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German Pages 386 [388] Year 1996
Volker Gerhardt Vom Willen zur Macht
w DE
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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Begründet von
Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel Herausgegeben von
Ernst Behler · Eckhard Heftrich Wolfgang Müller-Lauter Jörg Salaquarda · Josef Simon
Band 34
1996 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Vom Willen zur Macht Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches
von
Volker Gerhardt
1996 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die vorliegende Schrift ist im Januar 1984 von der Philosophischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Habilitationsschrift angenommen worden. Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Eckhard Heftrich Germanistisches Institut der Universität Münster Domplatz 20-22, D-48143 Münster Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-14163 Berlin Prof. Dr. Jörg Salaquarda Institut für Systematische Theologie der Universität Wien Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien Prof. Dr. Josef Simon Philosophisches Seminar A der Universität Bonn Am Hof 1, D-53113 Bonn Redaktion Johannes Neininger, Rigaer Straße 98, D-10247 Berlin
Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Gerhardt, Volker: Vom Willen zur Macht : Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches / von Volker Gerhardt. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1996 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 34) Zugl.: Münster, Univ., Habil.-Schr., 1983 ISBN 3-11-012801-2 NE: GT
© Copyright 1996 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin
Dem Andenken Friedrich Kaulbachs gewidmet
Vorwort Vor mehr als fünfzehn Jahren, bei den Vorarbeiten zu einer geplanten größeren Studie über Recht und Herrschaft bei Kant, hatte ich mich mit der Geschichte des Machtbegriffs zu befassen. Dabei war die erstaunliche Entdeckung zu machen, daß eines der berüchtigtsten politischen Schlagwörter der jüngeren Vergangenheit, Nietzsches Begriff des "Willens zur Macht", philosophisch kaum Beachtung gefunden hat. Zwar gibt es zahllose Werke, die ihn verwenden; es finden sich auch einige, die ihn erläutern und in dem einen oder anderen Aspekt kommentieren. Aber die meisten setzen ihn als in sich geklärt voraus. Lediglich in einigen älteren Schriften wird er zum Gegenstand der Betrachtung; dabei werden die mit ihm verbundenen Erwartungen und Forderungen auch nach Kräften ausgelegt. Aber was mit den Begriffen des "Willens" und der "Macht" philosophiegeschichtlich und politiktheoretisch verbunden ist und vor allem: was die Verknüpfung beider Termini eigentlich bedeutet, dazu finden sich allenfalls beiläufige Bemerkungen. Aus der Masse der Nietzsche-Literatur ließen sich lediglich die Werke von Raoul Richter, Ludwig Klages, Kurt Engelke und Martin Heidegger nennen, in denen sich immerhin Ansätze zu einer philosophischen Auslegung des Willens und der Macht finden. 1 Ausreichend oder gar befriedigend ist keine dieser Deutungen. Nach dieser Entdeckung legte ich die Studie über Recht und Herrschaft beiseite2 und widmete mich dem "Willen zur Macht". Über ihn hoffte ich einen Zugang auch zu jenen Bedingungen zu finden, auf denen menschliche Herrschaft und ihre adäquate Form, nämlich das Recht, aufruhen. Allerdings forderten die Probleme einer philosophischen NietzscheInterpretation schon bald so viel eigene Aufmerksamkeit, daß die ursprüngliche systematische Fragestellung für Jahre aufgeschoben blieb. Ich denke aber, daß sich der lange Umweg gelohnt hat und daß die Analyse der Macht und des Willens nunmehr tatsächlich neue Voraussetzungen für eine Theorie von Politik und Recht zu erkennen gibt.3 Nietzsche eröffnet jedem einen geradezu spielerisch leichten Zugang zur Philosophie. Man schlägt eines seiner Aphorismen-Bücher an beliebiger Stelle auf und schon ist man, sofern nicht eigene Vorbehalte entgegenstehen, in den Bann seines radikalen Denkens 1
2
3
Zur zitierten Literatur siehe das Verzeichnis am Ende des Buches. In den Fußnoten sind die Titel in der Regel nur in einer abgekürzten Form wiedergegeben. In der Folge der bei den Vorarbeiten gemachten Entdeckung wurde aus der geplanten Studie nur ein etwas zu lang geratener Aufsatz: Recht und Herrschaft, 1981. Siehe dazu vom Verf.: Das "Princip des Gleichgewichts", 1983; Politisches Handeln, 1990; Das wiedergewonnene Paradigma, 1992; Immanuel Kants Entwurf >Zum ewigen Frieden«. Eine Theorie der Politik, 1995.
Vili
Vorwort
gezogen. Ohne Terminologie und feste Methode ist man gleich bei den anschaulich erfaßten Problemen; das Motiv philosophischer Erkenntnis wird nicht durch Systembildung verstellt, sondern es wird in der Redlichkeit und Rücksichtslosigkeit der Wahrheitssuche auf anstekkende Weise offenbar. Gerade deshalb aber gerät man nur zu leicht in Gefahr, die Schwierigkeiten einer philosophischen Nietzsche-Interpretation zu unterschätzen. Dieser Gefahr bin auch ich anfangs erlegen. Zwar habe ich schon bald kleinere Studien zu Einzelproblemen vorlegen können. Aber es hat Jahre gedauert, bis ich mir einen philosophischen Zugang erschlossen hatte, der wenigstens meinen eigenen Ansprüchen genügte. Selbst noch zu der Zeit, als ich die vorliegende Studie als Habilitationsschrift einzureichen hatte, war ich mir über eine angemessene philosophische Deutung des Gesamtwerks keineswegs im klaren. Die Gutachter und der Fachbereich der Universität Münster haben darüber großzügig hinweggesehen. Ich aber konnte mich auch nach Abschluß des Verfahrens nicht zur Publikation entschließen, weil die mit der Untersuchung über die Macht in Nietzsches Werk geschlagene historische und systematische Schneise kaum etwas von der philosophischen Kontur des Gesamtwerks zu erkennen gab. Inzwischen aber glaube ich, in der philosophischen Vermessung des Gesamtwerks ein Stück weitergekommen zu sein. Die in den letzten Jahren geschriebenen Aufsätze und vor allem die einführende Gesamtdarstellung4 geben den Rahmen an, in dem auch die vorliegende Studie verstanden werden kann. Die Auslegung Nietzsches am Leitfaden einer dominierenden Frage, nämlich der Frage nach dem Sinn, läßt nunmehr besser erkennen, welche Erwartungen Nietzsche mit seiner Formel vom "Willen zur Macht" verknüpft. Außerdem kann ich jetzt hoffen, daß die Einseitigkeit, die sich mit der Konzentration allein auf diese Formel einstellt, tatsächlich als eine Konsequenz der thematischen - und nicht der persönlichen - Beschränkung wahrgenommen wird. Gegenüber der 1983 eingereichten Fassung ist der hier endlich zur Publikation vorgelegte Text nicht wesentlich verändert: Die zehn Kapitel erhielten Zwischenüberschriften; neuere Literatur zu Nietzsche, zur Theorie der Macht und zum Willen zur Macht wurde berücksichtigt; Zitate wurden überprüft; und an einigen wenigen Stellen der ersten drei Kapitel wurden sachliche Ergänzungen vorgenommen, um die vorgetragene Ansicht zu verdeutlichen. Das Schlußkapitel wurde durch den abschließenden Hinweis auf die Wiederkehr des Sokrates unter den hoffnungsvoll verzweifelten Bedingungen der Moderne abgerundet. Mit dieser Arbeit bin ich vor allem meinem Lehrer Friedrich Kaulbach verpflichtet. Er hat mich auf den Weg des eigenen Denkens gebracht und mir, als seinem Assistenten, vor allem viel eigene Zeit gelassen. Er hat mich von meinem Mitte der siebziger Jahre gefaßten
Pathos und Distanz, 1988; Friedrich Nietzsche, 1992; hier finden sich auch Hinweise auf weitere NietzscheArbeiten des Verfassers. Darüber hinaus sind zu nennen: "Das Thier, das versprechen darf", 1992; Selbstbegründung, 1992; Das individuelle Gesetz der Moral, 1992; Die Tugend des freien Geistes, 1996.
Vorwort
IX
Entschluß abgebracht, Nietzsche zwar gründlich zu lesen, aber niemals über ihn zu schreiben. Verpflichtet bin ich auch Gerold Prauss, der mich in der Zeit der Habilitation unbeirrt unterstützt hat. Zu danken habe ich auch meinen Kollegen Horst Baier und Wolfgang Müller-Lauter, die meine Bemühungen um die Philosophie Friedrich Nietzsches vielfaltig gefördert haben. Mazzino Montinari, Ernst Behler, Kurt Röttgers, Edmund Heller und Reinhard Mehring bin ich für hilfreiche Ratschläge und wohlwollende Hinweise verpflichtet. Schließlich danke ich Henning Ottmann für seine anteilnehmende Kritik. Ohne seinen freundschaftlichen Zuspruch wäre die vorliegende Interpretation wohl nie zum Abschluß gekommen. Die erste Fassung des Textes war 1983 nach einem elektronischen Erfassungssystem erstellt, das sich schon fünf Jahre später als völlig veraltet erwies. Deshalb haben meine Berliner Mitarbeiter Hector Wittwer und Jürgen Gebhardt mit der Übertragung dieses Textes in ein neues System sehr viel Mühe gehabt. Auch ihnen sei herzlich gedankt. Jacqueline Karl, die die abschließenden Korrekturen ausgeführt hat, bin ich zu besonderem Dank verpflichtet. Berlin, im April 1996 Volker Gerhardt
Inhaltsverzeichnis Vorwort Einleitung
VII 1
Teil 1: Anthropologische, metaphysische und politische Momente der Macht I.
Der Mensch als Macht Vom Ursprung der Macht in der Handlung
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. II.
Macht und Wirkung Macht als Vermögen Die Macht unter Mächten Mittel zum Zweck Die Analogie von Macht und Mensch Soziale Energie Macht und Emanzipation
7 7 11 14 16 19 23 30
Macht und Metaphysik Begriffsgeschichtliche Aspekte im Blick auf Nietzsche
35 35 40 42 44
6.
Die Wirklichkeit der Macht bei Piaton und Aristoteles Von der Macht des alten und des neuen Gottes Wille und Macht bei Augustinus Das "Wörtlein mächtig" (Luther) Zur politisch-metaphysischen Machtkonstellation in der Moderne (Hobbes, Spinoza, Leibniz) Die Macht des bloßen Willens (Schopenhauer)
III.
Macht und Politik
1. 2. 3. 4. 5.
1. 2.
46 52
Begriffsgeschichtliche Aspekte mit Blick auf Nietzsche
61
Der unbedingte Wille zur Realität Thukydides und der Wille zur Beschreibung der Macht
61 64
XII
Inhaltsverzeichnis
3.
Machiavelli und die Macht zur Umwertung der Werte
67
4.
Jacob Burckhardt und die "an sich böse" Macht
71
5.
Psychologisierung der Macht im 19. Jahrhundert
76
6.
Die romantische Apotheose des Machtgefuhls
78
Teil 2: Die Macht in Nietzsches Entwicklung IV.
Im Vorfeld menschlicher Macht Der Machtbegriff beim frühen Nietzsche
85
1.
Die Einheit des Werks
85
2.
Am Anfang steht die Macht - der Götter
90
3.
Richard Wagner als Macht
93
4.
Glanz und Ehre von Wagners Macht
5.
Machtpolitische Erwartungen
98 100
6.
Die "an sich böse Macht"
104
7.
Macht und Kunst
111
8.
Macht und historische Größe
112
9.
Die Macht im agon
115
10.
Die Kultur des Streits
117
V.
Das Gefühl der Macht Die Psychologie der Macht in Nietzsches mittlerer Periode
125
1.
Der Übergang ins eigene philosophische Werk
125
2.
Freier Geist und kritische Methode
129
3.
Die Umwertung von Selbsterhaltung, Arbeit und Macht
131
4.
Korrespondenz von Lust und Leben
134
5.
Psychologische Ausleuchtung sozialer Beziehungen
140
6.
Der Binnenraum der Macht
143
7.
Macht und Recht: Das Prinzip des Gleichgewichts
144
8.
Macht als relationale Größe
154
9.
Machtgefühl
155
10.
Strukturmerkmale der psychologisch erschlossenen Macht
161
Inhaltsverzeichnis
VI.
1.
XIII
Der Auftritt des Willens zur Macht Die Entwicklung des Begriffs im Übergang zum Spätwerk
167
Wille zur Macht versus Wille zum Leben
167
2.
Napoleon als Beispiel
174
3.
Paulus als Gegentyp
178
4.
Zwischen Ressentiment und amor fati
181
5.
Macht und Selbsterhaltung
184
6.
Spinozas Einfluß
190
7.
Vernunftkritik und naturwissenschaftliche Neugier
193
8.
Am Anfang war die Macht
199
VII.
Kraft und Wille als Macht Die gesellschaftliche Dimension der Grundbegriffe
203
1.
Die Wendung nach Innen
203
2.
Anleihen bei der Naturphilosophie
207
3.
Soziomorphie von Kampf und Kraft
211
4.
Warum Wille - und nicht Gefihll
217
5.
Zur Psychologie des Willens
224
6.
Intentionale und imperative Verfassung des Willens
229
7.
Wollen als Exposition gesellschaftlicher Organisation
233
8.
Die Intelligibilität des Wollens
236
9.
Der Wille als Zeichen der Macht
240
Teil 3: Die Welt als Vorstellung von Wille und Macht Auf dem Weg zu einer Metaphysik der menschlichen Welt VIII.
Die Macht im Willen zur Macht Über die Gleichung zwischen dem Ganzen und seinem Teil
249
1.
Elemente der Macht im Willen zur Macht
249
2.
Das Telos der Macht
256
3.
Macht und Herrschaft sind synonym
259
4.
Herrschaft impliziert Selbstherrschaft
263
5.
Wille ist Wille zur Macht
265
6.
Macht bedeutet Wille zur Macht
271
XIV
Inhaltsverzeichnis
7. 8.
Die Rhetorik des Willens zur Macht Wille zur Macht als Selbstinterpretation von Praxis
275 279
IX.
Die Metaphysik des Werdens
285
1. 2.
Wille zur Macht: Ein metaphysischer Begriff Die metaphysische Frage nach dem Werden
285 292
3. 4. 5. 6. 7. 8.
Die werdende Welt Das Werden als Machtgeschehen Die konstanten Strukturen der Macht Leiblichkeit und Perspektive Die Dauer im Augenblick Ontologie des Scheins
296 300 304 309 313 315
X.
Wirklichkeit als Macht
1. 2. 3. 4.
Die Emanzipation der Macht bei Nietzsche
322
Zwölf formgebende Momente des Willens zur Macht Ein Selbstbegriff des Geistes Ein Selbstbegriff des Menschen Ein Blick zurück auf Nietzsche
322 328 330 336
Verzeichnis der Abkürzungen Literaturverzeichnis
341 343
Personenregister Sachregister
359 365
Einleitung Wer sich mit der Macht theoretisch beschäftigt und nicht sogleich versichert, er wolle sie entlarven, steht leicht im Geruch, mit den jeweils Mächtigen zu paktieren. Pakte dieser Art stehen moralisch nicht hoch im Kurs und werden nicht selten als Verrat des Geistes verächtlich gemacht. Selbst dort, wo Einmischung in politische Zusammenhänge als Pflicht gilt, wird vor der Berührung mit der Macht gewarnt - angesichts der Tatsache, daß Politik notwendig Macht einschließt, ein nicht eben marginales Dilemma. Nichts steht dem politischen Handeln mehr im Wege als ein Bewußtsein, das mit seinen Forderungen zwar auf die Macht setzt, aber die Macht selbst nicht will. Glaubt man dem verbreiteten Urteil, dann ist die Macht der Widersacher des Geistes. Dumpf und brutal, jeden Gedanken nur zynisch zum eigenen Vorteil nutzend, erscheint sie als das Gegenprinzip des guten Willens - als die von der Geschichte etablierte Gegeninstanz zu Moral und Recht. Obgleich niemand leugnen kann, daß die Kultur der fördernden und schützenden Mächte bedarf, daß die Moral auch nur eine Form der Machtausübung darstellt und jedes Recht ohne Macht in nichts zerfällt, scheint das Verdikt gegen die Mächtigen und ihre Macht nie in Beweisnot zu geraten. Der Prozeß gegen Sokrates ist ein beinahe harmloses Beispiel für das, was die kleinen und die großen Machthaber unablässig ihren intellektuellen Widersachern antun. Der Konflikt zwischen humanitären Ideen und herrschenden Interessen ist eine Tatsache, und so scheint es unmittelbar verständlich, wenn ein Schriftsteller gesteht, er finde die Macht "abscheulich, wo immer sie beansprucht oder erlistet, erkämpft, erzwungen oder wohl erworben sei".1 Doch alle Anteilnahme kann die Frage nicht verwehren, ob der Geist in dieser Opposition sich selber richtig versteht. Freilich - die hier von ihm beanspruchte Rolle ist seit Menschengedenken eingespielt. Wenn es heißt, die Macht sei eine "schon vor dem Sündenfall" eingesetzte "Institution des Bösen", dann erscheint hinter ihr ein älterer Feind, den die aufgeklärten Repräsentanten des Geistes sonst gern für überwunden halten. Die Macht ist der Versucher in neuer Gestalt, und sie ist aus dem gleichen Grunde böse, aus dem der Teufel teuflisch ist: "Die Macht hat die Tendenz, sich zu verabsolutieren, sich von ihrem Inhalt zu lösen und sich selbst zum Wert zu machen. "2 Die Macht ist die politisch-soziale Maske, die das Böse sich vorhält. Wo einst die sinnliche Lust, das Fleisch oder Beelzebub persönlich
Garner Eich, Rede anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises 1959, in: Büchner-Preis-Reden 19S1 - 1971, Stuttgart 1972, 73 - 87, 80. Ebd., 79.
2
Einleitung
verführten, hat jetzt sie ihren Part als konstitutiver Widersacher der höheren Geisteskräfte. Der emanzipierte Geist, nunmehr in der gesellschaftlichen Rolle des Intellektuellen, kann seine Identität aus der Standhaftigkeit gegenüber der Arroganz der Macht beziehen. Diese Konstellation macht das wiederholt beklagte Tabu über die Macht3 verständlich, läßt vor allem aber die theoretische Reichweite des Machtproblems erkennen. Denn offenkundig hängt daran nicht allein das politische Selbstverständnis des Geistes, sondern sein Realitätsverhältnis überhaupt. Selbst wenn die Macht nur als die alles gefährdende Bedrohung Bedeutung hätte, wäre sie die Instanz, die über den Zugang zur Realität entscheidet. Jedem Anspruch auf aktuelle Wirksamkeit muß sie als Repräsentant der Wirklichkeit begegnen, und so erscheint gerade dem auf Wirksamkeit bedachten Geist die Wirklichkeit als Macht. Auch für den modernen Geist dürfte es nicht ohne Folgen bleiben, wenn er den Kontakt zur Wirklichkeit verliert. Es geschieht also keineswegs aus Sorge um die Macht, wenn man ihre Dämonisierung beklagt. Dies wird um so deutlicher, je mehr man erkennt, daß nicht die Macht ein spezielles Problem der Politik, sondern vielmehr die Politik einen Sonderfall der Macht darstellt. Die Macht ist das Elementarphänomen der sozialen Welt, auf der alle gesellschaftlichen Vorgänge beruhen. Was immer man auch von sich und anderen verlangt, was immer mit gesellschaftlichen Mitteln erreicht werden soll und kann: Zu allem wird Macht benötigt. Angesichts der fundierenden Rolle der Macht zieht das gegen sie gerichtete Tabu ein ganz anderes Interesse auf sich: Warum hat der Geist (oder was immer sich an seine Stelle setzt) es nötig, sich als Gegeninstanz der Macht zu präsentieren? Braucht er die Abgrenzung, um seinen eigenen Bereich zu sichern? So wiederholen sich Fragen, die sich bereits im Verhältnis zum Stofflichen, zum Körper oder zum Leib ergeben. Und in der Tat begegnet hier das psycho-physische Grundproblem in einer neuen, spezifisch gesellschafilichen Fassung. Vor diesem Hintergrund kann es dann allerdings nicht wundern, wenn der theoretisch nur schwer (möglicherweise gar nicht?) aufweisbare, praktisch aber benötigte Unterschied zwischen Leib und Seele oder Geist und Macht um so lauter behauptet wird, je weniger man seiner sicher ist. Die folgende Untersuchung soll die Stellung zur Macht am Beispiel Nietzsches klären. Da die Macht in Nietzsches "Philosophie der Macht" bisher noch nicht Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung war, 4 kann so eine Lücke der philosophiegeschichtlichen 3
4
"Im Zuge der Verharmlosung der Lebensprobleme, die sich in der Wohlstandsgesellschaft ausbreitet, ist das Wort 'Macht' unter ein Worttabu geraten, ohne daß die Sache selbst verschwinden könnte; man sagt lieber 'social control' oder ähnliches [...]. Jenes Worttabu ist wichtig, weil es das Wort Macht nur für die Gegenpropaganda freigibt [...]." (A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, 1975, 69) In ähnlicher Weise hat sich bereits 1933 H. Freyer (Herrschaft und Planung, 1933, 23) über den Begriff der Herrschaft geäußert. Siehe dazu auch: J. C. Papalekas, Art. "Herrschaft", Hist. Wb. d. Ph., Bd. 3, 1974, 1084 - 1087, 1086. W. Kaufmann stellt Nietzsches Philosophie als ganze unter diesen Titel. Im dritten Teil seiner NietzscheMonographie (Nietzsche, 1982, 243 - 389) werden alle wesentlichen Lehren Nietzsches unter diese Überschrift gestellt. - Nietzsches Machtbegriff, über den der Verf. sich zunächst im Rahmen eines Tagungsbeitrags (Zum
Einleitung
3
Forschung optisch vergrößert und faktisch vielleicht verkleinert werden. Nietzsches Beitrag interessiert als das Medium, in dem sich die Machtphänomene reflektieren. Insofern muß auch er sich gefallen lassen, perspektivisch betrachtet zu werden. Die Betrachtung hat sich aber stärker auf Nietzsche einlassen müssen als ursprünglich geplant. Sein jederzeit zum Lesen einladendes Werk wird zum Irrgarten, sobald man es philosophisch - und das heißt immer auch: systematisch - zu interpretieren versucht. Wenn es hier überhaupt Auswege gibt, dann finden sie sich nur, indem man der Spur der Texte folgt. Im lesenden Nachvollzug erschließt sich wenigstens die genealogische Ordnung dieses Denkens. Zwar empfiehlt es sich immer, einen Autor, über den man spricht, auch gründlich zu lesen, doch "Nietzsche lesen" hat den Rang einer methodologischen Maxime besonderer Art.5 So hat sich bei diesem Interpretationsversuch letztlich kaum mehr ergeben als das Protokoll einer Lektüre am Leitfaden der Macht. Eine separate Untersuchung der Macht bei Nietzsche hat mit dem Einwand zu rechnen, daß etwas Zusammengehörendes getrennt und damit das Wesentliche bereits im Ansatz zerstört werde. Die Macht, so könnte gesagt werden, sei nur als integrales Moment des Willens zur Macht von philosophischer Bedeutung; wer den Teil vom Ganzen isoliere, dokumentiere hinreichend sein mangelndes Verständnis für Nietzsches Intention. Ein solcher Einwand verfehlte freilich den Charakter wissenschaftlicher Arbeit, die nun einmal darauf angelegt ist, das stets und in allem Zusammenhängende in seine Bestandteile zu zerlegen. Nur durch Zergliederung lassen sich Beziehungen erkennen. Deshalb gestehe ich den analytischen Frevel gerne ein - in diesem Fall mit der Genugtuung, nach der Analyse besser als vorher belegen zu können, daß Macht und Wille notwendig zusammengehören. Für eine separate Betrachtung der Macht spricht überdies der ihr beigemessene Wert in der Epochendiagnose der Neuzeit. Helmuth Plessner hat dafür plädiert, die typischen Entwicklungsschritte der Moderne als eine "Emanzipation der Macht" zu verstehen.6 Die politische Philosophie hat diesen Vorgang als die Heraufkunft eines "modernen Machiavellismus",
Begriff der Macht bei Friedrich Nietzsche, 1981) Klarheit zu schaffen versucht hat, ist bis heute noch nicht hinreichend untersucht. Diese 1984 getroffene Feststellung gilt im Jahre 1996 unverändert. In einem zweiten Tagungsbeitrag des Verf. (Macht und Metaphysik, 1981/82) sind drei Nietzsche-Interpreten (A. Fouillée, R. Richter u. M. Heidegger) vorgestellt, in deren Schriften der Machtbegriff eine stärkere analytische Beachtung erfährt. Genannt sind ferner die Autoren, die sich wenigstens am Rande ihrer Nietzsche-Interpretationen mit dem Machtbegriff auseinandersetzen (F. M. Aitken, A. Baeumler, R. Eisler, K. Engelke, M. Foucault, F. Kaulbach, W. Mittelman, R. Schottländer, J. Stambaugh und B. Taureck). Inzwischen ist eine Abhandlung von ]. Figi hinzugekommen, und in der Auslegung der Schriften Foucaults, insbesondere durch W. Schmid, haben sich einige bemerkenswerte Einsichten hinzugesellt. Die Arbeiten dieser Nietzsche-Interpreten enthalten zahlreiche teils interessante, teils wichtige Aufschlüsse über Verständnis und Stellung der Macht bei Nietzsche. Darauf wird im Gang der folgenden Darstellung am jeweiligen sachlichen Ort verwiesen. Doch trotz der aufschluBreichen Erkenntnisse über den Willen zur Macht ist m. E. das Urteil gerechtfertigt, daß die Macht selbst bisher nicht die Beachtung erfahren hat, die sie im Rahmen der Nietzsche-Deutung verdient. Vgl. M. Montinari, Nietzsche lesen, 1982, 1 - 9. H. Plessner, Die Emanzipation der Macht (1962), Gesammelte Schriften S, 1981, 259 - 282.
4
Hinleitung
ja, einer "Dämonie der Macht" beschrieben.7 Nietzsche wird darin die exemplarische Rolle eines Vollenders des Machtgedankens zugewiesen. Die Vollendung des Machtdenkens in der Lehre vom Willen zur Macht ist es schließlich auch, die Heidegger veranlaßt hat, Nietzsche zum abschließenden Höhepunkt der europäischen Metaphysik zu erklären.8 Dies sind Gründe genug, einmal genauer nach der Macht im Willen zur Macht zu fragen. Dieser bescheidenen Frage ist die vorliegende Untersuchung gewidmet.
E. Faul, Der moderne Machiavellismus, 1961, 210 ff.; G. Ritter, Die Dämonie der Macht, 1947. M. Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, Gesamtausgabe 47, 1989; ders., Nietzsche: Der europäische Nihilismus, Gesamtausgabe 48,1986; ders., Nietzsches Metaphysik, Gesamtausgabe 50, 1990, 11 - 20; ders., Nietzsches Wort '"Gott ist tot'" (1943), Gesamtausgabe 5, 1977, 209 - 267. Zu den Wandlungen in Heideggers Nietzsche-Auffassung siehe: W. Müller-Lauter, Das Willenswesen und der Übermensch, 1981/82, 132 - 192.
Teil 1: Anthropologische, metaphysische und politische Momente der Macht
I. Der Mensch als Macht Vom Ursprung der Macht in der Handlung
1. Macht und Wirkung Offenkundig ist, daß wir von Macht nicht nur im politischen Sinne sprechen. Die Macht Gottes, die Macht des Schicksals oder die Macht der Gewohnheit sind sprichwörtlich. Keine Lebenslage ist ohne rettende oder versagende Mächte: von der Macht der Liebe oder der des Wissens, der Macht der Musik oder der Sprache, von der Übermacht des Schlafs oder der des Todes reden wir ganz selbstverständlich. Die Erfahrung der Machtlosigkeit ist jedem vertraut: Man glaubt zuweilen, alles getan zu haben, was in der eigenen Macht steht, hat sogar machtvolle Unterstützung erhalten, vielleicht hat zu guter Letzt auch noch jemand ein Machtwort gesprochen, und doch muß man schließlich dem Lauf der Dinge tatenlos zusehen. Das kann bis zur Ohnmacht gehen, bei der wir freilich zu unterscheiden wissen, ob jemand seine äußeren Wirkungsmöglichkeiten oder auch seine inneren, d. h. sein Bewußtsein verliert. Den Zustand der Ohnmacht unterscheiden wir treffsicher von der Entmachtung, die nur bei Machthabern oder Gewalttätern Anwendung fmdet, also bei solchen Personen, die sich eines Amtes oder bedrohlicher Waffen bemächtigt haben. In allen diesen Wendungen ist in irgendeiner Form von Wirkungen die Rede. Etwas wirkt auf etwas anderes und heißt deshalb eine Macht. Wo Wirkungen erfahren werden, wird auch von Mächten gesprochen. "Machtlos" und "wirkungslos" gelten gemeinhin als synonym. Der ganze Komplex physischer, psychischer und sozialer Wirkungen, vom Druck und Stoß über Herstellung, Einfluß und Verfügung bis hin zu Leistung und Kontrolle, liegt im Bedeutungsfeld des alltäglichen Wortgebrauchs. Gleichwohl wird man Macht nicht einfach mit Wirkung übersetzen. Dem steht vor allem die eigentümliche Urheberschaft "hinter" der Wirkung entgegen. Die Macht ist irgendetwas, das in irgendeiner Weise Wirkungen hervorbringt oder hervorbringen kann, sie ist aber nicht diese Wirkung selbst. Entweder erscheint sie als eine Art Subjekt, das Wirkungsmöglichkeiten hat, oder wir betrachten sie als eine Art Instrument, mit dessen Hilfe ein Subjekt über Wirkungsmöglichkeiten verfügt. In jedem Fall wird die Wirkung an einen Urheber gebunden, und eben dieser Urheber (oder sein Werkzeug) ist es, den der Ausdruck "Macht" bezeichnet. Gehen wir davon aus, daß "Urheber" strenggenommen nur ein tätiges Wesen - vielleicht sogar nur ein bewußt tätiges Wesen - sein kann, dann liegt in der Rede von der Macht als
8
I. Der Mensch als Macht
"Urheber" möglicher Wirkungen bereits eine Übertragung. Es ist nicht die Macht selbst, die auftritt, sich behauptet oder nachgibt, sondern stets ist es ein wie immer auch beschaffenes Subjekt, das Macht haben kann und dessen Macht sich jeweils in der einen oder anderen Weise zeigt. Also ist die Macht nur das Mittel, über welches ein Urheber im Hinblick auf mögliche Wirkungen verfügt. Unter Umständen ist dann die Macht das Medium, in dem sich stabile Verhältnisse entwickeln, oder sie ist das Instrument, ohne das weder Reformen noch Revolutionen gelingen. In allen Fällen fungiert die Macht als Werkzeug eines subjektanalogen Urhebers mit Blick auf seine möglichen Wirkungen. Dabei ist es im alltäglichen Sprachgebrauch keineswegs erforderlich, sich dieses Subjekt als lebendiges oder gar als bewußtes Einzelwesen vorzustellen. Wenn von der "Macht der Gewohnheit" oder der "Macht der Verhältnisse" die Rede ist, hat der unterstellte Träger dieser Macht sogar hochabstrakte Züge, die aber ausreichen, um in ihm die lenkende Instanz "hinter" der Macht (die wiederum so vorgestellt wird, als sei sie gleichsam als Mittel hinter möglichen Wirkungen angesiedelt) auszumachen. Eine gewisse Abstraktheit bleibt der Macht jedoch auch unter konkreten Bedingungen, denn sie selbst ist sinnlich nie direkt gegeben. Auf die Macht läßt sich immer nur schließen·, sinnlich wahrzunehmen sind nur ihre Wirkungen oder deren Anzeichen·, sie selbst aber läßt sich weder hören noch sehen. Stets liegt sie "in" oder "hinter" den Ereignissen, und sie tritt offen nur in ihren tatsächlichen Folgen hervor. Die Wirkung, die sie erzeugt, ist sie nicht selbst, sondern nur etwas, worin sie sich zeigt. So sinnfällig ihre Effekte auch sein können: Sie ist kein Bestandteil der physischen Welt. Stets wird sie vom Menschen in den Zusammenhang der Ereignisse hineingedeutet. Sie ist das verselbständigte Produkt einer Interpretation. Um ihre Besonderheit zu pointieren, könnte man sie als eine Fiktion bezeichnen. Nur darf die Rede vom fiktiven Charakter der Macht nicht zu dem Schluß verführen, sie sei eine überflüssige oder überschüssige Erfindung - womöglich auf der Basis hochreflexiver Prozesse, für die nur Theoretiker zuständig sein können. Denn weniges gelingt uns so natürlich wie der Schluß auf ein Subjekt oder Medium "hinter" einem beobachteten oder erwarteten Geschehen. Es ist keine Frage des Nachdenkens, aus den Anzeichen möglicher Wirkungen auf etwas Zugrundeliegendes zu schließen. Die vielbeschworenen Gefahren der Substantialisierung drohen keineswegs erst im Bereich der Metaphysik, sondern wir begegnen ihnen im Alltag auf Schritt und Tritt. Sehen wir ζ. B. einen athletischen Zeitgenossen, so fällt es uns leicht, in Erwartung der durch ihn möglichen Wirkungen von seiner "Kraft" zu sprechen. Schon darin liegt eine Unterstellung, denn die Kraft selbst ist nicht zu sehen. Was wir mit dem Ausdruck "Kraft" bezeichnen, steht lediglich in einem mehr oder weniger direkten Verhältnis zu bestimmten wahrnehmbaren Äußerungen des athletischen Menschen, dessen Einheit, Absicht oder Chance wir ebenfalls nur annehmen, niemals aber unmittelbar beobachten können.
1. Macht und Wirkung
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Nicht anders steht es mit der Macht, die wir dem kräftig gebauten Menschen aber erst dann zuschreiben, wenn wir Anhaltspunkte dafür haben, daß die ihm angesehene Kraft auch mögliche Wirkungen zeitigen könnte. Die unterstellte Kraft wird mit einer weiteren Unterstellung versehen und führt so zur Vermutung der Macht. Denn um mehr kann es sich, strenggenommen, nicht handeln, wann immer von der Macht die Rede ist. Worauf diese Vermutung basiert, ist in der Sprache bloßer Gegenstandsbeschreibung schlechterdings nicht zu benennen. Offenkundig aber ist, wie viele unsichere Faktoren an jener Mutmaßung beteiligt sind, die uns mit größter Sicherheit davon sprechen läßt, daß dieser oder jener Mensch über Macht verfügt! Und dennoch erfolgt der Schluß auf die im Einzelfall gegebene Macht als Medium möglicher Wirkungen wie von selbst. Die Macht erscheint so gegenwärtig wie ein wahrnehmbarer Gegenstand. Die Verselbständigung des vermuteten oder erdeuteten Mittels, als das uns die Macht erscheint, steht praktisch nie in Frage. Schließlich sind wir es auch in der nüchternsten Einstellung gewohnt, von Dingen zu reden, die wir weder hören noch sehen. Der Tatsache, daß sich hier oder dort eine Macht äußert, sind wir uns mit der gleichen Selbstverständlichkeit bewußt, mit der wir uns selbst als "kräftig", "mächtig", "schwach" - oder auch einfach nur als "lebendig" - erfahren. Nach dieser Erläuterung bedarf es eigentlich keiner besonderen Erwähnung, daß die Urheberschaft der Macht nicht im Sinne einer direkten Ursächlichkeit verstanden werden darf. Wenn die Macht das Mittel ist, mit dessen Hilfe ein Urheber über Wirkungen verfügt, dann liegt darin auch die Verfügung über Ursachen. Denn nur, wenn man Ursachen herbeizuführen weiß, kann man Wirkungen zeitigen. Zwar muß auch diese Verfügung ihre spezifischen Ursachen haben. Aber die sind gewiß nicht mit der gemeinten Macht identisch, sondern stehen bestenfalls auch wieder nur "hinter" ihr. Wenn es also Ursachen der Verfügung gibt, liegen sie auf einer anderen Ebene als die Ursachen der erwarteten Wirkungen. Macht und Ursache können auch aus einem anderen, unmittelbar einleuchtenden Grund nicht identisch sein: Die für die Ursache stets notwendige Verknüpfung mit der Wirkung fehlt im Fall der Macht. Mächte können Wirkungen zeitigen, sie müssen es aber nicht. Es ist ausreichend, wenn Wirkungen als möglich angesehen werden. Gelegentliche Wirkungen reichen vollauf, um von der Präsenz einer Macht zu sprechen, wie die Beispiele der Liebe oder der Gewohnheit (oder auch ein Vertrauen in militärische Stärke) zeigen. Die auf Mutmaßungen, Berichte oder wahrgenommene Zeichen gestützte Erwartung möglicher Wirkungen ist das wichtigste Sensorium für die Macht. Drohungen, Anzeichen der Verläßlichkeit sowie Angebote von Schutz und Vertrauen - alles Vorzeichen dessen, was im Ernstfall tatsächlich kommen könnte - geben uns bereits hinreichend Aufschluß über die Macht von Mächten. Nur was über eine momentane Aktivität hinaus noch die Chance zu weiteren Wirkungen in sich schließt, nur was auf künftige Wirkungen rechnen läßt, ist eine Macht.
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1. Der Mensch als Macht
Stets ist ein Zeitaspekt eingeschlossen, nämlich ein Ansprach auf kommende Ereignisse. Bloße Gegenwart hätte keinen Raum für die Macht. Wesentlich an ihr ist eine Option auf die Zukunfl, d. h. eine Disposition zu Wirkungen, nicht aber diese Wirkung selbst. Mächtig ist nicht schon der, der jederzeit wirkt, sondern vielmehr der, der zur gegebenen Zeit wirken kann. Die Kennzeichnung der Macht als Disposition zu Wirkungen stimmt mit der Etymologie des Wortes überein. Die sprachliche Wurzel führt nicht auf das "Machen", wie Nietzsche gelegentlich meint, sondern auf die "Kunst" und das "Können".1 Der indogermanische Stamm (magh-) ist mit "können", "vermögen", "fähig sein" zu übersetzen. Auch die Wörter "mögen", "vermögen" oder "Möglichkeit" lenken auf diesen Ursprung zurück. "Macht", "Vermögen", "Fähigkeit" und "Möglichkeit" verweisen damit auf tatsächliche oder vermutete Bedingungen einer Wirklichkeit, und zwar auf die Wirklichkeit einer Handlung, eines Werkes oder eines beeinflußten Geschehens. Gemeinsam ist allen diesen Ausdrücken ihre Ausrichtung auf Zukunft·, die Frage, was bald, demnächst oder später sein wird, geht ihnen implizit voraus. An der Wirklichkeit, die sie bezeichnen, interessiert vornehmlich die Gewähr für das Künftige. Im Überschreiten der Gegenwart vermitteln sie Antworten auf ausgesprochene oder unausgesprochene Erwartungen. Die Ausrichtung auf Zukunft unterscheidet die "Macht" wesentlich vom "Machen", dessen bereits ähnlich lautende etymologische Wurzel (indogermanisch: mag-) den unmittelbaren Werkbezug auf eine Sache im Sinne von "kneten", "pressen", "formen", "bilden" bezeichnet. Das "Können", das die Macht ursprünglich bedeutet, ist nicht in gleicher Weise auf die Bearbeitung von Gegenständen beschränkt, sondern schließt auch andere Möglichkeiten des Tuns ein. Alles, was überhaupt Wirkungen zeitigt, kann eine "Macht" genannt werden. Die frühen Verwendungsformen lassen erkennen, daß "Macht" nicht erst nachträglich auf Möglichkeiten im Bereich des sozialen Geschehens übertragen wurde; ihre originäre Bedeutung entwickelt sie gerade im Hinblick auf jene Vorgänge, bei denen ein Mensch über andere Menschen etwas "vermag".2 Das "Vermächtnis" ist, wörtlich genommen, also nicht der Akt, in dem jemandem etwas "vermacht" wird, sondern vielmehr die ausdrückliche Übertragung einer Handlungsmöglichkeit. Macht indiziert die Chance, ein Tun und Lassen
Da monographische Bearbeitungen fehlen, muß auf die in Wörterbüchern gesammelten Erkenntnisse verwiesen werden: J. u. W. Grimm, Art. "Machen", in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, Leipzig 1873, 1363 ff.; Duden. Das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 4, Mannheim 1978; I. Micraelius, Lexicon-Philosophicum, 2. Aufl., Stettin 1662, 1071 f.; R. Hauser, Art. "Macht", Handbuch theol. Grundbegriffe, Bd. 2, 1963, 98 111; W. Goerdt, R. Hauser, T. Kobusch u. a., Art. "Macht", Hist. Wb. d. Phil., Bd. 5, 1980, 585 - 631; A. Gehlen, Art. "Macht", Handwörterbuch d. Sozialwiss., Bd. 7, 1961, 77 ff.; K.-G. Faber, K.-H. Ilting u. a., Art. "Macht/Gewalt", Geschichtl. Grundbegriffe, Bd. 3, 1982, 817 - 935; F. Hammer, Macht, 1979. Vgl. J. u. W. Grimm, Art. "Machen", in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 6, Leipzig 1873, 1363 ff. - Zur sozialen Bedeutung von "Macht" siehe insb. R. Hauser, Art. "Macht", Handbuch theol. Grundbegriffe, Bd. 2, 1963, 99.
2. Macht als Vermögen
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zu beeinflussen; ihr Grundtypus liegt nicht in der Bearbeitung von Gegenständen, sondern in der möglichen Verfügung über sich und über andere - und nur insofern auch über Gegenstände. Das ursprüngliche Anwendungsfeld des Machtbegriffs ist das menschliche Handeln, so wie es im sozialen Kontext wahrgenommen werden kann. Von der Macht als einer Verfügung über eine Sache spricht man bereits im übertragenen Sinn.
2. Macht als Vermögen Alltäglicher Sprachgebrauch und etymologische Wurzel verweisen also gleichermaßen auf die Macht als ein Vermögen besonderer Art - welcher Art, das soll nunmehr einer genaueren Bestimmung unterzogen werden. Dabei sprechen wir die Macht so an, wie sie alltäglich erfahren wird. Nachdem klar ist, daß jede Rede von der Macht auf Erwartungen beruht und allemal eine Interpretation beobachteter oder vermuteter Ursache-Wirkungs-Verhältnisse darstellt, muß nicht befürchtet werden, daß dadurch ein methodologischer Fehler unterläuft. Der Subjektcharaker der Macht stellt sich genauso zwingend ein wie die Macht selbst, die also auch nur eine Unterstellung ist. Dem fiktionalen Charakter der Macht wird methodologisch Rechnung getragen.3 Es liegt auf der Hand, daß der Begriff des Vermögens für sich genommen noch wenig spezifisch ist. Die Zeit, in der er als Schlüsselbegriff einer nach transzendentalem Vorbild verfahrenden Psychologie allgemein anerkannt war, ist längst vorbei, und umgangssprachlich steht er für viele Varianten von Besitz und Fähigkeit. Aber der oft und insbesondere von Nietzsche geschmähte Terminus, der heute unter den Titeln "ability", "disposition" oder auch einfach als "can" einige Aufmerksamkeit genießt,4 hat den Vorzug, daß er den Bezeich3
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"Fiktional" soll hier nur den anderen Status der Macht im Vergleich zum physischen Charakter von Wirkungen kennzeichnen, nicht aber den Realitätsgehalt disqualifizieren. Es fiele nicht schwer, auch den auf einer weniger reflexiven Stufe angesiedelten fiktiven Charakter physischer Qualitäten aufzuweisen. Dazu werden in den folgenden Überlegungen - und dann grundsätzlich in Kapitel IX - nähere Ausführungen gemacht. Die philosophische Aktualität des Begriffs "Vermögen" hat sich mit der analytischen Handlungstheorie ergeben, insbesondere in der Betrachtung der "Ifs, Cans and Causes" (J. L. Austin, 1956, 109 - 132), sowie überhaupt mit der Aufmerksamkeit für die Absichtlichkeit menschlicher Äußerungen seit G. Ε. M. Anscombes bahnbrechender Untersuchung über "Intentions" (1957; dt.: Absicht, 1986). - Auch die Soziologie der Gegenwart kommt bei der Definition der Macht ohne den Begriff des Vermögens offenbar nicht aus. So schreibt ζ. Β. A. I. Goldman: "Power is the ability to get what one wants, or the ability to realize one's will" (On the Measurement of Power, 1974, 231 - 252, 231). Das gilt unbeschadet der Einwände, die T. Parsons gegen die Behandlung der Macht als "generalized capacity to attain end or goals in social relations" erhoben hat (Social Theory and Modern Society, 1967, 298 ff.). N. Luhmann hat diese Kritik aufgenommen (Klassische Theorie der Macht, 1969, 149 - 170) und zu einer eigenen Theorie der Macht entwickelt (Macht, 1975), zeigt aber gerade darin, daß die Macht ihren "Handlungsbezug" nicht abstreifen kann. Infolgedessen wird sich auch die Rede von den "Vermögen" immer wieder einstellen, obgleich man natürlich immer zu Umschreibungen greifen kann. So geht z. B. D. Ciaessens (in Anlehnung an Norbert Elias) auf den Begriff der "gesellschaftlichen Stärke" zurück, muß aber gerade dabei darauf bestehen, daß "Möglichkeiten" und "Können" gegeben sind (Rolle
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I- Der Mensch als Macht
nungskontext, aus dem er stammt, deutlicher erkennen läßt: Die Frage "wozu?" stellt sich bei Verwendung des Begriffs des Vermögens zwangsläufig ein. "Vermögen" ist notwendig Vermögen zu etwas, das man generell als eine "Leistung" bezeichnen kann. Fragt man, welche Leistung und welche Leistungsbedingungen im Fall der Macht gefordert sind, kommt man ihrer Erkenntnis wie von selbst ein Stückchen näher. Zunächst ist festzuhalten, daß der Begriff des Vermögens die bisher gewonnene Einsicht in die Urheberschaft der Macht umgreift. Auch die Rede vom Vermögen basiert auf einer Fiktion der beschriebenen Art: Einer erfahrbaren Aktivität wird eine substantielle Größe unterstellt, deren Eigenschaft es ist, irgendwie wirksam zu sein. Auch diese Unterstellung ist ein alltäglicher Vorgang, ohne besonderen Aufwand an Reflexion. Unabhängig davon, ob es sich um physische oder psychische, individuelle oder kollektive Leistungen handelt, werden sie angesehen, als ob ein wirkungsfähiges Vermögen dahinterstünde. Dieses Vermögen benötigt ein Subjekt als Träger und kann selbst als bloßes Mittel verstanden werden. Man kann es als "Kompetenz", "Potenz", "Disposition" oder "Kondition" beschreiben. Man kann es aber auch einfach als "Macht" bezeichnen. Doch die Begriffe "Macht" und "Vermögen" kommen nicht gänzlich zur Deckung. Zwar wird man immer für "Macht" auch "Vermögen" einsetzen können, aber nicht jedes Vermögen ist immer schon eine Macht. Geistige Fähigkeiten etwa oder auch charakterliche Eigenschaften, die beide gewiß zu den Vermögen zu rechnen sind, lassen sich nur dann als "Macht" deklarieren, wenn ein Bezugsrahmen angegeben werden kann, in dem das Vermögen eine Überlegenheit im Vergleich zu anderen begründet. Das Vermögen zu etwas, wenn es denn eine "Macht" genannt werden soll, muß sich als Vermögen zu einer möglichen Verfügung über andere formulieren lassen. Dabei tritt dann der Charakter der Macht um so schärfer hervor, je eigenständiger und eigenwilliger dasjenige ist, über das Verfügung gewonnen ist. "Macht", so heißt es bei Kant, "ist ein Vermögen, welches großen Hindernissen überlegen ist. 1,5 Groß sind die Hindernisse besonders dann, wenn sie schwer berechenbar und in der Lage sind, sich gegen die Überlegenheit mit eigenen Maßnahmen zu wehren. Erst im Fall möglicher Gegenwehr wird es sinnvoll, von Macht zu sprechen. Sobald eine Leistung mit einer Verfügung über eine nicht bloß als gegenständlich und widerständig, sondern als selbständig vorgestellte Einheit verbunden ist - sei sie ein Mensch oder eine Institution, der eigene Körper oder auch ein beliebiger Gegenstand, von dem man zumindest im übertragenen Sinne sagt, daß er sich "selbständig" machen kann -, bietet der Begriff der Macht sich an. Je eigenständiger und eigenwilliger dasjenige ist, über das die Verfügung möglich scheint, desto angemessener ist es, "Vermögen" mit "Macht" zu übersetzen.
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und Macht, 1970, 60 ff.). - Eine Darstellung der sozialwissenschaftlichen Machttheorien ist im folgenden nicht beabsichtigt. Verwiesen sei auf die Literaturübersicht von S. Hradil, Die Erforschung der Macht, 1980. Ferner: S. Lukes, Power. A Radical View, 1974; Κ. Röttgers, Spuren der Macht, 1990. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 28; AA 5 , 260.
2. Macht als Vermögen
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Daraus darf man die Schlußfolgerung ziehen, daß Macht erst gegen einen gewissen Widerstand erforderlich wird. Dem herrschenden Vorurteil, demzufolge die Macht primär auf die simplen und dumpfen Naturen setze, steht dieser Befund entgegen. Natürlich kann auch eine Macht den Weg des geringsten Widerstandes gehen. Sie hat jedoch, wenn sie bestehen will, mit ihren Widerständen zu wachsen und ist um so größer, je selbständiger diejenigen sind, über die sie verfügt. Für den alltäglichen Sprachgebrauch gilt freilich, daß die Widerständigkeit, die eine Macht benötigt, um sich als Macht zu behaupten, prinzipiell an jedem Gegenüber - wohl auch an einem Gegenstand - erfahren werden kann. Vielleicht kommen wir überhaupt zu Gegenständen nur, weil irgendetwas sich unserem Machtanspruch entgegenstellt, das dann eben nur in der Form eines Gegenstandes begriffen wird? Vielleicht muß das unbestimmt Widerständige erst in die oppositionelle Stellung eines Gegenstandes gebracht werden, ehe es auch im einzelnen (kategorial) bezwungen und somit erkannt werden kann? - Doch das ist ein weit ausgreifender spekulativer Gedanke, der lediglich die Vermutung nahelegt, daß sich nicht nur die für die Machterfahrung primären, eigenständig opponierenden lebendigen Wesen, sondern alle Gegenstände der Natur - somit im Grenzfall die Wirklichkeit überhaupt als jenes andere ansehen lassen, in dessen Verfügung sich die Macht allererst erweist. Im mythischen Weltbild - so erscheint es uns jedenfalls - ist jedes einzelne Wesen eine Macht, und das Ganze des Daseins gilt als ungeheurer Kampfplatz von Mächten. Dem stehen wir im Alltag vielleicht gar nicht so fern, wie uns unser aufgeklärtes Selbstverständnis suggerieren möchte: Wie schnell gewinnt bei einem nächtlichen Spaziergang ein knickender Ast Macht über uns, gar nicht zu reden von einem Gewitter über freiem Feld, vom Sturm auf See oder auch nur von dem Knoten unter der Haut. Solche Machterfahrungen zeigen, daß wir im unmittelbaren Erleben noch gar nicht so weit von Totem und Tabu entfernt sind. Aber wir haben, befreit von der ständigen Präsenz entsprechend übermächtiger Eindrücke, zu differenzieren gelernt und können uns, wenigstens in theoretischer Betrachtung, dabei beruhigen, daß nicht alles, was sich uns entgegenstellt, gleichartig und gleichermaßen mächtig ist. Für den aufgeklärten Beobachter lauert die Macht nicht mehr in jedem Ding und in jeder Beziehung. Aber worin hat sie dann ihr Spezifikum als Macht? Welches Gegenüber braucht die Macht, um hinreichend deutlich von dem bloßen Vermögen unterschieden werden zu können? Ist das Gegenüber eine festgegebene, exakt berechenbare Größe, eine physische Kraft, ein deskriptiv eindeutig erfaßbares Hindernis, dann reichen als Verfügungsmittel bereits eine stärkere Kraft, Arbeit oder technisches Geschick. Von "Macht" braucht in allen diesen Fällen nicht die Rede zu sein. Selbst bei der Bewältigung komplizierter Widerstände, wie ζ. B. beim Besteigen eines Berges oder in der ersten Fahrstunde, kann man auf Macht im strengen Sinn ganz verzichten. Ja, selbst im Hinblick auf die Verfügung über hochkomplexe lebendi-
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I. Der Mensch als Macht
ge Zusammenhänge, die auf jede Einwirkung empfindlich und schwer berechenbar reagieren, kann der Machtbegriff deplaziert sein; denn angebracht ist er wohl erst dann, wenn sich das Gegenüber dem verfügenden Vermögen in einem gewissen Sinn als gleichartig erweist: Erst wenn ein Vermögen der Verfügung auf ein anderes gerichtet ist, das selbst als gegengerichtetes Verfügungsvermögen auftritt, stellt sich das Bewußtsein der Machtanwendung ein. Das aber heißt: Macht ist nötig, wann immer man sich einer anderen Macht zu erwehren hat, wann immer man über konkurrierende Mächte verfügen will oder sie auf Distanz halten möchte. Eine Macht entsteht somit erst in der Opposition zu anderen Mächten. Vermögen der Verfügung über andere Macht - das ist Macht. Damit ist zunächst natürlich nur ein genetischer Kontext angegeben. Als Definition kann man die zirkuläre Aussage nicht gelten lassen. Aber sie gibt Entstehungsbedingungen zu erkennen, die uns auch aus anderen Zusammenhängen bekannt sind. So läßt sich beispielsweise auch der Mensch nur zirkulär - durch seinen Bezug auf andere Menschen (letztlich natürlich nur durch seinen allem zugrundeliegenden Selbstbezug) - bestimmen. Daß sich diese begriffliche Parallele zwischen Mensch und Macht nicht zufällig einstellt, wird später offenkundig werden. Zunächst genügt die Feststellung, daß von einer Macht im strikten Sinn nur in Beziehung auf ihr entgegenstehende Mächte gesprochen werden kann, ganz gleich, ob sie das Gegenüber überwindet, ihm unterliegt oder in ein Gleichgewicht mit ihm findet. Das adäquate Gegenüber der Macht ist eine andere Macht. Die konkurrierende Gegenmacht bildet den mitbewußten Hintergrund eines jeden Machterlebens. Mächte entstehen erst im Gegeneinander von Mächten. Folglich kann von einer Macht nur als Macht unter Mächten die Rede sein. Der Begriff der Allmacht ist ein Grenzbegriff, der nicht zufällig das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt.
3. Die Macht unter Mächten Die spezifische Leistung des Vermögens, das uns als Macht vertraut ist, liegt also in der möglichen Verfügung über andere Mächte. Schon in dieser Feststellung ist eine weitere Differenzierung angelegt: Die Verfügung einer Macht über eine andere Macht bringt eine Rollenverteilung mit sich, die jedes Machtverhältnis charakterisiert. Die Verfügung kann nur bei entsprechendem Machtgefälle gelingen. Im Verfügungsanspruch liegt das Streben nach Überlegenheit, denn nur aus der Position des Überlegenen kann die Verfügung wirksam sein. So vielfaltig die Verfügungsmöglichkeiten auch immer sein mögen, Eroberung, Unterwerfung oder zumindest Steuerung und Einflußnahme aus einer dominierenden Stellung sind in irgendeiner Weise stets im Spiel. Selbst ein Gleichgewicht kommt nur durch Unter-
3. Die Macht unter Mächten
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werfung gleichwiegender Mächte unter eine gemeinschaftlich anerkannte Macht zustande und sei es unter die Macht dessen, was "Vernunft" genannt wird. Die Vernunft habe "gesiegt", wird dann gerne gesagt. Die Sprache bringt auch in diesem Fall den mit der Verfügung etablierten Rangunterschied zum Ausdruck. Ein Machtverhältnis besteht natürlich nur, solange die unterlegene Macht nicht vernichtet wird. Andernfalls gäbe es kein "Verhältnis" mehr. Als Macht besteht das Gegenüber nur so lange fort, wie sie der überlegenen Macht gefahrlich werden oder von dritten Mächten noch als ihresgleichen anerkannt werden kann. Als Macht hat sie in der Regel aber auch die überlegene Größe zu präsentieren, weil sie sich nur so - nämlich als Macht - Vorteil oder Befriedigung verschaffen kann. Ranggefälle sind also kein Ausdruck eines von oben nach unten verlaufenden Machtabbaus, sondern Zeichen einer konsequenten Erhaltung von Macht bei permanent von allen Beteiligten angestrebter Überlegenheit. Rangunterschiede sind somit Ordnungsformen zwischen Mächten, die, unter ein gemeinschaftliches Prinzip gebracht, sich als Herrschaft präsentieren können. Die Herrschaft gibt vor, allen beteiligten Mächten, auch den unterworfenen, Vorteile zu verschaffen. In der Tat erlaubt die herrschaftliche Ordnung, daß die wechselseitige Verfugung in komplexen Machtgebilden auf ein gemeinschaftliches anderes gerichtet wird. Dadurch entsteht die Organisation der Macht. Machtgegensatz und Machtorganisation gehen direkt ineinander über, sofern der Gegensatz auch nur irgendwie bewältigt wird. Da der Antagonismus der Mächte, der bereits im Anspruch auf Verfügung begründet liegt, immer gegeben ist, und - dies aus dem gleichen Grund! - die Erwartung einer Integration oder Kooperation einer anderen Macht immer besteht, ist jede Macht immer schon auf die Organisation von Mächten angelegt. Im Zusammenhang vieler Mächte kommen daher Gegensatz und Ausgleich, Eroberung und Niederlage, Verbindung und Ausgrenzung in zahllosen Varianten vor. Eine einzelne Macht ist in diesem Kontext wohl kaum durch nur ein Verhältnis bestimmt. Fälle, in denen sich nur zwei Mächte gegenüberstehen und sich hermetisch in der wechselseitigen Beziehung aufeinander begrenzen, dürften Ausnahmen sein, falls sie überhaupt möglich sind. Da aber die Eigenart einer jeden im Umfeld wirkenden Macht - allein durch ihre andere Stellung - anders ist, sind auch die jeweiligen Verhältnisse verschieden. Die Verschiedenheit kann in Nuancen bestehen, kann aber, wie man es von den alltäglichen Machtverhältnissen her kennt, bis zu anscheinend unvereinbaren Ausprägungen führen. Die Überlegenheit in einer Beziehung kann das Gleichgewicht in einer anderen zur Folge haben und die Unterwerfung in einer dritten begründen. Was eine Macht jeweils bedeutet, ist nur in einem solchen Beziehungsgeflecht zu erkennen, denn sie ist gänzlich durch die Relationen bestimmt, in denen sie sich hält. Damit ist der aus ihrer Dispositionsfunktion folgende relationale Charakter offengelegt. Was eine Macht ist und wie sie sich zeigt, erweist sich immer erst in Relation zu anderen Mächten.
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I. Der Mensch als Macht
Die durchgängige Relativität der Macht ist unabweisbar, wenn man ihren konstitutiven Bezug auf andere Mächte in Verbindung mit ihrer Rolle als Vermögen der Verfügung über andere sieht. Dann nämlich ergibt sich ein Zusammenhang sich gegenseitig bestimmender Größen, die an sich selbst nichts anderes als Mittel sind, weil das Vermögen (als Disposition zu Wirkungen und damit zu Leistungen) als Mittel zu möglichen Wirkungen verstanden werden muß. Somit läßt sich das Vermögen schärfer fassen, und zwar als Vermögen der Verfügung über anderes, das selbst nur als Mittel zur Verfügung über anderes interessiert. Die Ziele im einzelnen sind stets konkret durch den jeweiligen Lebenszusammenhang bestimmt. Macht aber ist, auch wenn sie nur in den Dienst eines bestimmten Zieles gestellt wird, an dieses nicht gebunden. Letztlich ergibt sich eine unabgeschlossene Dynamik des Übergangs von Mittel zu Mittel. Die sprichwörtliche Unersättlichkeit der Macht hat hier ihren Ursprung, denn als Macht ist sie stets auf andere Macht bezogen, die in ihrer instrumenteilen Funktion auch wieder nur auf andere Mächte verweist. Ein Stillstand ist nur denkbar, wenn Wirkungen entweder nicht mehr möglich oder nicht mehr nötig sind. Nur wenn keine physische Äußerung mehr zustande kommt oder kein Machtanspruch des verfügenden Subjekts mehr besteht, kann die Bewegung der Macht zu einem Abschluß kommen. Die Macht als das auf Mittel bezogene Mittel verweist notwendig über sich hinaus.
4. Mittel zum Zweck Die bisher verwendeten Termini "Vermögen", "Verfügung" und "Mittel" beziehen sich alle in irgendeiner Weise auf den Begriff des Zwecks. Denn jedes Vermögen ist notwendig auf Leistung angelegt, weil es nur aus einer Wirkung, die wir als Leistung deuten, erschlossen werden kann. Jeder Leistung aber ist eine Zielorientierung immanent. Davon hat sich selbst die physikalische Definition der Leistung noch etwas bewahrt: Als Arbeit in der Zeit geht nicht nur die Kraft, sondern eben auch der Weg in sie ein. Leistung ist also auf irgendetwas gerichtet, das erreicht werden soll. Entsprechend läßt sich auch der Wortgebrauch von "Mittel" ohne impliziten Bezug auf Zwecke gar nicht verstehen. Folglich ist auch die Macht irgendwie auf Zwecke ausgerichtet. Das aber heißt: Sie ist in sich teleologisch verfaßt. Doch wer könnte den Zweck der Macht definieren? Sie taugt bekanntlich für viele Zwecke, ohne auf einen bestimmten angewiesen zu sein. Sie benötigt Zwecke, ohne sich jedoch auf einen festzulegen. Als Verfügung über Mittel ist sie jederzeit zweckorientiert, aber sie scheint sich, wenn man so sagen darf, die Zwecke eher selbst auszuwählen, als sich ihnen zu unterwerfen. Ihr Begriff schließt es offenbar noch nicht einmal aus, sie als Zweck
4. Mittel zum Zweck
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an sich zu bezeichnen.6 In eine solche Stellung kann sie nur geraten, weil sie - hierin dem Geld sehr ähnlich7 - eine Disposition zu beliebigen Zwecken ist. Es versteht sich von selbst, daß die Unbestimmtheit keine notwendige Bedingung darstellt. Es sind Mächte in festumrissenen Zwecken denkbar, Mächte, die durch selbstgesetzte Kontrollen an ihre Bestimmung gebunden bleiben. Die heute üblichen Formen der Staats- und Verbändemacht sind weitgehend von dieser Art. Doch auch im Rahmen solcher Zwecke fungiert die Macht wie ein Mittel, das im Rahmen dieser Zwecke zu allem taugt und das insofern auf keinen bestimmten Zweck festgelegt ist. Was immer in solchen Zusammenhängen bewirkt werden soll: Macht gehört in jedem Fall als die unerläßliche Bedingung hinzu. Die Unbestimmtheit der Machtziele wird dort besonders deutlich, wo politische Rivalen gegensätzliche Programme versprechen und beide zu diesem Zweck gleichermaßen nach Macht - sozusagen nach "derselben" Macht - streben. Diese Erwartung an die Macht ist nur möglich, wenn sie prinzipiell für alle Zwecke brauchbar ist. Ehe man sich jedoch über die uneingeschränkte Fungibilität der Macht empört, sollte man sich den damit gegebenen Vorteil ihrer Neutralität und Plastizität vergegenwärtigen: Der Vorteil liegt darin, daß sie Schutz vor möglichst vielen, auch vor unbestimmten Gefährdungen gewährt. Die Wirksamkeit der Macht ist eben nicht auf bestimmte Reaktionsweisen festgelegt. Was im Prinzip für alle Zwecke taugt, ist im großen und ganzen auch für alle Fälle hilfreich. Die Macht kann daher ihre Kraft für die größtmögliche Zahl von Situationen speichern. So bereitet sie in der denkbar weitesten Form auf alles vor, was überhaupt kommen kann. Gerade wenn man noch nicht weiß, wer und was einen bedroht, ist die Macht das beste Palliativ. Man braucht sie also, um mit Wahrscheinlichkeiten besser umgehen zu können, um auch auf das Unberechenbare noch optimal vorbereitet zu sein.8 Da sie nicht auf bestimmte Funktionen eingeschränkt ist, kann man sie als eine Art Universalinstrument ansehen, das möglichst in allen Situationen brauchbar ist. Sie ist das Generalmedium, durch das alles andere zum Mittel für die jeweils anstehenden Zwecke werden kann. In der Universalität der Macht als Mittel auch noch gegen unbestimmte Gefährdungen liegt die Ursache für die großen Hoffnungen, die der Mensch unablässig in sie setzt. Hier ist zugleich aber auch der Grund für das tiefe Mißtrauen zu suchen, das den Machthabern immer wieder entgegenschlägt. Die Macht als Vermittler von Wirkungen schlechthin, als Funktionär flir alle Funktionen, als wirkliche Möglichkeit alles nur wirklich Möglichen, kann in der Tat die größten Wünsche und die stärksten Ängste wuchern lassen. Ihr Risiko ist die Kehrseite der durch sie garantierten Sicherheit. Meist brauchen die, welche das Risiko 6 7 8
G. Ritter, Die Dämonie der Macht, 1947, 213. G. Simmel, Philosophie des Geldes, 1922, 197 ff. u. 230 ff. Diese These deckt sich mit N. Luhmanns Deutung der Macht als "Generalisierung von EinfluH" (Macht, 197S, 74 ff.), ohne jedoch seine zugrundeliegende metaphysische Prämisse zu übernehmen, derzufolge sich in der Macht nur ein "reflexiver Mechanismus" von Systemen zeigt.
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I. Der Mensch als Macht
scheuen, die Sicherheit am meisten. Bisher war es nur in den Schutzräumen großer Macht gefahrlos möglich, auf Macht zu verzichten. Im übrigen hilft gegen eine Macht nur eine andere Macht. Die stets gegebene Tauglichkeit der Macht zur Realisierung von Zwecken gibt ein sicheres Strukturmerkmal an die Hand: Die Fähigkeit etwas zu bewirken, einen Effekt zu erreichen, eine Maßnahme durchzusetzen, sie aufrechtzuerhalten oder zu verhindern - : alles das ist Indiz für den intentionalen Charakter der Macht. Genauer: Macht ist nur in intentionalen Zusammenhängen verständlich, an denen sie selbst als wirkender Faktor beteiligt ist. Wir erfahren eine Macht, als ob in ihr eine Absicht wirke, unabhängig davon, ob wir sie erfolgreich einsetzen oder ihr kläglich unterliegen. Gerade der Unterlegene kann sich dem Eindruck der "Absicht" der Übermacht nicht entziehen. Entweder "will" sie ihn in ihre Abhängigkeit zwingen, oder sie ist so stark auf etwas anderes ausgerichtet, daß sie ihn nicht zur Kenntnis nimmt. In jedem Fall werden Selbständigkeitsverlust, Abhängigkeit, Fremdbestimmung oder Unterwerfung notwendig als Durchkreuzung eigener Absichten erfahren und führen zwangsläufig dazu, auch der stärkeren Macht ein Motiv zu unterschieben. Natürlich wird die Als-ob-Konstruktion nur in distanzierter Reflexion auf die Bedingungen der Machterfahrung bewußt. Das alltägliche Machterleben braucht solche Zwischenschritte nicht. Es ist ganz von selbst auf Zwecke angelegt und insofern unmittelbar zum Willen. "Macht", so lautet Max Webers berühmte Definition, ist "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzuführen, gleichviel, worauf diese Chance beruht". 9 Es ist zumindest ein Analogen des Willens, das wir in der Macht als wirksam ansehen. Jede Berührung mit der Macht ist eine Herausforderung des Willens. Man sieht sich entweder genötigt, ihr zu folgen, oder ihr zu widerstehen, oder man hat sich um Neutralität zu bemühen. Solange Macht im Spiel ist, ist auch der Wille berührt. Da aber auch vom Willen ernsthaft nur gesprochen werden kann, wenn ihm eine Realisierungschance entspricht, wenn er das Vermögen zu möglichen Wirkungen einschließt, und wenn die Macht tatsächlich nicht anders erfahren werden kann, als ob in ihr ein Wille wirke, rufen sich Macht und Wille wechselseitig auf den Plan. So wie keine Macht ohne einen durch sie wirkenden Willen vorgestellt werden kann, so zerfällt auch der Wille, wenn er machtlos ist; er wird zu einem "ohnmächtigen" Willen und damit zum bloßen Wunsch. Wo Macht ist, muß daher auch Wille sein - und umgekehrt.
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M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Hlbbd., 1972, 28 (H. v. m.).
5. Die Analogie von Macht und Mensch
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5. Die Analogie von Macht und Mensch In der notwendigen Beziehung zwischen Macht und Wille wird die einleitend erwähnte Parallele zum Leibproblem sichtbar: Die Macht ist der - noch näher zu bestimmende "Leib", der mit dem notwendig in ihm wirkenden Willen immer schon seine "Seele" hat. Macht "verkörpert" die Einheit von innerer Strebung und äußerer Wirkung. Wir stellen uns die Macht nach dem Modell einer psychophysischen Einheit vor, die, indem sie nach "außen" dringt, von "innen" drängt. Stets rechnen wir sie einem "Subjekt" zu, das nach Maßgabe eines Willens über den Einsatz des Mittels verfugt. Denn ohne unterstellten Träger läßt sich das Vermögen schlechterdings nicht begreifen. Die Macht ist nicht nur zwingend in einen Zweck-Mittel-Konnex eingebunden, sondern sie verweist mit gleicher Notwendigkeit auf ein in sich wirksames, richtunggebendes Zentrum. Es gelingt uns nicht, die Macht ohne ein in ihr tätiges Wesen vorzustellen, dem sie in irgendeiner Weise dient (oder schadet). Damit erscheint die Macht stets als Vermögen eines handelnden Wesens, das Zwecke verfolgt, somit einen Willen hat und sich auf etwas anderes bezieht, über das sie verfügt. Dieses andere macht sie in dem ihr entsprechenden Gebrauch zu einem für ihre Zwecke tauglichen Mittel, betrachtet es aber als sich selbst insofern vergleichbar, als es ihm zumindest das Vermögen unterstellt, selbst als Macht tätig zu sein. Damit können wir ein erstes Fazit unserer Betrachtung über die Implikationen des alltagssprachlichen Gebrauchs des Machtbegriffs ziehen: Das jeder Macht ganz von selbst unterlegte tätige Wesen setzt auch in den anderen Mächten handlungsfähige Subjekte voraus. Damit sprechen wir von der Macht gerade so wie von uns selbst - zumindest wie von uns als handlungsbereiten Wesen. Somit kommt hinter der Macht letztlich nicht etwa bloß eine dynamische Relation oder eine andere abstrakte Größe zum Vorschein, sondern nichts anderes als der unter seinesgleichen handelnde Mensch. Achten wir nur darauf, wie wir den Begriff der Macht verwenden, so stoßen wir unvermeidlich auf eine tiefsitzende Beziehung zwischen Macht und Mensch: Von Macht zu sprechen ergibt nur dann einen Sinn, wenn wir sie nach Art eines Mittels begreifen, das einem nach Art des Menschen begriffenen Wesen zu seinen eigenen Zwecken dient. Die Macht erscheint als das generelle Vermögen des Menschen in seinem Verhältnis zu sich und seinesgleichen. Kurz: Wir begreifen die Macht wie uns selbst und gelangen zu Selbstbewußtsein nur, sofern wir uns selbst als eine Macht begreifen. In dieser Analogie, so meine ich, zeigt die Macht nun endlich auch ihr wahres Gesicht. Dämonisch, abgründig oder böse erscheint es nicht - zumindest nicht notwendig. Denn man schaut in das so rätselhafte wie vertraute eigene Antlitz. Wir sind es selbst, die sich in der Macht begegnen. Denn offensichtlich steht hinter der Macht das Selbstverständnis des eigenen Tuns. Alle bisher aufgezählten Merkmale: die sich von selbst einstellende Kon-
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I. Der Mensch als Macht
struktion eines subjektanalogen Trägers von Mitteln, damit die Rede von Vermögen und Verfügung, die Angewiesenheit auf selbständige Opponenten, überhaupt das Widerspiel gleichartiger, aber nach Überlegenheit und damit nach Rangunterschieden strebender Kräfte, schließlich die intentionale Verfassung - sie alle zeigen die unmittelbare Verbindung zwischen Macht und Handlung. Das Phänomen der Macht ist nur verständlich, wenn es sich als Moment eines Handlungsgeschehens auffassen läßt. Denn wo immer die sondierende Frage ansetzt, stets ergibt sich mehr als eine bloße Ursache-Wirkungs-Kette. Die Verknüpfung des Geschehens mit einem nach Analogie des Willens gedachten Urheber, die vermittelnde Funktion der Macht nach Art eines Vermögens, ihre Angewiesenheit auf Widerstand durch ihresgleichen sowie die immanente Intentionalität geben einen Aufbau zu erkennen, der zwingend auf die Handlung als einheitsstiftenden Zusammenhang verweist. So wenig mit dieser Lozierung der Macht auch noch gesagt ist: Die üblichen Verwechselungen mit Stärke oder Kraft oder Energie lassen sich nun leichter vermeiden. Dagegen tritt die systematische Nähe zu Gewalt und Herrschaft stärker hervor, ebenso die modale Zwitterstellung der Macht zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Sichtbar wird auch schon die implizite Verständigungsleistung einer jeden Berufung auf die Macht, denn jeder Verweis auf Macht enthält eine Information über erwartete Wirkungsmöglichkeiten, die für jeden, der sie zu schätzen weiß, von praktischer Bedeutung sind. Vor allem aber wird eine Herkunftsbestimmung möglich, die ihren genuinen Wirkungsbereich erkennen läßt: Denn die Tatsache, daß sie letztlich nur im Kontext von Handlungen verständlich ist, läßt ihren menschlichen Ursprung erkennen. Die Fähigkeit des Menschen, sich selbst als Urheber eines Geschehens aufzufassen und die an sich selbst erfahrene Rolle auch seinesgleichen unterstellen zu können, legt den Grund für die Machterfahrung überhaupt. Im Kern laufen alle Definitionen auf diese Analogie mit dem in Gesellschaft handelnden Menschen hinaus: "Macht", so hat es Voltaire im Anschluß an Hobbes und Locke und im Vorgriff nicht nur auf Kant und Hegel, sondern auch auf die politische Philosophie der Gegenwart formuliert, "besteht darin, andere zu veranlassen, so zu handeln, wie es mir beliebt."10 Es ist nur eine Konsequenz dieser Definition, die Macht als ein "Humanum" zu bezeichnen, das es bei anderen Lebewesen nicht gibt." "Der Mensch hat seine Aktivität und ihre Gegenstände in seiner Gewalt, das ist der erste Begriff der Macht, der in Gegensatz zum
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Zit. nach H. Arendt, Macht und Gewalt, 1975, 37. Arendt bezieht sich an dieser Stelle ferner auf die treffende Äußerung von Robert Strausz-Hupé, nach der die Macht nichts anderes ist als "die Macht des Menschen über den Menschen". "Macht scheint mir ein Humanum. Macht, so wie ich das Wort hier verstehen will, gibt es bei den Tieren eigentlich nicht [...]." (C. F. von Weizsäcker, Theorie der Macht, 1978, 13; ders., Der Garten des Menschlichen, 1977, 253 - 293) Ähnlich: H. Zeltner, Sozialphilosophie, 1979, 107. Ferner: R. Guardini, Die Macht, 1952, 17 ("Zum Wesen der Macht als eines spezifisch menschlichen Phänomens gehört die Sinngebung.").
S. Die Analogie von Macht und Mensch
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Begriff der Natur des Tieres gewonnen ist. Macht ist Machen-können."12 Das "Ganze des menschlichen Lebens", so deutet Helmut Schelsky die politische Lehre von Thomas Hobbes, muß nach Analogie der menschlichen Handlung verstanden werden; der Begriff, der das Wesen der Handlung als einer "Leistungsangabe" am besten trifft, ist der Begriff der Macht.13 Die Macht kann prinzipiell in jedem menschlichen Tun oder Lassen erlebt werden. Ihr Ausgangspunkt liegt im Fausthieb nicht weniger als im Machtwort, in Verweigerung und Drohimg manchmal noch stärker als im physischen Zwang. Aus der ursprünglichen Handlungserfahrung wird die Macht auf alle gleichen oder analogen Vorgänge übertragen. In den Handlungen anderer liegt Macht, weil in ihnen mindestens eine reaktive Kraft ist, welche die eigene Macht berührt. Alles, was dem eigenen Willen entgegensteht oder ihn befördert, wird zunächst selbst nach Analogie eines Willens verstanden, und entsprechend wird das, was die eigene Macht tangiert, selbst als eine Macht bezeichnet. So kommen jene Formeln zustande, von denen wir anfangs ausgegangen sind, und die sich nunmehr nur noch als metaphorische Wendungen verstehen lassen. "Macht der Gewohnheit" oder "Macht des Schicksals" können als Mächte nur insofern gelten, als sie die Handlungsmacht des Menschen einschränken oder erweitern. Hier zeigt sich die Als-ob-Konstruktion des Begriffsgebrauchs besonders deutlich: Von den Mächten der Natur kann nur die Rede sein, wenn Naturereignisse so angesehen werden, als ob in ihnen ein Wille wirke: "[...] the natural power of tornadoes, earthquakes, etc., is admired only because it is as if they were carrying out what they want."14 In der Möglichkeit der Übertragimg der ursprünglichen Machterfahrung auf andere intentionale und nicht-intentionale - Träger liegt ein Schlüssel zur Fähigkeit menschlicher Weltaneignung überhaupt. Will man den Vorgang begrifflicher Welteroberung für Rekonstruktionen offenhalten, dann darf man den Ausgangspunkt in der Selbsterfahrung menschlichen Handelns nicht aus den Augen verlieren. Wenn aber alle Macht ursprünglich Handlungsmacht ist, dann ist auch alles Dämonische, Böse, Abgründige der Macht auf die ohnehin einzig mögliche Wurzel allen Übels zurückgeführt: nämlich auf den Menschen selbst. "Die Macht kommt von unten [...]"1S - und das heißt: Sie kommt von niemand anderem als 12
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H. Schelsky, Thomas Hobbes (1940), 1981, 84. Schelskys Ausführungen machen hinreichend klar, daß die Macht als "Machen-können" nicht in einem bloß technischen Sinn verstanden werden darf. Das Machen wird hier einem Wesen zugeschrieben, das Sprache hat (ebd., 83) und das von Natur aus auf seinesgleichen bezogen ist (ebd., 85 ff.). - In der neueren Theorie wird diese Eigenschaft der Macht als ihre dispositionale Qualität bezeichnet (vgl. P. Morriss, Power, 1987, 14 ff.). H. Schelsky, Thomas Hobbes (1940), 1981, 85 ff. J. N. Findlay, Values and Intentions, 1968, 282. - "Macht und Gewalt sind keine Naturphänomene und können mit Metaphern, die dem Lebensprozeß entnommen sind, niemals adäquat erfaßt werden. " (H. Arendt, Macht und Gewalt, 1975, 82) Vgl. dazu die von D. Emmet diskutierten Beispiele: menos = im Altgriechischen die Macht, die die Götter jemandem übertragen; mana = bei den Melanesien die nicht-physische Macht aller guten und bösen Naturkräfte (The Concept of Power, 1953/54, 1 - 26, 22 ff.). M. Foucault, La volonté de savoir, 1976; dt.: Der Wille zum Wissen, 1977, 115.
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vom Menschen selbst. Dem steht das Wort des Chrysippos: "denn das Göttliche ist von allem das Mächtigste", nicht entgegen.16 Denn könnten wir sie nur für sich bewerten - als Macht, ohne die uns buchstäblich nichts zu tun und zu bewirken möglich wäre -, müßten wir sie mit Kant als eine "Glücksgabe" bezeichnen.17 Ja mehr noch: Sie ist die Bedingung dafür, daß wir überhaupt unser Glück machen können. Ob man nun mit Gregor dem Großen alle Macht als grundsätzlich "gut" behauptet oder in der Nachfolge Max Schelers die Macht als Widersacher des Geistes für "böse" erklärt,18 ist erst in zweiter Linie ein Urteil über die Macht. Primär liegt darin ein Ausdruck für die Einstellung zur menschlichen Welt. Zum Menschen gehören notwendig Gegensatz, Eigensinn und Widerspruch und mit alledem auch Irrtum und Wahrheit, Verzweiflung und Hoffnung. Alles Glück setzt die Erfahrung von Schmerz und Leid voraus. Nur unter ihrem Spannungsbogen erhalten Wollen und Handeln einen Sinn - und mit ihnen auch die Macht. Deshalb gilt, daß wer die Macht verwirft, wohl auch dem Menschen nicht traut. Aus Angst vor seinen offenkundigen Schwächen wird in Abrede gestellt, daß er nur aus seinen Schwächen zum Bewußtsein möglicher Stärken gelangt. In dem Bannspruch gegen die Macht wird dem Menschen das einzige Mittel verleidet, durch das er sich selbst seine Zukunft schaffen kann. Es ist daher nur konsequent, wenn die Abwehr der Macht besonders dort begegnet, wo utopische Versprechen ausgegeben werden.19 Das Verdikt gegen die Macht ist ein Theologumenon gnostischer Prägung, denn es negiert den Menschen in seiner gegenwärtigen Gestalt. Es zeigt aber auch, daß sich der Mensch vor seinen eigenen Möglichkeiten fürchtet: "Den
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Chrysippos, SVF II 1008 f. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), 1. Abschnitt; AA 4, 393. Die von M. Scheler vertretene These von der "Ohnmacht des Geistes", die gelegentlich auch als eine Rechtfertigung der (dann "irrational" genannten) Macht verstanden worden ist, läuft in der Sache auf eine gänzliche Entwertung der Macht hinaus, obgleich dem Geist zugestanden wird, er könne im Gang der Geschichte "durch den Prozeß der Sublimiening Macht gewinnen" (Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928), 1947, 61). Scheler verschärft trotz zutreffender Betonung gewisser genetischer Zusammenhänge des Geistes mit dem LebensprozeB den Gegensatz zwischen Macht und Geist auf das äußerste. Ursprünglich mächtig sind nur die "ideen-, formen- und gestalti/inden Kraftzentren der anorganischen Welt" (ebd.). Damit kommt der Macht die Rolle des dumpfen Triebes zu. Es ist nur konsequent, wenn Scheler sich entschieden von den Machtlehren Machiavellis, Hobbes' und Nietzsches abgrenzt (ebd., 76). Zur Diskussion über Schelers These vgl. I. Pape, Zur Metaphysik von Macht und Geist, 1966, 316 - 330. Auf J. Burckhardts Diktum von der "an sich bösen Macht" kommt das II. Kapitel ausführlich zu sprechen. - Der Hinweis auf das Wort des Papstes Gregor d. Gr. steht bei C. Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, 1954, 21. - Zum Problem der moralisch guten oder bösen Macht siehe auch: K. Röttgers, Die Rechtfertigung der Macht und das Prinzip der Gewaltenteilung, 1993, 1 - 15. Bei T. W. Adorno begründen utopische Erwartung und gesellschaftliche Machtkritik sich wechselseitig. Besonders deutlich wird dieser Adornos Werk als ganzes bestimmende Zusammenhang in seiner Diskussionsbemerkung auf dem 16. Deutschen Soziologentag 1968 in Frankfurt a. M. (Gesammelte Schriften 8, 1972, 578 - 587). Es genügt nicht zu sagen, daß Adorno irrt; man muß hinzufügen, daß genau das Gegenteil richtig ist. Eine Utopie, die aus der Sehnsucht stammt, den Menschen loszuwerden, ist nicht nur keine Utopie, sondern sie ist Leugnung utopischer Ziele überhaupt. Zum Widerspruch gegen Adorno siehe vom Verf.: Recht und Herrschaft, 1981, 53 f. - Daß sich die Kritische Theorie in ihrer von Habermas entwickelten Variante weit von Adornos Diktum befreit hat, belegt die Arbeit von A. Honneth, Kritik der Macht, 1986. An diesem Wandel hat die Arbeit von S. Lukes (Power, 1974) einen erheblichen Anteil.
6. Soziale Energie
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meisten Menschen", so steht es bei Hobbes gleich zweimal, "erscheint die höchste Staatsgewalt und die absolute Macht so hart, daß sie selbst die Ausdrücke dafür hassen. "20 Es bedarf keiner besonderen Betonung, daß die mit der Bejahung der Macht verbundene Selbstakzeptanz des Menschen keine Bindung an einen wie immer auch beschaffenen status quo bedeutet. In der Anerkennung der Macht liegt, wie Helmuth Plessner gezeigt hat, vor allem die bewußte Wahrnehmung von Möglichkeiten. Der Mensch bejaht sich ungeachtet seiner Unbestimmtheit. Er verzichtet auf eine dogmatische Festlegung seines Seinsbestands und "entdeckt sich für sein Leben, theoretisch und praktisch, als offene Frage". Damit gesteht er sich ein, daß er keine absolute Sicherheit erlangen kann, eröffnet sich aber die Chance zur selbstbestimmten Tat: "Was er sich in diesem Verzicht versagt, wächst ihm als Kraft des Könnens wieder zu. "21
6. Soziale Energie Die Rückführung auf menschliches Handeln könnte das Mißverständnis hervorrufen, in der ursprünglichen Machterfahrung sei der einzelne auf sich selbst gestellt. Dem Mißverständnis ließe sich zwar mit der Betonung des sozialen Charakters allen Handelns entgegentreten, doch die These von der impliziten Sozialität menschlicher Akte steht vor schwierigen Beweisproblemen. Besinnt man sich jedoch auf die relationale Verfassung des Machtbewußl· seins, auf die Eigentümlichkeit, daß eine Macht sich stets erst gegen andere Mächte konturiert, sind die Beweisprobleme möglicherweise weniger groß. Eine einsame Macht ist ein Widerspruch in sich. Was uns bei einem Subjekt zu beweisen immer noch schwerfällt, nämlich daß es a priori auf anderes außer seiner selbst bezogen ist, erscheint bei der Macht durch ihren notwendigen Bezug eines "Inneren" auf ein "Äußeres" - und umgekehrt evident. Die Existenz einer Macht fordert zwangsläufig die Existenz anderer Mächte. Also ist das Machtbewußtsein niemals bei sich allein. Im Extremfall hat es mindestens seinen fiktiven Opponenten, an dem es sich mißt. Ohne vorausgegangene Realopposition ist aber auch die Fiktion nicht erklärbar. Die Macht ist infolgedessen kein bloßes Bewußtseinsphänomen, denn sie steht allererst im Verkehr mit anderen Mächten, die immer auch physische Wirkungsmöglichkeiten einschließen. Diese Verbindung erlaubt die These von der ursprünglich gesellschaftlichen Verfaßtheit der Macht. Wenn sie aus sich selbst heraus ein Gegenüber braucht, dem sie die aus der Selbsterfahrung vertrauten Züge eines handelnden Subjekts zuschreibt, dann ist die Gesellschaft ihr originärer Bewegungsraum. 20
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T. Hobbes, De cive VI, 17, Opera philosophica 2, 1839 (Reprint 1966), 230; entspr. Leviathan II, 18, The collected Works III, 1, 1839 (Reprint 1994), 169 f. H. Plessner, Macht und menschliche Natur (1931), Gesammelte Schriften S, 1981, 135 - 234, 188.
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Macht ist, nach einer treffenden Formulierung Bertrand Russells, "soziale Energie".22 Sie ist gesellschaftlich verfaßt, nicht weil sie empirisch stets nur unter sozialen Bedingungen anzutreffen ist, sondern weil sie gar nicht anders als gesellschaftlich gedacht werden kann. D. h.: Ihr Wirkungsmechanismus schließt bereits ein soziales Verhältnis ein. Daran ist auch ihre Wahrnehmung gebunden. Macht ist von ihrem Begriff her notwendig auf soziale Prozesse bezogen, hat somit a priori einen sozialen Status. Spätestens mit dem Augenblick des Auftritts einer Macht entsteht eine gesellschaftliche Konstellation, in der sie für Spannungen und Abhängigkeit - und in alledem für: Ordnung - sorgt. In jedem Fall schafft sie mit den ersten Anzeichen ihrer Wirksamkeit jenes Macht-Verhältnis, ohne das sie nicht wahrgenommen, ja als Macht selbst gar nicht bestehen könnte. Wo ein festes Machtverhältnis noch nicht besteht, da wirkt der Auftritt einer Macht als unmittelbare Herausforderung an alle Beteiligten, sich unter den neuen Bedingungen selbst auch als Macht zu begreifen. Geht die Herausforderung ins Leere, stellt sich niemand ein, der kämpft, verhandelt oder sich unterwirft, dann verfällt auch die Macht in nichts. "Die Macht", so lesen wir bei Foucault, "ist niemals voll und ganz auf einer Seite."23 Freilich muß sie unter diesen Bedingungen auch wirklich als Macht wahrgenommen werden. Ihr Einfluß muß spürbar sein; ihre Präsenz muß erkennbare Folgen für andere Mächte haben; ihre Versprechungen oder Drohungen müssen Eindruck machen. Andernfalls ist sie soziologisch - und natürlich auch politisch - ohne Bedeutung. Da mag dann zwar irgendetwas Physisches sein, aber die spezifisch gesellschaftliche Formation eines MachtVerhältnisses liegt nicht vor. Die Existenz einer Macht basiert also nicht allein auf den internen Bedingungen der ihr innewohnenden Kraft, sondern sie benötigt die externen Konditionen eines sozialen Verhältnisses, in dem sie auch tatsächlich als Macht wahrgenommen wird. Um eine Macht genannt zu werden, genügt es daher nie, nur auf sie selbst zu blicken. Vielmehr gehört ein spezifisches Umfeld hinzu.24 Eine Macht, für die sich niemand interessiert, ganz gleich womit sie auf sich aufmerksam macht, ist keine Macht. Deshalb legt Thomas Hobbes Wert darauf, eine Macht nur dann als ein "Gut" anzuerkennen, wenn sie "bedeutend" ist, d. h. wenn sie anderen Mächten Eindruck macht. Und das tut sie in seinen 22
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B. Russell (Macht (1938), 1973) bemüht sich um den Beweis, "daß der Fundamentalbegriff in den Gesellschaftswissenschaften Macht heißt im gleichen Sinne, in dem die Energie den Fundamentalbegriff in der Physik darstellt". Dabei bleibt Russell allerdings nicht konsequent, sofern er neben der "Macht Uber Menschen" auch noch die "Macht über tote Materie" als genuine Machtform gelten läßt (ebd., 29). Zur Auseinandersetzung mit B. Russell vgl. D. Emmet, The Concept of Power, 1953/54, 1 - 26, 2 ff. M. Foucault, Die Macht und die Norm, in: Mikrophysik der Macht, 1976, 114 - 123, 115. - Zur Kritik der Foucaultschen Machtanalyse siehe: A. Leist, Individuelles Handeln und Macht, 1991, 170 - 183. "[...] die Macht ist nicht eine Institution, ist nicht eine Struktur, ist nicht eine Mächtigkeit einiger Mächtiger. Die Macht ist der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt." (M. Foucault, La volonté de savoir, 1976; dt.: Der Wille zum Wissen, 1977, 114) Auf die Komplexion einer jeden Machtkonstellation aufmerksam zu machen, kann man wohl als das generelle Ziel der Machtanalysen von M. Foucault ansehen. Dies herauszustellen ist ein Verdienst der Arbeit von W. Schmid, Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst, 1991. Siehe dazu auch: A. Honneth, Kritik der Macht, 1986, 196 ff.
6. Soziale Energie
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Augen nur, wenn sie anderen Mächten überlegen ist. Nur so ist sie auch in der Lage, anderen Schutz zu gewähren.25 Eine Macht überdauert daher auch nur in Machtverhältnissen, die nach Art einer sozialen Rollenbeziehung interpretiert werden können. Die Übersetzung von "Vermögen" in "Macht" gelingt immer dann, wenn man die Verfügungs- bzw. Leistungskonstellation nach Analogie einer Interaktion ausdrücken kann: Dem Träger des Vermögens und dem Träger des Widerstandes muß man jeweils eine Rolle zuschreiben können, wie sie ζ. B. zwischen einer befehlenden und einer gehorchenden Person besteht, wenn überhaupt ein Machtverhältnis vorliegen soll. Macht ist beispielsweise ein Stehvermögen nur dann, wenn der Wille befiehlt und die Beine gehorchen. Deutlicher noch wird dies im Hinblick auf reale gesellschaftliche Situationen. Der gänzlich vereinzelte Mensch ließe sich nur "stark" und "kräftig" denken, "mächtig" aber nicht, denn es fehlt ihm die Begegnung mit der Macht eines anderen. Der Wille, der auf Macht zielt und der in jeder Macht wirkt, sucht sich als Gegenüber den Willen anderer. Er setzt darauf, ihn als Willen zu überwinden.26 Die Funktion von Machthandlungen erschließt sich damit nur den tatsächlichen oder virtuellen Trägern von Macht. Deren Adressaten sind niemals gänzlich machtlos, so schwach ihre Position situativ auch sein mag, denn der Appell fordert sie auf, Ruhe zu bewahren, mitzumachen oder zu verschwinden. Sie interessieren damit als reale oder mögliche Agenten in einer Auseinandersetzung, und nur als virtuelle Träger von Handlungen verstehen sie die Zeichen der Macht. Ihre Bedeutung erhält sie also erst in einem ausdrücklich wahrgenommenen sozialen Zusammenhang.27 Manches spricht dafür, in der Machtbeziehung eine kategoriale Besonderheit soziologischer Sachverhalte zu sehen. Die Macht ist vielleicht das gesellschaftliche Potential katexochen, also jene Kraft, die hinter allen statischen und dynamischen Gegebenheiten der Gesellschaft wirkt. Damit ist nur noch einmal auf andere Weise betont, daß die Macht nicht allein auf physischen Bedingungen beruht. Zwar benötigt sie wie alles, das in irgendeiner Weise wirksam ist, ein stoffliches Substrat. Doch im Gebrauch der Macht wird dieses Substrat zum bloßen Mittel, genauer: zu einem Ausdrucksmittel. Die geballte Faust, ob sie nun lediglich erhoben wird oder zuschlägt, "zeigt" die Macht, die in ihr liegt. Selbst der brutale Einsatz physischer Kräfte ist nie die Macht selbst, sondern er demonstriert sie nur.
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T. Hobbes, De homine XI, 6, Opera philosophica 2, 1839 (Reprint 1966), 98. An der Unverzichtbarkeit der volitiven Dimension der Macht läßt die gründliche Darstellung von D. H. Wrong (Power, 1979, 3 ff.) keinen Zweifel. "[...] die eigentümliche Gegenseitigkeit der Macht, ihren ursprünglichen Antagonismus nach innen wie nach außen und damit insbesondere ihren Sozialcharakter" beschreibt H. Zeltner, Sozialphilosphie, 1979, 106. Zur konstitutiven Funktion der Gegenseitigkeit siehe das erste der drei bekannten Beispiele von H. Popitz, Prozesse der Machtbildung, 1968, 14 ff.
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I. Der Mensch als Macht
Um diese Eigenart der Macht hervorzuheben, hat man sie auch als eine "Interferenz von Denken und Materie" bezeichnet.28 Das gibt dann einen guten Sinn, wenn man die dabei hervortretenden Erscheinungen als ein soziales Geschehen ansieht. Denn das Wesen der Macht liegt in Handlungserwartungen, die, reale Bewegungsvollzüge vorausgesetzt, das soziale Feld erst konstituieren. Die Wirksamkeit einer physischen Kraft gibt allenfalls den Anlaß für den Schluß auf eine dahinterstehende Macht; erst ein antizipierter Effekt, der die Sphäre einer anderen Macht berührt, verweist auf ihre Anwesenheit "in" oder "hinter" der Kraft. Im Einzelfall braucht noch nicht einmal eine tatsächlich wirksame Kraft gegeben zu sein, denn das Kriterium liegt in der Erwartung möglicher Wirkungen. Nicht selten reicht ein bloßer Verdacht für die Annahme einer Macht. Die bloß geglaubte Macht kann äußerst wirksam sein. Der Grundvorgang ist ein Abwägen und Abschätzen. Mögliche Wirkungen werden wechselseitig geschätzt und bewertet. Die Größe eines Machtfaktors richtet sich nach dem mutmaßlichen Vorteil oder Schaden, den er aus der Sicht betroffener Mächte bringen kann. Aber nicht nur die relative Größe einer Macht ist eine Frage der Bewertung, sondern ob etwas überhaupt als Macht anerkannt wird, ist abhängig von zugrundeliegenden Werten. Also entstehen Machtverhältnisse nur im Medium wechselseitiger Einschätzung, in der die Berechnung von Folgen und deren Bewertung kaum zu trennen sind. Macht und Wert gehören daher auf das engste zusammen, denn nur sofern überhaupt etwas als wertvoll angesehen werden kann, werden Mächte interessant, die es gewähren, schützen oder bedrohen. Wenn eine Macht auftritt, drückt sie für alle, die sie als solche erkennen, mögliche Wirksamkeit aus. Sie ist nicht schon die Wirkung, sondern bedeutet sie nur. Wird sie so verstanden, wie es in ihrem Interesse liegt, kann sie sich möglicherweise den Einsatz der physischen Kräfte sparen und sich ganz auf das Zeigen der Möglichkeit beschränken.29 Der eigentliche Sinn der Macht als Macht liegt in diesem Zeigen ihres Vermögens, genauer: das Vermögen liegt in nichts anderem als in der Fähigkeit, die erwartete Leistung anzuzeigen. "Im Ruf von Macht stehen ist Macht", so heißt es im 10. Kapitel des Leviathan,™ und die friedliche Ausübung der Macht durch den Souverän geschieht, indem er "ein Zeichen seines Willens" setzt.31 Im Verkehr der Mächte untereinander sind sie alle sich wechselseitig bedeutungsvolle Zeichen möglicher Wirkungen, denen auf Dauer freilich nur geglaubt wird, wenn etwas 28 29
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G. Picht, Ist eine philosophische Erkenntnis der Gegenwart möglich?, 1981, 229 - 390, 304. Vgl. dazu: B. Külp, Theorie der Drohung, 1965, 30 ff. Um den Erwartungscharakter der Machtwahrnehmung zu betonen, spricht Külp von einer "konjekturalen Streitmacht": "es genügt, daß der Bedrohte an die Existenz einer solchen Streitmacht glaubt. Es kommt also in Wirklichkeit gar nicht so sehr auf die tatsächliche Stärke eines Partners an, sondern darauf, wie stark ihn der Feind vermutet. In Analogie zur Wirtschaftstheorie können wir hier von einer konjekturalen Streitmacht sprechen, konjektural heißt: vom Gegner unterstellt." (ebd., 48) "Reputation of power, is power" (T. Hobbes, Leviathan I, 10, The collected Works III, 1, 1839 (Reprint 1994), 74). "[...] a sign of his will" (ebd., 78).
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"dahinter steckt", wenn also ihre Drohungen oder Versprechungen nicht leer sind. Die Zeichenfunktion der Macht beschränkt sich nicht darauf, daß sie über einen Bestand von Mitteilungsmitteln verfügt, die sie einsetzen kann, um ihre Stärke anzuzeigen, sondern daß sie selbst ein Vorzeichen möglicher Wirkungen darstellt. Da sie als Vorzeichen in Beziehung auf die durch die anderen Mächte dargestellten Vorzeichen aber aktuell schon wirkt, ja in dieser aktuellen Wirksamkeit "vor" der angekündigten möglichen Wirkung ihre eigentliche Bedeutung hat, ist sie letztlich nicht mehr als dieses Zeichen. Daher kann die Soziologie von ihr als einem "Kommunikationsmedium" sprechen. Ihre wesentliche Funktion liegt in der Verständigung. Ihre instrumentelle Leistung entfaltet sie als "Mitteilungs-Mittel": "Macht 'ist' eine codegesteuerte Kommunikation."32 Das schließt freilich ihre Verbindung mit physischen Kräften nicht aus, sondern es fordert sie geradezu als eine Art Träger der Bedeutung, eben als: Zeichen. Die physischen Kräfte sind keineswegs erst die ultima ratio, auf die nur dann zurückgegriffen werden muß, wenn die symbolischen Verweisungen, wenn Drohung oder Appell, Überredung oder Suggestion, nicht zu vergessen das vernünftige Argument, folgenlos bleiben. Denn die Macht schließt immer den Einsatz physischer Mittel ein. Sie sind die Elemente der Darstellung und der Vergewisserung der Macht. Daher steht auch die Gewalt im Hintergrund aller Regelungen auf Gegenseitigkeit.33 In der Gewaltanwendung sollen Zwangsmittel direkt erreichen, was über die Vermittlung des Willens in der Macht ("freiwillig") nicht durchsetzbar ist. Auch psychische Mittel, die auf die Erzeugung von Furcht berechnet sind, können bekanntlich diese Fünktion erfüllen. Das Leib-Seele-Problem wiederholt sich hier auf einer anderen Ebene: Die Gewalt ist das stoffliche Substrat eben jener geistigen Bedeutung, als welche uns die Macht erscheint. Die Frage, wie dieser Zusammenhang begrifflich exakt zu fassen ist, bereitet letztlich eben die Probleme, die sich in der Beziehung zwischen Körper und Geist seit langem stellen. Von nicht geringer Reichweite ist die Frage nach dem, was an der so beschriebenen Macht eigentlich "wirklich" ist. Sie ist nicht die in der Erfahrung gegebene Wirklichkeit einer Wirkung, ζ. B. einer Bewegung, sondern nur die Möglichkeit zu dieser Bewegung. Die Möglichkeit ist aber keine Tatsache der Erfahrung, folglich ist sie auch nicht in dem Sinne wirklich, wie wir es von Erfahrungstatsachen fordern. Gleichwohl ist sie kein reines Phantasieprodukt, auch keine bloß logische Possibilität, sondern, wie man sagt, reale Möglichkeit. 32
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N. Luhmann, Macht, 1975, 15. - "Mitteilungs-Mittel" ist ein Ausdruck Nietzsches, von dem noch die Rede sein wird. - A. Honneth hat überzeugend gezeigt, wie sich unter dem Eindruck der Kommunikationsthese selbst in der noch auf "Herrschaftsfreiheit" insistierenden Kritischen Theorie die ursprüngliche Ablehnung der Macht differenziert (Kritik der Macht, 1986, 307 ff.). Leider hat er in diesem Zusammenhang versäumt, dem Einfluß von N. Luhmann und H. Arendt nachzugehen, die sich in ihrer Gleichsetzung von Macht und Kommunikation sehr nahe sind. Beide haben nachweislich auf Habermas gewirkt. Dazu - in Auseinandersetzung mit J. Derrida und W. Benjamin - sehr klar: L. Siep, Recht und Gewalt, 1993, 599 - 615, 601 ff.
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Als solche aber ist sie nicht wirklich. Das heute viel beschworene "noch nicht" ändert daran nichts. Wittgensteins ironischer Vorschlag, die Möglichkeit als "etwas der Wirklichkeit sehr Nahes" aufzufassen, 34 zeigt das ganze Dilemma einer theoretischen Abgrenzung, die sich allein auf einen objektiven Wirklichkeitsbegriff zu stützen versucht. Demgegenüber bietet die Macht den Vorteil, daß man zu ihrer Bestimmung die mentalen oder intentionalen Prämissen, auf welche die Bestimmung der realen Möglichkeiten - heute nicht anders als bei Aristoteles - angewiesen ist, nicht erst einführen muß, weil sie im Begriff der Macht bereits enthalten sind.35 Die Macht mag jedoch noch so viele Möglichkeiten einschließen: Sie interessieren alle nur im Hinblick auf ihre Wirksamkeiten und damit in ihrer Wirklichkeit. Die Frage nach der Macht läßt keinen Zweifel daran, daß es um die Präsenz einer Macht, um die Aktualität von Potenzen und nicht um für sich seiende Möglichkeiten geht. Nelson Goodmans These: "All possible worlds lie within the actual one",36 ist bei der Betrachtung der Macht als Vermögen (disposition) gar nicht zu umgehen.37 Auch diese unaufhebbare Bindung an den Augenblick, mit implizitem Bezug auf mögliche Folgen, teilt die Macht mit dem Handlungsakt. Mit ihm hat sie auch ihre konstitutive "Ambivalenz" gemein.38 Von einem ganz anderen Ausgangspunkt stoßen wir somit erneut auf den geistigen Kern der Macht. Ob man ihre ursprüngliche Ausrichtung, ihre Mitteilungsfunktion, ihre Beziehung zu den physischen Kräften oder ihren modalen Status zu klären versucht, immer wieder kommt das Handlungsfundament zum Vorschein und damit ihre Bindung an die spezifischen Voraussetzungen menschlicher Welterfahrung. In allem zeigt sich die Macht als eine Extroversion des menschlichen Handlungsbewußtseins, und so sind Mächte nichts anderes als die für Handlungen selbst notwendigen Objektivationen möglicher Handlungen. Um überhaupt handeln zu können, muß ich mir Macht zusprechen, die selbst aber nichts anderes als der realistische Entwurf der möglichen Handlung ist. Sie ist die Wirklichkeit, ohne die nichts möglich ist und die doch nur aus einer Möglichkeit stammt. Auf den Menschen bezogen, läßt sich dieser Zirkel besser verstehen: Nur der macht etwas aus sich, der an sich glaubt. Der durch alltägliche Erfahrungen eröffnete und durch einige theoretische Einsichten erweiterte Zugang hat damit auf den Menschen als Zentrum einer jeden Machtentfaltung geführt. Alle Machterfahrung ist in einem spezifischen Sinn anthropomorph. Sie setzt nicht in einer vagen, letztlich für alles geltenden Weise beim Menschen an, sondern läßt bis in Einzelheiten Strukturelemente des Handlungsbewußtseins erkennen. Auch noch das zum bloßen Objekt gemachte soziologische Phänomen der Macht ist ohne Rückgriff auf das prakti34 35 36 37 38
L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Nr. 194, Schriften 1, 1963, 379. A. Kenny, Will, Freedom and Power, 1975, 122 ff. N. Goodman, Fact, Fiction and Forecast, 1973, 57. Dazu: P. Morriss, Power, 1987, 14 ff. K. D. Bracher, Betrachtungen zum Problem der Macht, 1991, 14.
6. Soziale Energie
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sehe Selbstverständnis des Menschen nicht explizierbar. Die Physiognomie der Macht hat menschliche Züge. Und deshalb zeigen sie sich auch nur in Gesellschaft. Der Zusammenhang ist nicht zuletzt deshalb so eng, weil das Handlungsbewußtsein ohne Bezug auf Macht gar nicht zu sich selber fmdet. Was "Wille", "Freiheit" oder "Verantwortung" bedeuten, ließe sich selbst für das auf diese Begriffe Anspruch erhebende Subjekt nicht fassen, wenn es nicht auch die Macht hätte, irgendetwas seinen Vorstellungen Gemäßes zu verwirklichen. Sowenig sich ohne Bezug auf ein Handlungsbewußtsein verstehen läßt, was ζ. B. "reale Möglichkeit", "Verwirklichungschance" oder eben "Macht" bedeuten, so leer bleibt der Begriff des Handelns, wenn die Macht fehlt. Es ist auch nicht so, daß erst das Handlungsbewußtsein seinen Horizont absteckte, um "dann", eventuell "nach" einer getroffenen Entscheidung, zur Tat zu schreiten, und dabei erst die Macht benötigte. Handlungsbewußtsein entsteht mit dem Bewußtsein einer gegebenen Macht, dieses zu tun und jenes zu lassen. Handlungsbewußtsein ist dieses Machtbewußtsein. Auch der Wille kann nicht als eine impulsgebende Instanz "vor" oder "über" der Macht verstanden werden, er ist nicht in irgendeiner separierbaren Weise "in" ihr, sondern Wollen ist bereits Machtausübung, wenn anders wir beiden Begriffen ihren Sinn nicht rauben wollen. Entsprechendes gilt von der Verantwortung, die schon deshalb als "Korrelat der Macht" gelten kann,39 weil sie ein Ausdruck der Freiheit ist, die selbst nur in Korrespondenz mit der Macht begriffen werden kann. Schon Aristoteles hat die Willenswahl als ein überlegtes Begehren von etwas angesehen, "das in unserer Macht steht".40 Von dieser fundierenden Beziehung können auch die neuzeitlichen Freiheitslehren nicht absehen, auch wenn sie den Willen nicht mehr als "überlegtes Begehren" und nicht als substantielles "Vermögen" begreifen:41 "Wo das handelnde Wesen", so steht es bei Locke, "nicht die Macht (power) hat, das eine von beiden seiner Willensäußerungen gemäß zu bewirken, da fehlt ihm die Freiheit" ,42 Dieser auch bei Hobbes grundlegenden Ansicht haben weder Leibniz noch Kant widersprochen. Die Gleichung zwischen Freiheit und Macht - "the idea of liberty is the idea of a power" - liegt dem praktischen Selbstverständnis zugrunde und liefert, nebenbei gesagt, das unabweisbare Indiz für den philosophischen Rang der Frage nach der Macht. Wenn die Macht zu den unverzichtbaren Elementen unserer Selbsterfahrung gehört, kann es nicht wundem, daß sie auch in ihren dem Menschen anscheinend ganz entfremdeten Gestalten ihre Herkunft nicht verleugnet. Die zahllosen Übertragungen des Machtbegriffs auf Phänomene, die nicht als Äußerungen eines menschlichen Handlungsbewußtseins verstanden 39 40 41
42
H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 1979, 230. NE 1113 a 18/19. Zur Kritik an Aristoteles vgl. T. Hobbes, Leviathan I, 6 u. IV, 46 (The collected Works III, 1, 1839 (Reprint 1994), 38 - 51 u. ebd., III, 2, 664 - 688) u. De homine XI (Opera philosophica 2, 1839 (Reprint 1966), 94 103). J. Locke, An Essay on Human Understanding XXI, § 8, Works 1, 1823 (Reprint 1963), 240 f.
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I. Der Mensch als Macht
werden können, ließen sich vor diesem Hintergrund gewiß als illegitime Ausweitungen kritisieren. Von Mächten auch dort zu sprechen, wo sie nicht von Menschen eingesetzt werden und - nach allem, was wir wissen - gar keine Absichten verfolgen, könnte als animistischer Rest in der alltäglichen Verständigung beiseite geschoben werden. Man kann aber, dieser Einsicht nur eine andere Pointe gebend, in der Übertragung des Begriffs auf alle nur möglichen Wirksamkeiten selbst schon einen Akt humaner Weltaneignung sehen, einen Akt, in dem der Mensch seinen Handlungsraum absteckt und ordnet. Denn überall dort, wo Mächte auftreten, muß im Ernstfall gehandelt werden. Die Reichweite denkbarer Verantwortung würde auch insofern durch Mächte eingegrenzt. In diesem Sinn ist letztlich auch Nietzsches Übertragung des Willens zur Macht auf alle Tatsachen des Werdens zu verstehen.
7. Macht und Emanzipation Gesetzt, Mensch und Macht stehen wirklich in der geschilderten Korrespondenz, dann muß der Machtbegriff auch die Wandlungen im Selbstverständnis des Menschen erkennen lassen. Die "Emanzipation der Macht" im Entwicklungsgang des neuzeitlichen Staatsdenkens wäre dann nur das Spiegelbild der Emanzipation des Menschen. In der Tat zeigt die Verselbständigung des Machtphänomens die nämlichen Züge wie die Lösung des Menschen aus den Bindungen der Tradition. Die Eindämmung religiös motivierter Ansprüche bei der Ausbildung des modernen europäischen Staates und die unerhörten Chancen der Naturbeherrschung in der Folge wissenschaftlicher Erkenntnis werden von Helmuth Plessner als die treibenden Faktoren hinter der Emanzipation der Macht genannt.43 Dieselben Faktoren zeigen sich, wenn man nach historischen Ursachen für den Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit sucht. Auch zeitlich verlaufen die beiden Vorgänge parallel. Ihr Ursprung wird im individuellen Selbstbehauptungsanspruch des Renaissancedenkens vermutet, und alle folgenden Schritte zur politisch-rechtlichen Autonomie des bürgerlichen Subjekts haben ihre Entsprechung in der sukzessiven Verselbständigung politischer Machtorganisation. Selbst die Kronzeugen der Machtemanzipation - Machiavelli, Hobbes und Darwin44 - sind, insbesondere wenn man, mit guten Gründen, Rousseau noch hinzusetzt,43 für die Emanzipationsgeschichte des Menschen nicht ohne Bedeutung.
43 44 45
H. Plessner, Die Emanzipation der Macht (1962), Gesammelte Schriften 5. 1981, 259 - 282. Vgl. ebd., 267 ff. Rousseau gehört dann in diese Linie, wenn man die Verabsolutierung des allgemeinen Willens als Entfesselung der Macht deutet, wie dies z. B. in der Tradition der Kritik Hegels an der Aufklärung immer wieder geschieht. - So aber auch in J. Burckhardt Aufzeichnungen zum Revolutionszeitalter (Gesamtausgabe 7, 1929, 420 - 466, 434 f.).
7. Macht und Emanzipation
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Doch trotz dieser offenkundigen Gemeinsamkeiten werden die beiden Vorgänge oft und gern mit entgegengesetzten Vorzeichen versehen. Die Emanzipation des Menschen gilt ohne Einschränkung als gut. Bedenken sind nur zu hören, wenn im Interesse der bisher erreichten Fortschritte vor zu großer Selbstbelastung des Menschen, insbesondere durch die Folgen von Wissenschaft und Technik, gewarnt wird. Die Emanzipation der Macht erscheint dagegen wie der unwiderruflich letzte Akt im Drama vom Untergang des Menschen. Im "Für-SichWerden" und in der "Anonymisierung" der Macht als "factum bratum", im "Amoralismus der nackten Macht"46 werden die Hoffnungen des Menschen, kaum entstanden, schnell zuschanden. Der Macht wird die Rolle des historisch mitlaufenden Mephistopheles zugeschoben, der alle Errungenschaften des Menschen durch Übersteigerung wieder zunichte macht. So schlägt die Freiheit des Menschen um in die "Dämonie der Macht" ,47 Das oft zitierte moralische Verdikt über die Macht - "Power tends to corrupt. Absolute power tends to corrupt absolutely" - wurde nicht zufällig von einem liberalen Politiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts gesprochen.48 Die Dämonisierung der Macht in der Epochendiagnose der Moderne beruht auf der Annahme, daß sich das genuin menschliche Mittel der Macht von seinem Urheber löst und gegen ihn selber kehrt und zur "absoluten Macht" wird. Das universelle Instrument soll sich nach eigenem Gesetz bewegen und dem Menschen als fremde Instanz gegenübertreten. Die Macht, welcher der Mensch überhaupt unterliegt, ist demzufolge nicht mehr die Macht des Menschen, sondern angeblich ist es die Macht als solche, die nichts anderes neben sich duldet. Die Situation des Zauberlehrlings wiederholt sich nach dieser Deutung nunmehr im welthistorischen Maßstab und damit - nach dem linearen Verständnis von Geschichte - auch zum allerletzten Mal. Die Frage ist freilich, welches Subjekt hinter der Macht als Gegenspieler des Menschen fungieren könnte. Magische Kräfte, wie im Beispiel des Zauberlehrlings, scheiden aus. Obgleich nicht zu bestreiten ist, daß die großen politischen und technischen Machtkomplexe der Moderne eine spezifische Dynamik entwickeln, und obgleich auch keineswegs sicher ist, ob dem Menschen der Einsatz seiner Machtmittel im Rahmen seiner Zwecke gelingt, so ist doch daran zu erinnern, daß die Dämonie der Macht historisch keineswegs so neuartig ist, wie ihre Ankläger behaupten. Denn erstens ist die Machterfahrung seit jeher mit dem Bewußtsein der Existenzgefährdung verbunden. Jede Macht erlebt sich a priori in Opposition zu einer anderen Macht und geht demnach zumindest mit der Antizipation möglicher Unterlegenheit und Vernichtung einher. Folglich ist nicht erst in der Neuzeit, sondern schon in der Antike 46 47
48
H. Plessner, Die Emanzipation der Macht (1962), Gesammelte Schriften 5, 1981, 259 - 282, 279 ff. G. Ritter, Die Dämonie der Macht, 1947, 167 u. 243 ff. Die Wendung vom "Gorgonenhaupt, das menschliche Gesichter zu Masken und Fratzen erstarren läßt", findet sich auf S. 213. Lord John Emeric Acton, Brief an Mandell Creighton vom 5. 4. 1887 (zit. nach K. D. Bracher, Betrachtungen zum Problem der Macht, 1991, 13).
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I. Der Mensch als Macht
die sogenannte "Dämonie der Macht" nachweisbar. Denn bereits hier wird ζ. B. alle Weisheit der Göttin Athene aufgeboten, um den Dämon der Macht zu bändigen. Wodurch? Durch das überlieferte Wissen und - durch Gegenmacht. Nur eingrenzende Gegenmächte helfen gegen den Dämon der Macht. Nur im Widerspiel von Mächten läßt eine Macht sich bändigen und in Ordnung überführen: "Kein Dasein ohne Herrn und keines, wo der Zwang befiehlt, zu wünschen und zu pflegen ist mein Rat; Auch ganz den Schrecken nicht zu bannen aus der Stadt. Denn welcher Mensch, der nichts zu fürchten hat, tut recht?"49 Zweitens zeigt sich in der Geschichte des Machtdenkens schon früh eine Tendenz zur Verselbständigung des Phänomens: In der Substantialisierung der Machterfahrung geht der Mensch schon immer ein Stück über seine eigenen Möglichkeiten hinaus. Er vergrößert sich bereits im Bewußtsein möglicher Wirkungen. Er legt sein Vermögen in die Dinge und Verhältnisse hinein, so daß sie ihm als erweitertes und gesteigertes Ego erscheinen können. Die Macht verschafft ihm einen gesellschaftlichen Leib mit Wirkungsmöglichkeiten, die über die physische Kraft des einzelnen hinausgehen. Bei guter Organisation und entsprechender Größe bringt sie ihn nahe an Omnipräsenz und Omnipotenz, die er in Wahrheit natürlich nie erreicht. Aber die Verfügung über eine große Macht kann dies nur zu leicht vergessen lassen. So wird aus dem guten Dämon, der möglich macht, was man alleine nicht vermag, ein böser Dämon, der zur Überschätzung der eigenen Kräfte führt. Zwar ist es allein der Mensch, der Macht über sich und seinesgleichen ausübt; doch in der Macht kann er sich so weit von sich entfernen, daß er sich selbst darin nicht mehr erkennt. Insofern liegt bereits in der ersten Verwendung des Begriffs über den unmittelbaren Handlungsbereich hinaus ein Stück Dämonie. Träfe die These von der Dämonie der Macht tatsächlich zu, dann geriete der Mensch allein schon durch die erste Übertragung des Begriffs auf Dinge und Verhältnisse ins geschichtliche Abseits. Denn als Potenzen sind die Dinge und Verhältnisse tendenziell immer schon über ihn hinaus. Indem sich der Mensch die Dinge ähnlich macht, gerät er in die Gefahr der Abhängigkeit, weil die Macht der Verhältnisse als selbstgeschaffene Gegeninstanz nur fungieren kann, wenn sie prinzipiell auch zu siegen vermag. Doch es wäre ein eklatantes MißVerständnis, wollte man aus dieser vom Menschen induzierten Selbständigkeit der Sachen als realer Möglichkeiten die sichere Niederlage des Menschen ableiten. Das Gegenteil dürfte richtig sein: Die Übertragung von Macht auf ein an sich 49
Aischylos, Die Eumeniden 696 - 699. Vgl. dazu: J. Vogt, Dämonie der Macht und Weisheit der Antike (1950), 1968, 282 - 308, 290. Siehe dazu auch die Antwort von G. Ritter, Dämonie der Macht und Weisheit der Antike (1950), 1968, 309 - 316.
7. Macht und Emanzipation
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gar nicht mächtiges Gegenüber ist das Mittel zur möglichen Angleichung der Verhältnisse an den Menschen und damit die Voraussetzung aller Verfügung über anderes. Nur durch die von ihm induzierte Machtübertragung hat der Mensch die Chance, sich anderes Untertan zu machen. Daß er sich dabei selbst herausfordert, vielleicht auch gelegentlich überfordert, gehört zu den Prämissen der Auslegung der Welt am Leitfaden der Macht. Wenn man also die Entwicklung des Machtdenkens mit der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Selbstverständnisses korreliert, dann wird man die Zeiträume größer fassen müssen. Noch ist die Grenze der menschlichen Machtausübung nicht erreicht, und nichts spricht bislang dafür, daß sie sich notwendig selbst eine Grenze setzt. Wenn sie an ein schnelles historisches Ende kommen sollte, dann wohl eher, weil sie nicht wirklich im Interesse des Menschen ausgeübt wird, weil er sich nicht mit der ihm zugewachsenen Macht in Schranken hält. Und was den Menschen an dieser machtvollen Selbstbegrenzung hindern könnte, ist weniger die innere Logik der Macht, als die Selbstvergessenheit, mit der er über seine eigenen Möglichkeiten urteilt. Diese Selbstvergessenheit findet sich heute kurioserweise eher bei den Kritikern großer Mächte als bei den Machthabern selbst. Denn die Anmaßung der Macht ist dort am größten, wo man sich und anderen suggeriert, man könne einfach von den historisch entwickelten politischen und technischen Mächten ablassen, um den Menschen zu retten. Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Wenn man schon Parallelen zwischen der modernen Emanzipationsbewegung des Menschen und der Machtentwicklung herstellt, sollte man dabei konsequent bleiben und nicht unter der Hand aus dem einen die Gegenbewegung des anderen machen. Die Emanzipation des Menschen ist ohne Emanzipation der Macht nicht denkbar, und umgekehrt ist die Emanzipation der Macht nur als Ausdruck der Emanzipation des Menschen verständlich. In der Perhorreszierung großer Machtorganisationen wird verkannt, daß es schwer verzichtbare Bedürfnisse und hilfreiche technische Mittel gibt, denen sie entsprechen. Gravierender aber ist die schon in der Anklage gegen die Übermacht der Macht offenkundige Selbstverkleinerung des Menschen. Vergessen wird, daß nach allem, was wir wissen, nur der Mensch über Macht verfügt. Vergessen wird ferner, daß der Mensch die Macht in jedem Fall benötigt nicht nur als gefügiges Mittel, sondern auch als herausfordernden Widerstand. Daß darin auch eine in ihm selbst wirksame Bindung des Menschen an die Natur namhaft gemacht werden kann, wird heute nur zu gern übersehen. Und vergessen wird in der Regel auch, daß keine Macht wirksam werden kann, ohne den in sie gesetzten Willen. Mit diesem Hinweis auf die Funktion des Willens in der Macht ist nun endlich der Blick auf Nietzsche gerichtet. Von ihm sollte im ersten Zugang zum Verständnis der Macht nicht die Rede sein, um unabhängig von seinem Denken einen Begriff vom Wesen der Macht zu gewinnen. Jetzt läßt sich hoffentlich leichter dartun, daß sein Machtverständnis keine Ausnahme bildet - genauer: wie sehr sein selbstverständlicher Umgang mit dem Begriff der Macht deren Eigenart erfaßt.
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I. Der Mensch als Macht
Die Macht ist eines der wenigen ständig präsenten Phänomene, zu denen Nietzsche nicht auf Distanz geht. Er analysiert sie nicht und definiert sie nirgendwo. Daß er aber in der Art, in der er sie zum Fundament seines Weltentwurfs macht, ihr Wesen trifft und zugleich seine philosophische Konzeption schärfer ausprägt, als ihm bewußt ist, das dürfte dem Leser seiner Schriften schon bei diesem Zugang deutlich geworden sein. Denn die wesentlichen Merkmale der Welt als Wille zur Macht: Gegensätzlichkeit im Werden, Etwas-Wollen, Streben nach Überlegenheit, Relativität, Wert- und Rangorientierung und ihr immer wieder betonter Zeichencharakter haben sich bereits als Merkmale der bloßen Macht zu erkennen gegeben. Bei Nietzsche ist die hier gewonnene Einsicht in einen knappen Satz gefaßt: "Nicht die Nothdurft, nicht die Begierde, - nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen." (M 262; 3, 209)50 Ehe aber Nietzsche selbst zur Sprache kommen kann, muß anschaulich werden, daß auch schon lange vor ihm der Begriff der Macht eine beachtenswerte philosophische Rolle spielt. Der wandlungsfahige Machtbegriff hat sogar eine außerordentlich große philosophische Tradition. Er ist nicht nur von Piaton bis Hobbes und Hegel ein Grundbegriff der politischen Philosophie, hat nicht erst in der handlungsorientierten praktischen Philosophie der Neuzeit außerordentliches Gewicht, sondern er ist ein Kardinalbegriff in der metaphysischen Bestimmung der Wirklichkeit und ihrer Beziehung zum Menschen. Nietzsche hat von dieser Überlieferung nur am Rande Notiz genommen. Deshalb erübrigt es sich auch, nach direkten Einflüssen zu forschen. Gleichwohl ergeben sich durch seine Vertrautheit mit der Antike, seine Beziehung zur christlichen Überlieferung sowie durch sachliche Verbindungen zu Spinoza und Leibniz und durch sein stets verhohlenes Interesse an den Neuerscheinungen seiner Zeit einige Anhaltspunkte. Sie bestimmen die folgenden Schlaglichter auf die philosophische Funktion des Machtbegriffs. Es versteht sich von selbst, daß die sich anschließenden Bemerkungen über Thukydides, Machiavelli, Burckhardt und Emerson ebenfalls mit Blick auf Nietzsche gemacht werden. In diesem Blick liegt eine ganz natürliche Beschränkung. Es geht tatsächlich nur um einen bewußteren Zugang zu Nietzsche. Deshalb sind die beiden folgenden Kapitel nicht auf historische oder systematische Vollständigkeit angelegt. Sie sollen nur den metaphysischen und politischen Rahmen exponieren, aus dem sich Nietzsche mitnichten befreit, auch wenn er gern den Eindruck erweckt, als löse er sich von allem, was zwischen Piaton und Hegel als Metaphysik und Politik hat gelten können.
50
Die Schriften Nietzsches werden mit Bezug auf die von ihm selbst vorgenommene Einteilung seiner Werke zitiert. Siehe dazu das Verzeichnis der Sigel. Nach dem Hinweis auf den Text Nietzsches erfolgt jeweils nach dem Semikolon die entsprechende Band- und Seitenzahl der Kritischen Studienausgabe (KSA).
II. Macht und Metaphysik Begriffsgeschichtliche Aspekte im Blick auf Nietzsche
1. Die Wirklichkeit der Macht bei Piaton und Aristoteles In der Geschichte des Machtgedankens erscheint das humane Antlitz der Macht nicht selten bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Gemeint sind nicht die vielfältigen Formen politisch-sozialer Gewalt. Denn in ihnen tritt der Mensch nur zu deutlich hervor, wenn auch nicht in seiner idealen Gestalt. Zu nennen sind vielmehr die ontologischen Verselbständigungen der Macht als dynamis, potentia oder auch als reale Möglichkeit. In dieser Form wird sie ausdrücklich zum ersten Mal bei Piaton entwickelt. Bei Piaton dient δύναμις zunächst nur dazu, die vom Menschen bewirkte Wirklichkeit zu beschreiben. In dieser allgemeinen Fassung überschreitet der Begriff jedoch den Bezug zum Menschen und tritt für alles ein, das in irgendeiner Form als "bewirkt" und damit als auf etwas anderem beruhend gedacht werden muß. Alles Seiende ist auf diese Weise hervorgebracht, ja, alles bringt so ein anderes hervor. Nachdem aber alles Seiende durch das Vermögen, irgendetwas zu bewirken, bestimmt ist, kann die weitgreifende Feststellung getroffen werden, das Seiende überhaupt sei "nichts als Vermögen" (δύναμις). Alles, was ist, wird also durch die Macht bestimmt, die es hat und durch die es auf anderes wirkt. Im Licht dieser allgemeinen Bestimmung versteht es sich von selbst, daß eine nähere Beschreibung eines beliebigen einzelnen Seienden eine Beschreibung der ihm zukommenden Macht einschließen muß. Um etwa zu klären, was eigentlich die Liebe (έρως) - im Unterschied zur Freundschaft (φιλία) - ist, muß gesagt werden können, "welche Kraft (δύναμις) ihr zukommt" (Phaidr. 237 c). Und so ist es, ontologisch gesehen, auch gar nicht weiter bemerkenswert, daß auch die Tugenden durch die Macht gekennzeichnet sind, die sich in ihnen ausformt. Die Tapferkeit beispielsweise, über die wir bei Nietzsche kaum etwas Nachteiliges lesen, wird von Piaton als die Kraft oder Macht (δύναμις) beschrieben, welche hilft, die Ordnung zu sichern. Und dabei ist sie, ganz ähnlich wie bei Nietzsche,1 vornehmlich gegen das "Furchtbare", gegen das "Entsetzliche" (wepl των δανών) gerichtet (Pol. 429 b/c). 1
Auf die in nahezu jeder Hinsicht bestehenden engen Verbindungen Nietzsches zu seinem Wunschgegner Piaton hat vor allem H. Ottmann (Philosophie und Politik bei Nietzsche, 1987) aufmerksam gemacht. Siehe dazu auch: F. P. Hager, Nietzsches Opposition gegen Plato und die Frage nach ihrer Berechtigung hinsichtlich der Beziehung zwischen Intellekt und Leben, 1965, 64 - 86.
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II. Macht und Metaphysik
Doch, wie gesagt, nicht nur die Tugend ist eine Macht; alles, was überhaupt ist, ist dies nur kraft seiner Wirksamkeit. Folglich fallt es unter den Begriff der δύναμις. Die Dialektik (διαλί-γεσθαι δύναμις·, Pol. 533 a) ist davon nicht ausgenommen: "Es ist doch eine herrliche Sache, sprach ich, o Glaukon, um die Macht des Widerspruchs" (ή δύναμις της άντιλο-γικής τέχνης; Pol. 454 a). Mit Blick auf Nietzsche ist ein Moment der ontologischen Anlage der Macht von besonderem Interesse, nämlich ihr relationaler Charakter. Wenn es über das Vermögen (δύναμις) heißt, es sei "eine gewisse Art des Seienden, wodurch sowohl wir vermögen, was wir vermögen (δυváμeθa), als auch jegliches andere, was etwas vermag" (Pol. 477 c), so wird nicht nur der anthropomorphe Hintergrund der Begriffsbestimmung sichtbar. Offenkundig ist vielmehr, daß ein Vermögen nur als Beziehungsgröße zu fassen ist. Das wird auch deutlich ausgesprochen: Jedes Vermögen (δύναμις) bezieht sich von Natur aus auf etwas anderes, das es selbst nicht ist. Und was es jeweils ist, zeigt sich nur in der spezifischen Beziehung auf dieses andere. In jeder Beziehung vermag es eben das, was diese Beziehung ausmacht (Pol. 478 a). Daran ist nicht nur zu erinnern, wenn allgemein von Macht und Vermögen die Rede ist; denn jede Macht und jedes Vermögen gibt es nur als diese bestimmte Beziehungsgröße zwischen etwas und etwas. Auch wenn Piaton Macht (έξουσία; δύναμις) und Machtsteigerung (πλεονεξία) zum Grundmotiv eines jeden Lebewesens - vor allem aber des Menschen erklärt (Pol. 359 c), erhält eine solche Bestimmung erst unter den konkreten Lebensumständen ihren Sinn. Die "Macht an sich" kann es gar nicht geben, weil jede Macht stets nur als bestimmte Größe in einem (lebendigen) Seins Verhältnis vorgestellt werden kann. Folglich läßt sie sich auch nicht als solche erstreben. In dem Verdikt gegen eine "an sich böse Macht" könnte Piaton daher wohl nur einen Denkfehler monieren. Αύναμις drückt aber nicht nur eine unerläßliche Beziehung aus, sondern stellt sie in elementarer Weise her. Durch sie erhält das Seiende überhaupt erst seinen Anteil am Sein. Weder "Bewegung" noch "Ruhe" könnten ein Seiendes genannt werden, wenn in ihnen nicht jenes grundlegende Vermögen der δύναμις wirkte (Soph. 251 e). In allem Sein ist Macht. Da dies für die allgemeinen Bestimmungen von Seiendem überhaupt Gültigkeit hat, gilt es auch für jedes einzelne Seiende. Piaton läßt kaum eine Gelegenheit aus, um auch dem Menschen das Vermögen zuzusprechen, ohne das kein Werk und keine Tat gelingt. Der Übergang zwischen ontologischer, anthropologischer und politischer Verwendung des Begriffs ist fließend. Nur wo δύναμις angetroffen wird, kann ein Verhältnis der Verfügung oder des Besitzes zum Ausdruck gebracht werden (Tim. 197 c; Polit. 271 c). Wer etwas hervorbringen will, braucht eine entsprechende Fähigkeit (δύναμις), die um so größer zu sein hat, je erheblicher die Leistung ist. Dies gilt natürlich auch für die Wirksamkeit von Vernunft (νοίς) und Einsicht (φρόνησις) (Phil. 28 d). So steht es für Piaton fest, "daß nirgends der große Haufen
1. Die Wirklichkeit der Macht bei Piaton und Aristoteles
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irgendeiner Kunst sich zu bemächtigen imstande ist (μηό' ηντινούν δυνατόν elvai)" (Polit. 300 e). Daß dies in Sonderheit auch für die Philosophie zu gelten hat, ist bereits der Politela zu entnehmen: "Philosophisch [...] kann eine Menge unmöglich sein (αδύνατον elvai)." (Pol. 494 a) Für den "Aristokratismus" brauchte Nietzsche nicht erst beim romantischen Individualismus seines Jahrhunderts in die Schule zu gehen. Die Griechen boten ihn reiner dar - und dies ohne erklärten Gegensatz zur Humanität. Aristoteles hat die ontologische Konzeption des Platonischen Dynamis-Begriffs aufgenommen und in der Anwendung auf das Problem der Bewegung präzisiert. Bewegung und Veränderung existieren nicht unabhängig vom Seienden, das sich bewegt oder verändert.2 Stets wandelt sich ein Seiendes zu einem anderen. Immer ist es etwas, das seine Identität (Substanz), seine Größe (Quantität) und Eigenart (Qualität) oder auch seine Lage im Raum verändert.3 Bewegung gibt es nur im Zusammenhang mit den ersten vier kategorialen Bestimmungen und nicht unabhängig davon. Was nun in dem Seienden die jeweilige Veränderung ermöglicht, das wird δύναμις genannt.4 Bei dieser Definition ist die Erklärungsabsicht wesentlich. Aristoteles geht es um einen Bewegungsbegriff, der sich nicht in die Paradoxien Zenons verstrickt. Die Bewegung soll als nicht weiter zerlegbare Einheit einer Vielheit gedacht werden. Sie wird daher als kontinuierlicher Übergang von dem Vermögen, ein Ziel zu erreichen (δύναμις), bis zum faktischen Erreichen dieses Ziels (èvrekéxeιά) dargestellt. Dabei sind δύναμις und ίντβΧίχπα nicht etwa so voneinander getrennt wie der Anfang und das Ende einer Bewegung, sondern sie sind beide nur in der Bewegung gegenwärtig. Die Besonderheit dieser Einheit liegt allerdings darin, daß die Gegenwärtigkeit èvépyeia ist; nur in ihr kann sich δύναμις erweisen.5 Also nur sofern sich etwas bewegt, kommen in dieser Bewegung das auf das Ziel gerichtete Vermögen und das Erreichen des Ziels einheitlich zur Wirklichkeit. Bewegung ist damit als die Gegenwärtigkeit dieses Übergangs definiert.6 Die Bewegung also ist èvépyeia. Sie ist die Präsenz des Vermögens in der Annäherung an das Ziel. Die Möglichkeit kommt nach diesem Verständnis erst in ihrer Vollendung zur Wirklichkeit. Bleibt dieser Bezug zur Bewegung bewußt, dann erschließen sich die drei Be2 3 4
5 6
Phys. 200 b 33. Phys. 200 b 33 - 201 a 3. Vgl. dazu: F. Kaulbach, Der philosophische Begriff der Bewegung, 1965, 1 - 3. - Nietzsche kannte diesen Zusammenhang zumindest aus der kritisch-distanzierten Darstellung F. A. Langes, der mehrfach betont, "daß der Begriff des Möglichen, des dynamei on" bloß eine "subjective Annahme" darstellt: "Das dynamei on, das Seiende der Möglichkeit nach, ist, sobald man den Boden der Fiction verlässt, ein reines Unding, gar nicht mehr vorhanden. In der äusseren Natur giebt es nur Wirklichkeit, keine Möglichkeit. " (Geschichte des Materialismus, 1866, 90) Ähnlich urteilt auch E. Dühring, der zwar die Beziehung zum Problem der Bewegung herausstellt, aber erst nachdem er die in der "Physik" des Aristoteles entwickelte Naturphilosophie fur eines der "schwächsten Erzeugnisse dieser Gattung" erklärt hat (Kritische Geschichte der Philosophie, 1873, 126). Phys. 201 a 28; 201 b 8 - 11. Phys. 201 a 28/29.
38
II. Macht und Metaphysik
griffe δύναμις, ίντΐλίχαα und èvépyeia in ihrem inneren Zusammenhang, der es verbietet, δύναμις als bloß formale Möglichkeit, sozusagen als einen Zustand der Ruhe, "vor" aller Wirklichkeit, zu denken. Heideggers (in den Vorlesungen über Nietzsche vertretene) These von der Einheit der drei Begriffe findet im Blick auf das Problem der Bewegimg eine anschauliche Bestätigimg.7 Es ist dies eine Einheit, die Nietzsche für die Wirklichkeit im Werden zu sichern sucht; sie führt zur Auszeichnung des Augenblicks. Der enge Bezug zur Bewegung bleibt auch erhalten, wenn Aristoteles die Gegebenheit einer latenten Möglichkeit einräumt. Zwar zeigt sich die Möglichkeit stets erst in der Bewegung selbst, aber es ist doch erlaubt, von einem ruhenden "Vermögen", einer jederzeit bereitstehenden Aktivität zu sprechen. Die Steine, die für den Hausbau aufgeschichtet sind, haben virtuell die Möglichkeit, zum Haus zu werden, auch wenn gerade nicht gemauert wird.8 Doch auch hier bleibt ein Vorrang der Wirklichkeit vor der Möglichkeit und damit die Priorität der Gegenwärtigkeit der Bewegung erhalten. Entsprechend betont die "Metaphysik" den zeitlichen und stofflichen Vorrang der Gegenwärtigkeit vor der Möglichkeit.9 Zeitlich ist èvépyeia früher sowohl für den Erkennenden, der nur aus der Wirklichkeit auf die Möglichkeit schließen kann, wie auch im Gang der Natur selbst, "denn immer entsteht das Wirkliche aus dem Möglichen durch ein Wirkliches".10 Bezogen auf den als Möglichkeit verstandenen Stoff (ϋλη) geht ebenfalls die Wirklichkeit des gestalteten Stoffes voraus. Stoff als bloße Möglichkeit ist abhängig von dem, was von ihm im Werk ("epyov) zur Gestalt (eïôoç) und damit zur Wirklichkeit (èvépyeia) kommt. Beachtet man, daß Aristoteles das Verhältnis von δύναμις und èvépyeia in der Absicht entwickelt, die Eigentümlichkeit der Bewegung zu begreifen, dann kann diese Priorisierung der èvépyeia nicht überraschen, denn in ihr kommt nichts anderes als eben die natürliche Priorität der Bewegung selbst zum Ausdruck. Das philosophische Problem der Bewegung ist es ja, daß schlechterdings alles als bewegt angesehen werden kann und daß wir die Bewegung, um sie als solche erkennen zu können, augenblicklich zum Stillstand bringen müssen. So liegt bereits in der Erkenntnis der Bewegung die ganze von Zenon so anschaulich gemachte und metaphysikgeschichtlich mit der Opposition zwischen Heraklit und Parmenides verknüpfte Paradoxie. Da es Aristoteles darum geht, sich in diese Paradoxien nicht zu verstricken, muß er an der Wirklichkeit der Bewegung festhalten. Also liegt sein Ausgangspunkt stets beim wirklichen Geschehen und das ist - èvépyeia.
8 9 10
M. Heidegger (Nietzsche, Bd. 1, 1961, 76 ff., 237 f.) betont den "wesensgeschichtlichen Zusammenhang" zwischen Wille zur Macht und energeia und erklärt ihn für "verborgener und reicher, als es nach der äußerlichen Entsprechung von 'Energie' (Kraft) und 'Macht' scheinen möchte" (ebd., 238). In dem folgenden Abriß "Die Metaphysik als Geschichte des Seins" (ebd., 399 ff.) versucht er diesen Zusammenhang etwas aufzuhellen. Ausfuhrlich und aufschlußreich hat er sich dazu in der im Sommersemester 1931 gehaltenen Vorlesung über das 9. Buch der "Metaphysik" (Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, Gesamtausgabe 33, 1981) geäußert. Phys. 201 a 17 - 19. Met. 1049 b 20 - 27; 1050 a 5 - 24. Met. 1049 b 24/25.
1. Die Wirklichkeit der Macht bei Piaton und Aristoteles
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Vor dem Hintergrund des Bewegungsproblems wird auch die von Aristoteles vorgenommene Zuordnung zwischen δύναμις und ϋλη, als stoffliches Substrat, verständlich. Nur im Bezug auf den Prozeß der Gestaltung, auf das tätige Hervorbringen einer konkreten Form, hat der Stoff den Charakter der Möglichkeit zu einer Form als Wirklichkeit. Stoff ist das, was jeweils Gestalt gewinnt oder verliert. Dynamis erweist sich auch in diesem auf das Seiende als ganzes gerichteten Fragenkontext als Begriff, in dem die Bewegung, nämlich als Veränderung, gedacht wird. Möglichkeit ist bei Aristoteles das, was zur Wirklichkeit kommt, sie ist Moment im Werden, in der Entwicklung, in der lebendigen Bewegung zur jeweils bestimmten Gegenwart eines Seienden. Als "Vermögen" ist ein Seiendes "gleichsam unmittelbar auf dem Sprung" zu einer Präsenz.11 Folglich kann es gar nicht anders sein, als daß die "Macht" in dieser ontologischen Funktion auch im praktischen Handeln des Menschen beansprucht wird: Man braucht ein Vermögen der geschilderten Art, um überhaupt tätig werden zu können; man braucht es in besonderem Maße, wenn man tugendhaft sein will. Zwar ist die Tugend kein in jedem Menschen bereits fertig angelegtes "Vermögen" (δΰναμις), sondern ein erworbener "Habitus" (£ξις);12 gleichwohl bedarf es in jedem Fall der Macht, um überhaupt handeln zu können. Denn: "möglich (δυνατά) ist das, was wir aus uns selbst heraus vollbringen [...]". 13 Mit dieser Einsicht gelangt Aristoteles ganz nahe an den bis heute nicht erschlossenen Ursprung des praktischen Handelns. Sichtbar wird, daß Freiheit, Wille, Entscheidung und Macht unmittelbar aufeinander bezogen sind. Und deutlich wird, daß sie in jedem Akt nirgendwo anders entspringen als in uns selbst. Das τα ίφ ' ήμίν, das, was in unserer Kraft, Macht und Kontrolle steht, ist allemal etwas, was uns selbst innerlich zugerechnet wird. Aristoteles weiß, daß der Ursprung der Macht mit dem der Freiheit und des Willens zusammenfällt und nirgendwo anders liegt als in uns selbst: Und wenn das "bewegende Prinzip in uns selbst" (èv αυτω ή αρχή) liegt, so liegt es auch allein im Menschen begründet, ob er handelt oder nicht.14 Für das, was da macht, daß gehandelt wird oder nicht, haben wir bis heute mit Aristoteles denselben Begriff, nämlich: Macht.15
11 12 13 14 15
E. Tugendhat, Ti kata tinos, 1958, 95. NE 1106 a 12. NE 1113 a 27. NE 1110 a 17. Vgl. hierzu den ersten Teil des dritten Buchs der NE: 1109 b 30 - 1113 b 23.
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II. Macht und Metaphysik
2. Von der Macht des alten und des neuen Gottes Aristoteles' metaphysische Bewegungslehre ist im Übergang zum mittelalterlichen Denken mit besonderem Interesse aufgegriffen worden. Sie trifft auf eine theologisch-politische Tradition christlichen Machtdenkens, die sich von den griechischen Ursprüngen durch eine explizite Betonung des Willens, durch ein gelegentlich engeres, noch stärker auf den Menschen bezogenes Verständnis des Handelns sowie durch den dominanten Bezug auf die Macht Gottes unterscheidet. Die Überlieferung des Alten und des Neuen Testaments hat der christlichen Theologie vor allem zwei Probleme aufgegeben, die in sich und im Verhältnis zueinander zu bestimmen sind: die Allmacht Gottes und die Eigenmächtigkeit des Geschöpfes. "Macht" ist in beiden Büchern das "eigentliche Prädikat Gottes".16 Wenn der Gott Israels spricht, dann in Betonung seiner Allmacht (1. Mos. 17, 1; 35, 11); wenn die Kinder Israels ihm opfern, dann in Anerkennung seiner Größe. Gott, der Allmächtige und Herr, hat Himmel und Erde geschaffen; alles ist ihm Untertan und fürchtet sein Gericht. Zu den Attributen dieser Macht zählen größte Kraft, umfänglichstes Wissen, Allgegenwart, Gerechtigkeit und Heiligkeit, d. h. eine über jeden Zweifel erhabene, ursprünglich gründende Legitimität und Autorität. Der Gott Israels ist persönlicher Gott. Seine Macht ist unmittelbar Ausdruck seines Willens. Auch wenn im Neuen Testament die zürnende, verheißende oder gebietende Stimme Gottes nicht mehr zu hören ist, und wenn auch seine Allmacht nicht mehr herrschaftlich in Erscheinung tritt wie in den alten Büchern, sind seine Macht und sein persönlicher Wille doch stets gegenwärtig. Hinter allem Geschehen stehen auch hier "Macht" und "Gewalt" (ίξουσία, κράτος; Ep. Judä 25), und wenn er seinen Zorn und seine fürchterliche Macht nicht zeigt, liegt das an seiner großen Geduld (Rom. 9, 22). Durch die "Kraft des Höchsten" (δύναμις υψίστου; Lk 1, 35) kommt der Sohn zu den Menschen. In ihm wohnt die "Kraft des Herrn" (δύναμις κυρίου; Lk. 5, 17; 6, 19); er überträgt diese Kraft (δύναμις) den Kranken (Lk. 8, 46), so daß sie wieder gehen können, und er vertreibt die "bösen Geister" mit "Macht und Gewalt" (ίξουσία; δύναμις; Lk. 4, 36). Die eigentliche Macht Jesu ist die von Luther mit dem Ausdruck "Macht" übertragene ίξουσία (Mk 1, 22; 1, 27). Ihr Sinn ist eine unmittelbar, also nicht durch Schrift oder Zeichen übertragene Vollmacht. Sie ist Macht, die aus einem Auftrag folgt. Gott hat seinen Sohn "ermächtigt",17 das Nahen seines Reiches anzukündigen. Das Volk und die Jünger erkennen diese Macht als von Gott verliehen an (Mt 9, 8). In ihr sind die Kraft, etwas zu tun, und das Recht dazu vereint. Die Kongruenz von größter Stärke, Kraft oder Gewalt mit der Legitimität, die in Gottes Wirken immer fraglos gegeben ist, tritt in der Ermächtigung 16 17
R. Hauser, Art. "Macht", Handbuch theol. Grundbegriffe, Bd. 2, 1963, 101. Ebd., 103, mit Hinweis auf Joh. 1, 12 u. Apk. 22, 14.
2. Von der Macht des alten und des neuen Gottes
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Jesu Christi, in der ausdrücklichen Vollmacht durch den Vater, um so deutlicher hervor, je stärker sie durch die orthodoxen Juden in Abrede gestellt wird. Die Einheit von unwiderstehlicher Kraft und fundamentalem Recht besteht aber sowohl im Vater wie im Sohn. Die Allmacht als Wesensprädikat schließt Stärke, Größe, Allwissenheit und Gerechtigkeit ein. Demgegenüber steht der Mensch in der Position unaufhebbarer Schwäche und Ohnmacht. Seine beschränkte Macht über andere ist unmittelbar von Gott. Von ihm hat er den Auftrag, zu "herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kreucht" (1. Mos. 1, 26). Die Voraussetzung der menschlichen Macht ist - wie beim Mensch gewordenen Gott eine Ermächtigung. Seine besondere Kraft, die ihn von anderen Wesen unterscheidet, hat der Mensch von Gott, und auch seine politische Macht über Feinde empfängt der Herrscher im Gehorsam vor Gott. Durch Gott ist alle Macht verliehen. Sie ist damit im ganzen gerechtfertigt, im einzelnen aber fehlbar und sündhaft wie alles am Menschen. Schon die listige Prophezeiung der Schlange spielt mit der Verführbarkeit des Menschen durch die Macht: "Ihr werdet sein wie Gott" ist nicht nur ein Versprechen des Wissens, sondern auch der Macht. Es zeigt sich auch hier die bereits von Aristoteles exponierte Beziehung zwischen Freiheit und Macht, die auch nach der Vertreibung, im Stande relativer Freiheit, erhalten bleibt. Sie ermöglicht den Befehl über das Volk Israels durch Moses und die Könige und führt zu Ordnung und Obrigkeit in der menschlichen Gemeinschaft. Das Neue Testament kennt auch diese Form der gesellschaftlichen Macht, weiß von ihrer Verstrickung in die Sünde, betont aber ihre Herkunft aus der göttlichen Ermächtigung. "Jedermann sei Untertan der Obrigkeit (έξουσία), die Gewalt über ihn hat", heißt es in der oft zitierten Stelle des Römerbriefes. "Denn es ist keine Obrigkeit, ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet." (Rom. 13, 1) In der Heilsperspektive der Offenbarung ist irdische Macht zweitrangig. Nun geht es um die neu eröffnete "Macht (ίξ ουσία), Gottes Kinder zu werden" (Joh. 1, 12). Frohe Botschaft und Taufe eröffnen eine radikal andere Möglichkeit, den Stand der Sünde durch Gottes Gnade zu verlassen. Die Kraft der Seele ist ganz auf ihr eigenes Heil gerichtet und erweist sich darin als mächtig. Die auch hier dem Menschen auf dem Wege der Bevollmächtigung übertragene Macht ist nicht mehr auf äußere Güter und andere Geschöpfe gerichtet, sondern auf den Gläubigen selbst zentriert. Die Ermächtigung durch die Offenbarung erlaubt dem einzelnen, in freier Entscheidung die Nachfolge Jesu Christi anzutreten und durch die Stärke seiner Seele für die Aufnahme in das Gottesreich würdig zu werden. In dieser Seelenkraft, durch das Vorbild Jesu, durch Gebet und die Hilfe der Gemeinde gestützt, liegt die neue Macht des christlichen Menschen. In der Selbstunterwerfung unter das Wort spiegelt sich das dem Menschen in seinem Verhältnis zu Gott angemessene Selbstverständnis, denn in ihr stellt sich die ursprüngliche
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II. Macht und Metaphysik
Machtvollkommenheit des allmächtigen Gottes wieder her; deshalb liegt auch für den Menschen die einzig mögliche Macht im Gehorsam gegenüber Gott. Der Gehorsam aber muß aus freiem Willen kommen, dem sich die Strebungen des Menschen fügen. Obgleich der Abstand zwischen Gott und den Menschen unermeßlich ist, gibt es doch eine Analogie im Aufbau ihrer Macht: Ein freier personaler Wille steht an der Spitze einer hierarchischen Ordnung, über die er mit Liebe und Strenge verfügt wie ein Vater über seine Familie. Die Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Macht besteht darin, so haben es dann die ersten Kirchenväter erläutert, daß bei Gott Macht und Wille unmittelbar aufeinander bezogen, d. h. identisch sind, beim Menschen dagegen erst durch die eigene Anstrengung zusammengebracht werden müssen. Gott hat dem Menschen ein begrenztes Vermögen zugeteilt, das nun im freien Wollen auszuführen ist. Dabei kann der Einzelne seine spezifischen Möglichkeiten treffen, aber auch verfehlen oder sogar sich einer Gott feindlichen Macht verbünden. Innerhalb der gegebenen Grenzen ist aber ein Verhältnis zwischen Wille und Macht zugrundegelegt, das dem in Gott korrespondiert. Der Wille ist Lenker und Leiter der Macht; er wird als das Innere gedacht, das die Ausrichtung und Verwendung bestimmt.18
3. Wille und Macht bei Augustinus Die Macht erscheint in diesem Modell als das Sekundäre, denn ihre Grenzen sind von Gott stärker vorgegeben als die des Willens. Der Wille ist es, der über die Macht verfügt. In seiner Verbindung mit der Macht als dem spezifischen Können ergibt sich ein analoges Wechsel Verhältnis, wie es im Fall des göttlichen Willens und der Allmacht besteht. Es wird auch deutlich, daß sowohl die Macht Gottes wie auch die des Menschen theologisch erst mit der Frage nach der Freiheit des Willens interessant werden. Es ist Augustinus' weit über das Mittelalter hinausweisende Leistung, dieses Verhältnis nicht nur exegetisch und begrifflich, sondern auch psychologisch ausgeleuchtet zu haben. Die Allmacht, omnipotentia, ist auch bei Augustinus das erste Prädikat Gottes.19 Seinem Willen sind alle Geschöpfe unterworfen, und doch ist der Mensch in dieser Herrschaft frei. Die menschliche Freiheit ist ganz in die Macht seines eigenen (menschlichen) Willens gestellt. In Bezug auf seinen Willen wiederholt sich beim Menschen das Verhältnis Gottes zur Schöpfung. Daß der freie Wille des Menschen die Schöpfermacht nicht einschränkt, hat seinen Grund in der Weisheit und Gerechtigkeit Gottes, der die geschöpfliche Freiheit des Willens selbst will. In der Stufenfolge der vernünftigen Wesen kann eine niedere Macht die 18 19
Vgl. dazu Origines, De principiis III, 1, 1 - 19 (De arbitrii übertäte). Augustinus, De libero arbitrio I, 12.
3. Wille und Macht bei Augustinus
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Freiheit einer darüberstehenden nicht einschränken, weil sie a priori zu schwach dazu ist. Und eine höhere Macht wird den Willen einer niederen nur beschneiden, wenn diese ihre Freiheit mißbraucht und damit böse wird; die Freiheit des Willens (der untergeordneten Macht) bleibt auch dabei unangetastet. Als Gabe Gottes ist der freie Wille der vernünftigen Kreatur mit einer - ebenfalls von Gott stammenden - zugehörigen Macht (potentia; potestas) ausgestattet. Macht ist in alledem das Wirkungsvermögen des Willens. Sie ist am Grundtypus der personalen Macht eines bewußt handelnden Menschen orientiert. Wille und Macht entsprechen sich im Guten wie im Bösen. Der böse Wille ist ohne Weisheit, ohne Gerechtigkeit und ohne jedes Maß; er überschreitet die ihm in der Schöpfungsordnung gesetzten Grenzen. Entsprechend ist das Machtstreben dieses Willens maßlos und unersättlich. Doch die Unersättlichkeit der Macht liefert kein Argument gegen die Macht selbst, sondern nur gegen die Uneinsichtigkeit des in ihr zum Ausdruck kommenden Willens. Unterwirft sich der Wille des Menschen dem Willen des Schöpfers, dann ist auch der humane Machtanspruch legitim. Das aber heißt: Die Macht bedarf der Ordnung und des Gesetzes; nur als Herrschaft des guten Willens ist sie gerechtfertigt. Die eigentliche Macht zeigt sich somit in der Fähigkeit, etwas in die Verfügung des guten Willens zu bringen. Dies kann (unter irdischen Bedingungen) mit Zwang geschehen. An der Stufenfolge der vernünftigen Wesen läßt sich aber das Gott adäquate Prinzip der Unterordnung erkennen, nämlich die Freiwilligkeit. Das Ideal der Unterordnung der Mächte liegt demnach nicht in der Gewalt (violentia), sondern in Gehorsam und Dienst. Befehl und Gehorsam stellen damit die typischen Medien dar, in denen sich willensgesteuerte, nach dem Modell der vernunftbegabten Person konzipierte Mächte zueinander verhalten.20 Der innere Aufbau einer (personalen) Macht ist der Gesamtordnung der himmlischen und irdischen Mächte analog. Das Ideal besteht auch hier in einer weisen und gerechten Leitung durch den Willen, dem sich alle anderen Strebungen unterwerfen. Die Realisierung wird im einzelnen Menschen nie ohne Kampf möglich sein, er wird den Versucher in sich bezwingen müssen. Aber das Ziel ist auch hier die Gemütsruhe des Weisen, bei dem sich alle Strebungen seiner Einsicht zwanglos fugen.21 Das Grundmodell für den inneren Machtaufbau liefert der Begriff des Herrn. So wie ein Herr über die verschiedenen Kräfte des Leibes und der Seele gebietet, so hat auch der Verstand des Menschen die "irrationalen Triebe der Seele zu beherrschen". Erst mit der Herrschaft der Vernunft "regiert im Menschen dasjenige, dem nach jenem Gesetz, dessen Ewigkeit wir erkannt haben, das Regiment gebührt".22 Erst in diesem Regiment (dominatio) ist der Wille frei und die Macht vollendet. 20 21 22
Ebd. I, 103 - 111; De vera religione, 122/123. Augustinus, Confessiones X, 36, 60. Augustinus, De libero arbitrio I, 65.
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II. Macht und Metaphysik
Eigentliche Macht, so kann man Augustinus verstehen, ist Herrschaftsmacht (dominandi potestas). Sie geht von einem Willen aus und ist auf einen anderen Willen gerichtet, dabei auf nichts anderes setzend als auf die Einsicht des Unterworfenen. Stößt die Einsicht auf einen Vernunftgrund, dann ist die Herrschaft gerecht; Befehl und Gehorsam vollstrecken dann in Freiheit ein allgemeines Gesetz. In der civitas Dei ist diese Form der Herrschaft verwirklicht; in der civitas terrena wird sie allerdings nie vollkommen realisiert.
4. Das "Wörtlein mächtig" (Luther) Diese hier an Augustinus exemplarisch aufgewiesene Beziehung zwischen Wille und Macht hat nicht nur für das mittelalterliche Denken Gültigkeit. Mit dem Ordnungsschwund im Ausgang der mittelalterlichen Welt ist zwar die bis in die Hochscholastik dominierende Trinität von Vernunft, Wille und Macht immer stärkeren Zweifeln ausgesetzt,23 aber je mehr das Vertrauen in die prinzipiengebende Instanz der göttlichen Vernunft erschüttert wird, um so stärker tritt das Gespann von Wille und Macht hervor. Das gilt, in engem Anschluß an Ockham und Biel, insbesondere für Luther. Für den Reformator sind göttlicher Wille und göttliche Macht ein und dasselbe. Daß er in seiner Theologie wieder eng an Augustinus anknüpft und sich mit ihm vor allem im Verständnis des Apostels Paulus verbunden weiß, ist bekannt. Nietzsches Angriff auf Paulus (vgl. AC 45 - 47) kommt nicht von ungefähr.24 Gott ist das höchste Wesen, "das alle Dinge wirket nach dem Rat seines Willens" - so übersetzt Martin Luther eine bedeutende Stelle aus dem Brief an die Epheser (Eph. 1, 11) und erläutert sie ganz im Sinn der spätscholastischen Theologie: Die Allmacht des göttlichen Wesens besage, "das in allen unnd durch allen unnd ubir allen nichts wirckt denn allein seine macht". Das "Wörtlein mächtig" aber soll hier keine in sich ruhende Macht bezeichnen; nichts von der Art königlicher Macht, die auch dann gegeben ist, wenn der König "still sitzt und nichts thut": Sie bedeutet hier "ein wirckende macht und stettige tettickkeit die on unterlaß geht ym schwack und wirckt" ,25 In dieser Ubiquität ist Gott die namenlose Macht, die alles Fassungsvermögen übersteigt. Gewiß ist nur seine im kleinen wie im großen jederzeit gegenwärtige Dynamik. Gott ist allezeit mächtig. In dieser Macht hat er sich in Christus offenbart. Erst der Gott, dessen Botschaft verstanden und der im Glauben gerechtfertigt wird, ist ein personaler, ethisch bedeutsamer Gott. 23 24
25
H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 1966, 92. Vgl. A. Hamel, Der junge Luther und Augustin, 1934/35; zum Verhältnis Nietzsches zu Luther siehe: E. Hirsch, Luther und Nietzsche, 1920/21, 61 - 106. - Vgl. dazu vom Verf.: Ressentiment und Apokalypse. Nietzsches Kritik endzeitlicher Visionen, 1993. M. Luther, Das Magnifikat verdeutschet und ausgelegt, Werke 2, 19S9, 196.
4. Das "Wörtlein mächtig" (Luther)
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Obgleich es für Luther keine wesenhafte Ähnlichkeit zwischen Gott und Mensch mehr gibt, ist doch das Verhältnis von Macht und Wille dem zwischen Gott und Mensch analog. Der in seiner ganzen Existenz an Gott gebundene Mensch ist als "Werkzeug Gottes" frei, und in dieser Freiheit seines Willens liegt die ganze Macht des Menschen. Das gilt bereits für die Erkenntnis der Welt, denn nur im Akt des (geistigen) Wollens eröffnet sich dem Menschen die Wirklichkeit der Dinge. Am deutlichsten aber zeigt sich die Beziehung in der christlichen Bewältigung des Lebens. Wille und Macht wachsen hier mit der Mäßigung leiblicher Genüsse, die der abtrünnige Mönch freilich nicht bis zur Askese getrieben sehen möchte. "Keuschheit" bedeutet für ihn nicht gänzlichen Verzicht auf alle sinnlichen Genüsse, sondern sie gilt ihm als eine Maßregel für den ausgewogenen Umgang mit den sinnlichen Reizen. Sie entsteht durch beharrliche Übung, in welcher die Begierden "ubirwunden" werden.26 In dieser moralischen "Selbstüberwindung", so nennt es die Theologie des 20. Jahrhunderts27 - und so nennt es insbesondere auch Nietzsches Zarathustra -, entsteht erst der freie Wille des Christenmenschen. Mit dieser Selbstüberwindung wächst dem Menschen auch die Macht zu, die es ihm ermöglicht, Werkzeug Gottes zu sein. In der praktischen Lebensbewältigung ist der Christ an die geordnete Macht (potentia ordinata) des weltlichen Regiments gebunden. Sie ist, das hat bereits die nominalistische Theologie gelehrt, nur eine der möglichen Äußerungen der potentia absoluta Gottes. In ihrer positiven Setzung aber ist sie für den Menschen von unbedingter Gültigkeit. Folglich ist auch die weltliche Herrschaft nicht als solche böse, im Gegenteil, sie ist gut, denn sie ist ein von Gott gestiftetes "ampt" zur Aufrechterhaltung der äußeren Ordnung.28 Die "Gewalt" ist von der Art, daß man Gott damit dienen kann. Die Machtausübung als Gottesdienst schließt dann auch die Forderung ein, an ihr aktiv durch Mitwirkung in Ämtern und passiv durch Gehorsam teilzunehmen. So sehr Luther das Widerstandsrecht - und damit auch eine naturrechtliche Begründung der Staatsgewalt - abwehrt, so wenig plädiert er für einen schrankenlosen Machtgebrauch.29 Er ermahnt die Fürsten, "aus Schuld und Pflicht" dem Aufruhr zuvorzukommen, fordert von ihnen ein "Bekenntnis der Wahrheit" und erinnert sie an die Stellung ihres Amtes im Reich Gottes. Er weiß von der Unersättlichkeit der Macht - potentia facit insolentes et Tyrannos30 - und versucht, ihr durch eine strikte Zweckbindung des obrigkeitlichen Willens entgegenzutreten. Gottes geistiges Regiment über die Welt ist als weltliche Herrschaft über den sündigen Menschen fortzuführen, um Ordnung und Frieden zu stiften. Die Ordnung liegt aber bereits darin, daß überhaupt ein befehlender Wille wirksam ist. Die Obrigkeit ist eine der nachteiligen Konsequenzen der Vertreibung aus dem Paradies; ihr 26 27 28 29 30
M. Luther, Von den guten Werken, Werke 1, 1959, 291. E. Seeberg, Luthers Theologie in ihren Grundzügen, 1950, 191. M. Luther, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei, Werke 2, 1959, 361 f. Siehe dazu: K.-G. Faber, Art. "Macht/Gewalt", Geschichtl. Grundbegriffe, Bd. 3, 1982, 850. Zit. nach K.-G. Faber, ebd.
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II. Macht und Metaphysik
zu folgen, gehört zu der Mühsal, die der Mensch auf Erden zu tragen hat, wenn ihn das Heil erreichen soll. Der Stand der Sünde rechtfertigt theologisch die Unterwerfung unter die Macht. Luther spricht über die staatliche Macht aus der Perspektive des sündigen Untertanen, der den Gehorsam gegenüber der Obrigkeit als Teil seiner Ergebenheit in Gottes Willen begreift. "Schwert und Gewalt" sind nicht mehr - wie in der scholastischen Lehre - als Teil einer vernünftigen Ordnung gerechtfertigt, sondern werden als notwendige Repräsentanten des absoluten Willens angesehen. Die irdische Geschichte ist in Luthers Augen ein "Puppenspiel Gottes" - ein Ausdruck, den er von den deutschen Mystikern übernimmt.31 Der Mensch sieht nur den Tanz der "Larven", ohne ihre wahre Bedeutung zu kennen oder auch nur die Fäden zu sehen, an denen sie hängen. In dieser Welt des Scheins aber ist das Faktum der Ordnung gesetzt. Das weltliche Regiment ist durch seine Macht legitimiert. Der Stand der Macht zeigt an, daß überhaupt ein Wille herrscht, und die Macht ist überall notwendig dort, wo ein Wille wirkt. Daß Luther im Rahmen der potentia ordinata durchaus auch große Machtumwälzungen für denkbar und wünschbar hält, zeigt sein eigener Kampf gegen Rom. Den ethisch-kulturellen Aspekt dieser zunächst gewiß nicht beabsichtigten, dann aber bewußt in Kauf genommenen politischen Umwälzung hat die Theologie des 20. Jahrhunderts, ohne erkennbaren Seitenblick auf Nietzsche, unter den Titel einer "Umkehrung aller Werte" gestellt.32 Luther-Interpreten sprechen vom "Dynamismus" seines Weltentwurfs. Durch den Reformator, so sagen sie, werde der Wille als "geistige Urkraft" betont. Die überlieferten theologischen Begriffe übertrage Luther "in ein dynamisches oder funktionales Weltbild [...], das sich im Wirken der Kräfte ständig erneuert" ,33 Wenn das zutrifft, dann kann man tatsächlich schon bei Luther den "Ersatz der alten Substanzmetaphysik durch eine dynamisch metaphysische Betrachtung" konstatieren; dann hat man in ihm wahrhaftig einen theologischen Vorläufer der philosophischen Entwürfe des 17. und 18. Jahrhunderts.
5. Zur politisch-metaphysischen Machtkonstellation in der Moderne (Hobbes, Spinoza, Leibniz) Eine mit Sicherheit bestehende Gemeinsamkeit ist durch die systematischen Erwartungen an die Macht gegeben, die in den Staats- und Gesellschaftslehren nun nicht mehr am Begriff Gottes, sondern am Begriff des Menschen festgemacht werden. Thomas Hobbes hat das Para31 32 33
Vgl. E. Seeberg, Luthers Theologie in ihren Grundziigen, 1950, 179. Ebd., 238. Ebd., 49.
S. Zur politisch-metaphysischen Machtkonstellation in der Moderne (Hobbes, Spinoza, Leibniz)
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digma für den machtzentrierten Zugang zum Menschen geschaffen. Seine Lehre vom Menschen wird, wie Helmut Schelsky gezeigt hat, "zu einer Lehre von der Macht, wobei unter 'Macht' zunächst der Inbegriff der durch die Sprache im Menschen aufgebauten Fähigkeiten verstanden werden muß".34 Hobbes sieht das menschliche Leben von einer Triebkraft bestimmt, die ausnahmslos in allem wirkt und erst im Tode endet. Diese Triebkraft ist das Verlangen nach Macht, ein perpetual and restless desire of power after power,35 Nach Schelsky gibt es gute Gründe, diesen Grundtrieb mit "Wille zur Macht" zu übersetzen. Auf dem anthropologischen Fundament der Macht ruht der Bau der politischen Macht, die sich als Konsequenz und nicht als Opponent der menschlichen Möglichkeiten erweist. Wenn die Macht die Beziehungen der menschlichen Aktivität zur Welt überhaupt bezeichnet, dann ist die politische Macht jene Sonderform, die sich auf die Aktivitäten der Menschen untereinander bezieht. Das Kontinuum zwischen anthropologisch fundierter individueller und politischer Macht zeigt sich auch darin, daß schon die elementare menschliche Macht sozial bestimmt ist, denn, so heißt es bei Hobbes, die Macht ist "schlechthin nichts anderes als das Übergewicht der Macht des einen über den anderen".36 Diese Machtkonzeption schließt die typischen Merkmale der praktischen Selbstauffassung des neuzeitlichen Subjekts ein. Sie ist an den Vorrang der Handlung gebunden, ist auf Gegenseitigkeit bezogen, umgreift das Konzept der Selbsterhaltung, setzt Möglichkeit und Wirklichkeit in ein einsichtiges Verhältnis, erlaubt zumindest eine Vermutung über den Ursprung des Zeitbewußtseins und weist sowohl den Willen wie auch den Zweck als funktionale Elemente eines Geschehens aus. Alles dies sind Elemente, die sich auch im "Willen zur Macht" wiederfinden. Dabei ist von besonderem Interesse, daß Hobbes - wie später Nietzsche - den Willen als ein substantielles Vermögen (faculty) ausdrücklich verwirft: Ihm zufolge handelt es sich beim Willen lediglich "um den Akt, nicht um die Fähigkeit des Wollens".37 Der Wille bezeichnet nur die erlebte Einheit des Handlungsvollzugs, die sich stets erst nach einer Handlung einstellen kann. Ein generelles Handlungsvermögen (voluntas), das den einzelnen Willensimpulsen (volitici) vorausgeht, wäre eine qualitas occulta; Hobbes rechnet sie zu den verhängnisvollen Irrtümern der Aristotelischen Metaphysik.38 Für ihn gibt der Begriff des Willens nur einen Sinn, wenn er in Verbindung mit einer realen Handlung steht. In diesem Verständnis ist ihm die praktische Philosophie der Moderne gefolgt, nicht nur Locke und Hume, sondern auch Kant, bei dem der Wille nicht mehr und nicht weniger als eine Funktion der Handlung ist. Kant ist dann der erste, der mit der Handlungskonzeption 34 35 36
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H. Schelsky, Thomas Hobbes (1940), 1981, 83. T. Hobbes, Leviathan I, 11, The collected Works III, 1, 1839 (Reprint 1994), 85 f. Diese Stelle wird von Schelsky (Thomas Hobbes (1940), 1981, 86) angeführt, um die anthropologische Fundierung der Macht bei Hobbes zu belegen. Sie zeigt in gleicher Weise, ohne dadurch einen Widerspruch aulzutun, die soziale Hinbindung der Macht. T. Hobbes, Leviathan I, 6, The collected Works III, 1, 1839, 48. Ebd. IV, 46, The collected Works III, 2, 664 - 688.
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auch im Bereich der theoretischen Philosophie Ernst gemacht hat.39 Indem Nietzsche den gegen die Aristoteliker gerichteten Molière'sehen Spott von der virtus dormitiva erneuert und nunmehr ausgerechnet gegen Kant wendet (J 11; 5, 25), gibt er leider zu erkennen, daß ihm eine wesentliche Pointe des neuzeitlichen Denkens entgangen ist. Die ihm weit entgegenkommenden Leistungen der Denker von Hobbes bis Kant läßt er hier weitgehend ungenutzt. Entsprechend unbeholfen ist er dann, wenn er sich bemüht, seine Konzeption des Willens allein aus eigener Einsicht zu formulieren. Allerdings ist sein Ausgangspunkt bei der Macht, wie das Beispiel Hobbes' schon vermuten läßt, richtig gewählt. Wenn es einen Sinn gibt, Nietzsches späte Lehre als "Philosophie der Macht"40 zu bezeichnen, dann gebührt dieser Titel erst recht Spinozas Ethik. Diese in ihrer Konsequenz und Geschlossenheit einzigartige Metaphysik ist gewiß alles andere als eine ausdrückliche Untersuchung zum Thema der Macht. Vielmehr ist alles auf die Frage gerichtet, wie die Menschen nach ihren eigenen Ansprüchen - und das heißt: ex duetu rationis - leben können.41 Nur weiß Spinoza, daß eine begründete Antwort auf die potentia agendi, also darauf bezogen sein muß, was der Mensch vermag.42 Das bleibt auch Nietzsches Position, ungeachtet der vielen Fragezeichen, mit denen er die Vernunft versieht. Als "freier Geist" beansprucht er sie gleichwohl.43 Es kann daher auch nicht überraschen, daß Nietzsche in Spinoza einen "Vorgänger" entdeckt. Dies geschieht im Anschluß an seine Lektüre von Kuno Fischers großer Darstellung, in der Spinozas Denken als eine Deduktion alles Seienden aus der Macht beschrieben wird.44 Da alles von Gottes Macht abhängt, Gottes Macht aber sein Wesen selbst ist - Dei potentiam est ipsa ipsius essentia45 - ist nicht nur die Substanz wirkende Macht, sondern auch die causa sui der Natur ist Macht. Die Grundmomente der Substanz - Ewigkeit, Existenz und Notwendigkeit - gründen alle in dieser Macht, die als Ursprung der Lebendigkeit aller Dinge zu gelten hat: [...] posse existere potentia est,46 Dabei ist diese Macht als die innere, nicht als 39
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Vgl. F. Kaulbach, Das Prinzip Handlung in der Philosophie Kants, 1978, insb. Kap. 1 u. 2.; zum Handlungsbegriff Kants vgl. auch: M. Willaschek, Praktische Vernunft, 1992. W. Kaufmann, Nietzsche, 1982, 245. Man lese nur die Lehrsätze 20 - 35 des IV. Teils der Ethik Spinozas (Opera/Werke 2, 1967, 414 - 429). "Adäquate Vorstellungen" (ideae adaequatae) über die Dinge zu haben, bedeutet, sie "vernunftgemäß" (ratiocinatur) zu denken. Diesem Denken zu folgen heißt, nach der Vernunft zu leben - "ex duetu rationis vivere". Wem dies gelingt, der hält sich in den Grenzen seiner Macht. Dazu sehr klar: R. McPhail/D. E. Ward, Morality and Agency, 1988, 147 ff. Spinoza, Ethik IV, Prop. 59, Opera/Werke 2, 1967, 466. Dazu vom Verf.: Friedrich Nietzsche, 1992, 201 ff. K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie (6 Bde., Stuttgart/Heidelberg 1852 - 1877), Bd. 2: Descartes' Schule, Spinozas Leben, Werke und Lehre (zit. nach der Jubiläumsausgabe v. 1897). Zum Einfluß Spinozas auf Nietzsche siehe W. S. Wurzer, Nietzsche und Spinoza, 1975. Zum Verhältnis des Machtbegriffs bei Spinoza zu Nietzsches Willen zur Macht siehe B. Taureck, Das Schicksal der philosophischen Konstruktion, 1975, 238 ff. Spinoza, Ethik I, Prop. 34, Opera/Werke 2, 1967, 142. Ebd. I, Prop. 11, Dem. 3, 100.
5. Zur politisch-metaphysischen Machtkonstellation in der Moderne (Hobbes, Spinoza, Leibniz)
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die äußere Ursache der Dinge zu verstehen, was Kuno Fischer mit Hinweis auf den 18. Lehrsatz besonders betont: "Über Gott und die Natur", so zitiert er eine Erläuterung Spinozas, "denke ich ganz anders als die Christen neueren Schlages. Denn ich halte Gott für die innere Ursache aller Dinge, nicht für die äußere."47 In dieser Konzeption ist für einen die Macht aus eigenem Ermessen steuernden Willen kein Raum. Die stets mit Notwendigkeit wirkende Macht benötigt weder Freiheit noch einen eigenständig zwecksetzenden Willen. Außerdem verbietet die Unvergleichlichkeit Gottes, der Macht einen Willen zu unterstellen. Etwas, das nur aus der menschlichen Machterfahrung stammt, darf nicht auf Gott übertragen werden. Doch auch im Feld menschlicher Macht versucht Spinoza weitgehend ohne die Vermittlungsleistung eines Willens auszukommen. Das läßt den Machtbegriff an eben jene Stelle rücken, an der in anderen philosophischen Systemen, die nicht auf Freiheit verzichten wollen, der Begriff des Willens gefunden werden würde: "Unter Tugend und Vermögen (virtutem et potentiam) verstehe ich dasselbe, d. h. [...] Tugend, insofern sie sich auf den Menschen bezieht, ist die Wesenheit oder die Natur des Menschen selbst, insofern er die Macht (potestas) hat, einiges zu bewirken, was bloß durch Gesetze seiner Natur verstanden werden kann. ',48 Dennoch ist bei Spinoza mit der Willensfreiheit nicht der Wille selbst bestritten. Es gibt den Willen durchaus als das menschliche Vermögen zu bejahen und zu verneinen, d. h. er ist ein bestimmtes, in seiner Äußerung abgrenzbares Verlangen, das durch Ursachen determiniert ist. Er ist ein bewußter Affekt, den Kuno Fischer folgendermaßen charakterisiert: "daher muß der Wille, weil er nichts anderes ist als die Bejahung der Natur, das Streben nach Selbsterhaltung, die Begierde nach Macht, den freudigen Affekten zustimmen und sie zu erhalten streben".49 In diesem Punkt kommt Spinozas Machtkonzeption, wie sich zeigen wird, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht überaus nahe. Nur die in der Ethik unterstellte metaphysische Identität von Substanz und Macht soll später nicht mehr gelten. Doch von diesem Vorsatz bleibt kaum mehr als Nietzsches genereller Vorbehalt gegenüber der Metaphysik. Der Sache nach nimmt der Wille zur Macht gerade die Stelle ein, die in einem ausgearbeiteten System einer Substanz zugesprochen werden müßte - freilich einer durch und durch relativierten Substanz, die nur noch an ihrer Funktion erkennbar ist. Deshalb löst sich Nietzsche nur dort wirklich von Spinoza ab, wo er sich eine Übertragung des Machtbegriffs auf einen allmächtigen Gott verbietet. Denn die Konzeption der Allmacht übersteigt nicht nur die menschlichen Vorstellungskräfte, sondern in ihr finden sich auch die für den Machtbegriff konstitutiven Elemente der Vielheit und des Gegensatzes nicht mehr. 47
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Ebd. I, Prop. 18, 120; Κ. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 2, 1897, 359. Der hier von Spinoza gemachte Unterschied zwischen innerer und äußerer Ursache wird später für Nietzsche außerordentlich wichtig. Siehe dazu die folgenden Kapitel V u. VI. Spinoza, Ethik IV, Def. 8, Opera/Werke 2, 1967, 388. K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 2, 1897, 552.
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II. Macht und Metaphysik
Den mit der Allmacht ins System eingerückten Widerspruch sieht Kuno Fischer in ganz analoger Weise mit der radikalen Immanenz der Substanz gegeben. Werde mit der göttlichen Immanenz Ernst gemacht, dann existiere die Substanz wahrhaft nur dann in jedem Ding, wenn jedes Ding auch Substanz ist. Weil aber die Dinge beschränkt sind, ergibt sich eine für Spinoza vernichtende Konsequenz: "Die Substanz hört auf, schrankenlos zu sein, denn als solche [d. h. unendliche, V. G.] ist sie den Dingen nicht wirklich immanent".50 Daraus folgt, daß die Substanz unter der Immanenzprämisse nur als Individualität gedacht werden darf, d. h. als individuelle Kraft, als "eine wirkliche Monas". Der mit Kuno Fischer zu Ende gedachte Spinoza gelangt somit zwangsläufig bei Leibniz an." Wäre Nietzsche der aus dieser Beweisführung folgenden Empfehlung gefolgt, hätte er bei Leibniz auf die fundamentale Stellung der Macht stoßen können, hier nun wieder in enger Verbindung mit dem Willen. Die Monade, die dem Willen zur Macht in wichtigen Zügen gleicht,52 vereinigt in sich drei notwendig zusammengehörende Momente: Macht (Puissance), Erkenntnis (Conoissance) und Willen {Volonté). In dieser Anlage der Monade zieht Leibniz die Konsequenz aus Überlegungen, die er schon früher zur Präzisierung des Substanzbegriffes angestellt hatte. Der wahre Begriff der Substanz fordert die Annahme einer "aktiven Kraft" (vis activa), welche von der "in der Schulphilosophie gemeinhin bestimmten nackten Möglichkeit" (potentia nuda) unterschieden sei. Die aktive Kraft definiert Leibniz als ein "Mittleres zwischen den Vermögen zu handeln und der Handlung selbst"; sie schließt, so betont er ausdrücklich, ein Streben ein: et conatum involvitP In der Monade, in welcher alle Bewegung als Übergang von einer Perzeption zu einer anderen geschieht, heißt das Streben Appetition, das mit zunehmender Klarheit als Wille (Volonté) begriffen wird. Das Modell für diese Konzeption der Monade liegt im menschlichen Handlungsbewußtsein. Die Freiheit des Menschen ist abhängig von jener Macht (pouvoir), die er in sich sel50 51
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Ebd., 582. Daß über diesen Zusammenhang auch ganz anders geurteilt werden kann, belegen fiir die Zeit Nietzsches die Äußerungen F. A. Langes, der Leibniz - bei allem Lob für den Reichtum seines Geistes und die Tiefe seiner Einsichten - eine "klare Weltanschauung" abspricht und es daher auch für vergeblich hält, die "Widersprüche seines Systems bloss aus der abgerissenen Form seiner gelegentlichen Productionen zu erklären" (Geschichte des Materialismus, Bd. 1, 1974, 406 (1866, 215)). Langes Kritik zielt außer auf die Idee der prästabilierten Harmonie auf die Monadenlehre und die damit verbundene Annahme "innerer Zustände" (ebd., 1866, 217). In der zweiten Auflage nimmt Lange von dieser Kritik nichts zurück (ebd., Bd. 1, 406 ff.). Er verschärft im Zusammenhang seiner Aristoteles-Darstellung die Kritik an der Konzeption einer individuellen Substanz (ebd., 68). Einwände dieser Art ließen sich auch gegen Nietzsches Konzeption des Willens zur Macht vortragen. Siehe dazu: F. Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, 1979, 127 - 156; ders., Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, 4 9 - 5 8 . Nietzsche fand in der von ihm bevorzugten Literatur weitgehend negative Urteile über Leibniz vor. Hier ist außer auf F. A. Lange auch auf E. Dflhring (Kritische Geschichte der Philosophie, 1873, 330 ff.) sowie auf A. Spir (Denken und Wirklichkeit, Bd. 1, 1877, 354) zu verweisen. Um so bedeutsamer ist die dem Zeitgeist entgegenstehende systematische Verbindung, über die sich Nietzsche freilich keine Rechenschaft gegeben hat. K. Engelke (Die metaphysischen Grundlagen in Nietzsches Werk, 1942, 56) beklagt mit guten Gründen, daß Nietzsche "den Leibnizschen Begriff des Potentiellen" nicht kenne. G. W. Leibniz, De primae philosophiae emendatione, et de notione substantiae/Über die Verbesserung der ersten Philosophie und über den Begriff der Substanz, Kleine Schriften/Opuscules métaphysices, 1965, 198.
S. Zur politisch-metaphysischen Machtkonstellation in der Moderne (Hobbes, Spinoza, Leibniz)
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ber findet - ce pouvoir, qu'il trouve en luy même [...].·54 Freiheit und Macht aber sind für Leibniz nichts anderes als der an den "tätigen Seienden" (agens) hervortretende Ausdruck des Willens. Und so zeigt sich nirgend anders als beim Menschen jene wechselseitige Verweisung von Freiheit, Wille und Macht, von der das neuzeitliche Selbstverständnis tätiger Subjekte sich wohl bis heute nicht gelöst hat: La liberté est la puissance qu'un homme a de faire ou de ne pas faire quelque action conformément à ce qu'il veut.55 Wie "modern" diese Verbindung von Freiheit und Wille ist, tritt schließlich in der wiederholten Betonung hervor, daß jene Macht oder reale Möglichkeit selbst keinen substantiellen Charakter hat, sondern nicht mehr ist als eine bloße "Beziehung" (relation).56 Auch das spekulative Denken hat sich in dem Jahrhundert nach Leibniz immer wieder um einen Begriff realer Möglichkeit bemüht, der das zielgerichtete lebendige Geschehen zu erfassen vermag. Das Problem der Bewegung, wie es Aristoteles verstand, ist durch die fortschreitende mechanische Erklärung der Natur nicht ausgeräumt. Kants früher Versuch zur Schätzung der "lebendigen Kräfte" oder seine auf kritischem Fundament entwickelte Dynamik, in welcher Nietzsche-Interpreten einen paradigmatischen Vorläufer der Lehre vom Willen zur Macht auszumachen versucht haben,57 Schellingí58 ebenfalls mit Nietzsche in Verbindung gebrachte Potenzenlehre sowie Hegels Verschmelzung von Substanz und Subjekt zur metaphysischen Macht schlechthin59 lassen das Interesse erkennen, gerade auch die mechanischen Prozesse von innen heraus zu verstehen.
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G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen/Nouveaux Essais XXI, § 21, Bd. 1, 1961, 270. "Die Freiheit ist die Macht [reale Möglichkeit], die ein Mensch hat, eine Handlung in Übereinstimmung mit dem, was er will, zu tun oder nicht zu tun." (ebd., § 13; 1, 266) Ebd., § 17; 1, 268. A. C. Danto (Nietzsche as Philosopher, 1967, 221 f.) versucht, den Begriff des Willens zur Macht durch einen Vergleich mit Kants Begriff der bewegenden Kraft, wie er im 2. Hauptstück der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (AA 6, 497 f.) erläutert wird, zu interpretieren. Zu F. W. J. Schelling vgl. §§ 55 - 60 im System der gesammten Philosophie (1804) und die Einleitung zur Philosophie der Kunst. Zum Verhältnis Schelling - Nietzsche vgl. W. Kaufmann, Nietzsche, 1982, 144 ff.; F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, 9 ff. u. 15; ferner die Notiz bei Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, 1961, 478. Daß Hegel eine philosophiegeschichtliche Mittelstellung von besonderer Bedeutung einnimmt, wird deutlich, wenn man seine Bestimmung der Kraft (Logik, 2. Abschn., 3. Kap. Β u. C) sowie seine Deutung der Substanz als Macht (ebd., 3. Abschn., 2. Kap.) mit Nietzsches Willen zur Macht vergleicht. Hier steht eine systematische Untersuchung noch aus. Vgl. die zahlreichen Hinweise bei W. Kaufmann, Nietzsche, 1982; F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, und B. Taureck, Macht, und nicht Gewalt, 1976, 29 - 54, 37 ff. Zum Verhältnis Hegel - Nietzsche siehe: R. F. Beerling, Hegel und Nietzsche, 1961, 229 - 246, sowie den von M. Djuric u. J. Simon herausgegebenen Sammelband: Nietzsche und Hegel, 1992.
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II. Macht und Metaphysik
6. Die Macht des bloßen Willens (Schopenhauer) In dieser Tradition steht schließlich auch Schopenhauers Metaphysik des Willens. Mit einer an Descartes, Spinoza und Kant geschulten Konsequenz wird alles Geschehen auf einen von innen kommenden Antrieb zurückgeführt. Der Wille "als das allgegenwärtige Substrat der ganzen Natur" ist die "ursprüngliche Schöpferkraft" in allen einzelnen Dingen; ihm als einzigem kommt der Titel der "Allmacht" zu (WWV 2, Kap. 25; 3, 372). Wenn in dieser Übersteigerung von Wille und Macht der menschliche Ausgangspunkt verloren zu gehen scheint, dann hat man sich an Schopenhauers Anspruch zu erinnern, er tue nichts anderes als die Welt aus dem Menschen und nicht den Menschen aus der Welt zu verstehen. In seinen Augen ist die Welt nicht mehr und nicht weniger als ein "Makranthropos" (ebd., Kap. 50; 3, 739). Nur im Zeichen dieser Analogie läßt sich die in ihrer systematischen Geschlossenheit höchst eindrucksvolle Metaphysik Schopenhauers verstehen. Denn woher haben wir einen Begriff von der Wirkungsmacht des Willens, wenn nicht von uns selbst, vom Menschen her? - Es genügt, sich Schopenhauers Herleitung des Willens als der in allen Vorgängen der Natur wirksamen Kraft zu vergegenwärtigen, um Klarheit darüber zu gewinnen, daß hier letztlich eine Philosophie der Macht entworfen ist. Die aber ist so entschieden allein auf die menschliche Selbsterfahrung gestellt, daß nur vom inneren Prinzip der Macht gesprochen werden kann. Dieses Prinzip aber liegt in nichts anderem als im Willen. Der Sache nach hätte Schopenhauer seinem Hauptwerk auch einen kürzeren Titel geben können, nämlich: "Die Welt ist Macht". Zur Erläuterung hätte er lediglich hinzufügen müssen, daß sich die Macht - wo immer wir Anschauungen und Begriffe von ihr haben - auch als Vorstellung äußert. Wann immer wir jedoch von uns selbst her zu verstehen suchen, was an der Macht wesentlich ist, stoßen wir auf den Willen. Der Wille ist das "innerste Wesen der Welt" (WWV 1, § 7; 2, 37), die "innere Kraft", durch die jegliche Wirkung überhaupt erst in ihrer metaphysischen Verfassung, nämlich als Wirkungsmacht, erkannt werden kann. Es versteht sich von selbst, daß Schopenhauer, der die Metaphysik mit guten Gründen für unverzichtbar hält,60 für sein systematisches Vorhaben den Begriff bevorzugt, der einer letztlich nur von innen her vernehmenden menschlichen Vernunft näher ist (ebd., § 8; 2, 44 ff.). Deshalb steht seine Metaphysik unter dem Titelbegriff des Willens, obgleich sie in allem, worüber sie spricht, die Macht zu ihrem Gegenstand hat. 60
Der Mensch ist das animal metaphysicum (WWV 2, Kap. 17; 3, 176). Mit Blick auf die großen Fragen des Daseins gibt es keinen Unterschied zwischen Metaphysik und Philosophie. Wie schon bei Kant fallen Philosophie und Metaphysik letztlich in eins. Schopenhauer trennt allerdings die "Volksmetaphysik", die ihr Kriterium "außer sich" hat, auf einen autoritätsgestützten Glauben gegründet ist und weitestgehend mit der Religion zusammenfällt, scharf von jener "Metaphysik", die ihr Kriterium "in sich" hat. Diese Form ist auf das Denken gegründet und kann nur von wenigen Menschen betrieben werden. Sie trägt den Titel der Philosophie (ebd., 180 f.).
6. Die Macht des bloßen Willens (Schopenhauer)
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Auf den Willen stößt Schopenhauer bekanntlich nach der Analyse des Satzes vom zureichenden Grund, den er auf eine "vierfache Wurzel" (einephysische, logische, mathematische und praktisch-moralische) zurückführt (VW; 1, 154). Durch den Satz vom Grund wird Notwendigkeit begründet; er macht es möglich, die Unausbleiblichkeit einer Folge zu denken; dies aber nur, sofern es tatsächlich einen Grund gibt. Dies ist die für Schopenhauer entscheidende Kondition: In allen seinen Gestalten führt der Satz vom zureichenden Grund nur dann auf eine sinnvolle Aussage, wenn auch wirklich ein Grund gegeben ist: "Demnach ist jede Notwendigkeit bedingt-, absolute, d. h. unbedingte Notwendigkeit ist also eine contradictio in adiecto." (ebd., 153) Ein Schluß auf einen absoluten Grund des Daseins, von dem alle unsere Schlüsse von einer Folge auf den Grund ihren Ausgang nehmen, ist daher prinzipiell unmöglich. Erkennend bleiben wir unausweichlich in der bedingten, d. h. in der endlichen Welt. Die aber denken wir uns nur mit Hilfe eben jener Schlüsse, die zu einer gegebenen Folge einen (sie bedingenden) Grund ermitteln. Also können wir die Welt, wie sie uns unsere Sinne darbieten und wie unsere Vernunft sie erschließt, mit rationalen Gründen nicht verlassen.61 Erkennend verbleiben wir somit ganz und gar in eben der Welt, die unserer Vorstellung entspricht. Zu den Gründen, die wir in der endlichen Welt erschließen, gehören auch die Motive, die unsere Handlungen leiten. Nach Schopenhauers Einteilung zählen die Motive zu den Gründen moralisch-praktischer Art. Sie sind im "Gesetz der Motivation" (principium rationis sufficientis agendi) zusammengefaßt, und wir stoßen auf sie, wann immer wir jemanden fragen, warum er etwas getan oder unterlassen hat: "Bei jedem wahrgenommenen Entschluß sowohl Anderer, als unserer selbst, halten wir uns für berechtigt, zu fragen Warum? d. h. wir setzen als nothwendig voraus, es sei ihm etwas vorhergegangen, daraus er erfolgt ist, und welches wir den Grund, genauer, das Motiv der jetzt erfolgenden Handlung nennen. " (ebd., 144) Im Vergleich mit den drei anderen Typen von Gründen liegt die Eigentümlichkeit der Motive darin, daß ihr Verständnis auf innere Erfahrung angewiesen ist. Man hat in sich zu gehen, will man sich auch nur bewußt machen, was eigentlich Motive sind. Darüber hinaus wissen wir nur aus der "an uns selbst gemachten innern Erfahrung" von der Verknüpfung des Motivs mit dem "Willensakt", in dem eine in uns wirkende Natur- oder Lebenskraft in die bewußte Tat übergeht. Zwar bleibt "die Hauptsache dabei [...] ein Mysterium": "Das Innere solcher Vorgänge" wird uns auf immer ein "Geheimniß" sein (ebd.). Doch daran können wir gewissermaßen teilhaben - indem wir in uns gehen. 61
In den Worten Schopenhauers: "Der allgemeine Sinn des Satzes vom Grunde überhaupt läuft darauf zurück, daß immer und überall Jegliches nur vermöge eines Anderen ist. Nun ist aber der Satz vom Grunde in allen seinen Gestalten a priori, wurzelt also in unserem Intellekt: daher darf er nicht auf das Ganze aller daseienden Dinge, die Welt, mit EinschluB dieses Intellekts, in welchem sie dasteht, angewandt werden. Denn eine solche, vermöge apriorischer Formen sich darstellende Welt ist eben deshalb bloße Erscheinung." (VW; 1, 158)
54
II. Macht und Metaphysik
Dieser Rekurs auf die innere Erfahrung ist nicht nur für die Willensmetaphysik Schopenhauers von größter Bedeutung; auch Nietzsche vermag sich, wie wir sehen werden, nur von innen her einen Zugang zum Willen zur Macht zu eröffnen. Deshalb ist es doppelt aufschlußreich, wie nachdrücklich der Ältere die methodische Introvaganz seines Ansatzes betont: "Die Einwirkung des Motivs also wird von uns nicht bloß, wie die aller Ursachen, von außen und daher nur mittelbar, sondern zugleich von innen, ganz unmittelbar und daher ihrer ganzen Wirkungsart nach erkannt. Hier stehn wir gleichsam hinter den Koulissen und erfahren das Geheimniß, wie, dem innersten Wesen nach, die Ursache die Wirkung herbeiführt." So erschließt sich endlich "der in uns selbst wahrgenommene Wille". Mit diesem Willen ist Schopenhauer schon ganz nahe an dem rational gar nicht zu fassenden metaphysischen Impuls allen Daseins. Deshalb überrascht es auch nicht, daß hier in der zweiten Auflage der Dissertation das Bekenntnis folgt: "Diese Einsicht ist der Grundstein meiner ganzen Metaphysik." (ebd., 145) Die Pointe dieser Metaphysik liegt nun wiederum nur in einer Verschärfung der Einsicht, "das von außen dem Wesen der Dinge nimmermehr beizukommen ist" (WWV 1, § 17; 2, 118). Wer einen Zugang nur von außen her sucht, "gleicht Einem, der um ein Schloß herumgeht" ; er wird vergeblich einen Eingang suchen und kommt nur dazu, die Fassaden zu skizzieren. Und darauf folgt die Behauptung, mit der sich Schopenhauer von aller Philosophie vor ihm abzusetzen versucht: "Und doch ist dies der Weg, den alle Philosophen vor mir gegangen sind. " (ebd.) Alle Philosophen, Kant und Piaton eingeschlossen, sind im Außenbezirk der Wesenserkenntnis verblieben, weil sie ihre Erkenntnis auf die Gründe erschließende Vernunft beschränkt haben. Doch mit den zureichenden Gründen gelangt man nur von einem Dasein auf ein anderes, niemals aber zu dem, was jeweils in ihm wirkt. Schopenhauer glaubt hier weiter zu kommen als jeder andere vor ihm, weil der Weg nach innen in solche Tiefen führt, daß schließlich auch noch das Denken außen vor gelassen werden muß. Wenn auch noch die zureichenden Gründe äußerlich bleiben, dann hat man sich in ein derart abgründiges Inneres vorgewagt, wo auch das inwendige Medium allen Philosophierens, nämlich die Vernunft, ihren Dienst versagt. Daß Schopenhauer diesen wesenhaften Verzicht auf die Vernunft unter Aufbietung so vieler vernünftiger Einsichten nahelegt und ihn durch ein rational durchgebildetes System auch noch zu begründen versucht, gehört zu den überragenden Leistungen seines Denkens. Mit äußerster Vernunft versucht er bis an ihre innere Grenze vorzustoßen. In einer kritischen Erörterung seines Systems könnte man ihm den Vorwurf nicht ersparen, daß er diese Grenze - gegen das von ihm ausgesprochene Verbot - selbst überschreitet. Denn das, was er in sich entdeckt (und nach den eigenen Prämissen auch nur in sich entdecken kann), glaubt er schließlich in allem anzutreffen. Die so entschieden behauptete und dann doch nicht konsequent beachtete Erkenntnisgrenze stellt Schopenhauer unter den Titel des Willens. Er glaubt, das bewußte Wollen als das in
6. Die Macht des bloßen Willens (Schopenhauer)
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ihm selbst erfahrene äußerste Innere ausmachen zu können, über das hinaus keine weitere Erkenntnis reichen kann. Der Satz vom zureichenden Grund hat im Willen sein definitives Ende. - Lassen wir beiseite, daß Schopenhauer, um zu dieser Konsequenz zu gelangen, seine selbstgesetzte Erkenntnisschranke schon übersprungen haben muß. Denn was er mit dem Willen anspricht und dann in eine alles tragende, alles veranlassende metaphysische Position versetzt, ist schon nicht mehr das in der Selbsterfahrung allein zu erschließende bewußte Wollen, sondern ein vorbewußter (letztlich außerhalb allen Wissens und Denkens "blind" wirkender) Trieb, der allenfalls nach Analogie des Willens gedacht werden kann. Doch Schopenhauer ist sich der Problematik seines metaphysischen Vorgehens auf ein gänzlich unbegehbares Terrain voll bewußt, denn er nennt diesen triebhaften, nicht nur in sich, sondern in allem Geschehen wirkenden Willen "Ding an sich": "alle Vorstellung, welcher Art sie auch sei, alles Objekt, ist Erscheinung. Ding an sich aber ist allein der Wille" (ebd., § 21; 2, 131). So abenteuerlich diese Schlußfolgerung auch klingen mag, so plausibel erscheinen die wenigen Schritte, mit denen Schopenhauer sie erreicht: Erstens ist bereits durch das Gesetz der Motivation ausgemacht, daß zu jedem Willensakt auch ein Motiv gehört, das ihn "verursacht". Wenn aber dieses Gesetz nicht nur für den (bewußten) Willen und sein bewußtes Motiv, sondern für alles bewußt erfahrene Streben gelten soll, dann muß man zweitens auch unbewußte Motive zu den notwendig erschlossenen Gründen rechnen. Da drittens jeder Bewußtseinszustand auf irgendetwas ausgerichtet ist und insofern auch als ein Streben begriffen werden kann, beruht alles Bewußtsein auf Motiven, die sich letztlich im Unbewußten verlieren. Diese Motive müssen viertens als Triebe gedeutet werden, die ihren Ursprung in der leiblichen Dynamik des menschlichen Lebens haben. Der Leib - "nichts Anderes, als die Erscheinung des Willens, die Sichtbarwerdung, Objektität des Willens" (ebd., § 20; 2, 129) - ist das offenbare Zentrum der Willensaktivität; über ihn wird die Anschaulichkeit der vorgestellten Motive ebenso vermittelt wie ihre physische Kraft in der Ausführung; der Leib ist es überdies, der die Analogie zwischen den bewußten Strebungen und den kausal wirkenden Kräften trägt. In ihm sind intelligibles Selbstbewußtsein und empirische Natur zu einer Einheit verbunden; er ist "das einzige wirkliche Individuum in der Welt" (ebd., § 19; 2, 124) und somit auch das einzige wirklich-wirksame Verbindungsstück zwischen Geist und Stoff. Der Leib kommt in diese Mittelstellung aber nur, weil nur in ihm und nur durch ihn der bewußte Wille wirkt. Und nur weil dies so ist, eröffnet sich über den Leib - und nur über ihn - der metaphysische Weg vom vorstellenden Bewußtsein in den grundlos grundgebenden Wirbel des welterzeugenden Wollens. Stärker kann die systematische Stellung eines Daseienden gar nicht sein. Denn anders als das Selbstbewußtsein gehört der Leib zweifelsfrei zu den realen Dingen der Erscheinungswelt.
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II- Macht und Metaphysik
Mit der organischen Verankerung der Triebe im Leib aber ist fünftens der allgemeine Ort des Willens in der Natur gefunden: Denn alles lebendige Geschehen ist von einer in ihr wirkenden Dynamik angetrieben. Da Schopenhauer zwischen "Trieb" und "Motiv" nicht unterscheidet, "Motiv" aber nur ein Synonym für "Wille" ist, kann er den äußersten inneren Beweggrund aller bewußten und unbewußten Vorgänge einem einzigen Begriff unterstellen. Dieser Begriff ist der Wille zum Leben. Wer aber in seinen Schlußfolgerungen erst einmal so weit gegangen ist, der kann auch noch einen weiteren, den sechsten Schritt anschließen und diesen Willen zum Leben allen Naturvorgängen unterstellen. So wird der Wille als Wille zum Leben zur basalen Triebkraft allen Geschehens überhaupt. Über einen Impuls, der ursprünglich nur aus der menschlichen Selbsterfahrung bekannt ist (und letztlich darin auch verbleibt),62 gelangt Schopenhauer am Ende zu einem metaphysischen Grundtrieb, dem sich schlechterdings alles verdankt, was immer Sein oder Werden genannt werden kann. Als "Ding an sich" bezeichnet dieser Trieb "das innerste Wesen jedes Dinges" (ebd., § 22; 2, 133). Alles, ob Mensch, Tier oder Pflanze, ob Magnet oder Kristall, Stein, Planet oder Sonnensystem, wird durch ihn gemacht und bewegt. Ja, alle einzelnen Dinge der Natur sind nur nach ihrer Erscheinung verschieden; "ihrem inneren Wesen nach" sind sie jedoch "als das Selbe zu erkennen". Dem Philosophen zeigen sie sich "als jenes ihm unmittelbar so intim und besser als alles Andere Bekannte, was da, wo es am deutlichsten hervortritt, Wille heißt" (ebd., § 21; 2, 131). Wir brauchen hier nicht weiter zu betonen, daß Schopenhauer die Aussagen über den allen Dingen zugrundeliegenden Willen nicht im Sinne rational begründeter Erkenntnis verstanden wissen will; er vergißt keineswegs, die unübersteigbaren Schranken rationaler Erkenntnis immer wieder in Erinnerung zu rufen; außerdem soll die Rede vom "Ding an sich" die alle Vorstellung und Begründung übersteigende Position des Willens bereits terminologisch kenntlich machen. Wir brauchen auch nicht zu fragen, ob Schopenhauer, entgegen seiner fortgesetzten Versicherung, die exponierten Erkenntnisgrenzen schon dadurch überschreitet, daß er den metaphysischen Willen als eine dem menschlichen Wollen analoge "Einheit" ("frei von aller Vielheit"·, ebd., § 23; 2, 134) ansieht. Es genügt, die epistemologische Verbindung des metaphysischen Grundtriebes zum menschlichen Willen herauszustellen. Denn von hier aus ergibt sich nicht nur eine beachtenswerte Parallele zu Nietzsche,63 sondern es tritt so auch die untergründige Verbindung zwischen Wille und Macht hervor. Erst diese offenkundige Beziehung macht es bemerkenswert, daß Schopenhauer den von ihm in 62
63
Der Wille wird immer wieder als bloßes "Gefühl" relativiert. Vgl. dazu WWV 1, § 21; 2, 130. In den §§ 17 21 (2, 113 - 131) finden sich die Überlegungen, die hier auf sechs Argumentationsschritte zusammengedrängt sind. Hinzuweisen ist ferner auf die parallelen Kapitel im 2. Band des Hauptwerks, hier vor allem auf Kap. 19 "Vom Primat des Willens im Selbstbewußtsein" (WWV 2, Kap. 19; 3, 224 ff.). Die ist, wie sich zeigen wird, so unabweisbar, daß man Heideggers Behauptung, Nietzsche habe seinen Willensbegriff nicht aus Schopenhauers Büchern "herausgeklaubt" (Nietzsche, Bd. 2, 1961, 239), zwar im Wortsinn für richtig, in der Sache gleichwohl fur eine Irreführung halten muß.
6. Die Macht des bloßen Willens (Schopenhauer)
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das unausdenkbare Zentrum allen Geschehens gerückten Grundtrieb nicht unter den Titel des Machtstrebens, sondern allein unter den des Willens stellt. Um die Verbindung des Willens mit der Macht sichtbar zu machen, empfiehlt es sich zunächst, an Schopenhauers Begründung für die terminologische Entscheidung über seinen Grundbegriff zu erinnern: "Bisher subsumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft: dagegen mache ich es gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen." (ebd., § 22; 2, 133) Die Begründung dafür erfolgt aus einem doppelten Zugriff: Zum einen gehört die Kraft zu den Erscheinungen der objektiven Welt; deshalb kann sie schwerlich auf ein ganz anderes jenseits der physischen Dinge verweisen. Das aber ist beim Willen anders: Denn er ist, nach Schopenhauer, der "einzige, unter allen möglichen, welcher seinen Ursprung nicht in der Erscheinung, nicht in bloßer anschaulicher Vorstellung hat, sondern [der] aus dem Innern kommt, aus dem unmittelbarsten Bewußtsein eines Jeden hervorgeht [...] " (ebd.). Der Wille gehört der physikalischen Welt zumindest nicht völlig zu. Deshalb ist einzig von ihm zu erwarten, daß wir über ihn etwas vernehmen,64 was über das physische Dasein hinausreicht. Zum anderen aber - und dieses zweite Argument läuft dem ersten nur scheinbar entgegen - ist der Wille das einzige Phänomen, mit dem wir ursprünglich vertraut sind. Wir müssen mit ihm bekannt sein, ehe wir überhaupt eine Kraft erfahren können. Was diese so selbstverständlich erscheinende These für die Beziehung des Menschen zu seiner Welt bedeutet, ist bis heute nicht hinreichend ausgelotet. Lediglich Dilthey hat versucht, eine Demonstration der Realität der Außenwelt auf diese Priorität der Selbsterfahrung zu gründen.65 Würden wir also, wie es bisher üblich war, vom Willen auf die Kraft schließen, gingen wir von etwas unmittelbar Bekanntem zu etwas vergleichsweise Unbekanntem über. Einen Zugewinn an Einsicht dürften wir dabei nicht erhoffen. Gehen wir jedoch umgekehrt vor und fuhren den Begriff der Kraft auf den des Willens zurück, "so haben wir in der That ein Unbekannteres auf ein unendlich Bekannteres, ja, auf das einzige uns wirklich unmittelbar und ganz und gar Bekannte zurückgeführt und unsere Erkenntnis um ein sehr großes erweitert" (ebd.). Es ist also die intime Vertrautheit des nachdenkenden Individuums mit seinen praktischen Impulsen, die zur metaphysischen Priorisierung des Willens führt. Schopenhauer bleibt beim methodologischen Primat des Selbstbewußtseins und geht nur insofern über Kant und Fichte hinaus, als er den Vorrang des praktischen Selbstbewußtseins auch schon für das theoretische Wissen ernst zu nehmen versucht. Um etwas wirklich (oder auch nur annähernd) zu ver64
65
"Vernunft", so heißt es einige Paragraphen vorher, "kommt von Vernehmen, welches nicht synonym ist mit Hören, sondern das Innewerden der Worte durch mitgeteilte Gedanken bedeutet." (WWV 1, § 8; 2, 44) In diesem Zusammenhang plädiert Schopenhauer - ohne jeden theologischen Hintersinn - dafür, nicht länger von einem Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung auszugehen! W. Dilthey, Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht (1890), Gesammelte Schriften 3, 1964, 90 - 138.
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II. Macht und Metaphysik
stehen, muß es der Mensch zu sich selbst als Person in Beziehung setzen. Wer und was jemand ist, das zeigt sich in dem, was er aus sich selber macht: "Was Einer ist" - das läßt sich durch eine einfache Aufzählung bestimmen: "Persönlichkeit im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen". (LW, Kap.l; 5, 335) In alledem zeigt sich die Kraft des Individuums, hinter der ein Wille steht. Auch wenn in der Aufzählung "Kraft" als einzelnes Attribut auftritt (und hier die geistige und körperliche Stärke, die Widerstands- und Durchsetzungskraft bezeichnet), ist es in metaphysischer Perspektive erlaubt, alle genannten Persönlichkeitsmerkmale als Zeichen der Kraft zu deuten. Sie sind Ausdruck der Vermögen, in einer bestimmten Weise zu wirken,66 Und als solche sind sie Anzeichen der Macht eines Individuums. Macht ist mögliche Kraft sub specie des Willens. Es gibt viele Belege dafür, daß Schopenhauer auch so hätte reden können. Schon im Verhältnis zu sich selbst geht es um das elementare Vermögen der Selbstschöpfung. In ihr liegt die eigentliche Freiheit des Menschen. Hier, wo es, im klassischen Sinn der Machtausübung, darauf ankommt, "daß man überall Herr werden soll" (PM 19; 5, 469), hat der Mensch das "Erste und Wesentlichste" seines Daseins zu verantworten, nämlich das, was er ist. In seinem selbstgestalteten Sein liegt das "Objektive" seines Lebens. Demgegenüber steht das "Subjektive" unseres Dasein "gar nicht in unserer Macht" (LW, Kap. 1; 5, 337). Die zunächst befremdlich erscheinende Verkehrung des üblichen Sinns von "subjektiv" und "objektiv" ist vom alles zentrierenden Ausgangspunkt im Selbst des Individuums durchaus konsequent. Der Lauf der Welt mit seinen Zeit- und Glücksumständen ist das "Subjektive"; ihn können wir nur partiell und mit unsicherem Ausgang bestimmen; in ihn muß man sich schicken. "Objektiv" dagegen sind die praktischen Bestimmungen des Selbstbewußtseins, denn sie legen fest, wie und was der Mensch als das aus seinem Willen lebende Wesen eigentlich ist. Und dieses Sein des individuierten Wollens ist die ursprüngliche Macht. Denn sie legt die Ordnung und den Wert aller äußeren Beziehungen fest. Der Machtcharakter der voluntativen Selbstbestimmung tritt nicht nur im Binnenverhältnis als Selbstherrschaft hervor, sondern er kennzeichnet auch das Verhältnis zu den äußeren Mächten der Welt. Wenn Schopenhauer etwa den "Dämon" aus Goethes "Urworte - Orphisch" zitiert, dann wird deutlich, daß auch das individuelle Selbst seine Einheit als Macht unter Mächten zu behaupten und zu sichern hat: "So mußt du seyn, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
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"Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen ausgefüllt werden [...]." (LW, Kap. 6; 5, 470)
6. Die Macht des bloßen Willens (Schopenhauer)
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Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. " 67 Daß dabei nicht im engeren Sinn nur an gesellschaftliche oder rein politische Mächte gedacht wird, liegt schon von Goethe her nahe. Schopenhauer selbst nennt "drei Weltmächte": "Klugheit, Stärke und Glück", wobei er dafür hält, daß die "Macht des Glücks" am meisten vermag (PM 48; 5, 498). Da aber mit "Klugheit" und "Stärke" auch zwei Mächte genannt sind, die sich mit dem individuellen Wollen verbinden können, wird offenkundig, daß die Macht ihren Platz nicht nur auf der Gegenseite des Selbstbewußtseins bezieht. Der "Wille zum Leben" kann, ja muß sich vielfältiger anderer Materialien "bemächtigen" (WWV 2, Kap. 24; 3, 353). Folglich ist auch und gerade der Wille des Individuums eine Macht. Wäre dem anders, ließe sich nicht von der nur den Willen kennzeichnenden Freiheit als einer "Allmacht" sprechen. Das ist eine unerhörte Weiterung, denn es ist diese Allmacht des freien Willens, "als deren Aeußerung und Abbild die ganze sichtbare Welt [...] dasteht" (WWV 1, § 56; 2, 363). Bedürfte es noch eines weiteren Belegs dafür, daß Schopenhauers Willenslehre mit einer Philosophie der Macht zur Deckung zu bringen wäre, so ließe sich auf die mögliche Subtilität der Machterfahrung verweisen. Auch sie steht dem Erleben des Willens um nichts nach. Wäre dem anders, könnte nicht von der "Uebermacht des vernünftigen Wollens über das bloß thierische" die Rede sein (ebd., § 23; 2, 139). Schopenhauer würde auch schwerlich Kants Formeln von der "Macht" und "Uebermacht" des Erhabenen übernehmen, wenn die Macht etwas dem Willen Fremdes wäre (ebd., § 39; 2, 237 u. 241). Erst recht wäre es ihm unmöglich, die Musik, die höchste Form der Selbstüberbietung des individuellen Wollens, gleich dreimal hintereinander als die "mächtigste Kunst unter allen" zu bezeichnen (WWV 2, Kap. 39; 3, 512). Gleichwohl ist festzuhalten, daß Schopenhauer keine Metaphysik der Macht, sondern eine des Willens entworfen hat. Sein Ausgangspunkt beim Selbstbewußtsein läßt die terminologische Priorisierung des Willens auch eher als eine Selbstverständlichkeit erscheinen. Deshalb wäre es gewiß eine Zumutung, Schopenhauer nachträglich Gründe für eine unterstellte Entscheidung zwischen Macht und Wille abzuverlangen. Aus der Sicht des Individuums hat allemal der Wille Priorität. Das scheint auch Nietzsche geahnt zu haben, als er, trotz seiner wiederholten Verwerfung des Willens, nicht direkt zur Macht übergegangen ist, sondern sich ihr über den Willen zur Macht zu nähern suchte. Nachdem wir aber gesehen haben, daß die Metaphysik des Willens, von der Nietzsche seine erste philosophische Problemstellung bezogen hat, sachlich mit einer Metaphysik der Macht zur Deckung zu bringen wäre, wird es zu einer auch geschichtlich 67
LW, Kap. 1; 5. 340.
60
II. Macht und Metaphysik
interessanten Frage, warum der Schüler hier so entschieden mit seinem Lehrer gebrochen und mit allem Pathos nach einem Übergang vom Willen zur Macht gesucht hat. Doch dieser Frage können wir uns erst dann zuwenden, wenn wir auch einen Blick auf die Ideengeschichte der politischen Macht geworfen haben. Das geschieht im folgenden Kapitel - erneut aus einer Perspektive, die von Nietzsche her naheliegt.
III. Macht und Politik Begriffsgeschichtliche Aspekte mit Blick auf Nietzsche
1. Der unbedingte Wille zur Realität Mit der metaphysischen Allgemeinheit verblaßt das menschliche Gesicht der Macht. Man kann aus den mit ihr verbundenen, ebenfalls hochabstrakten Momenten nur schließen, nach welchem Modell sie entworfen ist. Deutlicher ist der Bezug zu einer anderen Tradition des Machtdenkens, in die sich Nietzsche selbst gerne und vernehmlich stellt: "Thukydides und, vielleicht, der principe Macchiavell's sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der Realität zu sehn, - nicht in der 'Vernunft', noch weniger in der 'Moral' ..." (GD, Alten 2; 6, 156). Das Machtdenken der Griechen ist von außerordentlicher Vielfalt, die sich schon in den frühesten Zeugnissen erkennen läßt und die auch sprachlich reichen Ausdruck gefunden hat.1 Diese Vielfalt wird sozialgeschichtlich durch die instabilen Verhältnisse erklärt, in welchen sich nur in geringem Maß institutionelle Machtformen ausbilden konnten.2 Dadurch, daß bereits im politischen Leben des 7. Jahrhunderts v. Chr. nicht mehr auf eine einzige Machtquelle rekurriert werden kann, kommen verschiedene Ursprünge der Macht zum Vorschein: neben der ererbten Stellung auch der erworbene Reichtum, die physische und organisatorische Stärke, das Auftreten vor der Menge und die persönliche Überlegenheit. Es hat den Anschein, als trete die Macht selbst erst unter den Bedingungen der Konkurrenz rivalisierender Gruppen und Personen hervor, als gewinne sie erst dort Gestalt, wo sie um ihren Bestand fürchten, ihren Ausbau gegen Widerstände organisieren und ihre Wirkungen bewußt einschätzen muß. Diese Komponenten werden bereits in der Literatur der vorperikleischen Zeit sichtbar.3 In Thukydides' Geschichte des Peloponnesischen Krieges, in der großartig-nüchternen Darstellung einer immer komplexer und heilloser werdenden Verstrickung politischer Mächte, treten sie mit begrifflicher Schärfe hervor. Das Geschichtswerk des Thukydides legt die Ver1
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FQr "Macht" stehen: bia (βία), dynamis (δύναμις), kratos (κράτος), exousia (è{ουσία), arche (άρχή), ischys (ισχύς), kyros (κύρος). Zur Vielfalt des Gebrauchs in der klassischen Zeit siehe: J. Vogt, Dämonie der Macht (1950), 1968, 282 - 308, 282 ff. C. Meier, Art. "Macht/Gewalt", siehe K.-G. Faber u. a., Art. "Macht/Gewalt", Geschichtl. Grundbegriffe, Bd. 3, 1982, 820 ff. Siehe: C. Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, 1988, 75 ff.
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III. Macht und Politik
mutung nahe, daß ein Bewußtsein der Macht sich um so stärker entwickelt, je größer der Druck ist, der auf ihr lastet, und je drohender die Gefahren sind, die ihrer Ausweitung oder ihrem Erhalt entgegenstehen. Erst im Licht dieses Bewußtseins tritt die Macht als Macht hervor - offenbar nicht nur für den Beobachter, sondern auch für die am Machtkampf Beteiligten. Ein früher Reflex der instabil gewordenen Machtlage findet sich in der Spruchdichtung des Theognis, die nicht nur erwähnenswert ist, weil Nietzsche mit ihr besonders vertraut war.4 Die gefährdete Stellung des Adels, als dessen Sprecher Theognis auftritt, soll durch die Berufung auf das von den Göttern stammende Vorrecht wieder gefestigt werden. Das Privileg des Adels gründet gleichermaßen in der hohen Geburt und in der sittlichen Tugend, die stärker als bei Homer den äußeren Erfolg einschließt. In der Betonung des Erfolgs liegt der Nachdruck bereits auf einem Mittel der Macht, die das Urteil der Menge zu berücksichtigen hat. Ein anderes bewußt erfaßtes Mittel ist die Verstellungskunst, die den Standesgenossen mehrfach empfohlen wird, damit sie sich nach Art des Polypen den geänderten Bedingungen anzupassen lernen.5 Daß dies als ein Rat für den bloß äußeren Gebrauch des Mittels verstanden werden muß, belegt die immer wiederkehrende Kritik an der Versippung der Aristokratie mit dem reichen Pöbel.6 Der Dichter versucht, die hohe Gesinnung, die Reinheit des Blutes und die Festigkeit des Charakters als die eigentlichen Ursprünge einer machthabenden gesellschaftlichen Stellung zu retten; doch in seiner Kritik werden auch andere Elemente der Macht sichtbar: der Reichtum, die List und der Erfolg des öffentlichen Auftretens. Freilich ist dies weder im Kyrnosbuch noch in den anderen erhaltenen Distichen näher ausgeführt. Theognis ist kein Dichter der Polis. Seine Zweifel an der Güte der Götter und an der Vernunft seiner Standesgenossen fuhren ihn letztlich aus dem politischen Raum hinaus. Das im politischen Zusammenhang dominierende Problem des 5. und 6. Jahrhunderts ist auch nicht mehr die Erhaltung einer bestimmten Machtposition, sondern die Bindung der Macht an das Recht. Die ίσοκρατία ist das Ziel eines verfassungsmäßigen Ausgleichs der innerhalb der Städte hervortretenden Gewalten. Die Teilhabe breiter Schichten an der Verantwortung in der Polis, die durch die 'ισονομία geregelt werden soll, läßt sich ohne Gesetz gar nicht denken. Die großen Tragiker sind die Anwälte der neuen Ordnungsvorstellung. Aischylos schildert die Willkürherrschaft nach Kronos' Sturz und zeigt, wie Zeus durch Gerechtigkeit dem selbstzerstörerischen Kampf der Götter ein Ende macht. Der Schutz der Bürger durch die Macht der Polis wird beschworen und gefeiert. Mit der rechtlichen Ver-
5 6
siehe dazu den von R. Blunck erarbeiteten ersten Teil der Nietzsche-Biographie von C. P. Janz, Nietzsche, Bd. 1, 1978, 122 f., 186 ff. u. 191 ff. - Die hier gegebene kurze Charakterisierung läßt die gewollte Nähe Nietzsches zu Theognis erkennen. Theognis, 213 ff.; 219 f. Ebd., 43 ff.; 53 ff.
1. Der unbedingte Wille zur Realität
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bindung verschiedener Mächte zu einer Regierungsmacht erweitert sich auch das Verständnis des Machtbegriffs. Das amtsmäßige, institutionelle Moment tritt stärker hervor; Macht bekommt die Züge von Herrschaft (κράτος), die einem vom Herrscher und Beherrschten anerkannten Prinzip folgt. Macht ist nicht allein das, was eines Gesetzes bedarf, sondern auch das, was aus einem Gesetz folgt.7 Mit der Verfassungsgebung der Polis im 5. Jahrhundert bekommt jedoch das Machtbewußtsein eine weitere Dimension, die das Erreichte zugleich auch wieder gefährdet. Christian Meier hat darauf hingewiesen, daß mit dem Gelingen der Normierung der Macht, mit der Fähigkeit zur eigenen Gestaltung der Polis-Ordnung das Selbstbewußtsein der politisch Handelnden wächst. Die Möglichkeiten der eigenen Ordnungsleistung werden höher eingeschätzt: "Mit der Verfügung über die politische Ordnung aber tat sich sogleich die Freiheit zu ungemein tiefgehender, willkürlicher Machtausübung auf. Eine eigenständige politische Handlungsintention entsteht in der Tat erst mit dieser Erfahrung. Der Anspruch, allein im Namen der Macht über untergeordnete Mächte zu gebieten, findet erst hier seinen Grund. Die außenpolitischen Konsequenzen dieser zunächst in Athen gewachsenen Machtvollkommenheit werden im Peloponnesischen Krieg offenkundig. Schon in der den Krieg einleitenden Debatte um Poteidaia warnen die Korinther vor dem Machtstreben der Athener: "Sie sind Neuerer, leidenschaftlich, Pläne auszudenken und Beschlossenes wirklich auszuführen [...]". 9 Die athenischen Gesandten verteidigen sich mit dem Hinweis auf die menschliche Natur, die überall von "drei so starken Mächten wie Ehre, Furcht und Vorteil" bestimmt sei. Doch sie lassen auch ihren besonderen Herrschaftsanspruch durchblicken, indem sie darauf hinweisen, daß sie bei aller Gewalt "gerechter bleiben, als wir unserer tatsächlichen Macht (δύναμις) nach müßten" (I 76; 1, 98). Den Horizont ihres Machtbewußtseins lassen die Vertreter des attischen Bundes erkennen, wenn sie als allgemeine Ansicht behaupten: "Wer nämlich knechten (βιάξ(σθαι,) kann, braucht nicht zu rechten", nach der sie selbst aber nicht zu handeln brauchen (I 77; 1, 100). Ihnen fällt die Macht "auch ohne Gewaltsamkeit (βία) zu" (175; 1, 96); sie beherrschen ihre Untertanen mit Maß. Die Geschichte - und gerade die von Thukydides überlieferte Geschichte - lehrt den Vorrang der Macht vor dem Recht. Die Größe Athens zeigt sich in dem (freilich nur propagierten) Anspruch, mit ihrer Macht das Recht zur Geltung bringen zu können. Dieser Anspruch gehört zu den auslösenden Faktoren des Peloponnesischen Krieges. Dies aber keineswegs bloß deshalb, weil sie ihn einseitig durchsetzen wollen, sondern weil der überall keimende Haß der Beherrschten das mächtige Athen viel entschiedener zum Handeln zwingt, als die frontalen Aktionen des militärischen Gegners. 7 8
9
Vgl. dazu: i. Vogt, Dämonie der Macht und Weisheit der Antike (1950), 1968, 282 - 308. C. Meier, Art. "Macht/Gewalt", siehe K.-G. Faber u. a., Art. "Macht/Gewalt", Geschichtl. Grundbegriffe, Bd. 3, 1982, 825. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges I, 70, Teil 1, 1993, 88. Die in Klammern gesetzten Zahlen im nachfolgenden Text verweisen auf die Seiten in dieser Ausgabe.
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III. Macht und Politik
2. Thukydides und der Wille zur Beschreibung der Macht Thukydides, für Nietzsche "die grosse Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkte lag" (GD, Alten 2; 6, 156), gibt ein facettenreiches, keineswegs einheitliches Bild der Macht.10 Die Macht, so heißt es, bietet "Vorteil", verschafft "Ehre" und sichert gegen "Furcht" (δέος) (I 76; 1, 98). Sie folgt aus der physischen Stärke, baut also auf körperliche Kraft und militärische Organisation. Doch nicht erst die strategische Überlegenheit, die der Befehlshaber ζ. B. bei der Aufstellung der Schlachtordnung beweisen muß, läßt erkennen, daß Geist und Macht zusammenspielen. Die geschickte Rede vor dem Volk oder vor den Vertretern der anderen Städte, die Voraussicht möglicher Entscheidungen oder die genaue Kenntnis historischer und geographischer Umstände wirken unmittelbar als Faktoren der Macht. Reichtum, Verfügung über Menschen und die Fähigkeit, zu schützen und zu bedrohen (I 15 u. 18; 1, 24 u. 26 f.), müssen zur Machtbildung zusammenkommen. Die "Mächtigkeit" (ισχύς) einer großen menschlichen Natur wie ζ. B. die des Themistokles, der "mit kürzester Überlegung ein unfehlbarer Erkenner des Augenblicks und auf weiteste Sicht der beste Berechner der Zukunft" war (1138; 1, 174 f.), setzt sich um in politischen Einfluß. Alle Kräfte des Menschen schießen in der Macht zusammen, insbesondere Geistesgegenwart, Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, Voraussicht und das Vermögen zu überzeugen - was die außerordentliche Rolle der Rhetorik erkennen läßt.11 Macht liegt in der Präsenz aller möglichen Faktoren, in ihrer Verbindung zu Erkenntnis und Tatbereitschaft; freilich dann im entscheidenden Moment in der Wirksamkeit der Tat, also im Erfolg. Die Berechenbarkeit des Erfolgs ist freilich begrenzt. Naturumstände, der Auftritt ganz neuer Gewalten und vor allem der Eigenwille des Menschen, der lieber ein Bösewicht, aber gescheit, als ein Dummkopf, wenn auch anständig (III 82; 1, 446), gescholten wird, führen zu ständigen Machtfluktuationen, die sich in Kriegszeiten beschleunigen. Im Frieden ist die Macht eher kalkulierbar, weil sich die "Denkart der Menschen und der ganzen Völker" unter Abwesenheit äußeren Drucks verbessert (ebd., 444); im Krieg, der nach der politischen Logik des Thukydides unvermeidlich ist, herrscht ein unberechenbarer Aufstieg und Fall der großen wie der kleinen Mächte. Es geht den politischen Mächten wie den Menschen. Somit zeigt allein ihr gemeinsames Schicksal, daß Macht und Mensch auch bei Thukydides analog verstanden werden. Die Macht deshalb aber schon als jederzeit "human" anzusehen, wäre ebenso irrig, wie die Erwartung, der Mensch verhielte sich jederzeit "vernünftig ". Beide werden in ihrer Reaktion auf bestimmte Bedingungen beschrieben und erwei10
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K. Reinhardt, Thukydides und Machiavelli, 1960, 184 - 218, 184 ff.; W. Jaeger, Paideia, Bd. 1 (1934), 1973, 479 ff.; A. G. Woodhead, Thucydides and the Nature of Power, 1970. G. Wille, Zu Stil und Methode des Thukydides (1965), 1968, 683 - 716, 683 ff.
2. Thukydides und der Wille zur Beschreibung der Macht
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sen sich dabei als nahe verwandt. Was beim einzelnen Menschen gilt, dafl sowohl Maßlosigkeit wie auch Schwäche Konflikte zur Folge hat, das gilt auch für die organisierte Macht. Die Polismacht bewegt sich nach der gleichen Logik wie die Macht des Individuums. Hier wie dort stellt Thukydides Regelmäßigkeiten fest, ohne eine zwingende Gesetzmäßigkeit oder auch nur eine strikte Parallele zur These zu machen. Aussagen über anthropologische und soziologische Konstanten sind in diesem Buch, das keine allgemeingültigen Lehren zu beweisen oder zu demonstrieren sucht, auch nicht zu erwarten. Gewiß aber ist der Zusammenhang zwischen dem Schicksal des einzelnen und seiner politischen Gemeinschaft (II 60; 1, 264 f.). Daraus folgt nicht bloß eine Entsprechung der Ziele: Bürger und Stadt handeln formal analog. Die Stadt berät, entscheidet und kämpft als großes Individuum und kann sich nur unter der Bedingung der aus der Handlungserfahrung des Menschen vertrauten Einheit und Konzentration erhalten. Sie muß auftreten wie ein Mann und hat allein schon dadurch zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem menschlichen Wesen. Erkennbar ist ζ. B. der Zusammenhang zwischen dem Streben nach Selbständigkeit und Machtbehauptung, der sich insbesondere im Verhältnis zwischen Mutterstadt (μητρόπολις) und Pflanzstätte (κολωνία) zeigt. Der Anspruch eigener Macht gerade gegenüber der Übermacht führt zur Erosion des attischen wie auch des spartanischen Bundes. "Herrschsucht" (άρχικόν) gepaart mit "Habgier" (nXeovei-ia) und "Ehrgeiz"(s
Nietzsches Verhältnis zur Sophistik verdiente dringend eine Neubearbeitung. Die Arbeiten von R. Oehler (Friedrich Nietzsche und die Vorsokratiker, 1904), G. Neskusil (Das Problem des "Willens zur Macht" in Hellas, 1947), E. R. Dodds (Piaton and the Irrational, in: The Ancien Concept of Progress, 1973, 106 - 12S) geben zwar wichtige Aufschlüsse, bleiben aber hinter der inzwischen erreichten Einsicht in Nietzsches Denken zurück. Die Darstellung von R. Low (Nietzsche - Sophist und Erzieher, 1984) verfolgt eine polemische Absicht und ist historisch nicht verläßlich. Siehe dazu: K. Reinhardt, Thukydides und Machiavelli, 1960, 184 - 218, 184 ff. Der Zusammenhang wurde früh gesehen: S. Lublinski, Machiavelli und Nietzsche, 1901, 73 - 82.
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III. Macht und Politik
Italieners, sein auf Selbsterhaltung abgestelltes Handlungskalkül, und trifft damit das Ethos und die Leistung des Historikers und Fürstenratgebers durchaus. Für Machiavelli ist die Macht (potenzia; forza) zwar nicht das einzige Mittel politischer Herrschaft, aber das bei weitem wichtigste und wirksamste. Natürliche Fähigkeiten (sanno), List (inganno) oder Gunst der Einwohner (favore de'provinciali),
die auch ihren Anteil an der Staatskunst ha-
ben, sind ohne die Gewalt der Waffen (forza) nichts. Macht bedeutet für Machiavelli stets die Möglichkeit physischer Gewalt, die dann, wenn sie schon als solche Furcht einflößt und gefügig macht, gar nicht zum Einsatz kommen muß. So zeigt sich die Macht nicht allein in der Vernichtung des Gegners, sondern auch in dem Vermögen, ihn durch Drohungen oder Verlockungen, durch Versprechen oder Verträge zu Handlungen zu nötigen. Das Interesse der Macht geht dabei in jedem Fall über getroffene Abmachungen hinaus; Herkommen und Recht können zwar die Regierung eines Staates erleichtern, haben aber nur die Funktion günstiger Bedingungen oder hilfreicher Instrumente; unabhängig von der Macht sind sie bedeutungslos. Normen und Wertvorstellungen sind bloße Einbildungen; wirklich ist nur, was der Fürstenmacht nützt oder ihr entgegensteht. Die Macht des Fürsten bildet auch das Fundament des Staates, dessen Institutionen nur durch sie definiert sind: "Alle Staaten, alle Herrschaften (dominii), die Gewalt (impeño) über die Menschen besessen haben, waren und sind Republiken oder Fürstentümer".16 Gegenüber der Macht verblaßt jeder Wert. Nur Glück oder Unglück können sich als stärker erweisen und die sicheren Berechnungen, die eine kluge Strategie erlauben, zunichte machen. Diesen Effekt demonstriert Machiavelli am Beispiel des Papstsohnes Cesare Borgia, der vom gemiedenen Privatmann zum angesehenen Fürsten aufgestiegen ist und damit bewiesen hat, daß durch Macht im gesellschaftlichen Leben alles möglich ist. Borgia hatte das Ziel, in Mittelitalien ein Fürstentum aufzubauen, das stark genug ist, Rom zu beherrschen. Nur im Blick auf die politisch-militärischen Kräfteverhältnisse sucht er sich seine Bündnispartner, mordet Feinde und Freunde nur aus strategischem Kalkül, regiert das Volk je nach Erfordernis mit Härte und Entgegenkommen und setzt auf die Bestechlichkeit der Geistlichen und Gelehrten, die aber nur so lange verläßlich wirkt, wie die Drohung durch Waffengewalt fortbesteht. In den Plänen des Borgia gibt es lediglich eine unberechenbare Größe, nämlich den Zufall. Zwar plant der Condottiere Krankheit und Tod seines Vaters weitblickend ein. Aber von seiner eigenen Krankheit wird er völlig überrascht und in kurzer Zeit entmachtet.17 Gegen Fortunas Los kann der Mensch nicht an,18 aber alle anderen Wege zu Ruhm und Reichtum bestimmt er selbst. Das Selbstbewußtsein des Renaissancemenschen zeigt sich am stärksten in dieser Anerkennung der Kontingenz, d. h. in dem Anspruch, auch unter der Kondition des Zufalls planvoll zu handeln. 16 17 18
N. Machiavelli, II Principe I, 1, Opere 1, 1968, 7. Ebd. I, 7, 22 ff. Zur eminenten Rolle der fortuna siehe: H. Münkler, Machiavelli, 1982, 300 ff.
3. Machiavelli und die Macht zur Umwertung der Werte
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Der späte Nietzsche sieht Cesare Borgia mit den Augen Machiavellis. Für beide ist der Condottiere ein Fürst kraft seiner Natur; Nietzsche bewundert ihn als einen "Raubmenschen" par excellence (J 197; 5, 117). Er versucht dessen Strategie zu Ende zu denken, indem er den Eroberer ans Ende seiner möglichen Pläne versetzt und ihn sich als Papst vorstellt. Dabei kommt es sogar zu einer offenkundigen Identifikation Nietzsches mit dem Condottiere: "Cesare Borgia als Papst [...] das wäre der Sieg gewesen, nach dem ich heute allein verlange -: damit war das Christenthum abgeschafft! -" (AC 61; 6, 251). Zwar kann man die Abschaffung des Christentums nicht als die Intention Machiavellis ansehen, aber die Logik seines Machtdenkens führt genau zu diesem Schluß; jede Glaubensposition wird von ihr unterhöhlt. Das Kalkül der bloßen Macht ist das der Disponibilität aller Werte. Machiavelli will zeigen, daß die Staats- und Fürstenmacht nur gesichert werden kann, wenn ihr alles andere zum Mittel wird. Die mit diesem Ansinnen verbundene Provokation sittlicher Überzeugung bleibt seitdem an der Macht haften. Wer sich auf sie beruft, signalisiert die Opposition zu Frömmigkeit, Wahrhaftigkeit und Güte. Ihr hängt der Geruch des Bösen an, sobald man sie nur "an sich" betrachtet. Hier erscheint für Gerhard Ritter das "Gorgonenhaupt" der Macht, worin er nichts Menschliches zu erkennen vermag.19 Die Position der reinen Macht steht gegen alles, was einen eigenen Wert für sich beansprucht. Es liegt daher nahe, sie auch zur theoretischen Instanz gegen überlieferte Normen und ideale Zwecke zu machen. Nietzsche versteht den Terminus in dieser absoluten Funktion und wendet ihn gegen alles, das sich nicht als Macht behaupten kann. Dabei kommt ihm eine Eigenschaft der Macht entgegen, die mit dem Programm der Umwertung eng zusammenhängt: Die Macht okkupiert keine bestimmte Gegenposition; sie ist in keiner eindeutigen Gegnerschaft fixiert, sondern sie zieht alles in den Prozeß der ihr dienlichen Bewertung hinein. In Machterwerb und Machterhalt vollzieht sich ein ständiger Prozeß der Um- und Neubewertung von Mitteln und Zielen. Keine Bedeutung liegt auf lange Sicht fest, denn die Strategie der Macht kann zu jeder Änderung führen, und sie kann prinzipiell alles in ihren Dienst nehmen. Außer ihrer eigenen Selbsterhaltungsmaxime anerkennt die Macht nichts Beharrliches; sie unterwirft sich das Bleibende und behauptet es als wandelbar, so wie sie das Wandelbare als beständig ausgibt. Die Macht transformiert alle sittlichen Bedeutungen; sie ist der schon lange vor Nietzsche ausgezeichnete Ort für die "Umwertung der Werte". Was Machiavelli am Beispiel des Fürsten zeigt, hat sich analog bereits in der nominalistischen Theologie am Begriff Gottes vollzogen. Gottes Allmacht, die potentia absoluta, wird bei Duns Scotus, Ockham oder Gabriel Biel so radikal aus ihrer Bindung an Vernunft und Güte gelöst, daß sie nur noch an sich, als bloßer machthabender Wille und als aus dem
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G. Ritter, Die Dämonie der Macht, 1947, 213.
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III. Macht und Politik
Nichts schöpfende Macht, angesehen wird. Anders als bei der Fürstenmacht lassen sich für den absoluten Gott keine Regeln des Machtgebrauchs ermitteln, denn der göttliche Wille bleibt der menschlichen Vernunft gänzlich verschlossen. Der Untertan Machiavelli kann seine Schrift dem Mediceerfürsten noch mit der Erklärung widmen, aus den Niederungen (des Volkes) ließen sich die erhabenen Gipfel (der Herrscher) besser erkennen. In der nominalistischen Theologie aber eröffnet sich dem unterworfenen Geschöpf kein Ausblick mehr auf die himmlischen Höhen. Der deus absolutus wird zum deus absconditus und letztlich zum "überflüssigen Gott". 20 Damit aber ist ein Wandel der Weltauffassung eingeleitet, der dem Wechsel der politischen Perspektive von den guten Zwecken auf das Interesse der Macht formal entspricht: An die Stelle bisheriger Orientierung in einer vorgegebenen Ordnung der Werte tritt nun das lediglich auf Naturerkenntnis gestützte Kalkül der Selbsterhaltung. Auch bei Machiavelli ist es die Exposition einer aller normativen Verbindlichkeit enthobenen Fürstenmacht, welche die bisherigen politischen Wertvorstellungen in ihren Sog zieht und vollkommen vernichtet. Der Ordnungsschwund ergibt sich auch hier im Gefolge einer absolut gèsetzten Machtposition, die freilich nicht einem unerreichbaren Gott zugeschrieben, sondern als natürlich und unvermeidlich vom Menschen selbst okkupiert wird. Wie sehr der Principe die ethisch-religiösen Überzeugungen angreift, zeigt sich an der Reaktion auf das Buch. Der Widerspruch gegen den "mördrischen Machiavell"21 ist allgemein. Lutheraner, Calvinisten und sogar die Jesuiten stimmen darin überein, daß die entfesselte politische Macht ein Frevel Gottes und eine Selbstgefährdung des Menschen sei. Dabei wird nicht die Notwendigkeit irdischer Machtausübung (potentia in terra) bezweifelt, sondern es wird auf der Unabdingbarkeit ihrer gesetzlichen Regelung insistiert. Hobbes, der Theoretiker, der den Zusammenhang von Mensch und Macht wohl am gründlichsten durchdacht und zur politischen Konsequenz zu bringen versucht hat, mußte lange Zeit das Schicksal Machiavellis, als Anwalt der reinen Gewalt verrufen zu sein, teilen. Der Vorwurf traf ihn sehr zu Unrecht, wie man inzwischen weiß.22 Auch mit Machiavelli ist die Geschichte alles andere als gerecht verfahren. Denn erstens ist die von ihm entwickelte Machtkonzeption nicht so brutal, wie ihr unterstellt wird. Die Macht, von der er spricht, umfaßt alle Formen des menschlichen Handelns. Sie schließt 20
21
22
H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 1966, 105; siehe zu dem hier nur angedeuteten geistesgeschichtlichen Wandel auch die Darstellung von K. Flasch (Das philosophische Denken im Mittelalter: von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1988), die Blumenberg historisch in einigen Punkten korrigiert, in der hier referierten These jedoch mit ihm übereinstimmt. William Shakespeare, König Heinrich VI./Dritter Teil, Dritter Aufzug: 3. Szene, in: Sämtliche Dramen in drei Bänden, Bd. 2: Historien. Nach der 3. Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe von 1843/44, 3. Aufl.. München 1988, 655. Vgl. hierzu die sich ergänzenden Darstellungen von H. Münkler (Machiavelli, 1982) und W. Kersting (Niccolò Machiavelli, 1988). Zu Hobbes siehe: H. Münkler, Thomas Hobbes, 1993 u. W. Kersting, Thomas Hobbes zur Einführung, 1992.
4. Jacob Burckhardt und die "an sich böse" Macht
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immer auch die Möglichkeit rechtlicher Regelungen ein, obgleich dies noch nicht, wie bei Hobbes, systematisch begründet wird. Zweitens hätte sich Machiavelli die Wirklichkeit, die er beschrieb, gewiß auch anders gewünscht. "Man muß nämlich wissen, daß es zweierlei Waffen gibt: die des Rechtes und die der Gewalt {forza). Jene sind den Menschen eigentümlich, diese den Tieren. Aber da die ersten oft nicht ausreichen, muß man gelegentlich zu den andern greifen. Deshalb muß ein Fürst verstehen, gleicherweise die Rolle des Tieres und des Menschen durchzuführen" ,23 Die genuin menschliche Macht ist damit auch nach Machiavelli mehr als die rohe Kraft; sie ist Rechtsmacht, d. h. eine auf den humanen Möglichkeiten der Einsicht und der Verständigung gegründete Kraft.
4. Jacob Burckhardt und die "an sich böse" Macht Ein spätes Echo findet die moralische Empörung über die politische Gewalt, die sich alle überkommenen Werte unterwirft, in Jacob Burckhardts berühmtem Diktum über die "an sich böse Macht".24 Nietzsche hat in Basel das Kolleg gehört, in dem mit hoher Wahrscheinlichkeit dieses Wort gefallen ist.23 Dabei dürfte ihm auch der Zusammenhang nicht entgangen sein, in dem der ältere Kollege das Verdikt - das als Zitat aus dem volkstümlichen Geschichtswerk Friedrich Christoph Schlossers genommen ist26 - verstanden wissen will: Es bezieht sich auf die von kulturellen und religiösen Bindungen emanzipierte Macht des vor- und nachrevolutionären Staates Ludwigs XIV., Napoleons oder der "Volksregierungen". Hier also, im modernen, zentralisierten, die Kultur beherrschenden Staat, werde "ohne Rücksicht auf irgendeine Religion das Recht des Egoismus, das man dem Einzelnen abspricht, dem Staate zugesprochen" (25). Unter den Bedingungen einer reinen Machtpolitik wird alles "exkusabel". Und so wie sie alles entschuldigt, so kann sie auch alles rechtfertigen. Somit hat alles, was ihr entgegensteht, sein Existenzrecht verloren. 23 24
25 26
N. Machiavelli, II Principe I, 18, Opere 1, 1968, 53 f. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Gesamtausgabe 7, 1929, 1 - 208, 25. Die in Klammern gesetzten Zahlen im nachfolgenden Text verweisen auf die Seiten in dieser Ausgabe. - Zur Deutung des Wortes mit Bezug auf Nietzsche: K. D. Bracher, Betrachtungen zum Problem der Macht, 1991, 13. Dazu: C. P. Janz, Nietzsche, Bd. 1, 1978, 387; M. Montinari, Chronik, KSA 15, 1988, 7 - 212, 25. Die Herausgeber der Weltgeschichtlichen Betrachtungen haben eine vage Quellenangabe hinzugefügt, nämlich: F. C. Schlosser's Weltgeschichte für das deutsche Volk. Verfaßt und unter G. L. Kriegk's Mitwirkung bei der Redaction hrsg. v. F. C. Schlosser, 19 Bde., Frankfurt a. M. 1850 ff. Seitdem gehört der Hinweis auf Schlosser zum festen Bestand des Zitats. So etwa bei: C. Schmitt, Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, 1954, 21 f. Nirgendwo aber wird die Stellenangabe verifiziert, und auch mir ist es nicht gelungen, die Aussage in Schlossers Werk zu finden. Deshalb bezieht sich die folgende Interpretation auch ausschließlich auf Burckhardts Diktum. Dazu siehe auch: A. v. Martin, Nietzsche und Burckhardt, 1947, 69 - 77; Κ. Löwith, Jacob Burckhardt, 1936, 11 -61.
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in. Macht und Politik
Burckhardts Wort ist in erster Linie historisch gemeint. Es verurteilt den egoistischen Nationalstaat, der, so wie er sich seit Richelieu und Mazarin zunächst in Frankreich etabliert und dann in ganz Europa ausgebreitet hat, alles politische und gesellschaftliche Geschehen in seinen Bann zieht und dem die Religion nur als - zunehmend lästig werdendes - Mittel dient. Selbst dort, wo sich kleinstaatliches Dasein hält, erscheint es dem modern denkenden Individuum verächtlich. "Man kann den Zentralwillen gar nicht stark genug haben" (73) und denkt nicht daran, daß dieser Zentralwille etwas ganz anderes darstellt als der "mittlere Gesamtwille" des Volkes. Der territoriale Großstaat dient ökonomischen Interessen, ist aber, einmal errichtet und anerkannt, in der Lage, sich über Belange des Erwerbs hinwegzusetzen. Das "hie und da" von Burckhardt vernommene "Gewimmer nach Dezentralisation, Selfgovernment, amerikanischen Vereinfachungen u. dgl." (103) läßt ihn vermuten, daß der "Gewaltstaat" sich auch gegenüber wirtschaftlichen Erwartungen verselbständigen kann. Vorerst aber setzen Industrie und Handel auf die weitere Stärkung der zentralen Macht und hoffen gar auf den "Universalstaat" als Organisationsform der "Weltindustrie". Die lokalen Besonderheiten sterben ab, und es kommt zu einer "Revolution in allen Werten und Preisen"(157), die nicht auf den ökonomischen Bereich beschränkt bleibt. Die Frage, mit der Burckhardt im März 1873 seine Notizen abbricht, richtet sich darauf, ob der "als Erwerbssinn und Machtsinn ausgeprägte Optimismus weiter dauern" wird oder ob eine "allgemeine Veränderung der Denkweise" eintritt, wie sie das 3. und 4. Jahrhundert (nach dem Zusammenbrach des Römischen Reiches) gebracht haben. Die steigende Beliebtheit der pessimistischen Philosophie, mit der er sympathisiert, gilt ihm persönlich als Vorzeichen der kommenden großen Veränderung. Das Böse der historisch emanzipierten Macht liegt darin, daß sie das Bedingungsgeflecht von Staat, Kultur und Religion (62 f.) zu zerreißen sucht. Die Religion wird ins Private abgedrängt, und die Kultur interessiert nur als Hilfsmittel der Politik (72 u. 102). Die fruchtbare Trennung zwischen Staat und Gesellschaft wird aufgehoben, alles Leben wird zu einem Zweig des großstädtischen Betriebs, wird abhängig von Reklame und Sensation (157). "Business" und Machtstreben werden alles bestimmend. Burckhardts Machtkritik ist aber nicht auf die neuzeitliche Großmacht des Staates und der Wirtschaft beschränkt. Sein Verdikt gilt ausdrücklich der Macht als solcher. Die Macht an sich ist böse, "gleichviel wer sie ausübe" (73). Der Grund dafür liegt in ihrer Unersättlichkeit, mit der sie sich auf alles stürzt und nichts anderes neben sich duldet. Schon die kleinste Macht hat die Tendenz, sich zu verabsolutieren: "Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also Andere unglücklich machen" (ebd.). In dieser Ruhelosigkeit hat sie auch schon in anderen Zeitaltern Unheil gestiftet. Der politische Anspruch der römischen Kirche z. B. führte dazu, daß sich "das Heiligtum mehr und
4. Jacob Burckhardt und die "an sich böse" Macht
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mehr mit Unberufenen" anfüllte; dadurch verfehlte die Kirche ihren Auftrag als "sittliche Macht" (107). Wie Burckhardt die Folgen einer von allen sittlichen Bindungen befreiten Politik beurteilt, erfahrt man aus seiner Darstellung der politischen Karriere Cesare Borgias. Dessen positive Bewertung durch Machiavelli kann er sich nur durch die damals verbreitete Hoffnung erklären, der "große Verbrecher" Borgia werde den Kirchenstaat säkularisieren und damit den Weg zur Einigung Italiens ebnen. Burckhardt hält aber schon diese Erwartung für ein Verhängnis. Die Phantasie, so sagt er, verliere sich "in einem Abgrund", sobald sie diese Hypothesen verfolge.27 Gewiß hätte er über Nietzsches provokativer Phantasterei über "Cesare Borgias als Papst" nicht anders geurteilt. Um Burckhardts Urteil einzuschätzen, hat man sich zunächst vor Augen zu führen, in welchem Umfang er die historische Rolle der Macht sehr wohl zu würdigen weiß. Das Bedingungsgefüge von Staat, Religion und Kultur, auf dem alle historischen Erscheinungen beruhen, ist ohne Macht gar nicht denkbar (22). Dem Historiker ist bekannt, daß ohne Macht menschliches Dasein nicht zu sichern ist. Ohne Gewalt ist kein Staat zu gründen. Folglich ist auch die Kultur ohne Macht nicht denkbar. Keine herausragende geschichtliche Leistung kommt ohne Macht zustande. Der "Machtsinn, der als unwiderstehlicher Drang das große Individuum an den Tag treibt", so heißt es in der Betrachtung über Das Individuum und das Allgemeine (187), "ist das Entscheidende, Reifende und allseitig Erziehende" an der historischen Größe. Diese Größe ist das geschichtliche Potential schlechthin. In ihr sind die Kräfte und Fähigkeiten von vielen, im einzelnen nicht in Erscheinung tretenden Individuen konzentriert. Sie ist die Bündelung vieler Mächte durch einen Willen. Im großen Individuum äußert sich der "Wille eines bestimmten Weltalters" entweder als stimmiger Ausdruck der Epoche oder als dessen lebendiger Widerspruch. Das große Individuum steht, sofern es einem Volk "Größe, Macht, Glanz" verschafft, auch nach Jacob Burckhardt jenseits von Gut und Böse, denn bei seinem Auftritt ist das "gewöhnliche Sittengesetz" dispensiert (ebd.). Auch im engeren politischen Sinn weiß Burckhardt die Macht zu schätzen. So ist er der Ansicht, nur "wirkliche Macht" könne Frieden und Sicherheit garantieren! Er meint freilich auch, daß Mächte sich nur unter Kriegsbedingungen als wirklich erweisen (125). Eine vorrangige Eigenschaft der Macht erkennt er darin, daß sie in der Lage ist, Kontinuität zu schaffen. Das habe ihr den Ruf verschafft, sie werde am Ende immer rationell verfahren (135). Auch wenn gewiß ist, daß Burckhardt diesem Ruf keinen Glauben schenkt, so stellt er es als eine Tatsache hin, daß unter staatlichen Bedingungen das Recht aus der Macht hervorgeht (70). Schließlich kennt und benennt er ausdrücklich jenen Vorzug der Macht, eine Wirkung allein durch das Zeigen oder Andeuten ihrer möglichen Anwendung zu erzielen (134).
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J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Gesamtausgabe 5, 1930, 87.
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III. Macht und Politik
Bei alledem muß man in Rechnung stellen, daß Burckhardt die Geschichte keiner vorgefaßten moralischen Sanktion unterstellt, so sehr sein rigoroses Urteil über die "an sich" böse Macht dies auch nahelegt. Nichts liegt ihm ferner als eine moralische Überheblichkeit vergangenen Zeitaltern gegenüber. Bei ihm fehlt auch die republikanische Überzeugung, die hinter Schlossers Entrüstung über die von Natur aus böse Macht zu vermuten ist. Ferner kennt er keine weltgeschichtlichen Ziele, aus denen sein Wort sich herleiten ließe. Und es geht auch aus seinem Geschichtsverständnis nicht hervor, warum die Pleonexie, die ständig um- und abwertende Unersättlichkeit der Macht, so unerbittlich in Acht getan wird. Daß die Macht Bewegung in die Verhältnisse bringt, kann ihr niemand zur Last legen, der das Wesen der Geschichte als "Wandlung" bestimmt (4), der die historische Größe an ihrer Wirkungskraft mißt und der als einer der ersten die Produktivität von Krisen anerkennt - "Krisen räumen auf", so heißt es lapidar (145). Was also steht hinter Burckhardts apodiktischer Absage an die Macht als solche? Es ist der implizite Absolutheitsanspruch der Macht, der den Argwohn des Historikers auf sich zieht und der überdies den tiefreichenden persönlichen Widerwillen Burckhardts erregt. Diesem an Epikur und Diogenes gleichermaßen orientierten "Virtuosen des Genusses" widerstrebt die mit der Macht notwendig auftretende Unrast. Der "Genuß der Macht" ist kurz und trügerisch, wie das Beispiel des "hochbegabten Alexander VI.", des päpstlichen Vaters von Cesare Borgia zeigt.28 Außerdem fehlt Burckhardt der Optimismus, der ihn von der ständigen Umwälzung der Verhältnisse eine Steigerung des Glücks erwarten lassen könnte. Wechsel und Beschleunigung reizen ihn, ganz anders als Nietzsche, nicht. Diese individuelle Disposition macht vielleicht am ehesten verständlich, warum dem grundsätzlichen Argument bei Burckhardt ein so großes Gewicht zukommt: Im historischen Maßstab ist die Macht der per se Unruhe stiftende Faktor, der durch keinen Wert legitimiert ist, sondern vielmehr tendenziell jeden Wert zerstört. Nur in der Wachstumsphase der Staaten kann deren Dynamik durch das Streben nach "völliger Ausrundung und Vollendung" befriedigt werden (25). Dann setzt sie sich zwar über die Ansprüche der Schwächeren hinweg, ist aber beteiligt am Aufbau der Potenz des Staates. Solange also wird die Macht durch eine Zielsetzung analysiert, die ihrer eigenen Anlage entspricht; sie geht aber in ihrer Dynamik alsbald darüber hinaus und stört so das Zusammenspiel der drei geschichtskonstitutiven Potenzen. Sie läßt sich auf Dauer weder durch die Religion, d. h. durch das "ewige und unzerstörbare metaphysische Bedürfnis des Menschen" zurückhalten (28), noch wird sie, wie die Kultur, durch einen "inneren Drang der Seele" zur sprachlichen Mitteilung (43) gelenkt. Die Macht zerstört die staatlichen, religiösen und kulturellen Formen, ohne neue zu schaffen. Ihr fehlt die produktive Kraft. Sie ist die prinzipiell destruierende Gewalt, weil sie, selbst ohne
28
Ebd., 82.
4. Jacob Burckhardt und die "an sich böse" Macht
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eigene Zwecksetzung, jeden möglichen Zweck vernichtet. Es entspricht dem herrschenden Sprachgebrauch, eine solche, alle Wertsetzung überhaupt unterlaufende Wirkungsgröße "an sich böse" (25) zu nennen. Die Folgen dieser Autonomisierung der Macht sieht Burckhardt in der modernen Welt, d. h. in der Auflösung aller bis dahin gewachsenen historischen Bindungen. Die "rein erwerbende Welt" (158) ist ruhelos und unfähig, sich selbst Ziele zu setzen. Sie ist damit auch zu wirklichem Genuß nicht fähig. Sie ist die Welt der entfesselten Macht. Spätestens an dieser historischen Konsequenz muß offenbar werden, daß ihr Ursprung, das reine Machtstreben, an sich böse ist. Wesentlich an Jacob Burckhardts Diktum ist also nicht die Bekräftigung eines alten moralischen Urteils über die Macht; ja, es ist, wie gezeigt, sogar zweifelhaft, ob sein Wort überhaupt eine moralische Implikation im hergebrachten Sinne hat. Entscheidend sind vielmehr die Epochendiagnose und die prinzipielle Abgrenzung von den wertschöpfenden Potenzen der Geschichte. Eben dies wird auch Nietzsches Einwand sein, den er freilich primär gegen Moral und Wissenschaft richtet. Denn ihnen werde eine Wertschöpfung zugetraut, die sie unter den modernen Bedingungen längst nicht mehr besitzen. Durch die Zeitkritik wird die verabsolutierte Macht als der letztlich bestimmende Faktor der modernen Welt herausgestellt. Die dominierende Größe in der Krise des 19. Jahrhunderts ist das von aller traditionellen Bindung entfesselte Streben nach Macht. Mit Blick auf Nietzsche ist die Formulierung erlaubt, daß Jacob Burckhardt der Sache nach den Willen zur Macht als die Triebkraft der industriellen Erwerbsgesellschaft exponiert. In der Abgrenzung von den drei Potenzen aber hat er ihn zugleich ohne Einschränkung historisch disqualifiziert. Die Emanzipation der Macht ist benannt und aufs Schärfste verurteilt. Sie ist überdies in ihrer Verbindung mit den Erwartungen der Aufklärung ("auch eine Art von Religion", 41) durchschaut.29 Gleichwohl wird sie verworfen, weil sie der organisierenden Kraft entbehrt und in ihrer unablässigen Motorik nichts hinterläßt als Destruktion und Nivellement. Da sie prinzipiell vor keiner historischen Gestalt haltmacht und keine eigenen Gestalten schafft, bleibt sie den geschichtlichen Kräften auf eigentümliche Weise fremd. Der Macht fehlt in Burckhardts Augen die Individualität. Deshalb kann sie sogar zum Gegenspieler der geschichtlich gewachsenen Menschheit werden. Das Wort von der "an sich bösen Macht" muß als entschiedener Einspruch gegen die Gleichung zwischen Mensch und Macht verstanden werden. Burckhardt begreift den Menschen wie auch die Geschichte als spannungsvolle Einheit gegensätzlicher Kräfte. Infolgedessen gelangen dort, wo sich eine dieser Kräfte verabsolutiert, sowohl der Mensch wie auch die Geschichte an ihre Grenze. Die Macht ist aus sich 29
J. Burckhardt, Aufzeichnungen zur Geschichte des 17. u. 18. Jahrhunderts, Gesamtausgabe 7, 1929, 367 - 419, 374 ff.
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III. Macht und Politik
heraus zu keiner Ordnungsleistung fähig und muß in der Konsequenz wohl als "unmenschlich" bezeichnet werden. Strenggenommen hätte sie sogar als "ungeschichtlich" zu gelten. Burckhardt zieht eine solche Schlußfolgerung zwar nicht. Sie soll hier auch nur andeuten, in welchen Widerspruch sich seine Lehre verwickelte, würde er aus dem Bannspruch über die Macht systematische Konsequenzen ziehen. Als Triebkraft der Geschichte hätte er etwas anzuerkennen, was - als an sich böse - gar nicht in die Geschichte gehört. Wenn Burckhardt auch die systematischen Folgerungen seines Diktums nicht bedacht hat, so war ihm jedoch mit Sicherheit bewußt, daß nicht nur seine gesellschaftskritische Diagnose, sondern auch seine Bewertung der Macht im Gegensatz zum Zeitgeist stehen. Die nationalliberalen Historiker seiner Generation behandelten die Macht mit größter Achtung und betrieben, nach einer Formulierung Gerhard Ritters, eine "krampfhafte Idealisierung der Macht"30 - krampfhaft deshalb, weil ihr idealistisches Erbe eine Apologie der Macht verbot. Von solchen Rücksichten frei war Heinrich von Treitschke, dessen vielzitierte "Definition" des Staates - "zum ersten Macht, zum zweiten Macht und zum dritten nochmals Macht" das geistige Klima in der Ära Bismarcks wohl am besten charakterisiert.
5. Psychologisierung der Macht im 19. Jahrhundert Außerhalb der Geschichtswissenschaft erlangt der Machtbegriff eine weitreichende Erklärungsfunktion, vornehmlich zur Bezeichnung gesellschaftlicher Wirkungsfaktoren. Die Erklärung unter Berufung auf eine irgendwie wirksame Macht gehört zu den bevorzugten Verständigungstypen einer Gesellschaft, die sich zunehmend als möglichen Gegenstand objektiver Analyse entdeckt. Mit dem Auftreten soziologischer und psychologischer Theorien31 wird es immer mehr üblich, von Macht auch unabhängig von politischen Bezügen zu sprechen. Dabei steht die Macht naturgemäß auf der Gegenseite des Ideals. Wer sich auf die Macht beruft, braucht von Idealen nicht mehr zu sprechen. Altruistische Motive und humanitäre Ziele sind im Machtstreben nichts anderes als bloße Mittel. Daß jemand die Macht für die "Vernunft" oder für sein "Volk" intendiert, ist ein Grenzfall, der hier ausgeschlossen ist. Im wirklichen Machtstreben wird ein egoistisches Subjekt unterstellt. 30 31
Vgl. dazu: G. Ritter, Die Dämonie der Macht, 1947, 243. "Die Psychologie der Macht ist das Fundament der Soziologie der Macht. Wenn schon das individuelle Verhalten dadurch charakterisiert ist, daß es die 'Liebe zur Macht' zum Ausdruck bringt und sie zugleich aus Gründen der Anpassung und des Fortkommens verkleidet, so sind Aufbau und Gesetzlichkeit der sozialen Gebilde, in welchen sich die Einzelwillen steigern und verbinden, erst recht nur von dem gesellschaftlichen Machtstreben her verständlich zu machen." So heißt es bei H. Barth über die wissenschaftsgeschichtlichen Folgen des Konzepts, das bei Helvétius mit der Ergänzung der Selbstliebe durch die Liebe zur Macht (amour de la puissance/amour du pouvoir) verbunden ist. In der Einfuhrung der Liebe zur Macht sieht Barth eine von Nietzsche korrigierte "Antizipation des Willens zur Macht" (Wahrheit und Ideologie (1945), 1974, 54).
5. Psychologisierung der Macht im 19. Jahrhundert
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In dieser Bedeutung gehört die Macht zum Vokabular der entlarvenden Psychologie. Die Maskerade der guten Absichten wird durchbrochen, und zum Vorschein kommt der Wunsch, nach "oben", zu gesellschaftlicher Anerkennung und damit - zumindest potentiell - auch zur Herrschaft über andere zu gelangen. Im Visier des Psychologen, der sich durch Absichtserklärungen nicht täuschen läßt, erscheint das Machtstreben als das letztlich entscheidende Motiv. Die Methode der psychologischen Entlarvung ist seit jeher unverzichtbarer Bestandteil der Sentenzenliteratur und der Moralistik. In der modernen Tradition seit La Rochefoucauld, mit der Nietzsche wohlvertraut war, spielt auch die Reduktion auf das Machtmotiv eine beachtenswerte Rolle.32 Das Vordringen gerade dieser Reduktionsvariante im 19. Jahrhundert ist nicht zu übersehen. Es ist nun nicht mehr der Höfling bzw. der um Ansehen bei Hofe buhlende Bourgeois allein, der zum Gegenstand der Analyse wird; im nachrevolutionären Frankreich wird das Streben nach Macht nunmehr als generelles Merkmal des Menschen überhaupt diagnostiziert. Vor allem in der literarischen Gesellschaftskritik wird die Macht zum letzten Beweggrund des gesellschaftlichen Lebens. Das gilt insbesondere für Henri Bey le alias Stendhal, von dem Balzac sagte, er habe "den modernen Principe" geschaffen.33 Die Macht des menschlichen Willens, die Lust, Befehle zu erteilen, der Erfolg, dessen Geheimnis darin liegt, stets das Gegenteil des unter moralischen Prämissen Erwarteten zu tun, die Rücksichtslosigkeit im Kampf um Geld, Ämter und Anerkennung und in allem, insbesondere in der Liebe, das Streben nach Macht, die jedes Mittel heiligt - dies alles lernt Julien Sorel, die Hauptfigur in Stendhals Rot und Schwarz. Die Fassade des öffentlichen Auftretens, der Frömmigkeit und der Sittenstrenge wird mit dem Blick auf die Macht durchbrochen; Moral und Religion dienen ihr lediglich als Mittel. Schon in der ungeschminkten Rede von ihr liegt eine Provokation des propagierten Selbstverständnisses der Mächtigen. Die psychologische und sozialkritische Verwendung des Wortes zielt auf die Demaskierung verlogener Ideale, hinter denen die Macht als das eigentlich Wirkliche zum Vorschein kommt. Doch Stendhal, den Nietzsche als "letzt[en] grossfen] Psychologien]" rühmt (J 39; 5, 57), bleibt bei der Reduktion auf das Machtmotiv nicht stehen. Das Wirkliche gilt ihm auch als
33
Bei La Rochefoucauld wird das Machtmotiv hinter dem "Interesse" sichtbar, das er hinter allen menschlichen Handlungen aufspürt: "Was wir für Tugend halten, ist oft nur ein Gewebe verschiedener Handlungen und Interessen [...]" (Die französischen Moralisten, Bd. 1, 1973, 47). Auch die Eigenliebe ist hier Indiz für das Streben nach Macht und Vorteil. Für das später bei Nietzsche interessierende Verhältnis von "innerer" und "äußerer" Macht ist folgende nachgelassene Maxime La Rochefoucaulds aufschlußreich: "Die Macht, die geliebte Menschen über uns besitzen, ist fast immer größer als die Macht, die wir über uns selber haben. " (ebd., 92) Bei Vauvenargues, der das Machtstreben mehrfach als Motiv anspricht, heißt es z. B.: "Selbst die Tugendhaftesten können oft nicht umhin, die Gaben des Glücks zu verehren, wie das Volk es tut. So sehr fühlen auch sie die Stärke und den Nutzen der Macht, aber sie unterdrücken dieses Gefühl wie ein Laster und Eingeständnis ihrer Schwäche." (ebd., 166) H. de Balzac, Abhandlung über Monsieur Beyle (1840), 1981, 170 - 249, 177.
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III. Macht und Politik
Fundament der überragenden Leistung. Die natürlichen Kräfte - Nationalitäten, Klimata und individuelle Temperamente -, die in der Macht des Künstlers zusammenschießen, sind die elementaren Voraussetzungen der großen Tat. Deshalb werden sie nicht nur ideologiekritisch aufgewiesen, sondern auch emphatisch beschworen. Die Renaissance-Künstler und Napoleon gelten ihm als "genies de force", die sich analytischer Betrachtung nicht restlos erschließen. Aber die begriffliche Annäherung wird immer wieder versucht, obgleich das Distanzgebot der großen Macht34 dagegensteht. Der Schriftsteller umgibt sich selbst mit dem Flair des Mächtigen, demonstriert eine aristokratische Attitüde, will Verständnis nur bei "the happy few", rechnet indessen aber auf weitreichende Wirkungen.35 Die actio in distorts wird zum gesellschaftlichen Kalkül. In ihm spielt nach wie vor die Überzeugung von der Wirksamkeit des beherrschenden Willens die größte Rolle. "Seine Überlegenheit", so heißt es von Napoleon, "ruhte einzig in seiner Fähigkeit, mit unglaublicher Geschwindigkeit neue Gedanken zu finden, sie mit vollendeter Vernünftigkeit zu beurteilen und sie mit einer Willenskraft ohnegleichen zur Ausführung zu bringen. "36 Im tatkräftigen, willensstarken Individuum bekommt die Realität den Charakter des Ideals. Obgleich die Macht die elementare Triebkraft der menschlichen Welt bezeichnet und somit schlechthin als Wirklichkeit gelten kann, wird sie dort, wo sie gewollt und gestaltet wird, zum singulären Vorbild. Das Faktische gewinnt normative Gestalt.
6. Die romantische Apotheose des Machtgefühls In der Doppelrolle eines Repräsentanten sowohl der faktischen Wirklichkeit wie auch der heroischen Leistung fungiert die Macht schließlich bei einem Autor, den Nietzsche schon als Schüler verehrt37 und den er im schicksalhaften Herbst 1881 sich zu loben untersagt, weil er ihm zu nahe (!) stehe: Ralph Waldo Emerson. Emerson hat der Wirklichkeit viele Namen gegeben. Sein euphorischer Pragmatismus, durch weitläufige Erfahrung, ästhetische Bildung und Lehrjahre im philosophischen Idealismus von amerikanischen Provinzialismen befreit, will stimulieren. Naturerkenntnis und Naturerleben sollen verschmelzen, und dabei müssen auch Geist und Macht zur individuellen Einheit werden. Im kosmischen Ganzen ist diese Verbindung immer schon gegeben. Das "ewig Eine", die "All-" und "Überseele" (Over-Soul), findet ihren Ausdruck in den Naturgesetzen. Sie kommt aber auch im Selbstvertrauen des Menschen, im Reichtum, in der Selbstdisziplin sowie in 34 35 36 37
Stendhal, Denkwürdigkeiten über Napoleon (1817/18), Werkausgabe 1, 1981, 276. "To the happy few" - Zu dieser Widmung Stendhals vgl. I. Riesen (Hrsg.), Über Stendhal, 1981, 334. Stendhal, Denkwürdigkeiten über Napoleon (1817/18), Werkausgabe 1, 1981, 51. F. Nietzsche, Meine literarische Thätigkeit, sodann meine musikalische. 1862; BAW 2, 100.
6. Die romantische Apotheose des Machtgefiihls
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deren Steigerungsform, der Schönheit, zum Vorschein. Die ganze Natur ist nach Emerson ein Symbol des Geistes, eines Geistes, der in seiner expansiven und perfektionierenden Tendenz in der Macht (power) seine reinste Form gewinnt. Der Geist besitzt eine "unendliche Machtvollkommenheit und wirkt unmittelbar".38 Das Leben als ganzes ist ein Verlangen nach diesem Geist und ist eben damit "ein Verlangen nach Macht". Es ist ein Verlangen, das auch gestillt werden kann, denn mit dem "Element" der Macht ist "die Welt so gesättigt - ja, es giebt keine Spalte oder Ritze, in der es nicht hausen würde - daß kein ehrliches Suchen darnach unbelohnt bleibt".39 Den stärksten Ausdruck des Machtverlangens sieht Emerson im Erfolgsstreben, das er zur "Constitution" des Menschen rechnet.40 Erfolg liegt in der Gesundheit, in errungener Überlegenheit, in sichtbaren Leistungen überhaupt. Er liegt vor allem in den großen Werken der Kunst, die auf diese Weise auch als Repräsentanten der Macht zu gelten haben: "Der wahre Werth der Iliade oder der Transfiguration ist, daß sie als Zeichen von Macht dastehen. "41 Dabei versteht es sich von selbst, daß die Macht nicht "in Seide" gekleidet geht. Sie ist eine durchaus "rauhe Energie", die zur Entfaltung den Gegensatz benötigt. Folglich liegt auch ein Mißverständnis der Lebensdynamik vor, wenn man an eine allmähliche Besserung der Mächte glaubt. Alle Formen der Macht müssen im Leben wirken - "gute und böswillige Energie, Macht des Geistes und physische Gesundheit, die Ekstasen der Frömmelei und die Ausschweifungen der Gottlosigkeit".42 Nur im Widerspiel der gegensätzlichen Mächte treten einheitliche Gestalten, ein politischer Wille oder ein großer Gedanke hervor, vorausgesetzt, das Machtverlangen wird erfüllt. Die Mehrung der Macht ist das alles Geschehen bestimmende Gesetz: daß "jedes Plus Gewinn ist, nur muß es an der richtigen Stelle angewendet werden".43 Dies gelingt in der Sammlung auf eine impulsgebende Mitte und damit in der Beziehung auf einen organisierenden Willen. "Conzentration ist das Mittel zum Siege in der Politik, im Kriege, im Handel, in allen menschlichen Kraftäußerungen.n44 Die Macht bekommt bei Emerson die Züge einer beseelten Kraft. Als Ausdruck der Allseele ist sie in jedem Fall eine von innen bestimmte Größe. Pure Macht von der Art, die Jacob Burckhardt "an sich böse" nennt, kommt in diesem Entwurf nicht vor. Alles ist in seinem Dasein ursprünglich machtvoll, und es ist dies vor aller moralischen Bewertung. Emerson gibt sein idealistisch-romantisches Denken als einen allseitigen Realismus aus und kommt so zu einer Mischung, für die Nietzsche überaus empfänglich ist. Nietzsche sieht sich durch Emerson in dem Bemühen bestärkt, die Vorherrschaft des mechanistischen Denkens 38 39 40 41 42 43 44
R. W. Emerson, R. W. Emerson, Ebd., 37. R. W. Emerson, R. W. Emerson, Ebd., 47. Ebd., 52.
Versuche (Essays), 1858, 326. Die Führung des Lebens, 1862, 36. Versuche (Essays), 1858, 265. Die Führung des Lebens, 1862, 44.
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III. Macht und Politik
zu überwinden, und findet sich in seinem Anspruch auf praktische, insbesondere erzieherische Wirksamkeit beflügelt. Auch darin, daß der praktische Impuls letztlich einem künstlerischen Wollen entspringt, sind beide sich einig.45 Dem romantischen Verlangen, in allem und im ganzen schöpferisch zu sein, kommt der Begriff der Macht entgegen. Blickte man nur auf die politische Verwendung des Begriffs, müßte diese Präferenz befremden; doch vor dem Hintergrund der weitreichenden metaphysischen Konnotationen des Begriffs liegen die an ihn geknüpften ethischen und ästhetischen Erwartungen greifbar nahe. Die Macht kann vor allem auch durch ihren elementaren Bezug zu einem jeden Handlungsgeschehen als Grundbegriff der praktischen Selbstbestimmung des Menschen gesehen werden. Die Artikulation des Willens und die Prätention der Freiheit sind ohne die Erfahrung eigener Macht gar nicht denkbar. Entsprechendes gilt von den Grundbestimmungen sozialen Handelns. Dabei tritt sogleich die Korrespondenz von Mensch und Macht hervor, von der die großen Entwürfe der philosophischen Gesellschaftslehren bis in ihr methodisches Verfahren hinein geprägt sind.46 Aber auch der Ablauf geschichtlicher Ereignisse, der Aufbau politischer Ordnungen sowie die Grundmuster des individuellen Verhaltens werden immer wieder, wenngleich aus verschiedensten Motiven, auf die Dynamik von Machtprozessen zurückgeführt. Freilich gibt es, wie gezeigt, in der Bewertung große Unterschiede. Strittig ist vor allem die Frage, ob es eine reine, nur sich selbst wollende Macht in prinzipieller Opposition zu Geist und Recht gibt, oder ob die Macht letztlich doch an steuernde Bedingungen gebunden bleibt. An dieser Alternative hängt dann schließlich die Frage, ob die Emanzipation der Macht als Gegenbewegung zur Emanzipation des Menschen verstanden werden kann. Unübersehbar ist ferner der Hang, den Topos der Macht im Seienden überhaupt zu suchen. In der ontologischen Einstellung stößt die philosophische Theoriebildung immer wieder auf Möglichkeiten und Vermögen, die im Seienden auf (noch) Nicht-Seiendes verweisen. Sie sollen helfen, die Bewegung, das Werden oder den Akt der Verwirklichung zu denken. In dieser Absicht werden Elemente der menschlichen Selbsterfahrung in die Dinge hineingetragen. In metaphysischer Einstellung gelangt man noch ein Stück weiter, nämlich zu Substanzen, die als Mächte in offenkundiger Analogie zur willenszentrierten Macht des Menschen gedacht werden. Das wird am deutlichsten in der Bestimmung der allgemeinsten Substanz: der Macht Gottes. Je mehr sich aber die menschliche Naturerfahrung anschickt, die Stelle der höchsten Macht unbesetzt zu lassen, desto größer wird das Ungenügen an der bloßen Äußerlichkeit der nunmehr verbliebenen mechanischen Kräfte. Trotz der sichtbaren Erfolge der physischen 45
46
Zur umfangreichen, aber weder historisch noch systematisch zureichenden Literatur über Nietzsches Verhältnis zu Emerson: S. L. Gilman, Nietzsches Emerson-Lektüre, 1980, 406 - 431. Vgl. dazu vom Verf.: Vernunft und Urteilskraft. Politische Philosophie und Anthropologie im Anschluß an Immanuel Kant und Hannah Arendt, 1991.
6. Die romantische Apotheose des Machtgefühls
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Erklärung sucht man nach lebendigen, aus inneren Antrieben stammenden Wirkungsgrößen, um die mit der mechanischen Erklärung verlorene Einheit mit der Natur zurückzugewinnen. Bei diesen Bemühungen stellt sich erneut der Machtbegriff ein. Die Macht soll die reale Einheit innerer und äußerer Erfahrung verbürgen. Dafür ist Emerson nur ein Beispiel. Die romantische Naturphilosophie, Schellings spekulative Naturlehre oder auch Goethes Naturbetrachtungen könnten weitere Exempel sein. Daß auch in der emphatisch-sympathetischen Naturlehre der auf Distanz zum politischen Machtkampf bedachten Dichter der Machtbegriff nicht fern liegt, mögen abschließend zwei Nietzsche wohlbekannte literarische Beispiele illustrieren. In Novalis' Die Lehrlinge zu Sais wird geschildert, wie der Mensch, der in der Selbstbeobachtung erfährt, wie Welt und Ich sich im aufmerksamen Erleben wechselseitig durchdringen, in sich eine neue Kraft verspürt: "die Außenwelt wird durchsichtig, und die Innenwelt mannigfaltig und bedeutungsvoll, und so befindet sich der Mensch in einem innig lebendigen Zustande zwischen zwei Welten in der vollkommensten Freiheit und dem freudigsten Machtgeßhl" ,47 Zu welchen Hoffnungen sich die auf dieses Machtgefühl gerichteten Erwartungen versteigen können, ist bei E. T. A. Hoffmann in der Erzählung Der Magnetiseur ausgemalt. Darin ist von Albans Brieffragment die Rede, in dem berichtet wird, wie die Inanspruchnahme der inneren (magnetischen) Kräfte von den "Moralsystemen" befreit, für den alles bestimmenden Existenzkampf ungeahnte Kräfte gibt und "in einer fortsteigenden Klimax [...] dem Mächtigen den Sieg zuteil" werden läßt. Sie vermittelt schließlich eine "geheimnisvolle geistige Übermacht" und damit die "unbedingte Herrschaft über das geistige Prinzip des Lebens": "Das Streben nach jener Herrschaft ist das Streben nach dem Göttlichen, und das Gefühl der Macht steigert in dem Verhältnis seiner Stärke den Grad der Seligkeit. "48 - Damit kommen wir zu Nietzsche.
47
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Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, Werke und Briefe, 1962, 125 (H. v. m.). - Zu diesem Problemkreis siehe E. Behler, Nietzsche und die Frühromantische Schule, 1978, 59 - 96. E. T. A. Hoffmann, Fantasiestücke in Callots Manier, Der Magnetiseur, 1960, 169 f.
Teil 2: Die Macht in Nietzsches Entwicklung
IV. Im Vorfeld menschlicher Macht Der Machtbegriff beim frühen Nietzsche
1. Die Einheit des Werks Die Genese eines philosophischen Gedankens ist keine bloß historische oder biographische Frage. Will man ein Argument nicht nur prüfen, sondern auch verstehen, dann gehören seine Motive und Entwicklungsbedingungen dazu. Freilich muß sich das Wort des Philosophen an einer Sache messen lassen. Doch die Sache der Philosophie steht nicht von vornherein fest. Sie entwickelt sich mit der Entwicklung des Denkens. Das Argument, für sich genommen, erfaßt von dieser Entwicklung nur einen Moment und damit nur ebenso viel wie die Photographie von der Bewegung: man kann zwar die Bewegung erschließen, aber man sieht sie nicht. So verharrt das Argument in dem Prozeß, in dessen Fluß es sich bildet. Ein transzendentales Urteil, zum Beispiel, ist ohne seine Vorgeschichte kaum mehr als ein trivialer Satz oder eine bodenlose Behauptung. Allein der Blick auf den historischen Zusammenhang eröffnet die Möglichkeit, im sachlichen Gehalt auch den vernünftigen Sinn zu erschließen. Die Schwierigkeit besteht nun freilich darin, daß auch die Geschichte ihrerseits von der Sache nicht zu lösen ist. Obgleich die historischen Ereignisse unter dem Bann des "Es war! " so unabänderlich feststehen wie sonst nichts auf der Welt, werden sie durch ihre innere wie äußere Unendlichkeit zum grenzenlosen Gelände, in dem sich jeder verliert, der keinen Halt an einer Sache hat. So haben wir selbst als Urheber der sachlichen wie der geschichtlichen Fragen auch noch für die Bedingungen vernünftiger Antworten zu sorgen. Wenn wir in den Sachen der Welt - damit auch in der Sache der Philosophie - den Ausdruck von Problemen erkennen, die sich uns im Leben stellen, dann ist in der Betrachtung gedanklicher Leistungen methodisch eben jene Balance zwischen der "unhistorischen Macht" des Lebens und der "geschichtlichen Macht" gefordert, die Nietzsche als die labile Grundstellung des Menschen überhaupt ansieht: "Dass das Leben aber den Dienst der Historie brauche, muss eben so deutlich begriffen werden als der Satz [...] - dass ein Uebermaass der Historie dem Lebendigen schade." (HL 2; 1, 258) Wieviel geschichtliche Bewegung man im einzelnen zur Kenntnis nimmt, ist stets auch eine Frage der Entfernung. Je stärker man sich auf eine Epoche oder einen Lebensweg ein-
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IV- Im Vorfeld menschlicher Macht
läßt, in desto mehr Details löst sie oder er sich auf. Und was aus historischer Distanz immer noch als ein Geschehen erscheint, ist für den zeitgenössischen Chronisten vielleicht eine unabsehbare Kette von Ereignissen - gar nicht zu reden von dem Unterschied zwischen unmittelbar erlebter und historisch erfahrener Zeit. Auch wenn letztlich Intensität und Interesse unserer Fragen darüber entscheiden, ob die Geschichte uns einheitlich oder gegensätzlich erscheint, wächst mit zunehmendem zeitlichen Abstand die Neigung, die Einheit gegenüber dem Widerspruch zu betonen. So jedenfalls geht es uns mit dem Urteil über Nietzsches philosophische Entwicklung. Den Zeitgenossen erschienen die Schritte und Wandlungen in Nietzsches Denken wie Kehrtwendungen und Brüche, sein Weg als eine Folge von Treulosigkeiten gegenüber anderen und sich selbst. Zuerst die Abwendung von der Philologie, die nicht nur den Philologen Ärger bereitete, sondern auch Cosima und Richard Wagner besorgt machte. Dann die Ablösung vom metaphysischen Irrationalismus Schopenhauers, der Abfall von Wagner und das geistige Gegenbündnis mit dem Aufklärer Voltaire. Von seiner "Entwicklung" vermochten selbst die engsten Freunde nichts zu entdecken. Sie behalfen sich mit der Erklärung, der zunehmend kranke und hilfsbedürftige Mann sei unter verderblichen Einfluß geraten. Durch Nietzsche schien nun ein anderer, nämiich Paul Rèe, zu sprechen - eine Unterstellung, die Nietzsche noch befestigte, indem er die maliziöse Rede vom Rée-alismus in Menschliches, Allzumenschliches bereitwillig weitergab. Die dabei mitspielende Ironie überhörte man selbst dann noch, als er seinen vermeintlich wissenschaftshörigen Positivismus unter den Titel einer Fröhlichen Wissenschaft stellte. So schien denn mit dem Zarathustra wieder ein neuer Nietzsche zu erstehen, ein Autor, der mit der vorgehaltenen Maske des persischen Religionsstifters aus der Not seiner Wandlungen eine Tugend machte. Die dann noch folgenden Schriften verstärkten den Eindruck von der Proteus-Natur dieses Dichter-Philosophen, und die Nachlaßverweser förderten die Meinung, vor dem Zusammenbruch habe sich eine vierte große Wendung, wenn nicht ereignet, so doch mindestens angebahnt. Nietzsche selbst hält seinen Zeitgenossen vor, sie machten es sich zu leicht, wenn sie versuchten, ihn "aus dem Übergange in's andere Extrem zu verstehen - sie merken nichts von dem fortgesetzten Kampfe und den gelegentlichen wonnevollen Ruhepausen im Kampfe [...]" (N 1881, 10/D 84; 9, 432).1 Inmitten der Phase seines stärksten Umbruchs betont er die Kontinuität in seinem Schaffen und erklärt die Extreme aus den Wechselfällen von Kampf und Ruhe. Die Einteilung in drei oder vier Werkphasen hat auch heute noch Gültigkeit.2 Bei der Beurteilung einzelner Aussagen, insbesondere zum Ursprung und zur Aufgabe der Kunst, zur 1
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Stellen aus dem NachlaB (N) sind unter Angabe der Jahreszahl und Nummer des Fragments ebenfalls nach der Kritischen Studienausgabe zitiert. Auch hier folgt nach dem Semikolon die Angabe von Band- und Seitenzahl. Man kann die Einheit von Nietzsches Werk auch dadurch zum Ausdruck bringen, daß man von nur zwei Phasen spricht: In der ersten wirft Nietzsche die großen Fragen nach dem Sinn der Kunst, der Wahrheit, der Geschichte, des Lebens u.s.w. auf, Fragen, die er dann in der zweiten Phase experimentalphilosophisch zu beantworten sucht. Siehe dazu vom Verf.: Friedrich Nietzsche, 1992. - Zur Einheit des Werkes auch: E. Heftrich, Die Geburt der Tragödie: Eine Präfiguration von Nietzsches Philosophie?, 1989, 103 - 126.
1. Die Einheit des Werks
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Leistung der Wissenschaft, zur Kritik des Christentums oder zum ganzen Komplex der Umwertung der Werte ist es in der Tat unerläßlich, deren zeitliche Stellung im Werk zu berücksichtigen. Ohne Beachtung des mehrfachen Perspektivenwechsels zwischen der Geburt der Tragödie und der Götzen-Dämmerung verliert sich der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Äußerungen; dann besteht, um nur ein Beispiel zu nennen, zwischen Zarathustras moralischer Verheißung - "Der Mensch ist kein Ende" - und Nietzsches Antithese zur Geschichtsphilosophie - "Der Mensch ist ein Ende" - nur noch ein blanker Widerspruch. Übersieht man die Gleichzeitigkeit im Auftritt der großen Themen der achtziger Jahre - Gottes Tod, Übermensch, Wille zur Macht und ewige Wiederkehr - dann wird auch die unerbittliche Konsequenz in dieser Entwicklung verborgen bleiben. Es gibt eine schicksalhafte Logik in den versprengten Stücken dieses Werkes, das in den Jahren vor dem Zusammenbruch eine gewisse Vollendung erfahrt - die Vollendung eines Torsos. Unter dem Eindruck eben dieser Konsequenz interessiert uns heute weniger die temporale Differenzierung als die gedankliche Einheit in Nietzsches fragmentarischem Werk. Man wird diese Einheit schwerlich "systematisch" nennen können, auch wenn Nietzsche ein systematischer Anspruch an das eigene Werk weniger fremd gewesen ist, als gemeinhin angenommen wird. Wenn es ihm gelungen wäre, den "Willen zum System" mit der "Rechtschaffenheit" zu versöhnen, hätte er sicher den Weg zum System eingeschlagen. An Scharfsinn fehlte es ihm zuallerletzt; sieht man, wie es ihn von der systematischen Einsicht zum Aphorismus weitertreibt, dann ist man versucht, ihm eher einen Überschuß als einen Mangel an analytischem Vermögen zuzusprechen. Wer das abstrakte Denken als "Fest" und "Rausch" erlebt, der kann auch Systeme bauen - vorausgesetzt, seine Wahrhaftigkeit läßt dies zu.3 Hier liegt Nietzsches Problem·, eine von persönlichen und historischen Bedingungen wohl gleichermaßen abhängige Überreizung des intellektuellen Gewissens, eine zerbrechliche Verbindung von Intellektualität und Moralität, von Raffinesse und Redlichkeit. Die darin liegende Einheit bleibt an die Person und ihre Zeit gebunden. Sie ist weder rein systematisch noch bloß subjektiv. Sie ist der individuelle Kreuzungspunkt historischer und vitaler Abhängigkeit im Medium eines tragischen Bewußtseins und kann insofern eine existentielle Einheit genannt werden. Diese Einheit wird erst sichtbar, wenn man Werk und Person ins Auge faßt. Beachtet man die Wendungen und Wandlungen in Nietzsches Leben, erkennt man, wie sich in diesem Leben das Leiden am geistigen Überschuß und an der physischen Schwäche mit der Lust zu Mitteilung und Gestaltung gedanklich durchdringen, dann bekommt man eine Vorstellung von Nietzsches exemplarischer Existenz, von einem Dasein, in dem die Selbsterfahrung zum Okular der Epochendiagnose wird. Die Sprünge und Widersprüche im zeitlichen Duktus Siehe dazu: E. Heller, Nietzsches Scheitern am Werk, 1989, 113 ff. u. 314 ff. Einen Vorschlag zu einer systematischen Deutung Nietzsches habe ich in: Friedrich Nietzsche, 1992, ausgeführt.
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
seines Werkes können dann als ein zusätzliches Indiz für die extremen Spannungen gelten, die er auszuhalten versucht. Auch im Hinblick auf seine philosophische Entwicklung sind die "Gegensätze seiner Philosophie" Ausdruck seiner "Philosophie der Gegensätze".4 Die "einzelnen philosophischen Begriffe", so sagt Nietzsche, sind "nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes", sondern sie stehen "in Beziehung und Verwandtschaft" zueinander, "so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten" (J 20; 5, 34). Zu den Begriffen, die auf diese Weise bei Nietzsche selbst heranwachsen, gehört der Terminus der Macht. Anscheinend frei von historischen und terminologischen Lasten begegnet die Macht zunächst und nur gelegentlich wie ein Wort der Alltagssprache, dessen Bedeutung auch in den verschiedensten Zusammenhängen jedermann kennt. Dann häuft sich der Ausdruck und bekommt eine andere, diffuse, mit der Zeit immer spezifischer gemeinte Erklärungsfunktion. Und erst nachdem er in diesem Gebrauch ein eigenes Gewicht erhalten hat, bewertet und von anderen Begriffen abgegrenzt worden ist, tritt er als philosophischer Begriff hervor und übernimmt eine tragende Rolle in seinem Denken. Doch auch die ist noch so offen zum alltäglichen Sprachgebrauch, scheint terminologisch so wenig festgelegt, daß fraglich ist, ob dem Begriff der Macht überhaupt diese Bedeutung eignet. Fraglich ist um so mehr, ob sich auch hier die von Nietzsche behauptete "eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe" bestätigt. Es ist zu prüfen, ob Nietzsches eigenes Denken auch unter jenem "unsichtbaren Banne" steht, in den seiner Meinung nach letztlich alle Philosophen geschlagen sind: "sie mögen sich noch so unabhängig von einander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen: irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe" (ebd.). Vor dieser Prüfung ist der Weg bis zur Ausbildung des Begriffs im Willen zur Macht nachzuzeichnen (Kap. IV - VI), und es ist zu klären, welche Bedeutung der Macht im Willen zur Macht zukommt (Kap. Vili u. IX). Die Darstellung wird von der Erwartung geleitet, daß dieser Weg einen exemplarischen Verlauf vom Bild zum Begriff erkennen läßt. Wir beginnen bei einem umgangssprachlichen Wort, das so selbstverständlich ist wie "Kampf" oder "Spiel". Auch wenn es bereits begrifflichen Charakter hat, so sind jedoch die darin vermittelten "anschaulichen ersten Eindrücke" lebendiger, vielfältiger, unmittelbarer, bildhafter als bei einem in systematischer Absicht entwickelten Begriff. Dieser allmähliche Übergang von einer bildlichen zu einer begrifflichen Fassung der "Macht" findet auch im Verfahren der Darstellung seinen Ausdruck. Das offene Bedeutungsfeld beim frühen Nietzsche wird weitgehend referierend - man könnte auch sagen: erzählend - erschlossen (Kap. IV). Die Rolle des Machtgefühls erlaubt bereits grundsätzliche Aussagen (Kap. V). Nach der Schilderung der bedeutsamen Entwicklung Nietz4
W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, 1971, insb. 10 - 33.
1. Die Einheit des Werks
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sches im ersten Drittel der achtziger Jahre (Kap. VI) kann der Machtbegriff mit stärkeren begrifflichen Mitteln erschlossen und in seiner Stellung zu "Kraft", "Wille" und "Wille zur Macht" (Kap. VII u. VIII) bestimmt werden. Dabei wird sich zeigen, daß die terminologische Fixierung der Macht in sich eine begriffliche Verdichtung erzeugt, Nietzsches Denken als ganzes aber keineswegs die Anschaulichkeit verliert. Die Darstellung folgt der Maxime, wenigstens dieser Anschaulichkeit nahezubleiben, wenn es schon nicht gelingen kann, Nietzsches Unmittelbarkeit und Lebendigkeit wiederzugeben.3 Zu betonen ist freilich die systematische Absicht gerade beim späten Nietzsche, auch wenn er in dieser Zeit nicht davon abrückt, in ihr einen "Mangel an Rechtschaffenheit" (GD, Sprüche 26; 6, 63) zu erkennen. Das ihn untergründig leitende "System" zielt auf keinen Begriffsbau mit der "starre[n] Regelmässigkeit eines römischen Columbariums", in welchem der einzelne Begriff "knöchern und 8eckig wie ein Würfel und versetzbar wie jener" übrig bleibt (WL 1; 1, 882). Sein Hauptwerk sollte ein System aus "verleiblichten Begriffen" werden und versuchen, das Ganze von Sein und Werden in "einen Gedanken", den Gedanken der ewigen Wiederkehr, zu fassen. Doch unabhängig von der überbewerteten Systemfrage ist Nietzsche in jedem Fall ein Denker, der sich im Medium der Begriffe bewegt. 6 Also ist es nicht ausgeschlossen, daß auch die Ausbildung des Machtbegriffs bei ihm selbst von der "anschaulichen Metapher[] zu einem Schema", und damit zum Begriff als dem "Residuum einer Metapher", führt (ebd., 881 f.). 7 In zahlreichen Fällen entspricht der Gebrauch des Wortes Macht einer Metonymie, die Nietzsche in die Nähe der Metapher stellt und seinen Studenten als "Setzung eines Hauptwortes für ein anderes" erläutert. Die Metonymie, so sagt er in der Rhetorik-Vorlesung, sei "[i]n der Sprache sehr mächtig: die abstrakten Substantiva sind Eigenschaften in uns und ausser uns, die ihren Trägern entrissen werden, und als selbständige Wesen hingestellt werden" (GOA 18, 268). In der Selbst- und Fremderfahrung menschlicher Tätigkeiten werden aus Gestalt, Gebärde, Wort und Tat Eigenschaften wie Mut, Weisheit oder Kraft hergeleitet, um dann in der Metonymie als Wesenheiten aufzutreten. So erscheint es dann, als mache eine Kraft einen Menschen kräftig: "Die audacia bewirkt, dass Männer audaces sind; im Grunde ist das eine Personifikation, wie die der römischen Begriffsgötter Virtutes Cura u.s.w." (ebd.; H. v. m.) Nietzsche gibt damit die Brücke an, über welche die "Macht" bereits in die Umgangssprache gekommen ist. Freilich ist hier ihre bildliche Kraft schon Ich hätte nichts dagegen, mit J. Golomb (Nietzsche's Phenomenology of Power, 1986, 289 - 305) Nietzsches Verfahren als "phänomenologisch" zu bezeichnen, wenn damit keine schulmäOig eingeschränkte Methode gemeint sein soll, sondern ein Verfahren von höchster Anschaulichkeit. Golombs Vergleich mit dem Vorgehen Husserls und sein Versuch, bei Nietzsche sowohl eine "eidetische" Exposition der Phänomene wie auch eine distanzierende Epoché aufzuweisen (ebd., 295 f.), machen freilich auf die Probleme einer methodologischen Parallele zwischen lebendiger Plastizität und strenger Phänomenologie aufmerksam. P. Köster, Die Problematik wissenschaftlicher Nietzsche-Interpretation, 1973, 31 - 60, 40. Siehe dazu: D. Otto, Die Version der Metapher zwischen Musik und Begriff, 1994, 167 - 190.
IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
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blasser geworden. Gleichwohl ist zu vermuten, daß der Wortgebrauch beim frühen Nietzsche den Bildern und lebendigen Tätigkeiten noch näher steht als beim späten, denn erst im reifen Werk der achtziger Jahre wird die Macht zum philosophischen Begriff sui generis.
2. Am Anfang steht die Macht - der Götter "Ich habe nun schon so manches erfahren, freudiges und trauriges, erheiterndes und betrübendes, aber in allen hat mich Gott sicher geleitet wie ein Vater sein schwaches Kindlein. Viel schmerzliches hat er mir schon auferlegt, aber in allen erkenne ich mit Ehrfurcht seine hehre Macht, die alles herrlich hinausfuhrt. Ich habe es fest in mir beschlossen, mich seinem Dienste auf immer zu widmen. " Dies schreibt der dreizehnjährige Nietzsche in seiner ersten biographischen Studie.8 Im Tonfall eines Gebets bekennt er sein "kindliches" Vertrauen auf die Gnade und die allmächtige Leitung Gottes. Dessen Macht soll ihn schützen. "Aber sein heiliger Wille geschehe! Alles was er giebt, will ich freudig hinnehmen" (BAW 1, 31). Zwanzig Jahre später versteht Nietzsche seine ganze Existenz als radikalen Widerspruch gegen dieses Bekenntnis. Und doch bergen diese traditionellen Formeln eine unerhörte biographische Konsequenz: Die Einsicht in die eigenen Leiden, die Unterwerfung unter die unerforschliche Notwendigkeit einer höchsten Macht und die freudige Anerkennung des heiligen Willens sind die Prämissen seines ganzen Lebens und die Konklusion seiner Lehre: amor fati. Die nächste Gelegenheit, das Wort zu verwenden, ergibt sich freilich in einem analogen Zusammenhang. Der erste Entwurf eines Lebenslaufs von 1861 beginnt mit Betrachtungen über die sittliche Wirkung biographischer Besinnung und verteidigt die Notwendigkeit eines geistigen Schöpfers, der keinen "Zufall" erlaubt und dessen Wirken dem Menschen als gerechtes "Schicksal" begegnet. Das Schicksal wird (nach antikem Vorbild) die "austheilende Macht" genannt, die keinem ungeistigen, "urbößen Wesen" anvertraut sein kann. 9 Die Macht des Schicksals ist eine gute Macht, sie ist Ausfluß einer "höhere[n], erhabenere[n] Geisteskraft" (BAW 1, 278), die den Willen des Menschen bestimmt. "Macht" und "Schicksal" stehen in enger Assoziation, auch noch in den letzten Wochen seines bewußten Lebens, in denen er sich selbst zum "Schicksal" der europäischen Kultur deklariert: Wer über die "wirkliche Katastrophe" der letzten beiden Jahrtausende, über die "Entdeckung der christlichen Moral" aufklärt, "ist eine force majeure, ein Schicksal" (EH, Schicksal 8; 6, 373). Die beiden Stellen über Gottes- und Schicksalsmacht sind Einzelfalle in Nietzsches frühen Aufzeichnungen. Außer in ein paar Bemerkungen über politische Ereignisse tritt der Macht8 9
F. Nietzsche, Aus meinem Leben, Rückblick (1858); BAW 1, 31. F. Nietzsche, Mein Lebenslauf (I) (1861); BAW 1, 277.
2. Am Anfang steht die Macht - der Götter
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begriff nicht mehr auf. Er findet sich erst wieder in der Geburt der Tragödie und dient auch hier vornehmlich der Bezeichnung übernatürlicher Kräfte. Die Macht liegt nicht mehr bei einem Gott, sondern bei den Göttern Dionysos und Apoll - und bei den von ihnen beherrschten Menschen. Dionysos und Apoll sind die beiden Mächte, die von den Griechen "aus tiefster Nöthigung" gegen die "titanischen Mächte der Natur" gestellt werden - "[u]m leben zu können" (GT 3; 1, 35 f.). Als zwei gegensätzliche, sich wechselseitig herausfordernde "Kunstmächte" gestalten sie das Ganze des Lebens.10 Apollo setzt dem Chaos Ordnung und Maß entgegen, im Trieb nach Licht und Schönheit überwindet er das Leiden und ruft "die Kunst in's Leben": "als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins" (ebd., 36). Für Apoll gibt es keine "gefährlicheren Macht" als die des Dionysos. Denn gerade in der Zerstörung der einheitlichen Gestalten, in der Entgrenzung der Individualität, im "künstlerischen Jubel" der rauschhaften Überwindung aller Ordnung zeigt sich die "dionysische Macht" (GT 2; 1, 32 f.). Angesichts der "neuen Macht" orgiastischer Triebe erhebt sich das Apollinische zur "starren Majestät" und tritt in einen Kampf, der in immer wechselnden Formen die Kunst der Griechen vom Homerischen Epos bis zur klassischen Tragödie hervortreibt (GT 4; 1, 41 f.). Die zwingende, alle Kraft des einzelnen weit übersteigende Gewalt dieser Mächte hat kein physisches Fundament. Ihre Wirkung beruht allein auf der rausch- und traumhaften Imagination der von ihnen ergriffenen Menschen; es sind "grosseQ idealfähige[] Mächte[]", wie es später (M 76; 3, 73) von Eros und Aphrodite heißt. Ihr Mittel ist die Vorstellungskraft, und ihre Unerbittlichkeit folgt aus einem Prinzip. Es ist wichtig, den imaginativen und zugleich begrifflichen Kern dieser Mächte zu sehen. Ihre Wirkungsweise entspricht ganz der Macht des höchsten Wesens, dessen gute Absicht der siebzehnjährige Nietzsche noch glaubte beweisen zu können. Dionysos und Apoll sind in lebendiges Geschehen transformierte Gedanken. Unter ihrem Namen treten zwei "feindseligen Principien" den niemals entscheidbaren Kampf um die Vorherrschaft in der griechischen Kultur an (GT 4; 1, 42). Ihr prinzipieller Gegensatz erlaubt, auch ihre grundsätzliche Vereinigung zu denken: Wie die Triebe der beiden Ge-
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D. Jähnig, Nietzsches Kunstbegriff, 1972, 29 - 68, 31 ff.; siehe auch vom Verf.: Nietzsches ästhetische Revolution, 1981, insb. 88 f. Den wechselseitigen Bezug der beiden Kunstmächte, Apoll und Dionysos, hebt auch J. Stambaugh (Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, 19S9) hervor. Dabei beruft sich die Autorin auf den Machtbegriff: "Es handelt sich nicht um zwei voneinander unabhängige Mächte, sondern um eine Macht, deren Wesen ist, sich dadurch zu erhalten, daß sie eine neue, sich selbst spiegelnde Macht immer wieder aus sich gebiert." (ebd., 16) Hier, so fährt Stambaugh fort, zeige sich "am deutlichsten Nietzsches frühes Verständnis der Struktur, die später zum Willen zur Macht entwickelt wird" (ebd.). Wie allerdings die Macht mit dem die Zeit konstituierenden Phänomen der "Spiegelung" zusammenhängt, macht die Autorin weder für den frühen wie für den späten Machtbegriff einsichtig. Die Eigenart der Macht, die in der Tat ein reflexives Moment in sich enthält, wird auch in dieser Arbeit nicht weiter beachtet. - Von Dionysos und Apollon wird auch als von den "künstlerische[n] Mächte[n]" (GT 2; 1, 30) gesprochen. Hinter ihnen stehe die "Kunstgewalt der ganzen Natur" (GT 1; 1, 30).
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
schlechter stoßen sie aufeinander und zeugen im "geheimnissvolle[n] Ehebündniss, nach langem vorhergehenden Kampfe" (ebd.), als Zeichen ihrer eigenen Größe, die Tragödie. Die Macht, die ihre Einheit in einem Prinzip bewahrt, äußert sich in einer Art produktiven Kampfes·. Im Streit mit einer Gegenmacht ist sie schöpferisch. Macht ist demnach auch dort, wo sich im Getrennten der Trieb zur Verbindung äußert. In der Vereinigung der oppositionellen Gewalten, im Schaffen des Neuen tritt selbst eine ursprüngliche Macht hervor, die auf "Versöhnung" drängt. Wenn keine der beiden Seiten vernichtet werden kann, wenn der Gegensatz sich hält, dann wird er produktiv und macht Neues möglich. So wird selbst der Widerspruch zwischen dem frevelnden Menschen und seinem zürnenden Gott zum Ursprung einer neuen Größe: Die tragische Entsprechung zwischen dem "unermessliche[n] Leid" des prometheischen Herausforderers auf der einen und der "Noth" der Götter auf der anderen Seite führt nicht zu Immobilität, sondern erzeugt eine neue historische Gestalt. Wie Wotan in Wagners Ring seine schwindende Macht im großen Menschen wiederauferstehen sieht, so gibt es auch schon bei Aischylos die "Ahnung einer Götterdämmerung", den Vorschein einer "zum metaphysischen Einssein zwingende[n] Macht jener beiden Leidenswelten" (GT 9; 1, 68)." Dies ist eine Macht, die im Getrennten zur Einheit drängt, sie kommt aus der Spaltung selbst, ist keine Äußerung einer übergeordneten Instanz, die von außen eingreift und dadurch Widersacher zusammenführt. Der Ursprung der Macht liegt auch hier im Gegensatz, doch in ihrer Wirkung will sie darüber hinaus. Wo sie die Gegenmacht nicht vernichten kann, strebt sie zur Überwindung der Differenz in einer schöpferischen Tat, die eine neue Machtsituation schafft, in welcher das ursprünglich treibende Leiden überwunden ist. Dieser aus dem Gegensatz kommende, ein geistiges Prinzip realisierende und auf Lebensbewältigung zielende Charakter der Macht bleibt erhalten, wenn Nietzsches Darstellung den Kreis der hellenischen Kultur verläßt und zu jener "Macht" übergeht, die aus dem "dionysischen Grunde des deutschen Geistes" emporgestiegen ist: zur "deutsche[n] Musik" von Bach, Beethoven und Wagner (GT 19; 1, 127). Dionysos ist freilich hier nicht mehr als göttliche Gestalt gegenwärtig; auf die Wiederankunft Apollos - "in eine Wolke gehüllt" (GT 25; 1, 155) - kann nur gehofft werden. Man weiß nun, daß die Götter entrückt sind. Aber der "mythenlose Mensch" der "abstracten" neuen Zeit ist nicht lebensfähig. Nur wenn er den "dionysischefn] Lockruf" in Luthers Choral nicht überhört und die in der "Wiedergeburt des deutschen Mythus" freigesetzte "herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft" in sich erfährt, kann er sich eine Zukunft schaffen (GT 23; 1, 145 ff.). Bis in die historische Konstellation des Erwachens der dionysischen Triebe im deutschen Geist, der lange Zeit unter dem Ein11
Nietzsche erwähnt Goethes Prometheus-Gedicht zusammen mit der erhaltenen Prometheus-Dichtung des Aischylos (GT 9; 1, 67). Zu erinnern ist an die beiden Hauptgestalten, die in dem erhaltenen Tragödienzyklus Prometheus an den Felsen fesseln: Es sind kratos (κράτος) und bia (βία).
3. Richard Wagner als Macht
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fluß "von aussen her eindringende[r] Mächte" in "Barbarei" und unter der "Knechtschaft" fremder Formen verborgen war (GT 19; 1, 128), nun aber durch Wagners Musik zu neuem Leben erweckt wird, bleibt das Konzept der Kunst- und Lebensmacht gewahrt. Die beiden Mächte stehen gegeneinander, steigern sich im Schaffen und Auflösen neuer Gestalten und gehören in dieser Verbindung notwendig zusammen. "[I]n strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit" (!) (GT 25; 1, 155) entfalten sich die gegensätzlichen Kunsttriebe und geben so ein erstes Beispiel für Nietzsches Vorstellung von stabilen Machtverhältnissen gerade unter der Voraussetzung von Kampf, Kräftesteigerung und ewigem Wechsel der Erscheinungen.
3. Richard Wagner als Macht Ganz folgerichtig wird Wagners Erscheinen auf der Bühne der europäischen Kultur wie der Auftritt einer göttlichen Macht empfunden: "Er wollte siegen und erobern, wie noch kein Künstler und womöglich mit Einem Schlage zu jener tyrannischen Allmacht kommen, zu welcher es ihn so dunkel trieb. " Richard Wagner will zum "Herren" werden, er strebt nach "höchste[r] Macht und Wirkung", nach "Macht und Glanz" im Kampf mit sich selbst und mit der "widerstrebenden Welt" (4. UB 8; 1, 472 ff.). Er begründet eine "Herrschaft über ein noch unentdecktes Mittelreich zwischen Mythus und Musik" und schließt in seinem Werk "alles Mächtige, Wirkungsvolle, Beseligende" zusammen (ebd., 477). Wagner wirkt wie ein Gott. Ihm obliegt es, für jedes Werk eine "neue Sprache auszuprägen", und er vermag, indem er Dichter und Komponist in einem ist, "über zwei Welten [...] schöpferisch zu gebieten". Die "allerseltenste Macht" dieses Mannes zeigt sich darin, daß er "der neuen Innerlichkeit auch einen neuen Leib" zu geben imstande ist (4. UB 9; 1, 487). Er schafft durch seine Herrschaft über zwei getrennte Welten, durch den " herrschende[n] Gedanke[n] seines Lebens" (4. UB 8; 1, 472), eine neue Welt und stattet sie mit neuen Geschöpfen aus. Wie ein Gott gehorcht er nur seinem eigenen Gesetz: "er spricht durch seine Kunst nur noch mit sich" - "er wollte jetzt nur noch Eins: sich mit sich verständigen" -, um so sein "Begehren nach höchster Macht" zu stillen (ebd., 477 ff.), um im neuen Kunstwerk die "in Liebe verwandelte Natur" zu genießen (ebd., 456). So wird - um es noch einmal zu sagen - "alles Mächtige, Wirkungsvolle, Beseligende" zur Einheit gebracht. Man könnte verführt sein, die Gestalt Wagners als ganze nach Analogie göttlicher Schöpfermacht zu deuten, wenn nicht Nietzsches Blick für die historische und ästhetische Immanenz der Welt bis zu dieser vierten Unzeitgemäßen Betrachtung wesentlich geschärft wäre. Und so sieht er in Wagner eine geschichtliche Gestalt, umgeben von politischen und gesell-
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
schaftlichen Kräften, gegen die sich hier kein Gott, sondern ein "Meister" behauptet. Der Künstler ist eine historische Figur, ein "Gegen-Alexander", der nach der gewaltigen Expansion des Wissens und der Fähigkeiten die "mächtigste Kraft" hat, die weit entfernten Fäden der Kultur wieder zu fassen und zu einem neuen Gewebe zusammenzuziehen (4. UB 4; 1, 447). Er ist der Reformator des "moderne[n] Menschen" (ebd., 448), ein Kämpfer gegen die herrschende falsche "Gebildetheit" und gegen das Unvermögen der augenblicklichen "Machtinhaber" (ebd., 450). In dieser Konstellation hat auch der Machtbegriff eine neue Funktion: Seine Bedeutung liegt jetzt im weiten Feld psychischer und sozialer Kräfte, die sich auf Überzeugungen und Glaubensgewißheiten, Willensenergien, Fähigkeiten, Traditionen und somit auf alles Menschliche erstrecken. Der Anwendungsbereich ist säkularisiert, wobei freilich zu berücksichtigen ist, daß Nietzsche keine eindeutige Grenzlinie zwischen mythischer und historischer Realität markiert. Die Macht der historischen Größe, die sich im Komponisten äußert, ist ein Beispiel für die prometheische Zwiespältigkeit einer Macht, die zwar ausschließlich unter Menschen wirkt, ihren Impetus aber niemals allein aus irdischen Verhältnissen bezieht. Wagners "dämonischen Mittheilbarkeit" gleicht einem "vulcanischen Ausbrache des gesammten ungetheilten Kunstvermögens der Natur" (4. UB 9; 1, 485), in ihm hat der "gewaltigste Gesammtinstinct der Kunst Herberge genommen" (4. UB 10; 1, 501). Sein "übermächtiger symphonischer Verstand" organisiert Einheiten von Gegensätzen, die im Untergrand der Geschichte wirken; seine Musik ist als Ganzes das Abbild einer herakliteischen Welt, "eine Harmonie, welche der Streit aus sich zeugt, als die Einheit von Gerechtigkeit und Feindschaft" (4. UB 9; 1, 494). In Nietzsches Deutung der Götterdämmerung wird der Übergang der göttlichen Macht auf den großen Menschen selbst thematisch: "Im Ringe des Nibelungen ist der tragische Held ein Gott, dessen Sinn nach Macht dürstet, und der, indem er alle Wege geht, sie zu gewinnen, sich durch Verträge bindet, seine Freiheit verliert, und in den Fluch, welcher auf der Macht liegt, verflochten wird." (4. UB 11; 1, 508) An seiner Stelle gewinnt die Macht ein Mensch. Der Gott wird durch einen Menschen abgelöst, weil es ihm nicht gelingt, den von den Nibelungen geschmiedeten goldenen Ring ("Inbegriff!] aller Erdenmacht", ebd.) dem bewachenden Riesenwurm zu entreißen. Die nach Allmacht strebenden Götter und unter ihnen der stärkste, Wotan, finden vor ihm eine Grenze, die durch ihre Schuld gesetzt ist. Ihre Herrschaft beruht nicht auf "Versöhnung".12 Das "Unrecht", das auf "Gewalt und List" (beim Raub des Nibelungen-Horts) gegründet ist, lastet wie ein Fluch auf ihrer Macht, deren Vollendung ihnen daher verwehrt ist. Alle Versuche Wotans, die ganze Macht dennoch an sich zu reißen, schlagen fehl. Im Scheitern ergreift ihn der "Ekel" vor der Macht, "welche
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R. Wagner, Der Nibelungen-Mythus (1848), Sämtliche Schriften 2, 1912, 157 f.
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das Böse und die Unfreiheit im Schoosse trägt". Unfähig zur Gegenwehr sieht der Gott seinem eigenen Untergang entgegen. Da erscheint der "freie furchtlose Mensch" (ebd.), der im Kampf gegen die göttliche Ordnung den Ring gewinnt, mit ihm die Welt vom Fluch befreit und den Himmel mit Sonnenglanz erfüllt - "Das alles schaut der Gott, dem der waltende Speer im Kampfe mit dem Freiesten zerbrochen ist und der seine Macht an ihn verloren hat, voller Wonne am eigenen Unterliegen, voller Mitfreude und Mitleiden mit seinem Ueberwinder" (ebd., 509). Im freien, furchtlosen Aufstand gegen die himmlischen Mächte gelangt der Mensch in den Besitz der Macht; in der trotzigen und zugleich unschuldigen Tat Siegfrieds wird sie den Göttern entrissen und in reinerem, hellerem Glanz auf der Erde selbst entfaltet. Die Dreieinigkeit von "Reinheit, Macht und Unschuld" der "Urwelt" (GT 19; 1, 122) ist wiederhergestellt. - So deutet Nietzsche im Anschluß an Wagner den Übergang von der göttlichen Macht zur schöpferischen Macht des Menschen. Der Wechsel vollzieht sich im Medium von Widerstand, Kampf und Sieg und endet dennoch in einer Harmonie der Gegensätze: Der unterlegene Gott hat nicht nur die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannt, sondern er begreift nun die Notwendigkeit seines Untergangs. Ihm widerfährt in der Wonne am eigenen Unterliegen die Liebe zum Schicksal, das ihn herabzieht, und zur neuen Macht, der nun das gelingt, was er nicht vermochte. Der Übergang der Macht vom Gott auf den Menschen ist nur ein Aspekt des Machtproblems in der Paraphrase der Götterdämmerung - im Blick auf die weitere Entwicklung des Begriffs nicht einmal der wichtigste. In der Form des Mythos werden Aufstieg und Fall der Macht exemplarisch, erste Elemente des Machtgeschehens treten hervor, und die Logik der Überwindung einer Macht durch die andere wird sichtbar. Spätere Bemerkungen Nietzsches bestätigen, daß er Wotans Fall als typisch angesehen hat.13 Die Macht geht gerade dem verloren, der sich an sie bindet, der seine Freiheit aufgibt, um in ihrem Besitz zu bleiben. Die Abhängigkeit von ihr führt zu Ohnmacht und Verderben. Wer sich ihr unterwirft, erlebt sie als Fluch. Das bloß äußerliche Machtverhältnis ist verwerflich und ohne Zukunft. Die Zukunft gehört dagegen dem, der in Freiheit, unschuldig, treu und liebend, aus innerem Antrieb die Macht wie von selbst erringt, dem es im Kampf mit dem Drachen und dem Gott gar nicht um die Macht, sondern um die Vollendung eigener Tat und die Erfüllung seiner Liebe geht. Im Ringen um seine frei gewollten Ziele wird ihm die Macht geschenkt; sie fällt ihm zu als der Preis des Sieges über die Widersacher, und sie wird ihm gegönnt von dem, dem sie nun endgültig entgleitet. Der Sieger zeigt seine Überlegenheit schon darin, daß es ihm gar nicht um die Macht als solche, sondern um die Realisierung selbständiger Ziele geht; er will primär sich selbst in seinem Ideal, und erst in diesem Willen wächst ihm die Kraft zu, die im gelingenden Sieg sich als Macht erweist. Die Macht 13
Auch später begreift Nietzsche den Wotan aus dem Ring der Nibelungen als exemplarischen Fall der Macht (vgl. Ν 1880, 4/103 u. 8/110).
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
erscheint als das gleichsam nur intentionslos zu Erringende, als Begleiterin der großen Tat, als Medium, nicht als Ziel menschlicher Größe; an sich erstrebt, ist sie böse. Damit ist die Wertung ausgesprochen, mit der Nietzsche von seiner frühen Ehrfurcht abrückt. Die Macht, die im Pathos des Siebzehnjährigen nur einem Gott zukommen sollte, gilt nun als abgründig böse - nicht nur aus der Sicht des scheiternden Wotan, denn im Anschluß an seine Deutung des Ringes fragt Nietzsche die Leser: "Wer von euch will auf Macht verzichten, wissend und erfahrend, dass die Macht böse ist?" (4. UB 11; 1, 509) Nietzsche folgt mit dieser Auslegung im großen und ganzen der Deutung, die Wagner selbst seinem Opernzyklus gegeben hat.14 Die Verbindung von Verbrechen und Machtzerfall einerseits, Unschuld und freiem Machtgewinn andererseits entspricht der Konzeption des älteren Freundes, der die Nibelungensage von Anfang an als Mythos von der weltgeschichtlichen Machtergreifung des Menschen verstanden hat. In Siegfried kommt der als individuelles Wesen sich behauptende Mensch zur Herrschaft (II, 131). Der Hort der Nibelungen ist der "Inbegriff aller irdischen Macht"; wer diesen Hort besitzt, der hat mit dem "Wahrzeichen der Herrschaft" auch "Waffen" und "die Schätze des Goldes" (II, 133), um die Macht auf Erden tatsächlich zu behaupten (II, 119). Worüber ursprünglich göttliche Mächte und später die großen Geschlechter walteten, das kommt nun in die Verfügung des individuellen Menschen und wird zu seinem "realen Besitz" (II, 153). Der "Gott ward also Mensch", und in dieser neuen Gestalt verjüngt sich die Natur und bringt ihr ewiges Wesen "tatvoll sich zum Bewußtsein" (II, 132). Mit dem Gewinn des Horts wird eine neue Etappe in der Geschichte symbolisiert; nunmehr ist der "Mensch geadelt und als der Ausgangspunkt aller Macht gedacht" (II, 153). Wagners Ring erzählt die Emanzipation des Menschen in mythischer Form als einen Machtwechsel zwischen Gott und Mensch. Es ist bekannt, daß Wagner sich bei dieser 1848 entstandenen Deutung an Ludwig Feuerbachs Modell der historischen Menschwerdung orientiert. Auch Nietzsche hat Kenntnis von dieser Verbindung, obgleich Wagner sie verleugnete, nachdem er Anhänger Schopenhauers geworden war. Da Nietzsche der Beziehung zu Feuerbach selbst nicht nachgegangen ist, mag hier ein Hinweis genügen, der anschaulich macht, wie sehr sich die den Zeitgeist um die Jahrhundertmitte bestimmende Philosophie in ihrem systematischen Ansatz von der Machterfahrung leiten läßt. In der Erfahrung der Macht, so muß man Feuerbach verstehen, konstituiert der Mensch sein eigenes Wesen: "Die Macht des Gegenstandes über ihn [den 14
Vgl. R. Wagner, Der Nibelungen-Mythus (1848), Sämtliche Schriften 2, 1912, 163; ferner Wagners erste Darstellung des Sagenstoffs in: Die Nibelungen (Sommer 1848), Sämtliche Schriften 2, 1912, IIS - 155. Dort heißt es u. a.: "Dieser Hort, und die in ihm liegende Macht, bleibt der Kern, zu dem sich alle weitere Gestaltung der Sage wie zu ihrem unverrückbaren Mittelpunkte verhält: alles Streben und alles Ringen geht nach diesem Horte der Nibelungen als dem Inbegriffe aller irdischen Macht, und wer ihn besitzt, wer durch ihn gebietet, ist oder wird Nibelung." (ebd., 119) Die auf diese Weise errungene Macht wird als Herrschaft ("Herrscherreif") bestimmt (ebd., 133). - Die nachfolgenden Zitatangaben im Text beziehen sich auf Wagners Sämtliche Schriften 2, 1912.
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Menschen, V. G.] ist daher die Macht seines eigenen Wesens. So ist die Macht des Gegenstands des Gefühls die Macht des Gefühls, die Macht des Gegenstands der Vernunft die Macht der Vernunft selbst, die Macht des Gegenstands des Willens die Macht des Willens.1,15 Die Ambivalenz der Macht in ihrer Abhängigkeit vom Geist, in dem sie erworben ist, wird von Wagner wie von Nietzsche gesehen. Differenzen gibt es nur in Nuancen: Wagner hatte im ersten Entwurf der Nibelungensage 1848 - noch vor der Lektüre Schopenhauers vor allem die Entsprechung von Schuld und Machtverfall sowie die Entstehung der neuen Menschenmacht aus der Freiheit betont. Daran ist die Akzentuierung des Willens interessant, des "unabhängige^], freiefn] Willefns], der alle Schuld auf sich selbst zu laden und zu büßen imstande ist" (II, 158).16 Nietzsche hebt diese Verbindung zum Willen nicht hervor, obgleich er sie an der Gestalt Siegfrieds nicht verleugnet. Dagegen akzentuiert er ein Moment, das von Wagner in den Entwürfen gar nicht und im Operntext nur am Rande erwähnt wird: Wotans Ekel an der Macht. Ganz offensichtlich liegt ihm an dem Motiv der Machtaufgabe. Der Ekel folgt aus der Erfahrung nicht der Schuld, sondern der Vergeblichkeit bloßen Machtstrebens. Es ist ganz ähnlich wie beim Lebensekel, den die Griechen nur durch den Beistand von Dionysos und Apollon bewältigen. Es ekelt den Menschen, wenn ihm bewußt wird, daß dieses Leben alles ist. Das bloße Leben ist entsetzlich, weil es keine darüber hinausgehende Bedeutung zuläßt und im "furchtbare[n] Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte" keine Unterschiede macht (GT 7; 1, 56). Entsprechend geht es Wotan mit der Macht. Ihn ekelt vor ihr, sofern neben ihr alles andere gleichgültig wird. Wenn die Macht zum Zweck an sich wird, läßt sie neben oder über sich nichts anderes mehr zu, vernichtet jeden anderen Wert und hat insofern als "böse" zu gelten. Während aber Wagner wesentlich von den sittlichen Prämissen her urteilt und die Macht nach der ihr vorausliegenden Schuld oder Unschuld wertet, achtet Nietzsche stärker auf die Stellung zur Macht selbst. Trotz der Rede von der "Bosheit" der Macht (N 1874, 32/80; 7, 784) reflektiert er bereits hier die Macht nicht in ihrer Beziehung zur sittlichen Verfassung des Trägers, sondern das Machtverhältnis als solches. Er urteilt über ihre prinzipielle Ausrichtung auf Ziele, ohne aber auf die sittliche Verfassung des nach Macht strebenden Subjekts sonderlich zu achten. Wichtig ist ihm, daß die Macht zu einem "hohen Culturziele" angewandt, also wirklich gebraucht wird (ebd.). "Böse" nennt er sie dann, wenn sie gar keine Ziele hat und als Macht absolut gesetzt wird. Wird sie dagegen von einem sich frei entfaltenden Subjekt in Dienst genommen, werden ihr hohe Zwecke vorgegeben, dann ist sie 15
16
L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums (1841/43), Gesammelte Werke 5, 1984, 35. - Als eindrucksvoller Beleg für die frühe Verbindung Wagners zu Feuerbachs Philosophieren kann die (später gestrichene) Widmung der ersten Ausgabe von Das Kunstwerk der Zukunft gelten. Wagner will danach in seiner Schrift lediglich anschaulich machen, wie die Gedanken des Philosophen im Künstler wirken (vgl. die Wiedergabe der Widmung in: Sämtliche Schriften 12, 1912, 284 f.). Vgl. dazu Nietzsche, Ν 1874, 32/80.
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damit auch gerechtfertigt. Die "unschuldige Selbstigkeit" des Helden ist Ausdruck seiner Gleichgültigkeit gegenüber der bloßen Macht. Der Held gebraucht die Macht nur als Mittel zu seinen in produktivem Selbstbezug gesetzten Zielen. Eine wirkliche Differenz zu Wagner wird man aus der anderen Akzentsetzung nicht ableiten können, denn der Zusammenhang von Freiheit, Produktivität und Machtgewinn ist auch bei diesem verschiedentlich betont. So gilt dem Komponisten 1848, zur Zeit der ersten Entwürfe der Nibelungen-Trilogie, die bestehende Gesellschaft mit ihrer "furchtbaren Macht" deshalb verwerflich, weil sie die schöpferischen Kräfte absichtlich hemmt. Dieser Gedanke hat sich auch im ausgeführten Ring erhalten. Was aber bei Wagner niemals fehlt, der Hinweis auf die "sittlichen Fähigkeiten" als Bedingung der höchsten Kraftentfaltung der "Gesamtheit der Menschen", findet bei Nietzsche wenig Resonanz. Das moralische Verdikt gegen eine Macht, die aus List, Wortbruch oder blutigem Verbrechen hervorgeht, bleibt bei ihm aus. Solange keine Macht-Berechnung vorliegt, ist alles erlaubt. Die "hohe[nJ und edle[n] Ziele", an die er sich verschwenden möchte (N 1873, 29/54; 7, 651), haben kein moralisches Fundament. So gesehen steht Nietzsches frühe Macht-Konzeption längst jenseits von Gut und Böse.17 Es wird später zu zeigen sein, daß er sich gerade in der Freisetzung des Machtwillens vom präformierten moralischen Urteil in den Mittelpunkt der philosophischen Freiheitslehren zurückbegibt; sein Begriff für die Potenz der freien Tat ist dann "Wille zur Macht".
4. Glanz und Ehre von Wagners Macht Mit dem Vorgriff auf die vierte Unzeitgemäße Betrachtung sind wir der Entwicklung von Nietzsches Machtbegriff ein Stück vorausgeeilt, um an einer für sein Denken selbst entscheidenden Wende den Übergang von der göttlichen Macht auf den Menschen zu erfassen. Die Nibelungen-Passage ist nicht der erste Ort, an dem er sich über die Transformation göttlicher Kräfte in menschliche äußert. Die Geburt des homerischen Helden, der Schritt von der rohen Gewalt der Titanen zur genialischen Macht der Heroen, dient ihm schon früher als Beispiel für die Übernahme der Macht durch den Menschen. Die Abrechnung mit David Friedrich Strauss (1. UB) und die Historien-Schrift (2. UB) können als Positionsbestimmungen gegenüber den herrschenden gesellschaftlichen Mächten gelesen werden. Doch die Begegnung mit Wagner ist für Nietzsches Stellung zur Macht so entscheidend, daß es ge17
Zu Nietzsches früher Moralkritik braucht hier nur generell auf die Geburt der Tragödie (GT 5, 9 u. 12) und auf die zweite Unzeitgemäße Betrachtung hingewiesen zu werden. Dazu: E. Heftrich, Die Geburt der Tragödie: Eine Präfiguration von Nietzsches Philosophie?, 1989, 103 - 126; M. Wischke, Die Geburt der Ethik, 1994, 49 ff.
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rechtfertigt ist, auf sie zuerst einzugehen. Man sehe nur, wie der verehrte Meister im "Vorwort" zur Geburt der Tragödie ins Zentrum der Machtfrage gestellt wird, die nach der Meinung des jungen Baseler Professors über die Zukunft des deutschen Volkes entscheidet.18 Es kann daher nicht verwundern, daß Wagners Schicksal als ganzes im Prisma der Macht erscheint. Nietzsche interpretiert das Leben des nunmehr in Bayreuth angelangten Freundes als Bewegung zwischen zwei Machtpolen, in denen die heterogenen Kraftlinien seiner künstlerischen Entwicklung zusammenlaufen.19 Auf der einen Seite steht die Macht der "Gesellschaft", das gegenwärtig existierende "Gemeinwesen", in dem die "böse Vernunft und Macht" verkörpert sind (4. UB 7; 1, 469). Macht, Glanz, Ruhm sind in diesem Bereich nur äußerlich; beim Angriff einer starken Natur würden sie sofort vergehen. - Auf der anderen Seite steht die Macht des "kämpfenden Daseins". Hier herrschen "bewusste Freiheit" und "Unabhängigkeit des Gedankens" (4. UB 5; 1, 454), die "reichet], gewaltigen, seligef], furchtbare[]" Kraft der Natur, die sich ursprünglich im schöpferischen Menschen äußert (4. UB 6; 1, 464). Es ist die "ur-bestimmte Natur, durch welche die Musik zur Welt der Erscheinung spricht [...], ein Abgrund, in welchem Kraft und Güte gepaart ruhen" (ebd., 465). Es ist die Kraft des "großen Menschen", die "Macht seines Kunstwerks", mit der er gegen die "seelenlose oder seelenharte Gesellschaft, welche sich die gute nennt und die eigentlich böse ist" (4. UB 8; 1, 475 f.), anstürmt. Der bösen Macht der Gesellschaft steht damit die gute Macht des freien Künstlers gegenüber. Daß Siegfried diese gute Macht repräsentiert und Wotan die böse, ist offenkundig. Wagners Weg zwischen beiden Mächten ist, nach Nietzsche, lange Zeit unentschieden. In seinem frühen Drängen strebt er nach Anerkennung und Ruhm. Er will "Macht, Glanz, feurigste Lust" gewinnen, ihn locken "Ehren und Macht". Auch die falsche Ruhe, auf einer staatlichen Stelle alle "modernen Arten, Lust und Ansehen zu erwerben", führt ihn in Versuchung, und die Not, in die er gerät, bringt ihn dem Nachgeben gefährlich nahe (4. UB 3; 1, 439 f.). Für Nietzsche steht außer Zweifel, daß Wagner als beamteter Kapellmeister das Opfer seiner eigenen Größe geworden wäre. Denn in der Anpassung an ein Gefälligkeiten erwartendes Publikum wären nicht nur seine schöpferischen Kräfte verkümmert, sondern die ständige Behinderung der freien Entfaltung hätte ihn in sein Gegenteil verkehrt: "Ein mächtiges Streben, dem immer wieder ein Einblick in seine Erfolglosigkeit gegeben wird, macht böse" (4. UB 2; 1, 437). Wer unter aussichtslosen Bedingungen von seinem Ehrgeiz nicht läßt, wird gleichsam "unterschwürig und daher reizbar und ungerecht" (ebd.). Am Beispiel 18
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Vgl. dazu: Vorwort an Richard Wagner, den ausfuhrlichen Entwurf dazu (N 1871, 11/1) sowie den Mahnruf an die Deutschen (1873) (1, 891 - 897). Zu den biographischen und kulturgeschichtlichen Aspekten siehe: M. Ferrari Zumbini, Nietzsche in Bayreuth, 1990, 246 - 291. Im übrigen verweise ich auf: P. Wapnewski, Nietzsche und Wagner, 1989, 401 - 423; E. Heftrich, Nietzsches "Tristan", 1985, 22 - 34, insb. 29 ff.
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Wagners wird bereits hier die Genese des später sogenannten Ressentiments aufgewiesen. Das Rachegefühl treibt aus verhinderter Machtentfaltung hervor. Wagner, so Nietzsche weiter, sieht die ihm drohende Gefahr; er bewältigt sie zunächst künstlerisch in den Gestalten seiner Opern, durch die ein "Strom von sittlicher Veredelung und Vergrösserung" (ebd., 438) hindurchgeht. Zugleich aber meidet er die Gefahr durch Ruhelosigkeit und Flucht vor der "Leichtfertigkeit" der "modernen Einrichtungen" der Kultur (4. UB 3; 1, 440). Immer wieder erfaßt ihn der "Ekel" vor den Mächtigen der Gesellschaft, aber er findet lange Zeit den Ort nicht, wo er vor ihnen und vor sich selbst sicher sein könnte. So gehört er einen großen Teil seines Lebens zu den "Zigeunern und Ausgestossenen unserer Cultur" (ebd.). In dieser Wanderschaft entfaltet sich seine "Begabung des Lernens" (ebd., 441), und seine Abwehr der herrschenden Mächte wird endgültig. Die Entsagung gibt ihm die Kraft zu immer größeren Leistungen, die ihm nun einen eigenen Ort im Gegenlager des modernen Menschen sichern. Er ist dem "Schlamm der herrschenden Gedankenlosigkeit und Gewohnheit" entronnen (4. UB 8; 1, 483), und die "ganze Ohnmacht" der Zeit ist überwunden. Wagner hat - wie Wotan im Ring der Nibelungen - der äußeren Macht entsagt und sieht in seiner Kunst eine stärkere Macht emporsteigen. Er ist ein Mann, "der seine eigene Jugend erst spät gefunden hat" (4. UB 2; 1, 436). In der Sprache des Mythos sagt Nietzsche dies noch deutlicher: Gegen Ende seines Lebens entstehe Wagner als ein neuer Mensch. Wie der auf die Macht verzichtende Wotan in Siegfried die künftige Macht aufgehen sieht, so entsteht in Wagner selbst der neue Mensch, sobald er der alten Macht entsagt und sich ganz seiner freien schöpferischen Kraft überantwortet hat. Wotan-Wagner wird Siegfried-Wagner. Und an dieser Wende seines Lebens, die auch die Wende der Kultur bedeuten könnte, erringt er eine Macht, die auch "[d]as Zarteste und Reinste" einschließt (4. UB 8; 1, 474). Nun endlich in seiner Kunst frei geworden kann er "mit der Lust des Gesetzgebers walten" und "[u]ngestüme, widerstrebende Massen zu einfachen Rhythmen bändigen" (4. UB 9; 1, 494). Das Neue in Wagner zeigt sich also in einer neuen Gestalt der Machtausübung. Auch das Komponieren beruht auf der Herrschaft über gegensätzliche Kräfte. Der Genius, der hier seine gesetzgeberische Kraft beweist, hat sich in allen künftigen Dingen ein Vorrecht erworben (vgl. Ν 1871, 11/1; 7, 355).
5. Machtpolitische Erwartungen Die komprimierte Wiedergabe von Nietzsches Urteil über Wagner macht die Reichweite des auf den Menschen übertragenen Machtbegriffs kenntlich. Was immer am Menschen groß und wesentlich ist, bedarf der Macht. Zwar ist auch das durchschnittliche Leben ein Machtge-
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schehen, aber die wahre Größe kommt erst in der souveränen Verfügung über widerstrebende Kräfte zum Vorschein. Hierin gibt es keinen Unterschied zwischen dem künstlerischen und dem politischen Genius. Der Grund dafür liegt freilich in der Koinzidenz von ästhetischer und politischer Machtausübung. Für Nietzsche ist letztlich auch der politische Herrscher ein künstlerischer Gesetzgeber. Nachdem der Primat der Kultur in der Machtausübung des Menschen am Beispiel Wagners anschaulich gemacht worden ist, kann nunmehr ein Blick auf den Realisierungsbereich der politischen Macht geworfen werden. Die Entwicklung von Nietzsches politischer Einstellung läßt sich an den Eindrücken ablesen, die jene beiden Kriege, deren Zeuge er 1866 und 1870 war, hinterlassen haben. Vor dem preußisch-österreichischen Konflikt ist bei ihm ein politisches Interesse nicht erkennbar. Der Schüler bewundert Alexander den Großen ("man könnte Theile aus seinem Leben zu vortrefflichen Tragoedien benutzen"; BAW 1, 129) und verwendet gelegentlich Bürgerkriegs- und Belagerungsmetaphern, um den inneren und äußeren Druck zu veranschaulichen, aus dem die seelischen Stimmungen hervorgehen.20 Von einem brieflich erwähnten Vortrag über die "politischen Dichter Deutschlands" für die Burschenschaft Frankonia, der Nietzsche im ersten Semester angehörte (vgl. Bf. an Gersdorff v. 25. 5. 1865; KSB 1, 2, 56), ist nichts überliefert. Den Einmarsch preußischer Truppen in Sachsen, zu dem ja auch sein damaliger Studienort Leipzig gehört, kommentiert er in einem Brief an Mutter und Schwester ausführlich. Die Gefahr für Preußen hält er für "ungeheuer groß", und er zweifelt an der Möglichkeit eines Sieges. Um so mehr imponiert ihm Bismarcks Mut: "Auf diese revolutionäre Weise den deutschen Einheitsstaat zu gründen, ist ein starkes Stück" (Anfang Juli 1866; KSB 1, 2, 134). Die diplomatischen Schachzüge findet er "vorzüglich", fürchtet jedoch, daß Bismarck die "moralischen Kräfte im Volke" (!) unterschätzt. Dies ist eine damals geläufige Einschränkung, die Nietzsche nicht an der Erklärung hindert: "Ich bin ein ebenso enragirter Preuße, wie ζ. B. der Vetter ein Sachse ist." (ebd., 135) Freilich: dies Bekenntnis ist temperiert; dem Vetter läßt er arglos die andere Meinung. Für ihn selbst aber gilt: Das eigene Land ist in Not; also fragt man nicht lange nach den Umständen und hilft.21 Daß er es damals wirklich ernst meint, stellt er mit der Meldung zum Militärdienst 1867 unter Beweis. Person und Politik Bismarcks beschäftigen Nietzsche noch eine Weile. Er ist fasziniert von dessen "kühnefm] " Vabanque-Spiel, das so bedingungslos auf Erfolg setzt. Die Parteinahme schwächt er jedoch in ästhetischer Distanz wieder ab; zumindest versucht er, sich von 20
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Vgl. F. Nietzsche, lieber Stimmungen (1864); BAW 2, 407: "Da es aber in der Macht des Willens steht, die Seele reflektieren zu lassen oder nicht, trifft die Seele nur das, was sie will." "Stimmungen komm[en] also entweder aus innern Kämpfen oder aus einem äußern Druck auf die innere Welt. Hier ein Bürgerkrieg zweier Heerlager, dort ein[e] Bedrückung des Volkes von Seite[n] eines Standes, einer klein[en] Minorität." "Unsre Lage ist sehr einfach. Wenn ein Haus brennt, fragt man nicht zuerst, wer den Brand verschuldet hat, sondern löscht. Preußen steht in Brand. Jetzt gilt es zu retten. Das ist das allgemeine Gefühl." (Bf. an F. u. E. Nietzsche v. Anfang Juli 1866; KSB 1, 2, 135)
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seinen Sympathien und vom allgemeinen Zeitbewußtsein loszumachen, um vor seinem geistigen Auge das "Schauspiel einer großen Haupt- und Staatsaktion" "schön und erbaulich" ablaufen zu sehen (Bf. an Gersdorff Ende August 1866; KSB 1, 2, 159). Anderthalb Jahre später berichtet er von "[u]nmäßige[m] Vergnügen" an der Person Bismarcks: "Ich lese seine Reden als ob ich starken Wein trinke [...]" (Bf. an Gersdorff v. 16. 2. 1868; KSB 1, 2, 258). Und obgleich - neben dem Militärdienst - ganz in das Studium Demokrits, des Diogenes Laertius und in die soeben erschienene Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange vertieft, gesteht er dem mit nationalökonomischen Arbeiten befaßten Freund Gersdorff, die Politik sei "jetzt das Organ des Gesammtdenkens" (ebd.).22 Trotzdem hört man lange nichts mehr zu diesem Thema. Der überstürzte Studienabschluß und die Übernahme der Baseler Professur lassen Nietzsche keine Zeit zu politischen Reflexionen. Ein "furchtbarer Donnerschlag", der deutsch-französische Krieg, ändert das jäh. Nietzsche hat die Vision vom Untergang der ("fadenscheinige[n]") Kultur und vom erzwungenen Neubeginn in klösterlichen Gemeinschaften und - meldet sich als Kriegsfreiwilliger an die Front.23 Aus "Pflicht[] gegen das Vaterland" versieht er seinen Dienst als Sanitätshelfer, wird jedoch nach wenigen Wochen selbst schwer krank, muß aus dem Dienst entlassen werden24 und schreibt schon drei Monate nach seiner freiwilligen Meldung in "vertraulicher Mitteilung": "[I]ch halte das jetzige Preußen für eine der Cultur höchst gefahrliche Macht." (Bf. an Gersdorff v. 7. 11. 1870; KSB 2, 1, 155) Über das Kriegserlebnis wissen wir wenig.25 Dem Freund Rohde mag er nichts darüber mitteilen (Bf. v. 23. 11. 1870; KSB 2, 1, 158); dem anderen, Gersdorff, der auch Soldat war, rät er, nicht mehr an diese "entsetzlichen Dinge" zu denken. Ihm schreibt er von seiner Erleichterung darüber, daß auch der Freund den "fürchterlichen Gefahren" entronnen ist - "als ein Liebling des Kriegsgottes doch ohne ihn wieder zu lieben": "Unser Kampf steht noch bevor -[...] die Kugeln, die uns tödtlich treffen sollen, werden nicht aus Gewehren und Kanonen geschossen!" (Bf. v. 12. 12. 1870; KSB 2, 1, 161 ff.) Von nun an scheint er keine Erwartungen an die staatliche Macht mehr zu hegen, insbesondere nicht an Preußen: Denn Preußen hat aus bloßem Machtinteresse gehandelt, ohne ein kulturelles Ziel. Wie wenig entschieden sein Urteil jedoch ist, zeigt eine Äußerung aus dem nicht publizierten ersten Vorwort zur Geburt der Tragödie: "Die einzige produktive politische Macht 22
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Die Formulierung Nietzsches erinnert an Novalis' Satz vom Staat als der "Armatur der gesamten Tätigkeit", der mit der Rede von der "Menschenwelt" als dem "gemeinschaftlichen Organ der Götter" zusammenstimmt (Novalis, Werke und Briefe, 1962, 364 u. 507). Die frühe Kenntnis von Novalis' Schriften bezeugt Nietzsche in seinen Aufzeichnungen aus dem August 1859 (Aus den Hundstagsferien; BAW 1, 147 f.). Vgl. die Briefe an E. Rohde v. 16. 7. 1870 u. an W. Vischer-Bilfinger v. 8. 8. 1870 (KSB 2, 1, 130 f. u. 133 f.). Auch P. D. Volz, die auf der Grundlage zahlreicher Dokumente über Nietzsches Krankheiten - und vor allem aber seine Einstellung dazu - berichtet (Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 1990), teilt über die Krankheit im Krieg nichts mit. Im Brief an E. Rohde v. 23. 11. 1870 spricht Nietzsche von den "Schlingen der Ruhr und der Diphtherie" (KSB 2, 1, 158). Näheres bei C. P. Janz, Nietzsche, Bd. 1, 1978, 375 - 381. Vgl. Ν 1870, 4/1; 7, 87 ff.
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in Deutschland, die wir Niemanden näher zu bezeichnen brauchen, ist jetzt in der ungeheuersten Weise zum Siege gekommen [...]. Diese Thatsache ist vom äußersten Werthe, weil an jener Macht etwas zu Grunde gehen wird, das wir als den eigentlichen Gegner jeder tieferen Philosophie und Kunstbetrachtung hassen, ein Krankheitszustand, an dem das deutsche Wesen vornehmlich seit der großen Französischen Revolution zu leiden hat [...]. Jener ganze auf eine erträumte Würde des Menschen [...] gebaute Liberalismus wird sammt seinen derberen Brüdern an jener starren, vorhin angedeuteten Macht verbluten" (N 1871, 11/1; 7, 353). Diese Hoffnung ist unmittelbar nach der Beendigung des französisch-deutschen Krieges im Februar 1871 formuliert. In diesem Geist kann er noch 1876 vom "grosse[n] Krieg" Preußens gegen Frankreich sprechen (4. UB 8; 1, 480). Im Entwurf des Vorworts zur Geburt der Tragödie - "an Richard Wagner" - vergleicht Nietzsche die beiden Kulturen, die vermeintlich entartete romanische Zivilisation mit der männlichen deutschen, von der er die Wiedergeburt der hellenischen Welt erwartet. In dieser Opposition ergreift er sogleich rückhaltlos Partei und setzt - ungeachtet seiner vorausgegangenen Enttäuschung - auf die Militärmacht Preußens. Bismarck erscheint schon wieder als der politische Genius an der Seite des künstlerischen. So jedenfalls müssen wir seine hymnischen Äußerungen in der Vorrede zu dem "ungeschriebenen" Buch Der griechische Staat verstehen, wo er die Arbeit als "eine Schmach" (GS; 1, 765) bezeichnet und alle kulturellen Erwartungen in den ästhetischen Charakter des Kampfes setzt. Im Hause Wagner ist man von solchen Tönen eher peinlich berührt, hatte doch Richard längst eine Parole für den Frieden ausgegeben: " 'Der Deutsche ist tapfer'. Und das ist etwas! - Sei das deutsche Volk nun auch tapfer im Frieden; [...]. "26 Dieses Wort nimmt Nietzsche im Entwurf zu seiner Vorrede zwar beifällig auf, streicht es aber vor der Publikation. Erst zwei Jahre später, in der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung über David Strauss, hält er den politischen Sieg über Frankreich für verspielt. Durch die fehlende Wirkung der Kultur droht der militärische Sieg in eine kulturelle Niederlage, "ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des 'deutschen Reiches'", umzuschlagen (1. UB 1; 1, 159 f.). Aber auch dabei hat er die Hoffnung auf die "deutsche Mission" gegenüber der "französisch-jüdische[n] Verflachung", von der er im Sommer 1871 spricht, nicht aufgegeben. Er beschwört die Tapferkeit des deutschen Mannes in dem Glauben, sie setze die Zeichen für eine geistige Erneuerung (Bf. an Gersdorff v. 21. 6. 1871; KSB 2, 1, 203). 26
R. Wagner, Beethoven (1870), Sämtliche Schriften 9, 1912, 125; vgl. Ν 1871, 11/1; 7, 356: "'der Deutsche ist tapfer: sei er es denn auch im Frieden. [...]'" Nietzsche paßt sich im veröffentlichten Vorwort zur Geburt der Tragödie Wagner an und spricht mit einer gewissen Vorsicht, um die Vorbereitungen des Bayreuther Unternehmens nicht zu belasten. In den nicht zur Veröffentlichung gedachten Vorreden zu den "ungeschriebenen Bachern" braucht er solche Rücksichten nicht zu nehmen. Aus Cosima Wagners Tagebüchern (1.14. Jan. 1873) wissen wir, daß die ihr zum Geschenk gemachten Vorreden wenig Anklang gefunden haben: "eine ungeschickte Schroffheit spricht sich zuweilen darin aus, bei immer großem Tiefsinn des Empfundenen" (Die Tagebücher, Bd. 1 (1869 - 1877), 1976, 623).
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Im Sommer 1871 spiegelt sich in dieser erneuten Erwartung auch die Erschütterung, die der Aufstand der Pariser Kommune in ihm ausgelöst hat. Selten finden wir bei Nietzsche angesichts eines politischen Ereignisses eine solche Bestürzung: "Als ich von dem Pariser Brande vernahm, so war ich für einige Tage völlig vernichtet und aufgelöst in Thränen und Zweifeln: die ganze wissenschaftliche und philosophisch-künstlerische Existenz erschien mir als eine Absurdität, wenn ein einzelner Tag die herrlichsten Kunstwerke, ja ganze Perioden der Kunst austilgen konnte; [...]" (ebd., 204). Da die Kunst "höhere Missionen" zu erfüllen hat und keineswegs bloß der Menschen wegen da sein kann, gefährdet der Mensch in solchen Exzessen mehr als bloß sich selbst. Jede Macht, die dem "metaphysischen Wesen der Kunst" entgegensteht, muß Nietzsche folglich als böse ansehen. Daß er dieses Verdikt noch nicht dem neu gegründeten deutschen Staat entgegenhält, belegt seine Absicht, ein Promemoria zugunsten einer "wirklichf] deutsche[n] Bildungsanstalt" in Straßburg an Bismarck zu senden (Bf. an Rohde v. 28. 1. 1872; KSB 2, 1, 279). Doch die Interpellation zugunsten der Straßburger Universität bleibt ungeschrieben. Dies ist gewiß ein Zeichen der schnell wachsenden politischen Enttäuschung. Nachdem auch Wagner zunehmend erfahren muß, daß der Berliner Hof und vor allem Bismarck - trotz Ergebenheitsadresse und "Kaisermarsch"27 dem Bayreuther Unternehmen skeptisch gegenüberstehen, nimmt die Begeisterung schnell ab. Die hochgespannten Erwartungen an das Reich verlieren sich schon im Gang des Jahres 1872, und Nietzsche hat nun keine bestimmte politische Macht mehr, auf die seine kulturellen Hoffnungen gestützt werden könnten. Er gerät in die prekäre Lage dessen, der zwar grundsätzlich die Macht bejaht, aber jede ihrer konkreten zeitgenössischen Gestalten verneint.28
6. Die "an sich böse Macht" Die zwei Jahre nach der Rückkehr vom Kriegsdienst sind die Periode des intensivsten persönlichen Kontakts zu Jacob Burckhardt. Auch dies erklärt Nietzsches zunehmende Distanz zu den herrschenden politischen Mächten. Bei seiner Verehrung für den älteren Lehrer,
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Dazu: M. Gregor-Dellin, Richard Wagner, 1983, 640 ff. Hierzu eine m. E. treffende Beobachtung von O. Spengler über die unterschiedliche Stellung Goethes und Nietzsches zur politisch gegenwärtigen Macht: "Er (Goethe) hat Napoleon geliebt, als Erscheinung, wie er sie in der Nähe wirken sah. Mit den Gewaltmenschen der Vergangenheit hat er, sobald er sie vergegenwärtigen sollte, nie etwas anzufangen gewußt: sein Caesar blieb ungeschrieben. Aber Nietzsche liebte gerade Menschen dieses Schlages nur aus der Ferne. In der Nähe - wie Bismarck - ertrug er sie nicht." (Nietzsche und sein Jahrhundert (1924), 1938, 110 - 124, 114)
6. Die "an sich böse Macht"
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mit dem er sich in gemeinsamen Überzeugungen tief verbunden wähnt,29 kann es nicht wundernehmen, wenn dessen Ansichten direkt aufgenommen werden. In den Anfang 1872 gehaltenen Vorträgen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten wird die egoistische, sich selbst absolut setzende Tendenz des Staates kritisiert. Gerade darin sieht auch Burckhardt das Novum der neuzeitlichen Machtbildungen. Der Staat der Gegenwart, so heißt es bei Nietzsche, ist wahllos im Einsatz seiner Mittel und stellt alles unter den Gesichtspunkt der Utilität. Er läßt die Bildung nur gelten, sofern sie seine Interessen fördert. Eine "Allmacht" (ZB III; 1, 708) in diesem Sinn habe der antike Staat nie beansprucht. Auch diese These korrespondiert der Darstellung, die wir heute in Burckhardts Weltgeschichtlichen Betrachtungen30 nachlesen können. Die Griechen seien so tiefsinnig gewesen, die "Noth- und Schutzanstalt" nicht über die Kultur zu setzen, sondern in ihr den "Kamerad[en] und Weggenosse[n] " zu schätzen (ebd., 709). Im "Kulturstaat" der Moderne sieht Nietzsche eine Bedrohung der Kultur, die nicht geringer ist als die durch die anderen "Mächte der Gegenwart", durch "Presse", "plebejische Öffentlichkeit" und sogenannte "Kulturinteressen" (ebd., 705 f.). Wenn ein Staat sich mit diesen "feindselige[n] andere[n] Mächte[n]" verbündet, dann muß man ihn "entartet" nennen, weil er gerade gegen "den Geist" ankämpft, in dessen Namen er zu sprechen vorgibt. Gemeint ist der "wahrhaft deutschet]" Geist (ZB IV; 1, 713). In der Barbarei der Gegenwart wird allen alles zum Instrument, durch das sie ein illusorisches Anderes, Neues, Ewiges zu erreichen suchen. Burckhardts Kritik an der "rein erwerbenden Welt" findet sich in anschaulichen Wendungen wieder, aber auch Wagners revolutionäre Anklage gegen eine Gesellschaft, in welcher "der Mensch nur als Werkzeug jener gebietenden abstrakten Mächte Wert und Geltung habe, nicht an sich und als Mensch",31 dringt durch: "Reichthum und Macht, Klugheit, Geistesgegenwart, Beredsamkeit, ein blühendes Ansehn, ein gewichtiger Name - alles sind hier nur Mittel geworden" (ebd., 714). Sobald sich eine reale gesellschaftliche Einflußgröße, sei es die staatliche Organisation, sei es das Pressewesen oder die öffentliche Meinung,32 verselbständigt und ihre eigene Erhaltung zum Maßstab alles anderen macht, stellt sie sich gegen die Kultur. Sie verfällt damit dem Verdikt des Geistes, der im Wissen um die Tiefe des menschlichen Leidens nach der ästhetischen Vollendung des Lebens strebt. Auch der Geist ist eine "Macht", die aber unterliegt, sobald sie mit den veräußerlichten gesellschaftlichen Größen in direkte Konkurrenz 29
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Zum Verhältnis Burckhardt-Nietzsche siehe außer den bereits genannten Werken von K. Löwith und A. v. Martin: D. Jähnig, Der Nachteil und der Nutzen der modernen Historie nach Nietzsche, 1975, 68 - 111, 90 ff.; H. Schröter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln, 1982, 181 ff. - Zum EinfluB Burckhardts auf Nietzsches politisches Urteil vgl. auch die Diskussionsbemerkung von C. P. Janz auf der Nietzsche-Tagung 1977 (Nietzsche-Studien 7, 1978, 357). Man darf aber den oben dargelegten Anteil Nietzsches eigener Erfahrungen nicht unterschätzen. J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Gesamtausgabe 7, 1929, 1 - 208, 66 f. R. Wagner, Die Kunst und die Revolution (1848), Sämtliche Schriften 3, 1912, 31. Siehe dazu: K. Braatz, Friedrich Nietzsche - Eine Studie zur Theorie der Öffentlichen Meinung, 1988.
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
tritt. Nur im Vertrauen auf die in ihr wirkenden Überzeugungskräfte kann die Macht der Kultur zur Umwälzung führen. Die Kraft dazu muß sich im Innern der tiefer empfindenden und denkenden Menschen sammeln, möglichst unter Bedingungen klösterlicher Abgeschiedenheit (vgl. Bf. an Rohde v. 15. 12. 1870; KSB 2, 1, 165 ff.). Gut erscheint die Macht nur dann, wenn ihr die physische und soziale Kraft fehlt: bei den politisch Machtlosen, die sich ganz auf die Kraft ihres schöpferischen Geistes verlassen. "Mächtig" sind sie nur im übertragenen Sinn: durch Kritik und künstlerische Produktion; sie können nur hoffen, daß ihnen im Kampf mit diesen Mitteln auch die gesellschaftliche Macht zufällt, die sie dann ganz in den Dienst ihrer metaphysischen Ziele stellen. Nur eine so in Dienst genommene Macht ist vom Odium des Bösen befreit. Diese von Romantizismen durchsetzte Konzeption hält sich bei Nietzsche trotz zahlreicher realistischer Einsichten in die politisch-soziale Welt bis in die Mitte der siebziger Jahre. Die Nibelungen-Paraphrase in der Betrachtung über Wagner klingt wie eine abschließende Wiederholung des Themas, in dem zwei Machtmotive dominieren: die Selbsterhaltung der äußeren und die Selbstentfaltung der inneren Macht. Den beiden Motiven entsprechen zwei Sphären der Macht, in deren Trennung die Zerrissenheit des modernen Menschen zum Ausdruck kommt: die gesellschaftliche Macht des Staates, der Parteien, der Presse etc. und die Macht der Kultur. Im Vergleich mit der staatlichen erscheint die kulturelle Macht schwach, ja ohnmächtig. Man könnte in ihr eine Macht nur im übertragenen Sinne sehen, die den Namen einer "wirklichen" Macht gar nicht verdient. Doch das hieße, die in ihr frei werdenden Naturkräfte zu unterschätzen. Das Leben äußert sich in ihnen ebenso ursprünglich wie in den Sicherungs- und Schutzinstinkten, die das politische Handeln bewegen. Die "geistigen Mächte, Kunst und Religion" stehen in ihrer Gesamtwirkung der Potenz des Staates nicht nach (2. UB 8; 1, 308). Die "heraklesmässige Kraft der Musik" und der Mythus, "einem mächtigen Titanen gleich" (GT 10 u. 21; 1, 73 u. 134), sind wie alle schöpferischen Potenzen eine wirkliche Macht im Leben der Völker. Zwar kann sich der Geist vor den mächtigen Gesellschaften, Regierungen, Religionen, öffentlichen Meinungen in die "Höhle des Innerlichen", in "das Labyrinth der Brust" zurückziehen, wo ihn kein Tyrann erreicht (3. UB 3; 1, 354), doch mit der Größe der Gefahren, die hier dem Einsamen auflauern, wächst auch die Macht, mit welcher er aus seinem Versteck nach außen hervorbricht. Schopenhauer und Wagner, aber wohl auch Jacob Burckhardt gelten Nietzsche als die Vorbilder für einen gelungenen Rückzug von der äußeren Macht, bei dem die Kraft gesammelt wird, die letztlich nicht im Innern bleibt. Der Verzicht auf physischen Zwang muß, wie allein schon die öffentliche Meinung belegt, keinen Verlust an Einfluß und Wirkungsmöglichkeit bedeuten. Denn wo eine bewegende, zerstörende oder auch aufbauende Kraft am Werk ist, wo eine Wirklichkeit geschaffen wird - sei es durch einen Gott, einen Staatsmann oder einen Künstler - überall, wo Vorstellungen einen tätigen Willen bestimmen, wirkt eine Macht. "Macht" ist
6. Die "an sich böse Macht"
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der Begriff, den Nietzsche bereits in dieser frühen Phase für alle Formen, Wirklichkeit hervorzubringen und zu gestalten, gebraucht, obgleich er die Macht "an sich", vielleicht die Wendung Burckhardts wiederholend, grundsätzlich verdammt. Dieses Urteil gilt der bloß äußeren Macht, die nur an egoistische Ziele gebunden ist und damit letztlich nur sich selbst gehorcht. Die Opposition zweier Machtsphären entspricht keiner dualistischen Konzeption gleichrangiger, sich wechselseitig fordernder Mächte, wie sie ζ. B. in Dionysos und Apollo auftreten. Die Kultur ist in Nietzsches Augen die dominante Macht. Ihr ist der Staat untergeordnet. Eine Kraft, die ihre "Stärke nur in der Zahl" hat, kann keinen Künstler verpflichten, sich ihr zu "akkomodieren". Der Staat "an sich" ist bloße Gewalt, ohne sittlichen und ästhetischen Wert, ist nur eine Bedingung des kulturellen Lebens, ist Vorstufe und Schutzraum geistiger Entwicklung und bezieht seine Berechtigung nur aus dem, was er möglich macht. Gerechtfertigt ist der Staat, sofern er schöpferische Kräfte freisetzt, und nicht schon dadurch, daß er das bloße Leben seiner Bürger sichert. Ein Gegensatz entsteht erst durch die von Burckhardt kritisierte Hypertrophie des Staates, der sich über die Kultur erhebt. Nicht genug, daß er versucht, sich die Kultur dienstbar zu machen; er präsentiert sich ihr sogar als höchstes Ziel: "Ein neues Phänomen! Der Staat als Leitstern der Bildung !" (ZBΙΠ; 1, 710) In dieser Rolle ist die organisierte gesellschaftliche Macht verwerflich; nur gegen diese Verkehrung richtet sich Nietzsches Kritik. Wie aber stellt er sich die Indienstnahme des Staates durch die Kultur vor? Wie ist die Dominanz des Geistes möglich? Antworten auf diese Fragen lassen sich aus Nietzsches Reflexionen über den griechischen Staat und über den Wert der Geschichte extrahieren. Dabei zeigt sich, daß es in Staat und Kultur um eine einheitliche Machtkonzeption geht und der Gegensatz zweier Machtsphären die Folge geschichtlicher Fehlentwicklungen darstellt. Im Blick auf die "höchsten Exemplare" der Menschheit beruft sich Nietzsche auf jene Form der Macht, in der sie sich als eine Gestaltungskraft in Politik und Kultur gleichermaßen entfaltet. Hier bezieht er sich zum ersten Mal direkt auf die Macht in einer spezifischen Verfassung: auf die historische Größe. Das große Individuum geht in seiner schöpferischen Potenz stets über die Sphäre des Staates hinaus; es hat seine Größe auch schon als Feldherr, Eroberer und Gesetzgeber in einer geistigen Kraft, die sich nicht im politischen Raum erschöpft. Es ist die "inspirirende[] Macht" (2. UB 10; 1, 324) des Genius. In der Regie eines großen Mannes verliert die gesellschaftliche Macht das Odium des Bösen, gilt nur noch als notwendiges Übel. Daß jedoch die Macht mehr ist als ein von den Lebenszwängen diktiertes Mittel, kündigt sich in der Zwecksetzung des großen Individuums an, die nämlich aus der ursprünglichen Machtvollkommenheit der "starken Persönlichkeit" stammt. Der starke Mensch verfügt über Naturkräfte, die er in der "Herrschaft über sich selbst" kultiviert (2. UB 5; 1, 285). Die angeborene Kraft verstärkt sich in der Selbstanwendung. In den großen Einzelnen ist die Macht gewissermaßen bei sich
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
selbst, denn hier zeigt sie sich "zeitlos-gleichzeitig", "ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge", also unberührt von den bloß um ihren Machterhalt besorgten kleinen Potentaten (2. UB 9; 1, 317). Ihre eigentliche Äußerung liegt im "hohefn] Geistergespräch", das die Angehörigen der "Genialen-Republik" über die Niederungen der Geschichte hinweg miteinander führen. 33 Zusammen mit dem Konzept des großen Individuums betont Nietzsche einen anderen Gedanken, den er nun nicht länger hintanstellen kann: den des wesenhaften Rangunterschiedes zwischen den Menschen. Die Idee der unaufhebbaren Rangdifferenz zwischen den Vielen und den wenigen Großen ist für ihn notwendig mit einer Rechtfertigung der Existenz des Sklaven verbunden. Der Rangunterschied macht sich schon im Gegensatz zweier Triebe geltend: der "Gier des Existenz-Kampfes" steht das "Kunstbedürfnis[]" gegenüber - unberührt von allen historischen Veränderungen. An der Moderne kritisiert Nietzsche den Hang, das Erste vor dem Zweiten zu entschuldigen und der Arbeit eine spezifische Würde zu verleihen. So wenig aber, wie das Dasein einen "Werth an sich" hat, so wenig gibt es eine "Würde der Arbeit". Das "nackte Fortleben", die Selbsterhaltung, bleibt, wie die Arbeit, eine "Schmach" (GS; 1, 765). Diese Wahrheit, so meint er, kannten die Griechen und sprachen sie mit "erschreckender Offenheit" (ebd.) aus. Das Handwerk galt bei ihnen als niedere Tätigkeit und die Arbeit als eine Angelegenheit der Sklaven. Kunst und Arbeit waren durch keinen übergreifenden Wertbegriff vermittelt, denn auch das künstlerische Schaffen selbst "fallt für den Griechen ebensosehr unter den unehrwürdigen Begriff der Arbeit, wie jedes banausische Handwerk" (ebd., 766). Dieses Verhältnis gilt in Nietzsches Augen unverändert, und so spricht er auch für seine Zeit die "grausam klingende Wahrheit" aus, "daß zum Wesen einer Kultur das Sklaventhum gehöre" (ebd., 767). Die Kunst ist von der Grausamkeit gegenüber den Vielen, die ihr nur das Daseinsfundament verschaffen, nicht zu trennen. Die Menge sichert die Existenz und wird dabei zum Sklaven der künstlerischen Kraft. Der Künstler wird im mühevollen Akt zum Sklaven seiner produktiven Leidenschaft; selbst in dieser Einbindung verliert die physische Anstrengung keineswegs den Ausdruck der Not. Es ist unerläßlich, sich den ohne Ausnahme auf der Arbeit lastenden Fluch vor Augen zu führen, um zu verstehen, was gemeint ist, wenn auch an dieser Stelle die "Natur der Macht" als "immer böse" bezeichnet wird (ebd., 768). Um einer "geringen Anzahl olympischer Menschen die Produktion der Kunstwelt zu ermöglichen", muß das "Elend der mühsam lebenden Menschen" noch gesteigert werden (ebd., 767). Der dazu erforderliche Druck auf die Masse ist nur durch mitleidlose Machtausübung möglich. Die Kultur verlangt eine Verschärfung des von der Natur verhängten Existenzdruckes. Erfordert die einzelne Existenz die ArErgänzend zu den hier herangezogenen Partien ist vor allem auf die dritte Unzeitgemäße Betrachtung hinzuweisen, in der Nietzsche besonderen Wert auf die Unabhängigkeit (Freiheit!) und Vorbildlichkeit der Ausnahmeexistenzen legt (vgl. insb. 3. UB 8).
6. Die "an sich böse Macht"
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beit nur unter dem Druck des eigenen Bedürfnisses, so zwingt die Kultur die Vielen zusätzlich unter die Bedürfnisse einiger Großer. Zur Arbeit für den eigenen Lebensunterhalt kommt so die Arbeit für andere hinzu. Die Kultur steigert die unabänderliche Daseinsnot des individuellen Lebens zur strengeren Arbeitslast des Kollektivs, um die prometheischen Leistungen der großen Individuen möglich zu machen, die dadurch von der Last des Schaffens ja keineswegs befreit sind. Doch ohne die "drohnenartige" Betriebsamkeit der "unterdrückten Masse" (ebd., 768) fehlte das Fundament für die schöpferische Tat der Einzelnen. Das Mittel nun, welches die Vorleistungen der Kultur erpreßt, ist die Macht. Sie ist der um den Zwang zur Kultur verstärkte Zwang der Natur; sie ist die gesellschaftlich verschärfte Daseinsnot, die bewußt organisierte Selbsterhaltung und damit so schmachvoll wie alle Formen physischer Existenzsicherung. Das politische Verdikt über die an sich böse Macht wird auf das Verhältnis von Natur und Kultur übertragen. Macht gehört insgesamt in die Sphäre des naturgebundenen Existenzkampfes und folglich, zusammen mit der Arbeit, zu den niederen Bedingungen der Kultur. Burckhardts politischer Aristokratismus, der aus dem Geist des Patriziers und nicht aus dem des Feudalherren stammt, wandelt sich bei Nietzsche unter dem Einfluß Schopenhauers zum metaphysischen Aristokratismus, der dem bloßen Dasein, der gegebenen individuellen Existenz, jegliche Legitimität bestreitet.34 Der "gewöhnliche Mensch, diese Fabrikwaare der Natur"35 ist nichts gegenüber dem Genius, in dessen Schöpfungen sich das Ganze repräsentiert. Die Kunst als Objektivation der Ideen verleiht der Kultur den metaphysischen Vorrang, der sich in Nietzsches Abwertung der Macht als solcher behauptet. Im Bannspruch über die Macht wiederholt sich auf höherer Stufe die metaphysische Disqualifikation der Arbeit. Beiden liegt die These von der Wertlosigkeit des bloßen Daseins zugrunde. "Böse" aber ist die Macht im Unterschied zur Arbeit, weil sich hier der Mensch selbst zum Vollstrecker der Natur aufschwingt, hart und rücksichtslos auftritt wie das Leben selbst. Im Machtgebrauch verschärft sich das "principium individuationis". Der im Dasein ohnehin befangene unkünstlerische Mensch wird in der Unterwerfung unter einen fremden Willen noch stärker eingeschränkt. Die Macht trifft den Unterworfenen mitleidlos und macht ihn unfrei. Sie hat kein Erbarmen mit dem Elend der Menschen, es sei denn, daß sie den Unterlegenen die Augen blendet und ihn dankbar macht, im Triumphzug des "blut34
35
Dazu: G. Haeuptner (Die Grundansicht des jungen Nietzsche, 1936,119), der die Radikalisierung der Ansichten Burckhardts durch Nietzsche hervorhebt. Da in der Literatur stets Burckhardts Distanz gegenüber Nietzsche, insbesondere nach der Übersendung der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, betont wird, ist der Hinweis angebracht, daß Burckhardts vielzitierter Brief v. 25. 2. 1874 keineswegs so abwehrend ist, wie ζ. B. Löwith es hinstellt. In der praktischen Ausrichtung des Geschichtsstudiums und vor allem in der Ablehnung einer an Hegel orientierten Geschichtswissenschaft weiß sich Burckhardt mit Nietzsche durchaus einig. Zur Distanz fuhren freilich die Exaltationen und Generalisierungen des jüngeren Kollegen. Nietzsches Entwicklung in den achtziger Jahren konnte Burckhardt nur noch mit Befremden zur Kenntnis nehmen. Vgl. hierzu die bei C. P. Janz (Nietzsche, Bd. 1, 1978, 647) wiedergegebene Passage aus einer Gedenkrede Adolf Baumgartners. - Zum Verhältnis Schopenhauer - Nietzsche siehe: F. Decher, Wille zum Leben - Wille zur Macht, 1984. A. Schopenhauer, WWV 1, § 36; 2, 220.
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triefenden Sieger[s]" mitlaufen zu dürfen (ebd.). Wahre Anteilnahme brächte die Masse in Übereinstimmung mit ihrem Schicksal, d. h. zur Anerkennung ihrer Unterwerfung und damit zur Bejahung der Macht, die über sie verfügt. In dieser letzten Einschätzung gibt Nietzsche freilich zu verstehen, wie er selbst zu der Bewertung der Macht als "immer böse" steht. Sein Urteil kommt weder aus moralischer Entrüstung, noch könnte es den Anstoß zu einer politischen oder kulturellen Kontrolle der Macht geben. Die Macht ist unabänderlich so, wie sie ist, und sie wird auch notwendig so gebraucht, wie es nötig ist. Sie ist "Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruches" des Lebens (ebd.). Als "böse" Macht ist sie Bedingung des Guten, der Kunst. Sie ist das böse Mittel, ohne das nichts Gutes wird; es muß gerade in seiner Grausamkeit gewollt werden, um die Höchstleistungen der Kultur zu ermöglichen. Macht ist der Exponent eines von der Kultur benötigten Gegenprinzips. So wie die Lust der schöpferischen Tat aus dem überwundenen Leiden stammt, so ist auch die Kultur angewiesen auf den grausamen Vollzug der Macht. Und so wie Homer, "als ächter Hellene", in den Anblick der trojanischen "Kampfund Greuelscenen [...] /«.rivoli versunken" war, so kann auch die siegende Kultur ihr schmerzbringendes Mittel nicht nur bejahen, sondern auch genießen (ebd., 771). Burckhardts prinzipielle Ablehnung der Macht richtet sich gegen die ihr innewohnende Dynamik. Das Böse liegt in der Logik, mit der sie sich letztlich über alle Zwecke hinwegsetzt und in allem immer nur sich selber will. Die Macht erscheint als der verabsolutierte Egoismus und folglich aus sich heraus zu nichts Gutem fähig. Die Motive dieser Machtkritik klingen auch bei Nietzsche an. In der Parallele zur Selbsterhaltung tritt der Egoismus der Macht mit Schärfe hervor. Die Frontstellung gegen die losgelassenen wirtschaftlichen Kräfte, die Warnung vor dem Journalismus oder vor dem hoheitlichen Kulturanspruch des Staates zeigen, daß auch er das Phänomen der verselbständigten Macht im Auge hat. Darüber hinaus erlaubt seine strikte Beschränkung der Macht auf die Rolle eines Mittels den Schluß, daß ihm, wie Burckhardt, die verselbständigte Macht als an sich böse gilt. Aber verglichen mit Burckhardts Betonung der egozentrischen Dynamik der Macht spielt dieses Moment bei Nietzsche nur eine untergeordnete Rolle. Überhaupt rechtfertigt er seine Abwehr der Macht nicht durch den Hinweis auf ihre immanente Logik, sondern primär durch ihre Nähe zu den untergeordneten Daseinsbedingungen. Die Macht erscheint ihm eher verächtlich als an sich böse. Doch angesichts der immer wieder betonten Notwendigkeit der Macht als Wirkungsmedium des genialen Menschen bleibt auch die Verachtung dieses Mittels letztlich folgenlos. Die starke Persönlichkeit ist so sehr in der Lage, das negative Vorzeichen der Macht vergessen zu machen, daß auf's Ganze gesehen die gesellschaftliche Machtausübung beim frühen Nietzsche eher positiv erscheint. Das Interesse an ästhetischer Produktion gibt der Macht, trotz der wiederholten Abwertung, den Charakter einer unverzichtbaren und insofern
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auch wertvollen, weil Werte schaffenden Größe. Als schöpferisch in Dienst genommenes Werkzeug wird sie Teil des dynamischen Lebenszusammenhangs, dem Nietzsche, obgleich in seiner Begrifflichkeit noch Schopenhauer verpflichtet, längst nicht mehr in pessimistischer Einstellung begegnet.36 Sein der tragischen Grunderfahrung abgerungener Optimismus dürfte auch die Differenz zu Burckhardt begründen. Angesichts der weitreichenden Gemeinsamkeit im Urteil über die Voraussetzungen der Kultur läßt sich die abweichende Erwartung an die Eigendynamik des Machtgeschehens wohl nur aus dem Willen zur Lebensbejahung erklären. Dieser Wille führt Nietzsche später dazu, in der Dynamik des Machtvollzugs den Ursprung aller Werte zu suchen.
7. Macht und Kunst Es sagt bereits einiges über Nietzsches Verdikt über die "böse" Macht, daß er die Beziehung zwischen Kunst und Macht an einem Beispiel erläutert, in dem Kunst und Macht letztlich ununterscheidbar sind. Der griechische Staat hat nämlich selbst als ein Kunstwerk zu gelten. Der Einsatz der Macht ist hier zum Gegenstand künstlerischer Gestaltung geworden. "[P]olitische[] Gier und künstlerische^ Zeugung, Schlachtfeld und Kunstwerk" stehen in einem "geheimnißvollen Zusammenhang". Der Staat verdankt sich dem "militärischen Genius", der aus einem Instinkt, aus einer "undefinirbaren Größe und Macht" das "grausame Werkzeug des Staates schmiedet". In ihm wirkt die Natur wie durch einen "magische[n] Willefn]", löst eine "Gewaltlawine" aus und läßt "unter dem Zauber jenes schöpferischen Kernes" den Staat mit "plötzliche[r] Macht" hervortreten (GS; 1, 769 ff.). Der Grieche selbst hat für diese naturhaft ästhetische Form der Größe ein Sensorium, das Nietzsche insbesondere an Thukydides rühmt; der nämlich sehe z. B. die "ganz instinktive politische Genialität des Themistocles" (N 1871/72, 16/35; 7, 406). Die Gründung des Staates, dieser "eiserne[n] Klammer" der Massen (GS; 1, 769), ist selbst ein künstlerischer Akt - so unmittelbar wird das Böse der Macht in ein kulturelles Gut umgeschmolzen! Im griechischen Staat, diesem Kunstwerk, das die Natur in "mitleidlose[r] 36
Nietzsches Ablösung von Schopenhauers Pessimismus, die G. Simmel (Schopenhauer und Nietzsche (1907), 1920, 5 f. u. 195 ff.) meisterhaft charakterisiert hat, geschieht nicht erst mit seiner bewußten Aufnahme des Entwicklungsgedankens, sondern zeigt sich bereits in der Geburt der Tragödie. Anhaltspunkte liegen nicht nur im pädagogischen Pathos und in der Hoffnung auf eine neue Blüte der Kultur, sondern auch im philosophischen Ansatz einer "ästhetischen Rechtfertigung" des Daseins und der Welt. In seiner philosophischen Einstellung zum Leben neigte Nietzsche wohl weniger Schopenhauer als Emerson zu, in dessen Essays er schon als Schüler (vgl. Meine literarische Thätigkeit, sodann meine musikalische. 1862; BAW 2, 100) das Bekenntnis zu einer bejahenden Philosophie hatte lesen können: "Unsere Philosophie ist eine bejahende, und nimmt bereitwillig das Zeugnis negativer Facta an, wie jeder Schatten auf die Sonne hinweist." (Emerson, Versuche (Essays), 18S8, IIS f.)
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
Starrheit" (ebd., 770) durch den Genius schafft, sind das "Böse" und "Gute" der Macht eine Einheit. Die Grausamkeit des Gründungsakts gehorcht selbst schon gänzlich dem künstlerischen Imperativ des militärisch-organisatorischen Genies. "Ich dächte, der kriegerische Mensch wäre ein Mittel des militärischen Genius und seine Arbeit wiederum nur ein Mittel desselben Genius" (ebd., 775). Der durchschnittliche Mensch ist kein Zweck an sich, sondern ein bloßes Machtmittel des Genius, der an sich wiederum nicht mehr als die höchste Macht darstellt. Die durch einen produktiven Geist in Anspruch genommene Macht ist in jeder Hinsicht gerechtfertigt. Nietzsches Apotheose des griechischen Staates ist als Provokation des bürgerlichen Zeitgeistes angelegt. Doch sein Machtverständnis entfernt sich nicht von der traditionellen Erwartung einer Bändigung der Macht durch leitende Zwecke. Die Macht bedarf auch in seinen Augen eines höheren Zieles; sie ist auf Rechtfertigung angewiesen. Fehlt ein legitimierender Wert, löst sie sich aus zwecksetzenden Bindungen, hat sie als "böse" zu gelten. "Bloße Macht", so hätte Nietzsche mit Schiller sagen können, "sei sie auch noch so furchtbar und grenzenlos, kann nie Majestät verleihen."37 Die Besonderheit in der Position des frühen Nietzsche steht in der Proklamation eines anderen Wertungsprinzips. Er hält die überlieferten moralischen Wertungen für verbraucht, glaubt nicht mehr an die Vorgabe einer als wahr ausgegebenen natürlichen Ordnung und hofft auch nicht, wie Jacob Burckhardt, auf die Geltungskraft der Tradition. Er beansprucht keine Werte im herkömmlichen Sinn, setzt aber an ihre Stelle die richtungsweisende Kraft des großen Individuums. Der künstlerische Mensch von Format hat nunmehr durch die Tat die Macht zu lenken. Sein organisatorisches Genie gibt der Macht die Form und kann so ihre totale Entfesselung verhindern. Also bleibt die Macht in der Rolle eines dienstbaren Instruments.
8. Macht und historische Größe Diese unmittelbare Wertschöpfung im politisch-ästhetischen Akt ist freilich mit dem Machtgeschehen enger verbunden als etwa ein allgemeines Prinzip. Die organisierende Kraft entfaltet sich individuell, verfährt nach ihrem eigenen Gesetz und ist folglich an keine der Macht vorausliegenden Ideen gebunden. Der Genius wirkt eher wie ein Element in der Macht und nicht als Instanz über ihr. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß der Genius nur in einer Wirksamkeit und in deren Folgen hervortritt. Erkennbar ist er nur an seiner
37
F. Schiller, Ueber Anmut und Würde, Schriften 5, 1968, 231 - 285, 282.
8. Macht und historische Größe
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organisatorischen Gewalt, also auch nur daran, daß er sich als Macht behauptet. Wenn er aber selbst allein als organisatorische Gewalt zum Vorschein kommt, dann kann er ebenfalls bloß als eine Macht verstanden werden. In dieser Funktion, die formal die Macht in ihrer dienstbaren Rolle als bloßes Mittel beläßt, deutet sich eine neue Stellung zur Macht allerdings an: In der Gestalt des Genius ist die Macht ihrer Bindung an vorgegebene Zwecke im Ansatz bereits entwachsen. Die Macht steht kurz davor, sich nach ihrer Emanzipation von religiösen und politisch-moralischen Zwecken von der Zwecksetzung überhaupt zu lösen. Zum Erscheinungsbild einer die Macht aus sich heraus steuernden Macht paßt, daß sie ihre eigene Tugend hat. In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung finden sich einige Maximen der Selbststeuerung der historischen Größe. Kein Wunder, daß sie "hart und schrecklich" sind (2. UB 6; 1, 288), denn sie haben sich ohne Rückhalt bei allgemeinen Prinzipien oder bei einem guten Gewissen, ohne Gefälligkeiten und allein auf die Individualität der Macht gestützt, zu bewähren. Ihre Moralität liegt im Auslassen der "überlegene[n] Kraft". Sie setzt "harte Accente" und scheut vor "Hass[]" nicht zurück (ebd., 289). Nichts steht ihr ferner als die "Toleranz" und der "Grossmuth" der modernen Historiker (ebd., 288), die jedem Faktum, jeder Überlieferung Gerechtigkeit widerfahren lassen. Die Gerechtigkeit des Starken kommt nicht aus einem angemaßten Richteramt, das sich unterschiedslos über alle Daten der Geschichte erhebt, sondern sie liegt in der Aneignung der Vergangenheit durch die Gegenwart, also in der Tätigkeit selbst und damit im Vollzug der Macht. Eine solcherart machtvoll ausgefüllte Gegenwart hat ihre "höchste Kraft" in der Gestaltung der Zukunft. Alle Tugend der wirklichen Macht folgt unmittelbar aus der Tat, einer Tat, die sich Nietzsche als einmaligen Ausdruck geistig-leiblicher Einheit denkt. Vieles spricht dafür, daß er sich in seiner Vorstellung von der Tätigkeit der starken Persönlichkeit an der Lebensleistung Goethes orientiert. Ausgeschlossen ist demnach sowohl der reine Gewaltakt wie auch die bloße Reflexion. Wer immer nur die "Wagschalen" der Mächte in den Händen hält und zusieht, "welche als die stärkere und schwerere sich neigt" (2. UB 8; 1, 309), der paßt sich nur untätig den herrschenden Gewalten an, ja, diese Anerkennung der Macht ist Anbetung der "Gewalt an sich" (ebd.). Die großen Individuen schätzen die Macht nur im Dienste ihrer eigenen Ziele. Diese Ziele aber sind solche, die über sie selbst hinausweisen und aus dem trägen Zirkel der Selbsterhaltung ausbrechen. Großmut und Tapferkeit der starken Persönlichkeit beweisen sich in der Empörung "gegen jene blinde Macht der Facta, gegen die Tyrannei des Wirklichen"; im leidenschaftlichen Kampf gegen die Geschichte, "das heisst gegen die blinde Macht des Wirklichen", zeigt sich ihre Tugend (ebd., 311). Es ist nicht so schwer, die Tugend der Machtentfaltung genauer zu bezeichnen, wenn erst erkannt ist, daß es die Tugend des großen Menschen ist. Alles, was er zur Äußerung seiner schöpferischen Kraft benötigt - vor allem Selbständigkeit und damit Unabhängigkeit, Frei-
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heit, Urteilskraft, Entschiedenheit sowie den Willen zum Gebrauch seiner Kräfte -, das muß auch der Macht zukommen, wenn sie den Rang der historischen Größe erlangen will. Dort, wo der Mensch sich selbst als eine Macht begreift, wo er ursprünglich wirkt und nicht bloß kopiert (2. UB 4; 1, 275), wo er sich selbst in seinen Taten sucht und fähig ist, das "Nächsten und Natürlichen" zu ergreifen, da wird er zum Menschen und hört auf, nur ein "menschenähnliche [s] AggregatQ" zu sein (2. UB 10; 1, 328 u. 332).38 Die so gewonnene Einheit ist zugleich die Einheit der Macht, die nicht mehr Mittel zu äußeren, vorgegebenen Zwecken ist, sondern in ihrer eigenen Entfaltung auch schon ihren eigenen Zweck verfolgt. Dieser Gleichung zwischen Mensch und Macht scheint der durch nichts Menschliches eingeschränkte Gebrauch des Machtbegriffs zu widersprechen, vor allem in der Schrift, in der sich die meisten Belege für die Gleichung finden. Es ist von der blinden "Macht der Wirklichkeit" oder der "blinden Macht der Facta" die Rede; die "Macht der Geschichte" soll gebrochen werden, um dem Leben die "Macht" wieder zurückzugeben. Daneben gibt es eine Reihe der dem Menschen schon näherstehenden Mächte: die Religion, die Kunst, die Jugend oder die Geschichtsschreibung. Doch diese und andere Verwendungen beweisen nur die lebendige metonyme Kraft des Machtbegriffs. Er läßt sich nahezu auf jedes Geschehen anwenden, insbesondere dann, wenn es in einer Beziehung zu möglichen Aktions- und Reaktionsweisen des Menschen steht. Die Tatsache, daß der Begriff sich primär im Zusammenhang menschlichen Handelns anbietet, spricht aber für eine einheitliche Herkunft der weitläufigen Verwendungsformen. Sie könnte dort liegen, wo sie nach Nietzsche liegen muß, wenn seine Erwartung an das große Individuum ernstgemeint ist. Denn diese Erwartung basiert auf der These, daß ein adäquater Umgang mit der Macht nur dem genialen Menschen möglich ist. Nur dort, wo sich nach seiner Ansicht die Menschheit in vollendeter Weise zeigt, nämlich in ihren "höchsten Exemplaren" (2. UB 9; 1, 317), hat die Macht ihren natürlichen Ort. Löst sie sich aus dem Umkreis einer künstlerisch schaffenden Gestalt, wird sie böse. Die zweite Unzeitgemäße Betrachtung ist als ganze eine Warnung vor der Gefahr einer solchen Umwertung. Am Ende der Schrift steht Nietzsches mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit gerichtete Vision von einem entschleierten "griechische[n] Begriff der Cultur": "der Begriff der Cultur als einer neuen und verbesserten Physis, ohne Innen und Aussen, ohne Verstellung und Convention, der Cultur als einer Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" (2. UB 10; 1, 334). Dieser Kulturbegriff, der auf einem idealen Selbstbild des Menschen basiert, gibt auch die Grenzen an, in denen sich die Macht in originärer Weise entfalten kann. Als Nietzsche dieses Ideal formulierte, konnte er noch nicht wissen, daß gerade die Macht ihm zum Garanten einer "neuen und verbesserten Physis" werden würde.
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Siehe dazu: V. Gerhardt, Leben und Geschichte, 1984.
9. Die Macht im agon
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Die Verbindung von Mensch und Macht tritt deutlicher zutage, wenn man die in den frühen Schriften verstreuten konkreten Merkmale des Machtgeschehens zusammenstellt. Dann zeigt sich nicht nur, daß die Macht nur zu verstehen ist, wenn wir ihr ein handelndes, empfindendes und denkendes Subjekt unterstellen, sondern daß wir dabei auch eine Situation benötigen, in der das der Macht hypothetisch eingesetzte Wesen nicht für sich allein sein darf. Zu den für die ästhetisch-politische Machtentfaltung elementaren Lebensbedingungen, die den frühen Nietzsche in ihren historischen Ausprägungen und weniger in ihrer prinzipiellen Funktion beschäftigen, gehört der Kampf. Der Kampf ist das soziale Medium der Macht, das der Macht nicht äußerlich bleibt, sondern ihre Verfassung erkennen läßt: Die Macht bedarf zu ihrer Entstehung und Entwicklung des Kampfes. Dies wird bereits im fruchtbaren Gegeneinander dionysischer und apollinischer Mächte sichtbar. Die Geburt der Tragödie erfolgt aus dem Widerstreit zweier Mächte, die überhaupt nur im Kampf hervortreten und sich in Opposition entwickeln.
9. Die Macht im agon Kampf, Streit, Krieg haben für Nietzsche spätestens seit dem zweiten Baseler Jahr eine starke thematische Attraktionskraft. Seine Notizbücher sind voll mit Plänen zur Bearbeitung der Rolle des Kampfes bei den Griechen. Von acht zwischen 1871 und 1872 konzipierten Vorträgen beziehen sich vier auf den Kampf: "[D]er Wettkampf bei den Griechen" ; "Kampf des mythischen Individuums mit dem agonalen"; "Die Sage vom Wettkampf Homer's"; "Heraklit's Verklärung des Wettkampfs" (N 1871/72, 16/40; 7, 407). Auch wenn keine dieser Skizzen zur Ausführung gelangt, seine Bemerkungen zu diesem Komplex sind Legion. Der Kampf ist ein immer wieder fesselndes historisches, psychologisches und metaphysisches Thema, das Nietzsche auch später nicht losläßt. Es fesselt ihn als Prinzip allen Geschehens wie auch als die immer wechselnde Erscheinung, in der das Werden der Welt zutage tritt. Die kriegerische Struktur des Daseins ist ihm Inbegriff der geschichtlichen Erfahrung und gilt ihm als Quintessenz des individuellen Erlebens. Die metaphysische Rolle des Kampfes findet er bei Schopenhauer vorgebildet; Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben vollziehen sich in "stetem Kampf" (WWV 1, § 68; 2, 462). Goethe, Emerson und Burckhardt ließen sich als weitere Quellen nennen. Neu aber ist bei Nietzsche die Heroisierung des Prinzips. In der Geburt der Tragödie sind es nicht nur Dionysos und Apoll, die in feierlicher, dem Komischen zutiefst widersprechender Weise gegeneinander auftreten; es ist auch die "erlauchtestefj Gegnerschaft" des Sokrates, durch welche die tragische Weltbetrachtung niedergeht (GT 16; 1, 103). Nietzsche spricht hymnisch vom Kampf, der niemals bloß ein Geschehen, sondern immer auch ein Ritual zu sein scheint.
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
Den thematischen Zugang findet er auch hier über die Griechen. Die erscheinen ihm groß, weil sie dieser Einsicht ganz entsprechen und ihr in größten Gedanken Ausdruck verleihen. Heraklit und Schopenhauer dienen Nietzsche als Zeugen der These, "daß das ganze Wesen der Wirklichkeit eben nur Wirken ist" und alles Wirken ein Kampf: "Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden" (PhtZ 5; 1, 824 f.). Bei den Griechen ist der Wettkampf Urzeuge der Kultur. Das Schöne, Große und Tiefe geht aus dem Gegensatz hervor. Nach dem Motto: "Am Meister lernen, am Gegner sich erkennen!" sieht Nietzsche Schule und Wettkampf als "Voraussetzung der Künste" (N 1871/72, 16/19; 7, 400). Als die "antiken Mittel der Erziehung" werden "Liebe" und "Wettkampf vorgestellt (ebd., 16/14; 7, 397). Der Kampf gilt ihm als Bedingung der staatlichen Institutionen, insbesondere des Gerichts: "Das Gerichtsverfahren ist ein άγώρ, vielleicht mit Gebräuchen, die von den Wettkämpfen hergenommen sind." (ebd., 16/36; 7, 406) Den Ostrakismus deutet er als Instrument zur Dämpfung der Wettkampflust, als moderierendes Mittel im Kampfe. Aber darin entdeckt er bereits eine Spätform: Den ursprünglichen Sinn des Scherbengerichts sieht er nicht darin, "Ventil[]\ sondern "Stimulanzmittel[]" zu sein (HW; 1, 789). Das Recht selbst scheint auf rätselhafte Weise dem Kampf entsprungen: "Wunderbarer Prozeß, wie der allgemeine Kampf aller Griechen allmählich auf allen Gebieten eine δίκη anerkennt: wo kommt diese her? Der Wettkampf entfesselt das Individuum: und zugleich bändigt er dasselbe nach ewigen Gesetzen." (N 1871/72, 16/22; 7, 402) Wann immer Nietzsche Antworten auf die Frage nach der Herkunft des Rechts zu geben versucht, hat das Prinzip des Kampfes eine erklärende Funktion·. Im Kampf treten die gegensätzlichen Kräfte hervor, entwickeln sich und lernen sich einzuschätzen. Hier wird das Urteil über die eigene und die Stärke der anderen benötigt. Um die Gegner bildet sich eine gemeinschaftliche Atmosphäre, aus der Regeln entstehen, welche die Widersacher anerkennen müssen, wenn sie sich behaupten wollen. Ein Ursprung des Rechts liegt in solchen Regeln; ein anderer in dem Befehl, den der Sieger im Kampf erteilt. Freilich entsteht auf diese Weise nichts Ewiges; alles hängt von der jeweiligen Stärke der Opponenten und den jeweils gegebenen Bedingungen ab. An Heraklit bewundert Nietzsche den Mut zu dem Versuch, alles Geschehen in die "Form der Polarität" zu bringen und alles Werden "als das Auseinandertreten einer Kraft in zwei qualitativ verschiedne, entgegengesetzte und zur Wiedervereinigung strebende Thätigkeiten" darzustellen (PhtZ 5; 1, 825). Die opponierenden Mächte "Licht und Dunkel, Bitter und Süß" stehen sich "wie zwei Ringende" gegenüber, von denen "bald der Eine bald der Andre die Obmacht bekommt". Alles Bestehende drückt nur das "momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus" (ebd.). Nietzsche macht sich den kosmologischen Wettkampfgedanken Heraklits zu eigen; er verbindet ihn mit Schopenhauers Wirklichkeits-Lehre und hält es für möglich, ihn auf die Erkenntnisse der neuzeitlichen Physik anzuwenden. Die Materie, so
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formuliert er, sei der "Tummelplatz" des Kampfes. Sie suche die Naturkräfte einander wechselseitig zu entreißen; so auch "Raum und Zeit, deren Vereinigung durch die Kausalität eben die Materie ist" (ebd., 826). Die universelle Ausdehnung des Kampfes zum generativen Prinzip der gesamten Natur könnte übersehen lassen, daß sich in ihm eine originäre menschliche Leistung zeigt. Doch vom Kampf im eigentlichen Sinn kann nur die Rede sein, wenn der Mensch ihn führt. Wo das nicht geschieht, herrschen Chaos, wilder Gegensatz und rohe Gewalt, aber nicht Kampf. Zum Kampf gehört das Bewußtsein der Gegnerschaft. Freilich läßt sich auch ein bewußtloses Gegeneinander als "Kampf" bezeichnen. Aber wenn dies geschieht, sind immer schon "Kämpfende", die irgendwie "wissen", worum es geht, unterstellt. So legt der Begriff des Kampfes bereits eine erste Ordnung in das Geschehen, die, so muß man Nietzsche verstehen, sich in vielfältiger Weise entwickeln und kultivieren kann. Nur mit Entsetzen, so meint er, können wir Späteren in den "vorhomerischen Abgrund" schauen, in dessen Tiefe wir die "grauenhafte^ Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust" nur ahnen können (HW; 1, 791). Dieser "Macht", diesem "Grauen" hat sich der griechische Mensch seit Homer immer mehr entwunden, er entkommt aber dieser "brütenden Atmosphäre" des Vernichtens und Mordens niemals ganz; ihre Schreckensbilder haben ihn stets begleitet. Und mit Blick auf diese unheilschwangere Welt der Griechen ist es zu verstehen, wenn der Kampf als "das Heil, die Rettung" erscheint: "die Grausamkeit des Sieges ist die Spitze des Lebensjubels" (ebd., 785). Der Kampf, noch unmittelbar aus der Sphäre des mörderischen Gegeneinander stammend, ist das Mittel, sich in ihr zu behaupten und - ihr zu entkommen. Er ist der disziplinierte, der zivilisierte Krieg, der dann im Wettkampf seine kultivierte Stufe erreicht. Im Kampf wirkt ein regulierendes Moment, das nicht mehr auf Vernichtung, sondern auf das Messen der Kräfte zielt.
10. Die Kultur des Streits Zwischen Krieg und Wettkampf vollzieht sich eine Entwicklung, die für Nietzsche den Weg der griechischen Kultur als ganzer bezeichnet. "Der Wettkampf entsteht aus dem Kriege? Als ein künstlerisches Spiel und Nachahmung?" (N 1871/72, 16/26; 7, 404) Daß diese selbstgestellte Frage positiv beantwortet wird, steht außer Zweifel. Der Wettstreit mildert die "grausame vorhomerische Welt" (ebd., 16/28; 7, 404). Er enthält die "Stimulanzmittelf]", die das Leben in der Polis benötigt (HW; 1, 789), und setzt die Antriebe für die kulturbildenden Leistungen des Künstlers frei: "Der Dichter überwindet den Kampf um's Dasein, indem er ihn zu einem freien Wettkampfe idealisirt." (N 1871/72, 16/15; 7, 398) Damit "er-
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zieht" der Dichter zur "gutefn] Eris" (ebd.), bildet nicht in einem literarischen Sinn, sondern immer zu produktiven Zwecken. Wie das gemeint ist, zeigt sich an der Bemerkung über die notwendige Beziehung zwischen Handwerk und Wettkampf: "Der Wettkampf zeichnet die Handwerker aus. Nur wo es ein Handwerk giebt, giebt es Wettkampf." (ebd., 16/8; 7, 396) Nietzsches Absicht ist, im Aufweis von Nähe und Abstand der hellenischen Kultur zur vorhomerischen Welt die Verbindung zwischen elementarer Natur und entwickelter Kultur zu zeigen. Schon hier geht es um die Vermessung der Spanne zwischen Tier und Übermensch. Die These ist, daß der Mensch seine Abkunft vom Tier nicht verleugnen kann. Das Grauenvoll-Unerbittliche des bestialisch-kriegerischen Daseins wird nicht abgestreift wie eine erste Haut. Humanität findet sich nur dort, wo der Mensch seine Herkunft anerkennt, wo er in den höchsten Leistungen seine Tier-Natur nicht verdrängt und seinen "unheimlichen Doppelcharakter" bewahrt (vgl. HW; 1, 783). Bei keinem Menschentypus ist diese Verbindung besser gelungen als beim vorsokratischen Griechen, so meint Nietzsche. Der Begriff, an dem er diese Einheit von Natur und Kultur vornehmlich demonstriert, ist der Kampf. Über den Kampf führt die immer wieder neu zu beschreitende Brücke von der kriegerischen Natur in eine wettstreitende Kultur. Kampf ist das doppelschlächtige Geschehen, das noch ganz zu den barbarischen Gewalten paßt und doch schon Maß und Ziel aristokratischen und städtischen Lebens erkennen läßt. Bei den Titanen herrscht noch der regellose Krieg, sie "wissen noch nichts vom Wettkampf' (N 1871/72, 16/22; 7, 402); erst "das Aristokratische, Geburtsmäßige, Edle bei den Griechen" kennt dessen Stachel und lebt in dessen Sinn (ebd., 16/9; 7, 396). Im Wettkampf bildet sich der "differenzirende apollinische Trieb" (ebd., 16/15; 7, 397); er könnte somit helfen, den von Nietzsche gesuchten Ursprung des Individuums aufzufinden (vgl. ebd., 16/8; 7, 396). Der Wettkampf ist ferner die Grundform, die den "Dialog" erzeugt - eine These, die freilich auf die Kunstform des Dialogs in der Tragödie beschränkt bleibt (ebd., 16/19; 7, 400). In jedem Fall ist der Kampf die Schule des Genies, denn für den großen Menschen gilt besonders, was als die Quintessenz der "hellenische[n] Volkspädagogik" zu gelten hat: "Jede Begabung muß sich kämpfend entfalten [...]" (HW; 1, 789). Die Doppelschlächtigkeit des Kampfes, der sowohl barbarische Vernichtung wie auch kultureller Wettstreit sein kann, wird durch die zwiefache Gestalt der Eris illustriert, auf die auch schon Schopenhauer hingewiesen hat. In der Doppelrolle der Göttin sieht Nietzsche einen der merkwürdigsten griechischen Gedanken: Die "böse Eris" ist grausam und finster; sie fördert den "schlimmen Krieg und Hader" (ebd., 786) und führt nach dem Ratschluß der Götter die Menschen bis zur Vernichtung gegeneinander. Die "gute Eris" nützt den Menschen, indem sie durch "Eifersucht Groll Neid die Menschen zur That reizt" (ebd., 787). Ihr Ziel ist aber nicht die Zerstörung des Menschengeschlechts, sondern dessen Stärkung. Sie ist die Göttin des Wettkampfs, der ohne Eifer, Geltungssucht oder Neid den Griechen offenbar nicht vorstellbar wäre. Nietzsche jedenfalls kehrt die Differenz zur zeitgenössischen mo-
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raiischen Wertung heraus und liest aus den verzerrten Gesichtszügen des wetteifernden Griechen seine besondere Nähe zur Realität. Die Wirklichkeit, auch die der Kultur, besteht in Gegensätzen; sie fordert damit ein Individuum, das sich ihnen ganz aussetzt und sich innerhalb der widerstreitenden Mächte entfaltet. Erst im "persönlichen Kampfe" zeigt sich der Künstler (ebd., 790). Die Lust am Streit darf also nicht versiegen, wenn Kultur nicht verlorengehen soll. Die Doppelgestalt der Göttin gibt zu erkennen, daß der Kampf verschiedene Formen annehmen und sich vielfältig abstufen kann. Die Gemessenheit und Regelhaftigkeit der Kämpfe ist Gradmesser der kulturellen Entwicklung. Wer innerhalb einer differenzierten Gemeinschaft den Unterschied zwischen geordnetem Agon und roher Gewalttat nicht beachtet, der scheitert kläglich. Das Schicksal des Miltiades, des Siegers von Marathon, ist Nietzsche ein weit durch die Geschichte abschreckendes Beispiel: Der gefeierte Held läßt sich durch ein "niedriges rachsüchtiges Gelüst" gegen einen persönlichen Feind hinreißen und bedient sich "unwürdige[r] Machinationen". Damit fallt er in den barbarischen Zustand des Krieges zurück, und seine glänzende Heldenlaufbahn endet schmählich (ebd., 791). Miltiades hat nicht beachtet, daß die von ihm vertretene Poliskultur nur noch unter Aufsicht vollzogene und durch Bericht geordnete Kämpfe zuläßt. Er war dem Entwicklungsstand seiner Gesellschaft nicht adäquat und hat in barbarisch maßloser Manier nicht berücksichtigt, daß deren Reifegrad zwar nicht im Verzicht auf Kampf, wohl aber in der Disziplinierung und Sublimierung der Mittel zutage tritt. Die Bedeutung des Kampfes für die Themafrage liegt auf der Hand: Stets sind es Mächte, die sich kämpfend begegnen. Kräfte kämpfen nicht, sondern prallen aufeinander oder stoßen sich ab. Wo Kampf ist, da ist auch Macht. Die Verbindung sagt nicht, daß die Macht immer schon vorhanden sein muß, ehe um sie gekämpft werden kann. Es wird keine zeitliche Priorität einer Macht behauptet. Eine Macht muß als solche nicht existieren, "bevor" sie auf eine andere trifft. Erst im Gegeneinander werden die physischen und psychischen Kräfte zur Macht, genauer: Erst im Kampf um die Macht wird die Macht qua Macht bewußt, und nur in diesem Bewußtsein konstituieren sich die am Machtkampf beteiligten Mächte. Nietzsche bringt diesen Zusammenhang nicht in Form theoretischer Sätze zum Ausdruck, aber hinter seiner Betonung des Kampfes steht eben diese Einsicht. Die agonale Verfassung des Werdens wird von Elementen getragen, die ihr im Innersten entsprechen: von agonal verfaßten Mächten. Mit dem agonalen Charakter der Macht ist nicht nur ihre Gegenseitigkeit vorgegeben, sondern auch das von Schopenhauer und Wagner präludierte Überwindungs-Motiv. Der Kampf zielt auf den Sieg, wie immer er von den beteiligten Mächten definiert sein mag. Sieg und Niederlage haben nicht den Charakter eines Faktums. Häufig entscheidet sich erst im Kampf, was als Überlegenheit gelten kann, worin also der Gewinn für die eine und der
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Verlust für die andere Seite besteht. Nietzsche legt besonderen Wert auf den triumphalen Augenblick des Sieges. Das Gefühl der Überlegenheit ist ihm wichtig, die "wollüstige Grausamkeit" (ebd., 784), der mitleidlose Genuß, den sich der "bluttriefenden Sieger" beim Anblick des unterworfenen Gegners verschafft (GS; 1, 768). Damit unterstreicht er den Anteil des Erlebens im Auftritt der Macht und die Stimulation, die sie zur Steigerung ihrer Kräfte benötigt. Das Erleben der Überwindung des Gegners, der Augenblick der überstandenen Gefahr, das Bewußtsein größerer Stärke, Härte, Ausdauer, die Bestätigung des mutigen Einsatzes, das Gefühl der Durchsetzung von Macht - alle diese Innervationen des Gelingens gehören zum Sieg. Ohne die Lust an der Überlegenheit fehlt auch der Ansporn zur Ausweitung und Steigerung der eroberten Macht. Dabei ist zu beachten, daß sich das Gefühl der Überlegenheit ebenso kultivieren kann wie der brutale Krieg im Übergang zum Wettkampf. Was sich aber nicht verliert, daß ist die Freude an der eigenen Kraft und Größe sowie die durch kein Mitleid gezügelte Lust an der Wahrnehmung des Besiegten. Die gute Eris, die streitlustig und mißgünstig zum "Konflikt" antreibt, macht sich auch in der unverhohlenen Freude des Gewinners Luft. Alles, was Nietzsche in den ersten Baseler Jahren über die Macht zu erkennen gibt, deutet auf ein anthropomorphes Fundament. Der Begriff ist nur verständlich, wenn man ihn nach Analogie einer von Menschen (oder Göttern) ausgeübten Macht vorstellt. Mächte, sofern sie nicht ausdrücklich als Mittel eines bestimmten Trägers angesprochen sind, verhalten sich wie aktionsfähige Wesen, haben Triebe, Absichten und Einsichten und vor allem den Hang, sich gegenseitig - "wie zwei Ringende" - zu überwinden. Demnach ist es gerechtfertigt, ihnen menschliche Züge beizulegen. Durch die Texte ist man dabei hinreichend abgesichert, denn die Macht kommt mit vielen menschlichen Attributen vor, natürlich auch als Äußerung individueller oder metaphysischer Willenskräfte. Doch bei der Parallelisierung von Macht und Mensch stößt man auf die Schwierigkeit, daß Nietzsche seine Konzeption des Menschen, insbesondere wenn er von den Griechen oder den großen Individuen spricht, eher auf eine Idee als auf die Selbsterfahrung empirischer Subjekte stützt. Dies gilt vor allem für seine Hoffnung auf eine "verbessertet] Physis, ohne Innen und Aussen" (2. UB 10; 1, 334). Die Spaltung des Menschen in ein (reflektierendes) Bewußtsein und einen (äußerlich agierenden) Körper ist in seinen Augen Ausdruck einer zivilisatorischen Fehlentwicklung. "Zerbröckelt und auseinandergefallen, im Ganzen in ein Inneres und Aeusseres halb mechanisch zerlegt", hat der neuzeitliche Mensch die ihm von Nietzsche unterstellte lebendige Einheit verloren. Als "unheimlich regsame Begriffs- und Wort-Fabrik" kann dieser Mensch in der Tat von sich nur noch "cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergo cogito" behaupten (ebd., 329). Die innere Welt hat sich von der äußeren getrennt, und Nietzsches Befürchtung ist, daß die Kultur an dieser Spaltung zugrunde geht. Die unter diesen Voraussetzungen gegebene Ambivalenz im Begriff des Menschen, der zum einen die historisch gewordene, zum anderen die für die Zukunft geforderte Gestalt be-
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zeichnet, überträgt sich auf die Macht. Einerseits weist sie alle Merkmale der aus der Selbsterfahrung vertrauten Innen-Außen-Differenzierung auf, andererseits aber ist sie schon Ausdruck der erstrebten Einheit. Bemerkenswert ist dabei vor allem, daß die Macht überhaupt zum Medium der erstrebten Einheit werden kann. Die Macht als bloßes Mittel könnte restlos der Sphäre des "Aeusseren" zugehören und insofern von der Hoffnung auf eine neue Einheit unberührt bleiben. Alle Erwartungen wären darauf gerichtet, wer in Zukunft über sie verfügt, welcher neue Mensch sich ihrer dann bedient. Gewiß erlauben viele Stellen auch eine solche Deutung. Aber man kann nicht daran vorbei, daß sie als Macht des Genius oder der starken Persönlichkeit, als Macht Siegfrieds oder Wagners diese Randstellung verlassen hat. In der Macht soll die neue Einheit des Menschen sichtbar werden. Das aber kann nicht so verstanden werden, als zeige sich der neue Mensch "in" der Macht als einem bloßen Äußeren; vielmehr zeigt sich in den Äußerungen seine Macht. "Macht und Glanz", "höchste Macht und Wirkung" (4. UB 8; 1, 472 f.), "alles Mächtige, Wirkungsvolle, Beseligende" (ebd., 477) sind bereits Anzeichen einer neu gewonnenen Einheit, die selbst auch nur als eine "Macht" begriffen werden kann. Hören wir noch einmal aus der Betrachtung über Richard Wagner: "Diess ist das Mächtigste an der Wagnerischen Begabung, Etwas, das - allein dem grossen Meister gelingen wird: für jedes Werk eine neue Sprache auszuprägen und der neuen Innerlichkeit auch einen neuen Leib, einen neuen Klang zu geben. Wo eine solche allerseltenste Macht sich äussert [...]" (4. UB 9; 1, 487). In solcher Wendung ist die Macht selbst eine Erscheinungsform der neuen Physis. Sie ist die Größe - in der Innen und Außen nicht auseinanderfallen. Wirkliche Macht, so wie das große Individuum sie darstellt, wirkt (außen) aus (innerer) Machtvollkommenheit; sie ist auch das, als was sie erscheint. Die vollkommene Macht ist daher weniger der Handlung als dem Pathos analog. Im Pathos, also im großen Affekt, in der hervortretenden Leidenschaft, sieht Nietzsche schon früh einen Gegenbegriff zur Handlung: "Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor" (GT 12; 1, 85). Bei dem zur Sichtbarkeit und Wirksamkeit gelangenden Affekt lassen sich (inneres) Motiv und (äußere) Folge, "Täther" und "Tath", nicht mehr auseinanderhalten. Die Wirksamkeit aber muß tatsächlich gegeben sein; fehlt sie, dann kommt es zum "Pathos an sich", d. h. zur "schönen Leidenschaft", zur bloßen "Dekoration". Wenn der Geschmack zum ausschlaggebenden Kriterium wird, dann hat nur der äußere Schein Bedeutung, und alle Aufmerksamkeit ist auf die "verhüllende Dekoration" gerichtet (N 1874, 32/14; 7, 758).39 Das echte Pathos aber ist die Gegenwart eines tatsächlichen Geschehens, das gleichermaßen innerlich wie äußerlich ist.40 So etwa hat man sich auch die Macht in ihrer vollkommenen 39 40
In diesem Sinn gilt ζ. B. Cicero als "der dekorative Mensch eines Weltreichs" (N 1874, 32/14; 7, 758). Die kurze Bemerkung über die Stellung des Pathos soll nicht den Eindruck erwecken, als sei sich Nietzsche über die Abgrenzung gegenüber der Handlung hinreichend klar. In der Gegenüberstellung zeigt sich zunächst kaum mehr als ein Problem, das erst später ausdrücklich aufgenommen wird. Wie schwer es sein wird, auf den
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Gestalt zu denken. Die vollkommene Macht ist aber nichts anderes als die wirkliche, die nicht bloß eingebildete oder angemaßte Macht. Eine Erscheinungsform der so verstandenen Macht ist die Monumentalität. In ihr projiziert die große Macht ein großes Bild von sich selbst. Sie präsentiert sich - "voller ikonischer Wahrhaftigkeit" - gleichermaßen so, wie sie ist und wie sie sein will. Ihren "grossen Antrieben" entsprechen große Auftritte, die sie im nachhinein als "Effecte an sich" zu stilisieren versucht (2. UB 2; 1, 261 f.). Die Demonstration ihrer Stärke ist bereits ihre reale Wirkung. In der Monumentalität wird die Macht zum "Monogramm ihres eigensten Wesens" (ebd., 260). Sie überwindet so den "Gegensatz von innen nach außen", der, wie Nietzsche an anderer Stelle sagt, "das Aeusserliche noch barbarischer [macht] als es sein müsste" (2. UB 4; 1, 274). Sinnfällig wird die Monumentalität in der Kunst großer Baumeister, auf die Nietzsche zwar erst später ausdrücklich eingeht, die aber schon hier als Beispiel erwähnt werden kann. Große Macht ist wie ein Bauwerk, das mehr ist als ein Sicherheit bietendes Gebäude. Die Architektur läge noch in der Wiege, wenn die Menschen nicht für Götter Häuser gebaut hätten (N 1876/77, 23/167; 8, 465). Ein Moment der Selbststeigerung, die Antwort auf eine Herausforderung, liegt in solcher Machtäußerung. Geist und Wille der Erbauer machen die Häuser zum Monument, zum Denkmal und Wahrzeichen der Größe. An ihnen wird die Vermittlung von Innen und Außen ebenso sinnfällig wie die Überschreitung der bloßen Nützlichkeit. Festes Gemäuer allein zeugt noch von keinem Anspruch; reine Fassade gewährt keinen Schutz und überdauert nicht. Beherrschung technischer und ästhetischer Mittel müssen in der Architektur sich verbinden, um den "Sieg über die Schwere", den Nietzsche später in ihr sieht, zu ermöglichen. "[D]er Architekt war stets unter der Suggestion der Macht" - eine These aus der Götzen-Dämmerung (GD, Streijziige 11; 6, 118), die Nietzsche schon hätte aufstellen können, als er das Bild von der monumentalistischen Historie entwarf.
Begriff der Handlung zu verzichten, lassen ζ. B. die Ausführungen in der unpublizierten Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge erkennen. In einer Vorstudie heißt es: "Also: das Erste ist die Handlung, diese verknüpfen wir mit einer Eigenschaft. Zuerst entsteht das Wort für die Handlung, von da das Wort für die Qualität. Dies Verhältniß übertragen auf alle Dinge ist Causalität. " Und weiter: "Einen Reiz als eine Thätigkeit zu empfinden, etwas Passives aktiv zu empfinden ist die erste Kausalitätsempfindung, d. h. die erste Empfindung bringt bereits diese Kausalitätsempfindung hervor. Der innere Zusammenhang von Reiz und Thätigkeit übertragen auf alle Dinge. [...] Das Auge ist thätig auf einen Reiz" (N 1872/73, 19/209; 7, 483 f.). In der Abhandlung heißt es dann u. a. mit direktem Bezug zur Machterfahrung: "Wenn schon der handelnde Mensch sein Leben an die Vernunft und ihre Begriffe bindet, um nicht fortgeschwemmt zu werden und sich nicht selbst zu verlieren, so baut der Forscher seine Hütte dicht an den Thurmbau der Wissenschaft, um an ihm mithelfen zu können und selbst Schutz unter dem vorhandenen Bollwerk zu finden. Und Schutz braucht er: denn es giebt furchtbare Mächte, die fortwährend auf ihn eindringen [...]" (WL 2; 1, 886). - Auch an anderen Beispielen ließe sich die Fortgeltung des Handlungskonzepts beim frühen Nietzsche zeigen, etwa an dem der Geschichte: "Nietzsche hat einen Geschichtsbegriff handelnder Subjekte: Sokrates, Euripides und Aristophanes sind imstande, Dionysos verstummen zu lassen." (H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 1979, 368)
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Im Zusammenhang dieser These ist von der "Macht-Beredsamkeit" der Architektur die Rede. Damit ist auf ein Medium verwiesen, bei dem der frühe Nietzsche sich nicht sicher gewesen zu sein scheint, ob sich darin eine Machtvollkommenheit ausdrückt oder nicht. Gewiß ist die Rhetorik ein Mittel der Machtausübung, aber es gehört wohl nicht zu ihren höchsten Formen. Gegen sie spricht ihre Entstehung in einer sich bereits auflösenden Kultur: "Der Rhetor ist eine griechische Erfindung! " - eine gute Herkunft, die aber mit einem Makel versehen ist: sie stammt aus der "späteren Zeit", d. h. aus der Epoche des beginnenden Verfalls (N 1875, 6/17; 8, 104). Sie trägt die Merkmale des "Virtuosenthum[sJ" (ebd.) und gehört damit zu jenen individualistischen Verselbständigungen, die unter dem Titel des "Sokratismus" von Nietzsche als verhängnisvoll gedeutet werden. Mit der Rhetorik fängt die Vernunft an, sich zu regen (N 1872/73, 19/215; 7, 486), auch das gilt nicht als gutes Zeichen. Doch sie hat daneben auch eine ältere Eigenschaft der Griechen bewahrt: Der "Schmuck der Rede" entspringt der "agonalen Neigung der Alten", die bei ihren Auftritten "nicht nur starke, sondern auch glänzende Waffen" brauchten (GOA 18, 257). Ältesten Ursprungs ist ferner die Verbindung der Rhetorik mit der Musik. In der genialischen Macht Richard Wagners ist diese Verbindung wiederhergestellt. Wort, Gebärde und Musik werden durch Wagners "übermächtige[n] symphonischefn] Verstand" (4. UB 9; 1, 494) in die "Sprache des Pathos" gebracht und wirken "unmittelbar auf die Seelen der Zuhörer" (ebd., 491 u. 488). In Verbindung mit den anderen Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen wird also die Rhetorik zu einem Anzeichen der Macht.41 Sie kann in dieser Rolle nur den Eindruck verstärken, daß die wahre Macht allein in der Einheit innerer und äußerer Momente zu finden ist. Die Macht hat ein Außen, das jeweils Ausdruck ihres Inneren ist - eines Inneren, das nur in diesem Ausdruck ist. Die Erscheinung der Macht ist ihr Wesen. Die Einheit von Innen und Außen hat ein schönes Exempel im Spiel. In Nietzsches Baseler Schriften ist das Spiel noch nicht so exponiert wie etwa in Zarathustras Allegorie von den drei Verwandlungen. Doch die Bedeutung des Spiels kündigt sich mehrfach an, so in der Rolle des Wettkampfs, in der Unschuld der griechischen und germanischen Helden oder im Vergessen-Können als Voraussetzung historischer Taten. Bei Heraklit beeindruckt Nietzsche das "Spiel des Äons" (Frag. 52), in welchem er das tiefe Gleichnis des Werdens anerkennt. Die Welt ist das "Spiel des Zeus", das Spiel des ewigen "Feuers mit sich selbst" (PhtZ 6; 1, 828): "[u]nd so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, 41
Daß auch dies kein uneingeschränkt positives Urteil ist, läßt ζ. B. eine Notiz aus dem Januar 1874 erkennen: "Die Musik ist nicht viel werth, die Poesie auch «nicht, das Drama auch nicht, die Schauspielkunst oft nur Rhetorik - aber alles ist im Grossen Hins und auf einer Höhe." (N 1874, 32/10; 7, 7S6) Zur selben Zeit sucht Nietzsche die Funktion der Rhetorik in positiver Weise zu bestimmen: "Entstehung der Kunstprosa als Nachklang der Rhetorik." Oder: "Die Rhetorik ist deshalb ehrlicher, weil sie das Täuschen als Ziel anerkennt." (ebd., 32/14; 7, 758) Vgl. zum Problem der Rhetorik: G. Rupp, Rhetorische Strukturen und kommunikative Determinanz, 1976; J. Villwock, Die Reflexion der Rhetorik in der Philosophie Friedrich Nietzsches, 1982, 39 - 55, 39 ff.
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IV. Im Vorfeld menschlicher Macht
baut auf und zerstört, in Unschuld - und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich" (PhtZ 7; 1, 830). Die Kraft, die Ordnungen errichtet und wieder destruiert, kommt aus einem "immer neu erwachendefn] Spieltrieb". Das Material der Welt erscheint wie das "Spielzeug" eines Kindes, das schon hier als Prototyp des "ästhetischefn] Menschfen]" vorgestellt wird (ebd., 831). An dem Bild vom spielenden Kind ließe sich verdeutlichen, wie innerer Antrieb und äußere Bewegung, die sich daran entzündende Lust und die darauf folgende Verstärkung der Bewegung usw. nur als ein Geschehen zu verstehen sind. Der Spieler ist hellwach; er hat ein "Bewußtsein", das freilich ganz in der Rezeption und Reaktion der Situation aufgeht. Auf deren Umfeld kommt es nicht an. Das Bewußtsein des Spielers ist ohne Bezug zu den bedingenden Faktoren der Situation. In der Heraklit-Paraphrase geht es Nietzsche um die Destruktion planvoll-vernünftiger Kosmodizeen. Der Begriff des Spiels soll es erlauben, Ordnung auch unter chaotischen Gesamtbedingungen zu denken. Das Spiel eröffnet grundlos, d. h.: ohne daß es selbst eines Grundes bedürfte, Möglichkeiten der Einheit, schafft Harmonie ungeachtet des allgemeinen Widerstreits. Auch in dieser Funktion steht es weder in Opposition zum begleitenden Bewußtsein noch zum lebensernsten Kampf, sondern es stellt das Prinzip dar, in dem sich beide - als inneres und äußeres Moment - zu einer Einheit verbinden. Die Abfolge der Kämpfe als ganze ist ein Spiel, dessen Sinn darin aufgeht, daß es ohne Nötigung gespielt wird. Innerhalb dieses auf- und absteigenden Geschehens macht sich der Mensch dem Gott gleich und schafft sich, die Widerstände im Spiel überwindend, seine eigene Welt. Der Mensch wird zum Mitspieler Gottes. Nur sofern er sich auf die äußere Situation des Kampfes wie auf ein Spiel einläßt, das er mit ganzem Ernst betreibt, kommt er zu größter Freiheit und höchster Entfaltung seiner Möglichkeiten. Das ist jener Höhepunkt der Macht, den die großen Individuen Griechenlands gesetzt haben und auf den die starken Persönlichkeiten der erhofften Zukunft gerichtet sein sollen. Es ist der Augenblick höchster Machtfülle, auf den Siegfried im Mythos und Richard Wagner in Bayreuth zustreben. In diesen Momenten, das ist die visionäre Erwartung, kommt die wirkliche Macht des Menschen zum Vorschein. Das Innere entspricht dem Äußeren; Gefühl und Gesicht sind gleichermaßen beteiligt; Machtrausch und Machttraum kommen zur Deckung; Dionysos und Apoll, die beiden Schutzmächte des schöpferischen Menschen, sind beim Auftritt der ursprünglich menschlichen Macht vereinigt. Nietzsche fehlt nur noch der Begriff für das, was er bezeichnen will.
V. Das Gefühl der Macht Die Psychologie der Macht in Nietzsches mittlerer Periode
1. Der Übergang ins eigene philosophische Werk Die vier Unzeitgemäßen Betrachtungen lassen sich als die vier letzten Schritte zu Nietzsches philosophischer Selbständigkeit interpretieren. Der erste davon ist ein spektakulärer Akt. Innerlich war er längst vollzogen, und auch die Leser der Geburt der Tragödie oder die Hörer der Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten dürfte Nietzsches Absage an die "Bildungsphilister" kaum überrascht haben. Doch indem Nietzsche die Anregung Wagners aufgreift und das redliche, in liberalen Erwartungen geschriebene Buch des Wagner-Gegners David Friedrich Strauss attackiert,1 macht er weithin deutlich, daß er sich auf seinen altphilologischen Wirkungskreis in Basel nicht beschränken will. In dem publizistischen Paradestück der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung löst sich Nietzsche stärker von der Philologie, als ihm vielleicht bewußt ist. Außerdem distanziert er sich vom tonangebenden Zeitgeschmack und markiert so den benötigten Rangunterschied zwischen sich und der Menge. In der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung vollzieht Nietzsche einen programmatischen Bruch mit dem vorherrschenden Wissenschafts Verständnis. Darin liegt eine prinzipielle, nicht mehr bloß persönliche Konsequenz aus den Reaktionen auf die Tragödienschrift. Der Wunsch, aus der Enge der Baseler Existenz heraus zu öffentlicher Wirksamkeit zu gelangen, mag dabei auch eine Rolle gespielt haben, aber er ist sekundär gegenüber der Tatsache, daß Nietzsche auf diese Weise zum ersten Mal ausdrücklich als philosophischer Autor auftritt. Damit ist weder der philosophische Rang der Geburt der Tragödie bestritten noch der pädagogische Anspruch der Abhandlung geleugnet, sondern nur die Tatsache betont, daß Nietzsche ohne direkten Bezug zu den Altertumswissenschaften und ohne unmittelbaren publizistischen Anlaß sich grundsätzlich über den Zusammenhang von Leben und Geschichte äußert. Erst nachträglich weiß man, wie sehr ihn auch hier die Abgrenzung gegenüber der Philolo-
Zum Hintergrund der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung über "David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller" vgl. C. P. Janz, Nietzsche, Bd. 1, 1978, 515 f. Aus Strauss' Urteil über die zur gleichen Zeit von Wagner zuhöchst gerühmte neunte Symphonie Beethovens erhellt im Zusammenhang der bisherigen Erörterungen am besten, daß sowohl Wagner wie auch Nietzsche sachliche Gründe zur Opposition hatten: "Die neunte Symphonie ist billig der Liebling eines Zeitgeschmacks, dem in der Kunst, der Musik insbesondere, das Barocke als das Geniale, das Formlose als das Erhabene gilt." (D. F. Strauss, Der alte und der neue Glaube, 1872, 365)
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V. Das Gefühl der Macht
gie beschäftigt2 und daß auch hier eine Anregung aus dem Hause Wagners den Anstoß gegeben hat.3 Dem Leser präsentierte sich Nietzsche als philosophischer Autor, und Jacob Burckhardt konnte sich im Hinblick auf diesen Anspruch auf die Behauptung zurückziehen, sein "armer Kopf (sei) gar nie im Stande gewesen, über die letzten Gründe, Ziele und Wünschbarkeiten der geschichtlichen Wissenschaft auch nur von ferne zu reflektieren", wie Nietzsche das vermöge.4 Mit der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung setzt Nietzsche auch in den philosophischen Inhalten zur Selbständigkeit an. Dem bis dahin maßgebenden Lehrer, nämlich Schopenhauer, wird in dankbarer Anerkennung der ihm gebührende historische Rang eingeräumt. In der Verehrung rückt Nietzsche von ihm ab. Später, im Ecce homo bekennt er, "dass hier im Grunde nicht 'Schopenhauer als Erzieher', sondern sein Gegenpart, 'Nietzsche als Erzieher', zu Worte kommt" (EH, Unzeitgem. 3; 6, 320). Vorher hatte in der Tat wohl primär Schopenhauer das Wort geführt, wenn es um philosophische Grundpositionen ging. Zwar muß man einräumen, daß Nietzsche im Ansatz seiner "ästhetischen Metaphysik", insbesondere im Versprechen einer "ästhetischen Rechtfertigung des Daseins und der Welt", bereits über Schopenhauer hinaus ist,5 aber er beruft sich selbst in diesem Zusammenhang auf dessen Willensmetaphysik. Auch in der Stellung zur Metaphysik oder in der philosophischen Grundstimmung zwischen Pessimismus und Optimismus zeigen sich bereits vor der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung die charakteristischen Unterschiede zwischen Lehrer und Schüler. Georg Simmel hat sie mit außerordentlichem Gespür beschrieben.6 Doch Nietzsche sieht sich selbst noch im Schatten Schopenhauers und greift, vor allem bei prinzipiellen Begründungen, immer wieder auf dessen Lehre zurück. Das gilt übrigens auch für die Verbindung der Macht zu Wille und Vorstellung.7 Nach dem öffentlich abgestatteten Dank überzeugt ihn das nun selbst nicht mehr. Mit der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung über Richard Wagner wird der letzte Schritt zur Selbständigkeit getan. Nietzsche gelingt ein großartiges Portrait des "Meisters", weitgehend aus dessen eigenen Mitteln.8 Die Größe ist im Bild gebannt. Nun kann er sie aus der Dazu: H. Schröter, Historische Theorie und geschichtliches Handeln, 1982, 34 ff. - Zur Bedeutung der im Umkreis von "Wir Philologen" gemachten Notizen siehe G. Colli, Nachwort zu: Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1, 1988, 908 - 912. Dies gilt für die Urteilsbildung über E. v. Hartmanns Philosophie des Unbewußten (4. Aufl., Berlin 1872). Cosima Wagner war dankbar, über das vielbeachtete Werk ein Urteil Nietzsches zu hören (vgl. Bf. v. 20. 3. 1874). Dazu: J. Salaquarda, Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, 1984, 1 - 45. Man vergleiche den Brief Burckhardts an Nietzsche v. 25. 2. 1874 mit seiner Einleitung in die Weltgeschichtlichen Betrachtungen. Siehe dazu vom Verf.: Leben und Geschichte, 1984. Siehe oben Anm. 36 zum Kapitel IV. G. Simmel, Schopenhauer und Nietzsche (1907), 1920. Vgl. die Nachlaß-Notizen: 1870/71, 5/77 u. 1872/73, 19/204. - Zur Abgrenzung von Schopenhauer vgl. MA 1, 37, sowie die weiter unten folgenden Ausführungen über die Stellung zum Problem der Selbsterhaltung. "Die Ungeheuerlichkeit der Vierten Unzeitgemäßen Betrachtung, Richard Wagner in Bayreuth, besteht unter anderem in der sowohl von der Nietzsche- als auch von der Wagnerforschung bis heute ziemlich übersehenen Tatsache, daß sie eine äußerst geschickte Mosaikarbeit von Zitaten aus Wagnerschen Schriften [...] ist." (M.
1. Der Übergang ins eigene philosophische Werk
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Distanz betrachten und über sie verfügen. Indem er Wagner eine Zukunft in Bayreuth verheißt, hat er die "Vision" seiner eigenen Zukunft (ebd.). Damit ist er der alten Bindungen ledig, ist ein "freier Geist" und kann "Ein Buch für freie Geister" schreiben: Menschliches, Allzumenschliches. Alles bisher über Nietzsches Machtbegriff Gesagte bezieht sich auf die Zeit vor diesem Buch. In der Literatur ist der in dieser ersten Phase ausgebreitete Machtkomplex so gut wie gar nicht beachtet worden.9 Nicht zuletzt deshalb wurde im vorangehenden Kapitel versucht, ihn möglichst anschaulich zu machen. Erst die psychologisch-moralistischen Bemerkungen in Menschliches, Allzumenschliches haben die gelegentliche Aufmerksamkeit von Interpreten auf sich gezogen. Dabei interessierte dann verständlicherweise die Frage, inwieweit sich hier bereits der Wille zur Macht ankündigt. Zu nennen sind die großen Werke von Karl Jaspers und Walter Kaufmann sowie ein 1979 erschienener Aufsatz von Willard Mittelman.10 Jaspers und Kaufmann erkennen einen genetischen Zusammenhang zwischen der psychologischen Machtkonzeption und der folgenden Lehre vom Willen zur Macht; Mittelman bestreitet eine solche Kontinuität. Im Unterschied zu diesen Interpretationen ist die Darstellung im vorliegenden Kapitel nicht primär an der späteren Macht-Willen-Lehre orientiert, sondern baut auf den bisher sichtbar gewordenen sozialen, politischen, ästhetischen und in allem stets humanen Eigenschaften der Macht auf. Hierbei zeigt sich ganz von selbst, daß Mittelmans These, vor dem Zarathustra gehe es Nietzsche nur um äußere Macht, nicht zu halten ist. Damit entfällt auch sein Argument fur die grundlegende Differenz zwischen dem Machtbegriff vor dem Zarathustra und dem danach. Der Unterschied zwischen der Machtlehre vor dem Zarathustra und der danach liegt nicht im Kriterium äußerer Macht - ganz abgesehen davon, daß "äußere" Macht von "innerer" gar nicht eindeutig unterschieden werden kann. Eine Entwicklung des Konzepts, d. h. seine begriffliche Präzisierung und der Zuwachs an systematischer Bedeutung, ist dadurch nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil: die Entwicklungsthese von Jaspers und Kaufmann erweist sich noch als zu schwach, denn der spätere Machtbegriff wird keineswegs bloß "psychologisch" vorbereitet. Im Zusammenhang mit dem ersten Begriffsgebrauch weisen die Aphorismen in Menschliches, Allzumenschliches auf die Lehre Zarathustras voraus. Machtgefühl, Lust an der Überlegenheit oder die aus wechselseitiger Schätzung erwachsene
9
10
Montinari, Nietzsche und Wagner vor hundert Jahren, 1978, 288 - 307, 294) Ausnahmen bilden die schon erwähnte Arbeit von J. Stambaugh (Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, 1939) sowie die Monographie von K. Jaspers, der in einem kurzen Absatz auf Kampf und Siegeslust als die Machtphänomene eingeht, die Nietzsche bereits in seinen Betrachtungen über das griechische Dasein berührt (Nietzsche, 1947, 306 f.). Jaspers ist m. W. auch der einzige, der auf das "soziologische Grundverhältnis der Macht" aufmerksam macht (ebd.). K. Jaspers, Nietzsche, 1947, 305 - 309; W. Kaulmann, Nietzsche, 1982, 209 - 231; W. Mittelman, The Relation between Nietzsche's Theory of the Will to Power and his Earlier Conception of Power, 1980, 122 - 141. Mittelman verweist auch auf die W. Kaufmann nahestehenden Arbeiten von R. J. Hollingdale (Nietzsche, 1965) und R. C. Solomon (Nietzsche, 1973, 202 - 225).
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V. Das Gefühl der Macht
Entsprechung von Macht und Recht sind systematische Keimzellen des Willens zur Macht. Man wird also von einem Übergang und nicht von einem Bruch zwischen den Schriften der siebziger und denen der achtziger Jahre sprechen müssen. Dies um so mehr, als in dieser Phase selbst Wandlungen stattfinden, die als schrittweise Annäherung an die Lehre Zarathustras verstanden werden können. Nietzsche vertritt auch in dieser mittleren Periode zwischen 1878 und 1882 keine einheitliche Position, ist jetzt keineswegs nur "Psychologe" oder "Aufklärer" oder gar "Positivist". Der Übergang von den mittleren zu den späten Schriften geschieht allmählich und ist sowohl in der großen Entwicklungslinie wie auch in den einzelnen Schritten erkennbar. Vom Übergang zu reden heißt auch, die Verbindung mit der ersten Werkphase betonen. Dies gilt insbesondere für das Machtverständnis in den Schriften der frühen und der späten siebziger Jahre. Zwar ist der Wandel in Grundpositionen nicht zu übersehen: Voltaire verdrängt Schopenhauer als Vorbild; die Wissenschaft rückt an die Seite, gelegentlich auch an die Stelle der Kunst; der metaphysische Ästhetizismus wird durch den aufklärerischen Reduktionismus unterlaufen. Doch das Machtkonzept ist davon nur am Rande tangiert. Es wird nun ausdrücklich aller moralischen Wertung enthoben, und das elementare Bewegungsmoment erscheint manchmal nur noch als individuelles Motiv; doch die Funktionen und Strukturen der Macht verändern sich kaum. Als Triebkraft des gesellschaftlich-geschichtlichen Geschehens ist das Machtstreben auch hier an Kampf und Gegensatz gebunden, bewahrt die Einheit von (äußerem) Auftritt und (innerem) Einsatz und hat seine größte Wirkung in der spielerisch-genialen Produktion. Diese Kontinuität zwischen früher und mittlerer Periode ist um so erstaunlicher, als sich Nietzsches Urteil über Rahmenbedingungen des Machtstrebens, über Selbsterhaltung, Egoismus und die Rolle der Arbeit verändert, und er sich erstmals öffentlich über Probleme der Machtbildung äußert. Der Machtbegriff gewinnt in den Jahren vor dem Zarathustra an phänomenaler Extension und psychologischer Intensität. Sein Beziehungsgeflecht wird komplexer, und er bekommt ausdrücklich die Aufgabe der Erklärung übertragen. Der metaphorische Charakter, der in vielen früheren Zusammenhängen noch offenkundig ist, tritt nun immer seltener hervor. Es geht um Macht im engeren Sinn, oberflächlich gesehen also nur um "external power",11 und nicht mehr um so etwas wie Macht, das ebensogut auch Kraft, Stärke, Wirkung, Möglichkeit, Ansehen oder Freiheit heißen könnte. Nietzsche nimmt das in seiner Besonderheit hervortretende Phänomen der Macht und entwickelt Ansätze zu einer Logik des Machtverhaltens, die für seine spätere Macht-WillenLehre ebenso bedeutsam sind wie für eine philosophische Theorie der Macht überhaupt.
11
W. Mittelman, The Relation between Nietzsche's Theory of the Will to Power and his Earlier Conception of Power, 1980, 125.
2. Freier Geist und kritische Methode
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2. Freier Geist und kritische Methode Die "grossef] Loslösung" des wahrhaft freien Geistes (MA 1, Vorrede 3; 2, 15) vollzieht Nietzsche im Bewußtsein der Kongruenz mit dem geschichtlichen Übergang zur Skepsis, zum wissenschaftlichen Zweifel und damit zum unmetaphysischen "Zeitalter der Vergleichung" (ebd., 23; 2, 44). Dabei sieht er, zumindest im Rückblick, das Defizit des Neuen, den mit der Überwindung von Religion und Metaphysik eintretenden Verlust an Erfahrungstiefe und Handlungsweite. In einer "rückläufige[n] Bewegung", ohne die Bewegung des freien Geistes zu bremsen (Nietzsche verwendet auch hier den Vergleich mit einer in sich geschlossenen Kreisbewegung: "wie im Hippodrom"), soll das Verlorene eingeholt werden (ebd., 20; 2, 41 f.). In der "Umkehr der Umkehr"12 bleibt er bereits am Eingang in die aufklärerisch-positivistische Phase seines Denkens dem vorausliegenden Ansatz treu, kündet die spätere Überwindung des soeben Begonnenen an und bewahrt so auch im Wandel seiner Auffassung Kontinuität. Das Defizitäre der wissenschaftlichen Epoche erfährt Nietzsche in der Schrumpfung historischer Perspektiven auf die Grenzen des individuellen Lebens. Der "moderne Mensch" baut für keine Ewigkeit, sondern nur noch für sich selbst, für seine endliche Existenz. Seine Werke gelten nicht einmal mehr für die nachfolgenden Geschlechter. Sein "aufgeregte[s] Ephemeren-Dasein[] " rückt über die Schranken der eigenen Lebenszeit hinaus. Der Glaube an das "monumentum aereperennius" ist zerstört (ebd., 22; 2, 43). Der Emanzipationsprozeß des neuzeitlichen Subjekts, ein Vorgang, an dem mitzuwirken Nietzsche sich gerade anschickt, führt zu historischem Bedeutungsverlust des Individuums und Gefangenschaft des Einzelnen in seinem bloßen Dasein. Für die Befreiung von der Metaphysik, für die dadurch mögliche Eröffnung ungeheurer Erfahrungsräume, büßt das Individuum die historische Größe ein. Der technisch-praktische Machtgewinn der Wissenschaft wird durch den geschichtlichen Machtverlust des neuzeitlichen Menschen erkauft. Mit dem "[m]uthmaassliche[n] Sieg der Skepsis" (ebd., 21; 2, 42), mit dem Triumph der Kritik und der Freisetzung aller humanen Kräfte beginnt für Nietzsche das, was er später die "Selbstverkleinerung" des Menschen nennen wird: "Seit Kopernikus", so sagt er in der Genealogie der Moral, "scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, - er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg - wohin? in's Nichts?" (GM 3, 25; 5, 404) Es ist wichtig, sich diese spätere Position schon jetzt zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, wie sehr die dort offenkundige Stoßrichtung gegen die bloße Selbsterhaltung auch schon in den früheren Passagen wirksam ist. Die in der Genealogie unterstellte Gleichung zwischen dem "Willen zur Selbstverkleinerung" und dem "Willen zum Dasein" muß bereits in der I 12
Siehe dazu: P. Heller, "Von den ersten und letzten Dingen", 1972, 209 (Interpretation von MA 1, 20).
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V. Das Gefühl der Macht
Klage über den Unglauben an das "monumentum aere perennius" vorausgesetzt werden. Selbsterhaltung steht auch in Menschliches, Allzumenschliches im Widerspruch zur Monumentalität, zur historischen Größe und folglich zur großen Macht. Damit ist auch klar, daß Nietzsche, sobald er selbst das bloß negative Verhältnis zur Metaphysik in der rückläufigen Bewegung überwunden hat, daran gehen muß, das Gleichgewicht zwischen kritischem Wissen und geschichtsträchtigem Handeln wiederherzustellen. Diese Aufgabe wird dem wiederbelebten Propheten Zarathustra überantwortet; im Programm des Nihilismus versucht Nietzsche selbst, den Willen zur Macht auf die Gegengerade des Hippodroms zu bringen und dem Menschen eine Zukunft zu öffnen, die das bloße Leben transzendiert. Zunächst aber geht es um die Diagnose des "Zeitalters der Vergleichung", um die aphoristische Variation der kritischen Motive. Ein dominantes Thema ist dabei das Verhältnis von individuellem Dasein und Macht. Wesentlich am Übergang in die Phase psychologisch-moralistischer Aufklärung ist der Wechsel der Methode. Nietzsche nimmt sich auf die Funktion eines Kritikers zurück, der auf die Darstellung und Begründung einer eigenen Theorie verzichtet, aber ihre möglichen Elemente aufweist, indem er die Oberfläche des menschlichen Handelns durchschaut. Nichts Menschliches ist dem analytischen Blick fremd, alle Phänomene werden auf ihren humanen Ursprung, d. h. immer auch: auf kreatürliche Bedingungen sowie auf ihre historischen Faktoren zurückgeführt und jeder Wertung entzogen, die sich selbst als Oberflächenphänomen erweisen läßt. Da die moralischen Urteile als heute gar nicht mehr verstandene Folgen einst ganz anders gemeinter Wertschätzungen entlarvt werden können, scheidet die Qualifikation der Macht als "gut" oder "böse" von vornherein aus. Diese Einsicht Nietzsches verstärkt, was er sich als freier Geist zum Ziel gesetzt hat, nämlich mit kaltem, vorurteilslosem Blick die geheimen Motive, die verschütteten und vertuschten Antriebe der menschlichen Natur freizulegen. Wer über die "Geschichte der moralischen Empfindungen" deren Quellen aufsuchen will, der muß sich auf diesem Weg der moralischen Urteile enthalten. Nur so trifft der psychologische Beobachter "in's Schwarze der menschlichen Natur" (MA 1, 36; 2, 59). Die "Wissenschaft", zu der er sich hier expressis verbis bekennt, nimmt keine Rücksicht auf letzte Zwecke, sie fragt auch nicht nach Nutzen oder Nachteil der psychologischen Beobachtung; in ihr sieht sie nichts als ein notwendiges Mittel der Erkenntnis, die hier gar als "Nachahmung der Natur in Begriffen" (!) figuriert, freilich - "ohne es gewollt zu haben" (ebd., 38; 2, 61). Ihr Ziel ist "Zergliederung und Zusammenrechnung" von Erscheinungen (ebd., 35; 2, 57): damit auch die Suche nach allgemeinen Ursachen und Bedingungen; es bleibt also beim Ziel der klassischen Erklärung durch primäre Ursachen und generelle Gesetze. "Falsche Erklärungen" sollen durch richtige ersetzt werden. Nietzsche legt Wert auf den wissenschaftlichen Charakter seiner psychologischen Methode. Daß er dabei nicht systematisch ansetzt, sondern sich der geschliffenen Sen-
3. Die Umwertung von Selbsterhaltung, Arbeit und Macht
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tenz bedient, sagt vielleicht etwas über den noch unentwickelten Stand dieser Wissenschaft, mindert aber nicht die Strenge des Erkenntnisanspruches.13 Die "Sentenzen-Schleiferei" des psychologischen Beobachters (ebd., 58) ist nicht auf brillante Formulierungen beschränkt; in ihr werden auch die analytischen Instrumente scharf geschliffen. Der Aphorismus steht hier im Dienst szientifischer Erkenntnis. Er ist die Sonde, die Nietzsche ins lebendige menschliche Geschehen einführt, um Proben aus den tragenden tieferen Schichten ans Licht wissenschaftlicher Betrachtung zu befördern.
3. Die Umwertung von Selbsterhaltung, Arbeit und Macht In seiner analytischen Intention stößt Nietzsche auf eine Ursache, die in seinen Augen einen Großteil der Oberflächenphänomene des menschlichen Verhaltens erklärt. Dies ist das Streben nach Macht. Machtverlangen, der Wunsch, zur Macht zu kommen, sie zu behalten und zu erweitern, tritt in zahlreichen Varianten als elementarer Grundtrieb des Menschen auf. Fundamentaler als dieser erscheint nur noch das Streben nach Selbsterhaltung sowie nach Lustgewinn, und gleichrangig daneben steht allenfalls noch die Reaktion auf bedrohliche Übermacht, die Furcht. Nach der dezidierten Abwertung von Selbsterhaltung und bloßer Daseinslust in den ersten Schriften ist bemerkenswert, wie milde und anerkennend Nietzsche nun über die elementaren Äußerungen des Lebenstriebes urteilt. Selbsterhaltung ist ihm der - selbst nicht notwendige - Grund aller Not, Nötigung und Notwendigkeit des Lebens. Alles Lebendige wird von dem Zwang, sich zu erhalten, getrieben; folglich können alle Lebensäußerungen daraus erklärt werden. Menschlich, allzumenschlich erscheint nun auch der Egoismus, den Nietzsche wenig vorher noch als Weichenstellung des Bösen angesehen hatte. Selbsterhaltung gilt jetzt als fundamentales Lebensprinzip, das sich notwendig im Egoismus äußert und stets auf Lust aus ist: "in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbsterhaltung" (ebd., 102; 2, 99; H. v. m.). Das "Vernunft-Räderwerk" der "Selbst-Erhaltung" hält den Menschen in Bewegung (WS 33; 2, 565). Deshalb ist auch der Egoismus "nicht böse" (MA 1, 101; 2, 98). Kein Ego kann ohne Ego handeln; ein Wesen, "welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig wäre, [ist] noch fabelhafter als der Vogel Phönix" (ebd., 133; 2, 126 f.). Die anscheinend selbstlosen Taten der Liebe werden wegen ihrer "Nützlichkeit" geschätzt, und auch der Liebende selbst, so sagt Nietzsche unter Berufung auf La Rochefoucauld und Lichtenberg, und
13
Das ist das Verfahren der Hypothesenbildung in dieser Phase. Die "Experimental-Philosophie" bereitet sich vor. Siehe dazu vom Verf.: "Experimental-Philosophie", 1986.
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V. Das Gefühl der Macht
in Übereinstimmung mit Paul Rèe,14 fühlt letztlich nur sich allein. "[D]ie Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?" (M 145; 3, 137) Selbst die Schwangerschaft deutet er noch als eine "idealische Selbstsucht" (M 552; 3, 322). Die Aphorismen ergeben ein facettenreiches Bild von den Quellen, aus denen das Ich seine vielfältigen Kräfte schöpft; Trägheit und Gewohnheit, Streben nach Sicherheit und Schutz, Gewinnsucht, Ehrverlangen und Eitelkeit - vor allem die Eitelkeit, die "Haut der Seele" (MA 1, 82; 2, 86) - sind die Ursachen des sozialen Lebens: die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. "Ohne Eitelkeit und Selbstsucht - was sind denn die menschlichen Tugenden?" (WS 285; 2, 680) Damit ist zugleich gefragt, was sie denn ohne "Interesse an sich selbst", ohne "Selbstgenuss" (MA 1, 89; 2, 88) eigentlich darstellen? Ein ursprüngliches narzißtisches Vermögen wird in allen menschlichen Handlungen vermutet. In allen Strebungen wirkt letztlich der Mensch auf sich zurück. Keine Gestalt des sozialen Lebens ist von diesem lustbestimmten Selbstbezug ausgenommen. Die Familie und der asketische Heilige, die Religionen und die freien Geister treiben aus der "Selbstsucht" (WS 285; 2, 680) hervor. Der Künstler ist sogar in zweifacher Hinsicht ihr Geschöpf: Er wird durch die eigene Eitelkeit und die seines Publikums groß. In den Versuchen, den Genius auf die "rein menschlichen Eigenschaften" (in Verbindung mit einigen "Glücksumstände[n]") zurückzuführen (MA 1, 164; 2, 155), entfernt sich Nietzsche am weitesten von der Position der frühen Schriften. Genius und Heros bleiben zwar als Phänomene bestehen, doch das Odium des Großen, das Pathos des Unerreichbaren geht verloren. Wenn es sich hält, dann nicht primär als eine der individuellen Größe selbst zurechenbare Bedingung, sondern eben als etwas, das den Bedürfnissen des Publikums entspricht: "unsere Eitelkeit", "unsere Selbstliebe" fördern "den Cultus des Genius'" (ebd., 162; 2, 151). So rücken im Visier des entlarvenden Psychologen die Extreme näher zusammen und entfernen sich kaum noch vom menschlichen Ausgangspunkt. In die Sphäre allzumenschlicher Normalität gehören nun auch die Arbeit und die Macht}5 Freilich steht Nietzsche jetzt nicht an, der Arbeit die "Würde" zuzusprechen, über die er vormals spottete. Er wird in dieser Phase der psychologischen Entlarvung des Verhaltens nicht zum Apologeten der überall herrschenden Triebökonomie. Die Arbeit bleibt mühselig und lästig. Sie ist nicht "an sich" wertvoll, auch nicht als Ausgleich der Muße. Doch die Bedeutung der Arbeit für die soziale Gesamtheit wie für den einzelnen wird nun nicht mehr 14
15
Siehe z. B. P. Rèe, Psychologische Beobachtungen, 1875, 19 ff. (lieber die menschlichen Handlungen und ihre Motive) und 67 ff. (Ueber Weiber, Liebe und Ehe). Um nur zwei Beispiele zu geben: "'Er kennt die Menschen nicht', d. h. er hält sie für gut." (ebd., 22) "Man erniedrigt sich, weil man denkt: Wer sich erniedrigt, wird erhöhet werden." (ebd., 37) Für den hier besprochenen Zusammenhang ist auch Rées "Versuch über die Eitelkeit" (ebd., 149 ff.) von Bedeutung. Parallelen dieser Art finden sich dann auch in Rées Der Ursprung der moralischen Empfindungen, 1877. Siehe dazu: D. Jähnig, Die Kunst in der Zeit der Arbeit, 1975, 161 - 196.
3. Die Umwertung von Selbsterhaltung, Arbeit und Macht
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bestritten. Ihre Wertschätzung beschränkt sich nicht auf die Anerkennung ihrer äußeren Effekte. Nietzsche sieht, daß die ganze Person in die Arbeit eingeht; wollte man diese gerecht beurteilen, müßte man jene in die Waagschale setzen - was freilich nicht geht (WS 286; 2, 681). Sogar vom "Stolz", der dem "Stück Arbeit" eigen sei, spricht Nietzsche, um vor den Folgen der Maschinisierung zu warnen. An jeder "Nicht-Maschinenarbeit" klebe ein "Bisschen Humanität", deshalb solle man die "Erleichterung der Arbeit nicht zu theuer kaufen". Mit der Maschinisierung der Arbeit geht also etwas verloren, das unter den früheren Arbeitsbedingungen "persönliche Zusammengehörigkeit" erlaubte (WS 288; 2, 682 f.). Damit kritisiert auch Nietzsche die entfremdete Arbeit in der industriellen Welt. Wenn er beklagt, daß sich der moderne Arbeiter nicht mehr persönlich auszeichnen könne, wie das noch dem Handwerker möglich war, und daß die Gebrauchsgegenstände ihre "Symbolik gegenseitiger Werthschätzung" (!) (ebd., 683) verlieren, dann ist das auch ein Beitrag zur Kritik der von Marx sogenannten Warenwelt. Durch seine Schiller-Lektüre war Nietzsche mit den Voraussetzungen einer solchen Kritik seit langem vertraut. Gerechtfertigt ist freilich die Arbeit damit nicht; niemand arbeitet um der auch in ihr möglichen Humanität willen. Ihre Berechtigung folgt letztlich allein aus dem Nutzen. Die Nützlichkeit, d. h. ihre Relevanz für die Erhaltung des Lebens, begründet ihren Wert. Man braucht sie, um zu leben, und damit hat sie die größte nur vorstellbare Legitimation. Daß sie in diesem Rahmen unverzichtbar ist, steht jetzt für Nietzsche nicht mehr in Zweifel. So wie in der Aufzählung bedeutender Leistungen nun auch - neben die des Künstlers, Feldherrn oder Politikers - die des Kaufmanns tritt, so gehört von jetzt an die Arbeit zu den anerkannten, nicht mehr per se den Menschen depotenzierenden Bestandteilen der Kultur. Das Lob der Sklaverei ist in diesen Jahren verstummt. Als "unpersönliche[s] Sclaventhum[]" wird es ausdrücklich verworfen (ebd.). Um so mehr ist vom Wert der Nützlichkeit die Rede, die sogar einen Zugang zur Kunst eröffnet: "[...] das Nützliche [ist] der oftmals notwendige Umweg zum Schönen" (MA 2, 101; 2, 420). Eine zur Arbeit analoge Neubewertung der Macht ist in diesem Zeitraum der psychologischen Aufklärung nicht nötig, denn ihr Vorzeichen war nur bedingt negativ. Nur sofern sie dem bloßen Dasein diente, lastete ein Fluch auf ihr; sofern sie jedoch als Medium des Genius fungierte, war sie sanktioniert. Für den Genius war nach der Konzeption der frühen siebziger Jahre die Macht weder Abweg noch Umweg, sondern sein Dasein war notwendig Macht, seine Wirkung per definitionem glänzend und machtvoll. Neu ist nun, daß die Macht gänzlich den Geruch des Bösen verliert. In den Vorstudien zur Morgenröthe notiert Nietzsche ein Zitat, das dann in abgewandelter Form auch in der Veröffentlichung wiederkehrt: "'In Macht Böses thun ist mehr werth als in Ohnmacht Gutes thun' d. h. das Gefühl der Macht wird höher geschätzt als irgend ein Nutzen und Ruf." (N 1880, 4/299; 9, 174) Daraus wird dann der folgende Aphorismus: "Keine Utilitarier. - 'Die Macht, der viel Böses an-
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V. Das Gefühl der Macht
gethan und angedacht wird, ist mehr werth, als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfährt', so empfanden die Griechen. Das heisst: das Gefühl der Macht wurde von ihnen höher geschätzt, als irgend ein Nutzen oder guter Ruf." (M 360; 3, 241) Die erste Notiz kann den Eindruck erwecken, als sei die Macht im Grunde noch immer böse, nur sei eben das Böse "gut", habe zumindest die besseren Effekte. Die Formulierung in der publizierten Fassung scheint gerade diesen Eindruck vermeiden zu wollen, denn in ihr figuriert die Assoziation von Macht und Bösem als ein Ansinnen, dem die Macht immer wieder ausgesetzt ist. Die Macht wird als Opfer einer üblen Nachrede dargestellt; ihr wird "viel Böses angethan und angedacht" - wodurch? Offenbar doch dadurch, daß man sie als "böse" bezeichnete. Das Opfer falscher Verdächtigungen, das in Wahrheit Wertvolles hervorbringt, kann, so muß man schließen, selbst nur "gut" sein. Durch den Hinweis auf die Griechen, die sich von den Verleumdungen der Macht offenbar nicht täuschen ließen (vgl. Ν 1880, 4/301; 9, 174 f.), erhält diese Schlußfolgerung besonderes Gewicht. Wären nicht die moralischen Werturteile insgesamt fraglich, müßte man die Macht an sich nunmehr als "gut" bezeichnen. In jedem Fall steht sie auf der Seite der positiven Lebenswerte. Auch dort, wo sie nur auf sich selbst konzentriert ist, wird sie nicht mehr verworfen. Das Menschliche, Allzumenschliche kennt den "Ekel an der Macht" nicht mehr; in Nietzsches Psychologie hat dieses Gefühl seine Funktion verloren. Ekel an der Macht wäre entweder Furcht vor einer Macht oder eine selbst machtlüsterne Abkehr von einer bestimmten Form der Macht; beiden Fällen ist die Anerkennung der Macht gemeinsam. Ekel vor ihr ist ein Gefühl, das sich selbst widerspricht.
4. Korrespondenz von Lust und Leben Die Neubewertung der Selbsterhaltung und die Neutralisierung des Machtegoismus erklären sich aus der szientifischen Wendung der Lebensbejahung in Nietzsches psychologischer Aufklärungsphase. Er sucht in wissenschaftlicher Einstellung nach einem letzten, womöglich nach dem letzten Antrieb, der in allen (menschlichen) Lebensphänomenen wirkt. Aus dieser Blickrichtung erscheint das Streben nach Erhaltung als basaler Trieb beim Individuum wie in den Gesellschaften (MA 1, 102; 2, 99). Er ist stets mit dem Streben nach Lustgewinn (sowie mit der Vermeidung von Unlust) verbunden. "Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben." (ebd., 104; 2, 101 f.) Lust, Egoismus, Eitelkeit gehören so notwendig zum menschlichen Dasein, daß sie auch noch an der Erzeugung ihres vermeintlichen Gegenteils, den moralischen Phänomenen, mitwirken (ebd., 107; 2, 103 ff.); "alles lang Gewöhnte und Natürliche [ist] mit Lust verknüpft - und heisst nun Tugend" (ebd., 99; 2, 96). Der "sociale Instinct" wächst aus der Lust hervor (ebd., 98; 2, 95).
4. Korrespondenz von Lust und Leben
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Zwischen Leben und Lust besteht eine elementare Korrespondenz. Die Lust verweist auf die Stärke in der Entfaltung eines Lebens. Gesundes, kräftiges Leben äußert sich lustvoll. Durch die Lust wird das Leben subjektiv zugänglich; nur durch sie erfährt man unmittelbar, was erstrebenswert ist. Aus psychologischer Sicht liefert die Lust das Motiv für die Selbsterhaltung. In diesem Sinn erscheint die "Absicht auf Lust" als präziseste Formel für den "Trieb der Erhaltung" (ebd., 99; 2, 95). Den "Zweck der Erhaltung" setzt Nietzsche als den umfassenderen an, dem das Lust-Unlust-Kalkül folgt (ebd., 96; 2, 93). Mit Blickrichtung auf das erlebende Bewußtsein ist die Lust-Unlust-Dimension prävalent, was nicht überrascht, denn dem Psychologen muß der Aspekt des Erlebens wesentlich sein. Sieht man jedoch die psychischen Phänomene als Äußerungen des Lebens an, dann wird die Existenzweise des Organismus dominant, und dessen Selbsterhaltungsdrang ist anthropologisch das primum moyens. Dem Philosophen, der den ersten Impulsen der menschlichen Natur auf der Spur ist, erscheint die Selbsterhaltung primär. Als Kritiker des moralischen Bewußtseins braucht sich Nietzsche hier zwischen den Rollen des Psychologen und des Philosophen nicht zu entscheiden. Ausschlaggebend ist lediglich, daß er das Streben nach Lust - ebenso wie das Streben nach Macht - von jeder vorhergehenden moralischen Wertung freistellt: "Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse" (ebd., 103; 2, 100). Die hier bezeichnete Differenz zwischen philosophischer und psychologischer Perspektive tritt in einer Nachlaßnotiz aus der Entstehungszeit von Menschliches, Allzumenschliches besonders deutlich hervor (N 1876/77, 23/12; 8, 406 ff.). Da bezeichnet Nietzsche zunächst Schopenhauers "Willen zum Leben" als einen "sehr glückliche[n] Fund" (ebd., 406). Er äußert Dankbarkeit gegenüber dem Urheber und faßt den Vorsatz, sich diesen Ausdruck, diese spektakuläre Formel - nicht wieder nehmen zu lassen. Noch aber fehle dem Begriff die wissenschaftliche Anerkennung. Auch durch die Versuche des Schopenhauer-Schülers Philipp Mainländer,16 den Willen zum Leben "auf viele individuelle 'Willen zum Leben' " zu re16
An P. Mainländers 1876 erstmals erschienener Philosophie der Erlösung ist im Blick auf Nietzsche vor allem interessant, daß die individuellen Willen zum Leben nicht als von Anfang an gegebener Seinsbestand angenommen werden, sondern aus einem seinsgeschichtlichen Ereignis hervorgehen. Die Mannigfaltigkeit von Kräften, aus denen die Welt besteht, war ursprünglich eine Einheit, die Mainländer als "Ursein" bezeichnet und mit "Gott" identisch setzt. Doch diese Einheit ist zerfallen, und dieser Zerfall bedeutet die Entstehung der Welt: "Gott ist gestorben, und sein Tod war das Leben der Welt." Als Gott starb, wurde die Welt geboren (ebd., 345). · Die These wird übrigens aus einer ausgebreiteten Spekulation über die Allmacht Gottes abgeleitet, auf die hier nur hingewiesen werden kann und die den Unterschied zu Nietzsches These vom Tode Gottes hinreichend deutlich macht: "Gott existirte allein, in absoluter Einsamkeit, und es ist folglich richtig, daß er durch nichts außer ihm Befindliches beschränkt war; seine Macht war also in dem Sinne eine Allmacht, als nichts außer ihm Liegendes sie beschränkte. Aber sie war keine Allmacht seiner eigenen Macht gegenüber, oder mit anderen Worten, seine Macht war nicht durch sich selbst zu vernichten, die einfache Einheit konnte nicht durch sich selbst aufhören zu existiren." (ebd., 324) Daraus folgert Mainländer, daß Gott in seiner durch sich selbst beschränkten Allmacht seinen Willen, nicht zu sein, nur durch den Zerfall in eine Vielheit individueller Mächte realisieren konnte. - Für den Zusammenhang dieses Kapitels ist interessant, daß der unter Pseudonym schreibende Autor (sein bürgerlicher Name ist Philipp Batz) bestimmte menschliche Handlungen, wie ζ. B. die Gründung einer Familie, auf das "Lustgefühl der Macht" zurückzufuhren sucht (ebd., 62). Dieses Gefühl ist unmittelbar zum Willen und zeigt sich im Anspruch auf Herrschaft und Überlegenheit.
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V. Das Gefühl der Macht
duzieren, komme man nicht weiter, denn auf diese Weise erhalte man nur "statt einer universalen Lebenskraft (welche zugleich als außer, über und in den Dingen gedacht werden soll!) individuale Lebenskräfte, gegen welche dasselbe einzuwenden ist wie gegen jene universale" (ebd., 407). Das ist, nebenbei bemerkt, ein interessantes Argument, das später auch bei der Prüfung des Willens zur Macht in Erinnerung gebracht zu werden verdient. In seiner Notiz geht Nietzsche darauf nicht näher ein. Er unternimmt vielmehr selbst den Versuch, den philosophischen Begriff mit psychologischem Gehalt zu fällen - wie man annehmen darf, um ihn wissenschaftlich einzubürgern. Paradoxerweise bleibt bei diesem Bemühen der "Wille zum Leben" auf der Strecke. 17 In psychologischer Perspektive kommt nämlich der "Erhaltungstrieb" gar nicht vor! Beim Blick in sein Inneres entdeckt der Mensch nur einen ständigen Wechsel von "Lust- oder Unlustempfindungen" (ebd.). Unlust wird möglichst vermieden, Lust gesucht. Auch hinter dem Geschlechtstrieb oder hinter der Angst vor dem Tode, in denen Schopenhauer die stärksten Manifestationen des Lebenswillens zu erkennen glaubte, entdeckt die psychologische Analyse nur den "Willen zur Lust" (bzw. die Angst vor dem Todesschmerz) (ebd., 408). Nietzsche schließt mit einer Feststellung, die nicht erkennen läßt, wie der "Wille zum Leben" wissenschaftlich legitimiert werden kann: "Es ist nicht wahr daß man das Dasein um jeden Preis will, z. B. nicht als Thiere, auf welche Schopenhauer so gern hinweist um die ungeheure Macht des allgemeinen Willens zum Leben festzustellen." (ebd., 408) Die philosophische Konsequenz aus dieser Einsicht wird erst vier Jahre später, im Sommer 1881, gezogen. 18 Später kommt auch eine andere Differenz zum Vorschein, die bereits hier zwischen Selbsterhaltung und Luststreben angelegt ist: Während die Selbsterhaltung auf das nackte Leben, auf das bloße Überleben zielt, intendiert das Streben nach Lustgewinn immer schon eine gewisse Qualität des Lebens. In der Funktion der Lust als Motiv wird dieses qualitative Plus bereits sichtbar: Das lustvolle Leben ist subjektiv erstrebenswert, ist unmittelbar sinnvolles und damit auch wertvolles Leben. Das Lust-Unlust-Kalkül setzt die gelungene Erhaltung voraus und will sie in maximaler Intensität genießen; es differenziert zwischen verschiedenen Zuständen und sucht das jeweilige Optimum zu erlangen. Hier begegnet in einer anthropologisch-psychologischen Variante die Aristotelische Unterscheidung zwischen dem bloßen und dem guten Leben. Und ebenso wie Aristoteles, der beide zu einem Ziel des menschlichen Handelns zusammenfaßt, 19 zieht auch Nietzsche keine strikte Trennungslinie zwischen
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Dazu: F. Decher, Wille zum Leben - Wille zur Macht, 1984. Wie groß Nietzsches Distanz zum Erhaltungstrieb bereits 1876/77 war, belegt auch die Notiz 23/9: "Warum überhaupt einen Erhaltungstrieb annehmen?" Die Bildung organischen Lebens ist in seinen Augen kein hinreichender Grund für eine solche Annahme: "Im Grunde geht es dabei jetzt ebenso nothwendig, nach chemischen Gesetzen, zu, wie beim Wasserfalle mechanisch." (N 1876/77, 23/9; 8, 405 f.) Aristoteles, Politik, 1252 b 28 - 30.
4. Korrespondenz von Lust und Leben
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Selbsterhaltung und Luststreben. Die Differenz ist zwar erkennbar, beide Momente werden betont, sie bilden aber keine voneinander isolierbaren Beweggründe, sondern sind in einem Grundtrieb verbunden, der einmal als ursprünglicher Impuls in jedem belebten Wesen (Selbsterhaltung) und ein anderes Mal als allgemeines psychisches Motiv (Luststreben) betrachtet wird. Bei der Lektüre muß man freilich in Rechnung stellen, daß Nietzsche die Termini nicht in kategorialer Strenge verwendet. Ihre Bedeutung liegt nicht für den ganzen Gedankenkomplex fest. Dem jeweiligen Kontext entsprechend, ist manchmal die Deskription des Phänomens prävalent und andere Male dessen Erklärung, manchmal steht die Lust als psychisches Phänomen neben Eitelkeit, Rache oder List (MA 1, 107; 2, 103 ff.), gelegentlich aber dient sie zu deren Explikation (ebd., 99; 2, 95 f.). Die Plastizität dieses Antriebsmodells wird ζ. B. an den Vermeidungsreaktionen des Individuums deutlich. Die von Nietzsche gelegentlich (M 9, M 23, M 104) als elementares Motiv genannte Furcht läßt sich gleichermaßen auf das Luststreben wie auf die Selbsterhaltung zurückfuhren.20 Die Furcht ist die älteste Gefährtin der Macht. Schon Aischylos weiß, wie wir gehört haben, daß Macht und Ordnung zerfallen, wenn die Furcht von den Menschen genommen ist. Bei Hobbes ist die Furcht die elementare Erfahrung, von der das Machtstreben seinen Ausgang nimmt. Auch Nietzsche gilt die Furcht als "die Macht, von welcher das Gemeinwesen erhalten wird" (N 1880, 3/119; 9, 83). In ihr sieht er ferner den Ursprung der Folgsamkeit gegenüber moralischen Geboten. Wer sich dem kategorischen Imperativ unterwirft, fürchtet sich vor anderen und vor sich selbst: "Hätte man jene Furcht nicht, so hätte man keinen solchen Herrn nöthig." (ebd., 3/162; 9, 100) Bei Nietzsche ist die Furcht - als die Neigung, einer Bedrohung auszuweichen - eine direkte Äußerung des Selbsterhaltungstriebes. Furcht tritt auf, wo Gefahr für den Bestand des Individuums droht, wo erhöhte Wachsamkeit vonnöten und Rückzug oder Flucht angemessene Reaktionen sein können. Sie ist das "feine Vermögen der Witterung für Gefahr" und geht einher mit einer "reizbare[n] Phantasie" (M 133; 3, 127). Sie steht im Bunde mit "Klugheit" und "Vorsicht" (M 112; 3, 101). Der Mensch war und ist "ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Thier" (MA 1, 169; 2, 157). Auch in der psychologischen Analyse zeigt sich die bedeutende Rolle der Furcht bzw. der Angst - Nietzsche differenziert hier nicht. Prototyp ist die Furcht vor dem Verlust des Selbstgenusses. Das Unangenehme, Schmerzliche, auch schon das Ungewisse, werden affektiv abgewehrt. Folglich gehört auch die Furcht in den psychologischen Komplex des Lust-UnlustAusgleichs, und in diesem Zusammenhang korrespondiert sie der Macht: Der "Furchtzuwachs", den einer in seiner Mitwelt erzeugt, ist sein "Machtzuwachs" (WS 181; 2, 630). 20
Vgl. dazu: W. Kaufmann, Nietzsche (1982, 218 ff.) der seiner Darstellung eine gut informierende Stellensammlung beigibt. Die entscheidende Rolle der Furcht bei der Auslösung menschlichen Verhaltens betonen z. B. auch E. Dühring (Der Werth des Lebens, 1865, 125 f.) und P. Rèe (Psychologische Beobachtungen, 1875, 32 u. passim).
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V. Das Gefühl der Macht
Das "Gefühl der Ohnmacht" ist mit dem der Furcht einerlei (M 23; 3, 34). Folglich ist bereits die Äußerung der Furcht ein Zeichen der Unterlegenheit. Wird sie im "Gefühl[] der Ergebung" zur Gewohnheit, bezeichnet sie den psychischen Gegenpol zum "Gefühlf] der Macht" (M 60; 3, 60). Aus dieser Entgegensetzung wird verständlich, daß sich das Machtgefiihl nur in der Behauptung gegen die Furcht in solcher Feinheit entwickeln konnte (M 23; 3, 34 f.). Das Machtgefühl steht der Furcht entgegen, und es steigert sich in deren Überwindung. Trotz dieser genetischen Mitwirkung der Furcht bei der Entfaltung wesentlicher Antriebe muß sie selbst als eine Folge der einen elementaren Triebkraft angesehen werden, welche das Lebenwollen und das lustvoll Lebenwollen gleichermaßen umfaßt. Das Selbsterhaltungsstreben ist der generelle Impuls, der auch noch das Auftreten der Furcht erklärt. Im furchtsamen Zurückweichen, in ängstlicher Anpassung oder in panischer Flucht äußert sich stets eine Stärke des Individuums, nämlich die Kraft, sich selbst erhalten zu wollen. Der Selbstbezug auf das eigene Leben ist so dominant, daß sich ihm auch noch alle Bezüge zu Mitmenschen und Dingen unterordnen. Was als Hinwendung zu anderen erscheint, ist in Wahrheit nur eine extreme Form der Selbstbeachtung der "Freude an sich selber" (MA 1, 89; 2, 88). Auch und gerade im Mitleid, nach Schopenhauer die äußerste Form der Befreiung vom pnncipium individuationis, wirkt "ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen" (ebd., 50; 2, 71). Die "Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst" (ebd.) stellt den innersten Kern aller affektiven Tendenzen des Individuums dar und ist damit die Verfassung, auf die letztlich alle Lust hinaus will. Nietzsche wird nicht müde, diesen affektiven Selbstbezug in immer neuen Varianten am Zusammenhang von Eitelkeit und Autoritätshörigkeit, von Selbstmitleid und Mitleid oder ganz allgemein - von Egoismus und demonstrativer Selbstlosigkeit aufzuzeigen. Die Reduktionendes anscheinend Inkongruenten auf ein Motiv gehören zu den großen Leistungen von Nietzsches Psychologie. Selbst offenkundig gegensätzliche Verhaltensweisen werden als Äußerung einer Triebkraft verständlich gemacht: des Strebens nach Selbsterhaltung im Medium der Lust. Kurz: Alles will Selbstgenuß. Bei näherem Zusehen stößt man hier auf eine Einschränkung, die vorläufig zwar noch ohne Konsequenz bleibt, später aber zur Grenzlinie zwischen Lebenswillen und Machtwillen wird. In der reinsten Form des Luststrebens, im Trieb zum Selbstgenuß, kommen nämlich schon in Menschliches, Allzumenschliches Selbstbehauptung und Verlangen nach Lust nicht mehr zur Deckung. Dort, wo der Selbstgenuß in unverstellter Weise hervortritt, in der Eitelkeit, entsteht eine Schere zwischen Luststreben und pragmatischer Lebenssicherung, die angesichts der erwähnten psychologischen Distanz zu Schopenhauers "Willen zum Leben" nicht mehr überrascht. Das "Interesse an sich selbst" kann beim Eitlen so weit gehen, daß er seinen eigenen Vorteil dabei vernachlässigt. In der Sucht nach Bestätigung paßt er sich zu vielen äußeren Bedingungen an und unterliegt schließlich den Autoritäten, denen er sich nur
4. Korrespondenz von Lust und Leben
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annähert, weil schon die Erwartung der Anerkennung durch sie sein Selbstgefühl steigert. Alle Hinwendungen zu anderen Menschen, selbst noch die in der Liebe, können als verstärkende Umwege zum Selbstgenuß verstanden werden (ebd., 89; 2, 88). Gerade die Handlungen, die sich auf die Mitmenschen beziehen, stellen keine Erlösung vom Individuationsprinzip in Aussicht, sondern führen in radikaler Wendung wieder auf das Individuum zurück und schließen es gänzlich in sich ein. Nur in sich selbst wird das Individuum erlöst, kommt es der "Selbsterlösung" näher (ebd., 107; 2, 105). Alle Lust will sich selbst, d. h. sie ist nur dann eigentlich Lust, wenn Subjekt und Objekt des Genießens identisch sind. Höchste Form einheitlicher, Leib und Bewußtsein umfassender Selbsterfahrung das ist die Konzeption der Lust in Nietzsches Psychologie. Sie kommt mit dem Nützlichkeitskalkül der Selbsterhaltung, das als die andere Seite des Luststrebens ausgegeben wird, bereits nicht mehr zur Deckung. Zwar ist die konzentrische Struktur der Lust, die Rückbeziehung aller Energien auf das Subjekt, der individuellen conservatio sui analog. In den meisten Fällen wird man das letztere auch als Integral des ersteren ansehen können: Lustempfindung indiziert gelingende oder gelungene Selbsterhaltung - aber, wie das Beispiel des Eitlen zeigt, nicht in jedem und nicht im wesentlichen Fall des Selbstgenusses. "Selbstgenuß in der Eitelkeit" verschmäht kein Mittel des "Selbstbetrugs und der Selbstüberbietung". Nicht die Meinung der anderen, sondern seine Meinung von deren Meinung liegt ihm am Herzen. "Der Einzelne will gewöhnlich durch die Meinung Anderer die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen und vor sich selber bekräftigen" (ebd., 89; 2, 88). Auf diese Weise gerät er jedoch in die Gefahr der Abhängigkeit vom Urteil anderer. Im Spiegel der anderen Subjekte kann sich das gesuchte Selbstbild verfälschen. Letztlich traut er im eitlen, d. h. im gesellschaftlich vermittelten Selbstbezug "der Urtheilskraft Anderer mehr, als der eigenen" (ebd.). In dieser Abhängigkeit vom Urteil der sozialen Umwelt muß das Vertrauen in die eigenen Kräfte verlorengehen. Somit entfernt er sich von den elementaren Bedingungen seiner Existenz und gefährdet sich selbst. In den vielfältigen Anlässen der Lust - "Lust entsteht beim Anblick eines Gegensatzes unsrer Lage, bei der Vorstellung, helfen zu können, wenn wir nur wollten, bei dem Gedanken an Lob und Erkenntlichkeit, im Falle wir hälfen, bei der Thätigkeit der Hülfe selber, insofern der Act gelingt und als etwas schrittweise Gelingendes dem Ausführenden an sich Ergötzen macht, namentlich aber in der Empfindung, dass unsere Handlung einer empörenden Ungerechtigkeit ein Ziel setzt [...]" (M 133; 3, 126) - liegen zwar viele Bezüge zum Erleben von Schutz, relativer Sicherheit, Erfolg und möglicher Anerkennung, doch die Lust schießt stets über die bloße Daseinssicherung hinaus. Sie findet ihre Befriedigung in sich und erweist sich in letzter Konsequenz als autonom. Das in Menschliches, Allzumenschliches und in der Morgenröthe wesentliche, aus der Perspektive des Psychologen entwickelte individuelle Lebensprinzip, die Ausrichtung auf Lust-
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V. Das Gefühl der Macht
gewinn, korreliert nicht in jedem Fall mit dem aus anthropologisch-philosophischer Sicht unterstellten Daseinstrieb. Allerdings schenkt Nietzsche dieser Differenz hier noch keine Aufmerksamkeit. Erst auf dem Weg zum Zarathustra macht er sich den Unterschied, ja Widerspruch zwischen Lustprinzip und Selbsterhaltungsaxiom bewußt und exponiert ein drittes, in welchem die starken Leistungen beider zusammengedacht werden können: den Willen zur Macht. Machtstreben und Machtgefühl haben aber bereits in den psychologischen Streifzügen des Moralisten eine Funktion, in der sich die systematisch tragende Rolle des Machtwillens ankündigt.
5. Psychologische Ausleuchtung sozialer Beziehungen Mit dem Neueinsatz in Menschliches, Allzumenschliches fungiert auch das Streben nach Macht ausdrücklich als fundamentaler Antrieb des menschlichen Handelns. Aber sein Wirkungsbereich ist deutlich von dem der Lust und Selbsterhaltung unterscheidbar. Die Macht ist hier vorrangig auf das Verhältnis der Menschen untereinander bezogen. Durch sie werden die Handlungsmöglichkeiten von Gruppen und Individuen in ihrer jeweiligen Beziehung zueinander definiert. Dementsprechend äußert sich das Machtstreben als Anspruch auf Gestaltung gesellschaftlicher Relationen. In der Perspektive des Machtstrebens liegt stets die Einflußmöglichkeit auf das Handeln anderer. Die fast ausschließliche Verwendung des Machtbegriffs zur Bezeichnung sozialer Handlungsgleich- und -Ungleichgewichte ist so auffällig, daß ein Interpret, der bereits erwähnte Willard Mittelman, sich zu der These veranlaßt sieht, Nietzsche habe in dieser Phase lediglich einen Begriff "äußerer" Macht.21 In der Tat beziehen sich die Aphorismen Nietzsches hauptsächlich auf "external power", die Mittelman in drei Typen einteilt: Wirkungsmacht (an ability to produce certain desired effects on others), Herrschafts- und Verfiigungsmacht (control, mastery, possession, and influence over others) sowie Überlegenheit (superiority over others). Diese drei Typen dürften im Einzelfall schwer zu trennen sein. Da sie, wie sich noch zeigen wird, Nietzsches Machtverständnis äußerlich bleiben und bei Mittelman nur die Funktion einer sondierenden Einteilung haben, die schnell ihre Bedeutung verliert, brauchen sie hier nicht weiter beachtet zu werden. Auch für die vom Autor vorgetragene Konsequenz, mit der Lehre vom Machtwillen gewinne ein ganz neues Machtphänomen die Oberhand, nämlich die "WiderstandsÜberwindungskraft" (resistance-overcoming forcé), sind die drei Machttypen ohne Belang. Von Interesse ist also nur die These, in der mittleren Phase sei ausschließlich von "äußerer" Macht die Rede. 21
W. Mittelman, The Relation between Nietzsche's Theory of the Will to Power and his Earlier Conception of Power, 1980, 125.
S. Psychologische Ausleuchtung sozialer Beziehungen
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Tatsächlich durchstreift Nietzsche, der nunmehr zu der Einsicht gelangt: "Nicht die Nothdurft, nicht die Begierde, - nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen. " (M 262; 3, 209), das weite Feld gesellschaftlicher Machterfahrung und läßt wohl kaum eine ihrer Äußerungen unbeachtet. Da ist die Macht der Gewalttätigen und der ersten Staatengründer, die des Volkes oder der Presse, die Macht der organisierten Kräfte überhaupt, der Parteien, der Herrscher und der Öffentlichkeit, aber auch die Macht, die in jedem Recht enthalten ist. In allen diesen Fällen geht es um die Macht über andere Menschen, die mit physischen und geistigen Mitteln ausgeübt wird. Die List und der Betrug gehören zu ihren Mitteln ebenso wie der prächtige Auftritt, die Selbstherrlichkeit, der Glanz und die Autorität der Könige.22 Und dennoch ist zweifelhaft, ob Mittelmans Deutung zutrifft, denn neben diesen Machtphänomenen kommen zahlreiche andere vor, die man wohl zur "inneren" Macht rechnen muß, wobei zunächst die Frage nach dem Grenzverlauf zwischen "Innen" und "Außen" offenbleiben kann. Wenn Nietzsche ζ. B. erklärt, "[d]ie besten Entdeckungen über die Cultur" mache der Mensch "in sich selbst", und sogleich damit beginnt, in sich "zwei heterogene Mächte" zu entdecken, dann ist gewiß nicht irgendeine "äussere" Macht gemeint. Daß aber tatsächlich von "Macht" die Rede ist, geht aus der weiteren exemplarischen Erkundung hervor: Gesetzt, so fährt Nietzsche fort, einer habe in sich den Widerstreit zwischen der "Macht" der Kunst und der "Macht" der Wissenschaft, dann müsse er nur aus sich heraus eine Kultur schaffen, in der "beideQ Mächte" Platz haben und durch "versöhnende Mittelmächte" davon abgehalten werden, sich gegenseitig zu behindern; so würden in der Kultur die "einander widerstrebenden Mächte" durch eine "übermächtigen Ansammelung" verträglicher "Mächte" bezwungen, ohne deshalb unterdrückt zu sein (MA 1, 276; 2, 227 f.). Unterdrückt wird unter solchen Bedingungen allerdings die geistige Macht des Künstlers (ebd., 262; 2, 218). Dessen Kräfte sind bei abgewogenen kulturellen Verhältnissen eingesperrt; "seine Begierde, sich zu befreien", wird dadurch "auf das äusserste" gereizt, um sich dann mit "ungemeiner Energie" zu entladen (ebd., 231; 2, 194). Ein weiteres Machtphänomen zeigt sich in der Lebensweise des Asketen. Bei ihm ist das Bedürfnis, Gewalt und Herrschaft auszuüben, so stark, daß er es auf sich selbst richtet. Die "Herrschsucht" wird gewissermaßen autark (ebd., 137; 2, 131). Der Asket vergewaltigt sich durch übersteigerte Ansprüche und bezieht seine Lust aus der Tyrannei gegen seine Begierde (ebd.). "Unterordnung ist ein mächtiges Mittel, um über sich Herr zu werden" (ebd., 139; 2, 133). Um dies auch in der erstrebten Vollendung zu erreichen, "braucht er einen Gegner und findet ihn in dem sogenannten 'inneren Feinde' ", in dessen "Bekämpfung und Ueberwältigung" er seine Bedeutung steigert (ebd., 141; 2, 134 f.). "Äußerlich" sind weder der Feind noch sein Besieger. Durch eine Reihe von inneren Siegen kann der Asket zum Heiligen
22
Siehe dazu die Stellensammlung bei W. Kaufmann, Nietzsche, 1982, 219.
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V. Das Gefühl der Macht
werden. Damit aber tritt die für Machtphänomene bezeichnende äußere Wirkung ein, und es entsteht eine Bedeutung für andere: "Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der Nicht-Heiligen bedeutet, giebt ihm seinen welthistorischen Werth. " (ebd., 143; 2, 139) So entsteht aus der Überwindung innerer Widerstände ein Verhältnis äußerer Anerkennung, denn der Heilige übt Macht über jene aus, die an ihn glauben. Für alle, die sich auf diese Weise Geltung verschaffen wollen, empfiehlt Nietzsche in der Morgenröthe "Recepte zum Gefühle der Macht", die es in unterschiedlicher Ausfertigung gibt: "einmal für Solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind: sodann für Solche, welchen gerade diess fehlt" (M 65; 3, 63). Mit Hilfe solcher Rezepte könnte z. B. das "Streben nach Auszeichnung" gelernt werden, ein Streben, das in der "Überwältigung des Nächsten" besteht (M 113; 3, 102). Auch für diesen zweifelsfrei "äußeren" Fall von Machtausübung liegen die Voraussetzungen im Inneren. Erworben werden sie in der Fähigkeit, "sich [...] selber zu tyrannisiren", dies etwa dadurch, daß man sich zwingt, das Leiden anderer auszuhalten, bis man es genießt. Dadurch dringt man in die "schauerlichen Geheimnisse" der "Wollüste der Macht", die man offenbar nur anschaulich zur Darstellung zu bringen braucht, um nach dem inneren Feind auch den äußeren zu überwinden: "Also Anderen wehe thun, um sich dadurch wehe zu thun, um damit wiederum über sich und sein Mitleiden zu triumphiren und in der äussersten Macht zu schwelgen! -[...]" (ebd., 104). Die Asketen und Märtyrer entwickeln aus der Macht, die auch der Schwächste noch hat, der "Macht, wehe zu thun" (MA 1, 50; 2, 71), in raffinierter Anwendung auf sich und andere reale Macht - über sich und andere. Auf diese Möglichkeit der Machterfahrung ist Nietzsche auch durch Ausführungen seines früheren Schülers Jacob Wackernagel aufmerksam geworden. Der hatte im November 1876 in Basel einen Vortrag Heber den Ursprung des Brahmanismus gehalten.23 Schon ein Jahr später erschien der Text im Druck und ging Nietzsche - auf seine Bitte hin - über Overbeck im Sommer 1880 zu.24 Die Exzerpte lassen erkennen, wie sehr ihn das Erlebnis des Rausches faszinierte. Die Stimulation durch narkotisierende Getränke, wie sie, nach Wackernagel, von den Brahmanen gesucht wurde, erscheint im "als Mittel zum Gefühl der Macht" (N 1880, 4/191; 9, 148) - ein Terminus, der bei Wackernagel selbst nicht auftaucht. Nietzsche interessiert die Machtsteigerung, die im Rausch zunächst zwar nur subjektiv erlebt wird, die aber durch gemeinsame Praxis - und insbesondere durch das Ritual des Opfers - soziale Wirkung entfalten kann. So konnten die Brahmanen glauben, daß "die Priester mächtiger seien, als die Götter" (M 96; 3, 87). Aber dieser Glaube mochte noch soviel "Dichterei und Aber-
23 24
J. Wackernagel, Ueber den Ursprung des Brahmanismus, 1877. Das Handexemplar Nietzsches befindet sich heute in der Zentralbibliothek der deutschen Klassik in Weimar. M. Brusotti hat die Geschichte dieses Textes und seinen Einfluß auf Nietzsche mit Akribie beschrieben: Opfer und Macht, 1993, 222 - 242.
6. Der Binnenraum der Macht
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glaube" enthalten: Er wirkte und konnte insofern für Wahrheit gehalten werden (ebd.)· Damit ist der Übergang vom bloßen "Gefühl" zur wirklichen Macht vollzogen. Das "Gefühl unbändiger Machterhöhung", wie es sich die brahmanischen Priester verschafften, brachte eine reale Steigerung der Macht, in der Nietzsche eine Vorstufe jener Macht zu erkennen glaubt, die durch die moderne Wissenschaft zur Herrschaft kommt (N 1880, 4/183 u. 198; 9, 146 U.149). Allerdings ist der neuzeitlichen Wissenschaft der im Brahmanismus und im späteren Buddhismus von innen heraus steuernde Glauben an sich selbst verlorengegangen (vgl. Ν 1880, 6/1; 9, 194).
6. Der Binnenraum der Macht Die gedrängte Veranschaulichung zweier Machtbereiche, des künstlerisch-kulturellen und des asketisch-religiösen, dürfte hinreichend deutlich machen, daß Nietzsche zwischen 1878 und 1882 das Problem der Selbstmacht keineswegs übergeht. Selbstherrschaft und innere Überlegenheit werden immer wieder thematisch und interessieren sowohl im Hinblick auf ihre psychischen Bedingungen wie auf ihre sozialen Folgen. Die Überwindung von Widerständen, angefangen bereits bei der Überwindung der Furcht, ist die dabei in jedem Fall geforderte Leistung; die "Widerstands-Überwindungskraft" ist demnach bereits hier von zentraler Bedeutung, auch wenn der dafür später verwendete Terminus der "Selbstüberwindung" noch nicht gefunden ist. Der Vorgang der Selbstüberwindung ist, sachlich gesehen, aber schon hier konstitutiv für den Aufbau der Macht. Man kann im Gegenzug sogar betonen, daß Nietzsches primäres Interesse auf den Innenraum der Macht gerichtet ist, auf das Kalkül der Mächtigen, vor allem aber darauf, wie aus der Mobilisierung der Kräfte gegen sich selbst die Kraft gewonnen werden kann, Macht über andere zu gewinnen. Es sind die Übergänge von der "inneren" zur "äußeren" Macht, denen Nietzsches psychologische Aufmerksamkeit gilt. Gegen die These, Nietzsche habe in seiner mittleren Entwicklungsphase nur Phänomene äußerer Macht im Blick, spricht also nicht allein die Tatsache, daß es sehr wohl auch Stellen über innere Machtausübung gibt, sondern daß sie Nietzsches aufklärerisches Motiv der psychologischen Demaskierung verdeckt. Sie veranlaßt, darüber hinwegzusehen, daß die psychologische Sezierkunst auf Wirkungs- und Herrschaftsmacht, auf Verfügungsmöglichkeit und Überlegenheit stets nur angesetzt wird, um auf deren Bindungen, Begleiterscheinungen und Folgen zu stoßen. Dabei ist immer schon mehr thematisch als die Außenansicht physischer und sozialer Dominanz. Nietzsche untersucht sie als Psychologe·, die Außenwelt interessiert ihn in der Funktion von Motiv und Effekt. Er fragt nach ihrer Bedeutung für den
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V. Das Gefühl der Macht
Menschen. Eben darin liegt der aufklärerische Grundzug seiner Aphoristik. Bei aller Beachtung äußerer Verhältnisse ist also seine Aufmerksamkeit auf das Streben nach Macht gerichtet. Dieses Streben schließt selbst dann, wenn es allein auf äußere Macht gerichtet ist, notwendig auch die Selbstmacht, Selbstherrschaft oder innere Kraft der Mächtigen ein. In der Macht sucht jeder das "Gefühl der Macht" - dies ist die kürzeste Formel für die Komplementarität von "innerer" und "äußerer" Macht. Außen und Innen stehen in aktiver Wechselwirkung. Das Gefühl spiegelt nicht nur den äußeren Zustand. "Macht ausüben kostet Mühe und erfordert Muth." (WS 251; 2, 663) Anerkennung gegebener politischer Gewalt macht unfrei; erst der Widerstand, der Gebrauch der eigenen Macht eröffnet einen Freiraum für eigenes Handeln (MA 1, 111; 2, 112 ff.); ein Gegner, den es zu überwinden gilt, wird in jedem Fall benötigt. - Ein vielfältig vermittelter Komplex psychischer Konditionen und physischer Effekte, sozialer Prämissen und individueller Konsequenzen wird sichtbar, und Nietzsche geht es um die Ausleuchtung dieses Zusammenhangs. Dabei hat er immer schon mehr vor Augen als die Phänomene bloß äußerer Macht. Der Psychologe des Machtgefühls könnte sich niemals mit dem Außenaspekt der Macht begnügen, selbst wenn er sich nur Erscheinungen physischer Gewalt, staatlich-politischer Herrschaft oder wirtschaftlicher Überlegenheit zum Gegenstand nähme. Doch wie sich gezeigt hat, eine derartige Phänomenbeschränkung findet gar nicht statt. Selbstdisziplin, Askese oder Konzentration der Schaffenden werden immer wieder auch als Machtphänomene vorgestellt, und gerade aus der Analyse der auf das individuelle Selbst bezogenen Macht werden Einsichten in die Struktur der Macht selbst gewonnen. Der tiefere Grund für die Verbindung, in der hier die Phänomene innerer wie äußerer Machtausübung erscheinen, liegt freilich nicht in der psychologischen Ausrichtung des Betrachters, sondern im Charakter der Macht selbst, denn eine Macht ist niemals bloß ein Phänomen der äußeren Welt. Jede Macht vereinigt innere und äußere Momente. Sie ist, wenn man so will, ein psycho-physischer Komplex der sozialen Welt.
7. Macht und Recht: Das Prinzip des Gleichgewichts Auch dort, wo sich Nietzsche den Erscheinungen äußerer Macht ausdrücklich zuwendet, ist stets der Binnenraum mitgesehen. Ihm erscheint die Macht niemals bloß äußerlich. Ihr Einsatz wird gewollt, wird empfunden und erfahren; in ihr treibt ein Verlangen nach Macht, das als Durst nach "Rache", "Selbstherrlichkeit" oder "Stolz" erscheint. Das Entlarvungsverfahren legt hinter jeder Macht deren besondere Gefühle bloß; es zerstört schon im Ansatz jede
7. Macht und Recht: Das Prinzip des Gleichgewichts
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feste Abgrenzung zwischen der Macht über andere und der Macht über sich selbst, zwischen dem gesellschaftlichen Auftritt und dem Bewußtsein der Macht. Der Mensch ist von der Macht stets im doppelten Sinn betroffen: in seinem Verhalten zur Welt und zu sich selbst. Äußere Macht ist über die innere vermittelt; innere Macht treibt immer auch nach außen. Wie komplex sich Nietzsche das Verhältnis von Außen und Innen darbietet, läßt sich exemplarisch an der Beziehung zwischen Macht und Recht aufweisen: "Das Recht Anderer ist die Concession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen Anderen. " (M 112; 3, 101)25 Schon in der 1872 abgefaßten Vorrede über das ungeschriebene Buch Der griechische Staat rühmt Nietzsche den völkerrechtlichen Instinkt der Griechen, die auf dem Gipfelpunkt ihrer Humanität sich nicht vor der erschreckenden Einsicht scheuten, daß alles Recht von der Gewalt ausgeht: "Die Gewalt giebt das erste Recht, und es giebt kein Recht, das nicht in seinem Fundamente Anmaßung Usurpation Gewaltthat ist." (GS; 1, 770) Diese These hat ihren historischen Bezug in der auf Protagoras und Gorgias zurückgeführten sophistischen Lehre vom Recht des Stärkeren. Auf die Sophisten geht Nietzsche auch zurück, wenn er in Menschliches, Allzumenschliches und Morgenröthe den Ursprung des Rechts erläutert. Die Sophisten gelten ihm als die Lehrer jener "Cultur der unbefangensten Weltkenntniss", zu deren Exponenten er Sophokles und Perikles, Demokrit und Hippokrates zählt, vor allem aber den "Menschen-Denker" Thukydides (M 168; 3, 151). Der wird ebendort als Kronzeuge angerufen, wo zum ersten Mal von Nietzsche selbst nach dem "Ursprung der Gerechtigkeit" gefragt wird (MA 1, 92; 2, 90). Im Dialog der übermächtigen Athener mit den Vertretern der militärisch unterlegenen Einwohnerschaft der Insel Melos26 sieht er die Darstellung der exemplarischen Ausgangssituation allen Rechts. Beim Fehlen eindeutiger Übergewalt und in Erwartung einer Schädigung beider Seiten im Kampf entsteht der Wunsch zur Verständigung, zu Verhandlung und Ausgleich. In diesem Abwägen von Kräfteverhältnissen, Ansprüchen und Sicherheitsinteressen wird der Gedanke des Rechts geboren: "[D]er Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. " (ebd., 89) Es ist also nicht einfach die Gewalttat, die bloße physische Stärke, welche das Recht hervorbringt, sondern seine Geburtsstunde ist die Erkenntnis des Machtgleichgewichts verständiger Partner. Es geht aus dem Zusammenspiel mehrerer Mächte hervor, ist sein Bindeglied zwischen mindestens zwei Machtgrößen, die sich dadurch in eine abgestimmte Balance zu bringen versuchen.
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Die folgenden Ausführungen aber den Zusammenhang von Macht und Recht decken sich z. T. mit den im Aufsatz Das 'Princip des Gleichgewichts' vorgetragenen Überlegungen (1983). Der im Aufsatz leitende Gesichtspunkt, die Frage nach Herkunft und Funktion des Gleichgewichtsprinzips, wird hier nicht weiter verfolgt, obgleich sich inzwischen zahlreiche interessante Ergänzungen ergeben haben. Die Diskussion der im Aufsatz vertretenen These über den soziologischen Gehalt der psychologischen Einsichten Nietzsches hat zu einer Modifikation meiner Ansicht geführt, die im folgenden deutlich wird. Siehe dazu oben Kapitel III.
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V. Das Gefühl der Macht
Die Kräfterelation, die prinzipiell auch in der sophistischen Lehre vom Recht des (vergleichsweise) Stärkeren unterstellt, aber nicht betont war, wird von Nietzsche als die Quelle der Gerechtigkeit angesehen. Mit den Sophisten ist er einig in der kritischen Abwehr naturund vernunftrechtlicher Begründungen der positiven Gesetze. Er verwirft wie sie jede Vorstellung von einer höheren Gerechtigkeit. Aber anders als ζ. B. Kallikles in Piatons Gorgias, der das Vorrecht aus der physischen Überlegenheit abzuleiten versucht und bei welchem Recht als das erscheint, was der Stärkere tut, geht Nietzsche von einem Verhältnis ungefähr gleich Mächtiger aus. Die Gleichheitsbedingung ist freilich sehr weit auszulegen: Auch der merklich Schwächere fällt noch unter die Bedingung, sofern er Macht genug hat, den Stärkeren empfindlich zu schädigen, ja auch nur zu stören. Dies ist ζ. B. der Fall, wenn sich eine belagerte Stadt einem Mächtigeren unterwirft, wie die Athener es von den Bewohnern der Insel Melos fordern. Hier ist die Gegenbedingung der Unterworfenen, daß sie dem Obermächtigen keinen Schaden zufügen, sich also auch nicht selbst aufopfern und vernichten. Auch in diesem Fall entsteht "eine Art Gleichstellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können". Nach diesem Modell hat auch der Schwächere noch Rechte - "aber geringere" (ebd., 93; 2, 90 f.). In der Gleichstellung liegt demnach keine rein rechnerische Äquivalenz, sondern eine Adäquation von aneinander maßnehmenden Gegnern, die durch Übereinkunft ein Verfahren zum Interessenausgleich festlegen. Das Recht erscheint damit nicht als bloße Verlängerung der physis in den Bereich des politischen nomos, sondern es ist Ausdruck einer abgewogenen Gegenseitigkeit; es ist durch Anerkennung von Positionen und Ansprüchen qualitativ von einem bloßen Naturverhältnis unterschieden. In der sophistischen These, so wie sie von Kallikles oder von Thrasymachos vertreten wird, ist die größere Macht auch zugleich das Recht. Eine Gleichung dieser Art umgeht Nietzsche, indem er das Recht als Folge einer Kräfterelation auf der Basis wechselseitiger Zustimmung ansieht. Wenn er sagt, "der Charakter des Tausches" sei der "anfängliche Charakter der Gerechtigkeit", dann schließt er damit ausdrücklich Selbsterkenntnis der Beteiligten und Wertschätzung des getauschten Gutes ein: "Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück" (ebd., 92; 2, 89 f.). Der Begriff der "einsichtigen Selbsterhaltung" benennt das Prinzip, auf dem die Einschätzung von Erwartungen der um einen Ausgleich bemühten Mächtigen beruht. Der Egoismus der Partner, die an der Sicherung ihres Bestandes und damit auch an der Wahrung ihrer Handlungsmöglichkeiten interessiert sind, ist der Ursprung der Regelung auf Gegenseitigkeit. Das Medium ist die abwägende Beurteilung der jeweiligen Handlungschancen mit dem Ziel einer den eigenen Vorteil sichernden Entscheidung. Man fragt sich: "'wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?'" (ebd., 90). Vor diesem Hintergrund ist Nietzsche die Schätzung der Kräfte, der eigenen wie die der anderen, wesentlich. Die Machtgrade, so sehr sie auf physischen Bedingungen beruhen, ge-
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hen nicht als objektive Größen in den Ausgleich ein, sondern nach Maßgabe ihrer wechselseitigen Bewertung. "Das Recht", so sagt er zur Klarstellung, "geht ursprünglich so weit, als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint. " (ebd., 93; 2, 90 f.) Um den Charakter gegenseitiger Machtbewertung zu unterstreichen, schlägt er daher vor, das "berühmte" Wort vom Ursprung des Rechts aus der Macht (unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet) in eine genauere Lesart zu übertragen: "unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valere creditur" (ebd., 91) jemand hat soviel Recht, nicht als er Macht hat, sondern: als man glaubt, daß er Macht hat, soviel man ihm also an Macht unterstellt. Dieser anscheinend marginale Korrekturvorschlag ist für die systematische Fundierung des Rechts von größter Bedeutung, denn durch das "creditur", durch den Glauben, d. h. durch die wechselseitige Erwartung möglicher Wirkungen vor dem Hintergrund einer individuellen Wertung, trennt sich die Rechtssphäre sowohl von dem Bereich objektiv meßbarer Größenverhältnisse wie auch vom Arkanum reiner Willkür. Dies erscheint bei Nietzsche nur deshalb nicht bemerkenswert, weil sein Wirklichkeitsverständnis überhaupt die Trennung zwischen "Tatsachen-" und "Vernunftwahrheiten", zwischen Sein und Sollen, nicht gelten läßt. Alle Wirklichkeit ist für ihn "Vorstellung", ist Antwort auf einen Trieb und Ausdruck einer Wertung. Doch der Nachdruck, den er auf das in wechselseitiger Einschätzung sich erst herstellende Fundament des Rechts legt, gibt dem Wirklichkeitsverständnis in diesem Punkt eine besondere Pointe. Urheber dieser "Wirklichkeit" ist kein einzelnes Subjekt, sondern es sind mindestens zwei Subjekte in einem durch Ausgleich und Gegensatz gleichermaßen gekennzeichneten Verhältnis. Autor der Realität des Rechts ist kein natürliches, sondern ein gesellschaftliches Subjekt, d. h. Rechte stammen aus einer (Wechsel-)Beziehung egoistischer Mächte. Die Rechtswirklichkeit tritt nicht aus der Machtvollkommenheit eines einzelnen Willens hervor, sondern aus dem Zusammenwirken mehrerer Akteure. Ihren genuinen Ort hat sie daher dort, wo Mächte aufeinanderstoßen, also in der Gesellschaft. Durch den gesellschaftlichen Ursprung sind die physischen und psychischen Elemente im Recht unauflösbar vermischt. Daß Natur im Spiel ist, wo Körperkraft und die Möglichkeit zu zwingen auftreten, ist offenkundig. Weniger deutlich, wenn von Macht die Rede ist, dürften die seelisch-geistigen Anteile sein. Unmöglich ist es, eine genaue Grenze zwischen beiden zu ziehen. In jedes Urteil über die Stärke einer Macht sind Erinnerungen und Mutmaßungen, Hoffnungen und Befürchtungen eingelassen. Nietzsche betont vor allem den Anteil der Psyche, die Rolle der Einstellungen und Erwartungen der beteiligten Machtgrößen. Zur "Sphäre unserer Macht" gehören nicht nur "Klugheit", "Furcht" und "Vorsicht" als Bedingungen ihrer Erhaltung, sondern auch "Stolz" und "Selbstherrlichkeit", sie auszufüllen (M 112; 3, 100 f.). Das Streben nach Sicherheit ist die Voraussetzung für die gegenseitige
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V. Das Gefühl der Macht
Gleichsetzung der Parteien, die wiederum als formale Bedingung für den Tausch von Garantien und Ansprüchen anzusehen ist (WS 31; 2, 563). So kommt aus Antrieben und Gefühlen der Impuls zur Festlegung von Rechten und zur Annahme von Pflichten. Die Rechte anderer können sich nur auf das beziehen, "was in unsrer Macht steht". Um aber in dieser Formulierung den Anteil des subjektiven Empfindens nicht vergessen zu lassen, fugt Nietzsche auch hier gleich eine präzisierende Erläuterung hinzu: "Genauer muss man sagen: nur auf Das, was sie meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht." (M 112; 3, 100; H. v. m.) Das eigene Recht entspringt also nicht geradewegs der eigenen physischen und psychischen Stärke, sondern es ist "jener Theil meiner Macht, den mir die Anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen". Die Motive hinter diesem Zugeständnis können vielfältig sein: man erwartet eine ähnliche Gegenleistung, will gefährliche Auseinandersetzungen vermeiden, wünscht keine weitere Schwächung der eigenen Kraft (ebd., 101), oder man möchte sich aus eigener Machtvollkommenheit als großzügig, als "gerecht" erweisen (MA 1, 92; M 138). Auf diese Weise kann man sogar "zärtlicher" werden! (M 138; 3, 130) Deutlicher läßt sich die stets gegenwärtige Innendimension der Macht wohl nicht anschaulich machen. Wie auch immer die einzelnen Motive gelagert sein mögen: sie müssen von verschiedenen Trägern zusammenkommen und durch den Willen zum Ausgleich moderiert sein. An diesem Ausgleich sind Fremd- und Selbstwahrnehmung beteiligt. Ansprüche und Einschätzungen, Erwartungen und Zugeständnisse gelangen in eine Balance wechselseitiger Akzeptanz und Konzession. "[D]ie Klugheit hat das Recht geschaffen, um der Fehde und der nutzlosen Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen." (WS 26; 2, 560) Nur ein Motiv ist in diesem Zusammenhang prinzipiell ausgeschlossen: das Motiv, aus bloßer Vernunft zu handeln. Die Vernunft ist nur eine Maske, hinter der sich gerade die wildesten und feindlichen Impulse des Menschen verstecken. Aber auch hier zeigt sich die Übermacht der Sozialität: Fern von der Gesellschaft verliert die Maske ihren Sinn. - Doch dies ist nur eine Randbemerkung, die das Mißverständnis abwehren soll, mit der Gegenseitigkeit sei auch schon die Vernunft materialer Bestandteil des Rechts. Formal hat sie damit allerdings eine Basis, denn die elementare Leistung der Vernunft, Einheit im Verschiedenen herzustellen, findet im Recht auf Gegenseitigkeit ihr Fundament.27 Für Nietzsches Machtverständnis ist von Bedeutung, daß mit wechselseitiger Schätzung und gegenseitigen Maßnahmen, mit den unendlich feinen Abstufungen des Fürwahrhaltens und Vermutens, psychische Faktoren ins Spiel kommen, die von der überlegenen Kenntnis über handfeste Erfahrungen, subtile Hoffnungen und Ängste bis hin zur Ahnungslosigkeit 27
H. Schelsky, Systemfunktionaler, anthropologischer und personliinktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, 1970, 37 - 89, 70 ff. Vgl. auch vom Verf.: Die Macht im Recht, 1984.
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oder Sturheit reichen. Erst dadurch ergibt sich die Vielfalt der möglichen Unterschiede und die Gewißheit, daß es niemals numerisch gleiche Mächte sind, die sich im Hinblick auf bestimmte Ziele als gleich anerkennen. In der hier gesuchten Gleichstellung liegt keine rechnerische Gleichung, sondern eine Gleichwertigkeit von aneinander maßnehmenden Gegnern, die durch Übereinkunft ein Verfahren zum Interessenausgleich festlegen. Der Begriff dieses Ausgleichs ist das Recht. Nietzsche hat für diese Beziehung einen umfassenden Begriff. Er spricht vom "Princip des Gleichgewichts" und nennt das Gleichgewicht die "Basis der Gerechtigkeit" (WS 22; 2, 555 f.). Seine Überlegungen zeigen an verschiedenen Stellen, daß er sowohl im Völkerrecht wie im öffentlichen Recht, vor allem aber im Strafrecht, den Grundsatz der "gleichwiegenden Macht" (ebd., 555) für entscheidend hält. Nietzsche hat das alte, im 19. Jahrhundert in diversen Theoriebereichen in Anspruch genommene Prinzip des Gleichgewichts aus den zeitgenössischen Versuchen, die Entstehung von Moral und Recht wissenschaftlich zu erklären, übernommen. Die wichtigste Anregung dürfte er von Eugen Dühring empfangen haben, dessen Werth des Lebens er im Sommer 1875 ausführlich exzerpiert und kommentiert.28 Der Ursprung der Gerechtigkeit liegt nach Dühring in der Racheempfmdung, in der "reactiven Empfindung", die er bereits als "Ressentiment" bezeichnet. Wenn eine ursprünglich ausgewogene Beziehimg durch die Tat einer Seite gestört wird, dann fordert die reaktive Empfindung die Wiederherstellung der Gleichheit. Das System der Erhaltung dieser Gleichheitsbedingungen ist das Recht. Recht, so heißt es bei Dühring, sei "nur die Enthaltung von Störung, also gleichsam der Gleichgewichtszustand zwischen Wille und Wille".29 Bei Nietzsche wird daraus ein Gleichgewichtszustand zwischen Macht und Macht. Ob damit ein wesentlicher Unterschied gemacht ist, zeigt sich von selbst, wenn das Verhältnis von Macht und Wille untersucht ist. Der Gedanke des Gleichgewichts, vor allem in seiner dynamischen Fassung als energetisch-ökonomisches Prinzip, leistet in einem umfassenden Sinn die Erklärung für den Beginn gesellschaftlicher Organisation: Der wilde Kampf ums Dasein, der regellose Krieg gegen alles Fremde, die barbarische Abwehr ohne Fremd- und Selbsterkenntnis werden erst in Gesellschaft überwunden. Der Gegensatz hört unter solchen Bedingungen zwar nicht auf, aber er drückt sich nunmehr in subtilen Mitteln aus. Das Gleichgewichtsprinzip macht anschaulich, wie sich der agonale Grundzug des Lebens und dessen schöpferische Kraft zusammendenken lassen. Ursprünglich ist und bleibt das Gegeneinander der Kräfte, die allein durch ihr faktisches Zusammentreffen und durch die Tendenz zur Selbsterhaltung zu der Form einer 28
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Dazu: A. Venturelli, Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring, 1986, 118 - 131. E. Dühring, Der Werth des Lebens, 1865, 219 u. 224. (Vgl. auch ders.. Cursus der Philosophie, 1875, 239) Hinzuweisen wäre z. B. auch auf R. W. Emerson: "Jedes Ding hat sein Aequivalent; Aug' um Auge, Zahn um Zahn, Maß fur Maß [...]" (Versuche (Essays), 1858, 82). Es gibt zahlreiche Aussagen dieser An in der Nietzsche bekannten Literatur. Ihre Auswertung bliebe einer fälligen neuen Darstellung seiner Ansichten über das Recht vorbehalten.
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geregelten Koexistenz gezwungen werden. Der Zwangscharakter tritt auch darin zutage, daß es jeweils die Schwächeren sind, welche die Stärkeren zum Ausgleich zu bewegen versuchen. Durch Anpassung, scheinbares Entgegenkommen und Versprechen, aber auch durch das Gewicht der großen Zahl, schaffen sich die im direkten Kampf vermutlich Unterlegenen eine Position auf Gegenseitigkeit, in der sie sich über ihre möglicherweise konvergierenden Absichten vor dem Hintergrund der wechselseitig vermuteten Stärke verständigen. Hinter den Regelungen auf Gegenseitigkeit steht natürlich der Kampf um die Existenz. Die Notwendigkeit des Lebens, die stets unter physische Bedingungen zwingt, äußert sich auch im Recht, das insofern ein unvermeidliches Moment der Gewaltsamkeit in sich hat. Die Drohung, die zunächst die Beteiligten zur Einigung nötigt, bleibt auch nach der Einigung bestehen, wenn diese wirksam bleiben soll. Nicht zuletzt, um die elementare Gewaltsamkeit zu betonen, die das Recht zunächst herbeifuhrt und die dann dem Recht notwendig zugehört, spricht Nietzsche von der Macht. Denn Macht schließt immer auch die Möglichkeit zur physischen Durchsetzung ein. Die Gewalt steht im Hintergrund aller Regelungen auf Gegenseitigkeit. Sie ist keineswegs ein nach den Umständen wählbares Mittel für die Durchsetzung von Machtzielen, sondern das Element der Darstellung und Vergewisserung der Macht. Deshalb findet sich bei Nietzsche auch keine kategoriale Trennung zwischen Gewalt und Macht, wie in der Literatur gelegentlich behauptet wird;30 sondern die Gewalt gehört zur Macht wie die Körperlichkeit zum Leben. Sie ist die Bühne für den Auftritt der Macht. Die enge Beziehung zwischen Macht und Gewalt darf aber nicht zu ihrer Verwechselung führen. Macht ist ein komplexes Phänomen, das über die physische Kraftentfaltung immer schon hinaus ist. Nur deshalb kann Nietzsche den Anteil der Bewertung, Schätzung, Mutmaßung so hoch veranschlagen. Deshalb liegt ihm auch an der Korrektur der "berühmten" Gleichung von Macht und Recht. Die wechselseitig "geglaubte" Macht, nicht das factum brutum irgendeiner Kraftverteilung, ist der Ursprung der Gerechtigkeit. Ausschlaggebend ist die Stellung der Menschen zu den eigenen und fremden Kräften, ihr Urteil, ihre Wertschätzung oder, wie man im Hinblick auf spätere Funktionen des Willens zur Macht auch sagen kann, ihre Interpretation. Es ist die einsichtige Macht, nicht pure Gewalt, die hier das Recht begründet. Klugheit und physische Stärke müssen hier zusammenkommen. Recht ist das Produkt wechselseitiger, auf künftige Handlungen projizierter Machtschätzungen. Die Schätzungen bewegen sich im Medium gegenseitiger Anerkennung von Aktionspotentialen vor dem Hintergrund der Selbsterhaltung. Machtschätzungen dieser Art sind eben das, was die Soziologie heute unter "Handlungserwartungen" zu fassen sucht. Bei Eugen Dühring findet sich dieser Sachverhalt im Begriff der "principiellen Vorwegnahme".31 30 31
B. Taureck, Macht, und nicht Gewalt, 1976, 29 - 54, 35 ff. Dies allerdings erst in der 3. Auflage von Der Werth des Lebens, 1881, 216. Auch hier ließen sich zahlreiche Parallelen nennen, die einerseits mit der Funktion der "gefühlten Bedürfnisse" in der Nationalökonomie (vgl. W. Bagehot, Der Ursprung der Nationen, 1874, 222) und andererseits mit dem Auftreten des Äquivalenzprinzips zusammenhängen. Hinzu kommt das Vordringen psychologischer Einsicht in das Netz sozialer Gegenseitig-
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Der besondere Status der rechtlichen Phänomene wird freilich nicht durch ein eigenes soziologisches Vokabular akzentuiert. Für eine spezifisch soziologische Methode hat Nietzsche sich nicht interessiert. Im Gegenteil: Ihm kommt es eher darauf an, die Einheit zwischen natürlichem und gesellschaftlichem Verhalten herauszustellen. Die Umständlichkeit, mit der er dabei dem wechselseitigen Dafürhalten und Zubilligen nachgeht, macht aber deutlich, wie dicht er den Windungen des soziologischen Problems auf der Spur ist. Er sieht ihre Merkmale, ohne aus ihnen eine Besonderheit abzuleiten. Auch nach seinem Ansatz kann das Recht nicht allein auf Triebe oder Instinkte, so wie wir sie heute verstehen, kann also nicht auf "bloße Natur" zurückgeführt werden, wenn als seine Basis die "einsichtige Selbsterhaltung" gilt. Aus gegebenen Kräfteverhältnissen folgt an sich noch gar nichts, auch dann nicht, wenn man zu deren Steuerung individuelle Voraussicht und ökonomisches Kalkül benötigt. Erst durch die Antizipation der Handlungen anderer, wobei man sich virtuell an deren Stelle zu versetzen hat, erst in der Beurteilung möglicher Effekte eigener und fremder Taten wird der "Tausch" möglich, der - weil nicht nur auf einen Fall bezogen - im Medium der Allgemeinheit, eben durch eine Regel, das Geben und Nehmen der Beteiligten festlegt. Nietzsche betrachtet so das Recht als Ausdruck einer hochkomplexen Leistung, an der nicht nur beharrlicher Lebenswille und berechnender Verstand, sondern auch Selbstachtung (Stolz, Scham), Anerkennungswunsch und die - später von ihm so hervorgehobene - "Fähigkeit zu versprechen" beteiligt sind. So fließend die Grenzen zwischen Tier und Mensch bei Nietzsche auch gehalten sind, so sehr er auch dem Tier einen "Grad von Selbsterkenntniss", ein Urteil über die "Bewegungen seiner Gegner und Freunde" zutraut, ja ihnen sogar "Anfänge der Gerechtigkeit", der "Klugheit, Mässigung, Tapferkeit, - kurz Alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen", zumutet (M 26; 3, 37), hält er das Recht offenbar doch für ein Humanuni - und dies aus einem hier besonders aufschlußreichen Grund: "Rechte der Thiere gegen uns giebt es nicht, weil diese sich nicht zu gleichwiegenden Mächten zu organisiren verstehen und keine Verträge schliessen können. "32 Der Mensch, das "sociale Thier", ausgestattet mit dem "Privilegium der Verantwortlichkeit" und mit dem "Bewusstsein dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick",33 also mit Vermögen, die ihm erst als Mensch unter Menschen zuwachsen, dieser Mensch ist der Urheber des Rechts. Als im höchsten Grad gefährdetes Tier (vgl. FW 354;
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keiten: "Jeder Mensch befindet sich gleichsam in einem Wettlauf mit Anderen [...]" (P. Rèe, Psychologische Beobachtungen, 187S, 1S4). Vgl. M. Montinari, Kommentar, KSA 14, 1988, 37 - 774, 188. Nietzsche hält auch in der Frage der Sozialität die Grenze zwischen Mensch und Tier offen. Hinzuweisen ist vor allem auf M 26. Seine Aufmerksamkeit für die aufkommenden "verwickelten sociologischen Probleme", wie er in MA 1, 37 (2, 60) sagt, ist unverkennbar. Diese erst in der Fröhlichen Wissenschaft und in der Genealogie der Moral (FW 354; 3, 592 und GM 2, 2; 5, 294) gebrauchten Formeln sind in früheren Arbeiten vorbereitet: " - alles ist Fortsetzung der Thierheit [...]", heißt es in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung (3. UB 5; 1, 378). Siehe dazu vom Verf.: "Das Thier, das versprechen d a r r , 1992.
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3, 591) schafft sich der Mensch einen besonderen Schutz - einen Schutz vor sich und seinesgleichen, der es ihm erlaubt, sich gegen Gefährdungen jeder Art gemeinschaftlich zu behaupten. Dabei sind die Zielsetzungen im einzelnen verschieden. Gemeinsam aber ist allen rechtserzeugenden Situationen das Interesse an der Sicherung des Lebens und die Bejahung der Macht. Die Gerechtigkeit folgt aus einem affirmativen Umgang mit Machtverhältnissen, zu denen der Mensch selbst gehört und die er selbst auch will. Damit ist der gesellschaftliche Ursprung des Rechts freigelegt. Allerdings macht Nietzsche aus der Gesellschaft kein Gebilde mit besonderen kategorialen Prämissen. 34 Er nimmt die Eigenart gesellschaftlicher Beziehungen wahr, ohne Interesse, sie zu verselbständigen. Bei ihm ist die Gesellschaft auch nicht primär durch den Menschen definiert, sondern vornehmlich durch die Tatsache, daß darin Individuen sich auf ihresgleichen beziehen. Die Gesellschaft ist nicht das andere der Natur. Der Naturzusammenhang, ob in der Perspektive der instinktiven Antriebe, der kosmischen Ausdehnung oder der Sinngebung der Erde betrachtet, wird durch das soziale Phänomen nicht gesprengt. Die metaphysische Selbstauszeichnung, die sich nicht selten mit dem Begriff des Menschen und seiner sozialen, auf Sprache und bewußter Übereinkunft basierenden Existenz verbindet, will Nietzsche vermeiden. Deshalb legt er Wert darauf, angeblich spezifisch menschliche Verhaltensweisen, vom "Sinn für Sicherheit" bis zur "Selbstbeherrschung" und "Selbsterkenntniss", bereits bei den Tieren zu entdecken (M 26; 3, 37). Doch die damit verbundene Ausweitung des Begriffs des Sozialen über den Bereich des Menschen hinaus hebt den gesellschaftlichen Charakter des Rechts nicht auf. Gesellschaftlich ist das "gänzlich einfache und elementare Verhältniss von zwei Menschen", von dem bei Dühring die Rede ist und das den Gleichgewichtszustand zwischen Wille und Wille, zwischen Macht und Macht ermöglicht. Menschliche Gesellschaft fungiert so als das historische Szenarium, in welches die Natur den Menschen gestellt hat. Sie ist trotz der Parallelen zu den tierischen Gesellschaften der eigentlich menschliche Handlungsraum, in welchem das Recht entsteht. Diese These hat nichts Überraschendes, wenn man berücksichtigt, daß ζ. B. die Kultur auch für Nietzsche unmittelbar gesellschaftlichen Charakter besitzt. Aus der Natur stammend und wieder in sie zurückführend, ist die Kultur ein Mittel der Natur zur Organisation der besten menschlichen Kräfte. Die Kultur ist eine verbesserte physis und könnte, in der Sprache des jungen Nietzsche, das "Reich der verklärten Physis" eröffnen (3. UB 3; 1, 363). Sie stiftet die für den Menschen größtmögliche Einhelligkeit zwischen Handeln und Denken, zwischen Leiden und Lust. In ähnlicher Weise läßt sich auch das Verhältnis Natur-Gesellschaft deuten: Natur als Inbegriff einer tätigen Wirklichkeit, die - so wie sie erkannt wird - stets schon eine Antwort 34
H. Baier, Die Gesellschaft - ein langer Schatten des toten Gottes, 1981/82, 6 - 33; Nietzsches "positive GegenSoziologie" (ebd., 18).
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auf Lebensbedürfnisse des Menschen darstellt und die insofern auch als sinnstiftendes, herausforderndes Wesen vorgestellt werden kann; Gesellschaft als Mittel zu den Zwecken der Natur, als "zweite Natur", worin der Mensch sich entwickelt und über sich hinausgeht. Wenn die soziologische Dimension in Nietzsches Ansatz zu einer Genealogie des Rechts so leicht übersehen wird, so hat das seinen Grund in der dominierenden psychologischen Methode. Nietzsche stößt als Psychologe auf das Faktum des sozialen Handelns, das ihn aber nicht als solches interessiert. Auch wenn sich seine Aphorismen mit Phänomenen befassen, die erst unter Bedingungen sozialen Handelns entstehen, so bedienen sie sich doch stets eines psychologischen Vokabulars. Dahinter steht die Einsicht, daß wir vom anderen, selbst vom Nächsten nicht mehr begreifen als seine "Gränzen", und das sind nach Nietzsche auch nur die "Veränderungen an uns, deren Ursache er [der Nächste, V. G.] ist" (M 118; 3, 111). Entsprechend ist unser Bild vom Mitmenschen: Es ist eine Konstruktion aus den Kenntnissen, die wir von uns selbst haben. "Wir bilden ihn nach unserer Kenntniss von uns, zu einem Satelliten unseres eigenen Systems" (ebd.). Was uns aber an Gefühlen scheinbar unmittelbar innewohnt, ist keineswegs etwas "Letztes, Ursprüngliches": "[H]inter den Gefühlen stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche [...] uns vererbt sind." (M 35; 3, 43 f.) Unser Inneres hat somit seinen Springpunkt außen. So wenig wir über den anderen erfahren, außer durch uns selbst, so sehr ist dieses Selbst erst aus dem Zusammenleben mit den anderen hervorgegangen. Ebensowenig wie Gesellschaft und Natur kategorial gesondert sind, sind auch Seele und Gesellschaft methodologisch separiert. Die Anerkennung ihrer genetischen Verbindung gehört zu den Voraussetzungen von Nietzsches Psychologie. Die Psyche ist eine Reaktionsbildung auf äußere Bedingungen, zu denen vorzüglich die Gegenwart der anderen gehört, weil nur ihnen gegenüber Ausdruck und Mitteilung sinnvoll sind. Die Widerstände aber, die den einzelnen zum Rückzug in sich selbst zwingen, entstehen erst in der engen Gemeinschaft mit anderen, unter dem "Bann der Gesellschaft und des Friedens" (GM 2, 16; 5, 322). Nietzsche unternimmt also einen psychologischen Vorstoß zu den ursprünglichen Bedingungen des Rechts, ohne dabei genötigt zu sein, an der Tatsache vorbeizusehen, daß sich ein Lebewesen stets nur unter seinesgleichen entwickelt und sich in einer Mitwelt orientiert. Die strikt individuelle Perspektive der entlarvenden Psychologie deckt mit besonderer Klarheit auf, daß wir als Individuen prinzipiell auf andere bezogen sind und uns nur in dieser Beziehung verstehen.
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V. Das Gefühl der Macht
8. Macht als relationale Größe Diese aus Nietzsches Reflexionen über den Machtcharakter des Rechts gewonnene Einsicht gilt nun auch für die Macht selbst. Nicht erst das Recht ist Folge wechselseitiger Schätzungen, sondern es ist primär gerade die Macht, die in der wechselseitigen Wahrnehmung und Bewertung zu dem wird, als was sie schließlich wirkt. Die Gleichung zwischen Macht und Recht enthält in der von Nietzsche geänderten Fassung die wirksame Macht nicht als eine fest gegebene Größe. Es ist nicht so, daß "objektiv" feststehende Mächte in eine Beziehung eintreten, sich wechselseitig schätzen, um dann mit den mehr oder weniger "subjektiven" Ansichten, gleichsam wie mit perspektivisch verzerrten Bildern, von sich und den anderen Mächten einen Ausgleich zu erwirken. Es ist doch vielmehr so, daß die Macht als die in der Konfliktlage wirksame Größe eben in dem besteht, was man von ihr (und sie von sich) hält. Die Macht existiert als Macht nur vermittelt über die Meinung, die man von ihr hat. Wenn es vom Recht heißt, es gehe ursprünglich nur so weit, "als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen erscheint" (MA 1, 93; 2, 90 f.), dann kann die Macht in nichts anderem liegen als in dieser "Erscheinung". Für jemand, den die "Macht" in keiner Weise beeindruckt, für den existiert sie auch nicht. Wem sie als solche aber nichts gilt, dem gegenüber ist sie auch keine Macht. Als Macht gibt es sie nur im Spiegel der auf sie bezogenen Wertungen. Strenggenommen hätte Nietzsche über die Macht auch so reden müssen, wie er es von der "sogenanntefn] Weltgeschichte" tut: Das Thema des Historikers seien "Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf wirkt, - ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit" (M 307; 3, 224 f.). Unergründlich ist nicht nur die vergangene Wirklichkeit, sondern auch das Innere des anderen, mit dem man jetzt zu tun hat. Unergründlich sind selbst die eigenen Motive. Doch man braucht gar kein indirektes Argument zu bemühen: Was immer Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches oder in der Morgenröthe über die Macht zu erkennen gibt, zeigt sie als eine vermittelte Größe. Nirgendwo wird gesagt, inwiefern sie mehr als das ist, als was sie anderen erscheint. Zwar hat man immer wieder den Eindruck, die Macht fungiere als eine reale Größe, in deren Folge sich erst der Einfluß auf andere ergebe. Doch bei näherem Zusehen ist zu erkennen, daß die vermeintlich objektive Machtgröße nur eine Macht in einer anderen Hinsicht darstellt. Wenn es ζ. B. heißt, ein gewisser Menschentypus, der um jeden Preis gefallen wolle, strebe nach "Einfluss und Macht", weil er so "fast in Allem was er thut und sagt, gefällt" (MA 1, 595; 2, 340), dann ist die erlangte Macht in der Tat etwas, das dem Gefallen, und damit den Ansichten derer, denen man als Mächtiger auch gegen Widerstreben gefallen kann, vorausliegt.
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Aber diese dem Gefallen vorausliegende Macht existiert selbst wiederum nur im Spiegel der Ansichten derer, die über sie zu befmden haben. Nicht nur die Historiker "erzählen von Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung" (M 307; 3, 225). Jeder, der von einer Macht redet, spricht von etwas, das nur in seiner Vorstellung existiert. So real das wahrgenommene Phänomen auch immer sein mag: als Macht wirkt es nur in dem, der sich dadurch eingeschränkt oder herausgefordert sieht. Diese Konsequenz fuhrt zu einem grundsätzlichen Zweifel an der These, Nietzsche sei in seiner aufklärerisch-psychologischen Phase nur auf die Phänomene äußerer Macht bezogen. Selbst wenn es zuträfe, daß im wesentlichen nur Erscheinungsformen äußerer Macht zur Sprache kommen, bliebe doch die Frage, was sie aus psychologischer Perspektive bedeuten. Darauf haben wir nun eine Antwort: Jede äußere Macht ist immer auch ein Phänomen der "inneren Welt". Eine methodologische Priorität, wie sie Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft bestreitet (FW 355; 3, 593 ff.), ist damit nicht beanspracht. Nur sofern eine Drohung unsere Furcht erregt oder eine Versprechung unsere Erwartungen weckt, haben wir es mit einer Macht zu tun. Jede Machterfahrung nimmt den Weg über das "Gefühlt] der Macht" bzw. über das "Gefühlf] der Ergebung" (M 60; 3, 60). Sie ist damit gebunden an Wertschätzungen und Interessen (M 44; 3, 51), an die Fähigkeit, sich selbst beherrschen zu können (M 65; 3, 63), an die Lust des Gehorchens und Befehlens (MA 1, 395 u. 2, 311; 2, 268 u. 505 f.), an die Bereitschaft, sich überwältigen zu lassen (M 271 ; 3, 212), an die Glücksmöglichkeiten, die Kampf (oder Ruhe) gewähren (ebd., 213), kurz: an "alles, was im Menschen Macht hat" (MA 2, 220; 2, 473; H. ν. m.). Der Zugang zur Macht eröffnet sich allein über das Machtgefühl. Das Machtgefühl aber ist niemals bloß auf äußere Macht bezogen, sondern kann eine wie immer auch beschaffene Macht nur in einer inneren Perspektive zum Ausdruck bringen. Da es nicht auf das begleitende Erleben der Macht beschränkt ist, sondern selbst zu den auslösenden und steigernden Bedingungen des Machteinsatzes gehört, hat auch die bloß auf äußere Wirksamkeit zielende Macht eine innere Kondition. Und auch in diesem notwendig zugehörenden Innenverhältnis wird Macht ausgeübt. Wer sich nicht in der Gewalt hat, übt auch keine Macht über andere aus.
9. Machtgefühl Das Erleben der Macht im Medium eines sie begleitenden, ausfüllenden, sie steigernden Gefühls liegt schon früh in Nietzsches Horizont. Wenn die philosophische Erstlingsschrift den "metaphysischefn] Trost" jeder wahren Tragödie darin erblickt, daß alles Leben "im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei"
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V. Das Gefühl der Macht
(GT 7; 1, 56; H. v. m.), dann ist hier bereits ein Zusammenhang genannt, der auch im Bewußtsein der historischen Tatmenschen, im Machtrausch siegender Völker oder in der mächtigen und beseligenden Wirkung des Kunstwerks (4. UB 3 u. 8) gegenwärtig ist. Eigentliche Machtentfaltung, dies etwa wird am Beispiel Schopenhauers deutlich, geschieht in gefühlter Einheit von Innen und Außen. Mut, Stärke und Härte des siegenden Philosophen zeigen sich zwar in seinem Auftreten; seine eigentliche Wirkung aber erfolgt über die sympathetische Ansteckung durch einen "gleichsam physiologischen Eindruck", durch "jenes zauberartige Ausströmen der innersten Kraft eines Naturgewächses auf ein anderes" (3. UB 2; 1, 349). Zur wahren Macht gehört die Einheit von Körper und Geist, die sich in der historischen Tat, im künstlerischen Werk oder im heroischen Lebenslauf bezeugt. In deren Mitte wirkt eine starke Leidenschaft. Die große Leistung kommt aus dem Pathos, d. h. aus dem großen Affekt, in dem das Innere sichtbar nach außen tritt. Macht und Lust sind beim frühen Nietzsche zwei Aspekte eines Geschehens. Der Zusammenhang von Macht und Lust ist also schon lange betont, ehe Nietzsche ihm in den Aphorismen der mittleren Phase besondere Aufmerksamkeit schenkt. Das Gefühl der Macht definiert Nietzsche ebensowenig wie die Macht selbst. Auch hier vertraut er auf das alltägliche Vorverständnis, das in diesem Gefühl eben jene Stimmung benennt, in welche der Besitz der Macht (oder auch schon die Nähe zur Macht) versetzt. Aber schon das alltägliche Verständnis kennzeichnet ein differenziertes Phänomen, das Rückschlüsse auf die Komplexität der Macht erlaubt. Im Machtgefühl ist immer schon eine besondere Reizbarkeit unterstellt; es ist keineswegs das stets gegebene psychische Korrelat, kein notwendiger Begleitumstand der Machtausübung. Nicht jeder Mächtige wird von diesem Gefühl getragen, und es begleitet keineswegs nur die Ausübung der realen Macht. Das Machtgefühl indiziert einen Zustand der Exaltation, ein Hochgefühl, eine überschwengliche Animiertheit, eine Lust am Auslassen der Kräfte, eine Euphorie im Zugewinn an Stärke, Ansehen und Bewegungsraum. Es stellt sich ein in der Eroberung und der Festigung, in der Erprobung und Erweiterung der Macht. Es ist ein Erfolgs-Gefiihl, das sich nicht erst nach Erfolgen einstellen muß. In diesem Punkt ist Nietzsche Emerson wohl am nächsten. Das Gefühl der Gesundheit, das Bewußtsein einer "inneren Kraft" ,35 ist auch bei Emerson auf Erfolg eingestellt, ohne im einzelnen auf ihn angewiesen zu sein. Das Machtgefühl braucht seine besonderen Anlässe, signalisiert außerordentliche Erwartungen und ist allgemein Anzeichen eines Übergangs: Schwierigkeiten sind überwunden, größere Kräfte gesammelt, neue Ufer sind in Sicht usw. Die Hochstimmung in der Erwartung neuer Einfluß- und Durchsetzungschancen geht oft über die realen Möglichkeiten hinaus und läßt nicht selten die errungene 35
Vgl. dazu: S. Hubbard, Nietzsche and Emerson, 1958. Zur Rolle des Erfolgs: R. W. Emerson, Die Führung des Lebens, 1862, 37. Hier ist außerdem der von Nietzsche stark beachtete Essay Selbstvertrauen (Versuche (Essays), 1858, 32 - 69) zu nennen. - Zu Nietzsches Kritik am äußerlichen Erfolgsstreben vgl. Ν 1881, 11/20 u. 11/24.
9. Machtgefühl
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Position als unangefochtener und glanzvoller erscheinen, als sie tatsächlich ist. Sie wirkt wie ein innerer Druck, der über die Grenzen hinausdrängt und damit in Gefahr gerät, illusionär zu werden. So sehr man sich auch einen behäbigen Machtgenuß im Bewußtsein von Sicherheit und Größe denken kann, wie ζ. B. bei der Abgeklärtheit des Souveräns: der primäre Sinn des Machtgefühls verweist auf den Triumph des Siegers, den Drang zur Erprobung der neugewonnenen Kräfte, die Lust am Ausspielen der Überlegenheit. Es ist das ins Große gerechnete Gefühl der Genesung oder der Befreiung. Dem Machtgefühl am nächsten steht der Selbstgenuß. Es ist ein Selbstgenuß in der Aktivität, eine Stimuliertheit, die "zur That treibt", eine "Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht" (MA 1, 103; 2, 100). Diese elementare Freude, "am Andern unsere Macht auszulassen" (ebd., 99), ist unmittelbar körperlich. Hier ist ein "Gefühl [...] der eignen starken Erregung" (ebd., 104; 2, 101), das sich also leibhaftig auf den Reiz der eigenen Bewegung bezieht, auf das, was man empfìndet, wenn man agiert und reagiert. Der Organismus ist auf sich selbst bezogen. Die physiologischen Prozesse, die auch Emerson immer wieder als Konditionen oder als Korrelate der Stimmungen anführt - "wenn die Arterien das Blut behalten, so sind Muth und Abenteuer möglich"36 - und die bei Paul Rèe den Erklärungshintergrund bilden, treten in ihrer Eigendynamik hervor (vgl. MA 1, 10 u. 13). Gewalttätige oder übermütige Handlungen z. B. werden als "Ableitungen eines plötzlichen Blutandranges durch eine starke Muskel-Action" erklärt (M 371; 3, 245). Die bewußten Motive sind dabei sekundär. Ärger, Freude, Schadenfreude oder Mitleid werden im Selbstgenuß exzessiv, schlagen um in reinen physischen Selbstlauf. Ziellosigkeit und anfängliche Harmlosigkeit des motorischen Dranges werden an Nietzsches Beispielen evident: "Nun machen wir uns in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu werden." (MA 1, 103; 2, 100) Wesentlich ist die Erfahrung psychisch-physischer Kraft. Je überlegener die Stärke sich empfìndet, um so intensiver das Gefühl. Also kann ihr die Differenz zum Unterlegenen gar nicht groß genug sein; sie sucht den deutlichsten Machtunterschied, ist empfanglich für die kleinste Überlegenheit und geht auf im "lustvollen Gefühle des Uebergewichts" (ebd., 99). Um dieses Übergewicht zu erleben, bedarf es aber nicht notwendig des Einsatzes physischer Mittel; schon der Anblick des Unterworfenen (FW 13; 3, 385), die Wahrnehmung seiner Leiden reicht aus, um der eigenen Macht innezuwerden. Der Überlegene ist sich dabei sinnlich gewiß, daß er "oben" und der andere "unten" steht. Der "Anschein einer beständig gegenwärtigen hohen physischen Kraft" (M 201; 3, 175) ist das sublime Stimulans, das sowohl das große Individuum wie auch die "vornehme Cultur" (ebd.) antreibt. Machtgefühl versetzt 36
R. W. Emerson: "Ein guter Theil unserer Lebensklugheit läßt sich physiologisch erklären." (Die Führung des Lebens, 1862, 9) - Auch dies nur als Beispiel für viele ähnliche Ansichten, wie sie sich bei Schopenhauer, Lange und im ganzen Umkreis des von Darwin geprägten Weltbildes finden.
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V. Das Gefühl der Macht
in eine belebende, aktivierende Stimmung, die in der Erfahrung der Distanz sich verstärkt. "Anblick", "Anschein" oder "Ausdruck" eines Abstandes, die Wahrnehmung von Überlegenheit und Unterwerfung, die Orientierung an einer Hierarchie, verbunden mit der Selbsttaxierung, mit Abgrenzung nach "unten" - das alles ist ausschlaggebend für das Machtgefühl. Es wächst beim Einsamen nur, wenn er sich in Relation zu anderen beurteilt. Es ist das Ranggeßhl par excellence, ist Stärke gepaart mit Stolz (M 128; 3, 118) und vornehmer Gebärde (M 201; 3, 175). Es ist das Gefühl, durch welches sich vornehmlich das soziale Umfeld differenziert. "Stark" und "schwach" sind "relative Begriffe" (FW 118; 3, 476); sie sind dies in bewußt erfahrener Relation zu anderen Menschen, mit denen man sich in einer Machtbeziehung weiß oder wähnt. Das Machtgefiihl ist der Affekt der Unterscheidung. Darin wird sich das Individuum seiner Besonderheit durch Abgrenzung gegenüber anderen bewußt. Jedes Machtgefiihl ist notwendig auch ein Distanzgefühl, weil es eine Macht über oder gegen andere anzeigt. Insofern verschafft es sich sowohl den Gegner wie auch den Bündnisgenossen erst und kann als etwas betrachtet werden, das Ungleichheiten als Rang-Unterschiede ausprägt. Hierbei sorgt es für die Verschärfung natürlicher Differenzierungen zum sozialen Gegensatz. Beim Starken, der seine Kraft auslassen muß und anderen weh tut, "ohne daran zu denken" (M 371; 3, 245), vertieft allein die Äußerung seiner Kraft den Unterschied zu jenen, die von ihr betroffen sind. Sie werden Verletzungen zu vermeiden suchen und folglich dem Starken mit Vorsicht, d. h. auch mit Achtung vor seiner Macht begegnen. Der Schwache dagegen "will wehe thun und die Zeichen des Leidens sehen" (ebd.). Er sucht den Unterschied und bezieht aus der Wahrnehmung der anderen zugefügten Schmerzen ein Lustgefühl der eigenen Macht. Schon die kleinen Bosheiten wirken in diesem Sinne. Wenn das Machtgefiihl der Schwachen darauf verfällt, Gleichheit mit Überlegenen zu fordern, kann es auf Verletzungen dieser Gleichheit ζ. B. durch "Schadenfreude" reagieren; auch hier ist es ein Ausdruck eines "Sieges", der allerdings in der "Wiederherstellung der Gleichheit" besteht (WS 27; 2, 561). Der Abstand vom Schwächeren ist das Maß der Macht. Der von Natur aus Starke, der freilich auch schon seine Geschichte hat und nur in Relation auf eine schwächere Umgebung als stark erfahren werden kann, vergrößert unwillkürlich die Distanz zum Schwächeren, genießt sie freilich auch als eine Bedingung seiner Äußerung. Denn nur der Tatsache, daß er die ihm entgegenstehenden Widerstände auch wirklich überwinden kann, verdankt er die Erfahrung seiner Kraft. Das Machtgefühl des Schwachen braucht den Kranken, Leidenden, Unterworfenen, um sich über ihn zu erheben. Alles, was Distanz ermöglicht, bietet einen Anlaß zur Verstärkung jener "Wollust" der Macht: Die Niederlage des Gegners, Grausamkeit gegen Unterlegene, Abwendung vom Schwächeren, ein Akt der Destruktion und vor allem das Leiden anderer, wenn man sich ihnen mitleidend zuwendet - das alles wird immer schroffer gegen Schopenhauer abgesetzt und gilt nun als "angenehme Regung", welche die Selbst-
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Schätzung des Starken erhöht (FW 118; 3, 476). Das Mitleid erscheint als sublime Variante der Grausamkeit, die nach Nietzsche zu jeder Zeit ein Vehikel der Macht gewesen ist: "[...] der Grausame geniesst den höchsten Kitzel des Machtgefühls" (M 18; 3, 30). Daß die Grausamkeit keineswegs bloß ein Mittel überlegener Macht darstellt, sondern gerade dem Schwachen dazu verhilft, sich Macht zu vindizieren, macht das Mitleid - auch unabhängig von seiner überlieferten moralischen Funktion - theoretisch interessant. Die später von Nietzsche beschriebene Genese der Macht des Christentums aus der Ohnmacht seiner Anhänger ist hier im Modell schon angelegt. Mitleid ist das bevorzugte Mittel der Selbstaufwertung der Schwachen. Denn eine Macht bleibt auch dem Geringsten noch: die der Abwertung, der Geringschätzung anderer, eben "die Macht, wehe zu thun" (MA 1, 50; 2, 71). Die sublimste Form der Verletzung liegt im hilfsbereiten Bedauern der wirklichen oder zugeschriebenen Schwäche anderer. Opfer seines Bedauerns wird auch der Elende noch ausmachen können, um dadurch sich selbst zu erheben: "Der Unglückliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der Ueberlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt; seine Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen. " (ebd.) Könnte anders deutlicher werden, daß in diesem Gefühl kein bloßer Spiegel einer "objektiv" gegebenen Macht, sondern ein Element der Macht selbst thematisch wird? Das Machtgefühl ist ein Affekt, der sich nicht erst als Folge äußerer Bedingungen einstellt, sondern der entscheidend an dem, was er als Gefühl anzeigt, beteiligt ist. Das Gefühl ist ein Moment der Macht, und nicht selten besteht die ganze Macht in nichts anderem als in diesem Geßhl. Die Doppelfunktion des Machtgefühls als Indiz und als Stimulans erhellt aus der dynamischen Wechselbeziehung zwischen Innen- und Außenaspekt der Macht. Als die Möglichkeit zu (äußerer) Wirkung ist Macht immer schon an (innere) Erfahrung gebunden. Das Bewußtsein von Chancen ist ihr immanent. Ohne das Wissen von Chancen und ohne die Bereitschaft, sie, wenn nötig, zu nutzen, gibt es keine Macht. Sie bedarf eines wachen, sie ständig aktivierenden Zentrums, einer "Energie des Willens" (ebd., 234; 2, 196), eines "[e]sprit fort" mit "unbeugsame[r] Kraft" und "Ausdauer" (ebd., 230; 2, 193), um als Macht überhaupt zu sein. Selbstbehauptungswille, Tatendrang und Entschlossenheit sind innere Bedingungen der Macht. Sie erst geben ihr Präsenz und verleihen ihr sowohl Konsistenz wie Dynamik. Sie treten mit der Macht hervor und können schon durch ihre bloße Demonstration auf andere Mächte wirken. Obgleich sie als Faktoren der "inneren Welt" zu gelten haben, gehören sie doch auch zum Ausdruck der Macht. Aus einem verfügenden, bestimmenden Mittelpunkt kommend, wirken sie organisierend und kontrollierend beim Aufbau einer jeden Macht mit und sind zugleich unentbehrliche Verbindungsmittel im äußeren Wirkungsgefüge verschiedener Mächte. Alles, was man von der eigenen Macht und von der Stärke anderer Mächte weiß, ist durch dieses Gefühl gegangen und darin mit Wert versehen. Das Machtge-
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V. Das Gefühl der Macht
fühl, so muß man Nietzsche verstehen, ist die wesentliche Komponente in der Selbstorganisation der Macht. Es drängt zum Einsatz der Kräfte, es gibt dem Erfolg Bedeutung und treibt gerade auch gegen Widerstand und bei Risiko zu neuen Erfolgen an. Es stellt sich nicht erst im Sieg ein, sondern begleitet schon die Vorbereitungen und beflügelt den Kampf. Jedes überwundene Hindernis steigert den Machtimpuls. Im Sieg ist es das Medium, in dem der große Augenblick erfahren wird. Es ist das, worin alle Macht erst gegenwärtig und somit überhaupt erst zur Macht wird. Das Machtgefühl zeigt dem Individuum stets die eigene Macht, die freilich darin besteht, Macht über andere zu sein. Da man auch andere Macht nur im Hinblick auf die eigene erfahren kann, wird das Gefühl zum Repräsentanten der Machterfahrung überhaupt. Was immer als Macht erlebt und begriffen wird, ist über dieses Gefühl vermittelt. In ihm wird das Individuum erst wirklich, d. h. es weiß sich als eine Macht unter Mächten. Diese Selbsterfahrung im Machtgefühl läßt sich schlechterdings nicht statisch denken. Mag man, so schwer es auch fallt, den Selbstgenuß, das Gefühl der Gegenwärtigkeit oder auch die auf Ewigkeit zielende Lust als Ausdruck einer Beharrungskraft ansehen, die Macht ist in des Wortes ursprünglicher Bedeutung "dynamisch". Folglich ist auch das Machtgefühl Ausdruck und Anzeichen einer Bewegung. An deren Anfang ist es das stimulierende Vorgefühl in Erwartung der Macht, belebt durch die Aussicht auf Erfolg, reizbar schon durch den Anblick tatsächlicher oder möglicher Hindernisse. A m Ziel ist es das Vollgefühl der eigenen Kraft in ihrer Verbindung mit der im Widerstand erfahrenen Welt. Im Genuß der Macht als dem Inbegriff einer Wirklichkeit von Möglichkeiten ist es niemals gesättigt. Die Befriedigung ist nicht auf den Augenblick beschränkt, denn es ist nichts als ein Gefühl wirklicher Möglichkeiten.
Das Machtgefühl kennt keinen wirklichen Frieden. Nach dem großen Mo-
ment des Glücks gibt es nur Pausen der Ruhe und Erholung, in denen schon wieder neue Kräfte gesammelt werden. Die Macht muß ständig erfahren, immerfort müssen ihre Mittel erprobt und ihre Chancen gewahrt werden. In der Machtbehauptung werden die Grenzen ihrer Wirklichkeit in Richtung auf Möglichkeiten überschritten. Die Macht ist ganz und gar gegenwärtig, dabei aber unmittelbar auf Kommendes bezogen. Das Machtgefühl ist der Ausdruck des aktuellen Vorgriffs auf Künftiges; man kann es als ein die Gegenwart überschreitendes Gefühl der Erwartung zeichnen. Das im Augenblick erfahrene Glück der Überlegenheit stammt aus der geglaubten Sicherheit, mit kommenden Ereignissen fertig zu werden. Die gerade jetzt empfundene Größe wäre bedeutungslos, wenn man nicht sicher wäre, sie auch in den bevorstehenden Situationen unter Beweis stellen zu können. Das Machtgefühl spiegelt die Gewißheit des Getingens, es ist eine affektive Erfolgsprätention. In ihr kommt die aktuell ansetzende Bewegung der Verwirklichung zu einem diese Bewegung selbst verstärkenden Ausdruck.
10. Strukturmerkmale der psychologisch erschlossenen Macht
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Wie man sieht, ist es nicht leicht, den jedermann verständlichen Begriff des Machtgefiihls zu zerlegen. Es zeigt sich einmal mehr, wie schwer es ist, einen mit der Wirklichkeit verbundenen Begriff von Möglichkeiten zu formulieren. Denn auf nichts anderes verweist das Machtgefühl als auf eine unmittelbar erlebte reale Möglichkeit. Für diesen Zusammenhang reicht die Einsicht, daß mit dem Begriff des Machtgefühls das ontologische Problem der Möglichkeit berührt ist, und daß Nietzsches psychologische Entlarvung auf eben den Punkt stößt, der auch in den metaphysischen Untersuchungen seit Piaton und Aristoteles mit dem Begriff der Macht, nämlich als dynamis und potentia, verbunden ist.
10. Strukturmerkmale der psychologisch erschlossenen Macht Beim Übergang in die achtziger Jahre sieht Nietzsche mit zunehmender Deutlichkeit, von welcher metaphysischen Grundfrage ihn die psychologische Analyse nicht befreit, ja daß im Gegenteil der Vorstoß ins Innere der Macht, in das Geflihl der Macht, ihn auf die philosophische Frage nach dem Ursprung und der Natur der bewegten Kräfte zurückführt. Nachdem die psychologische Betrachtung nur wenige Gründe für die wissenschaftliche Einbürgerung des "Willens zum Leben" beigebracht hat, muß er dem eigenen Vorsatz entsprechend prüfen, ob dem Begriff überhaupt noch der Rang einer elementaren Kraft zuerkannt werden kann. Was bedeutet es für den Charakter der Grundkraft, wenn das sie anzeigende Gefühl zutreffend "Macht-", aber nicht "Lebensgefühl" genannt werden kann? Doch wie immer man diese Kraft auch bezeichnet: An ihrer Deutung als "Wille" soll offenbar festgehalten werden. Nietzsche versucht nirgendwo, Schopenhauers Abkehr von einem äußeren Bewegungsursprung rückgängig zu machen. Also geht es um den Begriff für eine von innen kommende Kraft, um einen Trieb, einen in den Dingen wirkenden Impuls. Gegen Ende der Morgenröthe wird ausdrücklich der "Sieg über die Kraft" (M 548; 3, 318) gefordert; gemeint ist eine Überwindung der bloß äußeren physikalischen Kraft, die nach seiner Meinung für die Erklärung der elementaren Vorgänge in der erlebten Welt nicht zureicht. Noch aber kann Nietzsche den Sieg nicht feiern. Ihm fehlt ein Begriff, der mit der psychologisch erschlossenen Dynamik kongruiert. Der "Wille zum Leben" kommt offenbar schon nicht mehr in Frage. Die Notizen aus der Entstehungszeit der Morgenröthe zeigen allerdings, daß er bereits mit einem neuen Ausdruck experimentiert. Zum ersten Mal .findet sich der Begriff des Willens zur Macht. Der Machtbegriff ist auf dem Wege zu einer Kategorie, welche die Wirklichkeit des lebendigen Kräftespiels begreifen können soll. - Ehe jedoch die Suche nach dem neuen Begriff für die im Machtgefühl erfahrene Dynamik des Geschehens zu schildern ist, empfiehlt sich ein Blick auf das bisher gewonnene Ergebnis.
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V. Das Gefühl der Macht
Im zurückliegenden Gang durch die zwei ersten großen Schaffensperioden zwischen 1870 und 1881 hat der Machtbegriff zunehmend an Kontur gewonnen. Das vertraute, keiner besonderen Erklärung bedürftige Phänomen wird in allen erdenklichen Zusammenhängen angesprochen. Es gibt keine Analyse der Macht und auch keine Einschränkung auf einen bestimmten Realitätsbereich. Zwar kommt das Phänomen am häufigsten in politischen Zusammenhängen vor, doch Gestalt gewinnt es bei Nietzsche primär dort, wo es um die Macht der Götter und Heroen und um die künstlerische Machtausübung des großen Individuums geht. Die allgemeine Wortbedeutung von "Macht", die für alles steht, was mögliche Wirkungen verspricht, wird im mythischen, historisch-politischen, ästhetischen und psychologischen Kontext zum Hintergrund, vor dem sich schärfere Bestimmungen abzeichnen. In dem ausgedehnten Feld des umgangssprachlichen Gebrauchs, der durch weitverzweigte Übertragungen jeden konkreten Phänomenbezug verloren zu haben scheint, verdichten sich Bedeutungsschwerpunkte, die den Charakter der Macht in Umrissen erkennen lassen. Das zwischen Oktober und Dezember 1876 für eine Bearbeitung vorgesehene Thema: "Über die Macht" (N 1876, 19/86; 8, 351) hat er leider nie zur Ausführung gebracht. Mächte heißen die im menschlichen Erfahrungsraum hervortretenden Kräfte, die lebensund geschichtsträchtigen, das Chaos organisierenden Gewalten. Sie wirken unter dem Namen von Göttern oder tragen den Titel "Natur", "Leben" oder "Schicksal", zeigen aber stets das Gesicht des Menschen und wirken mit allen Mitteln, über die der Mensch verfügt. Der enge Zusammenhang von Macht und Kampf, die Sublimierung der Machtmittel in der kulturellen Transformation von Krieg in Kampfund Wettstreit oder die Verbindung zwischen Macht und schöpferischer Leistung geben uns den agonalen, auf Selbstbehauptung und Selbststeigerung angelegten Charakter der Macht zu erkennen. Angewiesen auf den Gegensatz zu anderen Mächten wirkt sie notwendig nach außen, ist Macht aber nur im gelingenden Rückbezug auf sich selbst. Zu ihr gehört ein empfindendes und lenkendes Zentrum. Sie ist in irgendeiner Form gesammelte Kraft. Im Verhältnis zu anderen und zu sich selbst drängt die Macht auf die Vermehrung von Kräften. Lange Zeit schwankte ihre Bewertung zwischen "gut" und "böse"; zunächst scheint allein der gerechtfertigt, der die Macht nicht an sich erstrebt. Nietzsches Urteil gegen die zeitgenössischen gesellschaftlichen Mächte, insbesondere gegen die öffentliche Meinung, gegen die Parteien und alle Vertreter des ökonomischen und politischen Egoismus fällt entschieden aus, so sehr er gelegentlich auf den starken Staat, insbesondere auf Preußen und ζ. B. auf die Tatkraft Bismarcks setzt. Aber wenn sich seine Hoffnungen auf die Macht der Bildung, auf die exemplarische Kraft der philosophischen Einzelgänger und auf das militärische oder musikalische Genie konzentrieren, dann ist seine Option offenkundig, dann steht die Verbindung der Macht mit der Freiheit, mit der großen Tat und der schöpferischen Leistung im Vordergrund. Macht ist die wirkliche Kraft, die reale Stärke, die in Geschichte und Kunst
10. Strukturmerkmale der psychologisch erschlossenen Macht
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tatsächlich etwas vermag - vorausgesetzt, sie bleibt an große, letztlich übermenschliche Ziele gebunden. Nur die um ihrer selbst willen erstrebte, die verabsolutierte, über ihre Funktion als Mittel hinausgehende Macht gilt als "böse". Doch diese Wertung verliert sich mit dem Übergang in die zweite Hälfte der siebziger Jahre. Während Nietzsche noch 1874 von der offenbar naturgegebenen "Bosheit" der Macht spricht (N 1874, 32/80; 7, 784) und damit ganz der Ansicht Burckhardts folgt, steht sie in einer Notiz vom September 1876 bereits in einer auffalligen Parallele zum Guten: "Der Böse, der es liest [die Rede ist von einem unter dem Titel "Pflugschar" geplanten Buch, V. G.],37 wird besser werden, der Gute schlechter, der Geringe mächtiger, der Mächtige geringer." (N 1876, 18/62; 8, 331) Ein Jahr später scheint die Umwertung vollzogen; die Macht gilt nun als Zeichen der Freiheit, und die uneingeschränkt positiv beurteilte "Lust an der Macht" wird aus der "hundertfältig erfahrenen Unlust der Abhängigkeit" erklärt (N 1876/77, 23/63; 8, 425). Wenn es später gelegentlich heißt: "die Macht ist böse: wir sind nicht groß genug auch zu ihrem Bösen" (N 1884/85, 29/41; 11, 346), dann bedeutet das freilich keinen Rückfall in die alte Position, sondern zeigt nur an, wie weit sich Nietzsche von den überlieferten moralischen Wertungen entfernt hat. Schon in Nietzsches frühen Bildern von mythisch-heroischen Mächten drängt die Macht in die Sichtbarkeit. Große Macht ist glänzend und prächtig. Sie braucht den schönen Schein, die überlegene Gebärde, die verfuhrende Rhetorik, die großartige Kulisse für ihren Auftritt. Die Kunst ist dabei mehr als bloß Schmuck und Ornament. Sie will nicht von der Macht ablenken und schafft keine Gegengewichte; sie ist ein originäres Machtmittel und in letzter Konsequenz die höchste Stufe der Machtentfaltung. In der gelungenen Darstellung liegt nicht nur ein Teil der Wirkung nach außen, sondern in ihr festigt, ja steigert sich diese selbst. Den bewußten Auftritt macht sie zum Instrument ihrer Durchsetzung gegenüber anderen, zugleich aber auch zum Spiegel ihrer eigenen Stärke. Die Macht sieht sich selbst, und sie rechnet darauf, gesehen zu werden. In all diesen Zusammenhängen ist von der Macht stets so die Rede, als ob einsichtige Wesen sie gebrauchten. Apoll oder Wotan, Themistokles oder Richard Wagner erscheinen als Träger der Macht, und nur sofern sie Macht (als ein Mittel) haben, ist auch die sprachliche Wendung erlaubt, nach der sie selbst als eine Macht erscheinen. Von der Macht ist dabei wie von einem Vermögen die Rede, hinter dem ein zwecksetzender Wille steht. Nietzsche spricht von ihr wie von einer Verkörperung eines Willens, wie von einem verleiblichten Selbst. Es ist offenkundig, daß so von der Macht nur gesprochen werden kann, wenn sie direkt als Macht des Menschen oder in Analogie zu ihr gedacht wird. Die Macht ist nach dem Modell des menschlichen Selbstverständnisses konzipiert, obgleich Nietzsche die Machtphä-
37
Vgl. dazu den Kommentar von M. Montinari, KSA 14, 1988, 37 - 774, 589.
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V. Das Gefühl der Macht
nomene nicht auf den Bereich des menschlichen Handelns beschränkt. Es ist das Minimum einer Anthropomorphic, das in der Macht zum Vorschein kommt. Zur Handlung, ebenso wie zum Leib oder zum Selbst, gehört die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenperspektive, die keine Trennung in verschiedene Seinsbereiche bedeutet, sondern eben nur zwei Ansichten bezeichnet, die sich im Verkehr der Handelnden bzw. der Mächte wie von selbst einstellen. Nietzsches Absicht zielt jedoch auf eine Vereinigung der beiden Perspektiven. Die Macht soll in ihrer vollendeten Gestalt eben diese Einheit zeigen, so wie der Mensch im Pathos sein Inneres sichtbar macht. Nicht länger soll zwischen (innerem) Wesen und (äußerer) Erscheinung unterschieden werden: "Kein Innen und Aussen in der Welt." (MA 1, 15; 2, 35) Als Garant der tatsächlichen Einheit gilt ihm das "starke Gefühl" (ebd., 36). Da dieses Gefühl nur in der Äußerung (nicht schon im subjektiven Erleben) Realität gewinnt, kann es stets in mindestens zwei Perspektiven erscheinen. Andere Strukturmerkmale der Macht, die in der Werkphase zwischen 1870 und 1881 erkennbar sind, werden erst plastisch, wenn ihre Stellung zu Nietzsches späterer Lehre vom Willen zur Macht in den Blick genommen wird. Das gilt insbesondere für die Steigerungstendenz der Macht, deren Mittel weniger in der Expansion als in einer auf sie selbst bezogenen Konzentration der Kräfte besteht. Ahnliches gilt für die Affinität der Machtbewegung zum Spiel, die erst einzuschätzen ist, wenn Unschuld und Umwertung zum Thema werden. Doch ist es wichtig zu sehen, daß diese Momente schon früh mit dem Machtkonzept in Verbindung stehen. Das gilt insbesondere für das Überwindungsmotiv, das ja auch schon vor Nietzsche eine gewisse Affinität zur Macht besitzt.38 Die Machtperspektive geht tendenziell über das Erhaltungstheorem hinaus. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ist diese Einsicht psychologisch bereits gewonnen; die philosophische Konsequenz wird später gezogen. Setzt man das Bild der Macht nach den verstreuten Bemerkungen in den ersten beiden Werkperioden zusammen, dann läßt sich aus ihm das philosophische Projekt des Willens zur Macht bereits in Grundzügen herauslesen. Dies freilich nur in Kenntnis der späteren Lehre. Gleichwohl bedarf es der späteren Lehre nicht, um die eminente Erklärungsleistung des Machtkonzepts in den frühen Schriften zu erkennen. Das Machtgeflihl wird zunehmend zum Generalmotiv allen lebendigen Geschehens. Im Machtgefühl gehen Selbsterhaltungstrieb, vermittelt über die Furcht, und das Streben nach Lust eine Verbindung ein, in der das als objektiv angesehene Bewegungsgesetz des Lebens mit der subjektiven Erlebnistendenz verschmelzen. Biologische Deskription und psychologische Introspektion werden in einem BeZu nennen wären auch hier Emerson und Schopenhauer. Daß der Steigerungsgedanke auch bei Darwin und seinen Anhängern eine Rolle spielt, wird im folgenden Kapitel gezeigt. Auch in E. Diihrings Der Werth des Lebens (1865, 158) spielt der Gedanke einer Selbststeigerung der Natur eine eminente Rolle: "[...] wo wären die schöpferischen Acte der physischen Natur, denen keine Wehen entsprächen?" Dühring insistiert auch gegen Malthus darauf, daß sich die Überbevölkerung der Welt durch "Machtsteigerung" (ebd., 159) in ein lebensfähiges Dasein überführen lasse.
10. Strukturmerkmale der psychologisch erschlossenen Macht
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griff vermittelt; die Aktivität des organischen Lebens wird mit der sie begleitenden Rezeptivität des Bewußtseins verbunden, um in dieser Einheit die spezifische Energie des menschlichen Handelns freizusetzen. Am Beispiel der Genese des Rechts aus der Macht zeigte sich, daß Nietzsche die spezifischen Konditionen des gesellschaftlichen Handelns vertraut sind, auch wenn er nicht die Gesellschaft in den Rang eines besonderen Seins erhebt und sie nicht in soziologischer Sprache beschreibt. In seinem moralisch-ästhetischen Anspruch wie auch in seiner historischen Weltsicht ist er Individualist. Nicht die Gesellschaft, sondern das einzelne, große Individuum gilt ihm als Subjekt der Geschichte. Alle seine Erwartungen sind auf den einzelnen gerichtet. Das impliziert keineswegs die Ignoranz gegenüber den historischen, sozialen und kulturellen Bedingungen des Lebens. Die Gesellschaft ist in seinen Augen das Element der Gleichheit, in welchem alles gleichgemacht wird, dennoch werden ihre elementaren Grundformen der Gegenseitigkeit in Verständigung und Gütertausch erkannt. Das Äquivalenzprinzip ist das Fundament aller über die Familie hinausgehenden Beziehungen; in Verbindung mit "Einsicht" und "Anerkennung" konstituiert es einen genuin sozialen Raum von Mächten. Nietzsches philosophisches Interesse ist auf die "Übergänge" zwischen den Gattungen oder den Seinsbereichen gerichtet. In Menschliches, Allzumenschliches ist es immer wieder seine Absicht, keine Gräben zwischen Tier und Mensch, zwischen mechanischem und organischem Geschehen, zwischen Leib und Geist aufzureißen. In dieser Absicht betreibt Nietzsche eine in Methodenfragen unbekümmerte paläoontologische und moralistische Psychologie auch des sozialen Verhaltens. Er ist dabei strikt anti-apriorisch und wittert hinter jeder Substantialisierung, komme sie aus einer Sache oder einer Methode, die Fallstricke der alten Metaphysik. Ihnen sucht er durch die Wahl des terminologisch nicht festgelegten Machtgefühls zu entkommen. Durch das Machtgefuhl wird ein psychologischer Zugang zu den bewegenden Kräften gesucht, die Nietzsche zunehmend hinter allem Geschehen interessieren. Schon Emerson hatte jeden Naturvorgang mit Macht ausgestattet, um auf diese Weise seelische und körperliche Vorgänge unmittelbar im einzelnen Wesen zu verknüpfen. Und so sucht auch Nietzsche, in diesem Punkt noch immer von Schopenhauer überzeugt, nach Kräften, deren Impuls von innen stammt. Er steht damit in einer weit über den lebens- und willensromantischen Idealismus hinausreichenden Tradition des Denkens, das sich vom cartesianischen und letztlich vom platonischen Dualismus zu befreien sucht.39 Es ist offenkundig, daß für Nietzsche nur eine bewegende Kraft in Frage kommt, die mit der Selbsterfahrung des Menschen, mit der wechselseitigen Vermittlung von Selbstbehauptung und Anerkennung, von Selbst- und Fremdeinschätzung, zusammenstimmt. Nietzsche will sich nicht auf die menschliche Perspektive einschränken lassen, im Machtgefühl geht er aber zweifellos vom Menschen aus. 39
Dazu: F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, 37 ff., 88 ff. u. 131 ff.
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V. Das Gefühl der Macht
Für die Wahl des Machtbegriffs spricht dessen Nähe zum bloß faktischen Geschehen, die Verbindung zu Gewalt, Kraft, physischer Stärke und Überlegenheit durch die große Zahl. Für ihn spricht seine im 19. Jahrhundert stets in Anspruch genommene ideologiekritische Aufgabe. Man erwartet von ihm die Reduktion allen Geschehens auf wenige Ursachen, vielleicht auf nur einen Faktor. Auf das Machtstreben als letztes Motiv verweisen zu können, ist ein vorrangiges Interesse aller Demaskierung. Hinter Selbstlosigkeit und moralischem Idealismus, hinter Mitleid, frommer Hingabe und dem Selbstopfer aus Liebe zeigt sich trotz allem immer wieder nur dasselbe: das Streben nach Macht. Aber das hier bloßgelegte Ziel ist über einen stofflichen Rahmen immer schon hinaus. Ohne intentionalen Impuls, ohne Einsicht in Beziehungen und ohne Anerkennung von Bedingungen reichte sie erst gar nicht in jene Zusammenhänge hinein, die durch ihr Wirken verständlich werden sollen. Um diese Anlage der Macht zu kennzeichnen, ist es wichtig, ihr anthropologisches Fundament, ihre Beziehung zur Handlung zu beachten. Um sie zu begreifen, muß sie auf den ganzen Menschen als triebhaftes, erlebendes und handelndes Wesen bezogen werden. Die Adäquation von Mensch und Macht entspringt aber weniger einem imperialen Anthropomorphismus als einer Not. Die Macht wird in dieser Analogie nicht allein für den Menschen reserviert; auch die Tiere und die physischen Kräfte, so muß man Nietzsche verstehen, üben Macht aus. Doch im Blick auf diese Mächte bleiben wesentliche Merkmale des Begriffs unausgeschöpft. Erst im Kontext des menschlichen Geschehens zeigt sich, was die Macht eigentlich ist. Der Mensch kann nicht über seinen Schatten springen, er bleibt an seine Erkenntnisbedingungen gebunden. Was er in der Absicht metaphysischer Selbstentzauberung auch den Tieren als Leistung zuschreibt - Selbstbeherrschung, Selbsterkenntnis und differenzierte Mitteilungsfahigkeit -, das ist aus seiner immer auch introspektiven Erfahrung abgelesen. Seine Not liegt darin, daß er nur das von der Welt versteht, was er sich von ihr aneignet, sich angleicht oder - um mit Nietzsche zu sprechen - sich "anmenschlicht".40 Unter dem Titel der Macht denkt der Mensch ein mögliches Geschehen immer noch nach seinem eigenen Bild. Je mehr das Streben nach Macht in eine fundamentale Erklärungsfunktion hineinrückt, versucht Nietzsche dieses Bild in seinen allgemeinsten Zügen zu zeichnen und dabei, trotz des menschlichen Ausgangspunkts, vom Menschen abzusehen. In dieser Funktion treibt der Machtbegriff die Anonymisierung des Menschen bis zum Äußersten. Doch in der Macht läßt sich der Mensch nicht verleugnen. Wo eine Macht ist, steht ihr zumindest ein Mensch gegenüber.
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Nietzsche spricht von der "Anmenschlichung der Dinge" durch die Wissenschaft (FW 112; 3, 473).
VI. Der Auftritt des Willens zur Macht Die Entwicklung des Begriffs im Übergang zum Spätwerk
1. Wille zur Macht versus Wille zum Leben Gehen wir mit unserer Epoche davon aus, daß der Verstand nur das einsieht, was er selbst machen kann, und fügen wir hinzu, daß er nur das wirklich machen kann, was er erprobt und erfahren hat, dann hat jede Einsicht ihre Geschichte. Die Plötzlichkeit mancher Erkenntnis sagt etwas über den Zustand unserer Erwartungen und ist kein Maß für die Ursprünglichkeit ihres Inhalts. Nietzsche berichtet von einem Augenblick Anfang August 1881, in den der Gedanke der ewigen Wiederkunft einzuschlagen scheint wie ein Meteorit: "Ich gieng an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke. " (EH, Zarathustra 1; 6, 335) Wenige Monate später, ebenfalls unter freiem Himmel, kommt ihm der Gedanke des Zarathustra: "richtiger, er überfiel mich ..." (ebd., 337). Schon der Zusammenhang, in dem beide Ereignisse stehen, läßt zweifeln, ob sie tatsächlich so unvermittelt eingetreten sind. Denkt man auch noch an das "Vorzeichen", jene schon im Frühjahr 1881 beobachtete "plötzliche und im Tiefsten entscheidende Veränderung meines Geschmacks, vor Allem in der Musik" (ebd., 335), oder an die offenbar noch fhiher aufkeimende Erwartung einer "Revision aller Werthschätzungen" (N 1880, 3/158; 9, 98), dann scheint gerade das Unmittelbare und Plötzliche das Erwartete zu sein.1 Der Gedanke der Wiederkunft kündigt sich tatsächlich im Jahr 1880 an. Seine beiden Momente, die absolute Bedeutung des "Augenblicks] " und die Vorstellung vom "ewigen Wechsel der Stoffe", sind Nietzsche längst gegenwärtig. Man möchte meinen, er habe in der Feststellung: "In jedem kleinsten Augenblick giebt es in uns eine absolute Notwendigkeit des Geschehens" (N 1880, 6/119; 9, 225) nur das "Geschehen" durch "ewige[s] Spiel" (N 1880, 7/169; 9, 351) zu ersetzen brauchen, um schon lange vorher das aussprechen zu können, was ihn dann an jenem Augusttag überkam. Vielleicht aber mußte Nietzsche erst auf den gesundheitlichen Tiefpunkt kommen, um für die Erlösung empfänglich zu sein, die sich ihm mit dem Wiederkunftsgedanken verband. "Sum in puncto desperationis. Dolor vincit vitam Siehe dazu: J. Salaquarda, Der ungeheure Augenblick, 1989, 317 - 337, insb. seine treffende SchluBbemerkung zu "Nietzsches Mystik" (ebd., 33S ff.).
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
voluntatemque. " (Postkarte an Overbeck v. 18. 9. 1881; KGB III, 1, 128) So schreibt er über die "gefährlichen Zeiten" dieses Sommers, in dem er ständig schwankt zwischen Depression und Euphorie. Etwas von diesen Schwankungen bebt auch im Gedanken der Wiederkunft nach, der nur dann zum amor fati befreit, wenn er zuvor im Andenken der Ewigkeit gänzlich erschüttert hat. Die Wirkung dieses Gedankens entspricht ganz der von Kant beschriebenen Selbstermutigung der Vernunft angesichts ihrer tiefsten Demütigung.2 Allein die existenziellen Bedingungen verweisen auf ein Umfeld des Augenblicks, verknüpfen ihn mit der Zeit davor und danach. Nietzsche ist 1881 für Eingebungen und Überfälle besonders disponiert. Folglich wird man seine Schilderung vom Spaziergang am See von Silvaplana eher als die Inszenierung eines benötigten Erlebens denn als die Darstellung eines historischen Sachverhalts ansehen müssen. Skepsis ist auch deshalb geboten, weil sowohl in der ewigen Wiederkunft wie auch beim Typus des Zarathustra der überraschende Augenblick von der Theorie selbst gefordert wird! Eine Theorie, die alles auf den Augenblick abstellt, muß selbst aus dem Augenblick stammen, wenn sie sich nicht schon durch ihren Auftritt widerlegen soll. Ihr "Beweis" folgt aus keiner spekulativen Untersuchung - so interessant nachträgliche Überlegungen zur Verträglichkeit der existenziellen Erfahrung mit naturwissenschaftlichem Wissen auch immer sein mögen3 -, sondern er liegt allein in der situativen Wirkung. Die "Praxis" dieser Theorie ist der Augenblick, der gar nicht anders als einzig gedacht werden kann. "Unsterblich ist der Augenblick, wo ich die Wiederkunft zeugte. Um dieses Augenblicks willen ertrage ich die Wiederkunft." (N 1882/83, 5/1-205; 10, 210) Der Zirkel zwischen momentaner Bewährung und genereller Gültigkeit entspricht bereits dem ewigen Kreislauf, den die Lehre postuliert. Mit der Stilisierung des Initials steht Nietzsche bereits im Bann seines großen Gedankens. Die beiden vorangehenden Kapitel, in denen die Entstehung eines philosophischen Begriffs bis an die Schwelle seiner terminologischen Verwendung nachgezeichnet wurde, dekken die ersten beiden Entwicklungsphasen in Nietzsches Denken ab. Die Stufe, die nun zu überschreiten ist, fällt zeitlich mit dem Übergang in die Reifeperiode der achtziger Jahre zusammen.4 Bekanntlich ist Nietzsches Denken zwischen 1880 und 1883 einer tiefgreifenden Wandlung ausgesetzt. Unter dem Einfluß einiger neuer Gedanken - vielleicht sind es nur zwei? - glaubt er, nunmehr wirksame Mittel gegen die Schwächen seines Jahrhunderts, 2 3
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I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 823; AA 3, 517; siehe dazu vom Verf.: Freiheit und Herrschaft, 1981. Siehe dazu O. Becker (Nietzsches Beweise für seine Lehre von der ewigen Wiederkunft (1936), 1963, 41 - 66) und die kritischen Ausführungen, die W. Müller-Lauter (Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, 1971, 164 ff.) dazu gemacht hat. Eine eingehende Darstellung findet sich bei B. Magnus, Nietzsche's Existential Imperative, 1978, 69 ff., 86 ff., 90 -110. Magnus gibt auch Hinweise zum Verständnis der bisherigen Urteile über die Wiederkunftslehre. Dieses Urteil gilt unbeschadet der Tatsache, daß wichtige Vorstudien zur Morgenröthe noch in das Jahr 1880 fallen und die Fröhliche Wissenschaft erst danach entsteht. Der im Zarathustra erkennbare Wandel ereignet sich nicht plötzlich, sondern kündigt sich in den Jahren vorher an. Dabei ist das Jahr 1881 entscheidend.
1. Wille zur Macht versus Wille zum Leben
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gegen Pessimismus und Altruismus, gegen Historismus und Szientismus gefunden zu haben. Zu den Gegenmitteln gehören die Generalabrechnung mit der überlieferten Moral, die Kampfansage gegen das Christentum sowie die Proklamation des Nihilismus als der historischen Voraussetzung für die Umwertung der Werte, zu deren systematischen Bedingungen die Kritik der Selbsterhaltung, die Gegenutopie des Übermenschen und eben der Gedanke der ewigen Wiederkehr des Gleichen gehören. Im Zeichen dieser neuen Einsichten findet Nietzsches Denken in eine neue Ordnung und auch in eine neue Gestalt. Von den zuvor entwickelten Ansätzen wird vieles übernommen, kaum etwas wird wirklich revidiert; aber alles erhält einen neuen Stellenwert, bekommt eine Funktion in dem Prozeß, den die neue Lehre weniger darzustellen als zu sein versucht. Ausdruck der neuen Einstellung ist die Formel vom Willen zur Macht. Sie findet sich von einer schon genannten Stelle Ende 1876/Sommer 1877 (23/63) abgesehen5 - im Nachlaß seit 1880, zunächst eher beiläufig, dann aber mit erkennbarer Abgrenzung gegenüber "Machtgefühl" und "Wille zum Leben". Im Zarathustra hat die Formel bereits die Funktion einer fundamentalen Erkenntnis, aus der Nietzsche zwischen 1884 und 1888 den Hauptsatz einer eigenen Lehre zu machen versucht. Mit dem Auftritt der neuen Formel gewinnt auch der Machtbegriff selbst eine schärfere Kontur, in der sich die im "Sieg über die Kraft" (M 548; 3, 318) umrissene Linie deutlicher abzeichnet. Vier Jahre später, am Ende der Neuordnungsphase nimmt Nietzsche die Wendung vom "Sieg" über die Kraft noch einmal auf (N 1885, 36/31; 11, 563), um nun unter präzisierten Bedingungen die "konstruktive Lehre"6 vom Willen zur Macht aufzubauen. An die Stelle der "Vernunft", von der in der Morgenröthe noch die Rede ist, tritt nun das "unersättlichen Verlangen nach Bezeigung der Macht" (ebd.), kurz: der "Wille zu Macht". In der Ausarbeitung dieses Gedankens entsteht dann das, was man Nietzsches "Philosophie der Macht" genannt hat.7 Es wird zu prüfen sein, ob dieser Titel zu Recht besteht. Gewiß ist jedoch, daß die Ausprägung des Machtkonzepts mit den Metamorphosen des ganzen Werks einhergeht. Die Koinzidenz zwischen dem Aufstieg des Machtbegriffs und der Genese des von ihm getragenen, ihn zugleich aber auch ausbalancierenden Systems kann als zusätzliches 5
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"Furcht (negativ) und Wille zur Macht (positiv) erklären unsere starke Rücksicht auf die Meinungen der Menschen." (N 1876/77, 23/63; 8, 425) Dazu auch: W. Kaufmann, Nietzsche, 1982, 209. G. Colli, Nachwort zu den nachgelassenen Fragmenten von Herbst 1884 bis Herbst 1883, KSA 11, 1988, 711 726, 724. "Nietzsche is the philosopher of power, a philosopher who managed to think of power without having to confine himself within a political theory in order to do so." (M. Foucault, Philosophy, Politics, and Culture, London 1988, S3) Ansell-Paerson, der diese Passage zitiert, bestätigt: "For Foucault Nietzsche is the philosopher of power." (K. Ansell-Pearson, The Significance of Michel Foucaults Reading of Nietzsche, 1991,267 - 283, 270) - Im übrigen verweise ich auf die einleitend zitierte These von W. Kaufmann. Kaufmann geht freilich zu weit, wenn er von Nietzsches "monistischer Philosophie der Macht" spricht (Nietzsche, 1982, 241). Es wird sich zeigen, daß die Kennzeichnung als "monistisch" sowohl Nietzsches Philosophieren wie auch den Charakter der Macht verfehlt.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
Indiz für die Konsequenz in Nietzsches Entwicklung gewertet werden. Die innere Logik zeigt sich sowohl in der Folgerichtigkeit der Übergänge zwischen den Werkphasen wie auch in der Schlüssigkeit der reifen Lehre, die sich zu den vorausliegenden Stadien wie das Ziel zum Weg verhält. Auch Zarathustra, der nihilistische Prophet, kommt nicht unvermittelt. Sein Name geistert durch die Notizen, längst bevor der "Typus" so überzeugend wirkt, und was am Typus so überwältigt, das hat bereits bei Nietzsche den Charakter eines Vorbilds der Selbst-Überwindung gewonnen.8 Die Erfahrung der sowohl erlittenen wie gewollten Einsamkeit, das Verlangen sowohl nach Rückzug wie nach Schülerschaft gehen der literarischen Neukonstruktion des persischen Weisen voraus. Der plötzlich als Typus erkannte Zarathustra ist der längst vertraute Gefährte auf dem Weg durch Verzweiflung und Euphorie des Jahres 1881: "Ich und Mich sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe? Immer ist für den Einsiedler der Freund der Dritte: der Dritte ist der Kork, der verhindert, dass das Gespräch der Zweie in die Tiefe sinkt." (Z 1, Vom Freunde-, 4, 71) Zarathustra ist dieser selbstgeschaffene Freund. Kein Wunder, daß er mitunter die Züge Nietzsches trägt. Seine Funktion in Lehre und Lebenspraxis ist aber die des Gegenhalts; er ist es, der die Extreme von Ich und Mich zusammenbindet. So sehr auch die Erkenntnis des Freundes der Eingebung des Augenblicks entsprungen sein mag, die Freundschaft brauchte ihre Entwicklungszeit. Es ist die Zeit, in der auch der Zentralbegriff der neuen Lehre heranreift und in der sich Nietzsches Denken zwar nicht grundlegend verändert, aber doch neu organisiert. Die wichtigsten Faktoren dieser Reorganisation werden im folgenden wenigstens soweit skizziert, als nötig ist, ihre Verbindung mit der Genese der Formel vom Willen zur Macht erkennen zu lassen. Der Ausdruck "Wille zur Macht" ist Nietzsche vertraut, längst bevor er einen Terminus daraus macht. In der bereits erwähnten Aufzeichnung aus der Entstehungszeit von Menschliches, Allzumenschliches (N 1876/77, 23/63; 8, 425), in der "Wille zur Macht" als Gegenüber der hier ausdrücklich als "negativ" bezeichneten "Furcht" erscheint, ergibt sich die Substantivierung beinahe zwangsläufig aus dem Bemühen um sprachliche Variation und begriffliche Äquivalenz: Auf die Beschreibung des Ehrsüchtigen, "welcher Macht will", folgt im nächsten Satz, worin diesem Wollen die Furcht entgegengesetzt wird, der " Wille zur Macht" (ebd.; H. v. m.). Die These dieser Nachlaßstelle zielt aber nicht auf die Alternative von Machtstreben und Furcht, sondern auf die Unabhängigkeit des Mächtigen von der Meinung der anderen. Der "Unlust der Abhängigkeit, der Ohnmacht" wird die "Freude an der Macht" entgegengestellt, in der man sich um "Lob und Tadel, Liebe und Hass" gleich wenig zu kümmern brauche (ebd.). Nun ist es interessant, daß Nietzsche eine weitere sprachliche
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Von Zarathustra ist u. a. an folgenden Stellen die Rede: Ν 1881, 11/195, 12/79, 12/112, 12/131, 12/136.
1. Wille zur Macht versus Wille zum Leben
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Variante verwendet, sobald er wieder auf das Thema Macht und Unabhängigkeit stößt: "Man erstrebt Unabhängigkeit (Freiheit) um der Macht willen, nicht umgekehrt." (N 1879, 41/3; 8, 584) Diese Formulierung macht besonders deutlich, daß es in dieser Zeit um die begriffliche Erfassung einer fundamentalen Triebkraft des Menschen noch gar nicht geht. Nietzsche beschreibt Phänomene des menschlichen Verhaltens und sucht ihre psychisch-sozialen Implikate sowie ihre Relationen untereinander herauszustellen. Eines dieser Phänomene ist das Machtgefühl, das ohne Machtstreben nicht zu denken ist; folglich kann auch die Rede auf jene kommen, die zur Macht wollen, die etwas um der Macht willen tun, oder die ein Wille zur Macht treibt. Es ist dies eine Rede unter vielen anderen; gewiß ein Hinweis auf ein Problem, aber noch nicht einmal ein Indiz für dessen Lösung. Die nächste Erwähnung des Willens zur Macht findet sich in einer Notiz aus dem Sommer 1880: "Sagt nicht, daß die Langeweile sie plagt: sie wollen an nichts anbeißen, weil ihr Wille zur Macht nicht weiß, wie er zu sättigen ist - alles andre ist nichts dagegen. " (N 1880, 4/239; 9, 159) Diese Bemerkung, die in Ergänzung zu anderen Äußerungen den lähmenden Erwartungsüberschuß der Langeweile exponiert, steht in einem Oktavheft, aus dem Nietzsche viele Aphorismen für die Morgenröthe übernommen hat. Hier wie dort wimmelt es nur so von Auslassungen über "Macht" und "Machtgefühl", und man hat nicht den Eindruck, daß mit dem "Willen zur Macht" etwas Neues auftaucht. Es könnten ebensogut auch "Gefühl", "Trieb" oder "Bedürfnis" an die Stelle des Willens treten. Beachtenswert ist allenfalls eine gewisse Beharrlichkeit in der Frage nach der Natur des Willens im Umfeld dieses Fragments. "Wollen, Begehren, Trieb - complicirte Dinge!" (N 1880, 5/45; 9, 191) - die Nietzsche sich durch einfache Schemata zu erklären versucht, etwa als Folge eines physiologischen "Druckes" eines "Nothstand[es]", der auf dem Wege der Erwartung künftiger Befriedigung verlagert und dadurch momentan gemildert wird.9 Ein belastender Zustand wird durch Projektion in einen Prozeß überführt, und Wille, Bedürfnis, Trieb erscheinen bereits als Ausdruck der Entlastungsfähigkeit des Organismus (ebd., 191 f.). Unverkennbar ist die Suche nach dem Spezifikum des Willens in Abgrenzung von Begierde und Trieb. Zu drastischer Anschauung kommt das ζ. B. in der wiederholten Frage nach dem "Willen zum Uriniren"(N 1880, 4/309, 5/5; 9, 177 u. 182), aber auch in seiner traditionell anmutenden psychologischen Definition aus dem Frühjahr 1880, in welcher sich die enge Beziehung zur Macht bereits aufdrängt: "Wille", so heißt es, "ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit der Erwartung, daß wir uns seiner bemächtigen werden. " (N 1880, 3/91; 9, 71; H. v. m.) Hinter dieser Definition steht mit dem für diese Phase Nietzsches bezeichnenden Fragezeichen: "'Struggle for existence'?" (ebd.)
Ergänzend zu der oben genannten Rolle physiologischer Erklärung bei Schopenhauer oder Emerson kann auch auf F. A. Lange hingewiesen werden (Geschichte des Materialismus, 2. Aufl., Bd. 2, 187S, 755 ff.).
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
Trotz der dezidiert begrifflichen Verknüpfung von Wille und Macht unter der einschränkenden Bedingung von "Wertschätzung" und "Erwartung" macht Nietzsche von der sich situativ einfindenden Wendung "Wille zur Macht" keinen einschlägigen Gebrauch. Aus der gelegentlichen Verwendung muß man den Eindruck gewinnen, daß die beiläufig, vielleicht nur aus dem unwillkürlichen Impuls sprachlicher Variation eingesetzte Formel auf ihn selbst gar keinen Eindruck macht. Auch die zur gleichen Zeit sich verstärkende Beachtung der Eigenart von Macht überhaupt, die erstmals allgemein formulierte Zusammengehörigkeit von Macht und Spannung (N 1880, 6/53, 6/49; 9, 206 u. 205) oder die Korrelation von Macht und Ohnmacht (N 1880, 4/128; 9, 133) führen weder zu einem häufigeren Gebrauch noch zu einer begrifflichen Auszeichnung des Willens zur Macht. Einmal, einige Monate nach dem zitierten Fragment über die Langeweile, ist vom "Wille der Macht" (N 1880, 6/57; 9, 207; H. v. m.) die Rede, ein anderes Mal wird vom "Willen nach Macht" (ebd., 6/130; 9, 229; H. v. m.) gesprochen. Die nächstfolgende Verwendung des Ausdrucks "Wille zur Macht" Ende 1880 bestätigt, wie wenig spezifisch er gemeint ist: "Vom Willen zur Macht wird kaum mehr gewagt zu sprechen: anders zu Athen! " (N 1880, 7/206; 9, 360) Wäre Nietzsche sich einer terminologischen Besonderheit bewußt, würde er nicht schon den Athenern die Formel in den Mund legen. Auch die Gleichung zwischen Machtgefühl und Machtwillen, die sich in einer Notiz aus dem Winter 1880/81 (9/14) findet, spricht dafür, im Willen zur Macht nicht mehr als eine Redewendung unter anderen zu sehen. Im langgestreckten Zeitraum ihres ersten Auftretens bezeichnet sie ganz allgemein jenes Streben, das auch Trieb, "Verlangen" (N 1880, 6/54; 9, 207) oder "Bedürfniß" (ebd., 6/160; 9, 237)10 heißen kann und dessen (positive) Erfahrung mit dem Gefühl der Macht verbunden ist. Der Nachlaß des Jahres 1881 gibt keinen Anhaltspunkt für die Annahme, daß der Wortgebrauch sich spezifiziert. Vom "Macht-" oder "Kraftgefühl" ist nur selten die Rede und vom Willen zur Macht nur einmal (N 1881, 11/346; 9, 575). Auch im folgenden Jahr ändert sich daran nichts. Nur einmal ist von einem "Machtwillen" die Rede, von der "doppelte[n] Ausübung von Macht" durch den "Liebgehabte[n]", "welcher das Liebende quält, sein Machtgefühl genießt, und um so mehr, als er sich selber dabei tyrannisirt" (N 1882, 1/73; 10, 29). Im übrigen scheint Nietzsches Interesse an der Formel erlahmt zu sein, denn sie kommt nicht mehr vor, obgleich vom "Machtgefühl" (N 1882/83 , 4/197; 10, 166), vom "Wille[n] zur Lust" (ebd., 4/58; 10, 127) oder zur "Grausamkeit" (N 1882, 3/1-223; 10, 79) und natürlich von dem Streben nach höchster Kraft, Überlegenheit und heldenhafter Tat usf. 10
"Unsere Liebe zum Ideal ist die letzte Steigerung des Ernährungstriebes (ebenso Eigenliebe Eigenthumsliebe, das Bedürfniß der Macht, nach Mitteln für Leben und Gesundheit)" (N 1880, 6/160; 9, 237). Das der Notiz nachgestellte "L" verweist auf "Littré", d. h. auf E. Littré, La science au point de vue philosophique, 1876. Littré war Verfechter eines strikten Positivismus im Sinne Comtes. Die Macht bzw. das Machtbedürfnis erfüllt bei diesem Autor die Funktion der Ursache in einer reduktionistischen Erklärung.
1. Wille zur Macht versus Wille zum Leben
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die Rede ist. Immerhin sind es die Notizen, in denen der Gedanke des Übermenschen Gestalt gewinnt. Dieser Eindruck ändert sich schlagartig mit der ersten Eintragung im Quartheft Ζ 1 2 , das Nietzsche zwischen November 1882 und Februar 1883 und dann wieder im August 188S zu Aufzeichnungen für den Zarathustra und für Jenseits von Gut und Böse benutzt: "Wille zum Leben? Ich fand an seiner Stelle immer nur Wille zur Macht." (N 1882/83, 5/1; 10, 187) Schopenhauer und Dühring, Darwin und Spencer sind mit einem Satz auf Distanz gebracht. Was jenen als das metaphysisch oder empirisch Letzte, oder das eigentlich Wirkliche galt, das findet Nietzsche nun erst gar nicht mehr. Statt dessen, "an seiner Stelle", stößt er "immer nur" auf den "Willen zur Macht". Ein Grundkonsens wird aufgekündigt. Durch ein Wort tritt Nietzsche in Opposition zum Zentralbegriff der zeitgenössischen Theoriebildung, sei sie nun eingestandenermaßen metaphysisch oder dezidiert empirisch. Dieses eine Wort ist "Macht". Es rückt an die Stelle von "Leben". "Macht" und "Leben" werden aber nicht unvermittelt entgegengesetzt, sondern sie stehen sich als Zielelemente eines Grundtriebes gegenüber. Man darf zwar nicht vergessen, daß die Alternative nur durch die Ersetzung von "Leben" durch "Macht" zustande kommt, aber die Opposition entsteht erst mit der Suche nach dem Grundtrieb, dem alles bewegenden "Willen". Nach dieser plötzlichen Auszeichnung des "Willens zur Macht" ist es gar nicht überraschend, daß der vorher eher beiläufig gebrauchte Ausdruck zum Fundamentalbegriff avanciert. Da uns Zeugnisse über gedankliche Zwischenschritte fehlen, kann man nur vermuten, daß eine Prägung durch Gegensatz stattfindet und der "Wille zur Macht" erst in der Abgrenzung vom "Willen zum Leben" Kontur gewinnt. Eine sprachliche Konturierung dieser Art ist aber nur denkbar, wenn zuvor begriffliche Distanz gewonnen ist, wenn Gründe dafür sprechen, daß es diesen Willen zum Leben (oder zum Dasein) als Grundtrieb allen Geschehens gar nicht gibt. Eben solche Gründe glaubt Nietzsche gefunden zu haben. Im kritischen Jahr 1881 trifft er nicht nur auf den Gedanken der ewigen Wiederkunft; auch die Erfahrung vom Tode Gottes kommt zu vollem Bewußtsein, und aus dem moralisch-praktischen Konzept der Selbst-Überwindung wachsen der Typus Zarathustras sowie die regulative Idee des Übermenschen hervor. In dieser Zeit gewinnt - vielleicht ist dies das Wichtigste - die Einsicht in die Unzulänglichkeit des Selbsterhaltungsprinzips an Gewicht. Der "Wille zum Dasein", der Nietzsche seit der Schopenhauer-Lektüre als die Grundtatsache des Lebens überhaupt gegolten hatte, erscheint als zu schwach, um das wirkliche Geschehen zu fundieren. Gleichwohl reicht, wie die Durchsicht des Nachlasses zeigt, die Kritik am Theorem der Selbsterhaltung für sich noch nicht aus, um den Begriff des Willens zur Macht zu vollem Bewußtsein zu fuhren. Zwar findet sich der Ausdruck in dieser Zeit gelegentlich ein, aber den Status einer konzeptuellen Alternative gewinnt er erst um die Jahreswende 1882/83 im Kontrast zum "Willen
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
zum Leben". Und auch dann dauert es noch einmal etwa zwei Jahre, ehe Nietzsche darangeht, eine Lehre zu entwickeln, in deren Zentrum der "Wille zur Macht" stehen soll. Schon die Gleichzeitigkeit im Auftritt der großen Themen des reifen Werks läßt einen sachlichen Zusammenhang vermuten. Die folgende Darstellung soll einen solchen Zusammenhang kenntlich machen und zeigen, welche Voraussetzungen er für die werkimmanente Genese des Willens zur Macht enthält. Dabei wird von selbst die alles tragende Funktion der Macht zum Vorschein kommen. Bereits der Anstoß zur Neuorientierung stammt aus einer Intensivierung der Machterfahrung. Denn am Anfang steht das Interesse an zwei historischen Gestalten, die in Nietzsches Augen binnen kurzem zu exemplarischen Vertretern gegensätzlicher Machttypen aufsteigen.
2. Napoleon als Beispiel Die dominante Gestalt ist die Napoleons. Dessen Name findet sich in Nietzsches ersten Schriften nur selten, doch stets mit positivem Vorzeichen. Die Geburt der Tragödie beruft sich auf Goethes Wort von der "Productivität der Thaten", die an Napoleon sich zeige (GT 18; 1, 116), und va Menschliches, Allzumenschliches (MA 1, 164; 2, 155 f.) wird Napoleon als Beispiel für die Wirkungskraft des "Glauben[s] an sich und seinen Stern" genannt. In welche Richtung Nietzsches Aufmerksamkeit geht, macht eine Nachlaß-Stelle von 1873/74 deutlich, die einzige übrigens, die sich in den siebziger Jahren auf den nachrevolutionären Imperator bezieht. Napoleon wird hier als "gelber gesunder Tiger" vorgeführt, als Beispiel für die Verehrung, die selbst "roh[en] und feindselig[en]" Naturen entgegengebracht werden kann. Auch wenn in einer derartigen Verehrung die "starken Einseitigkeiten" nicht zu übersehen seien, so verraten sie "doch wenigstens noch Lebenskraft". Daran schließt Nietzsche die Feststellung: "Kraft aber muss da sein, bevor etwas gebildet werden kann. Ist Schwäche da, so ist die Bemühung a u f s Conserviren um jeden Preis gerichtet [...]" (N 1873/74, 31/3; 7, 748). Man sieht, wie früh und folgerichtig der Protagonist des Dionysischen und Fürsprecher des großen Individuums davon überzeugt war, daß Selbsterhaltung eher Ausdruck eines schwachen als eines starken Lebens ist." Nichts, was an Napoleon wesentlich ist, wäre durch das Erhaltungstheorem zu erklären. Die raubtierhafte Eroberungslust, das Bedürfnis nach Gegensatz, der Wunsch, alles unter sein Gesetz zu zwingen, verweisen auf ganz andere Triebkräfte, für die Nietzsche hier noch keinen einheitlichen Begriff entwickelt hat. Kritische Bemerkungen zum bloßen Daseinswillen - "[D]er Selbsterhaltungstrieb ist ein Stück Mythologie." (N 1880, 3/149; 9, 95) - gehen also jener Phase voraus, in der Nietz11
Vgl. dazu die im V. Kapitel behandelte Nachlaß-Stelle Ν 1876/77, 23/9 sowie Ν 1876/77, 23/12.
2. Napoleon als Beispiel
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sehe sich Napoleon als einer Paradefigur der Macht zuwendet. Stimuliert wird die Beschäftigung mit dem französischen Herrscher durch die Lektüre der Memoiren der geistvollen Ciaire de Rémusat, die als Palastdame der Kaiserin Josephine und als Frau des kaiserlichen Kammerherrn und Palastpräfekten sieben Jahre in unmittelbarer Nähe Napoleons gelebt hat.12 Der Bericht aus unmittelbarer Nähe bestätigt die von Nietzsche schon früher bemerkte Roheit im Charakter des Imperators. Er notiert, daß dessen Seele "ohne Adel" (N 1880, 6/26; 9, 199) gewesen sei, "tyrannisch und feige zugleich" (ebd., 6/9; 9, 126); die "Garnisons-Gewohnheiten" (ebd., 6/41; 9, 204) habe er bei aller Liebe zu Pomp und Zeremoniell (ebd., 6/33 u. 36; 9, 202) nicht verloren; in allem verlange er "Gleichgeflihl" von den anderen, ohne es aber selbst zu üben (N 1880, 7/284; 9, 377); er macht sich zum Maßstab für die anderen, er ist die Revolution (N 1880, 6/36; 9, 202),13 und er läßt die Zeitrechnung dort beginnen, wo er "anfing etwas zu sein" (ebd., 6/29; 9, 199). Nietzsche imponiert die Selbstverständlichkeit, mit der sich Napoleon zum Schicksal seiner Epoche macht, ohne dabei auf etwas anderes zu setzen als auf sein eigenes Glück (ebd., 6/26; 9, 199). Die Unbedingtheit, mit der sich hier die große Macht allein durch den Glauben an sich selbst behauptet, läßt ihre nach außen wirkende Selbstbezogenheit sowie ihre wertstürzende Leistung erkennen. Die wertschöpfende Potenz der Macht ist gleichermaßen in der Figur des kleinen Korsen personifiziert. Der übersteigerte Machtwille dieses Emporkömmlings macht alles andere, seine Zeit und seine Zeitgenossen, zu bloßen Rahmenbedingungen seiner Taten. Angesichts dieses Willens wird alles zum Mittel. Der Zufall, für die "mittelmäßigen Geister" ein "Mysterium", wird für den "höheren Menschen" zur Realität (ebd., 6/42; 9, 204). Dem Mächtigen gelingt der Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit. Welche Mittel und Ziele dabei eingesetzt werden, ist eine sekundäre Frage: "Napoleons Streben gieng nach Macht: er hätte den Frieden vorgezogen, wenn der ihm Vergrößerung der Macht geben würde." (ebd., 6/190; 9, 246) Das Motiv dieses Strebens hält Nietzsche Jahre später in einer Notiz fest, die wie keine andere zeigt, daß er sich von Napoleon auch persönlich angesprochen fühlen mußte: "Ein Wort Napoleons [...]: 'J'aime le pouvoir, moi; mais c'est en artiste que je l'aime ... Je l'aime comme un musicien aime son violon [...]."' (N 1886/87, 5/90; 12, 223)14 12
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Mémoires de Madame de Rémusat (1802 - 1808), publies avec une preface et de notes par son petit-fils Paul de Rémusat, 1880. Nietzsche wird vermutlich durch H. Taine auf die Memoiren aufmerksam, der sie in seinem Geschichtswerk über die Revolutionszeit mehrfach zitiert. 1879 erwähnt Nietzsche Taines Entstehung des modernen Frankreich in einer Lektüre-Aufstellung (N 1879, 39/8; 8, 577). Nietzsches ambivalente Haltung zur Französischen Revolution ist neuerdings treffend von U. Marti (Nietzsches Kritik der Französischen Revolution, 1990, 312 - 33S) beschrieben worden. Das Zitat stammt aus dem Tagebuch des Grafen Pierre-Louis Röderer, der u. a. Minister des Staatsrates unter Napoleon war. Die Werke Röderers (Œuvres du Comte P.-L. Röderer, hrsg. ν. Α. M. Röderer, 8 Bde., Paris 18S3) sind im Buchhandel nicht erschienen. H. Taine hatte aber Zugang zu ihnen und hat sie häufig zitiert. In der Entstehung des modernen Frankreich ist die erwähnte Stelle nicht zu finden, dafür aber eine ähnliche Aussage Napoleons gegenüber Röderer: "Meine Geliebte ist die Macht; ihre Erreichung hat mich zu viel gekostet,
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
Am exemplarischen Typ Napoleons festigt sich vor allem Nietzsches Einsicht in den Gegensatzcharakter der Macht. Macht ist dort, wo Spannung ertragen, gesteigert und in produktiven Akten abgeleitet werden kann. Dabei ist sie nicht "rein", ist keineswegs bloß von einem Motiv geleitet, gemeine und hohe Absichten sind oft nicht unterscheidbar. Ausgewogenheit zeigt sich allenfalls nach dem Sieg. Im Kampf ist sie von den zusammengespannten Widersprüchen gekennzeichnet, wirkt sie schroff, roh und kalt. Der Machtwille ist eine Bündelung auseinanderstrebender Triebe, und die Stärke besteht darin, nicht an ihnen zugrunde zu gehen. Selbstgestiftete Unruhe, Zwietracht, Mißtrauen sind Bedingungen der Überlegenheit. Auch verächtliche Schwächen werden tyrannisch übersteigert. Die weithin sichtbare äußere Macht der Großen kann immer auch als ein ungeheurer Umweg ihrer Eitelkeit betrachtet werden. Cäsar und Napoleon genügte es nicht, das Gefühl der Macht in sich zu genießen (N 1880, 4/197; 9, 149), sondern sie wollten "[v]on außen her" sich ihre Macht beweisen lassen (ebd., 4/196; 9, 149). Die "Macht sichtbar außer uns" bestimmt den "großen Gang" der Geschichte (ebd., 4/197; 9, 149); damit sind aber stets auch alle kleinen Eitelkeiten, Ängste und Hoffnungen eingemischt. Nietzsche erschließt sich Merkmale wie diese nicht durch eine politisch-historische Analyse großer Machtbeziehungen, sondern studiert sie an einem Individuum, am politisch-militärischen Genie, und achtet hier besonders auf dessen Beziehungen zu den Mitmenschen. Die imposante Macht ist für ihn stets die der "grossen Menschen", die ihre Zeit überspringen können, weil in ihnen ein "Erbe einer stärkeren, längeren, älteren Civilisation" wirksam ist (GD, Streift.. 44; 6, 145). Damit ist aber auch schon klar, daß die Ausnahmeexistenz kein Randphänomen darstellt. An ihr lassen sich vielmehr die Wesenszüge der Macht exemplarisch erkennen. Folglich scheut Nietzsche sich auch nicht, aus der Beobachtung der einzigartigen Kometenexistenz Napoleons generelle Schlüsse für die Macht als ganze zu ziehen. Solche Schlüsse treten dann ganz plötzlich und mit kaum überbietbarer Allgemeinheit auf: "Macht Widersprechen Grundlagen der Logik. Α > < Β Ergebung Zustimmen A = A die Macht drängt, Verschiedenheit anzuerkennen die Ergebung will Gleichheit setzen." (N 1880, 6/49; 9, 205) Die nachfolgenden Erläuterungen dieser Transformation einer Machtbedingung in die Sprache der Logik machen deutlich, daß Nietzsche den Ursprung von Kraft und Lust generell in der Entgegensetzung, nicht in der Ähnlichkeit vermutet (ebd., 6/50; 9, 206). In der als daß ich sie mir rauben lassen oder auch nur einen Mitbewerber dulden sollte." (An Röderer am 4. 11. 1804; H. Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 3, 1, 1877, 65) G. Campioni hat in seinen Beiträgen zur Quellenforschung (1990, 531 - 538, 534) eine abweichende Datierung mitgeteilt: Danach fiel das Wort gegenüber Röderer am 2. 2. 1809 und wurde von Taine am 15. 2. 1887 unter dem Titel Napoléon Bonaparte in der Revue des deux mondes (ebd., 752) publiziert.
2. Napoleon als Beispiel
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"Überwindung von Widerständen" liegt der "Reiz der Macht" und damit der ursprüngliche Antrieb des Lebens, wie Nietzsche immer wieder an großen künstlerischen Leistungen, aber auch an der Mobilisierung von Kräften überhaupt oder an der Funktion der Geschlechtlichkeit darzutun versucht (ebd., 6/53-57; 9, 206 f.). Das Machtgefuhl entsteht generell in der Entladung einer Spannung, es ist die Abreaktion einer "tiefe[n] Gereiztheit des ganzen Organismus, welcher fortwährend Rache nehmen will" (ebd., 6/53; 9, 206). Zugleich ist es Ausdruck "tiefer Empfindungen", die erst im Kampf "gegen ihre Gegensätze" zu vollem Bewußtsein kommen (ebd., 6/58; 9, 207). In dieser Erläuterung tritt auch eine über den Gegensatzcharakter vermittelte Gemeinsamkeit zwischen Macht und Individuum hervor, durch die sich Nietzsche methodisch gerechtfertigt sehen könnte, wenn es ihm auf die Rechtfertigung seiner Methode ankäme. Man kann diese vorausgesetzte Entsprechung von Macht und Individuum jedoch als undurchschaute Konsequenz seiner individualitätsbezogenen Machtanalyse zurückweisen: Wo die Gegenkräfte versiegen, ist nicht nur der Niedergang einer Macht zu erwarten, sondern da erreicht auch das Individuum überhaupt ein "sublimes Minimum". Das Individuum erhält sich "als individuum" nach Nietzsche allein in "feindseligen Tendenzen und Spannungen" (ebd., 208). Läßt der Widerspruch nach, versiegt auch die Sprache bald. Wichtiger aber als die Frage, ob sich aus der Verquickung von Individuum und Macht ein methodischer Einwand gegen Nietzsche ableiten läßt, ist die Tatsache dieser Verbindung selbst. Höchste Macht ist im höchsten Individuum und umgekehrt. Die Macht wird nach Maßgabe des Individuums begriffen, und das Individuum zeigt sich als Individuum in nichts anderem als in seiner Macht. "Individuum" und "Herrscher" sind synonym (ebd., 6/23; 9, 198). Ihre Einheit gewinnen beide in Gegensätzen, d. h. in Abgrenzung, Abwehr, Widerspruch und freilich darin, daß sie die von ihnen selbst erzeugten oder mitverursachten Spannungen auch aushalten. Wenn schon die Erfahrung der mechanischen Kraft an ein " Widerstandsgefühl" (N 1885/86, 2/69; 12, 92) gebunden ist, dann ist das Bewußtsein der Macht erst recht auf Opposition angewiesen. Das Widerstreben ist nicht nur die "Form der Kraft" (N 1881, 11/303; 9, 558), sondern auch die Form der Macht. "Es muß das Gefühl des Widerstandes, Druckes dabei sein." (N 1884, 27/24; 11, 281) Dem entspricht auf der anderen Seite die "Entwicklung zum Individuellen". Sie geht mit der Ausbildung von Gegensätzen einher und fallt mit einem Wachstum an Stärke zusammen (N 1880, 6/163; 9, 238). Unter dem Schirm der "Identität des einen Menschen mit dem anderen" verfallen die menschlichen Kräfte überhaupt (ebd., 6/162; 9, 238). Erst im Gegensatz wird Macht erfahren, und in dieser Erfahrung liegt die Behauptung einer Einheit gegen anderes. Die behauptete Einheit ist vom Ursprungserlebnis der Macht nicht zu trennen. Somit gehören Macht- und Individualitätsgefiihl ursprünglich zusammen. Welche Rolle dieser Gefühlskomplex bei der Konstitution des von ihm begleiteten Phänomens spielt, wird später zu erörtern sein; offen muß zunächst auch bleiben, wie sich die
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
tragende Funktion der Individuation mit Nietzsches Kritik am Individuum verträgt. Der Gegensatzcharakter der Macht aber hat den Rang einer Tatsache. Dabei ist nicht allein das Verhältnis der Macht zu den umgebenden Bedingungen durch Gegensatz bestimmt, sondern auch das Selbstverhältnis der Macht ist durch die Unruhe immer wieder neu entstehender Oppositionen geprägt. Am Beispiel Napoleons entdeckt Nietzsche die tiefen Widersprüche, aus denen heraus dieser Mächtige stets von neuem zu seiner Einheit finden muß. Seine Seele, die "große Gefühle" gar nicht kannte, hatte die Fähigkeit, sich von ihren Schwächen abzuwenden und sich im Erfolg zu vergrößern (ebd., 6/26; 9, 199). Auch von Napoleon kann man sagen, daß er den "höchste[n] Grad von Individualität" erreicht, indem er "in der höchsten Anarchie sein Reich gründet" - erst als Kaiser, dann als Einsiedler, Herrscher gleichermaßen über andere wie über sich selbst (ebd., 6/60; 9, 209). Organisierendes Prinzip hinter dieser elementaren Machtbegabung ist der Egoismus, den Nietzsche in dieser Zeit erneut, aber entschiedener und prinzipieller als früher dem Altruismus entgegenstellt. Die "Herrschaft des Altruismus" richtet in seinen Augen "die Menschheit zu Grunde" (ebd., 6/74; 9, 214), dagegen wird ein Höhepunkt dort erreicht, wo ein Individuum den Befehl durchsetzt, bei allem "immer von mir, immer von mir zu sprechen" (ebd., 6/73; 9, 214).
3. Paulus als Gegentyp Die Abgrenzung von Egoismus und Altruismus verschärft sich auch mit der Betrachtung des Gegentyps, der exemplarischen Gegenfigur zu Caesar und Napoleon, die gleichwohl als Repräsentantin der Macht verstanden werden muß. Eben darin, daß Nietzsche nunmehr beginnt, die gegensätzlichen Typen gleichermaßen auf das Machtstreben zurückzuführen, liegt das Neue dieser Periode. Die Oppositionsfigur ist der Apostel Paulus. Auch hier vermittelt eine Lektüre genauere Anschauung und liefert ein exegetisches Schema. Auf Empfehlung von Overbeck liest Nietzsche Hermann Lüdemanns Studie über die vier Hauptbriefe des Apostels15 und lernt kennen, wie die philologisch-theologische Forschung versucht, die Eigenständigkeit der Paulinischen Lehre nachzuweisen. Die von Paulus verkündete christliche Botschaft erscheint als Ausdruck persönlicher Erfahrungen des Menschen Paulus.16 Es ist also weniger Christus, der hier spricht, als Paulus selbst. Lüdemann zeigt, daß die "An13
16
H. Lüdemann, Die Anthropologie des Apostels Paulus, 1872. Vgl. dazu: J. Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten (1974), 1980, 288 - 322. Zu ergänzen wäre, daß der Begriff "sarx" nicht erst, wie Salaquarda betont (ebd., 302), von Nietzsche, sondern bereits von Lüdemann mit "Fleischlichkeit'' übersetzt wird (vgl. Lüdemann, ebd., 49). Ebd., 1 u. 110 ff.
3. Paulus als Gegentyp
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thropologie" des Apostels aus jüdischen und hellenistischen Elementen zusammengesetzt ist. Jüdischer Tradition entstamme, daß die "Leiblichkeit" (σώμα) des Menschen noch als konstitutiv für dessen Existenz angesehen werde, obgleich die "Fleischlichkeit" (σάρξ) bereits als Gegensatz des Geistes (νούς) behauptet und nicht mehr zum Wesen des Menschen gerechnet wird. In dieser Opposition zeige sich der platonisch-hellenistische Einfluß, aber er dringe eben nicht völlig durch. Der absolute Dualismus finde sich nicht im Menschen, sondern erst zwischen der Fleischlichkeit ("sarx-Materie") und dem Geist Gottes {τνάμα. 0eoû).17 Nietzsche übernimmt die These von der hellenistisch konzipierten Akkomodation der christlichen Botschaft an die altjüdische Vorstellung von der Herrschaft des Gesetzes, interessiert sich vorrangig für die Konsequenz, nämlich die Gleichsetzung von "Sünde" und "Fleisch". Der Preis für die wiederhergestellte Verbindung zwischen dem mosaischen Gott und dem ursprünglichen Christus-Gott ist die im spätgriechischen Denken verbreitete Verurteilung alles Sinnlichen. Nietzsche notiert in seinem Exzerpt: "Nach Philo ist Sünde: die bewußte Hingebung des νούς an die böse Qualität des Körperlichen - das ist griechisch. 'Das Fleisch muß entfernt werden' Paulus." (N 1880, 4/164; 9, 142) Die Radikalität der paulinischen Briefe liegt für ihn darin, daß sie Fleisch und Sünde in jeder Hinsicht gleichsetzen und damit schließlich im Leib das Böse schlechthin ansiedeln. Hinter dieser theologischen Abwertung der "Fleischlichkeit" glaubt Nietzsche nun nichts anderes als die Sublimierung eines individuellen Ekels zu entdecken. Mit seiner Lehre wehre Paulus nur den Widerwillen ab, den er gegenüber seinem früheren Lebenswandel empfmdet. Letztlich wolle er nur eine "Schuld ab[]tragen" (ebd., 4/171; 9, 144). Mit dem religiösen "Fanatismus" hat er ein "Mittel gegen den Ekel an sich" (ebd., 4/170; 9, 144) und damit ein ganz auf seine eigenen Bedingungen zugeschnittenes Machtinstrument. Auf diese Weise kann Paulus "aus dem Gefühl der Ohnmacht in das der Macht" übergehen - "sehr lustvoll", wie Nietzsche betont (ebd., 4/177; 9, 145). An dieser Entlarvung des Apostels wird die zuvor in dieser Klarheit nicht geäußerte Einsicht in die Genese der Macht aus der Ohnmacht demonstriert. Dabei ist die Prämisse leitend, daß die Menschen "[z]u allen Zeiten [...] darnach gestrebt [haben], zum Gefühl der Macht zu kommen: die Mittel dazu, welche sie erfanden, sind fast die Geschichte der Cultur" (ebd., 4/184; 9, 147). Das Streben nach Macht - oder genauer: nach Machtgefühl steht hinter allen menschlichen Handlungen, auch und gerade hinter jenen, die programmatisch auf Macht verzichten. Eben dies lehrt das Beispiel des Paulus, der nach Lüdemanns Darstellung vor allem durch die Einsicht ausgezeichnet ist, daß sündigen Ansprüchen der Fleischlichkeit nicht, wie er es als Jude gelernt hat, mit Gesetzeszwang zu begegnen ist. 17
Ebd., 49. Zur Darstellung der Positionen des jüdischen und platonisch-hellenistischen Denkens vgl. 27 f. Die besondere Rolle von Philo, den Nietzsche in seinen Notizen erwähnt, wird bei Lüdemann S. 25 behandelt. Die Gleichung zwischen Sünde und Fleischlichkeit wird ab S. S3 entwickelt.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
Denn in der asketischen Abwehr entwickelt das Fleisch erst seine όύναμις, wie es bei Lüdemann heißt.18 Paulus vertritt keine asketische Lehre. Für ihn liegt im Kreuzestod Christi der Sieg über das Fleisch. Deshalb ist alles auf die Vereinigung mit Christus (als "δύναμις Οίου") gerichtet.19 Die Abwehr des Fleisches steht ganz im Zeichen der Erlösung. Nietzsche deutet sie als fanatischen Anspruch, vom Leben loszukommen; die Abwehr ist wesentlich darauf gerichtet, mit der Ohnmacht der Verzweiflung auch die Schwäche der Unterlegenheit zu überwinden. Paulus' Verzicht auf weltliche Güter ist keine Absage an die Macht als solche, denn gerade auf die Rückgewinnung der Macht sind alle missionarischen Anstrengungen gerichtet: "Überhaupt jede starke missionirende todbereite märtyrerhafte Existenz ist ein Mittel gegen moralische Desperation: d . h . Wiederherstellung eines ungeheuren Hochmuthes, der Sprung von der Tiefe in die Höhe." (ebd., 4/165; 9, 143) "[R]eligiöse[] Verzückungen" (ebd., 4/173; 9, 145), "Askese" (ebd., 4/175; 9, 145), alle gesuchte "Demüthigung" (ebd., 4/177; 9, 145), "moralische Einschränkung" (ebd., 4/187; 9, 147) und die tausendfältigen Bemühungen, sich in Familie, Gemeinde, Staat und Wissenschaft einzuordnen (ebd., 4/176 u. 183; 9, 145 u. 146), bis hin zu dem "besondere[n] Kunstgriff, im Sterben [zu] siegen" (ebd., 4/187; 9, 147), dienen alle der Steigerung des Machtgefühls. Ob im Verhältnis "1) gegen uns selber 2) gegen Menschen 3) gegen Vorstellungen 4) gegen eingebildete Wesen und Dinge" (ebd., 4/179; 9, 146), stets geht es um das Überlegenheitsgeflihl im Machtgewinn, um die Erfahrung von Dominanz und Bestimmung. So kann selbst noch der Sklave im geheimen religiösen "Hochmuth" sein Machtverlangen stillen (ebd., 4/177; 9, 145). Mit diesen dem Leben und Wirken des Apostels abgewonnenen Überlegungen macht Nietzsche verständlicher, wie er die beiläufig behauptete Universalität des menschlichen Machtstrebens versteht. Machtstreben äußert sich überall dort, wo überhaupt die Verfügung über etwas intendiert ist. Dabei sind Herrschaft über sich selbst und über andere nicht strikt getrennt, weil das Ich (bzw. das Selbst) keine gegebene Einheit darstellt, sondern als ein Bündel heterogener Antriebe anzusehen ist, das seine relative Einheit erst durch eine Bestimmung nach Art einer Beherrschung gewinnt. Das Beherrschte ist dabei immer dem Beherrschenden "äußerlich", obgleich sie beide zusammen das Innere der Herrschaft bilden. Immerhin verweist die beinahe terminologische Beharrlichkeit in der Rede vom "Machtgefühl" auf eine erlebende Einheit, die sich auch als tätige Einheit verstehen lassen muß, wenn das Gefühl Begleiterscheinung einer Wirkung ist, die irgendwie mit dem erlebenden Subjekt verknüpft ist. Schon die Umständlichkeit der Beschreibung zeigt an, daß mit der 18 19
Ebd., 143. Ebd., 139. Auf die hier sichtbar werdenden Ansätze zur Konzeption des "asketischen Ideals" kann nicht eingegangen werden. Für unseren Zusammenhang ist erwähnenswert, daß Lüdemann im Anschluß an 1. Kor. 1, 24 Christus als όύναμις Seoü auslegt und sich auf den Brief an die Galater (3, S) beruft, in dem der von Gott in den Menschen kommende Geist die Macht Gottes unter die Menschen bringt: "Ist das πικυμα im Menschen, ist er wirklich πνευματικός, so fvtpyti ò θεός όυνάμεις ff αϋτφ" (ebd., 140). In 1. Kor. 1, 24 heißt es wörtlich: Χριστόν θ(ού δύναμιν; in Gal. 3, 5: ivepyoiv δυνάμεις év ίιμϊν, é£ ϊργων νόμου.
4. Zwischen Ressentiment und amor fati
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Frage nach dem Subjekt der Macht schwieriges Gelände betreten wird. "Also Anderen wehe thun, um sich dadurch wehe zu thun, um damit wiederum über sich und sein Mitleiden zu triumphiren und in der äussersten Macht zu schwelgen! - Verzeihung für die Ausschweifung im Nachdenken über Alles, was in der seelischen Ausschweifung des Machtgelüstes auf Erden schon möglich gewesen sein kann!" (M 113; 3, 104) Hier gereicht die Schwierigkeit der Beschreibung zunächst zum Vorteil, weil sie sehr anschaulich macht, wie ubiquitär das Phänomen der Macht tatsächlich ist. Nietzsche sieht es überall dort, wo wirkende und empfindende Einheiten angenommen werden können. Und für diese liegt Macht in allen ihren Beziehungen zu sich und zu anderen, seien dies nun wirklich existierende oder bloß vorgestellte Einheiten oder überhaupt nur etwas, dem man sich unterworfen und unterlegen fühlen kann. Alle diese Beziehungen sind durch Macht definiert, und in ihnen waltet ein unerbittliches Entweder-Oder: Entweder die eigene Macht herrscht oder die der anderen. Die einzige Ausnahme, das rechtskonstitutive Machtgleichgewicht, ist durch ein wechselseitiges Über- und Unterordnen bestimmt. Es bietet allen Beteiligten einen Zuwachs an Machtgefiihl, weil sie gemeinsam einen Zustand herstellen, um daraus, wenn auch nicht in gleicher Weise, jeweils ihren Vorteil zu ziehen. Jede Relation zwischen einer empfindenden Wirkungseinheit und ihrer Welt ist als eine Machtbeziehung interpretierbar, und innerhalb dieser Beziehung läßt sich jede Bewegung als Streben nach Überlegenheit verstehen. Dies wird nirgends deutlicher als an Paulus, der selbst noch das Sterben als möglichen Machtgewinn vorstellt, ja als den höchsten Triumph des Menschen über die Sünde.20
4. Zwischen Ressentiment und amor fati Mit der exemplarischen Betrachtung der Macht am Beispiel des frühchristlichen Apostels wird eine Unterscheidung vorbereitet, die später eine bedeutende Funktion übernehmen wird: Es ist die Abgrenzung zwischen dem schwachen und dem starken Willen.21 Daß der Machthaber vom Typus Caesars oder Napoleons einen starken Willen repräsentiert, versteht sich von selbst. Sobald aber auch die Gegenñguren, die der weltlichen Macht entsagenden Menschen, den Mächtigen zugerechnet werden, entsteht die Notwendigkeit einer Differenzierung. Der bis zum schärfsten Gegensatz ausdeutbare Unterschied in der Auswahl der Machtziele und -mittel muß zu einem begrifflichen Ausdruck kommen, so sehr beide Seiten letztlich auch im Machtstreben ihre Gemeinsamkeit haben mögen. 20 21
In der Auferstehung "wird der letzte Feind, der θάνατος, besiegt sein (1 Cor. 15, 26)" (ebd., 150). Die Unterscheidung zwischen dem schwachen und dem starken Willen ist in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung bereits vorgebildet und findet sich auch in Menschliches, Allzumenschliches und Morgenröthe mehrfach. Aber sie wird erst in dem Augenblick systematisch tragfähig, in welchem das Machtpotential der Schwachen erkannt ist.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
Hinweise auf die sich anbahnende Unterscheidung enthalten zwei Notizen im Umfeld der Paulus-Exzerpte. In der einen wird das bei dem Apostel beobachtete religiöse Verlangen durch die analog zu deutende Neigung bei Sklaven illustriert (N 1880, 4/177; 9, 145); in der anderen wird auf die Opposition von Furcht und Machtgefühl zurückgegriffen, um aus ihr die Differenz zwischen "pessimistischefn] oder optimistische[n] Systeme[n]" abzuleiten (ebd., 4/194; 9, 148). Beide Elemente finden sich später in den Umschreibungen des schwachen und starken Willens wieder, man denke nur an die Kampfbegriffe "Sklavenmoral" und "Herrenmoral" oder an die typologische Differenz zwischen dem übelwollenden Ressentiment und dem weltbejahenden amor fati. Es ist in dieser Perspektive nicht überraschend, wenn in Nietzsches Notizen die fragmentarischen Andeutungen des Ressentiment-Theorems zeitgleich mit den Vorboten des amor fati auftreten. Im Herbst 1880 ist verschiedentlich von dem "ungeheure[n] Mißtrauen" (N 1880, 7/1; 9, 317), dem "Niedrigkeitsgeföhl" (ebd., 7/3; 9, 317) oder von der "Entsagung des Herrschsüchtigen, dem nichts zu beherrschen gegeben ist als sich selber" (ebd., 7/13; 9, 319), die Rede; die Elemente des Ressentimentgefühls sind versammelt, es fehlt nur noch der Name.22 In der Nachbarschaft dieser Einsichten in ein psychologisches Grundverhalten kündigen sich aber die Maximen der Gegensteuerung an: "Keine falsche Notwendigkeit annehmen - das hieße sich unnützer Weise unterwerfen und wäre sklavisch - daher Erkenntniß der Natur! - Aber dann nichts gegen die Notwendigkeit wollenV (ebd., 7/71; 9, 331), oder an anderer Stelle: "Das 'du mußt' in ein 'du sollst' umzuempfinden - ist das Kunststück! " (ebd., 7/48; 9, 327) Denken wir uns diesen potenzierten Imperativ nicht mit dem Verstand, sondern mit der von Nietzsche geforderten Leidenschaft befolgt, dann fehlt auch hier nur noch der passende Begriff. Angeregt durch die Lektüre Stendhals, experimentiert er bereits damit, den Begriff der Liebe symbolisch zu nehmen (ebd., 7/160; 9, 350). Im Herbst 1881 stellt sich dann auch der Begriff des amor fati ein. Ein weiteres Vorzeichen der Unterscheidung zwischen starkem und schwachem Willen ist in der Gegenüberstellung von Gehorchen und Befehlen zu sehen, die Nietzsche im Sommer 1880 glaubt, noch fest mit der Opposition zwischen "Sklave" und "stolze[r] Natur[]" verbinden zu können (N 1880, 4/111 ; 9, 128). Wenn er ein Jahr später dem "Heerdentrieb" den Egoismus abspricht (N 1881, 11/193; 9, 518), dann wird er ihm gewiß auch die Fähigkeit zum Befehl bestreiten. Der Schwache kann allenfalls gehorchen, während der Befehl vom starken Individuum ausgeht. "Gehorsam Funktionsgefühl Schwächegefühl" bilden einen Die Grundfigur dessen, was später dann "Ressentiment" genannt wird, ist bei Nietzsche schon früh (z. B. 4. UB 2) entwickelt, bekommt aber erst zur Zarathustra-Zeit ihren klaren Ausdruck (dazu: W. Müller-Lauter, Der Geist der Rache und die ewige Wiederkehr, 1981, 92 - 113, 103 f.). - Zu diesem Komplex muß auf E. Dühring verwiesen werden: "Die Conception des Rechts und mit ihr alle besonderen Rechtsbegriffe haben ihren letzten Grund in dem Vergeltungstriebe, der in seiner höchsten Steigerung Rache heißt. Das Rechtsgefühl ist wesentlich ein Ressentiment, eine reactive Empfindung [...]" (Der Werth des Lebens, 1865, 219).
4. Zwischen Ressentiment und amor fati
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Komplex (ebd., 11/199; 9, 521). Im großen und ganzen bleibt diese Zuordnung zwar später bestehen, doch sie wird durch die immer wieder hervorgehobene psychisch-soziale Einheit von Befehl und Gehorsam unterlaufen. Eine früh erkannte Gemeinsamkeit der starken und der schwachen Naturen dürfte in der "Machtlüsternheit" zu suchen sein, auf die Nietzsche von Stendhal gestoßen wird (N 1880, 7/161; 9, 350). Noch ist er nicht sicher, ob die erzwungene Mitempfindung Strafe oder Lohn des Machtlüsternen ist. Die Antwort wird später davon abhängen, ob hinter dieser Art von Lüsternheit ein starker oder schwacher Wille steht. Erst von 1883 an zieht Nietzsche grundsätzliche Konsequenzen aus der Kontraposition von starkem und schwachem Willen. In einer vorbereitenden Notiz zu Jenseits von Gut und Böse stellt er "Herren-Moral" und "Sklaven-Moral" als die "zwei Grundtypen" vor, die er in allen Moralen und in allen Menschen wiederfand (N 1883, 7/22; 10, 245 f.). So ernst seine Betonung der steten Mischung beider Typen zu nehmen ist, so sicher ist ihre ursprüngliche Zuordnung zu Napoleon einerseits und Paulus andererseits. An ihrem Beispiel gewinnt er die Einsicht in die Grundcharaktere der Macht und deren fundierende Einheit, die ermöglicht, auch die extremen Gegensätze der Machtäußerung noch aus einem Antrieb zu begreifen. Da der Apostel Paulus in Lüdemanns Buch und in Nietzsches Exzerpten als Wegbereiter einer eigenen Lehre und somit in einem gewissen Kontrast zur Botschaft Jesu begegnet, läßt sich Jesus noch in die Parallele zu den cäsarischen Gestalten einbeziehen. Zumindest im Hinblick auf die "egoistischen Motive" sieht Nietzsche zwischen Napoleon und Christus keinen Unterschied (N 1880, 4/109; 9, 128). Jesus gilt ihm, und das ist eine Auszeichnung, die nur Individuen gebührt (N 1881, 11/193; 9, 517 f.), als "großer Egoist" (ebd., 11/283; 9, 550).23 In ihm sieht er, ganz ähnlich wie in Paulus, eine der höchsten Erfindungen des jüdischen Geistes (N 1880, 3/103 f.; 9, 75 f.). Dies ist hier nur erwähnenswert, weil dadurch der Zusammenhang sichtbar wird, in dem die Figur des Paulus Interesse auf sich zieht. Mit dem Übergang in die achtziger Jahre verstärkt sich Nietzsches Aufmerksamkeit gegenüber dem Christentum beträchtlich. Seine Einwände werden nachdrücklicher, schneidender und lassen zuweilen schon die Verletztheit erkennen, die der schrillen Polemik des Antichrist erst ihr Gewicht verleiht. Die Beschäftigung mit Paulus kommt also nicht von ungefähr; Nietzsche ist bemüht, die psychologische Entlarvung des Mitleids auch auf geschichtlich-gesellschaftliche Bewegungen auszuweiten. Indem er nach den großen Motivlagen für die Entstehung des Glaubens an die Moral (und damit auch des Glaubens an die Wahrheit) fragt, interessieren ihn historisch-soziale Konstellationen, freilich unter dem Primat seiner psychologischen Methode. Die Diagnostik der Herdenmoral, die der erwähnten Sklavenmoral in der Sache entspricht, obgleich sie in der 23
W. Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, 1971, 85 ff.; J. Salaquarda, Dionysos gegen den Gekreuzigten, 1980, 288 - 322, 291 f.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
Bezeichnung die Bosheit hinzufügt, daß noch nicht einmal von einer menschlichen Verhaltensweise die Rede sein könne, ist das eine Ergebnis der in die Geschichte verlängerten psychologischen Fragestellung. Das andere steckt in der These vom Tode Gottes. Der historische Kern dieser These ist offensichtlich, zumal die Behauptung des nunmehr bevorstehenden universellen Sinnverlusts mit der Aufklärung über seine weltgeschichtlichen Ursachen verbunden ist. Die christliche Radikalisierung des moralisch fundierten Wahrheitsanspruchs steht hinter dem Gottesmord: "[D]er Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christenthum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung." (N 1885/86, 2/127; 12, 125 f.) Dieser Hinweis könnte genügen, um die Verbindung zwischen der Entwicklung des Machtdenkens und dem Themenkomplex der Umwertung kenntlich zu machen. Die Kritik am Christentum und die Diagnose von Nihilismus und décadence gehören in den Erwartungshorizont der Umwertung, in dem sich Nietzsche bereits bei seinem Umgang mit dem Apostel Paulus bewegt. Aber es gibt auch eine direkte Linie vom Machtkonzept zur Umwertung der Werte: Die Macht selbst erweist sich als das Prinzip iterativer Destruktion und Konstruktion von Werten - eine Einsicht, die bei Nietzsche erst allmählich heranwächst. Sie ist das bedeutsamste theoretische Ereignis dieser Jahre und führt ins Zentrum des Willens zur Macht. Sie entsteht in der Kritik an der tragenden Funktion der Selbsterhaltung und setzt damit einen weiteren Trennungsstrich, den Nietzsche zwischen sich und der philosophischen und wissenschaftlichen Theoriebildung seiner Zeit benötigt. Durch diese Abgrenzung rückt er vor allem von Schopenhauer ab.24
5. Macht und Selbsterhaltung Nietzsche äußert schon Zweifel am Erklärungswert des Willens zum Leben, als er sich noch im Wirkungskreis Schopenhauers bewegt. Auch hier bestätigt sich, daß seine Gefolgschaft nie dogmatisch ist. In dem schon erwähnten Napoleon-Fragment von 1873/74 gilt ihm "Con24
Nietzsche will sich damit von Schopenhauer und gleichermaßen von den zeitgenössischen Theorien distanzieren. Welchen Akzent er damit setzt, läßt sich aber erst erkennen, wenn man sich vor Augen hält, daB der Steigerungsgedanke sowohl bei Schopenhauer wie auch bei Darwin mit dem Selbsterhaltungsprinzip verbunden ist: "Alles drängt und treibt zum Daseyn, wo möglich zum organischen, d. i. Leben, und danach zur möglichsten Steigerung desselben." (A. Schopenhauer, WWV 2, Kap. 28; 3, 399) Auf Darwins Stellung wird im folgenden näher eingegangen. Es kann hier nur erwähnt werden, daß "Steigerung" ein Prinzip ist, das bei fast allen von Nietzsche in diesem Zusammenhang gelesenen Autoren vorkommt, insbesondere bei Lange, Dühring und Emerson. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, daß es Nietzsche im wesentlichen um die Abwehr des Prinzips der Anpassung und damit um die Betonung der Priorität des Steigerungsprinzips geht. Auf diese Weise rückt er ein wesentliches Moment der Macht in den Vordergrund. Macht ist nicht auf Anpassung, sondern auf Durchsetzung aus.
S. Macht und Selbsterhaltung
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serviren um jeden Preis" als ein Zeichen von Schwäche (N 1873/74, 31/3; 7, 748). Doch unter dem Einfluß empirisch-psychologischer Theorien gibt er dem Daseinswillen eine fundierende Funktion und glaubt hinter allen menschlichen Bewegungen das "Vernunft-Räderwerk" der Selbsterhaltung zu erkennen (WS 33; 2, 565). Auffällig ist zwar eine starke Affinität dieser Funktion zur Notwehr (MA 1, 102; 2, 99; WS 33; 2, 564 ff.), eine Einschränkung auf diese Extremsituation des Lebens folgt daraus aber nicht. Selbsterhaltung ist in Nietzsches sogenannter positivistischer Phase nicht auf die Grenzverteidigung des Lebens beschränkt, sondern wirkt über den Egoismus bis in die höchsten Leistungen hinein. Eben diese Aufgipfelung des Daseinswillens zur Individualität großer kultureller und politischer Werke wird ihm im Übergang in die achtziger Jahre fraglich. Nichts Wesentliches an der historischen Größe läßt sich durch den Daseinswillen erklären; was ζ. B. Napoleon auszeichnet, ist gerade sein Überschuß an Lebenskraft. Mit der erneuten Hinwendung zum großen Individuum sieht sich Nietzsche genötigt, die Klammer zwischen Egoismus und Selbsterhaltung zu streichen. Egoismus wird zum Ausdruck eines entwickelten und gesteigerten Lebens, während der Wille zum Dasein nur mehr den Mechanismus der durchschnittlichen Existenz antreibt. Weder beruht alles auf Selbsterhaltung, noch ist alles egoistisch, wie es noch in Menschliches, Allzumenschliches geheißen hatte. Eine Aufspaltung der zuvor einheitlichen Grundfunktion des Lebens deutet sich an; trennscharfe Begriffe für die verschiedenen Antriebsmomente sind aber noch nicht gefunden. Offenbar gibt aber nicht die exemplarische Analyse der großen Macht den Ausschlag zur Kritik der Selbsterhaltung. Wenn sich überhaupt eine auslösende Bedingung nennen läßt, dann Nietzsches erhöhte Gereiztheit gegenüber teleologischen Modellen. Er entdeckt, daß die Selbsterhaltung nur dann etwas erklärt, wenn man sie einerseits als notwendig und andererseits als in sich selbst zweckmäßig ansieht. Der Rekurs auf die Selbsterhaltung setzt die Gewißheit eines Zieles voraus, und zwar die schon in der Geburt der Tragödie bezweifelte Gewißheit, daß sowohl das Dasein des einzelnen wie auch das der Gattung sinnvoll seien. Die "verkappte Teleologie" des Daseinswillens nimmt dem Begriff der Selbsterhaltung jeden Erklärungswert - ein Urteil, das Nietzsche durch ein logisches Argument zu fundieren sucht: "Was Dasein hat, kann nicht zum Dasein wollen; was kein Dasein hat, kann es auch nicht. Also giebt es keinen Willen zum Dasein. " Wenn schon der Wille auf das Dasein bezogen werden solle, dann müsse er sich auf ein längeres, höheres oder anderes Dasein richten (N 1880, 3/91; 9, 71). Nietzsche sieht genau, daß die Überzeugungskraft seines logischen Arguments auf einem dynamischen Verständnis des Willens beruht. Nur sofern der Wille a priori auf etwas bezogen ist, das noch nicht gegeben ist, nur wenn Wollen per se eine - wie auch immer geartete - Veränderung impliziert, ist der "Wille zum Dasein" ein sich selbst widersprechender Begriff. Folglich fügt Nietzsche seiner Schlußfigur eine Definition des Willens hinzu, die
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
ganz auf die dynamische Eigenart abgestellt ist. Diese Definition des Willens stellt in ihrer schulmäßigen Pünktlichkeit eine Rarität in seinen Schriften dar. Aber sie steht nicht im Gegensatz zum dort üblichen Wortgebrauch und stützt sich sowohl auf den Begriff des Wertes wie auf den der Macht: "Wille ist die Vorstellung eines werthgeschätzten Gegenstandes verbunden mit der Erwartung, daß wir uns seiner bemächtigen werden. " (ebd.) Von Bedeutung ist hier die analytische Bedingung einer Differenz zwischen Ausgangspunkt und Ziel des Willens, weil aus ihr die Unmöglichkeit eines Willens zum Dasein abgeleitet wird. Jeder Wille zielt als Wille über den im Wollen gegebenen Zustand hinaus. Deshalb kann er sich alles zum Ziel setzen, ausgenommen seinen eigenen Ausgangspunkt. Auch dort, wo der Wille sprachlich gar nicht auftaucht, sondern nur formal durch die Intentionalität einer Beziehung gegeben ist, bleibt die Kraft des logischen Einwandes bestehen: "[L]eben, um zu leben" (N 1880, 6/281; 9, 270) erscheint als eine nicht weniger "widersinnige Wörterzusammenstellung" als "Wille[] zum Dasein" (N 1880, 3/91; 9,71). Für Nietzsche ist das Argument unwiderruflich, obgleich es ja, wie er selbst leicht hätte sehen müssen, eine weitere Prämisse hat. Da zugegeben werden muß, daß weiteres Dasein ein begrifflich möglicher Zweck des Wollens ist, liegt die Frage auf der Hand, ob nicht jeder Daseinswille a priori Dzsemsverlängerung einschließt. Denn was will ich letztlich, wenn ich das Dasein will? Ich will einen drohenden Verlust vermeiden, will das im Augenblick des Wollens gegebene Dasein für einen späteren Zustand sichern, in welchem es vorab keineswegs als gegebenes sicher ist. Die grundsätzlich immer bestehende Gefährdung des Lebens macht es wenigstens nicht von vornherein sinnlos, von einem "Willen zum Leben" zu sprechen. Angesichts einer Bedrohung kann schon die Existenz im nächsten Augenblick als "werthgeschätzter Gegenstand" vorgestellt werden, den wir zu erreichen suchen und folglich auch "wollen". Soll Nietzsches Argument durch Erwägungen dieser Art nicht wertlos werden, wäre zu zeigen, daß auch in der Sicherung gefährdeten Daseins niemals bloßes Dasein gewollt wird, sondern stets ein Mehr des im Akt des Wollens gegebenen Daseins. In der Tat ist es möglich, aus Schriften und Nachlaß eine solche Auffassung zu extrahieren. Das Dasein gilt ihm lediglich als Bedingung der Wertungen, und die Wertungen sind es, durch welche das Leben sinnvoll erscheint. Folglich wird niemals das 'bloße Dasein' gewollt, sondern stets das, was es ermöglicht. Diese Möglichkeit ist a priori anders als die Wirklichkeit, von welcher der Wille ausgeht. Jeder Impuls des Lebens drängt über die bloße Existenz hinaus, zielt auf Äußerungen, Stärkung und Gestaltung des Gegebenen. Die originären Leistungen des Lebens liegen im "Schätzen" und "Werten", in Akten, die per se über Gegebenes steigen. Könnte man jedes Wollen als ein Werten und jedes Werten als ein Überschreiten erweisen, wie dies Zarathustra in der Rede "Von der Selbst-Ueberwindung" (Z II; 4, 146 ff.) beansprucht, dann ließe sich der Selbstwiderspruch im Lebenswillen beheben. "Dasein" und "Leben" schlössen
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in diesem Verständnis freilich stets mehr ein, als sie im Augenblick ihrer Bewegung sind. In den basalen Akten des Lebens würde zwar immer auch das Dasein gewollt, aber nur als eine Bedingung, die in Situationen extremer Wertsetzung des Willens sogar gleichgültig werden kann. Wie man weiß, hat Nietzsche sich auf diese terminologische Moderation nicht eingelassen. Unerbittlich wie ein Begriffsrealist läßt er den Lebenswillen am inneren Widerspruch zugrunde gehen: '"Willen zum Dasein': diesen Willen - giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! " (ebd., 148 f.) Die Analyse des Wollens - überspitzt könnte man sagen: die bloße Zergliederung eines Begriffs - führt ihn dann auf das, was hinter dem vermeintlichen Daseins willen wirksam ist: Da der "Wille" alles Lebendigen notwendigerweise auf etwas zielt, was noch nicht gegeben ist (denn wäre es gegeben, dann brauchte man nicht zu wollen), ist es notwendigerweise auf mehr gerichtet, als die gegebene Situation enthält. Der Wille als Ausdruck eines Mangels im Wirklichen drängt auf ein Mögliches, den Mangel zu decken, überschreitet also das bloß Wirkliche und bleibt doch prinzipiell auf Wirklichkeit und Wirksamkeit bezogen. Diese im Willen gewollte reale Möglichkeit, dynamis, wie es bald noch einmal heißt, nennt Nietzsche "Macht". Deshalb spricht Zarathustra: "Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern - so lehre ich's dich - Wille zur Macht! " Daß diese Lehre auf analytischem Wege gewonnen ist, verrät der darauf folgende Satz: "Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet - der Wille zur Macht!" (ebd., 149) - Doch der Hinweis auf Zarathustras Befreiung aus dem logischen Zirkel des Lebenswillens greift vor. 1881 ist noch keine "Lehre" vom Grundtrieb des Willens zur Macht entwickelt. Es gibt allerdings terminologische Vorboten, die über die Grundtendenz des Lebens aufklären: "Steigerung" und "Selbst-Überwindung" treten nun zunehmend als Grundcharaktere auf. In ihrem Zeichen wird verständlich, daß es das Leben ist, von dem Zarathustra seine Lehre erteilt bekommt. Schon Nietzsches erster massiver Einwand gegen das Selbsterhaltungstheorem läßt erkennen, daß er nicht allein Schopenhauer, sondern gleichermaßen Darwin und mit Darwin auch Mill, Spencer und viele andere im Visier hat. Zwar geht es ihm wesentlich um eine Überwindung der ethischen Hochschätzung des Lebens, wie er sie zum letzten Mal bei Schopenhauer vertreten sieht (N 1880, 1/82; 9, 25), doch es ist ihm eine Lust, den fortgeschrittenen und nüchternen, jenen allein auf die Empirie pochenden Wissenschaften seiner Zeit das "Stück Mythologie" vorzuhalten, das sie - in seinen Augen - mit dem Selbsterhaltungstrieb konservieren (N 1880, 3/149; 9, 95). Ja, mehr noch: Das, wovon die zeitgenössischen Theoretiker sprechen, gibt es gar nicht: "Es giebt keinen Selbsterhaltungstrieb [...] Es giebt auch keinen Trieb als Gattung fortexistiren zu wollen. Das ist alles Mythologie [...]" (N 1880, 6/145; 9, 234).
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
Für die Einschätzung von Nietzsches philosophischer Entwicklung ist es wichtig zu betonen, daß die Kritik der Selbsterhaltung ohne sichtbaren äußeren Anstoß auftritt. Mitten in einer intensivierten Beschäftigung mit psychologisch-soziologischer Literatur des vorausgehenden Jahrzehnts taucht der Einwand plötzlich auf, wird mit äußerster Schärfe formuliert und dann entschieden festgehalten. Zwar kann diese Wendung nicht wirklich überraschen, weil sie durch frühe Äußerungen bereits angedeutet ist; ja es läßt sich sogar vertreten, Nietzsche habe nunmehr zu dem früher im Rahmen seines ästhetischen Individualismus entwickelten Ansatz - jetzt in einer Reflexion auf die eigentlichen Triebkräfte des Lebens - zurückgefunden. Wie dem auch sei: Im Nachlaß des Jahres 1880 springt die Kritik ohne Ankündigung hervor, ohne daß man einen Mentor oder einen überleitenden Gedankengang ausmachen könnte. Der neu gewonnene kritische Gedanke steht dann aber mit der Gewißheit einer ständig präsenten Anschauung vor Augen. Zwar kann man auch hier sagen, daß Nietzsche in den folgenden Jahren nicht gänzlich auf die Erklärungsfunktion des bloßen Lebenstriebs verzichtet - die Reaktion schwacher Existenzen oder das Verhalten in Notwehrsituationen werden gelegentlich auf den Selbsterhaltungstrieb zurückgeführt. Doch zur Deutung der fundamentalen Lebensleistungen wird dieser Trieb hinfort nicht mehr herangezogen. Zur Beurteilung der entschlossenen Abkehr vom Daseinswillen gehört freilich auch Nietzsches Neigung, die nunmehr auf Distanz gebrachten Theorien auf das kritisierte Prinzip festzulegen. Denn weder bei Lange oder Spir noch bei Spencer oder Dühring, jenen Autoren also, über die Nietzsche mit Sicherheit Zugang zu Darwin hatte,25 noch bei Darwin selbst findet sich der Selbsterhaltungstrieb in der ihm zugeschriebenen Funktion. Er wird bei ihm weder so umfassend ausgelegt, wie Nietzsche dies im Anschluß an Schopenhauer tut, noch wird er so blutleer als überschußlose Bestandswahrung dargestellt. Darwin erklärt ausdrücklich, daß er "Dasein" (existence) nicht allein auf das Leben des Individuums bezieht, sondern auch auf den Erfolg in der Erhaltung der Gattung - success in leaving progeny. Das Kriterium des Erfolgs liegt in jedem Fall in der Vervollkommnung des Lebens: improvement of each creature durch advance of organisation.26 Von dieser Bestimmung läßt sich auch Spencer in seiner Darstellung der "Entwicklung des Handelns" leiten, wenn er die immer "grössere Vervollkommnung" im Aufstieg vom Wilden zum zivilisierten Menschen beschreibt oder wenn er die Funktion von Lust und Freude nicht nur in
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Nietzsche hat m. W. Darwin nicht selbst gelesen, kannte ihn aber vielfaltig aus der damaligen Literatur, so z. B. durch F. A. Lange, E. Dühring, W. Bagehot, A. Spir, F. v. Hellwald, L. Rütimeyer, H. Spencer sowie aus den von ihm gelesenen Bänden der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Kosmos (siehe dazu A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, 166 - 180; G. Hennemann, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1969, 490 - 501). C. Darwin, The Origin of Species, 1885, 50 u. 103 (siehe dazu F. Fellmann, Darwins Metaphern, 1977, 285 297, 293).
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der "Fortdauer", sondern in der "Steigerung des Lebens" sieht.27 Diesen Punkt unterschlägt selbst Eugen Dühring in seiner ressentimentgeladenen Kritik der "Fortschritts- und Vervollkommnungstheorie" nicht.28 Walter Bagehot, ein Autor, den Nietzsche schon 1874 zitiert, sieht den "Nutzen des Kampfes" in der Beschleunigung, die er in den Entwicklungsgang der Nationen bringt, und beruft sich dabei auf Darwin.29 Unabhängig von dieser Quelle sind bei Emerson Erhaltung und Steigerung des Lebens Effekte einer Triebkraft.30 Und wenn Nietzsche dies alles entgangen sein sollte, dann hätte er allein aus F. A. Langes souveräner Vorstellung der "Hypothese"(!) Darwins entnehmen können, daß der "Kampf ums Dasein" nicht um faktische Bestände geführt wird. Lange hatte schon in der ersten Auflage seiner Geschichte des Materialismus das Streben nach "Erhaltung und Vervollkommnung" als den wesentlichen Motor organischer Prozesse dargetan. In der zweiten Auflage hebt er durch gesperrten Satz hervor, daß es im Wettbewerb der Spezies um das "Maximum von Leben" gehe." Erst Nietzsche formalisiert den Selbsterhaltungstrieb zu einem Vermögen, das nichts will als sich selbst. Er ist es, der durch Abstraktionen das "Selbst" und das "Dasein" zu bewegungslosen Größen macht, und dem es dann ein Leichtes ist, dem konservierten Stillstand zu attestieren, daß sich nichts bewegt. In seiner Darstellung wird die Selbsterhaltung zum praktischen Selbstverhältnis eines Punktes. Er tut so, als habe Darwin argumentiert wie der eleatische Zenon, dem es durch endlose Zerlegung der lebendigen Bewegung in Einzelpunkte wenigstens gedanklich gelungen ist, den schnellfüßigen Achill mitten im Lauf zum Stehen zu bringen. Solchermaßen auf den Punkt gebracht, läßt sich die Selbsterhaltung mit Leichtigkeit ad absurdum führen, denn in der herausdestillierten metaphysischen Funktion setzt sie immer schon voraus, was sie erklären soll. In der von Nietzsche angesetzten Abstraktionshöhe findet sich dann schließlich die lebendige Bewegung nicht mehr, zu deren Verständnis das Theorem dienen soll. Er inszeniert den Gegensatz, um sein Interesse an einer dynami27
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H. Spencer, Die Tathsachen der Ethik, 1897, 13 u. 90 u. passim. - Die Akzentuierung des Steigerungsprinzips zur Abwehr des Prinzips der Anpassung ist Spencer gegenüber besonders angebracht. Nietzsche liest Spencers Buch in der hier zitierten Ausgabe in der ersten Hälfte des Jahres 1880. E. Dühring, Der Werth des Lebens, 1865, 159. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, daß Nietzsche in seinem Exzerpt dieses Buches bereits im Sommer 1875 diesen Passus paraphrasiert: "Nun könnte man einen Punkt setzen, wo keine Machtsteigerung mehr im Stande sei, einen gewissen Zustand [...]" usw. (N 1875, 9/1; 8, 169) Auf die von Dühring exponierte "Steigerung des Lebensgefühls" (Dühring, ebd., 162) geht Nietzsche nicht ein, macht aber die beiläufige Bemerkung, "daß Keuschheit eine der mächtigsten Förderungen der Lebensenergie ist" (N 1875, 9/1; 8, 169). Die spätere Abgrenzung gegenüber der Anpassung ist in Nietzsches "Schluss-Betrachtung" zur Lektüre von Dührings Werk angelegt: "Der Glaube an den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken. [...] Mir scheint aber umgekehrt viel sicherer, daß der Mensch gerade dann das Leben erträgt und an den Werth des Lebens glaubt, wenn er sich allein will und behauptet, nicht aus sich heraustritt: so daß alles Außerpersönliche nur wie ein schwacher Schatten bemerkbar ist." (ebd., 178 f.) W. Bagehot, Der Ursprung der Nationen, 1874, 49 ff. u. 224 ff. (zu Bagehot siehe: J. Salaquarda, Der unmögliche Shelley, 1979, 396 f.). Erinnert sei nur an Emersons These: "jedes Plus [ist] Gewinn" (Die Führung des Lebens, 1862, 47). F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, 1866, 401 ff.; 2. Aufl., Bd. 2, 1875, 699 ff.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
sehen Auffassung des Lebens zur besseren Wirkung zu bringen. Um die Steigerung als die elementare Lebensform zu profilieren, überläßt er der Selbsterhaltung nur noch die unproduktive Funktion der Sicherung des Status quo. Aber Darwin hat den survival of the fittest so nicht verstanden. Ihm fehlte überdies das metaphysische Interesse an der Bewegung, das man ihm unterschiebt, wenn man ihn in einem Atemzug mit Schopenhauer nennt. In Darwins Aufwertung zum metaphysischen Gegenspieler kommt allerdings das metaphysische Bedürfnis seines Kritikers deutlicher als anderswo und unbeschadet aller gegenteiligen Beteuerungen zum Vorschein: Nietzsches eigener Anspruch ist nur befriedigt, wenn seine Aussage in den Bereich der Metaphysik vorstößt - und sei es auch nur in destruktiver Absicht.
6. Spinozas Einfluß Eine wesentliche Verstärkung dieses Impulses ergibt sich in der Beschäftigung mit dem philosophischen System, das als erstes dem Erhaltungssatz metaphysischen Rang verliehen hat: In Spinozas monistischer Weltkonstruktion ist das Erhaltungsstreben die Wesenheit des Dinges selbst. Conatus sese conservarteli est ipsa rei essentia.32 Nietzsches Spinoza-Kenntnis ist lange Zeit nicht nennenswert. Seine gelegentlichen Bemerkungen über dessen geometrische Methode (N 1872/73, 19/47; 7, 434) und ethisch-metaphysische Toleranz (N 1875, 9/1; 8, 133) lassen auf keine eigene Beschäftigung schließen. Die Lektüre von African Spirs Denken und Wirklichkeit und die mit Gewißheit anzunehmenden Hinweise Paul Rées veranlassen kein eigenes Studium, geben aber dem durch Goethe und Schopenhauer schon positiv gestimmten Spinoza-Bild deutlichere Züge.34 Wann immer Nietzsche ein Beispiel für ein allein der Erkenntnis geopfertes, selbstgenügsames Leben geben möchte, kommt er auf die "reinsten Weisen" zu sprechen (MA 1, 475; 2, 310). Die Faszination durch die Person führt jedoch zu keiner eindringenden Beschäftigung mit deren Werk. Das ändert sich erst im Jahre 1881. In einem Brief an Overbeck vom 8. Juni bittet Nietzsche um Übersendung der Spinoza-Darstellung von Kuno Fischer. Er hat das Buch schon wenig später in den Händen und antwortet euphorisch: "Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! 32
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Spinoza, Ethik IV, Prop. XXII, Opera/Werke 2, 1967, 416. - Auch für Nietzsches Kritik an Spinozas Selbsterhaltungstheorem gilt die im Hinblick auf Schopenhauer und Darwin gemachte Einschränkung: "Nietzsche hat bei Spinoza [...] sogleich und zentral den Zusammenhang von Selbsterhaltung, Nutzen und Macht (potentia) im Blick. In Fischers Buch konnte ihm dabei nicht verborgen bleiben, daß es schon bei Spinoza nicht nur um bloßen Erhalt der Macht, sondern um deren Mehrung geht. Aber er legt Spinoza auf den Gedanken der Erhaltung fest." (G. Abel, Nietzsche contra "Selbsterhaltung", 1981/82, 367 - 407, 370 f.) Siehe dazu: P. D'Iorio, La superstition des philosophes critiques. Nietzsche et African Spir, 1993, 257 - 294. Dazu im einzelnen: W. S. Wurzer, Nietzsche und Spinoza, 1975, 38 ff.
6. Spinozas Einflufi
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Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht: daß mich jetzt nach ihm verlangte, war eine 'Instinkthandlung'." (Postkarte an Overbeck v. 30. 7. 1881; KSB 6, 111) Nun entdeckt er eine Übereinstimmung mit der "Gesamttendenz" ebenso wie in "fünf Hauptpunkten" ("er leugnet die Willensfreiheit - ; die Zwecke - ; die sittliche Weltordnung - ; das Unegoistische - ; das Böse - ; ") und glaubt sich aus der "Einsamkeit" zur "Zweisamkeit" befreit (ebd.). Fragt man, welche "Gesamttendenz" Kuno Fischer denn herausstellt, so stößt man auf die vernünftige Gottesliebe als den Kern des Systems: "Das System vollendet sich in der Erkenntnis, womit wir Gott lieben, in der Liebe, womit wir Gott erkennen. Substantia sive Deus sive natura - so lautet der erste Gedanke Spinozas. Amor Dei intellectualis sive cognito aeternae essentiae - so lautet der letzte. 1,35 Auf den ersten Blick scheint Nietzsche nichts ferner als eine solche Hauptabsicht. Ersetzt man aber einmal "amor Dei" durch amor fati und sieht man, daß Spinoza sowohl Gott wie auch Erkenntnis als Macht auslegt, dann leuchtet das auf der Postkarte übermittelte Entzücken sogleich ein. Die vor diesem Hintergrund ins Auge springende sachliche Beziehung zwischen beiden Denkern wird überdies durch eine zeitliche Korrespondenz gestützt: Die Konzeption des amor Dei gibt in den kritischen Sommer- und Herbstmonaten des Jahres 1881 in der Tat das Vorbild für den von Nietzsche neu geprägten Begriff des amor fati}6 Freilich wird, wenn der amor fati an die Stelle des amor Dei intellectualis tritt, die ungeheure Verschiedenheit, von der auf der Postkarte auch die Rede ist, deutlich. An die Stelle Gottes tritt nun ein übermächtiges Ganzes jenseits aller Vernunft. Das Schicksal ist ohne Einheit und ohne Ordnung. Aus Spinozas großer Gleichung Deus sive natura wird nun "Chaos sive natura" (N 1881, 11/197; 9, 519), was Nietzsche bezeichnenderweise nicht als "Entgöttlichung", sondern als "Entmenschlichung der Natur" versteht. Diese Übersetzung macht mit einem Schlage klar, was für ihn mit dem Tode Gottes eigentlich verloren ist. Es spricht auch hier für seine durch und durch historische Selbstauffassung, wenn er den gewaltigen Abstand von Spinoza aus dem "Unterschiede der Zeit, der Cultur, der Wissenschaft" zu erklären versucht (Postkarte an Overbeck v. 30. 7. 1881; KSB 6, 111). Die erhaltenen Exzerpte aus Fischers Monographie bestätigen Nietzsches Nähe zu den auf der Postkarte genannten fünf Hauptpunkten, insbesondere zur Kritik der Teleologie-, so wird z. B. die polemische Formel von der Teleologie als "asylum ignorantiae" gleich übernommen.37 Bemerkenswert ist ferner sein Interesse am Komplex des Willens, dem er, mit Spi35
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K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 2, 4. Aufl., 1897, 557. Nietzsche benutzte Bd. I, 2: Descartes' Schule. Geulinx. Malebranche. Baruch Spinoza, 2. völlig umgearbeitete Aufl., Heidelberg 1865. Dazu: K. Jaspers, Nietzsche, 1947, 363 - 367; F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, 116 - 130 u. 175. Außer den historischen Bezügen werden von Kaulbach zwei wesentliche Momente des amor fati herausgehoben: der sinnkonstitutive Charakter, aus welchem die "Sinn-Notwendigkeit" (ebd., 121) und die Nähe zum Dionysischen (ebd., 125) folgt. Spinoza, Ethik I, Appendix, Opera/Werke 2, 1967, 152; K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 2, 1897, 336: "Dieser Wille [der Wille Gottes, V. G.] ist aber den Menschen unerkennbar, und so bleibt der teleologischen Denkweise keine andere Zuflucht übrig als das 'asylum ignorantiae'."
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
noza, keine Freiheit zugesteht. Der beachtlichen Feststellung: "Der Wille ist das Vermögen zu bejahen und zu verneinen: nichts Anderes" (N 1881, 11/193; 9, 518), in der ja das ganze Problem der Freiheit steckt, geht er nicht nach. Dafür schenkt er der Beziehung zwischen Wille und Vermögen einige Aufmerksamkeit und notiert aus den Arnold Geulinx betreffenden Abschnitten des Fischerschen Geschichtswerks: "Mein Wille soll sich nicht weiter erstrecken als mein Vermögen. Ubi nihil vales, ibi nihil velis." (ebd., 11/194; 9, 158) Daß er dieses "Vermögen" aber nicht schon für den Inbegriff der Macht ansieht, wird wenig später deutlich, wenn er die "Grausamkeit des κράτος" explizit mit "Macht" übersetzt (ebd., 11/197; 9, 519). Die Vernunft als "unsere größte Macht", wie er sie bei Spinoza findet (ebd., 11/193; 9, 517), steckt in dieser gewaltsamen Macht (κράτος) nicht. Bei Spinoza könnte wohl auch intellectus sive potentia stehen; Nietzsche hätte hier als Parallele allenfalls Individuum sive potentia anzubieten. Doch die Macht wird in diesen ersten Exzerpten nicht weiter verfolgt. Sie bleibt auch hier ein Gegenstand der bloß indirekten Erkenntnis: Nietzsche achtet auf das, was sie trägt oder wirkt, aber nicht auf sie selbst. Vor dem Hintergrund der Kritik am Konzept der Selbsterhaltung stößt Spinozas Rückführung aller natürlichen Strebungen auf einen Grundtrieb, den conatus in suo esse perseverare, auf größtes Interesse. Nietzsche notiert den bei Kuno Fischer zitierten Satz: "Die Begierde ist das Wesen des Menschen selbst, nämlich das Streben, kraft dessen der Mensch in seinem Sein beharren will." (ebd.)38 - und richtet seine Aufmerksamkeit auf den in der SpinozaMonographie breit dargestellten Zusammenhang von Selbsterkaltung, Nutzen und Macht. Dabei hat er sogleich das Bedürfnis, eine Grenzlinie zwischen sich und seinem Autor zu ziehen: Er möchte den Menschen den Selbsterhaltungstrieb nicht von vornherein zusprechen, sondern ihn erst den zur Selbständigkeit gelangten Individuen zuerkennen. "Heerdentrieb", so heißt es, sei "älter als das 'Sich-selbst-erhalten-wollen'" (ebd., 518). Vor der individuellen Einverleibung allgemeiner Lebensfunktionen wirkt ein "Voregoismus" (ebd.) in den menschlichen Strebungen, der die ausschließliche Beziehung auf die eigene Erhaltung offenbar gar nicht aufkommen läßt. Man sieht, wie hoch Nietzsche den Egoismus schätzt, und wie er auch ihn als eine Folge natürlich-historischer Entwicklung ansieht. Selbsterhaltung gilt ihm als Phänomen, das in der Evolution des Menschen vergleichsweise spät auftritt - eine Auffassung, die auch deshalb interessant ist, weil sie implizit erkennen läßt, mit welcher Ausschließlichkeit die Selbsterhaltung nur dem Menschen zugerechnet wird. Nietzsche geht es hier einmal mehr um das Problem des menschlichen Handelns, genauer: um die in seiner Epoche gültigen Bedingungen menschlicher Aktivität. Während Spinozas Affektenlehre die Übertragung der conservatio sui auf alle lebendigen Wesen nahelegt und auch einer Ausweitung dieses Bewegungsprinzips auf alle natürlichen Dinge nichts in den Weg legt, sieht 38
Vgl. Spinoza, Ethik III, Prop. VI - IX, Opera/Werke 2, 1967, 272 ff.; K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 2, 4. Aufl., 1897, 438.
7. Vernunftkritik und naturwissenschaftliche Neugier
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Nietzsche darin das Motiv, das nur einem hoch entwickelten menschlichen Individuum zugesprochen werden kann. Zwar gibt er diese Beschränkung später wieder auf, aber sie zeigt doch, gerade weil er mit dieser Eingrenzung auch von Schopenhauer oder Darwin abweicht, wie stark ihn das genuin menschliche Handeln interessiert. Er sucht die Bedingungen und Ziele dessen, was in seiner Zeit als spezifisch menschliche Aktivität zu begreifen ist. Der sein Denken bestimmende Primat der Praxis, d. h. sein Ausgangspunkt bei der menschlichen Tätigkeit, wird sichtbar. In späteren Bewertungen avanciert Spinoza zum Theoretiker der Selbsterhaltung par excellence, von dem Nietzsche sich mit aller Entschiedenheit abgrenzen kann: "Der Satz des Spinoza von der Selbsterhaltung [...] ist falsch, das Gegentheil ist wahr." (N 1888, 14/121; 13, 301) Darin zeigt sich Nietzsches Bedürfnis nach einer adäquaten Konstellation für seine theoretische Gegnerschaft. Gemessen an der metaphysischen Reichweite der Opposition bietet Darwin in der Tat zu wenig, und auch Schopenhauer erlaubt nicht, die Distanz in der gewünschten Deutlichkeit herauszustellen. Schließlich geht es darum, die Bindung der Selbsterhaltung an Teleologie und Vernunft zu entschleiern und sie damit als Prinzip universellen Stillstands bloßzustellen. Daß Nietzsche mit dieser Auslegung seine Kontrahenten auf ein formales Verständnis des Daseinswillens festlegt, wurde schon betont. Dies gilt auch für seine Spinoza-Interpretation; er überliest ganz offenkundig jene Stellen, an denen Kuno Fischer den dynamischen Charakter der conservatio sui betont.39 Doch Spinozas Ethik kommt ihm in ihrer metaphysischen Anlage des Selbsterhaltungstheorems entgegen; hier ist es in der Tat zum Prinzip aller lebendigen Bewegung erhoben und direkt mit der Vernunft, mit Gott und Natur, verbunden.
7. Vernunftkritik und naturwissenschaftliche Neugier Die Kritik an der Konzeption der Vernunft ist denn auch, trotz der euphorischen Zustimmung, das erste, was sich bei der Lektüre im Sommer 1881 einstellt: "Wie phantasirt Spinoza über die Vernunft*. " - das ist Nietzsches erster Ausruf, dem er gleich eine Erklärung beifügt (N 1881, 11/132; 9, 490): Die Ursache für den theorationalistischen "Grundirrthum" liege im "Glaube[n] an die Eintracht" und in der mangelnden Einsicht in die konstitutive Funktion des Kampfes (ebd.), der Nietzsche selbst in der Ersetzung von "Deus" durch "Chaos" zu entsprechen sucht. Erst später, etwa von 1884 an, als auch der Gedanke des Willens zur Macht Gestalt gewonnen hat, tritt in der Kennzeichnung Spinozas das Selbster39
"Der Natur ist allemal das Gefühl des gesteigerten Daseins lieber und darum besser als das Gefühl des gedrückten." (K. Fischer, Geschichte der neuern Philosophie, Bd. 2, 1897, 551)
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
haltungstheorem in den Vordergrund. Erst dann, so jedenfalls muß man nach den hinterlassenen Fragmenten urteilen, entdeckt er den inneren Zusammenhang von intellectus und conservano sui. Erst nach dem Übergang zu einer eigenen Position, die das schon vor der Begegnung mit Spinozas Denken verworfene Theorem produktiv überwindet, hebt Nietzsche die zentrale Stellung des Selbsterhaltungstopos innerhalb eines harmonistischen Seinsentwurfs heraus. Jetzt kann er so tun, als verdanke er Spinoza die Einsicht, daß die "'Selbst-Erhaltung' nur Nebenfolge, nicht Ziel!" darstellt (N 1884, 26/313; 11, 233). Daß er selbst längst vor seiner Fischer-Lektüre einen analytisch aus der Natur des Willens entwickelten Einwand präsentiert hat, scheint vergessen. War ihm 1880 die Natur des Willens doch noch nicht so klar, wie seine damalige Definition suggeriert? Ist die Erkenntnis der Funktionsbedingung des Willens, die Erwartung einer realen Veränderung, doch erst mit der Konzeption des Willens zur Macht entwickelt? Gemessen an der Entschiedenheit seiner Urteile scheint es so, als erlaube ihm erst die Einsicht in die konzeptionelle Tragfähigkeit des Willens zur Macht die volle Anerkennung der dynamischen Struktur des Willens und, in der Konsequenz, die Verwerfung der Erhaltungsthese. Zu dieser Konsequenz gelangt Nietzsche über die Abgrenzung von der klassischen Vernunftkonzeption der Metaphysik. Er stößt auf seine Weise zur Frage nach Einheit und Sinn des Ganzen durch, um sich dann auch prinzipiell von Spinozas Rationalitätserwartung abzugrenzen. Das Chaos sive natura ist Ausdruck einer herausfordernden Gegenstellung zur traditionellen Metaphysik, einer Opposition freilich, die ohne eigenen metaphysischen Anspruch gar nicht denkbar ist. Schon darin, daß Nietzsche einen solchen Kontrahenten braucht, tritt die Reichweite seines philosophischen Anspruchs hervor, und seine Nähe zu Spinoza zeigt sich weniger in den betonten Gemeinsamkeiten als in dem letztlich herausgestellten Gegensatz: in der Einstellung zur Vernunft. Das ihn trotz allem mit der Tradition verbindende metaphysische Bedürfnis fordert seinen Tribut. Es wird später zu erörtern sein, was es für Nietzsches Beziehung zur Metaphysik bedeutet, daß er eine Befriedigung dieses Bedürfnisses durch Vernunft nicht mehr für möglich hält und sich statt dessen zu einer spekulativen Enttäuschung entschließt - für sich freilich weder fähig noch bereit, das Bedürfnis zu verdrängen (siehe Kap. Vili u. IX). In der herausfordernden Frontstellung gegen Spinoza wird nun erst die Tragweite des Selbstwiderspruchs im Daseinswillen bewußt: Die conservatio sui ist für Nietzsche die Statthalterin der Vernunft. Ist die Unmöglichkeit des einen erwiesen, so folgt die des anderen von selbst. Er kann also glauben, mit seinem Einwand nicht nur Schopenhauer und Darwin in die Schranken verwiesen, sondern der theoretischen Philosophie als ganzer den Boden entzogen zu haben. Dabei schätzt er den systematischen Rang des Selbsterhaltungstheorems
7. Vernunftkritik und naturwissenschaftliche Neugier
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durchaus richtig ein,40 so sehr er sich dabei auch über die Implikationen seiner eigenen Versuche täuschen mag. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum ihm Spinoza als Geburtshelfer seiner eigenen Lehre erscheint, die er bald im Gegenzug zur Selbsterhaltung unter dem Titel des "Willens zur Macht" verspricht. Daß die Macht auch bei Spinoza eine systemtragende Rolle hat, ist ein weiteres Indiz für die Gemeinsamkeit im Gegensatz. Doch die Macht wird in diesem Sommer 1881 nur am Rande thematisch. Auch hier dauert es noch einige Jahre, bis Nietzsche Spinozas Gleichsetzung von Tugend und Macht zum Anlaß für eigene Überlegungen nehmen kann. Auf dem Wege dahin ist eine weitere Einflußgröße bemerkenswert: Nietzsche bemüht sich vom Sommer 1881 an verstärkt um naturwissenschaftliche Literatur. Zwar ist dies kein Ausdruck einer völlig neuen Interessenrichtung. Schon früher hat er sich mit physikalischen, biologischen und naturgeschichtlichen Publikationen beschäftigt. Durch verschiedene Lektüre - von Stewart, Rütimeyer oder Boscovich - konnte er das Bewußtsein haben, mit der Entwicklung in den modernen Wissenschaften wenigstens in Kontakt zu stehen.41 Doch mit dem ersten Aufenthalt in Sils-Maria steigt sein Interesse an einschlägigen Werken beträchtlich. In den Monaten zuvor hatte er verschiedene Schriften von J. St. Mill, Spencers Die Thatsachen der Ethik und Lubbocks Die Entstehung der Civilisation gelesen;42 nun ist er "förmlich heißhungrig" nach Stoff für seine "Hypothesen" (Postkarte an Overbeck v. 7. 7. 1880; KSB 6, 26). Wenig später kommt dann seine größte Hypothese, die ewige Wiederkunft, hinzu, mit der die Bemühung um physikalische Kenntnisse sich noch einmal verstärkt. Wie sich zeigen wird, beschäftigt ihn in dieser Zeit noch ein weiteres Problem, das er sich mit der Forderung nach einem "Sieg über die Kraft" am Ende der Morgenröthe gestellt hatte: Es ist das Problem der "inneren Welt". Ihm war längst klar, daß mit den Hinweisen auf den "Grad der Vernunft in der Kraft" und auf ihr genialisch-produktives Zentrum (M 548; 3, 318) noch nicht alles gesagt ist. Man beachte nur die im gleichen Zusammenhang 40
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Dazu: G. Abel, Nietzsche contra "Selbsterhaltung", 1981/82, 367 - 407, und dort die genannte Literatur (W. Dilthey, H. Blumenberg, D. Henrich u. a.); ergänzend wäre die Arbeit von M. Sommer (Die Selbsterhaltung der Vernunft, 1977) zu erwähnen. A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, Kap. III u. V; K. Schlechta/A. Anders, Friedrich Nietzsche, 1962, 60 ff.; W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, 1978, 189 - 235. Aus B. Stewarts Die Erhaltung der Energie (1875) verfertigt Nietzsche im Sommer 1875 ein kurzes Exzerpt (N 1875, 9/2; 8, 181 ff.), in dem er sich auf die ersten Paragraphen des 1. Kapitels bezieht. Ihn interessiert die das Universum beherrschende Mechanik der Molekülbewegung ("eine große Schlacht wüthete"; B. Stewart, ebd., 3) sowie das Prinzip der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung. Bemerkenswert ist, daß Nietzsche dem Phänomen der Energie und ihren von Stewart dargestellten verschiedenen Zuständen keine Aufmerksamkeit schenkt. Auch sonst verwendet Nietzsche den Begriff der Energie in wenig spezifischer Weise (vgl. z . B . MA 1, 242, 257 u. 272). Er unterscheidet nicht, wie auch Mittasch bemerkt (Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, 103), zwischen "Kraft" und "Energie". M. Montinari, Chronik, KSA 15, 1988, 7 - 212, 113. Lubbocks Werk gehört nur bedingt in diese Reihe, ist aber - mit einem Geleitwort von Rudolph Virchow - ein Beispiel für die Übertragung der Einsichten Darwins auf das Gebiet der vergleichenden Ethnologie. Siehe dazu: D. S. Thatcher, Nietzsche's Debt to Lubbock, 1983, 293 - 309.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
gemachte Feststellung: "Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, - nun wohlan! mit der inneren Welt steht es ebenso!" (M 116; 3, 109) Sein Interesse für die Naturwissenschaften steigt, als er durch eine Arbeit des Anatomen Wilhelm Roux darauf aufmerksam wird, wie sehr sich auch die Naturwissenschaften mit der Aufklärung der inneren Welt befassen.43 Die im Sommer 1881 an Overbeck gerichteten Buchbestellungen geben beredtes Zeugnis von Nietzsches naturwissenschaftlicher Neugierde, auch wenn sicher ist, daß er die gewünschten Werke von Caspari, Fick und Vogt oder die Bände der Zeitschrift Kosmos nur sehr selektiv zur Kenntnis nimmt.44 Nietzsche liest mit den Augen eines nach Anhaltspunkten und Beweisgründen Suchenden, nicht um einer Darstellung als ganzer gerecht zu werden. Seine Rezeption ist sprunghaft in den Details, erfaßt jedoch mit unerhörter Sicherheit wesentliche Punkte. Natürlich ist er vor Irrtümern nicht geschützt, vor allem dann nicht, wenn er - wie im Urteil über Darwin oder über Kant - den Gegensatz sucht. Wie immer man die in der naturwissenschaftlichen Lektüre dominierende Absicht beurteilt und so sehr man auch ihren Ertrag in Zweifel ziehen muß: Die Bemühungen um eine exakte wissenschaftliche Bestätigung der lebensfeindlichen Funktion der christlichen Moral und um einen physikalischen Beweis der Wiederkunft zeitigen einen beachtlichen Nebeneffekt. Über die physikalischen Studien bekommt Nietzsche den wesentlichen Impuls zur Überwindung der bewußtseinszentrierten, teleologischen Erklärungsmodelle für die lebendige Bewegung. Das mechanische Modell des Kräfteausgleichs, wie er es aus den Überlegungen Robert Mayers und dann in der Studie Roux' kennenlernt, läßt ihn erwarten, im Einklang mit den fortgeschrittenen Wissenschaften seiner Zeit auch eine philosophische Antwort auf die Frage nach den bewegenden Kräften des menschlichen Handelns zu finden. Schon die erste auf Robert Mayers Mechanik der Wärme gestützte Eintragung macht deutlich, welche Konsequenz Nietzsche interessiert. Aus der minimalen mechanischen Nutzbarkeit chemischer Prozesse schließt er auf die "Verschwendung der Natur", von der folglich auch die menschliche Natur nicht ausgenommen sein kann: "Unsere intellektuelle Arbeit im Verhältniß zu dem Nutzen, den die Triebe davon haben! Also keine falsche 'Nützlichkeit 43
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"So ist mit dem Nachweis der Wirksamkeit des Selectionsprincipes und dem Hilfsprincip der Variabilität der Organismen und der äusseren Existenzbedingungen die Notwendigkeit der Entstehung einer stetig sich steigernden Mannigfaltigkeit und Anpassung an die äusseren Bedingungen bewiesen [...]", so sagt W. Roux über die Arbeiten von Darwin und Wallace. Er fährt dann mit Blick auf sein eigenes Vorhaben fort: "Dagegen wurde weniger für die Erforschung der Entstehungsweise und -Ursachen der zweckmässigen Einrichtungen im Innern [...] gethan" (Der Kampf der Theile im Organismus, 1881, 3 f.). Roux Ansatz macht anschaulich, daß mit "Innen" das Innere eines Organismus gemeint ist. Die Unterscheidung erfolgt also aus der Perspektive eines Wesens, das sich selbst als ausgedehnten Körper erfährt, der einerseits einen Innenraum hat und sich andererseits (im Verhältnis zu anderen körperlichen Gegenständen) in einem "Außen" befindet. - Zum Verhältnis Nietzsche - Roux: W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, 1978, 189 - 235. Zum ganzen, insbesondere aber zum Verhältnis Nietzsches zu Caspari siehe: W. Gebhard, Nietzsches Totalismus, 1983. Andere naturwissenschaftliche Lektüre im Umfeld des Gedankens der ewigen Wiederkunft ist bei G. Abel (Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 1984) berücksichtigt.
7. Vernunftkritik und naturwissenschaftliche Neugier
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als Norm'!" (N 1881, 11/24; 9, 451)45 Die Prämisse der Teleologie, nämlich die Sparsamkeit, ist in den basalen Prozessen der Natur gar nicht erfüllt. Überall herrscht eine gewaltige Vergeudung von Kräften, der gegenüber die vermeintlichen Effekte verschwinden. Im Krafthaushalt der Natur wird nicht mit dem Maß des Zwecks gerechnet; die menschliche Erwartung, daß eine Kraft dazu da sei, um Wirkungen zu erzielen, ist gänzlich obsolet. Zwekke sind lediglich Ausdruck menschlicher Zielsetzung; sie haben als solche keinen Rückhalt in der Natur (ebd., 11/63; 464 f.). Nietzsche erwähnt an dieser Stelle noch nicht, daß seine Konsequenz auch auf die Begriffe von "Ursache" und "Wirkung" durchschlagen könnte, denn angesichts der faktischen Verschwendung in allen Naturprozessen wird es überhaupt fragwürdig, von bestimmten Ursachen und zugehörigen Wirkungen zu sprechen. Doch wenn wenig später in den Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft eben diese Schlußfolgerung gezogen wird und somit Ursache und Wirkung gleichermaßen als Fiktionen erscheinen, dann hat die erkenntniskritische Pointe auch eine naturwissenschaftliche These im Hintergrund, und zwar Robert Mayers Satz von der Erhaltung der Energie. Wo alles Geschehen nichts als ein Austausch unbestimmter Kraftmengen ist, in dem sich Wirkungen nur als Marginalien zeigen, da ist auch das objektive Fundament für die Kausairelation verloren. Im Hinblick auf den Naturvorgang als ganzen sind Ursachen und Wirkungen bloßer Zufall. Wie nahe Nietzsche im Jahre 1881 dieser Schlußfolgerung kommt, belegt seine Aufnahme der May ersehen Theorie der minimalen Auslöseenergien.46 Daß bei gegebenen großen Kraftmengen bereits eine kleine zusätzliche Energiemenge gewaltige Zustandsveränderungen hervorrufen kann, ist ein Nietzsche sogleich faszinierender Gedanke: "'wie der Kraftaufwand des Maschinisten etwas verschwindend Kleines ist'" (ebd., 11/25; 9, 452). Wenig später versucht er schon am Beispiel der Auslösung aufgestauter Energien in einer plötzlichen Entladung die Fiktion von Wirkungen anschaulich zu machen: "'Wirkung.' Der Reiz, den Einer ausübt, die Anregung, die er giebt, bei der Andere ihre Kräfte auslösen (z. B. der Religionsstifter) ist gewöhnlich mit der Wirkung verwechselt worden: man schließt aus großen KraftAuslösungen auf große Ursachen'. Falsch! Es können unbedeutende Reize und Menschen sein: aber die Kraft war angesammelt und lag zur Explosion bereit!" (ebd., 11/135; 9, 492) In der Übernahme des Modells plötzlicher Entladung ist, abgesehen von der Präzisierung der Teleologiekritik, der wichtigste theoretische Niederschlag der naturwissenschaftlichen Studien dieser Monate zu sehen. Auch die Nietzsche besonders beschäftigende, in den nach45
46
Der Gedanke konnte Nietzsche schon seit der Lektüre der ersten Auflage von Langes Geschichte des Materialismus vertraut sein: "Wer aber in den neueren Naturwissenschaften Kenntnis nehmen will von den Gesetzen der Erhaltung und Fortpflanzung der Arten - selbst solcher Arten, deren Zweck wir überhaupt nicht einsehen, wie z. B. der Eingeweidewürmer, der wird allenthalben eine ungeheure Vergeudung von Lebenskeimen finden." (ebd., 1865, 403) Vgl. hierzu den Aufsatz von J. R. Mayer, lieber Auslösung (1876), 1978, 411 - 416. Dazu näher: A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, 114 - 127; G. Abel, Nietzsche contra "Selbsterhaltung", 1981/ 82, 367 - 407, 370.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
folgenden Jahren immer wieder aufgenommene Lektüre physiologischer Untersuchungen bestärkt ihn in der Übertragung des Modells auf historische, soziale und psychische Prozesse. Aber man muß auch hier betonen, daß Nietzsche auf das Überschußtheorem vorbereitet ist. Schon die frühe Geniekonzeption basierte auf der Voraussetzung großer, vor allem im Widerstand angestauter Kräfte, die sich plötzlich entladen. Bereits 1880 wird diese Vorstellung generalisiert: Alle herausragenden Handlungen, zu denen auch die großen Verbrechen zu zählen sind, werden als Kraftentladungen angesehen (N 1880, 3/76; 9, 67); Erregungen und Reize werden gesucht, wenn das "zwecklose Überströmen der Kraft" ausbleibt (N 1880, 1/44; 9, 15). Freiheit wird nur dort erfahren, "[wo] wir fühlen, daß wir etwas mit einem Überschuß von Kraft thun" (N 1880, 3/48; 9, 60).47 Mit der Erfahrung, daß die Wissenschaft seiner Zeit sich die elementaren chemischen Prozesse nach dem Modell von Kräftestau und Entladung veranschaulicht, kann sich Nietzsche nur bestätigt sehen. Befriedigt notiert er, daß Nervenreize nach diesem Schema funktionieren und daß jedem Organismus, jeder Zelle auch tatsächlich eine ursprüngliche Kraft zugesprochen werden kann, ohne die "sich das Leben nicht ausbreiten" könne (N 1883, 7/95; 10, 274). Also sind auch die elementaren Lebensprozesse durch den Wechsel von Ansammlung, Stau und Überströmen von Kräften organisiert. Alles ist durch die immer neue Abfolge von Anspannung und Entspannung charakterisierbar. Nietzsche hatte ein analoges Erklärungsmodell bei der Darstellung der griechischen Kulturentwicklung eingesetzt. Nun begegnet es ihm als fortgeschrittenes und leistungsfähiges Prinzip, dessen sich verschiedene Naturwissenschaften gleichermaßen bedienen. Bei dem zu seiner Zeit erstmals theoretisch erschlossenen Phänomen der Elektrizität werden Spannung und Entladung zu den alles andere tragenden Begriffen. Das Modell von Stau und Entladung erlaubt eine naturwissenschaftliche Verteidigung der Zufallsthese: Die ganze uns einbindende Notwendigkeit, auf deren Kenntnis das Selbstvertrauen der Vernunft sich ausschließlich stützt, muß als ein kosmischer Zufall gedacht werden. Wer an einen der fragwürdigen Gründe, die wir der Existenz unserer Welt unterschieben, glaubt, kann vom Ende nur zu leicht widerlegt werden: "Es giebt im Moleküle Explosionen [...] nicht zu beweisen." (N 1881, 11/247; 9, 535) Die empirische Theoriebildung jener Jahre, sei es in Physik, Chemie oder Biologie, begünstigt Weltvorstellungen, die in allen Zuständen und Prozessen ausschließlich Relationen von Kräften namhaft machen. Über die Frage, ob "Materie" oder "Kraft" den letzten Weltgrund darstelle, entbrennt ein Streit mit weltanschaulichem Charakter. Eine der einflußreichsten Kampfschriften in dieser Kontroverse gelangt auch in Nietzsches Hände, J. G. Vogts
Ein entsprechendes Erklärungsmodell ist bei Nietzsche auch schon früher zu erkennen: "Aber die Furcht und das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bedürfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden wollen. " (MA 1, 212; 2, 173) Es gibt also Organprozesse, die durch Entspannung, Erleichterung, Auslassen von Energie bestimmt sind.
8. Am Anfang war die Macht
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Die Kraft, ein Werk, das im Untertitel eine "realmonistische Weltanschauung" verspricht.48 Von diesem Versprechen bleibt Nietzsche unbeeindruckt. Auch Vogts Plädoyer für eine methodisch angelegte Spekulation auf empirischer Basis hinterläßt bei ihm keine Spuren. Der gegen Vogt gerichtete Einwand (ebd., 11/313; 9, 561 f.) legt sogar nahe, daß er dessen erklärte methodische Selbstbeschränkung gar nicht zur Kenntnis genommen hat. Sein Interesse ist wieder einmal sehr spezifisch: In einer ersten Lektürephase im Herbst 1881 (ebd., 11/311-313; 9, 560 ff.) befaßt er sich nur mit der Hypothese von der Notwendigkeit eines ewigen Kreisprozesses,49 und zwei Jahre später, im Winter 1883/84, akzentuiert er lediglich seine eigene Schlußfolgerung aus der Annahme eines universalen Spannungs-EntspannungsKontinuums, nämlich daß es "Ursache" und "Folge" nicht geben könne (N 1883/84, 24/36; 10, 664). Doch an der Grundaussage Vogts hält er fest, so als sei eine Gegenposition gar nicht denkbar: Alles Weltgeschehen ist Äußerung von Kräften - und nichts sonst. Das Ganze ist ein Komplex von miteinander verbundenen Kräften, die auch als das Substrat von Stoffen und Zuständen anzusehen sind. Um außerhalb der Kräfte nicht noch eine andere Instanz annehmen zu müssen, vertritt er (vermeintlich gegen Vogt) die zeitliche Unendlichkeit der Kraft und verwendet beträchtlichen Scharfsinn auf den Nachweis der Endlichkeit der im ewigen Kreislauf der Welt gebundenen Kraftmenge. Offenbar glaubt er, durch kosmologische Prämissen dieser Art die Lehre von der ewigen Wiederkehr erhärten zu können. Hier genügt es, sie als Beleg für die Durchbildung seiner dynamischen Auffassung der Welt anzuführen.
8. Am Anfang war die Macht Hätte Nietzsche zwischen 1881 und 1883 vor Fausts Übersetzungsproblem gestanden, so hätte er wohl antworten müssen: Am Anfang war die Kraft. Noch im Frühjahr 1881 hätte er vielleicht dem Wort den Vorzug gegeben. Da nämlich vermutete er hinter "alle[n] treibenden Kräfte[n]" noch "das Wissen" als gemeinsame Eigenschaft, ein Wissen freilich ohne Wissen, d. h. ohne Empfindung und ohne Bewußtsein (N 1880/81, 10/F 101; 9, 438). Später, wenn die geistige Dimension der Kraft zur Geltung kommt und zum eigentlichen Bedeutungsfeld des Willens zur Macht wird, ist auch von der Taf und vom Tun die Rede, so daß man schließlich sagen kann, Nietzsche versuche, im Willen zur Macht die drei Vorschläge Fausts, das Wort, die Kraft und die Tat, in einer Formel zu verbinden. Vorerst aber ist die Kraft die bestimmende Größe; vom "Stoff" darf nicht mehr die Rede sein. An R. G. Boscovich rühmt er im Herbst 1881, daß dieser mit der Lehre vom "mathematischen Cha48 49
J. G. Vogt, Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung, 1878. Ebd., 11 ff.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
rakter des Atoms" den "Stoff-Aberglauben vernichtet" habe (N 1881, 15/21; 9, 643). Nirgends findet sich ein rein stoffliches Substrat. Überall stößt man nur auf Kräfte. Die gesamte Natur ist nichts als eine "Menge von Relationen von Kräften" (N 1884, 26/38; 11, 158). Dieser Zusammenhang von Kräften läßt sich noch genauer als pulsierendes Ganzes erfassen: "Es giebt keinen Stoff [...] Es giebt keinen Raum. [...] wir haben einen lebendigen Rhythmus vorauszusetzen [...]" (N 1883/84, 24/36; 10, 663 f.). Dabei ist das Lebendige nicht als Gegensatz des Toten angelegt, sondern nur als besondere Ausdrucksform im universellen Feld der Kräfte verstanden. In diesem Feld ist alles Mechanik, und in allem ist nur die "Einerleiheit der Kraft" (N 1884, 26/38; 11, 158). Im Entwicklungsgang der Lehre vom Willen zur Macht verdient Nietzsches These vom lückenlosen mechanischen Zusammenhang der Welt besondere Beachtung. Auch wenn er damit keine Wahrheit über den wirklichen Charakter der Welt vertreten möchte, so hält er diese These als Ertrag der angesammelten wissenschaftlichen Einsichten für unabweisbar. Die historische Dynamik des wissenschaftlichen Umgangs mit der Natur läuft auf eine solche Aussage zu, und Nietzsche verbleibt bewußt in deren Bann. Auch in den folgenden Jahren gibt er diese Position nicht auf, weil er nur so die bevorstehende Umwertung der Werte als geschichtliche Konsequenz des Glaubens an die Wissenschaft dartun kann. Die Überwindung der szientifischen Wertordnung ist nicht durch Leugnung der wissenschaftlichen Erkenntnisse herbeizuführen, sondern nur dadurch, daß man sie im Blick auf ihre Prämissen zu Ende denkt. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft ist ζ. B. ein solcher, freilich höchst individueller Versuch, die Schlußfolgerungen aus der mechanistischen Weltbetrachtung wieder mit den Möglichkeitsbedingungen menschlicher Praxis zu verbinden. Damit ist implizit klargestellt, daß der Begriff des Willens zur Macht nicht entworfen wird, um den physikalisch elaborierten Begriff der Kraft zu ersetzen. Der Begriff der Kraft bildet einen Ausgangspunkt der eigenen theoretischen Ansätze, die über "real-monistische" (Vogt), mechanistische (Mayer) oder empirisch-pragmatische (Spencer) Konzeptionen hinausreichen. Die naturwissenschaftlichen Theorien fungieren nicht als Opponenten; folglich ist auch deren Grundbegriff, die Kraft, kein Konkurrent des von Nietzsche selbst präsentierten Entwurfs. Der Wille zur Macht steht von vornherein unter einer ganz anderen Theorieerwartung als der Begriff der Kraft. Dies gilt allerdings nur für den strikt physikalisch verwendeten Kraftbegriff. Sobald dieser Begriff, wie ζ. B. von Vogt, in eine quasi-metaphysische Rolle gebracht und zur Erklärung allen Geschehens herangezogen wird, hält Nietzsche ihn für unzulänglich. Die zeitgenössischen Anstrengungen, das kosmische Geschehen als ganzes auf physische Kräfte, so wie die Mechanik sie vorstellt, zurückzuführen, lassen ihn unbeeindruckt. Von größtem Interesse für ihn sind dagegen die ersten Versuche der später sogenannten anatomisch-physiologischen "Entwicklungsmechanik" Wilhelm Roux', das organische Geschehen aus einem kämpfenden
8. Am Anfang war die Macht
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Gegeneinander von Kräften herzuleiten.50 "Jetzt hat man", so notiert er nach der ersten Lektüre im Herbst 1881, "den Kampf überall wieder entdeckt und redet vom Kampfe der Zellen, Gewebe, Organe, Organismen." (N 1881, 11/128; 9, 487) Im Rahmen eines erfahrungswissenschaftlichen Ansatzes, der nicht beansprucht, über die Gesetze der Mechanik hinauszugehen, ist hier mit einem Mal ein Prinzip verwendet, auf das Nietzsche selbst, wie wir gesehen haben, von Anfang an gesetzt hatte. Überdies wird es eingeführt, um den Einfluß äußerer Faktoren auf die Entwicklung des Organismus durch eine innere Dynamik, eben durch den "Kampf der Theile im Organismus", zu ergänzen. Auch darin kann Nietzsche eine Bestätigung seiner eigenen Überlegungen sehen. Die Naturwissenschaft scheint sich selbst auf die Suche nach den bewegenden Kräften der "inneren Welt" begeben zu haben: "Unsere Naturwissenschaft", so sagt er im Bewußtsein großer Übereinstimmung, "ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut!" (ebd.) Damit ist Nietzsches Entwicklung an einem entscheidenden Punkt: Die naturwissenschaftliche Lektüre hat ihm gezeigt, wie weit die Dynamik der Kräfte auch noch das organische Geschehen bestimmt. Der energetische Haushalt der Natur besteht im großen wie im kleinen im Austausch von Kräften. Auch das Innere lebendiger Wesen kann als Zusammenspiel von Kräften gedacht werden, die zwar unter besonderen Gesetzen stehen, sich prinzipiell aber nicht von den Kräften der äußeren Natur unterscheiden. Für diese innen wie außen wirkenden Kräfte scheint es einen Ausdruck zu geben, einen Begriff, der sie als einheitlich und ursprünglich gleich begreifen läßt, und der in enger Verbindung zu den Affekten steht, die Nietzsche in seiner ersten Phase als das eigentliche Geschehen angesehen, in seiner zweiten Phase dann als Machtgeßhl zum Fundament aller Strebungen erklärt hatte. Der Begriff des Kampfes verweist ihn auf jene besondere Art der Kraft, die in der anderen Kraft den Gegner sucht und ihn zu überwinden trachtet: auf die Macht. Es ist gewiß kein Zufall, daß Nietzsche unmittelbar im Anschluß an die erste Notiz über das Werk von Roux den Terminus aufnimmt, in welchem sich ihm bis dahin die Macht am deutlichsten gezeigt hatte: "Die Zelle ist zunächst mehr Glied als Individuum; das Individuum wird im Verlauf der Entwicklung immer complicirter, immer mehr Gliedergruppe, Gesellschaft. Der freie Mensch ist ein Staat und eine Gesellschaft von Individuen. [...] Der freieste Mensch hat das größte Machtgefühl über sich [...]" (ebd., 11/130; 9, 488). Hier ist das Machtgefühl nicht mehr bloß der Vorbote, sondern bereits der Stellvertreter des Willens zur Macht, dessen Auftritt nunmehr, in der zweiten Hälfte des Jahres 1881, vorbereitet ist. Nietzsche hat spätestens seit der Zeit der Morgenröthe nach einem Begriff für jene Triebkräfte gesucht, welche die bloße Äußerlichkeit des Wirkungszusammenhangs durchbrechen. 50
W. Roux, Der Kampf der Theile im Organismus, 1881.
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VI. Der Auftritt des Willens zur Macht
Doch zunächst war nichts in Sicht, das die äußere physische Kraft von innen her hätte ergänzen können. Die "Vernunft", von der beim Anspruch auf einen "Sieg über die Kraft" die Rede ist (M 548; 3, 318), kann es nicht, zumindest nicht in ihrer klassischen Gestalt. Das "Genie", von dem hier ebenfalls gesprochen wird, dessen aus sich heraus formschaffende Gewalt dem "großen Menschen" den Sieg gewähren soll, ist für eine Erklärung der lebendigen Bewegung zu speziell, vom Druck und Stoß der organischen Elemente ganz zu schweigen. Die Kraft jedoch, die ihm bislang als von innen bestimmendes Moment gegolten hatte, nämlich der "Wille zum Leben", erscheint ihm nun mit zunehmender Gewißheit als untauglich. Wenn aber schon die Naturwissenschaften seiner Zeit in ihrem Bemühen, die innere Dynamik des Lebendigen zu erfassen, auf ein Prinzip verfallen, dem Nietzsche schon immer die größte Erklärungskraft zugetraut hatte, nämlich auf das Prinzip des Kampfes, was liegt dann näher als die Besinnung auf jene Kräfte, ohne die kein Kampf zustande kommt, die sich ihrerseits aber auch im Kampf erst bilden? Die Psychologie des Machtgefühls hatte aufgedeckt, wie weit diese Kräfte die Innenwelt beherrschen, und in der Beschäftigung mit zwei exemplarischen Vertretern der Macht, mit Napoleon und Paulus, war die historische Vielfalt des Machtstrebens, das sich selbst noch hinter der Maske der Ohnmacht verstecken kann, evident geworden. Also ist alles vorbereitet für die auch im Inneren wirkende, sich kämpf end behauptende, sich im Machtgeflihl zeigende und ganz und gar gegenwärtige Kraft. Ein Begriff für sie ist, wie sich gezeigt hat, längst gefunden: Wille zur Macht.
VII. Kraft und Wille als Macht Die gesellschaftliche Dimension der Grundbegriffe
1. Die Wendung nach Innen "Der siegreiche Begriff 'Kraft', mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als 'Willen zur Macht* ..." (N 1885, 36/31; 11, 563). Der Wille zur Macht ist die Ergänzung der physikalischen Kraft. Durch ihn ist die innere Welt der äußeren Kräfte erschlossen. Fundiert durch die neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, soll dieser Begriff zum Signum theoretischer und praktischer Selbst-Überwindung einer Epoche werden. Es ist keine Flucht aus der Wissenschaft beabsichtigt, auch keine Ersetzung eines Weltbildes durch ein anderes, sondern im Ausgang von den Einsichten der experimentellen Wissenschaften wird der Versuch unternommen, sie nunmehr auch mit der Selbsterfahrung des Menschen zu verbinden. Die "Experimental-Philosophie" Nietzsches ist Fortführung der experimentellen Wissenschaften mit philosophischen Mitteln.1 Die freien Geister, "[d]ie Versuchs-Stationen der Menschheit" (N 1880, 1/38; 9, 14), haben zu prüfen, wie weit der Mensch gehen kann. Zu dieser Prüfung gehört die Frage, inwieweit die wissenschaftlich erschlossene Welt auch noch die Welt des Menschen ist. Läßt sich noch angeben, worin diese Welt der menschlichen Selbsterfahrung korrespondiert? Diese unvermeidlich vom Menschen gestellte Frage gewinnt ihre experimentelle Freiheit dadurch, daß sie nicht auf das Interesse des Menschen verpflichtet wird. Sie geht weder theoretisch noch praktisch von der Annahme aus, alles müsse auf den Menschen hinauslaufen. Der Mensch versucht, seine Welt natürlich als Welt zu denken. Die Pointe dieses Denkens liegt eben darin, daß darin etwas (vom Menschen und vom Denken) Unabhängiges unterstellt wird. Aber auch das ist eine Eigentümlichkeit des menschlichen Denkens! Alles nur durch die eigene Erfahrung Zugängliche und nur in ihr Gültige muß gleichwohl immer auch als das Gegenüberstehende und andere begriffen werden können. Der von Nietzsche eine Weile erwogene Begriff des Übermenschen ist aus dieser Bemühung entstanden. Das
Vgl. A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, 180; E. Heftrich, Nietzsches Philosophie, 1962, 214 ff.; F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, 152 ff.; V. Gerhardt, "Experimental-Philosophie", 1986.
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VII. Kraft und Wille als Macht
gleiche gilt für die Konzeption des Willens zur Macht.1 Sie eröffnet den Zugang zu einer Selbst-Überwindung des Menschen, die gleichwohl immer noch perspektivisch und somit typisch menschlich bleibt. Warum aber Wille zur Macht? Warum nicht Wille zur Kraft! Wenn hier schon eine "Ergänzung" zur Kraft in Vorschlag gebracht wird, warum kommt dann ihre Zuordnung nicht zum Ausdruck? Diese von Nietzsches Lesern bisher nur beiläufig gestellte Frage3 hat allein dadurch Gewicht, daß sich die Formel vom "Willen zur Kraft" durchaus in den Texten findet. Daß eine der vielen anderen Formeln, Wille zum Glück, zum Leiden, zum Selbst, zur Befriedigung, zum Haben-Wollen, zum Höheren, zum Schönen und vieles andere mehr, zu dieser Zeit nicht in Frage kommt, bedarf keiner weiteren Begründung. Auch der Wille zum Leben scheidet nach der Kritik an der Immobilität der Selbsterhaltung aus. Für den Grundimpuls jedoch, der die innere Dynamik der Kraft ausmachen soll, wäre die passende Bezeichnung "Wille zur Kraft". Die Frage liegt um so näher, als "Kraft" bei Nietzsche nicht auf die physikalische Bedeutung eingeschränkt ist, sondern auch als umfassender Begriff für Wirkmöglichkeiten überhaupt verwendet wird. Also auch der "Wille zur Macht" kann wieder als eine "Kraft" bezeichnet werden (so ζ. Β. Ν 1888, 14/121; 13, 300 f.). Daß Wendungen wie "Wille zur Accumulation von Kraft" (ebd., 14/81; 13, 261) oder die Rede vom "Kraftgefühl" (ζ. Β. Ν 1883/84, 24/9; 10, 647) möglich sind, unterstreicht die Berechtigung der hier gestellten Frage. Gleichwohl scheint die Frage verfehlt, zumindest in unserem Zusammenhang. Nach dem Aufweis der eminenten Rolle des Machtgedankens in Nietzsches bisheriger Entwicklung kann es nur als selbstverständlich angesehen werden, daß von der Macht die Rede ist. Schon das vorrangige Interesse an den geschichtlich-gesellschaftlichen
Größen sowie die Rolle des
Machtgefühls, damit die Orientierung am Leitfaden menschlicher Machterfahrung, lassen an 2
3
Siehe dazu: B. Magnus, Nietzsche's Philosophy in 1888: "The Will to Power" and the "Übermensch", 1986, 79 - 99. G. Deleuze hat die Frage gestellt (Nietzsche und die Philosophie, 1976, 57), und er legt auch eine Antwort nahe, indem er die Kraft als das bloß äußere Wirkungsmoment und den Willen zur Macht als bloß inneres Bestimmungsmoment betrachtet. Daraus könnte man folgern, er meine mit dem Begriff der Macht eine von innen bestimmte Kraft. Doch einen solchen Schluß zieht Deleuze nicht. Er könnte ihn auch nur schwer begründen. Nach seiner Argumentation spräche alles fur die Formel "Wille zur Kraft", denn er sieht eigentlich nur den "inneren Willen" (ebd.) als die gesuchte "Ergänzung" der Kraft an. Wenn es aber so wäre, daß die äußere Kraft, um ihre Bestimmung zu finden, nur der inneren Zutat des Willens bedürfte, dann wäre es konsequent, die zur Vollständigkeit ergänzte Kraft auch als "Wille zur Kraft" zu bezeichnen. Es wird sich im Lauf der folgenden Erörterung zeigen, daß die Rede von der "Ergänzung" der Kraft nicht so verstanden werden darf, wie Deleuze dies tut. Ähnlich argumentiert auch W. Müller-Lauter gegen Deleuze (Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, 1974, 1 - 60, 35). Im Unterschied zu Müller-Lauter bin ich der Ansicht, daß man Nietzsches Rede von der Ergänzung der physikalischen Kraft durchaus wörtlich nehmen kann. Nietzsches Ausdruck macht den Ausgangspunkt seiner Suche deutlich, fordert keinen Gegensatz zum mechanischen Erklärungsprinzip heraus und erlaubt gleichwohl, die r ergänzte" Kraft als gänzlich neuartige energetische Einheit, eben als Willen zur Macht, zu begreifen. Nietzsche macht auf die zwei verschiedenen Bedeutungen des Wortes "innen" nicht eigens aufmerksam, verwischt zuweilen auch die Differenz (z. B. in Ν 1885, 34/247; 11, 503 f.). Daß er sie aber doch klar im Auge hat, beweist die Rede von den "Willens-Wirkungen", auf die weiter unten ausfuhrlich eingegangen wird.
1. Die Wendung nach Innen
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seiner Gedankenrichtung keinen Zweifel: Wenn es ihm um Kraft geht, dann letztlich um jene, die in Geschichte und Gesellschaft hervortritt und die der Mensch selbst in Erfolg und Versagen erfährt. Also geht es ihm auch in diesen Fällen um Macht. Hinzu kommt, daß er Forschungsergebnisse aus speziellen Wissenschaftsgebieten "sofort auf Aspekte menschlicher Lebensgestaltung"4 überträgt und sie auch damit in den Bereich genuiner Machterfahrung hineinholt. Nietzsches philosophische Präokkupation durch das Problem der menschlichen Machtäußerung ist so dominant, daß er schon mit sich brechen müßte, wollte er nun die Kraft zum zentralen Begriff seines Denkens machen. Zwar bliebe durch die Bindung an den Willen der Konnex menschlicher Selbsterfahrung erhalten, aber befremdlich wäre doch, wenn das "Ziel" des alles bewegenden Grundtriebes in einer primär physisch verstandenen Größe bestünde. Trotzdem muß die Frage ernstgenommen werden, denn das naturwissenschaftliche Problemfeld, in dem der neue Ausdruck sich bildet, legt in der Tat den Ausdruck "Kraft" näher als den der "Macht". Der in der Morgenröthe proklamierte "Sieg über die Kraft" gelingt im Zeichen von etwas "Höhere[m]", welches die Kraft nunmehr als "Werkzeug und Mittel" in Dienst nimmt. Was dieses "Höhere[]" ist, bleibt vorerst "unsichtbar wie ein zu fernes Gestirn", weil dem Menschen dafür das passende Organ noch fehlt. Gewiß aber ist, daß der Sieg in einer schöpferischen Selbstbeziehung errungen wird, dort, wo ein Genie seine Kraft "nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk" verwendet (M 548; 3, 318 f.). In der Selbstorganisation des großen Menschen wird die sublimere Leistung gesehen, sie ist der Akt mit dem höheren geistigen Rang, für den Nietzsche hier den Namen der "Vernunft" in Anspruch nimmt. Die "Kraft" ist damit als ein grober, in sich noch wenig differenzierter Handlungsimpuls qualifiziert. Sie gehört in eine Phase, in der "im Ganzen die Intellectualität der Menschheit doch etwas sehr Niedriges und Armseliges gewesen sein muss" (ebd., 318). Sie wirkt wie ein äußerer (physischer) Anstoß, auf den sich die initiierte Differenzierung nicht überträgt. Wenn dies aber doch geschieht, wird aus der bloßen Kraft etwas, das einen "Grad der Vernunft" (ebd.) in sich trägt. Die über die bloße Kraft siegende vernunftgeladene Kraft ist nach diesem Überwindungsmodell nicht von vornherein gegeben. Sie entsteht als spätes Produkt einer kulturellen Entwicklung und kommt folglich nur in Gesellschaft vor, und zwar nur in einer höher entwickelten Gesellschaft. Was folgt daraus für den Willen zur Macht, wenn er es ist, der die bloße Kraft siegreich überwindet? Entwicklung heißt hier: Zunahme der inneren Differenzierung der wirkenden Kräfte, und das heißt wiederum nichts anderes als die Genese der "innerefn] Welt", von der in der zweiten Proklamation des Sieges über die Kraft (N 1885, 36/31; 11, 563) die Rede ist. Diese Rede ist kein Einzelfall bei Nietzsche. Nehmen wir die These über die Entstehung des Gewis4
W. Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, 1978, 189 - 235, 199.
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VII. Kraft und Wille als Macht
sens in der Genealogie der Moral (GM 2, 16; 5, 321 ff.): Hier ist die Ausfaltung der "inneren Welt" der Schritt, von dem alles Weitere abhängt, ja, die Naturgeschichte der Moral koinzidiert mit der Genesis der "inneren Welt". Schuld und Verantwortlichkeit, damit auch Täterschaft und Zurechenbarkeit, die Grundbedingungen des moralischen Handelns also, werden erst durch die Ablenkung der Instinkte "nach Innen" gelegt. Nietzsche ist es wohl bewußt, daß er auf diese Weise keine akzidentiellen moralischen Phänomene erklärt, sondern die Entwicklung des Menschen selbst von dem Vorgang der "Verinnerlichung" abhängig macht. Denn in diesem Prozeß "wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine 'Seele' nennt" (ebd., 322). Daß auch für Nietzsche der Begriff des Menschen an dieser "Seele" hängt, steht außer Zweifel, denn ohne sie könnte kein Versprechen gegeben, erst recht kein Wort gesprochen und kein Gedanke gedacht werden. Doch bei der Ergänzung des Kraftbegriffs durch den Willen zur Macht geht es gar nicht um den Menschen und seine innere Welt. Gemeint ist die Kraftkonzeption der neuzeitlichen Naturwissenschaft, jene Größe, mit der "unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben" (N 1885, 36/31; 11, 563). Dieser äußeren Kraft soll "eine innere Welt zugesprochen werden". Alle Erscheinungen und Gesetze der Natur sind demnach "als Symptome eines innerlichen Geschehens" aufzufassen. Ob Druck oder Stoß, Massenanziehung, Trägheit oder Kausalität überhaupt - alle anorganischen und organischen Prozesse haben ein inneres Bewegungsmoment, das Nietzsche als "Willen zur Macht" bezeichnet, "als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht" (ebd.). Angesichts einer solchen Ergänzung der äußeren Welt durch triebhafte, aus geheimnisvollen Tiefen wirkende Kräfte erscheint es keineswegs befremdlich, wenn es heißt, Nietzsche habe sich mit dem Beginn der achtziger Jahre "dem Mystischen" zugewendet. Lou Andreas-Salomé, von der diese Mitteilung stammt,5 läßt den Eindruck entstehen, als sei sie sich mit dem damals (1882) vertrauten Freund in diesem Urteil einig gewesen. Nachgelassene Bemerkungen Nietzsches können diesen Eindruck bestätigen.6 Sicher ist, daß er seine Suche nach der inneren Welt der Kraft für begründbar ansieht und auf stützende Argumente durch die naturwissenschaftliche Forschung seines Jahrhunderts setzt. Diese Erwartung ist durchaus begründet. Die Forderung nach Ergänzung der äußeren physikalischen Kräfte durch eine innere Dimension, aus der die bewegenden Impulse stammen, nimmt einen Anspruch auf, den die Naturwissenschaftler in jenen Jahren selbst immer bestimmter artikulieren. Nietzsche kann sich mit Recht in enger Verbindung mit einer 5 6
L. Andreas-Salomé, Friedrich Nietzsche in seinen Werken, 1894, 17. Dies gilt für die Einschätzung des Zarathustra, dessen Stil er Rohde gegenüber als "Tanz" und "Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien" bezeichnet (Bf. an Rohde v. 22. 2. 1884; KGB III, 1, 479). Wenn er aber den Zarathustra nicht als streng begrifflich betrachtet, dann hat er doch zugleich darin nur eine "Vorhalle" des danach zu bauenden Begriffsgebäudes seiner "Metaphysica und erkenntnißtheoretischen Ansichten" sehen wollen. Zur Ausführung dieser systematischen Absicht faßt er den bekannten Plan, mehrjährige naturwissenschaftliche Studien zu betreiben (vgl. Bf. an Overbeck v. 7. 4. 1884; ebd., 496).
2. Anleihen bei der Naturphilosophie
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naturphilosophischen Debatte wissen, die vor allem an den Namen Robert Mayers geknüpft ist und in der, neben den zahlreichen Kombattanten im damals heftig wogenden Materialismusstreit, Gustav Theodor Fechner, Hermann von Helmholtz, Friedrich Zöllner, Otto Caspari und Wilhelm Roux eine Rolle spielen. Alwin Mittasch hat im einzelnen gezeigt, wie eng Nietzsche auf dieses geistige Umfeld bezogen ist.7
2. Anleihen bei der Naturphilosophie Die Hoffnung auf einen "Sieg über die Kraft" ist Ausdruck einer sich rasch ausbreitenden szientifischen Stimmung. Nietzsche kehrt also in seiner mystisch und irrational erscheinenden Suche nach einem "Trieb" in allem Geschehen der zeitgenössischen Wissenschaft nicht den Rücken. Er ist vielmehr bemüht, ihr durch einen provozierenden Gedanken zu entsprechen. Um so enttäuschender ist es, wenn die von ihm präsentierte Hypothese des Willens zur Macht als "metaphysischer Kurzschluß" gewertet wird, der "wissenschaftlich kaum mehr zu bedeuten hat als eine Berufung auf göttliche Schöpfermacht".8 Die Beantwortung der Frage, warum Nietzsche die äußere Welt durch einen Willen zur Macht und nicht durch einen Willen zur Kraft zu ergänzen sucht, wird allerdings durch den naturphilosophischen Zusammenhang nicht direkt befördert. Eine Anregung enthält dagegen eine philosophiehistorische Parallele, die durch einige Zitatbrocken in einer Nachlaß-Stelle aus dem Jahr 1887 angedeutet ist. Die ideengeschichtliche Assoziation verweist dann wieder auf den naturphilosophischen Kontext zurück: "Dynamis 'reale Tendenz zur Aktion', noch gehemmt, die sich zu aktualisiren versucht - 'Wille zur Macht' 'Spannkraft' 'aufgesammelte und aufgespeicherte Bewegungstendenz '" (N 1887, 9/92; 12, 387). Die im Zitat enthaltenen Zitate stammen aus Otto Liebmanns Aufsatz Die Arten der Nothwendigkeit, der 1882 in dem Sammelband Gedanken und Thatsachen erschienen ist.9 Liebmann verteidigt darin den aristotelischen Dynamis-Begriff gegen die Kritik seiner kantianischen Zeitgenossen, namentlich gegen F. A. Lange. Lange hatte schon in seiner Geschichte des Materialismus die Metaphysik des Aristoteles auf wenigen Seiten abgefertigt und in seinen Logischen Studien, gestützt auf Kants Kritik, die objektive Gültigkeit des Dynamis7
8 9
Siehe dazu die Hinweise in Kapitel VI. Dort wurde auch auf andere Autoren verwiesen, die das von A. Mittasch gezeichnete Bild inzwischen ergänzt haben. Über den EinfluB O. Casparis informiert W. Gebhard, Nietzsches Totalismus, 1983, 249 ff. u. 282 - 292. A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, 180. O. Liebmann, Die Arten der Nothwendigkeit, 1882, 1 - 45, 11 f.
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VII. Kraft und Wille als Macht
Begriffs zurückgewiesen. Obgleich Liebmann einen der wesentlichen Impulse für die Weiterbeschäftigung mit Kant gegeben hat und sich in seinem erkenntnistheoretischen Ansatz auf Kant beruft, ist er in der Frage des real Möglichen ein entschiedener Gegner der Kritischen Philosophie. Gegen Lange (und damit auch gegen Kant) tritt er für die objektive Gültigkeit des Dynamis-Begriffs ein: "Keineswegs ist die Dynamis bloß der subjective Gedanke oder die ideelle Anticipation des Effects; sie ist eine reale, den Dingen selbst innewohnende Tendenz zu einer Action, welche [...] vorläufig noch gehemmt ist, sich doch alsbald in Geschehen umsetzen wird, wenn die äußeren Bedingungen hinzukommen; eine Tendenz, die aber auch schon beim Mangel jener Nebenbedingungen sich zu actualisiren versucht. "10 Mit dieser Rehabilitierung wird der aristotelische Begriff zum Synonym für "potenzielle Energie", "Spannkraft"11 und "reale Möglichkeit" (definiert als "angesammelte (!) oder aufgespeicherte Bewegungstendenz") und damit zum unverzichtbaren Bestandteil der modernen Naturwissenschaft erklärt. Nietzsches Bezug auf diese Passage Liebmanns zeigt, daß er mit dem Willen zur Macht zumindest auch das meint, was philosophisch unter die Titel "Dynamis", "Potentia" oder "reale Möglichkeit" gebracht werden kann. Schon 1873 verwendet er den Dynamis-Begriff zur Bezeichnung eben jener Kraft, die in der Historien-Schrift als "dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht" erscheint (2. UB 3; 1, 269). Der Sache nach besteht die Gleichung zwischen Dynamis und Wille zur Macht schon in jener Zeit, jetzt aber findet sie erst ihren begrifflichen Ausdruck. In Liebmanns Darstellung ist von "innerer Welt" nicht die Rede. Aber die vehemente Verteidigung des aristotelischen dynamis-Begr'iffs eröffnet einen zur aktualen Wirklichkeit komplementären Bereich von Möglichkeiten. Sie gehören notwendig zu den wirklichen Dingen, sind eine in ihnen angelegte, aber "gehemmte Tendenz", die beim Eintritt gewisser "Nebenbedingungen" "entfesselt" und damit wirklich wird.12 Ohne die Anerkennung realer Möglichkeiten in der Wirklichkeit ist nach Liebmann keine Erkenntnis möglich, auch und gerade in der modernen Wissenschaft nicht. Sowohl der Satz von der Erhaltung der Kraft wie auch Darwins Entwicklungsgesetz basieren auf der Annahme einer dynamis in den Phänomenen der realen Welt: Die "Erblichkeit, die Tendenz zur Variation, die Correlation des Wachsthums, sowie die sämtlichen Organismen innewohnende Accomodationsfähigkeit [fallen] gänzlich in den begrifflichen Rahmen der aristotelischen Dynamis hinein".13 Lieb10
11
12 13
Ebd., 11. - Liebmann bezieht sich hier auf die Logischen Studien von F. A. Lange, die posthum (Iserlohn 1877) erschienen sind. Siehe dazu auch: F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, 1866, 86 ff. Nach Lange steckt in der Dynamis-Lehre ein "Grundirrthum", und die Verhältnisbestimmung von Stoff und Form endet in einem "vollendeten Widerspruch" (ebd., 95). A. Mittasch (Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, 111) ist zu entnehmen, daß es sich bei dem von Liebmann verwendeten Begriff der "Spannkraft" um einen Ausdruck von Helmholtz handelt. Helmholtz' Buch Über die Erhaltung der Kraft (1847) hat Nietzsche 1868 zumindest beachtet (vgl. A. Mittasch, ebd., 321). O. Liebmann, Die Arten der Naturnothwendigkeit, 1882, 1 - 45, 18. Ebd., 17.
2. Anleihen bei der Naturphilosophie
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mann beschränkt sich also nicht auf den Ruf "Zurück zu Kant", der ihn zu einer notorischen Größe der Philosophiegeschichte gemacht hat,14 sondern fordert, um der fortgeschrittensten Naturerkenntnis willen, den Rückgang auf Leibniz und Aristoteles. Diesen beim Rückgang auf die klassische Metaphysik zu rehabilitierenden Begriff der realen Möglichkeit übersetzt Nietzsche sich selbst mit dem Terminus des Willens zur Macht] Dabei konnte er mit Otto Liebmann glauben, daß ohne diesen Begriff die Einsichten der exakten Wissenschaften gar nicht zu rechtfertigen seien. Wenn das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, die Theorie von der Entwicklung der Arten oder die (von Liebmann ebenfalls herangezogene) Psychophysik zu ihrer Begründung die Realität einer "physischen und psychischen Spannkraft"15 benötigen, dann heißt das in Nietzsches Sprache, sie bedürfen der Ergänzung durch die "innere Welt", d. h. durch den "Willen zur Macht". Dieser aus dem Innern der Dinge alles antreibende Impuls entspricht in Nietzsches Augen den Begründungserwartungen der modernen Wissenschaften. Ob dieser Begründungserwartung eine mystische Tendenz innewohnt, ist eine in jenen Jahren viel diskutierte Frage. Bei Fechner und Zöllner mag eine solche Neigung gegeben sein, Caspari glaubte sich frei davon, Mayer täte man gewiß Unrecht, wollte man seinem Dynamismus einen mystischen Hang unterstellen. Liebmann, der auch heute noch beachtenswerte Grenzgänger zwischen Aristoteles und Kant, hat mit der z. T. noch romantisch eingestimmten Naturphilosophie der zweiten Jahrhunderthälfte nichts zu tun.16 Also braucht man auch Nietzsche keinen "Panpsychismus" o. dgl. zu unterstellen, wenn er "zur Dynamis noch eine innere Qualität" (N 1887, 36/34; 11, 565) hinzufügen und alles Geschehen auf Triebe, Spannkräfte und gestaute Energien zurückführen will. Aber eine andere Unterstellung wird in der Parallele zu Liebmanns dynamis-Konzept sichtbar: Die Rede von "angesammelten", "aufgespeicherten" oder "gehemmten" Kräften, von der "den Dingen selbst innewohnenden Tendenz zu einer Action"17 läßt ihre Nähe zur Binnenerfahrung des handelnden Menschen erkennen. Die Beziehung auf ein erwartendes, auf Möglichkeiten eingestelltes Erkenntnissubjekt ist auch bei Liebmann offenkundig, obgleich er seinen Begriffsvorschlag streng objektiv verstanden wissen will. Doch ohne Handlungserfahrung könnte der erkennende Mensch nicht von realen Möglichkeiten in den Dingen sprechen. Er schließt von seinen Handlungsmöglichkeiten auf die Möglichkeiten der Dinge. 14
15 16 17
O. Liebmann, Kant und die Epigonen, 1863. Dieses für die Wiederbeschäftigung mit Kant und die Entstehung des Neukantianismus Anstoß gebende Werk befand sich in Nietzsches Bibliothek. O. Liebmann, Die Arten der Naturnotwendigkeit, 1882, 1 - 45, 17. Dazu im einzelnen: A. Mittasch, Friedrich Nietzsche als Naturphilosoph, 1952, 58 - 78. O. Liebmann, Die Artender Naturnotwendigkeit, 1882, 1 -45, 11. - An dieser Formulierung zeigt sich besonders deutlich, daß "innere Tendenz" aus einem anderen Innen kommen muß als aus jenem Inneren des Organismus, auf das W. Roux seine Untersuchungen bezieht. Das Innere, aus dem Liebmann die dynamis wirken läßt, darf nicht als räumlicher Innenraum o. dgl. verstanden werden. Entsprechendes gilt für die von Nietzsche apostrophierte "innere Welt".
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VII. Kraft und Wille als Macht
Die objektiven Möglichkeiten sind nur in Korrespondenz zu den Möglichkeiten des tätigen Wesens. Durch die den Dingen innewohnende reale Potenz werden sie zu Mit-Akteuren im menschlichen Handlungsfeld. Nur in Kenntnis der "gehemmten" Kräfte läßt sich über aktuale Kräfte verfugen. Mit dynamis wird Dingen und Verhältnissen etwas beigelegt, was der Mensch nur in unmittelbarer Verbindung mit seinen Handlungen kennt. Dies sieht Nietzsche schärfer als Liebmann. Er weiß, daß er sich bei der Bestimmung der inneren Qualität der Kraft "der Analogie des Menschen zu Ende bedienen" muß (ebd., 36/31; 11, 563).18 Damit wird sichtbar, worauf die Formel von der "inneren Welt" eigentlich zielt: Es sind die aus der Innenerfahrung des Menschen stammenden, unvermeidlichen Projektionen auf oder besser - in die bewegenden Kräfte der äußeren Welt. Die "innere Qualität" der Kraft ist aus einer Übertragung gewonnen. Die unsere eigene Kraftäußerung begleitende innere Empfindung ist der erkenntnistheoretische Ort, an dem sich die Unterscheidung zwischen Innen und Außen bildet. Nur über unsere Empfindungen haben wir Zugang zu den Dingen. Was immer wir als eine Kraft erleben, ist über die eigene Kraft vermittelt, tritt nur als Reaktion auf unsere eigene Kraft in unseren Horizont. Das "Kraftgefühl" ist das Sensorium für jede nur mögliche Krafterfahrung. Es hat als der "Beweis von Kraft" zu gelten (N 1880, 10/F 100; 9, 437). Was immer es anzeigt, ist eine andere Kraft in Reaktion auf unsere eigene Kraft. Unser Verständnis von Kräften entsteht somit erst im Medium des Kraftgefühls. Es ist das Organ der Kraft in unserer Kraft. Unsere Kraft hat eine "innere Welt", über die wir unmittelbar von Kräften wissen, und in Analogie zur inneren Qualität der eigenen Kraft wird nunmehr für jede Kraft eine innere Qualität gefordert. Indirekt wird damit ein Gedanke erneuert, den Nietzsche schon 1873 in seiner "Zeitatomlehre" entwickelt hat. Schon damals hatte er versucht, die punktuelle Raumatomistik der Naturphilosophie von Boscovich in eine Atomistik der "Empfindungspunkte" zu übertragen, ausgehend von der These, die Materie sei selbst "nur als Empfindung gegeben".19 Die Parallele ist deshalb interessant, weil sie leichter zu erkennen gibt, daß Nietzsche mit der 18
Es ist zunächst unverständlich, wenn G. Deleuze (Nietzsche und die Philosophie, 1976, 57) im Zusammenhang eben dieser Nachlaßstelle (die Deleuze nach der Ausgabe von Wttrzbach (UW 2, 302) zitiert) zu der Behauptung gelangt: "In ihm [dem Willen zur Macht, V. G ] ist nichts Anthropomorphes." An dem sich anschließenden Versuch Deleuze', das Verhältnis zwischen Kraft und Wille zur Macht mathematisch zu veranschaulichen, wird aber deutlich, was sein Satz meint: Der Wille zur Macht ist als rein physikalische Größe zu begreifen - eine These, die Deleuze durch die Umschreibung "differentiell" und "genealogisch" zwar wieder verunklart, an der er aber festhält. Doch selbst wenn diese (kaum zu stützende) These zuträfe, wäre ihr nach Nietzsche immer noch etwas Anthropomorphes beigemischt. Deleuze sitzt einem Irrtum auf, wenn er glaubt, mit der Kritik an der Verabsolutierung der menschlichen Weltsicht im Rahmen einer objektivistischen Metaphysik (vgl. ebd., 198) sei auch die Tatsache beseitigt, daß der Mensch sich ständig selbst im Wege steht. - Deleuze ist nicht der einzige, der die anthropomorphen Elemente in Nietzsches Denken zu verdrängen sucht. Insbesondere die strukturalistische Interpretation, zu der Deleuze selbst nicht zu zählen ist, hat in ihrer hermetischen Selbstreferenz auf die Sprache fur den Menschen keine Systemstelle mehr frei (vgl. E. Blondel, Vom Nutzen und Nachteil der Sprache, 1981/82, 519 - 564, 525 f.).
19
Siehe dazu: K. Schlechta/A. Anders, Friedrich Nietzsche, 1962, 148 - 153.
3. Soziomorphie von Kampf und Kraft
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Konzeption des Zarathustra einen Vorbehalt, der ihn noch 1881 zu einer gewissen Reserve gegenüber Anthropomorphismen veranlaßt hatte, aufgibt. Er findet wieder Mut zu der Unmittelbarkeit der ersten Schaffensperiode und scheut sich nicht, auch im Bereich exakter Naturerkenntnis nun selbst die "Bilderrede" zu verwenden, die er kurz zuvor dem Anatomen Wilhelm Roux zum Vorwurf gemacht hatte.20 Der Topos der "inneren Welt" muß als Beleg für Nietzsches Einsicht gelten, daß der Mensch auch in streng objektiver Einstellung von sich und seiner Bilderwelt nicht loskommt. Die terminologische Entscheidung für den "Willen zur Macht" ist letztlich nur vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis zu verstehen.
3. Soziomorphie von Kampf und Kraft Mit dem Begriff des Krafitgefühls bewegen wir uns freilich auf einem terminologischen Niveau, das Nietzsche zur Zeit der Reflexion über die innere Qualität der Kraft gerade verlassen will. Aber man braucht hier nur das Machtgeßhl einzusetzen, um das Organ zu erkennen, das für die Wahrnehmung des Willens zur Macht zuständig ist. Der Wille zur Macht setzt an eben jener Stelle an, für die das Machtgefühl empfindlich ist. Versteht man, warum Nietzsche statt von Kraftgefühl vom Machtgefühl gesprochen hat, dann versteht man nun auch seine Entscheidung für den Willen zur Macht. Das Machtgefühl, so hat sich im V. Kapitel gezeigt, vermittelt den Selbstgenuß der Macht unter Mächten. Es gehört zu einer sich selbst in ihrer Beziehung zu anderen erfahrenden "Kraft", die insofern aber über bloße Kraft immer schon hinaus ist und in ihrer spezifischen Fremd- und Selbstbeziehung nur als eine Macht bezeichnet werden kann. Das Machtgefühl registriert nicht die absolute Größe einer Kraft, sondern Kiaüverhältnisse. Da diese aber nicht allein in ihrer bloßen (äußeren) Stärke, sondern immer auch in Relation zu ihrer Selbstverfügung wahrgenommen werden, bezieht sich das Gefühl auf Machtverhältnisse. Es geht nicht um Kraft, sondern um Überlegenheit. Physische Kräfte kommen nur insofern ins Spiel, als sie Elemente der im Gefühl ausgedrückten psychischen und sozialen Verfügung sind. Der im Machtgefühl ausgebildete gesellschaftliche Sensus, das Gefühl für Rang- und Wertrelationen, liefert erste Kennzeichen für den Begriff der Macht, der sich deshalb auch in dem neuen Zusammenhang empfiehlt. Die Ergänzung der Kraft kann sich nicht mit der Kraft selbst begnügen. Der gesuchte Trieb muß sich auf etwas beziehen, das an sich selbst ein Innen und Außen hat, das in der Beziehung von Innen und Außen erst entsteht. Der Trieb 20
Vgl. Ν 1881, 11/128; 9, 487: "Unsere Naturwissenschaft ist jetzt auf dem Wege, sich die kleinsten Vorgänge zu verdeutlichen durch unsere angelernten Affekt-Gefühle, kurz eine Sprechart zu schaffen für jene Vorgänge: sehr gut! Aber es bleibt eine Bilderrede!" (Dazu: Müller-Lauter, Der Organismus als innerer Kampf, 1978, 189 - 235, 196 f.)
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VII. Kraft und Wille als Macht
muß eine aktive Kraft anstreben und sein, und er darf nicht selbst wieder nur einen (äußeren oder inneren) Aspekt eines Geschehens darstellen. Der Prototyp der "aktiven Kraft" besteht auch für den durch die naturwissenschaftlichen Studien angeregten Nietzsche in der äußeren Wirksamkeit der "Gewalt-Künstler und Organisatoren", wie sie in der Schaffung gesellschaftlicher Einheiten hervortritt. Das läßt sich exemplarisch an jener bereits zitierten Passage aufweisen, in welcher die Genese der "inneren Welt" beim Menschen geschildert wird (GM 2, 16; 5, 321 ff.). Wenn die ursprüngliche organisatorische Kraft des Menschen sich nicht nach außen entladen kann, wendet sie sich "nach innen", wird "innerlich, kleiner, kleinlicher", und schafft das schlechte Gewissen mitsamt den Idealen, die "negative" genannt werden, weil sie das Gegenbild des Positivs der äußeren Welt darstellen (ebd., 18; 5, 325 f.). Und nun ist es entscheidend, daß Nietzsche diese nach innen abgelenkte Kraft, die er auch als "Instinkt der Freiheit" bezeichnet, mit dem Willen zur Macht gleichsetzt: "Jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht) [...]" (ebd., 326). Der "Stoff" (!), an dem sich die Kraft ausläßt, ist nicht allein der in der Außenwelt gegenübertretende "andre Mensch", sondern ihr eigenes Inneres, ihre nun erst entstehende "willig-zwiespältige[] Seele" (ebd.). Dem Modell dieser Selbsterfahrung des Menschen als Macht ist der Vorbehalt gegen die siegreiche mechanistische Welt-Anschauung (N 1885, 36/34; 11, 564 f.) abgewonnen. Die Rückführung allen Geschehens auf "Druck und Stoß" verfährt, so Nietzsche, letztlich nach dem "Principe der größtmöglichen Dummheit". Warum? Weil man mit dem "Glauben an das Erklären-können" letztlich den Glauben an sich selbst (!) verloren hat (ebd., 564). Die Dummheit liegt in der Mißachtung des Nächstliegenden, nämlich des Selbst, das notwendig hinter jeder Erklärung steht. Auf diese Weise bleibt dann auch der Ursprung der "dynamische[n] Welt-Auslegung" verborgen und mit ihm die Tatsache, daß "zur Dynamis noch eine innere Qualität" gehört (ebd., 565). Die hier schon mitspielende Auffassung Nietzsches vom Auslegungscharakter allen Geschehens impliziert offenbar, daß auch in allem ein sich aus-legendes Innen unterstellt werden muß. Über die Schlüssigkeit dieser Unterstellung wird noch zu sprechen sein. Jetzt reicht es zu sehen, daß er auf der Basis der menschlichen Selbstauslegung jeder, also auch der physischen Kraft, eine innere Dimension zuschreibt. Alle diese die innere Dimension der Kraft ausfüllende Potenz, diese innere Kraft, nennt er "Wille zur Macht". Die innere Welt ist auch insofern nach Analogie des Menschen gedacht, als der gesellschaftliche Selbstbegriff des Menschen durchdringt. Der Kampf ist die entscheidende Kondition für die hier ausschlaggebende Erfahrung. Er ist nur wesentlich, wenn sich ungefähr gleich Mächtige gegenüberstehen, was wiederum einschließt, daß ein Kontrahent auf seinesgleichen stößt. In der Genese der "inneren Welt" am Beispiel des Gewissens tritt auch diese Bedingung hervor, obgleich es dem Wortlaut nach zunächst so klingt, als sei genau das
3. Soziomorphie von Kampf und Kraft
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Gegenteil gemeint: Die "innere Welt" erklärt Nietzsche aus einem Affektstau; die "Entladung des Menschen nach Aussen [ist] gehemmt worden" (GM 2, 16; 5, 322). Dieses "Aussen" erscheint als so etwas wie die äußere Natur, jedenfalls nicht als der andere Mensch, denn er tritt erst als eine Art Ersatzobjekt der Aggression in den Blick, nachdem die Instinkte sich nach innen kehren. Die nach innen umgelenkten Triebe richten sich dann "gegen den Menschen selbst" (ebd., 322 f.). Aber es wäre ein Irrtum zu glauben, erst damit träte der Mensch sich selbst als Gegner entgegen! Sehen wir nur, worin die Entladung nach außen besteht: in "Feindschaft", "Grausamkeit", "Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung" (ebd., 323). Bei alledem rechnet gerade das wildeste Wesen mit seinesgleichen als Widersacher. Dies muß kein als Mensch begriffenes Gegenüber sein, vor allem dann nicht, wenn die aggressive Größe sich selbst nicht als Mensch begreift. Aber sie empfindet nur Lust, wenn sie eine Entsprechung erlebt, wenn der Widersacher ebenso reagieren könnte, wie er gereizt wird. Kurz: Auch die sich kämpfend nach außen entladende Kraft sucht im Kontrahenten eine entsprechende Kraft und erfährt sich insofern als Macht. Wenn es richtig ist, daß nur Mächte kämpfen, während Kräfte lediglich aufeinanderprallen, dann muß die Ergänzung der Kraft zur Macht fuhren und nicht wieder bloß zur Kraft. Das von Nietzsche apostrophierte "Aussen" ursprünglicher Triebentladung ist also bereits ein Umfeld aus gleich ursprünglichen Mächten. Nur im Umgang mit ihresgleichen entstehen die wesentlichen Widerstände, die Verletzungen und Kränkungen, die zur Rückwendung der Macht auf sich selber führen. Die Kraftrelationen der äußeren Welt werden bereits als Machtbeziehungen erlebt und als solche auch verinnerlicht. Es geht also nicht einfach eine Kraft, die nach außen hätte wirken sollen, nach hinten bzw. nach innen los. Rückwirkung ist hier kein Rückstoß, sondern ein äußeres Über- oder Unterlegenheitsverhältnis wird als Verhältnis nach innen versetzt. Deutlich wird das, wenn ausdrücklich Tiere als das Außen genannt werden, gegen die sich der Mensch zu behaupten hat. Auch in dieser Konstellation bleibt die Gegenseitigkeit erhalten, denn im Kampf mit dem als Gegenmacht auftretenden Tier zeigt sich der Mensch als das "noch nicht festgestellte Thier" (N 1884, 25/428; 11, 125). Die für den Kampf konstitutive Machtadäquation ist auf diese Weise hergestellt. Nur unter dieser Bedingung kann sich die spezifische Machtwirksamkeit entfalten, nur hier gibt es Befehl und Gehorsam, Rangfolge, Herrschaft und Organisation. Nur wo es um "Überwältigen" und "Herrwerden" geht, ist der Begriff des Kampfes angemessen. Nietzsche nimmt also die in den Einzelwissenschaften seiner Zeit verbreitete Metaphorik des Kampfes ernst. Er läßt, wie der Begriff es fordert, nur Kräfte zu, die, einfach gesagt, auch siegen wollen. Also muß er von Kräften sprechen, die sich in irgendeiner Form selbst regulieren, die aus einem inneren Antrieb bewegt und zugleich auf ein Umfeld bezogen sind. Solche Kräfte aber fallen unter den Begriff der Macht. Und wo Mächte auf den Plan treten,
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VII. Kraft und Wille als Macht
kann von bloßer Mechanik keine Rede mehr sein. Nietzsche greift daher Wilhelm Roux* Gedanken des Kampfes als Prinzip der internen Selbststeuerung des Organismus bereitwillig auf,21 aber er spricht diesem Geschehen den "Maschinen-Charakter" ab (ebd., 25/426; 11, 124). Seine Vorstellung vom Kampf der Teile im Organismus wie auch vom Kampf der Lebewesen untereinander erweist sich damit nicht nur als anthropomorph, sondern auch im engeren Sinne als soziomorph. Die Gedanken Otto Casparis kamen ihm in diesem Punkt gewiß entgegen,22 doch sie haben nur eine bei ihm seit langem angelegte Tendenz verstärkt. Wie weit Nietzsche das Prinzip des Macht-Kampfes ausdehnt, wird sichtbar, wenn es heißt, daß "alles Geschehen in der organischen Welt ein Überwältigen, Herrwerden und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist [...]" (GM 2, 12; 5, 313 f.). Demnach muß alle lebendige Kraft als eine sich äußernde, nach Überlegenheit und Herrschaft strebende Kraft und damit als Macht begriffen werden. "[Ajile treibende Kraft" ist Wille zur Macht, und es gibt "keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem" (N 1888, 14/121; 13, 300; H. v. m.). Im "Sieg über die Kraft" kommt diese Einsicht zur Anerkennung; in der "Kritik des Mechanismus" versucht Nietzsche sie zu begründen. In dieser mehrfach angesetzten und unter anderem 1888 skizzierten "Kritik des Mechanismus" (ebd., 14/79; 13, 257 ff.), die ausdrücklich als eine Philosophie des Willens zur Macht angelegt ist,23 zieht Nietzsche die Summe seiner Einwände gegen die bloße Kraft. In den Jahren zuvor hatte er mehrfach gerügt, daß die mechanistische Auffassung "nichts als Quantitäten" wolle und damit am Wesentlichen, daß nämlich die Kraft "in der Qualität" stecke, vorbeigehe (N 1885/86, 2/76; 12, 96). Diese Ansicht hatte er auch schon dahingehend präzisiert, daß "die einzige Kraft, die es giebt, gleicher Art wie die des Willens" sei (N 1885, 40/42; 12, 650). Nun versucht er darzulegen, warum die mechanistischen Theorien die äußere, bloß quantitative Ansicht der Dinge nicht durchstoßen. Sie werden von zwei Vorurteilen, die gleichermaßen äußerlich sind, geleitet: Ihr "Sinnen-Vorurtheil" verleitet sie dazu, sich ihre Welt nach Maßgabe von "Auge" und "Getast" vorzustellen. Die Sinne ver21
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"Selbstregulation und Überkompensation sind also die Grundeigenschaften und die nöthigen Vorbedingungen des Lebens." (W. Roux, Der Kampf der Theile im Organismus, 1881, 226) Diese und andere Einsichten der naturwissenschaftlichen Forschung eignet sich Nietzsche auf eine für ihn kennzeichnende Weise an. Das organische Innen wird gewissermafien noch einmal in ein nicht räumliches, nicht stoffliches Innen aberschritten, so daß von diesem neu gewonnenen "intelligiblen" (s. u.) Standpunkt aus alles Naturgeschehen, also auch das Innerorganische, als Außen erscheint. - Das mechanistische Denken betreibt demnach bloß eine "VordergrundsPhilosophie" (N 1885, 34/247; 11, 504). Wenn Nietzsche im selben Zusammenhang die "angeblichen 'Naturgesetze'" zu "Machtverhältnisse[n]" erklärt, dann ist das ein weiteres Indiz fur den nicht-mechanistischen Charakter der Macht. Nietzsche ist sich der terminologischen Besonderheit der Macht im Vergleich zur Kraft folglich sehr wohl bewußt. Siehe dazu: W. Gebhard, Nietzsches Totalismus, 1983, 285. Darauf haben auch S. Barbera u. G. Campioni in ihrer quellengeschichtlichen Studie zu Nietzsches Auseinandersetzung mit E. Renans Dialogues et Fragments philosophiques (1876) aufmerksam gemacht (Wissenschaft und Philosophie der Macht bei Nietzsche und Renan, 1984, 279 - 315).
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mittein den Begriff der Bewegung, der aber nur in ihrem Bereich sein Recht hat; auf das Ganze ausgedehnt verliert er seine Gültigkeit. Bei der Universalisierung der Mechanik wird übersehen, daß sie bereits "eine Übersetzung in die Sinnensprache des Menschen" darstellt (N 1888, 14/79; 13, 258 f.). Von daher ist es dann keine Frage mehr, daß der "Mechanismus [...] nur eine Zeichensprache für die interne Thatsachen-Welt kämpfender und überwindender Willens-Quanta" ist (ebd., 14/82; 13, 262). Das zweite, das "psychologischen Vorurtheil", ist ebenfalls äußerlich, obwohl es aus der "psychischen 'Erfahrung'" stammt. Hier wird nämlich die fälschlicherweise angenommene Einheit des Ich nach außen projiziert. Dadurch entstehen dann die '"Dinge" 1 , die "Atome" und all die festen stofflichen Träger von Ursache und Wirkung. Nach Nietzsche formuliert die Mechanik lediglich "Folgeerscheinungen" in "sinnlichen und psychologischen Ausdrucksmitteln, sie berührt die ursächliche Kraft nicht ..." (ebd., 14/79; 13, 259). Diese ursächliche Kraft ist in keinem "Ding" und keinem "Stoff" zu suchen, sondern allein in "dynamischen Quanten", die "in einem Spannungsverhältniß zu allen anderen dynamischen Quanten" stehen. Deren Wesen besteht in nichts anderem als in dem wechselseitigen Verhältnis zueinander, das nun als ein "Wirken" erscheint (ebd.). Diese essentiellen Quanten sind die Willen zur Macht. Das "Machtquantum" (ebd., 258), wie Nietzsche auch sagt, ist eine Art "Kraftatom" (N 1885, 36/20; 11, 560). Es ist das innerste "Kraftcentrum" (N 1888, 14/184; 13, 371) eines Geschehens: "die elementarste Thatsache, aus der sich erst ein Werden, ein Wirken ergiebt [...]" (ebd., 14/79; 13, 259). Denkt man sie aus der mechanistischen Ordnung hinweg, so bricht diese Ordnung zusammen - eine Konsequenz, die den umfassenden Charakter dieser dynamischen Quanten deutlich macht. Obgleich sie als innere Qualitäten eingeführt werden, sind sie doch die alles tragenden, alles treibenden Grundkräfte des gesamten Geschehens in kosmologischer Perspektive nicht anders als in historischer oder ästhetischer. Die mit dieser "Kritik des Mechanismus" vollzogene Gedankenbewegung ist paradigmatisch für Nietzsches theoretisches Programm. Zunächst führt er alle Quantität auf Qualität zurück, um dann in einem zweiten Schritt die Qualität, in der alle Kraft steckt, aus einer Quantität neuer Art, aus Machtquanten nämlich abzuleiten. Wenn mit dem zweiten Schritt der erste nicht vergessen sein soll, dann kann der Begriff des Machtquantums widerspruchsfrei nur als eine bestimmte Größe von Eigenschaften gedacht werden, als jeweils durch oppositionelle Qualitäten begrenztes Quale. Mit den qualitativen Sprüngen in der Dialektik Hegels dürfte diese Verbindung von Quantität und Qualität nichts zu tun haben. Die Rede ist von qualitativen Momenten, die aber nur wirklich sind, sofern sie in bestimmter Weise auf andere Momente bezogen sind. "Qualität" ist hier gegen das bloß Stoffliche, Materielle, Äußerliche gestellt. Sie verweist auf die Priorität der inneren Welt, deren Perspektive schließlich alles umgreift. Doch gerade aus dieser unvermeidlichen ersten Sicht soll der
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VII. Kraft und Wille als Macht
Übergang zu jenem anderen gesucht werden, das dann als bloße Größe unter Größen auftreten kann. In der Quantifizierung einer ursprünglichen Qualität wird eine gedankliche Grundfigur transparent, die sich mit Nietzsches Anstrengung ergibt, alles stets in realen Oppositionen zu begreifen. Hat er im ersten Schritt Fremdes auf Bekanntes zurückgeführt, so wird im zweiten das Bekannte im Kontrast zum gänzlich Unbekannten verfremdet. Die Reduktion auf das Eigene und Vertraute - üblicherweise der letzte Schritt in einer Erklärung - wird stets noch durch den versuchten Übergriff auf das ganz andere, auf den äußersten Gegensatz überboten. Ein Verfahren bewußter Verfremdung, aus dem bei Nietzsche freilich keine Dialektik folgt. Philosophisch ist damit der paradoxe Versuch unternommen, aus der unvermeidlichen Gefangenschaft im menschlichen Bewußtsein durch Ausrichtung auf ein Nicht-Menschliches und Nicht-Bewußtes auszubrechen. In den Alternativen von Mensch und Übermensch, Leben und Tod, Organischem und Anorganischem, Augenblick und Ewigkeit ist dieses Vorgehen bestimmend. Nietzsches Metaphysik, von der das letzte Kapitel handelt, ist durch die gedankliche Oszillation zwischen dem Menschlichen und seinem Gegenteil bestimmt. Wird mit der Rückführung der bloß quantitativ verstandenen Kräfte auf die qualitative Dimension der uns vertrauten (wenn auch nicht unmittelbar gegenwärtigen und schon gar nicht wirklich bekannten)24 Innenwelt eigentlich schon der Schlußpunkt der Erklärung gesetzt - denn weiter als bis zum inneren Erleben der Kraft können wir nicht hinunter, wenn wir sagen wollen, was die Kraft eigentlich ist -, so wird doch die Qualität noch einmal in ihren phänomenalen Gegensatz übertragen und dem aufgesetzt, was eigentlich nur aus ihr abgeleitet sein kann. Wenn alles, insbesondere alle Quantität, Qualität sein soll, gibt es sachlich keinen Sinn, die Qualität zu quantifizieren. Aber es gibt den hier herausgestellten Effekt der Relativierung der vermeintlich letzten Perspektive. Relativierung ist die zentrale Absicht in Nietzsches Auseinandersetzung mit den großen Themen der philosophischen Tradition. Relativierung der inneren Welt - aber in dem Bewußtsein, daß wir ihr letztlich nicht entkommen -, das ist auch der Gedanke hinter dem Versuch, das Extrem einer Qualität, nämlich den Willen zur Macht auf ein bloßes Quantum, und nichts sonst, zurückzuführen. Mit dieser Rückführung scheint Nietzsche dem Kraftbegriff wieder näher als je zuvor. Der mit der terminologischen Entscheidung für den Willen zur Macht verabschiedete Kraftbegriff kehrt wieder, und zwar auf der Ebene elementarer Machtäußerung. Machtquanten scheinen von Kraftquanten ununterscheidbar. Doch zweierlei ist zu bedenken:
24
Das Bewußtsein liefert keinen direkten Zugang zu dieser inneren Welt: Wird sie als die Welt verstanden, die durch die "'Thatsachen des Bewusstseins'" - ein Ausdruck, den Nietzsche selbst in Anführungszeichen setzt gebildet wird, so bleibt sie uns dennoch unbekannt (FW 3SS; 3, 594). Die innere Welt des menschlichen Bewußtseins ist "voller Trugbilder und Irrlichter" (GD, Irrthümer 3; 6, 91).
4. Warum
Wille - und
nicht
Gefithl?
217
Erstens macht die Relativierung der inneren Welt die für uns bestehende Dominanz des Erlebens nicht vergessen. Das Innen wird ausgestülpt, und dabei bleibt die Verkehrung im nunmehr sich darbietenden Außen bewußt. Der psychologische Zugang wird nicht verdeckt, folglich werden Vorurteile, die den Urteilskontext unterminieren, vermieden. Zweitens läßt die dem Machtquantum beigelegte Wirkung keinen Zweifel, daß hier mehr geleistet wird, als von bloßer Kraft erwartet werden darf. Das Machtquantum zielt nicht auf Bewegung, sondern auf Organisation. Die "von Innen her formschaffende Gewalt" will "fsjiegen", "[vjorherrschen" und durch Unterordnung anderes zum Organ werden lassen (N 1886/87, 7/25; 12, 304). Ihre Leistung liegt in Herrschaft, Befehl und Gestaltung (ebd., 7/9; 12, 297); ihr Erfolg zeigt sich im Wachstum (N 1888, 14/80; 13, 260). Der Grundimpuls ist "Stärker-werden-wollen", damit wirkt er in der Ausrichtung auf andere Machtquanten stets auf sich zurück. In der hier gemeinten Kraft-Auslassung ist ein reflexives Moment-, die gegen Widerstände geäußerte Kraft wird auf das äußernde Zentrum zurückgebeugt; es "erfährt" seine Kraft, es "will" seine Überlegenheit etc. Das "Wesen" (!) der Kraft-Quanta besteht, so Nietzsche, darin, "auf alle anderen Kraft-Quanta Macht auszuüben" (ebd., 14/81; 13, 261). Der "Wille zur Vergewaltigung", das Streben nach übergreifenden Einheiten, nach Übermacht und Einfluß, auch nach Ausnutzung und Ausbeutung, vor allem und in allem aber nach Herrschaft macht offenkundig, daß hier ein komplexeres Phänomen als die bloße Kraftausübung gemeint ist. Der Begriff der Macht trifft exakt die hier gemeinte Form der von innen her auf anderes ausgreifenden, die eigene Stärke suchenden Kraft, die sich im Medium von Befehl und Organisation wachsend als Herrschaft ausprägt.
4. Warum Wille - und nicht Geföhll Damit dürfte ein erstes Verständnis dafür gewonnen sein, warum nicht vom Willen zur Kraft, sondern vom Willen zur Macht die Rede ist. Die noch folgenden Überlegungen zum Begriff der Macht können das Verständnis vertiefen. Das größere Problem aber ist durch den ersten Bestandteil der neuen Formel aufgegeben: Warum denn Wille und nicht länger Gefühl? Warum nicht Lust, Begierde, Instinkt oder, wie ein Interpret es fordert, Trieb?25 Warum überhaupt ein so auffälliger Rückgriff auf ein anthropomorphes Superadditum? Ent25
So B. Taureck, Macht, und nicht Gewalt, 1976, 29 - 54, 50 ff. - Die Unklarheit über die Entscheidung für den Willensbegriff als Bestandteil der Formel "Wille zur Macht" findet sich nicht nur bei diesem Autor. In der Tat liefert das klassische, an das individuelle Selbstbewußtsein gebundene Verständnis des Willens einen starken Einwand gegen Nietzsches Wortwahl. Im folgenden soll sich zeigen, daß es zumindest gute Gründe gibt, nicht von "Trieb" oder "Streben" zu sprechen. Im Ergebnis bestätigen diese Überlegungen F. Kaulbachs Darstellung von "Nietzsches Theorie des Willens" (Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, 229 - 238).
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VII. Kraft und Wille als Macht
hält nicht die Macht an sich eine expansive Tendenz, und ist sie als Äußerung eines inneren Vermögens ohne Ausrichtung auf die mögliche Wirkung überhaupt denkbar? Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es einer genaueren Betrachtung der Beziehung zwischen Macht und Wille. Doch schon jetzt läßt sich sagen, daß Nietzsche durch die Inanspruchnahme des Willens die Dimension der inneren Welt und vor allem die darin entspringende Dynamik aller Bewegung akzentuiert. Es geht ihm offenkundig um die Betonung eines inneren, d. h. nicht physikalischen Ursprungs, der nur in Analogie zur menschlichen Selbsterfahrung zu benennen ist. Und hier interessiert ihn weniger die bloß rezeptive Umsetzung äußerer Vorgänge in ein Gefühl als die Aktivität eines antreibenden Willens. Der dynamische Aspekt allen Geschehens dringt vor. Wollte man ihn durch Rekurs auf das Machtgefüihl begrifflich fassen, müßte man von dem in allen Äußerungen dominierenden Streben nach Machtgefiihl sprechen. Diese oder andere Umständlichkeiten lassen sich nicht vermeiden, solange eine Empfindung, die man stets nur als eine Reaktion auf Ereignisse versteht, nunmehr zur Bedingung erklärt wird. Man müßte dann stets von Zuständen oder Umständen sprechen, in denen das Gefühl sich einstellt. Was liegt daher näher als einen Terminus zu wählen, der den inneren Springpunkt einer Kraft direkt bezeichnet? Nietzsche entscheidet sich für eben jenen Begriff, der alltagssprachlich und in der Terminologie der philosophischen Theorien gleichermaßen jenen inneren Ursprung genuin menschlicher Kräfte benennt. Der Wille von Augustinus bis Kant, der "innere Bestimmungsgrund" vernünftiger Wesen schlechthin, bei Schopenhauer "das Primäre und Ursprüngliche" allen Seins, wird nun auch bei Nietzsche zur ersten Quelle aller dynamischen Beziehungen. Wer bezweifelt, daß hier tatsächlich eine terminologische Entscheidung vorliegt, der möge sich nur die Alternativen vor Augen führen, die sich anbieten: Emerson spricht von "Verlangen nach Macht". Bei Machiavelli ist von Trieb und Drang die Rede, bei Hobbes vom Begehren, bei Kant und vielen anderen vom Bedürfnis oder Streben nach Macht. Diese und andere Ausdrücke finden sich alle auch bei Nietzsche. Um so bemerkenswerter ist es, daß er sich auf einen ganz anderen Begriff festlegt, über dessen Bedeutungslosigkeit er sich im übrigen nicht genug auslassen kann. Sein Widerspruch gegen den Begriff des Willens, sein unermüdlicher Widerstand gegen den Willen als solchen unterstreicht aber nur die Ernsthaftigkeit seiner terminologischen Entscheidung für den "Willen zur Macht". Der erste Blick läßt freilich alles andere als Ernsthaftigkeit vermuten. Wenn ein Autor keine Gelegenheit ausläßt, um die Existenz eines Phänomens zu bestreiten, dann aber eben dieses Phänomen zum ersten und einzigen Faktum erklärt, auf das sich alles andere gründet, dann muß man, will man seinen Verstand nicht in Frage stellen, seinen Ernst in Zweifel ziehen - keine abseitige Möglichkeit bei jemand, der Narrenkappe und Maske höher schätzt als ein gutes Gewissen. Und dennoch wäre es ein Trugschluß! Der Widerspruch im Gebrauch des Wortes ist scheinbar. Die Behauptung: "Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts
4. Warum Wille - und nicht Gefühü
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außerdem!" (N 1885, 38/12; 11, 611) steht der anderen: "es giebt keinen Willen" (N 1887/ 88, 11/73; 13, 36) nicht entgegen. Der Anschein des Widerspruchs entsteht, wenn man es unterläßt, zwischen Nietzsches Metaphysikkritik und seiner Experimentalphilosophie zu differenzieren. In kritischer Absicht destruiert er die substantielle Auffassung vom Willen als einem wirkenden Vermögen im handelnden Subjekt; in seinen eigenen experimentellen Entwürfen sucht er nach einem Wort für alle auf "Etwas" gerichteten Kraftäußerungen und findet es schließlich im "Willen zu ...", strenggenommen nur im "Willen zur Macht". Nur wenn man den "Willen" im "Willen zur Macht" terminologisch isoliert, gerät Nietzsches Lehre in Gegensatz zu ihren kritischen Prämissen. Dabei ist es noch sehr die Frage, ob er mit seiner Kritik am substantialistischen Willensverständnis seine Vorgänger tatsächlich trifft. Insbesondere der auch hier wieder als eine Art Wunschgegner gesuchte Kant dürfte bei der Abwehr der "falschen Verdinglichung" eher auf der Seite Nietzsches als im Lager seiner Gegner zu suchen sein. Auch für Kant "gibt" es den Willen nicht als definite innere Naturkraft; es "gibt" ihn auch nicht als das "Ding an sich", das Schopenhauer daraus gemacht hat (WWV 2, Kap. 18; 3, 221). Daß der Wille eine "vereinfachende Conception des Verstandes" (N 1883/84, 24/34; 10, 663), eine "Synthese zwischen 2 gleichzeitigen Zuständen" (N 1884, 27/24; 11, 281) darstellt, könnte niemand leichter als gerade ein Kantianer zugeben.26 Nur jenen Wendungen von der "Erdichtung" (ebd., 282), vom "bloße[n] leerefn] Wort" (N 1888, 14/121; 13, 301) oder von unbrauchbaren "Fiktionen" (ebd., 14/122; 13, 302) müßte er widersprechen, weil er ihren praktischen Wert zu kennen glaubt. Doch die Bedeutung der für Kant wesentlichen Differenz zwischen theoretischer und praktischer Einstellung ist Nietzsche nie wirklich bewußt geworden. Die gerade mit Schopenhauers Willenskonzeption verwischte Grenze hat er zwar dem Namen nach gekannt, ahnte von ihrer Funktion aber nichts. Deshalb reicht auch sein Bannspruch gegen den Willen allenfalls 26
Der für Kants praktische Philosophie grundlegende Begriff des reinen Willens bezeichnet die Kausalität der Vernunft und ist a priori jeder empirischen Bestimmung enthoben. - Ein Vergleich mit Kants Willenskonzeption würde breiten Raum einnehmen. Im folgenden Text werden einzelne Punkte berührt. Hier muß der Hinweis genügen, daß Kant in den Vorlesungen über "Anthropologie", also in seiner empirischen Behandlung der menschlichen Triebkräfte, auch nur von Lust und Unlust, von Affekten, Leidenschaften und Neigungen, insbesondere von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht etc. spricht, aber nicht vom Willen (vgl. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht; AA 7, 230 ff., 251 ff. u. 271 ff.). Etwas ganz anderes ist es, wenn Kant den zur Beschaffenheit eines Vernunftwesens gehörenden Willen (der also nur in nicht-empirischer Reflexion zu erfassen ist) "heteronomen", also empirischen Bestimmungsgründen unterworfen sein läßt. Auch damit wird der Wille noch nicht zu einer Naturtatsache, obgleich er durch Neigungen affìziert ist. - Die Schwierigkeit, diese Verbindung zwischen "inneren" Handlungsmomenten und "äußerer" Erfahrungsrealität begrifflich zu fassen, kann man schwerlich durch Verzicht auf eine der beiden Seiten lösen. Auch Nietzsche tut dies letztlich nicht, wie zu zeigen sein wird. Auch er kommt ohne den Rückgriff auf die "innere Welt" nicht aus und kann schließlich auch auf den Begriff des Willens nicht verzichten. - Daß Nietzsches Kritik an einem substantialistischen Willensbegriff auch in seiner Zeit kein Novum darstellt, kann die Definition E. Dührings zeigen: "Das Wort Wille hat häufig zu einer falschen Verdinglichung verleitet. In Wahrheit giebt es nur ein Wollen, und dieses ist ein Erzeugnis der Zusammensetzung der antreibenden Kräfte des in den Trieben und Leidenschaften enthaltenen Strebens mit den verstandesmässigen Richtungsbestimmungen." (Cursus der Philosophie, 1875, 186)
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VII. Kraft und Wille als Macht
bis Schopenhauer; inwieweit Nietzsches Kritik dann wieder die vorkantische Metaphysik erreicht, mag offenbleiben.27 Für Schopenhauer ist der Wille Weg und Ziel zugleich, ist sowohl "die einzige enge Pforte zur Wahrheit" wie auch das, was sich durch sie erschließt, nämlich "das innere Wesen eines jeden Dinges" (WWV 2, Kap. 18; 3, 221). Der Wille ist Erscheinung und Ding an sich, darf also nicht allein als das ens realissimum hinter den Dingen gelten, sondern muß zugleich als "nächster und deutlichster" Eindruck eines gegebenen Phänomens angesehen werden (ebd.). Evidenz und höchste Abstraktion, stärkste sinnliche Gegenwart und oberster Allgemeinbegriff fallen für Schopenhauer im Begriff des Willens zusammen. Also gibt es nichts in der Welt, das besser verbürgt und umfassender wäre als der Wille, der psychologisch und metaphysisch gesehen die erste Realität darstellt. Diese Realität hält Nietzsche für ein bloßes "Vorurtheil" (N 1885, 34/61; 11, 439), für den "bleiche[n] Schatten" einer ganz anderen Wirklichkeit (N 1880, 6/254; 9, 264). Nietzsches rigoroser Widerstand ist nur vor dem Hintergrund der monumentalen Willensmetaphysik Schopenhauers verständlich. Was dem Begründer als systematisch einzig mögliches Fundament der Metaphysik gelten konnte, muß dem abtrünnigen Schüler als deren letzte Bastion erscheinen: Fällt der Wille, stürzt die Metaphysik wohl auch - eine Erwartung, die pari passu erkennen läßt, welche weitgesteckte Hoffnung Nietzsche auf seine Konzeption des Willens zur Macht setzt. "Es giebt keinen 'Willen' [...]" und damit weder "Materie" noch "Stoff" (N 1883/84, 24/34 u. 36; 10, 663), noch "Substanz" (ebd., 24/36; 10, 663); es gibt weder eine "'Welt an sich'" noch eine "Welt als Erscheinung" (N 1887, 9/98; 12, 391), weder "innere" noch "äußere" Tatsachen, weder "Ich" noch "Zweck" noch "Geist" noch "Sein" (GD, Irrthümer 3 u. 8; 6, 90 f. u. 96 f.). Es gibt nur noch "Etwas, das an sich nach Verstärkung strebt; und das sich nur indirekt 'erhalten' will (es will sich überbieten -)" (N 1887, 9/98; 12, 392); "es giebt Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren" (N 1887/88, 11/73; 13, 36 f.); alles ist "Wille zur Macht", und es gibt "keine physische, dynamische oder psychische Kraft außerdem [...]" (N 1888, 14/121; 13, 300). Stellt man in Rechnung, daß Schopenhauer in der Bündelung aller Grundbegriffe der Metaphysik zum Begriff des Willens die einzige Möglichkeit ihrer Rettung zu erkennen glaubt, dann ist Nietzsches Erwartung, man brauche das Bündel bloß wieder aufzuschnüren, und die Metaphysik falle ganz von selbst auseinander, nur konsequent. Gerade in dem Versuch, den Lehrer zu überwinden, läßt sich die Schülerschaft am wenigsten verleugnen. In der Sache ist unverkennbar, daß sich Nietzsches Kritik an der metaphysischen Wirksamkeit des Willens gegen Schopenhauer richtet. Aber in der Hoffnung auf den antimetaphy27
Erinnert sei nur an die Parallele, die in Hobbes' Kritik des Willens gegeben ist (siehe oben Kapitel III). Auf die mechanistisch-materialistische Tradition hinter Nietzsches Willensverständnis hat insb. H. Heimsoeth (Metaphysische Voraussetzungen und Antriebe in Nietzsches "Immoralismus", 1935, 7) hingewiesen.
4. Warum Wille - und nicht GefihH
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sischen Effekt seiner Kritik beruft er sich nur gelegentlich auf den philosophiegeschichtlichen Konnex und vertraut auf die Überzeugungskraft seiner psychologischen Entlarvung, die auch das eigentliche, das letzte Faktum, den Willen zur Macht, freilegen soll. Die Vorstellung vom Willen als einer eigenständig auswählenden oder entscheidenden Instanz im Menschen soll insgesamt beseitigt werden. Es ist nun zu fragen, wie Nietzsche seine Kritik begründet, d. h. auch: welche Zusammenhänge hinter der "uralte[n] Mythologie" des Willens (FW 127; 3, 483) zum Vorschein kommen und in welche Bestandteile das gemeinhin "Wille" genannte Phänomen zerfallt. Erst dann ist zu prüfen, wie sich Nietzsches kritische Analyse des Willens mit der Konzeption des "Willens zur Macht" verträgt. Mit diesem zweiten Punkt befinden wir uns dann bereits in der Erörterung der Beziehung zwischen Wille und Macht (Kap. VIII). Das Hauptargument gegen die Existenz des Willens ergibt sich auf einfache, aber angemessene Weise: Wo immer Nietzsche auch sucht - er findet den Willen nicht! Überall dort, wo andere das Phänomen namhaft machen, entdeckt er Lust oder Unlust, Trieb, Drang oder Gewohnheit, Gehorsam, Befehl und Erfolgswunsch (N 1880, 1/125; 9,32), stößt auf das subjektive Gefühl "plötzliche[r] Explosionen von Kraft" (N 1883, 16/20; 10, 506), auf die Vorstellung möglicher Wirkungen (N 1880, 3/36; 9, 56) oder auf den unbestimmten Impuls zur Bewegung in irgendeine Richtung. Auf den Willen als Grund oder Ursache einer Handlung trifft er nicht. Sobald er die in unserem Selbstverständnis integrierte Tatsache des Wollens näher betrachtet, zerfließt sie im Gelände der psychischen Welt. Da sind Empfindungen und Gefühle, eine unübersehbare Vielfalt von Begleiterscheinungen und Folgen, aber niemals ein spontaner Anfang. Nirgendwo fungiert das Ich tatsächlich als Ursprung einer Tat. Im Mechanismus des psychischen Geschehens ist das "'Ich will'" eine nachträgliche Zutat, "ein Stück Urmythologie - nichts mehr!" (N 1881, 12/63; 9, 587). Natürlich hat Nietzsche bei seiner Suche das vor Augen, was gemeinhin als Wille ausgegeben wird. Es ist die Vorstellung von einer originären Ursächlichkeit des Ich. Dabei erkennt er mit sicherem Blick die unmittelbare Verknüpfung von Wille und Freiheit. Das Problem des "Willens" schließt das des "freien Willens" ein. "Unfreier Wille" ist eine contradictio in adiecto (M 124/125; 3, 116 f.).28 Mit der Tatsache des Willens ist auch die der Freiheit behauptet, und umgekehrt kann man von Freiheit nur sprechen, wo auch ein Wille ist. Erst diese Komplexion macht verständlich, warum für Nietzsche der Begriff des Willens so eng mit dem des "Subjekts", der "Handlung" oder der "Schuld" verflochten ist. Seine psychologische Analyse hat einen, wenn man so sagen darf, philosophischen Gegenstand, d. h. sie zielt auf ein, ja auf das Grundproblem der praktischen Philosophie.
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"Unfreiheit oder Freiheit des Willens? Es giebt keinen Willen. " (N 1883/84, 24/32; 10, 663) "[...] es giebtgar keinen Willen, weder einen freien noch einen unfreien." (N 1884, 27/1; 11, 275)
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Also ist es auch kein Wunder, daß Nietzsche unter dieser Voraussetzung den Willen nicht findet. Bei Kant hätte er nachlesen können, daß es den "freien Willen" als psychisches Phänomen nicht gibt, auch gar nicht geben kann, da er sich empirischer Beobachtung a priori entzieht. Auch wenn Parallelen zu Kant in der Regel Nietzsches Gleichgültigkeit gegenüber Methodenfragen ärgerlich hervortreten lassen, machen sie vorrangig das kongeniale Problembewußtsein des Späteren deutlich. So ist es auch in diesem Zusammenhang: Ohne eindringende Beschäftigung mit den systematischen Überlegungen der neueren Philosophie und in transzendentalen Fragen letztlich ahnungslos, stößt Nietzsche dennoch auf eben jenes Vermögen, das nach Kant als Ursprung der Freiheit zu gelten hat und das insofern den Ausgangspunkt aller moralischen Wertungen bildet. Was liegt auf dem Weg zur Umwertung aller (moralischen) Werte näher, als gerade an diesem Willen anzusetzen? Wenn nach der umfassenden Prüfung durch die Kritische Philosophie nur noch der Wille als Urheber von Gut und Böse in Frage kommt, dann gibt es keinen wirkungsvolleren Einstieg in die Umwertung als über den Nachweis, daß dieser Urheber nicht existiert. Nun ist es aber nicht die Willenskonzeption Kants, sondern Schopenhauers substantialistischer Willensbegriff, der Nietzsches Widerspruch herausfordert. Das ist nicht ohne Tragik, denn durch Schopenhauers Anspruch, der einzige legitime Erbe Kants zu sein, bleibt Nietzsche verborgen, daß sich sein Lehrer wohl nirgendwo in einem größeren Gegensatz zu Kant befindet als gerade in der Anlage des Willens. Er kann daher glauben, seine Kritik treffe mit Schopenhauer auch dessen Kronzeugen Kant, ja letztlich den überlieferten Willensbegriff überhaupt. Und in der Tat präsentiert er beachtliche Beweisstücke gegen Schopenhauer und die traditionelle Metaphysik, nur an dem einzigen, den seine Argumente widerlegen müßten, wenn tatsächlich Neuland betreten werden soll, gehen sie vorbei. In gewissem Sinn steht Kant bereits dort, wo Nietzsche hin will.29 Auch Kant stößt in seiner Psychologie nur auf "Lust" und "Unlust", auf "Begierden", "Neigungen", "Wünsche", "Leidenschaften" und "Affekte", aber nicht auf den Willen. Kant hätte gewiß nicht gezögert, Nietzsches Ansicht, Wollen sei "vor Allem etwas Complicirtes" (J 19; 5, 32), zuzustimmen. Wenn er der weitergehenden These, es habe "nur als Wort eine Einheit" (ebd.), widersprechen müßte, dann nicht, weil er - wie Schopenhauer - eine natürliche oder metaphysische Realität dahinter annahm, sondern weil er dem in theoretischer Hinsicht in der Tat gegenstandslosen Wort praktische Bedeutung zumaß. Der hier sogleich deutlich werdende Unterschied betrifft die Stellung zur Moral, nicht die Analyse des Willens, denn auch Nietzsche spricht von einer praktischen Wirksamkeit, die von etwas ausgeht, das hinter den jeweiligen Äußerungen zu suchen ist: "Das Wort des Befehls wirkt nicht als 29
Zur Verdeutlichung: Gemeint ist die nicht-empirische Konzeption des Willens bei Kant, die besagt, daß es den Willen als Naturphänomen nicht gibt.
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Wort, nicht als Laut, sondern als das, was sich verbirgt hinter dem Laut" (N 1884, 25/389; 11, 114). Dieses praktisch unmittelbar verständliche Konstrukt hinter Befehlen, die eine Person sich selbst oder anderen gibt, ist genau das, was Kant "Wille" nennt.30 Damit ist die Liste der Gemeinsamkeiten aber noch nicht erschöpft: Wer hätte schärfere Einwände gegen die von Schopenhauer vorgenommene und von Nietzsche beanstandete Gleichsetzung von "Affekt" und "Wille" (N 1881, U/307; 9, 559) geltend machen können als Kant, und bei wem hätte wohl Nietzsches These, Wille sei "ein Befehlen", größere Zustimmung gefunden als bei dem Theoretiker des "kategorischen Imperativs". Welche Verbindungen hier im einzelnen bestehen, könnte eine vergleichende Untersuchung des Willensproblems bei Kant und Nietzsche zeigen.31 Hier genügt die Andeutung von Gemeinsamkeiten, um erkennen zu lassen, wie sehr Nietzsche gerade in der Frage nach dem Willen in einer philosophischen Tradition steht, die ihn auch dort noch bestimmt, wo er von ihr loszukommen glaubt. Daß Nietzsche alles tut, um die Fesseln der Tradition zu sprengen, zeigt seine Auseinandersetzung mit dem Freiheitsproblem. Indem er nicht nur die Freiheit, sondern zugleich auch das Vorhandensein von Ursache und Wirkung bestreitet, gelingt es ihm in der Tat, die alten Oppositionen zwischen Determinismus und Indeterminismus hinter sich zu lassen. In seinem Ansatz verliert nicht nur die vermeintlich bloß esoterische Frage, ob Vorstellungen Ursache von Handlungen sein können, ihren Sinn, sondern auch der anscheinend die Welt bewegende Gegensatz zwischen Fremd- und Selbstbestimmung wird obsolet. Da es nicht schwerfällt, die Freiheit als Bedingung der tradierten moralischen Wertungen aufzuzeigen, erscheint es auch nur konsequent, wenn Nietzsche hier den Knoten zu durchschlagen sucht. Sollen an die Stelle der alten Werte radikal neue treten, dann dürfen sie auch nicht mehr auf Freiheit basieren. Ob sie dann noch die Funktion von "Werten" haben können, mag vorerst offen bleiben. Um sinnfällig zu machen, daß der Wille tatsächlich in seine Elemente zerfällt, wenn sowohl das geistige Band der Freiheit wie auch die quasi-physikalische Klammer von Ursache und Wirkung fehlen, ist die auch hier unvermeidlich sich einstellende Verknüpfung von Willens- und Freiheitsproblematik32 zu pointieren. Danach werden die von Nietzsche isolierten Funktionen des Wollens vorgestellt.
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31 32
"Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäS sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Und ein solches Vermögen kann nur in vernünftigen Wesen anzutreffen sein." (I- Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (178S); AA 4, 427) Ansätze dazu: H. P. Balmer, Freiheit statt Teleologie, 1977. Dazu: B. Bueb, Nietzsches Kritik der praktischen Vernunft, 1970, 126 ff. u. 1S8 ff.
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5. Zur Psychologie des Willens Im Aphorismus 124 der Morgenröthe warnt Nietzsche davor, zu früh über den zu lachen, der sagt: "'ich will, dass die Sonne aufgehe'" (M 124; 3, 116). Denn eigentlich seien alle Fälle, in denen wir von Wollen sprechen, diesem vergleichbar; in allen solchen Fällen wird einem Geschehen, das sich mit "absolute[r] Nothwendigkeit" ereignet (N 1880, 6/119 u. 120; 9, 225), in lächerlicher Anmaßung eine Ursache unterschoben, die man "Wille" nennt. Das Bewußtsein, eine bloße Begleiterscheinung, die nur die Oberfläche streift (N 1880, 5/47; 9, 193), spielt sich als Urheber auf. Das Lächerliche liegt in der Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse; die Folge macht sich zum Grund, das Beiwerk zum Wesen. Wer immer vom eigenen Willen spricht, glaubt zu schieben und wird doch selbst geschoben. Dieser Glaube an den Willen schließt, nach Nietzsche, den an die Freiheit ein. Deshalb verwendet er nicht selten "Freiheit" und "Wille" synonym: "Der Sonne befehlen aufzugehen, wenn sie gerade aufgeht, das ist die Freiheit unserer Tugendhaften. Wenn wir fühlen, daß ein belobtes und beliebtes Motiv in uns wirkt, dann zu sagen 'ich will'!" (N 1880, 6/119; 9, 225) Der zum Löwen verwandelte Geist (in Zarathustras erster Rede) will "Freiheit [...] sich erbeuten" und sagt darum: "'ich will'" (Ζ I, Von den drei Verwandlungen·, 4, 30). Das Gefühl der Freiheit ist mit dem Gefühl zu wollen (bzw. wollen zu können) identisch: "Sobald der Wille auftritt hat das Gefühl den Eindruck der Befreiung. Das nennt man Freiheit des Willens." (N 1882/83, 4/183 u. 5/1-257; 10, 164 u. 217) Die Illusion der Freiheit geht mit der des Willens einher - und umgekehrt: Die Erfahrung des "unfreie[n] Wille[ns] " enthält gar keinen eigenen Willen mehr, sondern verleitet zur Verlegung des Bestimmungsgrundes in einen "fremden Willenf]" (N 1888, 14/125; 13, 307). Mit dem Zwang wird also nicht nur die Freiheit, sondern auch der Wille aufgehoben. Bei dieser wechselseitigen Verflechtung kann es auch nicht wundern, daß beiden derselbe Ursprung zugeschrieben wird. "Wo Lebendiges ist, da giebt es plötzliche Explosionen von Kraft: das subjektive Gefühl ist 'freier Wille* dabei. " (N 1883, 16/20; 10, 506) Es entspricht soweit ganz der psychologischen Diagnose Nietzsches, wenn er sich der Alternative von Determinismus und Indeterminismus durch Negation der Bezugsgröße zu entschlagen sucht: "Unfreiheit oder Freiheit des Willens? Es giebt keinen Willen." (N 1883/84, 24/32; 10, 663) Sollte es nach diesen Belegen noch einer weiteren Bestätigung bedürfen, daß Nietzsches Willenskritik als Ausbruch aus dem Freiheitsdilemma zu verstehen ist, kann man sich auf sein eigenes Zeugnis berufen: "Das Nachdenken über 'Freiheit und Unfreiheit des Willens' ", so bekennt er 1884, "hat mich zu einer Lösung dieses Problems geführt, die man sich gründlicher und abschließender gar nicht denken kann" (N 1884, 27/1; 11, 275). Was dann als Lösung genannt wird, ist in der Tat radikaler als Kants Ausweg aus der Freiheitsanti-
S. Zur Psychologie des Willens
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nomie, ob sie aber überlegter genannt werden kann und wirklich abschließend ist, daran läßt bereits Nietzsches eigene Entwicklung zweifeln. Doch die Erwartung ist in diesem Fall Beweis genug: Die "Lösung" liegt in der "Beseitigung des Problems", und zwar "vermöge der erlangten Einsicht: es giebt gar keinen Willen, weder einen freien noch einen unfreien" (ebd.)· "Ich lache eures freien Willens, und auch eures unfreien: keinen Willen giebt es. " (N 1883, 9/10; 10, 348) Die für Nietzsche selbstverständliche und heute durch analytische Befunde33 gesicherte Korrespondenz von Wille und Freiheit läßt auch die Entstehung der Illusion des Wollens leichter nachvollziehen. Der entscheidende Punkt liegt in der Umdeutung des Zwangs: "Das 'du mußt' in ein 'du sollst' umzuempfinden - ist das Kunststück!" (N 1880, 7/48; 9, 327) Das "Umempfinden" ändert an den tatsächlichen Abhängigkeiten nichts, es gibt sie nur für etwas anderes aus - und verschafft schon dadurch Erleichterung. Das Kunststück besteht in einer geschickten Interpretation: Das von einem Geschehen abhängige Ich legt sich als Ursache in das Geschehen hinein und kehrt die bestehende Abhängigkeit um. So wird der Zwang erträglich. Das Ich fühlt sich befreit. Auf das Gefühl der Befreiung läuft alles Wollen hinaus, und folglich gelten Nietzsche Wille und Freiheit in ihrem emotionalen Substrat als eins. Ja, mehr noch: Was er in einer boshaft paradoxen Wendung den "Instinkt der Freiheit" nennt, das heißt in seiner Sprache: "Wille zur Macht " (GM 2, 18; 5, 326). Angesichts dieser Einheit bereitet es keine Schwierigkeiten, das Angenehme beim Auftritt des Willens zu verstehen. Natürlich spricht Nietzsche auch von der "Kraft, zu wollen" (N 1880, 3/36; 9, 56), weiß er von der Anspannung insbesondere des "großen Willens", der Zucht und lange Übung voraussetzt. Doch auch hier bildet eine Lust den "inneren Reiz", die Lösung von einem fremden Zwang. Entlastung und Befreiung sind psychologisch das erste; Wollen ist ein Auslassen überschüssiger Kraft (N 1883, 16/20; 10, 506), der Affekt einer "plötzlichen Kraftexplosion" (N 1884, 25/436; 11, 127), ein Loskommen von Not und Schmerz (N 1883, 9/10; 10, 348). "'Ich will' heißt", nach einer Notiz aus dem Herbst 1880, "'ich mache etwas mir Angenehmes [...]"' (N 1880, 6/343; 9, 285). Wollen befreit und befriedigt; das macht die Illusion von der Tatkraft des Willens so verführerisch, und es erklärt, warum sich der Glaube an seine Realität so hartnäckig hält. Dieser Glaube hat darüber hinaus auch einen realen Anhaltspunkt, denn die Umdeutung eines Zwangs in ein Geschehen aus eigenem Antrieb ist an eine wirkliche Vorgabe gebunden: Der "angenehme[J Zustand von uns", der als das eigentliche Ziel des Wollens zu gelten hat, muß tatsächlich herbeigeführt werden können (ebd., 284). Wollen impliziert also auch bei Nietzsche ein Können. In einer frühen Notiz bindet er Wollen und Können so eng aneinander wie "Philosophie und Kunst, Begriff und Anschauung" (N 1870/71, 7/126; 7, 184).
33
Vgl. A. Kenny, Will, Freedom and Power, 1975; F. v. Kutschera, Grundlagen der Ethik, 1982, 280 ff.
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VII. Kraft und Wille als Macht
In den ersten eindringenden Überlegungen ist dieses Können noch auf den "Erfolg einer Handlung" bezogen, der über die "Werthschätzung" durch den Akteur als "Motiv" fungiert und sich so als eine Bedingung des Wollens erweist (N 1880, 1/125; 9, 32; vgl. auch Ν 1880, 4/309 u. 5/5; 9, 177 u. 181 f.). Dann aber wird bezweifelt, ob "Erfolg oder NichtErfolg" etwas mit dem Begriff des Willens zu tun haben; man könnte "auch weinen wollen, aber der Effekt bleibt aus"; man könne ζ. B. auch deutlich sprechen wollen, ohne jedoch in der Lage dazu zu sein (N 1880/81, 8/87; 9, 401). "Der Erfolg", so heißt es in Nietzsche contra Wagner, "war immer der grösste Lügner" (NW, Psycholog 1; 6, 434), ein Satz, den er auch schon zur Zeit der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung hätte schreiben können, nur wäre er damals nicht so weit gegangen, auch das "Werk" und die "That" zu den notwendig vom Erfolg abhängenden Vorgängen zu rechnen. Die Distanz gegenüber dem Erfolg ändert nichts daran, daß Nietzsche auch weiterhin Wollen nur in Verbindung mit "Können" vorstellt. So heißt es im letzten Absatz der Götzen-Dämmerung, er stelle sich nun wieder auf den dionysischen Boden seines Anfangs zurück, auf den Boden, "aus dem mein Wollen, mein Können wächst" (GD, Was ich den Alten verdanke 5; 6, 160). Das Abrücken vom Kriterium des Erfolgs geht mit dem zunehmend entschiedener werdenden Verzicht auf den Begriff der Handlung einher. Wo von "Handlung", "Absicht" und "Ziel" nicht mehr sinnvoll gesprochen werden kann, verliert der Maßstab des Erfolgs seine Bedeutung. Da es im strikten Sinn den Willen nicht mehr gibt, gibt es auch keine erreichten oder verfehlten Ziele mehr. Hier zeigt sich einmal mehr die generelle Schwierigkeit Nietzsches, die in der Behandlung aller praktischen Begriffe, aber auch in der Erörterung der "Wahrheit" oder des "Seins" hervortritt: Er ist ständig genötigt, noch von den Phänomenen zu sprechen, die es gar nicht "gibt". Es "gibt" sie ja auch nicht in einem absoluten, sprachoder denkunabhängigen Sinn. Durch keinen dieser Begriffe ist ein real existierendes Verhältnis oder eine tatsächlich gegebene Tatsache bezeichnet. Wille als eine spontane Ursächlichkeit des Ich gibt es nicht. Gleichwohl hat es eine Bedeutung, von den Phänomenen, denen in der Tradition absolute Seinsweisen unterstellt werden, zu sprechen. Es ist schlechterdings nicht zu bestreiten, daß wir uns immer wieder auf das Wollen und den Willen beziehen und dies augenblicklich verstehen. Es hat also einen Sinn, trotz der metaphysischen Existenznegation von den so bezeichneten Phänomenen zu sprechen. Und in diesem Sinn kann auch Nietzsche die Begriffe gebrauchen, ohne in Widerspruch zu seiner (metaphysischen) Kritik zu geraten. Gleichwohl wäre besser gewesen, vorsichtiger in der Negation von Phänomenen zu sein, auf die er sich ständig bezieht. Man darf deshalb auch den Verzicht auf das Erfolgskriterium nicht als eine Aufhebung der Realitätsbindung des Willens verstehen. Unmögliches läßt sich auch nach Nietzsche nicht wollen. Man muß über Mittel zur Befreiung von einem Druck verfügen und bedarf, soll die Umdeutung zum Wollen gelingen, der "Gewöhnung" beim (im Hinblick auf die Entlastung)
5. Zur Psychologie des Willens
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erfolgreichen Einsatz der Mittel (N 1880, 4/309; 9, 177). Das Wollen begleitet stets ein tatsächliches Geschehen und kann schon deshalb nicht ins Irreale des bloßen Wünschens überspringen. Auch die später noch genauer zu betrachtende Funktion des Intellekts akzentuiert den Realitätscharakter dessen, was Nietzsche hinter dem Wollen aufdeckt. Einen "Willen in's Blaue [...] giebt es nicht [...]" (ebd., 4/310; 9, 178). Wenn es einen solchen Willen in der Tat nicht gibt, dann kann man mit um so größerer Entschiedenheit darauf bestehen, daß Wollen nichts anderes als eine Interpretation darstellt, eine selbstgefällige Auslegung, in der wir uns an eine Stelle rücken, die keinem Ereignis, keinem Individuum und schon gar keinem Bewußtsein eines Individuums "an sich" zukommt. Daß der Wille auf nichts anderem als auf Interpretationen beruht, hat Nietzsche bereits in der Fröhlichen Wissenschaft gegen Schopenhauer ins Feld geführt: Damit ein Wille entstehe, sei "eine Vorstellung von Lust und Unlust nöthig"; daß aber ein Reiz überhaupt als Lust und Unlust empfunden werde, "das ist die Sache des interpretirenden Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet" (FW 127; 3, 483). Danach erscheint der Wille bereits als Interpretation einer Interpretation ·. Die Auslegung eines Reizes als Lust (oder Unlust) wird noch einmal im Hinblick auf eine Urheberschaft ausgelegt. Einen solchen Vorgang mehrfacher Auslegung kann sich Nietzsche in dieser Zeit offenbar nur bei einem hochorganisierten Wesen nach Art des Menschen vorstellen. Deshalb lautet seine dritte Feststellung gegen Schopenhauer: "nur bei den intellectuellen Wesen giebt es Lust, Unlust und Wille; die ungeheure Mehrzahl der Organismen hat Nichts davon" (ebd.). Gemessen am notwendigen Gang allen Geschehens ist der Anspruch auf den Willen die Anmaßung eines intellektuellen Wesens auf eine Urheberschaft, die allenfalls einem Gott zukäme. Der Wille ist die Potenzillusion des Menschen, in der er sich subjektiv vom Bewegungszwang und Leidensdruck des Lebens befreit. Etwas Fremdes wird angeeignet, obgleich es niemals wirklich Eigenes werden kann. Inmitten der alles bestimmenden Gewalt der Verhältnisse behauptet das Ich seine eigene Macht, in der es sich als frei empfindet. Mit einer bloßen Änderung der Einstellung rückt sich das Bewußtsein von der Peripherie ins Zentrum eines Vorgangs. Was gerade wieder in der Zeit Nietzsches als real wirksame "Einsicht in die Notwendigkeit" ausgegeben wurde, das erscheint bei ihm - weniger intellektualistisch und ohne Existenzanspruch - als ein affektives Sich-Einlassen auf die Notwendigkeit, als egozentrischer Drang, selbst Anfang eines Geschehens zu sein. "Was ich nicht vorher gewollt habe, das muß ich nachher wollen - eine andere Wahl ist mir nicht gestellt worden." (N 1883, 22/1; 10, 614) Mit der Umempfindung eines Zwangs in einen Willen erlebt sich das Ich als eine Macht. Es ist die Umdeutung, aus der auch alle Macht entsteht. Die gegen die Metaphysik gerichtete Negation des Willens zeigt damit ihre positive Seite: Daß wir ein Anfang und unsere Taten ein Ende sind, ist Illusion; die Illusion aber ist die Quelle unserer Kraft und unseres Selbstvertrauens. Die Behauptung des Willens ist identisch
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VII. Kraft und Wille als Macht
mit dem Auftritt der Macht. Der positive Effekt der Willensnegation führte aber schnell ins Leere, blieben die Bedingungen und Begleiterscheinungen der Illusion ungenannt. Gerade um sie bemüht sich Nietzsche immer wieder. Er sucht nach dem, was hinter dem Willen steht und beansprucht zu zeigen, was uns eigentlich zu der Illusion verleitet. Während er Schopenhauer vorwirft, "nie eine Analyse des Willens versucht zu haben" (FW 127; 3, 483), bemüht er sich, in den "complicirten" Vorgang des Wollens einzudringen. Seine fragmentarischen Analysen führen zu elementaren Einsichten in die Funktionsbedingungen des Wollens und liefern damit bis heute unübertroffene Aufschlüsse über die Psychologie der Freiheit und - der Macht. Die elementare Bedingung des Wollens ist die Empfindung eines Dranges. Wo sich Triebe oder Bedürfnisse melden, wo Furcht, Freude oder Schmerz auftreten, wo Lust anzieht und Unlust abstößt, kurz: überall, wo der organische Prozeß eine Stellungnahme des Bewußtseins fordert, bietet auch der Wille sich an. Abgenötigte Teilnahme an der Bewegung des Lebens, an "Bewegungen, in denen sich eine Kraft entladet", ist das erste. Aus dem "fortwährende^ Tasten und Tappen der Bewegung" bezieht das Wollen seinen primären Impuls; seine Lehren gewinnt es aus den "Folgen der Bewegung" (N 1880, 1/126; 9, 33). Der Wille regt sich erst unter dem Primat der Empfindungen und Gefühle. So trivial diese Feststellung auch erscheinen mag - sie ist nicht nur in Abgrenzung gegen Schopenhauer von Gewicht: Sie akzentuiert das Nachträgliche, vielleicht sogar Überflüssige des Willens, der in der Reihe der ohnehin zuletzt hinzukommenden Bewußtseinsphänomene sehr spät auftritt. Das impliziert die Behauptung einer fundierenden leiblichen Dynamik des Lebens, auf die der Wille, als Epiphänomen eines Epiphänomens, keinen Einfluß hat. Während für Schopenhauer der Leib die "Objektität" des Willens und damit eine "Vorstellung" des Willens ist, wird der Wille bei Nietzsche zu einer bloß subjektiven Vorstellung des Leibes.34 Als solcher ist er lediglich momentaner Ausdruck der lebendigen Kräfte. Er zeigt 34
Für A. Schopenhauer liegt hier die "katexochen philosophische Wahrheit" : "mein Leib und mein Wille sind Eines; - oder was ich als anschauliche Vorstellung meinen Leib nenne, nenne ich, sofern ich desselben auf ganz verschiedene, keiner andern zu vergleichende Weise mir bewußt bin, meinen Willen; - oder, mein Leib ist die Objektität meines Willens; - oder, abgesehn davon, daß mein Leib meine Vorstellung ist, ist er nur noch mein Wille; u. s. w." (WWV 1, § 18; 2, 122). Nietzsche wechselt die Perspektive, blickt nicht mehr vom Willen auf den (vorgestellten) Leib, sondern vom Leib auf den (eingebildeten) Willen. So wird die von Schopenhauer vorgegebene Akzentuierung des Leibes verstärkt. - Auf eine ganz anders motivierte Betonung der Leiblichkeit des Wollens kann hier ebenfalls nur hingewiesen werden: auf die Physiologie des Willens, die F. A. Lange ausführlich referiert und auch aus heutiger Sicht souverän beurteilt. Lange sieht durch den Aufweis sogenannter physiologischer "Willensimpulse", die durch einen "Muskelsinn" vermittelt gedacht werden, keinen Anlaß, die Rede vom "Willen" aufzugeben, vorausgesetzt, man hypostasiert den Willen nicht zu einem "Vermögen" im Sinne der "alten Psychologie" (Geschichte des Materialismus, 2. Aufl., Bd. 2, 1875, 806). Lange kommt dann zu folgender Einschätzung, deren Nähe zu Nietzsches Negation des Willens in die Augen springt: "Aber was wissen wir denn von diesem Willen [den wir Tieren und Menschen zuschreiben, V. G.]? Von den Erfindungen der Psychologen abgesehen rein gar nichts, als was in den Tatsachen, in den Lebensäußerungen vorliegt. Wenn in gewissem Sinne mit Recht von einer Einheit im Willen die Rede ist, so kann diese nur eine formale sein: Einheit des Charakters, der Art und Weise. Aber diese formale Einheit kommt auch der Summe der einzelnen Lebensäußerungen zu und im Grunde nur dieser. Wenn wir dabei vom 'Willen' reden, so fugen wir ein zusam-
6. Intentionale und imperative Verfassung des Willens
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ihre Stärke und ihre Richtung an, obgleich ihm über deren Ursprung oder Ziel nichts abzulesen ist; er verhält sich zu den lebendigen Kräften wie die Wetterfahne zum Wind: Man sieht ihr zwar die Stärke und Richtung des Windes an, nicht aber, woher er kommt und wohin er letztlich weht - und schon gar nicht, was er ist. Zwischen dem Glauben an die Wirkungskraft des Willens und der Ansicht, die Wetterfahne schriebe dem Wind die Richtung vor, sähe Nietzsche keinen Unterschied. Gleichwohl sind sie Anzeichen einer vorhandenen Bewegung, Äußerungen, und zwar, wie sich zeigen wird, symbolische Äußerungen eines dynamischen Geschehens.
6. Intentionale und imperative Verfassung des Willens Der zugrundeliegenden Dynamik des Willens entspricht, daß er auf ein reales Geschehen bezogen ist - nicht, daß er stets etwas Reales will! Aber er ist Begleitumstand eines tatsächlichen Geschehens. Wenn Nietzsche das Können als eine Bedingung des Wollens exponiert oder sogar auf Wiederholung und Gewöhnimg als notwendige Voraussetzungen zurückgeht, dann läßt er enge Verbindungen zu zwischen dem inneren und äußeren physischen Prozeß einerseits und den Inhalten des Willens andererseits. Einzig der Anspruch, der Wille fungiere als Ursache des Geschehens, wird als illusionär zurückgewiesen; im übrigen kann das im Wollen Vorgestellte die Elemente des Geschehens durchaus zutreffend wiedergeben. Gäbe es diese Korrespondenz nicht, wäre alles am Willen beliebig; Illusion wäre nicht allein, daß ich will, sondern auch: was ich will. Die Forderung, der Wille solle "sich nicht weiter erstrecken als mein Vermögen" (N 1881, 11/194; 9, 518), hätte keinen Sinn; es bedürfte keiner "Organisation", um "dem Willen ein Rückgrat [zu] schaffen" (N 1883, 22/1; 10, 615), und es wäre noch nicht einmal möglich, den Zweck auf einen "'inneren' 'Reiz"' zu reduzieren (N 1883/84, 24/34; 10, 663). Wenn es heißt: "Alle Handlungen müssen erst mechanisch als möglich vorbereitet sein, bevor sie gewollt werden" (ebd.), dann besagt das eben auch, daß mit allem Wollen ein mechanischer Prozeß verbunden ist. M. a. W.: Auch bei Nietzsche werden Wille und Wunsch wohl unterschieden: "Meine Wünsche haben nicht genug Kraft, um mich zu leiten - " (N 1887/88, 11/331; 13, 141). Die Anbindung des Willens an ein Geschehen wäre selbst dann bemerkenswert, wenn sie nicht mehr aussagte als eben die Fundierung des Willens durch einen Lebensvorgang. Damit ist klargestellt, daß der Wille ein Korrelat hat, daß er, obgleich er nicht das ist, als was er erscheint, keineswegs nichts ist. Wenn es immer wieder heißt, es gäbe keinen Willen, dann menfassendes Wort für diese Gruppe von Lebenserscheinungen hinzu. Jede Unterstellung eines Dinges für das Wort ist eine Überschreitung des Gegebenen und daher wissenschaftlich nichtig." (ebd., 807)
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VII. Kraft und Wille als Macht
ist nicht die Existenz eines Phänomens bestritten, welches wir fälschlicherweise "Willen" nennen. Mit dem metaphysischen Begriff des Willens haben wir nur eine falsche Interpretation von etwas, das es als solches durchaus gibt: "Hinter jedem 'Willen' 'Fühlen' setzen wir einen Bewegungs-Prozeß voraus, der für das Auge dasselbe wäre. " (N 1884, 25/389; 11, 114) Von größerer Bedeutung aber ist, daß Nietzsche nicht nur an physiologische Korrelate, an Vorgänge im Gehirn (N 1883/84, 24/34; 10, 663) oder an Kraftentladungen des gesamten Organismus (N 1883, 16/20; 10, 506) denkt, sondern auch an psychische Momente. Seine Rede vom "Mechanismus" bezieht ja auch die Logik seelischer Ereignisse ein. Übung und Gewöhnung meinen ja nichts anderes als die Assoziation von Empfindungen, Gefühlen und Gedanken. So ist die Stimulation einer Lust, z. B. die Erregung des Machtgefühls, ein notwendiges Ingredienz des Wollens. Daß auch Vorstellungen dazugehören, wird von Nietzsche immer wieder betont: "Wir können nur 'wollen', was wir gesehen haben - also seit der Ausbildung des Auges giebt es erst Vorstellungen im Gedächtniß, und diesen, wenn sie stark genug reizen, folgen dann Handlungen. " (N 1881, 11/133; 9, 490) "Handlung" ist hier nicht auf genuin menschliche Selbstbewegung beschränkt, sondern entspricht dem lateinischen "actio" (bzw. reactio), was besonders daraus erhellt, daß auch Bewegung, die auf bloß "afferente Reize" (ebd.) folgt, als Handlung bezeichnet wird. Um so wichtiger ist die Eindeutigkeit, mit der Wille und Vorstellung verknüpft werden. Wollen ist auf ein jeweils Vor-gestelltes bezogen, auf etwas, das nach Art eines Bildes vor Augen steht. Diese Beziehung muß man wohl als Ausrichtung auf etwas begreifen: Das Vorgestellte ist Ziel der vom Willen angestrengten Bewegung. Ein mit der Vorstellung implizit erfahrener Abstand soll überwunden werden. Jedes Wollen drängt damit in einen Zustand, der im Akt selbst noch nicht gegeben ist. Es überschreitet eine Situation kraft einer Antizipation. Die Vorstellung treibt von der Einstellung zur Herstellung, vom bildlichen Eindruck zum wirklichen Ausdruck. Das heißt immer auch: die Dynamik des Wöllens geht von innen nach außen. Die Vorstellung ist das Medium für die Ableitung der inneren Energie. Die Äußerung einer Kraft, ihre "Entladung" oder "Explosion", ist der eigentliche Vorgang, für den der Wille nur ein Zeichen ist. Er ist ein Indikator jener inneren Kraft, die Nietzsche im Weltbild der Physik vermißt. Er kann nach allem, was über ihn gesagt wird, diese Kraft nicht selber sein. Die Bindung des Wollens an Vorstellungsleistungen impliziert die Ausrichtung auf vorgestellte (und insofern bestimmte) Ziele. In einer vielzitierten These hat Nietzsche dieses Merkmal akzentuiert: "es giebt kein 'wollen', sondern nur ein Etwas-wollen" (N 1887/88, 11/114; 13, 54). Die Bewegung des Strebens hat mit der Richtung auch ein Ziel. Ein "Wille in's Blaue" erscheint, wie gesagt, als psychologische Absurdität; ohne die Vorstellung eines angestrebten Zustands ist es unmöglich, überhaupt von Wollen zu sprechen. Subtrahiert man das Wohin, dann hat man "den Charakter des Willens weggestrichen" und behält nur "ein
6. Intentionale und imperative Verfassung des Willens
231
bloßes leeres Wort" zurück (N 1888, 14/121; 13, 301). Wollen ist die bewußte Ausrichtung auf einen künftigen Zustand und damit auf ein Ziel. Und selbst wenn alle konkreten Lebensumstände ihre Attraktionskraft eingebüßt haben sollten, legt sich das Wollen eigene Ziele zurecht und macht selbst aus dem "Nichts" ein "Etwas", auf das es hinaus will (GM 3, 1 u. 28; S, 340 u. 411 f.). Nietzsche ist es aber wichtig, daß die im Wollen notwendig intendierten Ziele ebensowenig verdinglicht werden wie der Wille selbst. Das "Etwas" ist eine Funktion des Wollens, kein für sich bestehender Gegenstand oder Zweck. Das "Etwas-Wollen" ist als ein Begriff zu lesen, der die Orientierung auf etwas Bestimmtes als analytisches Implikat des Wollens kenntlich macht. Wo ein Wille ist, ist notwendigerweise auch ein Ziel. Das Nietzsche selbst wohl wichtigste Moment des Wollens ist dessen imperativer Charakter. Nachdem er in Jenseits von Gut und Böse erklärt hat, Wollen scheine ihm "vor Allem etwas Complicities" (J 19; 5, 32) zu sein, hebt er in dem Versuch, das komplexe Phänomen etwas aufzuhellen, vor allem dessen Kommandostruktur heraus. Erstens sei in jedem Wollen eine "Mehrheit von Gefühlen", und zwar von Gefühlen der Attraktion und der Repulsion; sie ziehen zu etwas "'hin'" oder stoßen "'weg'", befehlen damit entweder "Komm!" oder "Geh!". Zweitens sei das Wollen "auch noch Denken: in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken". Hier fügt er die Versicherung hinzu, ohne diesen Gedanken bleibe vom Willen nichts übrig. Drittens sei der Wille ein "Affekt", und zwar ein "Affekt des Commando's" (ebd.). Da Nietzsche weitere Punkte nicht nennt, sondern sich im folgenden ganz auf das imperative Moment beschränkt, darf man annehmen, daß hier die Kompliziertheit des Willens am dichtesten ist. Im übrigen sprechen auch zahlreiche andere Stellen dafür, daß der Befehl im Zentrum dessen steht, was das "Volks-Vorurtheil" für den Willen hält: Jeder Willensakt "setzt gleichsam die Ernennung eines Diktators voraus" (N 1885, 37/4; 11, 578). Die Pointierung des imperativen Charakters allen Wollens kehrt das übliche Bedingungsverhältnis um: Aus der Voraussetzung des Befehls wird eine Folge. Es ist nicht der Wille, der den Befehl ermöglicht, sondern der Befehl ist es, dem wir einen Willen beilegen. Dieser anscheinend marginale Rollenwechsel gewinnt Bedeutung, wenn man beachtet, was Nietzsche hier eigentlich an die Stelle des anderen treten läßt: Wo nach dem geläufigen Verständnis ein psychisches Vermögen als erzeugende Bedingung fungiert, wirkt nun die generative Kraft einer sozialen Beziehung. Der Wille ist nicht mehr Ausdruck einer Kraft, sondern einer Vielheit von Kräften, deren Gegen- und Miteinander dort, wo es nicht unmittelbar gesellschaftlich ist, nur nach Analogie einer gesellschaftlichen Beziehung verstanden werden kann. Der Befehl, von Nietzsche als eine Aufforderung zum Gehorsam ausgelegt, setzt mindestens zwei Instanzen voraus, wenn er einen Sinn geben soll: eine gebietende und eine gehorchende. Impliziert ist nicht nur, wie beim Willen, die Intention auf etwas, sondern immer
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VII. Kraft und Wille als Macht
auch die Ausrichtung auf einen anderen, der gehorchen soll.35 Der Befehl ist notwendig auf einen Empfänger bezogen, auf jemand, der erwarten läßt, daß er die Anweisung grundsätzlich verstehen und ausführen kann. Wo ein Adressat fehlt, wird er unterstellt, wie z. B. bei jenen Imperativen, die man sich selber erteilt. In ein und derselben Person tritt ein gebietendes Ich einem zum Gehorsam aufgeforderten Ich gegenüber - "'ich befehle mir'" (N 1880, 6/119; 9, 225; H. v. m.). Die Funktionsbedingungen fordern die Aufspaltung des Ich in zwei Rollen. Nietzsche läßt keinen Zweifel daran, daß nur dort von Befehl gesprochen werden kann, wo diese beiden Rollen aufeinander bezogen sind. So gesehen ist der Befehl, wo und wie er auch immer auftritt, ein fait social. Für diesen Tatbestand spricht auch die genetische Beziehung zwischen den Funktionen. Beide repräsentieren ein genealogisches Erbe, sie müssen im Laufe von Generationen ausgebildet und weitergegeben werden. In ihren ausgeprägten "stolzen" Formen gehören sie zu den "Künsten", von denen Nietzsche mit höchster Anerkennung spricht (MA 1, 440; J 213, 251; GM 2, 2). Also schon der Gehorsam als die elementare Bedingung kulturellen Lebens bedarf der Übung und Züchtung. Es ist die Tugend der Vielen, die aber in die Tugend der "kleinen Zahl Befehlender" (J 199; 5, 119) eingehen muß, soll der Befehl auch wirksam sein. "Man muß befehlen lernen, bei Zeiten -, ebensogut als gehorchen." (N 1888, 15/98; 13, 464) Das Erlernen des Befehlens aber schließt das Gehorchen-Können ein, denn zum durchsetzungsfähigen Kommando gehört eine "harte Disciplin", die Fähigkeit, sich einem anerkannten Gesetz unterzuordnen (N 1888, 14/161; 13, 346). Über die von Nietzsche in jedem starken Imperativ vorausgesetzte Kraft der Selbstdisziplin ist die Fähigkeit, "auf stolze Weise zu gehorchen", conditio sine qua non eines jeden Befehls (vgl. Ν 1880, 6/229; 9, 257 f.). Es gelingt dem Befehlenden nur dann, anderen ein Gesetz aufzuerlegen, wenn er sich selbst ein Gesetz gibt (N 1880, 4/111; 9, 128). "Ein Mensch, der will -, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht." (J 19; 5, 32) Nietzsche nennt es das "Wunderlichste am Willen", daß er Befehlen und Gehorchen zugleich ist und daß wir auch "als Gehorchende die Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen" (ebd., 32 f.), also alle Empfindungen, die auch den Befehl begleiten. Der Lenkung fremder Kräfte geht die Bändigung der eigenen voraus. Der Befehlende organisiert, "ökonomisirftj" die "so gefährlich und überwältigend hervorströmenden Wildwasser der Seele", er hält ihre Macht nicht zurück, aber er nimmt sie "in Dienst" (N 1888, 14/163; 13, 347).
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Der Ratschlag Solons, von dem Diogenes Laertius (I, 60) berichtet, war Nietzsche mit Sicherheit bekannt: "Erst dann herrsche, wenn du gehorchen gelernt hast." Für Solon war dies gleichbedeutend mit der Anweisung: "Mache die Vernunft zu deiner Führerin."
7. Wollen als Exposition gesellschaftlicher Organisation
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7. Wollen als Exposition gesellschaftlicher Organisation Allein die Metaphorik, mit der Nietzsche die Kraftökonomie der Seele beschreibt, belegt seine Orientierung an Modellen technischer, militärischer, wirtschaftlicher und politischer, in jedem Fall: gesellschaftlicher Organisation. Am stärksten prägt sich der gesellschaftliche Charakter im Befehlsverhältnis aus. Es ist das alte, im 18. und 19. Jahrhundert zu philosophischem Selbstbewußtsein gelangte Paradigma von Herr und Knecht, das Nietzsche hier psychologisch fruchtbar macht. "Wollen", so hat Heidegger es ausgelegt, "[...] ist Herrsein-wollen. Dieser Wille ist noch im Willen des Dienenden, nicht etwa sofern er darnach strebt, aus der Rolle des Knechtes sich zu befreien, sondern sofern er Knecht und Diener ist und als solcher immer noch den Gegenstand seiner Arbeit unter sich hat, dem er 'befiehlt'."36 Also auch noch als selbstbezogener Akt ist der Wille gesellschaftlich verfaßt. Das sichtbarste Zeichen der Entsprechung zwischen Herrschafts- und Befehlsstruktur ist natürlich das Ranggefälle. Der Befehl ist dem Gehorsam so überlegen wie der Herr dem Knecht, - aber er ist auch ebenso angewiesen auf ihn: So wie der Herr ohne Knecht nicht das wäre, was er ist, bliebe ohne Gehorsam auch vom Befehl allenfalls ein blasser Wunsch zurück. Die "Grundthatsache" von Befehlen und Gehorchen "setzt eine Rang-Ordnung voraus" (N 1884, 26/85; 11, 171). Die genetische Abhängigkeit des Befehls vom Gehorsam macht zur Genüge deutlich, daß hier eine Wechselbeziehung besteht, die dem, was nach Hegel Herr-Knecht-Dialektik heißt, vollauf genügt. Selbst das Moment gegenseitiger Anerkennung ist dem Verhältnis inhärent, d. h. auch Nietzsche gesteht dem Gehorchenden eine vom Befehlenden anerkannte Eigenständigkeit zu. Im Gehorsam ist ein "Widerstreben" gegen das überlegene Gebot nicht aufgegeben; die "Eigenmacht" des sich Fügenden ist für das Verhältnis konstitutiv. "Ebenso ist im Befehlen ein Zugestehen, daß die absolute Macht des Gegners nicht besiegt ist, nicht einverleibt, aufgelöst. 'Gehorchen' und 'Befehlen' sind Formen des Kampfspiels." (N 1885, 36/22; 11, 560 f.) Als diese Formen sind sie aufeinander bezogen und haben ihre je eigene Kraft, die sich an der anderen bestimmt. Gehorsam ist sowenig ein Ausdruck von Ohnmacht wie der Befehl ein Zeichen absoluter Überlegenheit. Ihre Gemeinsamkeit haben sie in den Regeln des Kampfspiels, und nur innerhalb dieses Spiels haben sie ihren spezifischen Unterschied: "Leben wäre zu definiren als eine dauernde Form von Prozeß der Kraftfeststellungen, wo die verschiedenen Kämpfenden ihrerseits ungleich wachsen." (ebd., 560) Das Ranggefälle ergibt sich nur, wo ein Zusammenhang besteht. Im Fall von Befehl und Gehorsam ist es der durch Regeln gesteuerte Prozeß der Kraftfeststellungen, also nicht des bloßen Kräfteverbrauchs, sondern der Abgrenzung, Schätzung und Maßgabe von Kräften untereinander, d. h. der Ta-
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M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, 1961, 265.
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VII. Kraft und Wille als Macht
xierung ihrer Potentiale, mithin ihrer Macht gegeneinander. Befehl und Gehorsam erfüllen also zwei komplementäre Funktionen in der Organisation von Machtkomplexen. Der gesellschaftliche Charakter des Befehls kommt auch dadurch zur Geltung. Was immer der Begriff des Willens bezeichnet -: Es darf nicht als ein psychisches Vermögen angesehen, sondern muß als Komplex von Kräften betrachtet werden, dessen Verständnis letztlich auf der Erfahrung mit seinesgleichen basiert. "[W]ir müssen einen Herrn annehmen, aber der ist nicht im Bewußtsein [...]" - nach dieser soziologischen Maxime werden auch die untersten Lebensvorgänge gedeutet (N 1884, 27/26; 13, 282). Wo Wille ist, da ist auch Macht; aber nicht bloß die Macht zu wollen, sondern Macht nach Art eines Herrschaftsverhältnisses. Nietzsches Darstellung täuscht nur zu leicht über diese gesellschaftliche Prämisse hinweg. Wenn er vom Wollen als einer "Mehrheit von Gefühlen", vom "commandirenden Gedanken" oder vom "Affekt des Commando's" spricht, scheint sowohl jedes Moment für sich wie auch ihre im Wollen exerzierte Einheit rein psychischer Natur zu sein. Doch der Anschein besteht nur, solange man Nietzsche einer ihm fremden Bedingung, nämlich der kategorialen Trennung von Seele und Gesellschaft, unterstellt. Die Seele genießt keine methodologische Exklusivität, sie gilt ihm weder als selbständig gegenüber dem Leib noch gegenüber den umgebenden Bedingungen. Sie ist ein Organ in der Oligarchie des Organismus, das erst in Auseinandersetzung mit anderen gleichgearteten Organismen nötig wird. Man lese nur die Ausführungen über die Genese von Vergeßlichkeit oder Verantwortlichkeit (GM 2, 1 u. 2), und man wird erkennen, daß die Separierung der inneren Welt für Nietzsche auch nur eine Funktion des Lebens darstellt. Die psychischen Dispositionen entstehen in Begleitung elementarer Lebensfunktionen, die als solche keine höhere ontologische Dignität beanspruchen können. Eine kategoriale Abgrenzung der psychischen Leistungen nähme Nietzsches genealogischem Versuch die Pointe. Derselbe Grund verbietet aber auch die Priorisierung der gesellschaftlichen Dimension in den menschlichen Äußerungen. Die Sozialität ist in überraschend starkem Maß berücksichtigt -, soviel darf und muß man sagen. Aber damit ist kein Primat der soziologischen Herkunft behauptet. Die Gesellschaft ist für Nietzsche ein Stück Natur, das dem Menschen so zugehört wie der Mensch ihm. Nichts bringt das naturale Ineinander von Mensch und Gesellschaft besser zum Ausdruck als die vexierende Formel vom Menschen als dem "sociale[n] Thier" (FW 354; 3, 592). Kategoriale Separierung würde auch hier den Zusammenhang zerstören, auf den es Nietzsche gerade ankommt. Wie unbekümmert Nietzsche über methodische Fragen hinweggeht, zeigt z. B. seine Erklärung, unser Leib sei "ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen" (J 19; 5, 33). Denn vor dem Hintergrund seiner Einsicht, daß auch die Seele "nur ein Wort [ist] für ein Etwas am Leibe" (Ζ I, Von den Verächtern des Leibes-, 4, 39) und dieses Etwas sich im Grunde als eine "Vielheit der Affekte", genauer: als ein "Systemf] von Werthschätzungen und Werth-
7. Wollen als Exposition gesellschaftlicher Organisation
235
affekten" (N 1885, 35/6; 11, 511) erweist, die lediglich nur das Geschehen zwischen den Leibern organisieren, scheint sich in letzter Konsequenz alles in gesellschaftliches Geschehen aufzulösen. Doch daraus eine fundamentalistische Konsequenz zu ziehen, wäre absurd, weil auf der damit erreichten Ebene Leben und Gesellschaft ununterscheidbar sind. Der Begriff des Willens hat eine gesellschaftliche Dimension, bezeichnet aber kein "rein" soziologisches Phänomen. Es reicht also völlig aus, die starke Beachtung sozialer Phänomene zu unterstreichen, ohne daraus die Dominanz eines disziplinaren Zugangs oder gar eine szientifische Weltanschauung abzuleiten. Nietzsches soziologische Aufmerksamkeit enthält ein starkes Argument gegen jene, die seinen Psychologismus oder Biologismus beklagen, aber soziologisch im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin ist sein Denken damit nicht, auch wenn er einen so basalen Vorgang wie das Wollen gänzlich in einen gesellschaftlichen Prozeß aufzulösen scheint: "Bei allem Wollen handelt es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler 'Seelen"' (J 19; 5, 33). Die Konzeption des Willens als Befehlen und Gehorchen im "Gesellschaftsbau vieler Seelen" schließt ein Merkmal ein, das seine kategoriale Auszeichnung besonders nahelegt, zumal Nietzsche ihm einen besonderen Nachdruck verleiht. Gemeint ist die Exklusivität der Willenswirkung: "'Wille'", so heißt es im zweiten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse, "kann natürlich nur auf 'Wille' wirken - und nicht auf 'Stoffe'" (J 36; 5, 55). Der Wille bleibt auf seinesgleichen bezogen. Er kann nur dort ansetzen, wo auch gewollt wird, wo er als Wille aufgenommen oder abgewehrt werden kann. Zwischen voluntativen Impulsen und rein physikalischen Prozessen besteht keine Wechselwirkung. Dies ist übrigens auch die These, mit der Georg Heinrich Schneider seine Darstellung des menschlichen Willens "vom Standpunkte der neueren Entwicklungstheorien" einleitet und auf der die von ihm gegebene Beschreibung der "thierischen Willen" beruht. Nietzsche kannte beide Werke bereits kurz nach ihrer Publikation.37 Eine ontologische Kluft zwischen psychischem und physischem Geschehen täte sich aber nur auf, wenn Nietzsche nicht sogleich versuchte, alles mechanische Geschehen hypothetisch als "Willens-Wirkung" auszulegen: "alle Wirkungen sind Willens-Wirkungen", so wiederholt er noch 1888 (N 1888, 14/125; 13, 306). In dieser Wirksamkeit entpuppt sich der Wille als die innere Kraft schlechthin, als der aus einem Zentrum kommende Impuls, als die Triebkraft der inneren Welt. Als Triebkraft der inneren Welt aber ist er die gesuchte Ergänzung zur Kraft und somit die treibende Kraft in allem Geschehen überhaupt. Wird der Wille als diese Grundkraft thematisch, dann spricht Nietzsche nicht einfach vom "Willen", sondern dann gibt er ihm ohne besonderen Vorbehalt den Namen "Wille zur Macht". Ist im ersten
37
G. H. Schneider, Der menschliche Wille, 1882, 5 f. u. 11 - 18; ders., Der thierische Wille, 1880.
236
VII. Kraft und Wille als Macht
Teil des Aphorismus 36 in Jenseits von Gut und Böse nur vom Willen und von Willens-Wirkungen die Rede, so wird in der Schlußpassage eben dieser Wille, nunmehr als spezifisches Wirkungsmoment in jedem Geschehen angesehen, als "Wille zur Macht" bezeichnet. Damit ist alles, was als "Wille" erscheint, "Wille zur Macht", und umgekehrt ist aller "Wille zur Macht" in seinem Kern eben das, was "Wille" heißt.
8. Die Intelligibilität des Wollens Auch diese Konsequenz erscheint trivial. Aber ist es nicht doch erhellend, daß Nietzsche die nicht mechanische Wirkungsweise des Willens nur durch dessen Rückführung auf den "Willen zur Macht" erklären zu können glaubt? Und wenn dies nicht interessant genug ist, dann ist es mit Sicherheit jenes Wort vom "intelligiblen Charakter", mit dem Nietzsche versucht, die Wirklichkeitsdimension des Willens zur Macht zu umschreiben. Auch wenn er im Konjunktiv spricht und vielleicht auch etwas Ironie hineinspielen lassen will, der metaphysische Ort des von Nietzsche freigelegten Willensursprungs ist durch diese Anleihe bei Leibniz und Kant deutlich genug umschrieben: "Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren 'intelligiblen Charakter' hin bestimmt und bezeichnet - sie wäre eben 'Wille zur Macht' und nichts ausserdem." (J 36; 5, 55) Man braucht nicht eigens zu versichern, daß Nietzsche den Begriff des intelligiblen Charakters nicht im Sinne Kants verstanden wissen will. Er hätte sonst auch die Funktion eines denknotwendigen vernünftigen Wesens (Noumenon) zu akzeptieren, das prinzipiell vom "empirischen Charakter" endlicher Wesen (Phaenomena) unterschieden ist. Nietzsche wäre damit vor sich selbst durch die Hintertür zur "Hinterwelt" geflohen. Doch sowenig er auch die Verbindung zu intelligiblen Ordnungen sucht: Sachlich scheint sie sich ihm aufzudrängen. Beachtlich ist jedenfalls die Nähe zwischen der Stellung des Willens zur Macht und den intelligiblen Charakteren, wie sie erstmals Leibniz hervorhebt.38 Wenn der Wille zur Macht ein theoretisches Konstrukt darstellt, das die Wirkungsweise zwischen den nicht-stofflichen Kräften (des "Willens") erklären soll, und zwar so, daß sich alles Geschehen als Ausdruck der dynamischen Beziehung zwischen den Willensimpulsen, den eigentlichen Kräften der Welt, verstehen läßt, dann erfüllt er formal die Definition des "characteristicum universalis". Die bei Leibniz noch sehr auf den mathematischen Gebrauch beschränkte Verwendung wird aber von Kant in eben den dynamischen Zusammenhang transponiert, von dem Nietzsche dann später spricht. Da man die Handlungen eines Subjekts (so nennt Kant den Träger eines
38
G. W. Leibniz, Mathematische Schriften 5, 1858 (Nachdruck 1962), 141.
8. Die Intelligibilität des Wollens
237
Willens, Nietzsche spricht vom "Subjekt" - setzt also Anführungszeichen) letztlich nicht aus der menschlichen Natur, d. h. aus dem "empirischen Charakter" des Subjekts herleiten kann, muß man "ihm noch einen intelligibelen Charakter einräumen [...], dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht und selbst nicht Erscheinung ist" ,39 Die Einräumung des "intelligiblen Charakters" geschieht bei Kant aus Gründen, die auch bei Nietzsche wieder begegnen, nur etwas anders formuliert: "[M]an muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo 'Wirkungen' anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt - und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist." (ebd.) Da nicht alles bloße Mechanik sein kann, muß eine innere Kraft angenommen werden, die Einheiten und damit Unterschiede schafft. Man wende nicht ein, Kant benötige den "intelligiblen Charakter" zur Absicherung des moralischen Handelns. Diese Funktion wird dem Begriff erst in der "Kritik der praktischen Vernunft" übertragen, und es ist fraglich, ob sie dort auch erfüllt wird. In der "Kritik der reinen Vernunft" geht es noch nicht um moralisches Handeln, sondern um das Problem der Freiheit, d. h. um eine Kausalität, die nicht mit den mechanischen Ursachen zusammenfällt und die doch nur innerhalb des mechanischen Geschehens wirksam ist.40 Die gesuchte Kausalität aus Freiheit läßt sich durchaus als Frage nach der spezifischen "Willens-Wirkung" verstehen. Ein gravierender Unterschied ergibt sich erst mit Nietzsches Ausweitung der Willenskraft auf alles Geschehen. Während Kant nur die Frage zuläßt, inwieweit der Mensch sich selbst, d. h. seine Handlungen, anders betrachten muß als die Dinge der äußeren Natur, geht Nietzsche gleichsam auf Leibniz' Standpunkt zurück, um alles Geschehen und damit selbst noch die Welt von innen zu sehen.41 Wäre nicht vom "Willen" die Rede, ließe sich vergessen, daß auch der von Nietzsche ins Visier genommene "intelligible Charakter" menschlichen Ursprungs ist. Das Bewußtsein von der unaufhebbaren Bindung an den menschlichen Ursprung eines jeden Wissens ist es freilich, das ihn wiederum von Leibniz unterscheidet und ihn stärker mit Kant verbindet, als er ahnt. Unter dem Einfluß von Schiller und Schopenhauer, orientiert durch die Darstellungen Friedrich Albert Langes, African Spirs und Eugen Dührings, war natürlich eine Beziehung hergestellt; aber er hätte Kant schon so lesen müssen, wie er es von einem guten Leser erwartete, um die Gemeinsamkeiten in der philosophischen Ausgangserfahrung zu erkennen. 39 40
41
I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 567; AA 3, 366 f. Dazu: G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, 1983, 116 ff. - Für die zur Zeit Nietzsches erörterten Voraussetzungen ist die Darstellung, die F. A. Lange von der Lösung des Kantischen Problems gibt, aufschlußreich (Geschichte des Materialismus, 1. Aufl., 1866, 274 ff.; 2. Aufl., Bd. 2, 1875, 505 f.). Nietzsche verbleibt auf dem Diskussionsniveau seiner Zeitgenossen. Auf die philosophische Tradition des Begriffs vom "intelligiblen Charakter" kann hier noch nicht einmal am Rande eingegangen werden: Sie reicht, wenn wir nicht das Wort, sondern auf die Sache (die Seele) sehen, bis zu Piaton zurück und spitzt sich von Leibniz über Kant, Fichte, Schelling und Kierkegaard bis hin zu Nietzsche dramatisch zu.
238
VII. Kraft und Wille als Macht
Sieht man von dem Unterschied in der Anlage der Reichweite der Willens-Wirkung und von der bei Kant stets präsenten Methodenfrage ab, dann erkennt man, wie treffend Nietzsche sein Zitat verwendet. Er brauchte nur, wie er es sonst auch immer tut, die Begriffe "Ursache", "Handlung" und "Erscheinung" in Anführungszeichen zu setzen und könnte die kritisch-metaphysische Konstruktion des intelligiblen Charakters direkt für die Funktionsbestimmung des Machtwillens nutzen. Weil er aber glaubt, die intelligible Welt mit ihren intelligiblen Charakteren sei als ein Jenseits dieser Welt konzipiert, muß ihm Kants Verfahren als abwegig erscheinen. Die Nähe zu Kant zeigt sich auf geradezu tragische Weise dort, wo Nietzsche den vermeintlichen Fehler Kants, die Hypostasierung des intelligiblen Charakters, vermeiden will. Offenkundig soll der Wille zur Macht nicht als eine Naturtatsache nach Art der Schwerkraft oder der Trägheit verstanden werden. Er wird als Kraft in diesen Kräften eingeführt, als nicht-mechanische, also auch nicht meßbare "Willenskraft", die gleichwohl nicht als Äußerung eines inneren Wesens und auch nicht als allgemeines Prinzip aufgefaßt werden darf. Die innere Welt ist kein verkapptes Jenseits, sondern eine immanente Erscheinung, ein Schein - wie alles, was für das menschliche Bewußtsein Bedeutung erlangt. Sie ist keine andere Welt, sondern eine andere Ansicht der Welt, und zwar eine Ansicht, die sich nur vom menschlichen Standpunkt aus ergibt. Die natürliche Perspektive des Menschen - so jedenfalls erscheint es dem entwickelten Bewußtsein - geht von innen nach außen. Der Mensch begreift sich selbst als eine Kraft, die von innen kommend nach außen wirkt. Im Zentrum dieser Kraft wähnt er sich selbst mit seinem Willen. Und so wie er sich selbst in seiner "Willens-Wirksamkeit" wahrnimmt, sieht er auch seinesgleichen; ja, alles Geschehen, jede Bewegung kann er als "Äußerung" auffassen. So ist es ihm möglich, auch die starren leblosen Dinge als Wesen anzusehen, die sich nicht rühren "wollen". In diesem Blick liegt die "Anmenschlichung der Dinge": Alles wird in Analogie zur Selbsterfahrung des Menschen betrachtet. "[D]ie einzige Kraft, die es giebt", so lautet eine der Hypothesen aus dem Jahre 1885, "ist gleicher Art wie die des Willens: ein Commandiren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern." (N 1885, 40/42; 11, 650) Die bloße Außenansicht der Dinge ist demgegenüber eine Abstraktion, ein Absehen von der in ihnen unmittelbar wahrgenommenen Lebendigkeit; erst dieser die Vertrautheit verdrängende Blick macht die Dinge zu physikalischen Gegenständen und die Natur zum Mechanismus. "'Naturgesetz' ist eine Auslegung usw. 'Ursache und Wirkung' geht zurück auf den Begriff 'Thun und Thäter'." (N 1886/87, 7/34; 12, 306) Die maßnehmende und berechnende Außenansicht hat ihre Funktion; Nietzsche hat die Vorteile der naturwissenschaftlichen Betrachtung immer zu schätzen gewußt. Doch in ihr kommt das Wesentliche, der lebendige Betrachter, nicht mehr vor. Deshalb hat sie als reduktiv, abstrakt und einseitig zu gelten. Folglich bleibt sie a priori hinter der dem Men-
8. Die Intelligibility des Wollens
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sehen möglichen Einsieht in den Gang der Dinge zurück. Die lebendigen Kräfte erfährt der Mensch nur dort, wo er ihnen am nächsten ist: in sich selbst. "Wir gehören zum Charakter der Welt, das ist kein Zweifel! Wir haben keinen Zugang zu ihr als durch uns" (N 1885/86, 1/89; 12, 33). Man muß sich vergegenwärtigen, was hier passiert: Auf dem Höhepunkt mechanistischer Weltbetrachtung versucht Nietzsche wieder auf den Standpunkt menschlicher Selbsterfahrung zurückzuführen. Die Rede vom Willen zur Macht ist Ausdruck des Versuchs, in Anerkennung der überwältigenden Leistungen der modernen Wissenschaft das Weltverhältnis des Menschen wieder in jenen Bereich zu bringen, in dem er sich selbst begegnet. In einer Anstrengung, die Nietzsches nicht geringes begriffliches Potential offenbar übersteigt, versucht er, die weltbeherrschende physikalische Perspektive in eine noch umfassendere Perspektive aufzunehmen, die aber dennoch bescheiden bleibt, weil sie die Perspektive des Menschen ist. Die "innere Kraft" wird durch eine andere Auslegung erschlossen. Die "innere Welt" ist keine andere, sondern eine anders interpretierte Welt. Die Wahl des Standpunkts macht den Unterschied - ganz so wie bei Kant, bei dem sich dem äußeren Betrachter auch nur die Außenansicht der Natur darbietet und erst dem Akteur das Reich der Zwecke erschließt. Machen wir die Gemeinsamkeit, um die es hier geht, im Schlaglicht zweier Zitate deutlich: Bei Kant lesen wir: "Wir sehen nichts ein, als was wir machen können. "42 Und bei Nietzsche heißt es: "Wir können nur eine Welt begreifen, die wir selber gemacht haben." (N 1884, 25/470; 11, 138) Da Nietzsche nicht ahnt, wie nah er dem vermeintlichen Antipoden steht, entgeht ihm auch die Chance, Kants kritische Einsicht für seine eigene Suche nach der inneren Kraft zu nutzen. Doch die mangelnde Kenntnis hat den Vorteil, daß er sich unbelastet einen eigenen Zugang eröffnen kann. Dabei verzichtet er auf die Beweiskraft jener menschlichen Leistungen, an deren Allgemeinheit und Notwendigkeit Kant die Wirksamkeit der Vernunft festgemacht hat, und richtet sich ganz auf die unmittelbare Erfahrung der menschlichen Produktivität. Während es der Transzendentalphilosophie gelingt, wenigstens in den Urteilsleistungen des Menschen eine Sicherheit zu gewinnen, baut Nietzsche ganz auf die Selbsterfahrung der inneren Kraft. Er tut dies um den Preis des Verzichts auf Notwendigkeit und Allgemeinheit. Aber es geschieht auch bei ihm in dem kritischen Bewußtsein, daß über die Selbsterfahrung der inneren Kraft hinaus keine Erfahrung möglich ist. Das heißt zugleich: Die Selbsterfahrung der inneren Kraft muß sich noch als eines der Momente der inneren Kraft erweisen lassen. Diesem radikalen Immanenzanspruch, der alle Aussagen auf die gänzlich bei sich selbst verbleibende Binnenerfahrung des Lebens beschränken will, versucht Nietzsche durch die 42
I. Kant, Reflexion 2394; AA 16, 344. Entsprechend auch in dem Brief an J. Plücker v. 26. 1. 1796 (AA 12, 56) oder an J. S. Beck v. 1.7. 1794: "Wir können aber nur das verstehen und Anderen mittheilen, was wir selbst machen können" (AA 11, 496).
240
VII. Kraft und Wille als Macht
These gerecht zu werden, alles Erkennen sei ein Auslegen, alles Bezeichnen, Begreifen und Beurteilen sei Interpretation. Wie diese im veröffentlichten Werk immer wieder geäußerte These, in deren Zeichen inzwischen Philosophiegeschichte gemacht worden ist, 43 in der Analyse des Willens zur Geltung kommt, ist abschließend zu fragen. Die von Nietzsche mehrfach betonte Kompliziertheit des Vorgangs, den wir "Wollen" nennen, läßt vermuten, daß auch der Zugang nicht einfach ist. Die äußeren Manifestationen des Willens sowie seine inneren Anzeichen: ein monumentales Werk oder eine kleine List, Befehl oder Gehorsam, ein erklärtes Ziel, empfundene Unterwerfung, gefühlte Überlegenheit oder der unmittelbar erfahrene Affekt des Kommandos - alles das fordert gleichermaßen affektive, emotionale und kognitive Reaktionen heraus, die zu den Bedingungen der Erfahrung des Wollens gehören. Diese Komplexität ist nur die abstrakte Fassung des einfachen Sachverhalts, daß sich ein Wollen als solches nur erkennen läßt, wenn der Erkennende prinzipiell selbst wollen kann. Ob irgendwo sich irgendetwas als Wille äußert, kann nur ein Wille sagen -, wenn es denn stimmt, daß Wille nur auf Wille wirkt.
9. Der Wille als Zeichen der Macht Nach Nietzsches Phänomenanalyse des Wollens kann es nicht überraschen, daß in der Selbsterfahrung des Willens die affektiven und emotionalen Elemente besonders ausgezeichnet sind. Der in diesem Zusammenhang am häufigsten genannte und sachlich umfänglichste Indikator ist das Machtgeflihl, denn in ihm kommen die untersten und innersten Motive allererst zum Bewußtsein (N 1888, 14/82; 13, 261 f.). Die Erfahrung lebendiger Bewegung bietet sich dem Menschen nur im Spiegel des Machtgefühls dar, worin alle Empfindungen ihr Fundament haben. Selbst das Elementargefühl der Lust hat seinen Grund im "Anwachsen des Machtgefühls" (N 1884, 27/25; 11, 282), es ist das "Plus-Gefühl von Macht" (N 1888, 14/173; 13, 358). "Die Lust tritt auf, wo Gefühl der Macht" (ebd., 14/70; 13, 254). Für die Unlust gilt das entsprechend, und dies keineswegs bloß auf dem Weg einer Umkehrung! Zumindest versucht Nietzsche mehrfach zu zeigen, daß Unlust nicht das Gegenteil der Lust darstellt. In dieser Absicht verweist er auf Fälle, "wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsendes Machtgefühls, des Lustgefühls erreicht" (ebd., 14/173; 13, 358). Umgekehrt gäbe es eine "Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene Lustreize" (ebd., 359). Doch wie dem auch sei: Das Machtgefühl gilt als die ursprüngliche Emotion, die mit der Gesamtexistenz des Organismus auf das engste zusammenhängt. Folglich liegt 43
Siehe dazu die informative Darstellung von J. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, 1982.
9. Der Wille als Zeichen der Macht
241
in der Stimulation dieses Gefühls auch das höchste Ziel allen Erlebens. Das "Mehrgeßhl, das Gefühl des Stärker-Werdens" (N 1886/87, 7/44; 12, 309), das "Plus-Geflihl von Macht" (N 1888, 14/173; 13, 358) will gereizt sein; es ist bereits gekitzelt, wenn man nur vom Willen spricht. Es hat somit auch als die sicherste Erkenntnisquelle des Willens zu gelten. Das Machtgefühl in der Funktion des primären Willensgefühls zu sehen, mag überraschen. Man wird es in dieser Rolle auch nur verstehen, wenn man berücksichtigt, daß Wille nur ein Wort ist, dem keine singuläre Existenz entspricht. Dann freilich liegt in der Leistung des Machtgefühls ein bedeutsamer Hinweis auf das, was eigentlich hinter dem sogenannten Wollen steckt. Aber betrachten wir zuvor einige Beispiele, mit denen Nietzsche diese Funktion illustriert. Das Gefühl eigener Macht ist es, worauf sich das Erlebnis unserer "Freiheit" stützt. Die Überwindung großer Schwierigkeiten, insbesondere wenn sie spielerisch gelingt, die Gewißheit eines überlegenen Können ζ. B. bei einem Virtuosen, der weiß, "daß auf den Willen die genau entsprechende Aktion folgt" (N 1884, 27/24; 11, 281), überall dort, wo wir das "Zwangsgefähl" loswerden und unsere eigenen Kräfte wachsen ("Geßhl unseres Mehr von Kraft"), da reden wir von der "'Freiheit des Willens'" (N 1885, 34/250; 11, 505 f.). Die Umschreibung der Willensfreiheit als "das Bewußtsein davon, daß unsere Kraft zwingt im Verhältniß zu einer Kraft, welche gezwungen wird " (ebd., 506), gilt ohne Abstriche auch für das Machtgefühl. Selbst dort, wo Nietzsche die Illusion der Willensfreiheit im Akt des Befehlens entstehen sieht, ist die Erlebnisgrundlage ein Machtgefühl: '"Freiheit des Willens' ist das 'Überlegenheits-Gefühl des Befehlenden'" (N 1884, 25/436; 11, 127). Im "Überlegenheits-Affekt", wie es gelegentlich auch heißt, wird die Befolgung des Befehls erwartet, die Ausführung des Wollens wird dem Willen zugeschrieben, und der Überlegene genießt "einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit sich bringt" (J 19; 5, 32 f.). Und wie eng sich dieser Genuß der imperativen Durchsetzung wiederum mit der Freiheitserfahrung verbindet, zeigt der sich anschließende Satz: "'Freiheit des Willens' - das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, - der als solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. " (ebd., 33) Damit erweist sich das Machtgefühl des Wollenden als zusammengesetzt aus der Funktionslust des Gelingens ("die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren 'Unterwillen'") und der Lust am höheren Rang (ebd.). Nach allem bisher Gesagten versteht es sich von selbst, daß in die elementare Lust an der Macht stets auch ein "Gefühl des Widerstandes" gemischt sein muß (N 1884, 27/24; 11, 281). Es lohnt sich, die zitierte Stelle im ersten Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse genau zu beachten, denn sie gehört zu den wenigen, in denen Nietzsche das Machtgefühl in
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VII. Kraft und Wille als Macht
sich noch differenziert. Wie verschieden die Aspekte dieses Gefühls sind, illustriert er an zahlreichen Beispielen; daß es aber auch in sich eine Mehrheit von Gefühlen darstellt oder darstellen kann, wird nur selten sichtbar. Es ist nicht überraschend, daß dies in Verbindung mit dem Willen geschieht, der ja selbst als "Mehrheit von Gefühlen" vorgestellt wird. Die Anteile, die hier im Machtgefühl hervortreten, entsprechen den Hauptkomponenten des Willens, also den stets zusammenwirkenden Momenten von Befehl und Gehorsam. Bemerkenswert ist, daB Nietzsche nicht nur die Lust der dominierenden Anweisung für sich schon als ein Machtgefühl darstellt, sondern daß auch die Lust in der fungiblen Ausführung ein Machtgefühl ist. Die Lust an der Macht zeigt sich auch im Gehorsam. Damit erklärt sich ferner die Differenzierung innerhalb des den Willen indizierenden Machtgefühls als Ausdruck der verschiedenen Impulse im Wollen. Das jeweils erlebte Machtgefühl besteht als solches wieder aus einer unauflösbaren Vielheit von (Macht-)Gefühlen: "die Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens" (J 19; 5, 33) und mit ihnen die im übrigen aufgezählten Rang- und Funktionsgefühle, die Lust an der Überlegenheit, der Ordnung, der Genesung etc. Seiner Funktion als "Cardinal-Thatsache[]" (N 1888,14/80; 13, 260) entspricht diese Vielseitigkeit des Machtgefühls durchaus. Wenn es so scheint, als zweifle Nietzsche auch 1888 noch, ob man ein "Streben nach Macht" ohne ein "Gefühl von der Steigerung und Verminderung der Macht" annehmen könne (ebd., 14/82; 13, 261), dann kann man einen solchen Zweifel im Hinblick auf den Willen von Anfang an ausschließen. Ohne die lustvolle Empfindung einer Machtanwendung, ohne das durch ein Gefühl angezeigte "Übergreifen von Macht über andere Macht" (ebd., 14/81; 13, 260) wäre es unmöglich, vom Wollen überhaupt zu reden. Wille ist die praktisch wirksame Illusion der Selbstmacht. Das Wort steht für die durch das Machtgefühl suggerierte Vorstellung vom Ich als einer selbsttätigen Macht. Die Vorstellung kann durch Gewohnheit die Überzeugungskraft eines Ursprünglichen gewinnen, aus dem alles andere, das ihm faktisch vorhergeht, abgeleitet scheint: "[W]enn regelmäßig der Wille zu gewissen Handlungen im Bewußtsein vorhanden ist, so darf ein Machtgefühl als dessen Wirkung ausgelegt werden." (ebd., 14/126; 13, 308) Dies ist ein psychologischer Befund, der für die Selbstwahrnehmung des Menschen Gültigkeit hat, vor dessen Übertragung auf den Zustand der Welt Nietzsche freilich unablässig warnt. Das Machtgefühl, so sagen wir, "zeige an", "verweise", "erschließe" oder "verführe". In jedem Fall enthält es den Hinweis auf etwas "Reales", in dem der "Wille" gar nicht vorkommt. Wäre dies anders, dann wäre er auch etwas Reales, zumindest gäbe es ihn so fraglos, wie es das Machtgefühl "giebt". Niemals aber kommt es Nietzsche in den Sinn, die Existenz des Machtgefühls zu bestreiten - ein sicheres Indiz übrigens für seine Offensive gegen die metaphysische Hypostase des freien Willens. Die Existenz oder besser: die Bedeutsamkeit der Phänomene, die wir als Wollen interpretieren, bestreitet er damit, wie wir
9. Der Wille als Zeichen der Macht
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gesehen haben, keineswegs. Sie sind freilich auch nur Phänomene - und nicht mehr. Das Machtgefühl verweist nicht nur auf etwas Reales, es erscheint selbst als eine unbezweifelbare Realität. Zwar kommt dieser Realität ebensowenig wie der, auf die sie verweist, ein objektiver empirischer oder gar metaphysischer Charakter zu, aber sie ist das Sicherste und Verbindlichste, was ein Wesen für sich überhaupt hat. Sie ist unmittelbar gegenwärtig "Wirklichkeit", d. h. Wirk-lichkeit, Wirk-samkeit an uns selbst. Das Gefühl ist direkte Präsenz eines Geschehens, das wir mit der Benennung zwar schon deuten, das uns aber gewiß sein läßt, selbst ein Geschehen zu "sein". Die Aktivität des Leibes eröffnet sich uns in diesem Gefühl direkt. Es gehört selbst zur Produktivität von Ausgreifen und Einverleiben, und so wissen wir uns darin ohne zusätzlichen Akt als ein Leib-Geschehen. Alle Unterscheidungen zwischen Fühlen und Wissen, zwischen Schein und Sein, Physis und Psyche oder auch zwischen Innen und Außen sind demgegenüber nachträglich. Das Machtgefühl ist der zum Leben gehörende Ausdruck des Lebens. Hier gewinnt der Leibprozeß aus sich heraus Bedeutsamkeit - der Leib ist darin der Interpret seiner selbst. M. a. W.: Das Machtgefühl erscheint als notwendiges, die Macht anzeigendes Element. "Unser Grad von Lebens- und Machtgeflihl [...] giebt uns das Maaß von 'Sein', 'Realität', Nicht-Schein." (N 1887, 10/19; 12, 465) Wie aber kommen wir vom Machtgefühl zum Willen? Was geschieht im Übergang der Empfmdung des einen zur Behauptung des anderen? Nietzsche nennt es "Auslegung" oder "Interpretation". Das Interpretationstheorem ist eine der bedeutenden Konstanten in Nietzsches philosophischer Entwicklung. Angelegt bereits in den ersten philosophischen Notizen und in dem großartigen Nachlaßtext über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn schon weitgehend entworfen,44 gewinnt in den achtziger Jahren der Gedanke, alles Leben sei Interpretation, eine beherrschende Stellung. Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen - dieses in vielen Varianten auftauchende Diktum ist eine der wichtigsten Orientierungen im Labyrinth des Spätwerks. Der Begriff des Lebens und die Wirkungsweise des Willens zur Macht, der Perspektivismus und das Programm einer Experimental-Philosophie, Nietzsches Abgrenzung gegenüber dem Positivismus, ja das ganze Pathos seines Auftritts bleibt verschlossen, wenn der Auslegungscharakter allen Geschehens (N 1885/86, 1/115; 12, 38) nicht als die allem anderen vorausliegende Hypothese beachtet wird. Wie sehr diese Hypothese der Natur von Machtprozessen entspricht, wird noch zu zeigen sein. Auch das Wollen muß als Auslegung begriffen werden. Nietzsches notorische Warnung vor dem Glauben an die Existenz des Willens ist nichts anderes als die gegen die Substanz-Metaphysik gezogene Konsequenz aus der Einsicht in den Auslegungscharakter des Wollens. Nur so läßt sich auch erklären, warum er noch immer von dem sprechen kann, was 44
Dazu ausführlich: G. Ungeheuer, Nietzsche über Sprache und Sprechen, 1983, 134 - 213, 181 ff.
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VII. Kraft und Wille als Macht
es nach seinen Worten gar nicht gibt: Es gibt den Willen nicht als wirklichen Anfang eines Geschehens, aber es gibt ihn sehr wohl als Interpretation innerer Zustände. Obgleich man ihn als Fiktion durchschaut hat, läßt sich über den Willen durchaus noch reden. Wer aber interpretiert hier wen? Nietzsches allgemeine Antwort auf die Frage nach dem Subjekt der Deutung zielt auf das Leben überhaupt, genauer: auf den Organismus, der sich von der anorganischen Materie wesentlich dadurch unterscheidet, daß er eine "neue Auslegung des Geschehens" (N 1885/86, 1/128 u. 2/148; 12, 41 u. 139 f.) ist. Innerhalb des höherentwickelten Organismus fungieren dann "Triebe" und "Bedürfnisse" als die deutenden Instanzen: "Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen" (N 1886/87, 7/60; 12, 315). Trieb und Bedürfnis stehen als Titel für die Gesamtheit der Erhaltungs- und Wachstumsenergien. Sie bezeichnen also keinen fest umrissenen Bestand, sondern passen auf alle Varianten des appetitiven Verhaltens, hypochondrische Reizbarkeiten oder sublime ästhetisierte Egoismen eingeschlossen. Insofern müssen sie selbst immer auch als Folgen vorausliegender Auslegungen verstanden werden, sozusagen als sedimentierte Interpretationen. Entsprechend verschachtelt ist auch die Objektseite der Interpretationsbeziehung. Die auszulegende "Welt" ist selbst schon Auslegung. Nietzsches Hermeneutik des Lebens arbeitet ohne das Netz eines gegebenen Textes. Vom "Objekt" der Deutung läßt sich dasselbe sagen wie vom "Subjekt": Es "ist nichts Gegebenes, sondern etwas Hinzu-Erdichtetes, DahinterGestecktes" (ebd.). Es gibt also nichts im voraus Bestimmtes, keine Gegenstände, keine Tatsachen unabhängig von den ausgreifenden und einholenden Leistungen des Organismus. Was unter stabilisierten Lebensbedingungen als bereits bestimmte Größe erfahren wird, hat eine Geschichte von Auslegungen und Einstellungen hinter sich und kann nur eine perspektivische Konstanz (und auch die nur befristet) für sich in Anspruch nehmen. Alles ist relativ - eine "Feststellung", der Nietzsche selbst nicht mehr als eine perspektivische Geltung einräumt. So schwer es auch ist, den von Nietzsche unterstellten Interpretationsvorgang zu rekonstruieren: Sicher ist, daß er den Willen als eine Auslegung des Machtgefühls versteht. Im Wollen wird der im Machtgefühl angezeigte dynamische Vorgang im Hinblick auf ein mögliches Ziel gedeutet. Das prozessuale Geschehen wird von seinem Ende her betrachtet, so daß man ihm Motive und Intentionen unterstellen kann. Die damit verbundene Aufwertung des im Machtgefühl noch nicht ausdifferenzierten Selbst als eines Subjekts intensiviert das Machterleben und fördert so die Machtentfaltung. Der Wille konzentriert die Machterfahrung auf einen Vorgang. Er überzeichnet die flüchtige Dominanz einer Regung, setzt ein Ziel und suggeriert einen aus sich selbst verständlichen Anfang. Der Wille autonomisiert ein Geschehen, das faktisch nur ein Moment in einem komplexen Geschehen ist. Aus diesem Grund ist es Kant möglich, den Willen einen Gesetzgeber seiner selbst zu nennen.45 Nietzsche knüpft an diese Leistung keine moralisch-praktischen Erwartungen. Er möchte nur die Illusion des 45
I. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten (1785); AA 4, 440.
9. Der Wille als Zeichen der Macht
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Wollens entlarven und deckt eben dadurch auf, welche Möglichkeiten der Steuerung und Verstärkung mit dem Willen gegeben sind - gerade weil es den Willen an sich gar nicht gibt. Als Auslegung eines Geschehens, mit dem er selbst verbunden bleibt, "gibt" es also den Willen; es gibt ihn aber nicht als eine an sich bestehende Entität. Der Wille ist weder eine aus sich wirkende Kraft noch in irgendeinem Sinne frei. Er ist die Auslegung eines Machtgeschehens, das auf diese Weise innere wie äußere Einheit gewinnen kann. Das Geschehen, an dem sich das lebendige Wesen durch das Machtgefühl beteiligt weiß, wird im Wollen angeeignet. Durch die unterschobene Absicht bekommt der Prozeß Anfang und Ende; das zugrundegelegte "Ich" suggeriert einen identischen Träger. Ein leib-seelisches Geschehen gewinnt Gestalt. Unter dem Titel des Willens spezifiziert und individualisiert sich die Machterfahrung. Ihr wird ein Zentrum supponiert, das sie ansprechbar macht und damit auch - von innen wie von außen - verfugbar erscheinen läßt. Die Dekomposition des Willens erweist ihn demnach als ein Attribut der Macht. Nachdem die Illusion seiner Autonomie durchschaut ist, bleibt von ihm nurmehr die Funktion des Zeigens und des Bezeichnens von Macht. Er übersetzt das Machtgefühl in einen mitteilbaren Anspruch, erlaubt die Rede über das, was sich im Verhältnis von Befehl und Gehorsam gegenübersteht. Die in Nietzsches fragmentarischer Analyse des Willens freigesetzten Momente, die Bindung an die gerichtete Dynamik des Leibes, die Ausdrucksfunktion für Kraft und Überlegenheit, die Verknüpfung mit Vorstellungsleistungen und die Ausgrenzung jenes "Etwas" als Ziel des Wollens sowie die damit erleichterte wechselseitige Taxierung von Kräften, alles das verweist auf die Verständigungsleistung des Willens. Im Medium des Wollens werden Kräfte kommunikabel, im Willen teilt die Macht sich mit. Der Wille ist also nicht nur in sich soziomorph verfaßt, sondern er hat auch eine direkte gesellschaftliche Funktion: Wollen ist Mitteilung von Macht. Diesem aus der Perspektive des Willens gewonnenen Ergebnis korrespondieren Nietzsches Äußerungen über den Charakter der Macht. Die Macht als solche scheint zwar nicht so elementar an den Willen gebunden zu sein wie dieser an sie, doch ohne eine unterstellte Willensfunktion ist die Macht nicht zu verstehen. Ob man die Macht von außen oder von innen heraus erkennt, ob man sich ihr in der Absicht bloßer Erkenntnis ("theoretisch") oder selbst als eine Macht ("praktisch") nähert: Der Rekurs auf den Willen ist unerläßlich. Die Mitteilung einer Macht ist in jeder Hinsicht an das Als-ob eines in ihr wirksamen Willens gebunden. Deshalb ist Nietzsche genötigt, vom "Willen zur Macht" zu sprechen, obgleich er unablässig betont, daß es den Willen gar nicht gibt. In der nun folgenden Betrachtung der Macht wird sich zeigen, daß er vom Willen nicht loskommt - weil er von der Macht nicht lassen kann.
Teil 3: Die Welt als Vorstellung von Wille und Macht Auf dem Weg zu einer Metaphysik der menschlichen Welt
Vin. Die Macht im Willen zur Macht Über die Gleichung zwischen dem Ganzen und seinem Teil
1. Elemente der Macht im Willen zur Macht Im Rückblick erscheint der literarische Auftritt des Willens zur Macht in Nietzsches Werk gut vorbereitet: Nach der facettenreichen ästhetisch-politischen Machterfahrung in den siebziger Jahren und nach den ausgedehnten psychologischen Beobachtungen über Eigenart und Leistung des Machtgefühls erfolgt die Zuspitzung auf den Machtbegriff geradezu zwangsläufig, wenn tatsächlich der "Sieg über die Kraft" errungen werden soll. Denn die Vernunft, der man seit Piaton diesen Sieg immer wieder zutraute, ist nach dem Pyrrhus-Sieg des hegelschen Weltgeistes in Nietzsches Augen endgültig diskreditiert. Auch der reine Wille, wie Schopenhauer ihn als metaphysischen Ersatz anbot, kommt für Nietzsche nicht in Frage, weil er das damit postulierte Jenseits zur individuierten Welt nicht akzeptiert. Löst man aber den Willen vom metaphysischen Fundament, dann bleibt nur ein zirkulärer Wille zum Dasein, ein Wille zum Wollen übrig, der stets auf das zielt, was er schon hat. Folglich kann der Wille als solcher ein Gegengewicht zur Kraft nicht bieten. Was also bleibt, wenn auch von einem Gott keine Hilfe mehr erwartet wird? Der "Sieg über die Kraft" kann nur von "innen" kommen, denn "außen" ist definitionsgemäß alles Kraft. Die zur bloßen Äußerlichkeit ausgestülpte physikalische Welt kann durch nichts Stoffliches bezwungen werden. Ein Gegenprinzip kann ihr allein aus einer "inneren Welt" erwachsen, und seine Wirkung kann schwerlich anders als nach Art eines Triebes, eines Strebens oder eines Willens vorgestellt werden. Gefordert ist eine Kraft, die, aus einem Zentrum kommend, in der äußeren Sphäre wirkt, eine Dynamik, die sich zwar immer auch in physischen Veränderungen, d. h. leiblich äußert, die aber nur einen physikalischen Ursprung haben kann. Nietzsche entscheidet sich für die Bezeichnung "Wille zur Macht". Der Wille zur Macht ist in erster Linie die umfassende Ergänzung zur physikalischen Kraft. Er ist die Antwort auf die mechanistische Konstruktion der Welt. "Antwort" ist hier wörtlich zu nehmen: Nietzsche weicht der empirischen Naturerklärung weder aus, noch läßt sie ihn gleichgültig, er versucht vielmehr, ihr etwas Überlegenes entgegenzusetzen. Der Wille zur Macht ist nicht das Signal für die Flucht in eine andere, dem Ursache-WirkungsKomplex entgegengesetzte Welt, sondern der Grundbegriff einer umfassenderen Konzeption,
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
in der alle Außenbeziehungen Platz haben. Nirgendwo wird der Versuch gemacht, mit der neuen Formel die Kausalkette zu lösen. Der Wert von Wissenschaft und Technik wird nicht generell in Frage gestellt; nichts spricht dafür, hinter der Präsentation des Willens zur Macht einen antizivilisatorischen Affekt zu vermuten. Ausschlaggebend ist allein das Überwindungsmotiv. Die Einseitigkeit der bloß auf Vermessung und Berechnung gerichteten Perspektive soll behoben werden. Der "Sieg über die Kraft" zielt nicht auf Vernichtung, sondern auf Integration. Dabei fallt zusätzlich ins Gewicht, daß die umfassendere Konzeption als die ursprüngliche erscheint. Jede Bewegung wird zunächst als von innen bestimmt erfahren, jedes Ereignis wird unmittelbar als Äußerung erlebt. Die Aufmerksamkeit allein auf äußere, d. h. nach dem Ursache-Wirkungs-Konnex bestimmte Vorgänge gilt Nietzsche bereits als Ergebnis einer hochgradigen Abstraktion. Der Primat der theoretischen wie der praktischen Erfahrung liegt in der inneren Welt. Das entscheidende Argument für die erstrebte Einheit ist jedoch aus der Funktion des Machtwillens selbst zu gewinnen. Er ist die von innen nach außen treibende Kraft. Er drängt mit jedem Akt über die Grenzen des Binnenraums hinaus, ist gleichermaßen innerer Impuls und äußere Manifestation. Es gibt keine Exklusivität der inneren Welt; der Wille zur Macht sprengt mit jeder Entladung seinen eingeschlossenen Ursprung - eine sich unablässig selbst transzendierende Monade. Einfacher gesagt: Er ist das sich äußernde Dasein und damit Leib.1 Bevor Nietzsche seinem Zarathustra den neuen Begriff in den Mund legt, kreist er ihn, wie wir gesehen haben, in seinen Notizen ein. Man gewinnt zunächst den Eindruck, der Grundbegriff hätte auch anders lauten können, z. B. Überlegenheitsstreben, Wachstumsoder Machttrieb, Wille zur Herrschaft, zum Sieg oder zur Gesundheit. Auch später scheint es Nietzsche mit dem nun einmal eingeführten Terminus nicht so genau zu nehmen. Seine Interpreten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben ihn darin überboten, indem sie den Ausdruck so wenig wörtlich nahmen, daß auch der "Trieb zur Macht" oder das bloße "Verlangen nach Mehr" an dessen Stelle treten konnte.2 Die genauere Betrachtung der Entwicklung zwischen den Jahren 1880 und 1883 sowie die Analyse von Kraft und Wille legen jedoch das Urteil nahe, daß die Wahl des Ausdrucks eher konsequent als zufällig ist. Auch wenn Nietzsche keine Begründung liefert (und vielleicht auch keine hätte geben können), erscheint eben dieser Terminus "Wille zur Macht" wie kein 1
2
Zur Bedeutung des Leibes in Nietzsches Philosophie: E. Blondel, Nietzsche, 1986, 284 ff.; R. Knodt, Friedrich Nietzsche, 1987. B. Taureck, Macht, und nicht Gewalt, 1976, 29 - 54, 52. Als reine "Anwendung von Gewalt" und folglich "im Kern böse" wird der Machtwille z. B. von G. Goedert (Zur Notwendigkeit des Bösen in Nietzsches Projekt vom Übermenschen, 1981, 89 - 101, 96) gedeutet. Ähnlich sieht es auch noch Karl-Otto Apel, Funkkolleg "Praktische Philosophie/Ethik". Studienbegleitbrief 2, Weinheim/Basel 1980,20. Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
1. Elemente der Macht im Willen zur Macht
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anderer geeignet, den "Sieg über die Kraft" davonzutragen, wobei eben das Fehlen eines Systems keineswegs einen Verlust an Konsequenz bedeuten muß. Das Defizit der Kraft könnte jedenfalls durch den Begriff am wirksamsten behoben sein, mit dem es gelingt, den inneren Impuls notwendig auf einen äußeren Effekt zu beziehen. Dies geschieht im Willen zur Macht, denn hier drängt der Wille (als Ausdruck für einen wie immer auch von innen bestimmten Anstoß) zur Macht (als dem Inbegriff einer jeden möglichen Wirksamkeit). Doch so formuliert bleibt die Verbindung noch ziemlich äußerlich. Erst wenn man die wechselseitig aufeinander verweisenden Inhalte der Begriffe in Rechnung stellt, kommt die Notwendigkeit in der Beziehung zum Vorschein. Außerdem wird klar, daß der Begriff nicht nur zum Übergang von innen nach außen nötigt, sondern auch den Rückgang von außen nach innen impliziert. Man ist versucht zu sagen, daß diese im Begriff selbst angelegte Doppelbewegung die hohen theoretischen Erwartungen rechtfertigt, die Nietzsche bis zum August 1888 in den Willen zur Macht gesetzt hat. Wenn die Erwartungen sich nicht erfüllten, dann hat der Grundbegriff vermutlich den geringsten Anteil daran, denn er ist denkbar gut gewählt, um die gestellten Probleme des Werdens, der Umwertung und des Perspektivismus unter einem Titel zu denken. Im folgenden soll die systematische Folgerichtigkeit des Willens zur Macht sichtbar werden. Zu diesem Ziel muß zunächst die Macht selbst betrachtet werden. Das erste, vielleicht gar nicht selbstverständliche Merkmal der Macht ist ihre Beziehung zur Bewegung. Ob wir ihren Ursprung auf ein "Können" oder, wie Nietzsche es gelegentlich tut, auf das "Machen" zurückführen,3 stets ist sie durch reale oder potentielle Bewegung definiert. Auch die ruhende, beharrende, jedem Angriff trotzende Macht wird nur in RelaUm nur ein Beispiel für die von Nietzsche immer wieder hergestellte Parallele zwischen "machen" und "Macht" zu geben: "Alles Seiende wollt ihr erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen, ob es schon denkbar ist. Aber es soll sich euch lügen und biegen! So will's euer Wille. Glatt soll es werden und dem Geiste unterthan, als sein Spiegel und Widerbild. Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht" (Z II, Von der Selbst-Ueberwindung; 4, 146). - Die zwar nicht etymologisch, aber vom Wortklang und z. T. auch von der Wortbedeutung abgedeckte Parallele kann dann zu MiBverständnissen führen, wenn die Macht auf diese Weise einseitig mit dem Herstellen und der technischen Produktion verbunden wird. M. Heidegger gerät in diese Gefahr, wenn er im Willen zur Macht den Höhepunkt der metaphysikgeschichtlichen Entwicklung sieht, die nur noch das "factum des facere" gelten läßt (Nietzsche, Bd. 2, 1961, 412). Vor diesem Hintergrund kann er dann auch die Machtsteigerung in etwas Festem, eindeutig Gemachtem enden lassen und die These aufstellen, die "Ermächtigung" bringe "die Überhöhung - das Werden - zum Stand und in die Beständigkeit" (ebd., Bd. 1, 6SS). Die letztlich im Sinne des Machens verstandene Macht überführt nach dieser Auslegung das Werden in einen festen Seinsbestand. Folglich bleibt (nach Heidegger) Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht dem Seinsdenken der europäischen Tradition verbunden. Obgleich Heidegger in seiner Nietzsche-Deutung immer wieder die Momente des Befehlens und Herrschens betont, läßt er in der Konsequenz den sozialen, d. h. den relativen und instabilen Charakter der Macht-Feststellungen außer acht und gelangt so zu einem weiteren Beleg für seine These von der "Vollendung der abendländischen Metaphysik durch Nietzsche" (ebd., 657). Dieses technizistische Macht-Mißverständnis Heideggers korrespondiert seinem monologischen Macht-Mißverständnis, auf das der Verf. schon an anderer Stelle hingewiesen hat (vgl. Macht und Metaphysik, 1981/82, 201 f.). In diesem Zusammenhang ist auf die Dissertation von F. M. Aitken (The Concept of Power in Nietzsche's Ethics, 1970) hinzuweisen. Macht wird hier als ein "dynamic noumenon" ausgelegt, das weder Substanz ist, noch Substanzen schafft, und dessen Dynamik im ständigen Überschreiten liegt (ebd., 49 f.).
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
tion zur Gegenbewegung erfahren. Und auch hier ist sie niemals bloße Trägheit, an der sich die Bewegung der anderen bricht, sondern die Möglichkeit zur Selbstbewegung gehört ihr notwendig zu. Sie ruht nach großen Siegen, kann auch in Fällen sicherer Übermacht vieles geschehen lassen, ohne selbst etwas zu tun, aber "Macht" ist sie letztlich nur durch die ihr innewohnende Tendenz zur Aktivität. Sie muß etwas bewirken können, und sei es nur dadurch, daß andere eine mögliche Wirkung erwarten; andernfalls verfällt der Charakter der Macht. Bloße Bewegung genügt aber als Kriterium nicht. Ein äußerer Anstoß, ein Wechsel, Unruhe oder Betriebsamkeit verleihen noch keine Macht. Nur sofern man einen inneren Beweggrund unterstellen kann, erscheint ein Vorgang als Äußerung einer Macht. Der stete Übergang von innen nach außen ist kennzeichnend fur sie. Die Macht - oder etwas anderes in bzw. hinter ihr - äußert sich. Entweder hat sie ein "Centrum", oder sie verweist auf eins (N 1888, 14/184; 13, 371). Der "Begriff 'Veränderung' setzt schon das Subjekt voraus [...]." Daraus erklärt sich Nietzsche, wie die alte Metaphysik auf die Vorstellung von der "Seele als Substanz" kommen konnte (N 1885/86, 1/43; 12, 20). Er setzt an die Stelle der Seele den Willen zur Macht, bindet damit die Macht selbst an ein organisierendes Zentrum und spricht alle Bewegung als "Zeichen eines inneren Geschehens" an (ebd., 1/28; 12, 17). Die Macht ist das, was gewissermaßen zwischen dem "inneren Geschehen" und der "Veränderung" vermittelt. Die gesetzmäßige Beschreibung aller dieser Veränderungen gilt Nietzsche lediglich als "Formel für die unbedingte Herstellung der Macht-Relationen und -Grade" (ebd., 1/30; 12, 17). Hinter allen Aktionen der physischen wie der psychischen Welt drängt eine "treibende Kraft" (N 1888, 14/121; 13, 300), die zwar nicht selbst schon die Macht ist, die aber der Macht notwendig zugehört. Umgekehrt erreichen äußere Kräfte eine Macht nicht unmittelbar, es sei denn, sie zerstören sie auf einen Schlag. Solange die Macht besteht, ist sie den von außen kommenden Kräften ausgesetzt. Man muß schon von "Einwirkung" oder "Einfluß" sprechen, um die Eigentümlichkeit der Wirkungen auf die Macht wiederzugeben. Auch wenn es schwerfällt, eine Grenze zu benennen, so lassen sich in der Sphäre der Macht doch periphere und zentrale Bereiche unterscheiden. Es gibt ein Außen und ein Innen, wobei die Machterfahrung dazu neigt, das Wesentliche im Inneren, d. h. in den "Vermögen", in den wirkungsbereiten Kräften zu suchen. Nietzsches Rede vom Willen zur Macht ist Ausdruck einer derartigen Priorisierung der inneren Kräfte. Sie ist so dominant, daß es ihm eben kaum in den Sinn kommt, das Phänomen der Macht als solches zu betrachten. Seine indirekten Äußerungen aber reichen aus, um zu erkennen, daß auch er der Macht selbst eine Struktur zuschreibt, an der sich Innen- und Außenperspektive unterscheiden lassen. Auf den ersten Blick sieht es freilich so aus, als komme erst im Willen zur Macht - und nicht in der Macht - die Innen-Außen-Einheit zustande; der Wille erscheint als die von innen
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treibende Kraft und die Macht als der bloß äußerliche Wirkungsbereich. Wenn es ζ. B. heißt, das "Wesentliche am Lebensprozeß" sei die "ungeheure gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt" (N 1886/87, 7/25; 12, 304), dann möchte man an eine klare Verteilung der Rollen glauben, denn die "Gewalt" gehört in die Sphäre physischer Mittel, die von den inneren Triebkräften bewegt und gesteuert werden. "Von Innen her" aber kommen sublime Kräfte, schaffen "Geist" oder "Seele" die einheitliche Form. Die rohen Mittel liegen außen und bedürfen wie eh und je des von innen bestimmenden, organisierenden Prinzips. Nicht anders scheint es zu sein, wenn "Autorität" und "physische Gewalt" unterschieden werden (N 1888, 14/189; 13, 376). Wird überdies die "physische Gewalt" auch noch mit "physischer Macht" gleichgesetzt, dann wird man sich genötigt sehen, der Macht die Vermittlerrolle zu bestreiten: Auf der einen Seite stehen "Instinkt[]", "höchsten Geistigkeit" und "Willenskraft" (N 1885, 37/8; 11, 582), und auf der anderen steht die Macht als Repräsentant des physischen Zusammenhangs. Die beiden von Goethe für alles Geschehen als notwendig erachteten Grundeigenschaften, nämlich "Geist" und "Gewalt",4 finden sich also auch hier, aber nicht in der Macht, sondern allenfalls im Willen zur Macht. Also spricht einiges dafür, der Macht selbst keine inneren Bestimmungsgründe zuzugestehen. Als Inbegriff der physischen Kräfte ist sie es vornehmlich, die unter dem Anspruch, die Welt von innen her zu denken, der Fundierung durch innere Antriebsmomente bedarf. So scheint es jedenfalls. Dieser Eindruck verstärkt sich angesichts der Gleichgültigkeit Nietzsches gegenüber definitorischen Abgrenzungen zwischen Macht und Gewalt. Der "Spruch des Gewaltmenschen" ist auch die Maxime des Willens zur Macht: "Bitte nie! Lass diess Gewimmer! Nimm, ich bitte dich, nimm immer! " (FW, Scherz, List, Rache 17; 3, 356) Gewalt kennzeichnet den "Raubthier-Typus" des waffenklirrenden Kriegers ebenso wie den Priester, wenn er als "Herold und Mundstück geheimnissvollerer Gewalten" fungiert (GM 3, 15; 5, 373). Als Synonym von "Macht" hat "Gewalt" auch dort zu gelten, wo von der "organisirenden", "schöpferische[n]" und "regierendefn]" Gewalt der Triebe (FW 113; 3, 473 u. Ν 1887, 7/3; 12, 257) oder vom Menschen als der schwächsten, aber klügsten Gewalt in der Natur (N 1885/86, 2/131; 12, 132) die Rede ist. In den Bedeutungshof der "Gewalt" gehört es ferner, wenn das Regiment des Willens zur Macht als "Tyrannei" (GM 2, 17; 5, 324), "Ausbeutung", "Maschinerie" (N 1887, 10/17; 12, 462 f.) oder als "Repressalien" (N 1884, 25/174; 11, 60) bezeichnet wird. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, 840: "Man sieht gleich, wo die zwei notwendigsten Eigenschaften fehlen: Geist und Gewalt. " (Gedenkausgabe der Werke, Briefe u. Gespräche, hrsg. v. E. Beutler, Bd. 9, Zürich 1949 (Artemis-Ausgabe), 611)
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Doch man täusche sich nicht, wie selten solche Aussagen in Nietzsches Schriften und Aufzeichnungen sind! In der überwiegenden Zahl der Fälle hat er das Wort "Macht" gewählt und meint damit offenbar mehr als das Insgesamt äußerer Zwangsmittel. Gemeint ist zumindest die Verfügung über die Zwangsmittel, die als mögliches, letztlich entscheidendes Instrumentarium zwar zur Macht gehören, aber mit ihr nicht identisch sind. Nietzsche definiert das zwar nirgendwo, aber sein Begriffsgebrauch spricht überwiegend für diese Abgrenzung. Besonders deutlich wird das, wenn er das höchste Stadium der Macht gerade durch die Abwesenheit der Gewalt zu umschreiben sucht: Gebändigte Gegensätze sind "das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung: - daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht -" (N 1887, 7/3; 12, 258). Nur eine solche für seelisch-geistige Momente prinzipiell offene Machtkonzeption kann zum Träger der Schönheit werden. Nur eine so verstandene Macht kann im "Kleinsten" wie auch im "Grössten", im "Liebesblick[]" ebenso wie im tödlichen "Wagniss" sein (Z II, Von der Selbst-Ueberwindung-, 4, 148). Zarathustra, der sie als das auch in den gröbsten Lebensvorgängen tragende Element vorstellt, traut ihr die sublimsten Leistungen zu: "Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt in's Sichtbare: Schönheit heisse ich solches Herabkommen." (ebd., Von den Erhabenen·, 4, 152) Wenn sie nicht überhaupt synonym gebraucht wird, bezeichnet die Gewalt in der Regel die physische Kraft, also das, was in anderen Zusammenhängen auch "Machtmittel" genannt wird (N 1886/87, 5/59; 12, 207). Abgesehen von der auch heute noch üblichen weiten Auffassung im Sinne der "Allgewalt" oder des "Sich-in-der-Gewalt-Habens" zielt das Wort also auch bei Nietzsche auf den externen Wirkungskontext, auf die Durchsetzung mit Hilfe physischer Mittel. "Macht" ist dagegen der Ausdruck für die Disposition zu Wirkungen, für die Mittel-einsetzende-Kraft. Wären Macht und Gewalt identisch, verlöre der "Sieg über die Kraft" seinen Sinn. Die Macht steht gewissermaßen hinter dem physischen Geschehen, sie "zeigt" sich im Umgang mit Techniken und ist in unbestimmter Weise mehr als ein bloßes Werkzeug. Man hat in ihr folglich eine immer auch von innen bestimmte Kraft zu sehen; sie ist ein "Kraft-Magazin" (N 1886/87, 7/62; 12, 317), aus dem je nach den Umständen etwas oder alles entnommen wird. Nietzsche bevorzugt das ihm vor allem von Robert Mayer nahegebrachte Modell der plötzlichen Entladung. Über Kraftreserven kann man natürlich wie über eine disponible Sache sprechen. Ein Subjekt kann sich stets auch hinter seine Vermögen zurückziehen und sie wie technische Mittel behandeln. Für dieses Subjekt ist dann die Macht das Instrument, mit dessen Hilfe es seine Absichten durchsetzt. Nietzsche neigt zu dieser medialen Apostrophierung der Macht: "Ist die Macht über die Natur errungen, so kann man diese Macht benutzen, um sich selbst frei weiterzubilden" (N 1886/87, 5/63; 12, 208). Daneben verleiht er der Macht aber auch
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den Status eines realen, nicht bloß grammatischen Subjekts - und dies an zentraler Stelle: Die einzige Wirkungsgröße überhaupt, das Machtquantum, ist die aus sich selbst wirkende Macht. Es wäre unsinnig, hier zwischen einem verfügenden Willen und einer eingesetzten Macht zu unterscheiden. Die Macht wirkt unmittelbar aus sich heraus und ist insofern dem menschlichen Subjekt analog: "Über den Rang entscheidet das Quantum Macht, das du bist" (N 1887/88, 11/36; 13, 20), d. h. der Mensch "stellt ein ungeheures Quantum Macht dar" (ebd., 11/111; 13, 52), eine "Aufsummirung von Kraft", die ein "viel höheres Quantum von Herrschaft über die Dinge" erlaubt (N 1888, 14/182; 13, 370). Wenn aber Macht und Mensch zur Deckung kommen können, dann kann die Macht auch als Träger menschlicher Eigenschaften auftreten, sie selbst kann "Grundinstinkte" (N 1885/86, 2/130; 12, 129), Triebe, Absichten und, was mit Blick auf Nietzsches Formel von besonderem Interesse ist, auch einen "Willen" haben. Wird der Macht die Rolle eines von sich aus tätigen Subjekts zugeschrieben, dann steht der ihr zukommende Doppelaspekt außer Frage. Sie ist jene Größe, die aus einer inneren Bestimmung nach außen wirkt, was immer auch dieses Innen im Verhältnis zu einem nur relativ zu fassenden Außen bedeutet. Wenn die Macht nach Analogie eines handelnden Subjekts verstanden wird, dann bereitet es keine Schwierigkeiten, in ihr eben die Wirkungsgröße auszumachen, die aus der inneren Welt in die äußere strebt. Ihr ganzes Wirken geht von innen nach außen und ist ein fortwährendes Zeigen und Bedeuten, auch wenn es als "Entladung" oder "Explosion" beschrieben wird. Wäre die Aktivität des Machtquantums eine Explosion im strikten Sinn, dann gehörte sie ausschließlich zur äußeren Welt der physikalischen Kräfte und würde nichts von dem erklären, was Nietzsche erklären will. Die einleitenden Überlegungen des ersten Kapitels haben nun aber gezeigt, daß die InnenAußen-Struktur der Macht auch dann zukommt, wenn sie als bloßes Mittel verstanden wird. Als Mittel fordert sie das über sie verfügende Subjekt, ist somit unmittelbar auf einen "in" ihr treibenden Willen bezogen. Auch als Mittel setzt sie (nach Art eines Vermögens) innen an, um nach außen zu wirken. Als instrumenteil ausgelegte Macht hat sie demnach eine Brückenfunktion. Durch sie gelangen (innere) Anlagen zur (äußeren) Entfaltung, d. h. Triebe lösen Bewegungen aus, Begabungen zeigen sich, Absichten kommen zum Vorschein, Vorhaben werden zur Tat, und erst im Hinblick auf diese Übertragung in den Bereich der äußeren Realität gewinnen sie als innere Kräfte Bedeutung. Also kann man die Innen-AußenStruktur als generelles Merkmal der Macht im Willen zur Macht ansehen. In ihrer instrumentellen Funktion ist die Macht auch bei Nietzsche auf keine bestimmten Leistungen eingeschränkt. Es hängt allein von den Umständen ab, was man mit einem Quantum Macht erreichen kann. Unabhängig von allen Umständen ist allein die Tatsache, daß man Macht benötigt. Zu allem, was immer man auch erreichen will, gehört Macht. Sie ist das Universalmedium, weil man es zu allem braucht und weil es zu allem taugt. Nach Nietz-
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sches allgemeinem Verständnis des Begriffs, den er also nicht durch die Opposition zum "Geist", zur "Moral" oder zur "Geschicklichkeit" einschränkt, ist Macht die generelle Bedingung dafür, daß überhaupt etwas geschieht. "Was ist 'aktiv'? nach Macht ausgreifend" - eine Antwort, die erst richtig verstanden wird, wenn man hinzunimmt, daß auch die Passivität, analog zum klassischen Verständnis der Dynamis, eine Machtäußerung darstellt: "Was ist 'passiv'? widerstehen und reagiren." - damit zwar kein Ausgreifen, aber ein Behaupten der Macht (N 1886/87, 5/64; 12, 209). Äußerungen wie diese könnten zu der Ansicht verleiten, die Macht rücke bei Nietzsche keineswegs in die Funktion eines universellen Mittels, sondern behaupte nunmehr die Position eines universellen Zwecks, dem gegenüber alles andere zum Mittel werde. In der Tat ist die Instrumentalisierung aller Zwecke und Werte die erste Konsequenz der Auslegung allen Geschehens als Machtprozeß. Zwecke werden als bestenfalls lebensdienliche Fiktionen durchschaut (vgl. GD, Irrthiimer 8), und Werte gelten als "Ausdruck des Machtwachsthums" (N 1887, 9/39; 12, 353). Wo sie keiner Macht korrespondieren, sind sie nichts als "Vorurtheile, Naivetäten, MißVerständnisse" (N 1888, 14/105; 13, 282): "Woran mißt sich objektiv der Werth? Allein an dem Quantum gesteigerter und organisirter Macht [...]" (N 1887/88, 11/83; 13, 40). Der Grad der Machtsteigerung wird zum Bewertungskriterium schlechthin, und damit ist die Macht die letztlich entscheidende Größe. Was liegt näher, als nunmehr in ihr das über allem stehende Ziel zu vermuten, das in progressiver Steigerung immer wieder von neuem zu erringen ist? Auch die Formel "Wille zur Macht" spricht für diese Deutung. Das Telos des hier bezeichneten Grundtriebes scheint unzweideutig in der Macht zu bestehen.
2. Das Telos der Macht Doch als was fungiert die solchermaßen in die Stellung eines Zieles eingerückte Macht? Sie bezeichnet kein Ende, keinen in irgendeiner Hinsicht abgeschlossenen Zustand. In der Macht ist nichts vollendet. Sie bietet keine Ruhe, kein ungestörtes Glück, und auch die Sicherheit, die sie verspricht, ist relativ zu der Gefährdung, die sie zwangsläufig mit sich bringt. Außerdem wird sie gar nicht als Zustand angestrebt. Sie steht an der Stelle des Zieles lediglich als Ausdruck der bewältigten Anstrengung, als die allgemeinste Bezeichnung für die gelungene Beschleunigung des Wachstums und damit zugleich als Vorzeichen weiterer Leistungen. Außer durch das Machtgefühl ist sie durch nichts Konkretes bestimmt. Ihr Wert liegt allein im Gefühl der bewältigten Steigerung und damit zugleich im Vorgefühl weiterer Steigerung. Der Begriff der Macht sagt selbst noch nicht, was in einer Situation konkret erreicht ist und
2. Das Telos der Macht
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somit den Anlaß für die lustvolle Empfindung gibt. Er bezeichnet lediglich die Bedingung jeder möglichen konkreten Leistung in einem Augenblick. Eben damit aber sind wir bei der Macht als dem universellen Mittel für jeden nur denkbaren Zweck: Die Macht kann in die Funktion eines generellen Zieles nur gelangen, wenn sie nicht nur jedes mögliche Ziel einschließt, sondern prinzipiell auch jede weiterführende, noch nicht sichtbare Zielsetzung trägt. Die Macht muß sowohl die Gesamtheit der möglichen Absichten umfassen wie auch jenen Zustand beschreiben, von dem aus jede mögliche Absicht verfolgt werden kann. Das Machtstreben hat Macht nicht nur "vor" sich, sondern stets auch "hinter" sich. In jedem Wollen der Macht wird schon eine erreichte Macht vorausgesetzt. Jede realisierte Macht muß aber selbst wieder Ausgangspunkt weiteren Wollens sein. Hinter dieser Doppelrolle steht in Wahrheit nur die eine Funktion der Macht, nämlich die generelle Bedingung für Zielrealisierung überhaupt zu sein. Nur weil sie das für alles notwendige und zu allem mögliche Mittel darstellt, kann sie die Stellung eines in allem Geschehen leitenden Zieles einnehmen; als universelles Mittel wird sie zum universellen Ziel. In der Rolle des universellen Mittels kann die Macht ihre auf keine bestimmte, aber auf jede denkbare Leistung bezogene Funktion erfüllen. Allein in dieser Allgemeinheit kann sie jederzeit zwischen Selbstgenuß und äußerer Wirksamkeit vermitteln. Und nur so ist sie das Movens hinter einer historisch niemals abgeschlossenen Umwertung der Werte. Als konkrete Macht einer sozialen Klasse oder eines großen Menschen bringt sie Werte als Herrschaftsmittel hervor, die in der Folge größerer Machtverschiebungen zwangsläufig überwunden und durch andere Werte ersetzt werden. Aufbau und Zerfall von Werten sind gleichermaßen durch die Macht bewirkt. Die moralischen Wertungen sind eines der Mittel, derer sich die Macht in ihrem Selbststeigerungsprozeß unablässig bedient. Das einzig Konstante, wenn man so sagen darf, ist die Bewegung selbst, der Aufstieg zu immer höheren Formen der Organisation. Eine auf überdauernde Werte gestützte Moral kann es in dieser steten Veränderung nicht geben. Wo sie sich doch behauptet, wird sie "lebensfeindlich" und "widernatürlichO" (GD, Moral·, 6, 83 u. 85). Die einzige "Tugend", die in dem alles bestimmenden Machtprozeß Kontinuität verspricht, läuft auf die Identifikation mit der Macht hinaus: "Virtus = potent i a l , so notiert Nietzsche zustimmend in einem Spinoza-Exzerpt der späteren Zeit (N 1886/ 87, 7/4; 12, 261). Daß er sich damit von den klassischen Moralkonzeptionen keineswegs so weit entfernt, wie es den Anschein hat, lehrt nicht erst der komplexe, genuin menschliche Charakter der Macht. Die von Nietzsche immer wieder unternommenen Anläufe, die neue Tugend als eine "Form der Immoralität" zu rechtfertigen (N 1887, 10/110; 12, 519), lassen die Gemeinsamkeiten mit der Tradition hervortreten: Die "gesunde Moral" ist Gesetzgebung
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
aus innerer Stärke, ein Maß für den Rang und für das, was einer aushält an Wahrheit, Glück, Macht und - Freiheit.5 Während man die Aussagen über die subjektanaloge Position und die universelle Funktion der Macht aus den Texten Nietzsches herauszudeuten hat, springt seine Vorstellung von ihrer Wirkungsweise in die Augen: Der Mächtige tritt auf wie ein Herr, der auf Aneignung und Anordnung dringt. Seine Durchsetzungskraft beruht naturgemäß auf der Verfügung über physische Mittel, ist aber im wesentlichen bedingt durch den Grad des in ihn gesetzten Glaubens. Er wirkt nicht durch Sein, sondern durch Geltung: "Alle Einheit ist nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit: [...] somit ein Herrschafts-Gebilde, das Eins bedeutet, aber nicht eins ist." (N 1885/86, 2/87; 12, 104) In der Herrschaft basiert die genuine Wirksamkeit auf Bedeutung. Ihre Einheit kommt nur durch Anspruch und Anerkennung zustande. Die physische Stärke ist keine hinreichende Bedingung für Herrschaft. Das Zeichen für Überlegenheit muß hinzukommen. Zu dem Zeichen aber gehört einer, der es setzt, und ein anderer, der es versteht. Also müssen mindestens zwei Mächte zusammentreffen, ehe sich ein Herrschaftsverhältnis ergibt. Erst in der Verständigungseinheit zwischen einer überlegenen und einer unterlegenen Macht tritt eine Machteinheit als Herrschaft hervor. Wenn es nun daneben andere Machteinheiten gar nicht gibt, wenn Einheiten "an sich" gar nicht angetroffen werden und alle Macht sowohl in ihrem inneren Zusammenhalt wie auch in ihrer äußeren Wirksamkeit auf Bedeutung beruht, dann bleibt die Herrschaft als einzige Form der Machtbildung überhaupt übrig. Gerade dies ist bei Nietzsche der Fall: Jede Macht wird in der Form von Herrschaft vorgestellt. Macht, wo immer sie auch begegnet, ist herrschaftlich organisiert.6 In jedem Fall muß ein gebietender Wille auftreten, der Wirklichkeit aber nur dadurch erlangt, daß seine Imperative befolgt werden. Dieser Grundvorgang der Machtkonstitution ist identisch mit dem Aufbau von Herrschaft: Die für die Entstehung der Macht notwendige Beziehung auf eine andere Macht ist ein Übergriff.7 In diesem Übergriff liegt der Anspruch auf Unterwerfung der anderen Macht, die sich im Fall des Gehorsams in die damit neu entstandene Machteinheit fügt. Die so entstandene Macht hat die Form der Herrschaft. Ihr Wesen besteht in einer Unterwerfung im Medium von Willens-Wirkungen. 5
6
7
Vgl. dazu: Ν 1885, 35/69 u. Ν 1887, 10/68. Auf Einzelheiten von Nietzsches Moralkritik und auf seine eigene Konzeption von Verantwortlichkeit und Tugend einzugehen, würde hier zu weit fìihren. Verwiesen sei auf die Bemerkungen im X. Kapitel, auf die Arbeiten von B. Bueb (Nietzsches Kritik der praktischen Vernunft, 1970) und I. Heidemann (Nietzsches Kritik der Moral, 1972, 95 - 137). Eine Art Zusammenfassung der neueren Diskussion mit wertvollen historischen und systematischen Analysen bietet W. Stegmaiers gründlicher Kommentar zu "Nietzsches Genealogie der Moral" (1994). - Zur Dimension des Glücks kann hier nur auf die bemerkenswerte Untersuchung von U. Schneider (Grundzüge einer Philosophie des Glücks bei Nietzsche, 1983) verwiesen werden. Hier besteht bei vielen Interpreten Konsens. Besonders betont bei K. Jaspers, Nietzsche, 1947, 287; M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, 1961, 263 und F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, 256 ff. Siehe ferner: R. Schottländer, Zur Problematik des Machtwillens, 1958, 285 - 290, 288 f. Siehe oben Kapitel VII, 6.
3. Macht und Herrschaft sind synonym
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Nun ist aber gar nicht denkbar, daß eine Macht auf andere Weise entsteht. Stets muß eine Beziehung der geschilderten Art gegeben sein, damit überhaupt von Macht gesprochen werden kann. Gelingt im Einzelfall die Verfügung nicht, dann muß sich die Macht entweder auf andere Oppositionen zurückziehen, in denen sie ihren Verfügungsanspruch erfolgreich durchsetzen kann, oder sie löst sich auf. Unterliegt sie und wird nun selbst der Verfügung durch die andere Macht unterworfen, ist sie freilich als Macht gerade nicht liquidiert. Im Rahmen der neuen Machteinheit, der sie nun durch Unterwerfung zugehört, behält sie als Macht eine relative Selbständigkeit, denn nur als Macht ist sie für den herrschenden Willen bedeutsam. Die eigene Macht aber sichert sich die unterlegene Macht durch Verfügung über andere Mächte. Somit muß jede vorkommende Macht nach dem Modell der Herrschaft begriffen werden. Auch noch der Grenzfall der primär auf sich selbst zurückgezogenen Macht ist ein Fall von Herrschaft über sich selbst. Hier wird wie in jedem anderen Fall von Macht eine Vielheit unterstellt, die allererst Einheit ermöglicht.
3. Macht und Herrschaft sind synonym Aus alledem ergibt sich eine philosophisch nicht unerhebliche Konsequenz: Die Macht ist keine real gegebene, substantielle Entität, sondern eine Beziehungsgröße. Sie existiert nur in Verbindung mit zweckanalogen Verfügungsansprüchen. Anders gesagt: Es gibt sie jeweils nur in bestimmten Hinsichten als Organisation von Kräften. Macht ist die Organisation von Kraft unter dem Anspruch eines befehlenden Willens/Jedes Machtquantum hat die Struktur eines Imperiums. Organisation ist für Nietzsche mit Herrschaft synonym. Er deutet organisierte Einheiten als "Herrschaftsgebilde" (N 1886/87, 6/26; 12, 244), deren "herrschaftliche gestaltende befehlende Kräfte" auf die Vermehrung der Macht gerichtet sind (N 1886/87, 7/9; 12, 297). Organisation ist der bewältigte Gegensatz, die Unterwerfung verschiedener, für sich auseinanderstrebender Kräfte unter ein Prinzip. Bewältigung des Gegensatzes ist die Leistung der herrschaftlichen Organisation sowohl nach innen (im Hinblick auf ihre Organe) wie auch nach außen (im Verhältnis zum Fremden). Diese Leistung einer Organisation ist in der alle Lebenserfahrung durchziehenden Opposition zwischen dem Eigenen und dem Fremden vorausgesetzt. Sie wird von Nietzsche nach dem Modell herrschaftlicher Machterfahrung vorgestellt, als Einheit von "Autorität" und "physischefr] Gewalt" (N 1888, 14/189; 13, 376). Sowohl im Binnen- wie auch im Außenverhältnis wird alle Macht erfahren, als ob in ihr ein herrschender Wille wirke. Das Problem der Organisation bildet ein Leitmotiv in Nietzsches spätem Denken. Nicht erst die enge Verbindung mit dem Problem der Macht ließe es zu, die Lehre vom Willen zur
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VIH. Die Macht im Willen zur Macht
Macht als eine Philosophie der Organisation zu bezeichnen.8 Das Organisationsprinzip rückt das Leben in eine Perspektive, auf die sich Nietzsche im Laufe der achtziger Jahre immer stärker einstellt. Das Prinzip reicht in seiner Sicht weit über die Phänomene des organischen Lebens hinaus, indem es einerseits auf das Ordnungsgefüge des Anorganischen und andererseits auf gesellschaftliche und kulturelle Erscheinungen übergreift. Anthropogener und soziomorpher Charakter der Macht treten in diesem Zusammenhang mit besonderer Deutlichkeit in den Blick. Jede individuelle Einheit geht aus einem "Kampf der Theile" hervor, wobei einzelne Teile "[sjiegen" und "[vorherrschen", andere aber "fv]erkümmern" und damit zum Organ werden (N 1886/87, 7/25; 12, 304). Auf der Basis dieser Vorstellung erwächst dann auch das Programm einer "Theorie der Herrschaftsgebilde", die sich sowohl auf die "Entwicklung der Organismen" überhaupt (N 1886/87, 6/26; 12, 244) wie auch auf jenen Bereich bezieht, den die Soziologie zum Thema hat (N 1887, 9/8; 12, 342). Herrschaft als organisierte Entsprechung von Befehl und Gehorsam auf der Basis wechselseitig anerkannter Bedeutungsträger ("Zeichen") - eben diese Bestimmung ist es, die in Max Webers Definition der Herrschaft aufgenommen wird: "Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden. "9 Dieser Formel hätte Nietzsche zustimmen können. Dem Soziologen hätte er wohl auch die Beschränkung auf "Personen" nachgesehen, zumal von ihnen nicht in moralisch weitender Absicht die Rede ist. Daß die Übereinstimmung nicht bloß in dieser Definition besteht, erhellt aus ihrer Anwendung auf konkrete politische Herrschaftsgebilde. Weber zeigt, daß Herrschaft sich nur dort etablieren läßt, wo die Befehlenden mit einem "Legitimitätsanspruch" auftreten, dem die Gehorchenden mit einem "Legitimitätsglauben" entgegenkommen. Damit ist eben jener gemeinschaftliche Bedeutungsraum umschrieben, der auch nach Nietzsche auf dem "Glauben" an verbindende Werte beruht. Es ist ein Glaube, der nicht nur den Beherrschten abverlangt wird. Auch der Herrschende hat ihn nötig - als "Glauben an sein Recht und seine Hand" (N 1885/86, 1/56; 12, 24). Politische Einheiten entstehen somit wie alle Machtgebilde nur in der Überzeugung von der Legitimität und Effektivität der Organisation. Von dieser Einschätzung ist Nietzsches Urteil über politische Entwicklungen bestimmt, ganz gleich, ob er die "kleine Politik" der Staaten und Parteien im Europa seiner Zeit kritisiert oder als Anwalt einer "grossen Politik" den "Kampf um die Erd-Herrschaft" prognostiziert (J 208; 5, 140).10
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W. Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, 1974, 1 - 60, 39. M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1. Hlbbd., 1972, 28. Wenn in diesem Zusammenhang auf Nietzsches Aussagen zur Moral, zur Erkenntnis und zur Kunst nicht gesondert eingegangen wird, so erscheint das eher verständlich als der Verzicht auf eine Darlegung seiner Äußerungen zur Politik. Doch dieser Verzicht erfolgt nicht aus Platzgründen, sondern er war von vornherein beabsichtigt. Denn erstens ist Nietzsche als politischer Denker zwar interessant, aber nicht bedeutend. In der Auseinandersetzung mit seinen politischen Überlegungen ergeben sich keine neuen Gesichtspunkte für die Grundkonzeption des Willens zur Macht. (Siehe dazu vom Verf.: "Das Thier, das versprechen darf', 1992) Zweitens ent-
3. Macht und Herrschaft sind synonym
261
Herrschaft basiert bei beiden Autoren auf geglaubten Werten. Diese stiften erst den symbolischen Zusammenhang und geben damit der Macht eine von innen bestimmte Gestalt. Bei Max Weber ist das ausgesprochen, wenn er die Herrschaft von der "soziologisch amorphen" Macht unterscheidet. Bei Nietzsche gibt es eine derartige terminologische Abgrenzung nicht, aber im Begriff des Willens zur Macht ist der Anspruch angelegt, alle Wirkungseinheiten als gestaltende Energien, als von innen treibende Formkräfte darzustellen. Der Ausdruck "WilleQ zur Herrschaft" (N 1887/88, 11/140; 13, 65) ist der einzige unter den vielen Varianten des "Willens zu ...", der dem Willen zur Macht gänzlich entspricht. Macht und Herrschaft sind synonym. Wo immer die Etablierung einer Macht gelingt, geschieht dies in der Form der Herrschaft. Unterwerfung, Aneignung, Befehl, Indienstnahme und Gesetzgebung sind die immer wieder genannten Funktionen der Machtausübung, hinzu kommen Selbstdisziplin und Distanz gegenüber anderen. Die Empfindung der Stärke nennt Nietzsche ein "Herrschaftsgeffihl in den Muskeln" (N 1888, 14/117; 13, 294). Die Exponenten der Macht - der Mann, der Gesetzgeber, der Eroberer und der Priester: das sind die "herrschaftlichen Typen" (N 1886/87, 6/26; 12, 245). Der "'Hirt'" steht "im Gegensatz zum 'Herrn'", zumindest insofern als der erstere bloß als Mittel, der letztere dagegen als "Zweck, weshalb die Heerde da ist", betrachtet werden kann (ebd.). Überall dort, wo der Typus der Herrschaft nicht rein entwickelt ist, also in allen Realisierungen eines schwachen Willens zur Macht, diagnostiziert Nietzsche eine "Übergangsform", die er als Mittel zur Durchsetzung des "vielfacheren stärkeren Typus" ausdeutet. Der Charakter der Macht kann sich erst in diesem Typus entfalten. Es ist bezeichnend, daß im Zusammenhang mit diesem Herrschaftstypus an den Vorgang der "'Vervollkommnung'" erinnert wird (ebd., 244). Der "Aristokratism" hat als die höchste Form der Machtausübung zu gelten, weil er die in der Macht enthaltenen Strukturmomente zur Vollendung bringt (N 1887/88, 11/140; 13, 65). Der Herrschaftscharakter der Macht läßt eine Reihe bereits bekannter Eigenschaften deutlicher hervortreten. Die agonale Verfassung der Herrschaft z. B. springt sogleich ins Auge, denn ihr Begriff zielt primär auf das Verhältnis von Herrschenden und Beherrschten. Daß dabei auch den Unterworfenen Macht zukommen muß, wenn sie für die Überlegenen überhaupt von Interesse sein sollen, gehört seit Hegel zu den Gemeinplätzen der Sozialphilosophie. Auf Verständnisschwierigkeiten stößt dagegen die Tatsache, daß die Unterwerfung nur relativ auf das Herrschaftsziel zu sein braucht und keine absolute Ungleichheit zur Folge haben muß - ein Faktum, das sich am naheliegenden Beispiel der Demokratie ("Volksherrspricht es der hier verfolgten Konzeption, die Macht in ihrer anthropologischen, soziologischen und, wie sich noch zeigen soll, metaphysischen Dimension kenntlich zu machen. Daß eine solche Klärung auch für das Verständnis der Politik Folgen haben kann, wurde in der Einleitung angedeutet. Zu Nietzsches politischem Denken ist vor allem auf die neue MaBstäbe setzende Studie von H. Ottmann (Philosophie und Politik bei Nietzsche, 1987) hinzuweisen. Anregende Orientierung auch bei: H. Hofmann, Nietzsche, 1974, 320 - 343. K. Ulmer (Nietzsches Philosophie in ihrer Bedeutung für die Gestaltung der Weltgesellschaft, 1983, 51 - 79) hat die weit in die Zukunft reichenden politischen Perspektiven in Nietzsches Denken nachgezeichnet.
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
schaft") leicht veranschaulichen ließe. Auch bei Nietzsche ist Herrschaft lediglich relativ, d. h. nach einem leitenden Gesichtspunkt organisiert. Es gibt keine absoluten Unterschiede zwischen Herrschenden und Beherrschten. Dennoch ist für ihn der Rangunterschied wesentlich. Daß ein Sieg errungen und ein überlegener Wille durchgesetzt ist, gibt der Herrschaft ihren Wert. Sie entsteht ja erst durch die Polarisierung von Unterschieden, durch Distanzierung bis zum Gegensatz, der dann bezwungen und in einer Hierarchie verfügbar wird. Herrschaft gelingt mit der Integration eines hervorgetriebenen Widerspruchs: Zunächst wird ein wie auch immer beschaffener Unterschied zu einem Oppositionsverhältnis verschärft, dann werden die in der Frontstellung aufgeladenen Kräfte in einer Rangordnung auf ein Ziel ausgerichtet und zu einer gebündelten Entladung gebracht. Eine Machtdifferenz wird durch Polarisierung und Hierarchisierung produktiv gemacht. Eine Spannung wird erst erzeugt und dann genutzt. Bevor die Kräfte durch Zusammenfassung in einem Gebilde zu konzentrierter Wirkung kommen, werden sie durch Reizung gesteigert. Auf diese Steigerung ist alles angelegt. Durch Opposition und Organisation wird aus vereinzelten Mächten eine überlegene Macht. Zum Begriff der Herrschaft gehört auch die Grenzziehung zwischen außen und innen. Gleichsam aus einem Zentrum heraus verfügt der herrschende Wille über die ihm zu Gebote stehenden Mittel. Die ausdrückliche Kontamination von "Herrschaft" und "Bedeutung", durch die der Herrschaftsvollzug zu einer Art Verständigung zwischen Willenspunktationen gemacht wird, verstärkt diese Vermittlung von innen nach außen. Macht wird hier zum bloßen Verhältnis, hinter dem die wechselseitige Schätzung möglicher Aktivitäten steht. Die Verständigung geschieht durch Zeichen, die nur von denen interpretiert werden können, die selbst in der Lage sind, entsprechende Zeichen zu setzen. Nietzsches Insistenz auf dem Ineinander von Befehl und Gehorsam - gehorchen kann nur, wer zu befehlen gelernt hat und umgekehrt - macht die in der Herrschaft allen Beteiligten abverlangte Gegenseitigkeit in Äußerungsmöglichkeit, Selbstbezüglichkeit und Deutungsleistung offenkundig. Es reicht für die mit der Willensbekundung verbundene Machtäußerung nicht aus, daß auf einer Seite, in einem Innen sozusagen, ein "Spannungszustand" herrscht. Die Auslösung erfolgt stets erst durch die Tatsache, "daß Etwas befohlen wird" (ebd., 11/114; 13, 54). Also erst durch die Beziehung auf einen anderen Willen, der selbst in der Lage sein muß, die symbolische Äußerung in eine eigene Reaktion umzusetzen, entsteht das Machtverhältnis. Auf diese Weise finden ständige Übergänge zwischen innen und außen statt. Diese Übergänge bestehen im Wechsel von Perspektiven. Im Perspektivenwechsel aber kommt die Sache, um die es geht, erst ins Dasein. Denn nur in einem solchen Verhältnis bildet sich die Macht. Sie ist also keine gegebene Größe, die lediglich von verschiedenen Seiten betrachtet werden kann, sondern sie geht als Macht aus der perspektivischen Beziehung hervor. Sie ist selbst eine perspektivische Größe.
4. Herrschaft impliziert Selbstherrschaft
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Herrschaft läßt auch den variablen Grenzverlauf zwischen außen und innen erkennen, was allein die unterschiedliche Reichweite des Begriffs illustriert: Zum einen ist er nur ein Ausdruck für die Herrschenden, zum anderen meint er die Ordnung, der die Beherrschten sich zu unterwerfen haben. In diesem zweiten Sinn bezieht er sich auf die Organisation, der Herrschende und Beherrschte auf je ihre Weise zugehören. Die Grenzlinie zwischen dem Innen· und Außenbereich hat keinen eindeutigen Verlauf. Bei Nietzsche überwiegt die letzte Variante. Herrschaft ist der Begriff für den organisatorischen Komplex, dem auch die Unterworfenen angehören. Da er diesen Komplex als eine lebendige Einheit auffaßt, steht auch hier der Grenzverlauf nicht fest, denn unabhängig von der relativen Ausdehnung oder Einschränkung des Herrschaftsbereichs findet an der Grenze ein ständiger Austausch statt. Anziehung und Abwehr einerseits, Einverleibung und Ausscheidung andererseits lassen den Gedanken an feste Bestände im Außen und im Innen gar nicht erst aufkommen. Denken wir hinzu, daß die Grenzziehung einer Herrschaft sowohl der Selbstdeutung wie auch der Interpretation durch konkurrierende Mächte unterliegt, daß Innen und Außen nur aus der Sicht des Handelnden auseinandertreten, dann wird erkennbar, daß hier zwei Perspektiven (und keine zwei Seinsbereiche) unterschieden werden.
4. Herrschaft impliziert Selbstherrschaft Den stärksten Ausdruck findet der perspektivische Charakter der Macht in der Tatsache, daß sich letztlich jede Herrschaft als ein Typus der Selbstherrschaft erweist. Die Macht wird so zum Begriff für eine leibliche Selbstbeziehung. Nach den bisherigen Erörterungen reicht ein Zitat zur Verdeutlichung: "Wenn die Mitmenschen nur eine Art von unseren Empfindungen sind: so ist folglich Herrschaft nur eine Art von Selbst-Beherrschung: und der Wille, Herr zu sein, ist = der höchsten Besiegung von eigener Furcht und Mitleid und Verwandlung des Anderen in unsere Funktion - also Herstellung eines Organismus." (N 1883, 16/87; 10, 530 f.) - In diesem Rahmen läßt sich zwischen Anthropomorphie und Soziomorphie der Macht nicht mehr unterscheiden. Es muß offenbleiben, ob wir durch ihn "'die Gesellschaft' in uns verlegt" haben (N 1880, 6/80; 9, 215), oder ob wir uns in die Gesellschaft auslegen. Die Nähe zum Bereich des Organischen macht es beinahe überflüssig, darauf hinzuweisen, daß die Herrschaft auch als Modell für das Verständnis von Wachstum und Steigerung fungieren kann. Die der Macht zugeschriebene Tendenz zur Ausweitung, ihre sprichwörtliche Unersättlichkeit, kann nunmehr aus ihrer inneren Logik nachvollzogen werden. Herrschaft begnügt sich nicht mit der Addition vorgefundener Kräfte, sondern sie ist deren Steigerung durch Gestaltung. Gegebene Mächte werden herausgefordert, durch Opposition zur Vermeh-
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
rung ihrer Anstrengungen gereizt und dann in der aktivierten Form unter einem Prinzip zur konzentrierten Wirkung gebracht. Herrschaft, obgleich der Grundtypus der Macht, ist immer schon eine Steigerungsform der Macht. Man braucht das hier im Modell skizzierte Herrschaftsgebilde nur, wie Nietzsche dies tut, inmitten vieler Herrschaftsgebilde zu denken, um zu erkennen, daß Steigerung als elementares Kennzeichen zu gelten hat: Angesichts der unumgänglichen Berührung der Herrschaftsgebilde untereinander findet der innere Steigerungsimpuls einer jeden Herrschaft ständig neue Anlässe, denn er muß gegenüber jeder Störung wirksam werden. Das mindeste im Interesse der Erhaltung der Macht ist die Abwehr der fremden Einwirkung. Das aus der Logik der Herrschaftssicherung aber unmittelbar Folgende ist die Ausweitung des Dominanzanspruchs auch gegenüber der fremden Macht. Da schon die Abwehr als Minimum einer Steigerung aufzufassen ist, sofern nämlich mit der Erhaltung der Herrschaft die konstitutiven Steigerungsbedingungen gesichert werden sollen, kann man in der Steigerung das Grundgesetz allen Geschehens namhaft machen, denn: Alles Geschehen ist Gegen- und Miteinander von Macht, die nicht anders als nach dem Modell der Herrschaft verstanden werden kann. Vor diesem Hintergrund bedarf es nur einer knappen Ergänzung, um auch die Figur der Selbstüberwindung als eine im Modell der Herrschaft angelegte Form der Machtsteigerung zu verstehen. Immer dann, wenn ein Herrschaftsgebilde in einer existenzgefährdenden Auseinandersetzung unter Preisgabe seines bisherigen Machtgefüges obsiegt, hat es sich selbst überwunden. Ja, die erfolgreiche Integration der anderen Macht ist noch nicht einmal entscheidend; ausschlaggebend ist, daß ein Herrschaftsgebilde in der Absicht, sein Prinzip auf einen neuen Machtkomplex auszuweiten, seine eigene Ordnung aufs Spiel setzt. Es riskiert die eigene Instabilität um eines weitergesteckten Zieles willen. Schon im Einlassen auf anderes überhaupt liegt eine Selbstüberwindung. Mit dem Wagnis wird die Voraussetzung zur qualitativen Steigerung geschaffen. Hier zeigt sich die Bereitschaft, mit der Machterweiterung etwas wirklich Neues aufzubauen. Im Aufbau dieses Neuen liegt freilich das eigentliche Ziel der Selbstüberwindung. Die Absicht des "Selbst" erfüllt sich erst in der Stabilisierung seiner Herrschaft auf höherer Stufe, d. h. unter Einschluß von mehr Macht und größerer Ordnung. Die Steigerungstendenz kommt zu einem relativen Abschluß; die Aktivität wird an einem Ergebnis erfahrbar. Das Herrschaftsgebilde des "Selbst" hat sich bewährt und findet sich - mit größerer Machtfülle und in sich verändert - in einer komplexeren, "complizirteren" Organisationsform wieder. In der Bewegung der Selbstüberwindung gewinnt der Prozeß der Steigerung einen individuell erfahrbaren Sinn, denn das von der Veränderung nicht aufgenommene Selbst kann die Dynamik der Bewegung gleichwohl an sich selbst als Stärkung und Wachstum erleben.
S. Wille ist Wille zur Macht
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5. Wille ist Wille zur Macht Die Aussagen über Perspektivität, Steigerung und Selbstüberwindung können zeigen, wie eng das Machtkonzept als solches mit Grundpositionen in Nietzsches Spätwerk verbunden ist. Sie geben eine Vorstellung davon, wie treffend es ist, in seinem Werk eine "Philosophie der Macht" zu sehen. Um aber die Voraussetzung für die Richtigkeit einer solchen Bezeichnung zu gewinnen, hätte man so weit gar nicht zu gehen brauchen. Spätestens mit der Übersetzung von Macht in Herrschaft stellt Nietzsche außer jeden Zweifel, daß die Macht ohne einen Willen gar nicht gedacht werden kann. In der Herrschaft wird der in jeder Macht unterstellte Wille zum notwendigen und jederzeit mitbewußten Träger der Beziehung. Denn was immer deren Gegenstand ist und aus welcher Perspektive er auch betrachtet wird, in jedem Fall ist es ein Wille, der auf Durchsetzung dringt. Das Verhältnis von Befehl und Gehorsam ist das Verhältnis von Wille zu Wille. Während man bei den anderen Merkmalen der Macht noch argwöhnen kann, der erschlossene Wille habe nur die schwache Stelle eines logischen Implikats, so tritt er in der Herrschaft in einer organisierenden Funktion hervor. Dazu braucht er keine Substanz oder sonst eine nach Maßgabe eines Gegenstandes begriffene Entität zu sein, sondern muß lediglich als der in jedem Träger der Herrschaft notwendig angenommene und im Erleben jederzeit bestätigte Bezugspunkt für die Verständigung gelten können.11 In Befehl und Gehorsam ist diese Leistung immer schon erbracht. Da aber Herrschaft nichts anderes ist als eine Organisation aus Befehl und Gehorsam, kommt dem Willen darin die unverzichtbare Rolle tatsächlich zu. Herrschaft ist das Gebilde aus "Willens-Wirkungen". An ihr zeigt sich vollends, worauf die anderen Struktur-Merkmale mehr oder weniger stark verweisen: Die Macht nötigt uns, von ihr so zu sprechen, als ob in ihr ein Wille wirke. In seiner allgemeinen Fassung kann dieser Wille in (bzw. hinter) der Macht selbst wieder nichts anderes wollen als - Macht. Aller Wille der Macht ist Wille zur Macht. - Ob diese These zu begründen ist, muß sich nun zeigen. "Wille" - in der von Nietzsche zugelassenen Form - ist der Begriff für die aktuale Einheit von Überlegenheits- und Kommandobestrebungen. Er bezeichnet den Vektorimpuls aus einer Vielzahl von Kraftäußerungen und basiert auf der erlebten Dynamik eines dominanten Triebes. Die Pluralität ist hierbei ebenso vorausgesetzt wie die Erfahrung eines Widerstands, gegen den der Wille sich behauptet. Die Befehlsstruktur des Willens fordert überdies ein Gegenüber, das auch wollen kann. Im Hinblick auf den (oder die) gegenüberstehenden Willen 11
F. M. Aitken (The Concept of Power in Nietzsche's Ethics, 1970, 48 ff.) legt im einzelnen dar, daß die Macht weder als Substanz im Sinne eines Trägers von Eigenschaften noch Substanz im Sinne eines Beharrlichen in der Zeit verstanden werden darf (ebd., 51). Lediglich in dem eingeschränkten Sinn, nach welchem die Macht Ursprung einer Veränderung ("source of change") sei, könne der Substanzbegriff in Anwendung gebracht werden. Im übrigen gilt auch fur Aitken die Gesellschaft als unverzichtbares "explanatory model" fiir den Willen zur Macht (ebd., 54). Damit ist die Macht ohne Austausch und Mitteilung nicht zu denken.
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
muß das Wollen als Mitteilung des vorherrschenden Impulses verstanden werden. Der Trieb, so könnte man sagen, teilt sich mit. In dieser Mitteilung liegt seine Wirksamkeit. Das "Ich will" ist das Zeichen für den Anspruch auf Wirksamkeit, auf Umsetzung einer dominanten Strebung in reales Geschehen. Der Begriff des Willens oszilliert zwischen der Bezeichnung des im Innern unterstellten Zentrums und des nach außen gerichteten Kommandos, d. h. zwischen dem "Träger" und dem "Inhalt" des Willens. Nietzsche kann trotz aller Kritik an der Rede von den "Vermögen" auf das hypothetische Konstrukt eines Willens nicht verzichten. Aber seine Äußerungen machen hinreichend klar, daß er in dieser Fähigkeit zu wollen nur eine Funktion der Impulsübermittlung sieht: Nur sofern ein überlegener Trieb auf äußere Wirksamkeit dringt, ergibt es einen Sinn im Ausgangs- und im Zielpunkt der Äußerung, d. h. im Befehlenden wie im Gehorchenden, einen Willen nach Analogie eines Subjekts anzunehmen. Daß man den Willen als eine Art Subjekt unterstellt, könnte man in der Tat als Folge der Grammatik (J 54)12 bezeichnen, weil die Äußerung des Willens als Mitteilung gedacht und demnach am Muster sprachlicher Verständigung orientiert ist. Im Vordergrund steht daher auch nicht der Wille als "Träger", sondern als "Inhalt". "Inhalt" meint hier allerdings nicht den logisch separierbaren Aussagebestandteil eines Imperativs, sondern den einzelnen Befehl im Unterschied zum Befehlenden. Die Betonung liegt insofern auch auf dem Akt und nicht auf der hypostasierten Substanz. Die sich äußernde Kraft und der Prozeß der Wirkungsübermittlung sind für Nietzsche primär. Wo immer ein Wille sich äußert, ist die Unmittelbarkeit der physischen Wirkung unterbrochen. Das Wollen ist gewissermaßen das erste "Mittel", dessen Einsatz auf die Mobilisierung weiterer "Mittel" berechnet ist, um dem angestauten Trieb die Bahn frei zu machen. Auf diese Weise kann die Triebauslösung intensiviert und Wirkung auch über eine Distanz hinweg erzielt werden. "Wille" ist ja die Kraft, welche die "actio in distans", von der die Physik nicht loskommt (N 1885, 36/31; 11, 563), ermöglicht. Insofern diese Wirkung nur über einen anderen Willen erreicht werden kann (man "will" ja, indem man diesen anderen Willen anspricht), ist alles Wollen auf die Bestimmung eines anderen Willens gerichtet, und zwar in der Absicht, auf diese Weise mehr oder weniger bestimmte Effekte möglich zu machen. Diese Wirkungsabsicht durch Einfluß auf einen anderen Willen ist aber nichts anderes als die Intention auf Macht. In der Regel, d. h. bei allen konkreten Willensäußerungen, wird diese Macht bloß als das Mittel zur Herbeiführung der intendierten Einzelleistung implizit mitgewollt. In jenen Fällen, in denen es um Gehorsam überhaupt oder um nicht näher spezi12
Zu diesem wichtig gewordenen Topos vgl. J. Simon, Grammatik und Wahrheit, 1972, 1 - 26, insb. 12 ff.; ders., F. Nietzsche, 1981, 203 - 224, 219 ff.; D. Henke, Gott und Grammatik, 1981, 176 ff.; J. Figi, Interpretation als philosophisches Prinzip, 1982, 159 - 180; G. Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 1984, 133 ff.
S. Wille ist Wille zur Macht
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fizierte Dienste geht, ist die Macht das ausdrückliche Ziel. Da auch die von Nietzsche unter dem Begriff der Askese behandelten Fälle abwehrenden Wollens einen Machtaspekt einschließen - denn sie zielen immer auch auf die Sicherung der Selbstherrschaft -, läßt sich sagen, daß jedes Wollen implizit oder explizit auf Macht gerichtet ist. Jeder Wille ist immer auch Wille zur Macht - und zwar "Macht" nicht in dem diffusen Verständnis von "machen", sondern in dem präzisen Sinn einer möglichen Verfügung über den Willen anderer. Dieses Ergebnis braucht nicht zu überraschen. Wenn es denn stimmt, daß Wille zur Macht in allen Vorgängen die treibende Kraft darstellt, dann muß das auch für jenen Vorgang gelten, den Nietzsche trotz aller Vorbehalte "Wollen" nennt. Doch eine solche Erklärung wird der hier ermittelten wesenhaften Beziehung zwischen Wille und Wille zur Macht nicht gerecht. Außerdem verdeckt sie eben den Zusammenhang, um dessen Aufklärung es geht. Die Analyse hat ja an keinem beliebigen Punkt angesetzt, um zu fragen, ob man auch von ihm aus auf die behauptete Grundtatsache allen Geschehens vorstoßen könnte, sondern bei einem begrifflichen Element eben dieser Grundtatsache. Und da ist es schon erstaunlich, in einem Teil auf das Ganze zu stoßen: Der Wille, ein wie immer auch zu bestimmender Teil des Willens zur Macht, enthält diesen bereits ganz. Es ist, als blicke man auf einen Spiegel im Spiegel, der, obgleich nur ein Bildausschnitt, das ganze Bild bis ins Unendliche wiederholt. Im Willen zur Macht läßt sich das Wollen nicht isolieren. So wie Nietzsche es versteht, enthält es immer schon den Willen zur Macht. Das Zur-Macht-Wollen ist das notwendige Implikat eines jeden Willens, ja mehr noch: Es ist das Wesen dessen, was Nietzsche als Wollen gelten läßt. Wille ist Wille zur Macht. Diese Feststellung nötigt allerdings zu der Frage, welchen Wert der ausdrückliche Hinweis auf die Macht eigentlich noch hat. Setzt er nur einen rhetorischen Akzent auf den Realitätsbezug des Wollens, oder fugt er dem Begriff sachlich etwas hinzu? Werden dem Wollen tatsächlich härtere Bedingungen gestellt, oder entspringt das Epitheton "zur Macht" nur der provokativen Übertreibung einer trivialen Voraussetzung? Eine Spezifizierung des Willens kann darin nicht liegen, sonst wäre nicht jeder Wille im Grunde ein Wille zur Macht. Also bleibt nur die andere Möglichkeit, nach welcher der Zusatz ein Allgemeines anzeigt, dem der Wille als Besonderheit zugeordnet werden kann. Man könnte ζ. B. an eine generelle Tendenz der Realisierung, an einen "Realitätstrieb" oder dergleichen denken, der u. a. eine spezifische Erscheinungsform im "Willen" ausprägt. Diese Lösung hätte freilich den Preis, daß der Wille für sich genommen etwas ganz anderes darstellt als jener Wille, der als Element des Willens zur Macht fungiert. Konsequenterweise wäre das Wort für diesen Teil durch ein anderes zu ersetzen. Zunächst aber ist zu prüfen, ob diese zweite Lösung überhaupt trägt. Der sprachlich-logische Aufbau der Formel spricht nicht für eine generelle, das Wollen übergreifende Bedeutung. Die Macht ist in die Funktion eines Willensz/e/i gerückt. Zwar
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
wird man ihr letztlich keine Zielfunktion im Sinne eines Telos zuschreiben können, gleichwohl kann man nicht daran vorbei, daß die Macht in der Rolle eines Zwecks auftritt. Deutlich wird das insbesondere in der Gegenüberstellung zu anderen, von Nietzsche verworfenen Zielen: Der Wille zur Macht soll eben etwas anderes sein als der Wille zum Leben oder zum Dasein, etwas anderes auch als der Wille zum Erfolg oder zum Glück. Damit wird dem Willen eine durchaus bestimmte Richtung gegeben. Was immer auch diese Ausrichtung bedeutet, wie allgemein die Zielsetzung auch sein mag, über das Wollen selbst wird sie schwerlich hinausgehen können. Die Bindung an den Willen ist auf diese Weise nicht zu lösen. Die erwogene Möglichkeit, im Begriff des Willens zur Macht eine höhere, alles Wollen umfassende Allgemeinheit auszumachen, ist damit schon verbaut. Der Ausdruck ist nur so lange verständlich, als er auf der von Nietzsche beschriebenen Ebene des Wollens verbleibt. Das alles ist noch aus der Perspektive des Willens gedacht, der seinen Charakter auch dann bewahrt, wenn er auf Ziele höchster Allgemeinheit ausgerichtet ist. Bei der Überlegung wurde - mehr aus Gründen der Vorsicht als auf der Basis eines triftigen Arguments - unterstellt, daß generelle Zielvorgaben Anlaß bieten könnten, die Besonderheit des Wollens zu verflüchtigen. Nun ist die Macht von kaum überbietbarer Allgemeinheit. Trotzdem liefert sie nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine solche Tendenz. Im Gegenteil: Alle bisher gewonnenen Einsichten in Aufbau und Stellung der Macht sprechen nur für eine enge Bindung an den Willen. Die Macht ist als solche bereits so zwingend auf den Willen bezogen, daß sich aus ihrer Perspektive ganz analog fragen läßt, was denn die ausdrückliche Erwähnung des Willens im Begriff der Macht noch hinzufügt? Zwar läßt sich die Parallele zum Willen nicht so weit treiben, daß auch Macht und Wille zur Macht identisch werden, denn das implizierte die Identität von Macht und Willen. Aber eine vergleichbare These läßt sich auch hier einbringen: Daß nämlich die Macht ohne einen Willen zur Macht gar nicht zu denken ist. Keine These ist durch die bisherige Analyse besser vorbereitet als diese. Die implizite Verbindung zwischen Macht und Wille ist immer wieder kenntlich geworden. Ob man sich im Alltag oder auf dem Niveau wissenschaftlicher Reflexion über die Macht verständigt -: Ohne einen Bezug zum Willen kommt man nicht aus. Dieser begrifflichen Bedingung kann auch Nietzsche nicht entraten, und in den Schriften der achtziger Jahre läßt er sich zunehmend von ihr leiten. Seine Orientierung am Widerspiel von Befehl und Gehorsam sowie am Modell der Herrschaft exponiert das Willensmoment in unüberbietbarer Weise und macht es zum Analogon eines organisierenden Prinzips. Im Willen zur Macht sind schließlich beide Begriffe zu einem verbunden, und zwar so unauflöslich, daß der Gedanke einer analytischen Trennung bereits als Ausdruck eines bedenklichen Mißverständnisses erscheint.13 Inzwischen 13
Siehe dazu die Diskussionsbeiträge von G. Abel und J. Salaquarda in den Nietzsche-Studien 10/11, 1981/82, 210 ff.
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aber dürfte klar geworden sein, daß nur eine Zergliederung des zusammengesetzten Begriffs vor Augen führen kann, wie dicht und zwingend die Verbindung wirklich ist. Am engsten ist die Beziehung aus der Perspektive des Willens: Jedes Wollen ist nach Nietzsche Ausdruck eines tatsächlichen Geschehens. Was auch immer es ist, das sich so äußert: Es hat reale Wirkungskraft. Also ist jeder, auch der scheiternde Wille Anzeichen eines Machtgeschehens, das mindestens eine Machtfrage hinter sich und eine vor sich hat. Hinter sich insofern, als die im Willen hervortretende Kraft nicht monolithisch ist, sondern als Ausdruck einer errungenen Dominanz zu gelten hat. Es ist ein überlegener Trieb, der hier zutage tritt, einer, der mindestens einen Positionskampf für sich entschieden, seine Rolle also erst erworben hat. Die vor ihm liegende Machtfrage ist mit der Intentionalität des Willens gegeben. Etwas-Wollen ist für Nietzsche gleichbedeutend mit Herrschen- oder Verfügen·Wollen. Es kommt demnach auf die Durchsetzung des Willens an, auf die Sicherung einer Überlegenheit, auf die Schaffung und Erhaltung einer Rangordnung usw. In allen Fällen wird die Machtfrage gestellt; sie zu stellen ist eben das, was im Akt des Wollens geschieht. Damit ist das Wollen als Streben nach Überlegenheit anzusehen. Personen sollen sich unterwerfen, Verhältnisse sollen sich fügen. Es ist in der Tat nichts anderes als ein "Zur-Macht-Wollen". Jeder Wille ist ein Wille zur Macht - eine Aussage, die den Willen in keine neuen Zusammenhänge stellt, ihn weder dämonisiert noch politisiert, sondern lediglich den Grundzug des Wollens präziser bezeichnet. Alles voluntative Geschehen besteht im Kern aus einem Drängen nach Macht. Verstärkt wird diese Deutung durch die Eigentümlichkeit der Willens-Wirkung. Da gibt es keinen direkten Einsatz physischer Mittel, sondern nur den Einfluß auf andere Willen, die ihrerseits nur wieder auf Willen wirken können. Die Kraftübertragung geschieht nicht durch Druck oder Stoß, sondern über Zeichen, die als Imperative erwartete Folgen symbolisieren. In welcher Weise nun letztlich die Übersetzung des maßgebenden Befehls in meßbare Bewegung erfolgt, bleibt unausgemacht. Die Nahtstelle zwischen Psychischem und Physischem kann auch Nietzsche nicht angeben. Aber er hat, wie sich gleich zeigt, den Anspruch, daß sie nicht außerhalb des Wirkungsbereichs des Machtwillens liegt. Die Kraftübermittlung ist jedenfalls nicht nach dem Vorbild der Mechanik, sondern nach dem Modell von Machtprozessen gedacht. Der Wille tritt auf wie eine Macht gegenüber einer anderen: Er behauptet, fordert, widersteht, setzt sich durch, erzwingt, beherrscht oder unterliegt. In allen Fällen agiert er stets so, als sei er das Zentrum einer Macht, die gegenüber anderen Mächten ihre Chance zu wahren hat. Natürlich steht dahinter als umfassendes Modell die menschliche Selbsterfahrung überhaupt, der bewußte Lebensvollzug, in dem individuelle und soziale, geistige und körperliche Faktoren sich auf kaum entwirrbare Weise durchdringen. Es ist gewiß eine Vereinfachung, diesen komplexen Erfahrungszusammenhang in die Dimension der Macht zu rücken, aber
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
die perspektivische Verkürzung bringt Wesentliches zum Vorschein und könnte durchaus ein Mittel sein, die Elemente des Handlungsbewußtseins genauer zu bestimmen. Nietzsches unvollendete Lehre vom Willen zur Macht stellt den Versuch einer derartigen Bestimmung durch Komplexitätsreduktion dar: Alle Lebensäußerungen werden nach einem Schema dargestellt, das dem letztlich immer gesellschaftlich angelegten Machtgeschehen abgelesen ist. Dieses Modell ist stark an mechanischen, ökonomischen und biologischen Vorbildern orientiert, bleibt aber durch die soziologischen Implikate und vor allem durch seine psychologische Erschließung über das Machtgefühl unmittelbar auf seinen Ausgangspunkt in der menschlichen Selbsterfahrung bezogen. Das alles mag uns die enge Verbindung zwischen Wille und Macht erklären. In diesem Fall verstärkt es nur die Feststellung, daß aus dem Gesichtswinkel des Willens der Wille zur Macht wohl nicht mehr ist als ein Pleonasmus. Der Ausdruck breitet nur aus, was im Begriff des Willens schon steckt. So wie Nietzsche das Wollen versteht, ist es ein Macht anzeigendes Ausgreifen nach Macht. Die Grundform des Wollens, das "Etwas-Wollen", ist sogar ein Ausgreifen: nach mehr Macht. Unterstellen wir, daß auch die abweisenden oder bloß behauptenden Formen des Wollens auf diese Grundform gebracht werden können, dann ist in der Tat jeder Wille ein Wille zu einer Macht, die er, obgleich in seinem Auftreten immer schon ein Zeichen von Macht, im Akt des Wollens (noch) nicht hat. Also ist auch die Dynamik kein Spezifikum des Willens zur Macht, denn jeder Wille hat im Hinblick auf sein Ziel einen defizienten Modus, den er zu überwinden strebt. Insofern verlangt jeder Wille nach mehr, als er hat. Das Steigerungsmoment, das nach Nietzsche im Willen zur Macht so deutlich zum Ausdruck kommen soll, ist demnach schon eine Eigenschäft des Willens. Also kann man nur bekräftigen, daß der Wille zur Macht in keinem Punkt über den Willen hinausgelangt.14 Nietzsches berühmt-berüchtigte Formel ist redundant. Sein Grundbegriff entpuppt sich als eine pathetische Wiedergabe eines Vorgangs, den auch er nicht umhin kann, als "Wollen" zu bezeichnen: Es ist die sich in Imperativen vollziehende Selbststeigerung des Lebens.15
14
15
So auch M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, 1961, 265; F. Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, 1980, 232. Dieses Ergebnis ließe sich mit P. Sloterdijks Deutung des Willens zur Macht als "selbsttherapeutische [...] Rezeptur" auf der Basis eines "radikalsubjektivistischen Jargons" in Verbindung bringen (Der Denker auf der Bühne, 1986, 101). Nur sind Nietzsches Mittel nicht ganz so privativ ("subjektivistisch") eingeschränkt, wie Sloterdijk meint.
6. Macht bedeutet Wille zur Macht
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6. Macht bedeutet Wille zur Macht Aus der Perspektive der Macht ergibt sich ein ähnlicher Befund. Zwar ist die Macht nicht identisch mit dem Willen zur Macht, denn damit beraubte man sich, wie schon betont, der Möglichkeit, zwischen Macht und Wille zu unterscheiden. Aber man kann die Macht nicht ohne inhärierenden Willen denken. Nach der gewonnenen Einsicht in die Wirkungsbedingungen des Willens kann auch dieser der Macht innewohnende Wille als Wille zur Macht bezeichnet werden. Also ist auch hier das Ganze bereits in einem Teil enthalten: In jeder Macht ist immer schon ein Wille zur Macht. In jeder Macht wirkt bereits ein Wille zur Macht; in jeder erreichten Macht wirkt der Wille aufs neue. Wo Macht ist, muß auch Wille sein, der selbst, von dieser Macht ausgehend, zu größerer Macht strebt, die wiederum nur in Verbindung mit einem über sie hinausgehenden Willen vorgestellt werden kann. Die damit eröffnete aufsteigende Stufenfolge ist endlos - zumindest ihrer Logik nach. Würde faktisch die in jedem Willen zur Macht anvisierte Machtstufe erreicht, wäre sie - zum (dann freilich nicht existenten) "Anfang" und "Ende" hin - wirklich unendlich. Diese im ganzen unausdenkbare und im einzelnen auch unrealistische Vorstellung führt vor Augen, wie geschlossen und in sich dynamisch der Zusammenhang von Macht und Wille ist. Selbst wenn man aus methodischen Gründen die zuvor ermittelte Einsicht in die Wirkungsbedingungen des Willens einmal vergißt und danach fragt, was denn der in der Macht unterstellte Wille sinnvollerweise wollen kann, fallt die Diagnose nicht anders aus. Man wird dem Willen zunächst ein Minimum zugestehen, daß er nämlich die Durchsetzung eben dieser Macht, in der er sich äußert, "will". Die Grenzfunktion der Machtdarstellung, d. h. ihr Auftritt und ihre Selbstbehauptung, ihre Beharrung, Drohung und Verteidigung, ja selbst noch ihr Rückzug, sind aus dem Willen des Machterhalts zu verstehen. Erhaltung der Macht ist darin aber nur so lange zu erkennen, wie auch das Interesse an ihrem Einsatz als Macht angenommen werden kann. Um Macht geht es dem Willen also auch dann noch, wenn er auf dem Rückzug ist. Nur im Hinblick auf die extremen Situationen der Existenzsicherung könnte bezweifelt werden, daß es dem dirigierenden Willen um Macht zu tun ist. Vorausgesetzt wäre ein Wesen, das in der Not nur noch an die bloße Rettung denkt, ohne damit einen weiterreichenden Wert zu verbinden. In allen anderen Fällen ist diese Orientierung am Machterhalt offenkundig, denn jede Darstellung, jeder Einsatz einer Macht ist vom Interesse an sich selbst bestimmt. Auch wenn die Macht sich auf den Status quo beschränkt, ist in jeder Bestätigung und Anerkennung die Möglichkeit einer Mehrung der Macht enthalten. Schon die Gewißheit, über das auf keine bestimmten Funktionen eingegrenzte Mittel der Macht verfugen zu können, ist mit der Erwartung möglicher Steigerung verbunden. In seiner allgemeinen Form wird man also den in der Macht wirkenden Willen gar nicht anders als einen Willen zur Macht nennen können. In der Regel ist es der Wille zu gesteiger-
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
ter Aktivität, zur Erweiterung des Handlungsraums. Aber auch in den Grenzfállen bloßer Selbsterhaltung bleibt es noch ein Wille zu der Macht, in der er wirkt, und darin immer auch ein Wille zur Macht überhaupt. Als Macht kann eine Wirkungseinheit nur solange gelten, als man den besonderen und den allgemeinen Willen zu sich selbst antrifft. Die Auflösung einer Macht fällt mit der Aufgabe dieses Willens zusammen, genauer: Sobald man diesen Willen nicht mehr unterstellen kann, ist auch der Charakter der Macht verloren. Es bleibt also auch hier nur die Redundanz von Nietzsches grundlegender Formel zu konstatieren. Mit der Exposition des Willens zur Macht wird ein analytischer Tatbestand dramatisiert. Aus dem Faktum, daß die Macht nicht ohne einen sie stützenden und steigernden Willen gedacht werden kann, wird ein hochbedeutsamer Vorgang. In die Deskription kommt Pathos hinein. Der Begriff gerät in die Nähe eines Appells. Es wird nichts Falsches ausgesagt, aber mehr als nötig. Ein Analytiker der Macht könnte in der Formel vom Willen zur Macht wohl nur eine effektheischende Pointierung sehen - eine Meinung, der ein Theoretiker des Willens aus seiner Sicht wohl zustimmen müßte. Doch Nietzsche versteht sich weder als Analytiker der Macht noch als Theoretiker des Willens. In seinen Reflexionen über den Willen zur Macht präsentiert er sich als Philosoph, der in der Suche nach den bewegenden Kräften die Oberfläche des mechanischen Zusammenhangs durchstoßen, sich aber im Gehäuse der Innerlichkeit nicht einkreisen möchte, der ins "Innere der Kraft" vordringen will, ohne sich damit in das "Zimmer" des Bewußtseins (PdW; 1, 760) oder in den Zirkel des Lebenswillens (N 1880, 3/91; 9, 71) einschließen zu lassen. Ihm geht es um eine neue Lösung für das Beziehungsproblem von Leib und Seele, um eine von den alten Hypotheken der Seins- und Wahrheitsfrage entlastete Formel zur Überwindung der starren Opposition von Materialismus und Idealismus. Diese Formel findet er im Willen zur Macht, und erst die separaten Überlegungen zur Macht und zum Willen lassen erkennen, wie weit diese Formel seinen Erwartungen entgegenkommt. Welche elementaren Grundkräfte Nietzsche auch immer findet: Sie müssen seiner Prämisse genügen, die Innen-Außen-Dichotomie zu überwinden. Sie müssen seelisch und leiblich, immateriell und materiell zugleich sein. In Frage kommen nur organisierende Kräfte, die nicht bloß physische Gegebenheiten, sondern Gestalten schaffen. Sie müssen reale Dinge aus einem inneren Formprinzip hervorbringen. Durch sie haben die Bestandteile der Welt (und schließlich die Welt selbst) als leibliche Gebilde verständlich zu werden. Allerdings darf die innere Gestaltungskraft nicht zum idealen Muster verblassen. Sie muß als realer Antrieb aufgefaßt und in ihrer Bindung an die Gewalt der äußeren Verhältnisse begriffen werden, denn alles Innere ist nur, sofern es sich äußert. Wirklich ist allein das, was physische Wirksamkeit erlangt, und es ist ausschließlich das raum-zeitliche Dasein der Dinge, das zur Ergänzung durch innere Qualitäten herausfordert. Innere und äußere Welt stehen in strikter Korrespondenz. Damit ist aber keine Entsprechung zwischen getrennten Bereichen gemeint.
6. Macht bedeutet Wille zur Macht
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Innen und Außen bezeichnen keineswegs verschiedene Gegenden im Raum, sondern sie unterscheiden zwei Ansichten, die der Mensch prinzipiell von jedem Ding haben kann. Es sind dies die beiden elementaren Perspektiven, aus denen sich alle anderen Perspektiven entwikkeln: Die eine erlaubt jedem einzelnen, sich selbst, andere und anderes überhaupt als motiviert, d. h. aus dem Blickwinkel innerer Triebkräfte zu betrachten und infolgedessen alles Geschehen aus zentralbestimmten Impulsen zu begreifen. Die andere Perspektive ermöglicht, die physischen Beziehungen der Dinge wahrzunehmen, zu messen und daraus eine Welt zu kombinieren, der wir selbst wie Dinge zugehören. Dieser Doppelperspektive muß auch die gesuchte Kraft genügen. Sie hat den Charakter eines jeweils zentral bestimmten Impulses mit der Bindung an die Mechanik von Druck und Stoß zu vereinen. Sie muß Inneres in Äußeres übersetzen, aber auch Äußeres in Inneres übertragen können, denn jede externe Relation muß wieder zum Auslöser für interne Dispositionen werden können. Mit anderen Worten: Die gesuchte Kraft hätte vor allem dafür zu sorgen, daß aus Bedeutungen Wirkungen und aus Wirkungen Bedeutungen werden können. Wenn Nietzsche als Begriff für diese weder bloß physische noch bloß psychische Kraft den Willen zur Macht einführt, dann hat dies einige Plausibilität. Alle bisher gewonnenen Einsichten in Aufbau und Stellung des Willens zur Macht zeigen ihn als a priori von innen nach außen drängende Kraft. Ausgelöst von einer Machtlage, die sich im Wollen manifestiert, zeigt sie sich als Kraft gerade dadurch, daß sie auf andere Mächte übergreift, sei es, um sie auf Distanz zu bringen (oder zu halten), sei es, um sie zu unterwerfen. Am Willen ist alles auf Äußerung angelegt: Er setzt das nach außen gerichtete Zeichen einer nach außen gerichteten Aktivität, zielt also sowohl in seiner Bedeutung wie auch in seiner realen Bewegung auf andere. Im Wollen geht eine Macht, wie schwach sie auch immer sein mag, über sich hinaus. Die "einzige Kraft, die es giebt", so notiert Nietzsche 1885, "ist gleicher Art wie die des Willens: ein Commandiren an andere Subjekte, welche sich daraufhin verändern" (N 1885, 40/42; 11, 650). Die letztlich allein wirksame Kraft, so darf man paraphrasieren, ist diejenige, die nach Art des Willens auf andere Kräfte übergreift. Auch diese anderen Kräfte wirken nach Art des Willens, also ebenfalls durch Übergriff und Einflußnahme. Die Grundbedingung aller Wirksamkeit ist also der geäußerte Anspruch. Wo er fehlt, kann auch von Wollen keine Rede sein. Der Wille ist extrovertiert. Er ist wesensmäßig auf andere Willen bezogen und kann überhaupt nur in der Ausrichtung auf andere erfahren werden. Selbst die gelungene Überwältigung eines anderen Willens bringt diese nach außen, d. h. auf andere Macht gerichtete Dynamik nicht zum Stillstand, denn alles, was dann folgt, Herrschaft als Integration und Organisation, ist ein Vorgang, der zwar nach innen weist, in dem sich jedoch die beteiligten Willen in ein äußeres Verhältnis setzen. Der Wille ist unter allen Bedingungen eine sich äußernde Kraft.
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
Durch das Additum "zur Macht" wird diese Dynamik unterstrichen. Dem Willen wird dadurch kein Ziel gesetzt, das er nicht von sich aus schon hätte. Im Willen zur Macht wird die Macht nicht als spezifizierendes Telos hinzugefügt. Sie ist nicht das verstärkende Motiv, bei dessen Erfüllung er sich beruhigen könnte. Durch den Zusatz wird lediglich ein Wesensmerkmal des Willens, die Ausrichtung auf die Bestimmung anderer Willen, akzentuiert. Daß der Wille sich als Wille nur erhält, indem er sich durchsetzt und mit der Durchsetzung eben "zur Macht" kommt, dieses allgemeine Kennzeichen jeden Willens erhält nun den Nachdruck einer Besonderheit. Diese aus begrifflicher Perspektive bedeutungslose Akzentverschiebung hat Folgen. Die geringste besteht darin, daß die dem Anschein nach beim bloßen Wollen gegebene Dominanz der Innerlichkeit beseitigt wird. Obgleich bereits ein flüchtiges Nachdenken erkennen läßt, daß der Wille per se auf Äußerung, Mitteilung und Durchsetzung angelegt ist, steht er doch in dem Verdacht, ein rein internes Phänomen zu sein. Der Wille liegt nach herrschender Überzeugung "vor" der Tat, und da auf manche Willensbekundung bekanntlich gar keine Tat mehr folgt, liegt es nahe, das Wollen ganz auf einen mentalen Vorgang zu beschränken. Nietzsche neigt selbst gelegentlich zu dieser Isolierung des Willensaktes,16 obgleich seine eigene Analyse dafür keine Anhaltspunkte liefert. Von dieser Analyse ist seine Kritik bestimmt. Deshalb sieht er in der Spiritualisierung des Willens durch die Metaphysik seine Befürchtungen bestätigt. Denn hat man erst den Willen nach innen verlegt, ist er auch von der materiellen äußeren Sphäre isoliert, und der Übergang zur physischen Wirksamkeit wird zu einem speziellen Problem, das letztlich nur durch Piatonismus, wie Nietzsche ihn versteht, also durch Abwertung der materiellen Welt, beiseite geschafft werden kann. Um der Gefahr der metaphysischen Verdrängung der Wirklichkeit zu entgehen, setzt Nietzsche den Willen von vornherein in ein Verhältnis zur äußeren Welt. Die Intellektualisierung des Willens soll damit prinzipiell ausgeschlossen werden. Aller Wille will a priori aus und über sich hinaus, will wirken und sichtbar sein; aller Wille ist a priori Wille zur Macht. Die Apposition der Macht schützt vor der Ansicht, die hier präsentierte Willenskraft begnüge sich mit inneren Auftritten. Nur sofern sie zur Wirksamkeit drängt, sofern sie ihren Ursprungsbereich verläßt und auf andere Willenskräfte übergreift, kann sie die Erwartung stützen, in ihr und mit ihr vollziehe sich der Übergang zwischen der inneren und der äußeren Welt. Die ausdrückliche Einbindung der Macht erlaubt nun ihrerseits, den Übergang auch in die andere Richtung, von außen nach innen, zu vollziehen. Die Macht steht für die Gesamtheit äußerer Mittel und deckt die Sphäre möglicher Wirksamkeit vollständig ab. Sie bedarf jedoch, um überhaupt als solche erkannt zu werden, eines steuernden Zentrums. Mit jedem Auftritt verweist sie hinter sich auf ihre koordinierende Instanz. Die Macht ist wie ein Stau
16
Vgl. die zitierte Willensdefinition Ν 1880, 3/91; 9, 71 u. die Ausführungen in Kapitel VI.
7. Die Rhetorik des Willens zur Macht
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von Kräften, der sich als Wille löst. Die Fähigkeit zur Wahrnehmung, Berechnung und Mitteilung wird dabei stets von selbst hineingelegt. Schon die semantische Nähe der Macht zu Möglichkeit und Vermögen nötigt zur Assoziation eines Innenraums, der wie ein Speicher diverse Chancen so lange aufbewahrt, bis sie durch auslösende Bedingungen in die Wirklichkeit abgerufen werden. Natürlich hat die Metaphorik von Stau, Speicher oder steuernder Instanz ihre Risiken, ebenso wie die ganze Hilfskonstruktion von "innen" und "außen". Will man aber überhaupt etwas von der Macht verstehen, dann kommt man ohne derartige Umschreibungen nicht aus. Die Anthropomorphismen drängen sich auf. Vielleicht kommt man bei der Analyse der Macht ohnehin nicht weiter als bis zu jenem Punkt, von dem aus Mensch und Macht sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Angesichts der Macht wird der Mensch genötigt, sich selbst als eine Macht zu begreifen. Also begreift er die Macht wie sich selbst. Der Zirkel, in den jede Rückführung der Welt auf den Menschen letztlich führt, wird hier sichtbar. In dieser Reduktion aber läßt sich nachvollziehen, wie der Wille in die Macht kommt: Die Herausforderung unserer Macht erfahren wir als eine Herausforderung unseres Willens. Die Herausforderung an eine andere Macht ist ein Appell an ihren Willen. Was wir im Selbstverhältnis als primär erleben, wird auch in das Verhältnis zur anderen Macht hineingelegt. Also können wir eine Macht, sei es unsere eigene oder irgendeine andere, gar nicht ohne Willen denken. Bereits in die Wahrnehmung der Macht ist deren Drängen nach Macht augenblicklich eingeschlossen. Ihr wie immer auch beschaffener Auftritt erscheint unmittelbar als Ausdruck einer inneren Dynamik. Diese Dynamik ist in jedem Fall auf Macht gerichtet. Also wirkt in jeder Macht ein Wille zur Macht. Der Zirkel schließt sich damit gleich zweimal: In jeder Macht drängt a priori ein Wille zur Macht, und jeder Wille ist a priori ein Wille zur Macht. Ein vollkommener Pleonasmus, in dem jeder Teil für sich schon das Ganze enthält. Und dennoch ist der Zirkel nicht absurd. Auf der Folie des Nietzsche leitenden Interesses gewinnt der Wille zur Macht einen beziehungsreichen Sinn, der mit den großen Erwartungen und Versprechungen des Spätwerks durchaus zusammenstimmt.
7. Die Rhetorik des Willens zur Macht Die analytische Verschränkung der Macht und des Willens im Willen zur Macht kann auch ohne den vergleichenden Blick auf die anderen Fragen des Spätwerks verständlich sein. Man braucht nur auf das Erkenntnismotiv zu achten, das Nietzsche zu seiner Formel führt: Es ist die Überwindung des Piatonismus einerseits und des Mechanismus andererseits, und zwar
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
durch den Aufweis der Einheit von innerer und äußerer Welt. Diese Einheit meint Nietzsche im Begriff des Willens zur Macht gefunden zu haben. Es ist die Triebkraft, die sich individuelle Herrschaftsgebilde schafft und damit als Leib hervortritt. Der Leib ist weder Idee noch Stoff. Er ist die sinnlich gegenwärtige Gestalt des Lebens, an der wir erst sehr spät Materie, Geist oder Seele unterscheiden zu können glauben. Die Überwindung des metaphysischen Gegensatzes wird also nicht durch Reduktion auf ein geistiges oder stoffliches Substrat angestrebt, sondern in einer Wendung zu der endlichen Lebensgestalt gesucht, die jeder einzelne selbst ist, in der er sein Innen und zugleich sein auch für andere wahrnehmbares Außen hat. Mit dem Leib und der von seinem Dasein nicht zu trennenden Pluralität von Leibwesen ist die Perspektivenvielfalt notwendig gegeben, denn jedes Individuum hat seine Sicht auf die anderen und auf anderes überhaupt. Aus dem prinzipiellen Unterschied zwischen der eigenen Perspektive und der des anderen erwächst die ebenfalls nur perspektivische Differenz zwischen Innen und Außen, die erst erlaubt, von Eindruck und Ausdruck, von Trieb und Werk, von innerer und äußerer Welt zu sprechen. Vor diesem Hintergrund erweist sich alles Geschehen als ein Übergang von innen nach außen und von außen nach innen. Es gibt keine zwei Welten, auch keine scheinbare und keine wirkliche Welt, aber es gibt die Zweiseitigkeit eines jeden einzelnen Akts. Alles kann als in sich gedoppelt angesehen werden, als "für sich" und "an sich". Diesem ständigen wechselseitigen Überschreiten der Innen-Außen-Grenze ist die Begriffsverschränkung in der Formel vom Willen zur Macht analog. Geht man vom Willen, also von innen aus, ist man schon im Außenverhältnis und ist eine nach Macht strebende Macht unter Mächten, denn jeder Wille ist, wie dargestellt, Wille zur Macht. Setzt man außen bei der Macht an, ist man schon in ihre aus dem Inneren, d. h. aus dem Willen stammende Dynamik hineingezogen, denn der organisierende Impuls gehört, wie dargestellt, notwendig zur Macht hinzu. Die Macht ist die äußerlich von einem Innen auf ein Innen wirkende Kraft. Sie ist die Wirksamkeit eines inneren Impulses, der nicht nur von innen kommt, sondern der qua Macht nur auf ein anderes wirkt, sofern es ein Innen hat. Diese Dialektik von Innen und Außen - eine Dialektik ohne bleibende Synthesen - kommt in der Formel des Willens zur Macht zum Ausdruck. Nach dem Maßstab strenger Begrifflichkeit hat sie als redundant zu gelten. Doch dieser Maßstab ist nicht der einzig mögliche, schon gar nicht, wenn dem Begriff qua Begriff nicht zugetraut wird, das sich zeigende elementare Geschehen adäquat zu fassen. Ein anderes Kriterium für den Wert der Formel gewinnt man dann, wenn man sie als Ausdruck dessen nimmt, wofür sie als Begriff nur unzureichend steht. Als Expression eines Vorgangs wiederholt sie nämlich eben jene Bewegung, die für das von ihr bezeichnete Leibgeschehen kennzeichnend ist. Sie verweist in sich wechselweise von innen nach außen und erzeugt auf der durch die Begriffe Wille und Macht er-
7. Die Rhetorik des Willens zur Macht
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reichten Ebene einen sinnlichen Eindruck. In der Redundanz des zirkulären Begriffs findet eine mimetische Anpassung an die Zirkularität des Leibgeschehens statt. So wie man nicht nur Wille sein kann, ohne zugleich auch Macht, und nicht ausschließlich Macht sein kann, ohne zugleich auch Wille, kann man auch als Leib weder ein reines Innenverhältnis noch ein bloßes Außenverhältnis haben. Die Bewegung der perspektivischen Verschränkung, die dem Leibgeschehen erst seine Besonderheit verleiht, wird im Begriffsbild des Willens zur Macht nachgeahmt. Der Wille zur Macht ist ein verleiblichter Begriff. Der Ausdruckscharakter des Willens zur Macht kommt deutlicher zum Vorschein, wenn man auf eine Leistung achtet, in der die Mittelstellung der Formel zwischen Begriff und sinnlicher Darstellung produktiv wird. Gemeint ist die Rhetorik, die mit der begrifflichen Expression des Willens zur Macht verbunden ist.17 Ein rhetorischer Effekt basiert auf der Akzentuierung eines begrifflichen Gehalts durch den sinnlichen Reiz. So ist es auch mit der Formel vom Willen zur Macht. Die innere Dynamik der Wortfolge zeitigt bereits jene Bewegung, welche die Begriffe allein nicht offenkundig machen. Der sprachliche Ausdruck verstärkt so die begrifflich fixierte Bedeutung. Die gedanklichen Implikate sowohl der Macht wie auch des Willens werden demonstrativ herausgestellt und bringen damit das, was bei jedem seiner Bestandteile analytisch erst zu ermitteln ist, zu unmittelbarer Anschauung. Jeder Versuch einer Eingrenzung des Willens zur Macht auf bloß inneres oder bloß äußeres Geschehen wird durch den sinnlichen Gehalt des Ausdrucks gesprengt. Die Kombination von Wille und Macht verbietet die Einschränkung auf jeweils einen Aspekt. Ihre Verbindung durch das vektorielle "zur" gibt der Aussage einen dynamischen Zug, den sie der Sache nach zwar schon hat, der auf diese Weise aber auch sprachlich offensichtlich wird. "Machtwille" wirkt vielleicht so impulsiv wie Wille zur Macht, hat aber kein so offenkundiges Moment der Steigerung in sich. Wille zur Macht ist ein sich selbst aufgipfelnder Ausdruck. Rhetorik liegt zunächst und hauptsächlich in der redundanten Verschränkung von Wille und Macht. Genaugenommen wird zweimal dasselbe gesagt, aber durch die Doppelung der Begriffe wird die Wechselseitigkeit der Bewegung zwischen Macht und Wille betont. Die Iteration des inhaltlich Gleichen wirkt intensivierend. Die Stärke des Ausdrucks überträgt sich auf die Kraft des bezeichneten Vorgangs. In diesem Sinn ist auch die propositionale Wortfolge rhetorisch: Wille zur Macht - das hat schon bei Nietzsches ersten Lesern weniger als Begriff denn als Programm gewirkt. 17
Von der Rhetorik ist es nicht weit bis zur Metaphorik der "Bühne", auf die P. Sloterdijk abstellt. Doch im Unterschied zum Theater steht bei der Rhetorik die Beziehung zur Realität nicht in Frage. Sloterdijk kommt hier mit seiner Deutung in nicht geringe Schwierigkeiten: Für ihn vollzieht sich Nietzsches Denken "auf jener Bühne, von welcher es kein Entrinnen gibt, weil sie die Wirklichkeit selbst ist: das Leben ist die Falle, die eine Bühne ist, und die Bühne, die eine Falle ist" (Der Denker auf der Bühne, 1986, 185 f.). Auf diese Weise gehen gerade die Unterschiede verloren, um die es Nietzsche geht.
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
Die Rhetorik im Begriff des Willens zur Macht wird erst erkennbar, wenn bewußt ist, wie sehr die Teilbegriffe aufeinander verweisen. Dann ist aber sogleich die besondere Pointe offenbar: Die Rhetorik beruht auf einer Bewegung, wie sie der Begriff beschreibt. Sie selbst ist eine Äußerung des Willens zur Macht. Sie verstärkt nicht nur den konzeptionellen Gehalt durch Exposition einer in beiden Begriffen bereits enthaltenen Beziehung, sondern sie ist selbst, indem sie ihn auf anschauliche Weise exponiert, ein Fall des Willens zur Macht. Im Ausdruck vollzieht sich eben der Übergang, den er beschreibt. Die Redundanz ist ein stilistisches Mittel, das über die semantische Relation hinaus im Signifikanten die Eigenart des Signifikats zur Geltung bringt. Der hochabstrakte Begriff gewinnt so im Ausdruck etwas von dem zurück, wovon er abstrahiert. Das Verschwenderische im expansiven Willen und die unaufhaltsame Steigerung zu immer mehr Macht wird nicht einfach denotiert, sondern wird mimetisch erfaßt. Die Wortfolge gleicht sich dem an, wofür sie das Zeichen ist. Schon der Ausdruck des Willens zur Macht kann ein Stimulans des Lebens sein. Der rhetorisch aufgeladene Begriff hat aber nicht nur den Vorzug, die hermetische Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem theoretisch zu exemplifizieren, sondern er wirkt auch im praktischen Sinn stützend und steigernd. Natürlich kann man mit dem Ausdruck auch umgehen wie mit jedem anderen, kann ihn als historisch überlieferten Terminus so nüchtern betrachten, wie es sich für eine wissenschaftliche Analyse gehört. Doch Nietzsche hat den Begriff anders gebraucht; seine Leser haben ihn darin durchaus richtig verstanden. Auf den ersten Rezensenten wirkte der Ausdruck wie Dynamit. 18 Heute hat sich der explosive Charakter verloren, aber der auffordernde, aufreizende Ton klingt immer noch mit. Ein gewisses Pathos ist auch in den rationalen Diskursen über den Machtwillen nicht zu überhören. Das Wort hat keine bloß deskriptive Funktion. In seine positive Verwendung ist immer auch ein Stück Überzeugung, ja Glauben gemischt, ganz abgesehen davon, daß der affirmative Gebrauch den Sprecher notwendig einschließt: Wer "Wille zur Macht" sagt, ist selbst Wille zur Macht - möchte es zumindest sein. Durch die affektive Besetzung gerät der Terminus in die Nähe von Appell und Imperativ. Die Grenze zwischen theoretischem und praktischem Gebrauch ist verwischt. Auch hier steht die komprimierte Rhetorik des einen Begriffs im Dienst einer philosophischen Absicht, denn die Trennung zwischen Theorie und Praxis gilt Nietzsche als obsolet. Er hat sich bereits in der Geburt der Tragödie über den Unterschied hinweggesetzt, in der Überzeugung, daß die "Praxis" des Lebensvollzugs alles bestimmt. Wenn er sich überhaupt veranlaßt sieht, eine kategoriale Auszeichnung der fundierenden Lebensleistungen vorzunehmen, hat er sich meistens - mit Ausnahme der Zeit zwischen 1876 und 1880 - für das Ästhetische entschieden, dies freilich in enger Beziehung zur Bewältigung des Lebens. In 18
Siehe dazu: "Nietzsches gefährliches Buch" - J. V. Widmanns Besprechung von Jenseits von Gut und Böse in Der Bund ν. 16./17. 9. 1886 (wieder abgedruckt in: C. P. Janz, Nietzsche, Bd. 3, 1979, 257 - 264).
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diesem Sinn hat die Rhetorik des Willens zur Macht auch eine ästhetisch-praktische Dimension. Der appellative Charakter des Ausdrucks macht ihn zu einem Stimulans des Lebens. Mit dem anerkennenden Gebrauch hat man auch sich selbst als Wille zur Macht bejaht und die Bereitschaft zur Teilnahme am Leben gesteigert. Somit kann man die Redundanz in der Formel des Willens zur Macht auch als ästhetisch gerechtfertigt ansehen.
8. Wille zur Macht als Selbstinterpretation von Praxis Eine ganz andere Rechtfertigung der zirkulären Formel ist darin zu sehen, daß die kombinierten Begriffe sich wechselseitig auslegen. In jedem der beiden Teile, so war das Ergebnis, ist das Ganze schon enthalten. Wollen ist ein Übergang von Macht zu Macht, weshalb der Wille als solcher schon als Wille zur Macht zu gelten hat. Analog ist jede Macht immer schon der Ausdruck eines sie stützenden und über sie hinausgreifenden Willens, so daß mit jeder Macht auch ein Wille zur Macht gegeben ist. Die Formel verstößt damit gegen die Forderung nach eindeutiger Beschreibung eines Sachverhalts. Wenn entweder "Wille" oder "Macht" zur Bezeichnung ausreichen, führt die Rede vom Willen zur Macht zur Überbestimmung. Die Spezifikation durch die Beifügung des jeweils anderen bringt einen Verlust an Klarheit. Doch eine auf die Redundanz gestützte Kritik des Ausdrucks vergißt, daß es das Bezeichnete im strengen Sinne gar nicht gibt. Der Wille zur Macht ist, obgleich Nietzsche gelegentlich vom "Factum" spricht (N 1885, 40/61; 11, 661), keine real gegebene Tatsache, um deren begriffsökonomische Deskription man sich bemühen könnte. Auch die Rede vom Willen zur Macht ist Interpretation, Auslegung eines Geschehens, das sich im Auslegen immer auch selbst noch vollzieht. Der Erweis der "Wahrheit" des Begriffs kann nicht durch Vergleich mit der bezeichneten Sache erbracht werden, sondern die "Wahrheit" muß sich im Gelingen des Sprechens zeigen, d. h. in der Übereinstimmung eines hervorgebrachten Sinns mit einem vorliegenden Sinn. Die Angemessenheit des Ausdrucks zeigt sich nirgendwo anders als in der möglichen Verständigung. D.h.: Schon der Begriff des Willens zur Macht ist Interpretation. Er ist die kleinste Interpretationseinheit überhaupt und schon dadurch das Grundelement einer Welt, die nur aus Interpretationen besteht. Die in der Nietzsche-Deutung inzwischen anerkannte Einsicht in die interpretatorische Funktion des Begriffs19 läßt sich durch Analyse der begrifflichen Elemente des Ausdrucks 19
Zur Auslegung des Willens zur Macht als Interpretation ist vor allem auf die Arbeit von W. Müller-Lauter (Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, 1974, 1 - 60, 41 ff.) hinzuweisen. Sie hat den Anstoß zu den Deutungen von J. Figi, G. Abel und J. Simon gegeben, von denen auch die vorliegende Interpretation ausgeht. Siehe dazu ferner: H. Birus, "Wir Philologen ..." Überlegungen zu Nietzsches Begriff der Interpretation, 1984,
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Vili. Die Macht im Willen zur Macht
also um einiges verstärken. Die Rede vom Willen zur Macht ist zirkulär im Sinne einer in sich selbst zurücklaufenden Interpretation. Die "Macht" legt den "Willen" aus, und der "Wille" ist Auslegung der "Macht". Die beiden hier zu einem Begriff verbundenen Begriffe können, jeder für sich, als Interpretation des anderen verstanden werden. Das für den basalen Vorgang der Interpretation von Interpretationen verwendete Zeichen ist in sich selbst interpretativ, es ist selbst die Interpretation einer auf sich selbst verweisenden Interpretation. Nicht nur der bezeichnete Wille zur Macht beschreibt einen in sich fest geschlossenen hermeneutischen Zirkel, sondern auch der bezeichnende Begriff stellt einen derartigen Zirkel dar. Die Einkreisung durch Interpretation ist damit vollkommen: Das "letzte Faktum", zu dem wir durchstoßen, ist damit Interpretation von Interpretationen, und der Begriff, mit dem wir dieses Faktum benennen, ist die Interpretation seiner selbst. Vielleicht ist der Hinweis nicht überflüssig, daß der selbstinterpretative Aufbau der Formel ihrer rhetorischen Funktion nicht widerspricht. Wer die Rhetorik mit der Aufgabe, die Wahrheit zu sagen, für unvereinbar hält, könnte einen solchen Widerspruch vermuten. Doch diese Auffassung ist alles andere als zwingend. Sie trifft auch nicht den Sinn, den Nietzsche mit der Rhetorik verbindet. Die Vermutung hat aber schon deshalb keinen Raum, weil die für das Auftreten eines Widerspruchs notwendige Wahrheit der Interpretation gar nicht gegeben ist. Wenn es gälte, zwischen Interpretation und Rhetorik bei Nietzsche eine Beziehung herzustellen, dann hätte man nicht nach Gegensätzen zu suchen, sondern müßte zeigen, daß die illustrierende, pointierende und stimulierende Rede nur eine Konsequenz der Auslegung darstellt: Rhetorik ist eine Steigerungsform der Interpretation. Eine rhetorisch bedeutsame Folge der internen Interpretationsbeziehung im Begriff des Willens zur Macht liegt in der Änderung der semantischen Basisrelation zwischen Signifikat und Signifikanten. Die Selbstbezüglichkeit des Ausdrucks verhindert eine Fixierung zwischen dem bezeichneten Vorgang einerseits und dem bezeichnenden Begriff andererseits. Der Wille zur Macht oszilliert zwischen Benennung und Selbstäußerung. Die zu jedem Begriff gehörende Verweisung auf ein anderes seiner selbst wird durch die wechselseitige Referenz von Wille und Macht sistiert. Es gibt keinen eindeutigen Bezug auf etwas Seiendes, weil dieses Seiende bereits Teil der Bezugnahme ist. Zwar ist die Relation auf ein Etwas nicht aufgehoben, der Begriff hat formal noch die Funktion der Repräsentation. Anders könnten wir Begriffe auch gar nicht gebrauchen. Aber die Repräsentation erweist sich nach der Analyse ihrer Bestandteile als internes Desiderat des Begrifflichen selbst. Der Begriff braucht in Wahrheit keine ontische Adäquation, um Bedeutung zu gewinnen, denn er produziert die Relation auf etwas ganz aus sich selbst, d. h. er erzeugt aus sich heraus einen Schein, in welchem, sachlich gesehen, nichts mehr erscheint. Die gleichwohl gegebene Aussage des Begriffs kreist in
373 - 395.
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sich selbst, denn der Wille verweist auf die Macht und die Macht auf den Willen, und Wille zur Macht ist die in dieser Zirkulation zum Ausdruck kommende Bewegung. Das "Faktum" des Willens zur Macht ist von der "Faktizität" seiner Bezeichnung nicht zu trennen, weil genau genommen erst in der Bezeichnung das entsteht, was der Bezeichnung entspricht. Ein Ausbruch aus der sich immer wieder neu schließenden Formel ist gar nicht möglich. So enthält der Satz: "Alles ist Wille zur Macht" einen Sinn von unausdenkbarer Ausschließlichkeit. Die Zirkularität des Willens zur Macht wird aber erst interessant, wenn sie als die Bewegung der Wirklichkeit selbst verstanden wird. Nietzsches emphatischer Ausgangspunkt bei der Wirklichkeit des Werdens erlaubt ebensowenig wie sein letztes Bekenntnis zur Einzigkeit des Scheins eine Spaltung zwischen gedanklicher und wirklicher Bewegung. Die nunmehr freigelegten systematischen Ansatzstellen seines Lösungsvorschlags, die innere Erfahrung des Machtgefühls und die äußere Realität von wirkenden Kräften, machen deutlich, daß der Wille zur Macht die von Materialismus und Idealismus jeweils nur theoretisch beanspruchte Einheit der Welt als lebendigen Zusammenhang erfassen soll. "Unser Grad von Lebens- und Machtgeßhl [...] giebt uns das Maaß von 'Sein', 'Realität', Nicht-Schein." (N 1887, 10/19; 12, 465) Innere und äußere Welt sind keine Territorien des Seins, sondern sind selbst nur Ausdruck von zwei Perspektiven aus dem Leben auf das Leben. Zur Entfaltung des individuell organisierten Lebens, d. h. des Leibes, werden beide Perspektiven gleichermaßen benötigt. Die Organisation des Lebens ist eine dem einzelnen (intern) gestellte, aber nur durch (externe) Aktivität zu bewältigende Aufgabe. Der jedes lebendige Einzelne erst hervorbringende Triebimpuls zielt von innen nach außen, erhält sich aber nur durch Umwandlung, "Einverleibung" eines Äußeren in ein Inneres. So sind die beiden Perspektiven unmittelbarer Ausdruck der Doppelbewegung des Lebens, der wir ζ. B. beim Atmen innewerden. So wie beim Atmen das Aus- und Einströmen notwendig zusammengehören, so ist auch die nach außen gerichtete mit der nach innen gewandten Perspektive zwingend verbunden. Die Gewißheit dieser Verschrähkung entsteht freilich erst mit unserer aktiven Teilnahme am Lebensgeschehen. Innen und Außen und alles, was sich darin findet, zeigt sich nur dem Betrachter, der sich als tätiges Wesen erfahrt. Wir haben gesehen, daß sowohl der Begriff des Willens wie auch der Begriff der Macht elementarer Ausdruck dieser Erfahrung ist. Der Begriff des Willens zur Macht stammt aus der Gewißheit des Lebensvollzugs. Man hat ihn primär als Ausdruck und erst sekundär als Bezeichnung oder Benennung zu verstehen. Als Begriff ist er ein sich selbst wissender Ausdruck des Lebens. Daraus folgt aber bei Nietzsche keine Substantialisierung des Sich-Selbst-Wissens, sondern die vorgängige Trägerschaft des erfahrenen Lebendigen bleibt fraglos bestehen. Sprechen und Denken sind spezifisch menschliche Äußerungen von Lebensvorgängen, über die wir sprechend und denkend nicht hinauskommen. Eingebunden in den Ablauf des Lebens sind wir aber stets mehr als
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das, was wir denkend von uns erfahren können. Wir haben keine Möglichkeit, die Teilnahme am Leben "adäquat" anzusprechen. Logik und Grammatik schieben sich vor alles, was wir als wirklich erfassen. Und doch können wir sicher sein, daß die Grenzen unseres Bewußtseins nicht die Grenzen der Welt darstellen. Als Elemente des Lebens wissen wir stets mehr vom Leben, als wir nach strengen Maßstäben wissen können. Obgleich alles für uns nur irgend Bedeutsame durch unser Bewußtsein vermittelt ist, wissen wir doch, daß unser Bewußtsein nicht alles ist. Nur so können wir Vorstellungen von der fundierenden Rolle des Lebens und vom umfänglichen Charakter der Wirklichkeit entwickeln. Nur dadurch ist es Nietzsche möglich, das Bewußtsein als ein Randphänomen zu behaupten und im Stoffwechsel eine fundamentale Lebensleistung zu kennzeichnen, der die intellektuellen Fähigkeiten dienstbar sind. In diesem Rahmen erklärt er das Begreifen nach Begriffen als späte Ausweitung des leiblichen Übergreifens auf Gegenstände oder gibt uns Hypothesen an die Hand, mit deren Hilfe wir uns das schmerzliche Wachstum der inneren Erfahrungsräume plausibel machen. Unter methodologischem Blickwinkel sind Aussagen über die genetischen Bedingungen von Sprechen und Denken außerordentlich prekär, weil man das, was man können müßte, um das Nicht-Sprachliche zu begreifen, als Gefangener der Grammatik a priori nicht kann. Aber Nietzsche kann dies sehr wohl, weil er sich faktisch durch die Gewißheit seiner leiblichen Existenz doch immer auch im vorsprachlichen Lebenskontext weiß. Seine Thesen sind nicht isolationistisch, er zieht sich nicht auf einen hermetischen Bereich des Sprechens oder des Interpretierens zurück, von dem aus dann die Tatsächlichkeit des Lebensvollzugs wieder zu beweisen wäre. Aber unabhängig von der Möglichkeit eines solchen Existenzbeweises unterliegen die natürliche Welt, die Vielfalt des Lebens oder die Realität der Dinge keiner Beweispflicht. Ihre Wirklichkeit kann nicht demonstriert und kann in Wahrheit auch nicht bestritten werden. Wer an der Wirklichkeit der äußeren Dinge tatsächlich zweifelt, weiß nicht, was er tut. Das zeigt sich besonders, wenn jemand glaubt, den Zweifel durch einen Beweis ganz ausgeräumt zu haben. Denn wer sich von einem solchen Beweis überzeugen läßt, hat ihn gar nicht erst nötig, weil er dessen, was bewiesen werden muß, notwendigerweise immer schon gewiß sein muß, wenn das Argument überzeugen soll. Kants Widerlegung des Idealismus ist zwingend nur für den, der nicht mehr im Idealismus befangen ist. Es spricht für Nietzsches Scharfsinn, daß er nirgendwo den Versuch unternimmt, die Realität des Lebens zu beweisen, von der er doch ständig ausgeht, obgleich es sie strenggenommen gar nicht gibt. Leib, Leben, Erfahrung, Bewegung etc. sind unmittelbar gegeben, ohne daß man sagen könnte wie. Schon das Prädikat "gegeben" sagt zu viel, denn es folgt keine Gegebenheit daraus, kein ontologischer Vorrang eines Seins oder eines Erlebens. Erst das solcherart logifizierte Leben unterliegt dem kritischen Verdikt: Das Leben als vorrangiges, von unserer Erkenntnis unabhängiges Sein gibt es nicht. Doch das ändert an der Tatsache nichts, daß wir leben.
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Mit der Behauptung des Willens zur Macht scheint Nietzsche die ontologische Zurückhaltung aufzugeben. Der Machtwille ist eine unableitbare Äußerung einer Tatsache wie auch die äußerste Tatsache selbst. In ihm ist eine Einheit zumindest gesucht, in der die Demarkationslinien der traditionellen Metaphysik nicht mehr vorkommen. In dieser Absicht ist der Wille zur Macht auch mehr als ein "Zeichen" oder ein "Begriff"; er ist eine die Trennung zwischen Deskription und Präskription erst gar nicht achtende Expression. Die Bezeichnung ist erst eine Folge, die auf den besonderen Bedingungen der Expression beruht, sofern diese sich nämlich an den Leitfaden von Syntax und Logik hält. Deshalb empfiehlt es sich, von der "Behauptung" öder vom "Ausdruck" des Willens zur Macht zu sprechen und damit Wendungen zu gebrauchen, die sowohl grammatisch wie auch existentiell verstanden werden können: Der Wille zur Macht wird (autoritativ oder demonstrativ) benannt und (expressiv) erwiesen. Wer "Wille zur Macht" sagt, ist selbst eben das, was er bezeichnet. In seiner umfänglichsten Bedeutung ist das Wort Ausdruck der erlebten und begriffenen Einheit, die man nicht "Leben" und auch nicht "Sein", sondern besser "Wirklichkeit" nennen sollte. Die Wirklichkeit wird in den durchgängigen Wirkungen erfahren, in die man unmittelbar eingebunden ist, sowohl als "Wille" wie auch als "Leib". Zu dieser Erfahrung gehört die Widerständigkeit der Dinge ebenso wie die des Ich. Die Wirksamkeit der Gegenstände erfahre ich an ihren Widerständen, aber ebenso daran, daß ich diese Widerstände brechen kann. An dieser Erfahrung ist bereits der Wille beteiligt, den man nur in den realen Oppositionen denken kann: Er ist das Bewußtsein davon, daß ein Ich widerstehen kann. Sehen wir darin die Bedingung für Widerstandserfahrung überhaupt, dann ist dieser Wille ein notwendiges Moment in dem Zusammenhang, in dem wir uns wirkend als wirklich wissen. Auch als expressiver Selbstbegriff der Wirklichkeit ist der Wille zur Macht zirkulär. Aber es wäre ein MißVerständnis, von einem circulus vitiosus zu sprechen, denn in diesem Zirkel stehen wir als lebendige Wesen selbst. Es ist die Selbstbewegung des Lebens, der Nietzsche auf diese Weise einen auch begrifflichen Ausdruck zu geben versucht. Die extreme erkenntnistheoretische und ethische Desillusionierung hält ihn nicht davon ab, die in den Lebensäußerungen erfahrene Verbindung mit eben den Mitteln zu äußern, die ihm als intelligentem Wesen nun einmal zu Gebote stehen, d. h. mit denen des Begriffs. Es spricht vieles für die Annahme, daß sich bei diesem Vorhaben das philosophische Denken an der Grenze der Selbstaufgabe bewegt, naheliegend dadurch, daß Nietzsches Versuch Fragment geblieben ist. Schon die enge Bindung dieses Experiments an Epoche und Person macht es unmöglich, heute die Frage zu entscheiden, ob es hätte gelingen können. Der systematischen Interpretation, die in jedem Fall nur eine Perspektive auf ein Werk eröffnet, sind bei Nietzsche besonders enge Grenzen gesetzt. Dies gilt auch für die abschließende Betrachtung über Macht und Werden, die nur eine Variation über das Thema der Wirklichkeit ist.
Vili. Die Macht im Willen zur Macht
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Wenn am Ende doch ein Urteil über Nietzsches Philosophieren als ganzes versucht wird, dann ist die perspektivische Begrenzung dadurch nicht aufgehoben. Denn das generelle Urteil ergibt sich aus der wohl erst heute erkennbaren fundamentalen Rolle der Macht, vor allem aber daraus, daß Nietzsches Provokation der Metaphysik heute viel schärfer trifft als zu seiner Zeit.20
20
Siehe dazu vom Verf. : "Experimental-Philosophie", 1986; Die Perspektive des Perspektivismus, 1989; Friedrich Nietzsche und die Philosophie, 1990; Ressentiment und Apokalypse. Nietzsches Kritik endzeitlicher Visionen, 1993.
IX. Die Metaphysik des Werdens
1. Wille zur Macht: Ein metaphysischer Begriff Nietzsches These, es gebe nur Interpretationen, alles sei Auslegung, eröffnet wieder einmal den Reigen der Auseinandersetzung zwischen Eleaten und Milesiern darüber, ob man das unbestreitbar Viele auch tatsächlich denken könne oder ob das denknotwendige Eine auch wirklich sei. Es ist nicht ohne Reiz, den Verehrer Heraklits von den an Hegel geschulten Nachfahren des Parmenides verteidigt zu sehen.1 In der Tat gibt es neben dem zirkulären Interpretationstheorem auch noch manchen anderen Anlaß für eine holistische Auslegung, so die Behauptung von der Gefangenschaft im Bewußtseins-Zimmer oder von der Befangenheit in der Grammatik, so auch die Universalisierung des Scheins, in dem nichts mehr erscheint, oder schließlich den immer wiederkehrenden Satz, daß es keine Wahrheit gebe. Nimmt man derartige Aussagen in ihrem dogmatischen Gehalt beim Wort und legt es darauf an, sie ohne Widerspruch zu denken, dann kommt man notwendig zu geschlossenen Systemen oder - um einen Begriff Nietzsches zu gebrauchen - zu Schematen, die wir, sofern wir sprechen, erkennen oder denken, a priori nicht verlassen können. Dann gibt es nur noch das grammatische Schema, nach dem wir alles auslegen. Der Versuch, von diesem Schema loszukommen, gehörte konsequenterweise auch zum Schema, und selbst die Existenzbehauptung des Schemas oder deren Generalisierung wären nichts als ein Ausdruck der Befangenheit im Schema. Also auch der Satz: "Alles ist Auslegung" ist eine Auslegung. Besondere Aufmerksamkeit hat in diesem Zusammenhang die als selbstwidersprüchlich geltende Behauptung: "Es gibt keine Wahrheit" gefunden. Daß dieser Satz als sinnvoll verteidigt werden kann, bedarf nach der heute möglichen Einsicht in die Voraussetzungen verständlichen und sachbezogenen Redens keiner besonderen Betonung. Nietzsche bezweifelt die Möglichkeit einer ontischen Adäquation zwischen dem Begriff und der Sache. Er bestreitet, daß wir sprechend aus der Sprache hinauskommen. Damit stellt er aber nicht in Abrede, daß wir uns in der Sprache verläßlich verständigen können. Er weiß sehr genau, daß wir den Bezug auf ein gegenständliches Etwas brauchen. Aber dieses Bedürfnis ist selbst schon durch das Sprachschema festgelegt und erlaubt uns allein dadurch nicht, daß der von uns benötigte objektive Bezugspunkt auch unabhängig von uns eben das ist, als was wir ihn bezeichnen. Zur Verteidigung Nietzsches sollte man hier betonen, daß seine Wahrheitskritik keineswegs 1
Dies gilt für die strukturalistischen und dialektischen Interpreten im französischen Sprachraum.
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IX. Die Metaphysik des Werdens
so neu ist, wie er glaubte, und daß nach ihm andere, zum Teil ganz unabhängig von ihm, mit strengen analytischen Mitteln zu dem gleichen Ergebnis gekommen sind. Ich erinnere nur an Wittgenstein. Ganz analog lassen sich auch für seine Behauptungen, alles sei bloßer Schein, alles sei Lüge oder eben alles sei nichts anderes als Interpretation, Argumente finden, die sich nicht selbst aufheben. Doch man darf im Verständnis dieser Aussagen nicht über Nietzsches Horizont hinausgehen! Der Horizont wird durch seine kritische Absicht bestimmt. Alle seine Äußerungen sind gegen die platonisch-aristotelische Tradition gerichtet und damit gegen jene, die eine wesenhafte Erkenntnis des Seienden durch natürliche Vermögen oder durch Vermittlung einer göttlichen Herkunft für möglich halten. Eine eingewurzelte Überzeugung soll ausgezogen werden -, aber damit ist noch keine neue gepflanzt. Wir wissen, daß es Nietzsche gelegentlich für möglich hält, ein neuer Glaube mit neuen Tugenden könne schon bald gegründet werden. Er versucht sich aber nicht selbst an dieser Gründung. Sein Selbstverständnis ist wesentlich dadurch bestimmt, daß er sich als Vollender des Nihilismus betrachtet, der die Entwertung der Werte mit letzter Konsequenz zu betreiben hat, um damit für eine künftige Wertschöpfung den Boden zu bereiten. Seine Aufgabe hat er, gewiß nicht freiwillig und vielleicht auch mit der bitteren Erfahrung persönlicher Unfähigkeit,2 dann aber unter Berufung auf die höchste intellektuelle Tugend, die Redlichkeit, in der Destruktion gesehen. An diese Zielsetzung sind seine Allsätze gebunden. Sie wehren Ansprüche ab, begründen aber noch keine neuen. Löst man sie aus ihrem immer auch historisch verstandenen Kontext heraus, werden sie zwar nicht falsch, aber ihre Bedeutung kippt um. Es macht einen Unterschied, ob die These, alles sei Interpretation, am Ende einer langen Entwicklung steht oder den Anfang einer systematischen Konstruktion bilden soll. Im ersten Fall, wenn die These gegen eine nunmehr als illegitim angesehene metaphysische Position gesetzt wird, kann man die Fülle lebendiger Erfahrung beibehalten, aus der die These selbst gewonnen ist. Im zweiten Fall befreit man sich in methodischer Absicht von aller lebendigen Gegenwart und beansprucht, sie aus dem als einzig gewiß angesehenen Begriff zu deduzieren. Als Kritiker kann Nietzsche sich auf die Gewißheit seiner sinnlichen Eindrücke stützen, denn er steht nicht unter dem Druck, auch deren Möglichkeit zu rechtfertigen. Eben dies aber hätte er als Systematiker versuchen müssen. Dabei wäre er sogleich in die Schwierigkeiten geraten, die aus den ontologischen Gottesbeweisen bekannt sind: Er hätte nicht nur die Vielfalt sinnlicher Erfahrungen, sondern auch deren Existenz aus dem Begriff, in diesem Fall aus dem Interpretationsvorgang, deduzieren müssen. Wenn alles Interpretation ist, ist auch dieser Satz über die Universalität von Interpretation eine Interpretation. Folglich darf auch die für diesen Systemansatz entscheidende Tatsache, daß es überhaupt Interpretationen gibt, lediglich eine Inter2
Dazu: E. Heller, Nietzsches Scheitern am Werk, 1989, 38 ff.; ders., Diesseits und Jenseits von Gut und Böse, 1992, 10 - 27.
1. Wille zur Macht: Ein metaphysischer Begriff
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pretation darstellen. Wie komme ich aber von der Interpretation zur Existenz von Interpretationen? Zur Beantwortung bleibt dem Systematiker nur das a priori unzureichende Mittel der Interpretation. Der Kritiker stützt aber seine These, auch wenn er es strenggenommen nicht darf, auf die Gewißheit seiner sinnlichen Existenz. Für die Eleaten unter seinen Lesern hätte Nietzsche vermutlich nur spöttische Verachtung übrig, eine Verachtung, die ihm bekanntlich gegenüber Systematikern in verdächtigem Reichtum zu Gebote stand. Nur an zwei Punkten, so scheint mir, dreht sich Nietzsche aus der Perspektive des Kritikers heraus: erstens im Gedanken der ewigen Wiederkunft des Gleichen und zweitens in der Behauptung des Willen zur Macht. Der Gedanke der ewigen Wiederkunft bietet das Extrem eines individuellen Begriffs·. Von höchster Allgemeinheit, hat er doch nur für Nietzsche Bedeutung. Man kann sich zwar diesem Gedanken sowohl von der praktisch-moralischen Seite über den amor fati wie auch über kosmologische, geschichts- oder zeittheoretische Spekulation nähern,3 letztlich aber begreift man nichts, das objektiv diese eminente Bedeutung beanspruchen könnte. Sein individuelles Schwergewicht entzieht diesen "abgründliche[n] Gedanke[n]" (EH, Weise 3; 6, 268) jedem möglichen Schema und damit auch jeder diskursiven Erörterung. Was ist philosophisch - nicht philologisch, philosophiegeschichtlich oder biographisch! - von einem Gedanken zu halten, der seinen "tiefstefn] Einwand" (ebd.) in der Existenz von Nietzsches Mutter und Schwester hat? Um diesem "tiefsten aller Gedanken" auch nur formal gerecht zu werden, müßte ich exemplarisch darstellen, was er für mich bedeutet. Darauf aber möchte ich, darauf muß ich verzichten, weil der Gedanke auf mich persönlich keinen Eindruck macht. Selbst wenn der Wiederkunftsgedanke sich theoretisch als zwingend erweisen ließe, bliebe er praktisch folgenlos. Die Erwartung, daß sich dieser (oder ein anderer) Augenblick in Ewigkeit wiederholt, kann nur für den Menschen Bedeutung erlangen, welcher diesen (oder einen anderen) Augenblick bereits als Wiederholung der Ewigkeiten zurückliegender Augenblicke erlebt. Mir aber scheint - und dies ist wahrhaftig ohne Pathos gesagt - jeder Augenblick einzigartig zu sein, und ich glaube, nur dadurch hat er Gewicht.4 In der Behauptung des Willens zur Macht geht Nietzsche, sowohl im Hinblick auf die innere wie auf die äußere Erfahrung, am weitesten auf die Elementarbedingungen des Wirklichen zu. Obgleich er auch hier durch den epochalen Erfahrungszusammenhang bestimmt bleibt - also auch diese geschichtsfundierende These einem historischen Bewußtsein entspringt -, hat er sich hier am weitesten von seiner Rolle als Kritiker gelöst und systembildende Motive erkennen lassen - zumindest bis Ende August 1888.5 Der Wille zur Macht ist 3 4
5
Siehe Anm. 3 zum VI. Kapitel. Natürlich ist damit nicht alles über den Wiederkunftsgedanken gesagt! Solange man ihn nicht wörtlich nimmt, hat er eine große, insbesondere kulturphilosophische und individualtheoretische Bedeutung. Siehe dazu vom Verf.: Gipfel der Internität, 1987; Selbstbegründung, 1992; Friedrich Nietzsche, 1992, 189 ff. - Ich verweise im übrigen auf E. Heftrichs geistvolle Betrachtung über "Kreis und Zirkel" und auf seine "Einübung ins labyrinthische Denken" (Nietzsches Philosophie, 1962, 57 ff. u. 111 ff.). M. Montinari, Nietzsches Nachlafl von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, 1982, 92 - 119.
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IX. Die Metaphysik des Werdens
die Formel, mit der Nietzsche doch noch versucht, das Ganze des möglichen Erfahrungszusammenhangs zu erfassen und einheitlich zu bestimmen. Trotz des ostentativen Verzichts auf die Kategorien der Substanz und der Einheit wird der Anspruch erhoben, das Wesen allen Geschehens aufzudecken und die Einheit in der Vielheit sichtbar zu machen. Wenn dies gelegentlich in die Form einer Hypothese zurückgenommen wird oder sowohl dem gedanklichen Unternehmen wie dem Leben selbst der Charakter des Experiments zugesprochen wird, so ändert das nichts an der Wirksamkeit eines genuin metaphysischen Motivs: In der ungeheuren Vielfalt der Ereignisse und Dinge soll etwas sichtbar werden, das allem gemeinsam ist und wodurch folglich jedes einzelne wesentlich und alle einzelnen zusammen als ein Ganzes gekennzeichnet sind. Dieses Zusammenhang und Einheit stiftende Moment nennt Nietzsche "Wille zur Macht"; es ist die Kraft, die in jedem einzelnen auf spezifische Weise wirkt. Die Einheit entsteht also nicht dadurch, daß eine Kraft alles bestimmt, sondern alles hat seine je eigene Kraft, doch die äußert sich auf eine in allen gleiche Weise und fällt daher unter einen Begriff. Dieser Begriff ist der Wille zur Macht. Ich möchte im folgenden die These vertreten, daß der Wille zur Macht nur als ein metaphysischer Begriff verständlich werden kann. Diese These weicht vom Wortlaut nietzscheanischer Selbstauslegung ab, 6 kommt ihr aber in der Sache entgegen, denn die Metaphysik, die Nietzsche betreibt, sofern er den Willen zur Macht thematisiert, ist nicht mehr die Metaphysik, die er kritisiert.7 Es ist nicht die von Piaton bis Leibniz dominierende Metaphysik der gegebenen Welt, die das einzelne Seiende wie das Sein als ganzes mit den Augen eines Gottes zu sehen versucht und nach Analogie eines Gegenstandes denkt, aber auch nicht die von Kant zum Programm erhobene Metaphysik der entworfenen Welt, die alles mit den Augen des Menschen betrachtet und die das Ganze nur noch in Korrespondenz zum eigenen Vernunftbedürfnis gelten läßt. Für Nietzsche ist der Gott gestorben, und damit hat die Welt an sich ihren Halt verloren. Es ist nunmehr sinnlos, von substantiellen Formen und materialen Bedingungen des Seienden zu sprechen, denn es gibt nichts, was solchen Begriffen entspricht. Das Sein selbst ist eine Illusion, die "wahre Welt [ist] unerreichbar, unbeweisbar,
"Wer jetzt in Wissenschaft und Kunst absolute Metaphysik oder selbst skeptische Metaphysik vertritt, geht Uber den Berg und fördert Rom." (So Nietzsche in: Ν 1878, 34/17; 8, 569) - Über eine der jüngeren Kontroversen zur Frage der Metaphysik bei Nietzsche informiert der Aufsatz von J. Salaquarda, Metaphysik und Erfahrung, 1975, 3 - 25. An eine der älteren Aussagen zu dem Problem bei R. Richter und A. Fouillée hat der Verf. in Macht und Metaphysik (1981/82, 196 ff.) erinnert. Es erübrigt sich, auf die zahlreichen Äußerungen zu dieser Frage einzugehen, denn die Antwort ist abhängig von dem unterlegten Begriff der Metaphysik. Deshalb wird im Text zunächst versucht, den Metaphysikbegriff zu entwickeln, der mit Nietzsches Ansatz vereinbar ist. Betont sei allerdings, daß die hier vertretene Zurechnung Nietzsches zur Metaphysik nicht aus den von M. Heidegger genannten Gründen geschieht und auch mit den von ihm gezogenen Konsequenzen nichts zu tun hat. Dies etwa in dem Sinn, in dem G. Colli sagen kann: "Aber der Zerstörer der Philosophie war immer noch ein Philosoph, [...]" (Nachwort zu den nachgelassenen Fragmenten von Herbst 1884 bis Herbst 1885, KSA 11, 1988, 711 - 726, 723).
1. Wille zur Macht: Ein metaphysischer Begriff
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unversprechbar" (GD, Wahre Welt; 6, 80). Folglich kann es auch keine Seins-Metaphysik mehr geben. Doch auch das Vernunftbedürfnis, von dem die kritische Metaphysik Kants ihren Ausgang nimmt, ist diskreditiert, weil es die Idee des Absoluten nicht aufgegeben hat, sondern sie bloß auf die Seite der dem Menschen verfügbaren Mittel verlegt. Nunmehr wird die Methode absolut gesetzt, und die intelligible Leistung als solche verspricht den sicheren Halt, der zuvor in der Ordnung der Dinge gesucht wurde. Der Vernunft-Metaphysik reicht es schon, daß eine wahre Welt "gedacht" werden kann, um als "ein Trost, eine Verpflichtung, ein Imperativ" zu wirken (ebd.). Den Verbindlichkeitsverlust auf der Seite des Gegebenen kompensiert sie durch theoretische und praktische Selbstgesetzgebung, d. h. durch rigorose Disziplinierung ihrer eigenen Kräfte. Der Glaube an die Leistungen der Vernunftkategorien kann sich dem Glauben an die wesenhafte Ordnung des Seins als solchen sogar noch überlegen fühlen, weil er sich auf nichts Fremdes mehr stützt und alle Sicherheit aus der Gewißheit des Ichdenke und Ich-will bezieht. Nietzsches Denken versucht in der Tat, ohne derartige Verabsolutierungen der Objektoder Subjektseite auszukommen. Er will sich sowohl der "absolute[n]" wie auch der "skeptische[n]" Metaphysik - eine Unterscheidung, die der zwischen Seins- und Vernunft-Metaphysik entsprechen könnte - enthalten (N 1878, 34/17; 8, 569). Doch die Frage ist, ob der Begriff der Metaphysik durch diese beiden Möglichkeiten schon ausgeschöpft ist. Kants Kritik hat der Metaphysik einen Bedeutungsraum eröffnet, der durch seine eigene Vernunftkonzeption keineswegs schon ausgefüllt ist. Metaphysik ist alles das, was das bewußte Wesen als einheitlichen und bedeutungsvollen Zusammenhang der erfahrenen Welt, als mögliche Sinneinheit von Ich und Welt, zu denken versucht. Ob dieses Denken als Wissenschaft gelingt, ist dabei durchaus offen. Entscheidend ist, daß eine Verbindung zwischen dem Einzelnen und seiner Welt gesucht wird, einer Welt, die als ein - wie immer auch beschaffenes und ermitteltes - Ganzes gedacht wird, dem sich das denkende Wesen zurechnen kann. Auf zwei Momente kommt es dabei an: Auf den Zusammenhang des Erlebten und Erfahrenen in sich und auf die Reflexion der Stellung des erlebenden Wesens zu diesem Zusammenhang. Entscheidend ist nicht, ob das auf diese Weise als Einheit Gedachte auch in Wahrheit eine Einheit ist; ausschlaggebend ist auch nicht, ob die Einheit sich in begrifflich zureichender Weise ergibt. Als Kriterien der Metaphysik reichen aus, daß diese Einheit mit begrifflichen Mitteln gesucht wird und daß sie für die Selbstauffassung des suchenden Wesens von Bedeutung ist. Auf diese Weise bleibt die Metaphysik an den Anspruch des wissenschaftlichen Denkens gebunden, ohne jedoch genötigt zu sein, in ihren Ergebnissen mit den Einzelwissenschaften zu konkurrieren. Ihr Verfahren ist auf die üblichen Rationalitätserwartungen gegründet, aber sie hält sich weder an die disziplinären Grenzlinien zwischen den Ge-
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IX. Die Metaphysik des Werdens
genstandsbereichen noch an die Beschränkung auf ein Objektives überhaupt. Die Frage der Metaphysik zielt auf die Stellung des Menschen zur Welt, und es ist dies eine Frage, bei der selbst immer wieder fraglich wird, was Mensch und Welt eigentlich bedeuten. Vorausgesetzt ist allein das Bedürfiiis, die Verbindung der Dinge untereinander und unsere Beziehung zu den Dingen, soweit es irgend geht, als Einheit zu begreifen. Dieses Verständnis der Metaphysik ist hinreichend eng, um sie von den Einzelwissenschaften, auch von Psychologie, Soziologie oder Anthropologie, abzugrenzen, und umfassend genug, um der ontotheologischen Seins-Metaphysik und der kritischen Vernunft-Metaphysik gleichermaßen Raum zu bieten. Es ist offen sogar für Fragestellungen, die versuchen, auch noch die "Vernunft-Kategorien" (GD, Vernunft 5; 6, 77) loszuwerden, die den "Glauben" an das Sein und auch noch den an das Ich-Sein, den Willen oder die Einheit überhaupt verloren haben. Solange aber das Interesse bestehen bleibt, die Beziehung des ich-sagenden Wesens zu dem als "Welt" bezeichneten Zusammenhang, so weit es geht, zu begreifen, solange wird auch Metaphysik betrieben. "Wir besitzen heute", sagt Nietzsche, "genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne anzunehmen, - als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten." (ebd., 3; 6, 76) Er sagt dies, um sich u. a. gegen die "Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaften" (ebd.) der Metaphysik abzugrenzen. Vielleicht gilt sein Wort auch für jene, die nichts anderes tun, als ihre Sinne zu schärfen und zu Ende zu denken. Aber trifft es auch die, von denen er doch eigentlich spricht: "die sich entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen"? Und: Trifft es auch den, der eine solche Aussage macht? Offensichtlich ist, daß Nietzsche weder von sich noch von dem diagnostizierten neuen Typus des Wissenschaftlers eine bloße Automatik der sinnlichen und gedanklichen Verfeinerung behauptet. Wo sie vorliegt, geschieht eben das, was er im selben Atemzug den "Formal-Wissenschaften", der "Zeichenlehre", also Logik und Mathematik vorhält: "In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem" (ebd.). "Wirklichkeit" bleibt also auch unter den von Nietzsche als nunmehr historisch unausweichlich erachteten nach-metaphysischen Bedingungen ein Problem, d. h. es kann nicht darauf verzichtet werden, sie zu begreifen. Als "Wirklichkeit" kann sie jedoch nur begriffen werden, wenn auch die Stellung des Begreifenden in und zu ihr thematisch wird. "An sich" gesehen ist Wirklichkeit bedeutungslos. Erst im Hinblick auf die Stellung zur Wirklichkeit wird auch die Wirklichkeit zum Problem, und erst als solches kann sie Bedeutung gewinnen, kann sie "Welt", "Schein", "Spiegel" oder eben "Wille zur Macht" genannt werden. Schon der Versuch, dieses Problem ernsthaft zu formulieren, gehört nach der von Kant provozierten Ausweitung des Begriffs zur Metaphysik. So sehr Nietzsche - hierin übrigens ganz zeit-
1. Wille zur Macht: Ein metaphysischer Begriff
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gemäß8 - auch bemüht ist, sich von der Metaphysik zu emanzipieren, er kommt weder faktisch noch programmatisch von ihrer Fragestellung los. Die Differenzierung zwischen Faktum und Programm dient nur der Abwehr des Mißverständnisses, Nietzsche habe seinem eigenen Anspruch persönlich noch nicht genügt; er selbst bleibe in der Tradition befangen, aber seine Philosophie der Zukunft sei, wenigstens im Entwurf, über sie hinaus. Sofern der Philosophie von Nietzsche überhaupt eine Aufgabe zugewiesen wird, ist sie von der metaphysischen Frage nach der "Welt" oder der "Wirklichkeit" nicht befreit, ja mehr noch: Wie alle Philosophie zuvor wird auch das von ihm angekündigte Philosophieren wesentlich von der metaphysischen Frage angetrieben. Erst ein Wesen, das sich von der "Furchtsamkeit" befreite, könnte sich vom Realitätsproblem entlasten, indem es alles gleichermaßen bejahte. Es wäre ein Wesen, wie es Nietzsche vor dem letzten Entwurf eines Plans zum Willen zur Macht in eine vorerst noch sehr entfernte Zukunft projizierte: "Eine mit Kraft überladene und spielende Art Wesen würde gerade die Affekte, die Unvernunft und den Wechsel in eudämonistischem Sinne gutheißen, sammt ihren Consequenzen, Gefahr, Contrast, Zu-Grunde-gehn usw." (N 1888, 18/16; 13, 537) Vielleicht könnte sich ein solches Wesen, von dem wir nicht sagen können, ob es noch Ähnlichkeit mit dem heutigen Menschen hat, der Metaphysik entziehen. Dies hätte wohl auf die einzige gegenwärtig denkbare Weise zu geschehen, nämlich durch Vergessen. Die Metaphysik müßte alles Interesse verlieren, dann könnte sie schließlich durch Vergessen überwunden werden. Nietzsche hat einen nicht geringen Anteil daran, daß die Metaphysik heute eben noch nicht in Vergessenheit geraten ist. Diese Behauptung stützt sich nicht auf die psychologisch gewiß aufschlußreiche Tatsache, daß Nietzsche für jemand, der die Metaphysik wirklich überwunden hat, etwas zu häufig von In seiner Ablehnung der Metaphysik folgt Nietzsche dem damals verbreiteten Urteil. F. A. Lange prägt im Schlußabschnitt der 2. Aufl. von Geschichte des Materialismus (187S) den berühmten Ausdruck von der "Begriffsdichtung der Spekulation" (ebd., 982) und erklärt, gegenüber "metaphysischen Erdichtungen" sei der "Materialismus eine Wohltat" (ebd., 98S). Bei E. Dühring heißt es in Der Werth des Lebens (1865, 121): "Die Metaphysik ist ein natürlicher Bundesgenosse derjenigen Vorstellungen, welche die Wirklichkeit verachten und in jenseitigen Conceptionen Befriedigung suchen. Die Metaphysik muß mit ihren Deuteleien aushelfen, wo die einfache Betrachtung des Gegebenen zur Verdächtigung [!] nicht mehr ausreichen will [...] Anstatt Schmerz und Lust nur auf die vereinzelten Zustände zu beziehen, denen sie wirklich entsprechen, wird die Unlust willkürlich im Sinn einer gegen das Ganze des Lebens gerichteten reactiven Empfindung gedeutet. " Im Cursus der Philosophie (187S, 11 f.) modifiziert Dühring sein Urteil und unterscheidet zwischen einer Metaphysik, die sich nur mit "willkürlich erdichteten Wesenheiten" abgibt, und einer Lehre, die im Einklang mit der Wissenschaft nach allgemeinen Erklärungen sucht. Dafür bringt er den Titel "Weltschematik" in Vorschlag. Auch durch A. Spir konnte Nietzsche sich bestätigt sehen: "Der ganze Kunstgriff der Metaphysiker besteht indessen gerade darin, die gemeinen Erfahrungen in die Regionen des Absoluten zu versetzen. Ich muss gestehen, dass ich die metaphysische Richtung in der Philosophie für eine Art geistiger Krankheit halte." (Denken und Wirklichkeit, Bd. 1, 1877, 4) Als Beispiel fur die unter Naturwissenschaftlern in jenen Jahren verbreitete gelassene Haltung gegenüber der Metaphysik kann eine Äußerung G. H. Schneiders (Der menschliche Wille, 1882, 1) gelten: "Es ist gerade der Vorzug der neueren Naturwissenschaft, dass sie aller Metaphysik entsagt und nur die causalen Beziehungen der Erscheinungen festzustellen sucht, und eben, weil sie keine Zeit mit unnützen Speculationen über hat, sind ihre Fortschritte so bedeutend gegenüber den Errungenschaften auf anderen Gebieten [...]."
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ihr spricht. Natürlich sind die zahlreichen Kampfansagen verdächtig. Die Gemeinsamkeit scheint tiefer zu gehen als der erklärte, im einzelnen durchaus überzeugende Widerspruch. Solche Mutmaßungen sind philosophisch aber nur von Belang, wenn sich zeigen läßt, daß auch nach der vermeintlichen Absage noch Metaphysik betrieben wird. Dies ist, so meine ich, bei Nietzsche der Fall. Sobald er seiner Kritik eine positive Wendung gibt und es auch nur für möglich hält, einen "Namen für diese Welt", eine "Lösung für alle ihre Räthsel" anzubieten (N 1885, 38/12; 11, 611), ist er von der metaphysischen Frage okkupiert. Wenn er behauptet: "Diese Welt ist der Wille zur Macht - und nichts außerdem! " (ebd.), dann scheint er sogar eine Antwort auf die Frage gefunden zu haben. Daß er sie nur sehr unvollständig gibt, ja seinen Versuch vielleicht selbst am Ende für gescheitert hält, reicht für einen Einwand nicht aus, denn abgesehen davon, daß die These nur für die Zeit gelten soll, in der Nietzsche theoretisch auf den Machtwillen setzt, ist die Metaphysik weder abhängig von einer systematischen Behandlung noch von einem befriedigenden Ergebnis, sondern allein von der auf das Ganze gerichteten Frage und von dem Bemühen um eine begriffliche Antwort. Diese Frage stellt er in bester metaphysischer Tradition mit dem Bewußtsein, daß auch andere sie stellen: "Und wißt ihr auch, was mir 'die Welt' ist?" (ebd., 610; H. v. m.) Das Verlangen nach Erkenntnis eines die Einzelereignisse übergreifenden Sinns treibt Nietzsche nicht weniger an, als man es Piaton oder Kant unterstellen kann. Doch seine Erkenntniskritik nötigt ihn zu extremer Zurücknahme aller ontologischen Objektivitätsansprüche und zum Verzicht auf ein allgemeines Vernunftkriterium. Deshalb erlaubt er sich nur darüber zu sprechen, was ihm die Welt bedeutet. Beachtet man nur diese Ausgangsfrage - Was bedeutet mir die Welt? ("Welt" steht dabei natürlich in Anführungszeichen.) -, dann kann auch die immer wieder neuentwickelte Antwort: "Diese Welt ist Wille zur Macht - und nichts außerdem!" nicht der Seins- und Vernunftgewißheit der von ihm verabschiedeten Metaphysik entstammen.
2. Die metaphysische Frage nach dem Werden Die Interpreten haben Nietzsche schon seit längerem vom Odium eines gedankenlosen Rückfalls in die kritisierten philosophischen Ansätze befreit. Doch je genauer man seine Eigenständigkeit gegenüber der Tradition erkannte, desto ungewisser wurde der Status seiner Aussagen. Daß sie als philosophische gelten können (wenn auch nicht müssen!), wird inzwischen auch von Anhängern anderer Schulen akzeptiert, wobei interessanterweise die Kantianer und selbst die Thomisten sich als aufgeschlossener erweisen als die Hegelianer oder die Marxisten. Aber auch hier bröckelt der Widerstand ab. Es ist zu erwarten, daß bald sogar die bis-
2. Die metaphysische Frage nach dem Werden
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her noch resistenten Logiker und Analytiker keine Entschuldigung mehr verlangen, wenn sie die Beschäftigung mit Nietzsche tolerieren sollen. Als Philosoph ist Nietzsche schon deshalb nicht mehr umstritten, weil Kritik und Philosophie beinahe synonym geworden sind, und als Geschichts-, Wissenschafts-, Ideologie- oder eben als Metaphysik-/&ifi'£er hat er seinen anerkannten Platz.9 Aber was für ein Status kommt seinem Denken mit der erfolgten Kritik nun zu? Bleibt er noch ganz im Bann der Metaphysik, wie Heidegger dies gerne sieht (um so selbst als derjenige aufzutreten, der den Bann als erster wirklich löst), oder gelingt bereits Nietzsche der Übergang ins "postmetaphysische" Denken,10 wie dies nicht wenige Interpreten, dem Selbstanspruch ihres Autors folgend, annehmen? Von einer Wende zur "Postmetaphysik" - der schlechte Begriff läßt schon erkennen, in welcher Verlegenheit die Deutung steckt - kann, so meine ich, bei Nietzsche keine Rede sein. Die "verlorene Geliebte" (MA 1, 153; 2, 145) hält ihn in ihrem Bann. Solange er denkt, verfolgt ihn die Frage, was ihm die Welt bedeutet. Es geht ihm mit dem Problem der Welt nicht anders als mit dem Problem des "Ich": Den "Glauben an das Ich, als an eine Substanz, als an die einzige Realität, nach welcher wir überhaupt den Dingen Realität zusprechen", können wir nicht abschütteln. Dieser Glaube ist notwendig in jedes Denken eingelassen; ihn aufzugeben, hieße "nicht-mehr-denken-dürfen" (N 1886/87, 7/63; 12, 317). Entsprechend kann er auch alles, was den Metaphysikern bisher als "Reich des anscheinend Sich-selbst-Gewissen, Sich-selber-Verständlichen" galt (N 1885, 40/39; 11, 648), als eine Kondition des Denkens ansehen. Als Implikate des Denkens sind sie zugleich auch "Grundlage aller Wissenschaft, wie alles Lebens" (N 1884, 26/328; 11, 236). "'Subjekt' und 'Objekt' 'Aktivum' und 'Passivum' 'Ursache und Wirkung' 'Mittel und Zweck' [sind] immer nur perspektivische Formen" (N 1885, 40/39; 11, 648). Doch eine solche Aufzählung läßt er nicht auf sich beruhen; er fragt sogleich, was die Einsicht für ihn, für den Philosophen, den wissenschaftlichen Menschen, überhaupt bedeutet: Ist der '"Wille zur Wahrheit' " ein '"Wille zum Tode'"? Zeigt die Wahrhaftigkeit "eine Art Lebens-Überdruß des Lebens selber"? Abschließend heißt es dann: "Quaeritur: und man könnte hier wirklich nachdenklich werden. " (ebd., 649) Warum diese Nachdenklichkeit? Was gibt es hier noch zu fragen, wenn man tatsächlich kein Metaphysiker mehr ist? Nietzsches quaeritur macht offenkundig, daß er die Sinnfrage, diesen Ursprung einer jeden Metaphysik, nicht vergessen kann und - nicht vergessen will. Auch im Blick auf mögliche Funktionen des ermittelten Lebenssinns ergibt sich kein gravierender Unterschied zwischen Nietzsches Metaphysik und der Metaphysik der Tradition. Alle "bisherigen Auslegungen" des Seins, so steht es in einer Notiz, die er für das Schluß9
10
H. Baier, Nietzsche als Wissenschaftskritiker, 1966, 130 - 143; H. Roettges, Nietzsche und die Dialektik der Aufklärung, 1972; M. Funke, Ideologiekritik und ihre Ideologie bei Nietzsche, 1974; R. Rorty, Der Spiegel der Natur, 1981, 391 ff. M. Djurié, Zur gegenwärtigen Aufgabe unseres Denkens, 1982, 21S - 223.
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IX. Die Metaphysik des Werdens
kapitel (!) des Buches über den Willen zur Macht anlegt, haben einen "gewissen Sinn für das Leben - erhaltend, erträglich machend, oder entfremdend, verfeinernd" etc. Gegen diese traditionelle Auslegungsabsicht setzt er den lebenspraktischen Effekt seiner eigenen Deutung und man sucht vergebens nach einem prinzipiellen Unterschied: "[MJeine neue Auslegung giebt den zukünftigen Philosophen als Herrn der Erde die nöthige Unbefangenheit. " (ebd., 40/12; 11, 633) Man könnte Nietzsche vorwerfen, in der Absicht, dem Leben zu dienen, gehe er zu weit, wenn er beanspruche, von der "Kranken-Optik aus nach gesünderen Begriffen und Werthen" Ausschau zu halten. Wundern muß man sich nur darüber, daß er es als möglich ansieht, auch "umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens hinunter[zu]sehn in die heimliche Arbeit des Décadence-Instinkts" (EH, Weise 1; 6, 266), denn damit behauptet er einmal mehr die zur Tradition philosophischer Weisheitslehren gehörende Selbständigkeit des Geistes, "jene Freiheit von Partei im Verhältniss zum Gesammtprobleme des Lebens" (ebd., 264). Diese Nietzsche in der Tat auszeichnende Freiheit des Geistes läßt ihn dann auch überzeugt sein, er habe es in der Hand, "Perspektiven umzustellen" (ebd., 266). Am Ende seines philosophischen Schaffens wendet er damit auf sich selbst eine Beschreibung an, die er am Anfang seiner Laufbahn vom "höchsten Ziel" der Weisheit gegeben hatte: "mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zu[ge]wendet und in diesem das ewige Leiden mit symphatischer Liebesempfindung als das eigne Leiden zu ergreifen such[en]" (GT 18; 1, 118). Diese Haltung, so glaubte er 1872, könne eine neue "Cultur" einleiten und mit der Kultur auch eine neue Kunst: "die Kunst des metaphysischen Trostes" (ebd., 119). Von dieser Hoffnung auf metaphysischen Trost ist auch noch die Erwartung einer Umwertung der Werte getragen. Der Anspruch, die Umwertung könne schon bald, vielleicht schon 1890, "als die Axt dienen, welche dem 'metaphysischen Bedürfniss' der Menschheit an die Wurzel gelegt wird" (EH, MA 6; 6, 328), steht dazu nicht im Widerspruch! Doch alles das könnte immer noch als indirekte Argumentation verstanden und als letztlich nicht überzeugend angesehen werden. Daß der Kritiker der Metaphysik vom Kritisierten nicht loskommt, könnte auf eine bloß formale Gemeinsamkeit verweisen, die für die neuen Einsichten Nietzsches zumindest als nebensächlich gelten kann. Deshalb ist es wichtig, den Willen zur Macht auch in der Sache als metaphysischen Begriff zu erkennen und zu zeigen, was er leistet. Dabei, so hoffe ich, wird auch die fundierende Funktion der Macht sichtbar werden: Sie wird zur Instanz der Realität schlechthin. Was immer wir als Wirklichkeit begreifen: Es wird nur als Macht zugänglich. Die selbst immer nur als Macht unter Mächten erfahrbare Macht wird zum Grundphänomen einer ganz und gar relationalen und durch und durch dynamischen Welt. Die fundamentale philosophische Frage Nietzsches ist die nach der Möglichkeit, das Werden zu denken. Entscheidend ist sie, weil das Werden die "einzige Realität" überhaupt dar-
2. Die metaphysische Frage nach dem Werden
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stellt (N 1887/88, 11/99; 13, 48) und weil sich in dem Versuch, diese Realität zu denken, die Denkbarkeit der Realität überhaupt, folglich auch der Realitätsbezug des Denkens als solcher zu erweisen hat. Überdies glaubte Nietzsche, daß mit dem Einlassen auf die "Realität des Werdens" auch die Metaphysik obsolet werde. Heidegger hat ihn hierin beim Wort genommen und konsequenterweise an den Versuch, das Werden trotz allem zu denken, seine These von der Verfallenheit an die Metaphysik geknüpft. Wenn der "höchste Wille zur Macht" darin liege, "[d]em Werden den Charakter des Seins aufzuprägen" (N 1887, 7/54; 12, 312), dann müsse man in dieser Prägung eine Steigerung des neuzeitlichen Verfügungsdenkens erkennen, mit der die antike Tradition des Seinsdenkens nicht nur nicht überwunden, sondern zur fraglosen Selbstverständlichkeit und somit nahezu unangreifbar werde.11 So wird Nietzsche, der glaubte, der Tradition entkommen zu sein, als ihr modernster Vollender ausgegeben. Die Überzeugungskraft von Heideggers These hängt einerseits an seiner Deutung der philosophischen Tradition, einer Deutung, der man, wie die vorstehenden Überlegungen zum Problem der Metaphysik erkennen lassen, nicht folgen muß. Sie hängt andererseits am Verständnis der Macht. Denn nur, wenn die Macht nach Analogie einer festen und wohlunterscheidbaren Form vorgestellt wird, kann sie die "Auslegung des Seins als Beständigkeit des Anwesens in die Fraglosigkeit" retten. Da die Macht als relationale Größe diese Beständigkeit gerade nicht garantiert, ist Heideggers Interpretation der Boden entzogen, ganz unabhängig davon, wie man zu seiner Auslegung der Geschichte des Seinsdenkens steht. Daß alles ein "fortwährendes Werden" ist (GT 4; 1, 39), dürfte wohl die einzige Einsicht sein, die bei Nietzsche von der Geburt der Tragödie bis zur Götzen-Dämmerung unverändert bleibt. Die "Rechtfertigung des Werdens" (PhtZ 5; 1, 822) gilt ihm als die von den Griechen zuerst erfaßte originäre Leistung der Philosophie, die der ästhetischen Rechtfertigung des Daseins durch die Kunst korrespondiert: "Das ewige und alleinige Werden, die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Heraklit lehrt, ist eine furchtbare und betäubende Vorstellung und in ihrem Einflüsse am nächsten der Empfindung verwandt, mit der Jemand, bei einem Erdbeben, das Zutrauen zu der festgegründeten Erde verliert. " (ebd., 824) Heraklit, so heißt es fünfzehn Jahre später, wird "ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die 'scheinbare' Welt ist die einzige: die 'wahre Welt' ist nur hinzugelogen ..." (GD, Vernunft 2; 6, 75). Nur das "Zeugniss der Sinne" ist untrüglich: "Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht ..." Die Lügen kommen erst durch die Vernunft in die Welt, "die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer ..." (ebd.). Wenn aber die Vernunft als Fälscher fungiert, dann kann sie auch das Werden prinzipiell nicht begreifen. Dadurch entsteht die paradoxe Situation, daß wir von der elementaren sinnlichen Gewißheit überhaupt im strengen Sinn gar nichts wissen können. Wir können nicht 11
M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 1, 1961, 656.
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sagen, was es "ist", weil wir es dadurch bereits ins Beständige verfälschen müssen: "Was ist, wird nicht; was wird, ist nicht ..." (ebd., 1; 6, 74). Das aber läßt Nietzsche nicht als Einwand gegen die Gewißheit des Werdens gelten. Er sieht darin nur ein Exempel dafür, daß auch unsere Erkenntnis für das Beharrliche disponiert ist. Die "Lehre vom Sein" ist nicht nur "hundert Mal leichter als die Lehre vom Werden" (N 1888, 18/13; 13, 535), sondern sie bietet sich dem Denken geradezu von selbst an, während es unmöglich erscheint, vom Werden auch nur einen Begriff zu fassen. Da jedes Begreifen ein Feststellen ist, führt jeder Begriff zum Stillstand eben der Bewegung, die er wiederzugeben versucht. Folglich sind auch "die Ausdrucksmittel der Sprache [...] unbrauchbar, um das Werden auszudriikken" (N 1887/88, 11/73; 13, 36). Der Grund für diese Unfähigkeit liegt tiefer, als es der Fälschungsvorwurf gegen die Vernunft vermuten läßt: Es ist unsere Natur, die durch ihr "unablösliche[s] Bedürpiiß der Erhaltung" (ebd.) ständig nach Bleibendem verlangt. Gleichwohl versucht Nietzsche das Unmögliche, nämlich der Tatsache des Werdens in Worten Ausdruck zu geben. Dabei ist erstens von Interesse, wie er dies tut, und zweitens, warum er sich dieser letztlich vergeblichen Anstrengung unterzieht. Die Antwort auf diese Fragen liegt in Nietzsches Metaphysik der werdenden Welt, die ihr methodisches und ihr sachliches Fundament darin hat, daß sie die Wirklichkeit als Macht begreift.
3. Die werdende Welt Das Werden ist die erste, einzige und alles umfassende Gegebenheit. Werden ist alles; alles wird, alles ist nur, sofern es wird. Das "'Wesen'" der Dinge liegt darin, daß sie "Prozess" sind (N 1885, 36/21; 1.1, 560). Auch wenn die Sprache uns nötigt, das Werden immer wieder als elementare Eigenschaft der "Welt" oder der "Wirklichkeit" zu bezeichnen, so ist es doch eher umgekehrt: "Welt" und "Wirklichkeit" sind nur Momente des Werdens: "In einer werdenden Welt ist 'Realität' immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken [...]" (N 1887, 9/62; 12, 369). Was hier über die Realität gesagt wird, gilt in gleicher Weise für die Welt- deshalb hätte Nietzsche eine parallele Aussage anschließen können: In einer werdenden Wirklichkeit ist "Welt" immer nur eine Simplifikation zu praktischen Zwecken ... Denn wenn alle unsere Begriffe "sensualistischer Herkunft" sind, dann haben wir kein Recht, eine "Welt an sich" von einer "Welt als Erscheinung" zu unterscheiden. Folglich ist auch die "Welt als Erscheinung" keine "Welt an sich"; die "empirische Welt" oder, wie es gelegentlich heißt, die "wirkliche Welt" (ebd., 9/97; 12, 391) ist nur eine Auslegung nach dem "Seins-Schema", nach welchem wir versuchen, alles "formulirbar, berechenbar zu ma-
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chen" (ebd.). Die "Wirklichkeits-Gläubigen" (N 1886/87, 6/6; 12, 235) rechnet Nietzsche deshalb zu seinen Gegnern. Es ist nicht leicht, die Priorität des Werdens gegenüber Welt und Wirklichkeit auszudrükken, denn man ist stets verführt, die umfassende Allgemeinheit dieses Werdens durch "Welt" oder "Wirklichkeit" - oder gar durch "wirkliche Welt" - zu indizieren. Behelfen wir uns also mit der - freilich paradoxen - Behauptung der Fundamentalist des Werdens: Welten und Wirklichkeiten entstehen und vergehen - das Werden bleibt. Nietzsche ist sich bewußt, daß er sich mit der Rechtfertigung des Werdens (N 1888, 11/72; 13, 34 ff.) an der Grenze des begrifflich Faßbaren bewegt. "Denken", so heißt es in ausdrücklicher Opposition gegen Parmenides (N 1888, 14/148; 13, 332), "hat keinen Griff auf Reales, sondern nur auf ". Die drei Gedankenstriche sind konsequent, aber offenbar nicht befriedigend. Denn selbst wenn Nietzsche wirklich nicht versuchen sollte, ihre Stelle auszufüllen, so bemüht er sich doch unablässig, sein Verhältnis zu ihnen zu bestimmen. Die Gedankenstriche stehen für etwas, das ihn philosophisch wie kaum etwas anderes betrifft. Das "Problem der Realität" (N 1887, 9/62; 12, 368) ist nicht beseitigt, und man kann hier nur bedauern, daß er bei seinen verschiedenen Anläufen, das Problem wenigstens deutlich zu stellen, die sprach- und begriffskritischen Versuche, die in dieser Hinsicht nicht erst Kant und Hegel unternommen haben, zu wenig beachtet.12 Nietzsche sieht hier freilich nicht allein die ontologische und logische Schwierigkeit, über das Begreifen hinaus etwas zu begreifen, sondern moniert vor allem die psychologische Verführung durch die "Seins-Begrifffe]". Hinter dieser Verführbarkeit durch die "betrügerische Weibsperson" der Vernunft (GD, Vernunft 5; 6, 78) sieht er den offenbar sehnsüchtigen "Glaube[n] an das Seiende", dessen Kehrseite in einer tiefen Abneigung gegen alles Werden besteht: "[D]as eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens ..." (N 1887, 9/60; 12, 365). Trotz dieser Widerstände sucht Nietzsche das Werden zu begreifen, d. h. er bemüht sich, das Erleben des Werdens mitzuteilen. Die durchgängige Teilnahme am Werden erlaubt offenbar, sich über den Charakter dieses Geschehens, das einem widerfährt und das man zugleich auch selbst ist, zu verständigen. Einige der Merkmale erscheinen trivial, weil sie im Begriff des Werdens enthalten sind. Dies gilt für die Veränderung und alle ihre Erscheinungen in Raum und Zeit. Werden ist der Gegensatz des Beharrenden und Starren; es ist Bewegung, Wechsel, ständige Lösung und Bindung: Alles ist im Fluß. Und wenn dieses "alles" ohne Einschränkung gilt, dann hört das Fließen niemals auf, dann ist diese Veränderung überall, d. h. sie ist an jedem möglichen Ort und zu jeder möglichen Zeit. Das Werden ist grenzenlos. Was immer es darin auch an Festem und Begrenztem geben mag, es ist selbst nur eine 12
Auf eine interessante erkenntnistheoretische Parallele zu Leibniz hat ). Simon (Zum Problem des Bewußtseins bei Nietzsche, 1984, 17 - 33, 17 ff.) hingewiesen.
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gewordene Bedingung des Werdens. Alle Substanz ist nur scheinbar, ist nur eine mehr oder weniger kurzfristige Konstanz,13 ein begrenztes Übereinstimmen verschiedener Veränderungen, ein Zustand als Folge und Voraussetzung von Bewegung. So kann man auch den Selbsteinwand auflösen, der in der Bemerkung liegt, "der Begriff 'Veränderung' setzt schon das Subjekt voraus, die Seele als Substanz" (N 1885/86, 1/43; 12, 20). Es gibt nach Nietzsche keine Substanz, "vielmehr Etwas, das an sich nach Verstärkung strebt" (N 1887, 9/98; 12, 392) - eben dieses Etwas ist Macht. Zu den Implikationen des Begriffs gehört ferner, daß Werden nicht Einheit, sondern Vielheit ist. Werden ist Übergang des einen in ein anderes und allein dadurch schon von Einheit unterschieden. Vielheit gehört auch zu den unmittelbaren Erfahrungsbedingungen des Werdens; die Sinne geben uns fortwährend neue Eindrücke. Die "Dinge" - untereinander und in sich von unendlicher Vielfalt - sind bereits die in der Flut der sinnlichen Reize gebildeten relativen Konstanzen; und wenn es für eine Weile gelingt, sie stillzustellen, dann sind wir es selbst als sinnliche Wesen, die sich in vielfältiger Weise um die Dinge herum bewegen. Die Elemente sinnlicher Erfahrung drängen noch stärker vor, wenn das Werden die Merkmale der Entwicklung und des Zerfalls enthält. Dann nämlich ist nicht mehr bloße Veränderung gemeint, sondern Entstehen (und Vergehen) von Einheiten, d. h. Wachstum (sowie Niedergang und Tod) von organischen Gebilden. Der Begriff des Werdens stammt aus dem Bereich des Lebendigen, und es kann gar kein Zweifel sein, daß alles Werden und Vergehen ursprünglich nach Analogie der Erfahrung des Lebendigen gedacht ist. Das Lebendige steht hier sowohl im subjektiven wie auch im objektiven Genitiv. Im Erleben des Werdens sind Selbst- und Fremderfahrung ununterscheidbar. Erst aufgrund der sinnlich vermittelten Teilnahme am Lebendigen läßt sich der Begriff des Werdens auf alles, und damit auch auf das Unbelebte, übertragen. Nur durch Ablösung und Verselbständigung der werdend erfahrenen Einheiten entsteht der Begriff des Seins, wie Nietzsche dies oft beschrieben hat. Ohne diese Verdinglichung bleibt nur die Erfahrung des Werdens selbst, die gleichbedeutend ist mit der Erfahrung des Lebens, d. h. "(athmen) 'beseelt sein' 'wollen, wirken' 'werden'" (ebd., 9/63; 12, 369). Die in der sinnlichen Teilnahme am Leben erfahrenen Extreme, den Gegensatz der Reize, den Widerspruch der Gefühle, deutet Nietzsche als Kampf. Die Überzeugung vom agonalen Charakter des Daseins bestimmt schon die Anlage von Nietzsches erster Schrift: Die hellenische Kultur entsteht aus dem Gegensatz von Dionysos und Apoll. Bei der Begründung ist 13
W. Stegmaier hat dafür den Ausdruck "Fluktuanz" geprägt (Leib und Leben, 1985, 173 - 198). Inzwischen hat er diesen Begriff mit einigem Aufwand, wenn auch nicht sehr überzeugend, systematisch zu fundieren versucht (Philosophie der Fluktuanz, 1992). In der Auffassung, daß die erstaunlichere Tatsache darin besteht, daß es im Werden überhaupt momentan Bleibendes gibt, wähle ich in Analogie zum Begriff der "Substanz" den der "Konstanz". Er drückt das den Augenblick überdauernde Zusammenbestehen von Bewegtem aus. Ein sachlicher Widerspruch zu Stegmaiers Ausdruck ist damit nicht gegeben.
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Heraklit, der den Gegensatz auch noch im kleinsten Augenblick wirksam findet, sein Kronzeuge. Licht und Dunkel, Bitteres und Süßes ringen auch in der einzelnen Empfmdung noch miteinander; jede Qualität entzweit sich unablässig mit sich selbst. Die frühe Paraphrase der herakliteischen Lehre gilt auch noch für den Ansatz der späten achtziger Jahre: "Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden: die bestimmten, als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort." (PhtZ S; 1, 825) 1887 heißt es lapidar: "Alles Geschehen, alle Bewegung, alles Werden als ein Feststellen von Grad- und Kraftverhältnissen, als ein Kampf ..." (N 1887, 9/91; 12, 385). Alle "Metamorphosen des Seienden (Körper, Gott, Ideen, Naturgesetze, Formeln usw.)", vor allem aber "'Ursache und Wirkung'", lassen sich auf den "Kampf der Werdenden" zurückführen (N 1886/87, 7/54; 12, 312 f.). Wie aber ist unter diesen Bedingungen der Aufbau von Einheiten überhaupt noch zu verstehen? Werden, in der vorgetragenen Form, bleibt wesentlich negativ bestimmt. Es besagt, daß nichts bleibt, daß alles vergeht. Freilich kann darin bereits ein Trost enthalten sein, vielleicht auch das Versprechen, alles sei noch möglich - allerdings eingeschränkt durch das Eingeständnis, daß auch das Höchstmögliche keinen Bestand hat. Schlußfolgerungen wie diese offenbaren aber auch nur die negatorische Potenz in der Vorstellung des Werdens. Mit der Idee einer Ordnung des Seins destruiert sie alle Varianten der Geschichtsteleologie. Ihre theoretischen und ihre praktischen Konsequenzen hat sie in der Verweisung auf den Augenblick, auf das, was jetzt ist und wird. Denn die Besinnung auf den Anfang oder das Ende des Prozesses bleibt ohne Anhaltspunkt. Nietzsche hat diesen Effekt durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft in eine geschlossene Form zu bringen versucht und damit anschaulich gemacht, daß die nicht faßbaren Enden des unendlichen Werdens im gegenwärtigen Augenblick zusammengebogen sind. Dadurch tritt die Auszeichnung der Gegenwart in extremer Weise hervor, aber nötig ist eine solche Akzentuierung keineswegs. Wer den Gedanken ernsthaft denkt, erliegt nur noch einmal der platonischen Faszination durch die Ewigkeit. Es reicht daher ihm gegenüber aus, die gegen Piaton gewendete aristotelische Frage zu wiederholen, ob denn eine Sache besser werde, wenn sie ewig währt. Auch ohne die Wiederkunftslehre ist die Gegenwart der einzige ausgezeichnete Ort des Werdens. Um so bedeutsamer aber wird die Frage, wie es im fortwährenden Fluß des Werdens überhaupt zu Einheiten kommen kann. Die Antwort führt nicht auf die Gegenstände oder Prinzipien, sondern geht zurück auf das Einheiten organisierende sinnliche Wesen, d. h. auf den "Menschen", besser gesagt, auf den "Leib" oder, wie es auch heißt, auf die lebendige "Vielheit von Kräften", die "durch einen gemeinsamen Ernährungs-Vorgang" verbunden und somit für eine gewisse Zeit Einheit geworden ist (N 1883/84, 24/14; 10, 650). Der Mensch mit seinem "Fühlen, Vorstellen, Denken" ist der Ursprung der Organisation aller im Werden
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zeitweilig auftretenden Einheiten. Als "formenbildendes Geschöpf schafft er sich die "'Eindrücke' " durch Vereinfachung und Verbindung, und zwar durch "Figuren", die er selbst hervorbringt. Man ist versucht, von transzendentalen Schemata der Einbildungskraft zu sprechen, wenn man diese Ausführungen liest: "Die Gestalten und Formen, die wir sehen und in denen wir die Dinge zu haben glauben, sind alle nicht vorhanden. Wir vereinfachen uns und verbinden irgend welche 'Eindrücke' durch Figuren, die wir schaffen." (ebd., 651) Zur Formenbildung gehört auch die Fähigkeit, Rhythmen zu geben, wie sie der Mensch als ein "rhythmen-bildendes Geschöpf in alles Geschehen hineinzulegen vermag. Die Rhythmen sind der Rahmen der Wirklichkeit. Nur was ihrem Takt sich fügt, gewinnt Gestalt, wird unterscheidbar und hat schließlich eine anscheinend in sich bestimmte Einheit (ebd.). Die Möglichkeit dazu gewinnt der Mensch aufgrund der Tatsache, eine "widerstrebende Kraft: in Hinsicht auf alle anderen Kräfte" darzustellen (ebd.). Gewiß teilt er diese Eigenschaft mit allen anderen lebendigen Wesen, was aber nur den ohnehin naheliegenden Schluß erlaubt, daß auch die anderen Wesen "ihre" Einheiten bilden. Die Besonderheit der menschlichen Welt kommt erst durch die spezifischen Bedingungen der menschlichen Lebensorganisation zustande. Die Suche nach Widerstand ist allgemein, kann sich jedoch auch in humaner Praxis in vielfältigen Formen ausprägen: Alles Lebendige "braucht [...] etwas, das sich entgegenstellt" (N 1888, 14/174; 13, 360). In der Überwindung des Widerstands erfährt es das "ein plus von Macht", welches somit als elementare Bedingung hinter jeder Einheit im Werden anzusehen ist. Die Formenbildung im ewigen Wirbel der Welt ist eine Folge des Machtstrebens, das mit der Opposition von Kräften offenbar notwendig gesetzt ist: "Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung: das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, was ihm widerstrebt - nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben: - das, was man 'Ernährung' nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden" (ebd.).
4. Das Werden als Machtgeschehen Fragen wir nicht, was die elementare Lebenseinheiten bildende Machteinheit selbst wieder ermöglicht! Die Vielfalt von Machtquanten, die jeweils für sich stärker werden wollen, gehört zu den Gegebenheiten des Lebens. Die Fragen werden erst sinnvoll, wenn sie sich auf das Verhältnis der einzelnen Mächte zueinander beziehen. Zur Charakterisierung der Einheiten muß es genügen, daß sie auf Überwältigung, Einverleibung und Stärker-werdenWollen angelegt sind. Diese Kennzeichnung reicht tiefer als die Kriterien der Selbsterhaltung
4. Das Werden als Machtgeschehen
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oder der Ernährung. Alle weiteren Rückschlüsse auf die Bewegungsbedingungen des Organischen sind problematisch, weil sie noch deutlicher vom Denken, Wollen und Fühlen des Menschen durchsetzt sind. Die menschlichen Erkenntnisinstrumente aber stellen ein "Ende" einer Entwicklung dar und geben den Blick auf die Anfange und Zwischenstationen nur in begrenztem Umfang frei (N 1884, 25/326; 11, 96). Möglich ist auch, daß sie alles verstellen. Sogar das Außermenschliche muß als ihre Erfindung beargwöhnt werden. Die Befangenheit im Leben verführt ferner dazu, das Werden als Aufbau und Verfall von organischen Einheiten anzusehen. "Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg" - also alles das, was die "Realität" der "Welt" ausmacht (N 1888, 14/153; 13, 337) erscheint als Inbegriff des Lebens. Aber man muß zumindest hypothetisch über die Grenze des Lebens hinausgehen und das Werden so umfassend denken, daß selbst das Leben noch als Sonderfall des Werdens gelten kann. Die Sinne lassen uns die Empfindungen als "das Innere" erfahren und die toten Dinge als "äußerlich". Aber vielleicht ist das "grundfalsch", vielleicht ist "in der empfindenden Welt alles falsch"? (N 1881, 11/70; 9, 468). Möglicherweise ist es nur der Eigendünkel der lebendigen Wesen, wenn sie dem Toten den Anfang der Bewegung nicht zutrauen? Diese Frage ist Nietzsche Anlaß genug, zur Aufgabe der Selbstverliebtheit in die eigenen Empfindungen aufzufordern und in einem Akt der "Selbstverneinung" die "todte Welt" als ewig bewegt und ursprünglich anzunehmen: "Der Tod ist umzudeuten^. Wir versöhnen [uns] so mit dem Wirklichen d. h. mit der todten Welt." (ebd.) doch auch die tote Welt müßte noch als eine Welt des Werdens gedacht werden, in welcher das Gegeneinander von Kräften alles in Bewegung hält. Der Entwurf der "todten Welt" ist ein Grenzgedanke Nietzsches, den er zur Relativierung des unvermeidlich anthropozentrischen Ausgangspunktes einsetzt, eine Verfremdung, die zur metaphysischen Selbstbestimmung des Menschen unerläßlich ist. Verfremdung liegt bereits in der "Fabel", mit der er die Schrift über Wahrheit und Lüge einleitet: "In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden." (WL 1; 1, 875) Verfremdend ist auch die Rede vom "Übermenschen" oder eben von der Grenzenlosigkeit des Werdens. Dieser gedankliche Übergriff auf das ganz andere des Menschen ist nicht mehr als eine Erprobung der eigenen Macht, ein humaner Selbstversuch, den der Mensch zur Übung und Stärkung seiner Kräfte nötig hat. Die gedankliche Essenz in Nietzsches anthropofugalen Spekulationen liegt in der metaphysischen Standortbestimmung des Menschen. Ein Experiment der Selbstüberwindung liegt bereits darin, das Werden zu denken. Dazu nämlich ist das Gewohnte, Feste und Beharrliche zu verflüssigen, ist der eingefleischte Glaube an Beständigkeit und Ordnung beiseite zu schieben. Allein der Aufwand für dieses Denken lehrt, was es heißt, sich im Werden zu halten. Vielheit, Wechsel, Gegensatz zu ertragen, ist bereits Beweis einer Macht, die über die bloße Einheitsstiftung schon deshalb hin-
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IX. Die Metaphysik des Werdens
ausgeht, weil in der Erfahrung des Werdens die Bindung an Formen, Rhythmen, Gestalten etc. vorausgesetzt ist. Das Werden zu denken, fordert die Kraft zur Destruktion der selbstgeschaffenen Einheiten. Die im Schaffen geforderten Kräfte werden noch einmal herausgefordert, wenn es gilt, das zuvor Geschaffene nunmehr als ein Flüchtiges anzusehen. Die Selbstüberbietung der intellektuellen Kräfte liegt dann schließlich darin, dieses Werden vom Menschen gänzlich abzulösen, sich "die Vortheile eines Todten" zu verschaffen und sich dann aus der Menschheit wegzudenken (N 1881, 11/35; 9, 454). Das "Fest" intellektueller Eigenmacht kann dann darin bestehen, "aus dieser Welt in die 'todte Welt' überzugehen" (ebd., 11/70; 9, 468). Der Übergang ins extreme Gegenteil seiner selbst wäre nicht bloß auszuhalten, sondern sogar zu feiern und so zur höchsten Übereinstimmung mit sich selbst zu bringen. Was aber dieser Effekt von Gedanken für den Denkenden bedeutet, läßt sich erst dann abschätzen, wenn das Gedachte selbst in seiner Eigenart verstanden ist. Erst wenn alles Werden als eine fortwährende Änderung von Machtverhältnissen begriffen ist, wird man einsehen können, daß die Überzeugungskraft der ganzen Darstellung daran hängt, auch noch die Darstellung selbst als ein Machtgeschehen verstehen zu können. Wenn alles Werden ist, gehört auch das Begreifen des Werdens zum Werden, und wenn jedes Element des Werdens als eine Macht verstanden werden muß, dann haben auch Denken, Erkennen und Fühlen als Elemente des Werdens und damit als Mächte zu gelten. - Im folgenden ist zu zeigen, daß Nietzsche in der Tat das Werden als ein Machtgeschehen vorstellt. Der Weltbegriff mit der geringsten menschlichen Zutat ist die "formlos-unformulirbare Welt des Sensationen-Chaos" (N 1887, 9/106; 12, 396). Ganz frei von menschlichem Erfahrungsdenken ist auch diese Grenzvorstellung "einer andere[n] Art Phänomenal-Welt" (ebd.) nicht, wie Nietzsche sehr wohl weiß. Vielheit und Wechsel gibt es auch hier, aber nur auf der Basis der Empfindung, d. h. des wie auch immer sich vollziehenden Austausches mit dem sensiblen Wesen selbst. Schon dieser Austausch ist ein Machtgeschehen, ein Mit- und Gegeneinander von Mächten, die sich aktiv aufeinander beziehen. " 'Scheinbarkeit' ", so heißt es in einer Notiz, ist eine "spezifische Aktions-Reaktions-thätigkeit" (N 1888, 14/184; 13, 370). Die scheinbare Welt, die alles ist und keine anderen Welten neben sich braucht, ist ein Produkt der Machtansprüche des wahrnehmenden und auswählenden Wesens. Sie "reduzirt sich [...] auf eine spezifische Art von Aktion auf die Welt, ausgehend von einem Centrum" (ebd., 371), hinter dem letztlich nur das Streben nach "Macht-Steigerung" steht (ebd., 370). Damit ergibt sich die Erfahrung des Werdens erst mit der Machtentfaltung einer aktionsfähigen, d. h. natürlich auch: einer zu Reiz und Reaktion tauglichen Einheit. Diese Erfahrung ist zugleich die unmittelbar gewisse Veränderung, in der sich die Einheit in Verbindung mit allem anderen als werdend weiß. Diese Einsicht wäre jedoch zu eng gefaßt, wollte man nur das empfindende Wesen als Macht begreifen. Vielmehr muß jede unterscheidbare Einheit als Machtgebilde angesprochen
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werden, denn nur das wird im Wechsel der Sensationen unterschieden, was selbst Macht ausübt. Jeder sinnliche Eindruck setzt einen Widerstand voraus, fordert also eine gegen die ausgreifende Macht auftretende andere Macht. Macht ist also auf beiden "Seiten" der Empfindung, beim "Gegenstand" und beim sensiblen "Bewußtsein". Sie ermöglicht es, Eindrücke zu haben und Eindruck zu machen. Folglich ist alles, was im Werden als relative Einheit sich behauptet, eine Macht. Werden ist ein Austausch von Machtquanten und damit ein unendlich differenziertes Machtgeschehen, in dem es keine Substanzen, sondern nur Konstanzen von mehr oder weniger kurzer Dauer gibt. Vor diesem Hintergrund ist es kaum mehr als eine Selbstverständlichkeit, wenn auch die einzelnen Komplexe im Prozeß des Werdens in Kategorien der Macht beschrieben werden. Das Lebenz. B. ist "Ausdruck von Wachsthumsformen der Macht" (N 1887, 9/13; 12, 345). Die Vorgänge in der elementaren lebendigen Substanz, dem Protoplasma, werden "anorganisirend" genannt, womit gemeint sein soll, daß sie Macht ausüben, um ihre Macht zu stärken (ebd., 9/145; 12, 420). Diese Macht wird auch hier nur in der gelingenden Überwältigung erfahren: "Die Aneignung und Einverleibung ist vor allem ein Überwältigen-wollen, ein Formen, An- und Umbilden, bis endlich das Überwältigte ganz in die Macht des Angreifers übergegangen ist und denselben vermehrt hat." (ebd., 9/151; 12, 424) Im Wechsel gelingender und scheiternder Überwältigung ergibt sich dann das "Spiel von Widerstand und Sieg", welches Nietzsche als die Quelle der Lust ansieht, "jenes Gesammtgefühl von überschüssiger überflüssiger Macht" (N 1888, 14/173; 13, 358). Alles lebendige Geschehen ist somit ein "Fortgang zu höherer Macht" (N 1887, 9/100; 12, 392), ein Prozeß der keine Ziele kennt, der alles, auch das relative Ziel der "höheren Mächt", zum Mittel werden läßt. Die Macht ist also als das eigentliche Element des Werdens anzusehen: Alles, was wird, wird es als Macht. Die Macht steht am Anfang wie am Ende jeder Bewegung. Wenn sich gänzlich neue Mächte bilden, dann geschieht das nur auf der Basis älterer, vielleicht zerfallender, vielleicht in Grenzen relativierter Mächte. Verschwindet eine Macht, treten unverzüglich Nachfolger auf den Plan. Das Machtvakuum gibt es nur in der politischen Metaphorik. Macht ist auch insofern für das Werden elementar, als jede Veränderung nur als Veränderung in den Machtbeziehungen vor sich geht. Die Mächte sind keine eng nebeneinanderliegenden Größen, deren Bewegung sich notwendig dem jeweiligen Nachbarn mitteilt, sondern ihr Wesen liegt in der Beziehung auf andere Mächte. Jede Bewegung und jedes Beharren geschieht im Hinblick auf andere Mächte. Was sie sind, sind sie nur in Relation auf andere. Die fundamentale Rolle der Macht zeigt sich schließlich auch darin, daß selbst das Erleben des Werdens als Machtgeschehen begriffen werden muß. Jeder Reiz und jede Reaktion ist eingebettet in wechselseitige Aktions Verhältnisse, in denen sich Mächte gegen- und miteinander behaupten.
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IX. Die Metaphysik des Werdens
Die Auslegung allen Geschehens als Machtgeschehen mag wie eine prätentiöse Verdoppelung der einfachen Realität des Werdens erscheinen. Vorausgesetzt man zweifelt nicht an der Vielheit und Veränderlichkeit von sinnlichen Eindrücken, dann kann es nur befremden, wenn nicht diese Gewißheit, sondern nur die mit einigem theoretischen Aufwand eingeführte Machterfahiung an den Anfang gestellt werden soll. Die Tatsache des Geschehens ist das erste; Machtgeschehen ist zunächst auch nur ein Geschehen und kann demgegenüber nur das spätere sein. Welchen Sinn hat es dann, das Abgeleitete an den Anfang zu stellen? Die Erklärung folgt aus dem Status der Behauptung einer Universalität des Machtgeschehens: Auch diese Behauptung ist Interpretation, ist ein Zurechtlegen und Begreiflichmachen nach einem leitenden Gesichtspunkt. Die Macht wird dem erlebten Wechsel der Ereignisse "hypothetisch" - wie Nietzsche gerne sagt - unterlegt, um sie im einzelnen wie im ganzen zu verstehen. Dabei entspricht das Interesse an der einheitlichen Deutung dem seit je wirksamen Erkenntnisinteresse der Philosophie. Die Macht rückt an die Stelle eines Prinzips, aus dem die besonderen Daten des Geschehens verständlich werden sollen; sie kann nach Analogie der ersten Ursachen zur Deutung des erfahrenen Geschehens eingesetzt werden. Insbesondere im Blick auf den in jeder Macht treibenden Willen zur Macht kann sie zum Verständnis dessen führen, was in teleologischen Ansätzen die letzten Zwecke bedeuten.
5. Die konstanten Strukturen der Macht Die Parallele zu den überlieferten metaphysischen Grundbegriffen soll hier nur dazu dienen, Argwohn zu zerstreuen. Die Auslegung allen Geschehens als Machtgeschehen kann als ein Typ des philosophisch schon immer intendierten Erklärungs- und Begründungsvorgangs angesehen werden, der formal nichts Abweichendes enthält. Ob jedoch die Darstellung des Werdens als Machtgeschehen im formalen Rahmen einer Rückführung auf ein Prinzip verbleibt, ist erst zu beantworten, wenn die theoretische Leistung des Machtbegriffs umrissen ist. Dies soll im folgenden geschehen. Im Vorgriff aber läßt sich sagen, daß die Macht über die Funktion eines allgemeinen Erklärungsprinzips hinausgeht. Sie ist nicht nur der Grund für Veränderung und Vielheit, nicht bloß die hier Konstanz genannte relative Substanz im Wechsel des Werdens und gibt nicht nur das Gesetz, nach dem sich aller Wandel vollzieht, sondern sie ist auch das sich wandelnde Einzelne selbst. Sie soll Eines und Vieles bedeuten und bedeutet in beiden Fällen Wirkliches, ohne es als Wirklichkeit an sich zu behaupten. Macht soll das Prinzip der Veränderung und das Veränderte in einem sein, soll, wie das kosmologische Feuer Heraklits, allgemein und individuell zugleich, als alles, aber auch als nichts verstanden werden, ohne deshalb beliebig zu sein. Und nur wenn ihr diese extreme
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Bedeutungsspanne tatsächlich zukommt, kann sie als Grundbegriff einer perspektivischen Metaphysik fungieren, die sich den Sirenenklängen des ewigen Werdens mit offenen Ohren und an kein Seiendes gefesselt aussetzt. Nietzsche kann dann durchaus den Willen zur Macht als die "Essenz" der Welt (J 186; 5, 107) oder als "innerstes Wesen des Seins" (N 1888, 14/80; 13, 260) bezeichnen, ohne in Widerspruch zu seinen Prämissen zu geraten. Nietzsche hat keine eindeutige Terminologie für den "Prozeß" des Geschehens, für die "Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen" und dergleichen mehr. Eindeutig ist nur die Negation objektivierender Festlegungen, wie er sie im Glauben an die Realität von Ursache und Wirkung gegeben sieht. Durchgängig ist die Kritik metaphysischer Verdinglichung, eine Kritik freilich, die immer wieder vor dem Problem steht, sich auf sprachliche Wendungen stützen zu müssen, deren Fundament durch die Kritik gerade unterlaufen wird. Er begegnet dieser mit der Sprache unvermeidlich gegebenen Schwierigkeit durch ständig wechselnde Angriffsrichtungen der Kritik: Um den Glauben an die Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung zu treffen, muß er sagen, "'Zufall' existirt wirklich" (N 1885/86, 2/167; 12, 152). Um aber dem damit nahegelegten Schluß auf die reale Existenz von Zufällen oder auf die Realität von etwas überhaupt entgegenzutreten, betont er in anderen Zusammenhängen die "Notwendigkeit" des Ganzen und den "Schein" der Welt. Wer daraus aber die Gegebenheit des "Ganzen" oder der "Welt" ableiten wollte, hätte mit Nietzsches Protest zu rechnen. In diesem ständigen Kreisen der Kritik, die weder den Willen noch den Leib, weder das Leben noch das Werden ausnimmt, bleibt einzig die Macht verschont. An keiner Stelle sagt Nietzsche, daß es die Macht nicht gebe. Damit ist weder eine Nachlässigkeit aufgedeckt noch ein Arcanum seiner Metaphysikkritik aufgespürt. Die Macht steht kaum in der Gefahr ontologischer Hypostasierung. Ihre offenkundige Relativität, ihre implizite Verweisung auf einen Träger "hinter" und auf Ziele "vor" ihr, ihre Stellung als Integral von Möglichkeiten geben ihr einen eigentümlich schwebenden Charakter, der sich sofort verflüchtigte, wollte man sie als an sich seiende Realität behaupten. Auch ohne erläuternde Zusätze ist der Machtbegriff gegen metaphysische Substantialisierungen solange geschützt, als seine agonalrelationale Bedeutung bewußt ist. Außerdem hätte es auch heute noch den Charakter einer Provokation, wollte man die Macht in den metaphysischen Rang einer Substanz erheben. Deshalb spreche ich im folgenden, in den meisten Fällen auf Nietzsches eigenen Wortgebrauch gestützt, nur von der Macht und nicht vom Willen zur Macht. Damit ist keine sachliche Korrektur beabsichtigt. Die Analyse beider Begriffe hat gezeigt, daß der Wille zur Macht nur eine Explikation der Macht darstellt. Folglich geht nichts verloren, schon gar nicht der Wille, wenn nur von der Macht im Werden die Rede ist. Der Begriff der Macht, so hat sich immer wieder gezeigt, ist Ausdruck für ein Verhältnis. Er ist untauglich, einen Gegenstand als Gegenstand zu benennen, bietet sich aber immer an, wenn es um eine Beziehung geht, die ein tatsächliches oder mögliches Geschehen erklären
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IX. Die Metaphysik des Werdens
soll. Dabei fungiert die Macht, so sehr man auch verführt ist, in ihr das Subjekt des Geschehens anzusprechen, letztlich stets als Mittel des Übergangs von einem Zustand in einen anderen. Auch dort, wo die Macht als Garant einer stabilen Ordnung gelten kann, sichert sie Übergänge, verknüpft sie Zustände im Hinblick auf mögliche Bewegungen. Sie ist das letztlich jeder tatsächlichen oder möglichen Veränderung zu unterstellende Mittel, das, wie wir im ersten Zugang sagen konnten, universale Medium. Wenn man es in dieser Funktion als Urheber hinter tatsächlichen oder möglichen Wirkungen apostrophierte, wäre es das substantialisierte Mittel, wörtlich: das zum Träger gemachte Zwischen, also der Zwischenträger schlechthin. Der Machtbegriff ist also a priori auf Bewegung, Veränderung, Wechsel von Situationen bezogen. Dabei stellt er, wie jeder Begriff, etwas fest, dies aber nur im Hinblick auf Veränderung. Alle denkbaren Funktionen der Macht sind auf die Ermöglichung von Geschehen bezogen. Man kann sich freilich eine Auffassung vorstellen, welche die Starrheit und Unnachgiebigkeit der Macht betont. Nicht von ungefähr sind Befestigungen aller Art, das Übergroße und Schwere, zu Symbolträgern der Macht geworden. Aber Bewegung ist auch hier konstitutiv. Nur aus der Perspektive des Opponenten, den die Übermacht an der eigenen Machtentfaltung hindert, erscheint es so, als rühre sich nichts. In Wahrheit ist auch hier alles von der Bewegung her bestimmt, egal ob man die Macht nun als träge Masse alles andere niederwalzen oder allen Widerstand unbeweglich abwehren sieht. Die den Begriff fundierende Erfahrung ist allemal die der Bewegung. Stets geht es um den möglichen Bewegungsspielraum und damit um die Rolle im wechselnden Geschehen des Werdens. Sobald sich ein Element des Werdens im ständigen Wechsel auch nur einen Moment lang erhalten will, braucht es Mittel, um die disparaten Ereignisfolgen zusammenzuhalten. Der generelle Begriff für alle diese Mittel ist Macht. Also ist es das Werden in der von Nietzsche vertretenen Allgemeinheit, welches an Macht zu denken nötigt, sobald es Einheiten gibt, die "werden", die sich in der unvermeidlichen Veränderung gleichwohl durchhalten wollen. Der Relationsbegriff der Macht verlangt in allen seinen Funktionsstellen veränderliche Größen - mit einer Ausnahme, wie es scheint: Das Subjekt, das sich durchhalten will und das deshalb nach Macht verlangt, muß doch unveränderlich sein. Doch gerade diese Annahme ist nicht mehr nötig, wenn die Macht als das universelle Medium des Werdens erkannt wird. Wie sich gezeigt hat, ist sie bereits beim Erleben von Bewegung und Wechsel im Spiel. Daß sich etwas verändert, wird erst in der Konfrontation und Koordination von Machtgrößen wahrgenommen. Entsprechendes gilt für die Erfahrung der Beharrung. Auch sie ist nur relativ auf ein Veränderliches. Hierbei ist nicht die Differenz in den Bewegungsgrößen ausschlaggebend, also nicht die Tatsache, daß das vermeintlich Beharrliche vergleichsweise langsam ist. Entscheidend ist vielmehr die Positionsbestimmung gegenüber dem
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Mittel: Wer über die Mittel verfügt, unterstellt sich als identisch, im prinzipiellen Unterschied zu allem, woraufhin und worüber er verfügt. Die Identität könnte demnach erst in Abhängigkeit von Machteinsatz entstehen. Der aber ist es gerade, in dem sich das "Subjekt" verändert. Dadurch verliert das die Macht einsetzende Zentrum auch die Position relativer Ruhe. Nur sofern es anderes bewegt, bewegt es sich. Und nur sofern es anderes bewegt, "ist" es überhaupt. Im übrigen ist es im Werden unablässig bewegt. Demnach ist auch die Funktionsstelle des Subjekts nicht von etwas Starrem besetzt. Das Subjekt der Macht ist nur insofern "ruhig", als es seine spezifische Form der Bewegung in der allgemeinen Bewegung des Werdens bewahrt, d. h. als Organisation von Veränderung.14 Wenn wir die instrumentelle Position der Macht nicht mit der substantiellen Funktion des Subjekts verwechseln, wird die Relativität ganz von selbst zum beherrschenden Kennzeichen. Ist die Trägerschaft nur aus der Mittelstellung der Macht erschlossen, kann an ihr nichts von ewiger Dauer sein. Aus der Perspektive der Macht benötigt das Instrument die Bedienung, nicht umgekehrt. Ist der Einsatz nicht mehr gefragt, erledigt sich auch die Frage nach dem Personal. Der Substanzbegriff ist eine Folge des Subjektbegriffs; das Subjekt aber ist nur eine Folge der Tat, eine Fiktion, die wir bilden, sofern wir etwas "Gleichsetzen und Zurechtmachen" (N 1887, 10/19; 12, 465). Rechnet man die Tätigkeit vom Täter ab, so bleibt von ihm nichts mehr übrig. Nur sofern wir Macht haben, haben wir uns. Die machtvolle, d. h. organisierende, Einheiten bildende Teilnahme am Werden legt sich als Tätigkeit aus, und erst aus dem "Thun" erwächst der "Glaube an den Thäter" (N 1886/87, 7/1; 12, 250). "Die älteste und längste Psychologie war hier am Werk, sie hat gar nichts Anderes gethan: alles Geschehen war ihr ein Thun, alles Thun Folge eines Willens, die Welt wurde ihr eine Vielheit von Thätern, ein Thäter (ein 'Subjekt') schob sich allem Geschehen unter. " (GD, Irrthümer 3; 6, 91) Aus dem mehr oder weniger intensiven Werden im Werden wird alles andere erschlossen: "Unser Grad von Lebens- und Machtgefiihl (Logik und Zusammenhang des Erlebten) giebt uns das Maaß von 'Sein', 'Realität', Nicht-Schein. " (N 1887, 10/19; 12, 465) Ähnlich wie Substanz und Subjekt sind auch Ursache und Zweck aus der erlebten Teilnahme am Werden ermittelt. Ursachen entstehen nach Nietzsche aus dem Glauben an die "'innere[] Thatsachef]"' des Willens, der aber selbst nur zu den "Trugbilder[n] und Irrlichterfn]" der "'innerefn] Welt'" gehört: "Der Wille bewegt nichts mehr, erklärt folglich auch nichts mehr - er begleitet bloss Vorgänge [...]" (GD, Irrthümer 3; 6, 91). Die Vorstellung "[...] substance makes change intelligible since substance is that unchanging ground which stands beneath change and connects the terms of change so that one can be said to change into or give way to the other. Power also changes, and again in this sense it is not substance." (F. M. Aitken, The Concept of Power in Nietzsche's Ethics, 1970, SI) - Die Geltung der Substanz-Kategorie in der Fassung Kants ist davon nicht berührt. Macht ist keine Substanz im kategorialen Sinn; sie ist der sich selbst in die Bewegung einbringende Träger der Bewegung.
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der Ursache entspringt auch bloß der Begleitung von Vorgängen. Wir kennen nur die "unabänderliche Aufeinanderfolge gewisser Erscheinungen" (N 1885/86, 2/139; 12, 135). Es ist eine menschliche Zutat, eine "Mythologie", darin "Ursachen" und "Wirkungen" zu unterscheiden. Strenggenommen sagt man mit dem Begriff des "Nacheinander" schon zuviel; "Ineinander" wäre angemessener (ebd., 136). Sucht man nach Anhaltspunkten für das Verständnis dieses "Ineinander", so stößt man auf den Ausdruck "Machtverhältniß" (ebd., 135). Was wir als hintereinanderfolgende Ereignisse begreifen, ist die Abhängigkeit von MachtVerschiebungen "neben und miteinander" (ebd., 2/143; 12, 137). Natürlich ist auch die Metaphorik von in-, mit- und nebeneinander nicht unproblematisch. Aber sie paßt zur Perspektive der Machterfahrung, die zumindest die raumkonstitutive Abgrenzung zwischen außen und innen voraussetzt und an das Gegeneinander verschiedener Mächte gebunden ist. Für ein "Kraftatom", so heißt es einmal, komme "nur seine Nachbarschaft in Betracht: die Kräfte in der Ferne gleichen sich aus" (N 1885, 36/20; 11, 560). Dabei muß der Raum, dem Nietzsche schon früh, ähnlich wie der Kausalität und der Zeit, den Status einer "Veritas aeterna" abspricht (PhtZ 11; 1, 846), nicht als vorgegeben unterstellt werden. Es genügt, wenn der Raum mit der Kraft - als ein "Substrat der Kraft" (N 1885, 36/25; 11, 561) - entsteht und als eine für die menschliche Erfahrung sinnlich notwendige Bedingung angesehen wird. Analoges gilt für die Vorstellung der Zeit, der bei der Begründung des Wiederkunftgedankens eine besondere Funktion zukommt. Sie ist ewig, aber "an sich" gibt es sie nicht (ebd.).15 Der Wille zur Macht gilt als die Kraft "hinter" jeder Ursächlichkeit: "Ich brauche den Ausgangspunkt 'Wille zur Macht' als Ursprung der Bewegung. Folglich darf die Bewegung nicht von außen her bedingt sein - nicht verursacht..."
(N 1888, 14/98; 13, 274). Den ein-
zigen Anhaltspunkt für die Wirksamkeit von Ursachen findet Nietzsche in der "subjektiven Überzeugung, daß wir Ursache sind", daß der Mensch sich für den Urheber seiner Bewegungen hält. Aber darin liegt eben die Selbstüberschätzung des Menschen, der ein "Gefühl von Kraft, Anspannung, Widerstand, ein Muskelgefühl, das schon der Beginn der Handlung ist", als Ursache mißversteht (ebd.). Im wirklichen Geschehen kommen Ursachen gar nicht vor. Es gibt nur verschiedene Gradationen von Machtgefllhl, und es gibt Veränderungen. Aus der Koinzidenz von Veränderungsfolgen mit bestimmten Machtgefühlen ("Willens-Gefühl", "Verantwortlichkeits-Gefühl", "Absicht") folgern wir die Ursächlichkeit des einen Zustande für einen anderen: "Wir suchen nach Dingen, um zu erklären, weshalb sich etwas verändert hat. " Aber das Gesuchte ist nirgendwo vorhanden. Zustände, die von sich aus auf andere übergreifen, gibt es nicht, "[a]us einer nothwendigen Reihenfolge von Zuständen folgt nicht deren Causal-Verhältniß" (ebd., 275). Wollte man nämlich einen Übergang von
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J. Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, 1959, 57 - 100.
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Zustand zu Zustand annehmen, dann müßte man zu einer Hilfsvorstellung von springenden Vermögen Zuflucht nehmen und hätte damit gerade das vorausgesetzt, was mit der Kausalität endgültig verabschiedet werden sollte: eine natura saltans. Sollte tatsächlich aus der Reihenfolge von Zuständen deren kausale Relation folgen, dann hieße das, "deren wirkende Vermögen von 1 auf 2, auf 3, auf 4, auf 5 springen zu machen" (ebd.). Entsprechend aussichtslos ist es, dem Begriff der "WirkunglJ" (ebd.) reales Sein zu unterstellen. Denn wo es Wirkungen gibt, müssen Ursachen sein; wenn also das eine nur eine "Selbsttäuschung" (ebd., 274) ist, ist auch das andere nichts als eine Illusion. "In summa: ein Geschehen ist weder bewirkt, noch bewirkend" (ebd., 275).
6. Leiblichkeit und Perspektive Wer gewohnt ist, alles Geschehen als eine Kette von Ursachen und Wirkungen zu sehen, dem muß diese Abwehr wie eine Absage an das Werden erscheinen. Was bleibt von der Bewegung, wenn man den Impuls nicht mehr mitdenken darf? Was ist Veränderung, wenn nicht Wechsel zwischen Zuständen, und wie ist der möglich, wenn "zwischen" den Zuständen nichts wirkt? Mit der Kausalität scheinen die Kontinuität schaffenden Übergänge verloren, ohne die das Werden zum Stillstand kommt. Doch der Schein trügt. Nietzsches Kritik der Ursache-Wirkungs-Kette geschieht sogar in der Absicht, den Zusammenhang allen Geschehens sichtbar zu machen und damit die Uneingeschränktheit des Werdens zu verteidigen. Die Rechtfertigung des Werdens liegt in der absoluten Äquivalenz eines jeden Augenblicks. Weder darf eine Zukunft auf Kosten der Gegenwart, noch darf eine Gegenwart zu Lasten der Vergangenheit bevorzugt werden (N 1887/88, 11/72; 13, 34). Jeder Moment ist jedem anderen gleichwertig. Damit ist die Erklärung des Ganzen durch eine Ursache oder durch ein Ziel ausgeschlossen. Das Werden verträgt sich weder mit der Vorstellung einer "übergreifenden, beherrschenden Gesammtgewalt" noch mit der eines "ersten Motors" (ebd.). Folglich ist nicht nur ein Gott in jeder nur denkbaren Variante, sondern auch das Seiende überhaupt unverträglich mit dem Werden. Die "summirende Macht" (ebd., 35) eines Gottes stellte das Ganze gewissermaßen von außen still, weil sie Ordnungen schaffen würde, mit den Ordnungen aber Auszeichnungen, die der Äquivalenz der Momente widersprächen. Das gleiche Argument trifft das Seiende überhaupt. Denn sobald man Seiendes zuläßt, muß man sich auf die Unterscheidung zwischen "wahrer" und "scheinbarer" Welt mit allen ihren Konsequenzen einlassen. Letztlich wird dann das Werden zum Schein, obgleich doch gerade umgekehrt gilt: "das Werden ist kein Scheinzustand; vielleicht ist die seiende Welt ein Schein" (ebd.).
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IX. Die Metaphysik des Werdens
Die Kritik der Kausalität dient der Verteidigung dieser These. Ursächlichkeit ins Große gerechnet, vernichtete die Gleichwertigkeit der Ereignisse und führte damit zum Stillstand allen Geschehens. Aber auch unter überschaubaren Bedingungen - etwa für den von Kant abgesteckten Bereich der Erfahrung - wird der Kausalität keine Erklärungskraft zugebilligt, auch hier offenbar in der Überzeugung, daß die Aufteilung in das Nacheinander von verursachenden und bewirkten "Zuständen" mit der Gleichzeitigkeit auch die Gleichwertigkeit der Augenblicke aufhebt und so die Bewegung gerade nicht erklärt (vgl. Ν 1888, 14/98; 13, 274 ff.). Die aus Ursachen zusammengesetzte Natur müßte "springen", wenn sie sich noch bewegen wollte. Dieses kaum ausgeführte Argument Nietzsches paßt gut zu seiner Kritik an den äußeren Kraftkonzeptionen der physikalischen Welt. Auch diese Welt, wäre sie tatsächlich existent, hätte regungslos zu sein, denn eben jene Triebkraft, aus der alle Bewegung kommt, der von innen ausgreifende Wille zur Macht, hat in ihr keinen Platz. Diese Welt wäre ein reines Außen, ein bloßes Nebeneinander von Dingen, die folglich ohne Verbindung, damit ohne Bewegung blieben und somit ungeworden und unvergänglich wären. In der rein physikalischen Welt fehlte alles das, was wir von der Welt wissen. Mit seiner Macht-Metaphysik glaubt Nietzsche der Gefahr ontischer Erstarrung im kleinen wie im großen zu entkommen. Hier ist der aktuelle Machtgegensatz die einzige Realität, die gar nicht anders denn als lebendige Bewegung erfahren werden kann. Im Zusammentreffen von Mächten liegt das ganze Geschehen, im Augenblick nicht anders als in der ganzen vorstellbaren Zeit. Es bedarf keiner vorausliegenden Ursachen, leitenden Ziele, keiner das Ganze haltenden Bedingungen. Der Augenblick des Erlebens wird ausgedeutet, das unmittelbar gegebene Gefühl wird interpretiert, ohne eine Ursprünglichkeit, eine erste Urheberschaft oder dergleichen hineinzulegen. Die Verbindung zum "Vorher" und "Nachher" wird nicht durch Einführung der besonderen Wirksamkeit eines Subjekts unterbrochen. Gegenwart ist die Gegenwart des Gefühls, und nur als solche ist sie im Strom der Ereignisse ausgezeichnet. Und nur von dem, was in der präsenten Empfindung sich zeigt, kann die Rechtfertigung des Werdens ausgehen. Will man angeben, was in diesem die Gegenwart auszeichnenden Gefühl eigentlich zustande kommt, kann man wieder nur auf den konstitutiven Konflikt von Mächten verweisen. Hier jedoch wird der "Ort" des Konflikts sinnfällig: Es ist der Leib. Der Augenblick des Erlebens ist ein Leibgeschehen. Ich erinnere daran, daß "Leib" nicht den cartesianischen Körper meint, sondern eine nicht weiter auflösbare lebendige Verbindung von res cogitans und res extensa. Der klassische Gegensatz zwischen Körper und Seele ist untauglich, um die Eigentümlichkeit des Leibes zu fassen, denn Leib ist Ausdruck der Untrennbarkeit der Seele vom Körper. Körperliches mag man sich als bloße Ausdehnung vorstellen können, Seele dagegen ist stets an Körperliches gebunden, ist nichts als die "Form" oder die "Bedeutung" von materiellen Vorgängen. Dies
6. Leiblichkeit und Perspektive
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bringt Nietzsches Leibbegriff zum Ausdruck. Wenn man schon auf das alte Oppositionspaar zurückgreifen will, kann man pointieren, daß "Leib" mit "Körper" sehr wenig, aber mit "Seele" sehr viel zu tun hat. Nur aufgrund dieser Nähe ist es sinnvoll zu sagen, der Leib sei "ein erstaunlicherer Gedanke als die alte 'Seele'" (N 1885, 36/35; 11, 565). Wohl nicht zufällig fallen Äußerungen wie diese in die Zeit, in der Nietzsche die Ergänzung der Kraft durch den Willen zur Macht konzipiert (ebd., 36/31; 11, 563). Eine Besonderheit des Leibgeschehens besteht in seiner Perspektivität. Es kann von außen und von innen betrachtet werden.16 Der Zusammenstoß von Kräften wird daher bereits in dieser Doppelung erlebt. Ein Impuls geht von innen nach außen und kollidiert mit einem anderen, der außen ist und nach innen wirkt. In diesem Erleben ist der ausgreifende Trieb unmittelbar gegenwärtig, denn ohne ihn stieße man nicht auf den Widerstand der opponierenden Macht. Mit diesem Erleben ist die Polarität von Innen und Außen direkt gegeben, folglich haben die "Bewegungsansätze und -Centren", die Nietzsche braucht, um die Dynamik des Geschehens einsichtig zu machen (N 1888, 14/98; 13, 274), den Charakter der Evidenz. Sie gehören zur direkten Erfahrung des Geschehens, auf die sich diese ganze Ausdeutung stützt. In der leiblichen Erfahrung der äußeren Kräfte liegt alles bereit, was zur Rechtfertigung des Werdens benötigt wird: die Veränderung als das Element der Empfindung, die Anwesenheit einer anderen, widerständigen Kraft, die wechselseitige Mitteilung der Kräfte, die äußere Perspektive auf das Leibgeschehen als reales Ereignis und schließlich der von innen kommende Blick auf seine Bedeutung, die beide dem Machtgefühl verbunden sind und so die Gewißheit einer augenblicklichen Einheit im Werden fundieren. Alles dies sind nur die Erlebnismomente eines Akts, und zwar des ganz und gar unvermeidlichen Akts des Erlebens. In diesem Akt wirkt sowohl die "innere" wie auch die "äußere" Welt. Hier liegt ihre nicht auflösbare Einheit begründet. Hier wird alles "von selbst", sofern nur dieses Gegeneinander gegeben ist. Auf Ursachen und Zwecke kann man ebenso verzichten wie auf einen "ersten Motorf]" oder auf ein "Gesammtbewußtsein des Werdens" (N 1887/88, 11/72; 13, 34 f.). Zu den von Nietzsche am schärfsten bekämpften Konzeptionen gehört die der Teleologie. Auch hier - wie bei der Kritik der Selbsterhaltung und des Willens - ist die Schärfe von dem Wunsch einer Abgrenzung gegenüber Schopenhauer bestimmt, dessen Lehre er wohl zu Recht als eine "verkappte Teleologie", nämlich als Teleologie "eines bösen und blinden Wesens" (N 1880, 4/310; 9, 177) bezeichnet. Den Ursprung des Zweckbegriffs in der menschlichen Handlung, und zwar in deren Überschätzung durch das handelnde Wesen selbst, 16
Wenn die hier getroffene Feststellung im Zusammenhang mit den Ausführungen im vorangehenden Abschnitt verstanden wird, dann ist auch klar, daß sich im räumlichen Verhältnis von Innen und Außen des Organismus nur eine Anschauung für das eigentlich gemeinte Innere des Leibes darbietet. Allerdings ist zu vermuten, daß sich das nur im tätigen Erleben zu erschließende Innen ohne das Innere der Körpersphäre nicht bilden könnte. Vgl. auch die Ausführungen in Kapitel VII.
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IX. Die Metaphysik des Werdens
glaubt er schon früh erkannt zu haben. Zur Begründung seiner späteren Einwände reicht es aus, auf die genetische Identität von Ursache und Zweck zu verweisen: "causa efficiens und finalis ist in der Grundconception Eins" (N 1888, 14/98; 13, 275). Die Bindung an das Handlungsgeschehen erlaubt es Nietzsche immerhin, dem Zweck als einem "kleine[n] Theilchen von dem wirklichen Erfolg" einer Handlung sogar eine Funktion zuzubilligen: "Zwecke sind Zeichen·, nichts mehr! Signale!" (N 1880, 6/254; 9, 264) Mit Hilfe des Machtbegriffs kann diese Funktion in einen größeren Zusammenhang gestellt werden, denn durch ihn ist eine implizite Ausrichtung von Abläufen beschrieben, die weder durch bestimmte Zwecke noch allgemein durch Zweckmäßigkeit gekennzeichnet ist. Die Macht ist sich als Mittel genug. Sicherung und Steigerung sind ihr keine Zwecke, haben weder den Status von Absichten noch von Zielen, sondern sind nur Kennzeichen eines Geschehens, in dem sich alles fortwährend ver-mittelt. Der Mittelcharakter der Macht scheint zur Ausdeutung durch Zwecke wie geschaffen, denn ein Mittel wird erst durch den Hinweis auf mögliche Zwecke verständlich. Zwecke dienen zur Verständigung über Mittel. Folglich lassen sich in jeweils bestimmten Situationen, die durch Macht konstituiert sind, die tatsächlichen und möglichen Machtverschiebungen durch nichts besser mitteilen als eben durch Zwecke. Die Rolle als Signal, die Nietzsche den Zwecken zuschreibt, entspricht der Natur von Machtbeziehungen, die auf wechselseitigen Interpretationen basieren. Sie können für die situative Verständigung überaus leistungsfähig sein, ohne mit den wirklich auslösenden Faktoren in Verbindung zu stehen. "[I]n der Realität fehlt der Zweck"; Nietzsche hält ihn für eine Erfindung des Menschen (GD, Irrthiimer 8; 6, 96). Die bisher gewonnene Einsicht in den Aufbau der Macht erlaubt aber immerhin zu sagen, daß der Zweck nicht schlecht erfunden ist, weil er der Impulsqualität von Mächten entgegenkommt und dem symbolischen Charakter ihrer wechselseitigen Beziehungen entspricht. Damit steht der Zweck jedoch in keiner bestimmten sachlichen Korrespondenz zum Machtgeschehen, d. h. er benennt kein tatsächlich wirksames Motiv, sondern bleibt ein bloßes Zeichen. Man verwendet es so, als ob es ein Fundament in den Dingen habe. Wie sehr sich die Deutung des Zwecks als bloßes Zeichen der Auffassung Kants annähert, wäre Nietzsche vielleicht bewußt gewesen, wenn er seinen frühen Plan, über die Teleologie der Urteilskraft zu promovieren, zur Ausführung gebracht hätte. 17 Doch ihm ist ihre Destruktion so wichtig, daß ihn nicht interessiert, was man von ihr noch retten kann. Deshalb bleibt er bei seiner Berufung auf Spinoza und erklärt mit ihm die Teleologie zum "Asylum ignorantiae" (N 1881, 11/194; 9, 519), obgleich er in seiner Macht-Zeichen-Lehre längst über ein solches Urteil hinaus ist. Im Hinblick auf das Machtgeschehen könnte er über den Zweckbegriff so urteilen wie über das Bewußtsein, das eben soweit da ist, als es nützlich ist 17
Bf. an P. Deussen, Ende April/Anfang Mai 1868: "Mein Thema ist 'der Begriff des Organischen seit Kant' halb philosophisch, halb naturwissenschaftlich. Meine Vorarbeiten sind ziemlich fertig." (KSB 2, 269)
7. Die Dauer im Augenblick
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(Ν 1885/86, 2/95; 12, 108). Der mögliche Nutzen der Zwecke liegt darin, daß sie die Mitteilbarkeit über den wechselseitigen Einsatz von Mitteln erhöhen. Der Zweck einigt die Mittel; er ist nur ein Exponent der Macht in ihrem Verhältnis zu anderen Mächten; die "anscheinende 'Zweckmäßigkeit'", so heißt es im Nachlaß, ist "nur ein Ausdruck für eine Ordnung von Machtsphären und deren Zusammenspiel" (N 1887, 9/91; 12, 386). Die Einsicht in Aufbau und Zusammenspiel von Machtsphären läßt darüber hinaus erkennen, daß dieser "Ausdruck" nicht zufällig ist. Im Zweck finden die sich wechselseitig vermittelnden Mächte ihr im Moment der Wirksamkeit benötigtes "Ende". Indem sie sich gegenseitig als "endlich", d. h. auf mehr oder weniger Definitives bezogen darstellen, teilen sie sich situationsgebunden mit, erhöhen damit ihre gegenseitige Bestimmtheit und steigern sich so bereits in dem Anspruch, sich gegeneinander durchzusetzen.
7. Die Dauer im Augenblick Die Situationsbindung der Macht, in der die verendlichende Funktion von Zwecken verständlich werden kann, folgt aus der agonalen Verfassung der Macht und führt zu einer elementaren Grundbestimmung der Metaphysik des Werdens, nämlich zur Einschränkung auf die Gegenwart. Während man die Seins-Metaphysik durch ihre Ausrichtung auf die Ewigkeit charakterisieren kann und die kritische Vernunft-Metaphysik durch ihre Beziehung auf die Endlichkeit der menschlichen Existenz, so entstammt die Metaphysik des Werdens ganz der emphatischen Bindung an die erlebte Gegenwart.18 Der Augenblick, den Nietzsche im Gedanken der Wiederkunft auch noch mit den Weihen der Ewigkeit auszustatten versucht, ist aus der Perspektive der Macht in der Tat der einzige Realität erzeugende Ort im Werden. Denn wenn das aktuale Gegeneinander von Mächten alles ist, wenn darin Wirklichkeit erst entsteht, dann liegt auch im Moment von Aktion und Reaktion der Ursprung jeder Bedeutung überhaupt. Aktion und Reaktion aber sind ein Geschehen, und für sie braucht es nur einen Augenblick. Es ist der Augenblick des Kräfteaustauschs, der Kraftentladung oder, wie Nietzsche gern betont, der "Explosion". Die Wirklichkeit ereignet sich im Modus der Simultaneität, nur das, was jetzt ist, ist, und sofern es ist, ist es schon dem Werden unterworfen. Nietzsche ist in diesem Punkt dem dynamis-Begñft des Aristoteles am nächsten. So wie es in dessen Physik um ein adäquates Verständnis der wirklichen Bewegung geht, so ist es ihm darum zu tun, der Tatsache des Werdens philosophisch Rechnung zu tragen. Die begriffliche Bemühung hat sich, wie gezeigt, in beiden Fällen auf die Erfassung des Augenblicks
18
G. Wohlfart, Der Augenblick, 1982, 94 - 112.
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IX. Die Metaphysik des Werdens
zu richten. In beiden Fällen gelingt der Zugang nur über die Unterstellung eines "Vermögens" im augenblicklichen Geschehen. Aristoteles hat daraus die Konsequenz gezogen, das Vermögen zu substantiieren. Nietzsche wehrt sich gegen eine solche Verdinglichung, obgleich er den Willen zur Macht gelegentlich, wie in der Liebmann-Paraphrase, mit dynamis identifiziert. Der Wille zur Macht soll keine für sich bestehende Seinsweise darstellen, kein Vermögen und keine reine Möglichkeit. Diese Forderung läßt sich aber nur erfüllen, wenn die unmittelbare Beziehung zum Geschehen nicht aufgehoben ist, wenn der Wille zur Macht vollständig auf den Augenblick bezogen bleibt. Er "zeigt" sich dann nicht nur im Augenblick, sondern "ist" überhaupt nur in ihm, ist gewissermaßen durch ihn konstituiert. Nietzsches Kritik an der Substanz-Metaphysik im allgemeinen und seine Polemik gegen den Vermögensbegriff im besonderen haben eine solche Lösung im Blick. Die Auszeichnung des Augenblicks ist eines der ersten philosophischen Anliegen Nietzsches. Sie liegt bereits in der Betonung der ekstatischen Rausch- und Traumerfahrung, steht also gleichermaßen im Zeichen des Dionysos und des Apoll. Der dann verfochtene Glaube an die Ausnahmeexistenz des genialischen Individuums kennt ebenfalls nur die Zeitrechnung der großen Augenblicke, der auch, wie die zweite Unzeitgemäße Betrachtung zeigt, eine Theorie der Geschichtlichkeit abgenommen werden kann. Noch in der Zeit skeptischer Ernüchterung kommt Nietzsche auf die alle Kontinuität durchbrechenden triumphalen Momente zurück, denen die Kultur ihre höchsten Leistungen verdankt. Das ästhetische Erleben bleibt in allen Phasen seines Denkens mit dem Augenblick verbunden. Offenkundig hat es auch ein ästhetisch-künstlerisches Motiv, wenn Zarathustra die Einstellung auf den "großen Mittag" predigt.19 In der machttheoretischen Pointierung der Gegenwärtigkeit braucht man ein solches Motiv nicht zu unterstellen, wenngleich es auch hier mitspielen kann. Das Machtgeschehen ist aus eigener Logik auf den Moment bezogen. Über den Augenblick der Berührung mit anderen Mächten ist für eine Macht alles vermittelt, ihr Selbstgefühl und ihre Wirksamkeit, damit eben auch ihre Existenz und folglich die Möglichkeit von Ereignissen überhaupt. Als solcher hat der Augenblick noch keine Qualität, die sich nach den herkömmlichen Schemata rubrizieren ließe. Man kann nur sagen, daß er auf jeden Fall "sinnlich" ist, d. h. er ist weder bloß physisch noch bloß psychisch. Er ist der Berührungspunkt zweier Machtsphären, der nur insofern "außen" ist, als er auch "innen" ist und umgekehrt.20 So wie man mit dieser Überlegung dazu kommen kann, den Raum erst als das gemeinsam Anerkannte mindestens zweier Mächte zu entwickeln, so ließe sich auch die Zeit als das 19 20
K. Schlechte, Nietzsches Großer Mittag, 1954. Wenn man dieses sinnliche Fundament im Anschluß an das vorkantische Verständnis als "ästhetisch" bezeichnen will, und es gibt in Nietzsches physiologischem Verständnis der künstlerischen Produktion einige Anhaltspunkte dafür, dann hat freilich auch die leibliche Machtorganisation ein ästhetisches Fundament. (Dazu: G. Wohlfart, Der Augenblick, 1982, 108 ff.)
8. Ontologie des Scheins
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Nacheinander dartun, das aus dem Machtgeschehen folgt. Alles, was die Macht qua Macht für ihre Selbsterzeugung braucht, ist die Gegenwart einer anderen Macht. Sie benötigt dazu nichts anderes als Gleichzeitigkeit, um als Macht zu sich selbst zu kommen. D. h.: Sie muß ihre Kraft auslassen können und schafft damit eine bestimmte, "gemessene" Zeit. Die lineare Zeit entsteht erst im Überschreiten des Augenblicks in einen anderen. Somit kann die Macht durch ihre - stets auf den gleichzeitigen Auftritt mindestens einer anderen Macht bezogene Aktivität ihre Zeit aus sich entwerfen. Dabei spielen Rhythmus und Wiederholung eine immer wieder betonte Rolle.21 Der Augenblick ist nicht der Inhalt, sondern der Ursprung der Zeit. Erst das individuelle Festhalten an ihm schafft dem Moment ein Umfeld aus Vergangenheit und Zukunft. In der Genesis des historischen Bewußtseins aus der (machtvollen) Tat ist dieser Vorgang ansatzweise geschildert. Der erste Abschnitt der Historien-Schiift enthält zumindest die Skizze einer Rekonstruktion menschlicher Zeiterfahrung aus der Fähigkeit zur Tat, die sich im Kern als individuelle Hinwendung zum Augenblick erweist.22 Im Selbstverhältnis einer sich individuell behauptenden Macht wäre demnach bereits nach dem frühen Nietzsche die Quelle des Zeitbewußtseins zu suchen. In seiner nachgelassenen These von der Äquivalenz der Augenblicke im Werden hat er dieser Erwägung einen radikalen Ausdruck gegeben: "das Werden ist werthgleich in jedem Augenblick" (N 1887/88, U/72; 13, 35). Alle Bewertung, alle Unterscheidung und Ordnung, auch die in der erinnerten oder erwarteten Zeit, sind Sache des Augenblicks. Das aber ist der Moment der Machterfahrung, das ist die Gegenwart der eigenen ausgreifenden Mächte. Die Zeit ist wie der Funke, der dem Zusammenstoß der Kräfte entspringt und beiden Seiten erlaubt, sich gleichzeitig als Macht zu erfahren.
8. Ontologie des Scheins Die aus der Kritik des substantiellen Seins, der Kausalität und der Finalität ermittelten Bestimmungen des Werdens reichen aus, um das im Spätwerk zugrundeliegende metaphysische Projekt zu umreißen. Die Realitätsbedingungen der Macht erlauben eine weitgehende Transkription der klassischen ontologischen Kategorien in eine Ontologie - nicht der Erscheinung wie bei Kant, sondern - des Scheins,23 Nietzsche hat sich der damit verbundenen systemati21 22
23
J. Stambaugh, Untersuchungen zum Problem der Zeit bei Nietzsche, 1959, 203. M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), § 76, Gesamtausgabe 2, 1977, 518 - 525; dazu: C. Zuckert, Nature, History and the Self, 1976, 56 - 82. Κ. Η. Bohrer hat aufgezeigt, wie Nietzsche das (gegenüber Kant) bereits von Schiller vertiefte Problem des Scheins aufnimmt und bereits in seiner Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie in einen neuen moralisch-ästhetischen Zusammenhang stellt (Ästhetik und Historismus: Nietzsches Begriff des Scheins, in: ders.,
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IX. Die Metaphysik des Werdens
sehen Aufgabe nicht gestellt, aber in den Ansätzen ist eine solche Ontologie entwickelt. Vor allem seine immer wiederkehrenden Überlegungen zur Rückführung der Qualität auf Quantität und der Quantität wiederum auf Gradabstufungen der Macht belegen, daß seine Psychologie ontologische Konsequenzen zeitigt. Die meisten der von Aristoteles entwickelten und von Kant modifizierten Kategorien sind auch bei Nietzsche Gegenstand der psychologisch-genealogischen Kritik und kommen, wie die Beispiele der Quantität, Qualität, Substanz, Kausalität (und Finalität) zeigen, in veränderter Form als Elemente des Machtwillens wieder zum Tragen. Angesichts der fundierenden Leistung des Machtgegensatzes fällt es auch nicht schwer, in der unabdingbaren Prämisse der Gegenseitigkeit die Kategorie der Wechselwirkung wiederzuerkennen. Schließlich ließen sich auch die Modalbegriffe reformulieren, insbesondere die Notwendigkeit, die Nietzsche stets in ihrer Bindung an die Selbstauffassung der Macht in Relation zu anderen Mächten reflektiert. "Notwendigkeit" ist vor allem auch eine Interpretation und kein Tatbestand (N 1887, 9/91; 12, 383); folglich fehlt ihr auch der immer wieder assoziierte Charakter objektiven Zwangs. Notwendigkeit ist Ausdruck der Sich-Selbst-Gleichheit allen Geschehens, "Ausdruck dessen, daß das Unmögliche nicht möglich ist..." (N 1887, 10/138; 12, 536). Geschehen bedeutet Notwendigkeit. Damit wird nicht etwa doch die Tatsächlichkeit der Notwendigkeit behauptet, sondern nur die Auslegung der Tatsächlichkeit betont. Geschehen, Ereignis, ist das, was augenblicklich geschieht. Wenn wir es als notwendig bezeichnen, dann geben wir zu erkennen, daß wir es als Faktizität begreifen. Hätte Nietzsche die Mächte explizit mit Selbstbewußtsein ausgestattet, könnte er die Differenz durch den Übergang vom "Erkennen" zum "Anerkennen" deutlich machen. Durch "Geschehen" und "Nothwendig-Geschehen" wird dasselbe aus zwei verschiedenen Perspektiven beurteilt: Die Perspektive der Notwendigkeit umfaßt außer dem Geschehen auch noch die Notwendigkeit ausdrückende Macht, d. h. in ihr kommt das Verhältnis zum Geschehen in den Blick. Deshalb trifft auch die Rede von der "Tautologie" (ebd.) nur zum Teil, was besonders deutlich wird, wenn es heißt, die "anscheinende 'Notwendigkeit'" sei "nur ein Ausdruck dafür, daß eine Kraft nicht auch etwas Anderes ist" (N 1887, 9/91; 12, 386). Dieser Ausdruck kann nur aus der Position eines Wesens gefaßt werden, dem die wahrgenommene Kraft zugleich den Ausschluß von bloß gedachten Möglichkeiten bedeutet. Dieses Wesen gesteht sich mit der Wahrnehmung, daß etwas geschieht, zugleich ein, daß damit vieles andere ausgeschlossen ist. Es sind Erwartungen von Möglichkeiten, die, angesichts der Wirklichkeit, der Feststellung der Notwendigkeit einen Sinn verleihen. Ohne das Verständnis von Möglichkeiten ließe sich der Ausdruck der Notwendigkeit nicht fassen: Notwendigkeit ist der Ausschluß von Unmöglichkeit, "das Unmögliche [ist] nicht möglich [...]" (N
Plötzlichkeit, 1981, 111 ff.).
8. Ontologie des Scheins
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1887, 10/138; 12, 536). Mit der Feststellung des Notwendigen wird der Kreis des Möglichen auf die Wirklichkeit eingeschränkt; möglich ist nur das, was der Wirklichkeit unmittelbar entspricht. So kann eine Kraft nur die Effekte zeitigen, die ihrer Stärke tatsächlich angemessen sind (ebd.). Hinter dem Lob der Notwendigkeit, die gelegentlich auch zu den "nützliche[n] Scheinbarkeiten" gerechnet wird (N 1887/88, 11/74; 13, 37), steht der Wille zur Wirklichkeit, ein Wille, der seine Möglichkeiten mit der Wirklichkeit zur Deckung bringen will. Aus dieser Sicht wird verständlich, warum sich Nietzsche für die Abgrenzung von Möglichkeit und Wirklichkeit nicht interessiert. Die Unterscheidung zwischen dynamis und energeia greift er m. W. nirgendwo auf.24 Möglichkeiten berühren ihn philosophisch nur, sofern sie real sind. Die Possibilität ist für ihn kein Thema, obgleich er nicht bestreitet, daß es Denkmöglichkeiten gibt. Auch die Funktion von Denkmöglichkeiten erkennt er grundsätzlich an, wenn er z. B. über die Rolle des Bewußtseins oder über den Nutzen des Denkens für das Leben reflektiert. Bedeutung gewinnt die Possibilität für ihn aber nur in der Relation zum realen Geschehen, und da die Gestaltung dieses Geschehens die erste und letzte Aufgabe darstellt, zieht die Möglichkeit Aufmerksamkeit nur auf sich, sofern sie als wirklich gelten kann. In dem Versuch, das Werden zu begreifen, ist das reale Geschehen der unumgängliche Ausgangspunkt. Dies aber nicht als Wirklichkeit an sich, nicht als Sein, sondern als Akt. Folglich kann die Möglichkeit nur als Potentialität in den Blick kommen, nur als die im Werden gegenwärtige Möglichkeit, etwa so, wie Nietzsche es vom Tanzen sagt: "im Tanze [ist] die grösste Kraft nur potenziell" (GT 9; 1, 64). Wollte man aber die Potentialität als solche begrifflich fassen, brauchte man ein trennscharfes Abgrenzungskriterium gegenüber der Wirklichkeit. Eben dies fehlt Nietzsche, ja sein Begriff von Realität läßt eine solche Trennung gar nicht zu. "Wirklichkeit" ist kein Gegebenes, kein Bestand, nichts, das sich zu irgendeiner Zeit auf ein bestimmtes Maß beschränken ließe. Sie ist auch nicht das, was sich wie bei Kant nach bestimmbaren Erfahrungsbedingungen gesetzmäßig als Einheit beschreiben ließe. Mit F. A. Langes Feststellung: "Was wir sehen, ist nicht Möglichkeit, sondern Wirklichkeit", beginnt für Nietzsche erst das Problem.25 Gänzlich ausgeschlossen ist es für ihn auch, die Wirklichkeit als Gegensatz zum Schein zu bestimmen. Nach der Kritik von Kausalität und Teleologie ist es ferner nicht möglich, sich auf Schopenhauers Kriterium der "Wirklichkeit" (WWV 1, § 4; 2, 9 ff.) zu stützen. Entsprechendes gilt für die hier eigentlich am nächsten liegende 24
23
Der Begriff der Energie kommt gelegentlich vor, so wenn er aus dem "Satz vom Bestehen der Energie" die Forderung nach ewiger Wiederkehr ableitet (N 1886/87, 5/54; 12, 205) oder wenn er die wichtige Feststellung trifft, "[djasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen der Entwicklung Verschiedenes" (N 1887, 10/138; 12, 535). Auch im übertragenen Sinn wird das Wort verwendet (MA 1, 242, 257 u. 272). Aber der ihm zumindest durch Lange und Liebmann bekannten Differenz zwischen dynamis und energeia geht Nietzsche nicht nach. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus, 1. Aufl., 1866, 404.
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IX. Die Metaphysik des Werdens
Aristotelische Definition als "energeia". Als "wirklich" kann Nietzsche nur das ansehen, was "wird", also das, was ohne Gesetzmäßigkeit, ohne Ursache, ohne Ziel in Bewegung ist. Diese von innen nach außen drängende, sich dadurch bereits steigernde, also wahrhaft dynamische Bewegung ist ein Trieb-Geschehen ohne verbindliche Ordnung, ohne verständliche Motive und im einzelnen wie im ganzen zwecklos. Allgemeine Zusammenhänge bilden sich im zufälligen Zusammentreffen vieler Triebbewegungen, die sich erst in diesem Gegeneinander in ihrer Eigenart erfahren. Wir brauchen nur noch einmal darauf zu achten, als was sich die kollidierenden Triebaktionen erfahren, um zu erkennen, daß in ihnen Wirklichkeit und Möglichkeit unmittelbar ineinander sind: Im Widerspiel der triebhaften Aktionen und Reaktionen wird auf allen Seiten primär das Überwältigungsstreben erfahren. Alles will dem jeweils anderen überlegen sein. Die oppositionelle Kraft soll unterworfen werden. Gelingt dies nicht, wird der Zusammenstoß vermieden, oder man wird selbst unterworfen. In diesem vielfachen Antagonismus des Trieb-Geschehens wird jede situativ unterscheidbare dynamische Einheit nur als Macht erfahrbar, denn Bedeutung gewinnt jedes einzelne nur, sofern es in dieser möglichen Überlegenheit hervortritt. Bloß in der möglichen Verfügung kommt es als herrschende Größe in Frage; aber auch nur so ist es als unterworfene oder neutralisierte Einheit von Belang. Jedes einzelne ist, sofern es in diesem Sinn Macht hat bzw. Macht zeigt. Und auch das ganze Geschehen ist nur, sofern sich die dynamischen Aktionen auf diese Weise gegenseitig verstehen. Überflüssig zu sagen, daß die Wirklichkeit dieses Geschehens bloß für die Macht existiert, die selbst darin auftritt. Worin besteht nun aber die Wirklichkeit dieses Macht-Geschehens? In nichts anderem als in der wechselseitig sich anzeigenden möglichen Überlegenheit. Jede Machteinheit erfährt insofern etwas als real, als sich ihr eigener, stets auf Verfügung (über a priori andere Macht) zielender Impuls mit den entgegenlaufenden Impulsen anderer Machteinheiten berührt. Daraus folgt die prinzipielle Unabgeschlossenheit des Geschehens im einzelnen wie im ganzen, denn "wirklich" ist hier kein faktischer Vollzug, sondern eine Herausforderung der Gegenseite, d. h. an und durch die Gegenseite, ein Anspruch auf Unterwerfung, die Chance zur Verfügung, die Möglichkeit der Machtausübung - alles dies sind unserem Umgang mit der Macht entlehnte Umschreibungen eines Vorgangs, der nicht auf eine materielle Bewegung reduziert werden kann, sondern im wesentlichen eine Mitteilung ist, die präskriptive Bedeutung hat. Nietzsche spricht von Imperativen, von Befehl und Gehorsam, macht damit deutlich, daß hier ein über sich hinausweisender Akt bezeichnet werden soll. Wirklich ist somit nur das, was eine Konsequenz bereits impliziert. Das Wirkliche ist also selbst nur durch die in ihm enthaltene Möglichkeit wirklich. In diesem Einschluß in Wirkliches ist jedoch die Möglichkeit nicht als solche zu isolieren. Auch die Wirklichkeit als übergreifendes, somit auch vorgreifendes Geschehen ist nur durch die darin liegende Möglichkeit zu fassen. Die
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Macht als Inbegriff einer Einheit von Wirklichkeit und Möglichkeit zeigt wohl am besten, was hier gemeint ist, auch wenn ein genauer Begriff für die Komplexion einstweilen noch fehlt. Zur Verdeutlichung deshalb noch ein ergänzender Hinweis: Der imperative Charakter der Macht-Mitteilung geht auch bei gelungener Unterwerfung, etwa in einer funktionierenden Organisation, nicht verloren. Er prägt selbst noch Situationen sicherer Distanz. Auch hier ist der Anspruch auf Durchsetzung bestimmter Reaktionsweisen dominant. Da sich die Machterfahrung auf Mitteilungsimpulse dieser Art beschränkt, sie also nur an ihnen ihr Wirklichkeitserleben festmachen kann, bleibt sie in jeder Hinsicht auf mögliche Aktionen und Reaktionen bezogen. Was immer ihr also als wirklich begegnet, das ist durch Möglichkeit konstituiert und umgekehrt. Gibt es einen Begriff, der dieses Amalgam aus Wirklichkeit und Möglichkeit besser ausdrückt als der Begriff der Macht? Wie immer die Antwort auch ausfällt: Nietzsche hatte wenig Grund, Wirklichkeit und Möglichkeit als separate Kategorien zu behandeln. Im Begriff der Macht hat er seinem philosophischen Anspruch, sie als Einheit anzusehen, einen starken Ausdruck gegeben. Aktualität und Potentialität sind miteinander verschränkt. Die Realität der Macht weist über eine bloße Faktizität hinaus und setzt der Flucht in die Possibilität ein schnelles Ende. Das hat, nebenbei bemerkt, auch praktische Konsequenzen: Die Lehre vom Willen zur Macht hat keine utopischen Züge. Nietzsche ist Realist - Realist der werdenden Welt, in welcher Wirklichkeit und Möglichkeit in einem Akt komprimiert sind, in der man über die Zukunft des einzelnen wie über die der Menschheit nichts wissen und nichts hoffen kann, in der aber jeder Augenblick Zukunft hat. Tatsachen gibt es nur, sofern sie mehr bedeuten als sie sind. Geschehen ist das, was über sich hinausweist. Der kategoriale Rahmen einer Ontologie des Scheins ist damit angedeutet. Auch der Grund für die paradoxe Bezeichnung dürfte deutlich sein, denn es geht in der Tat um die Seinsweisen des Scheins im wörtlichen Sinn. Überdies hat die Bezeichnung den Vorteil, daß sie erlaubt, die Besonderheit Nietzsches unter gleichzeitiger Betonung seiner Verbindung mit der Tradition auf eine knappe Formel zu bringen. Die gegebenen Hinweise auf die im Rahmen einer Metaphysik des Werdens entwickelte Ontologie des Scheins dürften auch ausreichen, um deutlich zu machen, daß diese Ontologie nicht objektiv im Sinne neutraler Beschreibung sein kann. Wenn es eine Ontologie des Scheins im hier skizzierten Sinn gibt, dann ist sie selbst ein Phänomen der beschriebenen Art: Sie ist Ausdruck einer Macht, die am Macht-Geschehen partizipiert. Auch die Theorie ist eine Machtmitteilung und insofern selbst Teil des von ihr erfaßten Zusammenhangs. Insofern ist auch die rhetorische Grundstruktur der Formel dem Willen zur Macht nicht äußerlich. Einen festen, durch eine bestimmte Methode zugänglichen Ort im Machtgeschehen hat die Lehre nicht. Ihre Sonderstellung kann sie sich nur durch Akzentuierung zweier Momente
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IX· Die Metaphysik des Werdens
sichern, die selbst zum Vollzug von Macht gehören, nämlich durch Distanz und Konsequenz. Das sind die Macht-Tugenden der Theorie. Distanz und Konsequenz sind die vornehmsten Eigenschaften des freien Geistes und die Bedingungen für die herausgehobene Funktion der Theorie, die freilich nur eine extreme Form der Praxis darstellt. Eine Theorie, die in allem immer auch Ausdruck des von ihr beschriebenen Zusammenhangs ist, kann ihre Probleme nicht restlos objektivieren. In einer Lehre vom Willen zur Macht ist die Macht folglich kein bloßer Erkenntnisgegenstand. Da die Konstellation - Theorie als Ausdruck der von ihr erkannten Macht - aber ohnehin die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis einschließt, ist es denkbar, daß die Macht als das Prinzip erscheint, welches in allem, auch in der Theorie, wirksam ist. Von metaphysischen Prinzipien wurde schon immer erwartet, daß sie ihre eigene Erkenntnis fundieren. Sie bewegten sich stets an der Grenze der Objektivität. Die Lehre vom Willen zur Macht weicht insofern vom herkömmlichen Typus metaphysischer Erklärung nicht ab. Die Vielzahl der erlebten Phänomene wird auf eines zurückgeführt. Dieses Eine, der Wille zur Macht, zeigt sich letztlich in allem. Die Besonderheit in Nietzsches Lehre liegt freilich darin, daß die prinzipielle Erklärung nicht auf einen Machtimpuls, sondern auf eine Vielzahl stößt. Das letzte Faktum hat den Charakter eines Geschehens, an dem eine unübersehbare Zahl konkurrierender Mächte beteiligt sind. Insofern sind "die" Willen zur Macht kein Prinzip, sondern eine Tatsache.26 Aber diese Tatsache hat den Status eines erklärenden Prinzips. Diesen Status behält sie trotz Nietzsches Einsicht in die historischen Bedingungen seines eigenen experimentellen Entwurfs. Daß sein Philosophieren letztlich nur eine hervorgetriebene Konsequenz des Piatonismus ist, daß es auch nur eine Folge der Grammatik und der noch nicht überwundenen Moralität darstellt, daß es unter anderen Bedingungen ganz anders hätte ausfallen können oder vielleicht gar nicht nötig wäre - dieses und anderes ändert wenig daran, daß die Lehre vom Willen zur Macht, so wie sie nun einmal entworfen ist, sich vom traditionellen Modell der Theoriebildung nicht löst. Die Einbindung der Theorie in den Machtprozeß erlaubt auch keine scharfe Trennung zwischen der Ontologie des Scheins und der Metaphysik des Werdens. Grundlage ist in beiden Fällen die herausgeforderte und herausfordernde Teilnahme am agonalen Geschehen. Die für die Metaphysik kennzeichnende Stellungnahme ist auch in der ontologischen Fragestellung enthalten, nur wird sie nicht als Sinn- oder Wertfrage thematisch. Die Ontologie lenkt die Herausforderung in partikulare Fragen nach Ursache, Zweck, Quantität oder Notwendigkeit um, während die Metaphysik den Impuls auf der Ebene höchster Allgemeinheit 26
Die Vielheit der Willen zur Macht ist zum ersten Mal von W. Müller-Lauter (Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, 1971, 75 f.) betont worden. Im Aufsatz von 1974 (Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, 1 - 60, 14 ff.) hat er seine These gegen Einwände verteidigt. Dabei hat er den methodologischen Status nach Maßgabe des Interpretierens bestimmt. Beachtet man die dargestellten Besonderheiten Nietzsches, dann führt auch diese Leistung keinen radikalen Bruch mit der Tradition herbei. Die Besonderheit Nietzsches geht nicht verloren, wenn man sein Denken einem von ihm selbst geäußerten Diktum unterstellt: "Das von Vorn Anfangen ist immer eine Täuschung" (N 1875 , 5/1; 8, 41).
8. Ontologie des Scheins
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hält und die Bedeutung des erfahrenen Ganzen für die einzelne Macht zu erfassen sucht. Die ontologischen Einsichten stecken den Rahmen fülr die metaphysischen Sinnfragen ab, sind aber selbst durch den geschichtlich-kulturellen Prozeß fundiert. Sowohl die Ontologie des Scheins wie auch die Metaphysik des Werdens sind nur verständlich als Reaktion auf eine philosophische Tradition, deren Wahrheitsanspruch sich gegen sie selbst gekehrt hat. In der Suche nach sicheren Kriterien für das Erkennen und Handeln ist alle Sicherheit abhanden gekommen. Wohl niemand bringt diese Selbstverunsicherung der Philosophie zu stärkerem Ausdruck als Nietzsche.
X. Wirklichkeit als Macht Die Emanzipation der Macht bei Nietzsche
1. Zwölf formgebende Momente des Willens zur Macht Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht erscheint nach dieser Darstellung als eine Apotheose der Macht. Nach dem Tode Gottes herrschen unumschränkt die weltlichen Mächte - ohne Ziel, ohne Sinn: ein fortwährendes Übergreifen der einen Macht auf die andere. Die ehemals nur in der Unterwerfung unter eine potentia absoluta gerechtfertigten Mächte werden verabsolutiert. Die Moral wird als "Widernatur" diskreditiert, und die Wahrheit wird mit der Lüge in eins gesetzt. Bedeutung hat nur noch das, was als Macht erfahren wird. Folglich trägt alles Wirkliche, alles, was überhaupt Bedeutung hat, die Züge der Macht. Die Emanzipation der Macht scheint damit vollendet. Die von Jakob Burckhardt als einem der ersten mit Besorgnis beobachtete Verselbständigung politischer und ökonomischer Mächte wird von Nietzsche in nicht mehr überbietbarer Weise gesteigert und philosophisch legitimiert. Doch es zeigt sich nirgendwo deutlicher als gerade in dieser Übersteigerung, daß es letztlich gar nicht die Macht selber ist, die sich von den Fesseln der Tradition befreit. Obgleich Nietzsche die Lehre vom Willen zur Macht mit der sowohl theoretischen wie auch praktischen Erwartung entwirft, mit ihr auch noch den Menschen zu überwinden, kommt er gerade darin vom Menschen nicht los. Dies sollen die abschließenden Überlegungen deutlich machen. Sie wird durch die Formulierung von zwölf formgebenden Momenten der werdenden Welt eröffnet und kann als Zusammenfassung gelesen werden. Diese zwölf formgebenden Momente der werdenden Welt ergeben sich aus Nietzsches fragmentarischen Analysen des Werdens. Sie sind aus der Interpretation seiner Aussagen gewonnen und versuchen, ihnen ein Minimum an systematischer Einheit abzugewinnen. Daß auch dabei noch Widersprüche bestehen bleiben, ist bei einem Autor wie Nietzsche unvermeidlich. Doch im Rahmen der so konzipierten Welt des Werdens erhalten die kritischen Impulse in Nietzsches Werk ein gemeinsames Motiv, der Wille zur Macht läßt seine begriffliche Qualität erkennen, und auch der Gedanke der ewigen Wiederkunft hätte darin Platz. Die ursprüngliche Verfassung der werdenden Welt ist der Kampf. Was immer in der aus Mächten konstituierten Wirklichkeit ein Dasein beansprucht, kommt aus dem Gegensatz und bleibt nur so lange, als es sich im Gegensatz behauptet. Der Krieg, hier beharrt Nietzsche
1. Zwölf formgebende Momente des Willens zur Macht
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auf der Einsicht aus dem tragischen Zeitalter der Griechen, ist der Vater aller Dinge. Daß der Krieg nicht bloß in einer Form, keineswegs nur als blutiges Gemetzel mit tödlichem Ausgang, sondern auch als begrenzter Konflikt, als geregelter Wettstreit oder als subtile Dialektik verstanden werden kann, folgt aus der Allgemeinheit der Formel eigentlich von selbst. Der Kampf ist die tätige Entzweiung, ohne die nichts einzelnes und folglich auch keine Mannigfaltigkeit ist. Erst in der aktiven Abgrenzung unter riskanten Konditionen kommen die Elemente des Werdens zu einer für sie und andere deutlichen Abgrenzung. Erst im Kampf werden Mächte zu dem, was sie sind. Wenn nicht die Kräfte späte Abstraktionen der Macht darstellten, könnte man sagen, daß erst im Kampf die Chance zum Übergang vom Widerspiel der Kräfte zum Gegeneinander der Mächte gegeben ist. Als Macht kann sich etwas nur im Horizont möglicher Konflikte erfahren. Die Konfrontation mit der anderen Macht und darüber vermittelt die Einstellung zu sich selbst sind an die agonale Ausgangsbedingung gebunden. Die Erhaltung und Entfaltung der Macht ist die Fortsetzung des Kampfes. Das erste und wichtigste formgebende Moment der Macht und damit der werdenden Welt liegt in ihrer agonalen Verfassung. Das zweite organisierende Moment liegt in der Pluralität des Geschehens. Vielheit ist die conditio sine qua non - auch noch des Scheins. Ohne sie wäre nichts vorstellbar, weil es weder Vorstellendes noch Vorgestelltes noch irgendeine Bedeutung gäbe. Ohne sie bewegte sich nichts. Es gäbe auch keine Ruhe - zumindest keine, von der man wissen könnte. Vorausgesetzt, es gibt überhaupt Schein, dann ist Pluralität notwendiger Schein. In der Pluralität von Mächten gibt es nur jeweils einzelne Mächte. Jede Beziehung ist einmalig, für jeden Zusammenstoß, jede Verbindung, jede Lösung gilt das entsprechend. Jedes einzelne kommt als solches nur einmal vor. Jede Wiederholung ist Wiederholung von etwas anderem, jede Gleichung eine Gleichsetzung von Verschiedenem. Identität ist erzeugt, und zwar durch eine singuläre Leistung für eine singuläre Macht in singulärer Absicht. Das zur Pluralität komplementäre, dritte Organisationsprinzip ist die Individualität, denn Vieles ist die Summe von Einzelnem, wobei jedes einzelne freilich wieder aus vielen Einzelelementen zusammengesetzt sein kann. Was als einzelnes auftritt, ist insofern individuell. Jede Macht ist qua Macht eine Individualität. Das muß aber nicht hindern, sie auch als "Dividuum" zu betrachten, zum Beispiel als eine Organisation aus vielen, zum Teil widerstrebenden Kräften. In der stets möglichen perspektivischen Auflösung jeder Einheit ist eine zusätzliche Bestätigung für die elementare Mannigfaltigkeit im Werden zu sehen. Die letzten Einheiten, zu denen wir nach Nietzsche analytisch durchstoßen, sind die sogenannten Machtquanten, die sich angemessen nicht nach der Art physikalischer Atome, sondern eher nach dem Modell der Monade begreifen lassen. Die Parallele zu Leibniz läßt einmal mehr hervortreten, daß die werdende Welt eine Vielheit aus individuellen Einheiten ist. Das vierte Gestaltungsmoment der Wirklichkeit als Macht ist die Mobilität der einzelnen Teile. Ohne Bewegung gäbe es keine Möglichkeit, Singuläres zu unterscheiden. Ohne sie
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könnte folglich auch nicht von Pluralität gesprochen werden. Mobilität meint aber nicht bloß die äußere Beweglichkeit der Mächte, sondern bezeichnet den Trieb-Charakter des Geschehens. Der Wille zur Macht ist der alles Werden von innen bestimmende Impuls. Also muß jedem Element die ursprüngliche Fähigkeit zur Selbstbewegung innewohnen. Das fünfte formbildende Moment benennt die Bedingung, unter der in einer mobilen Pluralität Singuläres überhaupt zusammentreffen kann: die Gleichzeitigkeit. Im Werden sind die Elemente simultan. Die Korrespondenz von Einheit und Mannigfaltigkeit ergibt sich nur im Augenblick, im gegenwärtigen Ereignis. Das Viele steht immer nur in einem Zeitpunkt zusammen. Sowohl das Eine wie auch das Viele wird nur für ewig gehalten, weil es immer wieder im Zeitpunkt begegnet. Die Dauer hat ihren Träger stets in diesem Augenblick. Nur im Medium der Gleichzeitigkeit kann etwas anderes als wirklich erfahren werden; nur im Hinblick auf dieses wirklich andere kann sich ein Selbst als wirklich erleben. Das Ungleichzeitige verfehlt sich. Jede Verbindung, jede Einheit, damit aber auch jede Differenz ist über den Augenblick vermittelt. Was nicht wenigstens für einen Augenblick zusammenfindet oder sich in ihm nicht auf andere Weise erreicht, ist auch füreinander nicht existent. Voraussicht und Erinnerung, die Fähigkeiten, die erlauben, über den Augenblick hinauszugehen und das Geschehen hintereinander im Zeitfluß zu ordnen, leisten eine Vergegenwärtigung, greifen also "vor" oder "zurück", um aus imaginären Zeiträumen die Gegenwart zu füllen. Das Vergegenwärtigte steht ganz im Dienst der aktuellen Zeit, in der sich alles zusammendrängt. Der die Gegenwart erfassende Augenblick ist die schlechthin entscheidende Zeit; nur in ihr kommt alles darauf an. Hier treffen Mächte aufeinander, hier stellen sich die Machtfragen, und hier müssen sie auch beantwortet werden. Gleichwohl ist die Macht in diesen Augenblick nicht eingeschlossen. Als reale Möglichkeit ist sie stets über ihn hinaus und auf kommende Zeitpunkte bezogen. Ihre Gegenwärtigkeit greift auf Künftiges vor, und im Vorgriff auf Zukunft hat sie die Gegenwart bereits relativ als Vergangenheit bestimmt. Doch dieser Vor- und Rückgriff geschieht nicht im Hinblick auf an sich bestehende Zeitmomente, sondern er liegt allein im Übergriff auf die andere Macht. Im Befehl, d. h. in der Umsetzung des Triebgeschehens in ein Zeichen, ist die bloße Gegenwart überschritten. Möglichkeit und Zukunft sind aus dem Augenblick entworfen, ohne sich jedoch von ihm zu lösen. Folglich hat die ganze Dimension der Zeit ihren Ursprung in der Gleichzeitigkeit. Durch die konstitutive Beziehung einer jeden Macht auf andere Mächte ist auch ein räumliches Verhältnis geschaffen. Jede Macht hat ihre Sphäre, ohne die es keinen Zusammenstoß, aber auch keine Konfliktlösung durch Nähe oder Abrücken gäbe. Erst im Hinblick auf dieses sechste formgebende Moment kann sich das Innenverhältnis einer Macht ausbilden, obgleich es selbst freilich nicht räumlich zu verstehen ist. Der Raum entsteht mit der Positionsbestimmung der Mächte untereinander, und nur in Relation zu einer anderen Macht kann eine
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Macht im Hinblick auf sich selbst außen und innen unterscheiden. Daraus ergibt sich u. a., daß die "innere Welt" keine ontologische Priorität genießt, sondern erst mit der äußeren Welt entsteht. Es ist leicht zu sehen, daß Beweglichkeit, Gleichzeitigkeit und räumliches Verhältnis auf Seins- bzw. Erfahrungsbedingungen verweisen, die üblicherweise allgemeiner gefaßt werden. Die Verengung ergibt sich aus dem Gesichtspunkt der Machterfahrung, die stärker an Bedingungen des Erlebens gebunden bleibt, als das in den traditionellen Formen des Seins- oder Erfahrungswissens der Fall ist. Raum, Zeit und Veränderung sind aus dieser Perspektive späte Abstraktionen. Primär ist das Zusammentreffen mit einer anderen Macht, also der Widerstand und damit das Geflecht aus Einwirkungen und Rückwirkungen, das wir uns unter der Bedingung von Pluralität und Individualität gar nicht kompliziert genug denken können. Als siebtes Formprinzip hat die Relativität zu gelten. Wenn es weder Substanzen noch Subjekte gibt, wenn weder Ursachen noch Zwecke eine feste Ordnung schaffen, wenn auch Gesetze nur Ausdruck von veränderlichen Beziehungen sind, die nur in bestimmter Hinsicht und damit eben auch nur eine Weile konstant erscheinen, dann ist alles relativ. Damit ist zunächst die Gleichwertigkeit aller Ereignisse gemeint, also die Tatsache, daß kein Geschehen als solches ausgezeichnet ist. In einer Welt des Scheins ist alles äquivalent. Der präzise Sinn dieses Merkmals liegt jedoch darin, daß alles nur in Relationen ist. Die Welt ist "essentiell Relations-Welt" (N 1888, 14/93; 13, 271). Etwas ist nur, sofern es sich auf etwas anderes bezieht. Aller Schein entspringt einer Aktions-Reaktions-Verbindung, die als Ursprung des Machtgefühls auch den phänomenalen Ursprung der Mächte darstellt. Denn erst im Machtgefiihl erfährt sich die Macht, und sie erfährt sich als Macht nur in Relation zu anderen Mächten. Das achte Moment veranlaßt Nietzsche, vom Willen zur Macht zu sprechen. Man kann es die Intentionalität des Machtgeschehens nennen. Intentionalität äußert sich als jenes "Etwas-wollen", durch das jede Bewegung, jedes Hindernis erst zustande kommt. Nach den vorausliegenden Erörterungen dürfte klar sein, daß damit weder die Wirklichkeit eines substantiellen Willens noch die Freiheit des spontanen Anfangs gemeint ist, sondern lediglich die eigentümliche Ausrichtung eines jeden Geschehens auf einen wie immer auch befriedigenden Zustand, der als Ziel oder Zweck ausgegeben werden kann, ohne darum auch schon die wirkliche Ursache zu sein. Es ist überhaupt nicht möglich, die wahren Ursachen oder Ziele zu benennen; es ist ebensowenig möglich, die Agenten des Geschehens genauer zu bezeichnen - außer daß es eben Mächte sind, die in sich schon intentional verfaßt sind. Das aber heißt, wir können die erlebte Wirklichkeit nicht anders als nach Analogie von Willensakten beschreiben; nur sofern wir sie als solche erfassen, gewinnt sie Bedeutung für uns. Intentionalität meint hier in Anlehnung an den lateinischen Ursprung des Begriffs auch die Spannung zwischen Gegensätzen, die das Streben bedingende Anspannung. Macht ist die ge-
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spannte Kraft. Das erlaubt, auch die Bereitschaft zu Aktion und Reaktion, die als Voraussetzung der Reizbarkeit zu gelten hat, unter den Titel der Intentionalität zu stellen. Damit ist nicht wenig erreicht, denn die "spezifische Aktions-Reaktions-thätigkeit" der Macht wird von Nietzsche als Ursprung des Scheins und damit als Bedingung von allem angesehen, was wir für wirklich halten. Der Spannungszustand, in dem sich die Mächte befinden, führt zu Aktionen und Reaktionen, aus denen letztlich hervorgeht, was wir die Welt nennen. Aus der Intentionalität in Verbindung mit der Relativität ergibt sich als neuntes Prinzip die Perspektivität allen Geschehens. Dadurch ist es einer Macht möglich, durch die Beziehung auf sich selbst äußeren Verhältnissen eine bedingte Stabilität beizulegen. Die Perspektive ist die generelle Voraussetzung für den Aufbau von Machtordnungen. Sie ist das Vermögen, Verhältnisse wahrzunehmen, ja, mit der Wahrnehmung erst zu schaffen. In der Perspektive verlieren die Eindrücke ihre Beliebigkeit. Nur wo Perspektive ist, ist auch Sinn; fehlt sie, dann fehlt auch jede Bedeutung. Das zehnte Gestaltungsprinzip betrifft den Charakter der Machtordnungen, die in Rangstufen, also hierarchisch aufgebaut sind. Die im Werden möglichen Organisationen sind herrschaftlich verfaßt. Jede Erfahrung von anderem ist eine Maß-nahme am Leitfaden der eigenen Macht. Sie benötigt Rangordnungen, Wert- und Intensitätsgrade, nach denen sich die Entfaltungsbedingungen der Macht bis zu einem Optimum gliedern. Die Macht benötigt von sich aus die deutlichen Unterscheidungen, die Abgrenzung nach einer Wertskala, auf der sie Überlegenheiten (bzw. Unterlegenheiten) nach Maßgabe der erfahrenen Stärke festlegt. Die der hierarchischen Organisationsform entsprechenden Aktions- und Reaktionsweisen sind Befehl und Gehorsam. Damit liegt das Organisationsmoment der Macht in ihrer Fähigkeit, sich durch Geltungsansprüche regulieren zu können. Im Selbstverhältnis steuert sie sich durch Gebots- und Verbotsregeln, die im Außenverhältnis auf andere übertragen werden. Erfolg ist hier nur möglich, wenn auch die adressierten Mächte sich selbst nach gebieterischen Maximen organisieren. Der soziomorphe Charakter der aus Mächten konstituierten Wirklichkeit tritt in diesem Gestaltungsmoment mit besonderer Deutlichkeit hervor. Wer dem heute gängigen Vorurteil gegenüber Befehl und Gehorsam anhängt, den mag es überraschen, im Befehl auf die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung zu stoßen. Tatsächlich aber ist das imperative Selbstverhältnis die Verfahrensbedingung sowohl von Selbstbestimmung wie auch von Normativität - freilich (noch) ohne jede Vernunft. Das elfte Organisationsmoment von Macht und werdender Welt ist die
Instrumentality
des Machtgeschehens. Es besagt, daß in einer aus Machtverhältnissen bestehenden Welt sich alles wechselseitig zum Mittel werden kann. Wenn die Macht als das auf keinen besonderen Zweck beschränkte Universalmedium anzusehen ist, wenn sie als das definiert ist, was für jede Zielrealisierung unerläßlich ist und als Mittel zu anderen Zwecken Selbstzweck sein kann, dann ist die aus Mächten konstituierte Welt eine sich durchgängig vermittelnde Welt.
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Alles kann, ja, alles muß zum Instrument eines anderen werden. Jeder Zweck, jede Rangoder Machtordnung, ist nur ein momentaner Ausdruck einer bestimmten Konstellation von Mitteln und ist schon dadurch im fortlaufenden Geschehen funktionalisiert. Auch der Zweck ist nur ein Mittel. Als zwölftes und letztes formgebendes Moment wäre die Repräsentativität des Machtgeschehens zu nennen. Darunter soll alles zusammengefaßt sein, was den Bedeutungscharakter der Elemente des Werdens ausmacht. Ein alter, heute mißverständlicher Begriff wäre Spiritualität - eine deshalb erwähnenswerte terminologische Parallele, weil durch sie die geistige Natur der Macht, jene Eigenart, die man ihr gewöhnlich abspricht, unterstrichen wird. Der Begriff der Repräsentativität nimmt Nietzsches Rede von der Zeichenfìinktion allen Machtgeschehens auf. Damit ist der Mitteilungscharakter der Machtprozesse ebenso benannt wie die Tatsache, daß alles als Interpretation zu gelten hat. "Das Wesentliche ist: die Bildung von Formen, welche viele Bewegungen repräsentieren, die Erfindung von Zeichen für ganze Arten von Zeichen." (N 1885/86, 1/28; 12, 17) Die Ereignisse des Werdens gibt es nur in ihrer Bedeutung für die Teile des Werdens. Diese erdeuten sich das ihnen Zustoßende als Dieses und Jenes und stellen es in einen ihrem Schema entsprechenden Zusammenhang. Die "Willens-Wirkung" - für Nietzsche nur ein anderer Begriff für das Macht-Geschehen - ist letztlich nur ein Zeigen, das verstanden und befolgt werden kann. Alle wesentlichen Aktionen der Macht sind demonstrativ, und sie sind auf die Transparenz des äußeren Geschehens gegründet, denn nur so "bedeuten" sie etwas. "Wirklich" sind die auf diese Weise erdeuteten Dinge und Ereignisse nur im Zusammenhang der Interpretation, d. h. nur in ihrer Beziehung zu den beteiligten Mächten. Wenn sie darüber hinaus auch noch auf eine an-sich-seiende Wirklichkeit verweisen, so ist das ein Schein, der sich aus der Repräsentativität des Geschehens ergibt. Auch die Macht ist letztlich nichts anderes als der Repräsentant möglicher Wirkungen. In diesen zwölf Gestaltungsmomenten der werdenden Welt zeigt sich die Macht als absolut verselbständigte Größe, relativiert eben nur durch ihresgleichen. Unter dem Titel des Willens zur Macht läßt sie alle konkreten Bedingungen hinter sich, macht alle Gegebenheiten der natürlichen und geschichtlichen Welt zu bloßem Material und wird zum Statthalter einer Realität, die es als solche gar nicht mehr gibt. Alle Leistungen des Geistes werden von ihr in Dienst genommen, alle Weitungen sind ihrem Durchsetzungsanspruch unterworfen, ja "alles Leben" ist nur eine "verkleinerte Formel für die gesammte Tendenz" (N 1886/87, 7/54; 12, 313) und ist der Steigerungsprozeß der Macht.1 Die Unersättlichkeit der Macht ist in nicht mehr zu überbietender Weise anerkannt. Wenn P. Sloterdijk sagt, "das Leben ist die Falle, die eine Bühne ist, und die Bühne, die eine Falle ist", dann ist das zwar hübsch paradox, aber reicht bei weitem nicht, um Nietzsches Lebensbegriff auch nur anschaulich zu machen (P. Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 1986, 185 f.).
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2. Ein Selbstbegriff des Geistes Bevor man über die Legitimität einer solchen Anerkennung urteilt, sollte man sich vor Augen führen, daß sich die metaphysische Machtergreifung keineswegs gewaltsam vollzieht. Die angestammten Territorien des Geistes, die Bereiche des Wahren, Guten und Schönen, werden durch die Eroberung keineswegs zerstört. Natürlich verlieren sie ihre Höhenlage und haben nunmehr durchlässige Grenzen. Aber Erkenntnis, Tugend und Kunst bleiben bestehen. Nach dem gegenwärtigen Stand unserer Einsicht kann gar kein Zweifel mehr bestehen, daß die Rückführung der Erkenntnis auf das "Erkennen-Wollen" (N 1885/86, 2/154; 12, 142), auf die Inspiration durch die Bedürfnisse (ebd., 2/77; 12, 97 f.) und damit auf Auslegung und Feststellung nach Maßgabe unserer Bedürfnisorganisation, ein wesentliches Moment des Erkenntnisvorgangs trifft und wohl mehr darüber sagt als die Rede von der Erfassung oder Widerspiegelung gegebener Dinge. Sowohl der Zeichencharakter der Machtprozesse wie auch der sie treibende Impuls zur Feststellung von (Rang-) Beziehungen findet sich als kennzeichnendes Merkmal in Erkenntnisprozessen wieder. Überdies ist mit dem Verzicht auf absolute Wahrheit die Erkenntnis nicht abgeschafft. Entsprechendes gilt für Nietzsches Kritik der Moral: Er berührt ihren Nerv, wenn er die Moral "als das einzige Interpretationsschema" ansieht, "bei dem der Mensch sich aushält" (N 1887, 10/121; 12, 527), aber auch wenn er sie als "Widernatur" bloßstellt, in der sich die Tyrannei eines lebensfeindlichen Willens äußert. Doch damit ist nicht jeder praktische Glaube an Werte verworfen, im Gegenteil: Die Umwertung der Werte läßt sich ohne Tugenden gar nicht denken.2 Allerdings sollen sie Ausdruck lebendiger Bewegung und nicht aus lebensfremden Instanzen deduzierte Maßregeln sein. Die Umwertung soll den Menschen nicht "'besser'" machen, aber sie soll "Zustände schaffen, unter denen stärkere Menschen nöthig sind, welche ihrerseits eine Moral (deutlicher: eine leiblich-geistige Disciplin), welche stark macht, brauchen und folglich haben werden! " (ebd., 10/68; 12, 495). Die "Emancipation von der Moral", die von den "Mächtigen" erwartet wird, beruht auf Motiven der Ehrlichkeit und Verantwortlichkeit (N 1883, 7/1; 10, 235). Also können die Sphären von Macht und Moralität (im Sinne einer leiblich-geistigen Disziplin des Individuums) nicht gänzlich verschieden sein. Daß Nietzsche dem Gebiet der Kunst gebührende Aufmerksamkeit widmet und ihr die tragenden Bestimmungen des Schönen, des Erhabenen und vor allem auch des Tragischen beläßt, bedarf keiner besonderen Erwähnung. Die Kunst ist, wie es schon bei Emerson heißt, ein "Zeichen der Macht", und zwar das Zeichen, in welchem die Macht sich nur als solche zeigt. Ohne Anspruch auf Machterweiterung tritt sie hervor und wirkt allein durch die Si-
Siehe dazu: P. Kouba, Die Vernunft als moralisches Phänomen, 1990, 20 - 29, 26 f.
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cherheit des in ihr Erreichten. Die große Kunst tritt "gnädig", d. h. befreit von der Disziplin des Befehlens und Gehorchens, vor die Sinne. Und wie Kant von ihr als einem "Symbol der Sittlichkeit" spricht, nennt Nietzsche sie eine "Offenbarung des Guten für die Sinne" (N 1883, 13/1; 10, 438). Als Ausdruck eines Gelingens, als Symbol eines errungenen Sieges, läßt die Kunst das in ihr Überwundene nicht vergessen. Die Steigerung der Macht gewinnt in ihr eine vollendete Gestalt. So wird sie zum "Stimulans des Lebens", führt also, wie dies vor allem Kant und Schiller betont haben, zur Belebung und Steigerung der Kräfte. Wenn Nietzsches hoch entwickelter Sinn für ästhetische Phänomene nicht überzeugen sollte, dann kann zumindest die angedeutete Gemeinsamkeit mit der paradigmatischen Ästhetik Kants wahrscheinlich machen, daß sich das Wesen der Kunst auch machttheoretisch erschließen läßt. - Es kann somit als eine Tatsache angesehen werden, daß mit der generellen Ermächtigung des Willens zur Macht die nunmehr von ihm bestimmten Bereiche des Geistes nicht zerstört werden. Die Momente des Machtgeschehens sind also den elementaren Funktionen des Geistes im Erkennen, Handeln und ästhetischen Erleben nicht wesensfremd. Allein in der intentionalen Verfassung der Macht liegt eine fundierende Gemeinsamkeit mit den intellektuellen Leistungen. In ihrer Angewiesenheit auf die Stimulation durch Gegensatz, in der notwendigen Beziehung zu ihresgleichen, in dem Bedürfnis nach Organisation sowie in ihrer unablässigen Anstrengung, die Relativität der Eindrücke im Bezug auf sich selbst zu mindern (obgleich sie diese insgesamt dadurch vermehrt) -: in alledem ist die Macht von den schöpferischen geistigen Kräften nicht unterschieden. Ferner verweist die perspektivische Form ihrer Außenbeziehung unmittelbar auf Erkenntnis. Ihr Bedürfnis nach Rangordnung sowie ihre Steuerung nach Maßgabe von Imperativen lassen zumindest eine formale Verbindung zur moralischen Gesetzgebung vermuten. Und schließlich teilt sie die Repräsentativität nicht nur allgemein mit den geistig-seelischen Funktionen, sondern reicht damit insbesondere in den Bereich des Ästhetischen hinein, der das Wesen ist. Nicht erst die Kunst, sondern schon die Macht ist ein Vorschein von Möglichkeiten. Diese Nähe zwischen Macht und Geist kann nicht überraschen, denn spätestens der Versuch, sich Nietzsches philosophische Entwicklung zu vergegenwärtigen, hat gezeigt, daß Macht in allem steckt, was überhaupt Bedeutung hat. Die Wirksamkeit der Götter, die Organisationskraft der großen Individuen, dann die Suche nach einem den Gegensatz von Außen und Innen überwindenden Dasein, die Rolle des Machtgefuhls als Gradmesser aller Bedeutsamkeit, die Erschließung der Welt durch den Willen zur Macht, der selbst nur ein Zeichen für die Selbstbewegung der Macht darstellt, und schließlich die Eroberung aller Wirklichkeitsbereiche durch eben diesen Machtwillen haben deutlich werden lassen, daß alles in dem, worin es wirklich ist, als Macht verstanden werden kann. In Nietzsches Denken vollzieht sich die Emanzipation der Macht aus jeweils konkreten historisch-politischen Gestalten und
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wird universell. Wenn man verfolgt, wie sie allmählich hinter ihren Masken hervortritt und mit ihm entdeckt, daß sie es ist, die als Gott oder Genie, als politische Gewalt oder als Stimme des Gewissens, als physische Ursache, Selbsterhaltungstrieb oder Rechtsanspruch Gestalt gewinnt, dann erscheint es nur konsequent, die Macht in ihrer allgegenwärtigen Rolle anzusprechen. Am Ende ist es nur noch eine Frage der Redlichkeit, sie in dieser Rolle auch anzuerkennen. So gesehen, erscheint die Emanzipation der Macht noch nicht einmal als ein historischer Vorgang, denn im Grunde aller Dinge und Ereignisse hat sie sich immer schon vollzogen und vollzieht sich augenblicklich neu. Eine Entwicklung durchläuft offenbar nur das erkennende Wesen, sofern es endlich imstande ist, dem Machtcharakter alles Wirklichen auch in sich selbst Ausdruck zu geben. Nach der Legitimität eines solchen Vorgangs auch nur zu fragen, hieße bereits, seine alles bestimmende Natur zu verkennen.
3. Ein Selbstbegriff des Menschen Aber dennoch ist es nicht die Macht an sich, die hier in allen Verhältnissen hervortritt. Denn alles, was Nietzsche über sie ermitteln kann, ist aus der Perspektive des Menschen gedacht. Die werdende Welt, die Gesamttendenz des Willens zur Macht oder auch nur die einfachsten Erscheinungsformen einer Macht sind allein den menschlichen Sinnen zugänglich. In allem, insbesondere dort, wo sie fremd und feindlich erscheinen, sind sie das Spiegelbild der menschlichen Welt. Denn alle markanten Eigenschaften der Macht sind aus der menschlichen Selbsterfahrung gewonnen. Bereits das Ungenügen an der bloß äußeren, physikalischen Welt und die Suche nach der "inneren Kraft" kommen aus dem Reichtum inneren Erlebens. Die Destruktion des freien Willens stützt sich trotz aller Warnung vor Anthropomorphismen auf die Introspektion. Notwendigkeit, Befehl, Herrschaft, Wertsetzung oder Intentionalität - woher sollten diese Vollzugsbedingungen der Macht gewonnen sein, wenn nicht aus dem Bewußtsein handelnder Subjekte? Das Gegeneinander der Mächte - was ist es anderes als ein abstraktes Bild von der menschlichen Gesellschaft? Und, wenn es hier weiterer Belege bedürfte, die Bezeichnung der schließlich gefundenen fundamentalen Kraft als Wille zur Macht bedeutet einen offenbaren Rückgriff auf ein Element, das Philosophen wie Naturforscher seit jeher dem menschlichen Bewußtsein vorbehalten. Bis in die Terminologie hinein bleibt die anthropologische Ausgangsbasis von Nietzsches Lehre erkennbar. Angesichts seiner Kritik an der überlieferten Metaphysik ist dies nur konsequent. In Übereinstimmung mit den frühen Thesen über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne hat Nietzsche auch in den achtziger Jahren immer wieder an unsere menschliche Selbstbefangenheit erinnert: "Der Mensch verhüllt uns die Dinge." (N 1880, 6/432; 9, 309) "Wir erkennen
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immer nur uns selber, in einer bestimmten Möglichkeit der Veränderung" (ebd., 6/419; 9, 305). "Unsere Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sind es, die wir in die Welt hineinlegen [...] Unser Auge wächst - und wir meinen, die Welt sei im Wachsen." (N 1881, 15/9; 9, 637) Diese Einsicht wird von Nietzsche auch später nicht revidiert. Für ihn ist "alles Geschehen [...] als ein Geschehen für Auge und Getost" festgelegt. Die "Welt" ist ein "Inventarium der menschlichen Erfahrungen" (N 1883/84, 24/17; 10, 656). Noch 1885 notiert er sich den Plan zu einem Buch Das Problem 'Mensch' (N 1885, 34/240; 11, 500), in dem er wohl wieder versucht hätte, den "menschliche[n] Horizont" auszumessen, so wie es nach seiner Ansicht die Funktion aller Philosophie gewesen ist (vgl. ebd., 34/74; 11, 443). Schließlich sind in dem offenkundig soziomorphen Charakter der aus Mächten konstituierten Wirklichkeit der Mensch und die Welt des Werdens auf das engste verknüpft. Zu bemerken ist allerdings, daß Nietzsche zum Ende der achtziger Jahre hin, je mehr vom Willen zur Macht die Rede ist, die Anthropomorphie aller möglichen Erfahrung seltener betont. Den mechanistischen Weltbildern hält er zwar vor, daß sie ihre Grundbegriffe aus der "Sinnensprache" des Menschen genommen haben und insofern einem "Sinnen-Vorurtheil" aufsitzen (N 1888, 14/79; 13, 259), inwieweit aber das durch ihn selbst aufgedeckte Vorurteil des Willens sich mit der theoretischen Ausweitung des Willens auf alle Elemente des Werdens verträgt, wird keiner weiteren Prüfung unterzogen. Manchmal scheint es ihm gar nicht aufzufallen, wie rasch er sich aus der menschlichen Perspektive herausdreht. Wenn er zum Beispiel das Wollen als ein "fälschendes Umgestalten" bezeichnet, das "einen Willen, etwas uns gleich zu machen", voraussetzt (N 1885, 34/252; 11, 506), dann hat er in einem Satz den "Willen" in zweifachem Sinn verwendet, ohne darüber Rechenschaft zu geben. Das ist keine gelegentliche Unachtsamkeit, wie die Universalisierung des Machtwillens hinreichend deutlich zeigt. Er kann in einem Atemzuge "alle Bewegungen, alle 'Erscheinungen', alle 'Gesetze' nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen" und es als möglich ansehen, am Tier "alle seine Triebe" aus dem Willen zur Macht abzuleiten, "ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Einen Quelle" (N 1885, 36/31; 11, 563). Die weitergehenden Übertragungen des Willens zur Macht sind bekannt: Er kann aus der mechanischen Ordnung nicht weggedacht werden, "ohne sie selbst wegzudenken" (N 1888, 14/79; 13, 258), er ist das "innerste Wesen des Seins" (ebd., 14/80; 13, 260) und reicht so weit, daß schließlich Gott nur noch als "[e]in Punkt in der Entwicklung des Willens zur Macht" erscheint (N 1887, 10/138; 12, 535). Doch in eben dieser Ausweitung liegt Nietzsches metaphysisches Programm. Er will sich "der Analogie des Menschen zu Ende bedienen". Um uns diese eben zitierte, überaus wichtige Stelle noch einmal im Zusammenhang zu vergegenwärtigen: "Der siegreiche Begriff 'Kraft', mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als 'Wil-
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len zur Macht', d. h. als unersättliches Verlangen nach Bezeigung der Macht; oder Verwendung, Ausübung der Macht, als schöpferischen Trieb usw. Die Physiker werden die 'Wirkung in die Ferne' aus ihren Principien nicht los: ebensowenig eine abstoßende Kraft (oder anziehende) Es hilft nichts", sagt er wohl nicht zufällig an jener Stelle, die den Willen zur Macht als Ergänzung der physikalischen Kraft präsentiert: "man muß alle Bewegungen, alle 'Erscheinungen', alle 'Gesetze' nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen." (N 1885, 36/31; 11, 563) Konsequent zu Ende gedacht, erscheint schließlich auch der Mensch selbst als ein Symptom dieses innerlichen Geschehens. Wenn jede Bewegung als Ausdruck eines Machtwillens verstanden wird, ist nicht nur jede Bewegung des Menschen, sondern der Mensch selbst ein Exponent des Willens zur Macht. Indem sich Nietzsche der Analogie des Menschen zu Ende bedient, stößt er bis an die Grenzen menschlicher Erfahrung und treibt letztlich darüber hinaus. Das aber geschieht in bewußter Absicht. Schon 1881 fordert er dazu auf, die Phänomene zu "entmenschlichen" (N 1881, 11/238; 9, 532), und experimentiert mit dem Gedanken, sich "aus der Menschheit" wegzudenken (ebd., 11/35; 9, 454). Er hält es für verhängnisvoll, "alles [nur] auf ihn [den Menschen] hin zu construiren" und versucht, ihn - wie auch den Gott - als einen "Punkt im Werden" zu fassen (N 1882/83, 6/1; 10, 231; H. v. m.). Aus der so erreichten größtmöglichen Entfernung erscheint die Menschheit wie eine "Urwald-Vegetation" (N 1885, 36/58; 11, 573) auf einem lächerlich kleinen Gestirn. Nietzsche vollzieht, wie schon bemerkt, einen Akt theoretischer Entfremdung, sucht sich die "Vortheile eines Todten" zu verschaffen (N 1881, 11/35; 9, 454) und erprobt die Umdeutung des Todes, um sich mit dem "Wirklichen d. h. mit der todten Welt" zu versöhnen (ebd., 11/70; 9, 468). Der Gedanke der ewigen Wiederkehr, der, wie betont, in der Zeit dieser Maximen Gestalt gewinnt, ist aus dem theoretischen Fluchtpunkt der menschlichen Welt gedacht, und Zarathustras Entwurf des Übermenschen ist aus dieser Perspektive jenseits des Menschen gewonnen. So ist auch die Konzeption des Willens zur Macht nicht zu verstehen, wenn man in ihr nicht das Bemühen erkerint, über den menschlichen Standpunkt hinauszukommen. Obgleich Nietzsche wie wohl kein anderer vor ihm die Selbstbeschränktheit des Menschen herausgestellt hat, versucht er, sich dennoch von ihr zu lösen und ihr einen Platz im Werden zuzuweisen. In dieser Absicht entwirft er eine Welt, in welcher der Mensch nur eine Macht unter anderen Mächten ist, die Welt als ein "Ungeheuer von Kraft". Diese "meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste", sein (!) "Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel [...], ohne Willen [...]", trägt den Namen "Wille zur Macht" (N 1885, 38/12; 11, 610 f.). Mit diesem Namen geht Nietzsche auf größte Distanz zum Menschen und stellt sie, ähnlich wie dies die transzendente Spekulation vor ihm tat, in den Dienst des Menschen, dessen Bestimmung eben dadurch deutlich werden soll. Die Stellung des Menschen im Leben kann nicht aus der Nähe
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des Menschlich-Allzumenschlichen vennessen werden. Deshalb überschreitet die Lehre vom Willen zur Macht den Horizont menschlicher Erfahrung, um im Blick auf das Ganze des Lebens die Aufgabe des Menschen zu erfassen. Auch dies geschieht in praktischer Absicht. Denn indem Nietzsche den Menschen zurufen kann: "Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht - und nichts außerdem\" (ebd., 611; H. v. m.), macht er sie frei für die von ihm beschworene Aufgabe -: für die Umwertung der Werte aus der dionysischen Bejahung der Welt. Daß Nietzsches Jenseits weder auf einen Gott noch auf ein oberstes Vernunftgebot noch auf erste Gründe des Seins gerichtet ist, versteht sich nach den vorausliegenden Erörterungen von selbst. Er sucht nicht "das Jenseits", aber er spricht immerhin von "seinem Jenseits", zu dem sich jeder entschließen müsse, der "'das Jenseits'" loswerden wolle (N 1886/87, 5/6; 12, 186). Das hier persönlich in Anspruch genommene Jenseits verdient seinen Namen durchaus, denn es ist nur im Überschreiten, oder besser: im Unterlaufen der gewohnten Schranken der Erfahrung zu erreichen. Das mit soviel Scharfsinn abgesteckte menschliche Terrain wird verlassen, um aus der Entfernung ein kälteres Urteil über den Menschen zu gewinnen. So versucht Nietzsche aus dem Zirkel auszubrechen, in den jede reductio ad hominem unweigerlich führt. Das größte Experiment dieser Philosophie liegt darin, im Bewußtsein der Bindung aller Vorstellungen und Bilder an das menschliche Leben dieses ursprünglich vertraute Leben gleichwohl als etwas Fremdes vorzustellen und als bloßen Zufall zu begreifen. Somit ist es ganz folgerichtig, daß der Begriff, mit dessen Hilfe Nietzsche in Distanz zum Menschen geht, die Signatur menschlicher Selbsterfahrung behält. Die anthropogene Wurzel wird nicht ausgezogen, obgleich der Begriff so verwendet wird, als bezeichne er eine unveränderliche Grundverfassung einer ganz und gar unabhängig vom Menschen werdenden Welt. Das Experiment einer Metaphysik des Werdens ist Nietzsches Antwort auf die Selbsteinkapselung des Menschen in einer durch ihn selbst fundierten Welt. Das auf sich selbst gestellte neuzeitliche Subjekt hat keine Kraft mehr, seiner eigenen moralischen Tyrannei zu entkommen. Er macht sich seine Selbstverkleinerung durch Wissenschaft angenehm, bespiegelt sich nur noch in seinen sozialen Erfahrungen und tröstet sich durch die Hoffnung auf einen Fortschritt. In der Dominanz der positiven Wissenschaften und im Vordringen von Sozial- und Geschichtsphilosophie, die an die Stelle von Religion und Metaphysik treten, sieht Nietzsche die Folgen des modernen Rückzugs des Menschen auf sich selbst. Diesen Folgen stellt sich die Lehre vom Willen zur Macht entgegen und fordert die Aufhebung des Widerspruchs zwischen der historisch eröffneten Potenzierung wissenschaftlich-technischer Kräfte und der Verkümmerung ihres Trägers. Um diesen Widerspruch als Selbstwiderspruch des Lebens anschaulich zu machen, überschreitet Nietzsche den Horizont menschlicher Selbsterfahrung und tritt als Anwalt des Werdens auf. Denn nur wenn das Werden als
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solches gerechtfertigt ist, ist auch der Mensch legitimiert, seine Möglichkeiten auszuschöpfen. Der "Kampf um Macht, um 'Mehr' und 'Besser' und 'Schneller' und 'Öfter' (N 1885, 34/208; 11, 492), ist das erste Gestaltungsprinzip des Werdens. Dadurch ist auch dem Menschen seine Bahn vorgezeichnet. Indem er sie anerkennt, vollzieht er nicht nur das Steigerungsgesetz der Macht, sondern er realisiert sich selbst. Bereits in der spekulativen Überschreitung der menschlichen Fähigkeiten liegt eine Übersteigerung der menschlichen Macht. In der Lehre vom Willen zur Macht wird die vom Menschen erfahrene Emanzipation seiner eigenen Macht über ihn hinausgetrieben. Die in der Macht angelegte Steigerungstendenz erfahrt die letzte nur denkbare Verschärfung: Sie überwindet auch noch die historisch entwickelte Form der Macht, d. h. die Macht des Menschen, und wird zur Macht überhaupt. Die Emanzipation des Menschen, also der geschichtliche Vorgang einer unerhörten Steigerung der Macht und des Machtgefühls, wird so in der Emanzipation der Macht noch einmal überboten. Das menschliche Fundament der Macht ist nicht geleugnet, aber der Wille zu Macht "will" im Vollzug der Logik der Macht darüber hinaus. Darin liegt keine Verachtung der menschlichen Macht, sondern deren extreme Herausforderung, ein Stimulans, das selbst auf dem Prinzip der Machtsteigerung beruht, und das daher auch von den für Nietzsche typischen Überreizt- und Überspanntheiten nicht frei ist. Wichtig aber ist die mit großer Klarheit vermittelte Einsicht, daß die menschliche Macht nur ein Element in einem größeren Machtgeschehen ist, aus welchem aber keine definiten Beschränkungen folgen. Der in der theoretischen Übersteigerung gewonnene Blick auf das Machtgeschehen der werdenden Welt lehrt die Einbindung in einen Gesamtprozeß, aus dem jedoch keine normativen Verbindlichkeiten folgen. Der Mensch hat seine Macht in Kongruenz mit der Machtsteigerung des Ganzen zu steigern, und dabei gibt es für ihn bloß eine Gewißheit: Jede Macht hält sich nur in Relation zu ihren Opponenten; jede neu errungene Macht hat mit Widerständen zu rechnen, die ihr letztlich überlegen sein können. Der Begriff der Macht ist wie wenige andere geeignet, die Möglichkeiten des Menschen sowohl aus der Binnenperspektive des menschlichen Lebens wie auch aus der denkbar größten Entfernung auszudrücken. Die Spannung zwischen den beiden Standpunkten kennzeichnet den Begriff selbst: Hervorgehend aus der Erfahrung der eigenen Mächtigkeit, der Fähigkeit etwas zu bewirken oder etwas anderem zu widerstehen, tendiert sie mit ihrem Auftritt zur Verselbständigung gegen ihren Urheber. Als Inbegriff der Mittel, ohne die der Mensch nichts ist und nichts erreicht, ist sie zugleich der Begriff für die Gesamtheit der Widerstände gegen den Menschen. Daß die Macht von so vielen gescholten und als abgründig böse verurteilt und doch notwendig in allem und von allen beansprucht wird - gerade auch in der Kritik der Macht -, hat mit dieser Doppelnatur zu tun. Der Mensch ist auf die Macht angewiesen und ist ihr darin bereits ausgeliefert. Die Macht bringt mit allen Chancen auch alle Gefähr-
3. Ein Selbstbegriff des Menschen
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düngen. So scheint die Emanzipation des Menschen notwendigerweise die Emanzipation der Macht heraufzufiihren. Die vom Menschen inaugurierte Macht verselbständigt sich und wendet sich gegen ihn selbst. Die Gesellschafts- und Kulturkritik der letzten 150 Jahre hat viele solcher Verselbständigungen aufgespürt: im Staat, im Kapital, in der Technik und sogar in der Aufklärung selbst. Nietzsche hat den wohl zutreffendsten Begriff für das Phänomen, das in allen diesen Erscheinungsformen gemeint ist. Aber er denkt nicht daran, es gnostisch zu verklären und zum Vorboten der Apokalypse zu machen. Er sieht die Unabdingbarkeit der Macht in allem menschlichen Geschehen, und er verfällt auch nicht in den Fehler, das zu verurteilen, was er noch im Urteil beansprucht. Dabei steht er den menschlichen Kräften alles andere als gleichgültig gegenüber. Alle seine kritischen Anstrengungen sind auf die Steigerung der Vielfalt menschlicher Macht gerichtet. Die potentia absoluta wird von Nietzsche nicht nur in ihrer transzendenten Funktion verworfen. Die Alleinherrschaft einer einzigen Macht kommt in der werdenden Welt nicht vor, denn sie ist in sich unmöglich und brächte überdies alle Bewegung zum Stillstand. Auch die als Macht erfahrene Wirklichkeit ist nicht einzig und besteht aus einer Vielheit von Mächten. Machtsteigerung läuft daher notwendig auf die Steigerung der Machtvielfalt hinaus. Wenn Nietzsche in verfremdeter Perspektive alles zu einem Machtgeschehen erklärt, dann leistet er den humanen Potenzen des Geschehens einen mehrfachen Dienst: Er zeigt, daß der Mensch gar nicht anders kann, als zur Macht zu streben, und nimmt ihm dadurch die Furcht vor dem Einsatz der eigenen Macht, eine Furcht, die selbst nur die Macht anderer begünstigt; er gründet Vertrauen in die eigene Macht und ermutigt, sie auch zu gebrauchen; er sagt nicht, daß dem Menschen alles möglich ist, besteht aber gegenüber allen traditionellen Mächten darauf, daß dem Menschen alles das auch erlaubt ist, was in seiner Macht steht; er hebt die Einheitsbedingung der Macht, die Leiblichkeit, hervor und gibt damit ein immanentes Kriterium für die Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst; im Entwurf des Willens zur Macht fordert er die menschlichen Mächte heraus, legt es also auf Entwicklung der Kräfte an; er kann von der Angst vor der Überlegenheit einer einzigen Macht befreien, denn er hat wie kein anderer anschaulich gemacht, daß die Macht den Gegensatz benötigt und sich als Macht nur gegen Mächte behaupten kann. Schließlich verschweigt er das Risiko der menschlichen Machtentfaltung keineswegs, wenn er erwägt, daß die Dynamik der Macht auch über den Menschen hinweggehen könnte. Damit befreit er von falschen Hoffnungen.
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X. Wirklichkeit als Macht
4. Ein Blick zurück auf Nietzsche Nach diesem Durchgang ist aber auch die Lektüre Nietzsches von überzogenen Hoffnungen und Erwartungen zu befreien, die seine Leser immer noch an ihn richten. Denn allein das Beispiel der Macht zeigt, daß an Nietzsche längst nicht alles so neu und grundstürzend ist, wie viele seiner Leser es - mit ihm - auch heute noch gerne glauben. So kommt sein Denken offenkundig von der die europäische Metaphysik fundierenden anthropologischen Grundstellung nicht los. Das erscheint marginal. Doch es hat erhebliche Konsequenzen für die Reichweite von Nietzsches Metaphysikkritik. Denn mit der anthropologischen Ausgangsposition übernimmt er zwangsläufig auch die Ansprüche, die Menschen an sich und ihre Leistungen stellen. Diese Ansprüche aber schließen alles das ein, was Nietzsche so gerne überwinden möchte: die Wahrheit, den Willen, den Geist, die Freiheit und sogar das Wesen der Dinge. Wann immer uns etwas wesentlich ist, das seine Entsprechung in einer Problemlage oder in einer Sache findet, haben wir auch einen guten Grund, von seinem Wesen zu sprechen. Denn "Wesen" drückt nur die Differenz zu dem weniger Wichtigen aus, um das es in einer bestimmten Hinsicht gerade nicht gehen soll. Daß wir gleichwohl die Möglichkeit haben, eine bestimmte Rangfolge von "wesentlich" und "unwesentlich" umzukehren, zeigt sich schnell unter dem Druck eines anderen Problems. Und sollte ein anderes Problem keine veränderte Reihung der Relevanz erzeugen, dann dauert es gewiß nicht lange, bis Scherz, List und Rache ihre alternativen Kräfte spielen lassen.3 Mit ihnen aber sind wir schon dicht an der Kunst, die nahezu jederzeit das Wesen zum Schein machen kann - und umgekehrt. Die Metaphysik vor Nietzsche wußte längst, daß es das gedachte Insgesamt der Dinge und Probleme nicht nach Art eines Gegenstandes geben könne. Die Substanz war schon für Aristoteles kein bloßes Ding, und sie ist es im Laufe ihrer philosophischen Geschichte auch nie geworden. Mochte dies früher noch nicht eindeutig bewußt sein, so ist es spätestens seit Kant unmißverständlich ausgesprochen - und dies keineswegs bloß für die kritische Philosophie. Was bliebe denn von Leibniz' Monadologie, von Spinozas Ethik, von Boethius' Trost, von Aristoteles' Metaphysik oder von Piatons Theaitet, wenn dies anders wäre? - Wohl nichts als eine naive Physik, für die man nach dem Siegeszug der modernen Physik bestenfalls ein historisches Interesse aufbringen würde. Nietzsche aber unterschiebt der Philosophie vor ihm eben die Naivität, gegen die er sich dann mit um so wirkungsvolleren Effekten absetzen kann. Gewiß hat es genug epigonale Geister gegeben, die Piaton so verstanden haben, als führten seine "Ideen" zu einer Welt hinter der Welt. Wer nur auf die Worte sieht, kann mühelos zu dem Eindruck gelangen, ein 3
Siehe das von Nietzsche selbst apostrophierte Vorspiel in deutschen Reimen: "Scherz, List und Rache", das die Fröhliche Wissenschaft eröffnet (3, 353 ff.).
4. Ein Blick zurück auf Nietzsche
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mundus intelligibilis sei eine reale Alternative zum mundus sensibilis und bedeute notwendig die Verdoppelung der vor unseren Augen erscheinenden Welt. Doch dazu bedürfte es einer durchgängigen Realität, in der es ein "Vorn" und ein "Hinten" gibt. Man braucht aber diese stillschweigende Voraussetzung von Nietzsches Kritik an Piaton und Kant nur auszusprechen, um sofort zu erkennen, daß sie ins Leere geht. Denn die epistemische Mühe der platonischen Dialektik wäre ebenso unnötig wie die methodologische Anstrengung der kantischen Vernunftkritik, wenn tatsächlich von einer durchgängigen Wirklichkeit ausgegangen werden könnte, der wir (in der Wahrnehmung, im Begriff oder in der Einsicht) nur unterschiedlich nahe sind. Natürlich ist es nicht leicht, den ontologischen Status der von uns allemal benötigten Ideen und Vernunftbegriffe zu bezeichnen. Aber sollte ausgerechnet der Autor, der sich unablässig der Gänsefüßchen bedient und der seine tiefsten Gedanken einem schwerfällig erdichteten Propheten in den Mund legt, kein Verständnis für die enormen Ausdrucksschwierigkeiten haben, die sich notwendig einstellen, wenn Begriffliches von Sinnlichem gesondert werden soll, Schwierigkeiten, mit denen eben schon Piaton, Aristoteles, Leibniz und Kant zu kämpfen hatten? Nein, Nietzsche macht es sich mit seiner Kritik der philosophischen Tradition zu leicht! Und das Beste, was wir mit Blick auf die Geschichte der Metaphysik über ihn sagen können, ist, daß er aus eigenen Nöten und mit seinen Mitteln einen neuen Anfang fiir sich selber sucht. Dabei spielen Enttäuschungen über Aufklärung und Wissenschaft, über Kunst und Religion eine Rolle, die Nietzsche mit vielen seiner nachromantischen Zeitgenossen teilt. Hier haben die Gemeinsamkeiten mit Schopenhauer und Feuerbach, mit Marx, Kierkegaard und Stirner ihren Grund.4 Aber man kann Nietzsche nicht allein aus seiner Epoche erklären. Seine Verzweiflung an der Überlieferung und sein Ausdruckswille haben etwas unvergleichlich Individuelles; beide sind offenbar so übermächtig, daß nur ein mit ihm selbst in Gang kommender Aufbruch ihm helfen kann. Er fühlt sich selbst von den historischen Beständen so beengt, ja erdrückt, daß er sie abstoßen muß, um frei atmen zu können. Und so kommt er zu der Erwartung, daß er und seinesgleichen erst andere geworden sein müssen, um sich eines Tages auch wieder einer gänzlich neu angeeigneten Tradition bedienen zu können. Das ist Nietzsches "exaltierter Renaissancismus ",5 der ihn nötigt, auf kompromißlose Distanz zur Überlieferung zu gehen. Er setzt auf eine kulturelle Wiedergeburt. Und obgleich er von der Unmöglichkeit weiß, sie sachlich vorauszudenken, versucht er doch, sie durch Stimmungen zu antizipieren. Er will "unzeitgemäß" im doppelten Sinne sein, so daß er seiner Gegenwart nicht nur hinterher, sondern zugleich voraus ist. Durch maßlose Verspä-
Hier kann nur noch einmal auf K. Löwiths exzellente Studie Von Hegel zu Nietzsche (Zürich/Stuttgart 1941) verwiesen werden. Sie liegt jetzt - in der Fassung der Auflage von 1950 - mit zwei Übersetzungen und einem ergänzenden Anhang als Band 4 der Sämtlichen Schriften (Stuttgart 1988) vor. Siehe dazu vom Verf.: Die Renaissance im Denken Nietzsches, 1989.
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X. Wirklichkeit als Macht
tung glaubt er, allen anderen zuvorzukommen. Auch deshalb wird es immer schwierig letztlich sogar unmöglich - sein, Nietzsche historisch auszulegen. Der philologischen Nietzsche-Forschung, die nun schon seit mehr als zwanzig Jahren den wissenschaftlichen Diskurs bestimmt (und kaum noch etwas vom philosophischen Atem des "freien Geistes" erkennen läßt), sind daher bereits von ihrem Gegenstand her enge Grenzen gesetzt. Man kann einen Denker, der vor allem von der "historischen Krankheit" seines Zeitalters genesen wollte (2. UB 10; 1, 329), nicht mit "historischen Secirübungen" (2. UB 7; 1, 297) beizukommen suchen. Wenn es nicht so komisch wäre, könnte man sich über die Tragik entsetzen, die sich heute mit dem zum reinen Textcorpus gewordenen Nietzsche abspielt: Sein gleichermaßen künstlerisches wie philosophisches Denken, das ohne Rücksicht auf historische Gerechtigkeit vor allem die Philologen provozieren sollte, wird nunmehr rein philologisch "zu Ende secirt" (ebd.). 6 Will man dieser Tragikomik entgehen, dann wird man Nietzsche in allem kritischer begegnen müssen - kritischer natürlich auch gegenüber seiner Kritik von Historismus und philologischer Methode. Und will man ihm in dieser kritischen Einstellung gleichwohl gerecht werden, dann wird man ihn vor allem in seinem Selbstanspruch ernst nehmen müssen, ein "freier Geist" zu sein. Denn als "freier Geist" hat sich Nietzsche selbst in die Tradition philosophischer Kritik gestellt. In seinen programmatischen Äußerungen zur kritischen Selbstaufklärung des Menschen hat er sich nicht nur auf Voltaire und die griechische Sophistik berufen, sondern ausdrücklich auch auf Descartes, den er im ersten öffentlichen Schritt zu einer selbständig kritischen Konzeption der Philosophie kommentarlos zitiert: "Aber es thut nicht noth, hier zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen Theil mir Nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vorhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen." (MA 1; 2, 11)7 6
7
Damit ist natürlich nicht die unerläßliche Arbeit zur Sicherung des Textbestandes von Werk und Nachlaß in Frage gestellt. Daß die Nietzsche-Philologie angesichts der Fälschungen und Kompilationen der ersten Nachlaßverwalter vor besonderen Aufgaben steht, ist unbestritten. Das von Montinari nur unzureichend aufgehellte Verhältnis von "Vorstufen" und Notizen bringt besondere Probleme mit sich. Schließlich ist auch die Tatsache, daß Nietzsche seine Quellen eher im Dunkeln gelassen hat, eine Herausforderung für die historische Forschung. Das alles rechtfertigt aber nicht, das Werk Nietzsches unter philologische Quarantäne zu stellen und es einer kritischen Auseinandersetzung zu entziehen. Leider ist das die Tendenz der Nietzsche-Forschung in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Ganz gleich, ob man das philosophische Gewicht der Wiederkunftslehre, die Stimmigkeit seiner Geschichtskonzeption, die Stichhaltigkeit seiner Wahrheitskritik, die Triftigkeit seiner eigenen Abgrenzung von Piaton und Kant oder auch nur die Kompatibilität seines Aristokratismus mit den Bedingungen des menschlichen Selbstverständnisses in Frage stellt, wird man der ungenauen Lektüre bezichtigt und ausgegrenzt. So wird Nietzsche zu einem säkularisierten Heiligen und seine philosophische Provokation zur erbaulichen Legende. Vgl. R. Descartes, Dissertatio de Methodo III, S (Nietzsche folgt der lateinischen Übersetzung des Discour de la Méthode von Étienne de Courcelles), Œuvres VI, 1902, 555. Dazu: R. A. Rethy, The Descartes Motto to the first Edition of Menschliches, Allzumenschliches, 1976, 289 - 297.
4. Ein Blick zurück auf Nietzsche
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Das ist das so einfach zu formulierende wie schwer zu realisierende Programm des "freien Geistes". Nietzsche macht es sich ohne Abstriche zu eigen, und seine Kritik an der Wahrheit ändert daran ebensowenig wie seine Abgrenzung von der herrschenden Moral. Seine Absage an absolute metaphysische Ansprüche steht nicht im Widerspruch zu seinem Verlangen nach Wahrhaftigkeit und Redlichkeit. Im Gegenteil: Strenggenommen ist sie nur eine Konsequenz der entschieden individuellen Intellektualität des "freien Geistes", die Nietzsche bis zum Ende seines bewußten Schaffens praktiziert. Und so kommt er 1886 in der Vorrede zur Neuausgabe von Menschliches, Allzumenschliches auch ausdrücklich auf sein gleichermaßen theoretisches wie praktisches Lebensideal zurück und entwirft sein im Leiden gereiftes Programm des freien Geistes. Dem Anschein nach hat es mit dem klaren Vorsatz des Descartes nichts mehr zu tun. Doch der Unterschied kommt wohl nur dadurch zustande, daß Nietzsche, anders als sein Vorgänger, sich genötigt sieht, sowohl den individuellen wie auch den allgemeinen Lebenshintergrund auszumalen. Aber wie dem auch sei: Das von Nietzsche nicht nur geforderte, sondern durch sein eigenes Denken ausgeführte Programm des freien Geistes ist nur aus einem philosophischen Anspruch zu verstehen. So vielfältig die künstlerischen und kulturpolitischen Motive seines Werks auch sein mögen: Wenn er sich als "freier Geist" auf "Vernunft" und "Wahrheit" beruft und praktische Gewißheit über einen "Sinn des Daseins" erreichen möchte,8 dann steht er in der besten, durch Sokrates begründeten Tradition der Philosophie. Und man tut Nietzsche weder Unrecht noch zuviel Ehre an, wenn man ihn als einen modernen Sokrates bezeichnet. Denn die Einsamkeit und Maßlosigkeit, in der Nietzsche seine rücksichtslosen Fragen nach dem Lebenssinn exponiert, sind ein Preis der Moderne, in der man niemanden erreicht, wenn man nur auf den Marktplatz geht.9 Nietzsche philosophisch ernst zu nehmen, kann aber nur bedeuten, daß man ihn selbständig weiterdenkt, um in Aufnahme und Abgrenzung selbst ein "freier Geist" zu sein. In diesem Sinn ist die vorliegende Studie bestenfalls ein Anfang. Sie hat ein höchst spezielles gesellschaftstheoretisches Problem an Nietzsches Werk herangetragen, um eine systematische Klärung zu erzielen, für die Nietzsche selbst kein erkennbares Interesse aufgebracht hat. Erst Vgl. dazu vom Verf.: Friedrich Nietzsche, 1992, 9 ff. u. 62 ff. Siehe dazu vom Verf. : Die Tugend des freien Geistes, 1996. - In meiner Diagnose unterscheide ich mich grundsätzlich von E. R. Sandvoss, obgleich man seiner enragierten Studie (Sokrates und Nietzsche, 1966) nicht nur in vielen Details zustimmen kann. Die Verteidigung der Antike gegen Nietzsches Angriff dürfte letztlich auch zu einem besseren Verständnis Nietzsches führen. - Über Nietzsches Verhältnis zur Antike läßt sich heute, nachdem ein Teil der Nachlaßbände zu seiner Lehrtätigkeit in Basel in der KGW erschienen ist, anders handeln als noch vor wenigen Jahren. Auf die Einarbeitung der neuen Einsichten in den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit habe ich verzichtet, weil sie den systematischen Ertrag der Machtanalyse nicht wesentlich bereichert hätten. Für das Urteil über Nietzsches Philosophieren aber sind sie von einigem Wert. Darauf hoffe ich schon in Kürze unter dem Titel Ein modemer Sokrates eingehen zu können. An dieser Stelle muß der Hinweis auf die Vorlesung von H. Cancik (Nietzsches Antike, 1995) genügen. Cancik gibt einen vorzüglichen Überblick zum sachlichen Problembestand und zur Forschungslage.
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X. Wirklichkeit als Macht
im Gang der Untersuchung haben sich Weiterangen ergeben, die es unmöglich machen, die Frage nach der Macht allein auf eine Theorie der Politik zu beschränken. Schon die Geschichte des Machtbegriffs belegt, daß sich die politische und die metaphysische Dimension der Macht nicht eindeutig voneinander trennen lassen. In ihrem unverkennbaren Bezug auf die menschliche Selbsterfahrung sind sie offenkundig miteinander verknüpft. In der Analyse von Nietzsches beiläufiger Phänomenologie der Macht haben sich die aus der Geschichte des Machtbegriffs gewonnenen Einsichten auf geradezu dramatische Weise vertieft. Die Macht, deren politische Konnotation Nietzsche von Anfang bis zu seinem Ende bewußt war, weitete sich für ihn stets wie von selbst zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Erscheinung aus. Und in seinem Versuch, die in ihr wirksame lebendige Kraft psychologisch zu ermitteln, stößt er auf Antriebe, die auch die Seele selbst als eine Gestalt der gesuchten Kraft erscheinen lassen. Diese Kräfte aber können keine bloß äußeren Faktoren sein. Die Kraft kann, wenn sie denn ihren Erkenntnisbedingungen nicht widerstreiten und die menschliche Selbsterfahrung mit tragen können soll, nur als eine innere Kraft verstanden werden. Damit aber ist der Antimetaphysiker Nietzsche ins Zentrum einer metaphysischen Spekulation vorgedrungen. Daran ändert nichts, daß er sich vom reinen Willen zu lösen versucht, um nur mehr die reine Macht zu postulieren; Macht und Wille bleiben notwendig miteinander verknüpft. Daran ändert auch nichts, daß wir den Willen zur Macht als Pluralität denken können; denn auch die Vielfalt gegensätzlicher Mächte muß in ihrem Zusammenhang - und insofern als konzeptionelle Einheit - gedacht werden. Welche ontologischen und metaphysischen Folgerungen daraus gezogen werden können, haben die letzten beiden Kapitel dieses Buches zu zeigen versucht. Was daraus in einem eigenständigen philosophischen Entwurf nach Nietzsche werden könnte, braucht hier nicht eigens ausgeführt zu werden. Hier ist auf ein selbständiges systematisches Werk zu hoffen. Wollte man bei einem solchen Werk den Ansprüchen und Einsichten Nietzsches nahebleiben, dann hätte es wohl seine Philosophie der Macht in eine Philosophie des Lebens einzubringen. Sollte auch sie dem Denken des "freien Geistes" verpflichtet bleiben, könnte sie nicht, wie das für die Lebensphilosophie bis heute selbstverständlich scheint, in Opposition zu Geist und Vernunft entwickelt werden; sie hätte vielmehr darzutun, daß sie zunächst durch ihren epistemischen Charakter, dann vor allem aber durch die sie tragende Erwartung nach einer Verbindung zwischen physischen, physiologischen und intelligiblen Kräften - also gerade weil sie lediglich eine Philosophie des nur durch uns selbst erschlossenen Lebens sein kann -, notwendigerweise auch eine Philosophie der menschlichen Vernunft zu sein hat.
Verzeichnis der Abkürzungen
1. Nietzsches Schriften (in ihrer zeitlichen Reihenfolge) GT
Die Geburt der Tragödie
ZB
Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten
PdW
Ueber das Pathos der Wahrheit
GS
Der griechische Staat
HW
Homer's Wettkampf
PhtZ
Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
WL
Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne
UB
Unzeitgemäße Betrachtungen
MA 1
Menschliches, Allzumenschliches I
MA 2
Menschliches, Allzumenschliches II
WS
Der Wanderer und sein Schatten (als 2. Teil von MA 2)
M
Morgenröthe
FW
Die fröhliche Wissenschaft
(1. Teil: Vermischte Meinungen und Sprüche)
Ζ
Also sprach Zarathustra
J
Jenseits von Gut und Böse
GM
Zur Genealogie der Moral
W
Der Fall Wagner
GD
Götzen-Dämmerung (die abgekürzten Zusätze verweisen auf die Überschriften der einzelnen Abschnitte)
AC
Der Anti-Christ
EH
Ecce homo (die abgekürzten Zusätze verweisen auf die Überschriften der einzelnen Abschnitte)
NW
Nietzsche contra Wagner (die abgekürzten Zusätze verweisen auf die Überschriften der einzelnen Abschnitte)
Ν
Nachgelassene Fragmente 1869 - 1889
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Verzeichnis der Abkürzungen
2. Ausgaben von Nietzsches Werken BAW
Friedrich Nietzsche, Frühe Schriften, 5 Bde., hrsg. v. H. J. Mette, K. Schlechta u. C. Koch, München 1933 - 1940 (Neuausgabe mit einer editorischen Vorbemerkung v. R. Schmidt, München 1994).
GOA KGW
Friedrich Nietzsche, Werke (Großoktavausgabe), Leipzig 1901 ff. Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin/New York 1967 ff.
KSA
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, 2., durchgesehene Aufl., München/Berlin/New York 1988.
KGB
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin/New York 1975 ff.
KSB
Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u.
UW
Umwertung aller Werte, aus dem Nachlaß zusammengestellt und hrsg. v. F. Würz-
M. Montinari, München/Berlin/New York 1986. bach (1940), Neuausgabe in einem Band, München 1977.
3. Weitere Abkürzungen AA
Akademie-Ausgabe: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902 ff.
Gorg.
Piaton, Gorgias
LW
A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit
Met.
Aristoteles, Metaphysik
NE
Aristoteles, Nikomachische Ethik
Phaidr.
Piaton, Phaidros
Phys.
Aristoteles, Physik
PM
Paränesen und Maximen = Kap. 5 der LW
Pol.
Platon, Politela
Polit.
Platon, Politikos
Soph.
Platon, Sophistes
Tim.
Platon, Timaios
VW
A. Schopenhauer, Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde
WWV
A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung
Literaturverzeichnis
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Personenregister
Abel, G. 190, 195-197, 266, 268, 279
Behler, E. 81
Acton, J. E. 31
Benjamin, W. 27
Adorno, Th. W. 22
Biel, G. 44, 69
Aischylos 32, 62, 92, 137
Birus, H. 279
Aitken, F. M. 3, 251, 265, 307
Bismarck, O. v. 76, 101-104, 161
Alexander VI. 74
Blondel, E. 210, 250
Alexander d. Gr. 101
Blumenberg, H. 44, 70, 122, 195
Anders, A. 195, 210
Blunck, R. 62
Andreas-Salomé, L. 206
Boethius 336
Anscombe, G. E. M. 11
Bohrer, Κ. H. 315
Ansell-Pearson, K. 169
Borgia, C. 68 f., 73 f.
Apel, K.-O. 250
Boscovich, R. G. 195, 199, 210
Arendt, H. 20 f., 27, 80
Braatz, K. 105
Aristophanes 122
Bracher, K. D. 28, 31, 71
Aristoteles 28 f., 37-41, 47, 50 f., 136, 161,
Brusotti, M. 142
207, 209, 313 f., 316, 336 f. Augustinus 42-44, 70, 218 Austin, J. L. 11
Bueb, B. 223, 258 Burckhardt, J. 22, 30, 34, 71-76, 79, 104107, 109-112, 115, 126, 162, 323
Bach, J. S. 92
Caesar 104, 176, 178, 181
Baeumler, A. 3
Campioni, G. 176, 214
Bagehot, W. 150, 188 f.
Cancik, H. 339
Baier, H. 152, 293
Caspari, O. 196, 207, 209, 214
Balmer, H. P. 223
Chrysippos 22
Balzac, H. de 77
Cicero 121
Barbera, S. 214
Ciaessens, D. 11
Barth, H. 76
Colli, G. 126, 169, 288
Baumgartner, Α. 109
Comte, Α. 172
Beck, J. S. 239 Becker, O. 168
Danto, A. C. 51
Beerling, R. F. 51
Darwin, C. 30, 157, 164, 173, 184, 187-190,
Beethoven, L. v. 92, 103, 125
193-196, 208
360
Personenregister
Decher, F. 109, 136
Funke, M. 293
Deleuze, G. 204, 210 Demokrit 102, 145
Gebhard, W. 196, 207, 214
Derrida, J. 27
Gehlen, Α. 2, 10
Descartes, R. 48, 52, 191, 338 f.
Gersdorff, C. v. 101-103
Deussen, P. 312
Geulinx, Α. 191 f.
Dilthey, W. 57, 195
Gilman, S. L. 80
Diogenes 74
Goedert, G. 250
Diogenes Laertius 102, 232
Goerdt, W. 10
Djurió, M. 51, 293
Goethe, J. W. 58 f., 81, 92, 104, 113, 115,
Dodds, E. R. 67 Dühring, E. 37, 50, 137, 149, 150, 152, 164, 173, 182, 184, 188 f., 219, 237, 291 Duns Scotus 69
174, 190, 253 Goldman, Α. I. 11 Golomb, J. 89 Goodman, N. 28 Gorgias 145
Eich, G. 1
Gregor-Dellin, M. 104
Eisler, R. 3
Gregor d. Gr. 22
Elias, N. 11
Grimm, J. 10
Emerson, R. W. 34, 78-81, 111, 115, 149,
Grimm, W. 10
156 f., 164 f., 171, 184, 189, 218, 328
Guardini, R. 20
Emmet, D. 21, 24 Engelke, K. 3, 50
Habermas, J. 22, 27
Epikur 74
Haeuptner, G. 109
Euripides 122
Hager, F. P. 35 Hamel, A. 44
Faber, K.-G. 10, 45, 61, 63
Hammer, F. 10
Faul, E. 4
Hartmann, E. v. 126
Fechner, G. T. 207, 209
Hauser, R. 10, 40
Fellmann, F. 188
Heftrich, E. 86, 98 f., 203, 287
Ferrari Zumbini, M. 99
Hegel, G. W. F. 20, 30, 34, 51, 109, 215,
Feuerbach, L. 96 f., 337 Fichte, J. G. 57, 237 Fick, A. 196
233, 261, 285, 297, 337 Heidegger, M. 3 f., 37, 51, 233, 251, 258, 270, 288, 293, 295, 315
Figi, J. 3, 240, 266, 279
Heidemann, I. 258
Findlay, J. N. 21
Heimsoeth, H. 220
Fischer, K. 48-50, 190-194
Heller, E. 87, 286
Flasch, K. 70
Heller, P. 129
Foucault, M. 3, 21, 24, 169
Hellwald, F. v. 188
Fouillée, Α. 3, 288
Helmholtz, H. v. 207 f.
Freyer, Η. 2
Helvétius 76
Personenregister
361
Henke, D. 266
Knodt, R. 250
Hennemann, G. 188
Kobusch, T. 10
Henrich, D. 195
Köster, P. 89
Heraklit 38, 115 f., 123 f., 285, 295, 299,
Kopernikus, Ν. 129
304
Kouba, P. 328
Hippokrates 145
Külp, Β. 26
Hirsch, E. 44
Kutschera, F. v. 225
Hobbes, Th. 20-26, 29 f., 32, 46-48, 70 f., 137, 218, 220 Hoffmann, Ε, T. A. 81
Lange, F. A. 37, 50, 102, 157, 171, 184, 188-189, 197, 207 f., 228, 237, 291, 317
Hofmann, H. 261
La Rochefoucauld, F. de 77, 131
Hollingdale, R. J. 127
Leibniz, G. W. 29, 34, 46, 50 f., 209, 236 f.,
Homer 62, 110, 115, 117
288, 297, 323, 336 f.
Honneth, A. 22, 24, 27
Leist, A. 24
Hradil, St. 12
Lichtenberg, G. C. 131
Hubbard, S. 156
Liebmann, O. 207-210, 314, 317
Hume, D. 47
Littré, P. É. M. 172
Husserl, E. 89
Locke, J. 20, 29, 47 Low, R. 67
Ilting, Κ.-H. 10
Löwith, Κ. 71, 105, 109, 337
D'Iorio, P. 190
Lubbock, J. 195 Lublinski, S. 67
Jaeger, W. 64
Lüdemann, H. 178-180, 183
Jähnig, D. 91, 105, 132
Luhmann, Ν. 11, 17, 27
Janz, C. P. 62, 71, 102, 105, 109, 125, 278
Lukes, St. 12, 22
Jaspers, Κ. 127, 191, 258
Luther, M. 40, 44-46, 92
Jesus Christus 40 f., 44, 178-180, 183 Jonas, H. 29
Machiavelli, Ν. 22, 30, 34, 61, 67-71, 73,
Kallikles 146
Magnus, Β. 168, 204
Kant, I. 12, 20 f., 29, 47 f., 51-53, 57, 59,
Mainländer, Ph. 135
80, 168, 196, 207-209, 218 f., 222-224,
Malebranche, Ν. 191
236-239, 244, 282, 288-290, 292, 297,
Malthus, T. R. 164
307, 310, 312, 315-317, 329, 336-338
Marti, U. 175
218
Kaufmann, W. 2, 48, 51, 127, 137, 141, 169
Martin, A. v. 71, 105
Kaulbach, F. 3, 37, 48, 50 f., 165, 191, 203,
Marx, K. 133, 337
217, 258, 270
Mayer, J. R. 196 f., 200, 207, 209, 254
Kenny, Α. 28, 225
Mazarin 72
Kersting, W. 70
McPhail, R. 48
Kierkegaard, S. 237, 337
Meier, C. 61, 63
362
Personenregister
Micraelius, J. 10
Prauss, G. 237
Mill, J. St. 187, 195
Protagoras 145
Miltiades 119 Mittasch, A. 188, 195, 197, 203, 207-209
Rèe, P. 86, 132, 137, 151, 157, 190
Mittelman, W. 3, 127 f., 140 f.
Reinhardt, Κ. 64, 67
Montinari, M. 3, 71, 127, 151, 163, 195,
Rémusat, C. de 175
287, 338
Renan, E. 214
Morriss, P. 21, 28
Rethy, R. A. 338
Müller-Lauter, W. 4, 88, 168, 182 f., 195 f.,
Richelieu 72
204 f., 211, 260, 279, 312 Münkler, H. 68, 70
Richter, R. 3, 288 Riesen, I. 78 Ritter, G. 4, 17, 31 f., 69, 76
Napoleon 71, 78, 104, 174-178, 181, 183185, 202
Röderer, P.-L. 175 f. Röttgers, Κ. 12, 22
Neskusil, G. 67
Roettges, Η. 293
Nietzsche, F. 101
Rohde, E. 102, 104, 106, 206
Nietzsche-Förster, E. 101
Rorty, R. 293
Novalis 81, 102
Rousseau, J. J. 30 Roux, W. 196, 200 f., 207, 209, 211, 214
Ockham, W. v. 44, 69 Oehler, R. 67 Origines 42
Rütimeyer, L. 188, 195 Rupp, G. 124 Russell, Β. 24
Ottmann, H. 35, 261 Otto, D. 89 Overbeck, F. 142, 168, 178, 190 f., 195 f., 206 Papalekas, J. Ch. 2 Pape, I. 22 Parmenides 38, 285, 297 Parsons, T. 11 Paulus 44, 178-184, 202 Perikles 66, 145 Philo 179 Picht, G. 26 Piaton 34-37, 54, 67, 146, 161, 237, 249, 288, 292, 299, 336-338 Plessner, H. 3, 23, 30 f.
Salaquarda, J. 126, 167, 178, 183, 189, 268, 288 Sandvoss, E. R. 339 Scheler, M. 22 Schelling, F. W. J. 51, 81, 237 Schelsky, H. 21, 47 Schiller, F. 112, 133, 237, 315, 329 Schlechta, K. 195, 210, 314 Schlosser, F. C. 71, 74 Schmid, W. 3, 24 Schmitt, C. 22, 71 Schneider, G. H. 235, 291 Schneider, U. 258 Schopenhauer, A. 52-59, 86, 96 f., 106, 109, 111, 115 f., 118 f., 126, 128, 135-137, 156-158, 161, 164 f., 171, 173, 184, 187-
Plücker, J. 239
188, 190, 193 f., 218-220, 222 f., 227 f.,
Popitz, H. 25
237, 249, 311, 317, 337
Personenregister
Schottländer, R. 3, 258 Schröter, H. 104, 126 Seeberg, E. 45 f. Shakespeare, W. 70 Siep, L. 27 Simmel, G. 17, 111, 126 Simon, J. 51, 266, 279, 297 Sloterdijk, P. 270, 277, 327 Sokrates 1, 67, 115, 122, 339 Solomon, R. C. 127 Solon 232 Sommer, M. 195 Sophokles 145 Spencer, H. 173, 187-189, 195, 200 Spengler, O. 104 Spinoza, B. 34, 46, 48-50, 52, 190-195, 257, 312, 336 Spir, A. 50, 188, 190, 237, 291 Stambaugh, J. 3, 91, 127, 308, 315 Stegmaier, W. 258, 298 Stendhal 77 f., 182 f. Stewart, B. 195 Stirner, M. 337 Strauss, D. F. 98, 103, 125 Strausz-Hupé, R. 20
363
Ungeheuer, G. 243 Vauvenargues 77 Venturelli, A. 149 Villwock, J. 123 Virchow, R. 195 Vischer-Bilfinger, W. 102 Vogt, J. 32, 61, 63 Vogt, J. G. 196 f., 199 f. Voltaire 20, 86, 128, 338 Volz, P. D. 102 Wackernagel, J. 142 Wagner, C. 86, 103, 126 Wagner, R. 86, 92-101, 103-106, 119, 121, 123-127, 163, 226 Wallace, A. R. 196 Wapnewski, P. 99 Ward, D. E. 48 Weber, M. 18, 260 f. Weber-Schäfer, P. 66 Weizsäcker, C. F. v. 20 Widmann, J. V. 278 Willaschek, M. 48 Wille, G. 64
Taine, H. 175 f. Taureck, B. 3, 48, 51, 150, 217, 290 Thatcher, D. S. 195 Thrasymachos 146 Themistokles 64, 111, 163 Theognis 62 Thukydides 34, 61, 63-67, 111, 145 Treitschke, H. v. 76 Tugendhat, E. 39
Wischke, M. 98 Wittgenstein, L. 28, 286 Wohlfart, G. 313 f. Woodhead, A. G. 64 Wrong, D. H. 25 Wurzer, W. S. 48, 190 Zeltner, H. 20, 25 Zenon 37 f., 189 Zöllner, J. C. F. 207, 209
Ulmer, K. 261
Zuckert, C. 315
Sachregister
Absicht 18, 226, 257 actio in distans 78, 266 Affekt 121, 138, 156, 158 f., 201, 213, 222223, 225, 231 agon 115, 119, 123, 162, 298, 305, 323 Aktivität 157, 165, 192 f., 218, 252, 261, 273 Allmacht 14, 40, 42, 49 f., 59, 69, 90, 93, 135 amor fati 90, 168, 181 f., 191, 287 Analogie 55, 120, 163, 166, 210, 212, 218, 231, 238, 255, 266, 288, 295, 298, 304, 325, 332 anthropologisch 135 f., 140, 166, 290, 330, 336 anthropomorph 120, 210 f., 214, 217, 263, 275, 331 Anzeichen 8, 160, 229, 269 apollinisch 91 f., 115, 118 Arbeit 13, 103, 108 f., 132 f. Aristokratismus 109, 118, 261 Askese 141 f., 180, 267 Augenblick 38, 64, 66, 160, 167, 216, 287, 299, 309 f., 313-315, 319, 324 Auslegung 212, 227, 238, 240, 243-245, 256, 279 f., 304, 316 Außen 23, 54, 81, 106, 120-124, 127 f., 140145, 153, 155 f., 159, 161 f., 164, 176, 180, 196, 201 f., 204, 206, 210-214, 217, 219, 230, 238, 249-252, 255, 262 f., 272274, 276, 281, 310 f., 325 Außenperspektive 164, 252 Autorität 40, 138, 259
Bedürfnis 108 f., 141, 171 f., 194, 218, 228, 290, 296 Befehl 178, 182 f., 213, 217, 221-223, 234, 241-244, 260 f., 265, 318, 324, Bewegung 36-38, 74, 80, 124, 129, 160, 228, 251 f., 257, 264, 277 f., 281, 306, 310, 318, 323, 332 Bewußtsein 55, 117, 120, 139, 199, 216,
231326 196, 297, 224,
227 f., 282, 285, 303, 312 bia 61, 92 böse 1, 36, 67, 71 f., 74-76, 96-99, 104, 108, 110-112, 131, 134 f., 162 f., 250 Böses 1, 69, 72 f., 95, 106, 109, 111 f., 131, 133 f., 179 Chance 159, 260 Christentum 40, 69, 82, 159, 169, 178 f., 183-184 Dämonie 94 Darstellung 163 Décadence 184, 294 Demaskierung 77 Destruktion 75, 124, 190, 286, 302, 312 Dialektik 215 f., 233, 275, 323, 337 Dialog 118 Ding an sich 219 f. dionysisch 91 f., 115, 174, 191, 226, 332 f. Disposition 10-12, 17, 28, 74, 234, 254, 273 Distanzgefiihl 158 Disziplinierung 117, 119, 289 Drang 157, 159, 218, 221, 227 f. Dynamik 44, 55 , 74, 79, 110 f., 157, 159-
366
Sachregister
161, 185 f., 199-202, 204, 215, 218, 228-
Feind 141 f.
230, 236, 249, 251, 264 f., 270 f., 273-
Fiktion 8, 12, 23, 197, 219, 244, 256, 307
275, 277, 311, 318
Freiheit 29, 39, 4143, 50, 80, 95, 97, 162 f.,
dynamis 35-40, 61, 63, 161, 180, 207-209, 256, 313 f., 317
171, 211, 221-225, 228, 237, 241, 294 Fremdwahrnehmung 148 Freundschaft 35, 170
Egoismus 71, 76, 110, 131, 134, 146, 178, 183, 185, 192
Furcht 27, 63 f., 68, 131, 134, 137 f., 170, 182, 228
Ehre 63, 99 Ehrgeiz 65, 99
Gegenmacht 32, 93, 213
Eitelkeit 132, 134, 139, 176
Gegensatz 65 f., 75, 79, 88, 91-93, 116, 119,
Ekel 94, 97, 100, 134, 179, 184
128, 149, 162, 173, 176-179, 259, 262,
Emanzipation 3, 30 f., 33, 75, 80, 96, 113,
322
322, 329 f., 334 f. Empfindung 122, 149, 177, 199, 210, 218, 228 energeia 37 f., 317 f. Energie 20, 23, 38, 159, 165, 195, 197 f., 208, 261, 317 entelecheia 37 f. Entladung 197 f., 213, 254 Entscheidung 39, 146 Erfolg 62, 64, 79, 101, 156, 160, 226 Erkenntnis 50, 191, 282, 292, 296, 320, 328329 Ermächtigung 40 Erwartung 11, 26, 147, 156, 160, 171 f., 186, 271, 316 Erziehung 115
Gegenseitigkeit 27, 47, 119, 146, 148, 150, 213, 262, 316 Gegenwart 39 f., 113, 220, 299, 310, 313, 324 Gegenwärtigkeit 160, 314 Gegenwehr 95 Gegner 63, 66, 68 f., 103, 116 f., 120, 141, 158, 213 Gehorsam 41 f., 45, 182 f., 213, 221, 231234, 242, 260, 265, 318, 326 Geist 2, 78 f., 105, 150, 165, 179 f., 220, 253, 328 f. Geist, freier 48, 127, 129, 203, 294, 320, 338-339 Genie 78, 112, 114, 118, 128, 162, 176, 202, 205
Etwas-Wollen 230 f., 269 f., 325
Genius 100 f., 103, 107, 109, 111-113, 132 f.
Evidenz 220, 311
Gerechtigkeit 40 f., 43, 93, 113, 145 f., 148,
Evolution 192 existentiell 87, 283 Existenz 31, 104, 108 f., 150, 186, 226, 230, 242, 282, 286 f., 305 Experiment 283, 288, 301, 333 Experimental-Philosophie 86, 131, 203, 219, 243 Expression 276 f., 283
150, 152 Geschichte 31, 74-76, 85 f., 107, 122, 125, 154, 165, 184 Gesellschaft 23, 25, 76 f., 99, 106, 147, 151153, 165, 201, 205, 233-235, 263 Gesetz 63, 79, 93, 112, 179, 223, 232, 304 Gesetzgebung 100 f., 232, 244, 257, 261, 289, 326
Sachregister
Gestalt 38, 78, 122, 164, 245, 261, 272, 276, 300, 329 Gestaltung 39, 111, 140, 186, 217, 263, 272 Gesundheit 58
367
Individuum 55, 57-59, 65, 73, 78, 96, 107, 109, 112, 119, 121, 124, 129, 138 f., 153, 160, 174, 176-178, 185, 192, 201, 276, 339
Gewalt 20, 27, 40, 43, 63, 68, 70 f., 74, 94,
Innen 23, 39, 48, 51-54, 79, 81, 106, 120-
113, 119, 141, 145, 150, 162, 253 f., 259
124, 128, 141-145, 148, 153-156, 159,
Glanz 73, 93, 95, 99, 113, 121
161, 164 f., 180, 195 f., 201 f., 204-206,
Gleichgewicht 14, 145, 149, 152, 181
209-219, 230, 237 f., 249-253, 255, 262-
Gleichheit 146, 149, 158, 195
263, 272-276, 281, 311, 324 f.
Gleichstellung 146, 149
Innenperspektive 155, 164, 252
Gleichwertigkeit 149, 310, 325
Instinkt 134, 145, 212 f., 225, 294
Gleichzeitigkeit 310, 315, 324
Instrumentalität 112, 254-256, 326
Glück 22, 59, 68, 77, 257
intelligibel 214, 236-238, 289
Gott 40, 42, 44 f., 48 f., 69 f., 80, 90, 9296, 124, 135, 173, 179 f., 184, 191, 309, 322 Grammatik 266, 282 f., 285 Größe, historische 73 f., 94, 107, 112-114, 129, 185 Größe, relationale 154, 295 Grund 53, 77, 182, 218, 221, 304
Intention 18, 166, 229, 231, 266, 269 Intentionalität 186, 325 Interaktion 25 Interesse 68, 70, 77, 110, 138, 146, 149, 152, 203, 271 Interpretation 8, 150, 225, 227, 230, 240, 243-244, 263, 279 f., 286 f., 304, 312, 327 isokratia 62
Handeln 11, 40, 80, 114, 130, 140, 153, 165,
isonomia 62
192 f., 196, 209, 329 Handlung 19 f., 28, 47, 50, 66, 121 f., 164, 166, 179, 210, 219, 221, 226, 230, 237, 311 Handlungsbewußtsein 270 Handlungserwartung 150 Handlungsmöglichkeit 10, 140, 209 Heros 98, 115, 132, 162 Herrschaft 20, 43, 63, 68, 77, 81, 93, 96, 100, 141, 177 f., 180, 213 f., 217, 233 f., 258-265 Herrschsucht 141, 182 Hierarchie 158, 262, 326 Hindernis 160
Kampf 43, 86, 91 f., 95, 103, 108 f., 115119, 124, 128, 150, 162, 193, 200-202, 212-214, 298 f., 322 f. Können 10, 23, 225 f. Körper 120, 156 f., 196, 310 Kommunikation 27 Kondition 155, 165, 212, 293 Konflikt 65, 310, 323 Konstanz 244, 298, 303 f. Kraft 8 f., 13, 20, 24, 35, 40, 55, 58, 71, 75, 79, 89, 94, 99, 106, 119, 157, 161 f., 166, 169, 174, 176 f., 196-206, 208, 210217, 225, 231, 233, 235, 238, 241, 249,
Immoralität 257 Individualität 50, 75, 113, 123, 135, 177 f., 185, 188, 323, 337
252, 259, 273, 281, 288 Kraft, innere 81, 116, 144, 156, 161, 230, 235, 237, 239, 252, 255, 272, 340
368
Sachregister
kratos 92, 192
Machtkritik 72, 107, 110
Krieg 101-103, 115, 117, 162, 299, 322 f.
Machtorganisation 33
Kritik 75, 77, 129, 133, 173, 178, 185, 188,
Machtquantum 215-217, 255
190 f., 193, 197, 207, 214 f., 219-222, 224, 226, 274, 279, 285, 289, 292 f., 305, 309-311, 314-317, 335-338 Kritiker 130, 286 f., 293 f. Kultur 72-74, 94, 97, 100, 102 f., 105-110, 114 f., 117 f., 141, 152, 179, 294 Kunst 79, 86, 91, 93 f., 99 f., 104, 108 f., 111, 122, 141, 163, 294, 328 f.
Machtsteigerung 36, 79, 142, 164, 181, 251, 256, 264, 334 f. Machtstreben 67, 75-77, 97, 128, 131, 140, 144, 166, 171, 178, 180 Machtvollkommenheit 79, 107, 121 Machtwechsel 96 Mechanismus 185, 214 f., 221, 275 Meinung 139, 148, 154, Mensch 19, 28, 32, 36, 42, 46 f., 56, 70 f.,
Leben 45, 47, 79, 86, 111, 125, 131, 134-
75, 80, 85, 92, 94-96, 100, 113-115, 117-
136, 173 f., 184-189, 198, 216, 233, 243,
118, 120 f., 124, 129, 151 f., 163, 165 f.,
270, 281 f., 293 f., 298, 301, 303, 327,
192, 201, 203, 206, 209 f., 216, 227, 234,
340
238, 255, 275, 288, 290, 299, 301, 308,
Leib 55, 164 f., 179, 228, 234, 243, 249, 272, 276 f., 299, 310 f. Leiblichkeit 179, 228 Leistung 16, 21, 73, 78, 117, 133, 151, 162, 186, 205 Liebe 35, 42, 95, 115, 131, 182, 191
322, 328, 330-335 Metapher 89, 101 Metaphysik 4, 34 f., 47-49, 52, 126, 129, 165, 194, 207, 209 f., 216, 219 f., 222, 227, 243, 252, 274, 283 f., 288-296, 305, 310, 313 f., 319-321, 330, 333, 336 f.
Liebe zur Macht 34, 76, 141
Methode 77, 130, 153, 177, 183, 289
List 62, 68, 94
Metonymie 89, 114
Lust 99, 110, 120, 134-140, 155 f., 159, 163,
Mitleid 95, 138, 159, 183
176, 179, 221 f., 228, 240-242, 303 Lustgewinn 131, 134, 136, 139
Mitteilungsmittel 27 Mittel 8, 16, 25, 69, 112, 114, 163, 175, 205, 254 f., 257, 266, 305, 307, 312, 326-
Machtentfaltung 100, 106, 113-115, 156, 163, 302 Machterfahrung 59, 96, 141 f., 160, 174, 204, 308
327 Mobilität 323 f. Möglichkeit 20, 23, 29, 37-39, 47, 51, 67 f., 80, 160 f., 175, 186 f., 208-210, 316-319
Machterhöhung 143
Moral 169, 182 f., 222, 257, 322, 328
Machtgefalle 14
Motiv 55 f., 106, 119, 137, 148, 154, 164,
Machtgefuhl 78, 81, 88, 133 f., 138, 142,
166, 183, 226, 250
144, 155-161, 164 f., 171 f., 177, 179 f.,
Musik 92-94, 99, 123
182, 202, 204, 211, 218, 240-244, 281,
Muße 132
325 Machtgeschehen 95, 101, 111 f., 114, 245, 302-304, 329
Natur 33, 81, 99, 108 f., 118, 151-153, 196197, 200 f., 206, 296
Sachregister
369
Naturrecht 67, 146
Rache 100, 149, 177, 182
Nihilismus 130, 169, 184, 286
Rang 114, 158, 205, 213
noumenon 236, 231
Rangunterschied 15, 108, 125, 158, 233, 262, 326
Ohnmacht 7, 41, 95, 100, 133 f., 138, 159,
Raum 143, 165, 196, 209, 275, 297, 308,
170 f., 179 Ontologie 80, 315 f., 319-321 Optimum 136, 326
Realität 61, 119, 164, 175, 219 f., 226, 243,
Ordnung 42, 70, 76, 117, 124, 215, 236, 263-264, 289, 299, 309, 313 Organisation 15, 149, 152, 213, 217, 229, 233 f., 257-260, 263-265, 307, 323, 326 Organismus 135, 157, 171, 177, 196, 198, 201, 214, 234, 244
314, 324 f. 255, 267, 277, 282, 291, 293-297, 301, 305, 310, 312 f., 317, 319, 327 Recht 63, 66, 71, 73, 116, 145 f., 148-154, 182 Redlichkeit 87, 286, 339 Reduktion 216, 270, 275 Reduktionismus 77, 128, 138 Reichtum 61 f.
Pathos 121, 123, 156, 164 Perspektive 164, 216, 238 f., 262, 273, 294, 326, 330 Perspektivismus 243, 251 Perspektivität 265, 311, 326 phaenomenon 236 Phantasie 137 Philosophie 85, 88, 96, 111, 135, 169, 208, 214, 219, 221 f., 260, 265, 291, 293, 295, 304, 321, 333, 336, 338, 340 physis 114, 120 f., 146, 152 Piatonismus 274 f., 320 Pluralität 265, 276, 323 f., 335, 340 Polis 62, 65 Politik 34, 73, 101 f., 104, 260 f., 340 potentia 35-43, 45 f., 50, 69, 161, 192, 208, 257 Potenz 28, 74, 107, 175, 212, 317, 319, 335 power 26, 29, 31, 47, 128, 140, 169 Präsenz 28, 37, 64, 159, 243 Praxis 168, 193, 200, 278, 320 Produktion 108, 110, 128, 251 Psychologen 77, 128, 130, 132, 135, 139, 143 f., 153 Psychologie 76 f., 127 f., 134, 138 f., 153, 165, 202, 222, 224, 228, 290, 307, 316
Reiz 122, 156 f., 177, 197 f., 277 Relation 15, 146, 158, 181, 198, 200, 211, 251, 273, 278, 280, 303, 305 f., 316 f., 324 f. Relativität 216 f., 307, 325 Religion 72-74 Renaissance 68, 337 Repräsentation 160, 178, 280 Repräsentativität 327 Ressentiment 100, 149, 181 f. Revolution 175 Rhetorik 123, 163, 275, 277-280 Rhythmus 100, 200, 300, 315 Schein 121, 147, 154, 163, 238, 280, 285 f., 305, 309, 315, 317, 319, 323, 325, 327 Schema 89, 171, 178, 270, 285, 287, 296, 300, 327 f. Schicksal 90, 95, 110, 191 Schmerz 136, 159, 225, 228 Schönheit 91, 254 Schöpfermacht 70, 207 Schuld 95, 97, 179, 206, 221 schwach 158, 174, 181-183 Schwache 67, 74, 146, 150, 158 f., 182
370
Sachregister
Seele 78 f., 101, 153, 206, 212, 232, 252, 272, 298, 310 f. Sein 35, 39, 51, 80, 135, 165, 218, 220, 226,
Spannungszustand 262, 326 Staat 68, 71-74, 76, 102, 105-107, 111, 201 Staatsgewalt 72
251, 280, 282, 286, 288 f., 293, 295-299,
Staatsmacht 69 f.
305, 309, 315, 319
Stärke 20, 40, 59, 61, 77, 116, 120, 122,
Selbstbegrenzung 33 Selbstbegriff 212, 328, 330 Selbstbehauptung 138, 159, 162 Selbstbewußtsein 55, 57-59, 68, 316 Selbstdeutung 263 Selbstdisziplin 232, 261 Selbsterfahrung 21, 29, 52, 55, 57, 80, 87, 89, 121, 139, 160, 166, 203, 212, 218, 238 f., 269, 290, 298, 330, 340 Selbsterhaltung 47, 49, 70, 106, 108-110,
145, 147, 150, 162 f., 176 f., 211, 229, 261 stark 158, 164, 174, 181-183 Starke 66, 113, 146, 150, 158 f. Steigerung 143, 180, 187, 189 f., 256, 262265, 270 f., 277 f., 295 Stimulans 116 f., 120, 157, 159, 278 f., 329 Streit 92, 94, 115, 117, 119 Subjekt 7 f., 51, 76, 97, 115, 122, 129, 139,
113, 129-131, 135-140, 146, 169, 173 f.,
147, 165, 180 f., 209, 219, 221, 236 f.,
184 f., 187-190, 192-194, 204
244, 252, 254 f., 266, 306 f.
Selbstgenuß 137-138, 157
Sublimierung 119, 162, 179
Selbstherrschaft 107, 144, 263, 267
Substanz 49-51, 80, 220, 251 f., 265, 288,
Selbstmacht 143 f., 242
293, 298, 303 f., 307, 314, 336
Selbstorganisation 160, 205
Symbol 133, 329
Selbstregulation 113, 214
symbolisch 182, 229, 261 f., 312
Selbstüberbietung 59, 139
Systematiker 286 f.
Selbstüberwindung 45, 143, 170, 173, 187,
systematisch 3, 54, 76, 87-89, 96, 128, 147,
203 f., 264 f., 301 f. Selbstverständnis 19, 29, 41, 77, 163, 221 Selbstwahrnehmung 81, 148, 242
149, 169, 182, 191, 194, 206, 220, 234, 251, 281, 283 , 285-287 , 292 , 298 , 316, 322, 339 f.
Sieg 69, 81, 95, 103, 117, 119 f., 169, 205, 249 Sinn 86, 124, 157, 184, 186, 191, 264, 279, 289, 293 f., 322, 326, 337 Sinnfrage 293, 320 f. Skepsis 129 Sklave 108, 182 f. Sklaventum 108, 133 Sozialität 23, 148, 151, 234 Soziologie 76, 127, 150 f., 153, 234 f., 260, 290 soziomorph 214, 245, 260, 263, 326, 331 Spannung 88, 172, 176 f., 198 f., 262, 325, 334
Tat 78, 113, 122, 162, 226, 307, 315 Tausch 145 f., 151 Telos 16, 185, 191, 193, 196 f., 256, 267, 311 f., 317 Tier 56, 71, 118, 137, 151 f., 165 f., 213 Tod 87, 136, 173, 184, 191, 301, 322, 332 Tragödie 92, 115 Trieb 55 f., 91-93, 95, 108, 118, 131, 134, 136-138, 161, 171-173, 176, 188, 192, 211, 213, 218, 221, 228, 244, 266, 318 Tugend 35, 49, 77, 113, 134, 151, 232, 257, 320, 328
Sachregister
Übergang 60, 95, 98, 128 f., 143, 156, 175, 216, 251 f., 274 f., 278, 293, 298, 302, 306, 316, 323 Überlegenheit 12, 61, 78, 95, 119 f., 157, 159, 176, 180 f., 211, 214, 241, 258, 318 Übermensch 87, 118, 169, 173, 203, 216, 301, 332
371
Werkzeug 8, 111, 205, 254 Wert 26, 67, 69, 71, 74 f., 87, 133 f., 169, 184, 200, 222, 256 f., 261, 294, 328, 333 Wertschätzung 130, 133, 150, 172, 226 Wettkampf 115-118, 162 Widerstand 13, 142 f., 153, 177, 241, 165, 283, 300, 325
Überwältigen 141 f., 214, 303
Wiederholung 229, 287, 315, 323
Überwindung 92, 95, 119 f., 129, 138, 142-
Wiederkehr, ewige 87, 169, 173, 199 f., 332
143, 161, 164, 177, 187, 200, 205, 250,
Wiederkunft 167 f., 196, 287, 299
275 f., 300
Wille 18, 29, 39, 42, 44, 50, 52, 54, 56, 72-
Übung 225, 232 Umwertung 46, 67, 69, 87, 114, 163, 169, 184, 200, 222, 251, 257, 294, 328, 333 Ursache 9, 197, 221, 223 f., 229, 237 f., 304-305, 307-309, 312 Utopie 169, 319
73, 80, 89, 97, 111, 126, 149, 161, 163, 171-173, 181-187, 192, 205, 217-231, 233-237, 240, 242, 244 f., 251 f., 259, 265-275 Wille zum Leben 56, 115, 135 f., 161, 173174, 184, 186 f., 202 Wille zur Macht 30, 75 f., 87, 89, 127, 161,
Verantwortung 29, 151, 206, 234 Verfügung 12, 14, 16, 32, 36, 96, 101, 180, 211, 254, 258, 267, 295, 318 Verlangen 172, 182 Vermögen 11-14, 16, 20, 25, 28, 35 f., 39, 47, 49, 58, 68, 80, 132, 151, 163, 189, 192, 222, 252, 314 Vernunft 44, 54, 57, 97, 123, 131, 148, 168169, 185, 192-194, 202, 205, 219, 232, 289 f., 292, 295, 297, 337 f., 340 Vernunftbedürfnis 288 f. Vertrag 151 Vollmacht 40 Vorstellung 57, 126, 147, 155, 171, 186, 223, 227 f., 230 Vorzeichen 9, 256
164, 169, 171-174, 184, 187, 202-220, 225, 236, 238 f., 243, 245, 249, 251, 253, 267-283, 287 f., 292, 308, 314, 320, 331332 Wirklichkeit 2, 20, 28, 38 f., 47, 67, 106, 116, 119, 147, 154, 160, 175, 186 f., 208, 243, 281-283, 290, 296 f., 317-319 Wirksamkeit 36, 78, 112, 121, 212, 222, 235, 266, 274 Wirkung 7, 9 f., 17, 26, 43, 73, 78, 91, 121122, 142, 162, 168, 195, 197, 217, 223, 235, 237 f., 258, 265 f., 269, 273, 305, 308 f. Wissen 40, 67, 199, 237 Wissenschaft 87, 125, 128 f., 131, 141, 143, 187, 195-198, 200 f. 203 , 206-209, 239, 289 f., 333 Wollen 29, 47, 55, 58, 170 f., 185-187, 221-
Wahrheit 86, 183 f., 226, 279 f., 285, 322,
231, 233 f., 240, 243, 267, 269 f.
338 Werden 30, 80, 116, 119, 123, 294-299, 301303, 306 f., 309, 313, 315, 322, 333 Werk 205, 226
Zeichen 26 f., 123, 163, 230, 240, 245, 252, 258, 260, 262, 269, 273, 278, 280, 312, 324, 327 f.
372
Sachregister
Zeigen 26, 73, 206, 245, 255, 327
Zufall 68, 90, 197 f.
Ziel 95, 97 f., 112 f., 163, 185, 226, 230 f.,
Zukunft 10, 22, 92, 95, 160, 291, 319, 324
256 f., 267 f. Züchtung 225, 232
Zweck 16 f., 47, 75, 97, 113 f., 185 f., 231, 256 f., 304, 307, 311-313, 327
John E. Wilson
Schelling und Nietzsche Zur Auslegung der frühen Werke Friedrich Nietzsches 24 X 17 cm. XI, 400 Seiten. 1996. Ganzleinen ISBN 3-11-015128-6 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 33)
Eine Untersuchung über Nietzsche im Vergleich mit dem deutschen Philosophen F.W.J. Schelling (1775-1854).
Aus dem Inhalt: Schellings Prinzipienlehre und „Methode" — Prinzipienlehre bei Nietzsche: Aus Nietzsches Basler Vorlesungen über die vorplatonische und platonische Philosophie — Zusammenfassende Darstellung des Mythologiebegriffs beim späten Schelling — Mythologisches aus Nietzsches Basler Vorlesungen — Problembereiche in der „Geburt der Tragödie" (1872) — Andere Schriften Nietzsches aus dieser Zeit — „David Strauß der Bekenner und der Schriftsteller" (1873) — „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) - „Schopenhauer als Erzieher" (1874) „Richard Wagner in Bayreuth" (1876) - „Wir Philologen" (Notizen aus dem Jahre 1875) — Ein Blick auf spätere Schriften - Ein Blick in die Jugendzeit Nietzsches (1862-1868).
Walter de Gruyter
W DE
G
Berlin · New York
Hays Alan Steilberg
Die amerikanische NietzscheRezeption von 1896 bis 1950 24 X 17 cm. XIV, 452 Seiten. 1996. Ganzleinen ISBN 3-11-015039-5 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Band 35)
Untersuchung zur Vorgeschichte des philosophischen Diskurses über Nietzsche in Amerika, die von einer tiefen Gespaltenheit zwischen ernstgemeinter Anfeindung und feierlicher Huldigung des Philosophen gekennzeichnet ist. Mit Zitaten in englischer Sprache. Aus dem Inhalt: Frühe Rezeption: Herausgeber, Ubersetzer, Ubersetzung — Vorbereitende Einflüsse außer- und innerhalb Amerikas — Der populäre Streit um Nietzsche. Essayistik 1896—1914: Konservativismus/Sozialdarwinismus — Radikales Reformdenken. Essayistik 1914-1929: Der Weltkrieg - „Literary Radicals" — New Humanists — H. L. Mencken (redux). Essayistik 1929—1950: Verordnetes Schweigen — Der akademische Nietzsche — Der zweite Weltkrieg. Philosophische Rezeption: Nietzsche und Amerikas Philosophen der Jahrhundertwende — Monographien. Literarische Rezeption: Roman — Drama — Lyrik.
Walter de Gruyter
W G DE
Berlin · New York