozialcharta, Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 88, Berlin 1969. 29 Beachte Hans August Lücker/Jean Seitlinger, Robert Schuman und die Einigung Europas, Luxemburg 2000. 30 Dazu Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, Baden-Baden 1988, Anna Holz, Jean Monnets Europaidee damals und heute. Die Aktualität der Europaidee im Lichte der Integrationsdebatte im Port-Nizza-Prozess, Saarbrücken 2007 und Otto Nigsch, Die Methode Monnet, Berlin 2015. 26 27
IV. Bemühungen um eine neue Ordnung in Europa
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reich und Deutschland Belgien, Luxemburg, Holland und Italien in einer Sechsergemeinschaft zusammenschlossen. Mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)31 und der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM)32 1957 durch dieselben Staaten entstand schließlich eine Gemeinschaft33, die inzwischen – wenn auch in weiterentwickelter Form – 28 Staaten umfasst, auch postkommunistische Staaten in Mittel- und Osteuropa. Schon 1965 wurden diese drei Gemeinschaften im Fusionsvertrag34 vereint. 1987 entwickelte die EG unter dem Kommissionspräsident Jacques Delors mit der Einheitliche Europäische Akte35 den Plan eines EG-Binnenmarktes, der bis 1993 verwirklicht wurde. Unter dem Dach dieses sich integrierenden Europas erfolgte die Wiedervereinigung Deutschlands36 und vergrößerte damit am 3. Oktober 1990 die EU um 20 Millionen neue Staatsbürger. Dieser Wirtschaftsgemeinschaft wurde 1992 durch den Vertrag von Maastricht37 der Weg zu einer politischen Union eröffnet und der Euro als gemeinsame Währung eingeführt. Immer mehr entwickelte sich die EU zu einer Wirtschaftsund Währungsgemeinschaft sowie zu einer Rechts- und Wertegemeinschaft, die besonders deutlich durch den 2004 in Rom von allen Regierungsvertretern der EU-Staaten unter-
31 (Deutsches) BGBl. 1957 II, S. 766. (Nicht im ABl. veröffentlicht.) 32 (Deutsches) BGBl. II, S. 1014. (Nicht im ABl. veröffentlicht.) 33 Dazu näher Peter Fischer/Heribert Franz Köck/Margit Karollus, Europarecht, 4. Aufl., Wien 2002. 34 ABl. 152 vom 13.7.1967. 35 ABl. L 169 vom 29.6.1987. 36 Einigungsvertrag vom 31. August 1990, BGBl. 1990 II, S. 889. 37 ABl. C 191 vom 29.7.1992.
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IV. Bemühungen um eine neue Ordnung in Europa
zeichneten Vertrag38 über eine Verfassung für Europa sich bemühte, eine Verfassungsgemeinschaft zu sein. Dieser Begriff „Verfassung“ sollte aber nicht den Eindruck der Ordnung für einen Oberstaat schaffen, sondern für eine Staatengemeinschaft, die das deutsche Bundesverfassungsgericht39 als „Staatenverbund“ bezeichnete. Jeder der 28 EU-Staaten hat einerseits seine eigenen Ursprungs- und Existenzbedingungen sowie daher auch die jeweils eigene Struktur an normativen Verfassungen40, andererseits eignet ihnen eine eigene Geschichte und Umstände, die sie zur europäischen Einigung führten oder dabei begleiteten, so z. B. zwischen Frankreich und Deutschland die Beendigung alter Gegensätze, die auch zu zwei Weltkriegen führten, oder in Griechenland, Spanien und Portugal die Beendigung einer autoritären Zeit, welche sie nun auch politisch und wirtschaftlich an dem demokratischen Europa teilnehmen lassen sollte; das gilt auch für die postkommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas41, welche die sogenannte Osterweiterung der Europäischen Union prägten. Die Verschiedenheit der Entwicklung der einzelnen heutigen EU-Staaten verbindet sich mit der Kontinuität der Weiterentwicklung der Integration und den sie begleitenden zeitbedingten Umständen im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Leben. 38 Vertrag über eine Verfassung für Europa samt Protokolle, Anhänge und Schlussakte, 851 der Beilagen zu den Stenografischen Protokollen des Nationalrates XXII. GP. 39 BVerfGE 89, 155. 40 Art. 6 (3) EUV, siehe Adolf Kimmel (Hrsg.), Verfassungen der EU-Mitgliedstaaten, Textausgabe mit einer Einführung, 6. Aufl., 2005. 41 Siehe Herbert Schambeck, Politik und Verfassungsordnung postkommunistischer Staaten Mittel- und Osteuropas, in: derselbe, Zu Politik und Recht, Ansprachen, Reden, Vorlesungen und Vorträge, hrsg. von den Präsidenten des Nationalrates und des Bundesrates, Wien 1999, S. 121 ff.
V. Entwicklungen der europäischen Integration
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V. Entwicklungen der europäischen Integration Diese Phasen der Entwicklung der europäischen Integration42 erfolgten nicht wie in einem Staat durch Beschluss einer verfassunggebenden Volksversammlung, sondern von Anfang an und auch später durch von Regierungsvertretern abgeschlossene Verträge. Die Exekutivorientiertheit sowie die Vertrags- und nicht die Gesetzesform bestimmten den Weg der europäischen Integration, wenngleich die Exekutivvertreter in ihren Parlamenten diese Verträge zu ratifizieren hatten und diesen auch politisch verantwortlich waren. Die einzelnen Schritte der europäischen Integration waren daher auch immer von den Volksvertretungen mitgetragen und damit demokratisch legitimiert. Diese Maßnahmen, die in Vertragsform durch Regierungsvertreter vorgenommen wurden, waren auch etappenweise mit entscheidenden Kompetenzübertragungen von den Mitgliedstaaten an die Europäische Union verbunden, wie etwa durch die Einheitliche Europäische Akte 198643 der Umweltschutz, Umwelt und Sicherheit der Arbeit, Forschung und Technologie, Ausbildung, Gesundheits- und Verbraucherschutz, durch den Maastrichter Vertrag 199244 die Unionsbürgerschaft, die Währungspolitik, die Entwicklungspolitik, Bildung und Kultur, transeuropäische Netze, die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips, die Heranführung von Außen- und Sicherheitspolitik sowie Innen- und Rechtspolitik im Rahmen des EU-Vertrages sowie durch den Vertrag von Amsterdam 199745 die Asyl- und Einwanderungspolitik, die
42 Fischer/Köck/Karollus, a. a. O., S. 26 ff. und Rudolf Streinz, Europarecht, 9. Aufl., Heidelberg 2012, S. 4 ff. 43 Vom 17./23. Februar 1986, ABl. 1987, Nr. L 169, S. 1. 44 Vom 7. Februar 1992, ABl. 1992, Nr. C 191, S. 4 ff., auch ABl. 1992, Nr. C 224, S. 1 ff. 45 Vom 2. Oktober 1997, BGBl. II 1998, S. 387, ber. BGBl. II 1999, S. 416.
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V. Entwicklungen der europäischen Integration
Standards der Außengrenzkontrollen, die Rechtshilfe in Zivilsachen, die Zollzusammenarbeit sowie die Weiterentwicklung des Subsidiaritätsprinzips. Im Vertrag von Nizza 200046 wurden insbesondere eine Institutionenreform, Verfahren zur Verrechtlichung von Sanktionen wegen Verletzung der Grundsätze des Art. 6 Abs. 1 EUV47, eine Änderung der Vorschriften über die GASP, über die „verstärkte Zusammenarbeit“ in sektoriellen Politikbereichen und die Schaffung einer europäischen Stelle für institutionelle Zusammenarbeit beschlossen. Diese Übersicht zeigt, wie sehr in den Jahrzehnten der Entwicklung der europäischen Integration ihr Aufgabenbereich durch Kompetenzerweiterungen vergrößert wurde und anstelle pragmatischer Zusammenarbeit von Regierungsvertretern zunehmend vertragliche Vereinbarungen getreten sind, die von den Parlamenten der Mitgliedstaaten zu ratifizieren waren. Das EU-Recht und das Recht der Mitgliedstaaten sind verzahnt und verklammert48. Repräsentanten der Mitgliedstaaten, welche durch ihre Verfassungen legitimiert sind, sind wegweisend für die Rechtsetzung der Europäischen Union. Auf diese Weise geht auch die Grundordnung der Europäischen Union auf die Verfassung der einzelnen EU-Staaten Vom 26. Februar 2001, ABl. 2001, Nr. C 80/1. Vgl. dazu Margit Hintersteininger, Enhancing the Rule of Law Within the European Union – the Contribution of the Treaty of Nice. Some Observations Concerning the Amendments to TEU Arts. 7 an 46, in: Austrian Review of International and European Law 2000, S. 31 ff.; Hintersteininger, Binnenmarkt und Diskriminierungsverbot. Unter besonderer Berücksichtigung der Situation nicht staatlicher Handlungseinheiten, 1999 sowie Margit Hintersteininger/ Heribert F. Köck, Europa als Sicherheits- und Wertegemeinschaft. Überlegungen aus universeller, regionaler und nationaler Perspektive, Wien 2000. 48 Dazu auch Jürgen Schwarze, Das Staatsrecht in Europa, Juristenzeitung 1993, S. 585 ff. 46 47
V. Entwicklungen der europäischen Integration
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zurück und wird so legitimiert. Die Legitimation der Europäischen Union ist daher keine originäre, sondern eine von ihren Mitgliedstaaten abgeleitete. Die Europäische Union kann daher diese Staaten nicht ersetzen und, wie von manchen befürchtet, eine Art Superstaat werden. Die Staaten sind nämlich, wie es das deutsche Bundesverfassungsgericht schon ausgedrückt hat, „die Herren der Verträge“ 49 und damit auch die Bedingung für die Weiterentwicklung des EURechtes. Während der einzelne Verfassungsstaat seine Kontinuität mit Stabilität zu verbinden sucht, ist dies bei der Europäischen Union anders; sie ist veranlasst, die Kontinuität mit Dynamik zu verbinden. Diese Dynamik verlangt von den einzelnen Mitgliedstaaten der EU sowohl ihre Aufgaben in der EU als auch ihre innerstaatlichen Kompetenzen mit Solidarbewusstsein, auch wie Ferdinand Trauttmannsdorf unterstreicht, „im Zusammenwirken mit dem Nachbarn umzusetzen . . . Der ,Brüsseler Prozess‘ verstellte bisher oft den Blick dafür. Grenzüberschreitende Aufgaben wurden allzu leichtfertig als Aufgaben wahrgenommen, die in die Zuständigkeit der Brüsseler Institutionen und daher nicht mehr in die eigene nationale Verantwortung fallen. Es ist das Ziel der Europäischen Integration, nationalen Eigensinn zu überwinden.“ Es „muss der nationale Eigensinn vor allem auch im direkten Kontakt miteinander überwunden werden. Dazu muss sowohl von den Regierungen als auch in Brüssel der Nutzen des gemeinsamen Handelns unmittelbar zwischen den Mitgliedstaaten zum Abbau der nach wie vor trennenden Grenzen vermehrt anerkannt werden . . . Kurzum mit den Nachbarn die Reihen zu schließen, heißt die eigene Verantwortung für das ge-
49 Entscheidung des BVerfG 2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/2 EuGRZ 1993, S. 585 ff.
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V. Entwicklungen der europäischen Integration
meinsame Europa wahrzunehmen.“ 50 Die Voraussetzung für diese Nachbarschaftsaktivität innerhalb der EU bietet das Verfassungsrecht der EU-Mitgliedstaaten. Die Verfassungsstaatlichkeit der einzelnen Mitgliedsländer ist damit begründend und wegweisend für die Zweckgemeinschaft der Europäischen Union.51 Der Hinweis auf die Systeme und die Entwicklung dieser Verfassungsordnungen europäischer Staaten ist nicht bloß für diese selbst und deren Bevölkerung von Bedeutung, sondern auch für die europäische Staatengemeinschaft überhaupt, insbesondere für den Staatenverbund der EU.52 Im Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 werden nämlich in Zusammenhang mit den Grundlagen der Union im Art. 6 die „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ genannt, die sich „als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechtes ergeben“.53 In diesem Zusammenhang sei auch auf die Beschlüsse des Europäischen Rates vom Juni 1993 in Kopenhagen54 verwie50 Ferdinand Trauttmannsdorf, Neue alte Nachbarn: Tschechien und Österreich, Europäische Rundschau, 43. Jahrgang, 2015/1, S. 80 f. 51 Diese Wechselwirkung zwischen nationalen und – dem von ihm anerkannten – europäischen Verfassungsrecht unterstreicht etwa auch Ingolf Pernice, Europäisches und Nationales Verfassungsrecht, in: Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer 60 (2001) S. 153, der diese beiden Grundordnungen als „zwei Ebenen eines materiellrechtlich, funktional und institutionell zu einer Einheit verbundenen Systems“ versteht. 52 Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes der Bundesrepublik Deutschland 89, 155 sowie dazu Paul Kirchhof, Das MaastrichtUrteil des Bundesverfassungsgerichtes, in: Der Staatenverbund der Europäischen Union, hrsg. von Peter Hommelhoff/Paul Kirchhof, Heidelberg 1994, S. 11 ff. 53 Siehe Europarecht Textausgabe mit einer Einführung von Claus Dieter Classen, 18. Aufl., München 2003, S. 5. 54 Tagung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft am 21. und 22. Juni 1993; ABl. 1993, Nr. C 194, S. 216 ff.
VI. Die EU – eine Rechtsgemeinschaft sui generis
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sen, der erstmals näher bestimmte Maßstäbe bzw. Voraussetzungen für die Mitgliedschaft eines Staates in der EU genannt hat. Es sind wirtschaftliche und politische Forderungen; die wirtschaftlichen Forderungen sind auf eine funktionsfähige Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten, gerichtet, und die politischen Forderungen verlangen, das „der Beitrittskandidat eine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklicht haben“ muss. Darüber hinaus muss der gemeinschaftsrechtliche Besitz (acquis communautaire) übernommen werden.55 VI. Die EU – eine Rechtsgemeinschaft sui generis Wenn man diese Grundsätze und Anforderungen der EU bedenkt, darf man nicht den Vergleich mit einem Staat machen. Die EU ist kein Staat und kann auch nie einer werden, sie ist vielmehr ein Staatenverbund. Sie ist eine Rechtsgemeinschaft sui generis, die aus dem Wollen ihrer Mitglieder lebt und sich weiterentwickelt.56 Diese Weiterentwicklung der EU als sui generis erfolgt nicht bei allen Mitgliedstaaten in gleicher, sondern auch in sogenannter abgestuften Integration, und zwar dadurch, wie auch Max Haller feststellt, „dass nicht alle Mitgliedstaaten der EU in gleicher Weise an allen Integrationsschritten teilnehmen müssen, sondern dass einige darunter spezielle weitergehende Formen der Zusammenarbeit und Integration
Dazu Fischer/Köck/Karollus, a. a. O., S. 52. Beachte: Europa als politische Idee und als rechtliche Form, hrsg. von Josef Isensee, Berlin 1993, darin besonders Paul Kirchhof, Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, S. 63 ff. 55 56
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VI. Die EU – eine Rechtsgemeinschaft sui generis
vereinbaren57 . . . wichtige EU-Verträge und Vereinbarungen wurden nur von einem Teil der Mitgliedstaaten übernommen. Die beiden bekanntesten Beispiele sind das SchengenAbkommen über den freien Personenverkehr und die gemeinsame Währung; größere Mitgliedstaaten wie Großbritannien, Dänemark und Schweden haben den Euro nicht übernommen und sind dem Schengen-Abkommen nicht beigetreten.“ 58 Das Recht begründete die Europäische Union und entwickelt sie fort. Bei der Rechtsetzung ist die Europäische Union an das sogenannte primäre Gemeinschaftsrecht, das die Mitgliedstaaten bei der Gründung und Fortentwicklung der Gemeinschaft beschlossen haben, gebunden. Dieses Recht begründet die Gemeinschaft, autorisiert ihre Organe, bestimmt deren Kompetenzen und schreibt das Verfahren vor.59 Vergleicht man dieses primäre Gemeinschaftsrecht der EU mit dem Verfassungsrecht eines Staates60, so unterscheidet es
57 Vgl. dazu auch Fritz Beus/Stefan Griller (Hrsg.), Flexible Integration in Europa. Einheit oder „Europa à la carte“, Wien 1995 und Anja Keutel, Geschichte und Theorie der abgestuften Integration, Sozialraum Europa, SEU-Working Paper 2/2012, Institut für Soziologie, Universität Leipzig. 58 Max Haller, Abgestufte Integration der EU. Wege aus dem Dilemma, Europäische Rundschau, 43. Jahrgang 2015/1, S. 61 f. 59 Über die Europäische Gemeinschaft als Rechtsgemeinschaft siehe Bea Verschraegen, in: Heinrich Neisser/Bea Verschraegen, Die Europäische Union, Anspruch und Wirklichkeit, Wien 2001, S. 245 ff. 60 Siehe Herbert Schambeck, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassung in staatlicher und europäischer Sicht, Revista de Stiinte Juridica, Universitatea din Craiova Facultatea de drept si Stiinte administrative 1 (C 42), 2008, S. 7 ff. sowie Neudruck in: derselbe, Beiträge zum Verfassungs- und Europarecht, hrsg. von Andreas Janko/ Boguslaw Banaszak/Damiano Nocilla/Walter Schmitt Glaeser/Michael Tomàsek, Wien 2014, S. 367 ff. und Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl., Baden-Baden 2008.
VI. Die EU – eine Rechtsgemeinschaft sui generis
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sich vor allem in zweifacher Hinsicht: das staatliche Verfassungsrecht beinhaltet grundsätzliche Bestimmungen mit Totalitätsanspruch für das gesamte Gemeinwesen, das primäre Gemeinschaftsrecht hingegen besteht aus begrenzten Einzelermächtigungen, die allerdings ausführlich sind.61 Verfassungen62 sind nach dem Verständnis der heutigen Zeit das Ergebnis einer demokratischen Staatswillenbildung durch ein konstituierendes Parlament und allenfalls einer folgenden Volksabstimmung. Das EU-Recht ist in Vertragsform zustande gekommen und geht in seinem Zustandekommen auf Regierungsvertreter zurück.63 Diese Regierungsvertreter waren wegweisend für eine neue normative Grundordnung der EU, die in dem „Entwurf für eine Verfassung für Europa“ vom 29. Oktober 2004 nach getrennter Ausarbeitung sowohl einen organisationsrechtlichen wie einen grundrechtlichen Teil beinhaltete.64 Die Ratifikation des EU-Verfassungsvertrages ist aber auf zu große Schwierigkeiten gestoßen. Oft wurden Bedenken, Probleme und Schwierigkeiten von der Ebene der Innenpolitik der einzelnen Mitgliedstaaten im Stimmverhalten auf die Ebene der EU übertragen. Dazu kam auch, dass der Begriff „Verfassungsvertrag“ nicht von allen verstanden wurde; manche meinten, es entstünde dadurch ein Ober- bzw. Überstaat, den sie aber ablehnten. Es wäre viel besser gewesen, an
61 Dazu Dieter Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, München 1995, S. 28 ff. 62 Grundlegend Oskar Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates. Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, Zürich 1945, Neudruck Darmstadt 1971. 63 Näher Fischer/Köck/Karollus, a. a. O., S. 303 ff. 64 Dazu Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Hermann, Die neue Verfassung für Europa. Einführung mit Synopse, München 2005, S. 18 ff.
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Stelle des Begriffs „Verfassungsvertrag“ den eines „Grundvertrages“ zu verwenden.65 Um die Entwicklung nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags voranzubringen, beschloss der Europäische Rat bei seinem Gipfel am 21. und 22. Juni 2007 ein auf 15 Seiten genau formuliertes Mandat für neue Verhandlungen über den Reformvertrag. Am 23. Juli 2007 nahm eine Regierungskonferenz die Verhandlungen auf und legte beim nächsten EUGipfeltreffen am 18./19. Oktober 2007 einen neuen Vertragsentwurf vor, der am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet wurde.66 Dieser Vertrag nimmt die wesentlichen Gedanken des Verfassungskonvents auf, verschiebt das Inkrafttreten einzelner Regelungen etwas weiter in die Zukunft und verzichtet auf die Erwähnung von Hymne und Sternenflagge. Die haben sich ohnehin längst als europäische Symbole durchgesetzt. Nach dem Scheitern des Projekts einer „Verfassung für Europa“ ist es gelungen, wesentliche Inhalte des abgelehnten Vertragsentwurfs67 in einem neuen Vertrag, der im Zuge seiner Entstehung von seinem allgemeinen Ziel her auch als Reformvertrag und von seinem Charakter her auch als EUGrundlagenvertrag bezeichnet wurde, für den sich nach sei65 Siehe Herbert Schambeck, Über die Idee einer EU-Verfassung, in: Ein Leben in Praxis und Wissenschaft, Festschrift für Walter Barfuß, Wien 2002, S. 227 ff., Neudruck in: derselbe, Beiträge zum Verfassungs- und Europarecht, S. 431 ff. 66 Siehe Rudolf Streinz, Der europäische Verfassungsprozess, Grundlagen, Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle Analysen 46, Hanns Seidel Stiftung, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, München 2008 sowie: Der Vertrag von Lissabon, EU-Vertrag, Vertrag über die Arbeitsweise der EU – Konsolidierte Fassungen, Rolf Schwartmann (Hrsg.), 4. Aufl., Heidelberg 2011. 67 Vgl. zu diesem Heribert Franz Köck/Tanja Marktler, Der Verfassungsvertrag – Überblick und Analyse, in: Klaus Bockmann/Jürgen Dieringer/Ulrich Huffeld (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2. Aufl., Tübingen 2005, S. 328 ff.
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nem Abschlussort der Name Vertrag von Lissabon68 durchgesetzt hat, in das Primärrecht der Europäischen Union zu übernehmen. Es handelt sich – wie bei den früheren primärrechtlichen Verträgen – um einen völkerrechtlichen Vertrag, der von den 27 Mitgliedstaaten am 13. Dezember 2007 unterzeichnet wurde, und zwar wegen der damaligen portugiesischen Ratspräsidentschaft in Lissabon. Wie der geplante Verfassungsvertrag ersetzt er das bisherige Vertragswerk, allerdings nicht durch einen einzigen Vertrag, wie das bei der Verfassung geplant war, sondern durch drei Instrumente, nämlich den Vertrag über die Europäische Union69, den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union70 und die EU-Grundrechtecharta71, die alle gleichen Rang haben. Dabei steht der Vertrag über die Europäische Union in der Tradition seines Vorläufers von 1992 und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union in der Tradition des EG-Vertrags, der auf den EWG-Vertrag von 1951 zurückgeht. Durch das neue Vertragswerk hat die Europäische Union eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit erhalten. Der Vertrag von Lissabon hat auch dem Einzelnen Freiheiten und Grundrechte garantiert, die in der EU-GrundrechteCharta72 verankert sind, der Rechtsverbindlichkeit verliehen wurde. Ausdrücklich werden im Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union als „Werte, auf die sich die Union gründet“, genannt „die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die 68 Siehe Klemens H. Fischer, Der Vertrag von Lissabon. Text und Kommentar zum Europäischen Reformvertrag, Baden-Baden 2008. 69 ABl. Nr. C 83/13 vom 30.3.2010. 70 ABl. Nr. C 83/47 vom 30.3.2010. 71 ABl. 2007 C 303/1 vom 12.12.2007. 72 Siehe Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, hrsg. von Peter J. Tettinger/Klaus Stern, München 2006.
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VII. Die Grundrechte der EU
Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“, ohne allerdings diesbezügliche Personengruppen konkret zu nennen. „Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“ Die EU-Grundrechtecharta anerkennt im Art. 1 auch die Würde des Menschen, im Art. 2 das Recht auf Leben sowie in eigenen Abschnitten Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte, liberale, politische und soziale Grundrechte sowie justizielle Rechte. Die Charta der Grundrechte der EU bekräftigt in ihrer Präambel auch das Subsidiaritätsprinzip sowie die Gemeinsamkeit der Verfassungstraditionen und internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. VII. Die Grundrechte der EU Grundrechte73 sind Ausdruck des Strebens des Menschen nach Rechtssicherheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Grundrechte sind subjektive Schutzrechte, welche dem Einzelnen, sei es als physische oder juristische Person, gegenüber dem Staat oder in dem Staat zustehen. Erstmals sind die Grundrechte im Rahmen der Europäischen Union durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union74 kodifiziert. Mit der Charta sind die EU-Grundrechet erstmals umfassend schriftlich und in einer verständlichen Form niedergelegt. Sie orientiert sich an der Europäischen Menschenrechtskonven73 Dazu Herbert Schambeck, Die Grundrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Ordnung im sozialen Wandel, Festschrift für Johannes Messner zum 85. Geburtstag, hrsg. von Alfred Klose/Herbert Schambeck/Rudolf Weiler/Valentin Zsikovits, Berlin 1976, S. 445 ff. 74 ABl. 2007 C 303/1.
VII. Die Grundrechte der EU
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tion 1950, an der Sozialcharta des Europarates75 1961 und der Union76 1989 sowie der Rechtsprechung des EU-Gerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Die Charta wurde ursprünglich vom ersten europäischen Konvent unter dem Vorsitz von Roman Herzog77 erarbeitet und u. a. vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union gebilligt. Rechtskraft erlangte die zur Eröffnung der Regierungskonferenz von Nizza am 7. Dezember 2000 feierlich proklamierte Grundrechtecharta nach dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages78 jedoch erst am 1. Dezember 2009 gemeinsam mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon79. Diese Grundrechtecharta80 ist nicht mehr Teil des Vertrages, sondern besteht neben diesen Verträgen eigenständig und gleichrangig (Art. 6 EUV)!
Beachte Schambeck, Grundrechte und Sozialordnung. Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989; Text in: KOM (89) 248 endg. 77 Dazu Roman Herzog, Jahre der Politik. Die Erinnerungen, München 2007, S. 295 ff. 78 Siehe Herbert Schambeck, Über die Entwicklung des sich integrierenden Europa zum EU-Verfassungsvertrag und zum Reformvertrag von Lissabon, European Unions History Culture and Citizenship. Current problems of European Integration, April 17–18th 2009, Pitesti 2009, S. 13 ff.; derselbe, Der Reformvertrag von Lissabon und die europäische Integration, European Unions History, May 13–14th, 2011, Pitesti 2011, S. 7 ff. 79 Beachte Christian Calliess, Die neue EU nach dem Vertrag von Lissabon, Tübingen 2010 und Herbert Schambeck, Die Verfassungen der Staaten und die neue Ordnung des sich integrierenden Europa, Disputationes Societatis Scientiarum Bohemiae 1, Praha 2011. 80 Beachte Heribert F. Köck, Das Verhältnis des Grundrechtsschutzes nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und nach dem Recht der Europäischen Union unter besonderer Berücksichtigung des Beitritts der Letzteren zur EMRK, in: Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, hrsg. von Michael Sachs/Helmut Siekmann, Berlin 2012, S. 785 ff. 75 76
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VII. Die Grundrechte der EU
Die Charta enthält die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte, die bisher nur als allgemeiner Verweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Vertrag genannt wurden (Art. 6, Abs. 2 des EU-Vertrages). Damit sollen die Grundrechte für den Einzelnen transparenter werden. Zugleich sollen Identität und Legitimität der Europäischen Union gestärkt werden. In sechs Titeln (Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte) fasst die Charta die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte und die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in einem Dokument zusammen. Ein weiterer Titel regelt die sogenannten horizontalen Fragen; er enthält die Regeln, die querschnittsartig für alle Grundrechte gelten (Adressaten der Grundrechte, Grundrechtsschranken, Verhältnis zu anderen Grundrechtsgewährleistungen, insbesondere zur Europäischen Menschenrechtskonvention, Missbrauchsverbot). In diesen Grundrechten der EU drücken sich die Grundrechte des abendländischen Rechtsdenkens81 in ihrer Tradition sowie in ihrem Beitrag zur demokratischen Verfassungsstaatlichkeit mit dem System der sozialen Marktwirtschaft deutlich aus. Wie sich deutlich aus Art. 6 des Vertrages über die Europäische Union ergibt, gibt es drei Grundrechtsquellen für die EU: Grundrechte der Charta der Grundrechte der EU vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung, die Rechte der europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, sowie jene sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der EU als allgemeine Grundsätze ergebenden Rechte82. Die Grund81 Siehe Alfred Verdross, Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Auflage, Wien 1963. 82 Vgl. Art. 6 Abs. 3 Unionsvertrag: „Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und
VIII. Die Rechte der EU-Grundrechtecharta
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rechtecharta ist zwar nicht in die Verträge eingebaut, nach Art. 6 Abs. 1 EUV sind die Charta der Grundrechte und die Verträge aber rechtlich gleichrangig. Diesen Grundrechten der EU wird eine aussagekräftige Präambel vorangestellt, nach der sich die Union „in dem Bewusstsein ihres geistigreligiösen und sittlichen Erbes . . . auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität“ gründet. „Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes begründet.“ VIII. Die Rechte der EU-Grundrechtecharta Geradezu bekenntnishaft beginnt der in sechs Titeln gefasste Katalog der EU-Grundrechte mit der Achtung der „Würde des Menschen“ im Art. 1 des Titels I: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents erklären ausdrücklich, „dass die Menschenwürde das eigentliche Fundament der Grundrechte sei und auch, ein Grundrecht an sich“.83 Diese Erklärung der unantastbaren sowie zu achtenden und zu schützenden Würde des Menschen (Art. 1 GRC) wird in diesem Titel I verbunden mit dem Recht auf Leben, welches das Verbot der Todesstrafe und der Hinrichtung mit einschließt (Art. 2 GRC), dem Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit einschließlich des Verbots eugenischer Praktiken und des repro-
Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“. 83 Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtskonvents vom 20.9.2000, Charte 4471/00, Convent 48,3; Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, 17.
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VIII. Die Rechte der EU-Grundrechtecharta
duktiven Klonens von Menschen (Art. 3 GRC), dem Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafen oder Behandlung (Art. 4 GRC) sowie dem Verbot der Sklaverei, der Zwangsarbeit und des Menschenhandels (Art. 5 GRC). Die Reihe der spezifischen Grundrechte wird mit den liberalen Rechten in Titel II „Freiheiten“ begonnen, nämlich dem Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 6 GRC), auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRC), auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRC), das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen (Art. 9 GRC), das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit einschließlich des Rechts auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen „nach den einzelstaatlichen Gesetzen“ (Art. 10 GRC), auf Meinungs- und Informationsfreiheit (Art. 11 GRC), auf Versammlungs- und Vereinsfreiheit, ausdrücklich bezogen auf die politischen Parteien (Art. 12 GRC), die Freiheit der Kunst und der Wissenschaft (Art. 13 GRC), das Recht auf Bildung (Art. 14 GRC), auf Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten (Art. 15 GRC), das Recht auf unternehmerische Freiheit (Art. 16 GRC), auf Eigentum vorbehaltlich der Möglichkeit der Enteignung zum Wohl der Allgemeinheit unter gesetzlichen Bedingungen (Art. 17 GRC), auf Asyl (Art. 18 GRC) und Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung mit Verbot der Kollektivausweisung (Art. 19 GRC). Diesen liberalen Grundrechten, die auch einige Ansätze zu sozialen Grundrechten aus der Sicht der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (Art. 15, 16 und 17 GRC) beinhalten, folgen im Titel III Gleichheitsgrundsätze, nämlich die Gebote der Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 20 GRC), der Nichtdiskriminierung (Art. 21 GRC), der Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen (Art. 22 GRC), der Gleichheit von Frauen und Männern (Art. 23 GRC), der Anerkennung der Rechte älterer Menschen (Art. 25 GRC) und der Integration von Menschen mit Behinderung (Art. 26 GRC).
VIII. Die Rechte der EU-Grundrechtecharta
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Den sozialen Grundrechten wird nach den erwähnten Ansätzen im Titel II bei den liberalen Rechten (Art. 15, 16, 17 GRC) ein eigener Katalog im Titel IV „Solidarität“ gewidmet. Diese beziehen sich auf das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen (Art. 27 GRC), auf Kollektivverhandlungen (Art. 28 GRC), auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst (Art. 29 GRC), auf Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung (Art. 30 GRC), auf den Anspruch auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Art. 31 GRC), auf das Verbot der Kinderarbeit (Art. 32 GRC) sowie den Schutz des Familien- und Berufslebens (Art. 33 GRC), auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Art. 34 GRC), auf Gesundheitsschutz (Art. 35 GRC), auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Art. 36 GRC) sowie auf den Umwelt- (Art. 37 GRC) und Verbraucherschutz (Art. 38 GRC). Dem Miteinander von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Titel IV Solidarität im Sozialund Wirtschaftsleben folgen unter Titel V für das politische Leben auf Gemeinde-, Staats- und Europaebene die „Bürgerrechte“, nämlich das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (Art. 39 GRC) und bei den Kommunalwahlen (Art. 40 GRC), das Recht auf eine gute Verwaltung (Art. 41 GRC), auf Zugang zu Dokumenten (Art. 42 GRC), auf Befassung eines europäischen Bürgerbeauftragten (Art. 43 GRC), das Recht, eine Petition an das europäische Parlament zu richten (Art. 44 GRC), das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit (Art. 45 GRC) sowie auf diplomatischen und konsularischen Schutz (Art. 46 GRC). Der Ankündigung der Präambel zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union folgend, den Menschen in einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu stellen, werden im Titel VI „justizielle Rechte“ positiviert, und zwar das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und
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IX. Der erweiterte Rechtsschutz
auf ein unparteiisches Gericht (Art. 47 GRC), Unschuldsvermutung und das Recht auf Verteidigung (Art. 48 GRC), auf Beachtung der Grundsätze der Gesetzesmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowie das Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden (Art. 50 GRC). Neben der Charta der Grundrechte der Europäischen Union enthält das Unionsrecht einige wenige Grundrechte, wie das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) und den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit (Art. 157 AEUV). IX. Der erweiterte Rechtsschutz Eine Erweiterung des Rechtsschutzes erfolgte durch den Vertrag von Lissabon im Art. 6 Abs. 2 EUV, der den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention und so die unmittelbare Bindung auch an die Grundrechte der EMRK vorsah. Auf diese Weise ist dem Einzelnen ein dreifacher Weg zu Höchstgerichten für den Grundrechtsschutz gegeben, nämlich zum staatlichen Verfassungsgerichtshof, zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sowie zum Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Die Grundrechtecharta bindet zum einen die Organe der Union unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Zum anderen bindet sie die Organe der Mitgliedstaaten, diese aber nur, insoweit sie Unionsrecht durchführen, was Art. 51 im Titel VII „Allgemeine Bestimmungen über Auslegung und Anwendung der Charta“ betont. Die EU soll damit aber nicht den Charakter eines Oberstaates erhalten, sondern vielmehr als Verbund von Staaten, was schon wertorientiert in den Präambeln des Vertrages von Lissabon und der Grundrechtecharta wegweisend steht, zu einem Verbund von Lega-
IX. Der erweiterte Rechtsschutz
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lität und Humanität führen, der dem Einzelnen als physische und als juristische Person Rechtsschutz gewährt und einen Dialog zwischen dem Einzelnen und dem Staatenverbund der EU sowie deren Mitgliedsländern begründet. Jean Monnet ist es vor allem um das Vereinen der Menschen und um keinen bloßen Zusammenschluss von Staaten gegangen.84 Er betonte in diesem Sinne: „Ich glaube, ich bin immer derselben durchgehaltenen Linie gefolgt, unter allen Umständen, in ganz verschiedenen Breiten, doch immer mit einem einzigen Ziel, die Menschen zu einen, die Probleme in Ordnung zu bringen, die sie trennen, sie dazu zu bringen, ihr gemeinsames Interesse zu sehen.“ 85 Nach zwei Weltkriegen mit Gegensätzen zwischen Frankreich und Deutschland erkannte Jean Monnet mit Robert Schuman die Notwendigkeit der Gewährung von Frieden und dessen Sicherung durch Institutionen; dazu betonte er: „Nichts ist möglich ohne die Menschen, nichts dauerhaft ohne Institutionen“ 86, die, wie er hervorhob, aber der Kontrolle bedürfen87. Diese Institutionen der europäischen Integration waren bei ihrer Entstehung und Weiterentwicklung von politischen Umständen begleitet, die zunächst zwischen Frankreich und Deutschland sowie hernach mit den Beneluxstaaten und Italien im Interessenausgleich zur Friedenssicherung beitrugen und in Konfrontation mit dem damals kommunistischen Osten bis 1989 zum politischen Kräfteausgleich.
84 Siehe Pascal Fontaine, Ein neues Konzept für Europa. Die Erklärung von Robert Schuman 1950–2000, Luxemburg 2000, S. 34. 85 Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers, Baden-Baden 1988, S. 283; siehe auch Lutz Hermann, Jean Monnet, Persönlichkeiten der Europäischen Integration, Heft 2, Freudenstadt 1968. 86 Monnet, a. a. O., S. 387. 87 Jean Monnet, L’Europe et l’organisation de la paix, Lausanne 1964, S. 6.
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X. Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon
Nach dem Ende dieser Teilung Europas schlossen sich viele frühere kommunistische Staaten Mittel- und Osteuropas der EU an, die mit 28 Mitgliedern zum Frieden in Europa und in der Völkergemeinschaft beizutragen sucht, wobei man erkennen muss, dass das Ende des Kommunismus nicht das Ende der sozialen Frage ist; es kommt vielmehr darauf an, diese mit den Möglichkeiten der sozialen Marktwirtschaft zu beantworten.88 X. Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon Neben den Grundrechten enthält der Lissaboner Vertrag auch wichtige Neuerungen betreffend die einheitliche Struktur der Europäischen Union – das Drei-Säulen-Modell mit einer eigenen Europäischen Gemeinschaft im Rahmen der Union wurde bestätigt –, die Erleichterung der UnionsRechtsetzung durch eine weitere Reduzierung des Einstimmigkeitserfordernisses im Rat89, die Stärkung des demokratischen Elements durch eine Ausweitung der Mitsprache des Europäischen Parlaments90, wodurch das Mitentscheidungsverfahren zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der Union wurde, die Betonung des Subsidiaritätsprinzips durch eine diesbezügliche Einbindung der nationalen Parlamente91 samt korrespondierendem Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof 92 und die Stärkung der Position der Bürger, sei es durch verstärkte Mitsprachemöglichkeit in Form des eu-
88 Dazu Herbert Schambeck, Das Europäische Sozialmodell, Universitatea din Pitesti, Facultatea de Stiinte Juridice si Administrative, Studii Juridice si Administrative, Nr. 1 (7) annul VII, 2008, S. 5 ff., Neudruck in: derselbe, Der Staat und seine Ordnung, S. 507 ff. 89 Vgl. Art. 16 Abs. 3 und 4 EUV. 90 Art. 14 EUV und Art. 223 ff. AEUV. 91 Art. 12 EUV. 92 Art. 12b EUV.
X. Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon
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ropäischen Bürgerbegehrens93, sei es im Grundrechtsbereich durch die nunmehr auch formelle Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechtecharta94. Ein ausdrücklich verankertes Austrittsrecht95 garantiert das integrationspolitische Selbstbestimmungsrecht jedes Mitgliedstaates. Schließlich trägt die Doppelfunktion des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik, die den Vorsitz im Rat der Außenminister mit der Vizepräsidentschaft der Kommission verbindet, zur Schlagkraft der Union nach außen bei96. Der Vertrag trat plangemäß „am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats“ in Kraft (Art. 6 Abs. 2 des Vertrages von Lissabon), also am 1. Dezember 2009. Die Schwerpunkte des Vertrages von Lissabon beziehen sich auf die – verstärkten Informationspflichten der EU-Organe gegenüber den nationalen Parlamenten, – die Subsidiaritätsprüfung mit der Möglichkeit einer Rüge (gelbe und orange Karte) innerhalb von acht Wochen durch eine qualifizierte Anzahl von nationalen Parlamenten, – die Einbringung einer Subsidiaritätsklage innerhalb von zwei Monaten auf Initiative eines nationalen Parlaments und – die Brückenklausel (Passarelle) – d.i. der Übergang von der Einstimmigkeit zu Mehrheitsbeschlüssen im (Europäischen) Rat sowie der Übergang vom besonderen zu ordentlichen Gesetzgebungsverfahren – und die Ableh-
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Art. 11 (4) EUV. Art. 6 EUV. Art. 50 EUV. Art. 18 EUV.
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XI. Die Subsidiaritätsprüfung
nungsmöglichkeit von diesbezüglichen EU-Beschlüssen innerhalb von sechs Monaten (mit vorheriger Information der nationalen Parlamente). Der Vertrag von Lissabon hat eine neue Qualität der EUMitwirkung herbeigeführt. Durch sein Inkrafttreten am 1.12. 2009 wurden für die nationalen Parlamente neue Rechte geschaffen, die einen direkten Eingriff in den europäischen Gesetzgebungsprozess ermöglichen. Es wurden nämlich durch den Vertrag von Lissabon die nationalen Parlamente ausdrücklich in das System des Unionsrechts eingebaut. Nach dem Vertrag von Lissabon obliegt es dem jeweiligen nationalen Parlament, gegebenenfalls die regionalen Parlamente mit Gesetzgebungsbefugnissen zu konsultieren. In einem föderalen Staat ist die Länderkammer auf Bundesebene für eine solche Aufgabe geradezu prädestiniert. XI. Die Subsidiaritätsprüfung Die Bedeutung der nationalen Parlamente im Gesetzgebungssystem der EU hat in den letzten Jahren stetig zugenommen. Besonders durch den Amsterdamer Vertrag und seine Protokolle betreffend die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente in der EU (Amsterdamer Protokoll Nr. 9) und die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (Amsterdamer Protokoll Nr. 30) sowie durch den Reformvertrag von Lissabon wurde es nationalen Parlamenten ermöglicht, umfassender in den europäischen Entscheidungsprozess integriert zu werden. Die Konferenz der Europaausschüsse des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente (COSAC) haben das Subsidiaritätsprüfungsverfahren und die damit verbundene Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente zu einem der Schwerpunkte ihrer Arbeit gemacht und waren an der
XI. Die Subsidiaritätsprüfung
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Weiterentwicklung des Verfahrens in den letzten Jahren maßgeblich beteiligt. In Bezug auf die Mitwirkungsrechte der nationalen Parlamente werden im Vertrag von Lissabon insbesondere das auf der Regierungskonferenz 2004 (welche zum Entwurf des Verfassungsvertrags führte) vereinbarte „Protokoll über die Anwendung und Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“ den bestehenden Verträgen beigefügt. Dadurch werden die Protokolle Nr. 9 und Nr. 30 des Amsterdamer Vertrages weiterentwickelt. Dies erfolgt durch einen Frühwarnmechanismus, der es den nationalen Parlamenten erlaubt, binnen 8 Wochen nach Erhalt eines Gesetzgebungsvorschlags eine begründete Stellungnahme betreffend Subsidiarität an die betroffene EU-Institution zu richten, in der erklärt wird, warum ein Entwurf nach Auffassung des betreffenden Parlaments nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist. Dabei ist jede Stellungnahme von der Urheberinstitution in Erwägung zu ziehen. Bei Erreichen von einem Drittel (bzw. Viertel in den Bereichen Justiz und Inneres) der Stimmen der nationalen Parlamente entsteht die Verpflichtung zur Überprüfung, nicht aber zwingend zur Änderung des ursprünglichen Vorschlags. Jedes Parlament erhält im Rahmen des Prüfungsverfahrens zwei Stimmen, bei Zwei-Kammer-Parlamenten wie in Österreich erhält jede Kammer eine Stimme. Darüber hinaus ist im Vertrag von Lissabon ein verstärkter Subsidiaritätsmechanismus vorgesehen, wonach bei Anfechtung eines Entwurfs eines Gesetzgebungsaktes durch die Mehrheit der Parlamentskammern ein Verfahren in Gang gesetzt wird, bei dem mit Mehrheit der abgegebenen Stimmen der Mitglieder des Europäischen Parlaments bzw. 55% der Mitglieder des Rates unter Berücksichtigung der Begründungen der nationalen Parlamente das Gesetzgebungsverfahren gänzlich gestoppt werden kann.
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XII. Die EU: auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft
XII. Die EU: auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft Betrachtet man rück- und vorausblickend den Weg des Rechtes in Europa über Bologna und Brüssel nach Lissabon, dann kann in den Mitgliedstaaten der EU ausgehend von ihrer Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft – gleich dem römischen Recht – eine Staatsgrenzen überschreitende rechtsnormative Grundordnung dieses Verbundes von Staaten, die Herren der Verträge sind, festgestellt werden. Sie bilden auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft. Ging der Geltungsgrund des römischen Rechts auf die Wissenschaft, wegweisend von Bologna auf europäische Universitäten und ihre Rechtsfakultäten zurück, wodurch, wie auch Coing unterstreicht, „die Rezeption des römischen Rechtes . . . ein europäischer Vorgang gewesen“ 97 ist, so geht das Recht der EU auf Regierungsvertreter und in seinem Zustandekommen auf die Form von Verträgen zurück, die einer verstärkten Pflicht der Information der Parlamente der Mitgliedstaaten der EU unterliegen. Gab es früher im Bereich des öffentlichen und privaten Rechts den Rechtsvergleich und die Internationalität von Rechtsgebieten, so ist durch die Integration Europas eine neue Rechtsordnung entstanden, welche den Staatsrechtsordnungen Maßstäbe gibt sowie den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit unterliegt, welche die EU nicht Oberstaat sein lässt, sondern eine wechselseitige Bezogenheit begründet. Durch den Vertrag von Lissabon ist auch die EU effizienter sowie bürgernäher geworden und brachte besonders durch die EU-Grundrechte-Charta dem Einzelnen mehr Rechte, Freiheit und Sicherheit. Die Entwicklung der neuen Ordnung des integrierten Europas hat durch den Vertrag von Lissabon die EU und ihre 97
Coing, a. a. O., S. 3.
XII. Die EU: auch eine Rechts- und Wertegemeinschaft
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Mitgliedstaaten den Einzelnen näher gebracht! Sie führte zur Beachtung von Verfassungstraditionen und internationalen Verpflichtungen, deren Wahrung, wie der des demokratischen Rechtsstaates, nicht nur als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in der EU, sondern auch in der Folgezeit während dieser Mitgliedschaft stets zu beachten ist, wie z. B. das Verbot der Korruption. Der Weg des Rechtes in Europa verlangt nach Bologna, Brüssel und Lissabon die Wahrung demokratischer Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit sowie vom Einzelnen in der EU sein Mitdenken, Mitbeurteilen und Mitentscheiden! Heimat-, Staats- und Europabewusstsein haben sich in einem zeitgemäßen europäischen Verantwortungsdenken zu ergänzen! Dazu hat schon der frühere einstige bayrische Staatsminister und spätere EU-Kommissar Peter Schmidhuber betont: „Die Schaffung dieses europäischen Bewusstseins ist ein Dauerauftrag nicht nur der Politik, sondern aller gesellschaftlicher Kräfte“.98 Wenn dieser Dauerauftrag erfüllt wird, dann kann der Gefahr begegnet werden, dass in der neuen Ordnung des integrierten Europa immer mehr Menschen nicht wissen, was immer weniger werdende Menschen über sie und mit ihnen verfügen, sondern als Wirtschafts-, Währungs-, Rechts- und Wertegemeinschaft ein Für- und Miteinander entsteht, das nach Aurelius Augustinus99 als Friede zur Ruhe der Ordnung beizutragen vermag. Nach zwei leidvollen und opferreichen Weltkriegen, die im 20. Jahrhundert von Europa jeweils ausgegangen waren, könnte durch die neue Ordnung des integrierten Europa von diesem Kontinent ein Beitrag zum Frieden in der Völkergemeinschaft geleistet werden. 98 Peter M. Schmidhuber, Europäische Intergration – eine Zwischenbilanz nach 60 Jahren, Wiener Blätter für Friedensforschung 146, März/1/2011, S. 44; siehe auch Roman Herzog, Europa neu erfinden. Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie, München 2014. 99 Aurelius Augustinus, De civitate Dei, XIX, 11–13, 14. S.
Über den Autor Herbert Schambeck, geb. 1934 in Baden bei Wien. Promotion zum Dr. jur 1958 an der Universität Wien, 1959 Assistent von o.Univ.-Dr. Adolf Merkl und 1964 Habilitation an der Wiener Rechtsfakultät. 1966 ao. Prof. für die Wissenschaft von der Politik und das österreichische Verfassungsund Verwaltungsrecht an der Universität Innsbruck, 1967 Gastprofessor an der University of Notre Dame, Indiana, USA und hernach bis zur Emeritierung 2002 o. Prof. für öffentliches Recht, politische Wissenschaften und Rechtsphilosophie an der Universität Linz. Dr. jur h.c. von Universitäten in Santiago de Chile, Washington D. C., Prag, Breslau, Pitesti und Kiew. Dr. theol. h.c. der Päpstlich Theologischen Fakultät Breslau, Dr. phil. h.c. der Internationalen Akademie für Philosophie und Dr. h.c. der Bulgarischen Akademie der Wissenschaften in Sofia. Ehrenmitglied der Päpstlichen Akademie für Sozialwissenschaften im Vatikan und der Tschechischen Gelehrtengesellschaft in Prag. Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Padua, Madrid, Düsseldorf, Mailand und Rom (Lincei). 1969 bis 1997 Mitglied des Bundesrates der Republik Österreich, 1975 bis 1997 in Präsidentenfunktionen des Bundesrates.