Vom Verstehen des Neuen Testaments: Eine Hermeneutik 9783666513664, 9783525513668


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German Pages [276] Year 1986

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Vom Verstehen des Neuen Testaments: Eine Hermeneutik
 9783666513664, 9783525513668

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Grundrisse zum Neuen Testament

6

V&R

Grundrisse zum Neuen Testament Das Neue Testament Deutsch · Ergänzungsreihe Herausgegeben von Gerhard Friedrich t

Band 6 Vom Verstehen des Neuen Testaments Eine Hermeneutik

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1986

Vom Verstehen des Neuen Testaments Eine Hermeneutik

von Peter Stuhlmacher

2., neubearbeitete und erweiterte Auflage

Göttingen · Vandenhoeck & Ruprecht · 1986

ClP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Stuhlmacher,

Bibliothek

Peter:

Vom Verstehen des Neuen Testaments: e. Hermeneutik / von Peter Stuhlmacher. — 2., neubearb. u. erw. Aufl. — Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1986. (Grundrisse zum Neuen Testament; Bd. 6) ISBN 3-525-J1355-6 NE: GT

© Vandenhoeck 8c Ruprecht, Göttingen 1986. Printed in Germany.—Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Satz und Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen. Bindearbeit: Hubert 8c Co., Göttingen

Herrn Bischof i.R. D. Helmut Claß

Vorwort zur zweiten Auflage Die erste Auflage dieses bewußt auf die hermeneutische Situation in Deutschland zugeschnittenen Studien- und Lesebuches ist freundlich begrüßt, aber auch scharf kritisiert worden. Bei der Neubearbeitung habe ich die Äußerungen beider Seiten zu berücksichtigen versucht. Auf dem zur Verfügung stehenden Raum ließen sich allerdings die Wünsche derer, die gern noch zusätzliche Informationen über die Geschichte und gegenwärtige Problematik der Schriftauslegung gehabt hätten, leider nur in begrenztem M a ß e berücksichtigen; die hermeneutische Debatte ist seit 1 9 7 9 weitergegangen, und auch darauf war zusätzlich einzugehen. Eine von mir in die Erstausgabe gesetzte Hoffnung ist nicht in Erfüllung gegangen. Ich war bemüht, einen Weg des Umgangs mit der Schrift zu skizzieren, der (m. E.) sowohl von den sog. Evangelikaien als auch von den stärker der herkömmlichen wissenschaftlichen Kritik Verpflichteten beschritten werden konnte; zugunsten dieses Vorhabens hatte ich meine eigene Sicht der Dinge oft zurückgehalten. Dieses Angebot ist nicht akzeptiert worden. Beide Richtungen sind bei ihrem jeweils gewohnten Auslegungsverfahren geblieben und arbeiten weiterhin mit Hilfe der für sie unter diesen Umständen unentbehrlichen gegenseitigen Feindbilder: Meinem Entwurf ist von evangelikaler Seite vorgehalten worden, er wolle im Endeffekt doch nur zur ungläubigen Bibelkritik verführen und Luthers unhaltbare Suche nach einer Mitte der Schrift fortsetzen, während ich von der Gegenseite zu hören bekam, ich rede in höchst unerfreulicher und befremdlicher Art und Weise einem wissenschaftsfeindlichen Pietismus das W o r t . . . Ich gebe trotz dieser enttäuschenden Reaktionen die Hoffnung auf eine für die Kirche dienliche Verständigung beider Seiten nicht auf. Bis die Zeit dafür reif ist, kann ich nur versuchen, die Sicht der Hermeneutik vorzutragen, die sich mir von der Schrift her aufdrängt und die ich deshalb für schriftgemäß halte. Wie schon im Vorwort zur ersten Auflage, weise ich aber ausdrücklich darauf hin, daß es „zum Thema Schriftverständnis noch einiges mehr zu sagen (gibt), als in diesem Buche steht". Bei dem Vorschlag, eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten zu praktizieren, bin ich geblieben. Die Weiterarbeit an hermeneutisch so grundlegenden Texten wie l . K o r 1 , 1 8 - 2 , 1 6 ; 2.Kor 1 0 , 5 ; 2.Tim 3 , 1 4 1 7 ; 2.Petr 1 , 1 6 - 2 1 hat mich aber in den letzten Jahren vollends davon überzeugt, daß es bereits einen maßgeblichen biblischen Ansatz für die Hermeneutik gibt. Wer die Schrift so auslegen will, wie es den Texten entspricht, muß diesen Ansatz sorgfältig bedenken: Die (mit Paulus) von der Vor-Gabe des Evangeliums vom gekreuzigten und auferstandenen Christus ausgehende Schriftauslegung hat das Evangelium nach-zudenken und, wo nötig, als Maßstab der ihr (ebenfalls schon von Paulus her) aufgetragenen Sachkritik einzusetzen (vgl.

8

Vorwort

l.Thess 5 , 2 1 ) . Der natürliche Ort für solche Schriftauslegung ist das Leben der Kirche. Die äußere Klarheit der Schrift nötigt aber dazu, bei der Auslegung so zu arbeiten und zu argumentieren, daß Methode und Ergebnisse auch über den kirchlichen Raum hinaus verständlich und diskutabel bleiben; vor einer Verschränkung historischer und dogmatischer Urteile darf die kirchliche Auslegung der Schrift allerdings nicht zurückschrecken. Wie sich die Hermeneutik des Einverständnisses darstellt und in welchen Schritten sie die Texte interpretieren sollte, habe ich in § 14 entfaltet. - Das exegetische Abschlußkapitel der ersten Auflage ist aus Raum- und Sachgründen weggefallen. Es soll nicht länger der irrige Anschein erweckt werden, als führe die Hermeneutik des Einverständnisses nur zu der Form von Biblischer Theologie des Neuen Testaments, die in jenem Kapitel skizziert wurde. Aus dem Einverständnis mit den Texten können verschiedene Auslegungen der Schrift erwachsen. Wie sie aussehen können und sollten, kann in dem soeben in den USA neu begründeten hermeneutischen Jahrbuch „Ex Auditu" (Bd. 1 , 1 9 8 5 ) diskutiert werden. Auch die Arbeit an der Biblischen Theologie ist weitergegangen. Der Text meines Schlußkapitels ist in etwas erweiterter Form zugänglich in dem Calwer Paperback: P. Stuhlmacher — H. Claß, Das Evangelium von der Versöhnung in Christus, 1 9 7 9 , 1 3 - 5 4 . Das von 1 9 8 6 an in Neukirchen erscheinende Jahrbuch für Biblische Theologie bietet eine Plattform, auch die Aspekte und Perspektiven der Biblischen Theologie weiter zu erörtern. Auch die zweite Auflage des Buches soll Bischof i . R . D. Helmut Claß gewidmet bleiben. Ich bin ihm seit meiner Jugendzeit zu Dank verpflichtet und sehe ihn nun auch im (aktiven) Ruhestand unablässig bemüht, einem Zerbrechen unserer Kirche in mehrere einander befehdende Lager durch biblisch-theologische Arbeit zu wehren. Ich bin für dieses Vorbild dankbar. Last, not least: der Dank. Ich danke meinen Assistenten Dr. K.-Th. Kleinknecht, Dr. R . Riesner und St. C. Amador für ihre Hilfe bei den Korrekturen und bei der Fertigstellung der Register; Frau G. Kienle bin ich für ihre Schreibhilfe zu Dank verpflichtet und dem Verlag für die freundliche Betreuung der Neuauflage des Bandes verbunden. Tübingen, den 1. November 1 9 8 5

Peter Stuhlmacher

Inhalt Vorwort Einführung § 1 Die Begegnung mit dem Neuen Testament heute 1. Der römisch-katholische Standpunkt 2. Tendenzen im Protestantismus 2.1 Zürcher Bibel und Lutherbibel 2.2 Lutherbibel erklärt 2.3 Die Losungen der Brüdergemeine 2.4 Kritische Ausgaben 2.5 Das Matthäusevangelium als revolutionärer Traktat §2 Der gegenwärtige Streit um die Schriftauslegung 1. Die Thesen von Ernst Troeltsch 2. Die katholische Bibelkritik 3. Bibelkritik in der orthodoxen Kirche 4. Die protestantische Bibelkritik 4.1 Die radikale Kritik 4.2 Die Kritik an der Kritik 4.3 Das Nein zur Bibelkritik §3 Das Neue Testament und der biblische Kanon 1. Der neutestamentliche Kanon als das Alte Testament ergänzende kirchliche Auswahlsammlung 2. Die Gründe für die Ausbildung des neutestamentlichen Kanons 2.1 Das Orientierungs- und Traditionsbedürfnis der Gemeinden 2.2 Besondere Herausforderungen 2.2.1 Der Rückzug der Synagoge auf den masoretischen Kanon . . 2.2.2 Die gnostische Fehldeutung des Alten Testaments und seine Ablehnung durch Markion 2.2.3 Das apokalyptische Schwärmertum des Montanus

3. Der Verlauf der Kanonbildung 3.1 Die Bischöfe als Entscheidungsinstanzen 3.2 Glaubensregel und Apostolizität als Auswahlkriterien . . . .

10

Inhalt

3.3 Die Lehre vom Logos als kanonbildende Theorie 3.4 Der Grundbestand des neutestamentlichen Kanons 3.5 Die endgültige Entscheidung über den Bestand des biblischen Kanons 4. Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament §4 Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift 1. Autorität und (dreifache) Gestalt des biblischen Zeugniswortes 2. Das Verständnis des (biblischen) Zeugniswortes 3. Die Inspiration der Schrift 3.1 Zeugnis in der Kraft des Geistes 3.2 Das biblische Zeugnis von der Schriftinspiration 3.3 Das ambivalente Verständnis der Schriftinspiration im Frühjudentum 3.4 Inspiration als Erwählungs-und Ermächtigungsgeschehen 3.5 Die hermeneutische Bedeutung der Inspirationslehre 4. Die hermeneutische Praxis der Inspirationslehre 4.1 Das Römisch-katholische Interpretationsmodell 4.2 Das reformatorische Interpretationsmodell 4.3 Das rationalistische Interpretationsmodell § 5 Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses 1. Das Schriftverständnis Jesu 2. Die ersten Ansätze zur christologischen Schriftauslegung 3. Das Schriftverständnis des Paulus 3.1 Der kritische Einwand gegen die neutestamentliche Auslegungsmethode 3.2 Paulus als Schriftgelehrter 3.3 Schrift und Buchstabe 3.4 Die eschatologische Vergegenwärtigung der Schrift 3.5 Die Typologie 3.6 DieAllegorese 4. Die „Erfüllungszitate" bei Matthäus 5. Das Schriftverständnis des Johannesevangeliums 6. Ansätze einer kirchlichen Hermeneutik im Neuen Testament... § 6 Grundprobleme und Leitlinien kirchlicher Schriftinterpretation zur Reformationszeit 1. Die Ausgangsbasis der altkirchlichen Schriftauslegung 2. Die allegorische Schriftauslegung der Gnostiker

bis

Inhalt

11

3. Die Bedeutung des Origenes für die christliche Schriftauslegung

79

4. Die Antiochenische Schule

82

5. Das hermeneutische Konzept Tertullians

83

6. Die Katenen-Kommentare

86

7. Die exegetische Leistung des Hieronymus

86

8. Die allegorischen Homilien des Ambrosius von Mailand

87

9. Die Bedeutung Augustins für die biblische Hermeneutik

87

10. Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn

90

11. Rückblick

91

§ 7 Schriftverständnis und Schriftauslegung zur Zeit des Humanismus und der Reformation 1. Der Beitrag des Humanismus zur biblischen Hermeneutik 1.1 Die kritische Rezension des Neuen Testaments durch Laurentius Valla 1.2 Johannes Reuchlins Bemühung um das biblische Hebräisch 1.3 Die kirchliche Hermeneutik des Erasmus von Rotterdam . . 2. Der hermeneutische Neuansatz der Reformatoren 2.1 Luthers biblische Hermeneutik 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4

Luthers reformatorische Entdeckung Luthers hermeneutische Grundsätze Luthers Bibelkritik Die Offenheit von Luthers Hermeneutik

2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4

Calvins Schriftverständnis Calvins Lehre vom inneren Zeugnis des Geistes Calvins hermeneutische Grundsätze Calvins hermeneutische Leistung

2.2 Calvins biblische Hermeneutik

§ 8 Schriftauslegung und Schriftverständnis Gegenreformation

93 93 94 94 95 97 97 97 98 102 105

105

106 106 107 108

im Zeitalter der

1. Die hermeneutischen Entscheidungen des Konzils von Trient...

109 109

2. Die Lehre von der Schrift in der Confessio Virtembergica

110

3. Die Hermeneutik des Matthias Flacius Illyricus

111

4. Das Schriftprinzip der Konkordienformel

114

5. Die Lehre von der Schrift in der altprotestantischen Orthodoxie 6. Die hermeneutischen Grundregeln der Orthodoxie 7. Gegenpositionen

115 116 118

12

Inhalt

7.1 Das rationalistische Verständnis des Schriftprinzips bei den Sozinianern 7.2 Die historische Bibelerklärung des Hugo Grotius 7.3 Die historisch-kritische Sicht der Bibel bei Benedictus de Spinoza 7.4 Die kontroverstheologische Bibelkritik Richard Simons . . . 7.5 Philipp Jakob Speners Aufruf zur Bibelfrömmigkeit

119 120 121

§ 9 Die Auseinandersetzung um die neue Hermeneutik im 18. Jahrhundert 1. Die rationalistische Schrifterklärung Jean Alphonse Turretinis.. 2. Johann Jakob Wettsteins kritische Hermeneutik 3. Die historische Kritik Johann Salomo Semlers 4. Die historisch-kritische Sicht des Alten Testaments 5. Die Hermeneutik des Pietismus 5.1 Die Hermeneu tica Sacra 5.2 Das Prinzip der Wiedergeburt 5.3 Die kritische Textforschung 5.4 Die Spaltung des Schriftverständnisses 6. Johann Georg Hamanns Schriftverständnis 7. Rückblick

123 124 126 128 131 132 133 135 138 139 140 142

§ 10 Die Suche nach der hermeneutischen Synthese im 19. Jahrhundert.. 1. Historische Kritik und theologischer Supranaturalismus im Widerstreit 2. Schleiermachers Hermeneutik 3. Friedrich Lückes Kritik an Schleiermachers Entwurf 4. David Friedrich Strauß und seine spekulative Kritik am Christusbild der Evangelien 5. Ferdinand Christian Baurs historisch-kritische Theologie 6. Die Vermittlungstheologie Albrecht Ritschis 7. Johann Tobias Becks Biblizismus 8. Die biblische Hermeneutik Johann Christian Konrad von Hofmanns 9. Martin Kählers Brückenschlag 10. Ausblick § 11 Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts 1. Die hermeneutische Bedeutung der religionsgeschichtlichen Forschung

118 119

143 144 145 148 149 152 154 155 156 159 160

161 161

Inhalt

13

2. Die radikale historische Kritik und ihre Konsequenzen 2.1 Franz Overbecks historische Christentumskritik 2.2 William Wredes religionsgeschichtliches Interpretationsprogramm

164 164 165

3. Historismus und Liberalismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts 3.1 Die religionsgeschichtliche Theologie Ernst Troeltschs . . . . 3.2 Adolf von Harnacks Liberalismus 3.3 Wilhelm Diltheys geisteswissenschaftliche Hermeneutik . . 4. Adolf Schlatters Hermeneutik der Wahrnehmung 4.1 Die historische Wahrnehmung 4.2 Die Pflicht zur Bibelkritik 4.3 Inspiration und Zentrum der Schrift 4.4 Schlatters Einzelgängertum

166 166 167 168 169 170 171 172 173

5. Rückblick

174

§ 12 Der hermeneutische

Neuansatz der dialektischen

Theologie

175

1. Karl Barths theologischer Neuansatz 1.1 „Der Römerbrief" 1.2 Der neue hermeneutische Ansatz 1.3 Schlatters und Bultmanns kritische Reaktionen 1.4 Barths Antwort 1.5 Die Auseinandersetzung mit Adolf von Harnack 1.6 Barths Hermeneutik in ihrem Reifestadium 1.7 Die Grenzen des Barthschen Entwurfs

175 176 176 178 180 181 183 185

2. Rudolf Bultmanns Theologie und Hermeneutik 2.1 Der theologische Ansatz beim Kerygma 2.2 Der existentiale Geschichtsbegriff 2.3 Die Konvergenz von kerygmatischem und existentialem Ansatz 2.4 Entmythologisierung und existentiale Interpretation 2.5 Die Grenzen des Entmythologisierungsprogramms 2.6 Die hermeneutische These vom Vorverständnis 2.7 Die Interpretation biblischer Texte .

186 187 188 190 191 194 195 196

3. Die Alternative zwischen Bultmann und Barth

197

§ 1 3 Bultmannrezeption

und Bultmannkritik-die

neue Hermeneutik...

1. Die gegenwärtigen Frontstellungen 2. Die unverzichtbare Kritik an Bultmanns Auslegungsprogramm 2.1 Hermann Diems Bultmannkritik 2.2 Die inhaltliche Reduktion des Kerygmas

198 198 199 200 201

14

Inhalt

2.3 2.4 3. Die 3.1 3.2 3.3

Die Unzulänglichkeit des existentialen Geschichtsbegriffs.. Die Funktion mythologischer Sprache „neue Hermeneutik" Die Einübung in die biblischen Texte bei Ernst Fuchs Gerhard Ebelings theologische Sprachlehre Hans Georg Gadamers Beitrag zur theologischen Hermeneutik 4. Philosophische und theologische Hermeneutik nach Paul Ricceur 4.1 Ricoeurs Bultmannkritik 4.2 Die Bedeutung überlieferter Texte 4.3 Das Verständnis vorgegebener Texte 4.4 Theologisches Schriftverständnis 5. Hermeneutische Konsequenzen der (Text-)Linguistik 6. Ausblick § 14 Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten.. 1. Die Hermeneutik des Einverständnisses 2. Einwände und Anfragen 2.1 Die Anfragen der katholischen Exegese 2.2 Psychologische Interpretation biblischer Texte? 2.3 Anfragen der politischen und materialistischen Hermeneutik 2.4 Feministische Hermeneutik? 2.5 Biblische Interpretation im Kontext 2.6 Neupietistische Einwände 3. Durchführung 3.1 Der hermeneutische Ansatz: Das Vorverständnis 3.2 Methoden und Ziele der Analyse 3.3 Die Interpretation und das Problem der Sachkritik

202 204 206 206 208 210 215 215 216 216 217 219 221 222 222 225 225 227 231 234 236 238 240 242 243 246

3.3.1 Interpretation auf der Ursprungsebene der Texte 3.3.2 Interpretation auf der Ebene des biblischen Kanons 3.3.3 Wirkungsgeschichtlich reflektierte Interpretation im Lichte des Dogmas

247 248

3.4 Die Bewährung der Auslegung in der Praxis des Glaubens..

253

3.4.1 Die persönliche und gemeinschaftliche Textmeditation. . . . 3.4.2 Die christliche Predigt als aktuelles Glaubenszeugnis 3.4.3 Leben im biblischen Kontext

253 254 255

4. Ausblick

250

256

Inhalt

15

Literaturverzeichnis

257

Register 1. Namensregister 2. Sachregister 3. Schriftstellen

266 266 269 272

Einführung Kein evangelischer Christ und vor allem kein Theologe kann darauf verzichten, sich über den sachgemäßen Umgang mit der hl. Schrift Rechenschaft abzulegen. Dies gilt ganz besonders in Zeiten, da dieser Umgang strittig und in sich zweifelhaft geworden ist. Dies ist gegenwärtig noch immer der Fall, obwohl das in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre heiß diskutierte Thema der Hermeneutik mittlerweile von anderen Problemen aus den kirchlichen und theologischen Schlagzeilen verdrängt worden ist. In einer Situation, da der Streit um den rechten Weg der Schriftauslegung gerade im Bereich der evangelischen Kirchen noch keineswegs geschlichtet ist, verfolgt diese Darstellung ein schlichtes und doch nicht leicht zu erreichendes Ziel: Sie möchte einen heute einleuchtenden, der Bibel angemessenen und vor unserer kirchlichen Tradition ebenso wie vor dem Forum der Wissenschaft vertretbaren Weg der Schriftauslegung und des Schriftverständnisses aufzeigen. In der Vorrede zum ersten Band der Wittenberger Ausgabe seiner deutschen Schriften hat sich Luther 1 5 3 9 folgendermaßen über die hl. Schrift und ihr Verständnis geäußert: „Erstlich sollst du wissen, daß die heilige Schrift ein solches Buch ist, das aller andern Bücher Weisheit zur Narrheit macht, weil keines vom ewigen Leben lehrt als dies allein. Darum sollst du an deinem Sinn und Verstand stracks verzagen. Denn damit wirst du es nicht erlangen, sondern mit solcher Vermessenheit dich selbst und andere mit dir stürzen vom Himmel (wie es Lucifer geschah) in den Abgrund der Hölle. Sondern kniee nieder in deinem Kämmerlein und bitte mit rechter Demut und Ernst zu Gott, daß er dir durch seinen lieben Sohn wolle seinen heiligen Geist geben, der dich erleuchte, leite und Verstand gebe" (WA 5 0 , 6 5 9 , 5 ff.; Bearbeitung von G. Ebeling).

Dieser Rat des Reformators ist heute mitnichten von der Hand zu weisen, aber er entbindet uns nicht von eigener Arbeit! Seit der Reformation sind fast fünfhundert Jahre vergangen, die unsere Kirchen, die Theologie, den Menschen und sein Denken nachhaltig geprägt und verändert haben, so daß sich jede Generation seither neu gefragt hat und fragen muß, wie sie es in ihrer Zeit mit der hl. Schrift zu halten gedenkt. Wir sind durch den Verweis auf Luther also nicht davon entbunden, unseren eigenen hermeneutischen Weg zu suchen. Unter „Hermeneutik", ein Fremdwort, das sich vom griechischen hermeneuein = „aussagen, auslegen, übersetzen" herleitet, verstehe ich im Anschluß an Schleiermacher und Dilthey die Kunstlehre des Verstehens von schriftlich fixierten Lebensäußerungen. In unserem Fall geht es vor allem um biblische Hermeneutik, weil die Bibel das uns zur Auslegung anvertraute Buch ist, und zwar die Bibel aus Altem und Neuem Testament. Das Neue Testament läßt sich vom Alten nicht isolieren, und das Alte Testament findet kirchlich sein entscheidendes Ziel und seinen Verstehensschlüssel im Neuen Testament. Der eigentliche

18

Einführung

Akzent unserer Arbeit wird beim Neuen Testament liegen, doch werden wir stets zu bedenken haben, daß das Neue Testament im Alten verwurzelt ist und von ihm her seine Verkündigungssprache gewinnt. Um unserer Arbeit Richtung zu geben, sei den folgenden Paragraphen meine Antwort auf die Frage nach dem heute sachgemäßen Umgang mit der hl. Schrift als These vorangestellt. Bedenkt man den Umstand, daß den Christen die Bibel (aus Altem und Neuem Testament) seit Jahrhunderten als kirchlicher Kanon vorgegeben ist, und macht man sich gleichzeitig mit H. G. Gadamer deutlich, daß alle sprachliche „Verständigung nur auf dem Boden eines ursprünglichen Einverständnisses gelingen kann und daß die Aufgabe des Verstehens und der Auslegung nicht so beschrieben werden darf, als hätte Hermeneutik die blanke Unverständlichkeit eines überlieferten Textes zu überwinden oder gar, primär die Beirrung durch Mißverstand" (Wahrheit und Methode, 4 1 9 7 5 , 5 2 9 ) , ergibt sich m.E., daß wir uns um eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den (biblischen) Texten zu bemühen haben, d.h. um eine Auslegungs- und Verstehensweise, die uns befähigt, in ein kirchlich und wissenschaftlich verantwortbares Gespräch mit den Texten der Schrift einzutreten. Es sollte und darf nicht unser einziges Ziel sein, die biblischen Texte kritisch zu analysieren und damit unserem modernen Verstandesurteil zu unterwerfen; sondern es gilt zusätzlich (und m . E . sogar vorrangig), den heute von mancherlei Miß- und Vorverständnissen verstellten Texten der Bibel wieder zu ihrem geschichtlich urtümlichen eigenen Wort zu verhelfen. Man kann dies nur dann versuchen, wenn man willens ist, die Rolle des Kritikers, der stets das letzte und entscheidende Wort behalten will, zu vertauschen mit dem Part dessen, der zu hören bereit ist, was die Texte aus sich selbst heraus zu sagen haben. Biblische Hermeneutik kann nicht Emanzipation von der Schrift, sondern nur Eröffnung eines Gespräches mit der Bibel sein wollen, und zwar eines Gespräches, in dem der Einsatz darin besteht, zu vernehmen und verantwortlich zu erwägen, was von den Texten gesagt wird. Die Texte laden uns ein, in den Lobpreis des einen einzigen Gottes einzustimmen, der als Schöpfer der Welt der Gott ist, der Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt hat, und sie geben uns im Kern das Evangelium von Jesus als dem Christus dieses Gottes vor. Die Auslegung der Bibel kommt dort zum Ziel, wo das Evangelium gehorsam nach-gedacht und die Einladung zum Gotteslob angenommen wird, d. h. in der Verständigung mit den Texten über den Glauben.

§ 1 Die Begegnung mit dem Neuen Testament heute Jeder von uns weiß, daß man heute dem Neuen Testament und der Bibel insgesamt in ganz verschiedener Weise begegnen kann. Wir begegnen ihr als kirchlichem Kanon in den Gottesdiensten, als einem Erbauungs- und Andachtsbuch im häuslichen oder gemeinschaftlichen Leben, als einer „in heutigem Deutsch" in die Alltagswelt hereinrufenden „Guten Nachricht", als historisch kommentiertem Lesebuch für jedermann, in gezielter Spruchform, sei es auf öffentlichen Plakaten oder auch im Rahmen des alljährlich in Millionenauflage verbreiteten Losungsbuches der Herrnhuter Brüdergemeine, und neuerdings auch in Bibelcomics. Diese vielfältige Verbreitung der Bibel ist uns fast selbstverständlich geworden, obwohl wir bedenken sollten, daß nicht überall auf der Welt solche Druck- und Verbreitungsmöglichkeiten für die Bibel bestehen wie hierzulande. Versucht man, in die eben genannte Vielfalt einzudringen und das hinter dieser vielfältigen Erscheinungsform der Bibel stehende Schriftverständnis zu erhellen, kann man folgende interessante Entdeckung machen: Im katholischen Bereich läßt sich seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein ebenso eindeutiger wie zielstrebiger Grundzug des Schriftverständnisses erkennen, dem die maßgeblichen Bibelausgaben folgen. Demgegenüber ist auf protestantischem Gebiet ein mehrschichtiges Bibelverständnis wirksam, und die einzelnen Bibelausgaben haben recht unterschiedliche Tendenz und Stoßrichtung.

1. Der römisch-katholische

Standpunkt

Katholischerseits ist man seit dem II. Vaticanum aufgebrochen, die Christen mit dem ursprünglichen Wortsinn der hl. Schrift zu konfrontieren und ihnen ein möglichst präzises Verständnis dieses Ursprungssinnes der Bibel zu ermöglichen. Diesem Zweck dient die nach einer Erprobungsphase revidierte und 1978 von der Deutschen Bischofskonferenz approbierte „Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift". An der Übersetzung haben Bibelwissenschaftler beider Konfessionen, Germanisten und Kirchenmusiker mitgewirkt. Die Deutsche Bischofskonferenz „ist überzeugt, daß die nun vorliegende Übersetzung der Heiligen Schrift den Entscheidungen des Zweiten Vatikanums gerecht wird, den katholischen und nichtkatholischen Christen, wie auch der Kirche Fernstehenden einen sprachlich verständlichen und wissenschaftlich gesicherten Zugang zur Botschaft der Heiligen Schrift zu bieten." M a n wird dem nur beipflichten können. Schon die 1968 im Herder-Verlag erschienene deutsche Ausgabe der Jerusalemer Bibel war (und ist) eine vorzügliche Studienbibel, der auf protestantischer

20

Die Begegnung mit dem Neuen Testament heute

Seite nichts Gleichwertiges gegenüberstand. Die „Neue Jerusalemer Bibel" von 1985 bietet den Text der Einheitsübersetzung mit dem Kommentar der Jerusalemer Bibel, und zwar natürlich mit Einschluß der Apokryphen des Alten Testaments. Durch diese Bibelausgabe erhält jeder Interessierte die Möglichkeit, den modernen kirchlich gebräuchlichen Text bis in seine Ursprungszeit zurückzuverfolgen und sich ein wissenschaftlich wohlfundiertes Urteil über Aussage und Entstehung der ganzen hl. Schrift zu verschaffen. Da es nach wie vor im evangelischen Raum keine vergleichbare Studienbibel gibt, ist dem Werk ökumenische Verbreitung sicher; biblisch-theologisch kann man solche Verbreitung nur wünschen und fördern.

2. Tendenzen im

Protestantismus

Wendet man sich den neuen protestantischen Bibelausgaben zu, stößt man alsbald auf tiefgreifende Differenzen. In der Kirche, die sich zuweilen noch stolz, aber mit zunehmendem Anachronismus die „Kirche des Wortes" nennt, ist man sich weder über die Grundprinzipien der modernen Übersetzung der Bibel einig noch über die Notwendigkeit und das Ausmaß, in denen die Bibelleser an der bibelwissenschaftlichen Diskussion der Gegenwart beteiligt werden sollen. A. Schlatters Mahnung, das ehrfürchtigste Verständnis der Bibel sei das wahrhaft und unverstellt geschichtliche Verständnis, ist so akut wie vor fünfzig Jahren!

2.1 Zürcher Bibel und

Lutherbibel

Die tragende Mitte der neuen protestantischen Bibelausgaben wird gebildet von der 1931 in ihrer heutigen Textform erschienenen, auf der reformierten Bibeltradition aufruhenden Zürcher Bibel und von der Lutherbibel, deren das Alte Testament, die Apokryphen und das Neue Testament umfassende Neurevision 1984 endlich zum Abschluß gekommen ist. Hinter diesen beiden Hauptausgaben der hl. Schrift im protestantischen Bereich steht ein doppeltes hermeneutisches Ziel: der biblische Urtext soll möglichst genau wiedergegeben und dem Verständnis heutiger Bibelleser eröffnet werden; bei diesem Unternehmen hat man sich aber gleichzeitig an der liturgischen Tradition der Kirche zu orientieren. Die neue Lutherbibel verfolgt die komplizierte Absicht, den biblischen Urtext nach Maßgabe des unserem Gegenwartsdeutsch sehr behutsam angeglichenen klassischen Luthertextes (von 1545) kirchlich angemessen zu verdolmetschen. In Form von Anmerkungen (z.B. zu Lk 2,14 und l.Kor 13,3) wird gelegentlich auf Abweichungen des gewohnten Luthertextes von dem heute zugänglichen bestbezeugten Urtext hingewiesen. Ob die revidierte Lutherbibel der mittlerweile in vielen (evangelischen) Kirchen eingerissenen, katechetisch unverantwortlichen Anarchie von Bibelübersetzungen noch einmal Einhalt zu gebieten vermag, steht noch dahin; zu hoffen ist es sehr!

Tendenzen im Protestantismus

2.2 Lutherbibel

21

erklärt

In den sechziger Jahren sind Horst Bannach und Hans Stroh bemüht gewesen, die bekannte Stuttgarter Jubiläumsbibel von 1912 und 1937 durch eine neugestaltete und neu übersetzte „Stuttgarter Erklärungsbibel" abzulösen, in welcher den Erkenntnissen der Bibelwissenschaften breiterer Raum eingeräumt werden sollte. Das Unternehmen ist nach dem Erscheinen von zwei kleinen Probebändchen von der Württembergischen Bibelanstalt abgebrochen worden. An seine Stelle sind nunmehr die kommentierten (und z.T. sogar bebilderten) Ausgaben der Gute-Nachricht-Übersetzung (mit und ohne die sog. Spätschriften des Alten Testaments) getreten; an wissenschaftlicher Qualität bleiben sie sowohl im Text- wie im Kommentarteil weit hinter der Neuen Jerusalemer Bibel (s.o.) zurück. Die seinerzeit von einem evangelikalen Herausgeberkreis als Konkurrenzunternehmen zur Stuttgarter Erklärungsbibel geplante „Lutherbibel erklärt" ist bereits 1974 zum Abschluß gekommen. Das Werk ist ein getreuer Spiegel des gebrochenen Verhältnisses, das der kirchentreue Protestantismus zur geschichtlichen Entstehung der hl. Schrift und damit zur Bibelwissenschaft bis zur Stunde hat. Dem Werk liegt der revidierte Luthertext von 1956 (für das Neue Testament) und 1964 (für das Alte Testament) zugrunde. Die Apokryphen fehlen. Die Einführungen und Kommentare zu den einzelnen biblischen Büchern sind von einem im Kirchen- und Missionsdienst stehenden Mitarbeiterkreis geschrieben worden. Da nicht im einzelnen verzeichnet ist, wer die biblischen Bücher jeweils eingeleitet und kommentiert hat, läßt sich nur zweierlei übergreifend feststellen: Die kommentierenden Beigaben zum Luthertext sind von recht unterschiedlicher Tendenz und weisen das eine Mal bibelwissenschaftliche Erkenntnisse als inkompetent ab, während im nächsten Beitrag eben solche Erkenntnisse sorgsam registriert und verarbeitet werden. Die Frage, inwieweit man in einer speziell für die persönliche Andacht, für Hausbibelkreise und christliche Lektoren geschaffenen Bibelausgabe auf die derzeitige geschichtliche Erforschung der hl. Schrift eingehen soll, ist also in dem hinter diesem Werk stehenden Bearbeiterkreis verschieden beantwortet worden. Dennoch hat man sich auf gemeinsame Bearbeitungsgrundsätze einigen können, die im Vorwort aufgeführt werden. In unserem Zusammenhang sind die wichtigsten folgende vier: „ 1 . D i e Bibel o f f e n b a r t u n s d a s R e d e n u n d H a n d e l n G o t t e s z u m Heil des einzelnen M e n s c h e n in d e r Welt. G o t t f ü h r t die Welt d u r c h J e s u s C h r i s t u s s e i n e m g r o ß e n Ziel e n t g e g e n . S o h a b e n wir a u f d a s G e s a m t z e u g n i s der H e i l i g e n S c h r i f t i m Alten w i e im N e u e n T e s t a m e n t zu h ö r e n . 2. In der E n t s t e h u n g dieses Z e u g n i s s e s zeigt sich ein S t ü c k der G o t t e s g e s c h i c h t e , in der nicht n u r M e n s c h e n h a n d e l n , s o n d e r n v o r u n d in a l l e m G o t t u n d sein G e i s t w i r k t . D a s b e g r ü n d e t bei aller Vielzahl der Z e u g e n , die in der Bibel g e s c h r i e b e n h a b e n , u n d bei aller V i e l g e s t a l t der Z e u g n i s s e die innere Einheit der Schrift. D a r u m ist die Bibel verläßlich im Blick a u f d a s , w a s G o t t tat, tut u n d t u n w i r d , u n d verbindlich i m Blick a u f d a s , w a s G o t t n a c h s e i n e m W o r t v o n den M e n s c h e n g e t a n h a b e n will. 3. D i e E r k l ä r u n g e n w o l l e n d a s B i b e l w o r t s a g e n l a s s e n , w a s es n a c h d e m u n s vorlie-

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Die Begegnung mit dem Neuen Testament heute

genden W o r t l a u t sagt und nach seinem unmittelbaren Wortsinn sagen will. Sie wollen nicht hinter den Bibeltext zu einer Urform der Quellen zurückgehen. Ebenso verzichten sie darauf, kritische Deutungen des biblischen W o r t e s vornehmen zu wollen. 4. Dennoch wurden bei der Abfassung der Erklärungen die Ergebnisse der historischen Erforschung der Bibel und ihrer Umwelt bedacht. Doch ist darauf verzichtet worden, sie in gedrängter Kürze darzulegen und damit unsachgemäß wiederzugeben."

Das sich in diesen Grundsätzen und jenen unterschiedlichen Bearbeitungen insgesamt spiegelnde Grundproblem ist die Verhältnisbestimmung von göttlicher Autorität und geschichtlicher Gestalt des biblischen Wortes. Hier haben sich die Herausgeber und Einzelbearbeiter der „Lutherbibel erklärt" im Hinblick auf den in der Entstehungsgeschichte der Bibel wirksamen Geist Gottes geschichtliche Differenzierungen und Kritik weithin verboten sein lassen. Insofern ist die Rezeption bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse in dem vorliegenden Werk gebrochen und reduziert auf einige Tatbestände der Textgeschichte und der sog. Einleitungswissenschaft.

2.3 Die Losungen der Brüdergemeine In eben dieser Grundhaltung finden die protestantischen Editoren heute ihre Bundesgenossen und Kontrahenten. Auf welch breiten Konsensus die Herausgeber rechnen können, signalisiert kein christliches Erbauungsbuch der Gegenwart besser als das ehrwürdige Buch der Herrnhuter Losungen. Die Bedeutung dieses Büchleins für die protestantische Frömmigkeit steht außer allem Zweifel und soll hier nicht leichthin kritisiert werden. Hinter der Zuordnung von alttestamentlichem Losungs- und neutestamentlichem Lehrtext steht ebenso intensive bibeltheologische Arbeit wie hinter der Auswahl des Wortlautes dieses Lehrtextes, den die Direktion der Brüderunität neuerdings aus der Lutherbibel oder mehreren bewährten modernen Übersetzungen zu nehmen freistellt, und zwar aus der Zürcher Bibel, den Ubersetzungen von Menge und Wilckens, oder aus „Die Gute Nachricht". Für die hinter dem Losungsbuch stehende Anschauung von der geistlichen Autorität der Schrift ist aber der Vorgang der alljährlichen Auslosung der Losungstexte selbst charakteristisch. Die 3 6 5 oder 3 6 6 alttestamentlichen Losungsworte werden zumeist im Juni im Sitzungssaal des Vogtshofs in Herrnhut durch das Los ermittelt; bis zur Fertigstellung des Losungsbüchleins vergehen dann noch jeweils zweieinhalb Jahre. Der Respekt vor Geltung und Wirkung der Losungen sollte uns hindern, Auslosung und Losungsbuch einfach als christliches Orakel abzutun. Aber man muß sehen, daß die einzelne Losung, losgelöst von ihrem biblischen Kontext und damit ihrer Geschichte, als Gottes aktuelle Weisung für den Tag ermittelt wird und auch empfangen werden soll. Zwar werden die Leser der Losungen gebeten, Losung (und Lehrtext) im biblischen Zusammenhang zu lesen. Aber es ist unverkennbar, daß sich ein in besagter Weise ermitteltes Gotteswort leichter persönlich hören und meditieren als geschichtlich reflektieren und dann erst auf die Gegenwart übertragen läßt.

Tendenzen im Protestantismus

2.4 Kritische

23

Ausgaben

Natürlich gibt es auch im Protestantismus kritische Bibelausgaben. Als Beispiel für das Neue Testament sei genannt die unter Beratung von Werner Jetter, Ernst Lange und Rudolf Pesch entstandene Übersetzung des Neuen Testaments von Ulrich Wilckens. Sie ist 1970 erschienen und liegt ζ. Z. in 7. Auflage (1983) vor. Wilckens' „Neues Testament" ist eine großartige, ökumenisch inspirierte Leistung; es stimmt in den hermeneutischen Prinzipien weitgehend mit der Jerusalemer Bibel überein. Es läßt den Leser in den Einführungen zu den einzelnen neutestamentlichen Büchern und in den den Texten beigegebenen Kommentaren partizipieren am geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisprozeß der Bibelwissenschaften und wendet sich, wie es im Vorwort heißt, „in dieser Gestalt an Leser, die sich sachlich über den ursprünglichen Sinn und Gehalt der neutestamentlichen Schriften informieren wollen und dazu Arbeit und Nachdenken nicht scheuen".

2.5 Das Matthäusevangelium

als revolutionärer

Traktat

Wie sehr ein moderner Bibelleser heute in diesem Sinne informiert und insofern zum Urteil befähigt sein sollte, lehrt beispielhaft die 1972 unter dem Titel „Am Anfang der Stall - Am Ende der Galgen: Jesus von Nazareth" erschienene (faszinierende) Übersetzung des Matthäusevangeliums von Walter Jens. Die Übersetzung ist Ernst Bloch in Dankbarkeit zugeeignet und vom Verfasser nach allen Regeln historisch-philologischer und rhetorischer Kunst gestaltet. Das Buch will nicht nur eine in die Gegenwart hereinzielende, historisch fundierte Übertragung des ersten Evangeliums sein, sondern ein „revolutionärer Traktat". Jens nimmt sich die Freiheit, den Urtext zu ergänzen und an manchen Stellen statt der Matthäusversion die markinische Texttradition einzusetzen. Jens betont selbst, es habe ihn bei der Übersetzung besonders gereizt, „die sozialkritische und sozialutopische Komponente in diesem Text zu verdeutlichen" (a. a. O., 96). Wer dieses rhetorisch gezielte und sprachlich erstklassige Buch beurteilen will, kommt mit den im Vorwort zur „Lutherbibel erklärt" aufgeführten Verstehensgrundsätzen nicht aus; er muß sich vielmehr den Mühen eines geschichtlichen Verständnisses des Matthäusevangeliums unterziehen, und zwar in allen traditions- und textgeschichtlichen Einzelheiten. Es wird eine der Grundfragen unserer hermeneutischen Bemühungen sein, ob und wie sich die genannten, heute unwiderruflich gegebenen Möglichkeiten des Schriftverständnisses einander zuordnen lassen. Ich glaube, daß dies in der hermeneutischen Figur eines reflektierten Dialoges möglich ist. Aber ehe wir uns an die Ausarbeitung dieser Figur machen können, müssen wir den von uns aufgedeckten verschiedenen hermeneutischen Interessenlagen der Gegenwart noch weiter nachgehen. Dies geschieht am besten so, daß wir uns nunmehr um eine Analyse des noch immer andauernden Streites um das rechte Schriftverständnis bemühen.

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Der gegenwärtige Streit um die Schriftauslegung

§ 2 Der gegenwärtige Streit um die Schriftauslegung Es ist nicht ratsam, den noch immer ungeschlichteten Streit um die sachgemäße Auslegung der hl. Schrift auf die leichte Schulter zu nehmen. Es handelt sich um heute ökumenisch unausweichlich zur Lösung anstehende Probleme. Im Kern geht es um die entscheidende Frage, ob die Ergebnisse der historischkritischen Erforschung der hl. Schrift die Kirchen zur Aufgabe oder Änderung ihrer Glaubenstradition nötigen, oder ob es möglich ist, den Kirchen mit Hilfe dieser Forschung die biblischen Schriften in ihrem bleibenden Offenbarungsgehalt zu erschließen. Diese Entscheidungsfrage wird recht unterschiedlich beantwortet. Die Antworten lassen sich aber nur verstehen, wenn man weiß, worum es bei der historischen Methode geht. Bei ihr handelt es sich um das bereits von B. de Spinoza programmatisch auf die Schrift angewandte und im Zuge der Aufklärung vollends entwickelte (geschichts-)wissenschaftliche Verfahren, mit dessen Hilfe die in geschichtlichen Dokumenten fixierte Überlieferung objektiv dargestellt, methodisch analysiert und dem Urteil der Vernunft unterworfen wird.

1. Die Thesen von Ernst

Troeltsch

Ernst Troeltsch, der führende protestantische Systematiker des sog. Liberalismus und Historismus, hat 1898 die historische Methode auf ihre Leitprinzipien hin untersucht und zugleich polemisch klargemacht, was es heißt, diese Methode in der Theologie zu gebrauchen. Nach Troeltsch sind für das historisch-kritische Verfahren vier Prinzipien maßgebend. Er nennt sie „Kritik", „Analogie", „die zwischen allen historischen Vorgängen stattfindende Korrelation" ( = Wechselwirkung) und das Prinzip der Persönlichkeit oder Subjektivität. Unter Kritik versteht Troeltsch die Haltung des Zweifels und das Verfahren des methodisch kontrollierten Urteils, dem die Sachverhalte der Geschichte (ohne jede Ausnahme!) unterworfen werden. „ . . . d a s M i t t e l , w o d u r c h K r i t i k ü b e r h a u p t erst m ö g l i c h w i r d , ist die A n w e n d u n g d e r A n a l o g i e . D i e A n a l o g i e des v o r u n s e r e n A u g e n G e s c h e h e n d e n u n d in u n s sich B e g e b e n d e n ist der S c h l ü s s e l zur K r i t i k . T ä u s c h u n g e n , V e r s c h i e b u n g e n , M y t h e n b i l d u n g e n , Bet r u g , P a r t e i s u c h t , die wir v o r unseren A u g e n sehen, s i n d die M i t t e l , d e r a r t i g e s a u c h in d e m Ü b e r l i e f e r t e n zu erkennen. D i e Ü b e r e i n s t i m m u n g mit n o r m a l e n , g e w ö h n l i c h e n o d e r d o c h m e h r f a c h b e z e u g t e n V o r g a n g s w e i s e n u n d Z u s t ä n d e n , w i e w i r sie k e n n e n , ist d a s K e n n z e i c h e n d e r W a h r s c h e i n l i c h k e i t f ü r die V o r g ä n g e , die die Kritik als w i r k l i c h geschehen a n e r k e n n e n o d e r ü b r i g l a s s e n k a n n . D i e B e o b a c h t u n g v o n A n a l o g i e n z w i s c h e n g l e i c h a r t i g e n V o r g ä n g e n d e r V e r g a n g e n h e i t g i b t die M ö g l i c h k e i t , ihnen W a h r s c h e i n l i c h keit z u z u s c h r e i b e n u n d d a s U n b e k a n n t e des einen a u s d e m B e k a n n t e n d e s a n d e r e n z u d e u t e n . D i e s e A l l m a c h t der A n a l o g i e schließt a b e r die prinzipielle G l e i c h a r t i g k e i t alles h i s t o r i s c h e n G e s c h e h e n s ein, die freilich keine Gleichheit ist, s o n d e r n den U n t e r s c h i e d e n allen m ö g l i c h e n R a u m läßt, i m ü b r i g e n a b e r j e d e s m a l einen K e r n g e m e i n s a m e r G l e i c h a r -

Die Thesen von Ernst Troeltsch

25

tigkeit voraussetzt, von dem aus die Unterschiede begriffen und nachgefühlt werden können" ( a . a . O . 1 0 8 ) .

Kraft der Kritik unterwirft der Historiker die Geschichte planmäßig dem Vernunfturteil. Kraft des Analogieprinzips urteilt er über wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Kraft des Prinzips der Korrelation ordnet er die geschichtlichen Begebenheiten in den Zusammenhang alles geschichtlichen Geschehens ein, „wo keine Veränderung an einem Punkte eintreten kann ohne vorausgegangene und folgende Änderung an einem anderen, so daß alles Geschehen in einem beständigen korrelativen Zusammenhange steht und notwendig einen Fluß bilden muß, in dem Alles und Jedes zusammenhängt und jeder Vorgang in Relation zu anderen steht" (a.a.O., 108/109). Troeltsch erklärt die historische Methode für das einzige wissenschaftliche Verfahren, das dem modernen geschichtlichen Bewußtsein angemessen ist. Er fordert, daß mit dieser Methode auch in der Theologie voller Ernst gemacht werden muß, und zwar „ohne Angst und Ausbeugen vor den Ergebnissen" (a.a.O., 113). Welches sind diese Ergebnisse? Folgende zwei: An die Stelleder bisher ζ. T. fraglosen Gültigkeit der Tradition rückt das diese Tradition sichtende und ordnende subjektive Wissenschaftsurteil des einzelnen Forschers. Die in der christlichen Lehre bisher angewandten Vorstellungen und Kategorien ζ. B. einer speziellen Heilsgeschichte, des Wunders usw. müssen ersetzt werden durch die Erforschung und Wertung des Christentums „nur von dem großen Zusammenhange der Gesamtgeschichte aus" (a.a.O., 113). Troeltsch vertraut darauf, daß bei dieser Sicht des Christentums eine Einsicht hervortreten wird, die zugleich sein letztes Erkenntnisprinzip, das der religiösen Persönlichkeit, erkennen läßt; er schreibt: „ . . . folgendes w i r d . . . das einfache Ergebnis sein: ,Alle menschliche Religion wurzelt in religiöser Intuition oder göttlicher Offenbarung, die in spezifisch religiösen Persönlichkeiten gemeinschaftsbildende K r a f t gewinnt und von den Gläubigen mit geringerer Originalität nacherlebt wird. Der in dieser Intuition enthaltene und auf den Anfangsstufen des naturalistisch gebundenen Bewußtseins in der Naturreligion verhüllte Gottesglaube durchbricht neben mancherlei parallelen Anläufen diese Schranke endgültig in der Jahvereligion und in der aus ihr sich erhebenden Verkündigung Jesu, um v o n hier aus eine unendlich reiche, zum voraus nicht zu berechnende Entwicklung zu erleben, in der es sich aber immer um das Leben im Glauben an den lebendigen G o t t und um die Deutung der jeweils gegebenen Wirklichkeit aus diesem Glauben handelt'" (a. a. O., 114/ 115).

Troeltschs Analyse hat der historischen Kritik den Anschein gegeben, als sei sie ein Verfahren, das zu einem prinzipiellen, u.U. sogar tödlichen Konflikt zwischen traditionellem Glauben und wissenschaftlicher Einsicht in die Quellen des Christentums führt. Dementsprechend wird der gegenwärtige Kampf um die sachgemäße Schriftauslegung nach wie vor im Schatten von Troeltsch ausgefochten, auch wenn mittlerweile die Historiker und Exegeten mit einer gegenüber Troeltsch z.T. schon wesentlich modifizierten historischen Methode arbeiten und von einer „Allmacht der Analogie" aus guten Gründen nicht mehr sprechen.

26

Der gegenwärtige Streit um die Schriftauslegung

2 . Die katholische

Bibelkritik

Die Schriftexegese i m B e r e i c h der k a t h o l i s c h e n K i r c h e h a t in u n s e r e m J a h r h u n d e r t g a n z e n t s c h e i d e n d e F o r t s c h r i t t e g e m a c h t . Bis 1 9 4 3 s t a n d sie u n t e r d e m d o g m a t i s c h e n D i k t a t des 1. V a t i k a n i s c h e n Konzils, das 1 8 7 0 in A u f n a h m e einer E n t s c h e i d u n g des T r i d e n t i n u m s b e s t i m m t h a t t e : „ . . . in Sachen des Glaubens und der Sitten, die zum Aufbau christlicher Lehren gehören, ist der als der wahre Sinn der Schrift anzunehmen, den die heilige Mutter Kirche festhielt und festhält. Ihr steht das Urteil über den wahren Sinn und die Erklärung der heiligen Schriften zu. Niemand darf also gegen diesen Sinn oder auch gegen die einstimmige Meinung der Väter die Heilige Schrift auslegen" (Denzinger-Schönmetzer 3 0 0 7 ) . E b e n diese K o n z i l e n t s c h e i d u n g ist seit 1 9 4 3 in drei Schritten d a h i n g e h e n d präzisiert w o r d e n , d a ß die historische E r f o r s c h u n g des biblischen U r t e x t e s nicht im W i d e r s p r u c h zur kirchlichen A u s l e g u n g stehe, s o n d e r n ihr zudiene u n d deshalb s o g a r a n z u r a t e n sei. Die drei Schritte w e r d e n m a r k i e r t d u r c h die päpstliche

Enzyklika

„Divino

afflante S p i r i t u " v o m

3 0 . September

1943,

d u r c h die „ I n s t r u k t i o n ü b e r die historische W a h r h e i t der E v a n g e l i e n "

der

p ä p s t l i c h e n B i b e l k o m m i s s i o n v o m 2 1 . April 1 9 6 4 u n d schließlich d u r c h die K o n s t i t u t i o n ü b e r das W o r t G o t t e s des 2 . V a t i k a n i s c h e n Konzils v o m 1 8 . N o v e m b e r 1 9 6 5 . I m 1 2 . Artikel dieser K o n s t i t u t i o n w i r d den k a t h o l i s c h e n E x e g e ten die h i s t o r i s c h e E r f o r s c h u n g der hl. Schrift a u s d r ü c k l i c h zur Pflicht gem a c h t , u n d z w a r m i t folgenden W o r t e n : „Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muß der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte. Um die Aussageabsicht der Hagiographen [ = die biblischen Autoren; P.St.] zu ermitteln, ist neben anderem auf die literarischen Gattungen zu achten. Denn die Wahrheit wird je anders dargelegt und ausgedrückt in Texten von verschiedenem Sinn geschichtlicher, prophetischer oder dichterischer Art, oder in anderen Redegattungen. Weiterhin hat der Erklärer nach dem Sinn zu forschen, wie ihn aus einer gegebenen Situation heraus der Hagiograph den Bedingungen seiner Zeit und Kultur entsprechend - mit Hilfe der damals üblichen literarischen Gattungen - hat ausdrücken wollen und wirklich zum Ausdruck gebracht hat. Will man richtig verstehen, was der heilige Verfasser in seiner Schrift aussagen wollte, so muß man schließlich genau auf die vorgegebenen umweltbedingten Denk-, Sprach- und Erzählformen achten, die zur Zeit des Verfassers herrschten, wie auf die Formen, die damals im menschlichen Alltagsverkehr üblich waren. Da die Heilige Schrift in dem Geist gelesen und ausgelegt werden muß, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, daß man mit nicht geringerer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens. Aufgabe der Exegeten ist es, nach diesen Regeln auf eine tiefere Erfassung und Auslegung des Sinnes der Heiligen Schrift hinzuarbeiten, damit so gleichsam auf Grund wissenschaftlicher Vorarbeit das Urteil der Kirche reift. Alles, was

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Bibelkritik in der orthodoxen Kirche

die Art der Schrifterklärung betrifft, untersteht letztlich dem Urteil der Kirche, deren gottgegebener Auftrag und Dienst es ist, das Wort Gottes zu bewahren und auszulegen" (O.Semmelroth-M.Zerwick, a.a.O., 79-81).

Die katholische Exegese hat in diesem neugesteckten Rahmen ein Niveau und eine Produktivität entwickelt, mit der die protestantische Seite kaum mehr Schritt halten kann. Zugleich geht sie freilich einem hermeneutischen Konflikt entgegen, der ausgesprochen lehrreich ist. Das Zweite Vaticanum hat offengelassen, in welcher Weise die Ergebnisse der historischen Schriftexegese und das Glaubensurteil der Kirche bei der Erforschung der Schrift zu vereinen sind. Dementsprechend ist seit dem Konzil ein Widerspiel solcher Exegeten im Gange, die der kirchlichen Tradition und Lehre nach wie vor die dogmatische Führung der Exegese überlassen möchten, und anderer, die entschlossen sind, zunächst einmal die Möglichkeiten der historischen Bibelkritik ohne Rücksicht auf die Glaubenstradition auszuloten. Eine echte Lösung dieser Kontroverse wird es nur geben, wenn der Bibelexegese genügend Entfaltungsmöglichkeiten gelassen werden und wenn dann eines Tages endgültig geklärt wird, wie sich kirchliche Lehrvollmacht und (ursprüngliches) Schriftzeugnis zueinander verhalten. In dem 1985 erschienenen (hauptsächlich von W. Kasper bearbeiteten) Katholischen Erwachsenen-Katechismus „Das Glaubensbekenntnis der Kirche" heißt es zu dieser Frage: „Verbindlich i s t . . . das Zeugnis der Schrift als ganzer in ihrer Einheit von Altem und N e u e m T e s t a m e n t . . . Um diesen Gesamtsinn der Heiligen Schrift zu erfassen, müssen wir ausgehen v o m heutigen Glaubensbewußtsein der Kirche, vor allem v o m kirchlichen Glaubensbekenntnis, wir müssen dieses dann im Spiegel des Ursprungszeugnisses der Schrift interpretieren und dann wieder in den Kontext der gegenwärtigen Kirche übersetzen. Die Kirche interpretiert also die Schrift, aber auch von der Schrift her ergibt sich umgekehrt Wesentliches für die Interpretation der kirchlichen Lehre und Praxis. Sofern sich die historisch-kritische Schriftauslegung in diesen Gesamtprozeß der Interpretation einordnet und sich nicht zur alleinigen und obersten Richterin über den Sinn der Schrift macht, können sich ihre kritischen Anfragen und neuen Problemstellungen fruchtbar für das Glaubensverständnis der Kirche auswirken" (a. a. O. 50).

3.

Bibelkritik

in der orthodoxen

Kirche

Im Rahmen der von den (griechischen) Kirchenvätern und den (sieben) ökumenischen Konzilien geprägten kirchlichen Glaubenstradition gewinnt die historische Sicht und Kritik der Bibel auch in der (griechisch-)orthodoxen Kirche immer mehr Raum und Ansehen. Die hermeneutischen Probleme, vor denen die Orthodoxie steht, sind damit der Problemstellung im römisch-katholischen Bereich strukturverwandt.

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Der gegenwärtige Streit um die Schriftauslegung

4. Die protestantische

Bibelkritik

Gehen wir von hier aus zur Analyse des protestantischen Streites um die sachgemäße Schriftexegese über, lassen sich drei konkurrierende Meinungen erkennen: Der Standpunkt der sog. radikalen Kritik, die Position der Kritik an der Kritik und die Auffassung, daß man die historisch-kritische Methode durch eine dem Offenbarungszeugnis der Bibel angemessenere Auslegungsmethode zu ersetzen habe.

4.1 Die radikale

Kritik

Im Jahre 1950 hat Gerhard Ebelirtg seinen berühmten Programmaufsatz über „Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche" veröffentlicht. Ebelings Hauptthese lautet, „daß die Bejahung der historisch-kritischen Methode in einem tiefen inneren Sachzusammenhang mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre steht" (a.a.O., 43/44). Dieser These haben sich R. Bultmann und seine Schüler angeschlossen und mit ihrer Hilfe das Verfahren der radikalen Bibelkritik theologisch gerechtfertigt. Ebelings Rat, bei der historisch-kritischen Arbeit das Phänomen der kirchlichen Tradition nicht aus dem Auge zu verlieren und das Hauptziel der kritischen Bemühung in der Begegnung mit der Sprache der (biblischen) Überlieferung zu sehen, ist, wie das Beispiel H. Brauns zeigt, dabei leider ζ. T. auf der Strecke geblieben. Wohin die theologisch engagierte, radikale Kritik positiv zielt, kann man sich am besten an Ernst Käsemanns Schrifttum verdeutlichen: Die historische Kritik des Neuen Testaments ist nach Käsemann das derzeit beste Mittel, um die Kirche von heute mit dem biblischen Evangelium in seiner ursprünglichen Radikalität zu konfrontieren. In seinem Vortrag „Vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese" argumentiert Käsemann in drei Schritten: Reformatorische Theologie hat es im Kern mit dem Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen zu tun, das den Menschen als Sünder entlarvt und ihm die Vergebung der Sünden aus Gottes freier Gnade zuspricht. Der Ort dieses den glaubenden Menschen schonungslos mit seinem eigenen verfehlten Wesen konfrontierenden Evangeliums „ist die menschliche Wirklichkeit. Theologie hat deshalb unablässig in all ihren Disziplinen zu hindern, daß das Evangelium in einem andern Raum angesiedelt wird. Dem fingierten Menschen entspricht der fingierte Gott und umgekehrt. Mit dem Bilde des einen zerstört das Evangelium zugleich das des andern" (a.a.O., 259). Aus diesem ersten Grundsatz von der theologischen Zusammengehörigkeit des Evangeliums mit der unverstellten Wirklichkeit des Menschen leitet Käsemann seine zweite These ab: Wirklichkeitsnähe und illusionslose Betrachtung des wirklich Geschehenen wird für den Bereich der Geschichte und ihrer Traditionen heute am ehesten durch die historische Kritik gewährleistet: „Historische Kritik verspricht und gewährt Wirklichkeitsnähe". Käsemann sagt dies mit der angesichts der praktischen

Die protestantische Bibelkritik

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historischen Arbeit gebotenen Nüchternheit; denn er fügt sofort hinzu: „Freilich gilt das in den Grenzen alles Menschlichen. Abstruse Einfalle lassen sich nicht ausschalten. Phantasie und Willkür werfen oft ein undurchdringliches Netz über die historische Realität, statt sie aufzuhellen... Die Historie bleibt wahrscheinlich die fragwürdigste Wissenschaft. Wenn das alles konzediert ist, wird man gleichwohl feststellen und kann man überwältigend belegen, daß wir kein besseres Mittel besitzen, um zu vergangener Wirklichkeit vorzustoßen" ( a . a . O . , 260f.). Aus den Thesen von der Wirklichkeitsnähe des Evangeliums und von der Gewährung der Wirklichkeitsnähe durch die historische Kritik folgt Käsemanns dritter Grundsatz: Sofern das Evangelium in den Schriften des Neuen Testaments bezeugt, aber vom frommen Unverstand stets illusionär mißdeutet oder vom unfrommen Widerstand bagatellisiert wird, sind diese Schriften um des Evangeliums willen historisch-kritisch auszulegen. Die historisch-kritische Auslegung des Neuen Testaments findet also darin ihre theologische Legitimation, daß sie uns illusionslos nach dem Evangelium fragen hilft, wie es ursprünglich verlautbart worden ist und die Menschen vor die Lebensfrage von Glaube oder Unglaube stellt. Käsemann betont ausdrücklich, daß man bei dieser Auslegungsarbeit ein doppeltes Risiko eingeht. Die Ergebnisse der historischen Kritik können so desillusionierend sein, daß sie den Glauben erschüttern statt ihn zu bestärken. Zweitens setzt sich solche historisch-kritische Erforschung der Schrift in offenen Widerspruch zu der im Protestantismus seit mehr als zwei Jahrhunderten eingebürgerten Anschauung, der biblische Kanon sei eine vom hl. Geist direkt inspirierte, deshalb unantastbare und in sich fehllose Offenbarungsurkunde. Die Antwort auf dieses doppelte Risiko lautet bei Käsemann dahingehend, daß die historische Kritik nicht Glauben begründen könne, sich vielmehr damit begnügen müsse, „uns dahin zurückzuführen, wo Menschen einst gefragt und gezweifelt, geglaubt und verleugnet haben, als sie die Botschaft vom Heil hörten. Sie stellt damit auch uns vor Entscheidung und unter Verheißung" ( a . a . O . , 281). Den Konflikt mit dem Einheitsbild des biblischen Kanons nimmt Käsemann ausdrücklich in Kauf, weil er die von Orthodoxie und Pietismus gepflegte Anschauung von der hl. Schrift und ihrer Inspiration nicht für reformatorisch hält und vom hl. Geist nur dort gesprochen wissen möchte, wo wir vom Evangelium in die Glaubensgerechtigkeit gestellt werden. In seinem Referat „ Z u m gegenwärtigen Streit um die Schriftauslegung" heißt es deshalb provozierend: „ D e r heutige Streit w i r d d u r c h a u s u n s a c h g e m ä ß g e k e n n z e i c h n e t , w e n n m a n ihn a u f d e n G e g e n s a t z v o n G e m e i n d e f r ö m m i g k e i t u n d u n g l ä u b i g g e w o r d e n e r T h e o l o g i e zur ü c k f ü h r t . In W i r k l i c h k e i t streiten zwei T h e o l o g i e n m i t e i n a n d e r , die d u r c h r u n d 2 0 0 J a h r e v o n e i n a n d e r g e t r e n n t s i n d , n ä m l i c h pietistische u n d r e f o r m a t o r i s c h e o d e r v o n d a sich in die G e g e n w a r t v o r t a s t e n d e D o g m a t i k . D a s k a n n k a u m a n d e r s a l s p r o v o k a t o r i s c h klingen. D o c h k a n n ich die l e i d e n s c h a f t l i c h e F r a g e nicht u n t e r d r ü c k e n : W a n n w i r d e v a n g e l i s c h u n d p r o t e s t a n t i s c h sich n e n n e n d e G e m e i n d e endlich f ä h i g u n d willens sein, e i n m a l w i e d e r e r n s t h a f t t h e o l o g i s c h u n d d o g m a t i s c h d a z u z u l e r n e n , zu d e n k e n , u m z u d e n k e n , w e i t e r z u d e n k e n , statt sich als Besitzerin u n d H ü t e r i n der W a h r h e i t g e g e n s o l c h e

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Der gegenwärtige Streit um die Schriftauslegung

Forderung zu wehren und sich zum H o r t der Reaktion zu machen? Es ist wahrhaftig nicht so, daß hier nur die eine Seite Buße zu tun und umzukehren hätte. Eine Theologie, welche nicht die Gemeinde gerade auch im Blick auf die Bibel zur Umkehr und zum E x o d u s in die Schule der Reformatoren zu rufen wagt, verdient ihren N a m e n nicht. Denn wir arbeiten nicht für uns, unsere hobbies und unsere Wissenschaft, sondern mit unserer Wissenschaft für die Gemeinde von heute und mehr noch von m o r g e n " (a. a. O., 2 8 2 ) .

In der kritischen Arbeit von Herbert Braun begegnen wir einer etwas anderen Perspektive. Vor den Käsemanns gesamtes Schrifttum prägenden Willen, Bibelkritik speziell um des Evangeliums von der Rechtfertigung des Gottlosen willen zu treiben, schiebt sich bei Braun die Entschlossenheit, der intellektuellen Redlichkeit (F. Nietzsche) mit Hilfe der radikalen Kritik an den Bibeltexten zu ihrem Recht zu verhelfen. Diese hermeneutische Entscheidung drängt Braun zur kritischen Destruktion aller für die Substanz des biblischen Evangeliums konstitutiven soteriologischen Sachaussagen. Es bleibt nur noch die Rede von der in einem unergründlichen „Du darfst" gehaltenen, zu einem „Du sollst" aufgerufenen religiösen Existenz, die sich an dem Menschen Jesus orientiert. Angesichts dieses Endergebnisses spricht E. Käsemann von einem theologischen Bankrott, und L. Goppelt sieht hier den Weg des Historismus in der Selbstaufgabe der neutestamentlichen Theologie enden. Ihrem Urteil ist nichts hinzuzufügen.

4.2 Die Kritik an der Kritik Der Unterschied der nunmehr zu skizzierenden Position(en) zur radikalen Kritik liegt nicht im theologischen Engagement. Hält man sich zum Exempel an die hermeneutischen Überlegungen von L. Goppelt, W. G. Kümmel und H. Weder, sieht man rasch, daß diese Autoren sich der reformatorischen Tradition nicht minder verpflichtet wissen als die Vertreter der von R. Bultmann ausgehenden radikalen Kritik. Angesichts der Glanz- und der Fehlleistungen der historischen Kritik fordern die Repräsentanten der „Kritik an der Kritik" sich selbst und anderen nur ein noch höheres M a ß von kritischem hermeneutischen Bewußtsein ab, als es in den Reihen der radikalen Kritik zutage getreten ist! Bedenkt man den ökumenischen Siegeszug der historischen Kritik, ist es z.B. heute kaum mehr möglich, einen speziellen Sachzusammenhang von reformatorischer Rechtfertigungslehre und historischer Kritik zu konstatieren, wie es Ebeling 1 9 5 0 getan hat. Angesichts der Defizite und Irrtümer der historischen Kritik ist außerdem zu überlegen, ob und inwiefern die Prämissen der historischen Kritik der Revision bedürfen. Aber sehen wir genauer zu! Es wäre zunächst höchst unangebracht, die Augen vor dem imponierenden Siegeszug zu verschließen, den die historisch-kritische Methode im letzten und in diesem Jahrhundert genommen hat. Die historische Methode hat sich heute in der theologischen Wissenschaft durchgesetzt. Sie ermöglicht es Protestanten und Katholiken, die Bibel gemeinsam zu erforschen, und sie beginnt in die Theologie der orthodoxen Kirchen ebenso einzudringen wie in die Theologie des Judentums. Niemand von uns kann ein Interesse daran haben, daß die mit

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der historischen Methode gegebene ökumenische Gesprächs- und Forschungsbasis wieder abgerissen wird. Dennoch kann nach zwei Jahrhunderten historisch-kritischer Erforschung der biblischen Schriften eines nicht mehr übersehen werden: Den Leistungen und unwiderruflichen Ergebnissen der historischen Kritik steht auch eine Reihe von gravierenden Fehlleistungen gegenüber. Es gehört keine besondere Findigkeit dazu, heute zu jeder gewichtigeren Frage im Bereich der neutestamentlichen Wissenschaft zwei oder drei einander diametral entgegengesetzte Antworten ausfindig zu machen, die sämtlich mit dem Anspruch auftreten, wissenschaftlich - und d.h. in diesem Falle: historisch-kritisch - fundiert und dementsprechend auch wahr zu sein. Man sollte diesen Zustand um so weniger verharmlosen, als Christentumskritiker heute aus eben diesem Sachverhalt den Bankrott und die Haltlosigkeit des christlichen Glaubens erschließen. R. Augstein hat sein 1972 erschienenes Buch „Jesus Menschensohn" nur auf Grund gründlicher Recherchen in den wissenschaftlichen theologischen Bibliotheken schreiben können. Angesichts dieser Untersuchungen stellt er die kritische Frage, „mit welchem Recht die christlichen Kirchen sich auf einen Jesus berufen, den es nicht gab, auf Lehren, die er nicht gelehrt, auf eine Vollmacht, die er nicht erteilt, und auf eine Gottessohnschaft, die er selbst nicht für möglich gehalten und nicht beansprucht hat" (a. a. O., 7). Wer auf Augsteins Anfrage entgegnen will, muß in der Sache anders und besser argumentieren als er, sollte aber auch nicht G. Ebelings auf die neutestamentliche Exegese gemünzte Warnung vor der „Gefahr einer hochgezüchteten, aber steril gewordenen wissenschaftlichen Technik" und der mit ihr Hand in Hand gehenden „Resignation, die sich vom wissenschaftlichen Umgang mit den Texten oder gar von diesen selbst nicht mehr viel verspricht", überhören (Studium der Theologie, 23). Ergebnisse und Methodologie der radikalen Bibelkritik sind also zu überprüfen! Zwingt man sich eben dazu, erkennt man sehr rasch eine Reihe von Implikationen und Voraussetzungen der historischen Methode, die hervorgehoben und angesichts der ambivalenten Ergebnisse der Kritik neu zur Diskussion gestellt werden müssen. Wie die Analyse der historisch-kritischen Methode durch Troeltsch klassisch zeigt, arbeitet die Methode unter der Voraussetzung eines ganz bestimmten Begriffs von Geschichte (und Wirklichkeit), und sie geht außerdem - wie alle Wissenschaft - von der Annahme aus, daß es allein Sache des kritischen Verstandes sei, über Wert und Unwert, Wahrheit und Irrtum in der Uberlieferung zu entscheiden. H. Weder hat in mehreren Veröffentlichungen darauf aufmerksam gemacht, daß ein nach dem Kausalprinzip strukturierter Geschichtsbegriff dazu zwingt, die biblischen Texte bei ihrer Erforschung zunächst einmal auf ihre Begründung hin zu hinterfragen — Weder sagt plastisch: „rückgängig zu machen" - und dann erst ihren Anspruch zu bedenken. Weder rät, dieses unglückliche Verfahren methodisch abzuändern, und warnt vor dem unreflektierten Gebrauch sog. „nomothetischer", d.h. eigengesetzlicher, Konzepte von Geschichte und Wirklichkeit bei der Exegese (s.u. S. 233). Den biblischen Texten ist s.M.n. auch in Hinsicht auf die Voraussetzungen der historischen Kritik in voller Offenheit zu begegnen! - Schon vor

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Der gegenwärtige Streit um die Schriftauslegung

Weder hat sich W. G. Kümmel (im Anschluß an den französischen Historiker Henri-Irenee Marrou) dafür eingesetzt, den (biblischen) Quellen nicht mit prinzipiellem Mißtrauen, sondern mit „kritischer Sympathie" zu begegnen; nur so könne man von der bloßen Kritik zum Verständnis der Texte vordringen. Schließlich und endlich hat sich L. Goppelt immer wieder dafür verkämpft, daß die neutestamentliche Wissenschaft nur in dem Maße Wissenschaft sei und bleibe, als sie die ererbten Prinzipien des Historismus ( = Kritik, Analogie und Korrelation) kritisch dem Anspruch des Neuen Testaments aussetze und sich der Verpflichtung zum Austausch mit den Nachbardisziplinen vom Alten Testament, der Kirchengeschichte und - von Goppelt besonders betont - der Dogmatik nicht entziehe. Das Neue Testament will nach Goppelt (Theologie d. NTs. 1 , 1 9 7 5 , 5 0 ) „ein von dem Gott des A(lten) T(estaments) herkommendes Erfüllungsgeschehen bezeugen, das von Jesus als seiner Mitte ausgeht", und diesem Anspruch hat die neutestamentliche Forschung zu dienen. Vergleicht man die Arbeiten von Kümmel und Goppelt mit den Veröffentlichungen von Braun und Käsemann, sieht man rasch, daß die unterschiedliche Methodologie (ζ. B. in der Jesusfrage) in der Tat zu verschiedenen Ergebnissen führt. Die hermeneutischen Gesichtspunkte der „Kritik an der Kritik" lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die historisch-kritische Erforschung der Bibel ist und bleibt unerläßlich, da die Kirche auf eine genaue Kenntnis des biblischen Ursprungszeugnisses angewiesen ist. Aber es ist zu warnen vor einem Kritizismus, der die biblischen Texte nicht mehr sagen läßt, was sie von sich selbst her sagen wollen. Die historische Erforschung der Schrift hat primär den Selbstaussagen der Texte zu dienen. Angesichts des besonderen Offenbarungsanspruchs der Bibel verpflichtet dieser Dienst die Forschung zu erhöhtem hermeneutischen Problembewußtsein. - Die Bibel ist seit ihren Anfängen ein Lern- und Lebensbuch der Kirche gewesen und bis heute geblieben. Bei der theologischen Auslegung der Schrift bedarf der Exeget eben deshalb der Beratung und der Kritik durch den Kirchenhistoriker und den Dogmatiker. Er sollte sich der Pflicht zur Beachtung der Glaubenstradition der Kirche nicht einfach deshalb enthoben wähnen, weil seine Hauptaufgabe in der historischen Erhellung der Bibeltexte liegt. Nicht nur der römisch-katholischen oder der orthodoxen, sondern auch der protestantischen Exegese ist es von ihrer Tradition her aufgegeben, die Schrift in wissenschaftlich verantwortbarer Art und Weise zu interpretieren aus dem Geist heraus, in dem diese Schrift ursprünglich verfaßt und vor aller konfessionellen Spaltung zum kirchlichen Kanon erhoben worden ist.

4.3 Das Nein zur Bibelkritik Während die „Kritik an der Kritik" die Einseitigkeiten der radikalen Kritik zu korrigieren sucht, die historisch-kritische Arbeit an der Bibel aber weiterhin für unaufgebbar erachtet, wissen sich heute eine Reihe von Christen verpflichtet, „Alarm um die Bibel" (G.Bergmann) zu schlagen und „Das Ende der histo-

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risch-kritischen Methode" (G. Maier) auszurufen. Sie erhalten ihr Recht aus der Abgrenzung gegen die mit dogmatischem Wahrheitsanspruch vorgetragenen Fehlleistungen der historischen Bibelkritik und sind dem bibelgläubigen Pietismus verpflichtet, der von seinen Ursprüngen an die historische Arbeit als Dienst am Urtext der Schrift verstanden hat, ohne sich zur Kritik an der Bibel berechtigt zu sehen. Der bibelgläubige Pietismus hat sich seit seiner Entstehung im 18. Jahrhundert stets mit der wissenschaftlichen Verpflichtung der Theologie schwergetan und war immer in Gefahr, aus der Verantwortung der geistigen Zeitgenossenschaft in den Separatismus und ein kirchliches Konventikeltum auszubrechen. Was wir heute vor uns haben und neu durchfechten müssen, ist also nur die für unsere Problemsituation charakteristische Variante eines sehr alten Streites zwischen der sich von der kirchlichen Tradition emanzipierenden kritischen (Bibel-)Wissenschaft und einer aus der Orthodoxie herauswachsenden pietistischen Bibelfrömmigkeit. Der Kern des Streits und zugleich die Basis, von der die pietistischen Kritiker der historischen Kritik ausgehen, ist die Lehre von der Inspiration der hl. Schrift als Kanon der Kirche. Es gibt heute in der Missouri-Synode und in Europa theologische Seminare und Hochschulen, die sich um ein fundamentalistisches Bibelbekenntnis scharen. Sie lehnen jedwede Form von historischer Bibelkritik ab und verstehen die Bibel als eine in sich fehllose, gültige und in all ihren Aussagen vom hl. Geist inspirierte Offenbarungsurkunde. Die historische Beschäftigung mit der hl. Schrift wird in diesen Ausbildungsstätten auf das Studium der biblischen Ursprachen, auf die Erforschung des biblischen Urtextes und auf die historische Erhellung des vorliegenden Wortlautes der Bibel konzentriert. Jegliche Form von kritischem Urteil über die Schrift aber läßt man sich selbst verboten sein. Mit dieser Haltung möchte man der kontinuierlichen Erosion des christlichen Glaubens auf dem Wege einer historisch-kritischen Zersetzung seiner biblischen Glaubensfundamente wehren. Von dieser radikalen Form des (protestantischen) Fundamentalismus ist die Position zu unterscheiden, die gegenwärtig Gerhard Maier und seine Freunde einnehmen. Sie brechen weder das kirchliche noch das wissenschaftliche Gespräch mit den verschiedenen Formen der gegenwärtigen Bibelkritik ab, noch ziehen sie sich mit ihren Voten aus dem Diskussionsraum der universitären Theologenausbildung zurück, aber sie plädieren angesichts des von ihnen konstatierten theologischen Bankrotts der historischen Kritik für die Überführung der bisher geübten historisch-kritischen Schriftauslegung in eine, wie Maier sagt, „historisch-biblische Methode", die den gläubigen und vom hl. Geist erfüllten Ausleger voraussetzt. Diese neue Methode unterscheidet sich von der historisch-kritischen darin, daß die Bibel keiner prinzipiellen oder inhaltlichen Kritik mehr unterworfen, vielmehr als vom hl. Geist zur Einheit zusammengeschlossene Offenbarungsquelle anerkannt wird, die über alle menschliche Kritik erhaben ist. Die historisch-biblische Methode bemüht sich deshalb zwar um die genaue Erarbeitung des biblischen Urtextes, versucht auch mit Hilfe zeitgeschichtlicher Forschung in die urtümliche Ausdrucksweise und Intention der biblischen Schriften einzudringen, hält sich aber bei unverständlich oder wider-

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Der gegenwärtige Streit um die Schriftauslegung

sprüchlich erscheinenden Aussagen der Bibel mit dem eigenen Urteil zurück. Die historisch-biblische Arbeit verweigert sich ausdrücklich der seit Luther gegenüber der Schrift geübten Unterscheidung dessen, „was Christum treibet", von Aussagen, die dies nicht tun. Sie hält den protestantischen Versuch, einen maßgebenden Kanon im Kanon der hl. Schrift auszugrenzen, für unangemessen, weil sich für sie das reformatorische „Sola scriptura" (erst) im Glauben des Pietismus an die Autorität der Schrift im ganzen vollendet. Die Schriftauffassung der protestantischen Orthodoxie und der Biblizismus Johann Albrecht Bengels sind für die historisch-biblische Bemühung um die Bibel die eigentlich wegweisenden und maßgebenden Vorbilder. Es ist im Rahmen dieses Paragraphen noch nicht der Ort, in eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Nein zur Bibelkritik einzutreten, es soll nur erst darauf hingewiesen werden, wo die hermeneutischen Hauptprobleme dieses Nein liegen. Wie J.Barr in seinem Buch „Fundamentalismus" herausgearbeitet und G.Sauter im Vorwort zur deutschen Ubersetzung des Werkes (1981) bestätigt hat, lebt der Fundamentalismus genauso wie die ihm gegenüberstehende Bibelkritik der Aufklärung von einem unkritischen Rationalismus und einem dadurch geprägten Tatsachenbegriff. Während die rationalistische Bibelkritik inzwischen überwunden ist, hat der alte Tatsachenbegriff bei den Fundamentalisten überlebt: „Texte können demnach nur als Berichte glaubwürdig sein, die über Tatsachen informieren. Gott erscheint hier als der höchste, absolut verläßliche Informant über die Welt und das Weltgeschehen in ihr; alles steht ja in seinen Händen. Und die Bibel ist das in jeder Hinsicht untrügliche Dokument dieser Unterrichtung des Menschen durch Gott" (a.a.O., 10). Hermeneutisch sind dieser Tatsachenbegriff und die von ihm geprägte Auffassung der Bibel zu hinterfragen! Das Problem der historisch-biblischen Arbeit an der Schrift liegt nicht nur darin, daß auch sie von der Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit der Schrift ausgeht. Vielmehr wird unter Berufung auf die Inspiration der Schrift der Versuch gemacht, eine Auslegungsmethode zu entwickeln, die von der Wiedergeburt des Auslegers ausgeht und damit den hl. Geist zu einer methodischen Voraussetzung des wahren, auf Bibelkritik verzichtenden hermeneutischen Verfahrens macht. Es ist das Verdienst G. Maiers, auf die hermeneutisch fundamentale Bedeutung der heute nur zu gern an den Rand geschobenen oder ganz übergangenen Lehre von der Schriftinspiration neu hinzuweisen; es ist auch nichts dagegen einzuwenden, daß eine biblische Hermeneutik wirklich primär von der Schrift her entwickelt werden muß. Aber Maier entzieht sich der, wie wir sehen werden, seit Beginn des 3.Jh.s feststehenden Verpflichtung der kirchlichen Schriftauslegung, ihre Verfahrensweise und ihre Ergebnisse nicht nur vor der Schrift allein, sondern auch vor der kirchlichen Glaubenstradition und dem der Kirche in der Geschichte jeweils neu begegnenden kritischen Wahrheitsbewußtsein einer Epoche zu verantworten. Es ist dieser Verpflichtung angemessener, die Methoden- und Sachproblematik der Bibelwissenschaften konsequent auf wissenschaftlicher Ebene durchzustehen, als sich aus diesem Denkprozeß unter Berufung auf

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Schriftautorität und Wirken des Geistes dort zurückzuziehen, wo das Problem der Sachkritik an biblischen Aussagen auftaucht. Die biblische Hermeneutik muß sich vor allem anderen an den durch die Bibel selbst gesetzten hermeneutischen Maßstäben orientieren. Dazu gehört es zu wissen, was der Kanon ist, was biblisch Inspiration der Schrift heißt, und ob bereits in der Schrift ein Auslegungsmodell entwickelt wird, an dem sich der Ausleger orientieren kann. Eben diesen Fragen ist nunmehr nachzugehen.

§ 3 Das Neue Testament und der biblische Kanon Wenn wir mit unseren Verstehensbemühungen dem Neuen Testament und der Bibel insgesamt gerechtwerden wollen, muß uns vor Augen stehen, wie es geschichtlich zur Bildung des Neuen Testaments gekommen ist, was der neutestamentliche Kanon historisch ist und wie sich sein Verhältnis zum Alten Testament darstellt.

1. Der neutestamentliche Kanon als das Alte Testament ergänzende kirchliche Auswahlsammlung Die Frage, was der neutestamentliche Kanon ist, läßt sich verhältnismäßig leicht beantworten: Es handelt sich um die das Alte Testament ergänzende kirchliche Auswahlsammlung aus dem urchristlichen Schrifttum der Zeit zwischen 3 0 und etwa 1 5 0 n . C h r . Das entscheidende Ursprungsdatum dieses Schrifttums liegt bei dem Todes- und Auferstehungsjahr Jesu Christi, das Ende ist mit dem ins 2. J h . n. Chr. zu datierenden 2. Petrusbrief gegeben. Die Ergänzung des Alten Testaments durch das Neue hat sich erst ganz allmählich ergeben. Jesus, seine Apostel und die Autoren der neutestamentlichen Schriften haben zunächst das Alte Testament als die nicht nur den Juden, sondern auch ihnen gehörige hl. Schrift verstanden und gelesen. „Hätte man einen Christen um das J a h r Hundert gefragt, ob seine Gemeinde ein heiliges und verbindliches Buch göttlicher Offenbarung besäße, so hätte er die Frage stolz und ohne Zögern bejaht: die Kirche besaß solche Bücher, das ,Gesetz und die Propheten', das heute so genannte Alte Testament. Über hundert Jahre lang, noch um die Mitte des zweiten Jahrhunderts bei Justin, erscheint das Alte Testament als die einzige, maßgebende und völlig ausreichende heilige Schrift der Kirche, auf die sich die Juden, die Christus ablehnen, darum nur zu Unrecht berufen. Denn die Weissagungen dieses Buches gehen auf diesen Herrn, Christus; er selbst redet klar und vernehmlich durch die alttestamentlichen Propheten und steht in der Fluchtlinie der ganzen bisherigen Heilsgeschichte, die er ans Ziel bringt" (H. Frhr. von Campenhausen, Die Entstehung des N T s , a.a.O., 110).

Daß es sich beim Neuen Testament um eine Auswahlsammlung handelt, sieht man sowohl durch einen Blick in das Neue Testament selbst wie auf jenes

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Das Neue Testament und der biblische Kanon

frühchristliche Schrifttum, das uns erhalten ist, aber nicht mehr in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen wurde. Aus dem Neuen Testament selbst ergibt sich, daß die heutigen 2 7 Bücher nur ein Teil des ursprünglich vorhandenen urchristlichen Schrifttums sind. In l . K o r 5 , 9 ; 2.Kor 2 , 4 und Kol 4 , 1 6 sind Paulusbriefe erwähnt, die wir heute nichtmehr besitzen. Von den „vielen" Gewährsmännern und Vorgängern des Chronisten Lukas (Lk 1,1-4) kennen wir nur einige wenige. Welche ursprüngliche Gestalt die in der Apostelgeschichte verarbeiteten apostolischen Überlieferungen besaßen, wissen wir nicht mehr. Von der (etwaigen) Korrespondenz zwischen Petrus, anderen urchristlichen Missionaren und den von ihnen begründeten Gemeinden ist uns keine Spur erhalten. - Schauen wir auf das frühchristlichaußerneutestamentliche Schrifttum, bestätigt sich unsere These. Uns sind nicht nur die zwischen 95 und 150/160 verfaßten sog. „Apostolischen V ä t e r " (darunter der erste Klemensbrief, die berühmten Abschiedsbriefe des Ignatius von Antiochien, die Didache und der um 1 4 0 in R o m verfaßte Hermashirte) bekannt, sondern auch recht zahlreiche Fragmente von neutestamentlichen Apokryphen, unter denen sich Evangelienentwürfe, fingierte Apostelbriefe und Apokalypsen ebenso finden wie sekundäre Apostelgeschichten. Dieses vielfältige Material wurde seinerzeit neben dem neutestamentlichen Schrifttum in den christlichen Gemeinden gelesen und diskutiert. Aus dem gesamten Überlieferungskomplex heraus ist der neutestamentliche Schriftenbestand erst nach und nach ausgesondert worden, und zwar als eine Schriftensammlung zum Zwecke der Verlesung und Auslegung im frühchristlichen Gottesdienst.

2. Die Gründe für die Ausbildung des neutestamentlichen Kanons Die Gründe, die zu einer Zusammenstellung und Abgrenzung des neutestamentlichen Kanons geführt haben, sind vielschichtig. Nötigung von außen und ein elementares internes Orientierungs- und Traditionsbedürfnis der christlichen Gemeinden wirken dabei zusammen.

2.1 Das Orientierungs- und Traditionsbedürfnis der Gemeinden Auf das zum Ende des 1. Jahrhunderts hin anwachsende Traditions- und Orientierungsbedürfnis der christlichen Gemeinden stoßen wir schon im Neuen Testament selbst. In dem einen Jahrzehnt zwischen 6 0 und 7 0 n. Chr. starben nacheinander Paulus, der an der Spitze der Jerusalemer Urgemeinde stehende Herrenbruder Jakobus und Petrus den Märtyrertod. Als sich die Wirren des jüdischen Krieges verstärkten, mußte die Urgemeinde ins Ostjordanland nach Pella ausweichen. Im Jahre 7 0 wurden der Jerusalemer Tempel und weite Teile der Stadt durch die römischen Legionen unter Titus zerstört. Die urchristlichen Gemeinden waren damit innerhalb von zehn Jahren ihrer geistigen Führungskräfte und der Möglichkeit der geistlichen Ausrichtung auf Jerusalem beraubt.

Die Gründe für die Ausbildung des neutestamentlichen Kanons

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Sie bedurften nun aber erst recht der Orientierung an der apostolischen Tradition und der bislang in Jerusalem gepflegten Jesusüberlieferung. Die neutestamentlichen Evangelien sind geschrieben worden, um diese Orientierung zu gewährleisten. Wenn wir die in den fünfziger Jahren entstandenen großen Paulusbriefe, ζ. B. die Korintherbriefe und den Römerbrief, mit den drei Vermächtnisbriefen des Paulus an Timotheus und Titus vergleichen, wenn wir die drei Johannesbriefe im Rückblick auf das vierte Evangelium lesen, und wenn wir uns den zweiten Petrusbrief vor Augen halten, sehen wir, wie in der späteren Briefliteratur des Neuen Testaments das Bemühen wirksam wird, den Gemeinden die wahre apostolische Tradition zu erhalten und sie neu zu aktualisieren. Lukas bemüht sich in seinem aus Evangelium und Apostelgeschichte bestehenden Großwerk programmatisch, die Kirche der zweiten und dritten urchristlichen Generation vor die für sie maßgebliche christliche Gesamttradition zu stellen. Diese besteht nach seiner Darstellung aus der Verheißung der alttestamentlichen Propheten, der Jesusüberlieferung, der Tradition der Jerusalemer Apostel und der Paulusverkündigung. Wie der Hebräerbrief und die Johannesbriefe, der Judasbrief und die Briefe an Timotheus und Titus, die Apokalypse und der 2. Petrusbrief zeigen, wurde dieses Orientierungsbedürfnis in den Gemeinden aber nicht nur durch den wachsenden zeitlichen Abstand von der Jesus- und Apostelzeit genährt, sondern gleichzeitig auch durch die Nötigung, sich mit Separatisten und Apostaten aus den eigenen Reihen auseinanderzusetzen. Unter ihnen spielen die Gruppierungen der „fälschlich so genannten Gnosis" ( l . T i m 6,20) vom Ende des 1. Jh.s an die Hauptrolle. Auf Grund dieses schon innerneutestamentlich spürbaren kirchlichen Bedürfnisses nach maßgebender und orientierender Überlieferung kommt es schon vor Ende des 1. Jahrhunderts zur ersten „neutestamentlichen" Schriftensammlung auf frühchristlichem Boden, nämlich zur Zusammenstellung der Paulusbriefe. Dem 9 5 / 9 6 n.Chr. von R o m nach Korinth ausgehenden 1.Klemensbrief sind der Römer- und 1. Korintherbrief des Paulus bekannt (vgl. l.Klem 3 5 , 5 f . ; 3 7 , 5 ; 4 7 , 1 - 3 ; 4 9 , 5 ) . Der 2. Petrusbrief spricht in 3 , 1 6 bereits von „allen Briefen" des Paulus. Ignatius von Antiochien (Martyrium in R o m um 1 1 0 n.Chr.) kennt nach seinem Epheserbrief 12,2 eine Mehrzahl von Paulusbriefen, darunter den Römerbrief, den 1. Korintherbrief und den Epheserbrief. Markion, auf den wir gleich noch eingehen werden, verfügt in der Mitte des 2. Jahrhunderts über ein Corpus von 10 Paulusbriefen, wobei die Pastoralbriefe und der Hebräerbrief nicht zu dieser Sammlung gehören. Über die gesammelten Paulusbriefe hinaus rücken dann, wie wieder die Ignatiusbriefe, der Barnabasbrief (um 1 3 0 n.Chr.), der sog. 2.Klemensbrief (um 1 4 0 n.Chr.) und die um 1 5 0 n.Chr. entstandene Apologie des Märtyrers Justin (I 6 7 , 3 ) zeigen, die Evangelien zu kirchlichen Schriften auf. Sie gewinnen alsbald den gleichen Rang wie das von den Christen weiterhin als ihre hl. Schrift gelesene und ausgelegte Alte Testament.

38 2.2 Besondere

Das Neue Testament und der biblische Kanon

Herausforderungen

Das Bedürfnis nach einem klar umrissenen Kanon neutestamentlicher Schriften wird aber erst vollends geweckt, als sich die Herausforderungen für die Gemeinden verstärkten. Der Druck kommt von mehreren Seiten zugleich, vom Judentum, von Markion und dem christlichen Gnostizismus sowie von der in der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts aufbrechenden prophetisch-apokalyptischen Bewegung des Montanismus her. 2.2.1 Der Rückzug der Synagoge auf den masoretischen Kanon Ende des 1. Jahrhunderts kommt es zum definitiven Bruch zwischen der Synagoge und den Christen. Damit stellt sich ganz von selbst die Frage nach Art und Umfang des christlichen Alten Testaments. Das Alte Testament war im l . J h . von den Christengemeinden ganz selbstverständlich als hl. Schrift übernommen worden, und zwar in eben der offenen, unabgeschlossenen Form, die der alttestamentliche Schriftenbestand damals noch besaß. Der kanonische Rang des Pentateuch (d. h. der fünf Bücher Mose als Offenbarung des Gesetzes) stand für Israel schon im 5. Jahrhundert vor Christus fest. Dasselbe gilt seit dem 3. Jh. v. Chr. für die Propheten (nach jüdischer Anschauung sind dies die Bücher Josua, Richter, 1. und 2.Samuel, 1. und 2. Könige sowie Jesaja, Jeremia, Ezechiel und die zwölf kleinen Prophetenbücher). Der dritte Teil des jüdischen Alten Testaments, die sog. Schriften (d.h. die Psalmen, Sprüche, Prediger, Hoheslied, Klagelieder, Esra, Nehemia, Chronik, Daniel usw.), wird im Prolog zum Sirachbuch schon erwähnt, ist aber noch weitergewachsen und offenkundig bis zum Ende des l . J h . s n.Chr. unabgeschlossen geblieben. Zuerst spricht der Sirachprolog einfach von „den anderen väterlichen Schriften"; 4Esr 14,45 stellt vierundzwanzig kanonischen Büchern siebzig geheime für die Weisen gegenüber; Josephus setzt sich in Contra Apionem 138-41 für einen Kanon von nur 22 Büchern ein und sagt, daß neben Gesetz und Propheten „die restlichen vier (Bücher) Loblieder auf Gott und Lebensregeln für die Menschen enthalten", aber nicht von gleicher Glaubwürdigkeit seien wie jene; Lk 24,44 erwähnt nebeneinander einfach nur „das Gesetz des Mose und die Propheten und die Psalmen". Eine ähnliche Offenheit der Tradition bezeugt die seit dem 3.Jh. v.Chr. in mehreren Anläufen entstandene griechische Übersetzung des Alten Testaments, die sog. Septuaginta, deren Schriftenbestand bekanntlich über den der hebräischen Bibel beträchtlich hinausgeht und ganz selbstverständlich jene Weisheitsschriften (Sirach und WeishSal) mit umschließt, die keine Aufnahme in den hebräischen Kanon gefunden haben. Der Gebrauch durch die Christen macht die Septuaginta mit der Zeit zum eigentlichen „christlichen" Alten Testament. Erst nach der Katastrophe des Jahres 70 und dem Scheitern des Bar-KochbaAufstands im Jahr 135 n.Chr. setzten innerjüdische Diskussionen um die definitive Gestalt des alttestamentlichen Kanons ein, und zwar in einer doppelten Frontstellung. M a n versuchte sich einmal jener apokalyptischen Überliefe-

Die Gründe für die Ausbildung des neutestamentlichen Kanons

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rung zu entledigen, welche den Eifergeist des politischen Aufstands gegen Rom genährt und die Niederlage der Israeliten mitverursacht hatte. M a n wandte sich aber gegen diese apokalyptischen Schriften und vor allem die teilweise recht frei übersetzte, variantenreiche Septuaginta auch, weil beide mittlerweile den Christen zur Begründung ihres (vom Judentum aus geurteilt) häretischen Glaubens an Jesus als den Messias dienten. In der Tat finden wir in l . K o r 2 , 9 ; J a k 4,5 f. und im Judas- sowie im 2.Petrusbrief Bücher als hl. Schrift zitiert, die heute als Apokryphen gelten oder ganz verschollen sind. Die Christengemeinden sehen sich daher zu Beginn des 2. Jahrhunderts einem Judentum gegenüber, das sich auf den mit Daniel abschließenden hebräischaramäischen Kanon von insgesamt 39 Einzelbüchern, d.h. den später so genannten Kanon der Masoreten ( = die um die genaue Textgestalt des alttestamentlichen Textes bemühten jüdischen Schriftgelehrten), zu konzentrieren beginnt und die Septuaginta durch genauere Übersetzungen des hebräischen Textes ins Griechische zu verdrängen sucht. Bekannt sind hier vor allem die Übersetzungen des Aquila (um 1 3 0 n.Chr.), des Theodotion (um 1 7 0 n.Chr.) und des Symmachus (Ende des 2.Jh.s). Eben damit sind die Christen vor die Frage gestellt, welchen Umfang und welche Sprachgestalt für sie das Alte Testament haben solle. 2 . 2 . 2 Die gnostische Fehldeutung des Alten Testaments und seine Ablehnung durch Markion Diese Frage wurde unausweichlich, als die christlichen Gnostiker des 2. Jh.s erstaunlich einhellig das Alte Testament durch eine negative Interpretation (vor allem) der biblischen Urgeschichten ( = Gen 1-11) abwerteten. Jahwe, den Gott des Alten Testaments, deuteten sie als eine den Menschen knechtende, dem wahren Gott feindselig gegenüberstehende niedere Gottheit: Was das Alte Testament als Schöpfung beschreibt, ist in Wahrheit der Versuch dieses niederen Gottes, den Menschen für immer an sich zu binden und dem wahren Heil in Form der wahren Erkenntnis zu entfremden. Diese „christliche" Abwertung des Alten Testaments erreichte ihren Höhepunkt mit dem programmatischen Vorgehen des Markion in der von ihm nach 144 n.Chr. begründeten markionitischen Sonderkirche. Als Ultra-Pauliner stand der aus dem kleinasiatischen Paphlagonien stammende Markion dem Gesetz und Alten Testament schon zu der Zeit ablehnend gegenüber, da er noch zur römischen Gemeinde gehörte. Als er 1 4 4 n.Chr. aus dieser ausgestoßen wurde, rief er eine sich rasch über das ganze Reich ausbreitende Sonderkirche ins Leben. Seinen Gemeinden gab er einen eigenen Kanon hl. Schriften in Form eines rigoros antijüdisch bearbeiteten Lukasevangeliums und von zehn nicht minder gewalttätig bearbeiteten Paulusbriefen. Da Lukas auf Grund von Kol 4 , 1 3 als Begleiter und Freund des Paulus galt, haben wir ein ganz paulinistisch orientiertes Schriftenkorpus vor uns. Diese Schriftensammlung Markions ist gleichsam das Neue Testament in häretischer Ursprungsfassung. Alle die Gemeinden, die den Markioniten nicht folgen wollten, waren durch diese Samm-

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lung vollends herausgefordert, ihre Stellung zum Alten Testament zu bedenken. Gleichzeitig galt es festzustellen, ob das Evangelium des Lukas und die zehn von Markion bearbeiteten Paulusbriefe denn die einzigen Schriften des Neuen Bundes seien, welche die kirchliche Glaubenstradition beurkunden. Die Negativinterpretation des Alten Testaments durch die christlichen Gnostiker und Markion provozierten in den an der apostolischen Tradition festhaltenden Gemeinden eine pro-alttestamentliche Haltung. Markions häretisches Neues Testament und die in den Pastoralbriefen ( = 1 . und 2.Timotheusbrief, Titusbrief) und 2.Petr 3,16 bezeugte Berufung der Gnostiker auf Paulus führten gleichzeitig zu dem Willen, das neutestamentliche Schriftenmaterial unter keinen Umständen auf die paulinische Uberlieferung einzuengen. Eben diesen Willen zur Inklusivität und Weite in Hinsicht auf das Neue Testament mußten die rechtgläubigen Gemeinden angesichts des Auftretens des M o n t a n u s alsbald noch weiter präzisieren und bewähren. 2.2.3 Das apokalyptische Schwärmertum des Montanus Etwa um das Jahr 157 n.Chr. trat in Phrygien ein christlicher Prophet, Montanus, mit dem Anspruch auf, der verheißene Paraklet des Johannesevangeliums in Person zu sein und als solcher die abschließende, höchste Offenbarungsstufe des christlichen Glaubens zu verkündigen. Verkündet wurde dabei vor allem das nahe Weltende, eine angesichts dieses Endes zu praktizierende rigorose Ethik und die baldige Herabkunft des himmlischen Jerusalem. Die Kirche konnte sich dieser neuen schwärmerischen Bewegung kaum erwehren und war nun ihrerseits (in interessanter Parallelstellung zur Synagoge, s. S. 38 f.) genötigt, alles christlich-apokalyptische Schrifttum mit äußerstem Argwohn zu betrachten. Das kanongeschichtliche Resultat der antimontanistischen Streitigkeiten ist die Verdrängung der meisten christlich-apokalyptischen Schriften aus dem Vorlesegut der Gemeinden. N u r die Johannesoffenbarung hat diesen kritischen Selektionsprozeß überstanden.

3. Der Verlauf der

Kanonbildung

Von der Mitte des 2.Jh.s n.Chr. an treffen wir also in den Gemeinden, die weder gnostisch noch markionitisch oder montanistisch sein wollten, eine Einstellung an, welche die Ausbildung eines kirchlichen Kanons aus Altem und Neuem Testament möglich und notwendig machte. Die Frage, welche alttestamentlichen Bücher wirklich hl. Schrift der Christengemeinden seien und in welchem Umfang dem Alten Testament Schrifttum aus der apostolischen Ursprungszeit der Kirche hinzugefügt und gegenübergestellt werden solle, war unwiderruflich gestellt und konnte nicht länger unbeantwortet bleiben. Wir können deshalb von derselben Zeit an auch das praktische kirchliche Bemühen verfolgen, den Bestand der christlich rezipierten alttestamentlichen Schriften festzulegen und aus den in den Gemeinden gebräuchlichen apostolischen

Der Verlauf der Kanonbildung

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Schriften eine der gottesdienstlichen Lesung dienende neutestamentliche Auswahlsammlung zu schaffen. Es ist für das Verständnis des Neuen Testaments von erheblicher Bedeutung, daß diese kirchlichen Bemühungen um einen neutestamentlichen Kanon nicht losgelöst von der Frage nach dem Alten Testament, sondern eng verzahnt mit ihr einsetzen. Um freilich eine das Alte Testament christlich ergänzende und mit ihm zusammen die christliche hl. Schrift bildende kanonische Auswahlsammlung zu schaffen, bedurfte es dreierlei: es bedurfte erstens einer Instanz, die zusammenstellen, auswählen, aber gleichzeitig auch verwerfen kann; es bedurfte zweitens maßgebender Kriterien, nach denen ausgelesen und verworfen wird; und es bedurfte drittens einer den Kanon aus Altem und Neuem Testament von innen her zusammenschließenden theologischen Theorie.

3.1 Die Bischöfe als Entscheidungsinstanzen Wer über Auswahl und Zusammenstellung der in den Gemeinden gebräuchlichen Schriften letzten Endes entscheiden sollte, konnte im 2. J h . nicht mehr strittig sein. Es waren die Presbyter, Bischöfe und Metropoliten, d. h. die Repräsentanten jenes gemeindeleitenden und die Kontinuität der (apostolischen) Lehre garantierenden Amtes, dessen Ausbildung in den Pastoralbriefen zu beobachten ist und das in den Briefen des Ignatius von Antiochien propagiert wird.

3.2 Glaubensregel und Apostolizität als Auswahlkriterien Die kirchlichen Auswahlkriterien heißen: regula fidei (griechisch: kanon

pisteos) und Apostolizität.

tes

Als regula fidei bezeichnen wir, Irenäus und Tertullian folgend, jene frühkirchlichen Summarien, die auf dem neutestamentlichen Bekenntnisgut (z.B. l . K o r 1 5 , 3 b f f . ; Rom 1 0 , 9 f . ; l . J o h 4 , I f f . ) aufruhen, von Kirchenprovinz zu Kirchenprovinz noch variabel waren und trotz ihrer zumeist mündlichen Überlieferungsgestalt eine unentbehrliche Doppelfunktion besaßen. Sie dienten im Taufunterricht der behältlichen Zusammenfassung der christlichen Glaubensgehalte und im Kampf mit der immer stärker werdenden vielgestaltigen Häresie als Unterscheidungsmerkmal. Für diese im Wortlaut noch fließende, in der Sache eindeutig auf unser apostolisches Glaubensbekenntnis vorausweisende „regula fidei" seien zwei Beispiele genannt. Das erste stammt aus Tertullians um 2 0 0 n. Chr. geschriebener Schrift „De praescriptione haereticorum" ( = Von der Prozeßeinrede gegen die Häretiker) Kap. 13 und lautet (in der kommentierten Übersetzung von K.Beyschlag, a . a . O . I, 9 0 f . ) :

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Das Neue Testament und der biblische Kanon

„ . . . Es gibt nur eine Glaubensregel, jene nämlich, auf Grund deren man glaubt, daß es nur einen einzigen Gott gibt und keinen anderen neben ihm (2.Mose 20,2 f.), den Schöpfer der Welt, der alles aus nichts (...) hervorgebracht hat durch sein allen Dingen vorangegangenes Wort (vgl. l . M o s e 1!). Das ,Wort' (lat. verbum, griech. logos!) wird sein Sohn genannt (vgl. Joh. 1,1 ff.). Von den Patriarchen wurde es unter dem Namen Gottes verschiedentlich geschaut (vgl. z.B. l . M o s e 17; 18; 28), von den Propheten immer gehört, zuletzt aber (vgl. Hebr. 1,1 f.) ist es aus dem Geist und der Kraft des Vaters in die Jungfrau Maria herabgekommen, Fleisch geworden in ihrem Leib und aus ihr geboren und hat in Jesus Christus gelebt. Danach predigte er das ,neue Gesetz' und die neue Verheißung des Himmelreiches (vgl. Matth. 4,17; 5,17ff.; Jak. 2,8), tat Wunder, ward gekreuzigt und ist am dritten Tage wieder auferstanden, zum Himmel entrückt und sitzt zur Rechten des Vaters (vgl. l.Kor. 15,3ff.; Mark. 8,31 usw.; 16,19 u.ö.). Als stellvertretende Kraft hat er den heiligen Geist gesandt (Joh. 14,26; Apg. 1,8; 2,4; Rom. 8,16), der die Gläubigen leitet, und er wird wiederkommen in Herrlichkeit (vgl. Apg. 1,10f.), die Heiligen zu sich zu nehmen (l.Thess. 4,16; l.Kor. 15,52) zum Genuß des ewigen Lebens und zu richten die Gottlosen mit ewigem Feuer (vgl. Mark. 9,47 f.; Matth. 25,36ff.) nach der Auferstehung beider und Wiederherstellung des Fleisches. Gegen diese... von Christus selbst gesetzte Regel gibt es bei uns schlechterdings keine Fragen, außer denen, die die Häretiker aufbringen, und die einen zum Häretiker machen". D a s zweite Beispiel s t a m m t aus der u m 2 2 0 verfaßten „ t r a d i t i o a p o s t o l i c a " des H i p p o l y t v o n R o m . N a c h ihr w e r d e n d e m T ä u f l i n g f o l g e n d e drei F r a g e n gestellt, die dieser jeweils mit „Ich g l a u b e " b e a n t w o r t e t (vgl. a. a. Ο . , II, 11 f.): „Glaubst du an Gott, den allmächtigen Vater? Glaubst du an Christus Jesus, den Sohn Gottes, der geboren wurde vom heiligen Geiste aus Maria, der Jungfrau, und gekreuzigt wurde unter Pontius Pilatus und gestorben ist (und begraben wurde) und lebendig am dritten Tage auferstanden ist von den Toten und aufgefahren ist im Himmel und sitzt zur Rechten des Vaters und kommen wird zu richten die Lebendigen und die Toten? Glaubst du im heiligen Geiste sowohl die heilige Kirche als auch die Auferstehung des Fleisches?" Wie Tertullians Ä u ß e r u n g e n b e s o n d e r s deutlich zeigen, steht die „ G l a u b e n s r e g e l " k e i n e s w e g s im G e g e n s a t z zu d e m biblischen S c h r i f t t u m ; sie will g a n z im Gegenteil „ v e r b u m a b b r e v i a t u m " (Augustin), d . h . eine K u r z z u s a m m e n f a s s u n g des in diesem S c h r i f t t u m verkündigten G l a u b e n s sein, wie zuvor l . K o r 1 5 , 3 ff. ein S u m m a r i u m des E v a n g e l i u m s in nachösterlicher Zeit sein sollte. N a c h Irenäus (Adv.haer. 1 1 0 , 1 ) hat die Kirche „ v o n den A p o s t e l n u n d ihren Schülern den G l a u b e n e m p f a n g e n " . S c h o n die Spätschriften des N e u e n T e s t a m e n t s heben die B e d e u t u n g der A p o s t e l f ü r die G r u n d l e g u n g der Kirche u n d f ü r die F e s t i g u n g ihrer G l a u b e n s l e h r e b e s o n d e r s hervor (vgl. nur 2.Petr 3 , 2 u n d O f f b 2 1 , 1 4 ) . Unter diesen U m s t ä n d e n n i m m t e s nicht w u n d e r , d a ß bei d e m Entscheid über die zur gottesdienstlichen L e s u n g z u z u l a s s e n d e n Schriften n o c h der M a ß s t a b der A p o s t o l i z i t ä t zu d e m mit der G l a u b e n s r e g e l g e g e b e n e n Kriter i u m hinzutritt. Diesen M a ß s t a b h a n d h a b t die Alte Kirche recht elastisch. N a c h ihrem Urteil gilt als „ a p o s t o l i s c h " s o w o h l d a s historisch auf die A p o s t e l zurückz u f ü h r e n d e als auch d a s der a p o s t o l i s c h e n E r s t l i n g s v e r k ü n d i g u n g inhaltlich entsprechende u n d nahestehende Schriftengut. Unter diesen U m s t ä n d e n sind die P a u l u s b r i e f e f ü r die V ä t e r e b e n s o a p o s t o l i s c h wie die Evangelien der A p o stelschüler u n d -begleiter M a r k u s o d e r L u k a s , w ä h r e n d sie z . B . den 2 . Petrus-

Der Verlauf der Kanonbildung

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brief, den Hebräerbrief und die Johannesoffenbarung aus historischen und inhaltlichen Erwägungen heraus zeitweilig kritisiert haben. Der Verbund der beiden Kriterien, d.h. der regula fidei und des Maßstabs der Apostolizität, erlaubte den Bischöfen bei der Auswahl des neutestamentlichen Schrifttums ein dogmatisch profiliertes und doch historisch elastisches Vorgehen. - Nach welchen Gesichtspunkten aber sollte das neutestamentliche Schriftengut mit dem Alten Testament zu einem Kanon verbunden werden? Die Antwort auf diese Frage gibt die altkirchliche Logostheologie.

3.3 Die Lehre vom Logos als kanonbildende

Theorie

Mit dem alttestamentlichen Schrifttum konnte das neutestamentliche endgültig zu einem einzigen kirchlichen Kanon verbunden werden, als die Lehre vom Logos es erlaubte, Altes und Neues Testament in Christus geschichtlich und dogmatisch zusammenzuschauen. Die seit dem Märtyrer Justin, d.h. seit Mitte des 2. Jahrhunderts, in den Grundzügen ausgebildete altkirchliche Logostheologie befähigte dazu, in Christus den „ur-ewig präexistente(n) Gottessohn" zu sehen, „der sich durch die Geschichte seiner vom Anfang der Welt bis zu Geburt, Tod und Auferstehung fortschreitenden Offenbarung bezeugt h a t " (M.Elze, a . a . O . , 4 0 4 ) . M i t Hilfe dieser Sicht konnte das Alte Testament definitiv als christliche Offenbarungsurkunde reklamiert werden, weil es als Zeugnis eben der bis zur Inkarnation fortschreitenden Christusoffenbarung gelesen werden konnte, von der die Logoslehre sprach. Da sich der Christuslogos im apostolischen Wort seiner Zeugen endgültig offenbart, tritt dem Alten Testament das Neue Testament als Krönung und Abschluß der Logosoffenbarung organisch zur Seite. Die Logostheologie ist also die den biblischen Gesamtkanon von innen her zusammenhaltende und zugleich strukturierende Theorie. Daß sie mit der regula fidei koinzidiert, zeigt das oben angeführte Zitat aus Tertullian. Mit Hilfe der Logostheologie und der beiden Kriterien „Apostolizität" und „Koinzidenz mit der regula fidei" konnte die Alte Kirche von der Mitte des 2. Jahrhunderts an an die endgültige Ausformung des biblischen Kanons gehen; den Bischöfen wuchs dabei die Aufgabe zu, den Kanonisierungsprozeß in geeignete Bahnen zu lenken.

3.4 Der Grundbestand des neutestamentlichen Kanons Die drei synoptischen Evangelien, die Apostelgeschichte, der Hauptbestand der Paulusbriefe und der 1. Petrusbrief waren in der 2. Hälfte des 2. Jh.s kirchlich schon so fest eingebürgert, daß sie nunmehr ohne Schwierigkeiten zum Grundbestand des Neuen Testaments aufrückten. Auch das Johannesevangelium ist nur vorübergehend von Gegnern des Montanismus, den sog. „Alogern", als gnostisch verdächtigt worden. Unsicherheiten und Auseinanderset-

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Das Neue Testament und der biblische Kanon

zungen gab es nur in folgender Hinsicht: Für längere Zeit blieb noch umstritten, ob einige von den sog. katholischen Briefen (konkret: der 2. Petrus-, der 2. und 3. Johannes- und der Jakobusbrief), ob der Hebräerbrief und ob die Johannesoffenbarung dem gottesdienstlich maßgeblichen Schrifttum zugezählt werden sollten. Gleichzeitig war strittig, in welchem Umfang von der Lektüre des vielfältigen nachapostolischen Schrifttums abzuraten sei. Beiden Fragen versuchte man mit Hilfe der lebendigen historischen Erinnerung, d.h. unter Anwendung des Maßstabs der Apostolizität, und mit Hilfe des Kriteriums der Übereinstimmung mit der Glaubensregel beizukommen. Dies dokumentiert der Schluß des ältesten neutestamentlichen Kanonverzeichnisses, das wir besitzen, des um 2 0 0 n. Chr. zu datierenden (nach seinem Entdecker L. Muratori benannten) Canon Muratori; es heißt dort: „ . . . Auch von den Offenbarungen nehmen wir nur die des Johannes und Petrus an, welche (letztere) einige von den Unsrigen nicht in der Kirche verlesen wissen wollen. Den Hirten aber hat ganz vor kurzem zu unseren Zeiten in der Stadt R o m H e r m a s verfaßt, als auf dem T h r o n der Kirche der Stadt R o m der Bischof Pius, sein Bruder, saß. Und deshalb soll er zwar gelesen werden, aber öffentlich in der Kirche dem Volke verlesen werden kann er weder unter den Propheten, deren Z a h l abgeschlossen ist, noch unter den Aposteln am Ende der Zeiten. Von Arsinous aber oder Valentin oder Miltiades nehmen wir überhaupt nichts an, die auch ein neues Psalmenbuch für M a r c i o n verfaßt haben zusammen mit dem Kleinasiaten Basilides, dem Stifter der K a t a p h r y g e r " (HenneckeSchneemelcher, a . a . O . , 2 0 ) .

Die Petrus-Apokalypse wird hier aus inhaltlichen Gründen beargwöhnt, aber noch für apostolisch gehalten, während der (zu den Apostolischen Vätern gehörende) Hermas-Hirte, dessen Verfasser man kennt, als nachapostolisch abgelehnt wird. Die Schriften der gnostischen Schulhäupter werden entschlossen zurückgewiesen, weil sie der Glaubenstradition widerstreiten. Kanonisierung heißt nach unserem Text einfach Zulassung zur gottesdienstlichen Verlesung in den Gemeinden eines bestimmten Kirchenbezirks.

3 . 5 Die endgültige Entscheidung

über den Bestand des biblischen

Kanons

Erst von der Mitte des 4. Jh.s an bürgert sich kirchlich der Begriff „Kanon" ( = Sammlung/Liste der kirchlich anerkannten Schriften) ein. Für seine Festlegung hat sich die Alte Kirche viel Zeit gelassen. Aus dogmatischen und kirchenpolitischen Gründen konzentrierten sich die Debatten nach einiger Zeit vor allem auf den Hebräerbrief und die Johannesoffenbarung. Die Johannesoffenbarung blieb im kirchlichen Osten geraume Zeit umstritten, weil sie dem Schwarmgeist der Montanisten Vorschub leistete. Im Westen wirkte dagegen der Hebräerbrief anstößig, weil er mit seiner Verweigerung der zweiten Buße (Hebr 6,4ff.; 10,26ff.) dem ethischen Rigorismus derselben Montanisten (zu weit) entgegenkam. Nicht ein kirchliches Dekret, sondern die Gewöhnung hat schließlich den Ausschlag für die Aufnahme beider Bücher ins Neue Testament gegeben.

Der Verlauf der Kanonbildung

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Die Bemühungen um den kirchlichen Kanon kommen im Osten der alten Welt zu einem gewissen Schlußpunkt durch den berühmten 3 9 . Osterfestbrief des Athanasius (gest. 3 7 3 ) aus dem Jahre 3 6 7 n.Chr. Athanasius war damals Metropolit von Alexandria. Im arianischen Streit um das Verständnis der Gottheit Jesu Christi war er die entscheidende kirchliche Autorität. Sein Osterbrief ist kein kirchliches Dekret, sondern ein gewöhnliches bischöfliches Hirtenschreiben. Athanasius bemüht sich hier, seinen Gemeinden Klarheit über die unbedenklich im Gottesdienst zu verlesenden alt- und neutestamentlichen Schriften zu verschaffen. Er nennt dafür einen (im Blick auf das hebräische Alte Testament festgesetzten) Bestand von 2 2 alttestamentlichen biblia ( = Genesis, Exodus, Leviticus, Numeri, Deuteronomium, Josua, Richter, Ruth, die zu 2 Büchern zusammengefaßten vier Königsbücher [ = l./2.Sam und l./2.Kön], die als ein Buch gezählten zwei Chronikbücher, die ebenfalls zu einem Buch zusammengefaßten zwei Esrabücher [ = sog. 3.Esra und Esra/Nehemia], Psalmen, Sprüche, Prediger und Hoheslied, Hiob, das Zwölfprophetenbuch, Jesaja, Jeremia [mitsamt Baruchbuch, Klageliedern und der sog. Epistula Jeremiae], schließlich Ezechiel und Daniel) und von 2 7 neutestamentlichen Büchern. Athanasius fügt hinzu, diese Schriften seien die Quellen des Heils und in ihnen allein werde die Lehre der Frömmigkeit verkündigt; niemand solle etwas zu ihnen hinzufügen oder etwas von ihnen wegnehmen. Neben diesen kanonischen Schriften läßt Athanasius noch die Weisheit Salomos, Jesus Sirach, Esther, Judith, Tobit, die Didache der Apostel und den Hermashirten für den Unterricht zu. Vor anderen Apokryphen soll man sich nach Meinung des Athanasius hüten, weil es sich hierbei um häretische Fälschungen handelt, die nur zur Täuschung der Arglosen ein hohes Alter vorgeben. - Daß mit dieser Liste des Athanasius nur ein faktischer, kein dekretaler Kanonabschluß gefunden worden ist, zeigt der Umstand, daß der Streit um die Apokalypse im Osten fortdauerte bis ins 10./11. Jh. hinein. Das Gegenstück zum Osterfestbrief des Athanasius ist im kirchlichen Westen das Antwortschreiben Papst Innozenz I. an den Bischof von Toulouse vom 2 0 . Febr. 4 0 5 . In diesem Brief gibt der Papst dem Bischof auf dessen Anfrage hin Auskunft über die kanonischen Schriften des Alten und Neuen Testaments. Dabei übernimmt er den athanasianischen Kanon, soweit es ihm möglich ist. Das Neue Testament ist dasselbe wie bei Athanasius. Beim Alten Testament zählt Innozenz die Weisheit Salomos, Sirach, Esther, Judith, Tobit und 2 Makkabäerbücher zum Kanon hinzu, folgt also stärker der Septuaginta (und der altlateinischen Bibelübersetzung) als Athanasius. — Auch dieses päpstliche Schreiben beendet im Westen die Streitigkeiten über den Hebräerbrief nicht. Kirchenrechtlich handelt es sich ja wieder nur um ein päpstliches Antwortschreiben und nicht um ein Dekret. Zu einer dekretalen Entscheidung kam es erst Jahrhunderte später, als nämlich die römisch-katholische Kirche auf der 4. Session des Tridentinischen Konzils den biblischen Kanon definitiv auf den Umfang der Vulgata eingrenzte und zugleich in dem „Decretum de libris sacris et de traditionibus recipiendis" vom 8. April 1 5 4 6 feststellte, daß dieser Kanon in seinem lateinischen Wortlaut zusammen mit den in der Kirche mündlich

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Das Neue Testament und der biblische Kanon

bewahrten Glaubens- und Sittenlehren den Rechtsgrund katholischer Lehre darstellt. Während die römisch-katholische Kirche seit 1 5 4 6 einen heils- und rechtsverbindlich abgegrenzten biblischen Kanon besitzt, ist es im Bereich des lutherischen Protestantismus nie zu einer ähnlichen Entscheidung gekommen. Hier ist die Abgrenzung des alt- und neutestamentlichen Kanons ein Traditionsphänomen und keine prinzipielle Setzung. Die 2 7 neutestamentlichen Bücher blieben unumstritten in Geltung. Was das Alte Testament anbetrifft, hat Luther hinter die Vulgata auf den hebräisch-aramäischen Kanon der Synagoge zurückgegriffen und nur dessen Schriftenbestand als genuin alttestamentlich betrachtet. Die in der Septuaginta und Vulgata über den masoretischen Kanon überschießenden Bücher ( = Judith, Weisheit Salomos, Tobit, Sirach, Baruch, 1. und 2.Makkabäer sowie Stücke zum Buche Esther und zum Buche Daniel) nannte er „Apocrypha - das sind Bücher so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten, und doch nützlich und gut zu lesen sind". Das Luthertum hat Luthers Wertung einfach übernommen. Die Reformierten haben sich dagegen in der von Calvin entworfenen Confessio Gallicana von 1 5 5 9 (Art. III) auf die 2 7 neutestamentlichen Bücher und den Schriftenbestand des masoretischen Kanons bekenntnismäßig festgelegt (vgl. ebenso die Westminster Confession von 1 6 4 7 , Kap. I, Art. 2 und 3); die Apokryphen werden von ihnen höchstens als Ergänzungslektüre zugelassen, ohne den Rang der kanonischen Bücher des Alten Testaments zu erreichen.

4. Das Verhältnis von Altem und Neuem

Testament

Schauen wir zurück, lassen sich drei Feststellungen treffen, die für die theologische Beurteilung des Kanonproblems von Bedeutung sind: Der biblische Kanon soll und will die für den Glauben der Kirche maßgebliche Schriftensammlung sein; die Kirche hat sich diesen Kanon nicht einfach aus freien Stücken geschaffen, sondern sie hat ihn nur in einem langen Traditionsprozeß ab- und eingegrenzt. - Der Hauptschriftenbestand des Alten und Neuen Testaments hat sich bei der Suche der Kirche nach ihrem Kanon selbst durchgesetzt. Gerade die wichtigsten Bücher der beiden Testamente verdanken ihre Bedeutung für den christlichen Glauben nicht erst der antihäretischen kirchlichen Selektion, sie haben vielmehr kraft ihres Eigengewichtes diesen kirchlichen Ausleseprozeß selbst mitbestimmt und mitbeeinflußt. - Der biblische Kanon der Kirche besteht aus Altem und Neuem Testament und nicht nur aus dem Neuen Testament allein. Eine Konzentration auf das Neue Testament allein würde einen späten Triumph des Markion und des ihm nahestehenden christlichen Gnostizismus bedeuten. Damit stehen wir bei der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament. Indem die Alte Kirche sich gegen Markion und den Gnostizismus für einen biblischen Gesamtkanon entschied, sah sie sich mit einem theologischen Problem sondergleichen konfrontiert. Es bestand in der (bis heute immer

Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

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wieder neu verhandelten) Frage, ob eine legitime Antithese zum jüdischen Verständnis des Alten Testamentes möglich und eine christliche Sicht beider Testamente erreichbar ist, welche den historischen Realitäten ebenso gerecht wird wie dem Anspruch des Neuen Testamentes, daß in Christus der messianische Offenbarer und Erlöser erschienen ist. Das altkirchliche Modell zur Lösung dieser Frage bestand in der Logostheologie. - Hält man sich an das Vorbild der Logoslehre, kann man sicher sagen, daß jeder einseitige Schematismus bei der Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament am Problem und Phänomen der historisch unleugbaren Verbindung beider Testamente vorüberzugehen droht. Man darf aber nicht sagen, daß sich Altes und Neues Testament nur wie Verheißung und Erfüllung, nur wie Gesetz und Evangelium oder gar nur wie Alt und Neu zueinander verhalten. Die im 1. Jh. noch nicht endgültig abgeschlossenen „hl. Schriften" (des Alten Testaments) bilden traditionsgeschichtlich den Mutterboden und gottesdienstlich den Rahmen, in dem die neutestamentliche Heilsverkündigung entstanden ist. Das Hauptziel des Neuen Testamentes besteht darin, die unableitbaren Ereignisse der Sendung, des Sterbens und der Auferstehung Jesu als definitive Heilserweise gerade des Gottes zu begreifen und zu verkündigen, der vom Alten Testament als Herr Israels und als Schöpfer der Welt verkündigt wird. Die (überlieferungs-)geschichtliche Betrachtungsweise biblischer Texte und der neutestamentliche Christusglaube lassen sich auf ganz organische Weise miteinander verbinden: In Jesu Sendung und Werk wird jene messianische Erlösung geschichtliche Realität, auf die Israel seit seiner Erwählung zum Eigentumsvolk Gottes zugeht. Umgekehrt wird die Erscheinung Jesu Christi erst dann angemessen begriffen, wenn sie mit der Erwählung Israels und der Schöpfung der Welt durch den einen im Alten Testament „Jahwe" genannten Gott zusammengesehen und als das Israel und die Völker der Welt gemeinsam angehende Erlösungswerk Gottes verstanden wird. Daß diese Sicht Jesu und der Bibel im kritischen Gespräch mit dem Judentum immer neu bewährt werden muß, spricht nicht gegen sie, sondern erweist sie als geschichtlich fundierte Einsicht des Glaubens an Jesus Christus, dessen messianische Würde seit seinem geschichtlichen Wirken zwischen Christen und Juden umstritten geblieben ist.

§ 4 Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift Wollen wir bei der Bemühung um ein sachgerechtes Verständnis der hl. Schrift weiterkommen, müssen wir fortan von einer doppelten Einsicht ausgehen: Die hl. Schrift ist als ein geschichtliches Zeugniswerk entstanden, und es besteht kein Anlaß, diese Entstehungsgeschichte aus unserem Bewußtsein zu verdrängen. Von innen her wird der kirchliche Kanon aus Altem und Neuem Testament von der Bezeugung des Erlösungswerkes des einen Gottes

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Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

durch Jesus Christus zusammengehalten; altkirchlich ist diese Bezeugung in der Logostheologie erfaßt und in der sog. Glaubensregel zusammengefaßt worden. Sofern die von uns heute gesuchte Auslegungsweise der Bibel wirklich entsprechen soll, muß sie also beidem gerecht werden, der Geschichtlichkeit und dem Zeugnischarakter des biblischen Schrifttums. Um dieser Auslegungsweise näherzukommen, müssen wir uns vor allen weiteren Einzeluntersuchungen über die von der Schrift selbst gesetzten hermeneutischen Maßstäbe klarwerden. Wir müssen deshalb handeln über die Autorität der Schrift als Wort Gottes, über das Verständnis des Wortes Gottes, über die biblische Auffassung von der Inspiration der Schrift und schließlich über die sich in der Interpretationsgeschichte der Bibel abzeichnenden grundlegenden Möglichkeiten der Auslegung der hl. Schrift.

1. Autorität und (dreifache) Gestalt des biblischen

Zeugniswortes

Das Bemühen, die Autorität der hl. Schrift näher zu bestimmen, durchzieht die gesamte Kirchengeschichte, insbesondere die Geschichte der reformatorischen Kirchen. Die häufigste Auskunft lautet dabei: Die hl. Schrift ist Autorität, weil sie Wort Gottes ist. Diese Auskunft ist jedoch, so befriedigend sie auf den ersten Blick scheint, erläuterungsbedürftig. Ist die Bibel Wort Gottes in dem Sinne, daß Gott durch die Bibel hindurch spricht, oder sind Gottes Wort und Bibelwort identisch? Wie verhält sich solches Reden Gottes durch die Schrift zu der Entstehungsgeschichte der Bibel und zur Menschlichkeit der biblischen Autoren? Was heißt überhaupt „Wort Gottes"? Stellen wir uns diesen Fragen, müssen wir näher bestimmen, inwiefern wir die biblischen Schriften als Zeugnis von der Offenbarung Gottes ansprechen können. Den Zeugnis-Charakter des biblischen Wortes kann man sich am besten an der Jesusüberlieferung klarmachen. Jesus selbst hat keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterlassen, obwohl er dem Neuen Testament in seinem Wort, Weg und Geschick als die Offenbarung Gottes in Person gilt. Die Jesusüberlieferung ist erst aus dem Jüngerkreis Jesu in einem dreifachen Schritt hervorgegangen: Jesu Begleiter haben schon vor Ostern Jesu Aussprüche festgehalten und bei ihrer Verkündigung der Gottesherrschaft (vgl. M t 10,1-16/Lk 9,1-6) von Jesu Taten erzählt. Der eigentliche Anstoß aber, diese Worte und Taterzählungen im Interesse der Gemeinde zu bewahren und weiter zu vervollständigen, kommt den Jüngern erst mit Ostern zu, d. h. in dem Moment, da der gekreuzigte und auferstandene Christus sie neu und auf Lebzeiten zu seinen Aposteln macht (vgl. l . K o r 15,3-8). Erst in einem dritten Schritt sind die Jesusworte und Jesusgeschichten dann insgesamt schriftlich aufgezeichnet, ins Griechische übersetzt und zuletzt in den Evangelien festgehalten worden. Wollen wir so vom biblischen Wort Gottes sprechen, daß wir diese Erkenntnis mitverarbeiten und in unserer Definition unterbringen können, müssen wir unterscheiden zwischen Jesus als der Offenbarung Gottes in Person und dem Zeugnis der erwählten Jünger von dieser Offenbarung, das zur Grundlage aller weiteren missionari-

Autorität und (dreifache) Gestalt des biblischen Zeugniswortes

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sehen Verkündigung von Jesus als dem gekreuzigten und auferstandenen Sohn Gottes geworden ist. - Eine ganz parallele Differenzierung drängt sich auf, wenn wir zu Paulus und seinen Briefen hinübersehen. Paulus bezeugt in seinem Missionsevangelium eben den gekreuzigten und auferstandenen Christus, der ihm vor Damaskus erschienen ist und ihn zu seinem apostolischen Zeugen berufen hat. Wiederum gilt, daß nicht dieser auferstandene Herr selbst dem Apostel die Sprachgestalt seines Evangeliums vorgegeben hat, sondern daß Paulus in eigener apostolischer Verantwortung (und unter Zuhilfenahme von christlichen Traditionen, die die christliche Gemeinde vor ihm ausgebildet hatte) seine Botschaft von der Rechtfertigung ausformuliert hat. Außerdem sind die uns erhaltenen Paulusbriefe keine direkten Protokolle dieser missionarischen Rechtfertigungsverkündigung, sondern Briefe, in denen Paulus seinen Gemeinden seine Botschaft in Briefform erläutert, einschärft oder auch in Form einer ihm abgenötigten Selbstverteidigung offenlegt. - Einen ähnlich gestaffelten Zeugnis- und Überlieferungsvorgang haben wir auch anderweitig im Neuen Testament vor uns, und zwar bis hin zur Johannesoffenbarung, in welcher der Seher Johannes eben nicht einfach nur willenlos die Visionen aufzeichnet, die ihn überkommen, sondern seine Botschaft in hochreflektierter Verarbeitung der ihm vorgegebenen apokalyptischen Verkündigungstradition und des ihn tragenden Christusbekenntnisses ausformuliert. Versuchen wir, diese Beobachtungen zu verarbeiten, wenn wir die biblischen Texte „Wort Gottes" nennen, so ergibt sich, daß wir diese Redeweise präzisieren müssen und können. In der Tat erschließt sich Gott uns Menschen in seinem Wort. Aber dieses Wort hat schon neutestamentlich eine mehrfache Gestalt. Zu unterscheiden sind (im Anschluß an A.Schlatters, K.Barths und O.Webers Überlegungen zu unserem Thema) wenigstens: „ D a s geschehene Wort", das aller menschlichen Bezeugung zuvor- und zugrundeliegt; in unserem Fall das Wort Gottes in Gestalt der Person Jesu Christi selbst. Dieses „geschehene Wort" wird zum „bezeugten Wort", wenn die Jesusjünger oder Paulus Jesus Christus als Herrn und Versöhner bezeugen. Das Neue Testament ist die zum kirchlichen Kanon erhobene Niederschrift und Dokumentation dieses „bezeugten Wortes"; in ihm ist „das geschehene Wort" irdisch zugänglich und geschichtlich tradierbar geworden. Das „bezeugte Wort" aber zielt darauf ab, daß es gehört und in der Verkündigung neuer Zeugen aufgenommen wird. „ D a s bezeugte Wort" führt zum „verkündigten Wort", sei es in Form gezielter Missions- und Gemeindeverkündigung oder in Form des missionarischen Tatzeugnisses der Gemeinde insgesamt. „ D a s verkündigte Wort" findet seinen Legitimationsgrund im „bezeugten Wort" der neutestamentlichen Autoren und gewinnt am „geschehenen Wort", das Jesus Christus selber ist, in dem Maße Anteil, als Jesus Christus der Herr und Versöhner ist, der durch seine Zeugen ständig neu zu Wort und so zu seiner Herrschaft kommen will. Die genannte Unterscheidung einer (mindestens) dreifachen Gestalt des Wortes Gottes ist nicht nur am neutestamentlichen, sondern ebenso auch am alttestamentlichen Schrifttum verifizierbar. Es handelt sich also um ein Merkmal der biblischen Glaubenszeugnisse insgesamt. Verifizierbar ist diese Unterscheidung

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Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

alttestamentlich insofern, als es insbesondere in der Prophetenüberlieferung immer wieder heißt „das Wort (Jahwes) geschah a n . . . " . Dieses „geschehene Wort" wird im Zeugnis der Propheten zum „bezeugten Wort", wobei uns diese Bezeugung literarisch entweder direkt oder durch Prophetenschüler vermittelt vorliegt. In welchem Maße diese prophetische Überlieferung als „bezeugtes Wort" wiederum zur Verkündigung in Gestalt des „verkündigten Wortes" drängt und provoziert, lehren inneralttestamentlich die Fortschreibung der Prophetenbücher durch (Generationen von) Prophetenschüler(n), gesamtbiblisch die Ausformulierung des Christusevangeliums mit Hilfe des alttestamentlich „bezeugten Wortes" und schließlich die auf das biblische Zeugniswort abgestützte Predigtpraxis der Kirche insgesamt. Sprechen wir davon, daß die Autorität der Bibel in ihrem Charakter als Wort Gottes besteht, ist es also ratsam, vom Zeugnischarakter der biblischen Schriften auszugehen und eine mindestens dreifache Gestalt des Wortes Gottes zu unterscheiden: Die Bibel verdankt sich dem Offenbarungswort Gottes, das in der Person Jesu Christi seine vollendete Gestalt gewinnt; sie ist die zum kirchlichen Kanon erhobene, geschichtlich gewachsene Urkunde der Bezeugung dieses Offenbarungswortes, welche zur neuen Bezeugung des Wortes Gottes nötigt und diese gleichzeitig inhaltlich legitimiert. Diese Differenzierung und Präzisierung ist ratsam, weil sie uns erlaubt, unsere geschichtlichen Beobachtungen für die hermeneutische Diskussion der Gegenwart auszuwerten, ohne die Kontinuität zur kirchlichen Glaubens- und Erfahrungstradition abzubrechen.

2. Das Verständnis des (biblischen) Zeugniswortes Wie R. Bultmann in seinem Artikel über Erkennen und Erkenntnis im ersten Band des Theologischen Wörterbuches zum Neuen Testament herausgearbeitet und G. v. Rad in seinem Buch „Weisheit in Israel" (1970) bestätigt hat, gehören für das Alte Testament intellektuelle Erkenntnis und willentliche Anerkenntnis (der Wahrheit) untrennbar zusammen. Die moderne Trennung beider ist der Bibel noch fremd. Gotteserkenntnis wird hier vielmehr mit Gottesfurcht gleichgesetzt (Jes 11,2) und die Gottesfurcht als Anfang und Quelle der Weisheit bezeichnet (vgl. Spr 1,7; 9,10; 15,33; Ps 111,10; Sir 1,14). Nach G.v.Rad „ (weiß) die außerisraelitische Weisheit von einer solchen nahezu programmatischen Verankerung der Weisheit in der Gottesfurcht nichts" und enthält der Satz, daß die Furcht des Herrn der Weisheit Anfang sei, im Kern „die ganze Erkenntnistheorie Israels" (a. a. O., 93/94): Israel läßt sich das Wissen um Gott vorgeben, und ist von da aus bemüht, Gottes Werk, Geschichte und Welt zu bedenken. Einsicht und Weisheit sind also Gaben Gottes (Spr 2,6; Weish 8,21; Bar 3,37), die dem zuteil werden, der sie von Gott erbittet und den Gottes Geist (als Medium der Weisheit) mit Einsicht erfüllt (Spr 2,6; Sir 24,3; Weish 7,228,1; 9,1-18). Das Neue Testament folgt dem Alten in dieser Anschauung, und zwar vor allem dort, woes um die Erkenntnis Gottes (Rom 1,21; l.Kor 2,11 f.), seines Christus (Mt 16,16f.; 2.Kor 4,6; Kol 2,3) und des in Jesu Worten, im

Das Verständnis des (biblischen) Zeugniswortes

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Evangelium und in der Schrift beschlossenen Heils geht (Joh 1,12f. + 6,68 f.; l.Kor 1,21-25.30; 2,6ff.; 2.Tim 3,14-16). Wie es um Gott, sein Heilswerk in und durch Jesus Christus und um die Erlösung der Welt bestellt ist, kann nur der Geist dem Menschen aufschließen, und die von ihm gewirkte Erkenntnis will gehorsam anerkannt und in der Liebe bewährt werden (Joh 14,26; 16,13f.; 1 J o h 2,3-5; 4,7-14; l.Kor 2,6-16; Phil 3,7-11). Wie im Alten Testament steht die von Gott vorgegebene Weisheit (des Glaubens) der selbstmächtigen Torheit (des Unglaubens) gegenüber (vgl. Ps 14,1 mit l.Kor 1,18-25). Man muß diese Zusammenhänge kennen, wenn man verstehen will, wie Paulus in l.Thess 1,4-6; 2,3.13 und l.Kor 1,18-2,16 Wirkung und Verständnis des von ihm verkündigten Evangeliums beschreibt. Paulus hat das ihm von Gott anvertraute Evangelium in Thessalonich verkündigt, und zwar in Form einer Predigt, deren Wortlaut vom Apostel selbst gewählt, also menschlich war. Er hebt nur hervor, daß seine Predigt in der Kraft des Geistes an den Thessalonichern wirksam geworden ist, so daß sie sein menschliches Predigtwort als Wort Gottes angenommen haben, das an und in ihnen seine Kraftwirkung entfaltet. Wort Gottes ist nach l.Thess 1,5 + 2,13 das mündlich ausgerichtete Evangelium, das unter den Thessalonichern (kraft des hl. Geistes) Glauben gewirkt hat. Das (mündlich ausgerichtete) Zeugniswort (des Paulus) wird also dort verstanden, wo es mit von Gott erleuchteten Sinnen aufgenommen und beherzigt wird (vgl. dazu 2.Kor 4,3f.). Paulus äußert sich zur geistlichen Erkenntnis noch klarer. Er beschreibt in Gal 1,12.14; Phil 3,8 und vor allem in 2.Kor 4,5f., daß Gott selbst ihm (bei seiner Berufung zum Apostel vor Damaskus) Christus als seinen Sohn geoffenbart hat. Als Verfolger der Christengemeinde hat Paulus in dem gekreuzigten Christus den mit Recht hingerichteten Gotteslästerer und Verführer des Volkes gesehen; er hat ihn „in fleischlicher Weise" gesehen und verstanden. Vor Damaskus aber hat Gott das Herz des Paulus erleuchtet und ihn seine eigene Herrlichkeit auf dem Angesicht des gekreuzigten und zur Rechten Gottes erhöhten Christus schauen lassen (2.Kor 4,6), so daß der Apostel nun von sich bekennen kann, „nunmehr erkennen wir ihn (= Christus) nicht mehr so (wie in der Zeit der Verfolgung der Gemeinde)" (2.Kor 5,16). Inhalt des paulinischen Evangeliums ist eben diese überwältigende neue Erkenntnis, wer Christus von Gott her in Wahrheit ist, nämlich der für die Sünder gekreuzigte und zum Zwecke ihrer Rechtfertigung auferweckte und erhöhte Sohn Gottes (Phil 3,811). An dieser Erkenntnis kann nur teilhaben, wem dann, wenn er diesen Christus (in menschlichen Worten!) verkündigen hört, „der Gott dieses Äons (= Satan)" nicht die Sinne verblendet, so daß das Evangelium „verhüllt" bleibt (2.Kor 4,3f.), sondern Gott Verstand und Herz erleuchtet. Als Paulus sich mit den Korinthern über das rechte Verständnis des Evangeliums (als des Wortes vom Kreuz) auseinandersetzen muß, wendet er in l.Kor 1,18-2,16 eben diese Einsichten auf die Gemeinde an: Das Wort vom Kreuz ist für die (Verblendeten), die zugrundegehen, „Torheit", während es für die (vom Geist Erleuchteten) „Gottes (rettende) Macht" ist (1,18). Zentraler Inhalt des Evangeliums ist Christus als Gottes Macht und Gottes Weisheit (1,24.30). Ihn,

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Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

den die „Herrscher dieser Welt", d. h. der jüdische Gerichtshof und Pilatus, bei seiner Kreuzigung nicht als Messias und Gottessohn (an-)erkannten, verkündigt Paulus als die Weisheit, die nur die v o m Geist erleuchteten „Vollkommen e n " verstehen und beherzigen können (2,6-16). Was der Geist in den Herzen dieser Vollkommenen weckt, ist die Paulus selbst nach 2.Kor 4,6 geschenkte Christuserkenntnis, d.h. die Erkenntnis, daß Gott uns in der Sendung, Kreuzigung und Verherrlichung J e s u seine rettende Gnade zugewendet hat (2,12). Die menschlichen Worte, die Paulus als Verkündiger des Evangeliums spricht, werden von den „ V o l l k o m m e n e n " nicht nur intellektuell verstanden, sondern als v o m Geist gelehrt aufgenommen und (als rettende Wahrheit) anerkannt (2,13ff.). Ihre geistliche Erkenntnis besteht m. a . W . darin, daß sie sich das (ihnen durch Paulus vermittelte) Evangelium als Wahrheit Gottes vor-geben lassen, und es nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit offenem Herzen nach-denken und so als rettende Botschaft verstehen. Z u solcher Erkenntnis sind alle die ermächtigt, die durch Glaube und T a u f e am Geist Anteil erhalten haben ( l . K o r 3 , I f f . ; 12,3.13). Die von Spr 1,7 usw. vorgezeichnete „Erkenntnistheorie Israels" ( G . v . R a d ) taucht also bei Paulus, auf das Evangelium bezogen, wieder auf, nur daß jetzt ganz unmißverständlich hinzugefügt wird, Erkenntnis „der Tiefen G o t t e s " , d. h. des Geheimnisses seiner Gnade, sei nur unter der Vor-Gabe des Evangeliums und mit von Gott (kraft seines Geistes) erleuchteten Sinnen möglich. In Kurzfassung: Gotteserkenntnis gibt es nur, wenn man zuvor von Gott erkannt worden ist (Gal 4,9). Wir haben uns diese oft verkannten und verdrängten biblischen Zusammenhänge so ausführlich vor Augen führen müssen, um eine klare Antwort auf unsere Frage nach dem Verständnis des biblischen Zeugniswortes geben zu können. D a s biblische Zeugniswort liegt uns als Bezeugung des Evangeliums und Grundlegung der (mündlichen) Evangeliumspredigt vor; es kann und soll seinem Wortlaut und Inhalt nach gehört, durchdacht und (wie alle Prophetie) kritisch geprüft werden (vgl. l . T h e s s 5,21). Das Evangelium selbst aber ist göttliche Vor-Gabe, die nicht nur intellektuell erkannt, sondern willentlich anerkannt und beherzigt werden will. Eben diese Anerkenntnis aber und damit den Glauben an Gottes Offenbarung in Christus, kann nur Gottes Geist in den menschlichen Herzen wirken. Eine der Bibel entsprechende Hermeneutik hat also zwischen biblischem Zeugniswort und Evangelium gebührend zu unterscheiden und muß sich die göttliche Vor-Gabe des Evangeliums ebenso gefallen lassen wie den Vorbehalt, daß Gottes Geist allein den Glauben an das Evangelium eröffnet.

3. Die Inspiration

der Schrift

Die traditionelle Lehre von der Schriftinspiration ist keine von der Kirche erst nachträglich an die Bibel herangetragene, sondern eine schon von der Schrift selbst vertretene und deshalb hermeneutisch ganz ernst zu nehmende Anschau-

Die Inspiration der Schrift

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ung. Die eben skizzierte „biblische Erkenntnistheorie" und die Lehre von der Inspiration der Schrift gehören zusammen.

3.1 Zeugnis in der Kraft des Geistes Die alttestamentlichen Propheten und Prophetenschüler sehen sich erst und nur durch den Geist Gottes zu ihrer Bezeugung des ihnen zuteilwerdenden Wortes Gottes ermächtigt (vgl. nur Jes 48,16; 61,Iff.; Ez 2,Iff.). Jesus selbst hat Jes 61,lf. in seiner Sendung erfüllt gesehen (vgl. Mt 11,2-6; Lk 4,16-30). Den missionierenden Jesusjüngern wird in den Aussendungsreden ausdrücklich der Beistand des hl. Geistes zugesagt (Mt 10,20/Lk 21,15; Joh 14,16). Die Urgemeinde versammelt sich und bricht zur missionarischen Verkündigung Jesu Christi auf im Zeichen der ihr zuteilgewordenen, endzeitlichen Geistausgießung (Apg 2). Paulus bezeichnet sein Zeugniswort wiederholt als vom Geist autorisiert (l.Kor 7,40; 2.Kor 4,13; Rom 15,19), und das Johannesevangelium erklärt ausdrücklich, das Jesuszeugnis der nachösterlichen Gemeinde sei vom Geist-Parakleten bevollmächtigt und getragen (Joh 16,7ff.). Bei der biblischen martyria handelt es sich also durchgängig um ein Wortzeugnis in der Kraft des den Menschen zur Erkenntnis und zur Verkündigung Gottes befähigenden hl. Geistes. Die von uns getroffene Unterscheidung von geschehenem, bezeugtem und verkündigtem Wort Gottes markiert also Stationen einer vom hl. Geist getragenen Verkündigungsgeschichte, der wir die Schrift verdanken.

3.2 Das biblische Zeugnis von der

Schriftinspiration

Die Anschauung von der Schriftinspiration wird im Neuen Testament bereits expressis verbis und auf breiter Front vertreten. Mt 22,43/Mk 12,36; Apg 1,16; 28,25; l.Petr 1,11; Hebr 3,7; 10,15 zeigen dies ebenso, wie die Schriftzitate, die z.B. in l.Kor 14,21; 2.Kor 6,16ff. und Rom 12,19 mit „wie Gott s p r a c h . . . " oder „ . . . spricht der Herr" ein- oder auch ausgeleitet werden. Spricht Gott selbst durch den hl. Geist in den Schriften, dann können diejenigen, die von Christus her des Geistes teilhaftig geworden sind, „alles, was im Gesetz des Mose und den Propheten und den Psalmen" von Christus „geschrieben ist", auf Christus deuten (Lk 24,44), und kann Paulus dem noch hinzufügen, daß, was (in den Schriften) vom Schicksal des alten Gottesvolkes geschrieben wurde, „zu unserer Warnung geschrieben wurde, die das Ende der Zeiten erreicht hat" (l.Kor 10,11). Hermeneutisch gilt also: Die geisterfüllten Schriften (des Alten Testaments) werden (nur) von den christlichen Geistträgern sachgerecht ausgelegt (l.Kor 2,10-12). Daß es dabei zunächst erst nur um die hl. Schriften des Alten Testaments geht, kann nicht befremden, wenn man sich erinnert, daß eben diese Schriften bis tief ins 2. Jh. hinein die Bibel (nicht nur der Juden, sondern auch) der Christen war (s.o. S. 35). Auch die beiden Hauptbelege für die Schriftinspiration, 2.Tim 3,16 und

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Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

2.Petr l,20f., handeln von dem christlich angemessenen Gebrauch und der Auslegung der „heiligen Schriften" des Alten Testaments. Beide stammen aus Briefen, in denen die Auseinandersetzung mit (christlichen!) Irrlehrern bereits eine beherrschende Rolle spielt und es zwischen ihnen und den am angestammten Glauben festhaltenden Gemeinden zum Streit über den Gebrauch und Sinn der Schriften gekommen war. Zur Zeit des 2.Tim und 2.Petr galt den Griechen Homer und den Lateinern Vergil ebenso inspiriert wie Christen und(!) Juden die hl. Schriften (des Alten Testaments). Das Faktum der Inspiration der Schriften war deshalb zwischen Juden, Christen (und christlichen Irrlehrern) nicht strittig. Umstritten war vielmehr, wie die Auslegung dieser Schriften aussehen und lauten müsse. In 2.Tim 3,16 und 2.Petr l,20f. wird darum von der Schriftinspiration nicht in erster Linie in der Absicht gesprochen, den besonderen Rang der „Schriften" gegenüber anderem, weniger oder gar nicht inspiriertem Schriftgut herauszustellen; von der Inspiration ist vielmehr in hermeneutiscber Absicht die Rede. Die Verfasser beider Briefe wollen zeigen, wie die hl. Schriften so benutzt und ausgelegt werden, daß der Glaube der Gemeinden bestätigt wird und keinen Schaden nimmt. Die Antwort lautet beide Male ganz ähnlich: Die Schriften sind zum Gebrauch in der christlichen Gemeinde bestimmt und im Lichte der von den Aposteln begründeten Glaubenstradition auszulegen. In 2.Tim 3,14-17 wird Timotheus von „Paulus" darauf verpflichtet, angesichts des Streites mit den Vertretern der „fälschlich so genannten Gnosis" (l.Tim 6,20) in seinem Amt der Gemeindeleitung bei dem zu bleiben, was er gelernt und gläubig angenommen hat. Dies sind die von Paulus überkommene Glaubenslehre (vgl. V. 14 mit V. 1) und die dem Timotheus von Jugend auf vertrauten „heiligen Schriften, die dir Weisheit verleihen können zur Rettung durch den Glauben in Christus J e s u s " (V. 15). Die Verpflichtung zur Schriftauslegung wird dann in V. 16 durch den Hinweis erläutert: „Jede Schrift(stelle) ist von Gottes Geist erfüllt und (daher) nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit". Abschließend heißt es, in solcher Weise auf Tradition und Schrift gestützt, werde der Gemeindeleiter als „Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein" (V. 17). Die inspirierte Schrift wird also in 2.Tim 3,16 als Quelle der Glaubensweisheit und Gemeindebelehrung bezeichnet, sofern sie (von Timotheus) im Lichte der von Paulus überkommenen Glaubenstradition ausgelegt wird, die in den Pastoralbriefen „das anvertraute G u t " genannt wird (l.Tim 6,20; 2.Tim 1,12.14). Etwas komplizierter, aber hermeneutisch nicht minder interessant, liegen die Dinge in 2.Petr 1,16-21. Der Verfasser, „Petrus", sieht sich und die Gemeindein) einer Gruppe von christlichen (gnostischen?) Irrlehrern gegenüberstehen, die Aussagen aus den (z.Z. des 2.Petr bereits als Sammlung vorliegenden) Paulusbriefen „und die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben verdrehen" (3,16), und die angestammte Zukunftserwartung der Christen mit den Worten anfechten: „Wo bleibt denn seine ( = Christi) verheißene Ankunft? Seit die Väter entschlafen sind, ist alles geblieben, wie es seit Anfang der Schöpfung w a r " (3,4). Ob die Kritiker die in 2.Tim 2,18 dokumentierte schwärmerische Auferstehungsanschauung vertreten haben, ist nicht ganz deutlich. Auf jeden

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Die Inspiration der Schrift

Fall verteidigt „Petrus" ihnen gegenüber in l , 1 6 f f . die Erwartung der Wiederkunft Christi mit dem Hinweis auf seine Augenzeugenschaft bei der Verklärung Jesu (Mt 17,1-9/Mk 9,2-10/Lk 9,28-36) und die dabei über Jesus ausgerufene Stimme Gottes: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe" (1,17 vgl. mit Mt 17,5). Diese Gottesstimme ist bekanntlich mit Worten aus dem Alten Testament (Ps 2,7 und Jes 42,1) formuliert. Nach (frühjüdischem und) urchristlichem Verständnis weisen beide Schriftstellen auf den Messias (Jesus Christus), der die Gottesfeinde niederwerfen, das messianische Gericht halten und so die Gottesherrschaft herbeiführen wird (vgl. Apg 13,33; Hebr 1,5; 5,5; l . K o r 15,23-28; l.Petr 1,3-12; 3,21f. usw.). Von diesem Verständnis aus kann „Petrus" in 1,19 seine Adressaten auf die von ihm auf dem Berg (mit-)vernommene Gottesstimme verweisen und sagen: „Dadurch ist das Wort der Propheten (nämlich Davids in Ps 2,7 und Jesajas in Jes 42,1) für uns noch sicherer geworden, und ihr tut gut daran, es zu beachten, denn es ist ein Licht, das an einem finsteren Ort scheint, bis der (jüngste) Tag anbricht und der Morgenstern ( = Christus, vgl. Lk 1,78) aufgeht in euren Herzen". Die Irrlehrer haben offenkundig diese Deutung von Ps 2,7 und Jes 4 2 , 1 auf Christus und seine Wiederkunft nicht mitgemacht. „Petrus" sieht darin eine unzulässige Eigenmächtigkeit bei der Deutung der prophetischen Verheißung. Gegen die gnostische Schriftauslegung gewandt, schärft er deshalb den Briefempfängern ein: „Dies sollt ihr vor allen Dingen wissen: Keine Prophetie der Schrift unterliegt eigenmächtiger Deutung; denn noch niemals wurde eine Prophetie kraft menschlichen Willens ausgesprochen, sondern vom hl. Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes gesprochen" (l,20f.). Das heißt im Klartext: Das inspirierte Prophetenwort kann legitim nur im Rahmen der den Christen gemeinsamen apostolischen Glaubenstradition ausgelegt und verstanden werden, weil sie den geistlichen Schlüssel zu Gottes Absicht in der Schrift darstellt. Jenseits dieser Tradition gibt es nur eigenmächtige Schriftauslegung. Da der 2.Petr in seine hermeneutischen Erörterungen (jedenfalls im Ansatz) bereits die neutestamentliche Evangelientradition (in Form der Verklärungsgeschichte) und „alle Briefe" des Paulus (3,15f.) einbezieht, stehen wir vor einem ersten tastenden Versuch darzulegen, was rechtgläubige Schriftauslegung (im Gegenüber zu christlicher Irrlehre) ausmacht: Es ist die Deutung der inspirierten Schrift (und der dieser an die Seite rückenden neutestamentlichen Zeugnisse) im Licht und Geist der von den Aposteln begründeten und verbürgten Glaubenstradition. Der die Schriften durchwehende „Geist Christi" (l.Petr 1,11) kann nur vom (geistgewirkten) Glauben an Christus her erfaßt werden. Wieder steht die Tradition der Schriftinspiration also im Dienste der Hermeneutik des Glaubens.

3.3 Das ambivalente Verständnis der Schriftinspiration im

Frühjudentum

Die neutestamentlichen Autoren konnten nur deshalb die Schriftinspiration so früh und selbstverständlich vertreten, wie sie es taten, weil sie sich für die

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Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

Lehre von der - wie man zuweilen im Anschluß an 2 .Tim 3 , 1 6 auch gräzisierend sagt — „Theopneustie" der Schrift auf Anschauungen stützen konnten, die schon geraume Zeit vor der Entstehung des Neuen Testaments im Frühjudentum ausgebildet worden sind und auch in der jüdischen Kanongeschichte eine Rolle gespielt haben. Jüdische Belege dafür finden sich z.B. in Jub 2 , I f f . , in Qumran ( l Q p H a b 2,7ff.; 7,1 ff.), bei Philo von Alexandrien (z.B. Vit Mos II 3 4 - 3 8 . 4 0 - 4 2 ) , Josephus (Contr Ap I 37-43), in 4.Esra 14,18ff.37ff. oder dann im rabbinischen Schrifttum (vgl. Billerbeck IV, 435ff.). - Ebenso wichtig wie dieses Faktum zu konstatieren aber ist es, auf die unterschiedliche Ausprägungsform der Inspirationslehre zu achten, die diese in den verschiedenen Gruppierungen der frühjüdischen Theologie erhalten hat. Während man in Qumran und teilweise auch im Rabbinat bei der Inspiration einfach an die Erwählung und besondere Bevollmächtigung von menschlichen Zeugen zur Niederschrift der Offenbarung Gottes denkt, versteht Philo die Inspiration unter Aufnahme dualistischer Vorstellungen so, daß der Gottesgeist von den inspirierten Zeugen unter Ausschaltung von deren menschlichem Verstand Besitz ergreift und sie zur Verlautbarung göttlicher Offenbarung befähigt. Der um 130 v.Chr. entstandene Aristeasbrief spricht in seinem legendären Bericht über die Entstehung der Septuaginta davon, daß die jüdischen Übersetzer des Werkes sich jeweils auf einen bestimmten Wortlaut geeinigt hätten; dieser Wortlaut sei dann niedergeschrieben worden, und so sei innerhalb von 72 Tagen ein Übersetzungswerk entstanden, das die israelitische Gemeinde alsbald als legitim anerkannt und für fortan unantastbar erklärt habe (301-311). Philo schildert denselben Vorgang in wesentlich gesteigerter Form. Aus der unter Gottes Segen und Vorsehung stehenden Übersetzungsarbeit wird bei dem Alexandriner ein die Übersetzer zu Werkzeugen eines Gottesdiktates erhebender Offenbarungsvorgang. Philo schreibt: „ . . . In Abgeschiedenheit, ohne jeden Zeugen... verdolmetschten sie wie unter göttlicher Eingebung nicht jeder in anderen, sondern alle in den gleichen Ausdrücken für Begriffe und Handlungen, als ob jedem von ihnen unsichtbar ein Lehrer diktierte" (Vit Mos II 37); die Bearbeiter der Übersetzung nennt er kurz darauf „nicht Übersetzer, sondern Oberpriester und Propheten ( . . . ) , denen es gelungen (ist), durch sonnenklares Denken mit Moses' reinem Geisteshauche gleichen Schritt zu halten" (II 40).

3.4 Inspiration als Erwählungs- und

Ermächtigungsgeschehen

Dem jungen Christentum, das von den Juden die Lehre der Schriftinspiration übernahm, war also die Möglichkeit gegeben, die Inspiration entweder schlicht als Erwählung und Ermächtigung von Menschen zu Zeugen und Tradenten der Offenbarung oder auch als ein übernatürliches Offenbarungsgeschehen zu begreifen, in dessen Verlauf die biblischen Autoren in willenlose Werkzeuge (des Geistes) Gottes verwandelt wurden. Wir können beobachten, wie die gesamte Kirchengeschichte hindurch diese beiden Vorstellungsweisen miteinander ringen. A. Schlatter hat in seiner Dogmatik darauf hingewiesen, daß die

Die Inspiration der Schrift

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dualistische Inspirationsauffassung ein spiritualistisches Schriftverständnis gefördert hat, welches dem Lebenszeugnis des Glaubens hinderlich war. Leidenschaftlich plädiert er dafür, nur die Inspirationsanschauung für biblisch zu halten, die das Wirken des Geistes Gottes und die menschliche Geschichte der biblischen Zeugen nicht auseinanderreißt. Auch wir sollten uns von Anfang an klar darüber sein, daß biblisch nur die erste Vorstellungsweise in Frage kommt, da nur sie sich mit dem deckt, was die Texte und die Geschichte uns zeigen. Die alttestamentlichen Propheten Arnos, Jesaja und Jeremia waren Zeugen Gottes mit einer ganz spezifischen Lebensgeschichte. Das Neue Testament lehrt uns, Petrus, einen der Kronzeugen und Garanten der Jerusalemer Jesusüberlieferung, ausdrücklich als einen von Jesus Christus erwählten und im Glauben bewahrten fehlbaren Menschen zu sehen; an dem biblischen Autor Paulus können wir dasselbe beobachten und zugleich auch erkennen, wie er in seinen Briefen unter Zuhilfenahme all seiner griechischen und pharisäischen Bildung auf eine sach- und situationsgerechte Verlautbarung des Evangeliums an seine Gemeinden drängt. Fassen wir die die Schrift zum Wort Gottes machende Inspirationsanschauung als Erwählungs- und Ermächtigungsvorgang auf, nämlich als Ermächtigung zu einem auf Jesus Christus verweisenden Wort des Zeugnisses, dann können wir uns bei der biblischen Exegese darauf konzentrieren, „die Offenbarung in der Sprache der Texte kennenzulernen", oder noch genauer, uns zu interessieren für die „Eroberung der Sprache durch die Offenbarung, wie sie in den Eroberungen (Texten!) erkennbar wird" (E.Jüngel, a. a. O., 25 Anm. 43). Würden wir uns aber für die dualistische Inspirationsauffassung entscheiden, müßten wir uns die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Texte verbieten und damit den Graben zwischen unserer historischen Einsicht, der theologischen Reflexion und der Lebensbewährung, der uns ohnehin beschwert, vertiefen, statt ihn zu überbrücken.

3.S Die hermeneutische

Bedeutung der

Inspirationslehre

Unsere geschichtlichen Beobachtungen am biblischen Text und die Einsicht in seinen Zeugnischarakter geben uns allen Anlaß, einer dualistisch übersteigerten Fassung der Inspirationstheorie zu widersprechen, um damit dem heute drohenden Totalverlust der Inspirationsanschauung als hermeneutischer Interpretationshilfe vorzubeugen. Die Inspirationslehre droht gegenwärtig unter dem Diktat einseitiger historischer Kritik und dogmengeschichtlicher sowie hermeneutischer Unkenntnis zu verkommen oder ganz in Vergessenheit zu geraten. Gleichwohl ist sie, wie wir sahen, vom 2.Tim und 2.Petr an der entscheidende Rahmen aller kirchlichen hermeneutischen Bemühung um die hl. Schrift gewesen, und zwar bis hin zum Neuaufbruch der dialektischen Theologie in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts. Wenn wir den biblischen Kanon aus Altem und Neuem Testament als inspiriertes Zeugniswort von Gottes Offenbarung in seinem Sohn verstehen, bedeutet das für das Verständnis der Bibeltexte folgendes. Sie sind zunächst als

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Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

Einzeldokumente in ihrer profilierten geschichtlichen Eigenart zu werten. Dann aber ist vom Einzeltext aus dem der Bibel wesentlichen Ganzen nachzuspüren, d. h. der Geschichte und Fülle der Offenbarung Gottes in seinem Sohn. Diese vom zweiteiligen Kanon aus Altem und Neuem Testament bestimmte Wertung und Zusammenschau erfolgt inmitten und im Auftrag der sich zur Offenbarung Gottes in Christus bekennenden und von ihr lebenden Gemeinde. In dieser Gemeinde wird das biblische Zeugniswort bejaht und so ausgelegt, daß die Gemeinde sich neu zu Christus, ihrem Herrn, bekennt und zur Verkündigung Jesu als des Christus und des Herrn aufbricht. Im Horizont der Inspirationslehre sind also die biblischen Texte, die differenzierte Interpretation dieser Texte, welche zur Verkündigung der Offenbarung Gottes drängt, die sich kraft der Verkündigung zu Christus bekennende Gemeinde und das zu neuem Bekenntnis einladende Lebenszeugnis dieser Gemeinde in der vom hl. Geist getragenen Kraft des Glaubens verbunden. Was uns heute unter dem Einfluß des historischen Denkens so schwer fällt, nämlich einen einzelnen biblischen Text zunächst an seinem Ort zu werten, dann aber auf das Ganze der biblischen Offenbarung zu beziehen und schließlich auf Grund des Textes angesichts der für die Gemeinde maßgeblichen Glaubenstradition zu lebensnahen Verkündigungsaussagen zu kommen, ist im Horizont einer von der Schriftinspiration bestimmten Hermeneutik untrennbar und folgerichtig vereint. Wir dürfen deshalb die Inspirationslehre heute weder preisgeben noch dem Fundamentalismus mit seinem dualistischen Inspirationsbegriff überlassen, sondern sollten sie als hermeneutische Rahmenrichtlinie neu begreifen und schätzen lernen.

4. Die hermeneutische

Praxis der

Inspirationslehre

Angesichts der eben getroffenen Feststellung ist es lehrreich, sich zunächst summarisch die drei großen hermeneutischen Möglichkeiten vor Augen zu führen, in denen die Inspirationslehre praktiziert werden kann. Es handelt sich um das römisch-katholische, das reformatorische und das vom Rationalismus begründete aufgeklärte Auslegungsmodell. Alle drei Modelle haben ihre Geschichte, ihren Reiz und ihre Aporien, und alle drei stehen noch heute zur Debatte. Infolgedessen müssen wir sie von Anfang unserer hermeneutischen Arbeit an im Blick haben und können uns nur im reflektierten Durchgang durch sie hindurch von unserer eigenen hermeneutischen Aufgabe einen Begriff machen. Interessanterweise kann man alle drei Modelle subsumieren unter die in der Sache auf Hieronymus (Galaterkommentar, Migne PL 2 6 , 4 1 6 / 4 1 7 ) zurückverfolgbare hermeneutische These, daß die hl. Schrift in dem Geist gelesen und interpretiert werden soll, in dem sie geschrieben worden ist. Die Unterschiede treten erst dann hervor, wenn zur Debatte steht, wie dieser Geist näher zu definieren und wo er zu finden ist.

Die hermeneutische Praxis der Inspirationslehre

4.1 Das römisch-katholische

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Interpretationsmodell

Das römisch-katholische Interpretationsmodell deutet sich schon in der Polemik des 2. Petrusbriefes gegen die eigenmächtige Schriftauslegung der christlichen Gnostiker an; es ist dann von Irenäus und Tertullian klassisch durchdacht und vom Tridentinum zur definitiven Norm erhoben worden. Auf dem 1. Vatikanischen Konzil hat es seine Krönung erfahren; vom 2. Vatikanischen Konzil ist es aufgenommen und leicht modifiziert worden. Das von derart langer Hand ausgearbeitete Modell ist eine großartige, stets flexible Konstruktion. Es bestimmt die Gewichte in dem hermeneutischen Zusammenhang von inspirierter Schrift, Schriftauslegung und kirchlicher Glaubenstradition von der Überzeugung aus, daß die Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte vom hl. Geist geleitet wird und im römischen Papst den Lehrer des Glaubens besitzt, der in Sachen des Glaubens und der Sitten vollmächtig und unfehlbar entscheiden kann. Gemäß der dogmatischen Konstitution „Pastor aeternus" des Vaticanum Ivom 18. Juli 1 8 7 0 gilt es „ . . . als ein von Gott geoffenbartes Dogma: daß der römische Papst, wenn er von seinem Lehrstuhl aus spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten apostolischen Autorität eine von der gesamten Kirche festzuhaltende, den Glauben oder die Sitten betreffende Lehre entscheidet, auf Grund des göttlichen, in dem seligen Petrus ihm verheißenen Beistandes jene Unfehlbarkeit besitzt, mit welcher der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Entscheidung einer den Glauben oder die Sitten betreffenden Lehre ausgestattet wissen wollte, und daß daher solche Entscheidungen des römischen Papstes aus sich selbst, nicht aber auf Grund der Zustimmung der Kirche, unveränderlich sind" (Denzinger-Schönmetzer, 3 0 7 3 / 3 0 7 4 ) .

Das 2. Vatikanische Konzil war bemüht, die päpstlichen Lehrentscheidungen stärker als zuvor an die biblische Offenbarung zurückzubinden. In der Konstitution über das Wort Gottes findet sich die berühmt gewordene Formulierung: „Das Lehramt ist nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm, indem es nichts lehrt, als was überliefert ist" (II 10). Aber auch wenn man katholischerseits seit dieser Konstitution von einer Gleichgewichtigkeit der Schrift hier und der lehrenden Kirche dort zu sprechen wagt, kommt im Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche der lehrenden Kirche tendenziell noch immer der Vorrang vor der Schrift zu, weil nur das Lehramt mit der geistlichen Vollmacht ausgestattet ist, den christlichen Glauben in reflektierter Antwort auf die je neuen geschichtlichen Herausforderungen gültig zu definieren. Die katholische Kirche hat kraft dieser Konstruktion von je her die Kraft und Beweglichkeit gehabt, den Umbrüchen in der Geschichte zu folgen, ohne aus dem von der Inspirationslehre markierten Zirkel des Verstehens und Hörens ausbrechen zu müssen. Mit seinem insgesamt kühnen bewährten Interpretationsmodell fordert der Katholizismus die Protestanten noch heute in die Schranken, und zwar um so entschlossener und selbstbewußter, je hypothetischer die exegetische und hermeneutische Thesenbildung auf protestantischer Seite in den letzten Jahren geworden ist.

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Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

4.2 Das reformatorische

Interpretationsmodell

Will man die reformatorische Position mit der römisch-katholischen vergleichen und gleichzeitig kritisch von ihr abheben, geht man am besten von Luthers eigener Fortschreibung jenes oben erwähnten Grundsatzes des Hieronymus aus. Luther hat 1520 in seiner Streitschrift „Assertio omnium articulorum M . Lutheri per bullam Leonis X . novissimam damnatorum" ( = Behauptung aller durch die neueste Bulle Leo X. verurteilten Artikel M.Luthers) dem päpstlichen Interpretationsanspruch die These entgegengestellt: „ . . . die Schrift solle alleine durch den Geist verstanden werden, durch den sie geschrieben ist, welchen Geist du nirgends gegenwärtiger und lebendiger finden kannst, denn eben in seiner heiligen Schrift, die er geschrieben hat. So sollen wir denn danach trachten, nicht daß wir die Schrift beiseit setzen und uns auf die menschlichen Schriften der Väter richten, nein vielmehr zuerst sollen wir die Schriften aller Menschen beiseit setzen und allein an die heilige Schrift desto mehr und desto beharrlicher unsern Schweiß setzen, je gegenwärtiger die Gefahr ist, daß einer sie durch seinen eignen Geist verstehe, aufdaß der Brauch dieser beständigen Mühe solche Gefahr überwände und uns endlich des Geists der Schrift gewiß machte, der außer in der Schrift überhaupt nicht gefunden wird" (WA 7,97,1-9; Übersetzung von E. Hirsch, a . a . O . , Nr. 116).

Luther hat also die Lehre von der Inspiration der Schrift keineswegs negiert. Auch Calvin hat dies nicht getan. Es bleibt vielmehr auch in der Reformation dabei, daß die Inspirationslehre der maßgebliche Rahmen für die biblische Hermeneutik ist. Neu ist gegenüber dem katholischen Modell nur die Gewichtung im hermeneutischen Geviert. Statt auf die lehrende Kirche fällt nunmehr der Ton auf die Schrift und ihre Auslegung. Dementsprechend sind alle dogmatischen Äußerungen der Kirche in Tradition und Gegenwart an der Schrift zu messen. Der hl. Geist, der Schrift, Kirche und Schriftauslegung verbindet, ist der Geist des von der Schrift verkündigten Christusglaubens. Vom Geist wird also nicht mehr neben der Schrift her, sondern im Blick auf die Schrift gesprochen. Dieser Umstand hat Calvin dazu veranlaßt, Ansätze Luthers aufzugreifen und in seiner „Institutio Christianae Religionis" ( = Unterricht in der christlichen Religion) die neue Lehre vom testimonium Spiritus Sancti internum (oder auch: arcanum), d.h. die Lehre vom inneren (geheimen) Zeugnis des hl.Geistes, zu entwickeln: „ . . . Denn wie Gott selbst in seinem Wort der einzige vollgültige Zeuge von sich selber ist, so wird auch dies Wort nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden i s t . . . — . . . Gewiß verschafft sich die Schrift ganz von selbst durch ihre eigene Majestät Ehrfurcht, aber sie ergreift uns erst dann recht und ernstlich, wenn sie durch den Geist in unserem Herzen versiegelt ist. Daß die Schrift von Gott kommt, das glauben wir, weil die Kraft des Geistes uns erleuchtet, nicht aber auf Grund des eigenen Urteils oder desjenigen anderer Leute" (Institutio I, 7,4+5).

Fragt man unter diesen Umständen nach der Rolle und Bedeutung der Schriftauslegung in dem reformatorischen Interpretationsmodell, zeigt sich, daß aus der dem Lehramt und seinen Entscheidungen zudienenden Exegese, d.h. aus

Die hermeneutische Praxis der Inspirationslehre

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einer kirchlichen Hilfsdisziplin, eine theologische Zentralaufgabe geworden ist. Die Exegese hat der Schrift in ihrer Zeugnisstruktur zu dienen und das Glaubenszeugnis der Bibel in seiner Ursprünglichkeit und geschichtlichen Einzigartigkeit zu Gehör zu bringen. Luther hat von der Schrift gesagt, sie sei selbst in sich „die eindeutigste, die zugänglichste, die verständlichste, sie selbst ihr eigener Ausleger, alles beweisend, beurteilend und beleuchtend" (= „sit ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans", WA 7,97,23-24). Eben dieser Schrift will die Exegese dienen. Die exegetische Bemühung findet deshalb dort ihr Ziel und ihre Grenze, wo Gottes Geist im Wort des Evangeliums selbst spricht und Glauben schafft. Reformatorische Bibelauslegung steht ebenso wie die katholische im hermeneutischen Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche; sie ordnet sich aber bewußt der Schrift zu und will der Kirche ermöglichen, sich selbst und ihre Bekenntnistradition stets neu und kritisch am Christuszeugnis der biblischen Schriften zu messen. Wenn wir auf eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten hinarbeiten, geht es uns darum, einen heute angemessenen Anschluß an dieses Interpretationsmodell zu finden. Wo sich die Exegese der Bibel aus dem von der Inspirationslehre gesteckten Interpretationsrahmen löst, wird sie richtungslos und verzehrt sich im besten Fall in historischer Detailarbeit.

4.3

Das rationalistische

Interpretationsmodell

Man kann dies an dem dritten Interpretationsmodell sehen, das im Gegenzug gegen die altprotestantische und die pietistische Version der protestantischen Schriftinterpretation entwickelt worden ist, dem Modell des Rationalismus. Wenn wir als den bahnbrechenden Vertreter dieser Auslegungsweise Johann Salomo Semler (1725-1791) mit seiner „Abhandlung von freier Untersuchung des Canons" nennen, können wir von folgender Interpretationsstruktur ausgehen. Die zu untersuchende hl. Schrift wird aus der (wie Semler zu seiner Zeit mit einiger Berechtigung annimmt) die freie historische Hinsicht auf die biblischen Bücher hindernden dogmatischen Umklammerung durch die christliche Tradition herausgelöst. Der Inspirationsgedanke mitsamt dem die biblischen Schriften in eine kirchlich exklusive Sonderstellung erhebenden Begriff des Kanons sind für Semler nur noch von historischem Interesse. Aus dem uns bekannten Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche wird also die Kirche mit ihren Traditionen (weitgehend) ausgeblendet. Gleichwohl will auch Semler die Bibel gelesen und historisch verstanden wissen in dem Geist, in dem sie geschrieben wurde. Um dieses (traditionelle!) Interpretationsziel zu erreichen, bedient er sich einer (bis heute immer wiederkehrenden) rationalistischen Identifikation. Semler setzt den Geist des Deismus und Rationalismus seiner Zeit mit dem Geist, in dem die biblischen Bücher einst verfaßt worden sind, gleich und kommt von daher zu einer gleichzeitig von kirchlicher Bevormundung freien und doch der moralischen Einsicht verpflichteten Auslegung der

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Autorität, Inspiration und Auslegung der heiligen Schrift

Bibel. Calvins reformatorische Lehre vom testimonium Spiritus Sancti internum gerät dabei zur moralisch-vernünftigen Ergriffenheit vom Inhalt (mancher!) biblischer Schriften. In Semlers eigener, komplizierter Sprache: „Der einzige Beweis, dereinem aufrichtigen Leser ein ganz Genüge thut, ist die innere Überzeugung durch Wahrheiten, welche in dieser heiligen Schrift (aber nicht in allen Theilen und einzelnen Büchern) angetroffen werden; welches man sonst, kurz zu reden, mit einer biblischen etwas undeutlichen Redensart, das Zeugnis des heiligen Geistes in dem Gemüte des Lesers genent hat. Aus diesem entstehet fides divina (göttlicher Glaub e ) . . . " (zitiert nach W . G. Kümmel, a. a. O., 76).

Die reformatorische Unterscheidung zwischen hl. Schrift und gepredigtem Wort Gottes wird bei Semler zur Differenzierung zwischen einer historischen Schriftensammlung, die schon die Juden hl. Schrift nannten und zu der alle möglichen Bücher gehören, ζ. B. Ruth, Esther oder Hoheslied, die mit dem W o r t Gottes s. M . n. nichts zu tun haben, und dem Wort, „das alle Menschen in allen Zeiten weise macht zur Seligkeit", den Menschen menschenfreundlich macht, ihm zur inneren Ordnung verhilft und „lauter göttliche allgemeine Liebe und Wohlthätigkeit zur Ausbesserung der Menschen" mitteilt, so daß man den Gott der Liebe als seinen Urheber ansehen kann ( a . a . O . , 74f.). An die Stelle der dogmatischen Tradition der Kirche tritt m. a. W. das freie Urteil der (im Falle Semlers) religiös und moralisch fundierten und dem Maßstab der Vernunft verpflichteten Subjektivität mit ihrer freimütigen und geschichtlich wechselnden Setzung von Vermutungen und geschichtlichen Hypothesen. Das rationalistische Interpretationsmodell entsteht somit insgesamt durch Ersatz von zwei Komponenten in dem bisherigen kirchlichen Interpretationsrahmen: Die hl. Schrift bleibt als historische Schriftensammlung; an die Stelle der der Kirche und der Schrift dienenden Schriftauslegung tritt die freie historische Untersuchung der biblischen Texte; die bisher den hermeneutischen Zirkel leitenden dogmatisch-kirchlichen Grundsätze werden ersetzt durch die (wechselnden) rationalen Setzungen der kritischen Subjektivität; der das Ganze zusammenhaltende und verpflichtende Geist schließlich ist nicht mehr der Geist des Christus und des Glaubens, sondern die ihrer eigenen Leistungsfähigkeit vertrauende, religiös verankerte und der Humanität verpflichtete Vernunft. Unbestreitbar hat dieses rationalistische Interpretationsmodell zu einer Fülle von neuen Einsichten geführt und unsere historische Kenntnis von der Entstehung und Eigenart der biblischen Überlieferung gewaltig vermehrt. Gleichwohl können wir heute zweierlei sehen. Ehe wir dieses Modell einfach als das nunmehr definitiv auf den Plan getretene Modell wissenschaftlicher Bibelexegese akzeptieren, müssen wir auf die ihm immanenten Setzungen der historischinteressierten Subjektivität achten lernen und uns gleichzeitig fragen, ob diese rationalistische Untersuchung der Bibel dem Zeugnischarakter des biblischen Wortes wirklich gerecht wird. Wenn diese Frage verneint werden müßte, die Freiheit zur historischen Analyse des biblischen Schrifttums aber gleichwohl nicht beschränkt werden soll, dann bliebe uns die Aufgabe, das an der Inspirationsthese orientierte protestantische Auslegungsverfahren in geeigneter Weise

Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses

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mit jenem historisch-kritischen zu kombinieren. Denn wir suchen die Auslegungsweise, die der geschichtlichen Eigenart und dem Zeugnischarakter des biblischen Wortes am besten entspricht. Wir haben uns mit dem vorstehenden Paragraphen eine Rahmenorientierung verschafft, die unsere Weiterarbeit bestimmen wird. Wenn es wirklich darum geht, die kirchliche und die rein wissenschaftliche Auslegungs- und Verstehenstradition neu in Beziehung zu setzen, können wir nicht ohne eine Bestandsaufnahme dieser Traditionen auskommen. Dementsprechend werden die nachfolgenden Paragraphen sich um eben diese Bestandsaufnahme bemühen. Dabei wird es uns aber nicht nur um die Kenntnisnahme der wichtigsten Grundlinien der uns bestimmenden Interpretationstraditionen gehen, sondern stets gleichzeitig darum, diese Grundlinien in Hinsicht auf unsere gegenwärtige exegetische Aufgabe zu werten. Diese doppelte Intention erlaubt uns einerseits eine bewußt exemplarische Auswahl und zwingt uns andererseits zur systematischen Wertung eben der hermeneutischen Einsichten, welche die vielen interpretierenden Generationen vor uns bei ihrem Umgang mit der hl. Schrift gesammelt haben. — Was wir nun als erstes zur Kenntnis zu nehmen haben, ist die Tatsache, daß sich wesentliche Grundprobleme einer christlichen Bibelauslegung bereits zur Zeit der neutestamentlichen Traditionsbildung gestellt haben.

§ 5 Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses Die vielleicht für manchen unvermutete Feststellung, daß die Uranfänge christlicher Schriftauslegung bis in den Jüngerkreis Jesu zurückreichen, läßt sich leicht verifizieren. Wir müssen nur bedenken, daß Jesus und die Apostel aus der israelitischen Glaubenstradition heraus zu ihrer Evangeliumsverkündigung aufbrachen. Israel aber hatte ζ. Z. des Auftretens Jesu schon eine jahrhundertealte Auslegungskultur entwickelt. Dies gilt für das palästinische Mutterland ebenso wie die Diaspora. Diese Auslegungskultur ist in der Diaspora ausgebildet worden unter regem Austausch zwischen den Textforschung und Textauslegung pflegenden antiken Akademien und den jüdischen Synagogen. Auch in Palästina selbst war der Einfluß hellenistischer Interpretationsmaßstäbe spürbar, doch herrschte hier die selbständig jüdische Auslegungsweise der Schrift vor. Ihre Hauptform war der in der Synagoge (und zwar im Gottesdienst und in der Lehre) vorgetragene Midrasch, d.h. die nach bestimmten methodischen Regeln vorgehende Schriftinterpretation. Sie besteht in der Regel aus wenigstens drei Teilen, nämlich einer einleitenden Textlesung aus der Tora ( = dem Gesetz in Gestalt der fünf Bücher Mose) und eventuell zusätzlich den Propheten, dann einer mit weiteren Schriftzitaten und biblischen Anspie-

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Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses

lungen durchsetzten Erläuterung der Lesung und drittens einem auf die Lesung zurückgreifenden und ihr korrespondierenden Schlußtext. Jesus und die Apostel wuchsen als Juden in einer Welt auf, in der die synagogale Schriftauslegung allgegenwärtig war, und hatten ihre Glaubensbotschaft zu vertreten inmitten und angesichts des israelitischen Schriftverständnisses. Hauptziel der jüdischen Exegese war es, in das Verständnis der T o r a einzuweisen, d.h. in jene in den fünf Büchern Mose niedergelegte und von den restlichen Schriften des Alten Testaments weiterinterpretierte Offenbarung des Willens Gottes. Die Tora ist für Israel damals wie heute keineswegs ein Leben und Freiheit einengender Gesetzeskodex, sondern die alle Lebensbereiche umfassende Lebensordnung, die Israel geoffenbart worden ist und in die es deshalb freudig eintreten darf und soll. Unter solchen Umständen ist es nicht außergewöhnlich, daß Jesus und die Apostel selbst mit dem Alten Testament leben und es auslegen. Erstaunlich und beachtenswert aber ist, wie sie es tun und daß sie dabei nicht nur die jüdische Schriftauslegung fortführen, sondern auch heute, für die Kirche der späteren Jahrhunderte wegweisende hermeneutische Grundsätze entwickeln.

1. Das Schriftverständnis

Jesu

Achten wir zuerst auf Jesus selbst, so ist für sein Wirken unter hermeneutischem Aspekt dreierlei charakteristisch. Jesu Zeugnis von Gott und von seiner Sendung wurde angenommen oder abgelehnt, als Wegweisung gepriesen oder als Verführung angeprangert in einer Welt, die durch und durch von der synagogalen Schriftauslegung geprägt war. Jesu Auftreten war also in sich selbst ein hermeneutischer Akt, der die einen neu und endgültig in das Verständnis Gottes einführte, während die anderen durch Jesu Anspruch und Verkündigung die alttestamentliche Offenbarung Gottes gefährdet oder gar aus den Angeln gehoben wähnten. O. Michel hat mit Recht hervorgehoben, daß schon Jesus selbst „das christozentrische Verständnis" des Alten Testaments angebahnt habe, „das nachher für Paulus kennzeichnend ist" ( a . a . O . , 188). Dies gilt, obwohl Jesus kein in einem jüdischen Lehrhaus ausgebildeter, an festem Ort einen bestimmten Schülerkreis in der Tora unterweisender Rabbi war, sondern ein „messianischer Lehrer der Weisheit" (M. Hengel). In den Synoptikern wird von Jesu Auftreten in den Synagogen erzählt (vgl. vor allem Lk 4,16ff.), und in Lk 1 0 , 2 5 - 3 7 ist uns ein regelrechter Midrasch erhalten, der sehr wohl in Jesu Wirkenszeit zurückdatiert werden kann. Daß Jesus mit der jüdischen Auslegungsmethodik wohlvertraut war, zeigt auch der Disput in M t 2 2 , 4 1 - 4 6 / M k 1 2 , 3 5 - 3 7 a . Jesus interpretiert hier Ps 1 1 0 , 1 von Ps 8,7 her und kommt dadurch zu dem Ergebnis, daß der (Menschensohn-)Messias mehr als nur Davidssohn, nämlich Davids Herr sei. Jesu eigenständigen vollmächtigen Umgang mit der alttestamentlichen Gesetzesoffenbarung kann man nirgends besser beobachten als an den sog. Antithesen der Bergpredigt, d.h. an M t 5 , 2 1 - 4 8 . Es handelt sich bei diesen Antithesen um sechs Jesusworte,

Das Schriftverständnis Jesu

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die in Anlehnung an ein synagogales Disputations- und Auslegungsschema antithetisch stilisiert sind und jeweils mit dem Satz eingeleitet werden: „Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt wurde - Ich aber sage euch" (o. ä.). Die Sprüche handeln vom Töten und Zürnen (5,21-26 = 1. Antithese), vom Ehebruch (5,273 0 = 2. Antithese), von der Ehescheidung ( 5 , 3 1 - 3 2 = 3. Antithese), vom Schwören ( 5 , 3 3 - 3 7 = 4. Antithese), von der Wiedervergeltung ( 5 , 3 8 - 4 2 = 5. Antithese) und von der Feindesliebe (5,43-48 = 6. Antithese). Jesus proklamiert in diesen sechs Sprüchen den Willen Gottes nach seinem eigenen Verständnis, und zwar in deutlichem Kontrast zum alttestamentlichen Gesetz, wie es zu Jesu Zeit gelesen und ausgelegt wurde. In einem Teil der Kontrastsprüche knüpft Jesus an das alttestamentliche Gebot an, führt es vertieft weiter und gibt ihm grundsätzlichen Charakter. Das gilt für die 1. Antithese (vom Töten und Zürnen), für die 2. Antithese (vom Ehebruch) und für die 6. Antithese (von der Feindesliebe). Der Scheidungserlaubnis ( = 3. Antithese), der Zulassung von Eidschwüren (4. Antithese) und dem Grundsatz von der Wiedervergeltung (5. Antithese) erteilt Jesus aber eine ebenso grundsätzliche Absage. M i t diesem vertiefenden und kritisierenden Doppelschritt über den Wortlaut des alttestamentlichen Gebotes hinaus geht Jesus exegetisch weit wagemutiger vor als die jüdischen Schriftgelehrten seiner Zeit. Dem in der synoptischen Tradition geäußerten Grundsatz entsprechend, in ihm sei „mehr als J o n a " , d.h. mehr als ein alttestamentlicher Prophet, auf dem Plan (Mt 12,41/Lk 11,32), in Jesus spreche mehr als die Weisheit Salomos (Mt 12,42/Lk 11,31) und in ihm sei noch mehr als der Tempel mit seiner kultischen Tora in die Welt getreten (Mt 1 2 , 6 ; vgl. M k 7 , 1 5 Par.), wagt es Jesus, die mosaische Gesetzesoffenbarung vom Sinai in seine eigene Auslegung des Gotteswillens hinein aufzuheben. Die Schrift ist für Jesus nicht einfach formale Autorität, sondern sie weist auf seine eigene Sendung hin und bezeugt den einen Gott, dessen Wille und Verhalten Jesus selbst kundtut. M a n kann unter diesen Umständen den weiteren Verlauf des Wirkens Jesu sehr gut verstehen. Nach M k 8,27ff. (Par.) ist im Jüngerkreis Jesu unter dem Einfluß des Petrus die Erkenntnis aufgebrochen, daß Jesus der verheißene Messias und Erlöser sei. Im Gegensatz dazu haben Pharisäer, Schriftgelehrte, Zeloten und schließlich auch Sadduzäer gegen Jesus Front gemacht. In Jerusalem hat das Synhedrium ihn als pseudomessianischen „Verführer" (Dt 1 3 , 7 - 1 2 ; 1 7 , 2 - 7 ; 1 8 , 2 0 - 2 2 ) und Gotteslästerer zum Tode verurteilt. Seine Hinrichtung am Kreuz galt von Dt 2 1 , 2 2 . 2 3 her als Verfluchung durch Gott. Schon Jesus hat also die Seinen in das Problem der sachgemäßen Schriftauslegung hineingestoßen. Wer angesichts von Jesu eigenem Schriftgebrauch und seiner Kreuzigung Jesus als Messias bekennen und in seinem Namen Mission treiben wollte, der mußte sich selbst und den Juden von der Schrift her über die Legitimität seines Verhaltens Rechenschaft ablegen.

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Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses

2. Die ersten Ansätze zur christologischen Schriftauslegung Den Verweis auf die Erfüllung der Schrift finden wir denn auch schon in den ältesten uns bekannten Glaubensformeln wieder (vgl. l . K o r 1 5 , 3 - 5 ; R o m 4 , 2 5 ) , und wir sehen außerdem, wie in der frühchristlichen Missionspredigt betont wird, daß Gott eben den Jesus, den die Juden im Vollzug von Dt 2 1 , 2 2 f . ans Kreuz gebracht haben, auferweckt und zu seiner Rechten erhöht habe, und zwar gemäß Ps. 110,1 und in Erfüllung der Nathansweissagung von 2.Sam 7,12ff.: vgl. z.B. Apg 2,30ff.; 5 , 3 0 f f . ; 1 3 , 2 3 . 2 9 f f . ; ähnlich auch in Rom l , 3 f . Nach Lk 2 4 , 2 5 - 2 7 . 4 4 - 4 7 haben sich die Christen ihren Glauben an den rettenden Sinn des Todes Jesu zu wesentlichen Teilen aus der Schrift heraus geben lassen; sie haben sich von der Schrift her die Bedeutung und zukunftweisende Dimension der Auferweckung Jesu verdeutlicht und sind mit Hilfe einer von Jesu Tod und Auferweckung her gedeuteten Schrift in den apologetischen und missionarischen Dialog mit ihren Zeitgenossen eingetreten. Daß man sich bei dieser neuen Form von Schriftauslegung ausdrücklich auf Jesu souveräne und kritische Gesetzesinterpretation berief, zeigt der gegen Stephanus vor den Schranken des jüdischen Gerichtshofes in Jerusalem erhobene Vorwurf, er höre nicht auf, gegen den Tempel und das Gesetz zu reden und zu behaupten, der Nazarener Jesus werde diesen (kultischen) Ort zerstören und „die Sitten ändern, die M o s e uns überliefert h a t " (Apg 6 , 1 3 . 1 4 ) .

3. Das Schriftverständnis des Paulus Für die urchristliche Mission war es von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß zwei oder drei Jahre nach der Kreuzigung Jesu der Pharisäer und Schriftgelehrte Paulus zum Christusapostel wurde. Mit Paulus gewann die Urchristenheit historisch unmittelbar Anteil an der pharisäischen Auslegungstradition und -kultur, von der wir sprachen, und die von Paulus erarbeiteten Kategorien des christologischen Schriftverständnisses sind maßgebend geworden und geblieben für die Geschichte der christlichen Hermeneutik überhaupt. /

3.1 Der kritische Einwand gegen die neutestamentliche

Auslegungsmethode

Stellt man dies fest und gebraucht man überdies das Stich wort einer christologischen Interpretation des alttestamentlichen Schrifttums nicht nur als historische Kennzeichnung, sondern mit einem (zumindest impliziten) systematischen Anspruch auf Diskussionswürdigkeit, weckt man heute fast überall sogleich ein kritisches Gegenargument. Es lautet: Nach historisch-kritischem Urteilsmaßstab erscheint die neutestamentliche Exegese des Alten Testaments als ein den geschichtlichen Ursprungssinn der Texte gewaltsam dem eigenen (Glaubens-) Urteil unterwerfendes Interpretationsverfahren; ihm kann man, nachdem es solchermaßen durchschaubar geworden ist, nicht mehr beipflichten. In der

Das Schriftverständnis des Paulus

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Formulierung von P. Vielhauer: „Es geht beim urchristlichen Schriftgebrauch und Schriftbeweis entweder um eine Selbstbestätigung des christlichen Glaubens oder — in Auseinandersetzung mit dem Judentum — um das ,richtige' Verständnis der gemeinsamen Heiligen Schrift. Aber was,richtig' ist, wissen die urchristlichen Autoren - zumal Paulus - schon vorher" (Geschichte der urchristlichen Literatur, 780). Das Argument ist insofern mißlich, als Vielhauers Kritik auch für die jüdische Hermeneutik z.Z. des Neuen Testaments gilt und auch die historisch-kritische Auslegung des Alten Testaments bisher keineswegs zu wirklich eindeutigen Auslegungsergebnissen geführt hat (E.E. Ellis). Nachdem Jesus und die Apostel als geborene Juden den Christen Anteil an den hl. Schriften gegeben haben, sollten wir uns heute bemühen, über jenen kritischen Einwurf hinauszukommen und die urchristliche Schriftauslegung als exemplarische Wahrnehmung einer exegetischen Aufgabe zu begreifen, die jede Christengeneration mit ihren eigenen hermeneutischen Mitteln neu aufzugreifen hat. Die Aufgabe besteht darin, zu prüfen und aufzudecken, wie sich Jesu Person und Werk zu dem einen Gott verhalten, von dem die in Jahrhunderten ausgebildeten verschiedenen alttestamentlichen Schriften Zeugnis geben. Jesus und die neutestamentlichen Autoren gehen von der Überzeugung aus, daß Jahwe, der Gott Israels und Schöpfer der Welt, der Vater Jesu Christi ist; dementsprechend lesen sie das alttestamentliche Offenbarungszeugnis als eine auf Jesus Christus hinführende Wegweisung des Glaubens. Schon das Urchristentum wußte, daß es mit dieser Glaubensthese in eine Auseinandersetzung mit denen gestellt war, welche den Anspruch Jesu Christi zurückwiesen und sich dementsprechend das Recht nahmen, das Alte Testament ohne Christus zu verstehen. Wie tief diese Auseinandersetzung reichte und daß sie für das christliche Glaubens- und Gottesverständnis fundamental ist, zeigt Paulus.

3.2 Paulus als Schriftgelehrter Paulus hat seinen Weg begonnen als überzeugter Pharisäer (vgl. Phil 3,5f.; Gal l , 1 3 f . ) und als ein in Jerusalem bei Gamaliel I. ausgebildeter Schriftgelehrter (Apg 22,3). Der in Tarsos gebürtige junge Diasporapharisäer hat, wie es üblich war, in Jerusalem, der damals renommierten Hochburg der Schriftgelehrsamkeit in Palästina, studiert, und zwar bei einem Nachkommen und Schüler des berühmten Hillel, der um 2 0 v. Chr. einem jüdischen Lehrhaus in Jerusalem vorstand. Auf eben diesen Hillel wird in der jüdischen Traditionsliteratur die erste wegweisende (später mehrfach erweiterte) Zusammenstellung von sieben Interpretationsregeln zurückgeführt, mit deren Hilfe eine methodisch abgesicherte Gesetzesauslegung erzielt werden kann. Die hillelitischen Auslegungsregeln stellen eine Reihe von logischen Schlußfolgerungsmöglichkeiten dar, berühren sich inhaltlich mit den Auslegungsgrundsätzen griechischer Grammatiker sowie römischer Juristen und waren dem Apostel Paulus nachweislich bekannt. Sie lauten nach Tosephta, Traktat Sanhedrin 7,11:

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Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses

„Sieben Auslegungen trug Hillel der Ältere den Ältesten von Pethera vor: 1. Schluß a minori ad maius, 2. Analogieschluß, 3. Entwicklung eines Grundsatzes auf Grund einer Schriftstelle, 4. (Entwicklung eines Grundsatzes) auf Grund zweier Schriftstellen, 5. Allgemeines und Besonderes bzw. Besonderes und Allgemeines, 6. wie es aus einer anderen Stelle hervorgeht, 7. etwas, was aus seinem Inhalt (oder: Zusammenhang) zu lernen ( = zu folgern) ist. Diese sieben Schriftdeutungsarten trug Hillel der Ältere den Männern von Pethera v o r " (Barrett, a . a . O . , Nr. 133).

Eine gewisse Anzahl dieser Regeln befolgen auch wir heute noch, wenn wir z.B. eine undeutliche Schriftstelle durch eine deutliche parallele andere, den Sinn eines Textes aus dem Zusammenhang, oder die Bedeutung eines biblischen Wortes aus einer Übersicht über seine Verwendungsart an verschiedenen Stellen der Bibel erklären. Auch Luthers berühmte These von der sich selbst interpretierenden Schrift (s.o. S. 61) Iäßt sich ohne Rekurs auf einige dieser hermeneutischen Regeln gar nicht durchführen. Wenn Paulus bei seinen exegetischen Darlegungen z.B. im Galater- und Römerbrief nach den genannten Regeln verfährt, praktiziert er also eine zu seiner Zeit wissenschaftlich anerkannte und diskutierbare Schriftexegese.

3.3 Schrift und

Buchstabe

Was den Apostel von der Judenschaft trennt, sind denn auch nicht einfach die methodischen Verfahrensweisen der Exegese, sondern ist eine sich ihm mit seiner Berufung überwältigend aufdrängende Erkenntnis. Die Erkenntnis nämlich, daß auch der angestrengteste Eifer um Verständnis der Tora nicht in die Gemeinschaft mit Gott, der sich in Jesus Christus offenbart, führt, vielmehr eine religiös vertiefte Form von Eigenmächtigkeit und Verschlossenheit gegenüber Gottes Handeln darstellen kann. Paulus kommt auf eben diese erregende Erkenntnis immer wieder zurück. Er spricht von ihr in Phil 3 ebenso wie in seiner These von Rom 10,4, daß Christus das Ende des Mosegesetzes sei, und zwar zum Heil jedes Menschen, der glaubt. Der Apostel hat folgerichtig auch hermeneutisch auf den Umstand reflektiert, daß man die hl. Schrift mit aller Anstrengung lesen und auslegen kann und dennoch in die Gottesferne gerät. Über der Gesetzesverlesung und -auslegung in den Synagogen sieht Paulus eine die wahre Gotteserkenntnis hindernde und die Sinne in einen Verblendungszusammenhang einhüllende Decke liegen, die das Verständnis Christi hindert (vgl. 2. Kor 3,14 mit Jes 25,7). Da aber die Sendung Jesu, sein Tod und seine Auferweckung durchaus vom Alten Testament her als Offenbarungshandeln Gottes begriffen werden können, ja müssen, folgert der Apostel, daß es seit der Erscheinung Jesu Christi wenigstens zwei Arten von Verständnis der Schrift gibt und damit zugleich zwei Weisen, in denen die Schrift begegnet. Man kann die Schrift lesen als Ansporn und Aufruf zu immer neuer Gesetzesfrömmigkeit. Dann exegesiert und hört man nach Meinung des Apostels mit verbundenen Sinnen, und die Schrift erscheint als ein von Christus wegführender, tötender Buchstabe (griechisch: gramma). Man kann aber auch

Das Schriftverständnis des Paulus

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aus der Begegnung mit Christus heraus aufbrechen und erkennen, daß alle Verheißungen Gottes in Christus bejaht worden sind (2.Kor 1,19f.), und findet dann in der Schrift die tröstliche Urkunde der Führungen Gottes. Die so gelesenen Urkunden nennt Paulus immer wieder graphe, d. h. „Schrift". Die der „Schrift" wahrhaft entsprechende Auslegung ist das von Gott selbst in Christus (als dem lebenschaffenden Geist) eröffnete Interpretationsverfahren des Gottes Offenbarung in Christus erkennenden und ernstnehmenden Glaubens. Seit Paulus und seinen berühmten Ausführungen in l . K o r 2,6ff.; 2.Kor 3 u n d 4 , 1 - 6 unterscheiden wir christlich zwischen gramma und graphe, zwischen tötendem Buchstaben und lebenschaffendem Geist, zwischen den Urkunden des Alten Bundes und der in Christus eröffneten Offenbarung des Neuen Bundes, die zu einem vertieften Verständnis des Alten Testamentes führt. Diese Unterscheidungen sind so lange sinnvoll und unentbehrlich, als das sachgemäße Verständnis des alttestamentlichen Schrifttums zwischen Juden und Christen umstritten bleibt. Bei Jesus haben wir eine messianische Auslegungspraxis des Alten Testamentes angetroffen, die sich der jüdischen Auslegungsmethoden frei bedient und in sich die Anknüpfung an die biblischen Texte und den Widerspruch gegen sie vereint. Bei Paulus wird eben diese Auslegungsweise methodisch genau reflektiert und auf den hermeneutischen Begriff gebracht. Von Jesus und Paulus her kann christliche Schriftauslegung nicht darauf verzichten, gerade aus dem Interesse des Glaubens heraus methodisch genau zu verfahren und in ihren Wertsetzungen offen und kritisch zu sein. Betrachtet man Paulus unter dem Aspekt des wegweisenden Vorbildes für die nachfolgenden Jahrhunderte christlicher Schriftauslegung, muß man zu den genannten hermeneutischen Differenzierungen hinzu wenigstens noch folgende drei Kennzeichen urchristlicher Exegese nennen, die bei Paulus prototypisch und methodisch deutlicher reflektiert hervortreten als in den Schriften des Urchristentums sonst.

3.4 Die eschatologische Vergegenwärtigung der Schrift Wir finden beim Apostel wiederholt die Feststellung, daß sich der eigentliche Sinngehalt der alttestamentlichen Texte erst jetzt in der eschatologischen Zeit des Glaubens enthülle und daß jene Texte geschrieben seien, um für die Christen Warnung, Trost und Ermahnung zu bieten. So heißt es etwa zum Beschluß von Rom 4, wo Paulus in Form eines kapitellangen Schriftbeweises von Abraham als Zeugen der Glaubensrechtfertigung gesprochen hat, Gen 15,6 (d.h. die bekannte Aussage: Abraham „glaubte Jahwe, und er rechnete ihm das zur Gerechtigkeit", die in der Septuaginta passivisch wiedergegeben und vom Apostel auch so zitiert wird: Abraham „glaubte an Gott, und dies wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet") sei nicht allein um Abrahams willen niedergeschrieben worden, „sondern auch um unseretwillen, denen es angerechnet werden soll, die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt h a t . . . " (Rom 4 , 2 3 . 2 4 ) . Indem Paulus die Schriftaussagen über

70

Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses

Abraham als nicht nur die Gestalt des Patriarchen, sondern zugleich in Abraham „uns" Christen betreffend erklärt, steht er in der Traditionsfolge der exemplarischen Geschichtsbetrachtung des Alten Testaments und berührt sich im hermeneutischen Ansatz mit der eschatologischen Schriftdeutung, dem sog. Pescher, wie er bei den Essenern von Qumran üblich gewesen ist. Wie uns die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Gegend von Qumran an der Nordwestecke des Toten Meeres aufgefundenen Schriften dieser jüdischen Sondergemeinde zeigen, haben die Essener vor allem die Psalmen und die alttestamentlichen Prophetenbücher als verschlüsselte Weissagungen auf die Gegenwart ihrer Gemeinde verstanden und sie dementsprechend von ihrem endzeitlichen Erwählungsbewußtsein her aufgeschlüsselt. Dafür wenigstens ein Beispiel: Habakuk 2,4 - die berühmte Prophetenstelle, die Paulus in Rom 1,17 und Gal 3,11 auf die Rechtfertigung aus Glauben allein hin auslegt - lautet nach dem Urtext: „ . . . der Gerechte bleibt durch seine Treue leben". Im HabakukKommentar von Qumran (1 QpHab 8,1-3) wird eben dieser Text folgendermaßen kommentiert: „Seine Deutung ( = pisrö) bezieht sich auf alle Täter des Gesetzes im Hause Juda, die Gott erretten wird aus dem Hause des Gerichtes um ihrer Mühsal und ihrer Treue willen zum Lehrer der Gerechtigkeit". Der „Lehrer der Gerechtigkeit" ist das inspirierte Oberhaupt der Gemeinde von Qumran gewesen. Der Prophetentext wird in Qumran gemäß seiner Gesetzeslehre und auf die Zeit seiner Gemeindeleiterschaft hin ausgelegt. Haftet der essenischen Schriftauslegung unter diesen Umständen der Stempel esoterischer Exklusivität an, ist die von Jesus und Paulus geübte urchristliche Schriftauslegung nicht nur ausgesprochen offen und argumentativ, sondern auch erheblich wortgetreuer als man gemeinhin zu vermuten pflegt. Zum Beweise dessen möchte ich auf ein Beispiel hinweisen, das die urchristliche Soteriologie wirklich vorangebracht hat. Aus 11Q Temple 64,7ff. wissen wir, daß die Kreuzigung von jüdischen Verrätern und Apostaten im Lichte von Dt 21,22f. als (verdiente) Verfluchung durch Gott und die (frommen) Menschen verstanden worden ist. Wir haben bereits gehört, daß die jüdischen Gegner Jesu seinen Kreuzestod genau in diesem Sinne von Dt 21,22f. her als von Gott über den pseudomessianischen Lästerer und Gesetzesbrecher zu Recht verhängten Fluch gedeutet haben (vgl. oben S. 65 f.). Die älteste christliche Predigt hat auf diese Polemik zunächst mit der Kontrastantwort reagiert: „Der Gott unserer Väter hat Jesus auferweckt, den ihr ans Kreuz gehängt und zu Tode gebracht habt" (Apg 5,30). Paulus nun, der christgewordene Schriftgelehrte, greift in eben diese Debatte ein und führt sie entscheidend weiter. In Gal 3 trägt er (im Rahmen eines Midrasch über Gen 15,6) folgende Deutung von Dt 21,22 vor: In der Tat lautet Dt 21,22 gemäß der Septuaginta : „ . . . von Gott verflucht ist j eder, der am Holze hängt". Wendet man diesen Spruch auf Jesu Kreuz an, dann erscheint Jesus als einer, der unter dem Fluch Gottes gestorben ist. Nun aber ist Christus von Gott selbst gesandt und unter das Gesetz gestellt worden (Gal 4,4). Jesus hat den todbringenden Gottesfluch am Kreuz also als der Gerechte mit Gottes Willen getragen. Sein Kreuzestod darf deshalb als stellvertretende Bußund Sühnetat aufgefaßt werden, kraft derer er die vom Fluch des Gesetzes

Das Schriftverständnis des Paulus

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betroffenen Sünder „vom Fluch des Gesetzes losgekauft hat und für uns zum Fluch geworden ist" (Gal 3,13). Paulus läßt also den Wortlaut von Dt 2 1 , 2 2 unangetastet stehen, interpretiert Jesu Kreuz aber von der Auferweckung her als ein von Gott selbst gewolltes und von Jesus gehorsam bejahtes Ereignis der Sühne, kraft dessen nicht Jesus um seines Frevels willen vernichtet, sondern der den Sünder treffende Fluch des Gesetzes entkräftet worden ist. Paulus hat durch diese Kreuzesinterpretation den Heidenmissionaren die Möglichkeit gegeben, von Jesu Kreuz als einem Heilsereignis zu sprechen, das die Sünder von der todbringenden Herrschaft des mosaischen Gesetzes befreit, und er hat gleichzeitig der jüdischen Polemik gegen Jesus die Spitze abgebrochen.

3 . 5 Die Typologie Nachdem wir uns die eschatologische Vergegenwärtigungstendenz der urchristlichen Schriftauslegung vor Augen geführt und gesehen haben, daß sich diese Auslegung durchaus auch an den Wortlaut ihrer Texte gebunden weiß, ist nunmehr auf die sog. Typologie einzugehen, mit deren Hilfe besonders bei Paulus diese Vergegenwärtigung methodisch geleistet wird. In l . K o r 10,1-22 verdeutlicht Paulus den Korinthern die Gefahren eines glaubensvergessenen Sakramentalismus am Beispiel der mit Mose durch die Wüste ziehenden Israeliten. Er versteht den Durchzug durch das Rote Meer, das Geleit durch die Wolkensäule und die wunderbare Speisung und Tränkung der Israeliten als Vorausdarstellungen der christlichen Sakramente von Taufe und Abendmahl, weist auf das Murren des Volkes hin und das Verderben, das Gott daraufhin über die undankbare Wüstengeneration kommen läßt, und folgert schließlich: „das aber ist ihnen beispielhaft (griechisch: typikös) zugestoßen; es wurde niedergeschrieben als Warnung für uns, auf die das Ende der Zeiten gekommen ist" (10,11). Die Typologie ist also eine Auslegungsmethode, kraft deren alttestamentliche Berichte und Geschehnisse als sinnträchtige Vorausdarstellungen von christlichen Erfahrungen und Predigtinhalten aufgefaßt werden. So deutlich bei Paulus die Typologie als christlich-hermeneutische Auslegungsweise hervortritt, so sehr ist zu betonen, daß auch diese Typologie auf einem Grundzug des alttestamentlich-prophetischen Denkens beruht und im Neuen Testament nicht auf Paulus allein beschränkt bleibt. Die alttestamentlichen Propheten gehen wiederholt von dem Gedanken aus, daß Gottes endzeitliches Handeln mit seinem Volk und der Welt insgesamt den geschichtlichen Anfängen dieses Handelns entsprechen und demgemäß zur Vollendung des einst begonnenen Werkes führen wird. Neben Hosea (2,16 ff.), Jeremia (31,31 ff.) und Ezechiel (16,60ff.) spricht z.B. Deuterojesaja von der Heilsvollendung als der Entsprechung zum Exodus aus Ägypten und sieht in Gottes endzeitlichem Heilshandeln sein Wirken als Schöpfer der Welt zum Ziel kommen (vgl. Jes 40,3ff.; 4 3 , 1 6 - 2 1 ; 51,3.9££.)- Klassische neutestamentliche Belege für dieses typologische Denken sind neben l . K o r 10,1-13 (s.o.) die AdamChristus-Typologie in Rom 5,12-21, Jesu Rede vom Brot des Lebens in Joh 6,

72

.

Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses

die Darstellung Jesu als des himmlischen Hohenpriesters in Hebr 8-10 und die Bezeichnung der christlichen Gemeinde als das endzeitliche Eigentumsvolk Gottes in l.Petr 2. Das Neue Testament sieht in der Erwählung, die Israel erfuhr, eine geschichtlich unaustauschbare, lehrreiche Ereignisfolge, ohne welche die christliche Rede von der Erwählung der Gemeinde konturenlos und unverständlich bleibt. Bei aller kritischen Reserve, die sich der Typologie gegenüber heute aufdrängt, ist besonders die alttestamentliche Wissenschaft bis zur Stunde immer wieder fasziniert von den sich auch bei historischer Schriftbetrachtung einstellenden Erkenntnissen der strukturalen Parallelität alt- und neutestamentlicher Glaubensaussagen.

3.6

Die

Allegorese

In der Typologie haben wir eine für das biblische Denken besonders charakteristische Denk- und Auslegungsweise kennengelernt. Von noch größerer Bedeutung für die Geschichte der christlichen Schriftauslegung ist die bereits von Paulus gelegentlich geübte sog. Allegorese. In Gal 4,21 ff. trägt Paulus eine Tiefendeutung des Gesetzes (genauer: von Gen 16,15; 1*7,16ff.; 21,9ff.) vor, nach welcher die beiden Frauen Abrahams, Hagar und Sarah, mit ihren beiden Söhnen Ismael und Isaak allegorisch zu deuten seien auf die beiden Bundschlüsse vom Sinai und vom himmlischen Jerusalem, d.h. vom Zion. Will man diese seltsam anmutende exegetische Linienführung des Apostels historisch nachvollziehen, muß man wissen, was die Allegorese ist und worauf sie abzielt. Unter Allegorese verstehen wir das Verfahren einer mehrdimensionalen Schriftauslegung, wie sie seit dem 6./5.Jh. v.Chr. zunächst in der griechischen Homer-Interpretation erprobt und dann an den hellenistischen Akademien in Pergamon und Alexandria zur Hochblüte und zum beherrschenden Modell der Interpretation hl. Texte überhaupt entwickelt worden ist. Bei der Allegorese geht man zwar vom Wortsinn eines Textes aus, nimmt aber gleichzeitig an, „daß gerade die großen Dichter absichtsvoll ihre Dichtungen verschlüsselt haben; in diesen ist ein Wissen enthalten, das der Masse der Banausen, ...der zur Bildung Unfähigen, nicht zugänglich sein soll" (H.Dörrie, a.a.O., 124). Mit Hilfe der allegorischen Auslegung wird eben dieses in die Texte hinein verschlüsselte höhere Wissen aufgedeckt. Dementsprechend versteht sich die antike Philologie „als eine subtile Kunst des Entschlüsseins, eine Kunst, die eben auf das gerichtet ist, was die vordergründige Aussage verbirgt" (Dörrie, a. a. O., 124). Da sich dieses religiös akzentuierte allegorische Auslegungsverfahren schon in den griechischen Akademien mit intensiven Bemühungen um den Text- und Wortbestand der zu interpretierenden Dichtungen verband, konnte das hellenistische Judentum die Allegorese leicht übernehmen. Treue gegenüber dem biblischen Text, das stolze Bewußtsein, in den biblischen Texten geistig und geistlich unerschöpfliche Offenbarungsquellen zu besitzen, und der missionarische Wille, den religiös interessierten Griechen den Sinngehalt dieser Quellen in einer Weise zu erschließen, welche über den engen Kreis der synagogalen

Das Schriftverständnis des Paulus

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Glaubensgemeinschaft hinaus Gehör fand, ließen sich unter dem Vorzeichen der Allegorese organisch zu einer Einheit verbinden. Der Kronzeuge hellenistisch-jüdischer Allegorese ist für uns Philo von Alexandrien geworden, der von 2 0 v . C h r . - 4 5 / 5 0 n.Chr. gelebt hat, dem hellenistisch-jüdischen Adel entstammte und lange Jahre hindurch die geistig führende Lehrergestalt der alexandrinischen Judenschaft gewesen ist. Philo hat über Origenes und Klemens von Alexandrien tief und direkt in die Alte Kirche hineingewirkt. Als gläubiger Jude möchte Philo den Wortsinn der von ihm zu interpretierenden biblischen Schriften keineswegs überspringen; er möchte ihn nur zusätzlich mit Hilfe der Allegorese auf seine Tiefendimensionen hin abhorchen. In seiner Schrift über die Wanderung Abrahams plädiert er ausdrücklich für eine Exegese, der es gleichzeitig „um genaueste Erforschung der verborgenen wie um untadelige Darlegung der offenen Verkündigungsgehalte" geht (Migr Abr 89). Wie diese Exegese konkret aussieht, kann ein Beispiel aus Philos Kommentierung der alttestamentlichen Einzelgesetze lehren, und zwar seine allegorische Interpretation von Lev 2 1 , 1 7 f f . ( = SpecLeg I, 80-81). Deralttestamentliche Text ordnet an, daß kein in irgendeiner Form körperlich oder geistig Versehrter Gott als Priester nahen darf. Philos Kommentar dazu lautet: „Die Gesetze für die Priester sind folgende. Es ist geboten, daß der Priester vollkommen und unversehrt sein muß, ohne irgendeinen Schaden an seinem Körper zu haben, weder einen Mangel durch das Fehlen oder die Verstümmelung eines Gliedes noch etwas Überschüssiges, gleich ob von Geburt an oder später durch Krankheit erworben; auch darf seine Haut nicht entstellt sein mit Aussatz oder bösartigen Ekzemen oder Warzen oder anderen geschwürartigen Ausschlägen. Alle diese Vorschriften scheinen mir Symbole für die Vollkommenheit der Seele zu sein. Denn wenn der von Natur sterbliche Leib des Priesters geprüft werden muß, damit er durch keinerlei Mißgeschick verunstaltet sei, wieviel mehr die unsterbliche Seele, von der es heißt, daß sie nach dem Abbild des Seienden geprägt ist. Das Abbild Gottes aber ist der Logos, durch ihn ist der ganze Kosmos geschaffen."

Die Auslegungsmethode des Überschritts über den Wortsinn der biblischen Aussagen hinaus in die Dimension der geistlichen Bedeutungsschichten ist bei Philo genau dieselbe, die wir bei Paulus in Gal 4,21 ff. finden. Paulus hat das allegorische Auslegungsverfahren offenkundig in der Diasporasynagoge kennengelernt und dementsprechend von ihm Gebrauch gemacht. So problematisch und willkürlich uns heute diese exegetische Methode auch erscheinen mag, wir sollten sehen, daß sich in ihr eine doppelte Interpretationserfahrung niederschlägt, die für jeden Exegeten von Bedeutung ist. Die Erfahrung nämlich, daß sich der Sinn und das Gewicht eines Textes nicht allein an der Absicht bemessen lassen, die der Autor bei seiner Abfassung mit ihm verband, und gleichzeitig die Erkenntnis, daß einen Text einleuchtend zu interpretieren mehr heißt, als seinen philologischen Wortsinn zu klären. Sieht man die Dinge so, kann man die (paulinische) Allegorese, ohne sie für wiederholbar zu erklären, begreifen als Herausforderung zu einem ganzheitlichen Schriftverständnis nach dem Maßstab unserer Zeit. Kehren wir noch einen Moment lang zu Paulus zurück, läßt sich nach alledem

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Aufbruch und Grundlegung christlichen Schriftverständnisses

sehen und sagen, daß die urchristliche Schriftauslegung mit dem Apostel zu eigenem hermeneutischem Bewußtsein kommt und dabei Methoden folgt, die nach dem Bewußtsein der. Zeit als geistig gültig und sogar akademisch diskutabel galten. 4. Die „Erfüllungszitate " bei Matthäus Das junge Missionschristentum hat sich die Dimensionen, in denen Jesu Sendung und Werk zu verstehen sind, von den hl. Schriften her vorgeben lassen und auch umgekehrt von Jesu Werk und Weg her neue Perspektiven für die Deutung des Alten Testaments gewonnen. Beides wird aufs schönste (und wirkungsgeschichtlich ungemein folgenreich) durch die sog. „Erfüllungszitate" dokumentiert, die das Matthäusevangelium von Anfang bis zum Schluß durchziehen (vgl. Mt 1,22f.; 2,15.17f.23; 4,14-16; 8,17; 12,18-21; 13,35; 21,4f. und 27,9). Sie verdanken ihre Bezeichnung der Wendung: „auf daß erfüllt werde, was durch den Propheten... gesagt wurde, der da spricht...". Diese Wendung berührt sich mit 2.Chron 36,21, faßt aber die geschichtliche Verwirklichung der prophetischen Botschaft in Jesus und seiner Geschichte in den Blick; was Paulus in 2.Kor 1,20 thesenartig sagt, wird in den Erfüllungszitaten plastisch entfaltet. Da das Matthäusevangelium eine Reihe dieser Zitate in den Markusstoff einfügt (vgl. 8,17; 12,18-21; 13,35; 21,4f.), sie aber auch schon (mit seinem sog. Sondergut) übernimmt, sind sie für die in die Schrift „gefaßte" urchristliche Sicht der Geschichte Jesu allgemein charakteristisch. Daß diese Geschichte dabei nicht nur den Schlüssel zum Schriftverständnis bot, sondern auch dem alttestamentlichen Zeugnis nachgezeichnet wurde, dokumentiert das berühmte Beispiel Mt 21,4 f. 7: Jesus reitet in Jerusalem ein auf der Eselin und ihrem Füllen. In den Erfüllungszitaten äußert sich schriftgelehrte Schau und Reflexion des Urchristentums. Dabei stehen ζ. T. der hebräische und der griechische Text der Schriften gleichzeitig vor Augen und werden interpretierend zu neuen Textversionen verbunden (vgl. Mt 27,9 mit Sach 11,13 und Jer 32,7 ff.; 18,2 ff.). Damit wird aber nicht etwa der alttestamentliche Text christlich verfälscht, sondern — jedenfalls der Intention nach — die in ihm beschlossene Wahrheit ans Licht gebracht (Hanhart). Daß diese Form der Exegese schon bei dem Matthäus gegenüberstehenden (synagogalen) Judentum auf Skepsis und Ablehnung stieß, belegt Mt 23,34. Die matthäischen Erfüllungszitate stehen deshalb unter dem Vorbehalt, daß mit der Frage nach der Messianität Jesu auch der (christologische) Sinn der Schriften zwischen Juden und Christen (bis heute) umstritten geblieben ist. 5. Das Schriftverständnis

des

Johannesevangeliums

Wenn wir zum Johannesevangelium hinüberschauen, läßt sich das gewonnene Bild noch ergänzen. In dem hinter diesem Evangelium stehenden Schülerkreis des Lieblingsjüngers Jesu wird das Alte Testament nicht nur als ein auf

Ansätze zu einer kirchlichen Hermeneutik im Neuen Testament

75

Christus verweisendes Gotteszeugnis verstanden (Joh 5,39) und typologisch interpretiert wie bei Paulus auch. Im Johannesevangelium wird Jesus so dargestellt, daß er die berühmte Selbstvorstellungsformel Gottes, die uns aus Dt 3 2 , 3 9 ( = „Seht jetzt, daß ich es bin, nur ich, und kein Gott sonst bei mir") oder Jes 4 1 , 4 ; 4 3 , 2 5 ; 4 5 , 1 8 u.ö. bekannt ist, auf sich selbst anwendet: Jesus spricht bei Johannes mit Gottes eigenem, aus dem Alten Testament heraus bekannten Offenbarungswort: „Wenn ihr nicht glaubt, daß ich es bin, werdet ihr in euren Sünden sterben" (Joh 8,24; vgl. 8,28 und 13,19). Nach dem Prolog des 4. Evangeliums ( = Joh 1,1-18) erscheint Jesus als der präexistente Logos, das Schöpferwort Gottes, das das All lebenschaffend durchdringt. Im Hintergrund des Textes stehen die Schöpfungsgeschichte von Gen 1,1 ff. und die großen Weisheitstexte aus Spr 8,22 ff., Sir 2 4 und Weish 7,22-9,19. Christus als der Logos ist deshalb auch die Schöpferweisheit Gottes in Person, die vor aller Zeit der Welt Gestalt und Leben gab, in Christus Mensch geworden ist und als dieser Mensch in Israel Wohnung genommen hat. Hier wurde sie von den Ungläubigen verstoßen und von den Glaubenden anerkannt, die in Jesus, dem Wort Gottes in Person, nunmehr die das Gesetz des Mose noch überbietende Vollendung aller Offenbarung und Weisheit Gottes erkennen. Von Jesus, dem Logos her, erschließt sich die Geschichte der Offenbarung und die Zielsetzung der Schöpfung. Uns stehen damit die Möglichkeiten der aus dem Neuen Testament heraus aufbrechenden ur- und frühchristlichen Schriftauslegung von Jesus über Paulus bis hin zum Matthäus- und Johannesevangelium vor Augen. Es ist ausgesprochen lehrreich festzustellen, daß diese Möglichkeiten im zweiten Timotheusund Petrusbrief bereits zu einem ersten Entwurf „kirchlicher" Hermeneutik gebündelt und (im Ansatz) auf neutestamentliche Schriften ausgedehnt werden.

6. Ansätze zu einer kirchlichen Hermeneutik

im Neuen

Testament

Erinnern wir uns jetzt der in den Pastoralbriefen und im 2.Petrusbrief geführten Auseinandersetzungen mit wahrscheinlich christlich-gnostischen Irrlehrern (s. o. S . 5 3 ff.). Wenn diese „Mythen und endlosen Geschlechterreihen nachhängen" ( l . T i m 1,4), „Gegensätze aufrichten" (l.Tim 6,20), die Ansicht vertreten, „die Auferstehung sei schon geschehen" (2.Tim 2,18), Hauptaussagen der Paulusbriefe „verdrehen" (2.Petr 3,16) und das angestammte christologische Verständnis von Ps 2 , 7 ; Jes 42,1 (vgl. mit M t 17,5) für „ausgeklügelte Mythen" erklären (2.Petr 1,16), haben wir genau das Bild des christlichen Gnostizismus vor Augen, der im 2. J h . die biblischen Urgeschichten ( = Gen 1-6) benutzte, um den Schöpfergott und sein Werk gegenüber dem Offenbarer der geistlichen Erlösung zu diffamieren, unter Berufung auf l . K o r 2 , 6 - 1 6 (!) Paulus zum Kronzeugen des gnostischen Evangeliums zu machen, „das kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat", und von (deutero-)paulinischen (Tauf-)Aussagen wie 2.Kor 5 , 1 7 ; Kol l , 1 2 f f . ; 2 , 1 2 ; Eph 2,6 her ihre Ansicht von der

76

Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

geistigen Wiedergeburt und Auferstehung schon in der Gegenwart abzuleiten. Die hermeneutische Gegenthese, die in 2.Tim 3,14-17 und 2.Petr 1,16-21 aufgestellt wird, lautet: Die inspirierte Schrift (mit Einschluß der Paulusbriefe!) wird ohne eigenmächtige Eintragungen und Spekulation nur im Geist der apostolischen Glaubenstradition ausgelegt, und zwar von den (durch die Apostel) durch Handauflegung (2.Tim 1,6) zu Lehrern und Hütern der Tradition bestellten Presbytern und Episkopen. Damit ist in den Spätschriften des Neuen Testaments bereits jenes hermeneutische Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Glaubenstradition und Kirche (in Gestalt von ordinierten Amtsträgern) aufweisbar, von dem die Alte Kirche ausgeht und das bis heute in der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche bestimmend geblieben ist. Seine Hauptintention besteht darin, eine Schriftauslegung zu gewährleisten, die wirklich dem Geist des (Christus-)Glaubens entspricht, in dem die Schrift verfaßt worden ist. Wenn die Gewichte in diesem Geviert eindeutig zugunsten der Schrift bestimmt sind, hat auch der Protestantismus keinen Grund, dieses Geviert zu mißachten.

§ 6 Grundprobleme und Leitlinien kirchlicher Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit Wenn es gilt, die Grundprobleme und Leitlinien der kirchlichen Interpretation der Schrift vom 2. Jh. bis hin zur Reformationszeit darzustellen, müssen wir uns zuerst die Ausgangsbasis dieser Interpretation verdeutlichen.

1. Die Ausgangsbasis der altkirchlichen

Schriftauslegung

Zu einer eigenständig-christlichen Auslegung des Alten Testaments ist das frühe Christentum geführt worden, weil es vom Judentum zwar die wesentlichen methodischen Auslegungsprinzipien, nicht aber das jüdische, auf die Tora konzentrierte Verständnis des Alten Testaments übernehmen konnte. Justin der Märtyrer, aus Sichern stammend und zuerst platonischer Wanderphilosoph, hatte nach seiner Bekehrung zum Christentum in Rom eine christliche Theologenschule gegründet. 165 n.Chr. wurde er in Rom als Christ enthauptet. Seine Schriften gelten der Verteidigung und Begründung des christlichen Glaubens gegenüber heidnischer und jüdischer Kritik. Etwa in der Mitte des 2. Jahrhunderts kann er in seinem apologetischen „Dialog mit dem Juden Tryphon" die christlichen Möglichkeiten zum Verständnis des Alten Testaments behältlich in folgenden zwei Punkten zusammenfassen: 1. Das jüdische Verständnis des Alten Testaments, das auf Einhaltung der Tora sowie die Beschneidung drängt und im Zeichen einer noch uneingelösten Messiaserwartung steht, ist irrig und von Gott in Christus überboten worden. 2. Christlicher-

Die Ausgangsbasis der altkirchlichen Schriftauslegung

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seits ist i m A l t e n T e s t a m e n t zu u n t e r s c h e i d e n : a) z w i s c h e n den allgemein gültigen, zu G o t t e s f u r c h t u n d F r ö m m i g k e i t erziehenden sittlichen G e b o t e n ; b) den d u r c h Allegorese aufzuschlüsselnden a l t t e s t a m e n t l i c h e n W e i s s a g u n g e n auf C h r i s t u s u n d c) den n u r den J u d e n u m ihrer B e s o n d e r h e i t u n d H e r z e n s h ä r t i g k e i t willen g e g e b e n e n A n w e i s u n g e n . In J u s t i n s eigener F o r m u l i e r u n g (Dial 4 4 , 1 - 4 ) : „ . . . Ihr täuscht euch, wenn ihr meint, daß ihr, weil ihr dem Fleische nach von Abraham abstammt, auf jeden Fall das Gute erben werdet, das Gott durch Christus zu geben versprochen hat. (2) Niemand kann nämlich etwas davon irgendwo bekommen, ausgenommen diejenigen, welche in ihrer Gesinnung dem gläubigen Abraham ähnlich geworden sind und alle Geheimnisse erkannt haben, das heißt, welche erkannt haben, daß die einen Vorschriften erlassen worden waren, um zu Gottesfurcht und rechtem Handeln zu erziehen, daß andere Gebote und Übungen wiederum verordnet worden waren, um geheimnisvoll auf Christus hinzuweisen, oder weil sie durch die Hartherzigkeit eures Volkes veranlaßt worden s i n d . . . ( 3 ) . . . (4) Daher müßt ihr diese Hoffnung eurer Seele beschneiden und euch bemühen um die Erkenntnis des Weges, auf welchem euch die Sünden werden vergeben werden und ihr das Erbe der verheißenen Güter erhoffen dürft. Diesen Weg geht ihr aber nur dann, wenn ihr eben diesen (unseren) Christus anerkennt, euch mit dem durch Jesaja verkündeten, Vergebung der Sünden wirkenden Bade reinigen lasset [gemeint ist die Taufe, die Justin in Jes 1 , 1 6 . 1 8 angeordnet sieht, vgl. Dial 1 3 , 1 ; P.St.] und fortan ohne Sünden l e b t " . Die christliche A u s l e g u n g des Alten T e s t a m e n t s ist d o r t , w o sie m e t h o d i s c h b e w u ß t angelegt u n d v o r g e t r a g e n w u r d e , ein geistig a n s p r u c h s v o l l e s U n t e r n e h m e n geschulter frühchristlicher L e h r e r gewesen, wie m a n a m Beispiel J u s t i n s d. M ä r t y r e r s s o g a r b i o g r a p h i s c h belegen k a n n . D e r O r t , d a m a n frühchristlich die d e m C h r i s t u s - L o g o s g e m ä ß e A u s l e g u n g der Schrift pflegen k o n n t e , w a r e n neben den T h e o l o g e n s c h u l e n , w i e J u s t i n selbst eine in R o m unterhielt, v o r allem die gottesdienstlichen Z u s a m m e n k ü n f t e der G e m e i n d e . Die v o n uns bisher i m m e r w i e d e r e r w ä h n t e Einheit v o n Schrift, Schriftauslegung u n d G e m e i n d e l ä ß t sich bei Justin g a n z plastisch illustrieren, w e n n w i r a n seine b e r ü h m t e Schilderung eines s o n n t ä g l i c h e n G o t t e s d i e n s t e s d e n k e n , w i e er sie in seiner A p o l o g i e I 6 7 , 3 - 5 gegeben h a t ; es heißt d o r t : „ . . . (3) An dem Tage, der der Sonntag genannt wird, findet eine Versammlung aller derer statt, die in der Stadt oder auf dem Lande wohnen, und es werden dabei die ,Erinnerungen der Apostel' verlesen oder die Schriften der Propheten, so lange die Zeit reicht. (4) Dann, wenn der Vorleser geendet hat, gibt der Vorsteher in einer Ansprache die Ermahnung und Nutzanwendung des in Erinnerung gerufenen Guten. (5) Danach stehen wir alle auf und beten gemeinsam; und wenn w i r . . . mit dem Gebet zu Ende sind, dann werden Brot und Wein und Wasser herbeigebracht, und der Vorsteher spricht, je nach seinem Vermögen, Gebete und Danksagungen; das Volk aber respondiert mit ,Amen'. Dann folgt die Austeilung dessen, wofür Dank gesagt wurde, an jeden einzelnen. Denen aber, die nicht anwesend sind, wird es durch die Diakonen z u g e s a n d t . . . " (vgl. Beyschlag, a . a . O . , 1 , 3 3 ) . Dieser B e r i c h t aus der M i t t e des 2 . J h . s ist für uns deshalb s o interessant, weil er uns zeigt, wie in den frühchristlichen G o t t e s d i e n s t e n nicht m e h r n u r das Alte T e s t a m e n t ausgelegt w i r d , s o n d e r n wie n u n m e h r a u c h die Schriften des N e u e n

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Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

Testaments verlesen und mitausgelegt werden. Die von Justin erwähnten „Erinnerungen der Apostel" sind aller Wahrscheinlichkeit nach die Evangelien (oder eine Evangelienharmonie). Der von Justin bezeugten Auslegung der Evangelien entspricht die uns aus dem 2. Petrusbrief bekannte Interpretation der Paulusbriefe nach kirchlichen Gesichtspunkten. Unbeschadet der Tatsache, daß sich die hermeneutischen Grundregeln der frühchristlichen Schriftauslegung vor allem am Alten Testament ausgebildet haben, wird die christliche Schriftauslegung in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts also auch schon auf die neutestamentlichen Bücher ausgedehnt. Zur Ausbildung eines gesamtbiblischen Kanons ist es demnach in der Alten Kirche gekommen, weil Schriftenbestand und Wortlaut des von der Synagoge übernommenen Alten Testaments nunmehr der kirchlichen Fixierung bedurften, zumal seine christliche Geltung durch Markion in Frage gestellt war. Gleichzeitig mußte man das gottesdienstlich gebräuchliche neutestamentliche Schriftengut gegen sekundäre Uberwucherungen und gnostische Fehldeutungen in Schutz nehmen. Die Anfänge christlicher Schriftauslegung und die Abgrenzung des Kanons aus Altem und Neuem Testament stehen also unter dem doppelten Vorzeichen, aktuellen Gemeinde- und Missionsbedürfnissen dienen und die Gemeinden vor häretischer Überfremdung schützen zu sollen.

2. Die allegorische Schriftauslegung

der Gnostiker

Führt man sich all dies vor Augen, wird die Tatsache leichter verständlich, daß nicht nur die dem Alten Testament, sondern auch die dem Neuen Testament geltende kirchliche Schriftauslegung unter dem Druck der Häresie weiter ausgeformt worden ist. Diese Häresie wird im 2. und 3. Jahrhundert vor allem durch jene christlichen Gruppierungen gebildet, die sich nicht einfach im Stil von l.Klem 42,1-5 auf die apostolische Tradition beriefen, sondern sich durch eine esoterische Interpretationsweise ihrer Tradition und Lehre zu versichern suchten. Dies waren in allererster Linie die esoterischen gnostischen Schulen (des Basilides, des Valentin μ-a.), von denen wir schon mehrfach gesprochen haben (vgl. S. 3 9 f . 44). Diese Gnostiker sind die ersten „Christen", die neben ihrer spekulativen Ausdeutung der biblischen Urgeschichten eine ganz gezielte Interpretation der neutestamentlichen Bücher betreiben, und zwar können sie dies um so leichter, als ihnen die Allegorese die Möglichkeit gibt, die (alt- und) neutestamentlichen Texte als Verschlüsselungen ihres eigenen gnostischen Offenbarungswissens zu betrachten. Mit Hilfe der Allegorese und ihres Fundaments, der Lehre vom doppelten Schriftsinn, ließ sich aus den Bibeltexten heraus sowohl das gnostische System einer (dualistischen) Weltentstehung entwickeln wie vor allem die Christusgestalt als Erlöser in diese Kosmogonie einfügen. Die Polemik der Pastoralbriefe gegen „die fälschlich so genannte Gnosis" (l.Tim 6,20) und den Protest des 2. Petrusbriefes gegen eine eigenmächtige und „verdrehte" Paulusinterpretation (2.Petr 3,16) kennen wir schon. Die Sorge der

Die Bedeutung des Origenes für die christliche Schriftauslegung

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Alten Kirche um die Evangelien wird verstehbar, wenn wir z.B. die typisch doketische ( = auf Schein beruhende) Passionsinterpretation des Basilides beachten, die Irenaus folgendermaßen zusammenfaßt (Adv.Haer. 124,4): „Darum habe Jesus auch nicht gelitten, sondern ein gewisser Simon von Kyrene, der gezwungen wurde, für ihn das Kreuz zu tragen (Mark 1 5 , 2 1 parr.). Den hätten sie unwissentlich und irrtümlich gekreuzigt, nachdem (Jesus) ihn verwandelt hätte, so daß man ihn für Jesus hielt. Jesus aber habe Simons Gestalt angenommen und dabeigestanden und jene verlacht" (Beyschlag, a . a . O . I, 68).

Für die gnostische Kosmogonie schließlich war auch der Prolog des Johannesevangeliums ein attraktiver Beleg, weil man in seine Eingangszeilen die ganze pessimistische Weltentstehungslehre hineinlesen konnte, die für den christlichen Gnostizismus so charakteristisch ist. Der erste Johannes-Kommentar auf christlichem Boden, der Kommentar des Valentinianers Herakleon, ist dafür ein besonders charakteristischer und folgenreicher Beleg. Folgenreich deshalb, weil es u.a. dieser Kommentar gewesen ist, der zu Beginn des 3.Jh.s Origenes dazu ausholen ließ, der Kirche ein umfassendes Lehrsystem, verläßliche Bibeltexte und eine Auslegungsauffassung zu erarbeiten, mit deren Hilfe sie sich der gnostischen Verfremdung erwehren und zu einem eigenen Konzept von Schriftauslegung aufraffen konnte. 3. Die Bedeutung des Origenes für die christliche

Schriftauslegung

Origenes war eine der überragendsten geistigen Gestalten der Alten Kirche. In unserem Zusammenhang ist er als bahnbrechender Textforscher, Exeget und Systemtheologe zu erwähnen, obwohl sein dogmatisches System der Kirche vom Ende des 4. Jh.s an unzureichend erschien und schließlich sogar verurteilt wurde. Origenes ist eine jener hochgebildeten Lehrerpersönlichkeiten gewesen, denen wir die Ausbildung einer methodischen christlichen Schriftauslegung verdanken. Er wurde 185/186 n.Chr. in Alexandrien geboren und dort bereits mit 18 Jahren, d.h. im Jahre 203, zum Lehrer an der christlichen Katechetenschule bestellt. Er blieb in dieser Position bis zum Jahre 215, als er in Alexandrien seine eigene theologische Schule begründete. Von seinem Bischof 230 aus Alexandrien vertrieben, gründete er eine zweite solche Schule in Cäsarea, wurde unter dem römischen Kaiser Decius (249-251 n. Chr.) eingekerkert und ist 254 in Tyrus an den Folgen der während der Haft erlittenen Foltern gestorben. Origenes, dem selbst seine heidnischen Gegner eine profunde Kenntnis der antiken Philosophie und der hellenistischen Auslegungskunst bescheinigten (vgl. u.S. 92f.), unterschied sich von den Gnostikern durch seinen kirchlichen Glauben und vor allem durch die Weite seiner Bildung. Er ist darin kirchlicher Theologe, daß er „nur das als Wahrheit zu glauben" rät, „was mit der kirchlichen und apostolischen Tradition in keinem Widerspruch steht" (De princ., prooem. 2). Seine systematische Leistung besteht darin, daß er, von diesem Grundsatz ausgehend, ein von Piaton inspiriertes Weltsystem entwarf, das umfassender und vor allem schöpfungsfreundlicher war als alle weltverneinen-

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Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

den gnostisch-mythologischen Kosmogonien. Gleichzeitig nahm Origenes die Herausforderung durch die gnostischen Exegeten (und die jüdischen Kontrahenten christlicher Schriftauslegung) auf philologischem Gebiet an. Um den Christen für ihre Auseinandersetzungen mit der Synagoge einen zuverlässigen Text des Alten Testaments zu verschaffen, schuf Origenes zwischen 230 und 240 die sog. Hexapla. Das Riesenwerk war philologisch nach den Grundsätzen der alexandrinischen Akademie gearbeitet. Es stellte in sechs Kolumnen den hebräischen Text, den hebräischen Text in griechischer Umschrift, die Übersetzungen und Versionen des Aquila, Symmachus und Theodotion und (in der 5. Kolumne) die (im Text verbesserte) Septuaginta nebeneinander. Hauptziel des Unternehmens war es, den Septuaginta-Text nach dem hebräischen Original zu präzisieren (und zu ergänzen). Knüpft Origenes schon in seiner Arbeit am Bibeltext an die alexandrinischphilologische Wissenschaftstradition an, tut er dies in seinen eigentlichen Exegesen erst recht. Er schafft eigene umfangreiche Kommentare zu alt- und neutestamentlichen Büchern, darunter den für den von Origenes bekehrten Gnostiker Ambrosius verfaßten berühmten Johanneskommentar. In diesem Kommentar zum Johannesevangelium setzt sich Origenes immer wieder mit der schon erwähnten gnostischen Johannesinterpretation des Herakleon auseinander (so daß diese für uns aus den von Origenes gegebenen Zitaten rekonstruierbar wird). Wie Herakleon auch, bedient sich Origenes der allegorischen Interpretationsmethode. Was ihn von seinem Gegner trennt, ist der Umstand, daß er die Allegorese entschlossen mit der apostolischen Lehre und der kirchlichen Auffassung von der Schriftinspiration verbindet. Eben dadurch ist Origenes zum Begründer der kirchlich-exegetischen Wissenschaft geworden. Erinnern wir uns: Die Allegorese war auf griechischem Boden entwickelt worden als ein exegetisches Entschlüsselungsverfahren, mit dessen Hilfe man den von den antiken Dichtern, Homer voran, in ihre Texte geheimnisvoll eingewobenen Logos entdecken und zur Erscheinung bringen konnte. Schon das hellenistische Judentum (und Paulus) hatten sich die Allegorese zu eigen machen können, weil sie den zu entschlüsselnden Logos mit dem die Schrift erfüllenden Geist Gottes bzw. mit Christus identifizierten. Origenes geht noch einen entscheidenden Schritt weiter und erhebt die Allegorese zum christlichen Auslegungsverfahren schlechthin. In der Vorrede zu seinem dogmatischen Hauptwerk Pert Archön (De principiis = Uber die Hauptlehren des Christentums) argumentiert er folgendermaßen: Der hl. Geist spricht durch die Propheten des Alten Testaments und die apostolischen Autoren des Neuen. Die von den Bischöfen geleitete Kirche partizipiert kraft der apostolischen Sukzession (nach welcher auf die Apostel die Apostelschüler und auf diese wiederum die Bischöfe in der Leitung der Gemeinden folgen) in ihrer Lehre und Verkündigung an der inspirierten apostolischen Tradition. Schrift, Tradition und Kirche werden also gemeinsam vom hl. Geist getragen. Dementsprechend ist es geboten, die Texte der Schrift unter Orientierung an der kirchlichen Tradition auf das ihnen innewohnende Geistzeugnis hin zu interpretieren. Da die sich für eine derartige geistliche Tiefendeutung der Schrift einzig sinnvoll anbietende Metho-

D i e B e d e u t u n g des O r i g e n e s für die christliche S c h r i f t a u s l e g u n g

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de die Allegorese ist, wird sie für Origenes zum eigentlich sachgemäßen (d. h. dem Geist sowohl wie den inspirierten Texten entsprechenden) Auslegungsverfahren, mit dessen Hilfe dargelegt werden kann, daß die hl. Schrift und die Lehre der Kirche einen unüberbietbaren Wahrheitszusammenhang darstellen. Die Kirche lehrt, schreibt Origenes (De princ., prooem. 8): „ . . . d a ß die (heiligen) Schriften durch den heiligen Geist geschrieben sind und (darum) nicht nur einen o f f e n k u n d i g e n (d. h. wörtlichen) Sinn haben, sondern noch einen anderen, (nämlich allegorischen), der den meisten verborgen ist. D a s , w a s (offenkundig) geschrieben steht, sind nämlich (nur) Andeutungen von heiligen Geheimnissen und Abbilder göttlicher Dinge. D a r ü b e r , d a ß d a s ganze Gesetz geistlich (zu verstehen) sei, gibt es in der ganzen Kirche nur eine M e i n u n g , dagegen ist d a s , w a s d a s Gesetz (eigentlich) meint ( . . . ) , nicht allen, sondern nur einzelnen bekannt, denen die G n a d e des heiligen Geistes im W o r t der Wissenschaft und der Weisheit verliehen i s t " (Beyschlag, a . a . O . 11,44).

Damit war gegenüber dem Gnostizismus eine biblisch fundierte, wirksame hermeneutische Entscheidung getroffen: Die inspirierte hl. Schrift läßt sich nach Origenes nur von solchen Auslegern sachgemäß auslegen, die kraft ihrer Taufe und ihres an der kirchlichen Lehre orientierten Glaubens am Wort und Geist der Schrift teilhaben. Aber es handelt sich um noch mehr als ein bloßes Schutzprinzip. Mit Hilfe der von Origenes endgültig für die kirchliche Exegese reklamierten Allegorese konnte die hl. Schrift so ausgelegt und vergegenwärtigt werden, daß die Auslegung sowohl in ihrer Methode als auch in ihren Ergebnissen dem philosophisch an Piaton orientierten (spät-) antiken Wahrheitsbewußtsein entsprach. Kirchliche Exegese nach dem von Origenes aufgestellten Maßstab war m. a.W. wissenschaftlich diskutierbar und missionarisch ebenso ansprechend wie soteriologisch treffend. Man erkennt dies sofort, wenn man bedenkt, daß die methodische Legitimität der Allegorese weder von heidnisch-philosophischer, noch von jüdischer, gnostischer oder kirchlicher Seite aus bestritten wurde. Bei der Allegorese handelt es sich vielmehr um eine in der Spätantike allgemein anerkannte wissenschaftliche Auslegungsmethode. Die von Origenes exemplarisch ausgebildete kirchliche Schriftauslegung hat es m . a . W . gewagt, ihre Ergebnisse in kritischer Zeitgenossenschaft und in bewußter Partizipation am Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis ihrer Zeit zu erarbeiten und zu formulieren. Sie ist dadurch in die Lage versetzt worden, so zu argumentieren, daß ihre Aussagen alle in der Spätantike relevanten Lebensbereiche betrafen. Man kann eben dies noch einmal an Origenes selbst beobachten. Er hat die der Allegorese zugrundeliegende Annahme eines doppelten Schriftsinnes (nämlich eines wörtlichen und eines geistlich-übertragenen Sinnes) zur Lehre von einem dreifachen Schriftsinn aufgefächert. Er hat dies deshalb getan, weil nach platonischer Anthropologie am Menschen Leib, Seele und Geist zu unterscheiden sind und keine dieser Seinsstufen von Gottes Offenbarung ausgenommen werden darf. Das Streben nach umfassender, ganzheitlicher Entfaltung der Offenbarung führt also zu einer hermeneutischen Weiterung in bezug auf

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Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

das Text- und Schriftverständnis. In der Formulierung des Origenes selbst (De princ. IV 2,4): „ . . . (man muß) den Sinn der heiligen Schriften dreifach in sein Bewußtsein schreiben, dergestalt, daß der Einfältige sozusagen vom ,Fleische' der Schrift erbaut wird - so nennen wir den nächstliegenden (d.h. den buchstäblichen) Sinn - der einigermaßen Fortgeschrittene aber gleichsam an ihrer ,Seele' (d.h. an dem moralischen Sinn), der Vollkommene aber, der denen gleich ist, von denen der Apostel sagt: ,Weisheit aber reden wir zu den Vollkommenen...' (1 .Kor 2,6 f.) - (wird sich) an dem geistigen Gesetz (erbauen)..., das den Schatten der zukünftigen Güter hat (Hebr 10,1). Denn wie der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht, ebenso auch die zum Heil der Menschen von Gott eingerichtete Schrift" (Beyschlag a. a. Ο. II, 52).

Wünscht man ein Beispiel, kann man auf die in drei Stufen aufsteigende Interpretation von Joh 2,13 im Johanneskommentar des Origenes verweisen. Origenes äußert sich dort (Buch 10,13-18) 1. zum Wortsinn des Verses „Das Passah der Juden war n a h e . . . " -und spricht vom alttestamentlich-jüdischen Passahritus und -fest, 2. zum psychischen Wortsinn, indem er christologisch auf Christus als das für uns geschlachtete Passahlamm eingeht (vgl. l.Kor 5,7), und 3. zum pneumatischen Sinn des Passah als der dereinst mit den Engeln gemeinsam zu haltenden Mahlgemeinschaft der Seligen. Trotz der späteren Verurteilung seines dogmatischen Systems hat die Schriftauslegung des Origenes Schule gemacht für mehr als ein Jahrtausend. Origenes ist für Hieronymus ebenso wie für Ambrosius von Mailand und Augustin das große Vorbild des Schriftforschers und Exegeten gewesen, und er hat in der Rezeption seiner hermeneutischen Grundthesen durch diese drei großen Lateiner die mittelalterliche Exegese bestimmt bis zur Reformationszeit. 4. Die Antiochenische

Schule

Das Gegenstück und in gewissem Sinne auch den Widerpart zur Allegorese im Stil des Origenes bildet die sog. Antiochenische Schule. Unter diesem Sammelbegriff faßt man die exegetischen und theologischen Absichten einiger berühmter Theologen des Ostens zusammen. Begründet wurde die Schule durch den aus Samosata gebürtigen Priester Lukian. Er hat in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts in Antiochien am Orontes eine theologische Schule eröffnet. Lukian hat sich ähnlich wie Origenes um die Revision der Septuaginta und des neutestamentlichen Textes bemüht und mit dieser historisch-philologischen Arbeit der exegetischen Arbeit der Antiochener den Weg gewiesen. Ihr geht es vor allem anderen um die kritische Sichtung des Textes und die historische Erhellung des Wortsinnes der Schrift. Mit dieser Konzentration auf Philologie und Literalsinn der Bibel ist eine Zurückhaltung gegenüber der alexandrinischen Allegorese gegeben, welche die Antiochener zu Antipoden der Origenes verpflichteten Exegeten macht. Lukian starb 312 den Märtyrertod. Ihren eigentlichen Höhepunkt erreichte die Antiochenische Schule mit Diodor von Tarsus. Diodor hat längere Zeit als theologischer Lehrer in Antio-

D a s hermeneutische Konzept Tertullians

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chien gewirkt, wurde 378 Bischof von Tarsus und ist noch vor 394 gestorben. Seine Schriftkommentare zeichnen sich durch ihre historisch-philologische Stoßrichtung aus, die ihn sehr genau auf den biblischen Wortlaut, den Textzusammenhang, biblische Parallelen sowie den zeitgeschichtlichen Rahmen achten und eher zur Typologie als zur Allegorese greifen läßt. Zu den Schülern Diodors gehören so berühmte Theologen und Homileten wie Theodor von Mopsuestia (gest. 428) und Johannes Chrysostomus (354-^407). Die Antiochenische Schule hat sich gegenüber Origenes und den Alexandrinern auf die Dauer aus zwei Gründen nicht durchsetzen können. In den christologischen Streitigkeiten des vierten und fünften Jahrhunderts gelang es ihr nicht, eine vollgültige Erlösungslehre zu formulieren, und ihre Schriftexegese blieb gegenüber der alle Lebensbereiche durchdringenden Allegorese eben deshalb partikular, weil sie vorwiegend historisch ausgerichtet war. Die Zukunft gehörte einem ganzheitlichen Auslegungsverfahren nach alexandrinischem Vorbild.

5. Das hermeneutische

Konzept

Tertullians

Nachdem uns von Origenes und den Antiochenern her das altkirchliche Ringen um die der Bibel angemessene Auslegungsweise vor Augen steht, ist jetzt näher auf die Frage einzugehen, wie es dieser kirchlichen Schriftauslegung gelungen ist, über Hunderte von Jahren hinweg ihre kirchliche Kontinuität und Einheit zu bewahren. Wir haben die diese Kontinuität und Einheit gewährleistende Rahmengebung in Gestalt der sog. Glaubensregel und des gesamtkatholischen Traditions- und Lehrbegriffs (vgl. o. S. 41 f. u. 59 f.) zwar schon einige Male gestreift und haben betont, Origenes sei bei seinen Auslegungen von der biblisch und kirchlich abgesicherten Annahme ausgegangen, eine dem geistlichen Charakter der hl. Schrift in Wahrheit angemessene Schriftinterpretation sei nur im Rahmen der Partizipation am Glauben und Geist der Kirche möglich (vgl. S. 79ff.). Nun aber ist ausdrücklich des Mannes zu gedenken, der, von Irenäus herkommend, eben diesen Rahmen geschichtlich am wirkungsvollsten konzipiert und geprägt hat. Es handelt sich um den aus Karthago gebürtigen Juristen und Rhetor Tertullian (ca. 150-223). Tertullian ist um 207 zum Montanismus übergetreten. In seiner um 200 entstandenen antihäretischen Kampfschrift „De praescriptione haereticorum" (= Von der Prozeßeinrede gegen die Häretiker) hat er vorher noch die theologische Basis für die biblische Exegese geschaffen, die bis zur Reformationszeit unerschüttert geblieben ist. Tertullian war nicht entfernt so gebildet wie sein jüngerer Zeitgenosse Origenes. Ihm ging auch als einem typischen Lateiner das spekulative Vermögen des Alexandriners ab, und er konnte dementsprechend den gnostischen Lehrern auf ihrem eigenen exegetischen Terrain nicht wirksam entgegentreten. Aber einen hermeneutischen Umstand hat Tertullian dennoch mit juristischer Präzision gesehen und durchdacht, daß nämlich die allegorische Auslegungsmethode als solche noch keine in ihren Ergebnissen eindeutige Textauslegung gewährleistet. Im Gegenteil, die

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Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

Allegorese der Bibeltexte führt zu einer Pluralität und Konkurrenz von Auslegungsmeinungen, die verwirrend ist. Diese Konkurrenz wird dann ausgesprochen gefährlich, wenn sich, wie im Fall des Kampfes der bischöflichen Gemeinden mit den gnostischen Schulen, die Kontrahenten auf dieselben Texte berufen und derselben Methode befleißigen. Tertullian erkennt m. a. W., daß eine wissenschaftlich diskutable Bibelexegese für die Kirche ebenso abträglich wie zuträglich sein kann, und er bemüht sich dementsprechend, Leitlinien für eine der Kirche zuträgliche und förderliche Schriftauslegung zu entwerfen. Die ihn dabei leitende hermeneutische Einsicht ist die, daß der Gebrauch einer Auslegungsmethode abhängt und gesteuert wird von den Überzeugungen und Interessen, die die Interpreten leiten. Folgerichtig insistiert Tertullian darauf, daß eine kirchliche Exegese, wenn sie als solche anerkannt werden soll, von eindeutig christlichen Grundsätzen auszugehen hat. Welches diese Grundsätze zu sein haben, ist für Tertullian nicht zweifelhaft. Die Grundsätze liegen vor in der kirchlichen Glaubensregel, d. h. jenem „Kanon des Glaubens", der in den bischöflich geleiteten Gemeinden traditionell hochgehalten und zugleich als Zusammenfassung der biblischen Glaubenslehre verstanden worden ist (s.o.). Während sich die Gnostiker seiner Zeit mit gewisser Vorliebe für ihre spekulative Exegese auf das Bibelwort aus M t 7,7 f. beriefen: „Bittet, dann wird euch gegeben; suchet, dann werdet ihr finden; klopfet an, dann wird euch geöffnet. Denn jeder, der bittet, der empfängt; und wer sucht, der findet; und dem, der anklopft, wird aufgetan", ist Tertullian der spekulativen Suche gegenüber höchst skeptisch. „ . . . W e r . . . immerfort,sucht', der mag selber zusehen, da er nicht findet; denn er sucht dort, wo nichts zu finden ist!" (Praescr.haer. 11). In deutlich antispekulativem Affekt legt er den Finger auf die Glaubensregel und erklärt sie zum einzig sinnvollen Rahmen kirchlicher Schriftauslegung. Tertullian besteht aber nicht nur auf der vorgängigen Geltung dieser regula fidei, sondern er wertet ihr gegenüber sogar das Geschäft der kirchlichen Schriftauslegung ab und bezeichnet es Praescr.haer. 14 als bloße gelehrte, im Grunde entbehrliche Spezialistentätigkeit für einige wenige in der Kirche, die wissenschaftlich interessiert sind: „Bleibt... ihre (d. h. der Glaubensregel) Vorschrift (unangetastet) in Geltung, so kannst du getrost fragen und untersuchen, so viel du Lust hast, und deinen ganzen Forscherdrang daran setzen, falls dir irgendetwas doppeldeutig oder dunkel vorkommt. Es wird ja immer einen gelehrten Bruder geben, der mit dem Charisma der Wissenschaft begabt ist, der mit den Gelehrten umgeht und mit dir gemeinsam, freilich mit aller Behutsamkeit, die Frage durchdenkt. Letzten Endes ist es (freilich) besser für dich, nichts zu wissen, als zuwissen, was du nicht wissen sollst. Denn was du wissen darfst, das weißt du (schon).,Dein Glaube hat dir geholfen' (Lk 18,42) - heißt es - , nicht (deine) Schriftgelehrsamkeit! Der Glaube (aber) ist in der Glaubensregel niedergelegt. (Da) hat er sein Gesetz, und aus der Beobachtung des Gesetzes (kommt) das Heil. Die Schriftgelehrsamkeit dagegen stammt aus der Neugierde und hat ihren Ruhm vom Streben nach Erkenntnis. Platz dem Glauben vor der Neugier! Platz dem Heil vor dem Ruhm! Wenn (Neugier und Ruhm) schon nicht Ruhe halten (können), so sollen sie jedenfalls nicht stören! Nichts zu wissen gegen die Glaubensregel heißt alles wissen!" (Beyschlag, a . a . O . 1,91).

D a s hermeneutische Konzept Tertullians

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Wenn die Glaubensregel in Geltung steht, kann man nach Irenaus sogar ganz ohne Schrift und Schriftauslegung auskommen! Zum Exempel verweist er auf die des Griechischen nicht mächtigen bekehrten Barbarenvölker (Adv.haer. III, 4,2). Wohin seine und Tertullians Argumentation geführt haben, ist unzweifelhaft: Mit ihr ließ sich zwar in den aktuellen Auseinandersetzungen des 2. und 3. Jahrhunderts ein wirksamer D a m m aufrichten gegen eine spekulative Zersetzung der christlichen Glaubensgrundlagen, und zwar eine Zersetzung mit Hilfe einer spekulativ-wissenschaftlichen Exegese nach dem Maßstab der damaligen Zeit. Tertullian hat ferner aufgezeigt, daß eine dogmatisch unkontrollierte Schriftauslegung sich im Verlaufe ihrer Arbeit an ihre eigenen partiellen oder ganz unreflektierten Interessen verlieren kann. Aber er hat mit seinem hermeneutischen Programm, das in den Lehrentscheidungen des Konzils von Trient und des I. Vaticanums seine konsequente Fortführung gefunden hat, der Kirche einen extrem hohen Preis aufgenötigt. Der Preis bestand in der Hintansetzung der Schrift und ihres stets weiterweisenden Zeugniswortes gegenüber der Lehrgewalt des kirchlichen Amtes und der von diesem Amt jeweils autorisierten Bekenntnisformulierungen. Wer heute in ähnlichen Tönen wie Tertullian nach einer Rückkehr zum gültigen Bekenntnis und einer Abkehr von der kritischen Bibelexegese ruft, oder sich umgekehrt unter Hinweis auf die kritische Bibelexegese jeder kirchlichen Bekenntnisbindung enthoben fühlt, sollte Gewinn und Verlust der Thesen Tertullians sorgsam überdenken, ehe er bei seiner Argumentation beharrt! Wir wissen, daß die Kirche im Verlauf ihrer Geschichte immer konsequenter der von Tertullian gewiesenen Spur nachgegangen ist. Von dem vor 4 5 0 gestorbenen Mönchspriester Vinzenz von Lerinum wurde das Programm Tertullians fortgeschrieben und vollends unumkehrbar gemacht. In seinem Commonitorium ( = Merkbuch) stellt er die Frage: „Warum muß sich mit der N o r m der Schriften, da diese doch vollkommen ist und sich selbst zu allem überreichlich genügt, die Autorität der kirchlichen Einsicht verbinden?" Seine Antwort lautet: „Deshalb, weil die Heilige Schrift wegen der ihr eigenen Tiefe nicht von allen in ein und demselben Sinne verstanden wird, ihre Aussprüche von den einzelnen verschieden erklärt werden und es deswegen den Anschein hat, es könnten fast so viele Meinungen aus ihr hergeleitet werden, als es überhaupt Menschen g i b t . . . " . Wie die „kirchliche Einsicht" sich inhaltlich bestimmt, sagt Vinzenz wenig später in einer berühmt gewordenen Formulierung: „ . . . i n der katholischen Kirche (ist) entschieden dafür Sorge zu tragen, daß wir das festhalten, was überall, was immer und was von allen geglaubt wurde ( = ut id teneamus, quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est); denn das ist im wahren und eigentlichen Sinne katholisch" (Comm. II 1.3). Damit steht von Origenes, den Antiochenern, Tertullian und Vinzenz von Lerinum her das systematische Gesamtbild der (alt-)kirchlichen Schriftauslegung vor uns: Es geht um eine Exegese der hl. Schrift mit Hilfe der vom Wortsinn der Bibel ausgehenden, stufenweise in die geistlichen Bedeutungsräume der Schrift aufsteigenden Allegorese, und zwar im Rahmen der kirchlichen Glaubenslehre, wie sie sich im Verlaufe der Tradition herauskristallisiert hat.

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Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

Dieses Gesamtbild ist gültig geblieben bis hin zur Reformationszeit und wirkt, was die katholische Kirche anbetrifft, bis heute weiter.

6. Die Katenen — Kommentare Ende des vierten und Anfang des fünften Jahrhunderts begann die Exegese im kirchlichen Osten zu erlahmen. An die Stelle selbständiger neuer Kommentierung der biblischen Bücher traten nunmehr die sog. Katenen-Kommentare. Katenen nennt man jene Schriftkommentare, die fortlaufend zu einzelnen Schriftstellen Exzerpte aus berühmten exegetischen Werken der Väter zusammenstellen und die Schrift mit Hilfe dieser gesammelten Väterstimmen erläutern. In solchen Katenen summiert sich, erschöpft sich aber auch die weitere Schriftauslegung des Ostens, so daß nunmehr auf den kirchlichen Westen zu blicken ist.

7. Die exegetische Leistung des Hieronymus Im Rahmen unserer Überlegungen ist der aus Dalmatien gebürtige lateinische Kirchenvater Hieronymus ( 3 4 7 - 4 2 0 ) nur als Textforscher und Exeget zu erwähnen. Hieronymus ist mehrfach zwischen Rom und Palästina hin- und hergewechselt. 386 hat er sich nach Bethlehem zurückgezogen, dort ein Kloster begründet und in diesem Kloster seine großen biblischen Arbeiten geschaffen. Als ihn Papst Damasus zwischen 382 und 385 mit der Revision des lateinischen Bibeltextes beauftragte, hatte Hieronymus bereits Griechisch und Hebräisch erlernt. Die Bibelrevision war dringend erforderlich, weil die verschiedenen im Gebrauch befindlichen altlateinischen Versionen Textverschiedenheiten enthielten und deshalb eine liturgisch einheitliche Schriftlesung sowie ein gemeinsames Psalmodieren kaum mehr möglich waren. Seit dem 13. Jahrhundert hat sich für das Revisionswerk des Hieronymus die Bezeichnung „Vulgata" (d.h. vulgata editio = die allgemein verbreitete Ausgabe) eingebürgert. Die Arbeit an der Vulgata hat Hieronymus zwischen 390 und 406 beschäftigt, wobei er in immer neuen Anläufen ans Werk ging. Zuerst hat er auf der Grundlage der Septuaginta gearbeitet. Als er dann in Cäsarea das Original der Hexapla des Origenes (s.o. S.80) fand, hat er sich an dieses Werk gehalten und schließlich - eine revolutionäre philologische Tat! - das Alte Testament selbständig aus dem hebräischen Urtext ins Lateinische übersetzt. Nicht die Septuaginta, sondern den hebräischen und aramäischen Text des Alten Testaments hat Hieronymus für kirchlich wegweisend gehalten, und er ist der Meinung gewesen, daß die Apostel eben diesen Text und nicht die griechische Übersetzung verwendet hätten. Die neutestamentlichen Bücher revidierte Hieronymus nach den ihm greifbaren griechischen Handschriften. Obwohl der Wert der verschiedenen Revisionen des Hieronymus recht unterschiedlich ist, bleibt die Vulgata eine kirchliche Pionierleistung.

Die Bedeutung Augustins für die biblische Hermeneutik

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Arbeitete Hieronymus schon als Textforscher in den Bahnen und unter dem Vorbild des Origenes, gilt dies auch für seine exegetische Methode. Nach der philologisch exakten Erhellung des Wortsinns der Schrift geht auch Hieronymus zur Tropologie über, d. h. zur geistlichen Bildrede nach dem Schema des doppelten oder sogar dreifachen Schriftsinns. Der einfache Buchstabe tötet, wenn man ihn als das Ganze nimmt. Faßt man ihn aber als die maßgebende Basis der geistlichen Schriftauslegung auf, ist er recht verstanden und entfaltet heilsame Kraft. Trotz seiner wissenschaftlichen Anlehnung an Origenes und der für ihn gehegten Bewunderung hat sich Hieronymus im letzten Drittel seines Lebens ohne große Hemmungen zur dogmatischen Verurteilung seines großen Vorbilds bereitgefunden.

8. Die allegorischen Homilien des Ambrosius von Mailand Es ist unter diesen Umständen nicht unwichtig, wenigstens kurz auf Ambrosius von Mailand (339—397) hinzuweisen. Die altkirchliche und frühmittelalterliche Schriftauslegung kennt vier Hauptformen. Die Glossarien, d. h. Worterklärungen; die Scholien, d.h. Erklärungen zu einzelnen Stellen; die Kommentare, d.h. die fortlaufende Erläuterung ganzer biblischer Bücher; und viertens die Homilien, d.h. die zur Predigt hin tendierenden und schließlich mit ihr identischen Lehrvorträge. Die Stärke des staatsmännisch versierten und gebildeten Bischofs waren die Homilien. Gestützt auf die Schriften Philos und das Vorbild des Origenes unternahm Ambrosius das Wagnis, in seinen berühmten Homilien dem Abendland zum ersten Mal eine öffentliche allegorische Auslegung alttestamentlicher Texte vorzutragen. Dies war ein Novum und zugleich eine viele Anstöße am Alten Testament beseitigende geistige Tat. Im Jahr 384 hat Augustin den Bischof in Mailand gehört und ist durch die allegorischen Homilien des Ambrosius von der geistigen Weite und Sinnhaftigkeit des Christentums überzeugt worden.

9. Die Bedeutung Augustins für die biblische

Hermeneutik

Augustin (354-430) ist nicht nur die Aufgabe zugefallen, dem abendländischen Christentum in geschichtlicher Krisenzeit mit seinem berühmten „Gottesstaat" zu einem neuen kirchlichen und geschichtlichen Selbstverständnis zu verhelfen, sondern er hat auch für die Entwicklung des kirchlichen Schriftverständnisses entscheidende Bedeutung gehabt. Sein zwischen 390 und 426 in mehreren Anläufen ausgearbeitetes Werk „De doctrina christiana" (= Über die christliche Lehre) ist das wirksamste hermeneutische Buch, das die Kirchengeschichte überhaupt kennt. In vier aufeinanderfolgenden kleineren Büchern behandelt Augustin in dieser Lehrschrift nacheinander die wissenschaftlichen und dogmatischen Grundlagen der Hermeneutik, ihre methodische Durchführung und schließlich die Frage, wie auf Grund

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Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

solcher Hermeneutik sachgemäß und rhetorisch angemessen zu predigen und zu lehren ist. Das Buch umfaßt also eine hermeneutische Prinzipien- und Methodenlehre sowie eine aus beidem folgende Homiletik. Der geschichtliche Anlaß zur Ausarbeitung der hermeneutisch ungemein wirksamen Schrift war die Tatsache, daß um 3 8 0 der Donatist Tykonius seinen „Liber regularum" erscheinen ließ. Tykonius sieht in der Schrift eine heilsgeschichtlich strukturierte Einheit, deren Aussagen als Prophetie für die Gegenwart der Kirche auszulegen sind. Er gibt dafür sieben Auslegungsregeln. Dabei geht es z.B. um die Beziehung von Schriftaussagen auf die Kirche als zweigeteilten Leib Christi, in dem Gerechte und Ungerechte bis zum Ende zusammenleben (Regel 2); oder um das biblisch angemessene Verständnis der paulinischen Unterscheidung von Verheißung und Gesetz in Hinsicht auf die Kirche als solches corpus permixtum (Regel 3). Augustin hat die Regeln des Tykonius als lehrreich, aber nicht zureichend empfunden und deshalb dem „Liber regularum" sein eigenes ausführlicheres hermeneutisches Lehrbuch gegenübergestellt. Wie vor ihm schon Origenes, so stellt auch Augustin die Auslegung der hl. Schrift hinein in seine Gesamtsicht der Welt und bietet die gesamten wissenschaftlichen Denkmöglichkeiten seiner Zeit auf, um diese Auslegung zu profilieren. Der ihn dabei leitende Gedanke ist der, daß, wie alle Wirklichkeit auf Gott verweist, so auch die menschliche Sprache ein System von Zeichen und Bedeutungen darstellt, das, wenn es (in den biblischen Schriften) zum Medium der Offenbarung wird, als Verweis auf das wahre göttliche Sein verstanden werden muß. Auch für Augustin versteht es sich von selbst, daß der maßgebliche Rahmen und zugleich die Zielbestimmung der Schriftauslegung die kirchliche Lehre ist. Doch formuliert er dies erstaunlich flexibel und weiträumig, um nicht zu sagen modern. Für Augustin ist die Quintessenz des christlichen Glaubens der Aufstieg und das Fortschreiten von der Selbstliebe zur Nächstenliebe und zur Liebe Gottes. Dementsprechend heißt es bei ihm, daß die Liebe der Horizont ist, in dem Schriftauslegung allein gelingen und zum Ziel kommen kann. Daß zum Verständnis der Schrift ein positives Lebensverhältnis zu der von dieser Schrift verkündigten (Haupt-)Sache gehört, das hat Augustin wegweisend — und, wie ich meine, bleibend gültig — ausgesprochen. Immer wieder stellt er in seinem Buch die Frage, wer zur Lektüre und Auslegung der Bibel geeignet sei, und seine Antwort lautet stets: derjenige, der für die Liebe offen ist. „ W e r . . . erkannt hat, daß das Ziel des Gesetzes die Liebe sei aus reinem Herzen, aus gutem Gewissen und aus ungeheucheltem Glauben ( l . T i m 1,5), und wer entschlossen ist, den Sinn der göttlichen Bücher ganz auf diese drei Stücke zu beziehen, der mag ruhig an die Behandlung jener (heiligen) Bücher herangehen", heißt es zum Beschluß des ersten Buches von De doctrina Christiana (I 4 0 , 4 4 ) . Am Ende seines zweiten Buches formuliert er fast noch eindringlicher: „Wenn e i n . . . nach dem Verständnis der Heiligen Schrift strebender Mann an die Erforschung derselben herantritt, dann darf er nicht aufhören, die Worte des Apostels zu erwägen: ,Das Wissen bläht auf, die Liebe e r b a u t ' ( l . K o r 8 , 7 ) " (1141,62).

Die Bedeutung Augustins für die biblische Hermeneutik

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Der in solchem Sinne zur Liebe bereite Schriftausleger muß, um die Schrift wirklich sachgemäß auslegen und verstehen zu können, folgende Fähigkeiten und Kenntnisse besitzen: Er muß erstens die biblischen Schriften in ihrem Wortlaut genau kennen und einen Begriff vom Umfang und der Dignität des kirchlichen Kanons haben (II 8 , 1 2 - 1 4 ) . Er muß zweitens verläßliche Texte und Abschriften der biblischen Bücher besitzen und die zu ihrem Verständnis erforderlichen biblischen Ursprachen, Hebräisch und Griechisch, beherrschen; Latein ist als damalige Umgangssprache für Augustin selbstverständlich (II 1 1 , 1 6 14,21). In diesem Zusammenhang muß ausdrücklich erwähnt werden, daß Augustin, sehr anders als Hieronymus, trotz seines Insistierens auf hebräischen Sprachkenntnissen selbst kein Hebräisch verstand und statt des hebräischen Alten Testaments die kirchlich gebräuchliche Septuaginta als die eigentlich inspirierte und maßgebliche Gestalt des christlichen Alten Testaments angesehen hat (II 15,22). Der Ausleger muß drittens Einsicht haben in den ZeichenCharakter der Sprache, und zwar sowohl im grammatisch-strukturalistischen wie im ontologischen Sinn, so daß der Ausleger Texte erfassen und zugleich den auf Gott verweisenden Tiefensinn des biblischen Wortes erfassen kann (II 1,16 , 7 ; 16,23 ff.). Dieser Forderung genau entsprechend, muß der Exeget viertens in der Lage sein, zwischen buchstäblichem und übertragenem Sinn der Schrift zu unterscheiden. Das Problem der sachgemäßen Erhellung des biblischen Schriftsinns erörtert Augustin besonders ausführlich. Er rät grundsätzlich, von den klaren Aussagen der Schrift aus zu den weniger klaren überzugehen und so Schrift mit Schrift zu interpretieren: „In den klar ausgesprochenen Stellen der Heiligen Schrift findet man alle Lehren, die sich auf Glaubens- und Sittenlehre, nämlich auf die Hoffnung und Liebe, beziehen... Hat man einmal eine gewisse Vertrautheit mit der Sprache der göttlichen Schriften gewonnen, so hat sich das weitere Streben darauf zu richten, dunkle Stellen zu eröffnen und zu beleuchten" (II 9,14). Ist diese Erklärungsarbeit getan, kann der Interpret in die Tiefendimension der Texte vorstoßen, und zwar nach dem Grundsatz: „ . . . a l l e s , was im Worte Gottes im eigentlichen Sinn weder auf die Sittenlehre noch auf die Glaubenswahrheit bezogen werden kann, muß man für figürlich halten" (III 10,14). Die figürliche {— allegorische) Schriftauslegung wird von Augustin dadurch in Zaum gehalten, daß er die Anweisung gibt, nur dann über den literarischen Schriftsinn hinauszugehen, wenn der zuvor unter Berücksichtigung aller geschichtlichen Umstände untersuchte Text wirklich dazu nötigt (III 11,17ff.). Gleichzeitig betont er, daß die Glaubensregel den Kerngehalt der Schrift darstelle und der unüberschreitbare Sinnhorizont aller Schriftauslegung bleiben müsse. Augustin will durch diese Hinweise verhindern, daß die subjektive Beschränktheit oder Gebundenheit einzelner Ausleger zu willkürlichen Gewichtungen in der Schrift und zu ebenso willkürlicher Kritik und Allegorese führt. Noch einmal Augustin selbst: „ . . . Trifft es s i c h . . . , daß die Heilige Schrift etwas vorschreibt, was von der Gewohnheit der Zuhörer abweicht oder daß sie etwas tadelt, was ihr entspricht, so halten sie dies einfach für eine bloß bildliche Redeweise, wenn anders sie sich überhaupt schon durch

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Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

das Ansehen des Wortes gebunden fühlen. Die Heilige Schrift aber schreibt nichts vor als die Liebe und klagt nichts an als die sündige Begierde; dies ist ihre Art, die Sitten der Menschen zu bilden. Auch wenn den menschlichen Geist irgendeine irrtümliche Ansicht befangen hält, so meinen die Menschen, sie hätten eine figürliche Redeweise vor sich, wenn die Heilige Schrift einmal irgend etwas anderes behauptet. Die Heilige Schrift aber behauptet weder in dem, was vergangen, noch was zukünftig oder gegenwärtig ist, etwas anderes als den katholischen Glauben (non autem asserit nisi catholicam fidem). Das, was vergangen ist, das erzählt sie uns, was zukünftig ist, verkündet sie vorher, und was gegenwärtig ist, das beschreibt sie. Aber all dies dient nur dazu, um die Liebe zu nähren und zu stärken und die sinnliche Begierde zu besiegen und auszurotten" (III 10,15).

Insgesamt lehrt Augustin also ein im Rahmen der katholischen Glaubensanschauung v o m Wortsinn der Schrift zur Liebe Gottes aufsteigendes Schriftverständnis. Der geistliche Tiefensinn hat in der Liebe seinen Leitstern und ist nur dort, dort aber auch mit Entschiedenheit aufzusuchen, w o die fides catholica durch den Wortsinn des Bibeltextes nicht erhellt zu werden scheint. Die Klarheit dieses Systems und zugleich die kirchliche Autorität, die Augustin gewonnen hat, haben dazu geführt, daß seine Anweisungen zu Schriftauslegung und Schriftverständnis für die ganze Zeit des Mittelalters wegweisend geblieben sind. Augustins Thesen sind nicht mehr eigentlich in Frage gestellt, vielmehr nur noch aufgefächert und präzisiert worden.

10. Die Lehre vom vierfachen

Schriftsinn

W a s zunächst die Auffächerung anbetrifft, ist auf die seit Johannes Cassian ( 3 6 0 - 4 3 0 / 3 5 ) nachweisbare Lehre v o m nicht nur doppelten, sondern vierfachen Sinn der biblischen Texte hinzuweisen. D e m Literal- oder Wortsinn der Schrift steht ein dreifacher geistlicher Tiefensinn gegenüber. Für die gesamte Lehre hat sich folgender lateinischer Merkvers eingebürgert: „Littera gesta docet / quid credas allegoria / moralis quid agas / quo tendas a n a g o g i a " ( = Der Buchstabe lehrt die Begebenheiten; die Allegorie, w a s man glauben soll; der moralische Schriftsinn, was man tun soll; die Erhebung, worauf man endzeitlich hinzielt). Bei dieser Unterscheidung arbeitet man in den Spuren des Origenes und treibt exegetisch alles andere als ein gelehrtes Differenzierungsspiel. Mit der vierfachen Auslegung wird vielmehr der Offenbarungsgehalt der Schrift auf alle denkbaren Erfahrungs- und Lebensbereiche hin entfaltet! V o m geschichtlichen Wortsinn ausgehend, reflektiert man in einem zweiten Schritt auf den dogmatischen Lehrgehalt der Texte, dann auf die Frage, inwiefern der Text Anweisungen für die christliche Lebensführung bietet, und schließlich endet man mit der Erforschung der eschatologischen Geheimnisse, die zugleich Zielbestimmungen des individuellen Glaubenslebens wie der Kirche insgesamt sind. In der auf H . de Lubacs Forschungen zur mittelalterlichen Exegese abgestützten Formulierung P. Ricceurs: „ . . . die so verstandene Hermeneutik weitet sich auf den gesamten Lebensbereich der christlichen Existenz aus. Die Heilige Schrift erscheint dabei als ein unerschöpflicher

Rückblick

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Schatz, der über alle Dinge zu denken gibt, die eine vollständige Interpretation der Welt in sich schließt. Eine Hermeneutik ist dies, weil der Buchstabe als Grundlage dient und weil die Exegese ihr Werkzeug ist und weil zudem die andern Bedeutungen sich zum ersten Sinn verhalten wie das Verborgene zum Sichtbaren. So bezieht denn das Verständnis der Heiligen Schrift in gewisser Weise sämtliche Werkzeuge ein, die die Kultur - die Literatur, die Rhetorik, die Philosophie, die Mystik - anzubieten hat. Die Heilige Schrift interpretieren heißt, ihren Sinn als heiligen Sinn zu erweitern und zugleich das, was an profaner Kultur übrigbleibt, diesem Verständnis einzugliedern; um diesen Preis hört die Heilige Schrift auf, ein streng begrenzter Gegenstand der Kultur zu sein: Erklären der Texte und Erforschen der Mysterien werden eins" (a. a. O., 1 7 9 f.).

Wie wirksam diese Lehre insgesamt geworden ist, zeigt ein Blick in die Summa Theologica des Thomas von Aquin ( 1 2 2 5 - 1 2 7 4 ) . Hier wird in Pars I, Quaestio Prima, Art. X ausdrücklich darauf verwiesen, daß die hl. Schrift kraft der Urheberschaft Gottes selbst einen vierfach aufgefächerten Sinn habe, daß sich aber der (dreigestaffelte) sensus spiritualis nur als Vertiefung und heilsökonomische Ergänzung des Literalsinnes begreifen lasse. M a n darf deshalb nach Thomas argumentieren und theologische Beweise anstrengen nur mit Hilfe des Wortsinnes der Schrift, weil dieser alles zum Glauben Notwendige darbietet. Damit war einer spekulativen Verwilderung der von Thomas selbst in berühmten Bibelkommentaren gepflegten Schriftauslegung ein Riegel vorgeschoben und gleichzeitig ein Akkord angeschlagen, der zum spätmittelalterlichen Humanismus hinüberklingt, in dessen Gefolge die Reformation zu ihrer neuen Schriftauslegung aufbrach.

11. Rückblick Ehe wir aber zu dieser neuen Epoche übergehen, ist noch ein kritischer Rückblick auf die von uns in den Blick genommenen Ausschnitte aus der altkirchlichen und mittelalterlichen Bemühung um Verständnis und Auslegung der hl. Schrift geboten. Dabei geht es um die Leistung jener Jahrhunderte ebenso wie um die Gründe, die uns daran hindern, die altkirchlichen und mittelalterlichen Interpretationswege einfach weiterzugehen oder zu kopieren. Was zunächst die Leistungen anbelangt, ist es notwendig festzustellen, daß in den Jahrhunderten, die wir überflogen haben, der Rahmen und die Grundmöglichkeiten kirchlicher Schriftauslegung ausgebildet und zugleich lehrreich erprobt worden sind. Dies gilt für das im Zeichen der Inspirationslehre stehende Geviert von Schrift, regula fidei als Summe der Schrift, Kirche und Schriftauslegung genauso wie für das Wagnis, bei der Schriftinterpretation einen methodischen Weg zu wählen, der im Kontext des allgemein vorherrschenden Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnisses einsichtig, wissenschaftlich reflektiert und seinem Gegenstand, der hl. Schrift, angemessen ist. Wir sollten dies ebenso anerkennen wie den Umstand, daß die hermeneutischen Erfahrungen der Alten Kirche und des Mittelalters wegweisend geworden sind für alle späteren Zeiten der Kirche. Angesichts der im gegenwärtigen Protestantismus eingerissenen

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Kirchliche Schriftinterpretation bis zur Reformationszeit

Unterschätzung der kirchlichen Tradition und der ihr entsprechenden hermeneutischen Versuchung, Schriftauslegung in biblizistischer oder historistischer Traditionsvergessenheit zu betreiben, muß man mit J . Ratzinger darauf hinweisen, daß es schon „rein vom historischen Denken her zu keinem guten Ende führen kann, wenn man zwischen sich und der Bibel das Nichts aufrichtet und vergessen will, daß die Bibel durch eine Geschichte hindurch zu uns kommt. Nur wer sich der Geschichte stellt, kann sie auch überwinden; wer sie übersehen will, bleibt erst recht gefangen in ihr. Er behält vor allem keinerlei Chance, die Bibel wirklich historisch zu lesen, wie sehr er auch die historischen Methoden anzuwenden scheint. In Wirklichkeit bleibt er dem Horizont des eigenen Denkens verhaftet und bespiegelt nur sich selbst" ( a . a . O . 2 8 1 / 2 8 2 ) . Der Rekurs auf die hermeneutische Tradition ist kein Allheilmittel für unsere gegenwärtigen Auslegungsprobleme, aber die Tradition bietet ein Erfahrungspotential, an dem man nicht achtlos vorübergehen sollte, wenn man nach exegetischen Auswegen aus der eigenen Aporie sucht. Zur Leistung der altkirchlichen und mittelalterlichen Schriftauslegung gehören noch zwei weitere Aspekte hinzu. Es sind damals nicht nur die Grundmöglichkeiten kirchlicher Schriftauslegung erprobt, sondern es ist auch ein M a ß an hermeneutischer Integration erreicht worden, das bewundernswert bleibt. Diese Integration betrifft zwei Bereiche. Mit der allegorischen, mehrfach gestaffelten und vom Literalsinn zum geistlichen Tiefensinn der Schrift aufsteigenden Interpretation fügt sich die Bibelauslegung in das spätantike und mittelalterliche, von Piaton her konzipierte und im Geistigen zentrierte Bild der Welt hervorragend ein. Mit Hilfe der Allegorese konnte man den biblischen Texten Aussagen abgewinnen, die von den Menschen jener Zeiten verstanden und ersehnt wurden. Dies ist das eine. Die andere Seite aber ist die angesichts unseres gegenwärtigen Aus- und Gegeneinander besonders hervorzuhebende Verklammerung von Exegese und kirchlichem Glaubensleben. Daß die Kirche von der Schrift her lebt und lehrt und daß Leben und Lehre der Kirche durch die Bibelauslegung bereichert und bestätigt werden, haben z.B. Augustin oder Thomas von Aquin gesehen, gesagt und in ihrer Arbeit praktiziert; sie haben damit der Reformation (und unserer an der Reformation orientierten Auslegungsarbeit) entscheidend vorangearbeitet. Hat man dies festgestellt, ist mit derselben Offenheit auch auf die Mängel und Schwächen der damaligen Auslegung einzugehen, die vor allem die Reformation zum Weitergehen veranlaßt haben. Sie liegen auf methodischem und auf dogmatischem Gebiet. Was die Methode der Allegorese anbelangt, haben schon die zeitgenössischen Gegner der altkirchlichen Exegese darauf aufmerksam gemacht, daß man mit ihrer Hilfe beliebiges in die Texte hineinlesen und als schriftgemäß ausgeben kann. Gegen Origenes und seine Freunde gewandt, protestiert der neuplatonische Philosoph Porpbyrios (ca. 2 3 2 - 3 0 4 ) gegen die christliche Allegorese des Alten Testaments; er schreibt (nach Euseb, K G VI, 19,4 ff.):

Schriftauslegung zur Zeit des Humanismus und der Reformation

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„Einige Leute indessen, statt sich von den minderwertigen jüdischen Schriften zu distanzieren, versuchten diese vielmehr zu retten, indem sie ihre Zuflucht zu unzusammenhängenden und mit den Texten nicht übereinstimmenden Auslegungen nahmen, die weniger auf die Verteidigung des fremden, als vielmehr auf die Empfehlung und Anpreisung des eigenen Anliegens hinausliefen. Ihren anspruchsvollen Reden zufolge soll es sich bei dem, was Mose in einfachen Worten gesagt hat, um Rätselreden handeln; denn sie behandeln dieselben, als wären es göttliche Dinge voll verborgener Geheimnisse und vernebeln mit vorgetäuschten Auslegungen das gesunde Urteilsvermögen... Diese verkehrte Methode kann man auch bei einem Manne feststellen, mit dem ich selbst noch in meiner Jugend bekannt war, der schon damals berühmt war und es noch heute ist auf Grund seiner nachgelassenen Schriften: Origenes, dessen Ruhm bei den Lehrern dieser Richtung weitverbreitet ist" (Beyschlag, a. a. Ο. II, 3 7 f.).

Die Allegorese läßt nur zu leicht die geschichtliche Kontur und Widerständigkeit der Texte aufgehen in der dem jeweiligen Gegenwarts- und Glaubensbedürfnis entsprechenden Auslegungsabsicht der Exegeten. Dies kann man bis zum heutigen Tage überall dort beobachten, wo die Allegorese noch geübt wird, z.B. in der neuen Scofield Bibel mit Erklärungen von 1967, wo Texte der Johannesoffenbarung in allegorischer Staffelung interpretiert werden. Unter diesen Umständen ist die Allegorese für uns und unser historisches Bewußtsein unwiederholbar geworden, und zwar aus zwei Gründen: Weil sie nach unseren heutigen Denkmaßstäben den Texten eben nicht mehr gerecht wird und weil die eben erwähnte Verzahnung von platonischer Weltschau und exegetisch-wissenschaftlicher Methode für uns ebenfalls der Vergangenheit angehört. Ein dogmatischer, direkt auf die Reformation zuführender Einwand kommt hinzu. Die Anfälligkeit der Allegorese für die Möglichkeit der Überfremdung der Texte vom Glaubensbedürfnis der Interpreten her ist im Mittelalter überall dort hervorgetreten, wo die eigentlich schöpferische Tätigkeit der Bibelauslegung traditionalistisch erstarrt war und der theologische Lehrbetrieb sich auf Einübung des kirchlichen Glaubens und homiletische Auslegung konzentrierte. Die Allegorese hat mit dazu beigetragen, daß sich die Kirche zunehmend des theologischen Widerstandes von seiten der biblischen Aussagen beraubt sah und deshalb ihrem eigenen Traditionsurteil verfiel. Damit aber stehen wir bei einer neuen Epoche des Bibelverständnisses.

§ 7 Schriftverständnis und Schriftauslegung zur Zeit des Humanismus und der Reformation 1. Der Beitrag des Humanismus zur biblischen

Hermeneutik

Während die kirchliche Exegese des Mittelalters ganz im Zeichen der kirchlichen Tradition und Lehre stand, drängte der im 14. Jahrhundert in Italien aufkommende und im 15. Jahrhundert auf Deutschland und den gesamten

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Schriftauslegung zur Zeit des Humanismus und der Reformation

europäischen Raum übergreifende Humanismus auf eine Modifikation dieser traditionellen Auslegungsweise. Ziel des Humanismus war es, die geistigen Grundlagen der Antike für die Gegenwart fruchtbar zu machen und mit christlichen Glaubensvorstellungen zu verbinden. Für die biblische Exegese bedeutete diese Zielsetzung, daß man sich von der bis dahin vorherrschenden Lektüre und Interpretation der lateinischen Bibel wieder zu den biblischen Ursprachen, Griechisch und Hebräisch, zurückwandte und daß mit dieser Bewegung auch der Sinn für textkritische Studien und Vergleiche neu erwachte. Die seit Hieronymus gebräuchliche Vulgata wurde jetzt (wieder) intensiv mit den Urtexten verglichen, und die exegetische Erhellung des sensus litteralis, d. h. des Wortsinnes der Schrift, zog wesentlich stärkeres Interesse auf sich als zuvor. Dennoch verblieben die führenden Humanisten in dem vorgeprägten Rahmen der angestammten kirchlichen Hermeneutik, so daß man nicht von einem hermeneutischen Neuansatz, sondern nur von einer humanistischen Reform der uns bereits bekannten Verstehenslehre sprechen muß. Der Blick auf drei kirchlich einflußreiche Humanisten kann diesen Reformansatz illustrieren.

1.1 Die kritische Rezension des Neuen Testaments durch Laurentius Valla Der italienische Humanist Laurentius Valla (1407-1457) überreichte Papst Nikolaus V. während dessen Amtszeit (1447-1455) eine kritische Vergleichung der Vulgata und des griechischen Originaltextes des Neuen Testaments, die nach streng philologischen Maßstäben und auf Grund genauer Handschriftenvergleiche (Kollationen) erarbeitet worden war. Als Erasmus von Rotterdam das Werk im Jahre 1504 in einem Kloster bei Brüssel zufällig entdeckte, entschloß er sich zur Veröffentlichung und gab 1505 Vallas Studien unter dem Titel: „In latinam Novi Testamenti interpretationem ex collatione graecorum exemplarium adnotationes" (= Anmerkungen zur lateinischen Ubersetzung des Neuen Testaments auf Grund des Vergleichs griechischer Handschriften) heraus. Man kann diese Erasmusedition als einen Grundstein der kritischen Bibelwissenschaft bezeichnen; zugleich ist sie eine wichtige Grundlage für das berühmte Neue Testament geworden, das Erasmus elf Jahre später selbst zum Druck gab.

1.2 Johannes Reuchlins Bemühung um das biblische Hebräisch Johannes Reuchlin aus Pforzheim (1455-1522), der Großonkel Melanchthons, wandte sich 1486, als er bereits einen Namen als Latinist und Gräzist besaß, jüdischen Gelehrten zu, um sich von diesen ins Hebräische einführen zu lassen. Mit seiner 1506 erschienenen Untersuchung „De rudimentis hebraicis libri tres" ist Reuchlin zum Begründer der hebräischen Sprachwissenschaft in Deutschland geworden. Seine sechs Jahre darauf vorgelegte Erklärung der

Der Beitrag des Humanismus zur biblischen Hermeneutik

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sieben Bußpsalmen (= Ps 6, 32, 38, 51, 102, 130, 143) war zugleich das erste Lehrbuch des Hebräischen, das in der Kirche durchdrang. Es bot einen philologisch genauen Kommentar zu den Psalmentexten und enthielt darüber hinaus Anweisungen, um das Hebräische im Umgang mit den biblischen Originalquellen zu erlernen. Wir stoßen hier bei Reuchlin sichtbar auf den bedenkenswerten Umstand, daß sich die christliche Kirche den hebräischen Text des Alten Testaments Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts von der Synagoge hat zurückgeben lassen, ohne zunächst die kanonkritische Frage zu stellen, ob der masoretische Kanon seinem Umfang nach dem Schriftenbestand der Septuaginta und Vulgata wirklich überlegen sei (vgl. o. S. 38 f. 45 f. 86. 89). Reuchlin hat sich nicht nur für die Kenntnis und Pflege des biblischen Hebräisch eingesetzt, sondern er hat für die Erhaltung der jüdisch-rabbinischen Literatur überhaupt erhebliches riskiert. Als er beim Kaiser für die Bewahrung des von der Kirche mit Vernichtung bedrohten Schriftengutes der Juden eintrat, geriet er in Auseinandersetzungen mit der Kurie. Deren bedrohliche Folgen konnte er nur durch Unterwerfung und Eintritt in den sog. Weltpriesterstand (d. h. den Stand von Geistlichen, die keinem Orden angehören) abwenden. Stehen wir schon bei Reuchlin vor einem Werk, ohne das die reformatorische Bibelauslegung undenkbar ist, gilt dies in noch höherem M a ß e von der Arbeit des eben bereits kurz erwähnten Erasmus von Rotterdam.

1.3 Die kirchliche Hermeneutik des Erasmus von

Rotterdam

Erasmus wurde etwa 1466 in Gouda bei Rotterdam geboren und ist 1536 in Basel verstorben. Er war in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts der international anerkannte führende Kopf des europäischen Humanismus. Sein theologisches Hauptziel war es, die Kirche seiner Zeit durch eine neue Begegnung mit den biblischen Quellen zur Reform zu führen. Als Erasmus 1516 erstmals in Europa ein griechisches Neues Testament mit einer eigenen, von langer H a n d vorbereiteten lateinischen Übersetzung, etlichen Vorreden und einem umfangreichen Anmerkungsapparat erscheinen ließ, hatte er den Gipfel seines Ruhmes erreicht und zugleich ein Werk geschaffen, das in kürzester Zeit in ganz Europa in vielen tausend Exemplaren verbreitet war. Erasmus hatte dieses Neue Testament zwar in jahrelangen Studien vorbereitet, dann aber doch, verlegerischem Druck (und kirchenpolitischen Erwägungen) folgend, nach überstürzter, knapp sechsmonatiger Abschlußarbeit auf den M a r k t geworfen. Für die Schlußredaktion mußte er sich mit schlechten Handschriften begnügen und bei der Rekonstruktion des Urtextes der Johannesoffenbarung etliche Stellen und den ganzen Schluß (= Apk 22,16-21) selbständig aus dem Lateinischen ins Griechische zurückübersetzen, um überhaupt einen geschlossenen griechischen Text bieten zu können. Obwohl die Erstauflage des Werkes eine Fülle von drucktechnischen Versehen aufwies, konnte sich Erasmus in einem Brief an Papst LeoX. vom 9. August 1516 rühmen, ein in dieser

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Schriftauslegung zur Zeit des Humanismus und der Reformation

Gestalt bisher noch nirgends auf der Erde veröffentlichtes Werk vorgelegt zu haben. Das Werk des Erasmus ist für uns deshalb so interessant, weil es unter den Vorreden eine knappe, „Erasmi Roterdami Methodus" überschriebene hermeneutische Abhandlung enthält, die der große Gelehrte später noch erweitert und dann auch separat veröffentlicht hat. In seiner Methodus stellt sich Erasmus vor als Interpret, der die Schrift in bewußtem Anschluß an Augustins „De doctrina christiana" auslegen will. Wie Augustin, nur intensiver als er und unter Kritik an dessen Wertschätzung der Septuaginta, drängt Erasmus auf eine gründliche wissenschaftliche, philologische und geschichtliche Bildung der Bibelausleger. Er ruft dazu auf, sich unter Hintanstellung der bisherigen scholastischen Studien· und Argumentationsinteressen den biblischen Büchern zuzuwenden als den Quellen, aus denen die gesamte Theologie strömt. Aber er lehrt auch eine gegenüber Augustin noch verfeinerte Allegorese. Erasmus verwendet sich mit Leidenschaft dafür, daß der beste Weg der Schriftinterpretation der sei, die Schrift mit Hilfe von selbst angelegten, thematischen Parallelstellensammlungen aus sich selbst heraus zu erklären, aber er möchte auch an der Väterexegese festhalten. Es ist ihm eine Selbstverständlichkeit, daß die hl. Schrift, und zumal das Neue Testament, in der kirchlichen Glaubenslehre gipfeln. 1524.erklärt er sich in seiner gegen Luther gerichteten „Abhandlung vom freien Willen" sogar bereit, bei einem etwaigen Widerstreit zwischen eigener Schriftexegese und Lehre der Kirche der kirchlichen Lehrautorität zu gehorchen (De libero arbitrio Diatribe I a 4): „ . . . ich (habe) so wenig Freude an festen Behauptungen, daß ich leicht geneigt bin, mich auf die Seite der Skeptiker zu schlagen, wo immer es durch die unverletzliche Autorität der Heiligen Schrift und die Entscheidungen der Kirche erlaubt ist, denen ich meine Uberzeugung überall gerne unterwerfe, ob ich nun verstehe, was sie vorschreibt, oder ob ich es nicht verstehe".

Erasmus ist humanistischer Reformtheologe gewesen, für dessen historisch engagierte, nach allen Seiten abgewogene, in ihrer Wahrheitssuche aber der Kirche ergebene Auslegungsart sich noch heute führende katholische Exegeten erwärmen. Sie rühmen Erasmus als vorbildlich gegenüber dem, wie sie meinen, prophetisch-willkürlichen Schriftprinzip Luthers. Schon Erasmus hat in seiner Abhandlung vom freien Willen (Ia 4) im Blick auf Luthers Exegesen angemerkt, er ziehe für seine Person die eben skizzierte hermeneutische Position „derjenigen vor, mit der ich einige ausgestattet sehe, so daß sie, leidenschaftlich einer Meinung ergeben, nichts dulden, was von dieser abweicht, sondern, was immer sie in der Heiligen Schrift lesen, zur Bestätigung ihrer vorgefaßten Meinung ummodeln, der sie sich einmal ergeben haben, wie Jünglinge, welche ein Mädchen über die Maßen lieben, sich einbilden, wohin immer sie sich wenden, zu sehen, was sie lieben. Oder vielmehr, um einen besseren Vergleich zu gebrauchen, wie unter denen, zwischen denen der Kampf heftig geworden ist, was immer zufällig zur Hand ist, ob es nun ein Humpen oder ein Teller ist, sich in ein Geschoß verwandelt. Kann es, bitte, bei einer solchen Einstellung ein objektives Urteil geben? Oder was kommt bei Auseinandersetzungen dieser Art heraus, außer daß ein jeder vom anderen beschimpft hinweggeht?"

Der hermeneutische Neuansatz der Reformatoren

2. Der hermeneutische 2.1

Luthers biblische

Neuansatz

der

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Reformatoren

Hermeneutik

Prüft man Luthers Schriftverständnis und seine Exegesen nicht nur unter den Aspekten der Kritik des Erasmus, sondern unbefangen, müssen am Anfang einige ganz einfache Feststellungen stehen. 2 . 1 . 1 Luthers reformatorische Entdeckung Martin Luther ( 1 0 . 1 1 . 1 4 8 3 - 1 8 . 2 . 1 5 4 6 ) ist zum Reformator geworden nicht aus vorgefaßter Grundsatzkritik an der bestehenden Kirche und ihrer Tradition heraus, und er hat die reformatorische Schriftauslegung auch nicht von einem vorgefaßten hermeneutischen Grundsatzprogramm her begründet. Sondern Luther hat zur Exegese der hl. Schrift angesetzt im Rahmen der ihm vorgegebenen mittelalterlichen Hermeneutik und ist zum Reformator geworden auf Grund und über der Exegese einer einzigen Schriftstelle, nämlich von Rom 1,16.17. Luther selbst beschreibt den Vorgang in der Vorrede zum ersten Band seiner gesammelten lateinischen Schriften folgendermaßen: „Ich war von einer gewiß wunderbaren Glut ergriffen gewesen, Paulus im Römerbrief zu verstehen; allein dem war bisher im Wege gestanden nicht das kalte Blut in der Brust, sondern ein einziges Wort in Kap 1,17: ,Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart.' Ich haßte nämlich dieses Wort ,Gerechtigkeit Gottes', weil ich — nach Brauch und Gewohnheit aller Kirchenlehrer - unterwiesen worden war, es philosophisch zu verstehen von der sogenannten formalen oder aktiven Gerechtigkeit, wonach Gott gerecht ist und die Sünder und Ungerechten straft. — Ich aber liebte den gerechten und die Sünder strafenden Gott nicht, ja ich haßte ihn, denn ich fühlte mich, so sehr ich auch immer als untadeliger Mönch lebte, vor Gott als Sünder mit einem ganz und gar ruhelosen Gewissen und konnte das Vertrauen nicht aufbringen, er sei durch meine Genugtuung versöhnt. So zürnte ich Gott, wenn nicht in geheimer Lästerung, so doch mindestens mit gewaltigem Murren, indem ich sagte: Nicht genug damit, daß die elenden und ewig verlorenen Sünder infolge der Erbsünde mit Unheil aller Art durch das Gesetz der Zehn Gebote bedrückt werden, — nein, Gott will (auch noch) durch das Evangelium auf den alten Schmerz neuen Schmerz häufen und auch durch das Evangelium uns seine Gerechtigkeit und seinen Zorn drohend entgegenhalten! So raste ich mit wütendem und verstörtem Gewissen, und doch schlug ich mich an jener Stelle rücksichtslos mit Paulus herum, da ich glühend danach lechzte, zu wissen, was St. Paulus wolle. — So lange, bis ich endlich unter Gottes Erbarmen, Tage und Nächte lang nachdenkend, meine Aufmerksamkeit auf den (inneren) Zusammenhang der Worte richtete, nämlich ,Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben', — da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen zu lernen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben, und ich fing an zu verstehen, daß dies die Meinung ist, es werde durchs Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: ,Der Gerechte lebt aus dem Glauben'. - Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die

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Schriftauslegung zur Zeit des Humanismus und der Reformation

geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Darauf durchlief ich die Heilige Schrift, wie's das Gedächtnis mit sich brachte, und sammelte auch in anderen Ausdrücken die entsprechende Übereinstimmung, wie zum Beispiel ,Werk Gottes', d.h.: das Werk, das Gott in uns schafft; ,Kraft Gottes', durch welche er uns kräftig macht; ,Weisheit Gottes', durch welche er uns weise macht; ,Stärke Gottes', ,Heil Gottes', ,Ehre Gottes'. - So groß vorher mein Haß war, womit ich das Wort,Gerechtigkeit Gottes' gehaßt hatte, so groß war jetzt die Liebe, mit der ich es als allersüßestes Wort rühmte. So ist mir diese Stelle des Paulus wahrhaftig zu einer Pforte des Paradieses geworden. Später las ich Augustin ,Vom Geist und vom Buchstaben', wo ich wider Erwarten darauf stieß, daß auch er die Gerechtigkeit Gottes ähnlich auslegt: als diejenige, mit der Gott uns bekleidet, indem er uns rechtfertigt. Und obgleich dies noch unvollständig gesagt ist und Augustin über die Zurechnung (der Gerechtigkeit Christi) nicht alles klar entwickelt, so wollte er doch, daß Gottes Gerechtigkeit gelehrt werde, durch die wir gerechtfertigt werden" (WA 54, 185, 14ff.; Übersetzung von H.Fausel, a.a.O. 1,56f.).

2 . 1 . 2 Luthers hermeneutische Grundsätze Berücksichtigt man, daß Luther ausgeht von einer ihn im Gewissen befreienden, ermutigenden Begegnung mit dem aus sich selbst heraus einleuchtenden Schriftwort, verstehen sich die Hauptakzente seines Schriftverständnisses ganz von selbst. Luthers Hermeneutik ist gekennzeichnet durch den Willen, dem aus sich selbst heraus einleuchtenden W o r t der Schrift zu dienen, und die Predigt dieses Wortes als Grund und Halt des Glaubens ernstzunehmen. Die Bibel ist für Luther die schriftliche Urkunde des von Mose, den Propheten, Jesus und den Aposteln verkündigten Wortes Gottes. Dieses W o r t Gottes kann als Gesetz und als Evangelium ergehen und ist die lebensentscheidende Gottesmacht schlechthin. Sie ist überall dort präsent, w o die Schrift ernsthaft gehört und unter Berufung auf die Schrift gepredigt wird. Es ist für Luther entscheidend wichtig, daß das W o r t Gottes aktuelle Anrede an die trost- und ermahnungsbedürftigen Gewissen ist und daß die Schrift zur aktuellen Bezeugung des Wortes Gottes ermächtigt. Dem verkündigten W o r t Gottes vertraut er unbedingt. Dementsprechend betont er in seinem kleinen Galaterkommentar von 1 5 1 9 zu Gal 3 , 2 f . : „Das W o r t , sag ich, und zwar das W o r t allein, ist Gefährt der Gnade Gottes" = „verbum, inquam, et solum verbum, est vehiculum gratiae dei" (WA 2, 5 0 9 , 14f.). Ganz anders als Erasmus ihn mit der Schrift umgehen wähnt, sieht er sich selbst, wenn er in den berühmten Invokavitpredigten von 1 5 2 2 sagt: „Summa summarum predigen wil ichs, sagen wil ichs, schreyben wil ichs. Aber zwingen, dringen mit der gewalt wil ich nyemants, dann der glaube wil willig, ungenötigt angezogen werden. Nempt ein exempel von mir. Ich bin dem ablas und allen papisten entgegen gewesen, aber mit keyner gewalt, jch hab allein gottes wort getrieben, geprediget und geschrieben, sonst hab ich nichts gethan. Das hat, wenn ich geschlafen han, wenn ich wittenbergisch bier mit meynem Philipo und Amßdorff ge-

Der hermeneutische Neuansatz der Reformatoren

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truncken hab, also vil gethan, das das Bapstum also schwach worden ist, das jm noch nye keyn Fürst noch Keyser so vil abgebrochen hat. Ich hab nichts gethan, das wort hatt es alles gehandelt und außgericht..." (WA 1 O/III, 18,10ff.).

Diesem ersten Grundsatz entsprechend, negiert Luther zwar das uns bekannte Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Bekenntnistradition und Kirche keineswegs. Er ordnet aber in einer noch weit über den Reformansatz des Humanismus hinausgehenden Entschiedenheit Kirche, Bekenntnis und Schriftauslegung dem Schriftwort zu. Weil alle kirchliche Tradition irren kann (und nach Luthers Einschätzung in der Vergangenheit und Gegenwart auch eklatante Irrtümer aufweist), versteht er das Schriftwort in seinem Wortsinn als Kriterium aller Tradition und sieht in der Erhellung des Ursprungssinnes der Schrift das Ziel und die Erfüllung aller Exegese. In seiner hermeneutisch ausgesprochen erhellenden lateinischen Schrift „Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum" von 1520 betont Luther, die Schrift sei „durch sich selber die allergewisseste, die leichtest zugängliche, die allerverständlichste, die, die sich selber auslegt, die alle Worte aller bewährt, urteilt und erleuchtet" (WA 7 , 9 7 , 2 3 f.; s. o. S. 60 f.). Wenig später fügt er hinzu, er wolle „nicht als der gerühmt sein, der gelehrter als alle ist, sondern ich will, daß die Schrift allein Königin sei (= solam scripturam regnare), und daß sie nicht ausgelegt werde durch meinen Geist oder den andrer Menschen sonst, sondern verstanden werde durch sich selbst und ihren eignen Geist" (WA 7,98, 40 ff.; Übersetzung von E. Hirsch, Hilfsbuch, 85). Es ist ganz konsequent, daß Luther im Zuge dieser hermeneutischen Konzentration auf die sich selber auslegende hl. Schrift die anfänglich von ihm selbst noch geübte Allegorese weitgehend aufgibt und sich auf die Interpretation des Wortsinnes der Bibel wirft, weil er in diesem Wortsinn den eigentlich geistlichen Sinn der Schrift erblickt. In einer Predigt vom 13. Nov. 1524 bekennt er von sich selbst, daß er viel Zeit mit dem Studium der Väter vertan habe und setzt selbstund sachkritisch hinzu: „ . . .Denn die Veter haben zu irer zeit eine sonderliche lust und liebe zu den Allegoriis gehabt, sind damit umbher spacieret und alle Bücher vol geklickt... Die ursach ist diese, das sie alle irem dünckel, kopff und meinung, wie sie es recht angesehen, und nicht S. Paulo gefolget haben, der da wil den heiligen Geist drinnen lassen handeln, oder das die Allegorien dem Glauben ehnlich weren" (WA 16,68,30-69,11).

Eben dieses pointierte Interesse am Wortsinn der Bibel veranlaßt Luther dazu, zur Erklärung dieses Wortsinnes alle die philologischen, historischen und zeitgeschichtlichen Möglichkeiten einzusetzen, die ihm der Humanismus und die kirchliche Auslegungstradition seiner Zeit boten. Was die Verpflichtung und den Willen anbelangt, die biblischen Texte mit allen erreichbaren wissenschaftlichen Mitteln aufzuhellen, steht Luther mit Erasmus und seinen Freunden in einer Front. Gleichzeitig fügt er sich damit in die Reihe derer ein, die in der Nachfolge des Origenes und Augustins kirchliche Schriftauslegung in wissenschaftlicher Verantwortung und kritischer Zeitgenossenschaft betreiben. Es ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert, daß Luther zeit seines Lebens als

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Schriftauslegung zur Zeit des Humanismus und der Reformation

Doktor der hl. Schrift exegetische Vorlesungen gehalten hat, und zwar interessanterweise sehr viel mehr Kollegs über alttestamentliche Bücher als über neutestamentliche. Während er vor seinen Studenten neutestamentlich nur über den Römerbrief (1515/16), zweimal über den Galaterbrief (1516/17 und 1530/ 31), über den Hebräerbrief (1517/18), den 1. Johannesbrief (1527) und Philemon, Titus und 1. Timotheus (1527/28) gelesen hat, war das Alte Testament in Gestalt der Psalmen (1513/15 und 1519/21), des Deuteronomiums (1523/24), der Kleinen Propheten (1524/26), des Predigers (1526), Jesajas (1527/30) des Hohen Liedes (1530/31) und der Genesis ( 1 5 3 5 - 1 5 4 5 ) ständiger Gegenstand seiner akademischen Exegese. Wie diese Übersicht zeigt, richtet sich Luthers Schriftauslegung auf die gesamte hl. Schrift. Seine Vorreden zur Bibel beweisen, daß für Luther Altes und Neues Testament untrennbar zusammengehören. Wer sich in Luthers Textauslegungen, ζ. B. seine Kommentare, vertieft, sieht außerdem sofort, daß diese Auslegungen trotz ihrer Konzentration auf den Literalsinn der Bibeltexte alle denkbaren theologischen Dimensionen durchlaufen. Luthers Schriftauslegung ist theologische Textinterpretation mit solider historischer Fundierung. Eben diese Beobachtung ist wichtig. Denn immer wieder ist Luthers hermeneutischer Neuansatz beim Wort der hl. Schrift dahingehend mißverstanden worden, als wäre es dem Reformator um eine Abschaffung der kirchlichen Tradition zugunsten der Bibel allein gegangen. Von dieser Sicht der Dinge aus muß der durch Luthers Katechismen, seine Abendmahlsschriften, die Schmalkaldischen Artikel von 1537 und seine verschiedenen Disputationen überdeutlich dokumentierte Tatbestand befremden, daß Luther nicht nur an der Trinitätslehre, dem Apostolischen Glaubensbekenntnis und den großen altkirchlichen Symbolen festgehalten hat, sondern sie als gültige Orientierungsmerkmale seiner Theologie begreift und zitiert. Luther hat sich von den großen kirchlichen Bekenntnissen her auf Christus als die Mitte der Schrift hinführen lassen und umgekehrt von der Schrift her diese Bekenntnisse als gültige Summarien des wesentlichen Glaubensgehaltes der hl. Schrift verstanden. Kommt man von dem hermeneutisch traditionellen Verbund von Schrift, Schriftauslegung und kirchlicher Glaubenstradition her, wird diese Position Luthers verständlich. Luther ist es nicht um die Aufhebung dieses Verbundes gegangen, sondern um seine der Schrift entsprechende Gestaltung! Mit der Feststellung, daß nirgends „klerer geschrieben, das gott hymel und erden geschaffen hab, Christus geporn von Marien, geliden, gestorben, aufferstanden unnd alliß, was wyr glewben, denn ynn der Bibel" (WA 8, 236, 29ff.), steht Luther durchaus in der Fluchtlinie der ihm vorgegebenen kirchlichen Hermeneutik. Neu ist aber die Gewichtung, die in dieser Hermeneutik Wort und Schrift erhalten. Während bisher der vom hl. Geist erfüllten und kraft seiner vollmächtig lehrenden Kirche das Hauptgewicht im hermeneutischen Geviert zukam, gibt Luther dieses Hauptgewicht an die Schrift und die von ihr ausgehende Predigt des Evangeliums zurück. Es entsteht auf diese Weise ein ständig in Bewegung bleibender Zirkel von Schrift, kirchlicher Schriftauslegung und Bekenntnis (als Summe der Schrift): „So sollen denn nichts denn die göttlichen Worte die ersten Prinzipien der Christen sein, aber aller Menschen

Der hermeneutische Neuansatz der Reformatoren

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Worte sind Schlüsse, die davon abgeleitet sind und wieder darauf zurückgeführt und daran bewährt werden müssen" (WA 7 , 9 8 , 4 ff.; Übers, von Hirsch, a. a. O. 85). Das klassische Beispiel dieser neuartigen Bekenntnisinterpretation ist Luthers auf das Evangelium zulaufende Auslegung der Trinitätslehre zum Beschluß seiner 1528 entstandenen Schrift „Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis", wo es heißt: „Das sind die drey person und ein Gott, der sich uns allen selbs gantz und gar gegeben hat mit allem, das er ist und hat. Der Vater gibt sich uns mit hymel und erden sampt allen creaturen, das sie dienen und nütze sein müssen. Aber solche gäbe ist durch Adams fal verfinstert und unnütze worden, Darumb hat darnach der son sich selbs auch uns gegeben, alle sein werck, leiden, Weisheit und gerechtickeit geschenckt und uns dem Vater versunet, damit wir widder lebendig und gerecht, auch den Vater mit seinen gaben erkennen und haben möchten. Weil aber solche gnade niemand nütze were, w o sie so heymlich verborgen bliebe, und zu uns nicht komen kündte, So kompt der heilige geist und gibt sich auch uns gantz und gar, der leret uns solche wolthat Christi, uns erzeigt, erkennen, hilfft sie empfahen und behalten, nützlich brauchen und austeilen, mehren und foddern, Und thut dasselbige beide, ynnerlich und eusserlich: Ynnerlich durch den glauben und ander geistlich gaben. - Eusserlich aber durchs Euangelion, durch die tauffe und sacrament des altars, durch welche er als durch drey mittel odder weise zu uns kompt und das leiden Christi ynn uns übet und zu nutz bringet der Seligkeit" (WA 2 6 , 5 0 5 , 3 8 ff.).

Mit seiner Konzentration auf den Wortsinn der hl. Schrift abrogiert Luther also die ihm von Augustin, Thomas und dem Mittelalter her vorgegebene kirchliche Interpretations- und Verstehenslehre keineswegs, aber er radikalisiert sie und strukturiert sie neu, weil nunmehr die Kirche mit ihrer Tradition entschieden als Schöpfung des Wortes verstanden wird. Das Herzstück dieser neuen Hermeneutik Luthers ist die These von der sich selbst auslegenden Schrift und ihrer Klarheit. Die Konsequenz von Luthers Interpretationsauffassung aber ist seine vielumstrittene, wenn auch konsequente theologische und historische Bibelkritik. Was zunächst die Klarheit der sich selbst auslegenden hl. Schrift anbelangt, stoßen wir in Luthers berühmter, gegen Erasmus und dessen Abhandlung vom freien Willen gewendeter Schrift „De servo arbitrio" (= Vom unfreien Willen) auf folgende Differenzierung: Es ist eine doppelte Klarheit der Schrift zu unterscheiden. Die äußere Klarheit (= claritas externa) bezieht sich auf Wortlaut und Grammatik, die innere (= claritas interna) auf das Evangelium und seine Unterscheidung vom tötenden, in die Verzweiflung führenden Gesetz. Luther liegt nun entscheidendes daran, daß dieses Evangelium der Schrift mit klaren Worten zu entnehmen ist. Deshalb insistiert er gegenüber Erasmus darauf, daß man Sinn und Grundaussage des Christusevangeliums aus der hl. Schrift in aller Deutlichkeit ersehen kann. Wegen einiger philologischer oder historischer Undeutlichkeiten im Wortsinn der Schrift muß man nach Luther nicht von ihrer Unklarheit in Hinsicht auf das Evangelium sprechen! Die Schrift ist vielmehr in ihrem Wortsinn gerade dort evident, wo sie das Leben zutiefst betrifft, d. h. in

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der Formulierung des Christusevangeliums, und sie vermag sich diese Evidenz kraft ihres Wortlautes zu verschaffen ohne alle kirchliche Tradition und Lehre, der sich, wie wir sahen (s.o. S.96), Erasmus in Zweifelsfällen unterzuordnen bereit war. Dabei übersieht Luther nicht, daß das Evangelium nur dem als Lebenswahrheit einleuchtet, dem der hl. Geist zum Glauben an Christus verhilft. Dementsprechend bezeichnet er die innere Klarheit als das Verständnis des Evangeliums, das nur Gott allein kraft seines hl. Geistes in den Herzen wirken kann. Die innere Klarheit wäre ohne die äußere ohne Halt und Gehalt, die äußere aber ohne die innere ein leeres Schema. Sehr schön kommt dies zum Ausdruck in seinen Ausführungen, „das das wort Gottes auff zweyerley weis gehandelt wird", von 1527: „ . . . Ein mal von denen, die nicht rechtschaffen gleuben und dasselb eusserlich allein mit dem buchstaben nach der vernunfft und menschlichem verstand fassen, ein gedancken davon machen, wie die wort lauten. Das ander von denen, die der heilig geist leret, die es nicht mit eusserlichen gedancken fassen, sondern denen Gott einen rechten verstand und erfarung ym hertzen gibt." (WA 2 4 , 1 7 , 3 0 - 1 8 , 1 6 ) .

2.1.3 Luthers Bibelkritik Gehen wir von hier aus zu den kritischen Äußerungen Luthers über die Bibel über, so ist zweierlei vom bisherigen her deutlich und beachtenswert. Luthers kritische Auslegung der Bibel hat ihr Kriterium im Christusevangelium. Sie betrifft (und kann nur betreffen) den Bereich der äußeren Klarheit der Schrift. Die Leitfrage dieser Bibelkritik ist, ob und in welchem Maße die Schrift in ihrem vielfältigen, auf einzelne Bücher und Zeiten verteilten Wortlaut auf Christus verweist und ihn als den Herrn und Erlöser sehen lehrt. Wo dies geschieht, da hört Luther die Schrift als Evangelium. Wo dies nicht geschieht, da wird dem geängsteten Herzen nicht geholfen, da waltet der Widerpart des Evangeliums, das Gesetz, das nach Gottes Willen die Menschen in die Sündenerkenntnis und Verzweiflung (und damit schließlich doch zu Christus) treiben soll. Das Kriterium von Luthers kritischer Schriftauslegung ist das Christusevangelium; ihr Anwendungsbereich ist der äußere Wortlaut der Bibeltexte, und ihre Leitfrage ist die nach Christus, der das Evangelium in Person und damit zugleich das Zentrum der Schrift ist. Für Luthers kritische Schriftexegese wird auf diese Weise die theologische Unterscheidung von Gesetz und Evangelium konstitutiv. Gerade im Blick auf 2.Kor 3 und die dortige paulinische Unterscheidung von Schrift und Buchstabe, Geist (= Christus) und tötendem mosaischen Gesetz, hält Luther die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für biblisch sachgemäßer als jenes Verständnis von Geist und Buchstabe, das in der Blütezeit der Allegorese ausgebildet und Luther gelehrt worden war. Danach sollte gemäß 2.Kor3 nur zwischen dem buchstäblichen und dem geistlichen Tiefensinn der Schrift unterschieden, also die Allegorese begründet werden. Den rechten Theologen erkennt man nach Luther aber daran, ob er die Allegorese hinter sich läßt und statt dessen fähig ist, bei seiner Schriftauslegung zwischen Gesetz und Evan-

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gelium zu unterscheiden. Wer zu dieser Unterscheidung nicht imstande ist, kann nach Luthers Maßstab nicht als Theologe gelten. Von diesen wenigen Sätzen her erschließen sich die immer wieder zitierten Spitzenthesen Luthers zum Thema Bibelkritik von selbst. Sie finden sich in den Vorreden zu Luthers Septembertestament von 1 5 2 2 und in seinen Disputationsthesen über den Glauben von 1 5 3 5 . Im Septembertestament setzt Luther die lange altkirchliche Diskussion über den kanonischen Rang des Hebräerbriefes und der Johannesoffenbarung auf seine Weise fort. In der Vorrede zum Hebräerbrief bemerkt er, diese wohl erst von einem Apostelschüler abgefaßte Epistel habe darin „einen harten Knoten, daß sie im 6. und 10. Kapitel stracks verneinet und versaget die Buße den Sündern nach der Taufe; und im 12. spricht, Esau habe Buße gesucht und doch nicht gefunden, welches wider alle Evangelia und die Episteln S. Pauli ist" (Luthers Vorreden zur Bibel, hrsg. von H. Bornkamm, 1 9 6 7 , 1 7 6 = WA, D B 7 , 3 4 4 , 1 3 ff.). Zur Apokalypse schreibt er (in einer 1 5 3 0 revidierten Vorrede), er könne das Buch „weder für apostolisch noch für prophetisch" halten ( a . a . O . , 179 = WA, D B 7 , 4 0 4 , 5 f.). Luthers neue, vom Evangelium her gesteuerte Bibelkritik äußert sich aber am deutlichsten in seiner „Vorrede auf die Episteln S. Jacobi und J u d a e " , in der er den Jakobusbrief wegen seiner Paulus widerstreitenden Rechtfertigungsthesen in Kap. 2 und seines Schweigens von Jesu Tod, Auferweckung und Geist nicht zu den Hauptbüchern der Bibel zählen will und feststellt: „ . . . Und darin stimmen alle rechtschaffenen heiligen Bücher überein, daß sie allesamt Christum predigen und treiben. Auch ist das der rechte Prüfstein, alle Bücher zu tadeln ( = zu untersuchen), wenn man siehet, ob sie Christum treiben oder nicht, sintemal alle Schrift Christum zeiget, R o m . 3 (21), und S.Paulus nichts als Christum wissen will, I . K o r . 2 (2). W a s Christum nicht lehret, das ist nicht apostolisch, wenn's gleich S. Petrus oder S. Paulus lehrete. Wiederum, was Christum predigt, das ist apostolisch, wenn's gleich Judas, Hannas, Pilatus und H e r o d e s t ä t e " ( a . a . O . , 1 7 7 f. = W A , DB 7 , 3 8 4 , 2 5 ff.).

Eben dieses christologische, auf das Evangelium konzentrierte Urteilskriterium steht auch hinter Luthers Antwort von 1 5 2 2 auf die Frage „Welches die rechten und edelsten Bücher des Neuen Testaments sind". Das Johannesevangelium, die Paulusbriefe und der erste Petrusbrief sind nach seiner Meinung hoch zu rühmen, und einem jeden Christen wäre zu raten, „ . . . daß er dieselbigen am ersten und allermeisten lese und sich durch täglich Lesen so gemein machte wie das tägliche Brot. Denn in diesen findest du nicht viel Werke und Wundertaten Christi beschrieben. Du findest aber gar meisterlich ausgestrichen, wie der Glaube an Christus Sünde, Tod und Hölle überwindet und das Leben, Gerechtigkeit und Seligkeit gibt, welches die rechte Art ist des Evangelii..." (a. a. O., 1 4 0 = WA, D B 6 , 1 0 , 1 4 f f . ) . Luther schließt seine Vorrede mit den Sätzen: „Summa, Sankt Johannis Evangelium und seine Epistel, Sankt Paulus Episteln, sonderlich die zu den Römern, Galatern, Ephesern und Sankt Peters erste Epistel, das sind die Bücher, die dir Christus zeigen und alles lehren, was dir zu wissen not und selig ist, obschon du kein ander Buch noch Lehre nimmer sehest noch hörest. D a r u m ist Sankt Jakobs Epistel eine rechte stroherne Epistel gegen sie, denn sie doch keine evangelische Art an sich h a t . . . " ( a . a . O . , 1 4 0 f. = W A , D B 6 , 1 0 , 2 9 ff.).

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Wenn wir uns vollends an einige der Disputationsthesen erinnern, die Luther 1535 zur Doktorpromotion seines langjährigen Hausgenossen und Schülers Hieronymus Weller aufgestellt hat, steht uns seine kühne hermeneutische Gesamtkonzeption ganz vor Augen. Im Blick auf den humanistischen Skeptizismus des Erasmus und den regellosen Auslegungsstil der Schwärmer schreibt er: „ 4 9 . Wenn aber die Gegner die Schrift treiben gegen Christus, so treiben wir Christus gegen die Schrift ( = Q u o d si adversarii scripturam urserint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam).. 51. Müßte eins von beiden verloren werden, Christus oder das Gesetz, so soll das Gesetz verloren werden, nicht Christus. 52. Denn wo wir Christus haben, so werden wir leichtlich Gesetze stiften und alles recht urteilen. 53. Vielmehr, wir werden neue Dekaloge machen, wie Paulus sie macht durch alle Episteln, und Petrus, allermeist aber Christus im Evangelium ( = Imo novos Decalogos faciemus, sicut Paulus facit per omnes Epistolas, et Petrus, maxime Christus in Euangelio)" ( W A 3 9 / 1 , 4 7 , 1 5 f f . ) .

Die Bibelkritik, die Luther treibt, erwächst aus seiner neuartigen Bibelauslegung und seiner Sicht des Evangeliums; sie steht in der Pflicht der Wahrheit, deren das angefochtene Gewissen bedarf, und sie nimmt die Freiheit des Denkens und des Sehens in Anspruch, welche das Evangelium dem Glauben schenkt. So oft man bisher auch Luthers Freimut kritisiert oder sogar als häretisch gebrandmarkt hat, so deutlich bleibt bis heute folgendes: Die kritische Hinsicht auf die hl. Schrift nach dem Maßstab des Christusevangeliums kann sich nur der ersparen, der das Urteil über die Verbindlichkeiten des Glaubens entweder der Kirche oder - gegen Luther! - der für unfehlbar erklärten Schrift anheimgibt. Läßt man aber in der Absicht einer rein historischen Analyse der Bibeltexte die Wahrheitsfrage ganz außer Betracht, hat man sich von dem Grundimpuls aller kirchlichen Exegese dispensiert, die Wahrheit des Lebens in den biblischen Texten aufzusuchen. Zweitens gilt für Luther selbst und seit seinem Neuaufbruch, daß alle Fragen der theologischen Bibelkritik für erneute Kritik offen bleiben müssen. Alle kritischen Ergebnisthesen sind stets aufs neue der Bewährung durch erneute Schriftexegese auszusetzen. Drittens aber ist festzuhalten, daß die Inspirationslehre nach Luther die von ihm selbst geübte Bibelkritik nicht behindert, sondern vielmehr provoziert und begründet. Weil das Evangelium das ins Herz dringende Wort des Geistes ist und immer neu werden will, dieses Evangelium aber in der hl. Schrift stets neu aufgesucht und vom Gesetz unterschieden werden muß, ist die biblische Exegese verpflichtet, mit allen ihr geistig zur Verfügung stehenden Mitteln die Suche nach dem Evangelium in der Schrift voranzutreiben. Sie kann dieser Verpflichtung um so leichter nachkommen, je klarer ihr Begriff vom Schriftwort als einem Zeugniswort ist und je deutlicher sie sieht, daß äußere und innere Klarheit des biblischen Wortes zu unterscheiden, aber nicht zu trennen sind.

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2 . 1 . 4 Die Offenheit von Luthers Hermeneutik Luther hat gewußt, daß die von ihm begonnene Schriftauslegung ein lebenslanges Geschäft ist, das die Kirche zur Kirche und den Christen zum Christen macht, gleichzeitig aber beide stets neu an ihre Grenzen mahnt. Deshalb lautet die letzte uns von Luther auf einem Zettel vom 16.Februar 1546 (d.h. zwei Tage vor seinem Tod) hinterlassene Nachricht: „Den Vergil kann in seinen Bucolicis und Georgicis niemand verstehen, er sei denn fünf J a h r e Hirte oder Landwirt gewesen; den Cicero in seinen Briefen (so stelle ich mir's vor) versteht niemand, wenn er nicht zwanzig Jahre in einem hervorragenden Staatswesen sich betätigt hat; die Heilige Schrift meine niemand genügend verschmeckt zu haben, er habe denn hundert J a h r e mit den Propheten Kirchen geleitet. Darum ist es etwas ungeheuer Wunderbares um 1. Johannes den Täufer, 2 . Christus, 3 . die Apostel. Du lege nicht H a n d an diese göttliche Äneis, sondern verehre gebeugt ihre Fußtapfen! Wir sind Bettler: das ist w a h r " (zitiert nach H. Fausel, a. a. Ο. II, 3 1 1 ) .

Luthers Hermeneutik ist noch allenthalben durch die Situation des Neuaufbruchs gekennzeichnet. Sie ist von ihm weder in ein fertiges System gefaßt noch abschließend praktiziert worden. Über seinem aktuellen Engagement hat Luther auch noch keinen Anlaß gesehen, grundsätzlich auf das Verhältnis der von ihm wegweisend praktizierten Schriftauslegung zu dem sich schon in der Reformationszeit geschichtlich anmeldenden neuzeitlichen Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis zu reflektieren. Die umwälzenden Thesen und Erkenntnisse des Kopernikus (1473—1543) waren Luther bloß vom Hörensagen her bekannt, und er hat so auch nur in einer einzigen, von Freunden mitgeschriebenen Tischrede unwirsch zu den Gerüchten von jener neuartigen Astronomie und Weltbetrachtung Stellung genommen.

2.2 Calvins biblische

Hermeneutik

Johannes Calvin ( 1 0 . 7 . 1 5 0 9 - 2 7 . 5 . 1564) ist von H. Rückert als Luthers „größter Schüler" bezeichnet worden, und zwar „nicht nur deswegen, weil er das von ihm Übernommene am selbständigsten und einheitlichsten gestaltet, sondern auch weil er Luthers reformatorischen Ansatz am tiefsten verstanden und am treuesten gewahrt hat" (a.a.O., 167). Während Luther der bahnbrechende schöpferische Theologe und ebenso originelle wie biblisch engagierte Wegbereiter der Reformation gewesen ist, war der um 2 6 Jahre jüngere und in Paris juristisch ausgebildete Calvin der bessere Systemdenker und, wie allgemein zugestanden, derjenige unter den Reformatoren, der die neue Exegese vollends durchgeformt und in seinen berühmten Bibelkommentaren auch überzeugend praktiziert hat. Calvin „konzentrierte die Bedeutung der Schrift nicht auf die Botschaft von der Vergebung und der Rechtfertigung des Sünders. Für ihn war es wichtig, daß die ganze Schrift die Offenbarung der göttlichen Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe enthält und darum in ganz umfassender Weise Wort Gottes ist. Er betonte die formale Autorität der Schrift und daher

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auch das ,sola scriptura', während Luther immer wieder von der ,viva vox evangelii' sprach" (G.Friedrich, a.a.O., 30). Unter diesen Umständen sind Calvins hermeneutische Grundthesen für uns von großer Bedeutung. 2.2.1 Calvins Schriftverständnis Was Calvin mit Luther eint, ist zunächst die exklusive Wertschätzung der Bibel als Offenbarungszeugnis. Wie Luther hält auch er die hl. Schrift für inspiriert und läßt sich durch diese Auffassung nicht daran hindern, die Schrift historisch in ihrer Zeit und Situation zu sehen. Inspiration der hl. Schrift bedeutet für Calvin (nach Institutio I, 6,2), daß die Schrift „über wirkliche Offenbarungstatsachen Gottes berichtet, d.h. daß sie Urkunde von Offenbarungen ist, die vor ihrer Aufzeichnung erfolgt und eine Zeitlang mündlich überliefert waren" (H. Heppe - E.Bizer, a.a.O., 17). Die Schrift ist m.a.W. inspiriertes Zeugnis-Wort. Es liegt in seiner Menschlichkeit dem historischen Blick und der geschichtlichen Prüfung offen. Gleichzeitig besitzt es aber die Kraft, zur Gotteserkenntnis zu führen: „ . . . e s kommt niemand auch nur zum geringsten Verständnis rechter und heilsamer Lehre, wenn er nicht zuvor ein Schüler der Schrift wird. Da liegt der Ursprung wahren Erkennens: wenn wir mit Ehrfurcht annehmen, was Gott hier von sich selber hat bezeugen wollen" (Inst. I, 6,2). 2.2.2 Calvins Lehre vom inneren Zeugnis des Geistes Wir haben oben schon betont, daß nach (Luther, s.o. S. 101 f., und) Calvin das Schriftwort erst dann Glauben findet, wenn der hl. Geist ihm den Weg in die Herzen bahnt. Hören wir noch einmal Calvin selbst: „Weil die gottlosen Menschen meinen, die Religion bestehe auf Menschengedanken, so wünschen und verlangen sie, um den Schein törichter Leichtgläubigkeit zu meiden, vernünftige Beweise dafür, daß Mose und die Propheten in Gottes Auftrag geredet haben. Ich aber entgegne: das Zeugnis des Heiligen Geistes ist besser als alle Beweise. Denn wie Gott selbst in seinem W o r t der einzige vollgültige Zeuge von sich selber ist, so wird auch dies W o r t nicht eher im Menschenherzen Glauben finden, als bis es vom inneren Zeugnis des Heiligen Geistes versiegelt worden ist. Denn derselbe Geist, der durch den Mund der Propheten gesprochen hat, der muß in unser Herz dringen, um uns die Gewißheit zu schenken, daß sie treulich verkündet haben, was ihnen von Gott aufgetragen w a r " (Inst. I, 7,4).

Mit der von ihm neuformulierten Lehre vom inneren Zeugnis des hl. Geistes hat Calvin auf den Begriff gebracht, was Luther in „De servo arbitrio" Erasmus gegenüber verfochten und auch anderweitig vertreten hat. Calvin läßt aber auch aufs schönste erkennen, welche Haltung des Schriftforschers der äußeren und inneren Selbstmitteilung Gottes durch das Wort der hl. Schrift entspricht. Es sind Demut, Ehrfurcht vor dem Schriftwort und erstaunlich modern anmutend - die Bereitschaft, an der Schrift in brüderlicher Gemeinschaft zu forschen, so daß sich die um den Text bemühten Brüder gegenseitig beraten, kritisieren und fördern können. Ziel der Schriftauslegung

Der hermeneutische Neuansatz der Reformatoren

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ist die Erbauung der Gemeinde. H.-J. Kraus zitiert in seinem Aufsatz über „Calvins exegetische Prinzipien" einen Brief aus dem Jahre 1 5 4 0 , in welchem Calvin einem Pfarrer rät: „Du mußt bei Deinen Studien doch auch darauf achten, daß sie Dir nicht bloß zur Unterhaltung, sondern zu dem Z w e c k dienen, einst der Kirche Christi Nutzen zu bringen. Denn diejenigen, welche von der Wissenschaft nichts anderes wollen, als mit ehrenwürdiger Beschäftigung die Langeweile des Müßiggangs vertreiben, kommen mir immer vor wie Leute, die ihr ganzes Leben damit zubringen, schöne Gemälde zu betrachten" ( a . a . O . , 3 3 3 ) .

2.2.3 Calvins hermeneutische Grundsätze Calvin drängt also auf eine für die Kirche dienliche theologische Schriftauslegung, und zwar nach folgenden Grundsätzen: Die Auslegung muß von durchsichtiger Kürze sein, auf alles ehrgeizige Schnörkelwerk verzichten und sich mit allen wissenschaftlichen Mitteln auf die Erhellung des Wortsinnes der hl. Schrift konzentrieren. Die Luther gelegentlich in seinen praktischen Exegesen noch unterlaufende Allegorese wird von Calvin nunmehr prinzipiell verworfen. Ziel der Interpretation ist es, die Meinung des biblischen Schriftstellers mit aller Genauigkeit und unter Berücksichtigung aller zeitgeschichtlichen Umstände zu eruieren. Bei der Erforschung der Bibel setzt Calvin noch wesentlich entschlossener und programmatischer als Luther das gesamte historische und philologische Rüstzeug ein, das der Humanismus (den er selbst mitvertrat und verkörperte) anbot. Calvin drängt auf eine kontextgemäße Bibelauslegung und möchte die theologische Intention der Texte nur von hier aus und nicht in freier dogmatischer Setzung entwickelt sehen. Aus diesem Grund geht er bei der christologischen Auslegung alttestamentlicher Texte wesentlich vorsichtiger vor als Luther. Statt des von Luther bevorzugten Interpretationsschemas von Gesetz und Evangelium bevorzugt Calvin die Relation von Verheißung und Erfüllung sowie die Typologie. Altes und Neues Testament voneinander zu trennen, ist für ihn ganz abwegig, weil er die Bibel in der Wirklichkeit des im Alten Testament verheißenen und im Neuen erfüllten Bundes von J e r 3 1 , 3 1 ff. zur Einheit verbunden sieht. Christus gilt dem Genfer Reformator dementsprechend als der Mittler des neuen Bundes, als der Immanuel, der im Alten Testament verheißen und verborgen gegenwärtig, im Neuen aber als Mensch offenbar geworden und als Versöhner gekreuzigt und auferweckt worden ist (Institutio II, 9,1-12,7). Die Erscheinung Jesu Christi ist die Bestätigung dafür, daß Altes und Neues Testament geschichtlich zusammengehören, und zwar als die zwei Offenbarungsurkunden, die einander ergänzen und interpretieren. M a n muß diese Betrachtung Christi im Auge behalten, wenn man zuletzt darauf hinweist, daß auch Calvin in Christus die Mitte der Schrift gesehen und dementsprechend in seinem Johanneskommentar gefordert hat, die Schrift mit der Absicht zu lesen, „Christus in ihr zu finden. Wer von diesem Skopus abweicht, der mag zeit seines Lebens sich abmühen und studieren, er wird nie

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Schriftauslegung zur Zeit des Humanismus und der Reformation

zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen, oder können wir ohne die Weisheit Gottes weise sein?" (CR 4 7 , 125). Oder noch einmal anders und unter Rückgriff auf den Schluß des 16. Kapitels im zweiten Buch von Calvins Institutio formuliert: Calvin mustert hier den zweiten Artikel des Apostolicums und kommt zu dem Ergebnis, daß dieses Glaubensbekenntnis, wer immer es verfaßt haben mag, „ . . . wirklich die ganze Geschichte, auf der unser Glaube ruht, deutlich und in guter Ordnung wieder(gibt), und es nichts (enthält), was nicht durch unumstößliche Zeugnisse der Heiligen Schrift klar bewiesen i s t . . . " Seine Schlußfolgerung aus dieser Erkenntnis lautet: „Unser ganzes Heil, alles, was dazu gehört, ist allein in Christus beschlossen (Apg 4 , 1 2 ) . Deshalb dürfen wir auch nicht das geringste Stücklein anderswoher ableiten. Suchen wir das Heil, so sagt uns schon der N a m e Jesus: es liegt bei ihm! ( l . K o r 1,30). Geht es uns um andere Gaben des Geistes, so finden wir sie in seiner Salbung! Geht es um Kraft - sie liegt in seiner Herrschaft, um Reinheit - sie beruht auf seiner Empfängnis, um Gnade - sie bietet sich uns dar in seiner Geburt, durch die er uns in allen Stücken gleich geworden ist, auf daß er könnte Mitleiden haben mit unseren Schwachheiten (Hebr 2 , 1 7 ; 4 , 1 5 ) . Fragen wir nach Erlösung - sie liegt in seinem Leiden, nach Lossprechung— sie liegt in seiner Verdammnis, nach Aufhebung des Fluchs - sie geschieht an seinem Kreuz (Gal 3 , 1 3 ) , nach Genugtuung - sie wird in seinem Sühnopfer vollzogen, nach Reinigung - sie kommt uns zu in seinem Blut, nach Versöhnung - wir haben sie um seines Abstieges zur Hölle willen, nach der Absterbung unseres Fleisches - sie beruht auf seinem Begräbnis, nach dem neuen Leben — es erscheint in seiner Auferstehung, nach Unsterblichkeit - auch sie wird uns da zuteil. Wir möchten Erben des Himmels sein - wir können es; denn er ist in den Himmel eingegangen; wir begehren Schutz und Sicherheit, Reichtum aller Güter: in seinem Reich finden wir sie! Wir möchten zuversichtlich dem Gericht entgegensehen: wir dürfen es, denn ihm ist das Gericht übertragen! Und endlich: in ihm liegt ja die Fülle aller Güter, und deshalb sollen wir aus diesem Brunnquell schöpfen, bis wir satt werden, nicht aus einem a n d e r e n ! . . . " (Inst. II, 1 6 , 1 8 - 1 9 ) .

2 . 2 . 4 Calvins hermeneutische Leistung M a n darf also in Calvin den Reformator sehen, dem eine erste Systematisierung der reformatorischen Hermeneutik gelungen ist. Methodisch noch konsequenter als Luther zeichnet er den Weg vor für eine in der Sache christologisch gebundene, in der Durchführung zum historischen Sehakt (A. Schlatter) befreite Exegese der hl. Schrift; eine Exegese, von der die Kirche der Reformation als Kirche des Wortes lebt und die eben darum dem Aufbau dieser Kirche zu dienen hat. Nach Luther und Calvin ist es jedoch alsbald zu Entwicklungen gekommen, die eine geradlinige Fortentwicklung ihres hermeneutischen Ansatzes verhindert haben. Die römisch-katholische Kirche führte auf dem Konzil von Trient den hermeneutischen Gegenschlag gegen die Reformatoren, so daß deren Nachfahren wiederum zu einer hermeneutischen Gegenreaktion gezwungen waren. Und zwar einer Gegenreaktion, welche sie trotz glänzender systematischer Denkleistungen auf die Dauer gerade zu jener theologischen Exegese, welche die Reformatoren selbst betrieben haben, unfähig machte und dementspre-

Schriftauslegung im Zeitalter der Gegenreformation

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chend kritisierenswert erscheinen ließ. Diesen Entwicklungen ist nunmehr nachzugehen.

§ 8 Schriftauslegung und Schriftverständnis im Zeitalter der Gegenreformation 1. Die hermeneutischen

Entscheidungen

des Konzils von Trient

Die römisch-katholische Kirche hat der reformatorischen Kritik an ihrem Schriftverständnis nicht tatenlos zugesehen. Auf der vierten Session des Tridentinischen Konzils traf sie vielmehr drei folgenschwere Entscheidungen. Sie finden sich in den beiden Dekreten „De libris sacris et de traditionibus recipiendis" und „De vulgata editione Bibliorum et de modo interpretandi s. Scripturam" vom 8. April 1546. Sie haben folgenden Inhalt: Der für die römischkatholische Kirche maßgebliche biblische Kanon ist der der Vulgata; für die Ausbildung der Lehre und für die offizielle Zitation ist somit nicht der jeweilige biblische Urtext, sondern der lateinische der Vulgata (juridisch) verbindlich. Die biblischen Bücher und die daneben von Christus direkt oder von den Aposteln herzuleitenden und von der katholischen Kirche in ununterbrochener Überlieferungskette bewahrten, Glaube und Sitten betreffenden Traditionen werden „mit gleicher frommer Ergriffenheit und Hochachtung" (pari pietatis affectu ac reverentia) aufgenommen und verehrt. Schließlich wird das altkirchliche und mittelalterliche Auslegungsschema dogmatisch sanktioniert und „zur Dämpfung mutwilliger Gemüter" festgeschrieben: „ . . . Niemand soll es wagen, in Sachen des Glaubens und der Sitte, die zum Aufbau christlicher Lehre gehören, die Heilige Schrift im Vertrauen auf eigene Klugheit nach seinem eigenen Sinn zu drehen, gegen den Sinn, den die heilige Mutter Kirche hielt und hält - ihr steht das Urteil über den wahren Sinn und die Erklärung der heiligen Schriften zu - , oder auch die Heilige Schrift gegen die einstimmige Auffassung der Väter auszulegen, auch wenn eine solche Auslegung niemals zur Veröffentlichung bestimmt w ä r e " (Denzinger-Schönmetzer Nr. 1 5 0 7 ) .

Diese drei Lehrentscheidungen haben tiefgreifende Folgen gehabt. Während sie im eigenen katholischen Lager die Situation (freilich unter Kritik an den Absichten der bis in die Kurie hinauf vertretenen reformwilligen Humanisten) stabilisierten, stellten sie die Protestanten vor die Alternative, sich entweder zu unterwerfen oder ihr eigenes Schriftprinzip und ihren neuen hermeneutischen Ansatz gegenüber dieser massiven Herausforderung festzuhalten und zu präzisieren. Während die katholische Exegese und die Fortentwicklung der Hermeneutik im Katholizismus durch jene beiden Dekrete für Jahrhunderte gelähmt wurden, haben die Protestanten unter schweren Opfern den zweiten Weg gewählt. Sie haben sich auf diesem Wege aber nicht so von ihrem Gegner

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Schriftauslegung im Zeitalter der Gegenreformation

freimachen können, daß ihnen eine wirklich kontinuierliche Fortentwicklung der reformatorischen Schriftauslegung gelungen wäre. Doch tritt dieser Umstand erst zu Ende des 17. Jh.s voll in Erscheinung.

2 . Die Lehre von der Schrift in der Confessio

Virtembergica

Eine der ersten protestantischen Reaktionen auf die Entscheidungen von Trient bestand in der sog. Confessio Virtembergica. Es handelt sich dabei um eine im wesentlichen von dem schwäbischen Reformator Johannes Brenz (1499— 1 5 7 0 ) ausgearbeitete, im Auftrag Herzog Christophs von Württemberg am 2 4 . Januar 1 5 5 2 auf dem Konzil übergebene Bekenntnisschrift. 1 5 5 9 wurde sie als erstes Stück in die für Württemberg gültige „Große Kirchenordnung" des Herzogs aufgenommen und gilt seither in Württemberg als eines der maßgeblichen Bekenntnisse der Reformationszeit. In Artikel 2 7 der Confessio heißt es von der hl. Schrift: „Die heilige Schrift nennen wir die ordentlichen, bestätigten Bücher des Alten und Neuen Testaments, an deren Glaubwürdigkeit in der Kirchen nie kein Zweifel gewesenist. - Hierauf glauben und bekennen wir, daß diese Schrift seie ein wahrhaftige, gwisse Predig des heiligen Geists, welche mit himmelischen Zeugnussen dieser Gstalt bestätiget ist, daß wann ein Engel vom Himmel ein anders prediget, soll er verflucht sein. Darum verwerfen wir alle Lehr, Gottsdienst und Religion, die dieser Schrift widerwärtig seind. — Daß aber etlich dafür halten, es seie in dieser Schrift nicht alle Lehre, so uns zum rechten, wahren, ewigen Heil zu wissen nötig, begriffen, daß auch der Gwalt, diese Schrift auszulegen, stehe dermaßen in der Hand der Bäpsten, daß man alles, so sie ihres Gfallens sprechen, als des heiligen Geists Meinung erkennen und annehmen soll, laßt sich viel leichtlicher reden dann vertedingen." Unter Verweis auf 2.Tim 3 , 1 6 f . und Joh 1 5 , 1 5 wird anschließend die Schrift als für den Glauben hinreichende Heilsurkunde verteidigt und der päpstliche Lehranspruch wenig später zurückgewiesen: „ . . . Dann daß man fürgibt, der Gwalt, die Schrift auszulegen, seie bei den Bäpsten, so ist es offenbar, daß die Gaben, der Schrift auszulegen, nicht aus menschlicher Weisheit, sonder aus dem heiligen Geist herkommen. ,In einem jedlichen', spricht Paulus (l.Kor 12,7),,erzeigen sich die Gaben des Geists zum gmeinen Nutz. Einem würdt gegeben, durch den Geist zu reden von der Weisheit', etc. - Nun ist aber der heilig Geist ganz frei und an keinen sonderlichen Stand der Menschen gebunden, sonder er teilet den Menschen die Gaben aus nach seinem Wohlgefallen." Es folgen Zitate und Verweise aus N u m 1 1 , 2 9 ; Ri 4 , 4 ; Am 7 , 1 4 sowie l . K o r 1 2 , 1 1 , und der Gesamtartikel „Von der heiligen Schrift" schließt mit den Sätzen: „ . . . Es bezeugen auch die Exempla, daß die Bäpst oft und dick schändlich geirret haben. - Darumb soll man die Gaben, Geschrift auszulegen, nicht dieser Gestalt in des Bapsts Stand einschließen, daß ein j edlicher, der ein Bapst würdt, die Schrift recht auslege, sonder der recht Verstand der Schrift ist bei ihr selbs und bei denen, so durch den heiligen Geist erwecket seind, die Schrift durch die Schrift auszulegen, zu suchen" (Text nach: E. Bizer, a.a.O., 179f.).

Die Hermeneutik des Matthias Flacius Illyricus

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Bemerkenswert an diesem Artikel über die hl. Schrift und ihre Interpretation ist in unserem Zusammenhang dreierlei: Man geht entschlossen aus von Luthers Grundsatz der sich selbst interpretierenden und keiner Ergänzung durch die Tradition bedürftigen hl. Schrift. Zweitens aber neigt man in der Kampfsituation, in der man steht, bereits zu Vereinfachungen des von Luther selbst differenzierter gesehenen Tatbestandes der Kanonizität der biblischen Bücher. Drittens verweist man auf die Erleuchtung durch den hl. Geist als den entscheidenden Legitimationsgrund für die (protestantische) Schriftauslegung, bedient sich also der uns vertrauten Inspirationslehre in betont apologetischer Weise zur Absicherung der eigenen konfessionellen Position. Zwar halten sich alle drei Akzente noch im Rahmen des uns vertrauten reformatorischen Ansatzes, führen aber insgesamt schon hinüber zu neuen konfessionalistischen Problemstellungen.

3. Die Hermeneutik

des Matthias Flacius Illyricus

Vor allem die Absicht, von der hl. Schrift auszugehen, die sich selbst interpretiert und kraft ihrer Predigt eigene, vom hl. Geist erleuchtete Ausleger gewinnt, weist hinüber zu dem an der Schwelle zur lutherischen Orthodoxie stehenden, hermeneutisch hochbedeutsamen Werk des Matthias Flacius Illyricus (15201575), seiner zweibändigen „Clavis scripturae sacrae" (= [Auslegungs-JSchlüssel zur hl. Schrift). Das Werk ist 1567 in erster Auflage erschienen und bis ins 18. Jh. hinein immer wieder abgedruckt und neuediert worden. Wir haben hier den ersten Versuch vor uns, eine systematische Anleitung und Darstellung der lutherischen Hermeneutik zu geben. Flacius war ein zu seiner Zeit angesehener Hebraist und zugleich ein zu jahrzehntelangem ungesichertem Wanderleben genötigter Anhänger der reinen lutherischen Lehre. Er geht bei seiner vor allem im ersten Traktat des zweiten Bandes der Clavis entfalteten Hermeneutik aus von einer durch ihn neu entwickelten (bis heute in vielfältigen Variationen immer wiederholten) kirchen- und auslegungsgeschichtlichen These. Sie besagt, daß schon im zweiten Jahrhundert eine unheilvolle Vermengung biblischer und philosophischer Auslegungsprinzipien stattgehabt habe, die für die Fehlentwicklung der katholischen Schriftauslegung bis in die Reformationszeit verantwortlich zu machen ist. Flacius will diese Fehlentwicklung korrigieren, indem er auf die genuin biblischen Auslegungsweisen zurückgreift. Diese tun sich auf, wenn man mit Luther von der sich selbst auslegenden hl. Schrift her denkt. Die hl. Schrift ist für Flacius die Urkunde des Glaubens, die in Christus ihren Mittelpunkt hat und deren Autor und Ausleger der hl. Geist ist. Folglich ist die glaubende Zuwendung zu Christus, der uns die Schrift eröffnet, das wichtigste Verständnisprinzip: „Es ist das Amt Christi, uns die Schrift zu eröffnen und unser Herz zu erleuchten, daß es die Schrift versteht (Lk 24,45). Aus seiner Fülle müssen wir alle empfangen. Das geschieht aber, wenn wir ihn im Glauben anerkennen und aufnehmen" (Clavis II, tract. I, Regulae cognoscendi sacras litteras ex ipsis desumptae, Nr. 2; a.a. O., 31).

112

Schriftauslegung im Zeitalter der Gegenreformation

Um in den Sinn der hl. Schrift einzudringen, bedarf es aber nicht nur des Glaubens an Christus, sondern vor allem der genauen Durchdringung des Wortsinnes der hl. Schrift. Flacius wehrt sich leidenschaftlich dagegen, daß der spezifische Wortlaut der biblischen Texte und Bücher von dogmatischen Interessen her überfremdet und als bloßes Belegmaterial für die Lehre angesehen wird. Ihm geht es darum, die biblischen Texte und Bücher aus sich selbst heraus zu bewerten. Wenn er von der Bedeutung des Wortsinnes der Bibel spricht, dann meint er dies philologisch und historisch genau. Er ruft den Ausleger auf, seine Texte nicht isoliert, sondern unter genauer Beachtung des Kontextes und des Aufbaus der einzelnen Bücher, ihrer Lehr- und Aussageintention und der Gattungen zu exegesieren, die vorliegen. Flacius wörtlich: „Wenn also überhaupt der ganze Text für uns dunkel ist, sei es wegen des Gegenstandes, sei es wegen der Sprache, so wird es sehr nützlich sein, i h n . . . genau zu prüfen und sowohl den Skopus wie die Gattung des ganzen Korpus zu erwägen: ob es sich um eine Erzählung oder Geschichte, um eine Unterweisung oder irgendeine Lehre, um eine Trostschrift oder eine Schelte, um die Beschreibung irgendeiner Sache, um eine Rede oder etwas ähnliches handelt" (Clavis II, tract. I, Praecepta de ratione legendi sacras litteras, nostro arbitrio collecta, aut excogitata Nr. 20; vgl. a.a. O., 97).

Man kann ohne Übertreibung sagen, daß bereits hier bei Flacius Probleme gesehen und sinnvoll gelöst werden, die in der formgeschichtlichen Analyse der biblischen Texte wieder aufgegriffen worden sind und gegenwärtig bei den Fragen der Textlinguistik neu zur Debatte stehen. Gehen wir der hermeneutischen Linienführung des Matthias Flacius weiter nach, ist noch auf einige bedeutsame Gesichtspunkte hinzuweisen, mit denen Flacius in seiner Zeit und weiter über sie hinaus Schule gemacht hat. Der erste Gesichtspunkt besteht in seinem Rat, bei der Auslegung eines Textes stets den Skopus (d.h. seine Aussageabsicht) und das sog. argumentum (= seinen Sinngehalt) im Auge zu haben: „Wenn du an die Lektüre eines Buches herangehst, so richte es gleich am Anfang, soweit es geschehen kann, ein, daß du zuerst den Skopus, den Zweck oder die Absicht dieser ganzen Schrift, was wie das Haupt oder das Gesicht derselben ist, unverwandt und gehörig im Auge behältst... Dieser ist entweder einer, wenn die ganze Schrift ein einheitliches Ganzes bildet, oder es sind mehrere, wenn sie mehrere Teile besitzt, die untereinander nicht zusammenhängen. - Zweitens arbeite darauf hin, daß du das gesamte Argument, die Summe, den Auszug oder die Kurzfassung desselben im Griff hast. Ich nenne aber das Argument jenen reichhaltigeren Begriff sowohl des Skopus wie auch die Umschreibung des ganzen Korpus, in welchem oft zugleich auch der Anlaß der Niederschrift notwendig bezeichnet wird, falls das nicht in der Schrift selbst enthalten ist" (Clav. II, tract. I, Praecepta de ratione legendi..., N r . 9 und 10; vgl. a.a.O., 91/ 93).

Flacius meint mit dieser berühmten Skopus-Lehre mehr als die historischsystematische Durchdringung der einzelnen biblischen Schriften. Er ist der Meinung, daß alle einzelnen biblischen Texte und Bücher zum Ganzen der biblischen Glaubenslehre beitragen. Deshalb nennt er Christus „scopus et argumentum totius Scripturae" (Clav. II, tr. I, Regulae cognoscendi..., Nr. 9;

Die Hermeneutik des Matthias Flacius Illyricus

113

a . a . O . , 34), d.h. den Skopus und den systematischen Inbegriff (argumentum) der Schrift insgesamt. Damit stehen wir bei der nächsten Interpretationsregel. Während Luther in der hl. Schrift die einzelnen biblischen Autoren um die Wahrheit ringen sieht und im biblischen Kanon deshalb Haupt- und Nebenschriften, Zentrum und der Kritik unterliegende Peripherie der Bibel unterscheidet, geht Flacius bewußt davon aus, daß die hl. Schrift in sich ein organisches Ganzes darstellt. Flacius veranschaulicht sich den inneren Zusammenhang der hl. Schrift „unter dem Bilde des Organismus, der Einheit der Glieder in dem von ihnen konstituierten und sie zugleich tragenden Gesamtleben des Leibes. Ziel der Auslegung... ist es nun, diesen inneren Aufbau des Schriftganzen wie seiner Teile zu erfassen und herauszuarbeiten, so daß dem Hörer die Schrift als ein lebendiger O r g a n i s m u s . . . klar vor Augen rückt, in dem nichts mehr beziehungslos bleibt, alles vielmehr auf jene höhere Einheit hinweist und zugleich von ihr her seinen tiefsten, eigenen Sinn bekommt. Eben weil ihm die Schrift kein ,confusum chaos', ...ebensowenig ein Konvolut zusammenhangsloser Materien ist, bedeutet für Flacius die Willkür jener verräterischem Beispiel folgenden Ausleger, d i e . . . allein was ihnen je brauchbar scheint aus der Schrift herausgreifen, eine exegetische Unmöglichkeit" (Moldaenke, a . a . O . , 604).

Daß sich unter diesen Umständen die Kritik an der hl. Schrift bereits bei Flacius auf textgeschichtliche Erörterungen reduziert, ist verständlich und im Blick auf das Jahrhundert nach Flacius zugleich bemerkenswert. Fragt man schließlich, wie Flacius die von ihm intendierte einheitliche Auslegung der in sich ein Ganzes bildenden Schrift methodisch gewährleisten will, gibt er die Antwort: „Jede Einsicht und Auslegung der Schrift geschehe nach der Analogie des Glaubens, welche wie eine Art N o r m eines gesunden Glaubens ist oder wie Schranken, damit wir nicht durch einen Sturm von außen oder auch durch einen von innen kommenden Anstoß außerhalb der Einfriedung in Abgründe stürzen (Römer 12,6). Alles, was also von der Schrift oder aus der Schrift gesagt wird, m u ß . . . mit den Glaubensartikeln übereinstimmen" (Clav. II, tract. I, Regulae cognoscendi..., Nr. 17; a . a . O . , 47/49).

Mit dem dann in der Orthodoxie immer wieder auftauchenden Stichwort der „analogia fidei" aus Rom 12,6 ist der letzte hermeneutische Gesichtspunkt genannt, der bei Flacius besonders bemerkenswert ist. Er zeigt, daß das von Flacius entworfene hermeneutische Programm einer theologischen Schriftauslegung gilt. Die fides, nach deren M a ß und Analogie in der Auslegung verfahren werden soll, ist für den Lutheraner Flacius das Rechtfertigungsevangelium (in welchem s . M . n . auch die altkirchlichen Symbole gipfeln). Da Flacius sich den Sinn dieses Evangeliums von den biblischen Schriften her aufhellen läßt, halten sich für ihn historische und theologische Schriftauslegung noch die Waage. Verstärkt sich jedoch das Interesse an der dogmatischen Glaubenswahrheit und wird es u.U. sogar beherrschend, dann kann auch in dem von Flacius entworfenen Auslegungssystem die historische Schriftauslegung verkümmern, und zwar dadurch, daß sie zu einer untergeordneten, der Dogmatik nur zudienenden Hilfswissenschaft zurückgestuft wird, die in ihren Ergebnissen den dogmatischen Leitgedanken unter keinen Umständen widerstreiten darf. Z u

114

Schriftauslegung im Zeitalter der Gegenreformation

eben dieser Entwicklung ist es tatsächlich in der altprotestantischen Orthodoxie des 17. Jahrhunderts gekommen.

4.

Das Schriftprinzip

der

Konkordienformel

Der eigentliche Einsatzpunkt zur Orthodoxie liegt bei der 1580 zum fünfzigsten Jahrestag der Confessio Augustana veröffentlichten Konkordienformel. Hier wird den Einzelartikeln ein Abschnitt vorangestellt, der die Überschrift trägt: „Von dem summarischen Begriff, Regel und Richtschnur, nach welcher alle Lehr geurteilet, und die eingefallene Irrungen christlich erkläret und entscheiden werden sollen." Gleich zu Beginn dieses Abschnittes heißt es: „Wir glauben, lehren und bekennen, daß die einige Regel und Richtschnur, nach welcher zugleich alle Lehren und Lehrer gerichtet und geurteilet werden sollen, seind allein die prophetischen und apostolischen Schriften Altes und Neues Testamentes, wie geschrieben stehet: ,Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege', Psal. 119. Und S.Paulus: ,Wann ein Engel v o m Himmel käme und predigte anders, der soll verflucht sein', Gal. 1. — Andere Schriften aber der alten oder neuen Lehrer, wie sie N a m e n haben, sollen der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, sondern alle zumal miteinander derselben unterworfen und anders oder weiter nicht angenommen werden, dann als Zeugen, welchergestalt nach der Apostel Zeit und an welchen Orten solche Lehre der Propheten und Apostel erhalten worden" (BKS der ev.luth. Kirche, 2 1 9 5 2 , 7 6 7 , 1 4 - 7 6 8 , 7 ) .

Wir haben in diesen Sätzen die klassische Ausformulierung des sog. protestantischen Schriftprinzips vor uns, mit dem man sich in der Nachfolge Luthers gegen die katholische Position zu behaupten suchte. Dieses Schriftprinzip ist von den orthodoxen Theologen des 17. Jahrhunderts zu einer kunstvollen Lehre von der hl. Schrift ausgebaut worden. Wir können die Bedeutung und zugleich die folgenreiche Begrenztheit dieser Lehre aber erst dann beurteilen, wenn wir folgendes im Auge behalten. In der katholischen Hermeneutik wurden im 16. und 17. Jahrhundert nicht nur Schrift und kirchliche Glaubenstradition einander gleichgeordnet, sondern auch die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn weiter hochgehalten. Die „Evangelischen" mußten in ihrer Lehre von der hl. Schrift deshalb gleichzeitig gegen das katholische Traditionsprinzip Front machen und gegen die Auffassung, daß die in ihren Texten mehrsinnige hl. Schrift allein vom römisch-katholischen Glaubensbewußtsein her eindeutig interpretiert werden könne. Es galt also die Einzigartigkeit der hl. Schrift und gleichzeitig ihre Eindeutigkeit in Glaubensdingen herauszustellen, und dies, obwohl das Neue Testament selbst Allegoresen enthält und man protestantischerseits keineswegs gewillt war, die sich in den großen altkirchlichen Bekenntnissen dokumentierende altkirchliche Glaubens- und Gotteslehre preiszugeben.

Die Lehre von der Schrift in der altprotestantischen Orthodoxie

5. Die Lehre von der Schrift in der altprotestantischen

115

Orthodoxie

Die Orthodoxie trug dieser gestaffelten Herausforderung dadurch Rechnung, daß sie das protestantische Schriftprinzip genauestens entfaltete, durch die Lehre von den sog. affectiones scripturae ergänzte und hermeneutisch die Interpretation der Schrift nach der Analogie des Glaubens zum beherrschenden Modell erhob. Der Preis, der für dieses geschlossene System zu entrichten war, war die weitgehende Verdrängung der noch von Flacius geforderten eingehend historischen Bibelinterpretation und eine schließlich untragbar erscheinende Diastase von dogmatischer Schriftbetrachtung einerseits und christlichem Leben mit der Bibel andererseits. Was zunächst das Schriftprinzip anbelangt, so erscheint die Bibel in den verschiedenen Systementwürfen der Orthodoxie des 17. Jahrhunderts, und zwar bei den Lutheranern ebenso wie bei den Reformierten, als in sich unüberbietbare Grundlage aller theologischen Erkenntnise. Als das vom hl. Geist gegebene Wort Gottes ist die Schrift untrüglich wahr. Schrift und Wort Gottes werden mit Hilfe des Inspirationsgedankens identifiziert. In der „Theologia positiva acroamatica" von Johann Friedrich König, einem seit seinem Erscheinen im Jahre 1 6 6 4 bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts immer wieder aufgelegten dogmatischen Lehrbuch der Hochorthodoxie, wird z.B. gesagt, die die hl. Schrift hervorbringende Wirkursache, die causa efficiens, sei differenziert zu denken, nämlich als causa efficiens principalis und als causa efficiens ministerialis (Texte im folgenden nach Ratschow, a. a. O., 71 u. 77). Die „hauptsächliche Wirkursache" sei der dreieinige Gott, „der nicht nur die Inhalte, sondern auch die der Schrift eigentümlichen Worte einhaucht", und die „dienende Wirkursache" seien die Propheten, Evangelisten und Apostel, „die bei dem eigentlichen Akt der Niederschrift (der hl. Schrift) um der ihnen zuteilgewordenen Erleuchtung willen völlig irrtumsunfähig gewesen seien. Die Betrachtung der Bibel geht deshalb bei König von dem Grundsatz aus: „Quidquid scriptura sacra docet, divinitus inspiratum adeoque infallibiliter verum est" ( = „Was die hl. Schrift lehrt, ist von Gott inspiriert und eben deshalb unfehlbar wahr"). Es sollte jedem klar sein, daß wir mit dieser orthodoxen Lehre von der Schrift an einer der Wurzeln des uns gegenwärtig beschäftigenden Streites um den Rang der hl. Schrift stehen. Es ist deshalb wichtig zu erkennen, daß die die Unfehlbarkeit der hl. Schrift ermöglichende Fassung der Inspirationslehre genau die ist, die wir über Philo von Alexandrien tief in den Hellenismus zurückverfolgen können (s.o. S . 5 5 f . ) ; ihr gegenüber ist die andere, eigentlich biblische Auffassung von der Inspiration, die sich mit dem Grundsatz der Geistesvollmacht der erwählten biblischen Zeugen begnügt, in der Orthodoxie auf der Strecke geblieben. Prüfen wir die orthodoxe Lehre von den sog. affectiones scripturae sacrae, d.h. den Eigenheiten oder Eigenschaften der hl.Schrift, machen wir dieselbe Entdeckung. Nach Auffassung der Orthodoxie, die in unterschiedlicher Gründlichkeit, im Kern aber einhellig vorgetragen wird, ist die hl. Schrift mit folgenden drei affectiones ausgestattet, mit auctoritas, mit perfectio (oder sufficientia)

116

Schriftauslegung im Zeitalter der Gegenreformation

und mit perspicuitas (oder efficacia). Autorität besitzt die hl. Schrift als inspiriertes Wort Gottes; Vollkommenheit (oder Vollständigkeit) als die Urkunde, aus der der Wille Gottes und die Bedingungen des Heils ohne Ergänzung durch die kirchliche Tradition vollgültig zu erkennen sind; Durchsichtigkeit (oder Wirksamkeit) eignet der Schrift insofern, als aus ihr Gottes Heilswille klar zu ersehen ist, und zwar ohne Hilfestellung des römischen Lehr- und Interpretationsamtes. An dieser Lehre von den Eigenschaften der hl. Schrift zeigt sich, daß die Bibel von der Orthodoxie zur fehllosen Offenbarungsurkunde hochstilisiert wird und daß man bei diesem Unternehmen durch den römisch-katholischen Glaubensgegner fixiert ist. Ohne jene massive Inspirationsanschauung, von der wir eben sprachen, hätte die Lehre von den affectiones scripturae sacrae in dieser Weise gar nicht formuliert werden können.

6. Die hermeneutischen Grundregeln der Orthodoxie Gehen wir schließlich über zu den Interpretationsgrundsätzen der Orthodoxie, stoßen wir auf hochdifferenzierte Lehrsätze, die wiederum im Zeichen der Inspirationslehre stehen. Als Beispiel wählen wir noch einmal Königs Lehrbuch und dann die als Höhepunkt der lutherischen Orthodoxie geltenden „Loci theologici" Johann Gerhards ( 1 5 8 2 - 1 6 3 7 ) . Wenn König auf den Sinn der hl. Schrift und dessen Interpretation zu sprechen kommt, arbeitet er mit folgenden Unterscheidungen (Textangaben wieder nach Ratschow, a. a. O., 77ff.). Es gibt einen literarischen und einen mystischen Sinn der Schrift. Mystischer Schriftsinn liegt nur dort vor, wo der hl. Geist die im Text beschriebenen Sachverhalte übertragen verstanden wissen möchte, d. h. beispielsweise bei der nach Joh 3,14 übertragen zu verstehenden ehernen Schlange von Num21,9 oder der nach Joh 19,36 auf den Gekreuzigten zu beziehenden Anordnung von Ex 12,46, daß dem Passahlamm kein Knochen zerbrochen werden darf. Der sensus mysticus wird von König m. a. W. allein dort zugestanden, wo das Neue Testament selbst allegorisch oder typologisch interpretiert, d.h. wo der Literalsinn des Neuen Testaments selbst zur „mystischen" Deutung nötigt. Wesentlich wichtiger ist für König die Dimension und das Verständnis des Literalsinnes. Er möchte in Hinsicht auf den Literalsinn ein uneigentliches und ein eigentliches Verständnis unterschieden wissen. Uneigentlich spricht man nach König vom Literalsinn, wo nur der philologisch erhellbare Wortsinn der Einzelformulierungen gemeint ist. König meint, in diesem Falle würde richtiger vom Sinn des Buchstabens als vom Literalsinn gesprochen. „Proprie dictus sensus literalis est is, quem spiritus sanctus ipse verbis theopneustois . . . proxime intendit exprimere" ( = „Literalsinn im eigentlichen Sinne heißt der, den der hl. Geist selbst mit Hilfe der von Gott eingehauchten Worte eigentlich auszudrücken beabsichtigt"). Für diesen eigentlichen, geistlichen Literalsinn gelten nach König folgende zwei Auslegungsregeln: 1. Weil er aus der Absicht eines einzigen Subjektes, nämlich der Absicht des hl. Geistes, hervorgeht, kann er nur

Die hermeneutischen Grundregeln der Orthodoxie

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einen einzigen Sinn haben. 2. Der die Glaubenslehre aus der Schrift heraus erhellende Wortsinn ist bis auf die wenigen Stellen, die einem der Glaubensartikel offenkundig widersprechen und nach Ausweis biblischer Parallelen übertragen zu interpretieren sind, strikt festzuhalten. An diesem Auslegungssystem fällt auf, wie sehr der sensus litterae (und damit das historische Geschäft der Schriftinterpretation) aus dem eigentlichen Interpretationsvorgang herausgedrängt wird. Die wirklich ins Gewicht fallende hermeneutische Frage ist vielmehr die: Wie gewinnt der Ausleger Anteil an dem hl. Geist, der die hl. Schrift hervorgerufen und durch die biblischen Autoren selbst ausformuliert hat und der zum Verständnis des geistgewirkten Wortsinnes der Schrift erforderlich ist? Die präziseste Antwort auf diese Frage lesen wir bei Johann Gerhard. In seinen „Loci theologici" betont er zunächst unter Berufung auf 2.Petr 1,20 f., es dürfe keine eigenmächtige Schriftauslegung geben, sondern nur eine, die entweder auf die Erleuchtung durch den hl. Geist zurückgehe oder aus der Schrift selbst heraus aufzusuchen sei. Diese Grundregel entfaltet Gerhard dann (in Bd. I, Kap. 25 §§ 531 f. seines Lehrbuches; Ratschow, a . a . O . , 129f.) folgendermaßen: l . W e r die Schrift zu interpretieren unternimmt, muß nach der Erleuchtung durch den hl. Geist streben, weil die Prophetie nach l.Kor 12,29 Gabe des Geistes ist; wer aber den Geist begehrt und Gott um Weisheit bittet, darf nach Lk 11,13 und Jak 1,5 gewiß sein, daß seine Bitte erhört wird. 2. Es gibt keine unfehlbar richtige Regel für die Schriftauslegung, und zwar weder unter Berufung auf die unerleuchtete menschliche Vernunft, noch unter Verweis auf die Sprüche der Väter, die Dekrete der Konzilien oder die päpstlichen Lehrentscheidungen. 3. Sachgemäße Schriftinterpretation muß vielmehr nach der Glaubensanalogie von Rom 12,6 erfolgen; bei dieser Interpretation ist darauf zu achten, daß die hl. Schrift kraft der Inspiration ein organisches Ganzes bildet, daß das apostolische Glaubensbekenntnis die bestmögliche Zusammenfassung der fides darstellt und daß sich der Interpret nicht verleiten läßt, eine dieser fides widerstreitende Auslegung zu befürworten. - Gerhard hält also mit Bedacht fest, daß die Erleuchtung durch den hl. Geist, deren der Schriftausleger bedarf, aus der Begegnung mit dem Schriftwort selbst heraus erwachsen m u ß und kein zur Bibel und ihrer Interpretation hinzutretender Ergänzungsakt ist. Johann Gerhard verficht damit die alte These Luthers, daß der die Schrift hervorbringende Geist nirgends gegenwärtiger sei als im Wort der Schrift selbst. Dennoch fällt auf, wie definitiv sich Gerhard gegen eine allein auf die menschliche Vernunft gegründete Schriftinterpretation wendet und wie sehr er davon abrät, bei der Bibelauslegung über die von der apostolischen Glaubensregel gesteckten Grenzen hinauszugehen. Geschichtlich plastisch werden diese Grenzmarkierungen dann, wenn wir bedenken, daß die Orthodoxie sich im 17. Jahrhundert nicht mehr nur gegenüber der römisch-katholischen Herausforderung zu behaupten hatte, sondern gleichzeitig gezwungen war, sich mit den Anfängen rationalistischer Bibelinterpretation auseinanderzusetzen. Sie stand damit in einer Doppelfront, in der sie sich nur durch Einige-

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Schriftauslegung im Zeitalter der Gegenreformation

lung helfen konnte. Die Lebensferne, in die sie damit geriet, beraubte sie des Einflusses auf die nunmehr in Gang kommenden hermeneutischen Entwicklungen.

7.

Gegenpositionen

Man kann sich die schwierige Position, in die die Orthodoxie Ende des 17. Jahrhunderts hermeneu tisch geriet, am besten verdeutlichen, wenn man auf die Gegenmeinungen achtet, gegen die sich die orthodoxen Theologen zur Wehr setzen mußten. Da ist zuerst das historisch aufgeklärte Bibelverständnis der Sozinianer und des Hugo Grotius zu nennen; dann Spinozas historische Bibelkritik; ferner das Schrifttum des französischen Priesters und Oratorianers Richard Simon; schließlich ist hinzuweisen auf das Ungenügen, das die Gruppe derer, die man zunächst abschätzig „Pietisten" nannte, am Lehrbetrieb der Orthodoxie empfanden.

7.1 Das rationalistische Verständnis des Schriftprinzips bei den Sozinianern Wie K. Scholder gezeigt hat, ist in der kleinen antitrinitarischen Sonderkirche der nach dem Italiener Fausto Sozini (1539-1604) benannten „Sozinianer" zum ersten Mal Ernst gemacht worden „mit der Konfrontation von Heiliger Schrift und dem, was man heute ,modernes Wirklichkeitsverständnis' nennen würde" (a.a.O., 54). Die Sozinianer waren ursprünglich vor allem in Polen ansässig und wurden schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Ketzer verfolgt und zerstreut. Hermeneutisch wollten sie das reformatorische Schriftprinzip im Rahmen humanistischer Geschichtsbetrachtung und hoher Wertschätzung der Vernunft praktizieren. Der Sozinianismus ging dabei von der Überzeugung aus, „die Autorität der Schrift ebenso wie die Autorität der Vernunft in vollem Umfang erhalten zu können, wenn er die dogmatische Tradition opferte. Damit war unüberhörbar die Frage nach dem Verhältnis von scriptura, doctrina und ratio gestellt, wobei die ratio hier als Größe mit selbständigem Anspruch auftrat" (Scholder, a. a. O., 54). Die Sozinianer haben von ihrem Ansatz her zum ersten Mal das Alte Testament historisch vom Neuen abgehoben und für ein Dokument jüdischer Volksreligion erklärt. Ihrer Auffassung nach erreicht der biblische Glaube erst im Neuen Testament die Weite und Höhe, die einer universalen vernünftigen Religion angemessen ist. Die neue rationalistische Sicht der Bibel fand ihre polemische Spitze in dem Nachweis, daß die kirchliche Trinitätslehre kein ursprünglicher Bestandteil der Schrift sei und dementsprechend auch keine verbindliche Glaubensanschauung sein könne. Mit dieser kritischen antitrinitarischen Theologie und ihrer am Urchristentum geschulten Sozialkritik wurden die Sozinianer zur Provokation für die gesamte geistige Welt des ^ . J a h r h u n derts.

Gegenpositionen

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7.2 Die historische Bibelerklärung des Hugo Grotius Der holländische Philologe und Jurist Hugo Grotius ( 1 5 8 3 - 1 6 4 5 ) war weder ein radikaler Neuerer noch ein entschiedener Kritiker der Kirche. Sein Ideal war nur eine historisch sachgemäße, über dem Streit der Konfessionen stehende Bibelerklärung, und mit eben dieser Schriftinterpretation hat Grotius Schule gemacht. In seinen zwischen 1 6 4 1 und 1 6 4 5 in Paris erschienenen voluminösen „Annotationes in novum testamentum" und „Annotationes in vetus testament u m " ( = Anmerkungen zum Neuen/Alten Testament) erklärte er den Bibeltext mit den ihm zur Verfügung stehenden philologischen und historischen Mitteln nicht anders als die Humanisten seiner Zeit die Werke der Antike zu kommentieren pflegten. Die Folge war ein Auseinandertreten von historischem und dogmatischem Urteil über die Schrift. Grotius machte nicht nur einen historischen Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament, sondern er wies auch die überspannte Inspirationsanschauung der Orthodoxie zurück. Statt die biblischen Autoren als die Schreibgehilfen und Sekretäre des hl. Geistes zu betrachten, will Grotius in ihnen (völlig richtig!) persönlich begnadete Menschen sehen, die von Gottes Offenbarung in durchaus geschichtlicher Art und Weise Zeugnis geben. Die Autorität der Bibel ist deshalb nicht einfach von der Inspiration her zu begründen, sondern sie ist kanongeschichtlich zu sehen und gründet in der Verläßlichkeit der in der Bibel bewahrten Überlieferung. Gegenüber der orthodoxen Anschauung von der Schrift, ihrer Unfehlbarkeit und Suffizienz waren dies höchst revolutionäre Anschauungen. Sie waren schwer zu widerlegen und kündigten einen Umbruch des Denkens an.

7.3 Die historisch-kritische Sicht der Bibel bei Benedictus de Spinoza Von welchem neuartigen Ansatz die aufkommende Bibelkritik ausging und wohin sie zielte, läßt sich am klarsten am „Tractatus theologico-politicus" des jüdischen, in Holland lebenden Gelehrten Benedictus de Spinoza ( 1 6 3 2 - 1 6 7 7 ) sehen. Im siebten Kapitel seines 1 6 7 0 anonym erschienenen Traktats handelt Spinoza „De interpretatione Scripturae" ( = Uber die Schriftauslegung). Der s . M . n . leichtfertigen und methodisch skrupellosen Exegese der Schrift durch die Theologen stellt er die Forderung entgegen, die Schrift mit einer klaren und einsichtigen Methode auszulegen. Spinoza sieht sie in dem, was wir heute historisch-kritische Methode nennen. Er schreibt (a. a. O.): „Um . . . den Geist von theologischen Vorurteilen zu befreien und um nicht leichtfertig menschliche Erfindungen als göttliche Lehren hinzunehmen, müssen wir von der wahren Methode der Schrifterklärung handeln und sie auseinandersetzen. Denn wenn man diese nicht kennt, so kann man auch keine Gewißheit darüber haben, was die Schrift und was der Heilige Geist lehren will. — Um es kurz zusammenzufassen, sage ich, daß die Methode der Schrifterklärung sich in nichts von der Methode der Naturerklärung unterscheidet, sondern völlig mit ihr übereinstimmt. Denn ebenso wie die Methode der Naturerklärung in der Hauptsache darin besteht, eine Naturgeschichte zusammenzustellen, aus der man

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Schriftauslegung im Zeitalter der Gegenreformation

dann als aus sicheren Daten die Definition der Naturdinge ableitet, ebenso ist es zur Schrifterklärung nötig, eine getreue Geschichte der Schrift auszuarbeiten, um daraus als aus den sicheren Daten und Prinzipien den Sinn der Verfasser der Schrift in richtiger Folgerung abzuleiten. Auf diese Weise wird jeder . . . ohne die Gefahr eines Irrtums immer fortschreiten und das, was unsere Fassungskraft übersteigt, gerade so sicher besprechen können wie das, was wir durch das natürliche Licht erkennen." (Tractatus theologico-politicus, hrsg. von G. Gawlick und F. Niewöhner, 1 9 7 9 , 2 3 1 / 3 3 ) .

Bei Spinoza ist also „die sog. historisch-kritische Methode der Bibelauslegung eine Zwillingsschwester der geometrischen Methode . . . , mit der Spinoza ein regelrechtes metaphysisches System, . . . seine Ethik, konstruiert hat" (E. Jüngel, a. a. O., 501). Daß Spinozas Vorgehen, so einleuchtend es auch sein mag, das ganze Bemühen der Orthodoxie um die Auslegung des besonderen Offenbarungszeugnisses der Schrift zu unterlaufen begann, ist offenkundig.

7.4 Die kontroverstheologische

Bibelkritik Richard Simons

Mit den in der Sache höchst brisanten, kontroverstheologisch zugespitzten Thesen Richard Simons ( 1 6 3 8 - 1 7 1 2 ) hatte die Orthodoxie deshalb noch ein unverhofft leichtes Spiel, weil die römisch-katholische Kirche selbst Simons kritische Forschung als unerträglich empfand. Als Simons erstes großes zweibändiges Werk 1678 erschien, seine „Histoire critique du Vieux Testament" ( = Kritische Geschichte des Alten Testaments), wurden auf Betreiben der Jesuiten alle erreichbaren Exemplare eingezogen und vernichtet. Simon wurde aus seinem Orden ausgestoßen und mußte fortan ein zurückgezogenes Leben als Pfarrer in der Normandie führen. Dies hinderte ihn aber nicht daran, noch eine Reihe weiterer kritischer Werke zu erarbeiten, unter denen das wichtigste seine 1689 erschienene „Histoire critique du texte du Nouveau Testament" ( = Kritische Geschichte des Textes des Neuen Testaments) ist. Unter „Kritik" versteht Simon die von allen traditionellen und störenden Gesichtspunkten freie Hinsicht auf die vorgegebenen historischen Texte und deren Ursprungssinn. Was ihm unter Berufung auf humanistische Tradition, freisinnig-historische Kommentierung der Bibel im Stile des H. Grotius, vor allem aber auf Grund genauen Eigenstudiums biblischer Handschriften und jüdischer Literatur vom Alten und vom Neuen Testament sichtbar wurde, sprach nach Simons Auffassung entschieden gegen die Schriftauffassung der Protestanten und für das katholische Traditionsdenken! Wenn die Protestanten auf den inspirierten und eben deshalb unfehlbar wahren Text der Bibel verweisen, hält Simon ihnen entgegen, daß der Bibeltext nachweislich eine wechselvolle Geschichte gehabt habe, in verschiedenen Versionen existiere und allein durch die Kirche erhalten worden sei. In der Vorrede zu seiner „Kritische(n) Geschichte des Alten Testaments" heißt es:

Gegenpositionen

121

„Die großen Veränderungen, die an den Handschriften der Bibel vorgenommen w u r d e n . . . , seit die ersten Originale verlorengegangen sind, zerstören das Prinzip der Protestanten und Sozinianer vollkommen, die nur eben diese Handschriften der Bibel befragen, und zwar wie sie heute sind. Wenn die Wahrheit der Religion nicht in der Kirche geblieben wäre, wäre es nicht sicher, sie jetzt in Büchern zu suchen, die so großen Veränderungen unterworfen waren und die in vielen Dingen von dem Willen der Kopisten abhängig waren. Es ist sicher, daß die Juden, die diese Bücher abschrieben, sich die Freiheit nahmen, bestimmte Buchstaben hier einzufügen und dort zu tilgen, ganz wie sie es für richtig hielten; und dabei ist der Sinn des Textes doch oft von diesen Buchstaben abhängig" (zitiert nach W. G. Kümmel, a. a. O., 42).

Simon hält also das Schriftprinzip der altprotestantischen Orthodoxie schon von der biblischen Textgeschichte her für undurchführbar. In der Vorrede zu seinem neutestamentlichen Werk fügt er hinzu, auch hermeneutisch sei es unhaltbar. Wenn die Protestanten meinen, die Schrift von der kirchlichen Tradition abheben und auf den Grundsatz pochen zu dürfen, daß die in sich klare Schrift sich selber auslege, braucht man nach Simon nur auf die schreienden Differenzen in der protestantischen Bibelauslegung zu verweisen, um diesen Ansatz ad absurdum zu führen. Überdies gelte, daß die in sich vielfältige, variantenreiche Glaubensüberlieferung des Neuen Testaments nur im Verbund mit der kirchlichen Tradition Sicherheit in der Religion verleihen könne. Gegen diese historisch begründeten Einwände konnten die Orthodoxen mit ihrer geschichtsfremden Inspirationslehre so gut wie gar nichts einwenden, außer daß sie vor einer kritischen Bibelauslegung auf Grund von bloßen Vernunftkriterien mit Nachdruck warnten. Der Damm derartiger Warnungen konnte aber deshalb nicht lange halten, weil er die Phänomene und mit ihnen den Geist der neuen Zeiten gegen sich hatte.

7.5 Philipp Jakob Speners Aufruf zur

Bibelfrömmigkeit

Hält man sich zusätzlich vor Augen, daß die exegetische Theologie in der Orthodoxie fest in die Dogmatik integriert war und sich entgegen den Wünschen des M. Flacius darauf konzentrierte, für die einzelnen dogmatischen Loci aus dem Alten und Neuen Testament (in Haupt- und Nebenbelege aufgeteilte) Testimoniensammlungen zu erarbeiten, versteht man besser, warum auch Philipp Jakob Spener (1635-1705) in seinen 1675 erschienenen „Pia Desideria: oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen" gegen die Orthodoxie Front machte, und zwar im Namen Luthers und der wahren Frömmigkeit. Was Spener mit seinen Pia Desideria wollte, läßt sich kurz sagen. Er wollte das erstarrte und zugleich verweltlichte lutherische Staatskirchentum mitsamt der abstrakten und lieblosen Kontroverstheologie seiner Zeit zum geistlichen Leben zurückführen und dadurch erneuern. Spener unterbreitete in seiner Schrift eine Reihe von praktikablen Vorschlägen. Sie gehen von der doppelten Vorstellung aus, daß das Christentum eine Sache der praktischen geistlichen

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Schriftauslegung im Zeitalter der Gegenreformation

Erfahrung und daß der beste Weg zu solchem gelebten Christentum die brüderliche Begegnung der Christen miteinander sei, und zwar über der Lektüre und Meditation des biblischen Wortes. Hermeneutisch stellte Spener deshalb den Grundsatz heraus, daß es hinfort gelte, der hl. Schrift neu zu begegnen und über ihrer gemeinsamen Lektüre zur geistlichen Erneuerung des Lebens zu kommen. Er wollte in der Gemeinde Versammlungen nach urchristlichem Vorbild, sog. Collegia Biblica, zusammengerufen sehen, „wo zu gewissen Zeiten unterschiedliche auß dem Predigampt (nehmlich an orten da solches auß mehrern bestehet) oder doch unter dirigirung deß Predigers andere mehrere auß der Gemeinde / welche von GOtt mit ziemlicher erkantnuß begäbet / oder in derselben zu zunehmen begierig sind/ zusammen kämen / die Heilige Schrifft vor sich nehmen / darauß öffentlich lesen / und über jegliche stelle derselben von dem einfältigen verstand / und was in jeglichem zu allerhand unser erbauung dienlich wäre / brüderlich sich unterredeten: wo sowol jeglichem / welcher die sach nicht gnugsam verstünde / seine Dubia vorzutragen und dero erleuterung zu begehren / als denen jenigen die nunmehr weiter gekommen / sampt den Predigern / ihren verstand / den sie bey jedem ort hätten / beyzubringen erlaubt; was jeglicher vorgebracht / wie es der meynung deß Heiligen Geistes in der Schrifft gemäß seye / von den übrigen / sonderlich den beruffenen Lehrern / examiniret / und damit die gantze versamlung erbauet würde" (Pia Desideria, hrsg. von K. Aland, KIT 1 7 0 , 1 9 4 0 , 5 5 f.). Da Spener die Theologie nicht bloß als Sache des Intellekts, sondern, wie er sich ausdrückt, als einen „habitus practicus" ansah, entwarf er für die akademische Theologie einen ganz parallelen Plan. Nach Spener galt es, „die gantze Theologia wieder zu der Apostolischen einfalt" zurückzuführen ( a . a . O . , 74). Da dies nur durch rechtes Leben und Anfechtung hindurch geschehen kann, erlaubte sich Spener, hierfür folgenden „Vorschlag zu t h u n " : „ . . . daß ein frommer Theologus die sache anfangs mit nicht gar vielen / aber solchen unter der zahl seiner Auditorum anfienge / bey denen er bereits eine hertzliche begierde / rechtschaffene Christen zu seyn / bemerckte / und also mit ihnen das N.Testament vornehme zu tractiren / daß sie ohngesucht einiges / so zu der Erudition gehört / allein darauff acht geben / was zu ihrer erbauung diensam: Und zwar / daß sie selbsten die erlaubnuß haben / jeglicher jedesmahl zu sagen / was ihm von jeglichem versicul deuchtet / und wie er denselben zu eigenem und anderer gebrauch anzuwenden finde / da der Professor als Director was wol beobachtet mehr bekräftigen / wann er aber von dem rechten zweck sie abzuweichen sihet / denselben freundlich und klärlich auß dem Text zeigen / und in was gelegenheit diese oder jene Regel in die Übung zu bringen / weisen würde. Dabei dann solche verträulichkeit und freundschafft unter den Commilitonibus gestifftet werden möchte / daß sie nicht nur allein einander zu Übung dessen / was sie höreten / vermahneten / sondern jeglicher bey sich forscheten / wo sie solche Regeln bißher möchten nicht beobachtet haben / und nachmahl so bald trachteten / solche ins werck zu setzen / auch sich unter einander beredeten / auff einander zu sehen / wie je ein und anderer sich darzu schicken würde / mit darzu gehöriger brüderlicher erinnerung: Ja wol einander selbs und ihrem Proffessori rechenschafft zu geben / wie sie in dieser oder jener gelegenheit sich den vorgegebenen Regeln gemäß bezeuget: da dann in solcher vertraulicher Conferentz / wo jede sache / was sie angehet (dann sie sich gleich zu gewehnen / von andern nicht vermessenlich zu urtheilen / oder einen frembden knecht zurichten) nach Gottes Wort examiniret wird / sich bald zeiget / wie weit man proficiret,

Hermeneutische Auseinandersetzungen im 1 8 . Jahrhundert

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und wo noch vornehmlich zu helffen seye. Es würde aber der Proffessor keine andere Meisterschafft über das ihm anvertrauende gewissen arrogiren / als daß er als ein geübteter ihnen auß unsers einigen Meisters W o r t das jenige zeigte / was er von jeglichem fall halte / und je mehr und mehr / als sie selbs geübet werden / mit ihnen collegialiter von allen schlösse" ( a . a . O . , I i i . ) .

Bei Spener wird die Auslegung der hl. Schrift zurückgegeben an eine Lebensdimension, wie sie uns zuletzt bei Luther selbst und zuvor bei Augustin begegnet ist. Die kritische Umpolung gegenüber den Lehrsystemen der orthodoxen (Kontrovers-)Theologie ist ganz eindeutig, obwohl Spener keine eigene neue Hermeneutik gegenüber der Orthodoxie entwickeln wollte. Er wollte ihr nur vor Augen führen, wie sehr sie aus ihrer Behandlung der hl. Schrift die Dimension des geistlichen Lebens verdrängt hatte. M i t diesem Hinweis stellt seine pietistische Kritik das genaue Korrelat zu dem Vorwurf des historischen Rationalismus dar, daß die Orthodoxie unfähig geworden sei, die geschichtliche Wirklichkeit der biblichen Texte und Überlieferungen zu erkennen und zu verarbeiten. Nimmt man beide Versionen der Kritik zusammen, dann ergibt sich, daß der orthodoxen Hermeneutik die Zukunft nicht mehr gehören konnte. Wem aber dann? Dies wird im Verlauf des 18.Jh.s entschieden, und zwar im Kampf zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung.

§ 9 Die Auseinandersetzung um die neue Hermeneutik im 18. Jahrhundert Während Deutschland im 17. Jahrhundert von konfessionalistischen Auseinandersetzungen erschüttert und theologisch von der Orthodoxie beherrscht war, bahnten sich im restlichen Europa geistesgeschichtliche Umbrüche größten Ausmaßes an. Sie sind, was den Umbruch des Weltbildes anbetrifft, mit den Namen Johannes Kepler ( 1 5 7 1 - 1 6 3 0 ) und Galileo Galilei (1564—1642) verbunden; im Bereich der Philosophie ist vor allem auf Rene Descartes ( 1 5 9 6 1 6 5 0 ) , Benedictus de Spinoza (s.o. S . 1 1 9 f . ) , Thomas Hobbes ( 1 5 8 8 - 1 6 7 9 ) und John Locke ( 1 6 3 2 - 1 7 0 4 ) hinzuweisen. Der Einfluß des neuen naturwissenschaftlichen, rationalistischen und deistischen Denkens brach sich im 18. Jahrhundert auch in Deutschland Bahn, und zwar in jener großen Geistesbewegung, die wir Aufklärung nennen und die unser ganzes Leben bis zum heutigen Tage nachhaltig bestimmt. Für die Theologie bedeutete diese Entwicklung, daß sie nunmehr endgültig mit dem Problem der Vernunftautonomie konfrontiert war, eine neue Verhältnisbestimmung von ratio und Offenbarung zu finden hatte und außerdem einer massiven Traditions- und Religionskritik begegnen mußte. Wir haben schon zum Ende des letzten Paragraphen angedeutet, daß die Orthodoxie von ihrer Position aus den damit gegebenen Problemen nicht mehr gewachsen war. Sie überlebte denn auch nur dort, wo sie sich mit einer der beiden Bewegungen

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Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

verbündete, die die Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert entscheidend bestimmten, mit dem aufgeklärten Rationalismus oder mit dem Pietismus. Hermeneutisch ist das Ergebnis der Konfrontation, die wir jetzt (an einigen ausgewählten Beispielen) zu verfolgen haben, die Bereitschaft, der historischkritischen Untersuchung der hl. Schrift nicht mehr länger auszuweichen, sondern sie zu vollziehen und gerade dadurch der wegweisenden Stimme der Bibel neu gewiß zu werden. An diesem Ergebnis haben Aufklärung und Pietismus gleichen Anteil. Insgesamt darf es sich der Protestantismus zur Ehre anrechnen, daß er den Auseinandersetzungen im Vertrauen auf die Kraft seiner Fundamente nicht ausgewichen ist. Trotz des hohen Einsatzes, den die Kämpfe jener Jahre gekostet haben, können wir heute rückschauend feststellen, daß sich die Schrift der historischen Betrachtungsweise tatsächlich in neuer Form erschlossen und dabei als einzigartige Urkunde des christlichen Glaubens bewährt hat.

1. Die rationalistische

Schrifterklärung

Jean Alphonse

Turretinis

Wenn wir uns jetzt jenen Kräften zuwenden, die der Möglichkeit einer kritischen und historischen Betrachtung der Bibel die Bahn gebrochen haben, ist zunächst noch einmal zu erinnern an die Vorläufer der neuen Entwicklung. Es handelt sich um den von der Reformation positiv rezipierten Humanismus, um Luthers Ansätze zur historisch begründeten Bibelkritik, um Calvins geschichtlich durchdachte Kommentare, auch um die Forderung von Flacius, die biblischen Bücher aus ihrer Situation und eigenen Logik heraus zu interpretieren, um die Thesen der Sozinianer sowie die gelehrte Schriftauslegung des H. Grotius und um Spinozas Bibelkritik. Kommen wir von dieser Rückschau her auf Jean Alphonse Turretini (1671— 1737) und seinen 1728 veröffentlichten „Traktat über die Methode der Auslegung der Heiligen Schrift" zu sprechen, sehen wir sogleich, daß sich im hermeneutischen Programm des Genfer Professors für Kirchengeschichte Einflüsse Calvins, des Sozinianismus und des Rationalismus mischen. Turretini trat für eine Einigung zwischen Lutheranern und Reformierten sowie für die Abschaffung des Bekenntniszwanges ein. In seinem (charakteristischerweise im freisinnigen Holland, nämlich in Dordrecht erschienenen) „De Sacrae Scripturae interpretandae methodo tractatus..." vertritt er vier hermeneutische Thesen, die einer vorurteilslosen, vernünftigen und historischen Bibelinterpretation Bahn brechen sollen (Zitate im folgenden nach Kümmel, a.a. O., 65 ff.): 1. „Zu Anfang behalten wir ganz fest im Auge, daß die (heiligen) Schriften auf keine andere Art zu erklären sind als die übrigen Bücher; man muß auf den Sinn der Worte und Redeweisen bedacht sein, auf das Ziel (scopus) des Verfassers, auf das Vorhergehende und das darauf Folgende und was es noch mehr dieser Art gibt. Das ist deutlich die Art, in der alle Bücher wie auch alle Reden verstanden werden; da uns aber Gott durch Bücher und Reden lehren wollte, nicht aber auf eine andere Weise, so ist es deutlich eben dadurch einleuchtend, daß die heilige Schrift nicht anders zu verstehen ist als die übrigen Bücher ( a u c h ) . . . "

Die rationalistische Schrifterklärung Jean Alphonse Turretinis

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2 . „Die heilige Schrift setzt voraus, daß diejenigen, die sie anredet, Menschen sind, d.h., daß sie von ihrer Vernunft Gebrauch machen und damit begabt sind, darüber hinaus (setzt sie voraus) allgemeine oder der Vernunft eigene B e g r i f f e . . . , d.h Wahrh e i t e n . . . , die durch das natürliche Licht erkannt werden. Zugleich (setzt die Schrift voraus) die Fähigkeit zu folgern, mittels deren wir aus bestimmten Prinzipien Folgerungen ableiten. Sonst würde die Schrift mit uns nicht folgern und nicht auf Grund des Lichtes der natürlichen Vernunft eine Behauptung aufstellen, was sie doch immer tut. Da also die Schrift die allgemeinen Vorstellungen voraussetzt, so folgt daraus, daß sie nichts im Widerspruch zu ihnen überliefert. Und da G o t t . . . ganz gewiß der Urheber sowohl der Vernunft wie auch der Offenbarung ist, so ist es unmöglich, daß diese sich gegenseitig bekämpfen." 3. Die hl. Schrift ist dementsprechend nach dem M a ß s t a b der Vernunft auszulegen; wo dies unmöglich erscheint „sind jene Stellen entweder anders oder, wenn das nicht geht, als unecht zu erklären, oder das Buch ist als keineswegs göttlich zu beurteilen". 4 . „Über die Meinung der heiligen Schriftsteller ist nicht nach heutigen Grundsätzen und Systemen zu urteilen, sondern man muß sich in die Zeiten und Gegenden versetzen, in denen sie geschrieben haben, und man muß sehen, welche (Vorstellungen) in der Seele derer, die damals lebten, entstehen konnten. Zum Verständnis der Schrift ist diese Regel von höchster B e d e u t u n g . . . " . Statt die Schrift am M a ß s t a b des (römisch-katholischen, lutherischen oder reformierten) Dogmas zu messen, soll der Schrift nach Turretini ein „leerer Kopf, um mich so a u s z u d r ü c k e n , . . . entgegengebracht werden, er muß gleichsam eine tabula rasa (unbeschriebene Tafel) sein, um den wahren und ursprünglichen Sinn der Schrift zu begreifen".

Man kann an diesen Thesen des aufgeklärten Calvinisten Turretini sehen, wie der Geist des historischen Rationalismus von der wissenschaftlichen Theologie Besitz zu ergreifen beginnt. Das Tridentinum hatte noch einmal die katholische Auffassung eingeschärft, daß die hl. Schrift nur im Geist der kirchlichen Tradition interpretiert werden dürfe. Luther hatte dieser Auffassung die These entgegengestellt, die Schrift dürfe nur interpretiert werden in dem Geist, in dem sie selbst verfaßt sei, und diesen Geist finde man nirgends gegenwärtiger als im Wort der Schrift selbst. In Turretinis Hermeneutik finden wir jetzt eine für die Zeit der Aufklärung allgemein charakteristische Abwandlung dieser alten reformatorischen These: Das lumen naturale der Vernunft und Gottes Geist werden in unmittelbarer Entsprechung gesehen; die Schrift sachgemäß zu interpretieren heißt also, sie im Sinne der (von Gott geschaffenen) Vernunft und nach deren Maßstäben auszulegen. Kraft dieser neuen (und wie wir heute wissen: kurzschlüssigen) Identifikation von hl. Geist und Vernunft konnte sich die aufgeklärte Theologie des 18. Jahrhunderts der ganzen, die kirchliche Hermeneutik bislang in Bann haltenden Frage nach der besonderen Autorität und Qualität der hl. Schrift, des testimonium spiritus sancti internum, kraft dessen Wirkung Gott das Wort der Schrift im Herzen des Menschen zur Wahrheit werden läßt, usw. enthoben wissen und dann auch entledigen. Unleugbar begann man, auf diese Weise von der alten hermeneutischen Verantwortung entbunden, neu in die geschichtliche Wirklichkeit der hl. Schrift einzudringen. Aber dieser Erkenntnisfortschritt wurde von den Theologen der Aufklärung teuer bezahlt; und zwar ebenso teuer wie die Orthodoxie ihren Rückzug auf ein

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Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

(scheinbar) unangreifbares System des Glaubens zu bezahlen hatte. War das Problem der Orthodoxie im Gegenüber zu Rationalismus und Aufklärung ihre Unfähigkeit, sich der Geschichtlichkeit und Menschlichkeit der biblischen Offenbarung wirklich zu stellen, haben die Rationalisten um eben dieser von ihnen neu entdeckten Geschichtlichkeit willen die hermeneutischen Erfahrungen und Distinktionen von über 1600 Jahren kirchlicher Begegnung mit der Schrift hinter sich gelassen und damit die Bibel (und sich selbst) den subjektiven Setzungen der (historischen) Vernunft ausgeliefert.

2. Johann Jakob Wettsteins kritische Hermeneutik Die Härte der aufeinander prallenden Gegensätze kann man sich beispielhaft an dem Schicksal verdeutlichen, das Johann Jakob Wettstein ( 1 6 9 3 - 1 7 5 4 ) auf sich nehmen mußte. Seiner Herkunft und seiner Ausbildung in Basel nach gehörte Wettstein selbst zur Orthodoxie, interessierte sich aber schon im Studium für biblische Handschriften und Textversionen. Nachdem er Pfarrer geworden war, begann er die Vorarbeiten zu einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments. Als jedoch ruchbar wurde, daß Wettstein in l.Tim 3,16 den bis dahin als inspiriert angesehenen (späten) sog. textus receptus „Gott ist offenbart im Fleisch" in Anlehnung an den in London greifbaren Codex Alexandrinus abändern und drucken wollte „der im Fleisch offenbart ist", und als die von Wettstein vorgelegten ersten Probebögen seiner Edition verrieten, daß er auch sonst den sakrosankten (Spät-)Text zu ändern vorhatte, wurde ihm in Basel der theologische Prozeß gemacht und er seines Pfarramts enthoben. Er verließ daraufhin die Stadt, ging nach Amsterdam und ließ dort 1751/52 sein berühmtes, bis heute gebräuchliches und zuletzt 1962 nachgedrucktes Neues Testament erscheinen. Wettstein geht in diesem Werk zwar wieder vom allgemein anerkannten textus receptus aus, macht aber drucktechnisch ganz deutlich, wo er diesen Text für verbesserungsbedürftig hält, und gibt in einem ausführlichen Apparat auch die ihm verfügbaren Varianten an. Das Werk bietet außerdem zu jeder Textstelle eine große, noch immer wichtige und viel benutzte Sammlung von klassisch-griechischen und jüdischen Parallelstellen. Den Abschluß des zweibändigen „Novum Testamentum Graecum" bildet ein Anhang, der unter anderem eine kurze Abhandlung „De interpretatione Novi Testamenti" (Über die Auslegung des Neuen Testaments) enthält. Hier setzt sich Wettstein nachdrücklich für eine historisch fundierte, kritische Interpretation der biblischen Texte ein und stellt eine Anzahl von Interpretationsregeln auf, bei denen er sich eng mit H. Grotius, Turretini u. a. berührt: Erstens ist nach Wettstein bei der Interpretation auf den Zusammenhang zu achten, in dem eine Perikope steht, und zugleich auf ihren inneren Aufbau. Dann ist zweitens die Bedeutung der Worte zu ergründen, und zwar nicht mit Hilfe spekulativer Etymologien, sondern unter genauer Beachtung des Sprachgebrauches des biblischen Autors. Am besten zieht man dabei, wie Wettstein in seiner dritten Regel ausführt, Parallelstellen desselben biblischen Autors heran und sammelt

Johann J a k o b Wertsteins kritische Hermeneutik

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dann Parallelen aus der hl. Schrift insgesamt, aus der Septuaginta, aus den zeitgenössischen antiken Quellen und aus der griechischen Vulgärsprache, der Koine. Komplizierte und schwer verständliche Schriftstellen erklärt man viertens von klaren und faßlichen anderen her und enthält sich dabei frommer Vermutungen. Als fünfte Auslegungsregel hält Wettstein fest, daß wir bei Schriftstellen, die anderen Stellen in der Schrift widersprechen oder dem modernen Wahrheitsbewußtsein widerstreiten, zumeist mit der Annahme weiterkommen, daß die biblischen Autoren nicht überall einfach ihre Meinung zum Ausdruck gebracht, sondern sich in ihren Formulierungen des öfteren der Auffassung anderer oder der ungesicherten oder gar falschen öffentlichen Meinung ihrer Zeit angeschlossen haben. Ist schon diese fünfte Regel Wettsteins typisch rationalistisch formuliert, sind es die sechste und siebente erst recht. Hier wehrt er sich entschieden gegen die These, die biblischen Worte hätten eine besondere vom hl. Geist in sie gelegte (Sonder-)Bedeutung, und schlägt eine s. M. n. wesentlich nützlichere und leichter einsichtige Verstehensregel vor: „wenn du die Bücher des Neuen Testamentes ganz und gar verstehen willst, versetze dich in die Person derer, denen sie zuerst von den Aposteln zum Lesen gegeben worden sind. Versetze dich im Geiste in jene Zeit und jene Gegend, wo sie zuerst gelesen wurden. Sorge, soweit es möglich ist, dafür, daß du die Sitten, Gebräuche, Gewohnheiten, Meinungen, überkommenen Vorstellungen, Sprichwörter, Bildersprache, täglichen Ausdrucksweisen jener Männer erkennst und die Art und Weise, wie sie andere zu überzeugen versuchen oder Begründungen Glauben verschaffen. Darauf sei vor allem bedacht, wo du dich einer Stelle zuwendest, wobei du durch kein heutiges System, sei es theologischer, sei es logischer Art, oder durch heute gängige Meinungen vorankommen kannst" (II 8 7 8 ; Übersetzung von Kümmel, a . a . O . , 5 4 ) .

Keineswegs ehrfurchtslos, aber entschieden wehrt Wettstein das Ansinnen einer besonderen Glaubenshermeneutik ab und vertritt eine konsequent historische Interpretationslinie. Weshalb die theologische Interpretation für ihn so stark zurücktreten kann, ergibt sich aus seinen Schlußbemerkungen. Hier bekennt er sich zu einem aufgeklärten Christentum konservativer Prägung und hält den Christentumsgegnern seiner Zeit folgende Feststellung entgegen: „Wenn zu jener Zeit, da die Bücher des Neuen Testaments verfaßt wurden, eine Versammlung der besten und klügsten M ä n n e r zusammengerufen worden wäre, um zu überlegen, auf welche Weise eine Religion erdacht werden könne, die sich Juden und Heiden, Gebildeten und Ungebildeten durch ihre Nützlichkeit und Schlichtheit empfehlen würde, die in kürzester Frist eine gewaltige Umkehr des Erdkreises zum Besseren bewirken würde, die nach Austilgung der Wurzeln sowie der Frucht der Götzendienerei den Glaubensgrundsatz von dem einen (einzigen) Gott als dem Regenten der Welt begründen und die Menschen aus dem Zustand der Barbarei zu Menschlichkeit und gegenseitigem Wohlwollen führen und aufs stärkste zum Streben nach der Tugend anspornen würde, hätte sie keine bessere erdenken können als die, die in den Büchern des Neuen Testaments mit all ihren Einzelheiten, Wundergeschichten, Zeugnissen, Gleichnissen etc. enthalten ist" (Nov. Test. II 8 8 2 ) .

128

Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

Für diese vernünftige christliche Religion setzt sich Wettstein ein. Ihr gilt seine neutestamentliche Arbeit, die deshalb auf den Urtext der Schrift ausgerichtet ist, weil er das historisch eindeutigste Zeugnis eben dieser Religion ist. Man erkennt an dieser Gedankenführung aufs schönste, wie sich ein ursprünglich reformatorischer Ansatz ins Rationalistische wandelt und dadurch ein aufgeklärtes protestantisches Christentum entsteht. Forschungsgeschichtlich wirksam wurde diese neue Position durch Johann Salomo Semler, den man (neben Spinoza) den eigentlichen Wegbereiter der historischen Kritik in den Bibelwissenschaften nennen kann.

3. Die historische Kritik Johann Salomo

Semlers

Semler hat gelebt von 1 7 2 5 - 1 7 9 1 . Seine theologische Ausbildung empfing er im ehemals pietistischen Halle, das in der Mitte des 18.Jahrhunderts vom theologischen Pietismus zur aufgeklärten Orthodoxie übergegangen war. Semler war von der „pietistischen Geist- und Seelenlehren Frömmeley" abgestoßen. Für seine wissenschaftlichen philologischen Interessen fand er bei Sigmund Jakob Baumgarten (1706-1757) Rat und Hilfe. Von Baumgarten für die kritische Theologie gewonnen, wurde Semler 1752 Professor in Halle und wirkte dort bis an sein Lebensende als Vorkämpfer der sog. „Neologie". Unter „Neologie" verstehen wir die theologische Denkrichtung, die zwar mit der Orthodoxie an der Notwendigkeit einer außerordentlichen Offenbarung festhält, diese Offenbarung aber nur noch als göttliche Bestätigung menschlicher Vernunfteinsichten betrachtet. Was das Alte Testament anbetrifft, erscheint Semler als Verfechter R. Simons und seiner „Kritischen Geschichte des Alten Testaments" von 1678. Als Semler nämlich eines der wenigen geretteten Exemplare der, wie wir hörten, bewußt vernichteten Erstauflage dieses Werkes in die Hand bekam, veranlaßte er im Jahre 1776 eine deutsche Übersetzung und machte dadurch Simon in Deutschland erst eigentlich bekannt. Semlers Forschungsarbeit galt aber nicht nur dem alttestamentlichen Schrifttum. Wie H.J. Kraus in seiner „Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments" berichtet, hat Semler die Auffassung vertreten: „Ein gesunder Auszug aus den Büchern des Alten Testaments würde die christliche Lehre und Religion viel leichter und überzeugender durch Erfahrung empfehlen als die kalten Wiederholungen von Begebenheiten, die ganz und gar ausländisch, ganz fremd und unbekannt für uns und unseren Geschmack in der Erkenntnis und Moral sind und bleiben" ( a . a . O . , 2 . Aufl. 110).

Wir werden auf diese für die Aufklärung typische Betrachtungsweise des Alten Testaments noch zurückkommen, konzentrieren uns jetzt aber auf Semlers Arbeit am Neuen Testament, in der sich sein neuer aufgeklärter hermeneutischer Ansatz mit wünschenswerter Deutlichkeit spiegelt. Für die neutestamentliche Wissenschaft ist Semlers vierbändige „Abhand-

Die historische Kritik Johann Salomo Semlers

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lung v o n freier U n t e r s u c h u n g des C a n o n s " (1771—1775) b e s o n d e r s b e d e u t s a m g e w o r d e n . H a t m a n die A n w e i s u n g e n der O r t h o d o x i e zur S c h r i f t a u s l e g u n g im Sinn, bedeutet es eine revolutionäre W e n d e , w e n n Semler in diesem W e r k e schreibt: „ . . . Ich bin... weit entfernet, geradehin alle sogenante Naturalisten selbst zu hassen, um der gebrauchten Freyheit willen, daß sie die ehemaligen gemeinen Behauptungen von allgemeiner und ununterschiedener Göttlichkeit der ganzen sogenannten Bibel, nicht bey sich wollen gelten lassen. Jeder vernünftige Mensch, wenn er so glücklich wird, seine Seelenkräfte selbst ernstlich anzuwenden, hat es frey, ja er hat es zur wirklichen Pflicht, ohne alle Menschenfurcht selbst hierüber zu urtheilen. Wo er nichts göttliches oder dem höchsten Wesen würdiges bemerken kan, das in Absicht seiner die göttliche Art und Beschaffenheit habe, ihn selbst innerlich mehr und leichter zu bessern; da kan und sol er nicht, blos um anderer willen, die hierin einer Gewonheit folgen, die sie nach und nach für großen Vorzug und für Wachstum in innerer Vortreflichkeit halten, solche Schriften sich wider seine Erkentnis so vorstellen, daß sie alle zusammen, ohne Unterschied, zu eigner Erbauung ihm ganz gewiß und recht sehr beförderlich s e y e n . . . " (Kümmel, a . a . O . , 75). Oder noch präziser: „Der einzige Beweis, der einem aufrichtigen Leser ein ganz Genüge thut, ist die innere Überzeugung durch Wahrheiten, welche in dieser heiligen Schrift (aber nicht in allen Theilen und einzelnen Büchern) angetroffen werden; welches man sonst, kurz zu reden, mit einer biblischen etwas undeutlichen Redensart, das Zeugnis des heiligen Geistes in dem Gemüte des Lesers genenthat" (Kümmel, a . a . O . , 76). In diesen Sätzen ist die Parallelisierung, ja s o g a r Identifizierung v o n hl. Geist und ratio, v o n der wir s p r a c h e n , eindeutig belegt u n d zugleich die U m k e h r u n g des hermeneutischen A n s a t z e s v o n R e f o r m a t i o n und O r t h o d o x i e v o l l z o g e n : „ J e t z t ist der M e n s c h in der B e g e g n u n g mit der Bibel die m a ß g e b e n d e Autorität, die im historisch-kritischen A s p e k t b e s t i m m t , w o d a s geschichtlich Verg a n g e n e u n d w o d a s göttlich G e g e n w ä r t i g e zu suchen i s t " ( K r a u s , a . a . O . , 111). Semlers H e r m e n e u t i k folgt dieser U m k e h r u n g . Statt mit der O r t h o d o x i e in den T e x t e n die rechte Lehre oder mit den Pietisten die persönliche E r b a u u n g zu suchen, r u f t er zur historischen U n t e r s u c h u n g der Schrift a u f , weil E r b a u u n g u n d G l a u b e nur auf d e m W e g e genauer historischer Erkenntnis des biblischen W o r t e s entstehen k ö n n e n : „Das wichtigste komt, kurz, in der hermeneutischen Fertigkeit darauf an, daß einer sowol den Sprachgebrauch der Bibel recht gewis und genau kennet, als auch die historischen Umstände einer biblischen Rede genau unterscheidet und sich vorstellen kan; und nun auch im Stande ist von diesen Gegenständen auf eine solche Weise iezt zu reden, als es die veränderte Zeit und andere Umstände der Menschen neben uns erfordern; oder in der Abfassung seiner Erklärung für sie verständlich zu seyn. Man kan die ganze übrige Hermeneutik auf diese 2 Stüke bringen; das erste ist aber vergleichungsweise noch wichtiger, und man befördert oder hindert das andere, nach dem man den Sprachgebrauch wirklich hat richtig kennen lernen, oder nicht" (Kümmel, a . a . O . , 78 f.). Semler formuliert hier in seinem s c h o n zu seiner Zeit a u f f a l l e n d schlechten Stil und D e u t s c h ein bis z u m heutigen T a g e i m m e r wieder neu variiertes her-

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Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

meneutisches Programm. Es gilt, die (biblischen) Texte in einem ersten Schritt historisch zu durchdringen und in einem zweiten dann, den Sachgehalt dieser Texte in zeitgemäßer Form neuzusagen. Um für dieses hermeneutische Programm Raum zu bekommen, macht sich Semler von der traditionellen Inspirations- und Kanonauffassung frei. Er erklärt den biblischen Kanon zu einem historischen, von der Kirche erst nach und nach durch Ubereinkunft verschiedener Kirchenprovinzen für verbindlich erklärten Phänomen. Die freie Untersuchung der biblischen Bücher ist also nicht unter Hinweis auf den erst spät entstandenen, kirchlich motivierten Kanon zu unterbinden. Gerade an der langen Entstehungsgeschichte des Kanons zeigt sich vielmehr, daß es geraume Zeit möglich war, Christ zu sein, ohne am Kanon festzuhalten. Semler nimmt es bei seiner Betrachtungsweise in Kauf, daß die von Flacius an in der Orthodoxie als organisches Ganzes betrachtete hl. Schrift nunmehr als eine in sich disparate kirchliche Sammlung von Büchern erscheint, die zu verschiedener Zeit mit verschiedener Ziel- und Blickrichtung verfaßt worden sind. Auch die orthodoxe Identifikation von Bibel und Wort Gottes wird von Semler aufgegeben: „Heilige Schrift und Wort Gottes ist gar sehr zu unterscheiden, weil wir den Unterschied kennen; hat man ihn vorher nicht eingesehen, so ist ja dis kein Verbot, das es uns untersagte. Zu der heiligen Schrift, wie dieser historische, relative terminus unter den Juden aufgekommen ist, gehört Ruth, Esther, Hohelied etc. aber zum Worte Gottes, das alle Menschen in allen Zeiten weise macht zur Seligkeit, gehörten diese heilig genannten Bücher nicht a l l e . . . " (Kümmel, a.a.O., 74).

Vom reformatorischen Glaubensansatz her ist Semlers Plädoyer für eine freie, historisch durchdringende Erforschung der Bibel nicht einfach von der Hand zu weisen. Semler entfernt sich von der Reformation aber in dem Augenblick, da er das Wort Gottes, welches er in der Schrift aufspüren möchte, für eine unveränderliche, ewige Vernunftwahrheit hält, für eine den Menschen zur Menschenfreundlichkeit und inneren Ordnung aufrufende, ihm notfalls auch ohne biblische Belehrung einleuchtende „moralische Wahrheit". Mit dieser rationalistischen Definition des Wortes Gottes wird der reformatorische Ansatz bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Es ist für uns heute ganz deutlich, daß die Hoffnung Semlers auf die moralische Erleuchtung des Menschen kraft seiner aus der Bibel heraus bestätigten und zum Rechten angeleiteten Vernunft getrogen hat. Oder anders und diesmal hermeneutisch formuliert: Auch wenn Semler unbestreitbar dem historischen Erkenntnisfortschritt in den Bibelwissenschaften die Bahn gebrochen hat, war der von ihm eingeschlagene Weg nicht hinreichend davor geschützt, eine Sackgasse zu werden, in der die kritische Vernunft sich bei der Untersuchung der Bibel durch Einebnung der theologischen Widerstände ihres helfenden Gegenübers beraubt und in der wissenschaftlichen Vereinsamung ihrer selbst endet. Da dieser Umstand seit Semler bis zum heutigen Tage immer wieder eingetreten ist, haben wir m.E. keinen Anlaß, Semler als den Wegbereiter der wahren

Die historisch-kritische Sicht des Alten Testaments

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Bibelwissenschaft zu preisen, vor deren Forum und hinter deren Leistungen aller vorangegangene Umgang mit der Bibel als verjährt und überwunden erscheint! Sofern die Bibel das Lern- und Lebensbuch der Kirche ist und von der Reformation ausdrücklich als solches Lebensbuch geehrt wird, muß es der kirchlichen Schriftauslegung primär darum gehen, in der Schrift die Offenbarung aufzudecken, die Jesus Christus heißt. Eben das ist Semler nur sehr partiell gelungen.

4. Die historisch-kritische Sicht des Alten Testaments Spinoza hat am Alten Testament die „Prinzipien einer historisch-literarischen Hermeneutik... zum ersten Male formuliert" (H.J. Kraus, a . a . O . , 64). Eben haben wir gesehen, in welcher Weise Semler das Alte Testament behandelt, nämlich als eine religionsgeschichtliche Vorstufe zum Neuen, die sich, was ihren eigentlich wegweisenden Vernunftgehalt anbetrifft, in gebotener Kürze zusammenfassen läßt. Mit dieser Betrachtungsweise steht Semler nicht allein. Von der Mitte des 18. Jahrhunderts an zerbricht vielmehr die Einheit der Schrift generell und erscheint das Alte Testament als ein israelitisches Quellenwerk, das der von Jesus gelebten und im Neuen Testament verkündigten vernünftigen Religion nur teilweise den Weg bereitet hat. Wiederum gilt, daß diese Betrachtungsweise ambivalent ist. In Johann Gottfried Eichhorns „Einleitung ins Alte Testament", die 1 7 9 0 in zweiter Auflage erschien, wird gleich im Vorwort die historische Exegese als die Möglichkeit gefeiert, die Schriften des Alten Testaments gegenüber dem bisherigen theologischen Gebrauch und mancherlei Mißverständnissen „nach Verdienst zu würdigen", nämlich in dem Sinne, „ . . . daß sie die Geschichte der Cultur und Aufklärung eines alten Volks so vollständig beschrieben, wie sie sonst von keinem andern weiter übrig ist; daß sie uns dasselbe in Zuständen zeigten, die bey andern bekannten und weit berühmtem Völkern des Alterthums lange vor dem Anfang ihrer übrig gebliebenen schriftlichen Denkmähler hergegangen, und daß sie zu tausend für Menschen und Menschengeschichte wichtigen Betrachtungen Gelegenheit gäben" (a. a. O., Bd. I, III-VI).

Eichhorn sieht in der historischen Kritik einen eindeutigen Erkenntnisgewinn gegenüber dem Alten Testament. Er steht damit stellvertretend für all jene, die neben und seit ihm das Alte Testament historisch aufgeschlüsselt haben. Neben dem Urteil Eichhorns aber steht das rationale Verdikt über das Alte Testament durch Hermann Samuel Reimarus. Er hat in seiner 1 7 6 7 / 6 8 verfaßten und von Lessing in Auszügen postum veröffentlichten „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes" über das Alte Testament bemerkt: „Es ist g e w i ß . . . kein Buch, keine Geschichte auf der Welt, die so voller Widersprüche wäre, und darin der Name Gottes so vielfältig und schändlich mißbraucht würde: indem alle die Personen, welche hier als Männer Gottes aufgeführt werden, einem ehr- und tugendliebenden Gemüthe mit ihrem Betragen lauter Anstoß, Aergerniß und Abscheu verursachen. In der ganzen Reihe dieser Geschichte findet man weder Erzväter, Richter

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Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

und Könige, noch Priester und Propheten, deren eigentlicher und ernstlicher Zweck gewesen wäre, ein wahres Erkenntniß Gottes, Tugend und Frömmigkeit unter Menschen auszubreiten; geschweige, daß man eine einzige große, edelmüthige und gemeinnützige Handlung darin antreffen sollte. Sie besteht aus einem Gewebe von lauter Thorheiten, Schandthaten, Betrügereien und Grausamkeiten, davon hauptsächlich Eigennutz und Herrschsucht die Triebfedern waren" (Reventlow, a . a . O . , 4 3 4 ) .

Über der historischen Kritik wird es also nicht nur schwer, das Alte Testament in angemessener Weise aus sich selbst heraus zu werten, sondern auch problematisch, ob und wie es mit dem Neuen zu einer christlichen Bibel verbunden werden kann. Denkt man zunächst an die altkirchliche Verbindung von Altem und Neuem Testament im Zeichen der Logoschristologie, an Calvins foederaltheologischen Versuch, Altes und Neues Testament heilsgeschichtlich zu verbinden und an die in ähnliche Richtung weisenden Bemühungen des M . Flacius, erkennt man, daß die Exegese des Alten Testaments vom 18. Jahrhundert an vor einer der Situation im Neuen Testament ganz analogen Problemlage steht. M a n hat sich der theologischen Tradition zugunsten der historischen Kritik entledigt, um erneut vor den Problemen zu stehen, die in der Tradition teilweise schon vorbildlich gelöst waren. Bis heute steht daher jeder Versuch, Altes und Neues Testament (wieder) enger zu verzahnen, vor der Frage, ob sich ein solches Verfahren überhaupt wissenschaftlich rechtfertigen lasse und nicht einfach ein Rückfall in eine unkritische Orthodoxie sei. M a n ist dieser Frage und den in ihrem Zusammenhang leicht verteilten Verdikten dann wehrlos ausgeliefert, wenn man die Herkunft der ganzen Problemstellung nicht erkennt. Hat man die Problemstellung aber in ihrer historischen Bedingtheit durchschaut, wird man den Exegeten des Alten Testaments, die dieses wirklich als Teil der christlichen Bibel auslegen wollen, abverlangen müssen, daß sie den für die Urchristenheit und die (Alte) Kirche unaufgebbaren Zusammenhalt der beiden Testamente auch wirklich auf einem Niveau explizieren, das vor der kirchlichen Tradition bestehen kann. Umgekehrt ist jede kritische Interpretation des Neuen Testaments historisch und kirchlich anfechtbar, die nicht darlegen kann, weshalb den neutestamentlichen Autoren und der (Alten) Kirche die Berufung auf das Alte Testament unverzichtbar erschien.

5. Die Hermeneutik

des Pietismus

Wenden wir uns nunmehr der Hermeneutik des Pietismus im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert zu, stoßen wir auf ein mehrschichtiges undhermeneutisch wiederum ambivalentes Phänomen. Weil der Pietismus es verstanden hat, die alten hermeneutischen Thesen der Orthodoxie ein Stück weit mit dem Geist und den Bedürfnissen der aufkommenden Neuzeit zu verbinden, ist er im 18.Jahrhundert zum eigentlichen Platzhalter jener reichen kirchlichen Auslegungstradition geworden, die mit dem Rationalismus zu versinken drohte. Weiter ist es ihm zu verdanken, daß das Interesse an der hl. Schrift in jener Zeit mächtig aufblühte und daß dieses Interesse endlich mit handlichen und wohlfei-

Die Hermeneutik des Pietismus

133

len Bibelausgaben befriedigt werden konnte. Weil der Pietismus aber nicht mehr zu bieten vermochte als eine vorläufige, in vielem ungeklärte Synthese von orthodoxen hermeneutischen Prinzipien und neuzeitlichen Denk- und Glaubensbedürfnissen, kann seine Hermeneutik noch nicht als die für die Zukunft eigentlich wegweisende Auslegungslehre der Kirche verstanden werden; dies gilt sowohl für das 18. Jahrhundert als auch für die Gegenwart. Versuchen wir, uns diese drei Tatbestände geschichtlich zu verdeutlichen, müssen wir auf die der Bibel geltende Lebensarbeit der drei führenden Vertreter des Pietismus im

18. Jahrhundert eingehen, auf August Hermann Francke, Johann Jakob Rambach und Johann Albrecht Bengel.

Der bedeutsamste Mann unter diesen dreien, der gerade auch in seinem Interesse an der hl. Schrift auf Rambach und Bengel nachhaltig eingewirkt hat, ist August Hermann Francke ( 1 6 6 3 - 1 7 2 7 ) gewesen. Er war der führende Kopf des Halleschen Pietismus. Als Francke in Halle Professor für orientalische Sprachen geworden war, galt eine seiner ersten Vorlesungen dem Thema der Hermeneutik. Die Vorlesung ist 1 6 9 3 unter dem Titel: „Manuductio ad lectionem Scripturae Sacrae" ( = Handreichung zur Lektüre der hl. Schrift) erschienen. Sie enthält trotz ihres bewußt bescheiden gehaltenen Titels bereits das ganze Programm der Francke vorschwebenden pietistischen Hermeneutik. Francke hat das Thema der Hermeneutik in einer ganzen Reihe von deutschen und lateinischen Veröffentlichungen weiterbehandelt, bis dann im Jahre 1 7 1 7 seine einflußreichen „Praelectiones Hermeneuticae" ( = Hermeneutische Vorlesungen) erschienen. Das Standardwerk pietistischer Hermeneutik hat aber nicht mehr Francke selbst, sondern sein Amtsnachfolger in der Professur, Johann Jakob Rambach ( 1 6 9 3 - 1 7 3 5 ) in Gestalt seiner „Institutiones Hermeneuticae Sacrae" ( = Unterweisungen in der heiligen Auslegungskunst) verfaßt. Dieses 1 7 2 3 erschienene Werk erlebte allein bis 1 7 6 4 acht Auflagen und wurde vom Verfasser selbst auf deutsch kommentiert, und zwar in dem 1 7 3 8 postum von Ernst Friedrich Neubauer in Gießen herausgegebenen und eingeleiteten Werk: „ D . J o h a n n J a c o b R a m b a c h s . . . ausführliche und gründliche Erläuterung über seine eigene Institutiones Hermeneuticae Sacrae aus der eignen Handschrift des seligen Verfassers mit Anmerckungen und einer Vorrede von der Vortreflichkeit der Rambachischen Hermeneutic ans Licht gestellet von D . E r n s t Friedrich Neubauer." Die hermeneutischen Grundsätze Johann Albrecht Bengels ( 1 6 8 7 - 1 7 5 2 ) , die vor allem im süddeutschen Pietismus weitergewirkt haben, finden sich in behältlicher Zusammenfassung im Vorwort zu seinem „Gnomon Novi Testamenti" ( = Zeiger/Wegweiser zum Neuen Testament), der 1 7 3 4 in erster Auflage herauskam und zu einem bis heute gebräuchlichen exegetischen Werkbuch geworden ist.

5.2 Die Hermeneutica Sacra Hermeneutisch geht es dem Pietismus um die sog. Hermeneutica Sacra. Rambach erläutert in seinen Institutiones, was er darunter versteht:

134

Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

„ . . . die hermeneutica sacra (ist) eine praktische Geschicklichkeit, durch welche ein Theologe — mit den notwendigen Hilfsmitteln genügend ausgerüstet - unter dem vorleuchtenden Licht des heiligen Geistes befähigt wird, den Sinn der Schrift richtig zu ermitteln und den gefundenen Schriftsinn Anderen vorzutragen und verständig anzuwenden, damit auf diese Weise die Ehre Gottes und das Heil der Menschen gefördert werde" (3. Aufl., Jena 1 7 2 9 , S . 2 ; zitiert nach Herbers, a . a . O . , 8 0 und seiner Übersetzung).

Es geht in der Hermeneutica Sacra der Pietisten um die Neuakzentuierung und um die Vervollständigung der orthodoxen Hermeneutik, wobei der neue Akzent schon in der uns von Spener her bekannten Definition der Theologie als eines habitus practicus beschlossen liegt. Man kann dies an Franckes Hermeneutik sehr schön beobachten. Bereits in seiner „Manuductio" lehrt er den Exegeten von der Kenntnis der Schale der Schrift, d.h. ihrem Wortlaut, vorzudringen zu ihrem Kern, nämlich ihrem in Christus gipfelnden Skopus. Der exegetische Weg, auf dem man in dieser Weise vordringt, wird von Francke in mehrere Stufen eingeteilt. Er beginnt mit der die historische Breitenkenntnis der Bibel durch kursorische Lektüre vermittelnden lectio historica und führt weiter zu der philologischen und strukturalen Erhellung der biblischen Bücher nach ihrem jeweiligen Urtext in der sog. lectio grammatica und lectio analytica. Diese drei Arten von Schriftlektüre sind aber erst die Vorstufe für die Francke sehr am Herzen liegende lectio exegetica, in der der Wortsinn der Bibel als der eigentlich geistliche Sinn der Schrift aufzuhellen ist. Wie wir von der Orthodoxie her wissen, ist der sensus litteralis nur einer; er erschließt sich dem Erkenntnisvermögen des natürlichen Menschen nicht ohne weiteres. Um die lectio exegetica leisten zu können, muß man nach Francke wiedergeboren sein. In ihr geht es (wie schon bei Flacius) um den Skopus der Texte und ihre Auslegung nach der analogia fidei. Auf die lectio exegetica setzt Francke dann noch die lectio dogmatica auf. Sie ergründet die expliziten und impliziten Glaubenssätze in den Texten und orientiert sich an den (gut lutherischen) Grundsätzen, daß Christus die Sinnmitte der Schrift und daß zwischen Evangelium und Gesetz zu unterscheiden sei. Die lectio dogmatica wird fortgeführt durch die lectio porismatica (von porisma = Folgesatz). Sie fußt auf der bereits von Flacius aufgestellten Regel, daß die Bibel ein heilsgeschichtlich zusammengehöriges Ganzes, eine organische Einheit bildet. In der porismatischen Auslegung werden aus den Schriftaussagen erbauliche, auf das Schriftganze abgestützte Folgesätze entwikkelt. Die lectio exegetica gipfelt schließlich in der lectio practica, in der der Ausleger die bisher gewonnenen exegetischen Einsichten zunächst auf sein eigenes Leben und dann auf das Leben der Glaubenden insgesamt anwendet. Die lectio practica ist für Francke ein lebenslanger Prozeß und führt über Gebet und Textmeditation hin zur Anwendung biblischer Grundsätze in der Glaubensexistenz des einzelnen und der Gemeinde. - Anhangsweise geht Francke dann noch auf die den pietistischen Hermeneuten so wichtige Lehre von den Affekten ein; sie hat den Sinn, das geistliche Leben durch Vertiefung in die geistliche Gemütsbewegung der biblischen Autoren, Adressaten und Zentralgestalten zu beleben und zu bereichern.

Die Hermeneutik des Pietismus

135

Der gesamte kunst- und mühevolle hermeneutische Apparat, den wir vor uns haben, erinnert in Struktur und Absicht an die Lehre vom vierfachen Schriftsinn; er wird von Francke aufgeboten, um die praxis pietatis exegetisch zu untermauern und zu fördern. Eigentlich neu ist an Franckes exegetischer Stufenlehre nur dieser praktische Grundzug, die anhangsweise vorgetragene Affektenlehre und die Betonung der hermeneutischen Bedeutsamkeit der Bekehrung für das Eindringen in den geistlichen Wortsinn der Schrift und die ihm folgenden exegetischen Zusatzschritte.

5.2 Das Prinzip der

Wiedergeburt

Fragt man weiter nach diesem letzten, von Francke an bis heute von pietistischer oder evangelikaler Seite stark betonten hermeneutischen Grundsatz, daß sich die Schrift im eigentlichen Sinn erst dem Wiedergeborenen erschließt, stößt man in den pietistischen Entwürfen, von denen wir sprechen, auf einen interessanten, aber auch aporetischen Befund. Wenn die Pietisten die Bedeutsamkeit der Wiedergeburt für die Hermeneutik hervorheben, geht es ihnen um dreierlei. Es geht ihnen erstens um eben jene hermeneutische Erfahrung, die Augustin zu Beginn des Mittelalters am eindrücklichsten formuliert und Luther in seiner letzten Schreibtischnotiz noch einmal testamentarisch eingeschärft hat, daß nämlich zur Erkenntnis und Würdigung der biblischen Texte ein Lebensverhältnis zu der in diesen Texten verlautbarten Sache gehört. Rambach betont in seiner „Erläuterung" Kap. I § 14, der animus profanus ( = die weltliche Einstellung), den es bei der Exegese abzulegen gelte, habe drei Grade und führe zu zwei Ergebnissen: „ . . . Der a) erste gradus huius animi profani ist, wenn man keine Lust zum Worte GOttes, keinen Geschmack an geistlichen Dingen und göttlichen Wahrheiten hat. b) Der andre Grad ist, wenn man gar einen Abscheu daran hat, weil GOttes Wort diejenigen Lüste unsers Fleisches, worin man sein Vergnügen suchet, zu dämpfen und zu creutzigen befielet, und uns von unsern Schoos-Sünden abziehen will, c) Der dritte Grad ist, wenn man gar seinen Spott mit der Religion, Bibel und Gottesdienst treibet, oder mit denen darin geoffenbarten Wahrheiten, und wo man nur Gelegenheit hat, solches zu einem groben Schertz brauchet. Solche Leute tractiren (1) die Schrift gar nicht, bald ist sie ihnen zu simple, bald zu obscur, bald finden sie darin contradictiones und tautologien, bald ist sie ihnen zu confus. Kurtz: sie wären capable, eine bessere Bibel zu machen. (2) Wenn sie sie tractiren, so zerfleischen sie sie erbärmlich, als die Kriegs-Knechte Christum, sie corrigiren dieselbe, löschen aus, was sie belieben, und bringen unzehlige parermenien [ = Mißdeutungen; P.St.] vor. So lange man nun in einem solchen habitu animi profano stehet, es sey nun auf der ersten, zweyten oder dritten Stufe, so ist man, wie gesagt, eben so geschickt ad exegesin sacram, als asinus ad lyram" [ = zur hl. Exegese wie ein Esel zum Lautenspiel, P.St.] ( a . a . O . , 64).

Hat man die historische und hermeneutische Problematik der modernen Jesusforschung vor Augen, derzufolge sich keine Rekonstruktion des Wirkens Jesu ohne erhebliches Interessenengagement erstellen läßt, oder hält man sich

136

Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

die Christentumspolemik von J. Kahl, R. Augstein oder auch J. Lehmann vor Augen, wird man Rambach im Grundsatz kaum widersprechen können. Ein von der Liebe Christi ergriffener Interpret liest die Bibel tatsächlich anders als ein Jesus ablehnender Christentumskritiker! Bei der Wiedergeburtsthematik geht es den Pietisten hermeneutisch zweitens um Luthers These von der doppelten Klarheit der Schrift und die reformatorische, von der Orthodoxie aufgenommene Lehre vom testimonium spiritus sancti internum. Nur wird diese äußerst sinnvolle, die Begrenzung aller exegetischen Auslegungsarbeit durch Gottes Wirken markierende Thematik nunmehr in einen Zusammenhang gebracht, in dem sie einem spezifischen Bedürfnis der pietistischen Bewegung Genüge tun soll. Wenn der Pietismus die Bekehrung oder Wiedergeburt zur Voraussetzung des echten Schriftverständnisses erhebt, versucht er nämlich - drittens - die seinen Gruppierungen eigentümliche und innerhalb dieser Gruppierungen das geistliche und menschliche Einverständnis ermöglichende religiöse Grunderfahrung der persönlichen Berufung zu methodisieren und stößt dabei an die Grenze seiner hermeneutischen und theologischen Denkmöglichkeiten. Denn weder darf das Menschen unverfügbare Geisteshandeln Gottes zur methodischen Voraussetzung menschlicher Auslegungskunst erhoben werden, noch ist es dem Pietismus möglich gewesen, die Differenz zwischen erleuchtetem Schriftverständnis und unerleuchteter Exegese wirklich präzis auf den Begriff zu bringen. Man sieht dies sogleich, wenn man noch einmal Rambach hört. Gleich im Anschluß an den eben zitierten Abschnitt aus seiner „Erläuterung" versuchter zu zeigen, welche positive Geistesverfassung der legitime, erleuchtete Interpret der hl. Schrift besitzen muß. Rambach schreibt: „ . . . m a n (muß) s a n c t u m a n i m i h a b i t u m anziehen, f o l g l i c h m u ß v e r a & sincera p i e t a s d a s e y n ; d a s a b e r o h n e b e s o n d e r e B e y h ü l f e des heiligen G e i s t e s nicht g e s c h e h e n k a n . D e r E x e g e t m u ß in s t a t u g r a t i a e sich b e f i n d e n , u n d g l e i c h s a m in einer rechten h e i m l i c h e n F a m i l i a r i t ä t mit d e m heiligen G e i s t , d u r c h d e s s e n E i n g e b e n die heilige S c h r i f t ist v e r f a s s e t w o r d e n , stehen, als welcher o p t i m u s v e r b o r u m s u o r u m interpres, der sicherste u n d a l l e r h ö c h s t e interpres seiner eigenen W o r t e ist. Es stehen z w a r freylich a u c h viele a n d r e D i n g e in der Schrift, h i s t o r i c a , g e n e a l o g i c a , c h r o n o l o g i c a u n d g e o g r a p h i c a , die a u c h ein p r o f a n e s G e m ü t h e x p l i c i r e n k a n , die m a n freylich o h n e eine b e s o n d e r e E r l e u c h t u n g des heiligen G e i s t e s verstehen, u n d d u r c h Fleiß u n d a d h i b i r u n g der n ö t h i g e n subsidiorurri sich b e k a n n t m a c h e n k a n . A b e r die H a u p t - c o n t e n l a der heiligen S c h r i f t sind ta tou pneumatos tou theou, D i n g e , die d e s G e i s t e s G O t t e s sind, die den G e i s t G O t t e s u n d seine g e h e i m e W i r c k u n g e n in der Seele des M e n s c h e n b e t r e f f e n , q u a e a d i n t e r i o r a christianismi pertinent, d a z u ist er nicht g e s c h i c k t . D i e k ö n n e n u n m ö g l i c h sine spiritu s a n c t o s a l u t a r i t e r v e r s t a n d e n w e r d e n . D a v o n w i r d s w o l w a h r bleiben, w i e es heist I . C o r i n t h . 2 , 1 4 . psychikos anthropos ou dechetai ta tou pneumatos tou theou, cet. d a d u r c h einen fleischlichen o d e r n a t ü r l i c h e n M e n s c h e n kein a n d r e r v e r s t a n d e n w i r d , als ein s o l c h e r , der nichts m e h r h a t , als die z w e y ersten c l a s s e s d o n o r u m , d o n a n a t u r a l i a &C s t u d i o a d q u i s i t a , eine g u t e n a t ü r l i c h e u n d d u r c h W i s s e n s c h a f t e n e x c o l i r t e V e r n u n f t , der die K r ä f t e seiner Seelen, seines V e r s t a n d e s u n d V e r n u n f t s o n d e r l i c h e x c o l i r e t , u n d einen S c h a t z v o n allerley W i s s e n s c h a f t e i n g e s a m m l e t hat. V o n e i n e m s o l c h e n , s o l a n g e er d e n G e i s t G O t t e s nicht b e k o m m e n , heist es: ou dynatai, er k a n nicht, er k a n d i e s e l b e n nicht

Die Hermeneutik des Pietismus

137

fassen; so wenig als ein kleines Kind eine geometrische demonstration fassen kan. Hingegen sagt David Psal. 2 5 , 1 4 . das Geheimniß des HErrn ist unter denen, die ihn fürchten, und seinen Bund lasset er sie w i s s e n . . . " (a. a. O., 6 4 / 6 5 ) .

In diesen Ausführungen wird l . K o r 2 , 1 4 zwar für die pietistische Wiedergeburtshermeneutik reklamiert, es fehlen aber noch präzise methodische Ausführungen darüber, wie das vom hl. Geist geschenkte zusätzliche und eigentlich intendierte Bibelverständnis aussehen soll. Liest man bei Rambach weiter, findet man folgende Hinweise. Der Ausleger muß seine fleischlichen Vorurteile überwunden haben, welche die Exegese behindern. Er darf nach Rambach seine Auslegung weder hemmen lassen von einem bloßen Glauben an große exegetische Autoritäten vor ihm, noch darf er versessen sein, vorgefaßte kritische oder auch rein subjektive Hypothesen im Text wiederfinden zu wollen. Der Interpret muß statt dessen von göttlichem Licht erfüllt sein, er soll selbst über geistliche Erfahrung verfügen und in seinem Willen von dem „verus amor Iesu Christi" erfüllt sein. Kraft dieser Geistes- und Willensverfassung soll er sich den heiligen Affekten der biblischen Autoren zuwenden und, ohne „ein Feind der Wissenschaften" zu sein, „seine Vernunft als einen Spiegel darstellen, auf welchen das Licht GOttes falle, und sich darinnen reflectire. Man muß in Demuth alle Tüchtigkeit von GOtt erwarten" (a. a. O., 75). Er darf sich mit seiner Meinung nicht um jeden Preis durchsetzen wollen, soll dialogfähig sein und stets bereit, ohne Zorn und Leidenschaft, vielmehr in heiterer Gemütsverfassung von neuem an die Exegese (und Meditation) zu gehen. So richtig und weise vieles an diesen Ratschlägen und Postulaten ist, sie sind weitgehend allgemeiner hermeneutischer Natur und betreffen keineswegs die Wiedergeborenen allein. Rambach fußt zwar auf der kirchlich längst vor ihm gewonnenen und hochgehaltenen Einsicht, daß der Glaube an und die Liebe zu Jesus Christus als Herrn und Erlöser nicht einfach durch Fachexegese erworben werden kann; aber eben dies wird hier nicht expliziert. Dafür werden biblische Exegese und geistliche Textdurchdringung ganz eng zusammengesehen, und es bleibt ungeklärt, wie sich das Postulat von der Vernunft als Spiegel der Offenbarung zu dem Grundsatz verhält, man dürfe in der Exegese nicht in Wissenschaftsfeindlichkeit verfallen. Rambach strebt nach einer Bibelauslegung, die mehr bietet, als die menschliche Vernunft in den Texten sehen kann; er ist aber offenkundig nicht imstande, dieses „mehr" methodisch zu explizieren. Da er historische Textauslegung und dogmatische Textdurchdringung nahtlos ineinander übergehen läßt, bleibt seine geistliche Hermeneutik im entscheidenden undeutlich. Diese Unschärfe hat ihre Folgen gehabt. Weil es dem Pietismus (schon) im 18. Jahrhundert nicht gelungen ist, ein eindeutiges, methodisch geklärtes Verhältnis zur historischen, vernünftig argumentierenden Wissenschaft zu gewinnen, ist er mit seiner Hermeneutica Sacra anfällig geworden und geblieben für unkritische, biblizistische oder heilsgeschichtliche Spekulationen.

138

Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

5.3 Die kritische Textforschung Dieser Sachverhalt ist fast tragisch und zumindest paradox zu nennen. Denn während sich die Hochorthodoxie energisch den Versuchen des Rationalismus widersetzt hat, die Bibel als geschichtlich gewordenes und von Menschen verfaßtes Buch auch geschichtlich zu interpretieren, ist es gerade der neu aufbrechende Pietismus gewesen, der hier keinen Widerspruch konstatierte, vielmehr die neuen Forschungsmöglichkeiten als Bereicherung und exegetische Chance begriff. M a n kann dies an Franckes philologisch-historischen Bemühungen um die hl. Schrift ebenso gut beobachten wie an Bengels bahnbrechenden Forschungen zur Textkritik des Neuen Testaments. Um seine Studenten im Neuen Testament anzuleiten, hat Francke im Jahre 1 7 0 2 eine kritische Ausgabe des Neuen Testaments mit eigener, über Methode und Ziel des neutestamentlichen Studiums informierender Vorrede erscheinen lassen; er empfahl, hinfort mit dieser kritischen Edition zu arbeiten. Nach K. Aland „handelt (es) sich dabei um die Ausgabe von John Fell, dem Dean von Christ Church und späteren Bischof von Oxford, die 1 6 7 5 im Verlag der Oxforder Universität... erschienen war. Die Wahl Franckes war bezeichnend für seine Haltung. Denn die Ausgabe Fells ist von allen damals existierenden Ausgaben des griechischen Neuen Testaments die fortgeschrittenste und wissenschaftlichste" ( a . a . O . , 121). Was das hebräische Alte Testament anbetrifft, hat Francke als Orientalist und Alttestamentler in dem eigens von ihm begründeten Collegium Orientale theologicum die Herausgabe der schließlich 1 7 2 0 von Johann Heinrich Michaelis besorgten sog. Michaelis-Bibel maßgeblich befördert und damit geholfen, eine wissenschaftlich jener Ausgabe des Neuen Testaments von Fell vergleichbare kritische Studienausgabe des Alten Testaments zu schaffen. Nicht anders steht es mit Bengel und seiner 1 7 3 4 in Tübingen erschienenen kritischen Ausgabe des Neuen Testaments. Mit ihr hat Bengel die Erforschung der Textgeschichte des Neuen Testaments entscheidend beeinflußt und die Textkritik auf methodisch zuverlässigen Boden gestellt. Nachdem ihn der Variantenreichtum der neutestamentlichen Textüberlieferung anfänglich in Zweifel und tiefe Anfechtungen stieß, hat Bengel diese seine Anfechtungen über seiner Arbeit zu überwinden gewußt und sich dazu erzogen, die Bibel als Offenbarungszeugnis in geschichtlich fehlbarer, menschlicher Knechtsgestalt zu sehen. Daß man ihn als kritischen Textforscher der Bibelfeindschaft und Neologie bezichtigen würde, hat Bengel gesehen und schon in der Ankündigung seines Neuen Testaments geschrieben: „Sie werden mich einen Bibelfeind heißen, während ich um einen möglichst unverfälschten Bibeltext mich mühe; einen Neuerer, während ich dafür eintrete, daß gerade die ältesten Zeugnisse die zuverlässigsten sind; einen vorwitzigen Menschen endlich, während ich behaupte, bei heiligen Dingen müsse man auf jede Kleinigkeit achthaben. Das alles werden Leute sagen, die gegen eine wirkliche Kenntnis der Sache mit Feuereifer sich wehren. Ich bin fest entschlossen, alle Verunglimpfung zu tragen, wenn nur der T e x t des Neuen Testaments in seiner ursprünglichen Gestalt ans Tageslicht kommt, und wenn nur die Frucht meiner Arbeit den jetzt Lebenden oder einer Nachwelt, deren Urteil nach

Die Hermeneutik des Pietismus

139

beiden Seiten ein ganz anderes sein wird, zugutekommt" (zitiert nach K.Hermann, a.a.O., 386).

Im Bereich der Philologie und der biblischen Textforschung ist der Pietismus also ein entschiedener Vorkämpfer der historisch-kritischen Arbeit gewesen. Doch die hier vorgelebte Möglichkeit, den hermeneutischen Ansatz der Orthodoxie in Hinsicht auf die neue Betrachtungs- und Denkweise zu modifizieren, haben weder Bengel noch einer der anderen Pietisten systematisch genutzt.

5.4

Die Spaltung des

Schriftverständnisses

Auf diese Weise kommt es bei Rambach, aber auch bei Bengel zu einer Spaltung des Schriftverständnisses. Die Bibel wird einerseits historisch-kritisch und andererseits doch wieder ganz unkritisch betrachtet. Derselbe Bengel, der sich als Textkritiker gegen den Vorwurf der Untreue gegenüber dem biblischen Wort wehrt, betont im Vorwort zu seinem Gnomon gleich zu Beginn in § 1, die Schrift aus Altem und Neuem Testament bilde „ . . . ein äußerst festes und wertvolles System göttlicher Zeugnisse... Nicht nur sind die einzelnen Teile Gottes würdig, sondern zusammengenommen bieten sie auch ein zusammenhängendes und vollständiges Gebilde dar, das weder unter irgendeinem Mangel, noch unter irgendeiner Ubertreibung leidet. Es ist die Quelle der Weisheit, die von allen, die sie geschmeckt haben, den Schriften anderer Menschen vorgezogen wird, wie heilig, kundig, fromm und weise sie auch seien".

Unter diesen Umständen endet der historisch-kritische Umgang mit der Schrift bei Bengel dort, wo der ursprüngliche Text mit menschenmöglicher Genauigkeit festgestellt ist. Dann beginnt das Eindringen in das unendlich reiche Wort Gottes, angesichts dessen der Ausleger allen Eifer und alle Frömmigkeit daran setzen muß, nur das zu erheben, was er geschrieben findet. Bengel schreibt in § 2 1 seines Vorworts von sich selbst, seiner exegetischen Haltung und seinem theologischen Schrifttum: „Meine Rechtgläubigkeit hat bisher noch niemand in Frage gestellt. Wer meine Schriften genau erwogen hat, wird anerkennen, daß ich der Norm der Heiligen Schrift nicht nur in ihren Lehren folge, sondern auch in ihren Worten, mit einer Religiosität, die wohl selbst guten Leuten kaum vom Aberglauben unterscheidbar erscheint ( = ea religione sequi, quae vel bonis a superstitione vix abesse videatur). Denn ich halte dafür, daß keine Abweichung von der Linie der Wahrheit, wie sie uns in der Schrift vorgestellt ist, so leicht ist, daß nicht die Anerkennung der Wahrheit vorzuziehen sei, die dem Wissen Gottes, der ja selbst zuschaut, entspricht, und mit seinem Ruhme übereinstimmt. Die Wahrheit ist eine. In ihrem größten und ihrem kleinsten Teil hängt sie mit sich selbst zusammen...".

Jenes hier von Bengel selbst zur Sprache gebrachte, fast abergläubische Vertrauen in die Gültigkeit und den harmonischen Wahrheitsgehalt des biblischen Wortes ist nicht nur die biblizistische Seite in Bengel selbst, sondern das orthodoxe Element in der pietistischen Hermeneutik überhaupt. Es reimt sich

140

Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

mit dem pietistischen Aufbruch zur historischen Kritik der Bibeltexte nur schwer zusammen und ist schon bei Bengel selbst zur Einfallspforte von ganz unbiblischen, rationalistischen Spekulationen geworden. Daß er eine apokalyptische Eschatologie entwickelt und den Anbruch des in Apk 20 angekündigten Millenniums irrtümlich auf das Jahr 1836 datiert hat, erwähne ich nur als Beleg dafür, daß die Hermeneutik der Wiedergeburt gerade dort, wo sie die Stimme des Geistes zu vernehmen wähnte, zu ausgesprochenen Mißdeutungen der biblischen, in Christus zentrierten Zukunftsverheißung gelangt ist. Das hermeneutische Programm, das wir bei Francke, Rambach und Bengel kennengelernt haben, versteht sich zwar als epochemachender Neuentwurf, der die Orthodoxie und ihre hermeneutische Scholastik hinter sich gelassen, das religiöse Bedürfnis der Gläubigen gestillt und der Bibel gegenüber dem Rationalismus neu zur Ehre verholfen hat. In sich aber ist es zu unausgeglichen und zu vorläufig gewesen, um die hermeneutischen Bemühungen um die Auslegung der Bibel wirklich auf Dauer zu bestimmen. Es kann daher kaum ein Zufall genannt werden, daß die einst von Francke beherrschte theologische Fakultät in Halle nach Franckes Tod und Rambachs Weggang nach Gießen im Jahre 1731 zuerst unter dem Lehrer Semlers, Sigmund Jakob Baumgarten, an die aufgeklärte Orthodoxie und dann mit Semler, der in Halle studiert hatte und dort von 1752 bis zu seinem Tode im Januar 1791 Professor war, vollends an die Neologie überging.

6. Johann Georg Hamanns

Schriftverständnis

Immanuel Kant hat in seiner Schrift „Der Streit der Fakultäten" (1798) auch über das Verhältnis und den Rang von theologischer und philosophischer Schriftauslegung gehandelt. Er plädiert dort für Auslegungsgrundsätze, die „von der Vernunft diktiert" sind und rät entschieden zu einer „Vernunftauslegung der Bibel", die die göttliche Offenbarung aus der „Ubereinstimmung mit dem, was die Vernunft für Gott anständig erklärt" (Akademie Ausgabe VII, 46), verstehen lehrt. Demgegenüber ist sein Freund und Kritiker Johann Georg Hamann (1730-1788) der Auffassung, daß genau dieses Plädoyer unzureichend und gegenüber der Schrift im Entscheidenden sogar irreführend ist. Hamann findet 1757 in London über der Bibellektüre zu der Gewißheit, daß Gott selbst durch die Schrift zu ihm spricht, ihn überführt, tröstet und versteht. Er ist damit auf seine Weise ein Musterbeispiel für Luthers Einsicht, daß das äußerlich klare Wort der Schrift, die sich selbst interpretiert, erst von denen als lebenschaffendes Wort verstanden werden kann, „denen Gott einen rechten verstand und erfarung ym hertzen gibt" (s.o. S. 102). Hamanns Schriftverständnis erwächst seither aus der demütigen Bereitschaft, sich die Auslegung seiner selbst durch Gottes Wort in der Schrift gefallen zu lassen. Sein Londoner „Tagebuch eines Christen" beginnt mit den Sätzen:

Johann Georg Hamanns Schriftverständnis

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„Gott ein Schriftsteller! - Die Eingebung dieses Buchs ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und Menschwerdung des Sohnes. Die Demuth des Herzens ist daher die einzige Gemüthsverfassung, die zur Lesung der Bibel gehört, und die unentbehrlichste Vorbereitung zur selbigen" (Sämtliche Werke, hrsg. von J. Nadler, 1,5).

Durch die Lebenswende zur Zeugenschaft berufen, war Hamann „minister verbi divini, Diener des göttlichen Wortes, . . . als Schriftsteller" und nicht als Träger eines „öffentlichen kirchlichen Amts" (O.Bayer, a . a . O . , 3 5 3 ) . Dies bedingt, daß wir von ihm keinen ausgeführten Entwurf einer Hermeneutik besitzen, der dem Exegeten oder Prediger unmittelbar nützlich sein könnte. Wohl aber sind von Hamann Einsichten gewonnen und ausgesprochen worden, die für eine Interpretation der Schrift im Sinne Luthers angesichts von Pietismus und Aufklärung m . E . wegweisend sind: Erstens lehrt Hamann die Schriftinspiration nicht als Auslegungshemmnis, sondern als Verstehenshilfe von Seiten Gottes zu verstehen. Gott kommt in der Schrift auf den Leser zu im einfältigen Wort von „Leuten, die keine literati ihres Seculi [ = Gebildete ihrer Zeit; P.St.] waren": „Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist GOttes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, sich eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth i s t . . . Wenn also die göttliche Schreibart auch das alberne - das seichte — das unedle - erwählt, um die Stärke und Ingenuität aller Profanscribenten zu beschämen: so gehören freylich erleuchtete, begeisterte, mit Eyfersucht gewaffnete Augen eines Freundes, eines Vertrauten, eines Liebhabers dazu, in solcher Verkleidung die Strahlen himmlischer Herrlichkeit zu erkennen." (Erster Hellenistischer Brief, Sämtl. Werke, hrsg. von J. Nadler, II, 171).

Damit wird — zweitens — der biblische Text so, wie er lautet, zum entscheidenden Medium, um Gott zu hören und zu verstehen. Der von der hohen griechischen Literatur abstechende „Zeitungs- und Briefstyl" ist für „die Schreibart der Bücher des N(euen) B(undes)" charakteristisch und will in seiner Originalität philologisch und historisch ernstgenommen werden ( a . a . O . , 171 f.). Die philologisch-historische Arbeit an den in bestimmter Sprachgestalt vorgegebenen biblischen Texten ist für Hamann eine theologische Notwendigkeit, weil sie der Absicht Gottes, den Leser der Schrift „zur Seeligkeit durch den Glauben an seinen Erlöser" zu führen, entgegenkommt. „Die Nothwendigkeit, uns als Leser in die Empfindung des Schriftstellers, den wir vor uns haben, zu versetzen, uns seiner Verfassung so viel möglich zu nähern, die wir durch eine glückliche Einbildungskraft uns geben können, zu welcher uns ein Dichter oder Geschichtsschreiber so viel möglich zu helfen sucht, ist eine Regel, die unter ihrer Bestimmung [ = der besonderen Bestimmung der hl. Schrift; P.St.] ebenso nöthig als zu anderen Büchern ist" (Tagebuch, a . a . O . , 8).

Hamann teilt also Kants Interesse an einer einsichtigen wissenschaftlichen Methode durchaus, aber anders als sein philosophischer Freund (der Hamann nach seiner Bekehrung für einen Schwärmer hielt) widersetzt er sich entschieden

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Hermeneutische Auseinandersetzungen im 18. Jahrhundert

der Überschätzung der Vernunft, die (bei Kant) der Methode innewohnt. Die dritte hermeneutische Einsicht Hamanns lautet, gut paulinisch, deshalb so: „Die Vernunft ist heilig, recht und gut; durch sie kommt aber nichts als Erkenntnis der überaus sündigen Unwissenheit, die, wenn sie epidemisch wird, in die Rechte der Weltweisheit t r i t t . . . Niemand betrüge sich also selbst. Welcher sich unter euch dünkt weise zu seyn: der werde ein Narr - l . K o r III. 1 8 " (Wolken, Sämtl. Werke, hrsg. von J.Nadler, II, 108).

Dem Glauben der Aufklärung an die Autorität und Durchsetzungskraft der (durch Abstraktion noch zur „reinen Vernunft" gesteigerten) ratio setzt Hamann bei aller Wertschätzung rationaler Arbeit und rhetorischer Bildung den (biblisch und erfahrungsmäßig begründeten) theologischen Zweifel an eben dieser Selbstmächtigkeit und Autorität der Vernunft entgegen. Bei der Schriftauslegung hat gerade nicht die Vernunft zu bestimmen, was für Gottes Offenbarung „anständig" ist und was nicht, sondern Gott selbst gibt in den Texten vor, wie und als wer er sich offenbaren will! Wir finden damit Einsichten ausgesprochen, die über das Entweder - Oder von Pietismus und Rationalismus hinausweisen, obgleich Hamann zu seiner eigenen Zeit kaum oder gar kein Gehör fand.

7.

Rückblick

Schauen wir zurück. Das Ringen um die neue Hermeneutik im 18. Jahrhundert endet mit einem faktischen Übergewicht der Neologie und dem tatsächlichen Durchbruch der von den Neologen und Pietisten gemeinsam bejahten und praktizierten historisch-kritischen Betrachtung der hl. Schrift. Was aber die theologische Bewältigung und hermeneutische Integration dieser neuen Betrachtungsweise anbetrifft, bleibt es sowohl im Pietismus als auch bei den Anhängern der Aufklärung bei einer Diastase zwischen dem kritischen Neuansatz und der seitherigen orthodoxen Auslegungstradition. Die Front verläuft dabei unterschiedlich. Während die Neologen selbst ein aufgeklärtes, vernünftiges Christentum vertreten und die Tradition buchstäblich hinter sich lassen, tragen die Pietisten den Gegensatz unbewältigt in sich selbst. Hamann bleibt leider ungehört, und eben dies hat seine Folgen. Mit den Neologen beginnt nämlich nun der Weg der ihren eigenen Denkgesetzen und Fragestellungen folgenden exegetischen Wissenschaft, an dem fortan nur noch der Kreis der akademisch Gebildeten und wissenschaftlich Interessierten beteiligt ist. Diese Distanzierung von wissenschaftlicher Bibelauslegung und Gemeinde ist insofern höchst problematisch, als schon die Alte Kirche gesehen hat, daß eine rein wissenschaftliche Textauslegung der Kirche ebenso dienen wie schaden kann. Seit dem 2.Timotheus- und dem 2.Petrusbrief stellt die Inspirationslehre den maßgebenden Horizont aller kirchlichen Exegese dar. Was dies positiv bedeutet, haben Luther, Calvin und Hamann deutlich gemacht. Mit der Neologie aber bricht die Bibelexegese aus diesem Rahmen aus; sie hat damit sich selbst

Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

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und die Kirche in eine nicht geringe Krise gestürzt, aus der diese erst herausfinden konnte, als eine neue hermeneutische Synthese von Tradition und historisch-kritischem Erkenntnisweg gefunden war. Unter diesen Umständen muß man es dem Pietismus noch einmal positiv anrechnen, daß er sich von vornherein um eine solche Synthese bemüht hat und mit seiner der Bibel geltenden volksmissionarischen Aktivität im 18. Jahrhundert auch das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit von Gemeinde und kirchlicher Bibelwissenschaft wachzuhalten verstand. Für die Geschichte des deutschen und des europäischen Protestantismus ist es eben keineswegs gleichgültig gewesen, daß die von Francke inspirierte Cansteinsche Bibelanstalt allein „in den ersten hundert Jahren ihrer Arbeit [d.h. zwischen 1710 und 1810] fast genau zwei Millionen Vollbibeln in über 380 Auflagen gedruckt (hat)" (Aland, a. a. O., 91), während bis zu diesem Zeitpunkt die Bibel nur in einigen Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet war. Mit dieser Verbreitung der Bibel als einem Volksbuch hat der Ende des 18. Jahrhunderts in die Erweckungsbewegung einmündende Pietismus (trotz der von ihm unbewältigten hermeneutischen Problematik) entscheidend dazu beigetragen, daß im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe von Versuchen angestellt werden konnte, das hermeneutische Problem auf kirchlicher Basis und doch in wissenschaftlicher Wahrheitsverantwortung ganzheitlich in den Griff zu bekommen. Von eben diesen Bemühungen ist nun im nächsten Paragraphen zu berichten.

§ 10 Die Suche nach der hermeneutischen Synthese im 19. Jahrhundert Wir kommen von der Erkenntnis her, daß sich im 18. Jahrhundert zwar die historische Betrachtungsweise der hl. Schrift durchgesetzt hat, aber noch keine überzeugende und weiterweisende Synthese von historisch-wissenschaftlichem und theologischem Verständnis der Bibel gefunden wurde. Unter diesen Umständen sind für uns die Bemühungen um eine solche Synthese im 19. Jahrhundert von besonderem Interesse. Für die Entwicklung der Bibelwissenschaften und das kirchliche Bibelverständnis ist die Zeit des 19. Jahrhunderts zwar weit über diese Suche nach einer hermeneutischen Synthese hinaus bedeutsam. Denn nunmehr entwickeln sich die Wissenschaften vom Alten und vom Neuen Testament in der uns heute vertrauten spezialisierten Form und kommt es in beiden Schwesterwissenschaften zur Erarbeitung all jener text- und literarkritischen Grundlagen, auf denen wir heute fußen. Wenn es uns aber speziell um die Frage nach der sachgerechten Auslegung der hl. Schrift geht, muß unser Hauptaugenmerk den Theologen gelten, die das Thema der Hermeneutik im ^ . J a h r h u n dert besonders gepflegt und gefördert haben. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind dies vor allen anderen Schleiermacher, David Friedrich Strauß und Ferdinand Christian Baur gewesen. Für alle drei gilt auffälligerweise, daß

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Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

sich ihr Augenmerk vor allem auf das Neue Testament richtet und daß sie das Alte nur als eine Voraussetzung des Neuen betrachten. Da ihre Arbeit aber erst auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussion um die biblische Exegese verständlich wird, müssen wir mit einer ganz knappen Skizze dieser Diskussion einsetzen.

1. Historische Kritik und theologischer Supranaturalismus

im Widerstreit

Nach unserer Darstellung der Hermeneutik im 18. Jahrhundert kann es nicht verwundern, daß die hermeneutischen Bemühungen um die der hl. Schrift wirklich entsprechende Auslegungsmethode auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst nur in Antithesen vorangetrieben wird. Zwischen 1788 und 1 8 1 0 verfocht Karl August Gottlob Keil in Leipzig mit Entschiedenheit die These, daß das grammatisch-historische Auslegungsverfahren auch gegenüber der hl. Schrift das einzig gebotene sei: „Bei einem heiligen Autor nicht minder als bei einem profanen ist es Aufgabe des Interpreten, daß er das herausstellt, was der Autor selbst, als er schrieb, dachte, welcher Sinn seiner eigenen Rede zu Grunde liegt und welchen er von seinen Lesern erkannt wissen wollte. D a ß aber die biblischen Bücher göttliche Autorität haben und ihre Verfasser - gleichsam als göttliche Gesandte - sich einer einzigartigen Würde erfreuen, darum hat sich offensichtlich kein Interpret dann zu kümmern, wenn er sich allererst an die Auslegung jener Schriften heran macht. Denn wenn er das täte, so fiele er notwendigerweise in jenen Irrtum zurück, der längst erkannt ist, daß nämlich ,die Worte der heiligen Schriften nur das bedeuten, was sie können', und er erschlösse einen Sprudelquell der verschiedensten Arten der Interpretation der Schriften, der durch keine menschliche Kunst und Anstrengung mehr verschlossen werden k a n n " (Zitat nach Kümmel, a . a . O . , 130).

Ganz in diesem hermeneutischen Sinne begründet der hannoversche Pfarrer Heinrich August Wilhelm Meyer den bis heute wohlrenommierten „Kritischen und exegetischen Kommentar" zum Neuen Testament und stellte in dem 1 8 2 9 erschienenen ersten Band programmatisch fest: „Das Gebiet der Dogmatik und Philosophie soll vom Kommentare gesondert bleiben. Denn den Sinn, wie ihn der Schriftsteller bei seinen Worten gedacht hat, ganz unpartheiisch, historisch grammatisch zu eruiren, - das ist die Pflicht des Exegeten; in welchem Verhältnis aber dieser eruirte Sinn zu den Lehren der Philosophie stehe, wie er mit den Dogmen der Kirche, oder mit den Ansichten ihrer Theologen stimme, wie ihn der Dogmatiker für seine Wissenschaft zu verarbeiten habe, — das geht den Exegeten, als Solchen, nichts a n " (Zitat nach Kümmel, a . a . O . , 132).

Der Protest gegen dieses historische Auslegungsverfahren ließ freilich nicht lange auf sich warten. Hermeneutisch präzis formuliert wurde er von Carl Friedrich Stäudlin, der, aus Stuttgart stammend und theologisch am Tübinger Stift ausgebildet, von 1790—1826 Theologieprofessor in Göttingen war. Er erklärt die historische Auslegungsmethode gegenüber der hl. Schrift als unentbehrlich, aber zugleich auch als aspektbeschränkt und deshalb ergänzungsbe-

Schleiermachers Hermeuentik

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dürftig. Um der Lehre von der Theopneustie (Inspiration) der Schrift willen fordert er eine Ergänzung der historisch-kritischen Schriftauslegung durch eine moralische, religiöse und philosophische, für die „alle Kräfte des Geistes, des Nachdenkens, des Gefühls, der religiösen Erhebung" mobilisiert werden müssen. Nach Stäudlins an die Neologie anschließendem Programm muß die hl. Schrift in dem Geist der vernünftigen Religion interpretiert werden, in dem sie verfaßt ist: „Der blos historische Ausleger k a n n . . . das Gewicht und die Natur der Lehre Jesu nicht gehörig würdigen und aufklären. Er sieht überall nur Geschichte und geschichtliche Beziehungen. Die Lehre Jesu aber ist nicht blos etwas Historisches, nicht blos ein Theil der Geschichte, nicht blos von einer historischen Natur, sondern sie enthält auch ewige, unveränderliche, göttliche Wahrheiten, welche man niemals blos aus der Geschichte und Grammatik, sondern aus seinem eigenen Geiste, durch Meditation, durch Erhebung zu Vernunft-Ideen und aus ihnen selbst sich vollkommen erklären und begreiflich machen kann", schreibt Stäudlin; und er fährt fort: „Niemand wird leugnen, daß in den Aussprüchen und in den Schriften der Apostel die tiefste und innigste religiöse Empfindung ausgedrückt sey. Eben deswegen kann niemand den vollen Sinn aller dieser Aussprüche und aller Stellen der apostolischen Schriften fassen und ergründen, der nicht von gleicher Empfindung beseelt ist. Derjenige, welchem diese Empfindung mangelt, der ganz an die Sinnlichkeit gefesselte, der rohe und lasterhafte, der sitten- und gottlose Mensch versteht nicht, was der gefühlvolle, der geistgesinnte, der gottselige Mensch, als solcher, ausspricht, es ist ihm eine Torheit, er hat keinen Sinn dafür, er nimmt es verkehrt, er lacht und spottet darüber" (Zitate nach Kümmel, a . a . O . , 1 3 6 und 137f.).

Stäudlin verficht hier auf der Ebene eines vernünftigen Offenbarungsglaubens genau jene Sicht, die wir bei Rambach schon intendiert fanden. Er tastet theologisch nach einer Synthese von Rationalismus und Supranaturalismus und möchte eben deshalb die historische Kritik durch Meditation und Vertiefung in den Wahrheitsgehalt der biblischen Texte ergänzen. Das Thema „Synthese" ist auch für Schleiermachers Hermeneutik kennzeichnend.

2. Schleiermachers

Hermeneutik

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde 1768 in Breslau geboren, geistlich von Zinzendorfs Brüdergemeine erzogen, zum Theologen aber im mittlerweile kritischen Halle geformt, wo er auch von 1804 an außerordentlicher Professor für Theologie war. Seine Hauptwirksamkeit entfaltete er als enzyklopädisch gebildeter und lehrender Theologieprofessor in Berlin, und zwar von 1 8 1 0 an bis zu seinem Tode im Jahr 1834. Schleiermacher strebt nach einer Synthese vpn Wissenschaft, Philosophie und religiöser Gewißheit. Für ihn besitzt die Religion als menschliche Grundhaltung ein Eigenrecht. In der religiösen Erfahrung vereinen sich für Schleiermacher das Wissen des Menschen um sich selbst, das Gefühl seiner Abhängigkeit von Gott und die Erkenntnis eines das Universum durchherrschenden Zusammenhangs in voll-

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Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

endeter Weise. Auf dieser Ausgangsbasis entwickelt er seine Theologie und von ihr her auch seine hermeneutische Konzeption. Für Schleiermacher ist die wissenschaftliche Theologie eine zum Geschäft der praktischen Kirchenleitung befähigende Tätigkeit. In seiner berühmten, kompendienartigen „Kurze(n) Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen" heißt es in § 5 (der zweiten, endgültigen Auflage von 1830, nach der wir auch weiterhin zitieren): „Die christliche Theologie ist... der Inbegriff derjenigen wissenschaftlichen Kenntnisse und Kunstregeln, ohne deren Besitz und Gebrauch eine zusammenstimmende Leitung der christlichen Kirche, d. h. ein christliches Kirchenregiment, nicht möglich ist." Die bislang einander so offenkundig widerstreitenden methodischen Ansätze in der Bibelwissenschaft sucht Schleiermacher zu versöhnen, indem er der exegetischen Theologie zwar ihren Ort im Bereich der historischen Theologie zuweist, ein religiöses Interesse am Christentum aber zur unentbehrlichen Voraussetzung für eine positive Exegese des biblischen Kanons erklärt. In § 102 seiner Kurzen Darstellung hält er methodisch fest: „Historische Kritik ist, wie für das gesamte Gebiet der Geschichtskunde, so auch für die historische Theologie das allgemeine und unentbehrliche Organon." Schleiermacher redet damit aber keineswegs einer religionskritischen Bibelkritik das Wort! Er mutet vielmehr gerade der historischen Kritik zu, das Phänomen der Religion zu respektieren. Den Einsichten Augustins, der Reformation und des Pietismus, aber auch Stäudlins genau entsprechend, betont er in § 147 seines Kompendiums, daß zur sachgerechten Auslegung der Bibel ein Lebensverhältnis gegenüber der Sache des von der Schrift bezeugten christlichen Glaubens hinzugehört: „Eine fortgesetzte Beschäftigung mit dem neutestamentischen Kanon, welche nicht durch eigenes Interesse am Christentum motiviert wäre, könnte nur gegen denselben gerichtet sein." Sofern die exegetische Theologie Wissenschaft sein will, hat sie sich also methodisch der historischen Kritik, und zwar im Dienste ihres religiösen Interesses am Christentum, zu bedienen. Mit dieser These Schleiermachers ist zum ersten Mal seit der Reformationszeit eine klare Synthese von wissenschaftlicher Verpflichtung, kirchlicher Orientierung und kritischer Zeitgenossenschaft in der Bibelauslegung erreicht. Die Basis dieser Synthese ist Schleiermachers durchgeistigtes Religionsverständnis. Von dieser Basis aus kann er auch eine erbauliche Schriftauslegung ausdrücklich gelten lassen, verlangt ihr jedoch (in § 148 der Kurzen Darstellung) ab, nicht als pseudowissenschaftliches Verfahren auftreten zu wollen: „Jede Beschäftigung mit dem Kanon ohne philologischen Geist und Kunst muß sich in den Grenzen des Gebietes der Erbauung halten; denn in dem der Theologie könnte sie nur durch pseudodogmatische Tendenz Verwirrung anrichten." Als Begründung fügt er hinzu: „Denn ein reines und genaues Verstehenwollen kann bei einem solchen Verfahren nicht zum Grunde liegen." Kann man schon an dem dargestellten Systementwurf die epochemachende Bedeutung Schleiermachers erkennen, ist es gleichwohl wichtig zu sehen, daß sich sein Beitrag zur Fortentwicklung der exegetischen Theologie nicht auf

Schleiermachers Hermeuentik

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diesen Entwurf allein beschränkt. Schleiermacher ist vielmehr der erste theologische Systemdenker gewesen, der die Hermeneutik als systematische Kunstlehre des Verstehens von Texten aufgefaßt und damit über die verschiedenen hermeneutischen Einzelanweisungen seiner Vorgänger auch in Hinsicht auf die Verstehensfrage hinausgeführt hat. In § 132 der Kurzen Darstellung von 1830 lesen wir: „Das vollkommne Verstehen einer Rede oder Schrift ist eine Kunstleistung, und erheischt eine Kunstlehre oder Technik, welche wir durch den Ausdruck Hermeneutik bezeichnen." Was die wissenschaftliche Durchgestaltung dieser Kunstlehre anbelangt, geht Schleiermacher im Verlaufe seiner lebenslangen Bemühungen um das hermeneutische Thema von zwei Grundsätzen aus. Der erste Grundsatz ist der, daß Hermeneutik eine allgemein einleuchtende Verstehenslehre zu sein hat. In § 133 seines Kompendiums heißt es: „Eine solche Kunstlehre ist nur vorhanden, sofern die Vorschriften ein auf unmittelbar aus der Natur des Denkens und der Sprache klaren Grundsätzen beruhendes System bilden." Schleiermacher widerspricht damit ausdrücklich der - wie wir sahen methodisch undurchführbaren — Annahme des Pietismus, es gäbe eine spezielle Hermeneutik der Wiedergeburt. Von einer besonderen neutestamentlichen Hermeneutik kann man nach Schleiermacher nur deshalb sprechen, weil es wissenschaftlich besonders schwierig ist, die neutestamentlichen Bücher historisch und religiös sachgerecht zu interpretieren, und weil das semitisierende Griechisch der neutestamentlichen Autoren sprachlich eine Besonderheit in der Graecität darstellt. Die Besonderheit neutestamentlicher Hermeneutik vom Begriff des Kanons und seiner Inspiration her zu begründen, ist nach Schleiermacher aus zwei Gründen illegitim: Erstens wird der hl. Geist von ihm (in §130,2 seiner Glaubenslehre) gedacht als „Gemeingeist der christlichen Kirche", der „Quelle aller Geistesgaben und guten Werke" und „Gedankenerzeugung" ist, „sofern sie dem Reich Gottes angehört". Das Wirken des Geistes auf die Verfasser des Neuen Testaments ist eben deshalb — zweitens — zu denken nicht als spezieller Akt der Eingebung nur für die und während der Niederschrift des neutestamentlichen Zeugnisses, sondern als ihre gesamte „amtliche apostolische Wirksamkeit" bestimmende Einwirkung, die sich „durch die Reinheit und Vollständigkeit der apostolischen Auffassung des Christentums" manifestiert. Versteht man die Inspiration in dieser ganzheitlich personalen Weise, hat man „die Eingebung der Schrift... als einen besonderen Teil des überhaupt aus der Eingebung geführten apostolischen Amtslebens" zu betrachten und ist die „Frage, ob die heiligen Bücher, der göttlichen Eingebung wegen, eine von den allgemein geltenden Regeln abweichende hermeneutische und kritische Behandlung erfordern", zu verneinen. Die neutestamentlichen Bücher - und nur für sie kommt nach Schleiermacher die Inspiration überhaupt in Frage - sind vielmehr auszulegen wie jede andere christliche Geschichtsquelle auch. Der zweite Grundsatz Schleiermachers ist unter der Kennzeichnung „psychologisches Verstehen" in die Geschichte der Hermeneutik eingegangen. Mit ihm hat Schleiermacher eigentlich Schule gemacht. Er möchte einen (biblischen) Text nur interpretieren aus der Kenntnis des Lebensschicksals seines Autors

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Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

und seiner Adressaten heraus. § 140 der Kurzen Darstellung lautet: „Keine Schrift kann vollkommen verstanden werden, als nur im Zusammenhang mit dem gesamten Umfang von Vorstellungen, aus welchem sie hervorgegangen ist, und vermittelst der Kenntnis aller Lebensbeziehungen, sowohl der Schriftsteller, als derjenigen, für welche sie schrieben." Auch für die an der Eigentümlichkeit der Sprache und der Lebenssituation der (biblischen) Schriften orientierte Verstehenslehre Schleiermachers gilt, daß sie auf der Basis seines Religionsverständnisses erarbeitet ist und von hier aus der Anspruch sowohl der wissenschaftlichen Allgemeingültigkeit als auch der Angemessenheit gegenüber dem biblischen Kanon durchzuhalten sucht. Wie mit seiner Theologie überhaupt, hat Schleiermacher auch mit seiner Hermeneutik bahnbrechend gewirkt. Dennoch konnte die Theologie bei seinem Entwurf nicht stehenbleiben, und zwar vor allem aus zwei Gründen nicht. Erstens wird bei Schleiermacher das Alte Testament in einer Weise abgewertet, die seinen Gesamtansatz kirchlich und historisch fragwürdig werden ließ. Semler wollte sich gern mit einem knappen Auszug aus dem Alten Testament begnügen (s.o. S. 128). Schleiermacher möchte das Alte Testament nur noch als Beigabe zum Neuen verstanden wissen und meint in § 132 seiner 1830 in zweiter Auflage erschienenen Glaubenslehre, es würde den Sinn der Sache am besten treffen, „wenn das alte Testament als Anhang dem neuen folgte, da die jetzige Stellung nicht undeutlich die Forderung aufstellt, daß man sich erst durch das ganze Α. T. durcharbeiten müsse, um auf richtigem Wege zum neuen zu gelangen". Eben diese Forderung aber hält Schleiermacher für ganz unbillig, weil er dem Alten Testament nicht dieselbe „Dignität" wie dem Neuen einzuräumen bereit ist und durch das Alte Testament weithin eine dem Neuen nicht entsprechende gesetzliche Denkweise gefördert sieht. - Der zweite Grund ist der, daß Schleiermacher mit seinen Äußerungen zur Inspirationsfrage das von Paulus in l . K o r 1,18-2,16 aufgeworfene Fundamentalproblem des sachgemäßen Verstehens des aller Auslegung vorgegebenen Evangeliums unterläuft und damit diesen (und andere) biblischein) Text(e) der hermeneutischen Widerständigkeit entkleidet. Die allgemeine Hermeneutik saugt bei Schleiermacher das spezifische Problem des Verständnisses des Evangeliums in sich auf.

3. Friedrich Lückes Kritik an Schleiermachers

Entwurf

Schon Friedrich Lücke ( 1 7 9 1 - 1 8 5 5 ) , ein Schüler und Freund Schleiermachers, der dessen Hermeneutik 1838 erstmals herausgab, kehrte hermeneutisch zu der Ansicht zurück, daß die hl. Schrift über die allgemeine Auslegung hinaus einer speziellen Interpretation auf Grund der Ergriffenheit des „christlichen Gemüthes" bedürfe, um die spezifisch christliche Offenbarung in der Schrift aufzudecken. Lücke gebrauchte hierfür das Stichwort, es bedürfe, um die Bibel zu interpretieren, einer „christlichen Philologie", in der sich der historische Blick für die Besonderheit der christlichen Offenbarung, systematische Urteils-

David Friedrich Strauß und seine Evangelienkritik

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kraft und christliche Überzeugung von der Wahrheit des kirchlichen Bekenntnisses miteinander verbinden. Auf Schleiermacher fußend und doch gegen ihn gewandt, schreibt er: „Neben dem Satze, daß die heilige Schrift wie jedes andere Buch auszulegen sey, behauptet der ungleich ältere Kanon, daß sie anders auszulegen sey, immer noch sein Recht. Die Geschichte der Exegese zeigt, daß weder das eine noch das andere allein zum Ziele führt, sondern nur beides in gehöriger Verbindung und gegenseitiger Beschränkung. Der erste Satz schließt nur den Vorhof der Schrift auf, der zweite führt in das Innere. Wer sie nur liest, wie jedes andere Buch, versteht in ihr auch nur das, was sie mit jedem andern Buche gemein hat. Ihr Eigenthümliches verstehet nur, wer sie anders liest. Nur wer beide Schlüssel hat, und richtig, d.h. ohne Verwechselung und in gehöriger Verbindung, gebraucht, vermag die Schrift ganz zu erschließen. Die volle Aufgabe der biblischen Hermeneutik ist also, die allgemeinen hermeneutischen Principien so zu construiren, daß das eigenthümliche theologische Moment auf eine wahrhaft organische Weise damit vereinigt werden kann, und eben so, das theologische Moment so zu gestalten und zu stellen, daß die allgemeinen Principien der Auslegung ihre volle Geltung behalten. Dieß Letztere aber kann nicht auf die Weise geschehen, daß man das theologische Element seiner charakteristischen Eigenthümlichkeit so viel möglich beraubt, und es so in das Allgemeine auflöst" (Kümmel, a . a . O . , 141 f.).

Lücke möchte die Würde des biblischen Kanons als Offenbarungszeugnis in der Exegese gewahrt wissen und fordert dem Bibelausleger ab, daß er ein christlicher Theologe und „als solcher ein Mitglied der christlichen Kirche" ist. Schon die erste Generation nach Schleiermacher hat also seinen Ansatz als wegweisend, aber dem kirchlichen Anspruch und der historischen Eigenart der hl. Schrift noch nicht voll entsprechend empfunden.

4. David Friedrich Strauß und seine spekulative Kritik am Christusbild der Evangelien David Friedrich Strauß ( 1 8 0 8 - 1 8 7 4 ) , von 1 8 3 2 - 1 8 3 5 Repetent am Ev. Stift in Tübingen, empfand Schleiermachers hermeneutischen Ansatz ebenfalls als unzureichend. Strauß ist in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts derjenige Theologe gewesen, der im Blick auf das Neue Testament den Gegensatz von historisch-wissenschaftlicher Kritik und orthodoxem Supranaturalismus am tiefsten empfunden hat und sich nicht damit zufrieden geben wollte, beides in einem an die Romantik angelehnten Religionsbegriff zu versöhnen. In seinem eine regelrechte theologische Erschütterung hervorrufenden und namentlich den württembergischen Pietismus in seine bis heute spürbare wissenschaftsfeindliche Position drängenden, berühmten Erstlingswerk „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet" (Bd. 1 1 8 3 5 , Bd. II 1836) machte er den Versuch, die Jesusdarstellung der neutestamentlichen Evangelien angesichts ihrer ganz unterschiedlichen Auslegung bei den Rationalisten und den Orthodoxen auf die Frage hin zu überprüfen, was in ihr als geschichtlich im wissenschaftlichverifizierbaren Sinne und was als ungeschichtlich, d. h. für Strauß als mythische

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Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

Glaubensidee, bezeichnet werden müsse. Im Vorwort zum ersten Band seines Lebens Jesu von 1 8 3 5 heißt es: „Dem Verfasser des Werkes... schien es Zeit zu sein, an die Stelle der veralteten supranaturalen und natürlichen Betrachtungsweise der Geschichte Jesu eine neue zu setzen...". Strauß fährt fort: „Der neue Standpunkt... ist der mythische... Das heißt keineswegs, daß die ganze Geschichte Jesu für mythisch ausgegeben werden soll, sondern nur Alles in ihr kritisch darauf angesehen, ob es nicht Mythisches an sich habe. Wenn die altkirchliche Exegese von der doppelten Voraussetzung ausgieng, daß in den Evangelien erstlich Geschichte, und zwar zweitens eine übernatürliche, enthalten sei, wenn hierauf der Rationalismus die zweite dieser Voraussetzungen wegwarf, doch nur um desto fester an der ersten zu halten, daß in jenen Büchern lautere, wenngleich natürliche, Geschichte sich finde: so kann auf diesem halben Wege die Wissenschaft nicht stehen bleiben, sondern es muß auch die andere Voraussetzung fallen gelassen, und erst untersucht werden, ob und wie weit wir überhaupt in den Evangelien auf historischem Grund und Boden stehen. Dieß ist der natürliche Gang der Sache, und insofern die Erscheinung eines Werkes wie das gegenwärtige nicht bloß gerechtfertigt, sondern selbst nothwendig" (a.a.O., Bd. I, III und IVf.). Das Ergebnis der (ohne methodisch durchgeklärte historische Kritik an den Evangelien durchgeführten) spekulativen Untersuchung ist, daß bis auf ein einfaches, historisch einsichtiges Daten- und Geschehensgerüst die christologischen Schwerpunktaussagen der Evangelien und des christlichen Glaubens als geschichtliche Einkleidung von Glaubensideen und nicht als historische Begebenheiten aufzufassen sind. Strauß schreibt: „ . . . M a n denke sich eine junge Gemeinde, welche ihren Stifter um so begeisterter verehrt, je unerwarteter und tragischer er aus seiner Laufbahn herausgerissen worden ist; eine Gemeinde, geschwängert mit einer Masse neuer Ideen, die eine Welt umschaffen sollten; eine Gemeinde von Orientalen, von größtentheils ungelehrten Menschen, welche also jene Ideen nicht in der abstrakten Form des Verstandes und Begriffs, sondern einzig in der concreten Weise der Phantasie, als Bilder und Geschichten sich anzueignen und auszudrücken im Stande waren: so wird man erkennen: es mußte unter diesen Umständen entstehen was entstanden ist, eine Reihe heiliger Erzählungen, durch welche man die ganze Masse neuer, durch Jesum angeregter, so wie alter, auf ihn übertragener Ideen als einzelne Momente seines Lebens sich zur Anschauung brachte. Das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu, daß er zu Nazaret aufgewachsen sei, von Johannes sich habe taufen lassen, Jünger gesammelt habe, im jüdischen Lande lehrend umhergezogen sei, überall dem Pharisäismus sich entgegengestellt und zum Messiasreiche eingeladen habe, daß er aber am Ende dem Haß und Neid der pharisäischen Partei erlegen, und am Kreuze gestorben sei: - dieses Gerüste wurde mit den manchfaltigsten und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexionen und Phantasieen umgeben, indem alle Ideen, welche die erste Christenheit über ihren entrissenen Meister hatte, in Thatsachen verwandelt, seinem Lebenslaufe eingewoben wurden. Den reichsten Stoff zu dieser mythischen Verzierung lieferte das alte Testament, in welchem die erste, vornehmlich aus dem Judenthum gesammelte Christengemeinde lebte und webte... Daß bei dieser Übertragung des Erwarteten in die Geschichte des wirklich Erfolgten, überhaupt bei der mythischen Ausschmückung des Lebens Jesu keine Art von betrügerischer Absichtlichkeit und schlauer Erdichtung stattgefunden, sollte in unsrer Zeit nicht mehr zu bemerken nöthig sein. Sagen eines Volks oder einer Religionspartei sind ihren ächten Grundbestandthei-

David Friedrich Strauß und seine Evangelienkritik

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len n a c h nie d a s W e r k eines Einzelnen, s o n d e r n des a l l g e m e i n e n I n d i v i d u u m s jener G e s e l l s c h a f t , e b e n d a h e r a u c h nicht b e w u ß t u n d absichtlich e n t s t a n d e n . . . " (a. a. O . , B d .

1,71-74).

Der Mythosbegriff, den Strauß (wissenschaftsgeschichtlich nicht als erster, aber am konsequentesten) auf die biblische Überlieferung von Jesus anwandte, definiert die neutestamentlichen Mythen „als geschichtartige Einkleidungen urchristlicher Ideen, gebildet in der absichtslos dichtenden Sage" (a. a. O., Bd. I, 75). Strauß selbst sah sich durch seine Behauptung vom mythischen bzw. ideellen Charakter der christologischen Grunddaten des Glaubens theologisch nicht angefochten, weil er sich den christlichen Glauben als Bewußtheit des (menschlichen) Geistes von den ewigen Wahrheiten des Geistes überhaupt vorstellte. Kraft dieser idealistischen Sicht konnte Strauß sogar ausdrücklich betonen: „ D e n inneren K e r n d e s christlichen G l a u b e n s w e i ß der V e r f a s s e r v o n seinen kritischen U n t e r s u c h u n g e n völlig u n a b h ä n g i g . Christi ü b e r n a t ü r l i c h e G e b u r t , seine W u n d e r , seine A u f e r s t e h u n g u n d H i m m e l f a h r t , bleiben e w i g e W a h r h e i t e n , s o sehr ihre W i r k l i c h k e i t als historischer F a k t a a n g e z w e i f e l t w e r d e n m a g . N u r die G e w i ß h e i t d a v o n k a n n u n s r e r Kritik R u h e u n d W ü r d e g e b e n , u n d sie v o n der n a t u r a l i s t i s c h e n v o r i g e r J a h r h u n d e r t e u n t e r s c h e i d e n , w e l c h e m i t d e m geschichtlichen F a k t u m a u c h die religiöse W a h r h e i t u m z u s t ü r z e n meinte, u n d d a h e r n o t h w e n d i g frivol sich verhalten m u ß t e " (a. a. O . , B d . I, VII).

In der den zweiten Band seines Werkes beschließenden „Schlußabhandlung" über „die dogmatische Bedeutung des Lebens J e s u " gibt Strauß eine knappe, von Hegel inspirierte Gesamtdarstellung seiner Christologie. Jesus erscheint hier als das menschliche Individuum, in welchem sich Gottes Geist und das menschliche religiöse Bewußtsein von diesem Geist zur Gestalt des Gottmenschen vereinigen. Diesen Gottmenschen Jesus versteht Strauß als reale Idee, weil an seiner Person die Menschheit insgesamt zum Bewußtsein des Verhältnisses kommen soll, in dem Gottes Geist zum Menschen und der menschliche Geist zu Gott steht. Jesus wird also von Strauß als ideeller Inbegriff der geistig-religiösen Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch verstanden. Schon Strauß selbst macht zum Beschluß der Schlußabhandlung deutlich, in welches Dilemma sein spekulativer Entwurf den Pfarrer in der Gemeinde und die Theologie insgesamt bringen könnte. Dem Pfarrer rät er, das Dilemma als das geistige Geschick der Stunde durchzustehen und so lange als möglich zu versuchen, sich den Glaubensvorstellungen der Gemeinde anzupassen und trotzdem bemüht zu bleiben, das Volk zur Höhe des religiösen Begriffs zu erheben. Gelingt beides nicht, muß er bereit sein, „am Ende doch aus der Geistlichkeit zu treten" (a. a. O., Bd. II, 744). Eben dieses Schicksal ist Strauß selbst nicht erspart geblieben. Er verlor nach Erscheinen des ersten Bandes (allerdings unter sehr humanen Bedingungen) seine Repetentur; seine Berufung nach Zürich als Dogmatiker im Jahre 1839 wurde schon nach vier Wochen durch vorzeitige Pensionierung wieder annulliert, und Strauß blieb seitdem bis zu seinem Tode freier theologischer, kirchen-

152

Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

kritischer Schriftsteller. Er hat sich also weder praktisch noch theologisch mit seiner Exegese durchsetzen können. Was Strauß jedoch bewirkt hat, ist neben der nachhaltigen Negativwirkung auf Pietismus und Erweckung die unwiderrufliche Stimulierung des wissenschaftlich-theologischen Wahrheitsbewußtseins, dem es nunmehr aufgegeben war, schärfer als zuvor das Verhältnis von Glaube und Geschichte, Geist und Realität zu bedenken. Es ist Ferdinand Christian Baur, Straußens theologischer Lehrer am Seminar in Blaubeuren und dann am Tübinger Stift, gewesen, dem wir die hermeneutisch bedeutsamste und für die Fortentwicklung der historisch-kritischen Theologie im 19. Jahrhundert entscheidende Antwort auf diese Frage verdanken.

5. Ferdinand Christian Baurs historisch-kritische

Theologie

Ferdinand Christian Baur wurde 1 7 9 2 in Schmiden bei Bad Cannstatt geboren, erhielt die für württembergische Pfarrer typische Ausbildung zunächst in den Seminaren Maulbronn und Blaubeuren und dann im Ev. Stift in Tübingen. Nach Abschluß seiner Vikariatszeit war er selbst eine Zeitlang Professor in Blaubeuren, ehe er 1 8 2 6 die Professur für Kirchen- und Dogmengeschichte an der evangelisch-theologischen Fakultät in Tübingen übernahm, die er bis zu seinem Tode am 2. Dezember 1 8 6 0 innehatte. Baur ist der Begründer der wissenschaftsgeschichtlich überaus einflußreichen Tübinger Schule gewesen, in der das Neue Testament und die Geschichte des Urchristentums zum ersten M a l einer methodisch wirklich durchgeklärten kritischen Erforschung unterworfen wurden und die um dieser ihrer Forschung willen die neutestamentliche Wissenschaft weit über Deutschland hinaus befruchtet hat. Was Baur im Rahmen unserer hermeneutischen Überlegungen so bedeutsam erscheinen läßt, ist zweierlei. Baur empfand Schleiermachers Versuch der Versöhnung von Supranaturalismus und Rationalismus als noch zu religiös-subjektivistisch, und er wollte es gleichzeitig nicht bei der in der Sache destruktiv wirkenden, durch Strauß aufgerichteten Antithese von spekulativer Theologie und historischem Empirismus bewenden lassen. Baur zielt deshalb ab auf ein über den kritischen Empirismus hinausreichendes Verständnis der Geschichte. Er erkennt, daß Geschichte nicht nur ein kritisch zu durchdringender Ereigniszusammenhang, sondern zugleich auch ein geistiger Verstehenszusammenhang ist, der dem die Geschichte erforschenden Subjekt über die Tatsachenerkenntnis hinaus zum Verständnis seiner geistigen Existenz und ihres geistigen Grundes verhilft. „Der Prozeß, die Geschichte läßt als das Nächste eine Fülle von Differenzen, Gegensätzen, Individualitäten erkennen. Aber durch alle Gegensätze und Individualisierungen hindurch - und nicht etwa jenseits, oberhalb ihrer - hält sich etwas Identisches, Kontinuierliches durch, das das Ganze bestimmt und erklärt. Dieses Eine, Identische ist das Subjekt der Geschichte. Baur nennt es im Anschluß an Hegel den ,Geist', und zwar den ,absoluten Geist' oder das,Absolute'" (H. Liebing, a . a . O . , 3 1 1 ) .

Ferdinand Christian Baurs historisch-kritische Theologie

153

Das erste, was Baur hermeneutisch hochbedeutsam macht, ist dieses Geschichtsverständnis, wonach Geschichte „für den denkenden Geist" eben das sein kann, „was sie ihrer göttlichen Bestimmung zufolge für ihn sein soll, die Selbstverständigung der Gegenwart aus der Vergangenheit" (F. C. Baur, Die christliche Lehre von der Versöhnung, 1838, VII; zitiert nach Liebing, a.a.O., 315). Mit dieser in der Substanz idealistischen Geschichtsauffassung ändert sich nun auch die Aufgabenstellung und Methodologie der historischen Kritik, und zwar gerade im Bereich der Theologie. Statt sich apologetisch auf die Tatsächlichkeit aller von der christlich-dogmatischen Tradition festgehaltenen Offenbarungsereignisse und Geschehensabläufe zu versteifen oder sich kritizistisch auf die bloße Destruktion der traditionellen Auffassung von Glaube und Geschichte zu beschränken, erhält wahre historisch-kritische Theologie bei Baur eine neue, umfassende Zweckbestimmung: Sie hat sich zuerst mit aller wissenschaftlichen Akribie um die ihr vorliegenden geschichtlichen Quellen zu kümmern. An D. F. Strauß hatte Baur in diesem Zusammenhang vor allem auszusetzen, daß er seine ganze Kritik ohne genaue quellenkritische Untersuchung der neutestamentlichen Evangelien vorzutragen wagte. Nach der Quellenkritik hat die historisch-kritische Theologie die Aufgabe, in den geschichtlichen Geschehnissen selbst das Wirken des Geistes Gottes aufzuspüren und dieses Wirken dann auch in seiner geschichtlichen Konkretion und Entfaltung konstruktiv nachzuzeichnen. Auf die biblische Exegese angewandt heißt das — und dies ist das zweite, was Baur für uns bedeutsam macht —, daß sie in einem ersten Schritt eine genaue historische Untersuchung der biblischen Schriften durchzuführen hat, daß sie dann in den Ereignissen des geschichtlichen Wirkens Jesu und der Geschichte des Urchristentums die Selbstmitteilung des Geistes Gottes aufzusuchen und zuletzt konstruktiv aufzuzeigen hat, wie die Geschichte des Urchristentums wirklich verlaufen und in ihrem Verlauf der urchristliche Glaube zum Verständnis seiner selbst gelangt ist. Historisch-kritische Theologie und Exegese vollzieht sich nach Baur stets in dieser Doppelbewegung. Sie hat hinter die Denkschemata und möglichen Fiktionen der christlichen Tradition kritisch zurückzufragen nach den wirklichen geschichtlichen Begebenheiten und Gestalten; sie kann und darf sich aber nicht mit dieser einen kritischen Bewegung zurück zu den Tatsachen und Ereignissen begnügen, sondern sie muß wieder einmünden in eine geschichtlich einleuchtende Rekonstruktion des geistes-geschichtlichen Prozesses, der letztlich der Gegenwart gilt und das Verständnis des Menschen von sich selbst und seiner Rolle in der Welt im Angesichte Gottes fördern will. Mit dieser Aufgabenstellung, der er selbst bis in den Entwurf einer neutestamentlichen Theologie hinein vorbildlich nachgekommen ist, hat Baur u. a. auch die biblische Exegese dazu ermutigt, ihr historisch-kritisches Geschäft bewußt theologisch zu betreiben. Die bei Strauß für alle sichtbar aufbrechende Diastase zwischen kritischer Geschichtsschau und christologischem Dogma hat Baur mit seiner Arbeit hermeneutisch und praktisch überwunden. Eben damit hat er für die nachfolgende

154

Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

Zeit ein M a ß dafür aufgerichtet, was historisch-kritische Theologie sein soll und wie sie zu arbeiten hat. Mit dieser seiner Arbeit ist Baur von nicht geringerer Bedeutung als Schleiermacher. Schleiermacher hat die Exegese zu einer historisch-kritischen, wissenschaftlich konsequenten, aber am Phänomen der Religion nicht achtlos vorübergehenden Arbeit aufgerufen und hat ihr zugleich den Blick für die Bedeutung der Hermeneutik als allgemeine Lehre vom Verstehen geschärft. Baur hat derselben Exegese methodisch gezeigt, wie sie im einzelnen zu verfahren hat, und hat sie zugleich definitiv ermutigt, ihre historische Bemühung als Begegnung mit der Offenbarung Gottes in (und nicht jenseits von) der Geschichte zu begreifen. Sofern die Exegese sich als historisch-kritische Theologie verstehen will, kann und darf sie heute weder hinter Baur noch hinter Schleiermacher zurückfallen. Und zwar gilt dies unbeschadet der an Schleiermachers Systementwurf von uns schon angemeldeten Kritik und der für uns heute klar erkennbaren Tatsache, daß die meisten historischen Einzelergebnisse, die Baur vorgetragen hat, mitsamt seiner idealistischen Geschichtsschau und der von ihm vorgelegten Rekonstruktion der Geschichte des Urchristentums der kritischen Revision bedürfen.

6. Die Vermittlungstheologie

Albrecht Ritschis

Die Revisionsbedürftigkeit des Baurschen Systems hat der von Baur zunächst beeinflußte, sich dann aber bewußt von ihm absetzende berühmte Göttinger Bibeltheologe Albrecht Ritsehl ( 1 8 2 2 - 1 8 8 9 ) klar gesehen. Er hat energisch auf die Eindämmung der Baurschen Sicht der (historisch-kritischen) Theologie hingearbeitet. Auch Ritsehl geht konsequent von dem Grundsatz aus, daß die Offenbarung in Jesus Christus „ganz und gar geschichtlich gedacht und deshalb historischer Erforschung offen (ist). Alle Sätze über Christus müssen deshalb am geschichtlichen Bericht über seine Wirksamkeit nachgewiesen werden" (R.Schäfer, a . a . O . , 141). Aber er weist dann der biblischen und der historischen Theologie doch eine andere Aufgabe zu als Baur. Wie er in seinem Dogmatik-Kolleg von 1 8 8 1 / 8 2 ausführt, „ . . . wird in einer richtig beschaffenen biblischen Theologie der Beweis geführt..., daß alle christlichen Gedankenreihen im Munde des Herrn wie in den apostolischen Schriften in einem authentischen Verständnis der alttestamentlichen Religion wurzeln, welches dem gleichzeitigen Judentum eben fehlt." Eben dieses „authentische alttestamentliche Gepräge des neutestamentlichen Christentums (hat man) als spezifisches Merkmal seines Wertes zu schätzen" ( a . a . O . , zitiert nach R. Schäfer, Ritsehl, 1 9 6 8 , 1 9 5 ) .

Zum Neuen Testament als der „Urkunde des Christentums" gehört dementsprechend das (hebräische) Alte Testament als „Hilfsurkunde" (a.a.O., 193) hinzu. Wird nun die Arbeit der biblischen Theologie zusammen mit den Einsichten aus Geschichte und Wirkung des Christentums unter systematische Gesichtspunkte gestellt, ergibt sich die kirchlich maßgebende Theologie. Sie stellt sich nach Ritsehl dar als Lehre von der christlichen Religion mit zwei

Johann Tobias Becks Biblizismus

155

Schwerpunkten, nämlich der von Jesus verkündigten religiös-sittlichen Idee des Reiches Gottes und der Lehre von Sündenvergebung und Versöhnung als den Grundbedingungen, unter denen die christliche Gemeinde an der Verwirklichung des Reiches Gottes teilhaben kann. In dieser Lehre Ritschis fanden sich viele seiner Zeitgenossen wieder; eine ausgeführte Hermeneutik hat er aber leider nicht hinterlassen. Das hatte zur Folge, daß die von Baur angerührten Grundfragen theologischer Hermeneutik bei Ritsehl teilweise unerledigt liegenblieben und von anderer Seite in Angriff genommen werden mußten.

7. Johann Tobias Becks Biblizismus Während in Berlin Ernst Wilhelm Hengstenberg ( 1 8 0 2 - 1 8 6 9 ) als Alttestamentler und Herausgeber der „Evangelischen Kirchenzeitung" mit höchst fragwürdigen Methoden gegen die historische Bibelkritik zu Felde zieht, tritt uns in dem Lehrsystem des aus Balingen gebürtigen Systematikers Johann Tobias Beck ( 1 8 0 4 - 1 8 7 8 ) die Position des von J . A . Bengel im 18. Jahrhundert vorbereiteten Biblizismus in neuer, respektgebietender Weise gegenüber. Beck war von 1843 an Professor der systematischen Theologie in Tübingen. Für ihn ist die Bibel die geschichtlich gewordene, geistgewirkte Offenbarungsurkunde des Christentums. Ihr eignet eine Autorität, der sich jeglicher wissenschaftliche Zweifel zu beugen und unterzuordnen hat. Anders als für Schleiermacher, D. F. Strauß und F.C. Baur heißt Theologie treiben für Beck nicht, die biblische Glaubenstradition im wissenschaftlichen Kommunikationsprozeß zu durchdringen und neu zu bewähren, sondern die biblische Offenbarung zu durchdenken und als eigenständige Zentralschau so zu entfalten, daß das Ganze der Welt von ihr erfaßt erscheint. Für Beck lassen sich Theologie und Wirklichkeit ebensowenig voneinander trennen wie theologisches Denken und persönliche Glaubensüberzeugung. Beide Male aber geht Beck von der Bibel aus und bemüht sich darum, dem persönlichen Glauben und Existenzvollzug sowie der Wirklichkeitsauffassung eine biblische Fassung zu geben. Für Beck bedeutet das inhaltlich, daß er die Wirklichkeit insgesamt und das persönliche Leben als dem endzeitlichen Reich Gottes zugeordnet erklärt, in das beide nach Gottes Heilsplan hineinwachsen sollen, und zwar kraft der Geistwirkung Gottes. Beck hat sich im 19. Jahrhundert die zornige Kritik der konfessionellen Lutheraner zugezogen, weil er die den Menschen kraft der Glaubenszuwendung zu Jesus Christus zuteilwerdende Rechtfertigung nicht nur, wie dogmatisch üblich, als göttlichen Zuspruch der Sündenvergebung, sondern als einen den Sünder verwandelnden Schöpfungsakt Gottes interpretiert hat, der den glaubenden Menschen in eine neue Existenz versetzt. In seiner 1 8 8 4 von J . Lindenmeyer postum herausgegebenen „Erklärung des Briefes Pauli an die Römer" bemerkt Beck zu Rom 1,16.17:

156

Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

„Die Gerechtigkeit Gottes erschließt sich im Evangelium in Folge des Glaubens auch in den Glauben hinein als eine Wirksamkeit Gottes, die von Gottes eigener Gerechtigkeit, speciell von seiner in Christo sühnenden und mit sich versöhnenden Gerechtigkeit ausgeht und in den Glaubenden als belebende Gottes-Kraft heilskräftig eingeht, so daß der Mensch selber aus dem Glauben heraus eine Gerechtigkeit erhält, die aus Gott ist und eben darum auch vor Gott gilt; Beides weil sie mit der Gerechtigkeit Gottes in Christo ihrem Wesen nach gleichartig ist, daher sie auch gleichen Namen mit ihr erhält, 2.Kor 5 , 2 1 " ( a . a . O . , Bd. 1 , 9 1 f.).

Beck hat in Tübingen großen Respekt genossen, weil sich bei ihm biblisch fundierte Lehre und persönliches Bekenntnis eindrucksvoll vereinten. Aber selbst ein der pietistischen Tradition von Hause aus ausgesprochen aufgeschlossen gegenüberstehender Student wie A. Schlatter (der Beck 1 8 7 3 / 7 4 in Tübingen gehört hat) hat Becks Biblizismus als zu lehrgesetzlich, geschichtsfeindlich und wirklichkeitsfern empfunden, um sich ihm theologisch anzuschließen. In der Tat liegt eben hier das Problem: Becks systematischer Biblizismus gewinnt seine Stringenz nur dadurch, daß er sich der freien geistigen Kommunikation und insbesondere der Partizipation am geschichtlichen Erkenntnisprozeß seiner Zeit verweigert. Vor ein ganz ähnliches Problem werden wir gestellt, wenn wir uns der biblischen Hermeneutik J . C. K. von Hofmanns zuwenden.

8. Die biblische Hermeneutik Johann Christian Konrad von Hofmanns Auf die Grundzüge der Hermeneutik des Hauptvertreters der sog. Erlanger

Schule, Johann Christian Konrad von Hofmann (1810—1877), müssen wir

nicht nur deshalb eingehen, weil Hofmanns heilsgeschichtliches Denken über L. Goppelt bis in die Gegenwart der neutestamentlichen Exegese hereinwirkt. Hofmann entstammt der (vom schwäbischen Pietismus stark beeinflußten) bayrischen Erweckungsbewegung und war nach seinem Studium in Erlangen und Berlin schließlich von 1 8 4 5 bis zu seinem Tode Professor für neutestamentliche Exegese, Ethik und Enzyklopädie in Erlangen. Während Schleiermacher und F. C. Baur die vom 18. Jahrhundert gesuchte, aber noch nicht gefundene hermeneutische Synthese von historisch-kritischem, wissenschaftlichem Ansatz und reformatorischem Glaubens- und Bibelverständnis so herzustellen suchten, daß die Theologie ihr Eigenrecht und ihren Gegenstand behauptet, ohne sich dem kritischen Dialog mit dem wissenschaftlichen Wahrheitsbewußtsein der Neuzeit zu entziehen, will Hofmann in sachlicher Nähe zum Ansatz Becks die biblische Hermeneutik und Exegese ganz auf den geistgeweckten Glauben stellen und so ein eigenes theologisches Wissenschaftssystem begründen. Hofmanns System stellt den Versuch dar, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eben die Hermeneutik der Wiedergeburt durchzuführen, die einst Francke, Rambach oder Bengel vor Augen stand, an deren Durchführung sie aber wissenschaftlich gescheitert waren. Es ist zunächst ganz unbestreitbar, daß Hofmann bei seinem Verfahren eine

Die biblische Hermeneutik Johann Christian Konrad von Hofmanns

157

Reihe von hermeneutischen Erfahrungen reklamiert, die im exegetischen Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit verloren zu gehen drohten, deren interpretatorische Bedeutsamkeit aber nicht von der Hand zu weisen ist. Hofmann insistiert erstens darauf, daß Schrift, Glaube und Kirche zusammengehören, und er beharrt nicht minder intensiv auf der Zusammengehörigkeit von Altem und Neuem Testament. Die seit Semler üblich gewordene historische und theologische Abwertung des Alten Testaments ist für Hofmann unerträglich und unchristlich zugleich. Den Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament bestimmt er hermeneutisch als den Zusammenhang von Weissagung und Erfüllung und einer sich vom Neuen Testament her erschließenden Typologie, systematisch aber durch den Begriff der Heilsgeschichte, die in Christus ihren Mittelpunkt hat. Hofmann erklärt es als eine wesentliche Aufgabe für den christlichen Schriftausleger, das Alte Testament wenigstens so zu lesen und zu verstehen, wie die Apostel dasselbe verstanden haben. Des weiteren geht Hofmann von der Annahme aus, daß es nicht Aufgabe christlicher Bibelinterpretation sein kann, der hl. Schrift und ihren einzelnen Büchern nur in der Position des wissenschaftlichen Zweifels zu begegnen. Die legitime Haltung des christlichen Schriftinterpreten ist für ihn primär die des Vertrauens zur Schrift und der Hoffnung auf Bewährung der biblischen Zeugnisse. Hofmann schreibt in seiner 1880 von seinem Schüler Wilhelm Volck herausgegebenen „Biblische(n) Hermeneutik" über die Autorität der Bibel und die ihr entsprechende Auslegung: „ D i e h(eilige) S c h r i f t . . . ist W e r k G o t t e s d u r c h seinen G e i s t in d e m s o n d e r l i c h e n Sinn u n d mit d e m U n t e r s c h i e d e v o n a l l e m a n d e r e n , inhaltlich ihr v e r w a n d t e n S c h r i f t t h u m , d a ß sie zu d e m Z w e c k g e w i r k t ist, m a ß g e b e n d zu sein f ü r die christliche K i r c h e . S o n a c h b e g i n n t der A u s l e g e r nicht mit der Kritik ihrer B e s t a n d t h e i l e , nicht mit d e m Z w e i f e l , o b sie d a s sind, w o f ü r sie der C h r i s t e n h e i t d a m i t gelten, d a ß sie ihr B e s t a n d t h e i l e der h(eiligen) S c h r i f t sind. M i t e i n e m in s e i n e m C h r i s t e n g l a u b e n b e g r ü n d e t e n V e r t r a u e n geht er a n sie, d a ß sie sich in ihrer Einheitlichkeit als d a s b e w ä h r e n w e r d e , w a s sie s e i n e m G l a u b e n ist. D i e s e s V e r t r a u e n ist die seiner w i s s e n s c h a f t l i c h e n B e s c h ä f t i g u n g mit ihr v o r a n g e h e n d e u n d sie b e g l e i t e n d e S t i m m u n g seines G e i s t e s . U n d d a ß er s o a n sie geht, ist eine w i s s e n s c h a f t l i c h e , weil a u s der N a t u r der S a c h e fließende F o r d e r u n g . . . " ( a . a . O . ,

36).

Die Schriftauslegung muß nach Hofmann dem Charakter der biblischen Texte entsprechen und von ihnen her entworfen sein. Es geht nach seiner Überzeugung nicht an, die Biblische Hermeneutik in der allgemeinen Hermeneutik aufgehen zu lassen. Der Widerspruch gegenüber dem hermeneutischen Ansatz Schleiermachers, bei dem Hofmann selbst in Berlin gehört hatte, ist hier ganz unverkennbar. Die Eigenständigkeit der biblischen Hermeneutik begründet Hofmann von der persönlichen Glaubensgewißheit her, und er führt sie durch als eine Auslegungslehre, in der der Glaube sich seines (wissenschaftlich diskutablen!) biblischen Fundamentes versichert. „ W i e n u r der e v a n g e l i s c h e C h r i s t in u n g e t r ü b t e r G e w i ß h e i t seines H e i l e s steht, s o a u c h nur er in u n v e r k ü m m e r t e r G e w i ß h e i t d a r ü b e r , w a s es u m die h(eilige) S c h r i f t sei. M i t jener geht der e v a n g e l i s c h e C h r i s t an die A u s e i n a n d e r l e g u n g des Inhalts seines G l a u b e n s ,

158

Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

an die Herstellung der systematischen Theologie, mit dieser an die Auslegung und Untersuchung der h(eiligen) Schrift. Für die letztere Thätigkeit gibt die Hermeneutik das Gesetz, aber ein Gesetz, das im Glauben gründet und ihn bei denjenigen, welchen es gelten soll, voraussetzt. Nicht eine Inspirationslehre ist ihre Voraussetzung, sondern der Glaube, daß die h (eilige) Schrift das sei, als was sie der Christ erfahrungsmäßig erkannt hat" ( a . a . O . , 3 4 ) .

Hofmann will die biblische Exegese zu der Bewegung machen, in der sich der christliche Glaube seines ihm überkommenen Bildes von der hl. Schrift und von der Verbürgtheit der von der Bibel bezeugten Heilsgeschichte versichert. Verbürgtheit meint dabei, daß der Glaube seine Erwartungen in der Schrift bestätigt sieht und insofern von ihrer Verbürgtheit durch die Schrift sprechen kann. Das aber bedeutet: Wie schon bei J . T . Beck, so wird auch bei Hofmann das zeitgenössische Wissenschaftsverständnis mitsamt der von der prüfenden Vernunft zu übenden Kritik aus den hermeneutischen Überlegungen ausgefiltert und ersetzt durch die Korrelation von persönlichem Glauben und den Beobachtungen, welche dieser Glaube in der Schrift macht. Nach Hofmann gibt die hl. Schrift eine Heilsgeschichte zu erkennen, die kraft Gottes wunderbarer Fügung von der Schöpfung und Erschaffung des ersten Menschenpaares über den Sündenfall durch das Alte Testament auf Christus zu verläuft und in ihm ihren Mittelpunkt hat; von Christus her mündet die Heilsgeschichte in die Mission der Apostel ein, zielt auf die Vollendung der Welt in Christus ab und bezieht den einzelnen Christen mit seinem persönlichen Glauben in sich ein. Beim Aufweis dieser Heilsgeschichte wird die kritische Frage nach der Möglichkeit und Wirklichkeit der berichteten Einzelereignisse von Hofmann bewußt ersetzt durch die Bemühung, das einzelne Geschehnis „so zu verstehen, wie es ein Bestandtheil des ihn [ = Christus; P.St.] zum Mittelpunkt habenden geschichtlichen Zusammenhanges ist" (a. a. O., 39). Damit steht uns der Gesamtentwurf vor Augen. Es handelt sich um ein Auslegungssystem, das sich der kritischen Diskussion und Zeitgenossenschaft durch den Verweis auf die uns aus der Orthodoxie und von Flacius her bekannte, nun aber subjektiver gefaßte „Analogie des Glaubens" entzieht. Hofmann kann seine biblische Hermeneutik nur so als Hermeneutik des Glaubens durchführen, daß er sich der wissenschaftlichen Kritik nach dem Maßstab seiner Zeit systematisch verweigert. Dies aber bedeutet, daß Hofmanns System in sich ebenso unzureichend ist wie die von D . F . Strauß konstatierte Alternative von historischer Empirie und spekulativem Glauben. Oder anders ausgedrückt: Trotz unaufgebbarer Beobachtungen und Erkenntnisse im einzelnen erweist sich auch an Hofmann aufs neue, daß eine spezielle Hermeneutik der Wiedergeburt wissenschaftlich nicht durchführbar ist, es sei denn, die Gemeinschaft der Glaubenden verzichte auf die wissenschaftliche Kommunikabilität der Methode und der Ergebnisse ihrer Bibelauslegung.

Martin Kählers Brückenschlag

9. Martin Kählers

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Brückenschlag

J . T . Becks und J . C . K , von Hofmanns Ansätze führen die Exegese (und Theologie insgesamt) in eine innergläubige Isolierung hinein. Anders liegt dies bei dem von beiden zwar stark beeinflußten, aber vor allem von F. A. G. Tholuck herkommenden Hallenser Theologen Martin Kahler ( 1 8 3 5 - 1 9 1 2 ) . Bei seinem biblischen und auf die reformatorische Rechtfertigungstradition gestützten dogmatischen Ansatz bleibt er für die unbefangene historische Hinsicht auf die Schrift offen. Er erklärt in seinem 1 8 8 3 in erster und 1 9 0 5 in dritter Auflage erschienenen Kompendium über „Die Wissenschaft der christlichen Lehre" die „wissenschaftliche Schriftkunde" für theologisch grundlegend, weil die Kirche an dem aus Altem und Neuem Testament bestehenden Kanon „der Bibel die fortwirkende Urkunde der kirchengründenden Predigt" besitzt (§ 5 2 ) . Aufgabe der „Schriftkunde" ist es, „Wissenschaft vom Kanon" zu sein, „d.h. von der fortdauernden und fortwirkenden geschichtlichen Tatsache der Bibel". Kähler fügt hinzu: „Dazu bedarf sie eben des innigsten Zusammenhanges mit den andern Zweigen der Theologie; dieser aber wird sie hindern, mit den angrenzenden nicht theologischen Gebieten zu verschwimmen, wie unbefangen(i) immer sie auf alle Erkenntnismittel und alle Erträge der einschlagenden Philologie und Historie eingehe" (§ 38).

Hermeneutisch bedeutet dies, daß für die Exegeten „rücksichtlich der Methodik die unentbehrliche historische Kunst in erster Linie (steht)". Ihnen wird aber von Kähler gleichzeitig abverlangt, sich weder an eine historistische „Skepsis gegen das Übergeschichtliche" zu verlieren, noch auch in eine „willkürliche Methodik christlicher intuitiver Erkenntnis, der Theosophie" zu flüchten ( § 2 1 ) . Die biblische Exegese muß vielmehr auf ihrem Gebiet ihrer zutiefst theologischen Aufgabe standhalten! Was dies konkret bedeutet, kann man sich an Kählers berühmtem Vortrag „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus" von 1 8 9 2 klarmachen (Zitate im Folgenden nach der krit. Ausgabe von E. Wolf in T h B 2, 2 1 9 5 6 ) . Nach Kähler soll der christliche Glaube nicht versuchen, seinen Gegenstand in einem historischen Jesus zu sehen, der von der historischen Kritik in und hinter den Evangelientexten aufgesucht und rekonstruiert worden ist. Er hat sich vielmehr an den „biblischen Christus" zu halten, und zwar aus zwei Gründen: In dogmatischer Hinsicht darf die historische Forschung, mit deren Hilfe — wie Kähler sich sarkastisch ausdrückt — aus den Evangelien „ein angeblich zuverlässiges Jesusbild... herausgequält wird" ( a . a . O . , 49), nicht zur Glaubensbedingung gemacht werden; vielmehr „ . . . (muß) gegenüber dem Christus, den wir glauben sollen und dürfen, . . . der gelehrteste Theologe nicht besser und nicht schlechter stehen als der einfältigste C h r i s t . . . " ( a . a . O . , 49/50). Historisch aber ist es so, daß uns (nach Kählers wegweisender Erkenntnis) in den vier Evangelien nicht minder als in den Reden der Apostelgeschichte und den Briefen des Neuen Testaments nur Zeugnisse der „kirchengründenden Predigt" von Jesus als dem Christus Gottes vorliegen. Die

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Die Suche nach der hermeneutischen Synthese

Evangelien geben uns zwar hinreichend Anlaß für die Gewißheit, daß das in der biblischen Christuspredigt entworfene Bild Jesu seiner Person und ihrem Werk entspricht und von ihm selbst gewirkt worden ist, aber sie erlauben es nicht, hinter die „Zeugnisse und Bekenntnisse von Christusgläubigen" (a.a.O., 75) auf objektive Beobachtungen zurückzugreifen und diese dann zum Glaubensinhalt zu stilisieren. Als Fazit ergibt sich darum: „ . . . unsern Glauben an den Heiland weckt und trägt die kurze und bündige apostolische Verkündigung von dem erhöhten Gekreuzigten. Zum gläubigen Verkehr aber mit unserm Heiland hilft uns die Erinnerung seiner Jünger, die sich im Glauben ihnen einprägte, die sein Geist in ihnen erneute und klärte, die sie als den höchsten Schatz ihres Lebens vererbten. Und im Verkehre mit ihm durch sein biblisches Bild werden wir zur Freiheit der Kinder Gottes e r z o g e n . . . " (a. a. O., 80).

Martin Kahler schließt seinen Lebensrückblick aus dem Jahre 1 9 1 2 mit den Sätzen: „Unter der Beschäftigung mit dem kirchlichen Erbe vernahm ich bei allem Eifer sowohl biblischer als moderner Sichtung immer wieder die Mahnung: ,Verdirb es nicht; es ist ein Segen darin.'" (Theologe und Christ, hrsg. von A. Kähler, 1926, 371). Man kann diese acht Worte sehr gut auch als das Vermächtnis bezeichnen, das er der biblischen Exegese im Hinblick auf ihren Umgang mit den Texten gegeben hat. Bis Kähler Gehör fand, dauerte es freilich noch seine Zeit.

10.

Ausblick

Die Erkenntnis, vor der wir nunmehr insgesamt stehen, ist aufschlußreich: Die Suche nach der wegweisenden hermeneutischen Synthese von historischer Kritik und protestantischem Schriftprinzip endet bei D. F. Strauß und Hofmann in einem gleichermaßen unerträglichen Dilemma. Beide Male brechen Glaubensdenken und geschichtswissenschaftliche Betrachtung der biblischen Grundlagen hoffnungslos auseinander. Strauß faßt für den Fall, daß sich sein Ansatz durchsetzen sollte, das Ende des traditionellen Pastorentums ins Auge; Hofmann aber praktiziert ebenso wie Beck ein innertheologisches Denken, das nur dem Kreis der von Christus persönlich Erweckten zugänglich ist, und signalisiert eben damit den Rückzug der bibelauslegenden Kirche auf sich selbst. Dort aber, wo diese Diastasen vermieden werden, bei Schleiermacher und F. C. Baur, wird die Synthese nur erst in Ansätzen geleistet und steht ganz im Zeichen eines romantisch-idealistischen Religions- oder Geistesbegriffes. M . Kählers Ortsbestimmung der biblischen Exegese und seine hermeneutischen Richtungsangaben bedürfen noch der genaueren Entfaltung und Bewährung. Dieser Gesamtbefund läßt klar erkennen, daß das 19. Jahrhundert eben die wegweisende hermeneutische Synthese, die es zu finden galt, noch nicht zu erarbeiten vermochte. Die Frage, wie sich historisch-geschichtswissenschaftliche Kritik und reformatorischer Glaube in Hinsicht auf die hl. Schrift verbinden lassen, wurde vom

Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

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19. Jahrhundert zwar intensiv bedacht, letztlich aber doch unerledigt an das 20. Jahrhundert weitergegeben. Die Heftigkeit, mit der in unserem Jahrhundert um die hermeneutische Frage gerungen worden ist und gestritten wird, erklärt sich aus eben diesem Umstand. Vom 19. Jahrhundert und seinen Bemühungen her ist unser Jahrhundert unausweichlich vor ein doppeltes Problem gestellt: Die Frage ist, ob sich die gesuchte Synthese überhaupt finden läßt und welche Gestalt ihr gegeben werden muß, um die alte Aufgabenstellung der biblischen Exegese durchzuhalten, nach welcher diese Bibelexegese im Dienste der Kirche das biblische Geistzeugnis von Jesus als dem Christus Gottes zu erheben hat und sich dabei einer Methode und Arbeitsweise bedient, die wissenschaftlich diskutabel bleiben.

§ 11 Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Versucht man, sich die Ausgangslage zu vergegenwärtigen, die sich für die hermeneutische Debatte in unserem Jahrhundert ergab, stößt man um die Jahrhundertwende und in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg auf eine genaue Reduplikation der divergierenden Tendenzen des 19. Jahrhunderts. Der Unterschied ist nur der, daß die Urteile definitiver und damit zugleich die Gegensätze härter geworden sind. Daß über allem die Grundfrage schwebt, ob es überhaupt möglich ist, eine wegweisende Synthese von historisch-kritischem und reformatorischem Bibelverständnis zu finden, haben wir zum Abschluß des letzten Paragraphen betont und müssen es nun wiederholen.

1. Die hermeneutische Bedeutung der religionsgeschichtlichen

Forschung

Ehe wir uns den vier typischen hermeneutischen Positionen zuwenden, welche die exegetische Szene in jenen Jahren beherrschten, ist auf drei Einsichten der in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufblühenden religionsgeschichtlichen Erforschung des Neuen Testaments zu verweisen, und zwar deshalb, weil hier Tatbestände aufgezeigt werden, welche das Bibelverständnis nachhaltig geprägt haben und noch bestimmen. Ohne Rücksicht auf die damit aufgeworfenen Interpretationsprobleme hatte sich die religionsgeschichtliche Forschung das Ziel gesteckt, historisch zu ergründen, in welchem Maße man mit Einflüssen und Auswirkungen der antiken Geistes- und Vorstellungswelt im biblischen Schrifttum zu rechnen habe. Im Zuge dieser verständlicherweise zuerst stark angefochtenen Forschung veröffentlichte der später so berühmte Alttestamentler Hermann Gunkel ( 1 8 6 2 - 1 9 3 2 ) im Jahre 1888 eine kurze Schrift mit dem Titel „Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und

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Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts

der Lehre des Apostels Paulus ", die bis 1909 dreimal aufgelegt wurde. Während das gesamte 19. Jahrhundert unter dem Einfluß Schleiermachers und des Idealismus den hl. Geist als Inbegriff des religiösen Selbstbewußtseins interpretiert hatte und von daher imstande war, sich die Geistaussagen des Neuen Testaments anthropologisch unmittelbar anzueignen, zeigte Gunkel in seiner Untersuchung auf, daß eben diese Identifikation dem von den Texten bezeugten Tatbestand nicht entspreche. Gunkel wies a. Hd. des Vergleichs neutestamentlicher, jüdischer und alttestamentlicher Texte nach, daß der hl. Geist im biblischen Schrifttum gar nicht primär die Kraft der dem Menschen von Natur aus innewohnenden Religiosität und Sittlichkeit sei, „sondern das schlechthin Übernatürliche und daher Göttliche" (a.a.O., 3. Aufl. 1909, 22). „Nach der Meinung der apostolischen Zeit ist alles, was man als Geistesgabe beurteilte, übernatürlichen Ursprunges", schreibt Gunkel und definiert im Fortgang dann präzis: Für die apostolische Zeit ist der Geist „die übernatürliche Kraft Gottes, welche im Menschen und durch den Menschen Wunder wirkt" (a.a.O., 23). Eben diese (religionsgeschichtliche) Feststellung sprengte die philosophischen Grundlagen der meisten hermeneutischen Bemühungen des 19. Jahrhunderts, die wir gemustert haben, und stellte, nachdem sie sich durchgesetzt hatte, ganz neu vor die Frage, wie die Schrift denn nun, da der Geist in ihr das dem Menschen entzogene und ihn überkommende Wunderwirken Gottes meint, interpretiert werden müsse. Johannes Weiß (1863-1914), Schüler und Schwiegersohn Albrecht Ritschis, stieß nach und wies in seiner Arbeit über „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes" (1892, 2 1900) darauf hin, daß Jesu Verkündigung der (kommenden) Gottesherrschaft im Horizont der frühjüdischen Apokalyptik verstanden werden müsse. Über die Konsequenzen dieser Sicht für die Theologie seines Schwiegervaters (und aller seiner Anhänger) war sich Weiß dabei vollkommen klar: Vom Reich Gottes als einer religiös-sittlichen Idee handelt die Verkündigung Jesu nicht! Weiß stellt behutsam und doch in der Sache eindeutig heraus, die Texte nötigten zu der Einsicht, „ . . . daß das Reich Gottes nach der Auffassung Jesu eine schlechthin überweltliche Größe ist, die zu dieser Welt in ausschließendem Gegensatze steht. Damit ist aber gesagt, daß von einer innerweltlichen Entwickelung des Reiches Gottes im Gedankenkreise Jesu die Rede nicht sein kann. Auf Grund dieses Resultats scheint sich zu ergeben, daß die dogmatische religiös-ethische Verwendung dieser Vorstellung in der neueren Theologie, welche dieselbe völlig ihres ursprünglich eschatologisch-apokalyptischen Sinnes entkleidet hat, unberechtigt sei. M a n verfährt ja nur scheinbar biblisch, indem man den Ausdruck in einem andren Sinne als Jesus braucht" (Zitiert nach W . G. Kümmel, a. a. O.,

289).

Gunkels Sicht des hl. Geistes und die These von J. Weiß wurden flankiert von einem dritten, in seiner Auswirkung auf die biblische Hermeneutik nicht minder bedeutsamen Nachweis. Schleiermacher hatte der biblischen Hermeneutik um des besonderen (semitisierenden) Charakters des neutestamentlichen Griechisch willen noch eine gewisse Sonderstellung eingeräumt, und F. Lücke hatte dann das hermeneutische Stich wort von der „christlichen Philologie" ausgege-

Die hermeneutische Bedeutung der religionsgeschichtlichen Forschung

163

ben. Unter dem Gewicht der traditionellen Hermeneutica Sacra und des Kanonbegriffes sowie unter dem Einfluß der ganz dem Studium des klassischen Griechisch zugewandten griechischen Philologie war man bis spät ins 19. Jahrhundert allgemein von der Annahme ausgegangen, daß das durchaus unklassische Griechisch des Neuen Testaments eine religiöse Besonderheit darstelle, und man sprach in diesem Sinne von dem besonderen „Bibelgriechisch". Als man sich aber Ende des 19. Jahrhunderts dem bis dahin fast unbeachtet gebliebenen einfachen Griechisch der Papyri, der auf Tonscherben (sog. Ostraka) festgehaltenen alltäglichen Notizen und Mitteilungen sowie der populären (Grab-)Inschriften zuwandte, veränderte sich das Bild grundlegend. In verschiedenen Veröffentlichungen, vor allem aber in seinem zwischen 1908 und 1923 viermal aufgelegten Werk „Licht vom Osten" konnte der Neutestamentier Adolf Deißmann den Nachweis führen, „daß das Neue Testament im großen und ganzen ein Denkmal der spätgriechischen Umgangssprache ist, in seinen weit überwiegenden Bestandteilen das Denkmal einer mehr oder weniger volkstümlichen Umgangssprache" (a.a.O., 4. Aufl. 1923, 53). Da gegen diese Feststellung auf Grund des evidenten Quellenmaterials nichts entscheidendes einzuwenden war, hat sich Deißmanns These rascher durchsetzen können als die ebenfalls historisch wohlbegründeten Ansichten von Gunkel und J.Weiß. Nimmt man alle drei zusammen, ergibt sich, daß es Zeit war, die biblische Hermeneutik neu zu konzipieren. Unter diesen Umständen wird es verständlich, daß gerade die weitsichtigen und historisch wirklich engagierten Exegeten und Systematiker in unserem Jahrhundert den Versuch, eine besondere theologische Hermeneutik der hl. Schrift zu begründen, aufgegeben haben und sich statt dessen auf die Frage konzentrierten, wie der inhaltlichen Besonderheit der biblischen Texte hermeneutisch entsprochen werden könne, ohne die allgemein einsichtigen und von jedem Interpreten zu beherzigenden Auslegungsregeln zu verletzen. Damit steht die hermeneutische Debatte zu Beginn unseres Jahrhunderts auf wissenschaftlich neuem Grund. Für diese Debatte sind vier Positionen kennzeichnend, die wir im folgenden zu skizzieren haben: W. Diltheys Erneuerung und Erweiterung des Schleiermacherschen Ansatzes, die radikale Kritik F. Overbecks und W. Wredes, das Programm von E. Troeltsch, die historisch-kritische Methode zur theologischen Arbeitsmethode schlechthin zu erheben, und schließlich A. Schlatters Bemühen, die theologische und philosophische Engführung der historischen Kritik durch eine theologisch reflektierte Methode historischer Wahrnehmung zu überbieten.

164

Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

2. Die radikale historische Kritik und ihre 2.1 Franz Overbecks

historische

Konsequenzen

Christentumskritik

Trotz der ungelösten hermeneutischen Gesamtproblematik hat sich die historische Erforschung des Alten und Neuen Testaments im 19. Jahrhundert konsequent weiterentwickelt, ist aber gleichzeitig damit in einen immer tiefer greifenden Gegensatz zur theologischen und kirchlichen Betrachtung der hl. Schrift geraten. Man kann sich dies am leichtesten am wissenschaftlichen Werk Franz Overbecks klarmachen. Overbeck (1837-1905) war seit 1870 Professor für Neues Testament und ältere Kirchengeschichte in Basel. Im Anschluß an F. C. Baur galt sein Interesse anfänglich einer konsequent-historischen Erforschung des Neuen Testaments und der patristischen Literatur des 2. und S.Jahrhunderts. Als Overbeck jedoch den literarischen Unterschied zwischen neutestamentlichem und patristischem Schrifttum erkannt und zugleich historisch sehen gelernt hatte, daß Teile des Neuen Testaments von einer schließlich gescheiterten eschatologischen Naherwartung erfüllt sind, wurde ihm dies zum Anlaß einer fundamentalen Christentumskritik. Overbeck vertrat diese Kritik allerdings erst dann öffentlich, als er 1897 seinen theologischen Lehrstuhl aufgegeben hatte. Unter den von der Geschichte vorgezeichneten Umständen hält Overbeck jede über die Historie hinausgreifende theologische Betrachtung des Neuen Testamentes für einen Verstoß gegen dessen Ursprungssinn. Er schreibt: „ . . . W e r einen T e x t wissenschaftlich betrachtet, welcher Art dieser T e x t auch sei, — die Satiren des Petronius oder das vierte Evangelium, hat vor allen Dingen sich in Z u c h t zu nehmen, d . h . es gibt für wissenschaftliche Exegese keinen Unterschied heiliger und unheiliger Texte. Alle sind gleichen Schutzes gegen die Attentate ungewaschner Subjektivität ihrer Ausleger bedürftig und würdig. Das vergißt niemand mehr als die Theologie, deren Exegese auf der Voraussetzung der eben ausgeschlossenen Unterscheidung beruht, und keine Theologie mehr als die moderne, deren Willkür in der Behandlung ihrer heiligen T e x t e in der Überschwemmung dieser T e x t e mit wertlosen Hypothesen geradezu wie ein Symptom der Heiligkeit dieser T e x t e erscheint."

Overbeck erklärt alle theologische Exegese „verschämt oder unverschämt" für eine moderne Form von Allegorese und bekennt schließlich: „Nur die helle Kritik der Wissenschaft macht den Ausleger wirklich frei, er meinte denn nur in der Hürde der Theologie sich seiner Freiheit erfreuen zu können" (Zitate nach Kümmel, a.a.O., 255 und 256). Die historische Kritik der biblischen Quellen führt Overbeck zu der Konsequenz, aus Einsicht in den wahren geschichtlichen Sachverhalt mit Theologie und Kirche zu brechen. Damit ist die radikalste Möglichkeit von historischer Kritik am biblischen Schrifttum angedeutet. Sie ist bis heute immer wieder dort realisiert worden, wo man die historische Kritik als Werkzeug kritischer Emanzipation von traditionellen kirchlichen und religiösen Bindungen verstanden hat.

Die radikale historische Kritik und ihre Konsequenzen

2.2 William Wredes religionsgeschichtliches

165

Interpretationsprogramm

Als Vertreter radikaler historischer Kritik innerhalb der durch die Kritik zur kritischen Selbstprüfung aufgerufenen Kirche verstand sich um die Jahrhundertwende der Breslauer Neutestamentier William Wrede (1859-1906). Wredes eigentliches Interesse galt der Erarbeitung einer Neutestamentlichen Theologie nach konsequent historischen, traditionsgeschichtlichen Maßstäben. Ihr ist seine 1897 erschienene Programmschrift: „Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie" gewidmet. Der traditionellen Inspirationslehre und dem kirchlichen Kanonbegriff gab Wrede im Zuge des Fortgangs der historischen Erforschung der Bibel keinen Kredit mehr. Dem historisch arbeitenden Exegeten verlangte er ein „reines, uninteressiertes Erkenntnisinteresse" ab, „das jedes sich aufdrängende Ergebnis annimmt" (a.a.O., 84; kursiv im Original). Grundlage einer kritischen neutestamentlichen Theologie darf nach Wrede nicht mehr nur der Schriftenbestand des Neuen Testaments allein, sondern muß alles erreichbare urchristliche Schrifttum sein. Dementsprechend ist diese Theologie nicht mehr als biblische Theologie des Neuen Testaments, sondern als urchristliche Religionsgeschichte zu konzipieren. Was Kirche und Dogmatik mit dieser Darstellung anfangen, ist deren Sache und nicht Sorge des Exegeten: „Die alte Inspirationslehre ist von der Wissenschaft... als unhaltbar erkannt worden. Ein Mittelding zwischen inspirierten Schriften und geschichtlichen Dokumenten kann es für folgerichtiges Denken nicht g e b e n . . . Aus gegebenen Urkunden will die biblische Theologie einen Thatbestand erheben, wenn nicht einen äußeren, so doch einen geistigen: sie sucht ihn so objectiv, so richtig, so scharf als möglich aufzufassen - das ist alles. Wie sich der Systematiker mit ihren Resultaten abfindet und auseinandersetzt, das ist seine Sache. Sie selbst hat wie jede andere wirkliche Wissenschaft ihren Z w e c k lediglich in sich selbst und verhält sich durchaus spröde gegen jedes D o g m a und jede systematische Theologie" ( a . a . O . , 8 3 ) .

Auch diese Auffassung von Aufgabe, Eigenrecht und (von anderen zu tragenden) Konsequenzen der historischen Bibelkritik hat bis heute ihre Nachfolger gefunden und ist in dem Maße unangefochten in Geltung, als der hier geäußerte wissenschaftliche Standpunkt dem wissenschaftlichen Selbstverständnis der Moderne entspricht. Wredes historische Kritik war weder religions- noch kirchenkritisch gemeint. Daß er aber mit seiner Kündigung der dogmatischen Verantwortung der biblischen Theologie auch deren dogmatische Bedeutung aufs Spiel setzte, konnte ihm um so weniger auffallen, je mehr sich die systematische und historische Theologie seiner Zeit insgesamt darum bemühte, das historisch-kritische Denken zum theologischen Denkstil schlechthin zu erheben. Damit stehen wir bei E. Troeltsch, auf dessen Bedeutung wir bereits in § 2 (s.o. S. 24f.) hingewiesen haben.

166

Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts

3. Historismus und Liberalismus 3.1 Die religionsgeschichtliche

zu Beginn des zwanzigsten

Theologie

Ernst

Jahrhunderts

Troeltschs

Troeltsch (1865-1923), den wir schon als den führenden protestantischen Systematiker des Historismus und der Religionsgeschichtlichen Schule kennengelernt haben, hat in jener theologischen Situation, die wir nachzeichnen, das historisch-kritische Denken als das wissenschaftlich einzig mögliche Denken empfunden und deshalb eine generelle Transformation der Theologie nach Maßgabe dieses Denkens gefordert. Wenn Troeltsch die historisch-kritische Methode analysiert und als ihre vier Denkprinzipien die „Kritik", die „Analogie", die „Korrelation" und „die schaffende Bedeutung der die großen Lebenskomplexe beherrschenden Persönlichkeiten" (a.a.O., 112) herausstellt, dann richtet er sich kritisch gegen einen dem Supranaturalismus und einem übergeschichtlichen Autoritätsbegriff huldigenden Stil des theologischen Denkens. Positiv zielt er auf die Ausbildung einer religionsgeschichtlichen Theologie. „ . . . es muß voller Ernst mit der historischen Methode gemacht werden, nicht bloß indem man die relative Unsicherheit aller historischen Erkenntnisse anerkennt und demgemäß die Bindung des religiösen Glaubens an historische Einzeltatsachen nur als eine mittelbare und relative faßt, nicht bloß indem man rund und entschlossen die christlich-jüdische Geschichte allen Konsequenzen einer rein historischen Methode ohne Angst und Ausbeugen vor den Ergebnissen unterwirft, sondern vor allem, indem man die Verflechtung des Christentums in die allgemeine Geschichte beachtet und sich an die Aufgabe seiner Erforschung und Wertung nur von dem großen Zusammenhange der Gesamtgeschichte aus begibt. Die historische Methode muß in der Theologie mit voller, unbefangener Konsequenz durchgeführt werden. Es entsteht also die Forderung eines Aufbaus der Theologie auf historischer, universalgeschichtlicher Methode, und da es sich hierbei um das Christentum als Religion und Ethik handelt, auf religionsgeschichtlicher Methode. Diese Idee einer religionsgeschichtlichen Theologie, die schon beim ersten Eindringen historischer Kritik dem Deismus vorschwebte, die dann in ihrer Weise von Lessing, Kant und Herder, von Schleiermacher, de Wette und Hegel, schließlich von Baur und Lagarde vertreten worden ist, habe ich in meinen bisherigen Arbeiten skizzieren wollen und dabei ihr diejenige Gestalt zu geben versucht, die gegenwärtig nach Beseitigung des rationalistischen Allgemeinbegriffes der Religion und der Hegeischen Dialektik des Absoluten ihr gegeben werden m u ß " ( a . a . O . , 1 1 3 / 1 1 4 ; kursiv im Original).

Wenn alles geschichtliche Geschehen, auch das Auftreten Jesu und die Entstehung des Urchristentums, in den von Analogie und Korrelation bestimmten Gesamtzusammenhang der Geschichte eingeordnet werden muß und kontingente Ereignisse nur innerhalb dieses von der Geschichtswissenschaft überschaubaren Zusammenhangs zugestanden werden können, ist die These von E. Troeltsch wissenschaftlich konsequent. Troeltsch kann sie durchhalten, weil er die Geschichte (im Gefolge des Idealismus) für den Geschehensprozeß hält, in dem sich die Vernunft fortschreitend offenbart und das auf der Botschaft der alttestamentlichen Propheten aufruhende, von Jesus verkündigte Christentum als die „höchste sittliche und religiöse Macht" erscheint, deren der Mensch

Historismus und Liberalismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts

167

fähig ist. Eben dieser spätidealistische und zugleich kulturoptimistische Geschichtsbegriff ist der Rahmen, innerhalb dessen Troeltsch die historisch-kritische Arbeit an den Grundlagen des christlichen Glaubens vollzogen wissen möchte. Dieser Geschichtsbegriff gibt ihm die Möglichkeit, zu einer Kultursynthese von Wissenschaft, (christlicher) Religion und den großen Geistestraditionen der europäischen Geschichte anzusetzen. Hören wir noch einmal Troeltsch selbst: „ . . . e s ist das Wesen meiner Anschauung, daß sie den historischen Relativismus, der nur bei atheistischer oder religiös-skeptischer Stellung die Folge der historischen Methode ist, rundweg bestreitet und die Aufhebung dieses Relativismus durch die Auffassung der Geschichte als einer Entfaltung der göttlichen Vernunft verlangt. Hier liegen die unveräußerlichen Verdienste der Hegeischen Lehre, die nur von seiner Metaphysik des Absoluten, seiner Dialektik der Gegensätze und seiner spezifisch logischen Fassung der Religion befreit werden müssen. Gerade darum handelt es sich, daß die Geschichte kein Chaos ist, sondern aus einheitlichen Kräften hervorgehend einem einheitlichen Ziele zustrebt. Für den ethisch und religiös gläubigen Menschen ist sie eine geordnete Folge, in der die zentrale Wahrheit und Tiefe des menschlichen Geisteslebens aus dem transzendenten Grunde des Geistes unter allerhand Kampf und Irrung, aber auch mit der notwendigen Konsequenz einer normal begonnenen Entwickelung emporsteigt" ( a . a . O . , 122).

Mit diesem Geschichtsbegriff traf Troeltsch genau die geistige Stimmung der bis zum Ersten Weltkrieg andauernden Epoche des sog. theologischen Liberalismus und der geisteswissenschaftlich orientierten Philosophie jener Jahrzehnte. Man kann beides rasch sehen, wenn man noch einen Seitenblick auf A.v. Harnack und W. Dilthey wirft.

3.2 Adolf von Harnacks

Liberalismus

Adolf von Harnack ( 1 8 5 1 - 1 9 3 0 ) , seit 1888 Professor für Kirchengeschichte in Berlin, war nicht nur der führende Kopf des Liberalismus, sondern bis zum Ersten Weltkrieg die geistig bestimmende Gestalt der protestantischen Theologie in Berlin schlechthin. Neben seiner Professur war er von 1 9 0 5 - 1 9 2 1 auch Generaldirektor der Preußischen Staatsbibliothek und von 1911 an außerdem noch Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. In seinen eine ganze Generation von Theologen und christlich aufgeschlossenen Menschen bewegenden, im Sommer 1 9 0 0 erschienenen (und bis 1925 in siebzigtausend Exemplaren gedruckten) Vorlesungen über „Das Wesen des Christentums" definiert er das Evangelium Jesu als Inbegriff der Religion und führt es auf die zwei Grundworte: „Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele" zurück. Harnack schreibt: „ . . . Indem m a n . . . die ganze Verkündigung Jesu auf diese beiden Stücke zurückführen kann - Gott als der Vater, und die menschliche Seele so geadelt, daß sie sich mit ihm zusammenzuschließen vermag und zusammenschließt —, zeigt es sich, daß das Evangelium überhaupt keine positive Religion ist wie die anderen, daß es nichts Statutarisches

168

Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

und Partikularistisches hat, daß es also die Religion selbst ist. Es ist erhaben über allen Gegensätzen und Spannungen von Diesseits und Jenseits, Vernunft und Ekstase, Arbeit und Weltflucht, Jüdischem und Griechischem. In allen kann es regieren, und in keinem irdischen Element ist es eingeschlossen oder notwendig mit ihm behaftet" (a. a. O., 3 8 f.).

Harnack stimmt in der Grundauffassung des Christentums als Religion mit Troeltsch völlig überein, und er ist es dann auch, der zu Beginn der Zwanziger Jahre die kritische Theologie im Sinne von E.Troeltsch gegen K.Barth zu verteidigen versucht hat. Troeltsch konnte sich also von einer Persönlichkeit wie A. v. Harnack unterstützt sehen. Seine Geschichtsphilosophie berührte sich aber auch mit den Bemühungen des gleichzeitig in Berlin lehrenden Philosophen Dilthey um eine grundlegende Systematik der Geisteswissenschaften.

3.3 Wilhelm Diltbeys geisteswissenschaftliche

Hermeneutik

Wilhelm Dilthey (1833-1911) ist es gewesen, der um 1900 die wegweisende Bedeutung Schleiermachers für die Hermeneutik neu einschärfte und die Hermeneutik auf dem von Schleiermacher gelegten Fundament zur grundlegenden Interpretationslehre in den Geisteswissenschaften überhaupt erheben wollte. Die Hermeneutik soll einsichtig machen, wie das aller Geschichte und Kultur zugrundeliegende individuelle Leben sich schöpferisch entfaltet und sprachlichen Ausdruck verschafft. Können die Lebensäußerungen des individuellen Daseins exakt erfaßt werden, stehen die Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften ebenfalls auf wissenschaftlich verläßlichem Grund. Wie für Troeltsch ist auch für Dilthey Geschichte nur verstehbar als Selbstentfaltung des geistigen Bewußtseins. Mit Schleiermacher hält Dilthey fest, daß die Hermeneutik eine allgemeine Verstehenslehre sei, und er definiert sie als „Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen" (a. a. O., 332 f.). Er betont, daß es den produktiven Akt, in dem ein Autor ein Werk schafft, psychologisch nachzuvollziehen gelte, um in die Absicht des Werkes wirklich verständnisvoll einzudringen. Auf diesen psychologischen Nachvollzug legt Dilthey noch größeren Wert als Schleiermacher: Der Interpret soll sich in Person, Leben und Situation des Autors hineinversetzen und die Produktion des ihm vorliegenden schriftlichen (Kunst-)Werkes divinatorisch nachvollziehen. Das letzte Ziel des hermeneutischen Verfahrens ist es nämlich, „den Autor besser zu verstehen, als er sich selber verstanden hat". Dilthey fügt erklärend hinzu, dies sei „ein Satz, welcher die notwendige Konsequenz der Lehre von dem unbewußten Schaffen ist" (a. a. Ο., 331). Weil der Autor in vielem unbewußt produziert, kann die seinem Werk tatsächlich immanente Motivik erst nachträglich voll aufgeschlüsselt werden. Die Einsicht Diltheys, daß sich Lebenszeugnisse aus dem geschichtlichen Abstand besser verstehen lassen als in ihrer Entstehungszeit, ist hermeneutisch grundlegend und darf auch von den Bibelwissenschaften nicht außer Acht gelassen werden.

Adolf Schlatters Hermeneutik der Wahrnehmung

169

Nimmt man insgesamt zur Kenntnis, daß die Argumentationen von Troeltsch, Harnack und Dilthey in Hinsicht auf die Grundintention des geschichtlichen Verstehens auffällig gleichartig sind, erkennt man, daß wir hier vor einer übergreifenden hermeneutischen Konzeption stehen. Sie war nicht nur von der Entschlossenheit geprägt, die geschichtlichen Traditionen dem Denken und den Bedürfnissen der Gegenwart anzuverwandeln, sondern konnte auch für sich beanspruchen, das wissenschaftliche Denken der Neuzeit diesen Traditionen gegenüber in reflektierter Art und Weise zum Zuge zu bringen. - Man muß dies vor Augen haben, um ermessen zu können, welcher geistigen Kraft es bedurfte, um gegenüber dieser Denkrichtung den Blick für Gottes Werk in der Geschichte und das biblische Offenbarungszeugnis freizubehalten. Damit stehen wir bei den hermeneutischen Aspekten des bis zur Gegenwart umstrittenen Werkes von A. Schlatter.

4. Adolf Schlatters Hermeneutik

der

Wahrnehmung

Adolf Schlatter wurde 1852 in St. Gallen geboren und ist 1938 in Tübingen gestorben. Nach Studium, Vikariat und Pfarramt war er zunächst Exeget in Bern und Greifswald, dann vor allem Dogmatiker in Berlin und schließlich von 1898 an Neutestamentier und Dogmatiker an der ev.theol. Fakultät in Tübingen. Schlatter ist der bedeutendste Theologe, den diese Fakultät in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts besessen hat. Dem „Rückblick auf meine Lebensarbeit" zufolge, hat Schlatter sich zeit seines Lebens gleichzeitig von den Liberalen einen „kritiklosen Biblizisten" und von Seiten des Pietismus einen „glaubenslosen Kritiker" schelten lassen müssen. Er hat dennoch darauf bestanden, ein einheitliches und durchsichtiges Verhältnis zur Schrift gehabt zu haben. Schlatter geht von der Einsicht aus, daß die Bibel ein Buch der Geschichte ist und meint, daß dieses Buch dann am ehrfürchtigsten gelesen wird, wenn man es in seiner Geschichtlichkeit und seinem Zeugniswillen ganz ernst nimmt. Er schreibt: „Trotz der Urteile, die mich gleichzeitig zum kritiklosen Biblizisten und zum glaubenslosen Kritiker machten, schien mir mein Verhältnis zur Bibel einheitlich und durchsichtig zu sein. Was mich an sie band, war die Geschichte, an der sie uns beteiligt und durch die sie uns unseren eigenen Anteil an Gott verleiht. Darum entstand mir an der Schrift Glaube und Gehorsam. Die Geschichte wird aber nur von demjenigen Auge richtig aufgefaßt, das kritisch geschult ist. Um das von der Schrift Erzählte richtig zu sehen, müssen wir auch auf die Grenzen achten, die die Geltung ihrer Aussagen beschränken. Für mich schieden sich deshalb die beiden Betätigungen — der Glaube und die Kritik — nie in einem Gegensatz, so daß ich das eine Mal bibelgläubig, das andere Mal kritisch gedacht hätte, sondern ich dachte deshalb kritisch, weil ich an die Bibel gläubig war, und war deshalb an sie gläubig, weil ich sie kritisch las" (Rückblick, 8 2 f.).

In diesen wenigen Sätzen ist schon enthalten, was Schlatter für die biblische Hermeneutik so bedeutsam macht und ihn als denjenigen Theologen erscheinen läßt, der zu Beginn unseres Jahrhunderts neben H. Cremer in Greifswald Platz-

170

Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 20. Jahrhunderts

halter des Erbes der Erweckung und zugleich Vorkämpfer von theologischen Einsichten gewesen ist, wie sie sich zu Beginn der zwanziger Jahre auch in der dialektischen Theologie neu Bahn gebrochen haben.

4.1 Die historische

Wahrnehmung

Mit bewundernswertem Scharfblick hat Schlatter die rationalistische Tendenz erkannt, die der historischen Kritik im Sinne von Troeltsch innewohnt. Nach dieser Tendenz will sich das erkennende Subjekt der Geschichte bemächtigen und sie sich selbst kritisch anverwandeln, statt sich der Tradition zu stellen und sich von ihr in Frage stellen zu lassen. Er hat angesichts dieses systematischen Grundzuges zur Selbstkritik der historischen Kritik gemahnt und darauf bestanden, daß historische Arbeit ihren eigentlichen wissenschaftlichen Auftrag in ihrer Fähigkeit zur unbestechlichen Beobachtung habe. Als Paul Jaeger, ein damals einflußreicher christlicher Publizist, zu einer wissenschaftlichen Theologie nach dem Maßstab der Zeit und in diesem Zusammenhang zur Bejahung der von ihm so genannten „atheistischen Methode" in der Theologie aufrief, hielt ihm Schlatter öffentlich entgegen: „ . . . W a s uns als Mitgliedern der universitas litterarum als unzerreißbare Pflicht obliegt, ist, daß wir in dem uns zugewiesenen Arbeitsbereich zum Sehen, zur keuschen, sauberen Beobachtung, zum Erfassen des wirklichen Vorgangs, sei er ein geschehener, sei er ein jetzt geschehender, gelangen. Das ist das ceterum censeo für jede Universitätsarbeit. Wissenschaft ist erstens Sehen und zweitens Sehen und drittens Sehen und immer und immer wieder Sehen. Von diesem Beruf entbindet uns nichts, was immer auch auf den übrigen wissenschaftlichen Arbeitsfeldern geschehen mag. Gesetzt die atheistische Stimmung des Naturforschers entstände an der Naturforschung mit zwingender Notwendigkeit, oder der Kulturhistoriker erzeugte an seiner Beobachtungsreihe völlig legitim und unvermeidlich eine Skepsis, etwa in Montaignes Art: niemals wäre dadurch schon der atheistische Theologe legitimiert, niemals uns die Pflicht abgenommen, vor unserm eignen Arbeitsgebiet mit offener Beobachtung zu stehn. Die Arbeitserträge der Kollegen mögen für uns die größte Bedeutung haben; vielleicht schaffen sie Probleme von schwerster, ja unlöslicher Dunkelheit: der Theologe bleibt verpflichtet, den ihm anvertrauten Bereich des Geschehens mit entschlossener Hingabe an sein eigenes Objekt aufzufassen. Z u m Atheismus kann er nur kommen an der Beobachtung des religiösen Geschehens selbst. Borgt er denselben aus der allgemeinen Stimmung oder der Naturwissenschaft, so schändet ihn sein A t h e i s m u s . . . " (Atheistische Methoden in der Theologie, 1905, bei Luck, a . a . O . , 142f.).

Die Wissenschaft von der Historie wird nach Schlatter durch ihre geschulte und genaue Wahrnehmung konstituiert, eine Erkenntnis, von der Schlatter bekennt, sie schon in frühen Jahren von der Naturwissenschaft und Altphilologie her empfangen zu haben. Die Wahrnehmung richtet sich über die uns überlieferten Texte hin auf die Geschichte, aus der diese Texte hervorgegangen sind und in der Schlatter - hierin F. C. Baur eng verwandt - die Mitteilung des Geistes Gottes vernimmt und Gottes Werk schaut. Gegenüber Jaeger betont Schlatter weiter:

Adolf Schlatters Hermeneutik der Wahrnehmung

171

„ . . . E s g i b t . . . ganz bestimmte Ereignisse, die sowohl für die M e n s c h h e i t als im Einzelleben die Gewißheit Gottes erzeugen, mit denen sie verbunden ist und in denen sie ihre W i r k u n g tut. Diesen Ereignissen schulden wir als T h e o l o g e n ein Auge, das nicht durch ein erborgtes Leitmotiv gefälscht ist, sondern mit runder Hingabe an sein O b j e k t dieses selbst zu fassen sucht. W ä r e es so, daß der Naturforscher nirgends Anlaß hätte, den Gottesgedanken zu bilden; wäre es so, d a ß der Historiker nirgends auf V o r g ä n g e stieße, die über den M e n s c h e n hinausweisen, nirgends auf ein Gesetz, das größer ist als des M e n s c h e n Wille, nirgends auf ein Gericht, das menschliches W o l l e n als Sünde zerbricht; wäre es so, d a ß auch im theologischen Beobachtungsbereich nirgends ein begründetes Gottesbewußtsein entstände, nirgends als - sagen wir einmal: in der Weise, wie Jesus in G o t t lebte, hier aber entstände es als unleugbare Wirklichkeit mit einer v o m T h e o l o g e n die Z u s t i m m u n g fordernden M a c h t : so wäre zwar die Basis und der Inhalt der T h e o l o g i e klein, aber die atheistische T h e o l o g i e z e r s t ö r t . . . " (a. a. O . , 1 4 3 ) .

4.2 Die Pflicht zur Bibelkritik Wahrnehmung und Geschichte, Geschichte und Leben, Leben unter und mit Gott sind für Schlatter untrennbar gewesen. Er hat sich unter diesen Umständen den Blick für die Menschlichkeit der hl. Schrift ebensowenig trüben lassen wie die Einsicht in die Notwendigkeit einer wirklich historischen Betrachtung der Bibel. In seiner Dogmatik betont Schlatter ausdrücklich die Verpflichtung zur historischen und dogmatischen Kritik der Schrift. Historische Kritik der Schrift ist nötig, weil wir wissen müssen, welchen Ort die biblischen Aussagen in der Geschichte haben, und wir uns darüber klarwerden müssen, „wie weit ihre Wahrheit reicht und wo sie endet, welche Geltung der uns beschäftigenden Aussage zukommt und welche ihr nicht zukommt"; die dogmatische Kritik ist erforderlich, weil wir die Worte der Schrift reflektiert auf uns selbst zu beziehen und deshalb festzustellen haben, „wann und warum das Schriftwort für uns gilt" und „wann und weshalb es nicht für uns gilt" (Das christliche Dogma, 3 1 9 7 7 , 373/74). Die Bibelkritik, zu der Schlatter aufruft, wird aber nur dann wirklich sachgemäß getrieben, wenn, wie er schreibt, „der die Kritik leitende Wille" darauf abzielt, „die uns von der Schrift angebotene Gabe in unseren Besitz zu bringen, und nicht darauf, uns von der Schrift zu befreien" (a. a. O., 374). Bibelkritik ist für Schlatter eine Arbeit des Vernehmens und nicht der religionskritischen aufgeklärten Emanzipation. Eben weil er Bibelkritik in dieser Weise definiert, kann er denen, die sich aus Gründen der Frömmigkeit der Kritik der hl. Schrift verweigern, entgegenhalten: „Die Sorge, die die Kritik der Schrift als u n f r o m m meidet, hat ihren letzten, stärksten G r u n d im selben Postulat, das auch an Jesus gerichtet wird und zu dem uns der Gottesgedanke zu berechtigen scheint, d a ß die Schrift unfehlbar sei und uns deshalb zu keinem anderen Verhalten berufe als dazu, daß wir sie b e j a h e n ; jede Verneinung einer Schriftaussage sei in sich schon die Bestreitung ihrer Inspiration und ihres Ursprungs aus G o t t . W i e kann das, w a s Gottes G a b e ist, unvollkommen, wie wir zur Ablehnung und Berichtigung des göttlichen W o r t s berechtigt sein? D e r G l a u b e , den wir der Bibel

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Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts

schulden, bestehe also darin, daß wir ihr die Unfehlbarkeit Gottes zutrauen. Aber dieses Postulat gestattet sich wie in der Beurteilung Jesu, so auch in der der Bibel den Streit gegen Gottes Gnade; denn es erfindet eine Offenbarung, die Gott abseits und geschieden vom Menschen enthüllen soll. Eine solche Offenbarung, bei der der Mensch verschwindet, hat uns Gott nicht gegeben wegen des Reichtums seiner Gnade, nicht aus Schwäche, sondern sich zur Verherrlichung. Denn nicht das ist Gottes Herrlichkeit, daß er vor uns den Beweis führt, daß er ein fehlloses Buch verfassen kann, sondern das, daß er Menschen so mit sich verbindet, daß sie als Menschen sein W o r t sagen. Nicht der Islam mit seinem unfehlbaren ,Buch' hat die große und reine Vorstellung von Gottes Herrlichkeit, sondern Jesus, der in seinem engen Bewußtsein als der Sohn Gottes lebte und dadurch den Reichtum der göttlichen Gnade offenbarte" (a. a. O., 3 7 5 ) .

4.3

Inspiration und Zentrum der Schrift

Mit diesen Sätzen lehnt Schlatter die Inspirationslehre in ihrer von Orthodoxie und Pietismus übersteigerten Form ab, aber nicht, um sich ihrer wie Wrede u.a. wissenschaftlich zu entledigen, sondern um ihr ihre ursprüngliche und sachgemäße Bedeutung zurückzugeben! Diese besteht nach Schlatter darin, daß die konkrete Geschichte Jesu und der biblischen Zeugen als vom Geist Gottes durchwirkt verstanden wird: Wie der Geist Jesus in seiner Menschlichkeit zum Christus macht, werden die Apostel zu Empfängern des Geistes nur durch den Zusammenhalt mit Jesu Geschichte. Ihr geistgewirktes Wort ist wiederum von ihrem geschichtlichen Leben nicht ablösbar und will uns, seine gegenwärtigen Adressaten, nicht aus der Geschichte herausführen, sondern in eine Lebensgeschichte hinein, die „in Gottes Gemeinschaft verläuft". Die Schrift erweist sich also darin als Werk des Geistes, daß sie, selbst konkreter menschlicher Geschichte entstammend, uns in unserer Geschichte „das Erleben der göttlichen Gnade bereitet" ( a . a . O . , 3 6 8 ) . Schlatter ist mit den Reformatoren der Auffassung, daß die Schrift in Christus ihre Mitte hat. Er bestimmt die Einheit der Schrift aus Altem und Neuem Testament in der Weise, daß die verschiedenen Gestalten und Aussagen der Schrift Christus zugeordnet und ihr Gewicht danach bemessen wird, mit welcher Vollständigkeit und Deutlichkeit sie auf Christus verweisen oder nicht. Da Schlatter sich in seiner Dogmatik und seiner Biographie ausdrücklich zu Luthers theologischem Ansatz bei Christus, dem Glauben und dem Wort bekennt, dürfen wir resümieren, daß er selbst Schriftauslegung im Sinne der Reformation zu betreiben gedachte, und zwar unter Zuhilfenahme aller wissenschaftlichen Möglichkeiten, die ihm die historische Kritik bot. Er selbst war unermüdlich damit beschäftigt, seine geschichtlichen und philologischen Kenntnisse in der zu Beginn unseres Jahrhunderts noch ganz brachliegenden Judaistik zu vertiefen, um diese Forschungen dann für die Bibelinterpretation fruchtbar zu machen. Der erste Band des großen Theologischen Wörterbuches zum Neuen Testament ist nicht zufällig A. Schlatter gewidmet worden!

Adolf Schlatters Hermeneutik der Wahrnehmung

4.4 Schlatters

173

Einzelgängertum

Steht damit Schlatters hermeneutische Intention vor uns, ist abschließend noch zu fragen, was diesen Mann bis in die zwanziger Jahre hinein als bloßen theologischen Außenseiter erscheinen ließ, so daß er seine eigentliche theologische Wirkung erst nach seiner Emeritierung im Jahre 1 9 2 2 entfalten konnte. Wie bei jedem Theologen liegt die Antwort auf diese Frage teilweise in seiner Persönlichkeit und Lebensstellung. Von seiner Berner Dozentenzeit an ist Schlatter öffentlich immer wieder als Repräsentant jenes Pietismus und der kirchlich-theologischen Rechten aufgetreten, denen er zwar im Glauben verbunden, aber in der Sache seiner biblischen und dogmatischen Arbeit kritisch gegenüberstand. Aber dies ist nur ein Aspekt der zum Teil bis heute andauernden Aversion gegen Schlatter, der komplementär eine ihn unkritisch zum Vater des Glaubens emporstilisierende Wertschätzung des großen Schweizers gegenübersteht. Zu Schlatters umstrittener theologiepolitischer Position kommen noch wenigstens zwei sachlich genauer fixierbare Gründe hinzu, die seine Arbeit hermeneutisch umstritten machten. Schon in seiner ersten großen wissenschaftlichen Arbeit, dem 1885 im Druck erschienenen (und später mehrfach neu aufgelegten und umgearbeiteten) Buch „Der Glaube im Neuen Testament" hatte Schlatter eingangs betont, er wolle nicht verschweigen, „daß mir das, was ich an Einblick in die neutestamentliche Glaubensstellung besitzen mag, nur im engsten Zusammenhang mit dem, was ich selbst durch die Gnade Gottes und Christi an Glauben empfangen habe, zugänglich geworden scheint, weßhalb es mir kaum denkbar ist, daß ohne eignes glaubendes Verhalten nur durch Vermittlung der Phantasie, die auch fremde seelische Zustände nachzubilden und nachzuempfinden strebt, der neutestamentliche Glaubensbegriff durchsichtig werden k ö n n t e . . . Es wäre ein grund- und rechtloses Urtheil, wenn diese dienende Mitwirkung der eignen Glaubensstellung an sich schon unter die Anklage gestellt würde, Alteration des historischen Charakters der Untersuchung zu sein, als wäre es Förderung und nicht vielmehr Verhinderung der historischen Einsicht, wenn die aufzufassenden Ereignisse der eignen Erfahrung schlechthin entzogen sind. Im eignen Erleben des Glaubens an Jesus liegt vielmehr die Möglichkeit, der Antrieb und die Ausrüstung zu wahrhaft geschichtstreuem Verständniß des neuen T e s t a m e n t s . . . " (Erstausgabe S. 9 f . ; Studienausgabe 1 9 8 2 S. X X I I ) .

Hermeneutisch ist gegen diese Sicht Schlatters nichts einzuwenden. Liest man seine Sätze aber in dem von J . T . Beck und J . C . K , von Hofmann geworfenen Schatten, kann man den Eindruck haben, Schlatter wolle ebenfalls die Hermeneutica Sacra alten Stils erneuern. Eine Schwäche der Schlatterschen Methode der Wahrnehmung trat hinzu. R. Bultmann hat in den Epilegomena zu seiner „Theologie des Neuen Testaments" ( s 1 9 6 5 ) Schlatters exegetisch-theologischen Ansatz gerühmt und gleichzeitig seiner Verwunderung darüber Ausdruck gegeben, „daß Schlatter in allen Fragen der historischen Kritik, zumal der literarhistorischen Erforschung der Evangelien, eigentümlichen Hemmungen unterliegt..." (a.a.O., 598). In der Tat tritt bei Schlatter die erst aus dem geschichtlichen Abstand heraus mögliche

174

Hermeneutische Tendenzen und Divergenzen zu Beginn des 2 0 . Jahrhunderts

kritische Perspektive zugunsten des Bestrebens zurück, die neutestamentliche Traditionsbildung möglichst direkt in der Geschichte und Wirkung des Christus Jesus zu verankern. Der Hauptgrund für Schlatters Isolierung lag also in seiner im Alleingang vorangetriebenen judaistischen und neutestamentlich-historischen Arbeit. Schlatter hatte sich nach einigen gescheiterten Anfangsversuchen aus der wissenschaftlichen Diskussion fast ganz zurückgezogen und begründete seine historischen Urteile so gut wie nie mehr in direkter kritischer Argumentation. Diese Urteile waren teils wegweisend, teils aber auch einfach traditionell und apologetisch konstruiert. Schlatter hat nicht nur zeitlebens die Priorität des Matthäusevangeliums gegenüber Markus und Lukas verfochten und in Einleitungsfragen einen ganz konservativen Standpunkt eingenommen, sondern er hat auch aus seiner Skepsis gegen die religionsgeschichtliche und traditionsgeschichtliche Erforschung der neutestamentlichen Texte keinen Hehl gemacht. Uber all diese Probleme hat er jedoch noch mit sich reden lassen. Fundamental wurde sein Widerspruch gegen die liberale Exegese nur an einer einzigen, seiner Uberzeugung nach alles entscheidenden Stelle. Schlatter insistierte darauf, daß schon der irdische Jesus der messianische Gottessohn gewesen sei, und warf allen Gegnern seiner Auffassung fehlendes historisches Sehvermögen vor. Da diese sich mit dem Gegenvorwurf mangelnder kritischer Urteilskraft revanchierten und ein direktes wissenschaftliches Gespräch nicht zustandekam, blieb der Gegensatz unausgetragen, und zwar bis in unsere Zeit herein. So wegweisend Schlatters Gesamtansatz aus dem Rückblick heraus erscheint, so sehr unterliegt er also bei der Ausarbeitung subjektiven und methodologischen Begrenzungen, die Schlatters Wirkung behindert haben. Erst wenn man in methodologischer Hinsicht frei über Schlatter hinauszufragen wagt, wird die Kraft seiner Gesamtkonzeption deutlich.

5.

Rückblick

Schauen wir zurück, läßt sich rasch erkennen, daß Schlatter zu Beginn unseres Jahrhunderts der gesuchten Synthese von reformatorischem Bibelverständnis und historischer Bibelkritik hermeneutisch am nächsten kommt. Als dem Außenseiter aber, der Schlatter war und als der er galt, gehörte ihm noch nicht das Ohr der Zeit. Dieses lauschte den wissenschaftlich bedeutsamen Werken und Entwürfen der radikalen Kritik und des Liberalismus. Dieser Zustand änderte sich erst, als über den Erschütterungen, die der Erste Weltkrieg und sein Ende über Europa brachte, der idealistische und zugleich kulturoptimistische Geschichtsbegriff zerbrach, der Troeltsch und seinen Freunden ihr progressives Pathos erlaubt hatte. Als die Durchsetzungskraft des Sittlichen und Religiösen mitsamt der kulturellen Aufwärtsentwicklung des Menschen in der Geschichte definitiv in Frage gestellt war, war man eher bereit, nach dem wegweisenden Wort der Bibel zu fragen. Selbst Schlatters von der Einheit des Denkens, der Wirklichkeit und der Gotteserfahrung geprägter Geschichtsge-

Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

175

danke erschien hier als noch zu undialektisch. Es legte sich zunächst näher, Gottes Handeln und des Menschen Geschichte einander scharf gegenüberzustellen. Die Männer, die so dachten, wurden die Neubegründer der sog. dialektischen Theologie. Ihr haben wir uns nunmehr zuzuwenden.

§ 12 Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie 1. Karl Barths theologischer

Neuansatz

Die hermeneutische Neuentwicklung, mit der wir es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu tun bekommen, begann damit, daß die historisch-kritische und liberale Theologie der Vorkriegszeit für Karl Barth (10.5. 1886-10.12. 1968) aus einem doppelten Grund in Mißkredit geriet. Barth, damals Pfarrer in der Arbeitergemeinde Safenwil (im Schweizer Kanton Aargau), erkannte im Herbst 1914 mit Entsetzen, daß die meisten seiner theologischen Lehrer in Deutschland (darunter z.B. A.v.Harnack, W.Hermann, aber auch A.Schlatter) den von 93 deutschen Intellektuellen unterzeichneten Aufruf „An die Kulturwelt" mitunterschrieben hatten, in welchem eine Mitschuld Deutschlands am Kriegsausbruch geleugnet, das Vorgehen der deutschen Truppen in Belgien gedeckt und abschließend versichert wird, die Unterzeichner stünden mit ihrem Namen und ihrer Ehre dafür ein, daß Deutschland den Kampf zu Ende kämpfen werde „als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle" (zitiert nach Härle, a.a.O., 210). Dieses unglückselige Manifest machte Barth an der Glaubwürdigkeit der ihm vermittelten liberalen Theologie grundsätzlich zweifeln. Diese Zweifel wurden durch eine zweite Erfahrung verstärkt und endgültig vertieft. Er und sein Freund Eduard Thurneysen erkannten, daß man durch diese Theologie nur ganz unzureichend gerüstet war, zu predigen, zu unterrichten und Seelsorge zu üben. „...Thurneysen war es, der mir einmal unter vier Augen das Stichwort halblaut zuflüsterte: Was wir für Predigt, Unterricht und Seelsorge brauchten, sei eine ,ganz andere' theologische Grundlegung...", berichtet Barth im „Nachwort" zu der von H. Bolli 1968 besorgten Schleiermacher-Auswahl (Siebenstern Taschenbuch Nr. 113/114, 294). Er fügt hinzu, ein Rückgriff auf die Reformatoren oder die Orthodoxie sei für sie damals nicht in Frage gekommen, und fährt fort: „Faktisch-praktisch drängte sich uns dann bekanntlich etwas viel Naheliegenderes auf: nämlich der Versuch, bei einem erneuten Erlernen des theologischen ABC noch einmal und besinnlicher als zuvor mit der Lektüre und Auslegung der Schriften des Alten und N e u e n Testaments einzusetzen. Und siehe da: sie begannen zu uns zu reden — sehr

176

Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

anders, als wir sie in der Schule der damals ,modernen' Theologie reden hören zu müssen gemeint haben. Am Morgen nach dem T a g , an dem Thurneysen mir jenes allgemein gehaltene Flüsterwort gesagt hatte, begann ich mich, immerhin mit allem mir damals zugänglichen Rüstzeug, unter einem Apfelbaum dem Römerbrief zuzuw e n d e n . . . Ich begann ihn zu lesen, als hätte ich ihn noch nie gelesen: nicht ohne das Gefundene Punkt für Punkt bedächtig a u f z u s c h r e i b e n . . . " ( a . a . O . ) .

1.1

„Der

Römerbrief"

Was auf diese Weise entstand, war das im Jahre 1 9 1 9 in erster Auflage erschienene, die europäische Theologiegeschichte tief beeinflussende Erstlingswerk Barths, „Der Römerbrief". Gleich im Vorwort wurde die bisher herrschende historisch-kritische Schriftauslegung des Liberalismus hermeneutisch herausgefordert: „ . . . D i e historisch-kritische Methode der Bibelforschung hat ihr Recht: sie weist hin auf eine Vorbereitung des Verständnisses, die nirgends überflüssig ist. Aber wenn ich wählen müßte zwischen ihr und der alten Inspirationslehre, ich würde entschlossen zu der letzteren greifen: sie hat das größere, tiefere, wichtigere Recht, weil sie auf die Arbeit des Verstehens selbst hinweist, ohne die alle Zurüstung wertlos ist. Ich bin froh, nicht wählen zu müssen zwischen beiden. Aber meine ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist i s t . . . " (bei Moltmann, a . a . O . , 7 7 ; Hervorhebung im Original).

Auf diese Aufforderung, das historische Verständnis der Bibel im Interesse eines theologischen Schriftverständnisses zu überschreiten, reagierte die theologische Fachwelt ganz unterschiedlich. Barth verdankt der Erstauflage des Buches seine Berufung zum Honorarprofessor für reformierte Theologie in Göttingen, wurde aber gleichzeitig von den großen Fachexperten seiner Zeit scharf attackiert. Nach Barths eigenem Bericht im Geleitwort zum unveränderten Nachdruck der Erstauflage von 1 9 6 3 hat sogar Bultmann die Erstfassung unwillig als „enthusiastische Erneuerung" und als „willkürliche Zustutzung des paulinischen Christusmythus" beiseite geschoben. Barth selbst war vor allem inhaltlich von dem zwischen 1 9 1 6 und 1 9 1 8 verfaßten Buch so unbefriedigt, daß er es umarbeitete und 1 9 2 1 eine ganz neu geformte Zweitfassung vorlegte. Diese Neubearbeitung ist der theologisch eigentlich wirksam gewordene Barthsche „Römerbrief".

1.2 Der neue hermeneutische

Ansatz

Barth nahm die Neubearbeitung zum Anlaß, sich im Vorwort ausführlich mit seinen Kritikern auseinanderzusetzen und seinen hermeneutischen Ansatz zu explizieren. Wieder fordert er eine bei der historisch-kritischen Analyse nicht stehen-

Karl Barths theologischer Neuansatz

177

bleibende, sondern zum theologischen Sachverständnis vordringende Interpretation. Barth schreibt: „ . . . M a n hat mich einen ,abgesagten Feind der historischen Kritik' genannt. Warum statt solcher aufgeregter Worte nicht lieber ruhig erwägen, um was es sich handelt? In der Tat, ich erhebe einen Einwand gegen die neueren Kommentare zum Römerbrief, durchaus nicht nur gegen die sog. historisch-kritischen, sondern auch gegen die etwa von Zahn und Kühl. Aber nicht die historische Kritik mache ich ihnen zum Vorwurf, deren Recht und Notwendigkeit ich vielmehr noch einmal ausdrücklich anerkenne, sondern ihr Stehenbleiben bei einer Erklärung des Textes, die ich keine Erklärung nennen kann, sondern nur den ersten primitiven Versuch einer solchen, nämlich bei der Feststellung dessen ,was da steht' mittelst Übertragung und Umschreibung der griechischen Wörter und Wörtergruppen in die entsprechenden deutschen, mittelst philologisch-archäologischer Erläuterungen der so gewonnenen Ereignisse und mittelst mehr oder weniger plausibler Zusammenordnung des Einzelnen zu einem historisch-psychologischen Pragmatismus. Wie unsicher, wie sehr auf die oft fragwürdigsten Vermutungen angewiesen die Historiker schon bei der Feststellung dessen ,was da steht' sind, das wissen Jülicher und Lietzmann besser als ich. Exakte Wissenschaft ist auch dieser primitive Versuch einer Erklärung nicht. Exakte Wissenschaft vom Römerbrief müßte sich genau genommen auf die Entzifferung der Handschriften und auf die Aufstellung einer Konkordanz dazu beschränken...". „Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein! Denn wie ,das was dasteht' zu ferstehen ist, das ist nicht durch eine gelegentlich eingestreute, von irgend einem zufälligen Standpunkt des Exegeten bestimmte Wertung der Wörter und Wortgruppen des Textes auszumachen, sondern allein durch ein tunlichst lockeres und williges Eingehen auf die innere Spannung der vom Text mit mehr oder weniger Deutlichkeit dargebotenen Begriffe, krinein heißt für mich einer historischen Urkunde gegenüber: das Messen aller in ihr enthaltenen Wörter und Wörtergruppen an der Sache, von der sie, wenn nicht alles täuscht, offenbar reden, das Zurückbeziehen aller in ihr gegebenen Antworten auf die ihnen unverkennbar gegenüberstehenden Fragen und dieser wieder auf die eine alle Fragen in sich enthaltende Kardinalfrage, das Deuten alles dessen, was sie sagt, im Lichte dessen, was allein gesagt werden kann und darum auch tatsächlich allein gesagt wird. Tunlichst wenig darf übrig bleiben von jenen Blöcken bloß historischer, bloß gegebener, bloß zufälliger Begrifflichkeiten, tunlichst weitgehend muß die Beziehung der Wörter auf das Wort in den Wörtern aufgedeckt werden. Bis zu dem Punkt muß ich als Verstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der Sache, nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe, wo ich es also nahezu vergesse, daß ich nicht der Autor bin, wo ich ihn nahezu so gut verstanden habe, daß ich ihn in meinem Namen reden lassen und selber in seinem Namen reden k a n n . . . " (bei Moltmann, a.a.O., 109f. l l l f . ; kursiv im Original). Dieses energische Plädoyer für eine zum Sachinteresse des Autors vordringende Schriftauslegung erinnert unwillkürlich an Dilthey und Schleiermacher, und in der Tat betont Barth selbst ein paar Seiten weiter, er würde seine Auslegungsmethode auch auf Lao-Tse und Goethe anwenden, wenn er diese zu interpretieren hätte. Z u dem gegen ihn erhobenen Vorwurf des Biblizismus meint er: „Genau genommen dürfte der ganze ,Biblizismus', den man mir nachweisen kann, darin bestehen, daß ich das Vorurteil habe, die Bibel sei ein gutes Buch und es lohne sich, wenn man ihre Gedanken mindestens ebenso ernst nimmt, wie seine eigenen" (bei Moltmann, a. a. O., 1 1 5 ) .

178

Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

Aber Barth möchte doch erheblich mehr als eine konsequente Praxis der allgemeinen Hermeneutik erreichen! Weil die von der Schrift und ihren Autoren gemeinte Sache Gott, sein Wort und seine Offenbarung in Jesus Christus ist, meint er, die Schrift werde nur dann sachgemäß interpretiert, wenn sie durch die historisch-kritische Analyse hindurch von dieser Offenbarung her als Offenbarungszeugnis ausgelegt werde! Es gilt für den Interpreten, die Bibel unter Einbeziehung der historischen Verstehensmöglichkeiten aus seinem Lebensverhältnis zu dieser Offenbarung heraus auszulegen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die historische Kritik im Sinne von E. Troeltsch dies zuläßt oder nicht. Nicht die allgemeine Hermeneutik gibt Barth das bindende Verstehensschema vor, sondern an der Auslegung der Schrift möchte er eingeübt wissen, was Hermeneutik überhaupt zu sein hat und sein kann. Die Biblische Hermeneutik ist also für Barth der Musterfall der Intensität, mit der die Verstehensfrage überhaupt gestellt werden muß. Statt sich angesichts dieser Forderung einfach mit Hofmann oder Beck ins Ghetto der subjektiven Glaubenserkenntnis zurückzuziehen, beansprucht Barth, mit seiner Auslegungsmethode auch dem historischen Phänomen des biblischen Zeugnisses - in unserem Fall: dem Römerbrief des Paulus - am besten gerecht zu werden! Er schreibt: „ . . . Wenn ich ein,System' habe, so besteht es darin, daß ich das, was Kierkegaard den ,unendlichen qualitativen Unterschied' von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte. ,Gott ist im Himmel und du auf Erden.' Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem. Die Philosophen nennen diese Krisis des menschlichen Erkennens den Ursprung. Die Bibel sieht an diesem Kreuzweg Jesus Christus. Trete ich nun an einen Text wie den Römerbrief heran, so tue ich das unter der vorläufigen Voraussetzung, daß dem Paulus bei der Bildung seiner Begriffe die ebenso schlichte wie unermeßliche Bedeutung jener Beziehung mindestens ebenso scharf vor Augen gestanden sei wie m i r . . . . Paulus weiß nun einmal etwas von Gott, was wir in der Regel nicht wissen, aber durchaus auch wissen könnten. Daß ich weiß, daß Paulus dies weiß, das ist mein ,System', meine ,dogmatische Voraussetzung', mein ,Alexandrinismus', und wie man das immer zu nennen belieben mag. Ich habe gefunden, daß man dabei auch historisch-kritisch betrachtet, verhältnismäßig am besten fährt. Denn die modernen Paulusbilder sind mir und einigen Andern auch historisch durchaus nicht mehr glaubw ü r d i g . . . " (bei Moltmann, a . a . O . , 1 1 3 . 1 1 4 ; Hervorhebung im Original).

1.3 Schlatters

und Bultmanns

kritische

Reaktionen

Die Reaktionen auf diesen hermeneutischen Gesamtentwurf waren erneut ganz verschieden, sind aber beide für uns ausgesprochen interessant: Während Schlatter ernsthafte Einwände gegen das Buch erhob, erklärte sich Bultmann nunmehr mit Barth hermeneutisch einverstanden. Die beiden von Schlatter geäußerten Hauptvorwürfe waren, daß Barth über der Darstellung seiner eigenen Glaubensansicht die wesentlich wichtigere Auf-

Karl Barths theologischer Neuansatz

179

gäbe einer Darstellung der Geschichte der römischen Christenheit, Israels, des Paulus und Jesu vermissen lasse und daß Barths Gottesgedanke dem des Paulus zuwiderlaufe. Während Barth von Gott nur als dem ganz anderen und von der zukünftigen Offenbarung Gottes spreche, habe Paulus den Römerbrief geschrieben, um der Gemeinde den Gott zu zeigen, der sich in Christus mit den Menschen versöhnt, um ihr Leben nach dem Willen dieses gnädigen Gottes auszurichten. Obwohl Barth als Student Schlatter nur mit ähnlichem Widerwillen wie Bultmann gehört hatte und es auch nach 1920 nie zu einer wirklichen Gemeinsamkeit zwischen ihm und Schlatter gekommen ist, hat Barth diese Einwände im Fortgang seiner dogmatisch-hermeneutischen Arbeit faktisch berücksichtigt. Wir dürfen also im nachhinein von einer Vergleichbarkeit des Schlatterschen und Barthschen Ansatzes sprechen, doch konnte diese Gemeinsamkeit in den Aufbruchsjahren der dialektischen Theologie noch nicht in gebührendem Maße hervortreten. Barth hat denn auch Schlatters Besprechung zunächst nur als freundliche Ablehnung seines Buches und Anliegens aufgefaßt. Wichtiger war ihm selbst, wie Bultmann seine Interpretation aufgenommen hatte. Bultmann erklärte 1922 in einer ausführlichen Rezension, in historischer und philologischer Hinsicht bleibe an der Neubearbeitung erhebliches zu beanstanden, theologisch und hermeneutisch aber müsse er Barth zustimmen: „ . . . In der Auffassung der Aufgabe der Texterklärung, wie Barth sie im Vorwort entwickelt, bin ich ganz mit ihm einig. Wie es für ihn selbstverständlich ist, daß die philologisch-historische Texterklärung die eine notwendige Seite der Exegese ist, so ist es mir selbstverständlich, daß man einen Text nur erklären kann, wenn man ein inneres Verhältnis zu der Sache hat, um die es sich im Texte handelt" (bei Moltmann, a.a. O., 140). Bultmann hat an Barths Interpretation nur auszusetzen, daß Barth noch nicht sachkritisch genug verfährt. Er schreibt: „Das ,Messen' aller in der zu erklärenden Urkunde enthaltenen Wörter und Wörtergruppen an der Sache', das Barth im Vorwort mit Recht verlangt, kann, wenn es ernst gemeint ist, nicht ohne Kritik geschehen. Und zwar ist diese Kritik viel radikaler als die historisch-philologische Kritik; es ist auch nicht die Kritik von einem außerhalb des Textes und seiner Sache genommenen Standpunkt aus, die Barth für die Exegese mit Recht ablehnt..., mag sie auch in anderen Zusammenhängen ein Recht haben. Vielmehr ist es die konsequente Durchführung des als richtig eingesehenen Grundsatzes, den Text von der Sache aus zu verstehen. An der Sache muß doch eben gemessen werden, wieweit in allen Worten und Sätzen des Textes die Sache wirklich adäquaten Ausdruck gewonnen hat; denn was soll sonst das .Messen' bedeuten? Von solchem Messen und der in ihm begründeten radikalsten Kritik finde ich bei Barth aber nichts. Daß überall im Römerbrief die Sache adäquaten Ausdruck gewonnen haben müsse, ist doch eine unmögliche Voraussetzung, wenn man nicht ein modernes Inspirationsdogma aufrichten will, und ein solches scheint allerdings hinter Barths Exegese zu stehen - zum Schaden für die Klarheit der Sache selbst..." (a.a.O., 141; Hervorhebung im Original).

Bultmann stellt weiter fest, daß man bei Paulus Spannungen und Widersprüche, jüdische, vulgärchristliche und hellenistisch-aufgeklärte Passagen feststellen könne, und angesichts ihrer gelte es, auch an Paulus von der Sache her, die er

180

Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

explizieren will, immer wieder Kritik zu üben. Bultmann schließt seine Rezension mit den berühmt gewordenen Sätzen: „ . . . Und nicht nur um die Relativität des Wortes handelt es sich, sondern auch darum, daß kein Mensch - auch Paulus nicht - immer nur aus der Sache heraus redet. Es kommen auch andere Geister in ihm zu Worte als das pneuma Christou. Und die Kritik kann also gar nicht radikal genug sein. Solche Kritik also ist... untrennbar von der Exegese und wirklicher Historie überhaupt. Nur in solcher Kritik kann die historische Arbeit zu ihrem letzten Ziel gelangen, in dem sie mit der auf anderem Wege wandernden Systematik zusammentrifft: zur Selbstbesinnung auf die Motive und Kräfte, auf den Grund unseres Lebens" (bei Moltmann, a. a. O., 142; Hervorhebung im Original). Bultmann fordert also vom historisch-theologischen Geschäft der Auslegung der Schrift, daß der Exeget die Sache der Schrift mit einer Klarheit und Präzision vor Augen hat, die sogar den Umgang der biblischen Autoren mit dem Evangelium durchsichtig und kritisierbar macht. Erst von einer in diesem Sinne sachkritischen historischen Kritik verspricht sich Bultmann menschliche und theologische Orientierung für das Leben heute.

1.4

Barths

Antwort

Barth ließ Bultmanns Anfragen nicht unbeantwortet, sondern replizierte im Vorwort zur dritten Auflage des Römerbriefs mit drei Feststellungen. Die erste und wichtigste lautet: „Das pneuma Christou ist kein Standpunkt, auf den man sich stellen kann, um von hier aus den Paulus oder wen auch immer zu schulmeistern" (beiMoltmann, a . a . O . , 1 5 1 ) . Die zweite Feststellung ist die, daß man — in der Hermeneutik überhaupt und im Neuen Testament — einen Schriftsteller nur dann wirklich angemessen interpretieren könne, wenn man es wage, ein „ Treueverhältnis" zu ihm einzugehen, Verstehensschwierigkeiten immer zuerst bei sich selbst als dem Interpreten und nicht beim Autor zu suchen und biblisch davon auszugehen, daß der Geist das menschliche W o r t des Apostels in seinen Schwächen und Stärken angenommen habe. Barth erklärt: „...Ich halte es für ausgeschlossen, daß man irgend einem Schriftsteller gerecht werden, irgend einen Schriftsteller wirklich wieder zum Reden bringen kann, wenn man jene Hypothese nicht wagt, jenes Treueverhältnis zu ihm nicht eingeht. Reden über jemanden scheint mir hoffnungslos dazu verurteilt, an ihm vorbei zu reden und sein Grab dichter zu schließen. Ich verstehe es, daß in der Verzweiflung je und je auch dieser Weg betreten werden muß... Was ich aber nicht verstehen kann, das ist die Einladung, die Bultmann an mich richtet, Feuer und Wasser zu vermengen, mit Paulus zu denken und zu schreiben, also doch wohl zunächst in der ganzen Fremdsprache seiner jüdisch-vulgärchristlich-hellenistischen Gedankenwelt, um dann plötzlich, wenn es mir etwa zu bunt wird...,kritisch' über und gegen Paulus zu reden. Ob Bultmann nicht auch einsieht, daß dies, nur schon vom Standpunkte der Stilreinheit aus betrachtet, nicht geht, daß das, von mir aus gesehen, eine Geschmacksverirrung wäre, ein Rückfall in die Methode der zeitgeschichtlichen Reste' und ungemütlichen Punkte'?" (bei Moltmann, a.a.O., 149/ 150; kursiv im Original).

Karl Barths theologischer Neuansatz

181

Zuletzt geht Barth auf Bultmanns Vorwurf ein, er richte ein modernes Inspirationsdogma auf. Er erklärt seine ausdrückliche Sympathie für Calvins Lehre vom hl. Geist und meint abschließend, gerade unter der Voraussetzung, daß der Geist durch den Buchstaben zu Wort kommen möchte, sei der Interpret, der ein Treueverhältnis zu seinem Autor eingegangen sei, berechtigt, „die im einzelnen Textwort gezogenen Linien stillschweigend oder ausdrücklich zu verlängern oder zu verkürzen, wo ein Stehenbleiben beim Wort laut ein offenbares Unterdrücken dessen, was zu Worte kommen möchte und muß, bedeuten würde" (a.a.O., 150; Hervorhebungen bei Barth). Barth weist also die Forderung Bultmanns nach einer historisch und theologisch-kritischen Bibelinterpretation (nur) für den Fall zurück, daß der Interpret bei seiner Kritik von vornherein meint, über den biblischen Text und die von ihm verlautbarte Sache verfügen zu können. Barth gesteht jedoch eine historisch und theologisch-kritische Bibelauslegung ausdrücklich zu, sofern sich der Interpret im Einverständnis mit seinem Autor um einen möglichst präzisen und konsequenten Nachvollzug der von dem biblischen Autor verlautbarten Sache bemüht, und es ist für Barth von Anfang an deutlich, daß das eigentliche biblische Kriterium der Sache des Geistes Jesus Christus ist.

1.5 Die Auseinandersetzung

mit Adolf von

Harnack

Ehe Barth seinen hermeneutischen Ansatz weiter präzisieren und ausformen konnte, mußte er ihn noch einmal verteidigen. Den theologiegeschichtlich und hermeneutisch interessantesten Angriff gegen Barth und seine Freunde führte Barths alter berühmter Lehrer, Adolf von Harnack, selbst. In der „Christlichen Welt" veröffentlichte er 1923 „Fünfzehn Fragen an die Verächter der wissenschaftlichen Theologie unter den Theologen", faßte darin die bekannten Sachund Erkenntnisprinzipien des Liberalismus zusammen und bezeichnete als einzig verläßlichen Weg zur Erkenntnis der im Mittelpunkt des Evangeliums stehenden Person Jesu Christi „kritisch-geschichtliches Studium". Dieses Studium wird nur durch „die wissenschaftliche Theologie" garantiert. Harnack beschließt seine Thesenreihe mit der Anfrage: „Gibt es — Trägheit, Kurzsichtigkeit und zahlreiche Krankheiten zugestanden — noch eine andere Theologie als jene, die in fester Verbindung und Blutsverwandtschaft steht mit der Wissenschaft überhaupt? Und wenn es eine solche etwa gibt, welche Überzeugungskraft und welcher Wert kommt ihr zu?" (bei Moltmann, a.a.O., 325). Barth antwortete Harnack öffentlich in „Fünfzehn Antworten an Herrn Professor von Harnack". Seine Hauptgesichtspunkte sind dabei folgende: Das Thema der Theologie ist die „eine Offenbarung Gottes"; die Wissenschaftlichkeit der Theologie besteht in „ihre(r) Gebundenheit an die Erinnerung, daß ihr Objekt zuvor Subjekt gewesen ist und immer wieder werden muß"; dementsprechend ist „die Aufgabe der Theologie... eins mit der Aufgabe der Predigt. Sie besteht darin, das Wort des Christus aufzunehmen und weiterzugeben" (bei Moltmann, a. a. O., 325. 326; Hervorhebung im Original).

182

Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

Harnacks Reaktion war ein längerer, glänzend formulierter „Offener Brief an Herrn Professor K. Barth", der an Schärfe kaum überboten werden kann. Es heißt da: „ . . .Sie sagen: ,Die Aufgabe der Theologie ist eins mit den Aufgaben der Predigt'; ich erwidere: die Aufgabe der Theologie ist eins mit den Aufgaben der Wissenschaft überhaupt; die Aufgabe der Predigt aber ist die reine Darstellung der Aufgabe des Christen als Zeugen Christi. Sie verwandeln den theologischen Lehrstuhl in einen Predigtstuhl...; ich sage Ihnen auf Grund des Verlaufs der gesamten Kirchengeschichte voraus, daß dieses Unternehmen nicht zum Erbauen, sondern zum Auflösen führt; oder soll ihre Verkündigung nur als ,Ferment' wirken? Das darf niemand sich vornehmen und liegt gewiß auch nicht in Ihrer Absicht" (bei Moltmann, a . a . O . , 3 3 0 ) . Oder um noch eine Nuance härter zum Abschluß des Briefes: „Ich bedaure aufrichtig, daß Ihre Antworten auf meine Fragen nur die Größe der Kluft zeigen, die uns trennt; aber weder auf meine noch auf Ihre Theologie kommt etwas an, sondern allein darauf, wie das Evangelium recht gelehrt wird. Wenn Ihre Weise zur Herrschaft gelangen sollte, wird es aber überhaupt nicht mehr gelehrt, sondern ausschließlich in die Hand der Erweckungsprediger gegeben, die ihr Bibelverständnis frei schaffen und ihre eigene Herrschaft aufrichten" (a. a. O., 3 3 3 ) .

Barth antwortete seinem Lehrer in seiner „Antwort auf Herrn Professor von Harnacks offenen Brief" noch einmal eingehend, und zwar inhaltlich, menschlich und stilistisch gleich imponierend. Die von der Schrift bezeugte Offenbarung besteht nach Barth darin, daß Gott wirklich „in der Hülle einer Menschenmöglichkeit" gehandelt hat, und das Zeugnis von dieser Offenbarung lautet, „daß das Wort Fleisch ward, Gott selbst menschlich-geschichtliche Wirklichkeit, und zwar in der Person Jesu Christi" (a.a.O., 338; Hervorhebung bei Barth). Diese Offenbarung läßt sich nicht historisch zum Erkenntnisobjekt machen; sie läßt sich nur glauben und bezeugen. „Erkennbar ist immer nur das Andere, das die historische Umgebung der behaupteten Offenbarung bildet" (a. a. O., 339). Die historische Kritik hat aufzuzeigen, daß die Bibeltexte Offenbarungszeugnisse sind und daß man nicht mittels historischer Analyse und Erkenntnis den Glauben umgehen kann. Historische Kritik und Erkenntnis können also sichtbar machen, daß Gottes Offenbarung nur im Glauben angenommen und verstanden werden kann, müssen aber an dieser Stelle Halt machen, weil Gott sich nach Barths Auffassung selbst vorbehalten hat, die Gabe des Glaubens zu geben oder vorzuenthalten. Folglich kann Barth von seinem Programmsatz, daß die Theologie als verstehender Nachvollzug der Offenbarung selbst eine Weise des christlichen Glaubenszeugnisses und insofern eins mit der Aufgabe der Predigt ist, nicht weichen. Bei Harnack liegt s.M.n. eine unscharfe und zudem illegitime Verbindung zwischen wissenschaftlichem Erkenntniswillen und einer diesem Willen zu- und eventuell sogar untergeordneten Christlichkeit vor. Angesichts dieser Erkenntnis schließt Barth seine Entgegnung mit den Worten: „ . . . Ich weiß, daß es nötig sein wird, noch ganz anders davon zu reden, als es meiner jetzigen Einsicht entspricht, und ich möchte auch in Zukunft aufmerksam auch auf das, was von Ihnen kommt, hören können. Aber daß Sie mich mit Ihren Fragen und Antworten aus dem Felde geschlagen hätten, wie ich es gerne erleiden will, wenn es wirklich

Karl Barths theologischer Neuansatz

183

geschieht, das kann ich für diesmal nicht zugeben" ( a . a . O . , 3 4 5 ; Hervorhebung im Original).

1.6 Barths Hermeneutik in ihrem Reifestadium Barth hat seine Hermeneutik im Verlauf der Jahre vollends ausgeformt, und zwar mit Hilfe von zwei Grundgedanken. In seinem 1 9 3 1 erschienenen Buch über Anselm von Canterburys Beweis der Existenz Gottes mit dem Titel „Fides quaerens intellectum" stieß Barth definitiv vor zu der dann seine gesamte „Kirchliche Dogmatik" beherrschenden Denkbewegung, nach der das theologische Erkennen der Vorgabe der Offenbarung Gottes folgt. „Auf den Spuren Anselms versteht Barth die Funktion der Theologie als ein nachdenkendes Selbst-Denken dessen, was ursprünglich mit dem Namen Gottes gegeben ist" (Bakker, a . a . O . , 163). Oder in der schönen Formulierung von E.Fuchs: Die Theologie wird bei Karl Barth „gewürdigt, Gottes Weg zu den Menschen mitzugehen und dabei die Menschen auf diesen Weg Gottes zu versammeln" (zitiert nach H. Diem, a. a. O., 172). Dies ist der erste Grundgedanke. Der zweite Grundgedanke ist der, daß Barth immer entschiedener Jesus Christus als die Wirklichkeit der Offenbarung versteht. Er dringt damit selbst zu der Erkenntnis vor, zu der Schlatter den frühen Barth hatte hinführen wollen, daß nämlich Gottes Offenbarung sich nicht erst auf der kritischen Grenzscheide zwischen menschlicher Geschichte und Gottes Kommen im Wort vollzieht, sondern schon in dem von der Schrift bezeugten Christus als dem Sohne Gottes geschichtlich konkrete Gestalt angenommen hat. Auf Grund dieser beiden Gedanken schreitet Barth dann fort zu dem, was R.Smend glücklich die „nachkritische Schriftauslegung" genannt hat, d.h. einer Schriftauslegung, der es gelingt, der Bibel wieder so als Offenbarungszeugnis zu begegnen, wie dies von l . K o r 2 , 6 f f . und der Inspirationstradition her vorgezeichnet ist (vgl. K D I, 2 § 19). Nachdem im 18. Jahrhundert die historische Kritik definitiv in die Auslegung der Schrift aufgenommen worden und damit die naive Identifikation von biblischen Berichten und geschichtlicher Wirklichkeit zerbrochen war, schien die historische Kritik der biblischen Tradition das Mittel zu sein, mit dessen Hilfe die wahrhaft geschehene Ursprungsgeschichte des christlichen Glaubens verifiziert und zugleich wissenschaftlich gesichert werden könne. Barth hat dieses in der religionsgeschichtlichen Theologie von Troeltsch gipfelnde Unternehmen der Anverwandlung der biblischen Offenbarungstradition an die Horizonte moderner geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis als theologisch illegitime Grenzüberschreitung kritisiert, ohne die Möglichkeiten, Chancen und Aufgaben der historischen Kritik für die kirchliche Schriftauslegung zu verkennen. Nach Barth ist es die unserem Erkennen vorgegebene und dieses Erkennen in die Schranken weisende Wirklichkeit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, die die Möglichkeit der Glaubenserkenntnis konstituiert; und die historische Kritik hat nur die Möglichkeit, die geschichtlichen Manifestationen dieser Offenbarungswirklichkeit im Nachhin-

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Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

ein aufzuspüren. Damit kann das Wirken Gottes in Jesus Christus wieder unbefangen zur Kenntnis genommen werden, ohne daß der historischen Forschung die Last aufgebürdet werden muß, dieses Offenbarungswirken erst durch wissenschaftliche Beweise abzusichern: In dankbarer Annahme des Offenbarungszeugnisses wird die historische Kritik entlastet und befreit zu den ihr möglichen Entdeckungen. Barth selbst hat diese reife Gestalt seiner Hermeneutik und Schriftauslegung in seinem als „Einführung in die evangelische Theologie" (1962) gedruckten Zyklus von Abschiedsvorlesungen mit aller Vorsicht unter die beiden Stichworte der dogmatischen und der pneumatischen Exegese gestellt. Er schreibt: „ . . . Biblisch-theologische Wissenschaft arbeitet... nicht im leeren Raum, sondern im Dienst der Gemeinde Jesu Christi, die durch das prophetisch-apostolische Zeugnis begründet ist. Eben von daher tritt sie in der Erwartung — mehr ist nicht zu sagen, aber auch nicht weniger! — an diese Texte heran: daß ihr dieses Zeugnis in ihnen begegnen werde — wobei sie sich nun d o c h . . . für die Frage rückhaltlos offen hält: ob, inwiefern, in welcher Gestalt und in welchen konkreten Aussagen sich diese ihre Erwartung erfüllen, die Auszeichnung, die diese Texte für die Gemeinde besitzen, sich also bestätigen möchte.,Dogmatische' Exegese? Sie ist das nur insofern, als sie ein Dogma ablehnt, das ihr diese Erwartung zum vornherein verbieten, deren Erfüllung zum vornherein als unmöglich erklären möchte.,Pneumatische' Exegese? Sicher nicht, sofern sie etwa aus irgendeinem ihr vermeintlich eigenen Geistbesitz heraus über die Schrift verfügen zu können meinte. Sie mag aber so genannt werden, sofern sie sich die doch aus der Schrift selbst zu begründende Freiheit nimmt, ernstlich, letztlich und entscheidend nur eben die Frage nach dem in ihr vernehmbaren Selbstzeugnis des Geistes an sie zu richten" (a. a. O., 1 9 3 f.; Hervorhebung im Original).

Barth gebraucht hier die beiden Stichworte „dogmatische Exegese" und „pneumatische Exegese" nur mit ausgesprochener Vorsicht zur Kennzeichnung der von ihm sowohl in seiner Dogmatik als auch in seinen exegetischen Studien bis hin zu der bekannten „Kurze(n) Erklärung des Römerbriefes" z.T. souverän praktizierten Schriftauslegung. Diese Zurückhaltung wird aus einem doppelten Grunde verständlich. Das Stichwort der „pneumatischen Exegese" ist 1922 von dem Greifswalder Systematiker Karl Girgensohn neu in die (protestantische) hermeneutische Debatte eingeführt worden, weil Girgensohn die normale historisch-kritische und zugleich psychologische Auslegung der Schrift ergänzt wissen wollte durch eine zweite Stufe der Schriftbetrachtung, die den Gesichtspunkten und Bedürfnissen des nach seinem ewigen Heil suchenden, subjektiven Glauben Genüge leisten sollte. Barth hat diese Form der Abstufung zurückgewiesen. Er wollte nicht einfach Troeltsch und Hofmann addieren, sondern neu zu der der Bibel als Offenbarungszeugnis wirklich angemessenen Schriftauslegung führen. Er nimmt das Stichwort der pneumatischen Exegese nur zurückhaltend auf, um den Schatten Girgensohns nicht zu beschwören und keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß für ihn die biblische Hermeneutik der für die Verstehensproblematik überhaupt kennzeichnende Sonderfall der allgemeinen Hermeneutik und insofern deren maßgebendes Vorbild ist. Daß er mit dieser Sicht zusammenfaßt, was schon Schlatter öffentlich verfochten hatte,

Karl Barths theologischer Neuansatz

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scheint Barth verborgen geblieben zu sein. Auch Schlatters Hermeneutik ist von seinen Freunden als „nach-kritisch" empfunden worden. Sie erwächst aus der „zu Christus hin gewandte(n) Einfalt" (Rückblick, 137), zu der Schlatter sich erzogen hatte, und will im Durchgang durch die historische Arbeit neu anleiten zum Gebrauch der Bibel als kirchlichem Lebensbuch. Für uns ist diese Einsicht bedeutsam, weil sie uns eine der wesentlichen, die Arbeit an der Bibel in unserem Jahrhundert prägenden Verstehenslinien zeigt, die von Schlatter über Barth in unsere Gegenwart hereinreicht.

1.7 Die Grenzen des Barthschen

Entwurfs

Wir haben die Hermeneutik Barths im Anschluß an Smend und Bakker als dogmatische und „nach-kritische" Schriftauslegung bezeichnet, weil in dieser Hermeneutik die rationalistischen und einseitig kritischen Implikationen der traditionellen historischen Kritik gesehen, überwunden und die Möglichkeiten der historischen Methode in den Dienst einer die Offenbarung Gottes in Christus nachzeichnenden Schriftinterpretation gestellt werden. So großartig dieser Entwurf als solcher ist, für ihn gilt theologiegeschichtlich dreierlei. Er ist erstens — ein Verstehensmodell, das Barth sich und seinen Freunden erst in lebenslanger Arbeit erworben hat; es handelt sich also nicht um einen hermeneutischen Entwurf, der schon zu Beginn der theologischen Umbruchsphase, die wir geschildert haben, jedermann deutlich vor Augen gestanden hätte. Für den Entwurf gilt zweitens, daß er den historisch arbeitenden Fachexegeten des Alten und Neuen Testaments wohl eine Fülle von Anregungen und in seiner reifen Gestalt m.E. auch ein befriedigendes Gesamtverständnis ihrer exegetischen Aufgabe gibt, daß er sich aber nicht leicht in einen detaillierten, methodisch praktikablen Arbeitsvorschlag für den kritisch mit den (biblischen) Quellen arbeitenden Historiker umformulieren läßt. Für den Entwurf ist drittens kennzeichnend, daß er gerade in seiner ausgereiften Form die Wahrheit und Wirklichkeit der Offenbarung Gottes voraussetzt und damit den biblisch arbeitenden Theologen an einem Punkte engagiert und bindet, der ihn nicht nur dogmatisch und kirchlich verpflichtet, sondern ihn auch mit dem kritischen Wahrheitsbewußtsein der Gegenwart in Konflikt bringt. Oder anders formuliert: Je historisch detaillierter und engagierter, je mehr der allgemeinen Wissenschafts- und Wahrheitstradition verpflichtet und je freier von der kirchlichen Verantwortung die Bibel verstanden und interpretiert werden soll, desto schwieriger ist es für den Interpreten, Barths dogmatisch-nachkritischer Interpretationslehre zu folgen. Wir stehen mit dieser Feststellung vor den Grenzen des Barthschen hermeneutischen Systems und gleichzeitig vor den Hauptgründen, welche es der eigentlichen Bibelwissenschaft im deutschsprachigen Bereich schwer und z.T. sogar unmöglich gemacht haben, Barths Spuren zu folgen. Sofern die (neutestamentliche) Bibelwissenschaft sich nicht dem neuen Impuls der dialektischen Theologie überhaupt verschloß und statt dessen den überkommenen theologischen oder rein wissenschaftlichen Problemstellungen folg-

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Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

te, Schloß sie sich weit mehr an R. Bultmanns Hermeneutik an als an Barth. Sie tat dies deshalb, weil Bultmann von Anfang an eine theologische Exegese anstrebte, die den Gehorsam und die Ehrfurcht vor dem Wort Gottes mit einer konsequenten und zugleich alle vorhandenen historischen Möglichkeiten ausschöpfenden Bibelkritik verband.

2. Rudolf Bultmanns Theologie und

Hermeneutik

Rudolf Bultmann wurde am 20.8. 1884 geboren, war nach insgesamt acht Jahren wissenschaftlicher Arbeit als Privatdozent und außerordentlicher Professor für Neues Testament in Marburg, Breslau und Gießen von 1921 an Ordinarius für Neues Testament in Marburg, wo er am 30.7. 1976 gestorben ist. Seiner wissenschaftlichen Herkunft nach gehört Bultmann der kritischen neutestamentlichen Wissenschaft des protestantischen Liberalismus an. Seine beiden exegetischen Lehrer sind Johannes Weiß und Wilhelm Heitmüller gewesen, d.h. zwei Hauptvertreter (des neutestamentlichen Zweiges) der sog. Religionsgeschichtlichen Schule. Bultmanns Habilitation hat dann Adolf Jülicher betreut, dem die Forschung bedeutsame wissenschaftliche Werke zur neutestamentlichen Gleichnisforschung, der Einleitungswissenschaft sowie aus dem Gebiet der Patristik und biblischen Textgeschichte verdankt. Bultmanns durchweg bahnbrechende Hauptwerke zum Neuen Testament, die 1921 in erster und 1931 in zweiter Auflage erschienene „Geschichte der synoptischen Tradition", sein 1926 gedrucktes Buch „Jesus", der große Kommentar über „Das Evangelium des Johannes", seine zwischen 1948 und 1953 in Einzellieferungen erschienene „Theologie des Neuen Testaments" und die 1949 vorgelegte, glänzend geschriebene urchristliche Religionsgeschichte mit dem Titel „Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen" lassen ihn als eine Gelehrtenpersönlichkeit von höchstem Rang erscheinen. Was Bultmann darüber hinaus zu einer Schlüsselfigur der hermeneutischtheologischen Diskussion unseres Jahrhunderts macht, ist die imponierende, wohldurchdachte Synthese von historisch-wissenschaftlicher Bibelkritik und theologischer Fragestellung, mit der Bultmann seit 1920 arbeitete und die er 1941 in der Programmschrift über „Neues Testament und Mythologie" in die Forderung der Entmythologisierung, oder, positiv formuliert, der existentialen Interpretation des Neuen Testaments einmünden ließ. Auf diese Programmschrift ließ Bultmann noch eine Reihe von hermeneutischen Abhandlungen folgen, in der die neue Interpretationsweise methodologisch durchreflektiert und mit bestechender Klarheit durchgeführt wurde. Beides zusammen, das große exegetisch-wissenschaftliche Werk und die dieses Werk begleitende und profilierende hermeneutische und theologische Begründung, machen Bultmanns Gesamtansehen aus. Sie lassen ihn in unserem Jahrhundert von ähnlich großer Bedeutung für die neutestamentliche Wissenschaft erscheinen wie es im letzten Jahrhundert der Tübinger F. C. Baur war. Dies gilt theologie- und wissenschaftsgeschichtlich ganz unbeschadet aller Kritik,

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die gegenüber Bultmann erhoben worden ist und weiterhin erhoben werden muß. Gehen wir nunmehr der hermeneutischen Synthese Bultmanns im einzelnen nach, haben wir drei Komponenten zu unterscheiden: Bultmanns theologischen Ansatz beim Wort Gottes oder Kerygma; seinen existentialen Geschichtsbegriff und die aus beidem resultierende, theologisch klar durchreflektierte historischkritische Interpretationslehre.

2.1 Der theologische Ansatz beim Kerygma Was zunächst den theologischen Ansatz anbelangt, so geht Bultmann seit seiner Hinwendung zu Barth und der dialektischen Theologie davon aus, daß alle und also auch die exegetische Theologie dem der theologischen Bemühung vorgegebenen, kirchlich verkündigten und in der Kraft des hl. Geistes Glauben wirkenden Wort Gottes zu dienen hat. Während K. Barth von Calvin und der reformierten Theologie herkommt, versteht sich Bultmann freilich als Lutheraner. Er faßt dementsprechend das Wort Gottes, dem die Theologie zu dienen hat, auf als das mündlich verkündigte Evangelium von Gottes Liebe, die sich in Jesus Christus offenbart, zum Glauben ruft und den Menschen mit der Vergebung der Sünden ein neues Leben schenkt. Wort Gottes, oder, wie Bultmann sich auch ausdrückt, Christus-Kerygma ist also nicht einfach die hl. Schrift als solche, sondern das von ihr und auf Grund ihrer bezeugte, mündlich gepredigte und die Kirche konstituierende Evangelium. Dieses Kerygma unterliegt nach Bultmann nicht historischer oder theologischer Kritik, sondern es ist selbst die Krisis und der Wertmaßstab aller rechtschaffenen Theologie, die für Bultmann in demselben Maße wie für Barth „kirchliche Wissenschaft" ist. Am Wort Gottes als der Verkündigung des Handelns Gottes in Jesus Christus hat Bultmann selbst nie gerüttelt noch rütteln lassen. Wie sich die Theologie der Autorität des Wortes Gottes verdankt, so steht sie gleichzeitig in seiner Pflicht. Diese Pflicht ist eine zweifache. Die Theologie hat aufzuzeigen und daran festzuhalten, daß die dem Wort Gottes einzig entsprechende Haltung des Menschen der Glaube an das Wort ist; und sie hat diesen am Wort hängenden Glauben durch ihre der Wahrheit unbedingt verpflichtete kritisch-wissenschaftliche Arbeit davor zu bewahren, etwas anderes sein zu wollen als ein sich dem Zuspruch des Wortes gehorsam öffnendes Hören. In Bultmanns abschließender Stellungnahme „Zum Problem der Entmythologisierung" von 1 9 5 2 heißt es: „ . . . Der Mensch, der an Gott als seinen Gott glauben will, muß wissen, daß er nichts in der Hand hat, woraufhin er glauben könnte, daß er gleichsam in die Luft gestellt ist und keinen Ausweis für die Wahrheit des ihn anredenden Wortes verlangen kann. Denn Grund und Gegenstand des Glaubens sind identisch. Die Sicherheit findet nur, wer alle Sicherheit fahren läßt, wer - um mit Luther zu reden - bereit ist, in die inneren Finsternisse hineinzugehen..." (Zum Problem der Entmythologisierung, in: Kerygma u. Mythos II, hrsg. von H . W . Bartsch, [ 1 7 9 - 2 0 8 ] 2 0 7 ) .

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Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

Als gehorsames Hören auf den Zuspruch und Anspruch der Liebe Gottes wird der Glaube nach Bultmann nur dann recht verstanden, wenn er es sich selbst verboten sein läßt, mehr von Gott wissen zu wollen als ihm das Wort zuspricht, und wenn er zugleich streng als der Glaube des einzelnen Menschen gefaßt wird, der in Gericht und Gnade vor Gott steht. Inhalt und Grund des Glaubens sind für Bultmann identisch, weil es beide Male nur um das Wort geht. Dieses Wort meint und trifft speziell den einzelnen in seinem Gewissen, spricht ihn von seinen Sünden los und befreit ihn damit zu einer neuen, für Gott geöffneten Existenz. Von diesem reformatorisch-lutherischen und zugleich streng dialektisch-theologischen Ansatz aus hat es sich Bultmann zeit seines Wirkens versagt, von Gottes Offenbarung andere inhaltliche Aussagen zu machen als eben diese zwei, daß sie Gottes Offenbarung im Wort und die Verkündigung der zu neuer Existenz befreienden Liebe Gottes in Jesus Christus ist. Von Anfang an fällt damit die Barth beschäftigende, die Offenbarung Gottes in Jesus Christus inhaltlich von der hl. Schrift her nachzeichnende Dogmatik für Bultmann unter den kritischen Verdacht, ein hinter den aktuellen Zuspruch des Wortes Gottes zurückgreifender, illegitimer Versuch des spekulativen Denkens zu sein, das Gottes Handeln begreifbar und damit verfügbar machen will statt sich in reinem Glauben dem Wort allein zu beugen. Wie wir schon an Bultmanns kritischer Rezension von Barths Römerbrief gesehen haben (s.o. S. 179f.), trägt Bultmann diesen Standpunkt auch kritisch an die Schrift selbst heran. Wenn er, wie wir hörten, einen biblischen Autor wie Paulus kritisch an der Sache des von ihm verkündigten Rechtfertigungsevangeliums gemessen sehen will, schreitet er von der historischen zur theologischen Sachkritik fort. Das Rechtfertigungsevangelium bedarf nach Bultmann keiner spekulativen Begründung. Deshalb muß sogar Paulus dort, wo er doch eine solche vorträgt und von der Begründung der Rechtfertigung im Sühnopfer Christi spricht, theologisch kritisiert werden. Bultmann wagt es also, in Hinsicht auf den Glauben und das Wort Gottes unter Umständen noch kritischer zu sein als es die biblischen Autoren waren. Der Maßstab für seine theologische Schriftkritik ist eine aufs äußerste radikalisierte reformatorische Beziehung von Wort und Glaube. In diesem radikalisierten reformatorischen Ansatz besteht die entscheidende theologische Komponente von Bultmanns Hermeneutik.

2.2 Der existentiale

Geschichtsbegriff

Die zweite tragende Komponente in Bultmanns Hermeneutik wird gebildet durch seinen an der Existenz und Lebensentscheidung des einzelnen orientierten Geschichtsgedanken. — Erinnern wir uns: An der Auseinandersetzung zwischen D.F. Strauß und F. C. Baur sowie an der Strukturanalyse der historischkritischen Methode durch E. Troeltsch läßt sich erkennen, von welch hoher Bedeutung der Geschichtsgedanke ist, mit dem die Interpreten an die hl. Schrift herangehen, um die biblischen Traditionen an ihm zu messen und von ihm her geschichtlich zu ordnen. Ist der den Historiker leitende Geschichtsgedanke

Rudolf Bultmanns Theologie und Hermeneutik

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streng kritisch-empirisch gefaßt, erscheint das unter diesem Blickwinkel betrachtete Neue Testament als ein auf wenige empirische Geschichtsdaten zu reduzierendes Dokument der mythenbildenden frühchristlichen Gemeindetheologie. Geht der Historiker aus von einem idealistisch durchgeformten, evolutionären Geschichtsbegriff, kann das biblisch-neutestamentliche Schrifttum als Dokumentation der Frühgeschichte des Christentums erscheinen, in welcher die von Jesus dargestellte „Idee des sittlich Guten" zu bewußter Gestaltung kommt (Baur) oder die Religion Jesu als höchste sittlich-religiöse M a c h t der Menschheitsgeschichte zur urbildlich-wegweisenden Entfaltung gelangt (Troeltsch). Ohne einen der Einzelarbeit vorgegebenen (und im Verlauf dieser Einzelarbeit dann wieder modifizierbaren) Geschichtsbegriff kann die mit den Mitteln der Analogie und Korrelation arbeitende kritische Historie nicht ans Werk gehen. Was aber, wenn sich der von Troeltsch und dem Liberalismus hochgehaltene spätidealistische und zugleich kulturoptimistische Geschichtsgedanke nicht mehr länger aufrechterhalten läßt? Eben diese Situation war mit dem Ausgang des Ersten Weltkrieges tatsächlich gegeben! Jetzt mußte sich die philosophische Bemühung darauf richten, einen neuen, wirklichkeitsnäheren Geschichtsbegriff zu bilden, und dieser Geschichtsgedanke war dann erneut im Umgang mit den Zeugnissen der Menschheitsgeschichte zu erproben. Bultmanns Bedeutung für die biblische Hermeneutik liegt nicht zuletzt darin, daß er sich während der zwanziger Jahre in enger Arbeitsgemeinschaft mit Martin Heidegger dieser geschichtsphilosophischen Aufgabe gestellt und die erarbeitete Lösung dann wieder in seiner exegetisch-historischen Arbeit am Neuen Testament bewährt und vollends ausgeformt hat. Mit einigen Geschichtsphilosophen seiner Zeit gibt Bultmann die für Troeltsch und den gesamten Historismus kennzeichnende universalgeschichtliche Frage nach dem Ziel und den inneren Gesetzen der Menschheitsgeschichte auf. Dafür wendet er sich immer entschiedener dem Problem zu, welcher Art von Herausforderung und Bereicherung der einzelne in der Begegnung mit den großen Traditionen der Vergangenheit erfährt. Diese Art von Geschichtsbetrachtung, die nach der Begegnung des Individuums mit der Geschichte fragt und Geschichte von der Geschichtlichkeit der Existenz her denkt, hat Bultmann zum ersten Mal programmatisch in der Vorrede zu seinem Jesusbuch von 1 9 2 6 erörtert. Sie kennzeichnet dann alle seine hermeneutischen Aufsätze und ist von Bultmann noch einmal ausführlich begründet worden in dem 1 9 5 8 in deutscher Fassung erschienenen Vorlesungszyklus „Geschichte und Eschatologie". Schon im Jesusbuch erklärt Bultmann, er wolle den Leser nicht eigentlich lehren, die Geschichte objektiv zu betrachten, sondern ihn zu einer Begegnung mit der Geschichte führen. Eine wirklich gewinnbringende und sinnvolle Befragung der Geschichte kann nach Bultmann „keine neutrale Orientierung über objektiv feststellbare Vorgänge in der Vergangenheit" sein, „sondern (ist) von der Frage b e w e g t . . . , wie wir selbst, die wir in der Bewegung der Geschichte stehen, zur Erfassung unserer eigenen Existenz gelangen können, d.h. Klarheit gewinnen können über die Möglichkeiten und Notwendigkeiten unseres eigenen Wollens" („Jesus", Siebenstern-

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Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

Taschenbuchausgabe, 1964, 11). Genau im Sinne dieser Definition beschließt Bultmann dann auch seine mehr als dreißig Jahre später gehaltenen Vorlesungen zum Geschichtsproblem und christlichen Geschichtsverständnis. Wir lesen dort: „Wir begannen unsere Vorlesungen mit der Frage nach dem Sinn der Geschichte, die durch das Problem des Historismus aufgeworfen wurde. Wir haben gesehen, daß der Mensch diese Frage nicht beantworten kann als die Frage nach dem Sinn der Gesamtgeschichte. Denn der Mensch steht nicht außerhalb der Geschichte. Aber jetzt können wir sagen: Der Sinn der Geschichte liegt je in der Gegenwart, und wenn die Gegenwart vom christlichen Glauben als die eschatologische Gegenwart begriffen wird, ist der Sinn der Geschichte verwirklicht..." (Geschichte und Eschatologie, 1 9 5 8 , 1 8 4 ; kursiv im Original).

So selbständig Bultmann hier analysiert und formuliert, sein am Augenblick der individuellen Entscheidung in der Gegenwart, an der Begegnung des Menschen mit den Möglichkeiten des menschlichen Daseins in der Geschichte orientierter Geschichtsbegriff berührt sich in der Sache deutlich mit dem von M.Heidegger in „Sein und Zeit" entfalteten, von der Geschichtlichkeit des Daseins aus entworfenen Geschichtsgedanken. Im Blick auf Heidegger kann man den Geschichtsbegriff, dem Bultmann folgt und dem er seine historisch-theologische Arbeit zuordnet, einen existentialen, d. h. von der Existenz des Menschen her entworfenen und auf sie zurückbezogenen, Geschichtsbegriff nennen.

2.3 Die Konvergenz von kerygmatischem

und existentiellem Ansatz

Nimmt man beide bisher genannten hermeneutischen Komponenten, die eben skizzierte existentiale geschichtsphilosophische Fragestellung und Bultmanns theologischen Ansatz bei dem den einzelnen zum Glauben aufrufenden Wort Gottes zusammen, ergibt sich eine erstaunliche Koinzidenz. Es geht in Theologie und Historie gleichermaßen um den einzelnen Menschen und seine geschichtliche Entscheidung in der Gegenwart. Steht in der Historie die Möglichkeit des menschlichen Daseins allgemein zur Entscheidung, so in der Theologie die Möglichkeit und Wirklichkeit der vom Wort Gottes her zu ihrer eigentlichen Seinsweise befreiten Existenz des (einzelnen) Menschen. Lassen sich aber Historie und Theologie unter diesem Blickwinkel als gemeinsame Bemühung um den Menschen in seiner Geschichtlichkeit begreifen, dann lassen sich auch historische und theologische Arbeit im Blick auf die Frage nach der wahren menschlichen Existenz gemeinsam betreiben. Dies aber bedeutet: Für Bultmann klaffen wissenschaftliche Bemühung um eine historisch konsequente Erhellung des biblischen Schrifttums (und der christlichen Tradition insgesamt) und die Bemühung der Theologie um den Menschen unter Gottes Wort nicht mehr aporetisch auseinander, sondern sie lassen sich sinnvoll und organisch vereinen, und zwar desto besser, je konsequenter die historisch-theologische Arbeit die Frage nach dem Menschen und seinem wahren Sein festhält und verfolgt. Was für Harnack noch unvereinbar schien, exakte geschichtswissenschaftliche Analyse der biblischen Schriften und dialektischer Glaubens- und Gottesge-

Rudolf Bultmanns Theologie und Hermeneutik

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danke, das ist von Bultmann zusammengedacht worden. Von seiner Synthese her ist auch keine Nötigung mehr gegeben, mit Barth (und Schlatter) über die historische Kritik hinaus zu einer nach-kritischen Schriftauslegung voranzuschreiten. Im Gegenteil, sofern die historische Kritik im Rahmen des existentialen Geschichtsgedankens betrieben und von der dadurch gegebenen Fragestellung aus durchgeführt wird, kann und muß die historische Kritik gegenüber der Bibel aus theologischen Gründen so konsequent wie nur irgend möglich durchgeführt werden. Wir stehen bei Bultmann vor der von der Frage nach dem Menschen und den wahren Möglichkeiten seines Daseins zusammengehaltenen Einheit von radikaler historischer Kritik und einem im Sinne der dialektischen Theologie radikalisierten reformatorischen Glaubens- und Wortverständnis. Eben diese Einheit macht Bultmanns hermeneutischen Interpretationsweg so einladend für die historisch und theologisch zugleich engagierten Bibelausleger. Diese Einheit ist es dann auch, die den Kern dessen darstellt, was Bultmann das Programm der Entmythologisierung oder existentialen Interpretation des Neuen Testaments genannt hat. Sie ist die dritte hermeneutische Komponente, die wir zu analysieren haben.

2.4 Entmythologisierung

und existentiale

Interpretation

Die Entmythologisierung als existentiale Interpretation des Neuen Testaments ist eben die hermeneutische Methode, die sich aus der eben nachgezeichneten Verbindung von theologischer und historisch-existentialer Fragestellung ergibt, und zwar mit innerer Konsequenz. Bultmann hat sie denn auch mit aller Genauigkeit und wissenschaftlichen Folgerichtigkeit ausgearbeitet. Während sein großer Johanneskommentar von 1941 die neue Methode am biblischen Text bewährt und von der johanneischen Theologie her zugleich legitimiert, stellt die im selben Jahr veröffentlichte Studie über „Neues Testament und Mythologie" mit dem Untertitel: „Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung" das neue Verfahren programmatisch vor. Bultmann führt die hermeneutische Erörterung des Entmythologisierungsproblems zehn Jahre später fort in dem 1 9 5 0 erschienenen klassischen Aufsatz über „Das Problem der Hermeneutik" und in der zwei Jahre darauf gedruckten, oben bereits erwähnten „abschließenden Stellungnahme" zum Problem der Entmythologisierung. Die 1951 in Harvard gehaltenen, aber erst 1 9 6 4 in deutscher Fassung unter dem Titel „Jesus Christus und die Mythologie" erschienenen Vorlesungen fassen das Gesamtprogramm noch einmal in ausgereifter Form zusammen. In welcher Weise die Verkündigung des Neuen Testaments insgesamt unter Bultmanns methodischem Zugriff erscheint, dokumentiert seine berühmte „Theologie des Neuen Testaments". Bultmann sieht in der Verkündigung des Apostels Paulus und des vierten Evangeliums sowie der Johannesbriefe das Zentrum der neutestamentlichen Theologie, und zwar aus folgendem Grund. Bei Paulus und Johannes wird nach Bultmann der Glaube an das in Jesus Christus erschienene Wort Gottes wirklich konsequent durchdacht

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Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

und in der von der Sache her geforderten Radikalität als Gehorsam gedeutet. Unter Berufung auf die besonders ausgearbeitete anthropologische Terminologie bei Paulus und die präsentische Eschatologie des 4 . Evangeliums spricht Bultmann davon, daß bei Paulus und Johannes bereits im Neuen Testament selbst die existentiale Interpretation des Christuskerygmas in Angriff genommen und - jedenfalls was das Johannesevangelium anbetrifft - auch konsequent durchgeführt worden sei. Die Schlußfolgerung ergibt sich dann von selbst: W a s neutestamentlich legitimerweise als Glaube bezeichnet werden darf, m u ß an Paulus und Johannes abgelesen und gemessen werden. Beide bilden daher M a ß und Mitte der neutestamentlichen Glaubensverkündigung. Will man Bultmanns Interpretationsprogramm kennenlernen, empfiehlt es sich, von den Vorlesungen über „Jesus Christus und die M y t h o l o g i e " auszugehen. V o n ihnen aus werden Ansatz und M e t h o d e der existentialen Interpretation am leichtesten zugänglich. W a s macht die Entmythologisierung des Neuen Testaments notwendig? Die historische Erkenntnis, daß die neutestamentliche „Vorstellung einer Welt, die in drei Stockwerke Himmel, Erde und Hölle eingeteilt ist, die Vorstellung, daß übernatürliche Kräfte in den Lauf der Dinge eingreifen", außerdem der neutestamentliche Wundergedanke und die vom Neuen Testament vorgetragene Anschauung vom Wirken Satans und verschiedener Engelmächte „mythologisch" sind und dem modernen, von der Naturwissenschaft geprägten Weltbild zutiefst widersprechen (Jesus Christus und die Mythologie, in: Glauben und Verstehen IV, [ 1 4 1 - 1 8 9 ] 1 4 3 ; die folgenden Zitate und Seitenzahlen nach dieser Ausgabe). D a auch das Wirken Jesu und die neutestamentliche Christologie biblisch im Rahmen dieses mythologischen Denkens entfaltet werden, das mythologische Denken aber nicht beliebig reproduzierbar ist, „erhebt sich die brennende Frage: Welches ist die Bedeutung der Predigt von Jesus und der Predigt des ganzen Neuen Testaments für den modernen M e n s c h e n ? " (a. a. O . , 145). Bultmann möchte auf diese Frage zweierlei Antwort nicht geben: Er möchte weder fordern, daß das ganze neutestamentliche Vorstellungsmaterial einfach angenommen und geglaubt wird; der damit geforderte Verzicht auf Verstehen, das sacrificium intellectus, würde den Glauben zu einem W e r k widersinnigen Fürwahrhaltens verderben. Bultmann möchte aber auch nicht eklektisch verfahren und aus Jesu Verkündigung oder der neutestamentlichen Christusbotschaft nur die (angeblich) mythologisch ungebundenen (z.B. ethischen) Elemente herausnehmen und allein diese für heute noch zumutbar erklären. Er möchte statt dessen die neutestamentliche Botschaft als ganze verstehen und interpretieren. Deshalb schreibt er: „Wir müssen fragen, ob die eschatologische Predigt und die mythologischen Aussagen als Ganzes noch eine tiefere Bedeutung enthalten, die unter der Decke der Mythologie verborgen ist. Wenn dem so ist, wollen wir die mythologischen Vorstellungen weglassen, gerade weil wir ihre tiefere Bedeutung beibehalten wollen. Diese Methode der Auslegung des Neuen Testaments, die versucht, die tiefere Bedeutung hinter den mythologischen Vorstellungen wieder aufzudecken, nenne ich ,.Entmythologisieren 1 — ein sicherlich

Rudolf Bultmanns Theologie und Hermeneutik

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unbefriedigendes W o r t ! Ziel ist nicht das Entfernen mythologischer Aussagen, sondern ihre Auslegung. Es ist eine Deutungsmethode..." ( a . a . O . , 1 4 5 / 4 6 ; Hervorhebung beiB.).

Bultmann definiert den Mythos im Anschluß an die ihn bestimmende Religionswissenschaft als die sich zwar religiös aufdrängende, aber sachlich unzureichende Darstellung der transzendenten Wirklichkeit in Form von immanenten weltlichen Objekten. „Der Mythos objektiviert das Jenseitige zum Diesseitigen" ( a . a . O . , 146). Weil aber der Mythos das Jenseitige in der speziellen Absicht verobjektiviert, die Menschen so auf ihr Verhältnis zur Transzendenz hin anzusprechen, daß sie es verstehen, kann man den Mythos auf das ihm zugrundeliegende, für die Transzendenz geöffnete und von ihr bestimmte Verständnis der menschlichen Existenz hin interpretieren. Eben diese Form von Interpretation ist es, die Bultmann anstrebt. Mit Hilfe der Entmythologisierung soll die wahre, der mythologischen Objektivation zugrundeliegende Aussageintention freigelegt werden. Dies gilt für die Interpretation von Texten der antiken Religionsgeschichte ebenso wie für die neutestamentlichen Urkunden. Wendet man sich mit dieser Interpretationsabsicht z.B. der Verkündigung Jesu von der kommenden Herrschaft Gottes zu, erkennt man als ihren eigentlichen, die Existenz betreffenden (und somit existential verständlichen) Kern die Aufforderung: „ . . . o f f e n sein für Gottes Zukunft, die uns, wirklich jedem einzelnen, bevorsteht; bereit sein für diese Zukunft, die wie ein Dieb in der Nacht kommen kann, wenn wir es nicht erwarten; bereit sein, denn diese Zukunft wird ein Gericht sein über alle Menschen, die sich selbst an diese Welt gebunden haben und die nicht frei sind, nicht offen für Gottes Zukunft" ( a . a . O . , 154).

Die Entmythologisierung will als existentiale Interpretation die biblischen Texte auf ihren inneren Glaubensgehalt hin befragen und damit der Predigt in der Gegenwart dienen. In Bultmanns Entmythologisierungsprogramm wird also verneint, daß die Botschaft der Schrift und damit zugleich der Kirche unlöslich gebunden ist an die Vorstellungswelt und Sprechweise der Entstehungszeit des Neuen Testaments. Positiv aber hat das Programm die Absicht, den Menschen von heute vor das von Paulus in l . K o r 1,18 ff. gemeinte Ärgernis des Wortes vom Kreuz zu stellen. Das Ärgernis soll aber nach Bultmanns Absicht nicht fälschlich dort entstehen, wo der Predigthörer sich dies oder das im biblischen Text intellektuell nicht vorstellen kann, sondern dort soll es aufbrechen, wo er als unverwechselbare Person in seiner Existenz vor Gott angesprochen wird. „Das W o r t Gottes ruft den Menschen weg von seiner Selbstsucht und von der eingebildeten Sicherheit, die er für sich aufgebaut hat. Das Wort ruft ihn zu Gott, der jenseits der Welt und jenseits des naturwissenschaftlichen Denkens ist. Zugleich ruft es den Menschen zu seinem wahren Ich. Das Ich des Menschen nämlich, sein Innenleben, seine persönliche Existenz, steht auch jenseits der sichtbaren Welt und jenseits des rationalen Denkens. Das W o r t Gottes spricht den Menschen an in seiner persönlichen Existenz und gibt ihm damit Freiheit von der Welt und von der Sorge und Angst, die ihn überwältigen, sobald er das Jenseits vergißt" ( a . a . O . , 159).

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Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

Das eigentlich theologische Ziel der Entmythologisierung ist es also, „den Ruf des Wortes Gottes zu klären". In Bultmanns Programm soll die Schrift existential interpretiert werden, d. h. die mythologischen Aussagen der biblischen Texte sollen auf ihren die Glaubensexistenz wirklich betreffenden Sachgehalt hin hinterfragt und so „das Wort Gottes von einem vergangenen Weltbild befreit" werden (a.a.O., 161).

2.5 Die Grenzen des

Enthmythologisierungsprogramms

Was Bultmanns Entmythologisierungsprogramm theologisch anstößig gemacht hat, ist nicht diese kerygmatische Zielsetzung. Anstößig wurde sein Programm durch seinen Absolutheitsanspruch und die Radikalität der Durchführung. Die gesamte neutestamentliche Christusverkündigung wird von Bultmann auf den einen Satz hin zugespitzt (und zugleich reduziert), daß der Mensch sich unter dem Anruf des Kerygmas als ein von Gott Geliebter verstehen soll. In dem von Bultmann intendierten reinen Glauben an das Wort soll sich der Mensch von Gott und seinem Handeln keine ihn in seinem Vertrauen absichernden objektiven Vorstellungen mehr machen, sondern sich allein dem Wort anvertrauen. Die radikale historische Kritik, die Bultmann betreibt, hat weithin den Sinn, dem Menschen, der sich selbst auf solche falschen Vorstellungen oder illusionären geschichtlichen Annahmen stützen will, diese versucherischen Krücken des Glaubens wegzuschlagen. Bultmann hat sein Entmythologisierungsprogramm mit der Zeit sogar emporgesteigert zu dem Anspruch, das dem wahren protestantischen Glaubensverständnis allein angemessene moderne Auslegungs- und Verstehensverfahren zu sein. Zum Abschluß seiner Vorlesungen schreibt er: „ . . . die Kritik des mythologischen Weltbildes (leistet) der biblischen und kirchlichen Predigt, dem Glauben einen wertvollen Dienst; denn sie ruft den Glauben zu einem ernsthaften Bedenken seines eigenen Wesens. Die Aufgabe der Entmythologisierung hat nur den Sinn, diese Aufforderung aufzunehmen. Die Unsichtbarkeit Gottes schließt jeden Mythos aus, der Gott und sein Handeln sichtbar zu machen versucht; Gott entzieht sich der Sicht und Beobachtung. Wir können nur an Gott glauben trotz der Erfahrung, ebenso wie wir die Rechtfertigung nur trotz des Gewissens annehmen können. Entmythologisierung ist in der Tat eine parallele Aufgabe zu der Formulierung von Paulus und Martin Luther in ihrer Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben ohne des Gesetzes Werke. Genauer ausgedrückt, ist Entmythologisierung die radikale Anwendung von der Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben auf das Gebiet des Wissens und Denkens. Wie die Lehre von der Rechtfertigung zerstört die Entmythologisierung jedes Verlangen nach Sicherheit. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Sicherheit auf der Basis von guten Werken und der Sicherheit, die auf objektivierendem Wissen beruht. Wer an Gott glauben will, muß wissen, daß er selbst sozusagen in einem Vakuum steht. Wer jede Form der Sicherheit aufgibt, wird wahre Sicherheit finden. Der Mensch hat immer leere Hände vor Gott. Wer jede Sicherheit aufgibt und losläßt, wird Sicherheit finden" ( a . a . O . , 188).

Rudolf Bultmanns Theologie und Hermeneutik

195

Hier wird die Entmythologisierung als existentiale Interpretation des Kerygmas mitsamt der ihr zugeordneten radikalen historischen Kritik zum modernen protestantischen Auslegungsprinzip schlechthin erhoben, so daß jeder Einwand gegen Bultmann im historischen, im methodologischen und auch im dogmatischen Bereich als Einwand gegen die protestantische Sache selbst erscheinen muß. Barth, der Bultmanns kerygmatische Intention ausdrücklich bejahte, die existentiale Interpretation jedoch als den beherrschenden Methodenweg protestantischer Schriftinterpretation ablehnte, war nicht der einzige, der angesichts dieses gewaltigen Wahrheitsanspruchs Bultmann immer distanzierter gegenüberstand. Bultmann hat sich dadurch nicht beirren lassen. Er hat speziell an Barth immer wieder die Forderung gerichtet, sich dem Wahrheitsproblem radikaler zu stellen und über die Herkunft seiner theologischen Begrifflichkeit genauer Rechenschaft abzulegen. Diese Aufforderung bestärkte jedoch bei Barth wiederum den Verdacht, Bultmann wolle mit seiner Forderung des existentialen Verstehens des Kerygmas eben doch nur Schleiermachers alten hermeneutischen Methodenweg weitergehen und dabei die Offenbarung Gottes in Christus in den sublimen Klammergriff allgemeiner Verstehensprinzipien nehmen. Dieser Vorwurf ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen.

2.6 Die hermeneutische

These vom

Vorverständnis

Bultmanns bekannter, 1950 in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche" publizierter Aufsatz über „Das Problem der Hermeneutik" (jetzt abgedruckt in: Glauben und Verstehen II, 2 1 1 - 2 3 5 , danach die folgenden Zitate) steht tatsächlich wissenschaftsgeschichtlich in der Kontinuität der von Schleiermacher entworfenen und von W. Dilthey zur geisteswissenschaftlichen Verstehenslehre überhaupt erhobenen allgemeinen Hermeneutik. Was Bultmann an Schleiermacher und Dilthey anschließen läßt, ist eine doppelte Einsicht. Auch Bultmann geht von der elementaren hermeneutischen Erkenntnis aus, „ . . . daß Bedingung der Auslegung die Tatsache ist, daß Ausleger und Autor als Menschen in der gleichen geschichtlichen Welt leben, in der menschliches Sein sich abspielt als ein Sein in einer Umwelt, im verstehenden Umgang mit Gegenständen und mit Mitmenschen. Natürlich gehört zu solchem verstehenden Umgang auch das Fragen, die Problematik, der Kampf und das Leiden, die Freude wie die entsagende Flucht" (a. a. O., 219). Das Verstehen von Texten wird also dadurch möglich, daß der Interpret und der zu interpretierende Autor (Text) gemeinsam am menschlichen Leben und seinen Ausdrucksformen teilhaben. Mit Schleiermacher und Dilthey ist Bultmann zweitens der Meinung, daß speziell die Werke der Kunst und dichterische Texte dem Interpreten Einsicht in die Tiefe und Weite des menschlichen Lebens vermitteln. Die Interpretation solcher Werke muß deshalb „die in der Dichtung wie in der Kunst aufgedeckten Möglichkeiten des menschlichen Seins zum Verständnis bringen" (a. a. O., 222; Hervorhebung bei B.).

196

Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen Theologie

Was Bultmann über Schleiermacher und Dilthey hinausführt, ist die ihn mit Heidegger verbindende Einsicht, daß im Verstehen die Existenz des Menschen als ganze auf dem Spiel steht. „Das Verstehen" ist also eine grundlegende Verfassung des menschlichen Daseins, mit Heidegger gesprochen: ein Existential. Echtes Verstehen ist für Bultmann „das Hören auf die im zu interpretierenden Werk gestellte frage, auf den im Werk begegnenden Anspruch" (a.a.O., 226; Hervorhebung bei B.). Bultmann hat diese vertiefte geisteswissenschaftliche Auffassung von Hermeneutik methodologisch noch wesentlich gefördert durch den ausdrücklichen Hinweis darauf, „daß jede Interpretation notwendig von einem gewissen Vorverständnis der in Rede oder in Frage stehenden Sache getragen ist" (a.a.O., 227); aus dem Vorverständnis und Sachinteresse des Interpreten erwächst „die Art der Fragestellung, das Woraufhin der Befragung, und damit das jeweilige hermeneutische Prinzip" (a.a.O.); die philosophischen, religiösen oder dichterischen Texten gegenüber eigentlich angemessene Art der Fragestellung ist „die Frage nach dem menschlichen als dem eigenen Sein" (a.a.O., 228; Hervorhebung bei B.). Eine in diesem Sinne vorgehende Interpretation verdient nach Bultmann das Prädikat „objektiv", wenn sie dem Text, der interpretiert werden soll, sachlich angemessen ist.

2.7 Die Interpretation

biblischer

Texte

Was nun die Interpretation biblischer Texte anbelangt, stellt Bultmann im Einklang mit Schleiermacher fest: „Die Interpretation der biblischen Schriften unterliegt nicht anderen Bedingungen des Verstehens als jede andere Literatur... Voraussetzung des Verstehens ist auch hier ein Vorverständnis der Sache" (a.a.O., 231; Hervorhebung bei B.). Das „Vorverständnis" muß angesichts biblischer Texte so geartet sein, daß der Interpret ein gewisses Verständnis dessen mitbringt, was überhaupt Handeln Gottes (im Unterschied von menschlichem Handeln) heißen kann. Die tatsächliche Exposition dieser Frage nach Gott kann nach Bultmann in dem weiten (religiösen) Horizont menschlicher Elementarfragen liegen; es kann sich also um die Frage nach dem Sinn des Lebens, nach Glück oder Lebenserfüllung handeln. Entscheidend ist nur, daß die Verstehensfrage wirklich radikal gestellt wird. Es muß dem Interpreten also, wie oben skizziert, um das wahre Verständnis der menschlichen Existenz gehen. Diese Fragestellung ist nach Bultmann dem Gegenstand, den es zu interpretieren gilt, nämlich Gottes Offenbarung im Wort der Schrift, angemessen, weil Gottes Wort den Menschen letztlich nur zum Glauben als Inbegriff wahrer Existenz führen will. Wahre Existenz meint dabei die Freiheit des Menschen von sich selbst und die Offenheit für Gott und seine Liebe. Es gibt also nach Bultmann keine spezielle biblische Hermeneutik, sondern die Bibel erschließt sich einer existential ausgearbeiteten allgemeinen, für die Gottesfrage offenen Hermeneutik. Sie erschließt sich freilich mit einer Antwort, über die der Mensch nicht mehr abwägend entscheiden, sondern der er sich nur

Die Alternative zwischen Bultmann und Barth

197

im Glauben gehorsam beugen kann. Was wir vorhin zu der hermeneutischen Synthese von theologischem und radikal historisch-kritischem Verstehen sagten, bestätigt und wiederholt sich hier. Kraft seines Ansatzes ist Bultmann in der Lage, die ganze alte Fragestellung nach der Differenz von allgemeinem und glaubendem Verstehen, nach der Bedeutung des hl. Geistes für das Verständnis der Schrift, die Differenzierung von dogmatischer und historisch-kritischer Schriftinterpretation hinter sich zu lassen und sie zu ersetzen durch die eine hermeneutische Verstehensfrage nach der wahren Existenz. Auf diese Frage gibt die Schrift eine zwar intellektuell verständliche, aber nicht mehr in des Menschen eigenen Möglichkeiten liegende Antwort.

3. Die Alternative zwischen Bultmann und Barth Die Geschlossenheit und Konsequenz von Bultmanns hermeneutischem Ansatz sind bewundernswert. Man kann angesichts der von ihm ausgearbeiteten und zugleich in aller Klarheit durchgeführten Synthese von historisch-kritischer, hermeneutischer und theologischer Arbeit verstehen, warum Bultmanns Arbeit in unserem Jahrhundert für Theologie und hermeneutisch orientierte Philosophie von größtem Interesse war und ist. Bis heute sind eine ganze Reihe von Theologen der Meinung, daß es kein klareres und wegweisenderes System für eine wissenschaftlich konsequente, methodisch verständliche und theologisch orientierte Schriftauslegung geben kann, als das von Bultmann vorgelegte Programm der existentialen Interpretation. Während so die einen an Bultmanns System bis zur Stunde entschlossen festhalten, hat Barth im oben (S. 175 f.) genannten Vorwort zur Schleiermacher-Auswahl von H. Bolli mit Nachdruck vor diesem Interpretationsweg gewarnt. Er schreibt: „Bultmann war und ist ein Fortsetzer der großen Tradition des 19. Jahrhunderts und also in neuem Gewand ein echter Schüler Schleiermachers. - Und eben das ist der gemeinsame Nenner, auf dem ich wie ihn, so auch seine, unter sich so verschiedenen Nachfahren sehe: was diese mit ihm und untereinander verbindet, das ist der bewußt und konsequent durchgeführte und sichtbar gemachte anthropologische Ansatz im Mittelpunkt ihres Denkens und ihrer Aussagen. Und das eben war und ist eine klare Wiederkehr Schleiermachers" ( a . a . O . , 3 0 2 ) . Barth fügt mit wünschenswerter Deutlichkeit hinzu: „ . . . i c h konnte mich dadurch, daß im Sprachschatz der neuen Theologie auch Begriffe wie Wort, Begegnung, Widerfahrnis, Kreuz, Entscheidung, Grenze, Gericht usw., die Schleiermacher gewiß nicht geliebt hätte, eine wichtige Rolle spielen, darüber nicht hinwegtäuschen lassen, daß sie, in ihrem Zusammenhang verwendet, die Enge des schleiermacherischen, des anthropologischen Horizontes nicht sprengen, daß da unter dem Vorwand, so recht,menschlich' zu sein, in jener gewiß unromantischen Nüchternheit doch sein Weg neu begangen wurde. Daß Schleiermacher den christlich-frommen Menschen zum Erkenntnisgrund und zum Inhalt seiner Theologie machte, während man jetzt nach dem ,Tode Gottes' und dem ihm gewidmeten Staatsbegräbnis jubelnd den christlich-unfrommen Menschen zum Gegenstand und Thema machen will, ist gewiß Zweierlei, dürfte aber prinzipiell und letztlich doch auf Dasselbe hinauslaufen... Bessere

198

Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

Belehrung vorbehalten, sehe ich keinen Weg, wie von Schleiermacher, so auch von seinen heutigen Epigonen her zu den Geschichtsschreibern, Propheten und Weisen Israels, zu den Erzählern des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu Christi, zu dem Wort der Apostel - keinen Weg zum Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, als dem Vater Jesu Christi - keinen Weg zu der großen Tradition der christlichen Kirche. Ich meine hier bis auf weiteres nur wählen zu können. Und wie da zu wählen ist, kann für mich keine Frage sein" ( a . a . O . , 302/303).

Der Neuansatz der dialektischen Theologie Karl Barths und Rudolf Bultmanns führt also hermeneutisch zu einer Alternative, zum nach-kritischen dogmatischen Interpretationsweg K. Barths oder zu der Forderung Bultmanns nach einer konsequent existentialen Interpretation des biblischen Schrifttums. Die beiden großen Altmeister der protestantischen Theologie in unserem Jahrhundert haben sich selbst zwar verstanden und respektiert, aber theologisch nicht zu einigen vermocht. Sie haben eben deshalb die nachfolgenden Generationen vor die Wahl ihrer beiden hermeneutischen Systementwürfe gestellt. Ist diese Alternative notwendig? Läßt sich ein Barth und Bultmann vereinigender neuer Weg gehen, oder muß man gar hinter beide zurückfragen und dort neu ansetzen, wo der Liberalismus nicht weiterfand? Eben diesen Grundfragen unserer gegenwärtigen hermeneutischen Situation ist im nächsten Paragraphen nachzugehen.

§ 13 Bultmannrezeption und Bultmannkritik — die neue Hermeneutik 1. Die gegenwärtigen

Frontstellungen

Schon als wir uns in § 2 eine Übersicht über den uns gegenwärtig noch immer beschäftigenden Streit um die rechte Art und Weise der Schriftauslegung zu verschaffen suchten, hatten wir festgestellt, daß der Kernpunkt dieses Streites die Frage sei, inwiefern die historisch-kritische Auslegungsmethode der Bibel und ihrem Christuszeugnis gerecht werde oder nicht. In diesem Streit lassen sich folgende Gruppierungen unterscheiden: die römisch-katholische Bibelauslegung, die sich nach der Anerkennung und Einbeziehung der historischen Kritik in das angestammte katholische Auslegungssystem durch das Zweite Vaticanum mit einer vorher ungeahnten Intensität entfaltet hat, und die dieser imponierenden Bibelinterpretation gegenüberstehende protestantische Exegese. Hier haben wir drei Lager unterschieden: Die Gruppe der radikalen Kritiker, dann die Schar derer, die auf recht unterschiedlichem Niveau ein Nein zur historischen Bibelkritik sagen, und schließlich jene Exegeten, die die Möglichkeiten der historischen Methode gegenüber der hl. Schrift kritisch nutzen und durch Erhebung der für den Glauben unverzichtbaren Selbstaussagen der bibli-

Die unverzichtbare Kritik an Bultmanns Auslegungsprogramm

199

sehen Schriften des Alten und des Neuen Testaments der Kirche den Weg weisen wollen. Vergleichen wir diese Skizze mit der Problemgeschichte der protestantischen Bibelauslegung, wie wir sie in den letzten Paragraphen nachgezeichnet haben, lassen sich einige Zuordnungen vornehmen. Die Hauptvertreter der sog. radikalen Bibelkritik gehen ihren Weg unter Berufung auf Bultmanns Synthese von protestantischem Glaubensprinzip und radikaler historischer Kritik. Von hier aus erklärt sich ihr gleich hohes historisch-kritisches und theologisches Engagement. - Dem bibelgläubigen Fundamentalismus ist die radikale Bibelkritik ein Dorn im Auge. Er versucht heute aufs neue, die uns aus dem Pietismus des 18.Jahrhunderts, von J . T . Beck und von J . C . K , von Hofmann her bekannte Hermeneutica Sacra zu praktizieren. Angesichts des permanenten Scheiterns dieser Hermeneutik und der ihr geltenden Kritik M . Kählers, A. Schlatters und K. Barths wirkt dieser Versuch (unbeschadet des Glaubensernstes seiner Vertreter!) recht anachronistisch. - Die „Kritik an der Kritik" findet ihren stärksten hermeneutischen Rückhalt bei der von M . Kahler vorbereiteten, von A. Schlatter weitergeführten und dann von K. Barth selbständig ausgearbeiteten nachkritischen Interpretationsmethode. Dies gilt, obwohl man fragen kann, ob diese Verbindungslinien den Vertretern der „Kritik an der Kritik" wirklich bewußt sind. Die sich ihnen aufdrängende Kritik an der radikalen historischen Kritik, die betonte Wertschätzung der ganzen hl. Schrift und der ebenso bewußte Anschluß an die dogmatische Tradition der Kirche sind jedenfalls schon bei Kähler, Schlatter und Barth anzutreffen, und es wäre wenig sinnvoll, die von ihnen erarbeiteten hermeneutischen Erkenntnisse ausschlagen zu wollen. Aus dem Gesagten ergibt sich freilich auch, daß die „Kritik an der Kritik" unweigerlich den Widerstand sowohl der radikalen Kritik als auch den des Fundamentalismus und Neupietismus herausfordern muß. Den einen erscheint sie als Verletzung des wegen seiner Inspiriertheit unantastbaren Kanons der Bibel und den anderen als ängstliche kirchliche Domestizierung des radikalen kritischen Wahrheitsbewußtseins. Oder anders ausgedrückt: An der „Kritik an der Kritik" entscheidet sich heute, ob die Alternative zwischen Barth und Bultmann wirklich notwendig oder überholbar ist, und hier wird zugleich darüber entschieden, in welchem Maße die biblische Exegese als eine der Kirche und ihrem Christusbekenntnis verpflichtete Wissenschaft betrieben werden kann.

2. Die unverzichtbare

Kritik an Bultmanns

Auslegungsprogramm

Wollen wir im Gegenwartsstreit um den rechten Weg des Bibelverständnisses weiterkommen, müssen wir die Gründe benennen, die uns hindern, bei R. Bultmann (und damit zugleich der Alternative Bultmann-Barth) stehenzubleiben. Diese Gründe sind zweifacher Art. Uns hindern einmal die gravierenden Mängel des Bultmannschen Auslegungssystems; uns hindert aber auch die Fortentwicklung der Hermeneutik seit Bultmann durch E. Fuchs, G. Ebeling,

200

Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

H.G.Gadamer und P. Ricceur sowie einige gesicherte Erkenntnisse der (Text-) Linguistik.

2.1 Hermann Diems

Bultmannkritik

Was zunächst die dogmatischen Mängel des Bultmannschen Ansatzes anbetrifft, hat Hermann Diem (1900-1975) am klarsten und zugleich amhermeneutisch reflektiertesten geurteilt. Er wirft Bultmann vor, bei seiner theologischen Sachkritik, welche das Wort Gottes zu einer von jeder inhaltlichen Objektivation freien Grenzaussage emporhebt, eben doch auf höchster kritischer Reflexionsebene selbst darüber entscheiden zu wollen, was Wort Gottes ist oder nicht; in Diems Terminologie: Bultmann ist der Gefahr erlegen, den,biblischen Erkenntnisweg' methodologisch zu unterlaufen. Statt dem in Gal 4,9 und l.Kor 13,12 festgehaltenen Grundsatz zu folgen, daß alles menschliche Erkennen Gottes dem Erkanntwerden des Menschen durch Gott folgt, und die biblischen Texte als verbindlich vorgegebene Urkunden dieses Erkanntwerdens anzunehmen, bemüht sich Bultmann darum, das Kerygma aus seiner biblischen Ausgelegtheit herauszulösen und gewissermaßen „rein" darzustellen. Dieser Versuch muß nach Diem in theologischer Sprachlosigkeit enden. Diem hält Bultmann zweitens vor, sein sublimes Verständnis von Wort Gottes lasse ihn an den verkündigenden Geschichtsdarstellungen der Bibel ebenso achtlos vorübergehen wie an der schon in der hl. Schrift selbst einsetzenden kirchlichen Bemühung um dogmatische Explikation der Christusoffenbarung. Diem hat diese Bultmann-Kritik zuerst im zweiten Band seiner Trilogie „Theologie als kirchliche Wissenschaft" vorgetragen und schon hier von einer schier „hoffnungslosen Nivellierung aller dogmatischen Probleme" bei Bultmann gesprochen (a.a.O., 72). Er hat sie dann noch einmal in einem großen Referat „Zur Problematik theologischer Wahrheitsfindung" (1970) zusammengefaßt. Gerade Bultmanns Suche nach dem reinen Kerygma in und hinter den Texten hindert ihn an einer inhaltlich explizierten, dogmatisch reflektierten Darstellung der christlichen Glaubensinhalte. Diese Darstellung ist aber kirchlich so lange unverzichtbar, als die Christen nach l.Petr 3,15 über ihren Glauben öffentlich Rechenschaft abzulegen haben. Der alte Bultmann hat Diems Kritik offenbar als weiterführend anerkannt. Diem berichtet nämlich in seinem theologischen Lebensbericht „Ja oder Nein" (1974), er habe den genannten Aufsatz an Bultmann geschickt, „der mir durch seinen Assistenten mitteilen ließ, er habe ihn sich mit großem Interesse und Spannung vorlesen lassen und sei im wesentlichen mit mir einverstanden". Diem fügt hinzu: „Das Urteil von Karl Barth konnte ich leider nicht mehr erfahren. Ich bin aber sicher, daß er nicht anders geurteilt hätte" (a. a. O., 282/283).

Die unverzichtbare Kritik an Bultmanns Auslegungsprogramm

2.2 Die inhaltliche Reduktion

201

des Kerygmas

H. Diems Grundsatzkritik ist in der Tat zutreffend: In Bultmanns Programm der existentialen Interpretation des Neuen Testaments wird die Bibel insgesamt einer Kritik unterworfen, die den Bultmann leitenden Begriff des reinen Wortes Gottes als äußerst fragwürdig erscheinen läßt. Dies läßt sich rasch zeigen: Bei Bultmann erscheint das Alte Testament nur als der Teil des biblischen Kanons, der am Beispiel Israel klassisch das Scheitern des Menschen vor Gott dokumentiert; der Mensch ist zwar auf Gott hin geschaffen und von ihm berufen, bleibt aber, wie am Schicksal Israels ersichtlich, letztlich doch der menschlichen Geschichte und sich selbst verhaftet. Der irdische Jesus, den die Evangelien, Paulus und die außerpaulinische Briefliteratur des Neuen Testaments als den messianischen Versöhner verkündigen, in dem sich Gottes Verheißungen für Israel und die ganze Heidenwelt erfüllen, war nach Bultmanns kritischer Darstellung nur ein jüdischer Rabbi und Prophet, der selbst noch das Kommen eines (von ihm selbst verschiedenen!) Menschensohn-Weltenrichters erwartet hat; folgerichtig zählt Bultmann die Verkündigung dieses Jesus nur zu den Voraussetzungen einer neutestamentlichen Theologie, aber nicht zu deren eigentlicher Kernsubstanz. Aber selbst bei Paulus und Johannes, die nach Bultmann die theologische Mitte des Neuen Testaments bilden, fallen der entmythologisierenden Kritik die ganze (z.B. im Sühnopfergedanken) explizierte Christologie, die Kosmologie und Eschatologie anheim. Vom Kreuz Christi spricht Bultmann in seiner Programmschrift über „Neues Testament und Mythologie" nur in dem Sinn, daß es für uns zur Frage werden soll, ob wir uns mit Christus kreuzigen lassen wollen. Die neutestamentlichen Berichte von der Auffindung des leeren Grabes Jesu und die Erscheinungsgeschichten der Evangelien haben für Bultmann nur legendarischen Symbolwert. Die Auferweckung Jesu gilt ihm als bloßer „Ausdruck der Bedeutsamkeit des Kreuzes"; vom Osterereignis heißt es, es handele sich hierbei um „nichts anderes als [um] die Entstehung des Glaubens an den Auferstandenen, in dem die Verkündigung ihren Ursprung hat" (Neues Testament und Mythologie, in: Kerygma und Mythos I, hrsg. von H.-W. Bartsch, 3 1954, [15-48] 44.46). Bultmanns sublimer und radikaler Begriff vom Wort Gottes zwingt ihn schon im Vollzug der Interpretation der Schrift dazu, von (fast) allen geschichtlichen Konkretionen und dogmatjschen Explikationen der Offenbarung Gottes in Jesus Christus kritisch zu abstrahieren. Im Blick auf l.Kor 1,18-2,16; 2.Tim 3,16 und 2.Petr 1,20 f. von Grundzügen einer biblischen Hermeneutik zu sprechen, die für alle weitere Schriftauslegung der Kirche maßgeblich sein könnte, liegt Bultmann ganz fern. Es ist unter diesen Umständen extrem schwierig, eine echte biblische Legitimation für Bultmanns radikales Verständnis vom Wort Gottes zu finden. Wenn er in seiner Programmschrift postuliert, der christliche Osterglaube sei an der historischen Frage nach den Osterereignissen „nicht interessiert" (a.a.O., 47); wenn er seine Schüler gelehrt und darüber hinaus mehr als eine Theologengeneration dogmatisch und homiletisch angehalten hat, das den Glauben begründende Wort Gottes kraft kritischer theologi-

202

Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

scher Arbeit von einem vergangenen Weltbild zu befreien, dann ist dies zwar hermeneutisch faszinierend und konsequent. Aber angesichts des denkbar schwachen biblischen Fundamentes, auf dem die Forderung ruht, kann es eigentlich nicht wunder nehmen, daß Bultmanns Programm heute mehr und mehr als unrealisierbar erscheint. Keinem der großen Schüler Bultmanns ist es gelungen, die gewünschte Befreiung des Wortes Gottes aus den Fesseln einer vergangenen Weltanschauung wirklich durchzuführen. Die meisten von ihnen sind sogar unter Führung von E. Käsemann und G. Bornkamm dazu übergegangen, neue biblische Konkretionen des Wortes Gottes aufzusuchen. Unter diesen Umständen besteht Anlaß genug, von einem (vom Ansatz her unvermeidbaren) Scheitern des ganzen kühnen Versuches zu sprechen.

2.3 Die Unzulänglichkeit

des existentiellen

Gescbichtsbegriffs

Zu diesen theologischen Mängeln des Bultmannschen Systems kommen nun noch gravierende andere hinzu. Für die biblische Exegese am folgenreichsten ist zweierlei: Zum einen hat Bultmanns seit seinem Jesusbuch feststehende These, daß man, statt sich über Gebühr mit einer detaillierten und versuchsweise objektiven Geschichtsbetrachtung abzumühen, möglichst rasch vorzustoßen habe zu einem Dialog mit den sich aus der Geschichte heraus erschließenden Bekundungen menschlichen Wollens und wegweisender Existenzverwirklichung, in der Konsequenz zu einer jahrzehntelangen Verarmung und Unterschätzung der historischen Arbeit in der deutschen Bibelwissenschaft geführt. Zum andern gilt Schlatters Einwand gegen Barth, der Interpret der Schrift habe nicht sogleich auf den eigenen Glauben abzuheben, sondern zuerst jene lebensvolle Geschichte der biblischen Zeit darzustellen, in der sich Gottes Offenbarung verwirklicht (s. oben S. 178 f.), gegenüber Bultmann erst recht. Obwohl Bultmann Schlatter stets hohen Respekt gezollt hat und nicht in Gegensatz zu ihm gestellt werden wollte, ist die Antithese im Geschichtsgedanken unübersehbar. Bultmann hat Schlatters biblisch richtige Kritik auch nicht indirekt eingeholt und überholt wie K.Barth in seiner Christologie und Versöhnungslehre! Bei ihm fällt die Geschichte als Dimension und Verwirklichungshorizont der Offenbarung Gottes aus; das exegetische Interesse liegt ganz beim Kerygma und dem Glauben des einzelnen. Unter dem Einfluß Bultmanns sind O. Cullmanns Bemühungen um ein positives Verständnis des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilswirken in der Geschichte (in Deutschland) praktisch wirkungslos geblieben. L. Goppelt ist es kaum anders ergangen. Unser Überblick über die Geschichte der kritischen Schriftauslegung in den vergangenen zwei Jahrhunderten hat uns gelehrt, daß die Sehkraft und Trennschärfe, aber auch die Wirklichkeitsnähe, in die historische Kritik versetzen möchte, entscheidend davon abhängen, wie der Geschichts- und Wirklichkeitsgedanke beschaffen ist, der die methodische Arbeit trägt. Bultmann selbst hat dies in seinem Hermeneutik-Aufsatz mit wünschenswerter Deutlichkeit herausgearbeitet. Wir folgen deshalb nur seinem eigenen methodischen Grundsatz,

Die unverzichtbare Kritik an Bultmanns Auslegungsprogramm

203

wenn wir fragen, inwiefern sein existentialphilosophischer Ansatz den biblischen Texten wirklich gerecht wird. Was wir bei solcher Überprüfung feststellen, ist eine Engführung an einer für die biblische Exegese ganz entscheidenden Stelle: Indem die Geschichte Israels und des Urchristentums, die Probleme der biblischen Zeitgeschichte und der Soziologie des frühen Christentums bei Bultmann höchstens als Hintergrund der kerygmatischen Aussagen erscheinen, verliert die biblische Glaubensverkündigung ihren Wirklichkeitsbezug und wird zur esoterischen Reflexion. Die biblische Theologie begibt sich auf diese Weise der Möglichkeit, den Menschen von heute die Textwelt der hl. Schrift ganzheitlich und wegweisend zu erschließen. Überlegungen W. Pannenbergs aufgreifend, hat vor allem J. Moltmann mit Recht betont, daß man die biblische Geschichte, die realen Folgen des Wirkens Jesu und die mit der Auferweckung Jesu signalisierte Offenheit der Geschichte für Gottes Werk und Zukunft nur dann adäquat erfassen könne, wenn man bereit sei, die Bedingtheit der menschlichen Einzelexistenz durch die geschichtlichen Abläufe und Ereignisse neu in den Blick zu nehmen und zugleich die Geschichte als einen im Werden befindlichen, in die Zukunft weisenden und noch keineswegs abgeschlossenen Prozeß zu sehen. „Das Evangelium ist seiner Absicht nach weder Quelle noch Entscheidungsruf, sondern es erzählt verkündigend und verkündigt erzählend und spricht so in Sachverhalten Existenzgewißheit und in Existenzerhellung Tatbestände aus. Um das zu erfassen, muß die wechselseitige Bezogenheit von Existenzwahrheit und Sachwahrheit neu erfaßt werden. — Jede theologische Aussage des Neuen Testaments gehört in eine bestimmte, einmalige Situation hinein als Zeugnis, Kerygma und konkrete Anrede. Das bedeutet aber nicht, daß die subjektive Existenzgewißheit, die sie verursacht, selber Garant für die Wahrheit des je Verkündigten wäre. Vielmehr stützt sich die Existenzwahrheit nicht auf sich selbst, sondern auf so etwas wie eine Wahrheit außer ihr. Die existenzgründende Wahrheit hat zugleich universal zu sein, denn wahre menschliche Existenz kann sich mit nichts weniger zufrieden geben als mit der Wahrheit selbst. Es gehört ja gerade zur Eigentümlichkeit der biblischen Verkündigungsaussagen, daß sie über die geschichtliche Situation, in der sie gesprochen und gehört wurden, hinausgehen und ins Allgemeine vorgreifen. Die Bibel gehört nicht nur mit ihrer Situation zusammen, sondern beansprucht, mit der allgemein menschlichen Situation zusammenzugehören, die in der Zukunft liegt. Sie gehört mit ihrer Geschichte und mit ihrer Zukunft z u s a m m e n . . . " ( a . a . O . , 77).

Anders formuliert: Uns nötigen heute die biblischen Texte selbst (vgl. nur Ri 5,11; Mi 6,5; Lk 1,68ff.; Apg 2,11; Eph 1,10) und die sich unabweisbar aufdrängenden globalen Probleme der Menschheit, über den existentialen Standort Bultmanns hinaus auch wieder auf die uns bedingende und zugleich von uns mitzuverantwortende Geschichte und Wirklichkeit im ganzen zu sehen. Dementsprechend ist es für uns wichtig, u.U. sogar lebensentscheidend zu erfahren, wessen wir uns in der Geschichte insgesamt von Gott her gewärtigen dürfen und müssen und wo der Auftrag der christlichen Gemeinde in dieser Geschichte liegt.

204

Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

2.4 Die Funktion mythologischer Sprache Gleichzeitig mit dieser in Ansatz und Perspektive gegenüber Bultmann veränderten Betrachtung der Geschichte stellt sich uns heute das Wirklichkeitsverständnis der Schrift viel offener dar als es in Bultmanns Entmythologisierungsprogramm vorausgesetzt wird. Unter der Anleitung von O. Keel und H. Gese haben wir gelernt, daß die Vorstellung von dem antiken dreistöckigen Weltbild eine unzulässige moderne Zusammenfassung des erfahrungsorientierten und offenen biblischen Weltverständnisses ist. Mythen, die die Transzendenz unzulässig verobjektivieren und verweltlichen, sind religionshistorisch in der Schrift überhaupt nicht mehr aufweisbar; zugleich wird bei der Bultmann leitenden Definition von Mythos verkannt, daß „der Mythos selbst ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos (ist)" (H. Blumenberg). Bultmanns eigener philosophischer Meisterschüler, der Jude Hans Jonas, hat in einem faszinierenden Aufsatz über „Heidegger und die Theologie" betont, daß, wo die Mysterien der Gottheit selber zur Sprache kommen, Entmythologisierung kein angemessenes Auslegungsverfahren mehr sei. Jonas setzt hinzu: „Das letzte Geheimnis könnte wohl besser in den Symbolen des Mythos als in den Begriffen des Denkens geschützt sein. W o das Mysterium rechtens zu Hause ist, da ,sehen wir dunkel in einem Spiegel'. Was heißt,dunkel in einem Spiegel'? In mythischer Gestalt. Es ist leichter, die offenbare Dichtigkeit des Mythos irgendwie für das Unsagbare durchscheinend zu halten, als die scheinbare Transparenz des Begriffs, die hier letztlich so undurchsichtig ist, wie jede Sprache es sein muß. — Mythos wörtlich verstanden ist gröbste Objektivierung. Mythos allegorisch verstanden ist verfeinerte Objektivierung. Mythos symbolisch verstanden ist der Spiegel, in dem wir dunkel schaun" (a. a. O., 6 4 1 f.).

Statt also den Mythos sogleich als eine dem Wirken Gottes und dem modernen Verstand gleich unangemessene Sprachform kritisch zu hinterfragen, lernen wir heute wieder, den Mythos als sinnhafte Symbolsprache des Geistes aufzufassen und damit zugleich zu würdigen. Niemand hat uns zu dieser religionsphilosophischen und religionspsychologischen Wertschätzung des Mythos in den vergangenen Jahrzehnten stärker angehalten als Carl Gustav Jung (1875—1961). In lebenslanger analytischer und historisch-religionsphilosophischer Arbeit ist Jung zu der Auffassung gekommen, daß die Religion ein wesentlicher Teil des auf dem Unbewußten aufruhenden und in ihm wurzelnden Sein des Menschen ist. Der Mythos aber ist nach Jung die sich stets neu aufdrängende Sprach- und Artikulationsform, die das Unbewußte mit dem Bewußtsein verbindet und den Menschen zugleich über die engen Grenzen seines rationalen Bewußtseins hinausträgt, und zwar in Hinsicht auf seine Herkunft und Zukunft jenseits von Raum und Zeit. Ohne den religiösen Mythos werden der einzelne und die menschliche Gemeinschaft krank, weil sie in Hinsicht auf ihre Herkunft und Zukunft ohne Orientierungsmöglichkeiten dastehen. Jung warnt in seinem Erinnerungsbuch nachdrücklich vor der rationalistischen Ausblendung der mythischen Sprache und Dimensionen aus dem menschlichen Dasein:

Die unverzichtbare Kritik an Bultmanns Auslegungsprogramm

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„Der Mensch muß sich darüber ausweisen können, daß er sein möglichstes getan hat, sich eine Auffassung über das Leben nach dem Tode zu bilden, oder sich ein Bild zu machen - und sei es mit dem Eingeständnis seiner Ohnmacht. Wer das nicht tut, hat etwas verloren. Denn was als Fragendes an ihn herantritt, ist uraltes Erbgut der Menschheit, ein Archetypus, reich an geheimem Leben, das sich dem unsrigen hinzufügen möchte, um es ganz zu machen. Die Vernunft steckt uns in viel zu enge Grenzen und fordert uns auf, nur das Bekannte - und auch dies mit Einschränkungen - in bekanntem Rahmen zu leben, so als ob man die wirkliche Ausdehnung des Lebens kennte! Tatsächlich leben wir T a g für Tag weit über die Grenzen unseres Bewußtseins hinaus; ohne unser Wissen lebt das Unbewußte mit. Je mehr die kritische Vernunft vorwaltet, desto ärmer wird das Leben; aber je mehr Unbewußtes, je mehr Mythus wir bewußt zu machen vermögen, desto mehr Leben integrieren wir. Die überschätzte Vernunft hat das mit dem absoluten Staat gemein: unter ihrer Herrschaft verelendet der Einzelne..." (a.a.O., 305). Aus dieser Einsicht h e r a u s widerrät J u n g mit n o c h größerer Intensität als H . J o n a s d e m V e r s u c h , die überlieferten biblischen u n d christlichen M y t h e n einer E n t m y t h o l o g i s i e r u n g zu unterwerfen und d a m i t als E r f a h r u n g s - und S p r a c h p o t e n t i a l stillzulegen. Er begreift sie g a n z im Gegenteil als ein A n g e b o t an den M e n s c h e n , sich der Sinnhaftigkeit und Getragenheit seines L e b e n s bewußt zu w e r d e n . J u n g schreibt in seinen (im E r i n n e r u n g s b u c h a b g e d r u c k t e n ) „Späte(n) Gedanken": „Dem Bedürfnis der mythischen Aussage ist Genüge getan, wenn wir eine Anschauung haben, welche den Sinn menschlicher Existenz im Weltganzen hinlänglich erklärt, eine Anschauung, welche der seelischen Ganzheit, nämlich der Kooperation von Bewußtsein und Unbewußtem, entspringt. Sinnlosigkeit verhindert die Fülle des Lebens und bedeutet darum Krankheit. Sinn macht vieles, vielleicht alles ertragbar. Keine Wissenschaft wird je den Mythus ersetzen, und aus keiner Wissenschaft läßt sich ein Mythus machen. Denn nicht ,Gott' ist ein Mythus, sondern der Mythus ist die Offenbarung eines göttlichen Lebens im Menschen. Nicht wir ersinnen ihn, sondern er spricht zu uns als ein ,Wort Gottes'..." (a.a.O.,343). Wir w e r d e n heute a l s o auf der g a n z e n Linie über B u l t m a n n s existentialen und in g e w i s s e m Sinne a u c h rationalistisch enggeführten A n s a t z h i n a u s g e f ü h r t u n d gehen mit einem wesentlich offeneren, an vielen Stellen mehr v o n F r a g e n als von festen Vorstellungen g e p r ä g t e n Geschichts- und Wirklichkeitsbild an die Interpretation der biblischen T e x t e heran als er. E n t s p r e c h e n d w e r d e n d a n n auch die biblischen T e x t e einschließlich ihrer R e d e von G o t t e s H a n d e l n in der Geschichte, von J e s u S e n d u n g in die Welt, seinem S ü h n t o d , seiner A u f e r w e c k u n g und seiner f ü r alle Welt entscheidenden endzeitlichen A n k u n f t f ü r uns wieder z u m G e g e n s t a n d der B e s i n n u n g u n d z u m Inhalt unserer A n t w o r t auf die g e s a m t g e schichtlichen u n d g r u n d m e n s c h l i c h e n Sinnfragen. D a m i t sind die wichtigsten G r ü n d e g e n a n n t , die uns den unmittelbaren Anschluß an B u l t m a n n s P r o g r a m m und Interpretationssystem verwehren. D i e Grundeinsichten der s o g . „ n e u e n H e r m e n e u t i k " k ö n n e n uns in eben dieser veränderten H a l t u n g b e s t ä r k e n !

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Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

3. Die „neue Hermeneutik

"

Unter der „neuen Hermeneutik" verstehen wir die auf theologischer Seite vor allem von E. Fuchs und G. Ebeling und auf philosophischer Seite von H. G. Gadamer angestrengten Bemühungen, die Hermeneutik im Verfolg des Sprachproblems zu einer fundamentalen, alle Wissens- und Seinsbereiche umschließenden Verstehenslehre zu erheben. Mit der neuen Hermeneutik wird die Frage nach dem Verstehen von Sprache zu der theologischen und philosophischen Grundfrage überhaupt. Hermeneutik ist nach Fuchs und Ebeling im Bereich der Theologie „Sprachlehre des Glaubens", und Gadamer geht aus von dem Doppelgedanken, daß Sein, sofern es verstanden werden kann, Sprache sei und daß dementsprechend eine am Begriff der Sprache orientierte Hermeneutik universalen Charakter haben müsse. Alle drei Male wird der von Bultmann skizzierte Methodenweg der hermeneutisch reflektierten Textinterpretation, der vom Vorverständnis zum eigentlichen Sach- und Befragungsinteresse, von diesem zur Textanalyse und in deren Vollzug dann zum verstehenden Nachvollzug der vorliegenden Formulierungen führt, nicht einfach negiert. Er wird vielmehr anerkannt und erheblich erweitert.

3.1 Die Einübung in die biblischen Texte bei Ernst Fuchs Ernst Fuchs (1903-1983) hat in einer aus seinen literarischen Arbeiten nachträglich gar nicht mehr voll zu ermessenden Art und Weise meine Generation zu einem theologisch-kirchlichen Leben für und mit den biblischen Texten ermutigt. Fuchs ist durch Schlatter dazu veranlaßt worden, vom Jurastudium zur Theologie überzugehen. Kraft seines philosophischen Charisma hat er sich eine deutliche Unabhängigkeit von der Hermeneutik seines Lehrers Bultmann erworben, und in seiner gesamten theologischen Orientierung ist Fuchs immer für Barth und dessen nach-kritische Bibelauslegung offen geblieben. Den reifen Ertrag seiner langen Bemühungen um die theologische Hermeneutik stellt die 1968 erschienene „Marburger Hermeneutik" dar. Fuchs geht hermeneutisch davon aus, daß die biblischen Texte bereits vor aller wissenschaftlichen historischen Bemühung um die Textanalyse ihr eigenes Wort haben und (kirchlich) auch sagen! Ausgangspunkt der Exegese ist also die sich selbst auslegende und Gehör verschaffende hl. Schrift. Fuchs stellt fest: „Bevor man aus historischer Ferne fragt, was diese Texte einst zu sagen hatten, muß m a n . . . des Phänomens inne werden, daß sie eben doch reden, daß sie auch heute noch reden, ob uns das paßt oder nicht. Warum? Weil diese Texte das Leben verändern. Das ist ihre Eigenart, ihre Unabhängigkeit vom Historischen, obwohl das Historische immer mitspielt. Streift man alles Naive ab, so hat die Kirchenlehre etwas Wichtiges richtig gesehen, indem sie von der ganzen Bibel als der ,heiligen' Schrift gesprochen h a t . . . " ( a . a . O . , 3 4 ; kursiv bei Fuchs).

Die „neue Hermeneutik"

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Das zweite, was Fuchs seine Leser und Schüler lehren möchte, ist, mit Hilfe der historisch-analytischen Arbeit dorthin vorzustoßen, wo der Text einst selbst entstand, und zwar als ein Zeugniswort, das argumentieren, trösten und etwas ausrichten will. Fuchs nennt das den Rückgriff auf die „hermeneutische Situation": „ M a n wird zuzugeben haben, daß die wissenschaftliche Diskussion der den Ablauf des Geschehens kontrollierenden Begriffe bedarf und deshalb zuerst darauf bedacht sein muß, etwas sozusagen grammatikalisch ,auf seinen Begriff zu bringen', wie man zu sagen pflegt. Aber nicht weniger klar sollte auch die andere, die hermeneutische Einsicht sein, daß jeder, der Texte auslegt, . . . sich durch den Text selber erst dorthin geleiten lassen muß, wo der Text seinerseits Abläufe oder Gegensätze sieht; wo der Text kämpft und so in ein Geschehen eingreift, weil er sonst gar nicht geschrieben worden w ä r e . . . " (a. a. O., 36/37; kursiv bei Fuchs).

Was die Texte der Bibel zur Sprache bringen wollen, ist Jesus als das Glauben weckende Wort der Liebe Gottes. Dieses Wort ist, wie Fuchs schön formuliert, „wie ein Sakrament, das man nur empfangen kann" ( a . a . O . , 222). Für den Ausleger der hl. Schrift kommt es hermeneutisch darauf an, sich auf den Empfang und die Weitergabe dieses Wortes vorzubereiten. Er muß dabei für die Erfahrung offen sein, daß der von ihm auszulegende Text ihn selbst, den Ausleger, auslegt und bestimmt. Dieser Rollentausch zwischen auszulegendem Objekt ( = Text) und interpretierendem Subjekt ( = Ausleger) macht nach Fuchs das Wesen des für die Bibelauslegung charakteristischen hermeneutischen Zirkels (d.i. die Wechselbeziehung zwischen Text und Ausleger) aus. In einer alle historische Detailarbeit buchstäblich transzendierenden Art und Weise kann Fuchs sagen, die Grundfrage, in die sich der Interpret der Bibel einüben solle, laute: Wozu ruft Gott die Menschen in Jesu Namen auf? Er schreibt: „Unsere Texte entstanden dort, wo Gott gehört wurde, weil sein Wort durch uns weitergesagt werden wollte. Diese Texte sollen und wollen uns in die Richtung einweisen, in welcher wir von Gott jenes Letzte erwarten, das im Glauben unser Erstes sein möchte und sein wird — Gottes Kraft in Jesu Ehre. So frage denn der Prediger, wozu uns Gott im Namen Jesu anfordert. Um dieser Frage willen entstanden seine Texte. Denn darauf geben sie Antwort" (a. a. O., 247).

Die alte Bultmannsche Fragestellung nach den sich aus der Geschichte her erschließenden Möglichkeiten wahren menschlichen Seins ist hier bei Fuchs vertieft und umgekehrt worden zu einer von den Texten selbst her an die Menschen gerichteten Frage Gottes. In diese Frage hat der Interpret einzustimmen; sie hat er mit seinen Mitteln auszuarbeiten und damit der Predigt der biblischen Texte zu dienen. Fuchs versteht die historisch-kritische Arbeit nur als (unentbehrliches!) Hilfsmittel zur Exposition dieser von der Kirche des Wortes aufzunehmenden biblischen Fragestellung. Mit dieser Sicht der Dinge steht er in unverkennbarer Nähe sowohl zu Kähler und Schlatter als auch zu Barth.

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Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

3.2 Gerhard Ebelings theologische

Sprachlehre

Geht es um die Weiterführung und Modifikation der existentialen Fragestellung Bultmanns, dann ist neben E. Fuchs sogleich G. Ebeling zu nennen. Wo die literarischen Äußerungen von Fuchs ζ. T. dunkel bleiben, finden wir bei Ebeling musterhafte Klarheit und Präzision. Dies gilt vor allem für die weit über Fuchs hinausgreifende umfassende Ausarbeitung des Auslegungs- und Verstehensproblems, die Ebelings Arbeiten insgesamt kennzeichnet. Von seinen theologischen Anfängen an hat Ebeling das Traditionsproblem für die theologische Hermeneutik als außerordentlich bedeutsam empfunden, und zwar im Unterschied zu Bultmanns Ansatz. Wie die hl. Schrift angemessen zu interpretieren und zu verstehen ist, das entscheidet sich nach Ebeling nicht einfach zwischen dem Ausleger hier und dem biblischen Text dort, sondern in Ansehung der unsere Gegenwart vielfältig prägenden Christentums- und Kirchengeschichte insgesamt. Bis hinein in seine enzyklopädische Orientierung über das „Studium der Theologie" versteht Ebeling, selbst ursprünglich Kirchenhistoriker, „Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift". Dabei faßt er die Kategorie der „Auslegung" denkbar weit im Sinne einer lebendigen Verantwortung des biblischen Glaubensgrundes in jeweils neuer geschichtlicher Situation: „Wenn durch die Kategorie der Auslegung die Assoziation textbezogener Verkündigung hervorgerufen wird, so nur, um an diesem für die Existenz der Kirche in der Geschichte allerdings wesentlichen Modell die spezifische Weise ihrer Geschichtlichkeit bewußt zu machen: die in der Eigenart christlichen Glaubens liegende Notwendigkeit, kraft der Orientierung an seinem Grunde immer neue geschichtliche Situationen anzugehen und zugleich hervorzurufen in einem — weit verstanden — sprachschöpferischen Geschehen, das seine Identität nur in weitergehender geschichtlicher Verantwortung bewahrt, die Überlieferung nur im lebendigen Fortgang des Überlieferns und sozusagen den Text nur in immer neuer Bewährung am Kontext" (a. a. O., 80).

Arbeitet man mit Ebeling hermeneutisch in Ansehung dieser kirchengeschichtlichen Gesamtperspektive, dann ist der Gefahr des historisch-kritischen Biblizismus, der wir heute in der theologischen Exegese auf Schritt und Tritt begegnen, von vornherein gewehrt. Gewehrt ist aber auch der gegenwärtig nicht minder großen Versuchung, sich ohne Rücksicht auf das Eigengewicht und die eigenständige religiöse Kompetenz der biblischen und christlichen Tradition die Maßstäbe für das gegenwärtig Haltbare und Unhaltbare, Zumutbare und zu Verschweigende einfach aus dem Kontext der Denkgewohnheiten und aktuellen Lebensbedürfnisse der heutigen Gesellschaft heraus diktieren zu lassen! Weil es die dem Evangelium verpflichtete Theologie ein für allemal mit dem Wort zu tun hat, sich aber in der Gegenwart immer deutlicher eine Störung des Einverständnisses mit der christlichen Sprachtradition zeigt, hat sich Ebeling an den Entwurf einer „Theologischen Sprachlehre" gewagt. In ihr berührt er sich eng mit E.Fuchs. Nach Ebeling will wahre christliche Sprache und Verkündigung die Menschen an den Ort versammeln, wo sie in Jesus vor dem Ursprung ihres Lebens stehen. Es geht darum in der Hermeneutik nicht mehr

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nur um das Verstehen vorliegender Texte und Überlieferungen, sondern um die weiterführende Frage, wie es zwischen den Redenden und den Hörenden, zwischen den (biblischen) Texten, ihren Interpreten und den Adressaten der Interpretation zum Einverständnis über die Sache der Texte kommen kann: „ Z u m e i s t p f l e g t m a n S p r a c h l e h r e . . . a u f den einen Pol zu b e s c h r ä n k e n : n ä m l i c h a u f d a s Z u s t a n d e k o m m e n v o n S p r a c h e i m Z u s a m m e n s p i e l v o n S p r a c h e als f o r m a l e m Sys t e m u n d S a c h e als Inhalt g e s p r o c h e n e r S p r a c h e . U n d e n t s p r e c h e n d w i r d H e r m e n e u t i k g e w ö h n l i c h a u f den a n d e r n Pol eingeengt: a u f d a s V e r s t e h e n b e s t i m m t e r S p r a c h e r z e u g nisse u n d die Ü b e r w i n d u n g der d a b e i e n t s t e h e n d e n V e r s t e h e n s s c h w i e r i g k e i t e n . N u n sind a b e r R e d e n u n d H ö r e n K o m p l e m e n t ä r a s p e k t e eines einzigen S a c h v e r h a l t s . R e d e n ist g r u n d s ä t z l i c h a u f H ö r e n a u s g e r i c h t e t u n d H ö r e n a u f R e d e n . R e d e n ist ein V e r n e h m e n lassen u n d H ö r e n ein V e r n e h m e n . D i e K o m p l e m e n t a r i t ä t beider A s p e k t e des einen S p r a c h v o r g a n g s h a t zur F o l g e , d a ß diese e i n a n d e r i m k o n k r e t e n U m g a n g mit der S p r a c h e d u r c h d r i n g e n . In g e w i s s e r W e i s e e n t s p r i n g t R e d e n a u s d e m H ö r e n , a u s e i n e m v o r g ä n g i g e n V e r n e h m e n . U n d nur w e n n der H ö r e n d e sich v e r n e h m e n läßt, w i r d o f f e n b a r , o b er v e r n o m m e n hat. R e d e n d e r u n d H ö r e n d e r verhalten sich nicht e i n f a c h w i e A b s c h u ß r a m p e u n d Z i e l b e r e i c h z u e i n a n d e r , z w i s c h e n d e n e n die S p r a c h e ihre F l u g b a h n zieht u n d I n f o r m a t i o n e n t r a n s p o r t i e r t . In völliger U m s t ü l p u n g dieser m e c h a n i s c h e n V o r s t e l l u n g s w e i s e m ü ß t e m a n eher s a g e n : D i e S p r a c h e v e r s a m m e l t R e d e n d e n u n d H ö r e n d e n a m selben O r t . Sie b r i n g t sie z u s a m m e n o d e r sollte es w e n i g s t e n s tun. Sie strebt ein V e r s t e h e n a n , in d e m der R e d e n d e u n d der H ö r e n d e nicht b l o ß dies u n d d a s m i t e i n a n d e r teilen, s o n d e r n , g e w i ß vermittelt d u r c h s o l c h e partielle V e r s t ä n d i g u n g , e i n a n d e r verstehen lernen u n d s o letztlich z u m E i n v e r s t ä n d n i s , ins E i n v e r n e h m e n g e l a n g e n " ( a . a . O . , 1 9 7 / 198).

Daß mit dieser Sicht der Dinge die Bultmanns Denken in Bewegung haltende hermeneutische Zentralfrage nach dem Verhältnis von Glauben und Verstehen in einen sehr weiten Horizont gestellt wird, dürfte einleuchten. Die Problematik des Verstehens ist jetzt umfangen von der Frage nach einem ursprünglichen Vernehmen, und statt der Befreiung des Wortes Gottes von den Bindungen und Vorstellungen einer für uns versunkenen, biblischen Zeit geht es nach Ebeling um die Eröffnung der bleibend bedeutsamen biblisch-christlichen Sprachtradition für die Verstehensmöglichkeiten heute und umgekehrt um den Anschluß der heute und hier Hörenden (und Theologie Treibenden) an die christliche Denk- und Sprachtradition. Diese doppelte Modifikation wird noch dadurch verstärkt, daß sich Ebeling wie kein zweiter Theologe der Gegenwart darum bemüht, die Verbindung zwischen christlichem Glauben und gewissensbezogener Lebenserfahrung nicht abreißen zu lassen, sondern ihre Bedeutung neu bewußt zu machen. Der Bezug auf Erfahrung steht schon dort zur Debatte, wo die Exegese zusammen mit den biblischen Textaussagen auch die den Texten zugrundeliegende Erfahrung für das Verständnis der Nachwelt aufzuschlüsseln hat. Dann läßt sich nach Ebeling die gesamte Kirchengeschichte als ein Erfahrungsschatz begreifen, der eine über alle begrifflichen Abstraktionen weit hinausgehende Anschauung dessen gewährt, was Kirche und Glaube waren und sind. Der gemeinsame und u. U. auch konkurrierende Erfahrungsbezug steht drittens wieder in der (kritischen) Begegnung von Theologie und Humanwissenschaften zur Diskussion. Schließlich

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Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

aber werden die christlichen Glaubensinhalte nach Ebelings Konzeption erst dann dogmatisch verständlich ausgelegt, wenn sie wirklich im Kontext gegenwärtiger Lebens- und Wirklichkeitserfahrung dargestellt werden. Die hermeneutische Verantwortung der Theologie ist unter diesen Umständen denkbar umfassend. „Die Theologie ist auf das vor ihr und unabhängig von ihr in Gang befindliche Überlieferungsgeschehen christlichen Glaubens bezogen und trägt dafür Verantwortung, daß es seiner eigenen Intention nach identisch bleibt, indem es und dadurch daß es in immer neue Situationen und Sprachräume eingeht. Deshalb ist ihr Geschäft im ganzen hermeneutischer Art. Es stellt jedoch eine Verkürzung und Verzerrung des hermeneutischen Charakters der Theologie dar, wenn die Vorstellung dominiert, als gehe es allein um den Transfer eines Textes aus der Vergangenheit in die Gegenwart und um die Probleme, die sich dabei durch den Kontextwechsel ergeben. Man pflegt dann mit Lessing von dem ,garstigen breiten Graben' zu reden, der dabei zu überwinden sei und von dem Lessing selbst meinte, nicht über ihn hinüberspringen zu können. Doch wird dabei das Lessing-Problem konstant mißverstanden. Nicht die Differenz von Vergangenheit und Gegenwart stellt für ihn den unüberbrückbaren Graben dar, sondern, wie er sich ausdrückte, die Differenz zwischen zufälliger Geschichtswahrheit und ewiger Vernunftwahrheit, mit anderen Worten: zwischen historischer Feststellung und gültiger Wahrheit, die von herzbewegender, gewißmachender Kraft ist. Die Berücksichtigung dieses Problems lenkt die hermeneutische Besinnung auf den Zusammenhang von Sprache und Erfahrung, so nämlich, daß die überlieferte Sprache auf die darin ausgesprochene und angesprochene Erfahrung hin interpretiert wird. Damit erhält die hermeneutische Fragestellung eine Weite, die das, was in historische und systematische Theologie auseinanderzubrechen droht, auf seine Einheit hin ausrichtet" (Studium der Theologie, 172/73). G. Ebelings 1 9 5 0 entwickelte Sicht der „Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche" bedarf, wie wir bereits gesehen haben (s.o. S. 3 0 ff.), der Modifikation; auch müssen die dieser Methode immanenten Prinzipien kritischer ans Licht gehoben werden, als dies bei ihm der Fall ist. Seine hermeneutische Arbeit insgesamt aber bleibt eine Orientierungshilfe ersten Ranges für eine hermeneutische Theologie, die bei Bultmann nicht stehenbleiben kann und darf.

3.3

Hans Georg Gadamers

Beitrag zur theologischen

Hermeneutik

Hans Georg Gadamer ist Schüler Martin Heideggers und mit der hermeneutischen Gesprächssituation in der protestantischen Theologie bestens vertraut. Wir haben oben schon angemerkt, daß er in seinem Hauptwerk über „Wahrheit und M e t h o d e " ( 1 9 6 0 ; 4 1 9 7 5 ) zu einer universalen Hermeneutik vorstößt, die soweit reicht, als das sprachlich gefaßte Sein zum Verstehen und Verarbeiten einlädt. Jetzt ist nur auf den Doppelaspekt einzugehen, der Gadamers Arbeit für die interpretierende Theologie wichtig macht. Es ist Gadamers These, daß Verstehen stets einen Prozeß von Horizontverschmelzung darstellt und seinem Wesen nach zugleich ein wirkungsgeschichtlicher Vorgang ist.

Die „neue Hermeneutik"

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Mit der Forderung nach einem „wirkungsgeschichtlichen Bewußtsein" will Gadamer die Naivität eines Historismus durchbrechen, der meint, ohne Reflexion auf die eigene Ausgangssituation einfach auf die Suche nach dem historischen Objekt gehen und dieses in Augenschein nehmen zu können. Diese Naivität weicht nach Gadamer in dem Maße, als sich der Interpret eines geschichtlichen Werkes des Umstandes bewußt wird, daß er selbst in einer von vielfältigen Umständen und Einflüssen geprägten Verstehenssituation steht. Gleichzeitig muß er sich verdeutlichen, daß von dem Werk, das er untersuchen will, schon eine Vielzahl von Wirkungen ausgegangen sind, die dieses Werk als eine geschichtliche Uberlieferung von eigener Autorität erweisen. Unleugbar hat ζ. B. ein biblisches Buch wie der Römerbrief des Apostels Paulus, schon ehe wir Heutigen an seine Lektüre und historische Untersuchung herangehen, eine die abendländische Christenheit tief beeinflussende Wirkung gehabt, und umgekehrt ist unser gegenwärtiges Interesse am Römerbrief als der Hauptschrift des Paulus durch diese Wirkungsgeschichte entscheidend mitgeprägt. Gadamer fordert den Exegeten auf, sich dieser Umstände bewußt zu werden. Damit ist nicht gemeint, „ . . . d a ß m a n die W i r k u n g s g e s c h i c h t e als eine neue s e l b s t ä n d i g e H i l f s d i s z i p l i n d e r G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n e n t w i c k e l n solle, s o n d e r n d a ß m a n sich selber richtiger verstehen lerne u n d a n e r k e n n e , d a ß in a l l e m V e r s t e h e n , o b m a n sich d e s s e n a u s d r ü c k l i c h b e w u ß t ist o d e r nicht, die W i r k u n g dieser W i r k u n g s g e s c h i c h t e a m W e r k e ist. W o sie in d e r N a i v i t ä t des M e t h o d e n g l a u b e n s verleugnet w i r d , k a n n ü b r i g e n s a u c h eine t a t s ä c h l i c h e D e f o r m a t i o n der E r k e n n t n i s die F o l g e sein. W i r k e n n e n sie a u s der W i s s e n s c h a f t s g e schichte als die u n w i d e r l e g l i c h e B e w e i s f ü h r u n g f ü r e t w a s evident F a l s c h e s . A b e r a u f s G a n z e g e s e h e n , h ä n g t die M a c h t der W i r k u n g s g e s c h i c h t e nicht v o n ihrer A n e r k e n n u n g a b . D a s g e r a d e ist die M a c h t d e r G e s c h i c h t e ü b e r d a s endliche m e n s c h l i c h e B e w u ß t s e i n , d a ß sie sich a u c h d o r t d u r c h s e t z t , w o m a n i m G l a u b e n a n die M e t h o d e die eigene G e s c h i c h t l i c h k e i t verleugnet. D i e F o r d e r u n g , sich dieser W i r k u n g s g e s c h i c h t e b e w u ß t zu w e r d e n , h a t g e r a d e d a r i n ihre D r i n g l i c h k e i t — sie ist eine n o t w e n d i g e F o r d e r u n g f ü r d a s w i s s e n s c h a f t l i c h e B e w u ß t s e i n . . . " ( W a h r h e i t u. M e t h o d e 4 , 2 8 5 ) .

Ich halte diesen Hinweis Gadamers auf die Wirkungsgeschichte und ihre Bedeutung für wahres geschichtliches Verstehen nicht zuletzt deshalb für so bedeutsam, weil er uns, die wir als Protestanten nur allzu leicht geneigt sind, der uns tragenden kirchlichen Tradition aus theologischen Gründen keine Beachtung zu schenken, darauf aufmerksam macht, daß diese Tradition dennoch über uns und unsere Urteile Macht hat, und zwar selbst dann, wenn wir vorgeben, „ n u r " historisch-kritisch zu urteilen. Eben diese Position enthüllt Gadamer als eine interpretatorische Naivität, die wir hinter uns zu lassen haben! Übt man sich in wirkungsgeschichtliche Reflexionen ein, erkennt man, daß zum Verstehen eines historischen Gegenstandes das Bemühen hinzugehört, den Horizont der Gegenwart zu überschreiten und den dem zu untersuchenden Werk eigenen „historischen Horizont zu gewinnen, damit sich das, was man verstehen will, in seinen wahren Maßen darstellt. Wer es unterläßt, derart sich in den historischen Horizont zu versetzen, aus dem die Überlieferung spricht",

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Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

fügt Gadamer hinzu, der „wird die Bedeutung der Überlieferungsinhalte mißverstehen" ( a . a . O . , 286). Der Interpret muß also die Fähigkeit entwickeln, im Bewußtsein seiner eigenen hermeneutischen Position und Situation das von ihm zu untersuchende Werk an dessen historische Ursprungssituation zurückzugeben, um sich so des Anspruches und der Andersartigkeit der zu interpretierenden Überlieferung ausdrücklich bewußt zu werden. Verstehen setzt die bewußte Differenzierung des historischen Horizontes von dem der Gegenwart voraus. „Ein wahrhaft historisches Bewußtsein sieht die eigene Gegenwart immer mit, und zwar so, daß es sich selbst wie das geschichtliche Andere in den richtigen Verhältnissen sieht. Es bedarf gewiß einer eigenen Anstrengung, sich historischen Horizont zu erwerben. Wir sind immer von dem uns Nächsten hoffend und fürchtend eingenommen und treten in solcher Voreingenommenheit dem Zeugnis der Vergangenheit entgegen. Daher ist es eine beständige Aufgabe, die voreilige Angleichung der Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen zu hemmen. Nur dann wird man die Überlieferung so hören, wie sie sich in ihrem eigenen anderen Sinne hörbar zu machen vermag" (a. a. O., 289).

Der hier von Gadamer angesprochene Umstand ist gerade für die biblische Exegese von hoher Bedeutung. Wir haben uns z.B. daran gewöhnt, das biblische Weltbild einfach als vorwissenschaftliche Naivität und die alttestamentlich-jüdische Sühnopfertradition als primitives magisches Ritual abzutun. Dementsprechend hilflos stehen wir heute vor den Schöpfungs- und Sühnetexten der Bibel. Diese Hilflosigkeit ändert sich erst dann, wenn wir den historischen Erfahrungshorizont, in dem die genannten Texte leben, wieder ausarbeiten und es wagen, von ihm aus in einen kritischen Dialog mit unserem gegenwärtigen Denken einzutreten. Daß zu dieser Ausarbeitung ein beträchtliches M a ß von historischer Arbeit an den Texten und ihrer Welt erforderlich ist, sei ausdrücklich angemerkt. Diese historische Anstrengung ist in dem Maße unerläßlich, als die Kirchen sich mit Hilfe der biblischen Exegese wirklich dem Ursprungszeugnis der hl. Schrift zuwenden und an ihm orientieren wollen. Nicht minder wichtig ist es aber, Ergebnis und Gewinn zu notieren, die aus der Unterscheidung des Gegenwartshorizonts von dem historischen Horizont und dessen bewußter Ausarbeitung erwachsen. Als Ergebnis nennt Gadamer die Erkenntnis, daß Verstehen die Form einer Verschmelzung beider Horizonte hat, und als Gewinn notiert er die Erweiterung und Modifikation des anfänglich festgefügt erscheinenden Gegenwartshorizontes. Gadamer schreibt: „ . . . Wir waren davon ausgegangen, daß eine hermeneutische Situation durch die Vorurteile bestimmt wird, die wir mitbringen. Insofern bilden sie den Horizont einer Gegenwart, denn sie stellen das dar, über das hinaus man nicht zu sehen vermag. N u n gilt es aber, den Irrtum fernzuhalten, als wäre es ein fester Bestand von Meinungen und Wertungen, die den Horizont der Gegenwart bestimmen und begrenzen, und als höbe sich die Andersheit der Vergangenheit dagegen wie gegen einen festen Grund ab. - In Wahrheit ist der Horizont der Gegenwart in steter Bildung begriffen, sofern wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müssen. Zu solcher Erprobung gehört nicht zuletzt die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen. Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt,

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die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte. Wir kennen die Kraft solcher Verschmelzung vor allem aus älteren Zeiten und ihrem naiven Verhalten zu sich selbst und zu ihrer Herkunft. Im Walten der Tradition findet ständig solche Verschmelzung statt. Denn dort wächst Altes und Neues immer wieder zu lebendiger Geltung zusammen, ohne daß sich überhaupt das eine oder andere ausdrücklich voneinander abheben" (a.a.O., 289f.; Hervorhebung bei Gadamer).

W e n n G a d a m e r heute, anders als es in den Zeiten der „ n a i v e n " Vergangenheit der Fall w a r , zu einer b e w u ß t e n Horizontverschmelzung a u f f o r d e r t u n d sich von ihr eine Erweiterung des Gegenwartshorizontes durch geschichtliches Verstehen verspricht, d a n n k o m m t in dieser F o r d e r u n g das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein, mit dem der Interpret arbeiten soll, zu seiner Klarheit u n d zum Ziel. Die N u t z a n w e n d u n g der wirkungsgeschichtlich reflektierten u n d sich mit der Ausarbeitung des historischen H o r i z o n t e s beschäftigenden Traditionsauslegung liegt in der G e g e n w a r t , die im Verlauf der Interpretationsarbeit ihre Bedingtheit e r k e n n t u n d im Dialog mit der T r a d i t i o n ihre eigene Entfaltungsmöglichkeit e r f ä h r t . Theologisch gewendet heißt das, d a ß der N u t z e n einer wirkungsgeschichtlich reflektierten u n d historisch wirklich u m den Eigenhorizont des biblischen Schrifttums b e m ü h t e n Schriftauslegung darin liegt, den Christen in der G e g e n w a r t zur Klärung u n d Profilierung ihres gegenwärtigen Standortes u n d ihrer christlichen A u f g a b e in der G e g e n w a r t zu verhelfen. Ein letztes. Im N a c h w o r t zur dritten (und vierten) Auflage von „ W a h r h e i t u n d M e t h o d e " b e t o n t G a d a m e r in Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, d a ß sich wirkliches Verständnis von Überlieferung n u r einstellen k a n n auf der Basis eines Einverständnisses mit der T r a d i t i o n . D a es sich bei dieser Einsicht noch einmal u m einen m. E. auch f ü r den Bereich der gegenwärtigen (exegetischen) Theologie äußerst b e d e u t s a m e n Sachverhalt handelt, sei G a d a m e r wieder wörtlich zitiert: „.. .es (ist) in der Tat richtig und bleibt in meinen Augen eine wirkliche Einsicht, daß Verständigung nur auf dem Boden eines ursprünglichen Einverständnisses gelingen kann und daß die Aufgabe des Verstehens und der Auslegung nicht so beschrieben werden darf, als hätte Hermeneutik die blanke Unverständlichkeit eines überlieferten Textes zu überwinden oder gar primär die Beirrung durch Mißverstand... Alle sprachliche Verständigung setzt nicht nur ein Einverständnis über die Wortbedeutungen und die Regeln der gesprochenen Sprache voraus. Vielmehr bleibt auch im Hinblick auf die ,Sachen' in allem, was sinnvoll diskutiert werden kann, vieles unumstritten" (a.a.O., 529).

Auf den E i n w a n d , mit dieser Sicht w e r d e die kritische D u r c h d r i n g u n g der Uberlieferung u n d die E m a n z i p a t i o n von ihr behindert, entgegnet G a d a m e r , die hermeneutische Praxis unterscheide sich von der kritischen M e t h o d e d a d u r c h , „ d a ß in ihr stets ein wirkungsgeschichtlicher F a k t o r das Bewußtsein des Verstehenden m i t d e t e r m i n i e r t " , u n d er f ä h r t fort: „Ich leugne gar nicht, daß, wenn man verstehen will, man bestrebt sein muß, sich von den eigenen Sachmeinungen Abstand zu verschaffen. Wer verstehen will, braucht das, was er versteht, nicht zu bejahen. Und doch meine ich, daß uns die hermeneutische Erfahrung lehrt, daß solche Anstrengung immer nur in begrenztem Umfang wirksam

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Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

wird. Das, was man versteht, spricht stets auch für sich selbst. Darauf beruht der ganze Reichtum des hermeneutischen Universums, das allem Verständlichen geöffnet ist. Indem es sich in seiner ganzen Spielweite ins Spiel bringt, zwingt es den Verstehenden, seine eigenen Vorurteile aufs Spiel zu setzen. Das sind Reflexionsgewinne, die aus Praxis und allein aus Praxis einem zuwachsen." (a. a. O., 530)

Das Verstehen von Überlieferung wird m. a.W. nicht nur vom Interpreten, sondern auch wesentlich von der Überlieferung und ihrer Ausstrahlung her konstituiert, und es setzt den unbestrittenen Horizont gemeinsamer Sprachtradition voraus, in dem immer nur Einzelheiten und nicht das Ganze umstritten sind. Für den Bereich der biblischen Hermeneutik sind diese Einsichten m. E. von erheblicher Bedeutung. So wenig sie sich der Kritik an ihren Texten zu verschließen braucht, so sehr gilt für sie, daß sich die bejahte Texttradition elementarer und wegweisender erschließt, als Aussagen, denen man von vornherein distanziert gegenübersteht. Das Verständnis der Bibel wird außerdem durch die kirchliche Auslegungstradition, in der die Exegese steht, nicht behindert, sondern geprägt und bereichert. Schlatters Hinweis auf den Glauben als Verständnishilfe, Barths Plädoyer für ein Treueverhältnis des Interpreten gegenüber seinen Texten und die Aufforderung von Fuchs, den Texten als Empfangende gegenüberzutreten, sind demnach keine hermeneutischen Fehlgriffe! Gadamers wirkungsgeschichtlich reflektierte, auf dem Einverständnis mit der großen sprachlich fixierten Tradition der Menschheitsgeschichte basierende Hermeneutik ist deshalb von so großer Bedeutung für die Theologie, weil sie uns dazu anhält, versunkene Dimensionen kirchlichen Textverständnisses neu zu reflektieren, und uns davor zurückhält, einem kritizistischen Wissenschaftsverständnis zu folgen, welches uns die Kommunikation mit der biblischen Sprachgeschichte verwehrt. Damit sind die Gründe genannt, die die „neue Hermeneutik" von E. Fuchs, G. Ebeling und vor allem H. G. Gadamer für die hermeneutische Weiterarbeit in der Theologie der Gegenwart bedeutsam machen. Angesichts des Weges, den wir durch die neue Hermeneutik geführt werden, gibt es kein Zurück zur existentialen Engführung Bultmanns. Gleichzeitig zeichnet sich bei Gadamer selbst schon ein weiterer hermeneutischer Reflexionsschritt ab, der über das bisher Gesagte noch hinausführt. In dem genannten „Nachwort" zur dritten (und vierten) Auflage von „Wahrheit und Methode" berichtet Gadamer, ihn beschäftigten zunehmend „die besonderen hermeneutischen Probleme eminenter Texte" (a. a. O., 538). Solche Texte in Gestalt von dichterischen Kunstwerken und ihnen gleichzuordnender Literatur stehen zwar der historischen Analyse offen, haben aber aus sich selbst heraus eine sprachliche Qualität und ein inhaltliches Gewicht, das weit über ihre historische Ursprungssituation hinausweist. Statt nur aus einer spezifischen historischen Situation heraus verstehbar zu werden und in gewissem Sinne auch wieder in ihr aufzugehen, nehmen solche Texte aus eigener Autorität eine Setzung von Sinn vor, der sich der Interpret beugen muß. Denken wir an biblische Texte wie ζ. B. den Schöpfungsbericht, den Dekalog, die Bergpredigt, Jesu Gleichnisse oder den Römerbrief, dann

Philosophische und theologische Hermeneutik nach Paul Ricoeur

215

haben wir Modelle genug vor uns für das, was Gadamer meint. Der (biblische) Text interessiert hier als sich selbst auslegende und sinnstiftende Einheit. Daß damit nochmals ein Schritt über Bultmann hinaus getan wird, zeigt sich am eindeutigsten an der Kritik, die P. Ricceur an Bultmanns Hermeneutik übt.

4. Philosophische 4.1 Ricoeurs

und theologische

Hermeneutik

nach Paul Ricoeur

Bultmannkritik

Im Vorwort zur französischen Ausgabe von Bultmanns Jesus-Buch und seinen Vorlesungen über „Jesus Christus und die Mythologie" erhebt Ricceur bei aller Anerkennung zwei Einwände gegen Bultmanns hermeneutisches Programm. Der erste lautet, daß Bultmann bei seiner Entmythologisierung zwar die christliche Rede von einer „Tat Gottes", vom „Wort Gottes" und von der „Liebe Gottes" zulasse, aber jegliche inhaltlich-objektivierende Explikation des Wortes als unfromme Absicherung des Glaubens verwerfe; die Frage nach dem Sinn von Sprache werde von Bultmann zu rasch außer acht gelassen. „Bultmann glaubt anscheinend, eine Sprache, die nicht mehr ,objektiviert', sei makellos rein. Aber inwiefern ist sie dann noch Sprache? Und was bedeutet sie?" (a. a. O., 192) Ricceur befürchtet, daß - wollte man mit Bultmann auf diese Anfrage antworten, angesichts der Rede vom Wort Gottes und seiner Liebe gäbe es überhaupt nichts mehr weiteres zu denken und zu sagen - eben „das sacrificium intellectus, das man beim Mythos zurückgewiesen hat, ...nun im Glauben vollzogen (wird). Außerdem kann das Kerygma nicht mehr der Ursprung der Entmythologisierung sein", fügt Ricoeur hinzu, „wenn es gar nicht zu denken gibt, wenn es kein Verständnis des Glaubens entwickelt" (a.a.O., 193). Hand in Hand mit diesem ersten Vorwurf geht bei Ricceur ein zweiter. Er betrifft nicht nur Bultmann allein, sondern eine Grundtendenz gegenwärtiger historischkritischer Exegese überhaupt. Bultmann läßt nach Ricoeur nicht nur die Frage nach der Sinnhaftigkeit und dem Denkgehalt der Glaubenssprache zu sehr außer acht, sondern er verläßt auch viel zu schnell die Ebene des biblischen Textes und erspart sich eine Klärung von dessen objektiver Sinnhaftigkeit. „Eine Theorie der Interpretation, die sofort auf das Moment der Entscheidung zusteuert, geht zu schnell voran; sie überspringt das Moment des Sinns, das die Stufe des Objektiven... darstellt. Es gibt keine Exegese ohne einen,Sinngehalt'; dieser liegt im Text und nicht im Urheber des Textes begründet" (a. a. O., 194). Statt also bei einer neutestamentlichen Textauslegung sogleich zurückzufragen: Was für Tatsachen bezeugt der Text? oder: Worauf zielen Paulus, Johannes oder auch die österliche Gemeinde bei diesen Briefpassagen oder Bekenntnissen ab? und von der Antwort auf diese Hinterfragung der Texte aus sofort zur Applikation auf den gegenwärtigen Hörer und Leser des Textes überzuspringen, fordert Ricoeur den Exegeten auf, möglichst lange bei der Frage nach dem Sinngehalt der Texte zu verweilen. „Die Aufgabe der Interpretation, wenn sie

216

Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

auf einen bestimmten Text angewandt wird, ist es nicht, ,den Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat', wie Schleiermacher sagt, sondern sich dem unterzuordnen, was der Text sagt, was er will und sagen will" (a. a. O., 194).

4.2 Die Bedeutung überlieferter Texte Warum soll die Interpretation ihre Hauptanstrengung auf die Erhellung des Textsinnes verwenden? Ricoeur antwortet mit zwei Thesen. Die gegenwärtige allgemeine Krise der (philosophischen) Metaphysik nötigt zu dem Versuch, von der Analyse der Uberlieferung aus die Dimensionen und den Sinngehalt von Transzendenz und Metaphysik zurückzugewinnen und neu auszuloten, die der Gegenwart verlorengegangen sind. Statt sich also auf ein vorgängiges Einverständnis dessen, was Transzendenz und das Sein jenseits von Raum und Zeit sind, abstützen zu können, muß in der Gegenwart überhaupt erst wieder ausgemacht werden, was Transzendenz und ewiges Sein sind, und zwar durch eine genaue Analyse der Sinnabsichten der überlieferten Rede von Transzendenz und überweltlichem Sein. Die Theologie ist von dieser Denk- und Interpretationsaufgabe nicht ausgeschlossen, sondern sogar in eminentem M a ß e an ihr beteiligt. Die zweite These Ricceurs, mit der er die erhöhte Bedeutung eingehender Textanalyse und -interpretation begründet, setzt die erste voraus und legt den Akzent auf das hermeneutisch überaus interessante Phänomen von schriftgewordenen Texten selbst. Wie er vor allem in seinem glänzenden Essay über „Philosophische und theologische Hermeneutik" ausführt, besteht das Charakteristikum eines schriftgewordenen Textes darin, daß der Text mit seiner Fixierung ein von seinem Autor ablösbares, autonomes und in sich sinnhaltiges Sprachgebilde wird, das seine eigene Wirkung entfaltet. Eben dadurch ist der Text wesenhaft von der mündlichen Rede unterschieden, die in bestimmter Situation einem bestimmten Hörerkreis gilt und vom Sprecher gezielt eingesetzt wird. Im Text versammelt und verselbständigt sich gleichzeitig, was zu sagen war, und es gibt für den Interpreten kein Zurück zum Autor oder kein Vorwärts zum Leser und Hörer ohne genaue Analyse des ihm wirklich objektiv vorliegenden, in bestimmte sprachliche Strukturen „gefaßten" Textes. Der Text bildet eine eigenständige, sprachlich fixierte Autorität.

4.3 Das Verständnis vorgegebener Texte Was folgt aus dieser Sicht des Textes für die Interpretation? Die am T e x t orientierte Interpretation darf sich nach Ricceur nicht hemmen lassen durch den in der Hermeneutik eingebürgerten falschen Gegensatz von „Erklären" und „Verstehen"; als gäbe es das Phänomen der „Erklärung" nur im naturwissenschaftlichen und das Phänomen des „Verstehens" nur im geisteswissenschaftli-

Philosophische und theologische Hermeneutik nach Paul Ricoeur

217

chen Bereich. Der Text hat kraft seiner sprachlichen Struktur einen Charakter, der zugleich genaue philologische Erklärung und eingehendes Verständnis fordert. Auch der Gegensatz von „objektiv" und „subjektiv" ist dem Text nicht angemessen, weil er ein in sich gegründetes, „objektiv" vorliegendes Sprachgebilde ist, das den Leser zum Verstehen seiner selbst herausfordert. Die Interpretation hat also die falschen und dem Text unangemessenen Alternativen von Texterklärung und Textverständnis, von objektiver und subjektiver Sicht Alternativen, die nach Ricoeur auch bei Bultmann und Gadamer noch vorherrschen — hinter sich zu lassen. Die Interpretation hat dann ferner die eigene Sprach- und Denkwelt des Textes eingehend zu entfalten: „Ein Text ist zu interpretieren als ein Entwurf von Welt, die ich bewohnen kann, um eine meiner wesenhaften Möglichkeiten darein zu entwerfen. Genau dies nenne ich Textwelt, die diesem einzigen Text eigene Welt" (a.a.O., 32; kursiv bei Ricoeur). Statt also sogleich (von der modernen Denksituation ausgehend) zu fragen, inwiefern das, was ein Text sagt, heute noch gelten kann, fordert Ricoeur auf, einen Text so zu interpretieren, daß er in seiner Eigenart erscheint als ein „Entwurf des eigensten Seinkönnens", der gegenüber dem Interpreten einen Vorsprung an Sinnhaftigkeit besitzt. Interpretiert man Texte in dieser Weise, hat dies zur Folge, daß sich das Textverständnis vor dem Forum der Texte und nicht jenseits oder hinter ihnen ausbildet. „Was ich mir schließlich aneigne, ist ein Entwurf von Welt; dieser findet sich nicht hinter dem Text als dessen verborgene Intention, sondern vor dem Text als das, was das Werk entfaltet, aufdeckt und enthüllt. Daher heißt Verstehen Sich - Verstehen vor dem Text. Es heißt nicht, dem Text die eigene begrenzte Fähigkeit des Verstehens aufzuzwingen, sondern sich dem Text auszusetzen und von ihm ein erweitertes Selbst zu gewinnen, einen Existenzentwurf als wirklich angeeignete Entsprechung des Weltentwurfs. Nicht das Subjekt konstituiert also das Verstehen, sondern - so wäre wohl richtiger zu sagendas Selbst wird durch die ,Sache' des Textes konstituiert" (a.a.O., 3 3 ; kursiv bei Ricoeur).

Die Wendung, die die Hermeneutik mit Ricoeur zu nehmen beginnt, ist also eine Zuwendung zu den Texten als vorgegebenen, aus sich selbst heraus sinnstiftenden fixierten Spracheinheiten. Angesichts des allenthalben drohenden Sinnverlustes soll die Hermeneutik zu einer Interpretation von Texten erziehen, aus denen heraus ein wegweisend neues Verständnis von Welt und Menschsein heute möglich wird. Ricoeur schafft damit philosophischerseits Raum für die nach-kritische, geschichtlich reflektierte Textauslegung, die Schlatter, Barth und Fuchs gefordert und praktiziert haben.

4.4 Theologisches

Schriftverständnis

Die Folgerungen für den Bereich der biblischen Textinterpretation zieht Ricoeur selbst. Es sind vier: Die biblische Exegese soll erstens keiner Lehre vom

218

Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

Wort folgen oder eine solche selbst entwerfen, die sich nicht an den schriftgewordenen Texten der Bibel ausweisen läßt. Sie muß zweitens die verschiedenen in der Bibel vorliegenden literarischen Textsorten, d. h. die Geschichtserzählungen, Gleichnisse, Bekenntnisse, Hymnen usw. als polyphone Elemente der ihr vorgegebenen religiösen Sprache akzeptieren, also den Gesamtentwurf der im biblischen Kanon bewahrten Texttraditionen achten statt sich kritisch anzumaßen, nur einen biblischen Sprachmodus, ζ. B. den des Bekenntnisses, als „legitim" herauszustellen und alle anderen abzuwerten. Die biblische Textinterpretation soll sich drittens ganz der Aufgabe widmen, die den biblischen Texten eigene Textwelt zu entfalten: „ . . . erste Aufgabe der Hermeneutik ist es nicht, eine Entscheidung des Lesers hervorzurufen, sondern die Seinswelt sich entfalten zu lassen, die die ,Sache' des biblischen Textes ist" ( a . a . O . , 4 0 ) . Der Respekt vor der (dem modernen Leser und Hörer mit einem Sinn- und Seinsvorsprung gegenüberstehenden!) biblischen Gesamtüberlieferung soll die theologische Hermeneutik dazu veranlassen, wirklich die ganze biblische Textwelt ohne Abstriche nachzuzeichnen. Da diese Forderung angesichts der allenthalben üblichen Bibelkritik außerordentlich wichtig ist, sei Ricceur noch einmal ausdrücklich zitiert: „ D i e . . . Anwendung der Kategorie der Textwelt auf die Theologie besagt: weil es sich dabei um Welt im Sinne eines umfassenden Horizonts, einer Totalität von Bedeutungen handelt, gibt es kein prinzipielles Vorrecht für eine Auslegung, die insbesondere dem einzelnen gelten würde, wie es auch keinen allgemeinen Vorrang für den Personalismus der Ich-Du-Beziehung in der Beziehung des Menschen zu Gott gibt. Die Welt der Bibel hat kosmische Aspekte - sie ist Schöpfung; sie hat soziale Aspekte - sie handelt von einem Volk; sie hat historisch-kulturelle Aspekte - sie redet von Israel und der Gottesherrschaft; und sie hat personale Aspekte. Sie betrifft den Menschen in den vielfältigen kosmologischen und weltgeschichtlichen Dimensionen seines Daseins ebenso wie in seinen anthropologischen, ethischen und personalen Dimensionen" ( a . a . O . , 4 1 ) .

Zuletzt hebt Ricceur hervor, daß die biblische Exegese, die den Menschen angesichts der biblischen Textwelt zum Verständnis seiner selbst und seiner Welt führen will, „beginnt und endet im Wagnis einer Antwort, die kein Kommentar hervorbringt noch ausschöpft", nämlich im Wagnis des Glaubens (a. a. O., 4 3 ) . So sehr der Glaube auf Sprache angewiesen ist, so wenig erschöpft er sich in sprachlichen Fixierungen; es handelt sich beim Glauben vielmehr um eine übersprachliche Lebensbewegung des unbedingten Vertrauens, die früher als die hermeneutischen Bemühungen beginnt und noch nicht endet, wenn diese ausgeschöpft sind. Auch für Ricceur ist der Glaube also (in Übereinstimmung mit A. Schlatter, mit K. Barth, E. Fuchs und H. G. Gadamer) keine Bedrohung der Wissenschaftlichkeit und Kommunikabilität einer methodisch kontrollierten, aber den Texten hingegebenen Interpretation, vielmehr deren sinnhafter Bezugsrahmen.

Hermeneutische Konsequenzen der (Text-) Linguistik

5. Hermeneutische

Konsequenzen

der

219

(Text-)Linguistik

P. Ricoeurs Beiträge zur Hermeneutik sind aus intensiver Beschäftigung und Auseinandersetzung mit der von Ferdinand de Saussure (1857-1913) begründeten strukturalistischen Sprachwissenschaft, der Linguistik, herausgewachsen. Ricceur hat Bultmann entgegengehalten: „Heute ist zweifellos der Nachdruck weniger auf das Verstehen - gemeint ist damit eine zu ausschließliche Ausrichtung auf die existentielle Entscheidung - als vielmehr auf die Betrachtung des Problems der Sprache und der Interpretation in ihrem vollen Umfang zu legen" (a. a. O., 193; kursiv im Original). Diese Feststellung erklärt sich sogleich, wenn wir uns den hermeneutischen Konsequenzen der Linguistik zuwenden. In Deutschland bis über die Jahrhundertmitte hinaus über Gebühr vernachlässigt, hat die Linguistik nun auch hierzulande eine stürmische Entwicklung angetreten, die noch längst nicht abgeschlossen ist. Es stehen sich eine große Zahl von Ansätzen und Theorien gegenüber, die jeweils auch ihre eigene Fachterminologie verwenden und (weiterentwickeln. Während Erhardt Güttgemanns das hermeneutische Problem, wie es sich nach Bultmann darstellt, seit Jahren programmatisch unter linguistischen Gesichtspunkten bearbeitet und zu behandeln fordert, legt die noch ganz offene Forschungssituation es m. E. näher, nur erst auf einige wenige Konsequenzen der Linguistik hinzuweisen, die hermeneutisch von Bedeutung sind. Die Linguistik nötigt dazu, den bisher in der Theologie üblichen Sprachbegriff (nicht aufzugeben, aber) zu präzisieren. Saussure hat Sprache als ein System von Zeichen zu sehen gelehrt, in denen Bedeutung und Lautgehalt fest miteinander verbunden sind. Nach Saussure sind das allen Verständigungsvorgängen in einer Sprachgemeinschaft zugrunde liegenden System der Sprache und der aktuelle Gebrauch der Sprache zu unterscheiden. Bei der wissenschaftlichen Untersuchung der Sprache sind außerdem der zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Sprachzustand und sprachgeschichtliche Phänomene voneinander abzuheben. Sofern es um die Erkenntnis der Funktion von Sprache geht, hat die Beschäftigung mit dem gegebenen Sprachzustand, die sog. synchron(isch)e Betrachtung, Vorrang vor der diachron(isch)en Betrachtungsweise, die sprachgeschichtliche Tatbestände erhebt. Bei der Auslegung von (biblischen) Texten hat dieser Vorrang der Synchronic vor der Diachronie große Bedeutung. Er besagt nämlich, daß allen text- und traditionsgeschichtlichen Rekonstruktionen, die hinter die Ebene des vorgegebenen Textes zurückgreifen, die Würdigung des Textes selbst als strukturierter Spracheinheit vorzuordnen ist. (Auch bei der Untersuchung sog. biblischer Hauptbegriffe hat die Verwendung eines Wortes im vorgegebenen Kontext den Vorrang vor diachronen Untersuchungen seiner Herkunft und sprachgeschichtlichen Verwendungsweise). Damit gewinnen die biblischen Texte als solche eine hermeneutische Bedeutung zurück, die ihnen über der (nach wie vor unerläßlichen!) literarkritischen, begriffs- und traditionsgeschichtlichen Fragestellung der Exegese in den vergangenen Jahrzehnten verlorenzugehen drohte. Sprache ist ein System von Zeichen, das der Kommunikation und Verständi-

220

Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik

gung dient. Der Gebrauch von Sprache vollzieht sich in kurzen oder langen Äußerungen, die man als Sprechakte bezeichnen und untersuchen kann. Sprachliche Kommunikation vollzieht sich vorrangig in Form von mündlichen Sprechakten; sie kann sich aber auch in Form von schriftlich fixierten Äußerungen, also mit Hilfe von Texten, vollziehen. Der Übergang von der mündlichen zur schriftlichen Kommunikation hat allerdings zur Folge, daß die schriftlich fixierten Texte - erstens - nur mehr einen gewissen Ersatz für die mündliche Verständigung bieten, und daß sie - zweitens - vom Augenblick ihrer Fixierung und Niederschrift an ein vom Autor ablösbares Eigenleben zu entfalten beginnen: Der (schriftlich) fixierte Text hat einen Sinn in sich, der aber mit der Bedeutung des Text(sinn)es im Rahmen der Kommunikation nicht identisch zu sein braucht; Texte können bekanntlich in der einen oder anderen Weise interpretiert und aufgenommen werden! Dies alles sind hermeneutisch bedeutsame Einsichten: Für den mündlichen Zuspruch des Evangeliums oder auch die Gemeindeermahnung bieten die biblischen Texte nur einen gewissen Ersatz und Anhaltspunkt. Mit der schriftlichen Fixierung der Texte wird zwar die biblische Tradition begründet, aber diese Tradition muß dabei die Texte, die sie in sich aufnimmt und weiterträgt, aus ihrer ursprünglichen Kommunikationssituation herauslösen und ihnen einen neuen Rahmen geben. Schließlich wird der fixierte Text im Verlaufe der Traditionsbildung Gegenstand der Interpretation durch verschiedene Empfänger, wobei das, was geschrieben steht, keineswegs allein über die Rezeption der Texte und ihre Bedeutung für den Hörer- oder Leserkreis entscheidet. Die Sprechakttheorie ermöglicht und erfordert also ein sehr differenziertes Verständnis von Texten als (schriftlich) fixierten Sprechakten. Für die (biblische) Hermeneutik entscheidend ist die Frage, wie der in den Traditionstexten fixierte Sinn angemessen erhoben werden kann und welche Bedeutung er für die Interpreten und Hörer der Texte gewinnt. Edgar V. McKnight hat in seinem Buch: The Bible and the Reader, Philadelphia 1985, auf die beherrschende Rolle aufmerksam gemacht, die der Leser für das Verständnis und die Interpretation von Texten hat: Der Leser erhebt vom vorgegebenen Sinn der Texte her die Bedeutung für sich und seine Zeit; er entscheidet, mit welchen Methoden der Text ausgelegt wird; er urteilt darüber, was am Text „überzeugend" ist, und was nicht. M a n kann die Hermeneutik ganz an der Rolle des Lesers orientieren und findet dann auch endlich eine verständliche Erklärung dafür, warum die biblischen Texte seit Jahrhunderten von verschiedenen Lesergruppen unterschiedlich und kontrovers ausgelegt und rezipiert worden sind. Angesichts dieses bis heute andauernden und sich immer noch verbreiternden Spektrums von Verständnis- und Interpretationsmöglichkeiten besteht freilich in den Kirchen, die sich an der hl. Schrift als maßgeblicher Offenbarungsurkunde orientieren wollen, ein ganz elementares Interesse daran, sachgemäße von unsachgemäßer Bibelinterpretation zu unterscheiden und Interpretationsregeln aufzustellen, die solche Unterscheidung möglich und gemeinschaftlich verbindlich machen. Von hier aus ist eine ganz neue Würdigung der von uns oben in § 5 herausgestellten Ansätze für eine von der Schrift selbst her nahegelegte biblische Hermeneutik möglich. Kirchlich muß es darauf an-

Ausblick

221

kommen, den Texten ihren Vorsprung vor den Interpretationswünschen der Leser zu sichern, ohne die Sinnfülle der Textaussagen vorschnell auf einige wenige Lehr-Sätze zu reduzieren; gleichzeitig ist es unerläßlich, den Horizont anzugeben, in dem biblische Hermeneutik sich zu bewegen hat, um nicht einfach einem Diktat ihrer Fragestellung durch den jeweiligen Zeitgeist zu unterliegen. Auf diese Weise wird sich eine kirchliche Hermeneutik der Schrift ganz von selbst von einer allgemeinen Hermeneutik unterscheiden, die sich darauf beschränken kann, die (biblischen) Texte nur als Literaturwerke einer bestimmten Zeit zu würdigen.

6.

Ausblick

Das Spätwerk Barths und Bultmanns stellt uns vor eine herausfordernde hermeneutische Alternative. Wir sind deshalb den Gründen nachgegangen, die uns hindern, theologisch, historisch und hermeneutisch bei R. Bultmann und seinem Programmentwurf stehenzubleiben. Angesichts der Weiterarbeit der „neuen Hermeneutik" von E.Fuchs, G.Ebeling und H . G . Gadamer erscheint Bultmanns Interpretationsweg als eine Engführung, der wir interpretatorisch nicht mehr nacheifern können. Nimmt man die hermeneutischen Überlegungen P. Ricceurs und die jetzt schon feststehenden Einsichten der (Text-)Linguistik hinzu, zeigt sich, daß die biblische Hermeneutik heute wieder vor die Texte der Schrift gestellt ist, um aus ihnen heraus einen wegweisenden Welt- und Seinsentwurf zu entnehmen. Alle methodischen Mittel, welche die biblischen Wissenschaften einzusetzen haben, müssen dieser Form von neuem und ungehindertem Vernehmen der Textaussagen dienen, die vor uns einen Vorsprung an Sinn und Sein haben. Die biblische „Textwelt" ist nicht mehr in der verzweifelten Situation, sich vor dem Diktat der Moderne und ihrer Kritik immer weiter zurückziehen zu müssen, sondern sie erscheint wieder als ein konstitutiver Bestandteil unserer geistigen Gesamttradition, den die Theologie um der Menschen von heute willen neu aufzuschlüsseln hat. Werten wir diese Erkenntnisse aus, und zwar in Hinsicht auf den Methodenweg der Interpretation, dann stehen wir vor einer erstaunlichen Einsicht. Durch die hermeneutische Diskussion der letzten Jahre haben wir wieder Raum gewonnen für eine theologisch engagierte, textbezogene und dogmatisch reflektierte Schriftauslegung. Nach dem Scheitern aller Versuche, eine spezielle Hermeneutik der Wiedergeburt zu entwickeln, und nach der Überwindung der die radikale Kritik kennzeichnenden hermeneutischen Engführung scheint eine auf heutigem Denkniveau formulierte, an Schlatter, Barth und E. Fuchs orientierte Interpretationsmethode das zu sein, was uns weiterführt. Wir wollen nun versuchen, eben diese Methode im folgenden Paragraphen zu begründen und zu umreißen.

222

Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

§ 14 Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten Wir stehen am Ende eines langen Reflexionsweges. Die „neue Hermeneutik", P. Ricceur und Einsichten der (Text-)Linguistik haben uns zurückgerufen zu einer biblischen Exegese, die im Einklang mit der Hermeneutik A. Schlatters, K. Barths und E. Fuchs' steht, gleichzeitig aber von Bultmann her zu größtmöglicher methodischer und theologischer Genauigkeit aufgerufen ist. Seit Origenes, ja im Ansatz schon seit dem zweiten Timotheus- und Petrusbrief steht die kirchliche Exegese in der Verpflichtung, das biblische Wahrheitszeugnis im Dienste der kirchlichen Wahrheitsverantwortung auszulegen, und zwar mit Hilfe einer Methode, die den biblischen Texten angemessen ist und der Kirche die Möglichkeit gibt, die biblische Botschaft in geschichtlich flexibler, kritischer Zeitgenossenschaft auszurichten. Die Reformation hat diese Verpflichtung nicht aufgehoben, vielmehr erneuert und präzisiert. In dem hermeneutischen Geviert von Schrift, Schriftauslegung, kirchlicher (Bekenntnis-)Tradition und Kirche kommt der Schrift und ihrer wahrheitsgemäßen Auslegung das entscheidende Gewicht zu; ohne eine genaue, wahrheitsgemäße Schriftauslegung verliert die Kirche, die selbst creatura verbi, d. h. Schöpfung des göttlichen Wortes ist, ihre Identität und ihre Legitimität als Leib Christi. In der nachreformatorischen Geschichte der Schriftauslegung ist die Verpflichtung, von der wir sprechen, nicht einfach vergessen worden. Die Theologie ist vielmehr in allen Lagern immer wieder um eine vor dem Wahrheitsgewissen und vor der christlichen Tradition verantwortbare Synthese von kritischer Schriftauslegung und aktueller Glaubensbezeugung bemüht gewesen. Um diese Synthese geht es auch heute noch.

1. Die Hermeneutik

des

Einverständnisses

Auf die Frage, welcher hermeneutische Methodenweg sich heute für die biblische Exegese nahelegt, möchte ich antworten: Wir werden unserer Verpflichtung gegenüber den biblischen Texten angesichts der Tradition, in der wir stehen, und inmitten des Wahrheitsbewußtseins der Gegenwart dann am besten gerecht, wenn wir uns bemühen, eine methodologisch und wirkungsgeschichtlich reflektierte Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten zu praktizieren. Diese Hermeneutik schließt ein, daß wir von der Bibel als Lernund Lebensbuch der Kirche ausgehen, daß wir uns in reflektierter Weise der historisch-kritischen Auslegungsmethode bedienen und daß wir uns der Lebenssituation bewußt sind, aus der heraus wir zur Exegese aufbrechen und in die unsere Schriftinterpretation zielt. Die Bibel ist mehr als eine historische Quellensammlung; sie ist der Kanon, den sich die Kirche aus Gehorsam gegenüber dem Evangelium gegeben hat und aus dem heraus sie bis heute die Stimme Gottes und seines Christus vernimmt.

Die Hermeneutik des Einverständnisses

223

Die gesamtkirchliche und individuelle Glaubenserfahrung, daß sich Gott in eigener Autorität durch das biblische Zeugnis vernehmen läßt, gibt der Bibel ihre aller wissenschaftlichen Exegese vorausliegende und sie transzendierende kirchliche Autorität. Biblische Schriftauslegung hat der Bibel in diesem ihrem Wahrheitsvorsprung zu dienen. Sie tut deshalb gut daran, die von l.Kor 1,182,16; 2.Tim 3,14-17 und 2.Petr 1,16-21 her vorgezeichneten Verstehensregeln sorgsam zu bedenken. Seit den Tagen der Alten Kirche hat sich die biblische Exegese der jeweils leistungsfähigsten und wissenschaftlich kommunikablen Auslegungsmethode bedient, die dem verantwortlichen Denken offensteht. Die Bibel ist ein Buch der Geschichte. Jedes ihrer Einzelbücher ist in bestimmter historischer Situation von Menschen für Menschen verfaßt. Darum wird man der Bibel am besten gerecht, wenn die Schriftauslegung diesen historischen Charakter der Schrift ausarbeitet und in ihm das alle Zeiten überholende Gotteszeugnis vernehmbar macht. Wir haben in der Gegenwart keine bessere und leistungsfähigere Auslegungsmethode für die Interpretation von sprachlichen Geschichtszeugnissen als die historische Methode. Diese Methode ist mittlerweile kirchlich im Protestantismus, im Katholizismus und (teilweise) auch in der Orthodoxen Kirche ökumenisch anerkannt. Es ist deshalb geboten, sich dieser Methode in allem Ernst und mit aller Nüchternheit zu bedienen. Die Handhabung der historischkritischen Auslegungsmethode ist heute keine spezielle protestantische Leistung mehr, noch ist sie ein bibelfeindliches Sakrileg. Die historische Methode ist ein differenziertes und entwicklungsfähiges Instrumentarium zur Erhellung von Textüberlieferungen. Als solches ist sie in der kirchlichen Schriftauslegung kritisch einzusetzen und, wo erforderlich, zu ergänzen und weiterzuentwickeln. Von Paulus, dem zweiten Timotheus- und Petrusbrief her hat die biblische Exegese ihren natürlichen Ort im kirchlichen Lebenszusammenhang; die Lebenssituation, in der wir kirchlich stehen, bestimmt darum unser Verständnis der Bibel mit. Wir stehen vor einer Fülle von globalen Problemen. Sie reichen von grundlegenden ökologischen, sozialethischen und politischen Fragen bis hin zu der Suche nach dem der Kirche von heute in unserer Welt angemessenen missionarischen Weg in der Ökumene. In dieser Lebenssituation kann die biblische Exegese die universalgeschichtlichen Horizonte ebensowenig aus ihrem Denken und Fragen ausklammern wie die Nöte und Möglichkeiten des einzelnen Menschen in seiner Einmaligkeit vor Gott. All diese Fragen mitzubedenken, heißt aber, Exegese der Bibel nicht mehr nur als ein Geschäft historischer Analyse und Darstellung zu betreiben, sondern als geschichtlich reflektierte und fundierte Anleitung zur christlichen Lebensverantwortung angesichts des Christuszeugnisses der Schrift. Die biblische Exegese muß diesen Weg in einer Zeit gehen, in der sie sich nirgends mehr auf ein allgemeines Wertbewußtsein stützen kann, vielmehr äußerst umstritten ist, welchen Wert- und Zielvorstellungen das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft folgen soll. Der biblischen Exegese erwächst in dieser Situation die Aufgabe, eine in der Bibel begründete, treffende Antwort auf die einfache und gleichzeitig hochaktuelle Frage zu suchen: Wozu ruft Gott in Jesu Namen auf (E. Fuchs); wie kann und

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

wie soll menschenwürdiges Leben heute aussehen, und zwar das Leben in unserer Welt, die trotz aller gegenteiligen Erfahrungen Gottes in Christus gehaltene und bejahte Schöpfung bleibt? Die biblische Exegese verurteilt sich selbst zur kirchlichen Wirkungslosigkeit, wenn sie meint, sich ihre hermeneutischen Maßstäbe aus eigener Autorität geben zu sollen; sie tut viel besser daran, sorgsam auf die Tradition zu achten, in der sie steht. Wenn wir die heute zu praktizierende Weise des Schriftverständnisses als Hermeneutik des „Einverständnisses" bezeichnen, berücksichtigen wir eine Jahrhunderte alte hermeneutische Erfahrung. Augustin hat die Liebe als den entscheidenden Verstehenshorizont der Schriftauslegung bezeichnet; Luther wollte die Bibel im Geist des Glaubens und der Gewissenserfahrung interpretiert sehen; die Hermeneutik des Pietismus hat beharrlich auf die Differenz zwischen einer prinzipiell religionskritischen und einer Exegese der Glaubenserwartung aufmerksam gemacht; Schlatter und Barth sprechen gleichermaßen von dem Erfordernis, Exegese der Schrift aus einem Treueverhältnis zu den biblischen Autoren heraus zu treiben; E. Fuchs rät, den Texten wie einem Sakrament gegenüberzutreten, das man nur empfangen kann, und Gadamer geht von dem Grundsatz aus, eine wirklich werkgetreue Interpretation historischer Urkunden sei nur möglich im Horizont des Einverständnisses mit der Tradition. Stellt man vollends in Rechnung, daß nach Paulus das Evangelium nur der verstehen und nach-denken kann, der es sich von Gott her vor-geben läßt, werden die biblischen Texte zum Musterfall der hermeneutischen Erfahrung, daß ein Interpret die ihm vorliegenden Urkunden erst dann angemessen auslegen kann, wenn er sich ihrem Wahrheitszeugnis wirklich unbefangen und mit „kritischer Sympathie" (W. G. Kümmel) nähert. Ob er sich dann von diesem Wahrheitszeugnis überwunden erklärt und — wie einst Hamann — von seinen Texten selbst ausgelegt findet, ist methodisch nicht mehr zu entscheiden. Luthers Einsicht, daß die „innere" Klarheit der Schrift nur durch den hl. Geist aufgeschlossen werden kann, bleibt die auch von der Hermeneutik des Einverständnisses zu respektierende Grenze aller ihrer Bemühungen. Die unbefangene Offenheit und kritische Sympathie für die Texte gewinnt man angesichts der langen exegetischen Tradition der Kirchen freilich erst dann, wenn die Horizonte vor Augen stehen, in denen die Auslegung verläuft. Es geht dabei um die den Texten eigenen geschichtlichen Horizonte, unsere eigene Auslegungssituation und die beide miteinander verwebende biblische Wirkungs- und Auslegungsgeschichte. Erst wenn wir wirkungsgeschichtlich reflektiert an die Uberlieferung herangehen, lassen wir sie wirklich ihr eigenes Wort sagen. Wer die Bibel hermeneutisch aus dem Einverständnis mit der Überlieferung heraus interpretieren will, muß sich also um eine genaue Methodenreflexion bemühen, darf sich aber auch den dogmatischen Überlegungen nicht verschließen, die die kirchliche Auslegungsgeschichte der Schrift begleitet haben und noch kennzeichnen. P. Ricoeur hat die klassische Formulierung geprägt, wahres Textverständnis vollziehe sich nicht hinter, sondern vor den Texten, und zwar so, daß das Verstehen nicht mehr durch das interpretierende Subjekt, sondern durch die

Einwände und Anfragen

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Sache des Textes konstituiert wird. Zu einem solchen Verstehen wird die biblische Exegese erst dann fähig, wenn sie wirklich selbstkritisch alle gegen ihr methodisches Verfahren erhobenen Einwände prüft, sich aber bei ihrer Wahrheitssuche auch energisch gegen Versuche zur Wehr setzt, die das in den Texten vorgegebene biblische Wahrheitszeugnis prinzipiell als illusionär oder ideologisch befangen entlarven wollen.

2. Einwände und Anfragen Wenn wir, wie geschehen, die Aufgabe und den Methodenweg der biblischen Exegese definieren, müssen wir uns, ehe wir weitergehen, einer Reihe von kritischen Anfragen stellen. Diese Anfragen sind dort am ernsthaftesten und eindringlichsten, wo die Fragesteller selbst um eine der Bibel wirklich entsprechende und der Gegenwart dienende Bibelauslegung ringen.

2.1 Die Anfragen der katholischen

Exegese

Die gemeinsame Bemühung von katholischen und protestantischen Exegeten um das biblische Wahrheitszeugnis ist heute eine der eindrücklichsten und schönsten ökumenischen Erfahrungen, die ein Exeget machen kann. Wir unterlaufen diese Erfahrungen nicht und fallen auch nicht in den von katholischen und protestantischen Traditionalisten ζ. T. künstlich wachgehaltenen Streit der Konfessionen zurück, wenn wir aussprechen, daß die katholische Seite an uns Protestanten auch heute noch unüberhörbare Anfragen hat, und zwar gerade deshalb, weil wir uns in den letzten Jahrzehnten so nahe gekommen sind. Diese Anfragen laufen im entscheidenden auf den Rat hinaus, die Verpflichtung der Exegese gegenüber der gesamtkirchlichen Tradition und den von ihr her gesetzten Maßstäben für Zeugnis, Lehre und Leben der Kirche nicht länger außeracht zu lassen. Otto Kuss hält es für die Pflicht des (katholischen) Exegeten, die Kirche mit dem Ärgernis erregenden Ursprungszeugnis der hl. Schrift zu konfrontieren. Schon angesichts des in der katholischen Exegese üblich gewordenen Pluralismus von Hypothesen und Ergebnissen hält er aber die von der Kirche garantierte und in Krisenfällen auch unzweideutig deklarierte, auf Grund der Schrift proklamierte Glaubenswahrheit für den einzig wirklich feststehenden Halt. Die protestantische Schriftauslegung, die sich dieses Haltes nicht bedienen kann und selbst zusehen muß, ob die Schrift in sich klar und eindeutig ist, sieht er vollends auf dem Weg in die Agonie. In seiner Abhandlung über „Exegese und Theologie des Neuen Testamentes als Basis und Ärgernis jeder nachneutestamentlichen Theologie" hält Kuss Katholiken und Protestanten folgendes warnend vor Augen:

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„Der Prozeß der um die rechte Anpassung etwa des N e u e n Testamentes sich mühenden Interpretation wird offensichtlich immer schwieriger, umständlicher, zeitraubender und mühsamer durchschaubar, und bei vielen Auslegungen, Entmythologisierungen, Umdeutungen, modern-allegorischen Rettungen gewinnt man den bestimmten Eindruck, daß sich damit zur N o t zwar noch Leute helfen können, die einer aus g l a u b e n s starken' Zeiten überkommenen Botschaft auf Grund mannigfacher Verpflichtungen nach Möglichkeit die Treue halten wollen, daß aber keine H o f f n u n g mehr besteht, mit den Reliquien einer großen Überzeugung noch einmal missionarisch ,virulent' zu werden. Es ist in Wirklichkeit Agonie" (a. a. O., 394).

In der Hoffnung auf eine Katholiken und Protestanten aufeinanderzuführende Reform in allen Kirchen warnt Raymond E. Brown in seinem 1981 erschienenen Buch „The Critical Meaning of the Bible" die evangelische Seite (aus amerikanischer Sicht) davor, die Predigt des biblischen Christusevangeliums zugunsten eines unanstößigen sozialliberalen Engagements zu vernachlässigen, die ursprüngliche reformatorische(l) Wertschätzung der Sakramente zu vergessen, sich unter leichtfertiger Berufung auf die evangelische Freiheit über das Grundgebot kirchlicher Einheit hinwegzusetzen und die Verpflichtung zu echt kirchlich-theologischer Lehre weiterhin (zu) leicht zu nehmen. Dieser Warnung tritt die anhaltende Skepsis anderer katholischer Exegeten zur Seite, ob die protestantische Suche nach der Mitte der Schrift angesichts der modernen Exegese und ihrer Differenzierungen nicht de facto ein illusionäres Unternehmen sei. Sie halten es für katholisch angemessen und für historisch richtig, ein möglichst ausgearbeitetes und genaues Verständnis der Schrift als ganzer zu suchen; nur das Lehramt habe dann das Recht und die Möglichkeit, dogmatische Ausgrenzungen zu vollziehen. Schließlich fragt Karl Rahner seine Kollegen von der katholischen Exegese in freundschaftlicher Ironie: „ . . . solltet i h r . . . doch nicht manchmal den Eindruck vermeiden, als sei bei euch eine evangelische These schon darum wahrscheinlicher, weil sie auf dem Boden der evangelischen Exegese und nicht ursprünglich auf dem der katholischen gewachsen ist? Und solltet ihr nicht auch bedenken, daß die evangelische Theologie oft mit einem philosophischen Apriori, nicht mit einer sachgerechten, aus der Exegese selbst erwachsenen Methode an die Schrift herangeht?" (a.a. O., 92/93).

Wir sind es den katholischen Partnern schuldig, auf diese Anfragen einzugehen. Sie zeigen in der Tat gravierende Schwächen unserer derzeitigen Bibelexegese auf. Wer sich heute auch nur zu einer Synopse der experimentellen Spitzenergebnisse der kritischen neutestamentlichen Exegese im Bereich des Protestantismus zwingt, erkennt rasch, daß hier eine Beliebigkeit der sich selbst und ihre Vermutungen absolut setzenden kritischen Bibelwissenschaft waltet, die historisch und dogmatisch gleich unerträglich ist. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Es kann nicht gleichzeitig wahr sein, daß Gottes Offenbarung im Wort nur die Krise von Schöpfung und Geschichte bedeutet und daß eben diese Offenbarung gerade aus den Schöpfungsbekenntnissen und Geschichtszeugnissen der Bibel heraus ihre wahre und wegweisende Konkretion gewinnt. — Es ist widersinnig, das Neue Testament

Einwände und Anfragen

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einerseits vom Alten abzuheben und religionsgeschichtlich in den Synkretismus der hellenistischen Zeit einzuordnen, andererseits aber davon zu sprechen, daß Jesus mitsamt den maßgeblichen neutestamentlichen Autoren geborene Juden gewesen seien, denen das Alte Testament ebenso als Offenbarungszeugnis galt wie den frühchristlichen Gemeinden bis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts. - Es ist mehr als verwirrend, von ein und derselben Bibelkritik die Meinung vertreten zu hören, Jesus von Nazareth, sein messianisches Werk und Wort, seien der eigentliche Inhalt und Grund des christlichen Glaubens, und gleich daneben behauptet zu sehen, von eben diesem Jesus könne nach kritischen geschichtswissenschaftlichen Maßstäben so gut wie nichts Verläßliches mehr in Erfahrung gebracht werden. - Es ist schließlich historisch und dogmatisch höchst unbefriedigend, die Rechtfertigungsverkündigung mit Emphase als „Mitte der Schrift" zu bezeichnen, diese Mitte aber nur noch in einigen wenigen Paulusfragmenten aufweisen zu wollen und zu meinen, auf eine Theologie des Neuen Testaments als Ganzem mangels deutlich hervortretender Einheitslinien verzichten zu müssen. Hier ist in der Tat ein Hauch von Agonie spürbar. Wir kommen von dieser Agonie nur los, wenn wir uns zu einem doppelten Schritt entschließen. Die biblische Exegese muß erstens die Tragweite und Begrenztheit ihrer kritischen Mittel gegenüber den Quellenschriften der Bibel reflektieren, und sie muß zweitens wieder die Rückbindung an die kirchliche Dogmatik suchen. Erst dann wird sie ihrer Subjektivität gewahr und neu in das kirchlich seit (fast) zwei Jahrtausenden bewährte hermeneutische Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Tradition und Kirche einbezogen, der die kritische historische Wahrnehmung in den Kontext kirchlicher Glaubensverantwortung hereinnimmt, ihr perspektivische Hilfestellung gibt und die Exegeten davon entlastet, die maßgebliche Glaubenswahrheit historisch selbst konstituieren zu wollen. Die protestantische Bibelwissenschaft vom Neuen Testament bedarf dringend der Selbstkritik, und zwar vor ihrem Gegenstand, dem Neuen Testament, ebenso wie vor der (ζ. T. sehr zu Unrecht vergessenen) protestantischen Glaubenstradition! Daß die Schrift aus sich selber heraus unklar bleibe und keine Mitte erkennen lasse, ist nun freilich eine Behauptung, der sich die protestantische Bibelwissenschaft nicht zu beugen braucht. Die katholische Exegese ist inzwischen selbst bemüht, die Schrift als „Ganzheit" zu sehen, „die Umfang und Mitte (hat)"; neutestamentlich stellt sich die Mitte dar als „das Kerygma von der Auferwekkung des Gekreuzigten zum Heil der Sünder... einerseits" und „die Botschaft des ,Gekommenen' vom Zukommen der Basileia des Abba (vgl. Jesu ureigene ,Basileia-Formel') andererseits." (H. Schürmann, Thesen zur kirchlichen Schriftauslegung, 330/331).

2.2 Psychologische Interpretation biblischer

Textef

In den letzten Jahren sind neue beachtenswerte Anstrengungen unternommen worden, um das Erfahrungspotential der (Tiefen-)Psychologie und Psycho-

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analyse für die biblische Exegese fruchtbar zu machen. Führend in diesem Gespräch sind ζ. Ζ. E. Drewermann, K. Niederwimmer, }. Scharfenberg, H. Harsch, Y. Spiegel, G. Theißen, W. Wink u. a. Von ,neuen' Versuchen muß man sprechen, weil schon seit der Jahrhundertwende und in der Pionierphase der Psychoanalyse verschiedentlich versucht worden ist, biblische Texte mit Hilfe psychoanalytischer Methoden zu analysieren. Die Ergebnisse waren jedoch wenig ermutigend. Eine von Y. Spiegel 1972 unter dem Titel „Psychoanalytische Interpretation biblischer Texte" herausgegebene Auswahlsammlung dokumentiert, wie historisch gewalttätig und hermeneutisch unachtsam viele Interpreten dabei vorzugehen wagten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ließen sie sich von einem tiefen Mißtrauen gegenüber den biblischen Autoren, den kanonischen Texten und ihrer kirchlichen Auslegung leiten, um die Texte dann als Spiegelungen verdrängter Konflikte und als Dokumente religiöser Neurosen zu deuten. Aber auch die Resultate psychologischer Interpretation durch Bibelwissenschaftler waren höchst fragwürdig. Der Neutestamentier C. Schneider knüpfte z.B. an die Arbeit der sog. Religionspsychologischen Schule an und erörterte 1930 in einer Monographie „Die Erlebnisechtheit der Apokalypse des Johannes". Ohne präzis nach der historischen Heimat, dem Verfasser und seinen Traditionen zu fragen, erklärte er die Visionszyklen der Johannesoffenbarung als Ausdruck der zwischen Empfindungsextremen hin und her schwingenden Stimmungskurve eines schizothymen ( = in sich gekehrten, sein Innenleben vor der Außenwelt abschirmenden) Charakters. Kurze Zeit darauf forderte er in einem Programmaufsatz über „Psychologische Exegese" dazu auf, in den biblischen Texten die Realität des geschichtlich greifbaren psychophysischen Erlebnisses der Offenbarung in Jesus Christus aufzuspüren. Daß dieser Aufruf und jene psychoanalytischen Versuche bei der in den zwanziger und dreißiger Jahren sowohl von Schlatter als auch von der dialektischen Theologie her zur theologischen Interpretation biblischer Texte aufgerufenen Exegese ohne nennenswertes Echo blieben, ist nur zu verständlich. Wenn die oben genannten Autoren heute eine neue Phase der Begegnung von Psychologie, Psychoanalyse und biblischer Exegese eingeleitet haben, liegt ihr Hauptziel darin, die historisch orientierte Schriftauslegung aus dem Erfahrungsdefizit herauszuführen, das es der Bibelwissenschaft so schwer macht, ihre Resultate in die gegenwärtige theologische Diskussion um das Menschsein des Menschen einzubringen. Bei der wissenschaftlichen und meditativen Auslegung biblischer Texte sollen die hermeneutischen Erkenntnisse und die Verfahrensweisen der Psychologie so eingesetzt werden, daß ein Brückenschlag zwischen biblischer Tradition und Gegenwart möglich wird. Es erscheint wirklichkeitsfremd, sich dieser Absicht widersetzen zu wollen; die Frage ist nur, wie sie hermeneutisch sachgemäß, d. h. den Texten entsprechend, zu verwirklichen ist. Bei der Verwirklichung der begrüßenswerten hermeneutischen Absicht lassen sich z.Z. zwei Ansätze voneinander unterscheiden. Der eine wird exemplarisch vertreten durch K. Niederwimmer und G. Theißen, der andere von E. Drewermann und seinen Freunden. Niederwimmer und Theißen wollen die histo-

Einwände und Anfragen

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risch-kritische und traditionsgeschichtliche Exegese nicht durch eine psychologische Hermeneutik ersetzen, sondern perspektivisch vertiefen, und zwar (nur) bei solchen Texten, die dazu einladen. E. Drewermann möchte die s . M . n . zum Verständnis religiöser Texte unfähige historische Kritik durch eine Hermeneutik der archetypischen religiösen Symbole überwinden. Für Kurt Niederwimmer ist die historische Kritik zum Verständnis der biblischen Texte unentbehrlich, weil sie die Texte dem vorschnellen Zugriff des gläubigen Interesses entzieht und der Illusion wehrt, als gäbe es ohne weiteres eine „Unmittelbarkeit zur Heiligen Schrift" (Jesus, 1968, 10.16f.). Gerd Theißen macht es sich in seinem Buch „Psychologische Aspekte paulinischer Theologie" (1983) ausdrücklich zur Pflicht, die (paulinischen) Texte zuerst „von ihrem traditionsgeschichtlichen Kontext her" zu erhellen und erst von dieser Grundlegung aus zur psychologischen Deutung überzugehen (a. a. O., 54). Eugen Drewermann dagegen hält die am Ideal naturwissenschaftlich-objektiver Erkenntnis orientierte historisch-kritische Bibelexegese für „ . . . das Symptom der geistigen Krankheit des Christentums, wo nicht das wirksamste Instrument der gewollten oder ungewollten Selbstzerstörung desselben, und jeder, dem am Glauben des Christentums oder am Leben kommender Generationen auch nur das Geringste gelegen ist, kann nur von Herzen wünschen, daß die Überfremdung und Unnatur einer solchen rein ,historischen Wissenschaft' in Gestalt der Exegese möglichst bald selbst der Historie überantwortet wird" (Tiefenpsychologie und Exegese I, 1 9 8 4 , 60).

Drewermann hält bei der Auslegung religiöser Texte die Bilder für wichtiger als die Worte, die Gefühle für wichtiger als die Handlungen, und die Erlebnisse und Erfahrungen, aus denen die einzelnen Formen erwachsen sind, für wichtiger als die literarische Form der Uberlieferung (a. a. Ο., 16). Die Grundfrage, ob man in der Religion eine durch kognitive Aufklärung zu überwindende kollektive Zwangsneurose und einen (partiellen) kindlichen Regreß (in eine Scheingeborgenheit) oder eine zum Menschsein des Menschen gehörige, sich in archetypischer Symbolsprache artikulierende Offenheit gegenüber dem Anspruch der Transzendenz zu sehen hat, ist bekanntlich zwischen Sigmund Freud und seinem Schüler Carl Gustav Jung offengeblieben. Niederwimmer und Drewermann folgen Jung, und Theißen bemüht sich sogar ausdrücklich um die Überwindung des Freudschen Religionsverständnisses und die Entwicklung einer hermeneutisch orientierten Religionspsychologie, die zur Auslegung der (biblischen) Texte geeignet ist und für die „die Stimmigkeit der Interpretation mit dem Textganzen das ausschlaggebende Kriterium (bildet)" (a.a.O., 59). Diese relative Gemeinsamkeit sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Auslegungsmethode bei den drei Autoren grundverschieden ist! Niederwimmer versucht, die ihm durch die biblische Überlieferung vorgegebene (und von ihm durch kritische Exegese der synoptischen Evangelienüberlieferung noch profilierte) Gestalt Jesu archetypisch verständlich zu machen als „Symbol für den Menschen, der bei der Sinnverwirklichung scheitert, und der

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

doch am Sinne seiner selbst festhalten darf, weil er darauf vertraut, daß Gott ihn akzeptiert" ( a . a . O . , 86). Theißen schlüsselt die in den (paulinischen) Texten ausgedrückten Überzeugungen des Apostels und die von ihm ebenfalls erwähnten Erfahrungen seiner Adressaten (auch) psychologisch auf, und zwar zum Zwecke eines ganzheitlichen Textverständnisses. Drewermann dagegen ist bemüht, die Wortebene der Texte so rasch wie möglich zu durchstoßen, um die inneren Erfahrungen in der Überlieferung zur Sprache zu bringen. Er fordert die Hörer eines biblischen Textes auf, „in sich hineinzuhören und die Gefühle und Eindrücke zu registrieren, die ihnen beim ersten Hören unmittelbar k o m m e n " , um auf diese Weise den „Gefühlswert..., den die jeweiligen Symbole besitzen", zu erfassen (a. a. O., 3 8 5 ) . Bei seiner Auslegungsmethode „ . . . s c h i e b t sich jetzt von Anfang an nicht mehr, wie in der historisch-kritischen Exegese, der Staub und Schutt vieler Jahrhunderte zwischen den Text und den Leser, sondern jeder Leser ist nunmehr aufgefordert, den jeweiligen Text von sich selbst her nachzuträumen und nachzuempfinden, bis das gleiche Symbol, die gleiche Vision aus seiner eigenen Seele hervorgeht. Nicht mit etwas Fremden, sondern stets mit dem Eigenen seiner Psyche wird er am Beispiel einer von außen an ihn herangetragenen Erzählung konfrontiert. Der Text wird zur Brücke, zur Vermittlung des Lesers mit sich selbst..." (a.a.O.,384/85).

Es wäre m. E. kurzsichtig, das von Niederwimmer und Theißen eingeschlagene Auslegungsverfahren von vornherein zurückzuweisen. Es vermag in der T a t Dimensionen der Textwelt aufzuschlüsseln, die bei einem rein philologischen Textverständnis verdeckt bleiben. Drewermann gegenüber ist freilich größte Zurückhaltung anzuraten, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Die biblischen Texte wollen von sich aus als Offenbarungszeugnis gehört und zur Sprache gebracht werden. Medium der Offenbarung sind zuerst und vor allem das (mündlich geäußerte und schriftlich bezeugte) Wort und dann erst und nur im Lichte des Wortes auch Bilder und Symbole. Der von Drewermann erhoffte Gewinn einer neuen Unmittelbarkeit des Textverständnisses schützt die Texte nicht mehr hinreichend vor dem Zugriff eigenmächtiger religiöser Interessen und Illusionen. Sollte Drewermanns Methode sich durchsetzen, muß der Kampf K. Barths und R. Bultmanns um ein sachgemäßes Verständnis des biblischen Offenbarungswortes noch einmal gekämpft werden. Entschließt man sich unter der Achtung vor dem biblisch vorgegebenen Offenbarungswort zu einer psychologisch bereicherten Auslegung der Texte, darf man daran erinnern, daß es in der Auslegungstradition der Kirchen seit langem üblich ist, die auf den Literalsinn der Schrift konzentrierte Schriftauslegung zwar als die theologisch einzig maßgebende, aber nicht als die den Texten einzig entsprechende anzusehen. So wenig es heute eine Rückkehr zur Allegorese der Bibel geben kann, so sehr ist zu bedenken, daß die seinerzeit vom Wortsinn der Schrift zu dem mehrfach aufgefächerten geistlichen Sinn der Texte aufsteigende allegorische Auslegung eine alle Lebensdimensionen betreffende Entfaltung des biblischen Wortes ermöglichte. Angesichts der offenkundig begrenzten Reichweite historischer Aussagen haben wir Anlaß genug, nach Auslegungsweisen zu fragen, welche den biblischen Texten angemessen sind

Einwände und Anfragen

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und es uns erlauben, vom historischen Ursprungssinn der Bibel her auf die Menschen und ihre Fragen in der Gegenwart zuzugehen. Die von H. Barth und T.Schramm in ihrem schönen Buch „Selbsterfahrung mit der Bibel" (1977) aufgewiesenen Auslegungsmodelle eröffnen in dieser Hinsicht neue und m. E. lohnende Perspektiven.

2.3 Anfragen der politischen und materialistischen Hermeneutik Wenn wir auf eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten, und zwar im gesamtgeschichtlichen Horizont, drängen, müssen wir uns auch der aktuellen Aufforderung stellen, die klassische geschichtswissenschaftliche Hermeneutik solle in eine „politische Hermeneutik" überführt werden. Auch dieser Aufruf trifft auf ein noch immer deutlich spürbares Defizit der biblischen Exegese (des Neuen Testaments). In Deutschland und im angelsächsischen Raum sind die Erforschung der Geschichte des Urchristentums, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie der Zeitgeschichte in der Entstehungszeit des Neuen Testaments während der zwanziger Jahre erlahmt. Die neutestamentliche Wissenschaft findet erst gegenwärtig wieder Anschluß an diese seinerzeit verlassenen Fragestellungen. Die Folge ist, daß wir in der heute noch repräsentativen exegetischen Literatur z.T. nur sehr wenig oder gar keine Auskünfte über die aktuellen Lebensprobleme der neutestamentlichen Gemeinden finden. Was die Ethik des Urchristentums anbetrifft, steht es kaum anders. Teilweise beherrscht hier noch die seinerzeit religionshistorisch begründete Auskunft (R.Bultmanns u.a.) das Feld, es gäbe im Neuen Testament keine material eigenständige Ethik, sondern nur eine ethische Motivation des Glaubens an Jesus Christus. In einer Zeit wie der unsrigen, die in der ganzen Ökumene vor außer- und innerkirchlich wirksamen sozialen und politischen Problemen sondergleichen steht, wirken die Auskünfte einer von dieser Forschungssituation beherrschten Exegese nur zu leicht als abstrakt und lebensfern. Unter diesen Umständen ist es verständlich, daß zu einer Uberprüfung des angestammten Auslegungsverfahrens aufgerufen wird. Jürgen Moltmann hat in einem 1 9 6 8 publizierten Aufsatz über „Existenzgeschichte und Weltgeschichte" zu einer „politischen Hermeneutik" geraten, die „die Politik als den umfassenden Lebenshorizont des Menschen wahrnimmt" ( a . a . O . , 139) und so die Engführungen der existentialen Schriftinterpretation aufsprengt. Moltmanns These lautet: „Hermeneutik gerät in die Gefahr des Formalismus, wenn sie nur rückschauend nach einem Verständnis der Vergangenheit unter den Bedingungen der Gegenwart fragt. Eine materiale Hermeneutik aber muß die Veränderung der Bedingungen der Gegenwart suchen. Dafür findet sich eine Parallele in der marxistischen Zuordnung von Theorie und Praxis, die sich an dem Gedanken entzündet, daß Philosophie aufgehoben werden muß, um sich zu verwirklichen... Theologie dient der künftigen Freiheit, sofern sie dieser in historischer Kritik, in Ideologiekritik und endlich in Institutionenkritik den Weg bereitet. Diese Kritik muß sich allemal zuerst gegen die eigene Verhinderung der Freiheit

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richten. Wenn wir in der Bibel die schriftgewordene Verheißung der Freiheit und in der Verkündigung die Mission dieser Freiheit finden, dann m u ß eine geschichtliche Hermeneutik die Mittel und die Methoden praktischer Befreiung entwerfen" (a. a. O.).

Moltmanns Plädoyer für eine politische Hermeneutik der Befreiung und Weltveränderung hat ein weltweites positives Echo gefunden und damit ein weitverbreitetes Bedürfnis nach hermeneutischer Konkretion offengelegt. Der Vorschlag lebt aber im Ansatz von einem theologisch rezipierten linkshegelianischen Geschichts- und Wirklichkeitsverständnis, in das die biblische Freiheitstradition eingezeichnet wird; christlicher Glaube und politisch wirksame Befreiung treten in unmittelbare Beziehung zueinander. Diese hermeneutische Neuorientierung ist ζ. B. von Dorothee Solle in einer ganzen Reihe von Veröffentlichungen ausdrücklich begrüßt worden. Die politische Hermeneutik ist bis zur Forderung nach einer materialistischen Bibelauslegung weiterentwickelt worden. Die Arbeiten von Michel Clevenot: So kennen wir die Bibel nicht, 1978, und Fernando Belo: Das Markusevangelium materialistisch gelesen, 1980, dokumentieren diese Interpretationsweise. Beide Male handelt es sich um den Versuch, die Bibel für „eine Generation von Christen" aufzuschließen, „die sich in Sprache und Analyse, politischem Engagement und strategischer Polemik als Marxisten verstehen" (Belo, a. a. O., 13). Zum Beschluß seiner Markusauslegung stellt Clevenot ganz ähnlich fest: „Eine materialistische Lektüre i s t . . . nie von einer bestimmten ökonomischen und politischen, befreienden Praxis zu trennen. Weil wir für die Beseitigung der Klassengesellschaft und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen kämpfen, hatten wir Lust, Texte neu zu lesen, in denen sich ein tiefes Verlangen ausspricht, das stark genug sein dürfte, dem Tode entgegenzutreten" ( a . a . O . , 137).

Die Clevenots Textanalysen leitende Vorgabe ist ein antiidealistischer, neomarxistischer Wirklichkeits- und Geschichtsgedanke. Wirklichkeit wird durch die drei gesellschaftlichen Instanzen von Ökonomie, Politik und Ideologie konstituiert, und Geschichte wird als Geschichte des ökonomisch bedingten Klassenkampfes verstanden. Von diesem Wirklichkeits- und Geschichtskonzept her versucht er, „die biblischen Texte als ideologische Produkte bestimmter sozialer Gruppen" aufzufassen (a.a.O., 23), und bemüht sich um eine (am Strukturalismus geschulte) Analyse ihrer gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen. Clevenot folgt hierbei seinem Freunde Belo. Statt mit den „bürgerlichen Exegeten" von einem Text auszugehen, „der immer schon die Öffnung eines revolutionierten Raumes verweigert, d.h. vom Text der herrschenden Ideologie der KPW (= kapitalistischen Produktionsweise; P.St.), der vom Gottesbegriff oder der Vernunft beherrscht wird", geht es Belo um eine Textlektüre als „Erzählung der Macht, welche die Körper bearbeitet" (a.a.O., 323/324). Der biblische Text wird m.a.W. im Sinne einer Spiegelung des neomarxistischen Geschichts- und Wirklichkeitsbegriffes verstanden; liest man die Texte (historisch und theologisch) anders, gilt dies als spätbürgerliche ideologische Befangenheit. So interessant und anregend diese Bibelauslegung auch sein mag - ihrem

Einwände und Anfragen

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hermeneutischen Ansatz ist aus zwei Gründen zu widersprechen: Wir kennen mittlerweile die normierende hermeneutische Wirkung des in die Exegese eingebrachten Wirklichkeits- und Geschichtsbegriffes zur Genüge. Hans Weder hat es mit gutem Grund für „verfehlt" erklärt, „wenn die Exegese den nomothetischen Sprachformen und Denkweisen gänzlich verfallen würde und dabei ihre eigenste Aufgabe vergäße: die Aufgabe der wissenschaftlichen Respektierung der Individualität und Unableitbarkeit des mit Jesus Christus entstandenen Glaubens, der weder religionsgeschichtlich abgeleitet noch soziologisch oder psychologisch funktionalisiert werden k a n n . . . " (a.a.O., 70/71). Indem die politische Hermeneutik ihr (linkshegelianisches) Theorie-Praxis-Modell exegetisch zur Anwendung bringt, wird nur eine neue Spielart jener Hermeneutik praktiziert, die sich die biblische Tradition eklektisch anverwandelt, um sich von dem inaktuell und rückständig erscheinenden „Rest" zu emanzipieren. Da diese Hermeneutik bereits vor Beginn der Exegese weiß, was Wirklichkeit ist und welche Komponenten Geschichte konstituieren, ist ein wirklich offenes Textverständnis, das sich durch die Sache der Texte selbst bestimmen läßt (Ricoeur), kaum mehr möglich. Dabei stehen wir gerade hier vor einem echten Widerstreit zwischen biblischer Anthropologie und Weltsicht einerseits und dem modernen Fragehorizont der Exegeten andererseits. Texte wie M t 6 , 2 6 ff.; Rom 7,7-8,11; l . K o r 15; Kol 1,15-20 oder Apk 21 lassen sich unmöglich unter dem Vorzeichen verrechnen, daß Politik der umfassende Lebenshorizont des Menschen sei und daß geschichtliche Wirklichkeit durch die dynamische Relation von Ökonomie, Politik und Ideologie zureichend beschrieben werden könne. Die Transparenz des Wirklichen für die religiöse Wahrnehmung und die biblisch unauswechselbare Rolle des Individuums in seiner Doppelstellung vor Gott und vor den Menschen erscheinen in der vorliegenden politischen Hermeneutik entweder gar nicht oder nur am Rande. Eben dieser Umstand zwingt in der politischen Exegese zu einseitiger Wertung und Ideologiekritik. So unausweichlich sich uns auch das Problem sozialer und ökonomischer Veränderung in der Welt aufdrängen mag, einer prinzipiell politisch orientierten Hermeneutik ist deshalb zu widerraten, weil sie die exegetischen Perspektiven verkürzt und auf einige wenige Fragestellungen reduziert. Folgendes sei jedoch sogleich hinzugefügt. Die seit E. Lohmeyers Buch über „Soziale Fragen im Urchristentum" (1921) und F. C. Grants Untersuchungen über „The Economic Background of the Gospels" (London 1926) liegengebliebene Erforschung der urchristlichen Sozialgeschichte ist mittlerweile vor allem von M. Hengel und G. Theißen mit großer Sachkenntnis wieder aufgenommen worden. In den USA widmen sich R. Scroggs, W.A. Meeks, H. Kee u.a. derselben Fragestellung. In den neuen Forschungen der genannten Autoren wird das eingangs signalisierte Defizit der (neutestamentlichen) Exegese wissenschaftsgeschichtlich konsequenter und historisch reflektierter getilgt, als es in der materialistischen oder politischen Exegese der Fall ist. Die soziologische Analyse biblischer Texte ist eine neu aufgenommene Forschungsrichtung, die ihren Entfaltungsraum benötigt und uns die urchristlichen Lebensbedingungen in z.T. ganz unerwarteter Art und Weise sehen lehrt. Hermeneutisch ist trotz

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dieses begrüßenswerten Erkenntnisgewinns darauf zu dringen, daß auch bei soziologischen Analysen die biblische Textwelt sorgsam bewahrt und nicht aufs neue mit Hilfe soziologischer Kategorien nomothetischen Betrachtungsweisen unterworfen wird. Es ist z.B. zu fragen, ob die mittlerweile üblich gewordenen Bezeichnungen „Jesusbewegung", „Sekte", „Wanderradikalismus", „Liebespatriarchat" usw. für die Jesusjünger und -anhänger, die urchristlichen Gemeinden, die wandernden Propheten und Evangelisten und die Haustafeln wirklich angemessen sind. Außerdem ist bei der Offenlegung der urchristlichen Lebenswirklichkeit sorgsam zu bedenken, daß die Einstellungen zu Armut und Reichtum, Sklaverei und Freiheit, Repression und Emanzipation im l./2.Jh. sehr anders waren als die heutigen Wertungen. Es ist deshalb hermeneutisch von großer Bedeutung, ob man das in der soziologischen Analyse unentbehrliche Analogieschema (s.o. S.24f.) unreflektiert oder mit methodischer Vorsicht anwendet. Schließlich sollte man sich in der neuen Forschungsrichtung nicht zu falschen Alternativen hinreißen lassen. Es ist nicht wahr, daß die theologische Exegese der vergangenen Jahrzehnte die urchristlichen Gemeinden mit theologischen Seminaren verwechselt und den Glauben dieser Gemeinden zur kerygmatischen Doktrin sublimiert hat. Die theologische Interpretation hat sich auf die Erforschung der urchristlichen Verkündigungsgeschichte konzentriert, und die soziologische Erforschung des Urchristentums bemüht sich jetzt, die sozialen Lebensbedingungen ans Licht zu heben, von denen diese Verkündigungsgeschichte begleitet und getragen ist.

2.4 Feministische

Hermeneutik?

Die Frage nach der Stellung der Frau in der Kirche läßt sich von der Frage nach ihrer Stellung in der Gesellschaft nicht abtrennen; endgültig gelöst sind beide Fragen noch längst nicht. Vielmehr betont Maria-Sybilla Heister mit Recht: „Es ist das Gebot der Stunde, der Frau mit dem besonderen Beitrag ihres weiblichen Menschseins in allen Bereichen des Lebens, in der Politik, der Wissenschaft und Kunst und des Glaubens die volle Entfaltungsmöglichkeit einzuräumen" (a.a. O., 11). Nachdem aber nunmehr in allen protestantischen Landeskirchen Deutschlands (außer Schaumburg-Lippe) die volle Zulassung der Frau zum (Gemeinde-)Pfarramt kirchenrechtlich durchgesetzt ist, ist wenigstens die Diskussion über die theologische Gleichberechtigung von Mann und Frau in Dienst und Leben der Kirche in ein neues Stadium getreten. Anders steht es damit noch im Bereich der römisch-katholischen (und der orthodoxen) Kirche. Im „Katholischen Erwachsenen-Katechismus" von 1985 heißt es: „ E i n e . . . vieldiskutierte Frage ist das Problem der Zulassung der Frauen zum Priesteramt. In ihrer menschlichen und christlichen Würde sind Frauen den Männern ebenbürtig. Deshalb sollen Frauen in allen Bereichen des Apostolats der Laien einen gebührenden Platz einnehmen (vgl. AA 9 [ = Dekret über das Laienapostolat ,Apostolicam actuositatem' ( 1 9 6 5 ) ; P. St.]). Bei den neuen Diensten leisten Frauen schon jetzt einen unersetzlichen Beitrag. Die römische Kongregation für die Glaubenslehre hat 1 9 7 6 jedoch erneut

Einwände und Anfragen

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festgestellt, daß der katholischen Kirche aufgrund des Beispiels Jesu wie aufgrund der gesamten kirchlichen Tradition die Zulassung der Frauen zum priesterlichen Amt nicht möglich erscheint. Dies ist keine letztverbindliche dogmatische Entscheidung. Die Argumente aus Schrift und Tradition haben freilich erhebliches Gewicht und müssen in der Kirche gegenüber den Argumenten aus der Forderung nach gesellschaftlicher Gleichberechtigung eindeutig das Übergewicht haben. Anders stellt sich die Frage nach der Zulassung von Frauen zum sakralen Diakonat. Sie bedarf jedoch noch weiterführender Diskussion, vor allem aber einer Konsensbildung in der gesamten Kirche" (a. a. O., 2 9 9 / 3 0 0 ; kursiv im Original).

Angesichts dieser Argumentationsweise wird sofort deutlich, weshalb theologisch engagierte Feministinnen in der katholischen (aber auch den protestantischen) Kirche(n) weiterhin mit Nachdruck und vollem Recht darauf bestehen, daß die noch immer fortdauernde Geschichte der gesellschaftlich und theologisch begründeten Unterdrückung der Frau bis in die Schrift hinein kritisch verfolgt und aufgearbeitet wird. Es gibt keinen vernünftigen Grund, sich dieser Forderung zu widersetzen. Angesichts des Evangeliums gibt es vor Gott keine Vor- oder Minderrechte von Mann und Frau mehr (Gal 3,28) und sind alle illegitimen patriarchalischen Strukturen an dem Grundsatz von l . K o r 7,23 zu messen, daß die durch Jesu Opfertod aus der Herrschaft der Sünde Freigekauften nicht mehr Sklaven von Menschen werden sollen. Die Frage aber, wie der durch Gottes Gnade in Christus gesetzten theologischen Gleichberechtigung von Mann und Frau heute im kirchlichen Leben entsprochen werden soll, bedarf angesichts der in der Schrift und in der Geschichte der Kirchen dafür vorliegenden (positiven und fragwürdigen) Modelle sorgsamer Erwägung. Leidvolle Erfahrungen mit dem Versuch solcher Aufarbeitung und Erwägung haben einige Feministinnen veranlaßt, eine eigene feministische Hermeneutik zu fordern und zu praktizieren. Führend unter ihnen ist z.Z. Elisabeth Schüssler-Fiorenza. Selbst eine katholische Neutestamentlerin von Rang, hat sie in mehreren Einzelpublikationen und schließlich zusammenfassend in ihrem Buch: In Memory of Her, 1983, das Verfahren und die Praxis einer feministisch-theologischen Hermeneutik entwickelt. Ihr Ansatz beruht auf der bewährten historisch-kritischen Methode. Sie spitzt diese aber noch zu einer (ausdrücklich so genannten) „Hermeneutik des Verdachts" zu und erhebt „die Befreiung der Frau von sexistischen Strukturen, Institutionen und androzentrisch-religiösen Werten" zu deren Sachkriterium (EK 16, 1 9 8 3 , 198). Das Neue Testament versteht diese Hermeneutik „nicht als unwandelbaren Archetyp, sondern als einen Prototyp des christlichen Glaubens . . . , der offen ist für eine feministische Transformation" (EK, a . a . O . ) . An den biblischen Kanon allein kann und will sich die neue Verfahrensweise nicht binden, weil er — von Männern geschrieben, durch eine patriarchalische Kultur geprägt und von einer ebenfalls patriarchalisch strukturierten Kirche kanonisiert - (bis auf wenige Traditionssplitter) doch nur die Stimme der „historischen Sieger", d.h. der Männer, repräsentiert. Um Rolle und Stimme der unterdrückten Frauen zu erkennen und zu hören, ist über den Kanon hinaus auch auf die apokryphe und christlich-gnostische Tradition der christlichen Frühzeit zurückzugreifen. Frau

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

Schüssler-Fiorenzas Programm zur Untersuchung des Neuen Testaments und der urchristlichen Geschichte lautet insgesamt: „Alle christlichen Texte sind in androzentrischer Sprache formuliert und durch ihre patriarchale historische Situation bedingt. Diese Texte und ihre Wirkungsgeschichte müssen daher kritisch danach befragt werden, warum sie die Unterdrückung von Frauen und anderen diskriminierten Gruppen inspiriert haben, aber auch, ob und warum sie ihre patriarchalen Kontexte gesprengt und zur Befreiung unterdrückter Menschen beigetragen haben" (EK, a . a . O . ) .

Der Gesamtentwurf läßt an Klarheit nichts zu wünschen übrig und ermöglicht auf diese Weise auch eine klare Kritik: Es geht um einen Musterfall von Tendenzkritik im Dienste eines feministischen Befreiungskonzeptes, dessen Gehalte theologisch gar nicht mehr ausdrücklich vor der Schrift und ihrem Zentrum, dem Evangelium von Kreuz und Auferweckung Jesus Christi, verantwortet werden. Alle biblischen Texte werden vielmehr einer vorgängigen Zensur unterworfen, die sie von vornherein als androzentrisch befangen verdächtigt und nur noch tendenziös verzerrt zu Wort kommen läßt. Man kann nur hoffen, daß sich die an der Frauenfrage positiv Interessierten nicht auf dieses im Grund schon wieder unkritische Verfahren einlassen. Unvoreingenommene historische Arbeit an den Texten, die (wirkungsgeschichtlich reflektierte) Abwägung ihrer Ausagen und eine dogmatisch wohldurchdachte, vom Evangelium her begründete Sachkritik (z.B. an l.Tim 2,11-15) dient dem (berechtigten) Anliegen der theologischen Gleichberechtigung von Frau und Mann in allen Kirchen besser als die vorgeschlagene feministische Hermeneutik des (vorgefaßten) Verdachts. Als Muster solcher Arbeit kann z.B. das „am Ende eines mühsamen Weges des Ringens um Anerkennung der ordinierten Theologin im Amt der Kirche entstandene" (a.a.O., 226) Buch von Maria-Sybilla Heister: Frauen in der biblischen Glaubensgeschichte, 1984, gelten.

2.5 Biblische Interpretation

im Kontext

Nach der Definition von Erwin Fahlbusch (in EKL 3 I 494) ist damit „die theol(ogische) Interpretation der Bibel angesichts der Herausforderungen der Zeit und der jeweiligen Situation der Christen und Kirchen an einem Ort, in einem Land oder einer Region" gemeint. Wir kennen die Kontextualisierung der biblischen Tradition aus der christlichen Kunst aller Zeiten. G. Ebeling hat auf das Phänomen schon längst unter dem Stichwort der „Geschichtlichkeit" der kirchlichen Verkündigung aufmerksam gemacht. Der deutschen Theologie steht die verhängnisvolle Kontextualisierung und Verfälschung des biblischen Evangeliums durch die Bewegung der „Deutschen Christen" aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 (warnend) vor Augen. Schließlich hat Edgar V. McKnight unüberhörbar auf die konstitutive Rolle des Lesers in seiner spezifischen Situation für das Verständnis der (biblischen) Texte hingewesen (s.o. S. 220). Daß biblische Interpretation jeweils nur im Kontext der gegenwärtigen

Einwände und Anfragen

237

Lebenssituation des Exegeten und der Kirche erfolgen kann, ist demnach ganz unbestreitbar, und von hier aus stellt die Kontextualisierung denn auch ein aktuelles hermeneutisches Problem dar. Fragt man nach seiner Bewältigung, ist zu beachten, daß die gegenwärtige Diskussion um die Kontextualisierung vor allem aus dem Bereich der Ökumene heraus neu angefacht worden ist, und zwar als Folgewirkung der weltweiten Rezeption der politischen Theologie der Befreiung. Zur Debatte steht also vor allem die Kontextualisierung der biblischen Botschaft, wie sie beispielhaft in den von Ernesto Cardenal aufgezeichneten Gesprächen über das Leben Jesu in Lateinamerika „Das Evangelium der Bauern von Solentiname" (Bd. 1 - 4 , 1 9 8 0 ) , oder in den von J . M o l t m a n n herausgegebenen Dokumenten der sog. Minjung-Theologie „Minjung - Theologie des Volkes Gottes in Südkorea" (1984), aber z.B. auch in der feministischen Theologie greifbar wird (s.o.). Die Wurzeln dieser Kontextualisierungen in einer (hierzulande leider fast unbekannt gewordenen) elementaren Volksfrömmigkeit und nicht minder elementaren gesellschaftlichen Bedürfnissen sind zu beachten; sie verbieten ein vorschnelles negatives Urteil ebenso, wie die (teilweise regelrecht begeisterte) Reaktion, die die genannten Publikationen und Bewegungen in Europa ausgelöst haben und noch immer auslösen, nachdenklich machen muß. Ist hier endlich der Schlüssel zu einer neuen glaubensschöpferischen Lektüre des Evangeliums in der Gegenwart gefunden worden? Wenn die Exegese der Schrift im Kontext der Zeit verschiedentlich als heilsame oder auch wohltuende Ergänzung, Modifikation oder auch Alternative zur steril gewordenen historisch-kritischen oder auch patriarchalisch-dogmatischen Auslegung der Bibel angepriesen wird, möchte man das fast glauben. Aber die Dinge liegen doch wesentlich komplizierter. So berechtigt der Protest gegen eine lebensfremd gewordene historische Schriftauslegung auch ist, und so wünschenswert es bleibt, daß die biblische Botschaft in neuer Unbefangenheit als uns gegenwärtig angehendes Wort gehört wird, so sehr haben wir Anlaß, der 1. These der Theologischen Erklärung von Barmen eingedenk ( = „ . . . Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. — Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen."), vor zweierlei zu warnen: erstens vor der hermeneutischen Ungeduld, mit der unter dem Vorzeichen einer aktuellen Kontextualisierung Schriftaussagen aus ihrem Kontext herausgelöst, in einen neuen Bezugsrahmen gestellt und dann ungehemmt positiv oder auch negativ bewertet werden; und zweitens vor der sich darin ausdrückenden Respektlosigkeit gegenüber der uns geschichtlich vorgegebenen Offenbarung Gottes im Wort seiner biblischen Zeugen. Die Ungeduld, mit der man bei der aktuellen Kontextualisierung von den biblischen Stichworten Versöhnung, Freiheit, Gerechtigkeit, Liebe usw. aus überspringt zum politisch-gesellschaftlichen Programm des Einsatzes bzw.

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

Kampfes für Versöhnung, Befreiung (Emanzipation), Gerechtigkeit und Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit in unserer Welt, und die biblische Erwartung der Gottesherrschaft mit der gesellschaftlichen Erarbeitung der Gottesherrschaft parallelisiert, ist in den genannten Dokumenten (und der politischen Hermeneutik des Evangeliums insgesamt) gar nicht zu übersehen. Aber eben diese Ungeduld birgt den Keim der Enttäuschung darüber, daß dieser Kampf scheitern könnte, schon in sich. Hermeneutisch ist sorgsamer zu arbeiten als mit einem ungeklärten Entsprechungsschema (Versöhnung hier entspricht der Versöhnung d o r t . . . ) , oder gar mit reinen Aquivokationen (Gerechtigkeit meint im biblischen Kontext dasselbe, was wir heute darunter verstehen ...). Wenn die (exegetische) Theologie nach dem schönen Wort von E. Fuchs (der damit K. Barths Einsicht wiedergibt) gewürdigt ist, „Gottes Weg zu den Menschen mitzugehen und dabei die Menschen auf diesen Weg Gottes zu versammeln" (s.o. S. 183), dann m u ß sie sich selbst und die anderen Schriftausleger dazu anhalten, diesen uns geschichtlich vorgegebenen Weg Gottes in den biblischen Texten auch zu respektieren, d. h. ihn zuerst als vorgegeben historisch aufzuweisen und dann erst die Markierungen dieses Weges in die Gegenwart und Z u k u n f t aufzuzeigen. Formelhaft ausgedrückt: Gerade um des Offenbarungscharakters der hl. Schrift willen ist es nötig, theologisch vorgängig auf sorgsame historische Textarbeit zu dringen und dann erst zur (dogmatisch reflektierten) Aktualisierung voranzuschreiten. Verfahren wir anders, schlagen wir die hermeneutischen Erfahrungen in den Wind, die die Bekennende Kirche in der Auseinandersetzung mit den rassistischen und nationalistischen Kontextualisierungen der biblischen Botschaft im sog. Kirchenkampf gemacht hat; eben dies sollten wir (zumindest in Deutschland) nicht tun.

2.6 Neupietistische

Einwände

Vom Nein des Neupietismus und des Fundamentalismus zur historischen Bibelkritik haben wir schon wiederholt gesprochen. Auf dieses Nein ist jetzt noch einmal einzugehen, obwohl wir uns wissenschaftsgeschichtlich schon vor Augen geführt haben, daß alle bisherigen Versuche, eine spezielle Hermeneutik des Glaubens und der Wiedergeburt auszuarbeiten, in deren Vollzug auf Bibelkritik verzichtet werden kann, gescheitert sind. Wenn ich recht sehe, steht hinter dem besagten Nein ein dreifaches Motiv. M a n steht erstens unter der unabweisbaren Erfahrung, daß sich der kirchliche Umgang mit der Schrift nicht in wissenschaftlicher Schriftauslegung erschöpft und daß die Liebe zur Bibel andere exegetische Ergebnisse zeitigt als die Aversion gegen sie. Zweitens aber ist man von der Überzeugung gebunden, daß das inspirierte Gotteswort, von dem die Gemeinde und der einzelne Christ leben, nicht gleichzeitig Gegenstand historischer und systematischer Kritik sein kann. Schließlich sucht und findet man die verläßliche Bibel in Gestalt des inspirierten, eine organische Einheit bildenden Kanons aus Altem und Neuem Testament. Alle drei Motive zusammen ergeben dann die Weigerung, sich an der Bibelkritik

Einwände und Anfragen

239

zu beteiligen, und führen zu dem Versuch, eine gegen die Fehlleistungen der historischen Kritik ein für alle Mal gefeite, dogmatisch unanfechtbare neue Methode der Schriftauslegung zu etablieren. Nachdem es weder Schlatter noch Barth gelungen ist, den Pietismus aus seiner Skepsis gegen die historische Bibelauslegung herauszuführen, und in der Debatte religionspsychologische Bindungen unverkennbar eine erhebliche Rolle spielen, sind die Aussichten auf eine Auflockerung der angestammten Fronten in der Gegenwart gering. Diese skeptische Reflexion entbindet uns aber nicht von dem Versuch, auf die hermeneutischen Argumente der Gegenseite einzugehen. Zunächst wird man betonen müssen, daß es eine gegen menschliche Fehlleistungen schützende Methode der Bibelauslegung noch nie gegeben hat und auch nie geben wird. Alle Auslegungsmethoden sind geschichtlich, deshalb wandelbar, irrtumsbelastet und korrekturbedürftig. Wie alle Schriftausleger vor uns, können auch wir nur versuchen, eine Methode auszuarbeiten und zu praktizieren, die dem Gegenstand, den es auszulegen gilt, der dogmatischen Tradition, in der wir stehen, und dem modernen Wahrheitsbewußtsein (kritisch) gerecht wird. Der Gegenstand sind die in der Geschichte von menschlichen Zeugen als Gottes- und Christuszeugnis verfaßten biblischen Bücher, zwischen deren Entstehungszeit und unserer Gegenwart mittlerweile eine Auslegungs- und Wirkungsgeschichte von nahezu zweitausend Jahren liegt. Da diese Auslegungs- und Wirkungsgeschichte unser Urteil über das Ursprungszeugnis der Bibel bestimmt, müssen wir uns selbst- und sachkritisch zu den biblischen Quellen zurückfragen und in der Bibel jene Redaktions- und Auslegungsvorgänge rekonstruieren, die zur Entstehung der biblischen Bücher geführt haben. Dieses Unternehmen ist ein kritisches Unternehmen, und es wird um so sachgemäßer durchgeführt, desto unbestechlicher unsere historische Methoden- und Gegenstandskritik ist. Wer einen neutestamentlichen Einzeloder Gesamttext interpretieren will, muß ihn genau übersetzen und analysieren können, muß in der Lage sein, den geschichtlichen Standort des Textes, seines Autors und seiner ersten Adressaten zu bestimmen und muß die Frage beantworten können, wie sich dieser Einzel- oder Gesamttext zu anderen biblischen Texten und Büchern verhält, die gleichzeitig, früher oder später entstanden sind als er. Von einem geschulten Exegeten der Bibel muß man außerdem verlangen können, daß er den Streit Jesu mit seinen jüdischen Gegnern, die Auseinandersetzung von Juden- und Heidenchristen um Weg und Stil der Mission, den Streit des Paulus mit Petrus um die „Wahrheit des Evangeliums" (Gal 2 , 1 4 ) , sein Ringen mit den seine Mission anfechtenden christlichen Judaisten und Konkurrenzmissionaren und schließlich auch den Kampf der Spätschriften des Neuen Testaments mit den christlichen Häretikern durchschaut; er muß angeben können, wie die Argumente hin- und hergegangen sind und welchen Überzeugungswert sie besitzen. Wer den biblischen Texten diese Durch- und Übersicht verweigert, gibt der Bibel nicht, was ihr gebührt, nämlich das Recht auf ihren geschichtlichen Standort und ihre geschichtliche Eigenart. Nimmt man vollends hinzu, daß Paulus selbst seine Gemeinde ausdrücklich zur kritischen Prüfung des prophetischen Zeugnisses aufruft (l.Thess 5 , 2 1 ; l . K o r 1 4 , 2 9 - 3 1 ) , sollte

240

Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

eigentlich deutlich sein, daß der Grundsatz, das biblische Offenbarungswort könne und dürfe nicht Gegenstand von (historischer und dogmatischer) Kritik sein, unhaltbar ist. Hinter diesem Grundsatz steht eine Auffassung von der Schrift als Wort Gottes, die im Kern ebenso ungeschichtlich wie unevangelisch ist. Wort Gottes ist die Schrift als menschliches Gottes- und Christuszeugnis. Inspiriert ist sie, weil und indem Gott die in der Schrift schreibenden und bekennenden Menschen zu seinen prophetischen und apostolischen Zeugen erwählt und damit ihrem Zeugnis eine Reichweite gegeben hat, die ihren geschichtlichen Ausgangspunkt kirchenstiftend und glaubenweckend transzendiert. Da dieses Zeugnis aber in sich geschichtlich vielfältig, ζ. T. widersprüchlich und seit den Tagen des Neuen Testaments kontrovers ist, hilft es uns wenig, wenn sich der Pietismus von heute gemeinsam mit manchen Katholiken (denen bereits im eigenen Lager widersprochen wird) auf die Auskunft zurückzieht, es gelte die Schrift als ganze ernstzunehmen und nicht eine normative Mitte herauszugreifen. Angesichts der Autorität des kirchlichen Lehramts ist dieser Standpunkt in unserer katholischen Schwesterkirche hermeneutisch konsequent und in der Praxis auch durchhaltbar. Protestantisch läßt er sich nicht durchführen, es sei denn, man setze den Konsens einzelner protestantischer Glaubensgemeinschaften mit dem katholischen Dogma gleich und bewerte das Ganze der Schrift von der subjektiven regula fidei dieser Gruppen her. Das aber wäre eine Form von innerprotestantischem, orthodox stigmatisiertem Schwärmertum! Wenn wir bereit sind, vom zweiten Timotheus- und Petrusbrief und von der Alten Kirche zu lernen, daß die Rede von der Inspiration der Schrift primär eine hermeneutische Anweisung zu ihrem sachgemäßen, d.h. traditions- und bekenntnisgemäßen Gebrauch ist und in das hermeneutische Geviert von Schrift, Schriftauslegung, Glaubenstradition und Kirche hineinweist, dann ist kritische Schriftauslegung kein Problem mehr, vielmehr eine kirchlich-missionarische Aufgabe ersten Ranges. Dieser Aufgabe werden wir erst gerecht, wenn wir von der Bibel aus überzeugend sagen können, wer Christus ist und wer er nicht ist. Diese Auskunft kann aber nur eine Exegese geben, die die Bibel historisch und systematisch kritisch liest. Mit dem Hinweis auf den weiten kirchlichen Lebensraum, den die Bibel prägt und den wissenschaftliche Schriftauslegung allein nicht abdeckt, hat der Pietismus freilich ebenso recht wie mit der Erkenntnis, daß der Ansatz der Exegeten für die Ergebnisse ihrer Schriftauslegung von höchster hermeneutischer Bedeutung ist. Wir müssen beides mitsamt den von der Schrift selbst her gesetzten Auslegungsmaßstäben bei der jetzt vorzunehmenden Detailanalyse der Hermeneutik des Einverständnisses berücksichtigen.

3.

Durchführung

Wenn wir die biblischen Texte im Einverständnis mit den von ihnen gesetzten Maßstäben und der von ihnen ausgehenden christlichen Tradition auslegen

241

Durchführung

wollen, stellt sich unsere Auslegungsweise ganz von selbst als Schriftauslegung dar, die ihren natürlichen Ort im kirchlichen Lebensraum hat. Da die Schrift aber über diesen Raum hinauswirkt, muß auch unsere Auslegung für diese AusWirkung offenbleiben und bemüht sein, das Zeugnis der Schrift so verständlich und hörbar zu machen, daß es von möglichst vielen Zeitgenossen zur Kenntnis genommen werden kann. Die Struktur und Stoßrichtung unserer Auslegung machen wir uns am besten an dem nachstehenden Schema deutlich:

• Interpretation • 3. Stufe

2. Stufe

1. Stufe

Dogma neues Verständnis

EVANGELIUM

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-Verheißung

Diachronizität 1 • —

Wirkungsgeschichte - Analyse -

Wir gehen aus von der sich selbst auslegenden, in der Kirche gepredigten und gelesenen hl. Schrift. Sie gibt uns aus eigener Autorität das Evangelium vor, das in dem von den (alttestamentlichen) „Schriften" angekündigten und verheißenen Christus Jesus geschichtliche Gestalt angenommen hat. Das von den Aposteln überlieferte und bezeugte Evangelium ist von sich selber her die maßgebende Mitte der Schrift, auf die hin und von der her sich alle biblischen Aussagen messen lassen. Die Schrift ist Gegenstand unserer Auslegungsbemühungen als menschliches Zeugnis von Gottes Offenbarung. Sie liegt uns vor in dem kirchlichen Kanon aus Altem und Neuem Testament. Beide Testamente können und müssen unterschieden, dürfen aber nicht voneinander getrennt werden. - Bei der Auslegung sind wir bewegt von einem „Vorverständnis" bzw. einem „erkenntnisleitenden Interesse", das unserer Auslegung die Stoßrichtung gibt. In einem ersten Arbeitsgang, der Analyse, stoßen wir zu den biblischen Texten selbst vor und bemühen uns, sie selbst und den hinter ihnen stehenden Entstehungsprozeß in ihrer geschichtlichen Eigenart aufzuhellen. Aus der Analyse heraus entwickelt sich der zweite Arbeitsgang, die Interpretation. Sie wird in wenigstens drei Schritten vollzogen: Zuerst ist der Text an seinem ursprünglichen Ort so genau wie möglich nachzuzeichnen, und zwar mit allen Aspekten seiner „Welt"; dann ist der Einzeltext mit seiner Aussage in das kanonische Ganze des (alt- und neutestamentlichen) Kanons hineinzustellen und in diesem Rahmen zu bewerten; schließlich ist angesichts der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte des Textes und des die kirchliche Schriftauslegung summierenden

242

Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

Dogmas eine Auslegung vorzunehmen, die direkt in die Gegenwart hineinspricht. Die von uns vorgeschlagene kirchliche Schriftauslegung bleibt also nicht bei der Beschreibung des Textes als historischem Phänomen stehen, sondern geht aus von und dient dem gegenwärtigen (kirchlichen) Gebrauch der Schrift. Im Verlauf dieser Arbeit verschränken sich historische und dogmatische Überlegungen und Wertungen; dogmatische Erwägungen spielen bereits bei der Methodendiskussion eine gewichtige Rolle und gewinnen erneut Bedeutung, wenn der Einzeltext in den Rahmen des Kanons hineingestellt und anschließend angesichts des Dogmas für die Gegenwart ausgelegt wird. Durch die bewußte Verschränkung von historischer Analyse und dogmatisch-reflektierter Interpretation entgehen wir sowohl einem historisch-kritischen Biblizismus, der sich aller dogmatischen Verantwortung enthoben wähnt, als auch den verschiedenen Spielarten eines historisch nicht mehr verantworteten rein dogmatischen Schriftgebrauchs.

3.1 Der hermeneutische

Ansatz: Das

Vorverständnis

R. Bultmann ist für seine Feststellung, „daß jede Interpretation notwendig von einem gewissen Vorverständnis der in Rede oder in Frage stehenden Sache getragen ist" (a. a. O., 227), viel gescholten worden. Trotzdem handelt es sich um eine hermeneutisch grundlegende und nur zum Schaden des Verständnisvorgangs abzustreitende Entdeckung. Jede Textauslegung ist von einem „erkenntnisleitenden Interesse" (Habermas) bestimmt, und es ist eine Illusion, ohne ein solches auskommen zu wollen oder zu können. Es ist vielmehr darauf zu dringen, daß sich der Textausleger über sein Vorverständnis im klaren ist und dies auch ausdrücklich formuliert. Wer die biblischen Texte wirklich als Zeugnistexte verstehen will, muß bereit sein, sich auf ihr Zeugnis einzulassen und dieses in seiner geschichtlichen Eigenart auszuarbeiten. Natürlich kann man die biblischen Texte auch nur unter rein philologischen Gesichtspunkten oder als Quellen für die urchristliche Geschichte lesen usw.; ihre eigentliche Intention liegt aber in ihrem Zeugnischarakter, und auf den muß sich der Schriftausleger einstellen. Da die Texte sprachlich klar verfaßte Überlieferungseinheiten darstellen, bedarf es zur Erfassung ihrer sprachlichen Eigenheit vor allem guter Schulung in den biblischen Sprachen. Da der Glaube allein Gottes Gabe ist, darf er nicht methodisch verrechnet und zur Voraussetzung der Schriftauslegung gemacht werden. Was dem Ausleger der biblischen Texte allerdings von Anfang an abverlangt werden muß, ist die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auf theologische Überlegungen einzulassen, die aus dem kirchlichen Umgang mit der Schrift erwachsen sind und durch Textpassagen wie l.Kor 1,18-2,16; 2.Kor 10,5 immer neu wachgehalten werden. Wer sich auf die Interpretation des Schriftzeugnisses einläßt, muß auch bereit sein, seinen Ansatz und sein methodisches Verfahren den von der Schrift gesetzten hermeneutischen und inhaltlichen Maßstäben auszusetzen. Aus dem Vorverständnis leitet sich das eigentliche exegetische Sachinteresse

Durchführung

243

ab. Wir fassen dieses Sachinteresse bewußt so weit, wie die biblische Textwelt reicht. Erst wenn wir die Texte in ihrer ganzen Weite und allen Dimensionen ihrer Aussagen über Gott, seine Geschichte mit den Menschen, über Christus und seine Sendung, über die Menschen als Sünder, Gerechte, leidende und hoffende Kreaturen nachzeichnen, werden Reichtum und Aktualität der biblischen Botschaft sichtbar.

3.2 Methoden und Ziele der Analyse Der selbstverständlich erscheinende Umstand, daß wir, um zu den biblischen Texten in ihrer Ursprache vorzustoßen, uns von den vertrauten deutschen Übersetzungen lösen, möglichst gute Textausgaben benutzen, Nachschlagewerke, Konkordanzen, Grammatiken, Kommentare heranziehen und schließlich noch mit Hilfe von textgeschichtlichen und textkritischen Überlegungen entscheiden, welches die für uns derzeit erreichbare beste Fassung des griechischen (aramäischen oder hebräischen) Bibeltextes ist, macht uns bewußt, daß wir nicht als erste und einzige um den Bibeltext bemüht waren und sind. Zwischen uns und den im Kanon der Schrift zusammengefaßten biblischen Büchern und Einzeltexten steht eine lange Traditions- und Auslegungsgeschichte, an der wir Anteil haben. Wir nehmen dies zur Kenntnis, bedienen uns auch dankbar der im Verlaufe dieser Auslegungsgeschichte erarbeiteten exegetischen Hilfsmittel, wenden uns aber zunächst und vor allem den (Einzel-)Texten zu. Da diese Texte in bestimmter geschichtlicher Situation aus bestimmten Interessen für bestimmte Menschen verfaßt worden sind, müssen wir bereit und in der Lage sein, die geschichtliche Eigenart der Texte und ihrer Welt aufzuschlüsseln, und zwar in den zwei entscheidenden Dimensionen, die die Text-Linguistik kennt: vorrangig auf der synchronen Ebene der vorliegenden, ausformulierten Texte, aber anschließend auch in der hinter dieser synchronen Ebene liegenden diachronen Dimension der Sprach- und Traditionsgeschichte, die zur Bildung und Fixierung der Texte beigetragen hat (s.o. S. 2 1 9 f f . ) . Zur Erfassung historischer Tatbestände und zur Auslegung historischer Urkunden steht uns bis zur Stunde kein besseres wissenschaftliches Instrumentarium zur Verfügung als das in der historisch-kritischen Methode zusammengefaßte Ensemble von Einzelmethoden. Die historisch-kritische Methode ist von ihrem Ansatz her ein ihre Gegenstände verobjektivierendes und sowohl erkenntnistheoretisch wie weltanschaulich vorgeprägtes Erkenntnisverfahren. M a n darf sie eben deshalb nicht unreflektiert, sondern nur im kritischen Bewußtsein ihrer Implikationen einsetzen. Verfährt man anders, wird die Methode unter der Hand zum eigengesetzlichen Faktor, der eine wirklich unvoreingenommene Sicht der biblischen Texte behindert. Die von E. Troeltsch genannten vier grundlegenden Prinzipien der historischen Kritik sind: Kritik, Analogie, geschichtliche Korrelation und (religiöse) Subjektivität oder Persönlichkeit (s.o. S . 2 4 f . ) ; die religiöse Persönlichkeit bestimmt nach Troeltsch die Geschichte, und die Geschichte selbst wird ideali-

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

stisch als Geschichte des geistigen Fortschritts gesehen. Nachdem Troeltsch die historische Kritik zu einem auch die Theologie bestimmenden, unabdingbaren Denk- und Auslegungsverfahren stilisiert hat, sind seine vier Prinzipien mitsamt dem die ganze Konzeption bestimmenden Geschichtsbegriff unter einen hermeneutischen Vorbehalt zu stellen. In der ersten Auflage dieses Buches (und einigen Einzelveröffentlichungen) habe ich diesen Vorbehalt in das von Martin Buber entlehnte Stichwort „Vernehmen" zusammengefaßt (Buber hat sich erst nach langjährigen philologischen und philosophischen Studien zum Vernehmen heiliger Texte in der Lage gesehen). Gegen dieses Prinzip des „Vernehmens" ist immer wieder eingewandt worden, es ließe sich nicht hinreichend methodisieren und meine doch nichts anderes, als die jedem verantwortlichen Schriftausleger selbstverständlich abzufordernde „Offenheit" für die Texte und ihre Sache. Dank der hermeneutischen Arbeiten von E.V. McKnight, H. Weder und B. F. Meyer läßt sich aber durchaus bis ins Methodische hinein präzisieren, was der Vorbehalt des Vernehmens meint. Ε. V. McKnight hat auf die für das Textverständnis entscheidende Rolle des Lesers aufmerksam gemacht: Die (kognitive und emotionale) Einstellung des Lesers zu dem ihm vorliegenden Werk oder Einzeltext bestimmt und verändert jeweils die Auffassung, die der Leser von jenem Werk oder Text hat (s.o. S. 220). Daraus folgt hermeneutisch, daß der Leser bzw. Interpret seine Einstellung zum Text genau kontrollieren muß und sich in unserem Fall über das Regelsystem von Kritik, Analogie und Korrelation hinaus auf das ganzheitliche Vernehmen der Texte ausdrücklich einzustellen hat. Wer sich eines Textes und Werkes kognitiv und emotional zu erwehren sucht, wird Text und Werk anders sehen und leichter beiseiteschieben können, als der, der dem Text und Werk mit gesammelter Aufmerksamkeit gegenübertritt. Eben diese Offenheit darf sich der Ausleger der (biblischen) Texte nicht unter der Hand durch die eingeübten Mechanismen der historischen Kritik einengen lassen. Das Problem läßt sich linguistisch klar beschreiben: Sofern die Texte in ihrer Ursprungsgestalt eigenständige Sprech- und Kommunikationsakte darstellen, darf uns die eingebürgerte historische Kritik nicht daran hindern, diese Sprechakte auch sichtbar und verstehbar zu machen. Die uns schon bei der Diskussion des Vorverständnisses beschäftigende Frage nach der kognitiven und emotionalen Einstellung des Interpreten zu einer Aufgabe taucht also auf der textlinguistischen Ebene erneut auf und verlangt hier ebenso Beachtung wie oben. H. Weder hat bei seiner Suche nach dem für die theologische Schriftauslegung angemessenen Geschichtsbegriff vor der unreflektierten Übernahme eigengesetzlicher Geschichtsauffassungen gewarnt (s.o. S.233). Er dringt mit Recht darauf, daß bei einer theologischen Geschichtsbetrachtung darauf verzichtet werden müsse, den Menschen nur als „Handlungssubjekt" zu sehen, das seiner selbst mächtig ist. Vielmehr sei der Mensch als „Referenzsubjekt" zu denken, dem die Geschichte erst seine Identität verleiht; Handlungssubjekt der Geschichte ist Gott, und gerade der Verzicht des Menschen auf die Selbstinszenierung als Handlungssubjekt läßt ihn vor Gott Identität und Freiheit gewinnen (vgl. Weder, a.a.O., 81—85). Folgt man diesen Überlegungen, kann man weder

Durchführung

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mehr mit einem auf den Menschen als Handlungssubjekt abstellenden idealistischen oder materialistischen oder revolutionären Geschichtsbegriff an die biblische Überlieferung herangehen, sondern muß Geschichte primär als Wirkungsraum des Gottes denken, der den eigenmächtigen Sünder aus seiner selbstverschuldeten Eigenmächtigkeit befreit. Damit wird aufs neue die selbstverständliche Geltung und Übernahme von Kritik, Analogie, Korrelation und Subjektivität eingeschränkt. Bei der Auslegung der Schrift wird vielmehr um das rechte Geschichts- und Menschenverständnis erst gerungen werden müssen! - Was den Wirklichkeitsbegriff und damit speziell das von Troeltsch als „allmächtig" bezeichnete Analogie-Schema anbetrifft (s.o. S . 2 4 f . ) , steht es nicht anders. Von Karl R. Popper kann man lernen, daß wir heute ontologisch zwischen der Welt der Dinge (Popper: Welt 1), der Welt der subjektiven Erfahrungen (Popper: Welt 2) und der Welt der Theorien, Gedanken, Argumente, aber auch der Musik, Kultur etc. (Popper: Welt 3) zu unterscheiden vermögen. Popper faßt nun aber die „Welt 3 im wesentlichen als ein Produkt des menschlichen Geistes auf" (a.a.O., 271). Damit stehen wir wieder vor dem Problem, daß theologisch vom Menschen auch „drittweltlich" im Sinne des Empfängers und Adressaten von Erfahrungen, Mitteilungen und religiösen Geschehnissen die Rede sein muß, ehe Poppers hilfreiche ontologische Differenzierung für die theologische Textauslegung fruchtbar gemacht werden kann. Auch in Hinsicht auf die Wirklichkeit ist der Mensch keineswegs das Handlungssubjekt allein, als das er sich und andere gern sehen möchte, sondern Beziehungssubjekt von Ereignissen, die nicht in seiner Möglichkeit stehen! Er muß die damit verbundenen Ansprüche vernehmen und ihnen zu entsprechen lernen. B.F. Meyer schließlich hat in einer ganzen Reihe von Publikationen auf die ungeklärten philosophischen Voraussetzungen hingewiesen, die die verschiedenen exegetischen und theologischen Lager in der Gegenwart trennen und eine Verständigung zwischen ihnen z.T. fast unmöglich machen. Er drängt unter diesen Umständen darauf, daß bei der Untersuchung von biblischen Texten die Troeltsch'sche Ideologie nicht mehr unbesehen übernommen, der kognitive Anspruch der Kritik auf das M a ß ihrer wirklichen Kompetenz beschränkt und von den Auslegern zum Zwecke besserer Verständigung in der gemeinsamen Sache jeweils ausdrücklich angegeben wird, mit Hilfe welcher Kriterien sie zwischen wirklich und unwirklich, historisch und unhistorisch unterscheiden. Meyers letzter Vorschlag verdient m.E. große Beachtung und könnte z.B. auch die festgefahrene Debatte über die sog. „Heilstatsachen" (s. o. S. 34) wieder in Bewegung bringen. Insgesamt ergibt sich also, daß die historisch-kritische Methode bei der Schriftauslegung nur unter dem hermeneutischen Vorbehalt eingesetzt werden kann, daß die kognitive und emotionale Einstellung des Interpreten zu den Texten, der die Wahrnehmung und die Urteile bestimmende Geschichts- und Wirklichkeitsbegriff und die Gründe der Kritik für die Unterscheidung von historisch und unhistorisch offengelegt und, wo es erforderlich ist, auch theologischer Kritik ausgesetzt werden müssen. Verfahren wir anders, steht das

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

Geviert von Kritik, Analogie, Korrelation und religiöser Subjektivität dem offenen Vernehmen biblischer Texte entgegen. Die historische Methode besteht nicht nur in dem hermeneutischen übergeordneten Regelsystem von Verstehensprinzipien, sondern sie setzt sich in der Praxis zusammen aus einem ganzen Ensemble von historischen Einzelmethoden (Textkritik, textlinguistische Analyse, Literar-, Form-, Redaktionskritik, Wortuntersuchungen, Zeit- und Religionsgeschichte, Soziologie des Urchristentums usw.). Auch diese Einzelmethoden bedürfen ständig der Überprüfung und Erweiterung. (Vgl. dazu z.B. K.Berger: Exegese des'Neuen Testaments, 2 1 9 8 4 , oder: Methoden der Evangelien-Exegese, hrsg. von F. Furger, 1985). Wir haben auch diese Überlegungen angesichts der zu interpretierenden Texte verantwortlich mitzuvollziehen und werden dabei ganz von selbst auf die Annahme verzichten lernen, die historische Kritik habe nichts mehr hinzuzulernen. Die Kritik ist keineswegs bankrott oder gar zu Ende, sondern sie ist unterwegs. Je bedächtiger wir den von ihr zur Verfügung gestellten Fächer von Einzelmethoden anwenden und je behutsamer wir dabei auf die Konvergenz der jeweils zutagetretenden Einzelergebnisse achten, desto textgemäßer werden unsere Ergebnisse sein, und eben darauf kommt es vor allem anderen an. Wenden wir uns nach dieser (unentbehrlichen) Methodenkritik noch einmal dem Vorgang der Textanalyse zu, ist klar, worauf sie zielt: Sie ist bemüht, alle zum Verständnis der Texte in den Ebenen der Synchronie und Diachronie relevanten Erkenntnisse zu gewinnen und für die Interpretation bereitzustellen. Es soll deutlich werden, auf welcher Grundlage, in welcher Weise und mit welchem Ziel die Texte auf ihre Art (erzählend, argumentierend oder auch appellierend) Zeugnis von Gottes Handeln in und durch Jesus Christus ablegen. Die Analyse ist aber noch nicht die Interpretation selbst; diese wird vielmehr durch die analytische Arbeit, die den Texten (buchstäblich) auf den Grund geht, nur erst vorbereitet.

3.3 Die Interpretation

und das Problem der Sachkritik

Die Interpretation (und die ihr jeweils zugeordnete Sachkritik) erfolgt in mehreren Stufen. Erstens auf der Ebene der Ursprungssituation der Texte, zweitens auf der Ebene ihres kanonischen Zusammenhangs und drittens angesichts der Wirkungs- und Auslegungsgeschichte in Hinsicht auf das maßgebliche kirchliche Dogma, das, wie wir sehen werden, eine hermeneutische Hilfe ersten Ranges darstellt. Erkenntnis Gottes und des Evangeliums sind biblisch niemals nur kognitive Vorgänge, sondern ganzheitliche, Intellekt, Wille und Herz des Menschen ergreifende Vollzüge (s.o. S . 5 0 f f . ) . Die Textinterpretation, zu der wir einladen, verweist dementsprechend auf den kirchlichen Lebensvollzug insgesamt; dies gilt ζ. B. auch dann, wenn sie im Schulunterricht vorgetragen oder im akademischen Hörsaal ausgearbeitet und zur Diskussion gestellt wird. Stets bleibt die Bibelauslegung auf die Verifikation ihrer Richtig-

Durchführung

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keit nicht nur durch die kritische Diskussion, sondern auch durch das Leben der Kirche angewiesen (vgl. J o h 7 , 1 6 - 1 7 ) . з . 3 . 1 Interpretation auf der Ursprungsebene der Texte Die Interpretation vollzieht im Idealfall den Kommunikationsvorgang nach und deckt die Erfahrungen auf, denen der Text seine erste Fixierung verdankt, und geht im Anschluß daran die sprachlich strukturierten Textaussagen so durch, daß das Textzeugnis — aus dem geschichtlichen Abstand heraus perspektivisch und in seinen Schwerpunktaussagen auch sachlich noch besser verstanden als in seiner Ursprungszeit - in seiner Eigenart vor Augen steht: ein erzählender Text als Erzählung, ein argumentierender Text als Argumentation, ein appellierender T e x t als Appell usw. Zu diesem Nach-Vollzug des Textes gehört, daß Ereignisschilderungen, Bekenntnisse, Visionen etc. ontologisch differenziert (als erst-, zweit- und drittweltlich; s.o. S. 2 4 5 ) , heilsgeschichtliche Perspektiven in ihrem spezifischen, von der glaubenden Gemeinde ausgehenden und auf sie hin bezogenen Wertungszusammenhang durchsichtig gemacht, und z.B. Aussagen, die in der Form des Lobpreises oder des Bekenntnisses überliefert sind, von beschreibender Rede unterschieden werden. Zur Interpretation gehört ferner, daß der Textzusammenhang (im Rahmen eines Evangeliums, eines Briefes, der Apostelgeschichte oder der Johannesoffenbarung) deutlich gemacht und damit die Stellung des der Interpretation vorgegebenen Einzeltextes im Kontext des biblischen Buches, dem er zugehört, deutlich wird. Bei solcher Interpretation wird vermieden, daß die historische Kritik einen Text (-Zusammenhang) nur analytisch rückgängig macht, den Leser aber nicht mehr vor das Textzeugnis stellt, wie es uns die biblischen Bücher überliefern. Bei aller Genauigkeit, die der Interpretation in Hinsicht auf Methode und Differenzierung abverlangt wird, erleichtert es dem Interpreten seine Aufgabe wesentlich, wenn er in „kritischer Sympathie" ( W . G . Kümmel) mit seinen Texten mitgeht und das Bestreben, Text und Textzeugnis kritisch zu werten, solange zurückhält, bis das Ganze der Aussagen zu Gehör gebracht worden ist. Die Tatsache, daß der Interpret aus dem historischen Abstand heraus den Text und seine Situation anders sieht und sehen kann als die Zeitgenossen, die der Text erstmalig anging, ist ein Vorteil historischer Interpretation und kann der Ausarbeitung des Textzeugnisses nur dienlich sein. Die sich dem Interpreten и. U. aufdrängende Sachkritik soll er aber zurückhalten, bis er wirklich sicher sein kann, daß er selbst und diejenigen, für die er interpretiert, das Zeugnis der Texte in seiner charakteristischen Eigenart und Welt auch gehört und verstanden haben. Sachkritik an den biblischen Texten ist ein unaufgebbares Element aller theologischen Interpretation, sofern sie von der sich selbst auslegenden, gepredigten Schrift ausgeht und dem Zeugnis des Evangeliums dienen will. Die Gründe, die zur Sachkritik veranlassen, sind allerdings genau anzugeben. Arbeiten wir bei der Interpretation mit einem ideologisch geprägten Geschichtsbegriff, drängt sich schon von daher die sachkritische Wertung von Textaussagen

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

mit Notwendigkeit auf; die von uns gemusterten Beispiele der politischen, materialistischen oder feministischen Textinterpretation bieten Anschauungsmaterial genug dafür, daß den Texten bei dieser Art von Verfahren nur allzu leicht Gewalt angetan wird. Ist die Interpretation aber um einen theologisch differenzierten Geschichts- und Wirklichkeitsbegriff bemüht (s.o. S . 2 4 4 f . ) , ergibt sich Sachkritik erst dann mit innerer Notwendigkeit, wenn sie aus der Beteiligung an der von den Texten selbst vertretenen Sache heraus erwächst. In diesem Fall sprengt die Sachkritik das Treueverhältnis nicht, das der Interpret seinen Texten schuldet, sondern ist Ausdruck desselben! An den Paulusbriefen läßt sich ζ. B. eindeutig erkennen, daß die von Paulus vertretene Wahrheit des Evangeliums zwischen ihm und Petrus (vgl. Gal 2,11 ff.) umstritten war; umstritten war sie auch zwischen Paulus und seinen Gegnern im Galaterbrief, in den Korintherbriefen und im Römerbrief, und zwar bis hin zur Verfluchung der Gegenseite (vgl. Gal 1,6-9; 2.Kor 11,3-4.12-15; Rom 3,8 + 16,17f.). Rechte Interpretation nimmt an diesem Streit um das Christusevangelium teil und bringt deshalb auch kritisch zum Ausdruck, wo und wie sich Paulus und seine Gegner unterscheiden. Zugleich verdient die von Schlatter ζ. T. völlig verdrängte und seinerzeit auch von K. Barth gegenüber R. Bultmann zu rasch überspielte Frage (s.o. S. 180f.) sorgsamer Erwägung, ob der Autor (in unserem Fall: Paulus) selbst wirklich aus der Sache des Evangeliums heraus argumentiert oder sich möglicherweise auch von sachfremden Gesichtspunkten leiten läßt, und warum er dies tut. Erst solche Überlegungen machen Argumentationen des Apostels wie in l . K o r 11,2-16 entweder wirklich durchsichtig, oder sie zeigen Aporien auf, mit denen auch der Apostel zu kämpfen hatte; erst aufgrund solcher Reflexion läßt sich z.B. auch über den paulinischen oder deuteropaulinischen Charakter von l . K o r 14,33 b-36 oder 2.Kor 6,14-7,1 entscheiden.

3.3.2 Interpretation auf der Ebene des biblischen Kanons Die theologische Interpretation biblischer Texte kann nicht einfach auf der Ursprungsstufe der Texte stehenbleiben, sondern muß fortschreiten zu ihrer gesamtbiblischen Wertung im Ganzen des Kanons. Historisch wird damit der Einzeltext über seine Entstehungszeit hinausverfolgt und seiner Einbettung in jene christliche Tradition Rechnung getragen, die ihn zu einem Bestandteil des Kanons aus Altem und Neuem Testament hat werden lassen. Daß mit dieser Einbettung in die kanonische Gesamttradition eine hermeneutisch bedeutsame Neubewertung der Einzeltexte und -bücher einhergeht, kann man von H. Schürmann lernen: „Als Bestandteil der Schrift werden alle Einzelaussagen ,enthistorisiert', d . h . ,verobjektiviert' und—bei Wahrung ihres ursprünglichen historischen Sinnes (als T e x t a u s s a g e n mit einem sensus objectivus [ = feststellbaren Sinn, P.St.]) — in eine neue Situation ,transponiert', somit für jede Zeit der Kirche verbindlich g e m a c h t " (a.a. O . , 3 3 0 ; kursiv im Original).

Durchführung

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Indem die Interpretation diese neue Traditionsstufe der Kanonisierung berücksichtigt, wird sie zur Beurteilung der Texte als Bestandteil des Kanons genötigt, muß also auch ein (historisch fundiertes dogmatisches) Urteil über Umfang, Recht und Grenze des Kanons entwickeln (s.o. §3). Jetzt gilt es nämlich, den biblischen Stellenwert der einzelnen Bücher im Rahmen des Neuen Testaments und des mit diesem vom Ursprung der christlichen Traditionsbildung an unlöslich verbundenen Alten Testaments zu bestimmen, also Haupt- und Nebenschriften des Kanons zu unterscheiden; dasselbe gilt für einzelne Textaussagen. Gegenüber der ersten Stufe der Interpretation ist jetzt festzustellen, ob es sich bei dem zur Interpretation anstehenden Einzel- oder Gesamttext um Aussagen von gesamtbiblisch minderer oder größerer Bedeutung handelt, ob dem Text durch andere Schriftaussagen widersprochen, oder ob er von ihnen bestätigt und in besonderes Licht gerückt wird. Zu fragen ist jetzt auch, welchen biblischen Rang das in den Evangelien erzählte Evangelium von Jesus Christus gegenüber der auf Tod und Auferweckung Jesu konzentrierten Bezeugung des Evangeliums in den apostolischen Briefen hat. — Bei der Suche nach der „Mitte der Schrift" hat die Interpretation nun auch zu entscheiden, wie sich alt- und neutestamentliches Schriftzeugnis zueinander verhalten. Der Neutestamentier tut gut daran, diese brisante Frage erst zu entscheiden, wenn er sich eingehend mit solchen Exegeten des Alten Testaments beraten hat, die sich dem biblisch-theologischen Gesamtproblem nicht entziehen. Von einer „Mitte der Schrift" kann ja ernsthaft erst und nur so die Rede sein, daß wirklich das Zeugnis der ganzen Schrift aus Altem und Neuem Testament gehört und bedacht wird. Christlich gibt die Schrift Zeugnis von dem einen Gott, der als Schöpfer der Welt Israel zu seinem Eigentumsvolk erwählt und durch seinen Sohn, den Messias Jesus von Nazareth, in verheißungsvoller Endgültigkeit zum Heil aller Sünder aus Juden und Heiden gehandelt hat (vgl. Rom 1,1-7.16-17). Nur so gesehen - und eben nicht einfach abstrakt als „Rechtfertigungslehre" o.ä. — ist das Evangelium wirklich Mitte der Schrift aus Altem und Neuem Testament. So läßt es sich dann aber auch gesamtbiblisch als Kriterium anwenden, das aus dem Zentrum der Schrift heraus als theologischer Maßstab vorgegeben ist. Wertet man Einzeltexte und -bücher im kanonischen Gesamtzusammenhang, gewinnt auch die theologisch unerläßliche Sachkritik andere und neue Dimensionen als auf der ersten Ebene der Interpretation. Jetzt muß sachkritisch entschieden werden, wie sich solche biblischen Aussagen und Bücher, die noch nicht in der von Paulus her bekannten Weise zwischen Verheißung, Gesetz und Evangelium unterscheiden, zum paulinischen Evangelium verhalten; nunmehr kann die Verhältnisbestimmung von paulinischen Rechtfertigungsaussagen zu denen des Jakobusbriefes nicht mehr (z.B. unter Hinweis auf die verschiedene Verkündigungssituation des Paulus und des Jakobusbriefes) aufgeschoben werden; nun ist der biblische Stellenwert der seit alters heiß umstrittenen Aussagen des Hebräerbriefes über die Unmöglichkeit der zweiten Buße (Hebr 6,4-8; 10,26-31) mitsamt der Bedeutung der Evangelientradition von der Sünde wider den hl. Geist (Mk 3,28-30 Par.) zu bestimmen; und jetzt ist auch ein Urteil

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

darüber unumgänglich, wie sich die alte paulinische (und, wie M t 23, 8-12 und Joh 15,12-17, zeigen, nicht nur paulinische) Rede von der Gemeinde als dem geisterfüllten Leib Christi, d. h. der charismatischen Korporation aller Gläubigen, zu der Lehre der Pastoralbriefe verhält, daß eine Kirche im Kampf gegen die Häresie nicht auskommen kann ohne Ämter und Schutz ihrer Lehre vor Zersetzung und Überfremdung. Die Sachkritik auf der zweiten Stufe der Interpretation nimmt den Exegeten unausweichlich in die dogmatische Pflicht und setzt voraus, daß der Ausleger sich nicht (im Stile W.Wredes, s.o. S. 165) unter Hinweis auf seine historisch-exegetischen Pflichten aus der dogmatischen Verantwortung verabschiedet hat. Nicht nur die beiden exegetischen Schwesterdisziplinen vom Alten und Neuen Testament, sondern auch Exegese und Dogmatik müssen zusammenarbeiten, wenn die Schrift wirklich theologisch konsequent ausgelegt werden soll. 3.3.3 Wirkungsgeschichtlich reflektierte Interpretation im Lichte des Dogmas Mit der ersten und zweiten Stufe der Interpretation haben wir uns nur erst von der Ursprungssituation der Texte zur Situation ihrer Einbindung in den Kanon aus Altem und Neuem Testament vorangearbeitet. Wie die Schrift heute auszulegen ist, ist erst auf der dritten Interpretationsstufe zu entscheiden, die die beiden ersten Stufen voraussetzt und in sich aufnimmt. Erinnern wir uns: Seit dem zweiten Timotheus- und Petrusbrief gilt der von der Alten Kirche und der Reformation festgehaltene hermeneutische Grundsatz, daß das Offenbarungszeugnis der hl. Schrift in der Gemeinde im Lichte der von den Aposteln begründeten Glaubenstradition auszulegen ist. Eben diese Auslegung trägt dem Inspirationscharakter der Schrift hermeneutisch Rechnung. Während es nach katholischer Tradition dem kirchlichen Lehramt vorbehalten bleibt, in dem besagten Auslegungsrahmen kontinuierlich jene Grundsätze auszuformulieren, die für Glaube und Leben der Kirche verbindlich und insofern auch für die kirchliche Schriftauslegung richtungweisend sind, muß nach reformatorischem Ansatz die kirchliche Bekenntnisüberlieferung immer wieder neu am Zeugnis der Schrift gemessen und durch sachkritische theologische Schriftauslegung über Glaube, Leben und Zeugnis der Kirche entschieden werden, die creatura verbi, d. h. Schöpfung des Wortes ist. Die altkirchlichen Bekenntnisse, die reformatorischen Bekenntnisschriften und z.B. auch die Barmer Theologische Erklärung sind, evangelisch beurteilt, „Konsensformulierungen . . . , die einmal den Streit um die Wahrheit des Evangeliums in bestimmten Hinsichten und in einer bestimmten Situation entschieden haben" (F. Mildenberger, a. a. O., 185); als solche sind die Bekenntnisse (auch) für die protestantische Schriftauslegung unentbehrliche Wegmarkierungen. Aber selbst die Bekenntnisse sind immer neu an der Schrift zu messen, weil „allein die Heilige Schrift der einig Richter, Regel und Richtschnur (bleibt), nach welcher als dem einigen Probierstein sollen und müssen alle Lehren erkannt und geurteilt werden, ob sie gut oder bös, recht oder unrecht sein" (FC, Epitome; BSLK 769,2227).

Durchführung

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Wenden wir uns von dieser Rückerinnerung aus unserer neuen Aufgabe zu, gilt für die Interpretation dreierlei. Erstens: Von der kirchlichen Auslegungstradition her auf die Bedeutung der Glaubenstradition und von H. G. Gadamer auf die hermeneutische Bedeutung der Wirkungsgeschichte der biblischen Texte aufmerksam gemacht, muß die Auslegung im M a ß e ihrer Kräfte bemüht sein, festzustellen, welche Wirkung von den zu interpretierenden Texten (bis hin zur christlichen Kunst und Musik) ausgegangen sind und wie vergangene Generationen jene Texte in Kommentaren, Abhandlungen und Predigten ausgelegt haben, die heute aufs neue auszulegen sind. Die Texte sind m. a. W . im Horizont der Wirkungs- und Auslegungsgeschichte zu sehen. Verzichten wir darauf, läuft die Interpretation Gefahr, wirkungsgeschichtliche Faktoren unreflektiert mitzuschleppen und u. U. gar nicht mehr angeben zu können, daß und wo Differenzen zwischen biblischer Tradition und modernem, konfessionell vorgeprägtem kirchlichen Glaubensbewußtsein liegen. Ohne auslegungs- und wirkungsgeschichtliche Reflexion steht die Interpretation in der Gefahr, theologisch unkritisch oder gar illusionär zu verfahren. — Zweitens: Da jedem Ausleger normalerweise nur ein Bruchteil der Wirkungs- und Auslegungsgeschichte vor Augen stehen kann, die Bekenntnisse der Kirche aber als „verbum abbreviatum" ( = Zusammenfassung des Schriftwortes) zu erkennen geben, wie über die Wahrheit des Evangeliums in den Generationen vor uns gerungen und entschieden worden ist, lassen sie sich als kirchlich bewährte Kurzfassungen der Auslegungsgeschichte der Schrift in die Interpretation einbringen, und zwar im Sinne von hermeneutischen und dogmatischen Entscheidungshilfen. Wie das aller Auslegung der Kirche vorgegebene Evangelium nach dem Zeugnis der Schrift für heute auszulegen ist, sollte und kann nicht entschieden werden, ohne sorgfältig auf die Konsenserklärungen der Väter gehört zu haben. Wohlgemerkt: Die Bekenntnistraditionen nehmen dem Ausleger seine Interpretationsaufgabe nicht ab, aber sie leiten ihn dazu an, Gewichtungen vorzunehmen, unwesentliche Einzelfragen offenzulassen und der Hauptfrage nach dem Glauben an Gott den Schöpfer, an seinen Sohn Jesus Christus und an den hl. Geist konsequent nachzugehen. - Drittens müssen wir uns bei der Interpretation nunmehr „sowohl verdeutlichen, wann und warum das Schriftwort für uns gilt, als wann und weshalb es nicht für uns gilt" (A.Schlatter, Dogma 4 , 3 7 4 ) . Als Entscheidungshilfe kann dabei der in unserem Schema (s.o. S. 2 4 1 ) eingezeichnete Mittelpfeil dienen. Er besagt, daß Christus im Evangelium jeder Zeit voraus und gleich nahe ist, während das Zeugnis der Schrift in historisch unverwechselbarer menschlicher Gestalt vorliegt; eine biblizistische Kopie des Schriftwortes kommt also als theologisch verantwortliche Auslegung der Schrift heute nicht in Frage. Es ist geschichtlich unmöglich und geschichtstheologisch unnötig, Ende des 2 0 . Jahrhunderts Sitte, Denkweise, Kultur und Sprache des l./2.Jh.s einfach übernehmen zu wollen. Wesentlich ist dagegen, das Evangelium in Zuspruch und Anspruch für heute zu Gehör zu bringen und am Modell der biblischen Texte und der in ihnen implizierten Erfahrungen zu entscheiden, was heute für die Gemeinde zu lassen, zu tun und zu bezeugen ist. Ohne sich Entscheidungshilfen von seiten der kirchlichen Dogmatik und Ethik

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

zu erbitten, wird der Schriftausleger dieser Interpretationsaufgabe schwerlich gerecht werden können. Allerdings sollte er sich auch nicht scheuen, dem Schriftzeugnis dort energisch das Wort zu leihen, wo eingebürgerte dogmatische Denkweisen oder ethische Resignation die Herausforderung durch das Evangelium gar nicht mehr wahrnehmen lassen. Die Aufgabe der Sachkritik wird auf der dritten Stufe der Interpretation besonders schwierig und dringlich zugleich. Sie muß nämlich von einem biblisch wohlbegründeten und wirkungsgeschichtlich reflektierten Maßstab her nunmehr sowohl vor der einseitigen Bevorzugung von einzelnen Schrifttexten warnen als auch gegenüber kirchlichen Denk- und Verhaltensweisen Stellung beziehen, die vom Evangelium her nicht zu rechtfertigen sind. Geht man beispielsweise aus von der ersten These der (in die Bekenntnistradition zahlreicher evangelischer Landeskirchen übernommenen) Theologischen Erklärung von Barmen, hat man eine aktuelle Konsensformulierung des Evangeliums vor Augen: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben". Dieser Satz ist von Joh 1,1-18; 14,6; l.Joh 1,1-4; l.Kor 1,23; Apg 10,36; Hebr 1,1-4 usw. her biblisch wohlfundiert, und er erlaubt es auch, in der skizzierten doppelten Art und Weise kritisch Stellung zu beziehen. Die Auslegungsgeschichte belehrt uns in ζ. T. niederschmetternder Deutlichkeit darüber, daß und wie man christlich ζ. B. im Zeichen von Mt 27,25 Judenpogrome verübt und unter Hinweis auf die urchristlichen Haustafeln Sklaverei und Unterdrückung der Frauen gerechtfertigt hat; Rom 13,1-7 ist oft und oft bemüht worden, um christlichen Untertanengeist zu fordern und zu fördern, während gleichzeitig die Mahnung Jesu aus Mk 10,42-45 Par. übersehen, Gal 3,27-28 als zu schwärmerisch relativiert und das paulinische „dem Juden zuerst und dann auch dem Griechen" von Rom 1,16; 11,13 ff. allzu oft überhört wurden. Gleichzeitig hat man die messianische Weisung Jesu in Gestalt der Bergpredigt, das entschiedene Nein des Neuen Testaments zu ungerechtem Reichtum, die Mahnung des Paulus, die Gemeinde der Heiligen von der Welt zu unterscheiden (vgl. 1. Kor 5,1-5.11; 2.Kor 6,14ff.), groß- und volkskirchlich längst hinter sich gelassen und sich die Rechtfertigung dafür aus dem Hinweis auf die erbsündliche Schwäche der Menschen und den unerschöpflichen Reichtum der Liebe Gottes geholt. Gegen solchen Mißbrauch der Schrift und diese kirchlichen Mißstände läßt sich von der ersten Barmer These her begründet Einspruch erheben. Die These gibt zugleich den Grund an, weshalb es nach unendlichem kirchlichem Versagen doch noch immer Zeit ist, mit der Verkündigung Jesu als des Wortes Gottes neu zu beginnen. Um sachkritische Schriftauslegung auf dem für die dritte Interpretationsstufe erforderlichen Niveau zu betreiben, ist der Exeget (des Alten und) des Neuen Testaments auf die Beratung der auslegungsgeschichtlich erfahrenen Kirchenhistoriker ebenso angewiesen wie auf das kritische Urteil des Dogmatikers. Er wird auch Fragen und Bitten, Auslegungen und Hinweise aus der Gemeinde dankbar aufnehmen, aber er darf sich ebensowenig wie der Prediger einfach mit den Interessen und Wünschen der Gemeinde identifizieren, weil es seine Aufga-

Durchführung

253

be bleibt, darüber zu wachen, daß das biblische Evangelium von der Gemeinde jeweils neu gehört und beherzigt wird.

3.4 Die Bewährung der Auslegung in der Praxis des Glaubens Kirchliche Schriftauslegung kann sich weder der um die Bibel bemühten Glaubensgemeinschaft entziehen, noch übersehen, daß die biblischen Texte zum Bekenntnis und Lebensvollzug des Glaubens einladen. So wenig die biblische Exegese den Glauben als Verständnisprinzip voraussetzen darf, so sehr darf sie sich dafür offenhalten, daß das biblische Wahrheitszeugnis Glauben wirkt und daß eine der Bibel geltende Hermeneutik des Einverständnisses in der Bewegung „aus Glauben in Richtung auf Glauben" (Rom 1,17) verläuft. Angesichts der Tatsache, daß die neutestamentlichen Texte ihrem Wesen nach Glaubenszeugnisse sind, darf die biblische Exegese sich dieser Verstehensbewegung im Glauben sogar freuen! Gilt dies, dann ist auch im Rahmen unserer Überlegungen über den sachgemäßen Weg des Verstehens biblischer Texte daran zu erinnern, daß sich eine der Bibel gerechtwerdende Schriftauslegung nicht etwa in der kritischen Durchdringung der biblischen Textwelt erschöpft, sondern auf die Bewährung in der Praxis des Glaubens zielt. Diese Bewährung hat drei klassische Entfaltungsmöglichkeiten. 3.4.1 Die persönliche und gemeinschaftliche Textmeditation In der biblischen Meditation wird der von H. Diem herausgestellte „biblische Erkenntnisweg" bewährt. Sie kann individuell und in der Gemeinschaft gleichgesinnter Christen vollzogen werden; sie erwächst aus der Erhellung der biblischen Textwelt, wie sie die historische Exegese liefert. Sie bedenkt gleichzeitig die dogmatische Glaubenstradition der Kirche, blendet also die Wirkungs- und Auslegungsgeschichte der biblischen Texte nicht aus. Ihr eigentliches Charakteristikum aber ist es, daß sie die biblischen Texte in ihrem aller kirchlichen Glaubenstradition vorgeordneten Wahrheitsvorsprung gelten läßt und sich ihnen, um mit Schlatter (Rückblick, 137) zu sprechen, in der „zu Christus hin gewandte(n) Einfalt" des Glaubens stellt. Katholizismus und Protestantismus haben in dieser Meditationsarbeit seit alters große Erfahrung. Katholischerseits faßt sie sich klassisch zusammen in dem Exerzitienbuch des Ignatius von Loyola (1491—1556). Im Protestantismus ist vor allem Luthers Schrift von 1535 „Eine einfältige Weise zu beten, für einen guten Freund" (WA 38, 3 5 1 - 3 7 5 ) wirksam geworden. Beide Meditationsweisen finden heute eine Neubelebung. Sie sind hermeneutisch ebensowenig von der Hand zu weisen wie die ζ. B. von H. Barth und T. Schramm unterbreiteten Vorschläge zur ganzheitlichen Begegnung mit der Bibel als dem Lese- und Lebensbuch der Kirche (s.o. S. 231). Der Pietismus hat seit A . H . Francke und J . J . Rambach bis hin zu J . T . Beck und der modernen Erneuerung der gemeinschaftlichen erbaulichen Bibellektüre

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

im Sinne P. J. Speners immer wieder darauf hingewiesen, daß eine aus Liebe zur Bibel heraus angestrengte Bibellektüre des Glaubens „mehr" sei und andere Ergebnisse erziele als die kritische Bibelinterpretation. Es ist nur bisher nirgends gelungen, dieses „Mehr" hermeneutisch wirklich präzis zu erfassen. Man kann es m.E. erst dann und nur so verwirklichen, daß man die Bibel nach dem Vorbild J. G. Hamanns und der Einsicht Luthers von der doppelten Klarheit der Schrift eingedenk ohne Scheuklappe in meditativer Bereitschaft liest. Die Meditation biblischer Texte beginnt mit Gebet und Stille; sie durchmißt dann nach Möglichkeit (und je nach dem Vermögen der Betroffenen) den ganzen Auslegungsweg, den wir skizziert haben; sie mündet ein in die Frage, inwiefern wir in den Texten geschrieben stehen und die Texte uns in der Gegenwart für Gott und seinen Christus beanspruchen. Die Meditation ist also tatsächlich „mehr" als nur eine reflektierte wissenschaftliche Auslegung biblischer Texte. Deshalb scheint es mir ratsam und wünschenswert zu sein, das alte pietistische Desiderium in der Meditation der Texte bewußt zum Zuge zu bringen, aber die Diskussion um die exegetische Methodenlehre im engeren Sinne freizuhalten von der falschen Alternative von Glaube und Kritik. 3.4.2 Die christliche Predigt als aktuelles Glaubenszeugnis Die neutestamentlichen Einzeltexte und die siebenundzwanzig Bücher des Neuen Testaments sind Dokumente der urchristlichen Missions- und Verkündigungsgeschichte. Schließlich mit dem Alten Testament zum Kanon vereint, dienten sie der gottesdienstlichen Lesung und wurden zu Predigttexten. Es ist unter diesen Umständen völlig zutreffend, wenn E. Fuchs in seiner „Marburger Hermeneutik" betont, daß eine den neutestamentlichen Texten auf den Grund gehende Textauslegung dazu drängt, das biblische Glaubenszeugnis aufzunehmen und in Form der Predigt weiterzusagen. Eine Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten kommt nicht nur in der persönlichen und gemeinschaftlichen Meditation zum Ziel, sondern erst recht im Wagnis einer Predigt, welche die biblische Textwelt den Menschen von heute einladend erschließt. Die biblische Exegese, deren Methodenweg wir umrissen haben, ist weit mehr als nur eine für die normale Predigtvorbereitung notwendige Hilfswissenschaft. Indem sie die biblischen Texte als Zeugnisse des in Jesus Christus verkörperten Evangeliums verstehen lehrt und die diesen Texten eigene Erfahrungswelt sichtbar macht, ist sie eine Anleitung dazu, dieses Wahrheitszeugnis nachzuvollziehen, in die biblische Erfahrungswelt einzudringen und beides als aktuelles Lebensangebot zu begreifen. Christliche Predigt ist öffentliche aktuelle Textauslegung. Verliert die Predigt den Kontakt zu den biblischen Texten, verliert sie nicht nur ihren entscheidenden Inhalt, sondern auch ihre Legitimation. Die Texte entlasten den Prediger von der oft schwierigen und von ihm selbst her unbeantwortbaren Frage, was er als Verkündiger eigentlich zu sagen habe; sie bewahren ihn gleichzeitig damit vor der Versuchung, seine eigene Erfahrung zu predigen. Oder um es unmißverständlich mit Luther zu sagen:

Durchführung

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Wenn sich der Prediger die Mühe eingehender Exegese erspart und den biblischen Text zum bloßen Sprungbrett seiner eigenen Assoziationen macht, „so kompts doch endlich dahyn, das eyn iglicher predigen wird was er wil, und an stat des Euangelii und seyner auslegunge... von blaw endten gepredigt wird" (WA 19, 9 5 , 1 1 - 1 4 ) . Zur Predigtvorbereitung gehört zwar nicht nur die biblische Exegese allein, sondern auch die Denkschule der Dogmatik und Ethik, die Kenntnisnahme der Fragen und Probleme der Gemeinde sowie die all diese Arbeitsgänge zusammenschließende und verschmelzende Glaubensüberlegung, die man in der Literatur gewöhnlich unscharf „Predigtmeditation" nennt. So unverzichtbar diese zusätzlichen Reflexionen sind, sie ruhen sämtlich auf der biblischen Exegese auf und bekommen von ihr her ihre Stoßrichtung. Die im Einverständnis mit den biblischen Texten vollzogene Exegese ist also für die Predigtvorbereitung maßgeblich im wahren Sinn des Worts. Wer predigen will, muß exegesieren können! 3.4.3 Leben im biblischen Kontext Wer sich den biblischen Texten in existentieller und brüderlicher Meditation stellt und als Prediger in das biblische Wahrheitszeugnis einzustimmen wagt, lebt mit der Bibel und übt sich in den von den biblischen Glaubenszeugnissen gewünschten Gehorsam des Glaubens ein, der dem Wort vertraut. Dieses Leben mit der Bibel ist der weiteste und offenste Horizont, in den die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten, ihren Fragen und Antworten, einmünden kann. Dieses Leben ist ein Leben in großer Freiheit, aber mit unverwechselbaren Koordinaten. Es ist ein Leben unter Gottes Treue in Liebe und Gerechtigkeit; ein Leben, das in Jesus Christus der Wahrheit begegnet ist und nun von dieser Wahrheit her für diese Wahrheit einsteht. Es ist ratsam,

diese Feststellung noch einmal zu präzisieren. Sofern Jesus Christus selbst als

messianischer Versöhner gelebt hat und von der christlichen Gemeinde seit Ostern mit Recht als Herr und Versöhner bekannt wird, ist christliches Leben ein Leben von der Versöhnung her für die Versöhnung; und zwar erfaßt und betrifft die Versöhnung alle Bereiche des Lebens. Wir haben oben gezögert,

unseren Auslegungsweg als „politische" Hermeneutik zu bezeichnen und haben uns gleichzeitig gegen ideologische Verengungen unserer Wirklichkeitshorizonte gewehrt. Diese Gegenwehr ist aber nur dann biblisch legitimiert, wenn wir jetzt ausdrücklich betonen, daß Jesu messianisches Versöhnungswerk und das Leben im Zeichen dieses Werkes alle Dimensionen des Lebens betrifft, die wir kennen. Kol 1 , 1 5 - 2 0 oder Eph 2 , 1 1 - 2 2 sind in dieser Hinsicht unzweideutig. Das Neue Testament lädt die Christen ein und verpflichtet sie zu einem Friedens- und Versöhnungsdienst, der aus der persönlichen Meditation und aus dem Gebet des einzelnen zu Gott und seinem Christus erwächst, der in der gemeinschaftlichen Feier des Herrenmahls Freiheit und Mut gewinnt, der sich in der Lebensgemeinschaft der christlichen Gemeinde bewährt, aber erst dann wirklich im Einverständnis mit Jesus, dem Schöpfer und Versöhner der Welt, getan wird, wenn er sich auch im politisch-sozialen Alltag engagiert und zur

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Die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten

Sorge um eine unzerstörte, lebensfreundliche Umwelt verpflichtet weiß. Es gibt keine Lebenssituation, die sich von dem Dienst der Versöhnung ausnehmen ließe. Im Leben aus der Versöhnung für die Versöhnung hat die Hermeneutik des Einverständnisses mit den biblischen Texten ihren umfassendsten Bewährungshorizont.

4. Ausblick Jede Hermeneutik geschichtlicher Überlieferung steht in einer bestimmten Tradition und einem ihr übergeordneten geschichtlichen Kontext. Wenn wir von einer Hermeneutik des Einverständnisses mit den (biblischen) Texten sprechen, stehen wir in der Kontinuität des abendländischen hermeneutischen Denkens und speziell in der durch die Reformation präzisierten und erneuerten Tradition der ur- und frühchristlichen Schriftauslegung. Diese Kontinuität der Tradition ist für uns kein Hemmnis, sondern eine Bestätigung. Unser Vorschlag für einen der Bibel angemessenen Vollzug sachgemäßen Textverständnisses erlaubt es uns, als denkende Menschen frei in unserer Zeit zu stehen und gleichzeitig den Vätern zuzustimmen, wenn sie der Bibel einen Wahrheitsvorsprung zuerkannt haben, der alle Zeit überholt. Wir brauchen um die Bibel nicht besorgt zu sein. Wir leben von ihrem Zeugnis, und ihre zentrale Wahrheit, die Jesus Christus heißt, hat die Kraft, sich weiter durchzusetzen.

Literaturverzeichnis Abkürzungen nach S. Schwertner, Abkürzungsverzeichnis zur Theologischen Realenzyklopädie, 1 9 7 6

§ 1 Die Begegnung mit dem Neuen Testament

heute

J. Gnilka/H. P. Rüger (Hrsg.), Die Übersetzung der Bibel - Aufgabe der Theologie, 1985; Erneuerung aus der Bibel, hrsg. von S. Meurer, 1982; Das Evangelium als moralischer Traktat (Gespräch mit W. Jens), EK 5 , 1 9 7 2 , 9 5 - 9 8 ; Verrat an Luther? Bilanz einer Bibelrevision, hrsg. von S. Meurer, 1977; H. Renkewitz, Artikel: Losungen (der Brüderunität), RGG 3 IV 451^452; A.Schlatter, Hülfe in Bibelnot, 2 1928; R.Steiner, Neue Bibelübersetzungen - vorgestellt, verglichen und gewertet, 1975.

§ 2 Der gegenwärtige

Streit um die

Schriftauslegung

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§ 6 Grundprobleme und Leitlinien kirchlicher bis zur Reformationszeit

Schriftinterpretation

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§ 7 Schriftverständnis und Schriftauslegung zur Zeit des und der Reformation

Humanismus

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$ 8 Schriftauslegung

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im Zeitalter der

Gegenreformation

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5 9 Die Auseinandersetzungen

um die neue Hermeneutik

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§10

Die Suche nach der hermeneutischen

Synthese im 19. Jahrhundert

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263

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§12 Der hermeneutische Neuansatz der dialektischen

Theologie

Ν. T. Bakker, In der Krisis der Offenbarung. K. Barths Hermeneutik, dargestellt an seiner Römerbrief-Auslegung, 1974; K. Barth, Die kirchliche Dogmatik 1/2 § 19; ders., Rudolf Bultmann. Ein Versuch ihn zu verstehen, ThSt 3 4 , 1 9 5 3 ; K. Barth-R. Bultmann, Briefwechsel 1922—1966, 1971; G. Bornkamm, Die Theologie Rudolf Bultmanns, in: ders., Ges. Aufs. III, 1 5 7 - 1 7 2 ; R. Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hrsg. von E.Jüngel und K.W. Müller, 1984; ders., Theologie als Wissenschaft, ZThK 81, 1984, 4 4 7 - 4 6 9 ; ders., Neues Testament und Mythologie, hrsg. von E.Jüngel, 1985; E. Busch, Karl Barths Lebenslauf, 1976; H. Diem, Zur Problematik theologischer Wahrheitsfindung, ThLZ 95, 1970, 1 6 1 - 1 7 2 (vgl. ders., Ja oder Nein, 1974, 2 8 2 - 2 9 0 ) ; E. Dinkier, Einleitung, und: Bultmann-Bibliographie in: R. Bultmann, Exegetica, 1967, I X - X X I I I . 4 8 3 - 5 0 7 (Fortführung der Bultmann-Bibliographie in: ThR, N.F. 39, 1974, 9 1 - 9 3 ) ; G.Ebeling, Artikel: Hermeneutik (s. zu § 6 ) 2 5 6 - 2 5 8 ; W.Härle, Der Aufruf der 93 Intellektuellen und Karl Barths Bruch mit der liberalen Theologie, ZThK 7 2 , 1 9 7 5 , 2 0 7 224; B. Jaspert, Sackgassen im Streit mit Rudolf Bultmann, 1985; E.Jüngel, Gottes Sein ist im Werden, 3 1 9 7 6 ; ders., Glauben und Verstehen - Zum Theologiebegriff R. Bultmanns, SHAW.PH 1 9 8 5 , 1 ; G. Klein, Rudolf Bultmann, in: Theologen des Protestantismus (s. zu § 10: Birkner), 4 0 0 - 4 1 9 ; W . G . Kümmel, Das Neue Testament (s. zu § 4 ) 478ff.; F.Mildenberger, Theologie für die Zeit (s. zu § 1 0 ) 1 1 6 - 1 3 5 ; J.Moltmann (Hrsg.), Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, ThB 1 7 , 2 1 9 6 6 ; W. Schmithals, Die Theologie Rudolf Bultmanns, 2 1 9 6 7 ; R. Smend, Nachkritische Schriftauslegung, in: ΠΑΡΡΗΣΙΑ, K.Barth zum 80.Geburtstag, hrsg. von E.Busch, J.Fangmeier und M.Geiger, Zürich 1966, 2 1 5 - 2 3 7 ; H.Thyen, Rudolf Bultmann, Karl Barth und das Problem der „Sachkritik", in: R. Bultmanns Werk und Wirkung, hrsg. von B. Jaspert, 1984, 4 4 - 5 2 ; O.Weber, Karl Barths Kirchliche Dogmatik, 7 1 9 7 5 (mit Nachtrag von H.J. Kraus).

§13 Bultmannrezeption und Bultmannkritik - die neue Hermeneutik H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 1979; O. Cullmann, Christus und die Z e i t , 3 1 9 6 2 ; ders., Heil als Geschichte, 2 1 9 6 7 ; H. Diem, Theologie als kirchliche Wissenschaft, Bd. 2: Dogmatik, 3 1 9 6 0 ; ders., Zur Problematik theologischer Wahrheitsfindung (vgl. zu § 12); G. Ebeling, Einführung in Theologische Sprachlehre, 1971; ders., Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, UTB 4 4 6 , 1975; ders., Schrift und Erfahrung als Quelle theologischer Aussagen, ZThK 7 5 , 1 9 7 8 , 99—116; E. Fuchs, Marburger Hermeneutik, 1968; H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 4 1 9 7 5 ; ders., Artikel: Hermeneutik, HWP III, 1 0 6 1 - 1 0 7 3 ; H. Gese, Die Frage des Weltbildes, in: ders., Zur biblischen Theologie, 2 1 9 8 3 , 2 0 2 - 2 2 2 ; L. Goppelt, Typos (Neuausgabe mit Anhang: Apokalyptik u. Typologie bei Paulus), 1973; E. Güttgemanns, Fragmenta semiotico-hermeneutica. Eine Texthermeneutik für den Umgang mit der Hl. Schrift, 1983 (vgl. dazu: K.Th. Kleinknecht, ThLZ 109, 1984, 6 2 4 - 6 2 7 ) ; K. Hübner, Die Wahrheit des Mythos, 1985; B.Imhasly - B. Marfurt - P. Portmann, Konzepte der Linguistik, 2 1 9 8 2 ; H.Jonas, Heidegger und die Theologie, EvTh 24, 1964, 6 2 1 - 6 4 3 ; ders., Zwischen Nichts und Ewigkeit, 1963; ders., Der Gottesbegriff nach Auschwitz, in: F.Stern - H.Jonas, Reflexionen finsterer Zeit, hrsg. von O.Hofius, 1984, 6 1 - 8 6 ; Erinnerungen, Träume und Gedanken von Carl Gustav Jung, aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffe, 1971; O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 1972; H. Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre, 7.Aufl. neubearbeitet von K.Kliesch, 1982, 267ff.; E.V.

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§14

Die Hermeneutik

des Einverständnisses

mit den biblischen

Texten

H.Barth - T.Schramm, Selbsterfahrung mit der Bibel, 1977; F.Belo, Das MarkusEvangelium materalistisch gelesen, 1980; K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, UTB 6 5 8 , 2 1 9 8 4 ; R. Brown, The Critical Meaning of the Bible, 1981; ders., HistoricalCritical Exegesis and Attempts at Revisionism, in: The Bible Today 2 3 , 1 9 8 5 , 1 5 7 - 1 6 5 ; R. Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: ders., Glauben u. Verstehen II, 1952, 2 1 1 - 2 3 5 ; Μ . Clevenot, So kennen wir die Bibel nicht, 1978; E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. 1: Die Wahrheit der Formen, 1984, Bd. 2: Die Wahrheit der Werke und der Worte, 1985; G. Ebeling, Die Geschichtlichkeit der Kirche und ihrer Verkündigung als theologisches Problem, 1954; U.Gerber, Feministische Theologie, T h L Z 1 0 9 , 1 9 8 4 , 5 6 1 - 5 9 2 ; H. Gese, Das biblische Schriftverständnis (s. zu § 3); ders., Die Frage des Weltbildes (s. zu § 13); A . H a a s (Hrsg.), Ignatius von Loyola, Geistliche Übungen, 2 1976; H. Harsch —G. Voss (Hrsg.), Versuche mehrdimensionaler Schriftauslegung, 1972; G. Heinz-Mohr, Bemerkungen zur Praxis biblischer Meditation, in: Meditation, hrsg. von G. Ruhbach, 1975, 84—93; M . Hengel, Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche, 1973; J.Chr. Janowski, Umstrittene Pfarrerin, in: Das evangelische Pfarrhaus, hrsg. von M . Greiffenhagen, 1984, 8 3 - 1 0 7 ; W. Joest, Fundamentaltheologie, 1 9 7 4 , 1 7 4 - 2 1 2 ; E. Jüngel, Metaphorische Wahrheit, in: Metapher (s. zu § 13: Ricoeur), 7 1 - 1 2 2 ; H. C. Kee, Das frühe Christentum in soziologischer Sicht, 1982; D. H. Kelsey, The Uses of Scripture in Recent Theology, 1975; Ο. Kuß, Über die Klarheit der Schrift (s. zu §7); ders., Exegese und Theologie des Neuen Testamentes als Basis und Ärgernis jeder nachneutestamentlichen Theologie, in: Schriftauslegung (s. zu §4), 3 5 9 - 4 0 8 ; N. Lohfink, Der Zugang des Christen zur Heiligen Schrift, GuL 51, 1978, 5 5 - 6 8 ; U. Luz, Erwägungen zur sachgemäßen Interpretation neutestamentlicher Texte, EvTh 4 2 , 1 9 8 2 , 4 9 3 - 5 1 8 ; G. Maier, Einer biblischen Hermeneutik entgegen?; ders., Wie legen wir die Schrift aus?; ders., Heiliger Geist und Schriftauslegung (s. jeweils zu § 2); W. A. Meeks, Zur Soziologie des Urchristentums, ThB 62, 1979; ders., The First Urban Christians, 1983; B.F. Meyer, The Aims of Jesus, 1979; ders., Conversion and the Hermeneutics of Consent, Ex Auditu I, 1985, 3 6 - 4 6 ; F. Mildenberger, Theorie der Theologie, 1972, 44—75. 77ff.; ders., Theologie der Lutherischen Bekenntnisschriften, 1983, 1 7 8 - 1 9 9 ; ders., Kleine Predigtlehre, 1984; J. Moltmann, Existenzgeschichte und Weltgeschichte, in: ders., Perspektiven der Theologie (s. zu § 13), 1 2 8 - 1 4 6 ; E. Moltmann-Wendel (Hrsg.), Z u r feministischen Theologie = EvTh 4 2 , 1 9 8 2 , 1 - 9 2 (Heft 1);

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Namensregister Aland, Κ. 1 2 2 , 1 3 8 , 1 4 3 Ambrosius von Mailand 82, 87 Athanasius 45 Augstein, R. 3 1 , 1 3 6 Augustin 82, 87 ff., 9 2 , 9 8 , 2 2 4 Bakker, Ν. T. 183,185 Bannach, H. 21 Barr, J. 34 Barth, H. 2 3 1 , 2 5 3 Barth, K. 4 9 , 1 6 8 , 1 7 5 ff., 1 9 1 , 1 9 5 , 1 9 7 f., 199, 202,207,214,218,222,224,238,239,248 Bartsch, H. W. 1 8 7 , 2 0 1 Baur, F. C. 143,152ff., 1 6 0 , 1 6 4 , 1 8 6 , 1 8 8 f . Bayer, 0 . 1 4 1 B e c k J . T . 155 ff., 1 5 8 , 1 5 9 , 1 7 3 , 1 7 8 , 1 9 9 , 2 5 3 Belo, F. 232 Bengel, J. A. 3 4 , 1 3 8 , 1 3 9 f . , 1 5 5 , 1 5 6 Berger, K. 246 Bergmann, G. 32 Beyschlag, K. 41, 7 7 , 7 9 , 8 1 , 9 3 Blumenberg, H. 204 Bolli, H. 175,197 Bornkamm, G. 202 Braun, H. 2 8 , 3 0 , 3 2 Brenz, J. 110 Brown, R. E. 226 Buber, M. 244 Bultmann, R. 2 8 , 3 0 , 5 0 , 1 7 3 , 1 7 6 , 1 7 9 f., 180 f., 186 ff., 198 ff., 2 1 5 , 2 2 1 , 2 4 8 Calvin, J. 46, 6 0 , 1 0 5 ff., 142 von Campenhausen, H. Frhr. 35 Cardenal, E. 237 Cassian, J. 90 Chrysostomus s. Johannes Chr. Clevenot, M. 232 Cremer, H. 169 Cullmann, O. 202 Deißmann, A. 163 Descartes, R. 123 Diem, H. 200 f., 253 Dilthey, W. 17,168 f., 177,195 Diodor von Tarsus 82 Dörrie, H. 72 Drewermann, E. 228 ff.

Ebeling, G. 1 7 , 2 8 , 3 0 , 3 1 , 2 0 8 ff., 214,221, 236 Eichhorn, J. G. 131 Ellis, Ε. Ε. 67 Elze, Μ. 43 Erasmus von Rotterdam 9 4 , 9 5 f., 102 Fahlbusch, E. 236 Fell, J. 138 Flacius Illyricus, M. 111 ff., 121 Francke, Α. H. 133 ff., 1 3 8 , 1 5 6 , 2 5 3 Freud, S. 229 Fuchs, E. 183,206 f., 2 0 8 , 2 1 4 , 2 1 7 , 2 2 1 , 2 2 2 , 223,224,254 Furger, F. 246 Gadamer, H. G. 1 8 , 2 0 6 , 2 1 0 ff., 2 2 1 , 2 2 4 , 2 5 1 Galilei,-G. 123 Gerhard, J . 1 1 6 f . Gese, H. 204 Girgensohn, K. 184 Goppelt, L. 3 2 , 1 5 6 , 2 0 2 Grant, F. C. 233 Grotius, H. 118 f. Gunkel, H. 161f. Härle, W. 175 Hamann, J . G . 140 ff., 142 Hanhart, R. 74 von Harnack, A. 167 f., 1 7 5 , 1 8 1 f., 190 Harsch, H. 228 Heidegger, M. 1 8 9 , 1 9 6 , 2 0 4 , 2 1 0 Heister, M.-S. 234 Heitmüller, W. 186 Hengel, M. 6 4 , 2 3 3 Hengstenberg, E. W. 155 Herbers, P. 134 Hermann, K. 139 Hieronymus 58, 82, 86f., 89 Hillel der Ältere 67 f. Hippolyt von Rom 42 Hobbes, T. 123 vonHofmann, J. C. K. 156ff., 159,160,173, 178,199 Ignatius v. Antiochien 36f., 41 Ignatius von Loyola 253

Namensregister Innozenz I, Papst 45 Irenaus 41 f., 5 9 , 8 5 Jaeger, P. 170 Jens, W. 23 Jetter, W. 23 Johannes Chrysostomus 83 Jonas, H. 204 f. Jülicher, A. 177,186 Jüngel, E. 5 7 , 1 2 0 Jung, C. G. 204 f., 229 Justin der Märtyrer 3 7 , 4 3 , 7 7 f . Kahler, M. 159 f., 1 9 9 , 2 0 7 Käsemann, E. 28 ff., 3 2 , 2 0 2 Kant, 1.141 f. Kee, H. 233 Keel, Ο. 204 Keil, Κ. A. G. 144 Kepler, J. 123 König, J. F. 115,116 Kopernikus, N. 105 Kraus,H.J. 1 0 7 , 1 2 8 , 1 2 9 , 1 3 1 Kümmel, W. G. 3 2 , 1 2 1 , 1 2 4 , 1 2 7 , 1 4 4 , 1 4 5 , 149,162,164,224,247 Kuss, 0 . 2 2 5 Lange, E. 23 Laurentius Valla 94 Liebing, H. 152,153 Lietzmann, H. 177 Locke, J. 123 Lohmeyer, E. 233 Lücke, F. 148 f., 162 Lukian 82 Luther, M. 1 7 , 3 4 , 4 6 , 6 0 f . , 9 7 f f . , 106,121, 142,224,253,254 McKnight, Ε. V. 2 2 0 , 2 3 6 , 2 4 4 Maier, G. 33 f., 238 ff. Markion 3 8 , 3 9 f., 46 Marrou, H.-1.32 Meeks, W. A. 233 Menge, H. 22 Meyer, B. F. 245 Meyer, H. A. W. 144 Michaelis, J. H. 138 Michel, 0 . 6 4 Mildenberger, F. 250 Moldaenke, G. 113 Moltmann, J. 2 0 3 , 2 3 1 f., 237 Niederwimmer, K. 228 ff. Origenes 73, 79 ff., 82 f., 87, 9 0 , 9 2 f., 222

267

Overbeck, F. 164 Pannenberg, W. 203 Paulus 3 6 , 4 9 , 5 7 , 6 6 ff., 191 f. Pesch, R. 23 Petrus 57 Philo von Alexandrien 5 6 , 7 3 , 87 Popper, K. R. 245 Porphyrios 92 von Rad, G. 50 Rahner, K. 226 Rambach, J . J . 133 ff., 1 4 0 , 1 5 6 , 2 5 3 Ratschow, C. H. 115,116 Ratzinger, J. 92 Reimarus, H. S. 131 Reuchlin, J. 94 f. Reventlow, H. Graf 132 Ricoeur, P. 9 0 , 2 1 5 ff., 2 2 1 , 2 2 2 , 2 2 4 , 2 3 3 Ritsehl, A. 154 f., 162 Rückert, H. 105 de Saussure, F. 219 Sauter, G. 34 Schäfer, R. 154 Scharfenberg, J. 228 Schlatter, A. 2 0 , 4 9 , 5 6 , 1 5 6 , 1 6 9 f f . , 175, 178f.,184f., 1 9 1 , 1 9 9 , 2 0 2 , 2 0 6 f . , 2 1 4 , 2 1 7 , 221,224,239,248,251 Schleiermacher, F.D. E. 1 7 , 1 4 3 , 1 4 5 ff., 149, 1 5 2 , 1 5 6 , 1 6 0 , 1 6 2 , 1 7 7 , 1 9 5 f., 197,216 Schneider, C. 228 Scholder, K. 118 Schramm, T. 2 3 1 , 2 5 3 Schürmann, H. 2 2 7 , 2 4 8 Schüssler-Fiorenza, E. 235 f. Scroggs, R. 233 Semler, J. S.61f., 128 ff. Simon, R. 120 f. Smend, R. 183,185 Sozini, F. 118 Spener, P.J. 121 ff., 254 Spiegel, Y. 228 Spinoza, B. 2 4 , 1 1 9 f., 1 2 3 , 1 2 4 , 1 2 8 , 1 3 1 Stäudlin, C. F. 144 f. Strauß, D. F. 1 4 3 , 1 4 9 f f „ 1 6 0 , 1 8 8 Stroh, H. 21 Tertullian 41 ff., 59, 83 ff. Theißen, G. 228 f., 233 Theodor von Mopsuestia 83 Tholuck, F. A. G. 159 Thomas von Aquin 9 1 , 9 2 Thurneysen, E. 175 f.

268

Namensregister

Troeltsch, Ε. 24 f., 166f., 168 f., 1 8 3 , 1 8 8 f „ 243 f., 245 Turretini, J. A. 124 ff. Tykonius 88 Vielhauer, P. 67 Vinzenz von Lerinum 85

Weber, 0 . 4 9 Weder, H . 3 0 f f . , 2 3 3 , 2 4 4 Weiß, J. 162f., 186 Wertstein, J. J. 126 ff. Wilckens, U. 2 2 , 2 3 Wink, W. 228 Wrede, W. 1 6 3 , 1 6 5 , 1 7 2 , 2 5 0

Sachregister Affekte 1 3 4 , 1 3 7 Allegorese 7 2 ff., 78 f., 80 ff., 8 3 , 8 4 , 8 7 , 8 9 , 92 f., 9 6 , 9 9 , 1 0 2 , 1 0 7 , 1 1 4 , 2 3 0 Altes Testament 17 f., 3 5 , 3 8 f., 3 9 f., 4 6 , 4 6 f., 68 ff., 7 6 ff., 9 2 f., 1 0 7 , 1 1 8 , 1 2 8 , 1 3 1 f., 143 f., 1 4 8 , 1 5 7 , 2 0 1 , 2 2 7 Analogie 24 f., 1 6 6 , 2 3 4 Analogie des Glaubens 2 6 , 1 1 3 , 1 1 7 , 1 5 8 Analyse 2 4 I f f . Apokryphen 4 5 Apostel 4 2 Apostolische Väter 36 Apostolizität 4 1 ff., 44 Aristeasbrief 5 6 auctoritas s. Autorität der Schrift Aufklärung 123 f. Autorität der Schrift 4 7 f f . , 5 0 , 1 1 6 , 1 5 5 , 2 2 3 Bekenntnis lOOf., 1 0 8 , 1 1 3 f . , 2 5 0 f . Bibel s. Schrift Bibelanstalt, Cansteinsche 143 Biblizismus 139 f., 155 f., 177 Biblizismus, historisch-kritischer 2 0 8 Bischöfe 4 1 , 4 3 Canon M u r a t o r i 44 Confessio Virtembergica 110 f. Diachronie 2 1 9 , 2 4 3 Dogma 2 4 2 Dogmatik 3 2 , 2 0 0 , 2 2 7 , 2 5 3 Durchsichtigkeit der Schrift 116 efficacia s. Durchsichtigkeit der Schrift Einverständnis 1 8 , 1 8 1 , 2 0 8 f . , 2 1 3 , 2 2 2 ff. Entmythologisierung 1 8 6 , 1 9 1 ff., 2 0 1 , 2 0 4 f., 215 Erfahrung 2 0 9 f . , 2 2 9 ff. Erkenntnis 50 ff. Erkenntnisweg, biblischer 2 0 0 , 2 5 3 f. Erklären und Verstehen 2 1 6 f. Erweckung 156 ff. Essener 70 Evangelien 3 7 , 7 8 Evangelium 5 1 f. Formgeschichte 112

Fundamentalismus 3 4 , 1 9 9 , 2 3 8 ff. Geist und Buchstabe 68 f., 87, 8 9 , 1 0 2 Geschichte 153 f., 166 f., 1 6 8 , 1 6 9 f., 172, 188 ff., 2 0 1 , 2 0 2 f., 2 2 3 , 2 2 6 f., 2 3 2 Geschichtlichkeit 2 3 6 Gesetz und Evangelium 4 7 , 9 8 , 1 0 2 , 1 0 4 Glaube 1 5 7 , 1 7 3 f., 1 8 8 , 2 1 4 , 2 1 8 Glaubensregel s. regula fidei Gloss(ari)en 87 Gnosis, Gnostizismus 3 7 , 3 9 f . , 4 3 , 4 6 , 7 5 , 78 ff., 8 4 , 2 3 5 Griechisch 8 9 , 9 4 Hebräisch 89, 94 f. Heilsgeschichte 2 5 , 1 5 8 , 2 0 2 Hermeneutica Sacra 133 ff., 1 3 7 , 1 4 7 , 1 5 6 ff., 1 6 3 , 1 7 3 , 1 9 9 , 2 2 1 , 2 3 8 , 2 5 3 f. Hermeneutik 17f., 145 ff., 168 f., 1 7 8 , 1 8 3 ff., 185 ff., 186 f., 195 ff., 2 1 5 ff., 2 2 2 ff. Hermeneutik, feministische 2 3 4 ff. Hermeneutik, materialistische 2 3 1 ff. Hermeneutik, neue 2 0 6 ff. Hermeneutik, politische 2 3 1 ff. Hermeneutik des Verdachts 2 3 5 f. Hexapla 80 Homilien 87 Horizontverschmelzung 2 1 3 H u m a n i s m u s 93 ff., 9 9 , 1 0 7 Inspiration 2 9 , 3 3 , 5 2 ff., 5 7 ff., 9 1 , 1 0 4 , 1 0 6 ff., 1 1 1 , 1 1 5 f . , 116f., 1 1 9 , 1 4 1 , 1 4 5 , 1 4 7 f . , 158, 1 6 5 , 1 7 2 , 1 7 6 , 1 8 0 , 1 8 4 , 2 3 8 ff. Interpretation 2 4 1 f., 2 4 7 f f . Interpretation, existentiale 1 8 6 , 1 9 1 ff., 197 f. Jesus (Christus) 48 ff., 64 ff., 1 0 2 , 1 5 1 , 1 7 4 , 201,207,227 Jesusüberlieferung 48 f. Kanon 35 ff., 4 3 ff., 4 6 f., 1 3 1 , 2 2 2 , 2 4 8 ff. Kanon, masoretischer 38 f., 95 Katenen 86 Kerygma 187f., 2 0 1 ff. Klarheit der Schrift 60 f., 9 9 , 1 0 1 ff., 111 Klarheit der Schrift, zweifache 1 3 6 , 1 4 0 , 2 2 4 Kommentare 87

270

Sachregister

Konkordienformel 114 Kontextualisierung 23 6 ff. Konzil, Tridentinisches 4 5 , 5 9 , 8 5 i 109f. Konzil, Vatikanisches 1 2 6 , 5 9 , 85 Konzil, Vatikanisches II 1 9 , 2 6 f., 59 Korrelation 24 f., 166 f. Kreuz Christi 6 5 , 7 0 f., 201 Kritik 24 f., 32,102 ff., 113,120f., 138,145 f., 149 f., 153 f., 164 f., 166ff., 170,171 f., 176 f., 179 f., 183 f., 190f., 201 f., 238 ff. Kritik an der Kritik 30 ff., 199 Kritik, radikale 28 ff., 1 6 4 , 1 8 8 , 1 9 8 f f . , 2 2 1 Lebensverhältnis (zur Schrift) 8 8 , 1 3 5 f., 146, 1 7 8 , 1 8 0 , 2 2 3 f., 241 ff. Liberalismus 167 f., 1 7 6 , 1 8 1 f., 198 Liebe 8 8 , 1 3 6 , 2 0 7 Linguistik 219 ff. Logostheologie 4 3 , 4 7 , 7 5 Meditation 137,253 f. Methode, historisch (-kritische) 24 f., 28 ff., 3 Off., 128 f., 153 ff., 163,164 f., 166 ff., 170 f., 176 ff., 198 f., 2 0 7 , 2 2 2 f., 243 ff. Methoden, exegetische 239 Midrasch 63 f. Missouri-Synode 33 Mitte der Schrift 3 5 , 1 0 3 , 1 0 7 , 1 7 2 , 1 9 1 f., 226 f., 239 f., 249 f. Montanus, Montanisten 4 0 , 4 4 Mythos 150 f., 191 ff., 204 f. Neologie 1 2 8 , 1 4 2 , 1 4 5 Neues Testament 40 f., 43 f., 46 f., 49 Offenbarung 183 f. Ontologie 2 4 5 , 2 4 7 Orthodoxie 115 ff. Paulus 248 Paulusbriefe 36 f., 4 9 , 1 0 3 perfectio s. Vollkommenheit der Schrift perspicuitas s. Durchsichtigkeit der Schrift Pescher (von Qumran) 70 Pietismus 2 9 , 3 2 f., 121 ff., 124,132 ff., 149, 152,155 f., 156 ff., 1 6 9 , 2 2 4 , 2 3 8 ff., 253 f. Predigt 2 0 7 , 2 5 4 f. Psychoanalyse 227 ff. Psychologie 227 ff. Rationalismus 1 2 5 , 1 2 6 ff., 205 Rechtfertigung 97 ff., 156,194 f. regula fidei 41 ff., 44, 83 ff., 8 9 , 9 1 Religion 145 ff., 167 f., 204 f., 228 ff. Religionsgeschichte 161 ff., 1 6 5 , 1 6 6 f .

Sachkritik 246 ff. Scholien 87 Schrift 17f., 49f., 98 ff., 113,115f. Schriftauslegung, nachkritische 191 Schriftprinzip 110f., 114,115 f., 118 Schriftsinn, doppelter 72 f. Schriftsinn, dreifacher 81 f. Schriftsinn, vierfacher 90 f. Schriftverständnis, jüdisches 63 ff., 66 ff., 76 Schriftverständnis, katholisches 19 f., 26 f., 59, 198,225 ff. Schriftverständnis, materialistisches 231 f. Schriftverständnis, nachkritisches 183 ff., 198, 199,217 Schriftverständnis, orthodoxes 27 Schriftverständnis, pneumatisches 184 Schriftverständnis, protestantisches 20 ff., 28 ff., 60 f., 120 f. Schriftverständnis, rationalistisches 61 ff., 118 f., 124 ff. Schriftverständnis, soziologisches 233 f. Schriftverständnis, wissenschaftliches 84 f., 142f., 181 f. Septuaginta 38 f., 4 5 , 4 6 , 5 6 , 8 0 , 8 2 , 86, 8 9 , 9 6 Skopus112 Sozinianer 118 Sprache 219 f. Sprachgeschichte 243 Sprachlehre des Glaubens 206 ff. Subjektivität 24 f., 6 2 , 1 2 6 , 1 6 6 , 2 2 7 sufficientia s. Vollkommenheit der Schrift Sukzession, apostolische 80 Sympathie, kritische 30 ff., 2 2 4 , 2 4 7 Synchronie 2 1 9 , 2 4 3 Text 215 ff., 219 ff., 221 Textwelt 2 1 7 , 2 1 8 , 2 4 3 Tradition 3 2 , 9 2 , 1 0 0 , 2 0 8 , 2 1 1 , 2 2 7 Transzendenz 216 Tropologie 87 Typologie 71 f., 8 3 , 1 5 7 Verheißung und Erfüllung 4 7 , 1 0 7 , 1 5 7 Vernehmen 1 7 1 , 2 0 9 , 2 2 1 , 2 4 4 ff. Vernunft 118f., 124 f., 130,205 Versöhnung 255 f. Verstehen, psychologisches 1 4 7 , 1 6 8 , 2 2 7 f. Verstehen vor dem Text 216 f., 224 f. Vollkommenheit der Schrift 116 Vorverständnis 195 f., 241 ff. Vulgata 4 6 , 8 6 , 9 4 f., 109 Wahrnehmung 169 ff. Wechselwirkung s. Korrelation Weltbild 204

Sachregister Wiedergeburt 135 ff., 1 4 7 , 1 5 6 f f . , 2 3 8 Wirkungsgeschichte 2 1 1 ff., 2 2 4 , 2 3 9 , 2 4 1 , 2 5 0 ff. W o r t Gottes 48 ff., 5 1 f., 9 8 , 1 3 0 , 1 8 7 f . , 193 f., 187ff., 2 0 9 , 2 4 0

271

Zeugnis 4 8 ff., 5 0 ff., 5 3 ff. Zeugnis des hl. Geistes, inneres 6 0 , 6 2 , 1 0 7 f., 129,136

Schriftstellen 1 .Mose 1-11

39

43,16-21

71

1,1 ff.

75

43,25

75

15,6

69, 70

45,18

75

16,15

72

48,16

53

1 7 , 1 6 ff.

72

51,3

71

2 1 , 9 ff.

72

5 1 , 9 ff.

71

6 1 , 1 ff.

53

3.Mose 21,17ff.

73

S.Mose 13,7-12

65

17,2-7

65

Jeremia 1 8 , 2 ff.

74

3 1 , 3 1 ff.

71,107

3 2 , 7 ff.

74

18,20-22

65

Ezechiel

2 1 , 2 2 f.

6 5 f., 7 0

2 , 1 ff.

53

32,39

75

1 6 , 6 0 ff.

71

Richter 5,11

Hosea 203

2.Samuel 7 , 1 2 ff.

71

Micha 66

Z.Cbronika 36,21

2 , 1 6 ff.

6,5

203

Habakuk 74

Psalmen

2,4

70

Sacharja

2,7

55,75

8,7

64

14,1

51

Weisheit

110,1

64, 66

7,22-9,19

75

111,10

50

7 , 2 2 ff.

50

8,21

50

9,1-18

50

Sprüche

11,13

74

Salomos

1,7 2,6

50,52 50

Sirach

8 , 2 2 ff.

75

Prolog

38

9,10

50

1,14

50

15,33

50

24

75

24,3

50

Jesaja 11,2

50

Baruch

25,7

68

3,37

4 0 , 3 ff.

71

41,4

75

4.Esra

42,1

55,75

14,45

50

38

273

Schriftstellen Matthäus 1,22 f. 2,15 2,17f. 2,23 4,14-16 5,21-48 6 , 2 6 ff. 7,7 i. 8,17 10,1 ff. 10,20 11,2-6 12,6 12,18-21 12,41 12,42

1 , 1 2 f.

51

74 74

5,39 6

75 71

74

6 , 6 8 f. 8,24 8,28

51

74 74 64 233 84 74 48 53 53 65 74

13,19 14,6 14,16 14,26 15,12-17 15,15 16,7ff. 1 6 , 1 3 f.

75 75 75 252 53 51 250 110 53 51

65

Apostelgeschichte

13,35

65 74

1,16 2

1 6 , 1 6 £. 17,1-9 21,4f.

50 55 74

2,11 2 , 3 Off. 5,30

53 53 203 66 70

22,41-46 22,43 23,8-12 23,34 27,9 27,25

64 53 250 74 74 252

5 , 3 0 ff. 6 , 1 3 f. 10,36 13,23 1 3 , 2 9 ff. 13,33

66 66 252 66 66 55

Markus 3,28-30 7,15 8 , 2 7 ff. 9,2-10 10,42—45 12,35-37a 12,36

249 65 65 55 252 64 53

Lukas 1,1-4 1,68 ff.

36 203

1,78 4 , 1 6 ff. 9,1-6 9,28-36 10,25-37 11,13

55 53,64

1 1 , 3 1 f. 21,15 24,25-27 24,44 24,44-47 Johannes 1-21

1,1-18

22,3

67

28,25

53

Römer 1,3 f. 1,1-7 1,16 1,16 f. 1,17 1,21 3,8 4 , 2 3 f. 4,25 5,12-21 7,7-25

48 55 64

8,1-11 10,4

117 65

1 1 , 1 3 fi. 12,6 12,19 13,1-7 15,19 16,17f.

53 66 38,53 66

1 0 , 9 f.

66 249 252 97,155,249 70,253 50 248 69 66 71 233 233 68 41 252 113 53 252 53 248

1.Korinther 7 5 , 1 0 3 , 1 9 1 f. 75,252

1,18-25 1,18-2,16

51 51,148,201,223,242

274 1,18 ff. 1,21-25 1,23 1,30 2,6-16 2,6 ff. 2,9 2,10-12 2,11 f. 2,14 5,1-5.11 5,9 7,23 7,40 10,1 ff. 10,11 11,2-16 12,29 13,12 14,21 14,29-31 14,33-36 15 15,3 ff. 15,23-28

Schriftstellen 193 51 252 51 51 f., 75 51,69,82 39 53 50 137 252 36 235 53 71 53,71 248 117 200 53 239 248 233 41 f., 4 8 , 6 6 55

2.Korinther l,19f. 1,20 2,4 3 3,14 4,1-6 4,3 f. 4,5 f. 4,6 4,13 5,16 5,17 6,14-7,1 6,14 ff. 6,16 ff. 10,5 11,3 f. 11,12-15

69 74 36 69,102 68 69 51 51 50 ff. 53 51 75 248 252 53 242 248 248

Galater 1,6-9 1,12 1,13 f. 1,14 2,11 ff. 2,14 3,11 3,13

248 51 67 51 248 239 70 71,108

3,27f. 3,28 4,4 4,9 4,21 ff.

252 235 70 52,200 72,73

Epheser 1,10 2,6

203 75

Philipper 3 3,5 f. 3,7-11 3,8 3,8-11

68 67 51 51 51

Kolosser l,12ff. 1,15-20 2,3 2,12 4,13 4,16

75 233 50 75 39 36

l.Tbessalonicber 1,4-6 1,5 2,3 2,13 5',21

51 51 51 51 52,239

I.Timotheus 1-6 1,4 3,16 6,20

40 75 126 37,54, 75,78

I.Timotheus 1-4 1,6 2,18 3,14-16 3,14-17 3,16

40 76 54,75 51 54, 7 6 , 2 2 3 53 f., 1 1 0 , 2 0 1

Titus 1-3

40

1 .Petrus 1-5 1,3-12 1,11 2,9 f. 3,15

103 55 53,55 72 200

275

Schriftstellen 3,21 f.

55

2.Petrus 1-3 1,16-21 1,20 f. 3,2 3,4 3,15 f. 3,16

3 9 , 4 2 f., 5 9 , 7 5 f. 54,76,223 54f., 1 1 7 , 2 0 1 42 54 55 3 7 , 4 0 , 5 4 , 7 5 , 78

1.Johannes 1,1-4 2,3-5 4,1 ff. 4,7-14 Hebräer 1-13 1,1-4 1,5

252 51 41 51

44 f., 103 252 55

3,7 5,5 6,4-8 6,4 ff. 8-10 10,15 10,26-31

53 55 249 44 72 53 44,249

Jakobus 1-5 2,14-26 4,5 f.

103 249 39

Judas V.l-25

37,39

Offenbarung 1-21 21 21,14 22,16-21

4 0 , 4 4 f.. 233 42 95

Grundrisse zum Neuen Testament Herausgegeben von Gerhard Friedrich

1 Eduard Lohse · Umwelt des Neuen Testaments 7., durchges. Aufl. 1986. 224 S., 4 Abb., kart. „Bemerkenswert ist die meisterhafte Darstellungskraft des Verfassers, der sein Buch auch für Nichttheologen leicht lesbar geschrieben hat und zugleich das Interesse des Theologen wachhält. Seine Urteile sind stets historisch gut fundiert und theologisch begründet." Reformierte Kirchenzeitung

3 Werner Georg Kümmel · Die Theologie des Neuen Testaments nach seinen Hauptzeugen Jesus —Paulus—Johannes. 4., durchges. und verb. Aufl. 1980. 312 S., kart. „Hier ist eine sehr geschlossene Darstellung entstanden, in einer stets klaren und flüssigen Diktion. Ein auf Wesentliches beschränktes Literaturverzeichnis, ein Sach- und Namenregister sowie ein Stellenregister erhöhen die Brauchbarkeit des Werkes." Theologischer Literaturanzeiger

4 Wolfgang Schräge · Ethik des Neuen Testaments 4 . , neu bearb. Aufl. 1 9 8 2 . 3 4 0 S., kart.

Gründlich und engagiert entfaltet der Verfasser die Ethik Jesu, der ersten Gemeinden, des Paulus, der Evangelien, der jüngeren Briefe und der Offenbarung. Besonders scharf treten die Bereiche Ehe und Ehelosigkeit, Eigentum, Armut und Arbeit sowie das Verhältnis zur staatlichen Autorität hervor.

5 Hans Conzelmann - Geschichte des Urchristentums 5. Aufl. 1983. IV, 173 S., kart. „Der Stand der Forschung wird so umfassend wie genau wiedergegeben. Der Band eignet sich ausgezeichnet zur kritischen Einführung und besticht durch Verzicht auf auffüllende Phantasien. Etliche Quellen ergänzen den Grundriß." Welt und Wort

6 Peter Stuhlmacher · Vom Verstehen des Neuen Testaments Eine Hermeneutik. 2., erw. Aufl. 1986. 275 S., kart. „Nach einer knappen Einführung in das Problem skizziert der Verfasser die Geschichte der biblischen Hermeneutik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart. Wer im Streit um die Schriftauslegung mitreden will, findet hier das dazu nötige Grundwissen: jederzeit verständlich, mit vielen Zitaten, in erfreulich unprätentiösen Stil." Deutsches Pfarrerblatt

8 Hans G. Kippenberg/Gerd A. Wewers (Hg.) Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte 1979. 2 4 4 S., kart. „Das Buch vermittelt wissenswerte Informationen aus dem politischen, sozialen und religiösen Umfeld des Neuen Testaments. Durch die transparente systematische Untergliederung lassen sich die einschlägigen Quellen zu einem bestimmten Sachgebiet rasch auffinden."

Nachrichten

der Ev.-Luth. Kirche in Bayern

Bd. 2 (E. Schweizer, Theol. Einleitung in das N T ) und 7 (H. Hegermann, Anthropologie im N T ) in Vorbereitung

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der Reihe 10%

Ermäßigung.

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen und Zürich