Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers [Reprint 2022 ed.] 9783112620083, 9783112620076


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German Pages 290 [285] Year 1981

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Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers [Reprint 2022 ed.]
 9783112620083, 9783112620076

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«Antifaschistische Literatur in der Bewährung» Reprints im Akademie-Verlag Berlin Herausgegeben von Lothar Berthold und Dieter Lange

Band 4

Albert Schreiner

Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers

Akademie-Verlag • Berlin 1980

Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers

Albert Schreiner

Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers Eine kritische Auseinandersetzung mit der Wehrmachtsideologie des Dritten Reiches

1939 EDITIONS

PROMÉTHÉE

P A R I S - 59

Alle Rechte, i n s b e s o n d e r e d a s der U e b e r s e t z u n g in f r e m d e S p r a c h e n , d e s N a c h d r u c k s , d e r Verb r e i t u n g durch R u n d f u n k vom Verfasser vorbehalten

Copyright 1939 by Éditions Prométhée, P a r i s

I n h a l t VORWORT DIE ANGST VOR DER NIEDERLAGE Von den Kriegszielen

7 11 12

„Ueberspannung der Ziele" im Weltkriege 16 / Ilemokratic — die Losung des Sieges 19 / Der sinnlose Krieg 20 / Die warnende Stimme der Angst 22

Aushilfen — keine Abhilfe

24

Flucht in die Mystik 24 / Abkehr vom Massenheer? 26 / Kein W a f f e n g a n g — Krieg des „Geistigen" oder der Wirtschaft 2!) / Sozialer Unterdrückungskrieg als „Ausweg" / Tarnung der Expansion durch den „Kampf gegen den B o l s c h e w i s m u s " 34

POLITIK UND KRIEGFUEHRUNG Kriegführung im 18. Jahrhundert Das revolutionierte Kriegswesen im 19. Jahrhundert Krieg und Politik bis zum Weltkrieg „Der Bruch der Logik" im Weltkrieg Totaler Krieg und totaler Staat

50 54 57 60

DAS GESICHT DES TOTALEN KRIEGES Mystik und „Monomanie des Krieges" „Wehrwirtschaft" Ausweglose Strategie Geistige Kriegführung

68 69 73 84 93

DAS VOLK IN WAFFEN Die Wehrerziehung der deutschen Jugend Der Arbeitsdienst Vormilitärische Ausbildung f ü r Sonderwaffen.. Die Wehrmacht Die Bedeutung der Zahl 133 ./ Die Wehrverfassung Die Auslese 147 / Erziehung und Ausbildung ..Der verstädterte Mensch im verstädterten Krieg" Peitsche und Zucker 165 / D a s Offizierkorps 171 Unteroffizierkorps 196

Die Der Die Die

militärischen Sonderverbände Luftschutz militarisierte Arbeitskraft Frau

KEIN SCHUTZ GEGEN DIE NIEDERLAGE

45 47

110 116 122 124 131

136 / 151 / 16t / / Das

203 212 226 238 250

Vorwort Die Fragen des Krieges greifen heute in das Dasein aller Menschen. Er ist für die nächsten Jahrzehnte der Drehpunkt der Politik und des Weltgeschehens. Ueber das Wesen des Krieges inuss sich jeder klar werden, der nicht nur Treibholz im Strudel der Ereignisse sein will; und erst recht der, der sich den Kampf um den Frieden zum Ziel setzt. Zu dieser Klärung beizutragen ist unser Bestreben. In diesem Buch ist das Ergebnis eines Streifzuges durch deutsche Militärliteratur niedergelegt. Der Zweck des Streifzuges war, festzustellen: a) wie die Militärs des Dritten Reiches die „seelische Widerstandskraft" des deutschen Volkes und der/ deutschen Wehrmacht im Hinblick auf den vom Nationalsozialismus vorbereiteten und gewollten Krieg einschätzen, b) wo der Hebel zur Entfesselung des Friedenswillens in Volk und Wehrmacht angesetzt werden muss. Damit ist der stoffliche Rahmen des Buches abgestreckt, sein Zweck umrissen und sein Charakter als Kampfschrift gegen den Nationalsozialismus bestimmt. Das Buch enthält keine Enthüllungen über die materielle Aufrüstung des Dritten Reiches, dagegen aufschlussreiche Urteile der kriegs- und niederlagenerfahrenen deutschen Militärs über die Brüchigkeit der „seelischen Front der Nation". Diese verwundbarste Stelle der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie blossgelegt zu haben, ist das Verdienst von Offizieren der deutschen Wehrmacht. 7

Aus den Früchten ihres ergebnislosen Suchens nach einer Sicherung der „seelischen Front" eine Waffe für den Kampf um den Frieden zu schmieden, ist unser Bestreben. Die Ausweglosigkeit der bekanntesten Wortführer der nationalsozialistischen Wehrmacht, die sich mit der „seelischen Front der Nation" befassen, zeigt uns den Ausweg. Mögen sie Teile des deutschen Volkes vorübergehend mit dem Gift ihres Kriegs- und Eroberungswillens infizieren. Zuletzt triumphiert der Friedenswille der entscheidenden Massen des deutschen Volkes. • Die Gliederung des Stoffes ist nach folgenden Gesichtspunkten vorgenommen: Wir gehen aus von der Feststellung der Tatsache, dass der Kriegswille der Machthaber im Dritten Reich gepaart ist mit der Angst vor der Niederlage im kommenden Krieg. Diese Angst zieht sich wie ein roter Faden durch die deutsche Militärliteratur der Nachkriegszeit und mündet aus in z. T. grotesken Vorschlägen zur „Sicherung" vor der Niederlage. Diese untauglichen Versuche werden am besten erhellt durch die Klarstellung des Wesens des totalen Krieges. Wir versuchen diese Klarstellung zu erreichen durch die Untersuchung des Verhältnisses von Politik und Krieg. In einem weiteren Kapitel: Im Zeichen des totalen Krieges, beschäftigen wir uns mit seinen drei Erscheinungsformen: Wirtschaftskrieg, dem eigentlichen Waffengang und dem geistigen Krieg. Diese Darstellung soll die Vorstellung vom Wesen des totalen Krieges vervollständigen, gleichzeitig aber schon seine Grundwidersprüche aufzeigen, die Elemente der totalen Niederlage enthalten. Das Kernproblem des totalen Krieges ist der Mensch. Wir behandeln es ausführlich im Kapitel: Das Volk in Waffen. Die Wehrmacht bedarf einer beson8

ders eingehenden Behandlung, weil sich in ihr der Widerspruch zwischen ihrem Umfang und den volksfeindlichen Zielen, für die sie in Bewegung gesetzt werden soll, am krassesten auswirken wird. Der totale Krieg stellt aber auch an die übrige Bevölkerung in den Rüstungsbetrieben, im Luftschutz usw., besonders auch an die Massen der Frauen solch hohe Anforderungen, dass objektiv mehr Quellen des Widerstandes gegen als des Willens für den Krieg fliessen. . Aus den objektiven Schwierigkeiten des totalen Krieges ist die Voraussage der Niederlage allein nicht begründet. Aber ihre Kenntnis ist Voraussetzung dafür, dass der Hebel des Friedens an der richtigen Stelle angesetzt wird. Im Schlusskapitel können wir zusammenfassend feststellen, dass es trotz Terror und Demagogie für die Brandstifter des totalen Krieges keinen Schutz vor der Niederlage gibt. Wir sind bei unserer Beweisführung gezwungen, die Theoretiker des totalen Krieges ausgiebig sprechen zu lassen. Und dennoch müssen wir uns dabei aus Gründen des Raumes und der Uebersicht Beschränkungen auferlegen. Es mag vermessen erscheinen, angesichts der letzten politischen Machtverschiebungen in Europa zugunsten des Dritten Reiches von seiner totalen Niederlage im kommenden Krieg zu schreiben. Wir sind durch die Ereignisse in unserer Auffassung nicht nur nicht erschüttert, sondern bestärkt. Zu den ohnehin vorhandenen inneren Widersprüchen im Dritten Reich gesellt sich der nationale Selbständigkeitswille der unterworfenen Völker. Das erschüttert die „seelische Geschlossenheit" in besonderem Masse. • Ein Wort in eigener Angelegenheit sei noch vermerkt. Seit Jahren ist mein Wirken dem Kampf gegen Hitlers Kriegspolitik gewidmet. Zeugnis für diesen 9

Kampf sind u. a. meine Mitverfasserschaft an dem 1934 erschienenen Buch: „Hitler treibt zum Krieg", meine 1935 und 1936 erschienenen Bücher: „Hitlers Luftflotte startbereit!" und „Hitlers motorisierte Stossarmee". Politische und persönliche Gründe Messen es seinerzeit geraten erscheinen, die Bücher unter anderen Namen herauszugeben. Die Herausgabe der ersten beiden Bücher übernahm Frau Dorothy Woodmann, die sich damit den besonderen Dank der deutschen Friedensfreunde erwarb. Das letztgenannte Buch erschien unter dem Pseudonym Albert Müller. Angesichts der Schwere der politischen Situation rechtfertigen es weder politische noch persönliche Gründe, weiterhin mit geschlossenem Visier zu kämpfen. Wenn ich fortan mit offenem Visier gegen Hitlers Kriegspolitik kämpfe, handle ich im Geiste meiner in Spanien gefallenen Kameraden der Internationalen Brigaden. Ihrem Gedenken sei das vorliegende Buch gewidmet. Möge auch dieses Buch dem Werke des Friedens und Fortschritts dienen. Ende April 1939.

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Albert

Schreiner.

Die Angst vor der Niederlage „Der Krieg rnuss einleuchtend sein. Nur so lange wird wirklich g e k ä m p f t . . . Der Kämpfwille des Volkes ist zur empfindlichsten Stelle der Front geworden — das verdanken wir dem sogenannten .Totalen Krieg', der viel eher unser Fluch als unsere Rettung sein wird." Dr. Karl Pintschovius 1 Ein Grundwiderspruch haftet der Kriegspolitik des Dritten Reiches an: Der Wille zum totalen Krieg ist gepaart mit der Angst vor der Niederlage. Der totale Krieg ist das Produkt der totalen Zielsetzung: Begründung der Weltvormachtstellung des deutschen Imperialismus. Diese Zielsetzung gebietet die Totalität des Aufgebots aller menschlichen, materiellen und geistigen Kräfte des deutschen Volkes. Der Krieg zwischen modernen Grossmächten verschont keinen Winkel im Raum der kriegführenden Staaten, weder von materiellen Entbehrungen noch von der W i r k u n g der Waffen, und er zehrt damit wie ein gefrässiges Ungeheuer von der Moral des Volkes. Der totale Krieg erfordert deshalb Geschlossenheit der Volksmassen in der Bereitschaft, seine ungeheure seelische und materielle Last auf sich zu nehmen. Nur die Ueberzeugung des gesamten Volkes, dass der Krieg unerlässlich f ü r seine Existenz, Freiheit und Unabhängigkeit sei, kann es dazu bewegen. Mit anderen Worten: nur wo der Zweck des Krieges die realen Interessen der Volksmassen in einem solchen Masse einschliesst, dass es ihnen wert ist, Opfer f ü r diesen Zweck zu bringen, kann die Geschlossenheit der Volksmassen f ü r den Krieg erreicht werden. Der Zweifel daran, dass die sich widersprechenden realen Interessen der Volks1 „Die seelische Widerstandskraft im modernen Kriege", Oldenburg, 1936, S. 156.

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massen und der der sie beherrschenden Schicht überbrückt werden können, erweckt bei der letzteren die berechtigte Angst vor der Niederlage. Die herrschende Schicht versucht deshalb ihre realen Kriegsziele durch ideelle zu umschreiben. Sie stellt ideelle Kriegsziele auf, die scheinbar den realen Interessen des Volkes entsprechen. Durch das Einhämmern dieser ideellen Kriegsziele mittels der Propaganda bei gleichzeitiger gewaltsamer Ausschaltung gegensätzlicher Auf fassungen kann vorübergehend die geistige Geschlossenheit- bis zu einem gewissen Grade erreicht werden. Aber das ist, wie Ludendorff 2 sagt, „eine äussere, durch Zwang erreichte Geschlossenheit", die keine Geschlossenheit ist, „wie sie ein Volk und Heer im Kriege gebrauchen, sondern ein mechanisches, für Regierung und Staat gefährliches Trugbild". Das eigene Volk mit List und Gewalt in den Dienst des Krieges pressen, drückt aus, dass es den Krieg nicht will. Mit einem kriegsunwilligen Volk in den Krieg ziehen, heisst den Krieg mit den Erscheinungen beginnen, mit denen der Weltkrieg für Deutschland endete, als das Volk „über der Frage nach Sinn und Zweck des Krieges in zwei feindliche Lager auseinander brach". 0 Wird dem Volk der Krieg mit Betrug und Zwang aufgelastet, dann ist die Zerreissgrenze der „seelischen Front der Nation" nur um so schneller erreicht. Die Frage nach dem Warum, dem Ziel, dem Sinn des Krieges lähmt in diesem Falle vom ersten Tage des Krieges an die Kriegführung. Wer den Krieg zum Zwecke der Eroberungen will, wie der Nationalsozialismus, und das unterdrückte eigene Volk mehr fürchtet als den „äusseren Feind", gehl unter dem Zeichen der Niederlage in den Krieg.

Von den Kriegszielen Die Ideologen der nationalsozialistischen Wehrmacht fordern, dass im Bereiche der Nation bereits im Frieden daraufhin gearbeitet werden inuss, „dass die Frage: War2

„Der totale Krieg", München, 1936, S. 17. Oberregierungsrat Karl Linnebach: „Ueber die Kriegsentscheidung." Erschienen in dem von General der Flieger von Cochenhausen herausgegebenen S a m m e l b a n d : „Wehrgedanken", H a m b a r g 1936. II. Teil, S. 16. 3

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um? im Kriege so wenig wie möglich aufgeworfen w i r d " . ' Sie verlangen vom Politiker, dass er die Geschlossenheit der Nation für die Ziele des Krieges im Frieden schafft, im Kriege nährt und erhält. Das ist kein geringes Verlangen. Denn die Geschlossenheit des Volkes für die Ziele des Krieges ist abhängig von dem Grad der Uebereinstimmung der realen Interessen des Volkes mit diesen Zielen. Es lassen sich dementsprechend heute vier Hauptgruppen unterscheiden, die uns die Gradverschiedenheit der Geschlossenheit der Nationen illustrieren. 1. Die Geschlossenheit der Nation für die Ziele des Krieges ist gegeben in der Sowjetunion, w o keine Gegensätzlichkeit der sozialen Interessen im Volke besteht, w o sich das Kriegsziel auf die Verteidigung der sozialen und kulturellen Errungenschaften des sozialistischen Aufbaues beschränkt, wo sich im Falle eines A n g r i f f s auf Sowjetterritorium jeder einzelne im Volk in seinen persönlichsten Interessen getroffen fühlt. 2. Die Geschlossenheit der Nation für die Ziele des Krieges ist weitgehend in Staaten gegeben, w o zwar soziale Gegensätze im Volke bestehen, oft in schroffster Form, das Volk aber mit ganzer Kraft um die Erhaltung seiner nationalen Unabhängigkeit kämpft, weil das Aufhören der nationalen Unabhängigkeit für es bedeutet, dass die Versklavung durch Angreiferstaaten ihren Emanzipationskampf erschwert und die Ausbeutung und Unterdrückung verdoppelt. Das Volk fühlt sich überdies in seinem nationalen Stolz getroffen, sieht seine grosse geschichtliche und kulturelle Tradition bedroht. Das ist der Fall in China und war der Fall im republikanischen Spanien. Eine weitgehende Geschlossenheit war im September 1938 in der Tschechoslowakei vorhanden. Der Kampf um die nationale Unabhängigkeit fällt hier zusammen mit dem Kampf um die Emanzipation im Innern oder um die Sicherung der Emanzipation. In diesem Kampf stellt sich nur ein winziger Teil des Volkes ausser den Rahmen der geschlossenen Nation, und zwar der Teil, der seine geschichtlich überholten Privilegien, die längst zum Hemmklotz des nationalen und sozialen Aufstiegs geworden sind, bedroht sieht. Er verbündet sich zur Rettung 4 Generalleutnant a. D . von M e l z s c h : die N i e d e r l a g e " , B r e s l a u 1937, S. 17.

„Der

einzige

Schutz

gegen

13

seiner Privilegien mit den Angreifern auf die Unabhängigkeit seines Volkes. 3. Die Geschlossenheit einer Nation für die Ziele des Krieges lässt sich weitgehend erreichen selbst in hochentwickelten kapitalistischen Staaten, bei ausgeprägt scharfen Klassengegensätzen, wenn die Existenz der Nation bedroht ist durch Angriffe faschistischer Staaten; wo das Volk in der Unversehrtheit des nationalen Territoriums die Unversehrtheit seiner demokratischen Freiheiten — den günstigeren Boden für sozialen und kulturellen Aufstieg —, die freiheitliche lind kulturelle Tradition seines Landes verteidigt gegen die Etablierung des sozialen und kulturellen Rückschritts, gegen die faschistische Barbarei. Eine solche Geschlossenheit der Nation kann weitgehend erreicht werden in Frankreich, England, den Vereinigten Staaten und allen demokratischen Ländern, wenn sie von faschistischen Staaten bedroht und angegriffen werden. Ausschliessen können sich auch in diesen Ländern Schichten, die ihre materiellen Sonderinteressen oder ihre reaktionären Vorurteile den nationalen Interessen überordnen und bereit sind, ihre Sonderinteressen unter den Schutz der faschistischen Eroberer zu stellen. Der Riss zieht sich aber auch in diesem Falle nicht horizontal — ausgebeutete und ausbeutende Schichten scheidend — durch die Nationen; er verläuft vertikal. Die sozial und politisch unterdrückten Schichten des Volkes sind zwar die sozial tragende Hauptkraft in der Verteidigung der nationalen Interessen, aber ihnen gesellen sich aus allen Bevölkerungsklassen die Elemente zu, denen die Verteidigung der Nation, ihre Unabhängigkeit, die kulturelle Tradition ihres Landes das Primäre ist. Eine solche Kräfteformierung zur Verteidigung der Nation steigert im Falle eines kriegerischen Angriffs durch faschistische Staaten die materielle Ueberlegenheit der demokratischen Staaten durch die Kraft des moralischen Uebergewichts. Das Kriegsziel: Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit, der demokratischen Freiheit und des kulturellen Fortschritts spaltet gleichzeitig die erpresste „Geschlossenheit" der Nationen in den faschistischen Angreiferstaaten. In diesem Kriegsziel ruht die grosse Chance der nationalen Selbstbehauptung und des Sieges der demokratischen Mächte über die faschistischen Angreifer. Jede Verletzung dieses Unterpfandes des Sieges der demokrati14

sehen Mächte durch rückschrittliche soziale und politische Massnahmen dem eigenen Volke gegenüber bedeutet ernste Gefährdung des Sieges. Gefährdung des Sieges bedeutet es aber auch, wenn die demokratischen Staaten den Krieg zum Zwecke imperialistischer Eroberungen führen und das deutsche Volk ein neues Versailles befürchten müsste. Das könnte eine Stärkung der Position Hitlers bedeuten anstatt seinen Sturz. 4. Die Geschlossenheit der Nation für die Ziele des Krieges ist nie zu erreichen in den faschistischen Staaten. Sie gehen, vor der Welt und dem eigenen Volk belastet mit dem Makel des Unruhestifters, des Friedensbrechers, des Angreifers in den Krieg, selbst wenn sie es verstanden haben, formell nicht als Angreifer in Erscheinung zu treten. Halten wir uns an das nationalsozialistische Deutschland. Sein Kriegsziel sind Eroberungen. Eroberung bedingt militärische Drohung oder kriegerischen Angriff. Sollen Drohung oder Angriff wirksam sein, dann ist dauernde militärische Ueberlegenheit über die bedrohten Staaten und ihre eventuellen Verbündeten erforderlich. Sicherung der militärischen Ueberlegenheit verlangt permanente Ueberbelastung des eigenen Volkes. Permanente Ueberbelastung des eigenen Volkes verschärft die sozialen Spannungen. Soziale Spannungen gefährden die Bereitschaft zum Angriff, deshalb ihre Niederhaltung durch Terror. Niederhaltung durch Terror stapelt politische Empörung im eigenen Volke auf und verstärkt den Abwehrwillen anderer Völker. Aufgestapelte Empörung im eigenen Volk ist kein Treibstoff für die Kriegsmaschine des Nationalsozialismus; sie ist ätzende Säure, die an dem empfindlichsten Teil der Maschine, der Moral des Volkes, frisst, und, unter Druck gehalten, zur Explosion treibt, wenn die Kriegsmaschine in Gang gesetzt ist. Das sehen niederlagenerfahrene deutsche Militärs seit langem. Der Weltkrieg hat manchem von ihnen die Augen geöffnet. Ein neuer Zweig der Kriegswissenschaft, die sogenannte Wehrpsychologie, ist darob entstanden. In einer umfangreichen Literatur haben die Erfahrungen über das Versagen der seelischen Widerstandskraft der Nation im Weltkriege, über die Ursachen des Versagens, über die Angst vor neuem Versagen im kommenden Krieg und Vorschläge zur Verhinderung des Versagens ihren Niederschlag gefunden. Was sagt diese Literatur über die Kriegsziele und 15

den Sinn des Krieges und ihr Verhältnis zur Widerstandskraft des Volkes aus?

seelischen

„Ueberspannung der Ziele" im Weltkriege Hans von Hentig, Infanterieoffizier im Weltkriege, später Professor der Kriminalpsychologie in Kiel, setzt sich in seinem Buche „Psychologische Strategie des Weltkrieges" (Heidelberg, 1927) mit den „Weltbeherrschungsideen" und dem „Kraftmeiertum" des Kaiserreichs auseinander. Seine Kritik ist dem Nationalsozialismus wie auf den Leib geschnitten. Hentig sagt: „Deutschland litt schon an und für sich an einem exzessiven Kraftgefühl, das die ganze Welt erschreckte. Trat ein gewaltiger Erfolg hinzu, so ging der Wirklichkeitssinn ganz verloren. Jetzt nahmen wieder die Weltbeherrschungsideen, jene uferlosen Pläne, gegen die Bismarck so starke Worte gefunden hatte, die Oberhand." (S. 75.) „Das Selbstgefühl des rasch aufstrebenden Volkes hatte sich schnell zu einem gewissen allgemeinen und kritiklosen Kraftmeiertum gesteigert. Diese Mentalität glaubte, sehr naiv aber ebenso zuversichtlich, dass, je mehr Feinde, sich präsentierten, es um so schlimmer für diese Feinde sein würde." (S. 37.) „Schon die leiseste Befürchtung, Deutschland wolle grosse Kulturvölker .vernichten', wolle die Welt erobern, die Welt an seinem Wesen genesen lassen, musste die gleichen Vernichtungstendenzen mit einem Schlage gegen Deutschland erwecken, die Abwehr der Welt gegen den Angreifer wachrufen. Jeder Schritt auf dem Wege militärischer, nicht unbedingt solider Triumphe schlug uns politisch eine schwere Wunde. Der Tag musste kommen, an dem die politische Niederlage sich uns in militärischer Gestalt — neuer Kriegserklärungen, neuer feindlicher Heeresmassen — präsentieren würde und auch eine Lösung mit militärischen Mitteln nicht mehr möglich war." (S. 18.) Von der „Ueberspannung" der Kriegsziele spricht auch der jetzige Generalleutnant von Rabenau: „Wir leiden... fast erblich an einer Ueberspannung der Ziele. Wir fühlten uns als Grossmacht ersten Ranges, obwTohl wir es auch vor dem Kriege leider noch nicht waren, sondern erst werden wollten. Wir steckten uns überseeische Weltziele, die nur einer Grossmacht ersten Ranges entsprachen. Man propa16

gierte den deutschen Gedanken in der Welt und träumte von Berlin-Bagdad. Ja, waren dies und manches andere nicht überlebensgrosse Ziele? Aber ein einziges, greifbares Ziel, das hat uns gefehlt." 0 Einer der bedeutendsten Wehrpsychologen der nationalsozialistischen Wehrmacht, Oberst Friedrich Altrichter, gab 1933 ein umfangreiches Buch über „Die seelischen Kräfte des deutschen Heeres im Frieden und im Weltkriege"' heraus, in dem er die Bedeutung der Kriegsziele für die seelische Widerstandskraft von Volk und Heer eingehend behandelt. Er schreibt u. a.: „Der psychologische Ursprung der Kriegszielfrage lag in dem Umstand, dass es für Deutschland nach seiner Einigung keine positiven Ziele mehr gab, deren Erreichung von der gesamten Nation als Lebensbedürfnis empfunden worden wäre. Bismarck selbst hatte gesagt, dass Deutschland saturiert sei. In diesem Mangel lagen Schwächemomente ersten Ranges für die Entfaltung des Kriegswillens. Im Gegensatz zu den Völkern der Entente, von denen jedes einzelne aus dem Vorhandensein klarer ideeller und politischer Kriegsziele immer wieder neue Antriebe zur Fortsetzung des Krieges gewann, trat in Deutschland eine grosse seelische Leere ein, nachdem die Begeisterung der ersten Monate verraucht und die Empörung über die Einkreisung der Alliierten abgeklungen war. Diese eigenartige geistige Lage bildete die Voraussetzung dafür, dass die Frage nach dem Sinn des Krieges überhaupt eine derartige Rolle in dem Denken des Volkes spielen konnte. Den unmittelbaren Anlass zu dieser Fragestellung gab das Misstrauen, das die nicht abzusehende Dauer des Krieges erzeugt hatte, das Misstrauen sowohl in den glücklichen Ausgang des Krieges als auch hinsichtlich der völligen Gerechtigkeit der eigenen Sache... Immer drängender wollte man wissen, wofür man denn schliesslich kämpfte, und zu welchem Zweck die ungeheuren Opfer gebracht werden sollten. Die Regierung . . . beschränkte sich auf die negative Formel des Duichhaltens." (S. 103.) „Es war kein Wunder, dass der von der Not des Krieges am meisten bedrängte Frontkämpfer sich erst recht Gedanken über den Zweck der Fortsetzung des Kämpfens ' F. v. R a b e n a u : „Die alte Armee und die junge Generation", Berlin 1925, S. 74. * Verlag Mittler und Sohn, Berlin.

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machte. Wofür geschah das eigentlich? Darüber war sich die überwältigende Mehrzahl wohl klar, dass niemand Lust hatte, für irgendwelche uferlosen Eroberungen oder dynastische Interessen die furchtbaren Leiden des Krieges weiter zu erdulden, falls man einen erträglichen Frieden haben konnte." (S. 104.) „Die suggestive Kraft, die von dem Siegesglauben und dem Kriegswillen der feindlichen Staatsmänner ausging, bewirkte, dass ihre Völker länger und stärker ihre seelische Einheitlichkeit, die durch die Ueberzeugung von der schliesslichen völligen Niederlage Deutschlands bestimmt wurde, beibehielten. Diese Ueberzeugung wurde getragen von der ungeheuren Macht des Massenwillens der Welt nach Vernichtung Deutschlands, in dem der Urheber des Krieges erblickt wurde. Die imposante Geschlossenheit des Kriegswillens der Völker gegen Deutschland wurde ferner durch das Bewusstsein der klaren Ideen und grossen Ziele, für die man kämpfte, aufrechterhalten. Schliesslich fand der Kriegswillen der Engländer und Franzosen noch seine Erklärung in dem Vertrauen auf die Hilfe der machtvoll heranrückenden amerikanischen Verstärkungen . . . Der Anblick der frischen, siegesbewussten amerikanischen Truppen, die in einer Art Kreuzzugsbegeisterung über das Meer gekommen waren, um den verhassten .Hunnen' den Rest zu geben, machte einen überwältigenden Eindruck auf die niedergedrückte und kriegsmüde Stimmung des Volkes und der verbündeten Heere in Frankreich." (S. 145/46.) Die Kritik an Gewesenem ist auch hier als Lehre für das aktuelle Handeln gemeint. Was ist der Kern dieser Kritik? Altrichter trifft ihn, wenn er sagt, dass es für Deutschland nach der Einigung keine positiven Ziele mehr gab, deren Erreichung von der gesamten Nation als Lebensbedürfnis empfunden worden wäre. Mit anderen Worten: grosse Teile des deutschen Volkes und der Welt empfanden die Eroberungspläne des deutschen Imperialismus als überspannt, als Ziele ohne Wirklichkeitssinn. Solche Ziele sind nie eine einleuchtende Begründung der Notwendigkeit des Krieges. Deshalb wurden die Kriegsziele im Halbdunkel gehalten, waren verschwommen und konnten nicht klar abgegrenzt sein. Solche Ziele können vielleicht anfänglich durch Propaganda und militärische Teilerfolge überschattet werden, nie aber auf die Dauer. Heben sie sich im Verlauf des Krieges klar heraus, dann ist für 18

das eigene Volk und die Welt erwiesen, wo der Angreifer, der Friedensbrecher sitzt. Oberst a. D. von Oertzen schreibt in seinem Buch: „Grundzüge der Wehrpolitik" (Hamburg 1933) warnend: „Nichts ist dem Kriegswillen abträglicher, als wenn sich der Gedanke festsetzt, die Heeresleitung führe den Krieg zum Nutzen, im Auftrage bestimmter Interessentenkreise . . . Man trägt willig seine Haut zu Markte, wenn man und solange man der Ueberzeugung ist und sein kann, dass man mit dem Vaterlande auch seine eigenen Interessen verteidigt — und man geht widerwillig in den Kampf, wenn m a n . . . den Glauben gewonnen hat, man könne längst im Frieden zu Hause sitzen, wenn nicht der innerpolitische Gegner aus Selbstsucht den Frieden hintertriebe." (S. 130.) Hentig nennt den „innerpolitischen Gegner", der „aus Selbstsucht den Frieden hintertrieb" beim Namen, wenn er sagt: „ . . . bestimmte politische und wirtschaftliche Erwerbsinteressen einzelner Gruppen" waren in Gefahr, nicht das Vaterland; die „Berlin-Bagdadphantasie . . . , soweit man sich diesen Weg als eine Art Döberitzer Heerstrasse vorstellte, an deren Kreuzungen sich Depositenkassen der Deutschen Bank erhoben." (a. a. O. S. 122/23.) Steht aber der Eroberungswille eines Staates — wie beim Dritten Reich — schon vor dem Kriege für alle Well fest, dann treten die für den Eroberer nachteiligen Folgen um so rascher und gravierender auf, denn „Völker haben kein Verständnis für Angriffskriege". 7 Demokratie —

die Losung des Sieges

Was waren nun die Kriegsziele, die die „imposante Geschlossenheit des Kriegswillens der Völker" gegen die verschwommenen, weil überspannten Kriegsziele Deutschlands herbeiführte? Wir sprechen hier nur von den ideellen Kriegszielen, die die Massen bewegen sollen. Das die Völker der gegen Deutschland verbündeten Mächte faszinierende und die Völker der Mittelmächte bestechende Schlagwort war die Losung der Demokratie, entgegengestellt dem preussischen Militarismus und dem wilhelminischen Halbabsolutismus. Darin drückte sich noch die geschichtliche Fernwirkung der Losung der Demokratie der grossen bürgerlichen Revolutionen und Freiheitskämpfe in England, den ' T.udontlorff

a. a. 0 . .

S. 87.

19

Vereinigten Staaten und Frankreich gegen den Feudalismus aus. Gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, das selbst die letzten Spuren von Demokratie aus dem wilhelminischen Deutschland restlos getilgt und durch ein Terrorsystem ohnegleichen ersetzt hat, wird die Losung der Verteidigung der Demokratie ungleich stärker sein. F ü r die Massen in fast allen Ländern fallen heute mehr denn je ihre realen Interessen mit dem ideellen Kriegsziel, der Losung der Verteidigung der Demokratie, zusammen. Die Verteidigung der Demokratie wird von den Völkern um so leidenschaftlicher geführt werden, je mehr sie sie im eigenen Land bedroht sehen.. Werden allerdings von den demokratischen Staaten die demokratischen' Freiheiten ihrer Völker selber verletzt und eingeschränkt, dann liefern sie dem Nationalsozialismus und Faschismus die geistige Maginot-Linie aus, schwächen die seelische Widerstandsk r a f t der eigenen Völker und begeben sich der wichtigsten Losung, die ihnen im deutschen Volk den stärksten Verbündeten gegen den Nationalsozialismus schaffen würde. Der sinnlose Krieg Damit wirft sich eine weitere Frage auf: die W i r k u n g der Kriegsziele des Nationalsozialismus auf das deutsche Volk, das wissen will, w o f ü r es kämpfen und zu welchem Z w e c k es die ungeheuren Opfer bringen soll. Denn „kritikloses Kraftmeiertum" und „Überlebensgrosse Ziele" des wilhelminischen Deutschland kehren in erhöhtem Masse wieder als auffallende Kennzeichen des Nationalsozialismus. „Misstrauen in die Gerechtigkeit" der Kriegsziele des Nationalsozialismus, infolgedessen „seelische Leere" anstatt schwungvollen Kriegswillens, sind Kennzeichen des deutschen Volkes im Dritten Reich schon vor dem Kriege. Ob der Frage nach dem Sinn des Krieges spaltete sich das deutsche Volk im Weltkrieg in zwei feindliche Lager. Wieviel mehr wird das der Fall sein — und ist es heute schon — unter dem Terrorsystem des Nationalsozialismus, bei dem Charakter des modernen Krieges, der engen Verbundenheit von Volk und Armee. A u s der Ungewissheit über die Haltung des deutschen Volkes im kommenden Krieg schreibt v. Metzsch: „ W i r sind aber nicht sicher vor seelischen Erschütterungen des Volksempfindens . . . W a r daher der Zukunftskrieg schon 20

zu allen Zeiten eine Sphinx, deren Rätsel er nur selber löst, so gilt das heute, seit das militärische Instrument in das Volkselement eingelagert ist wie die Schraube in die Mutter, noch viel mehr." 8 Man könnte annehmen, dass hier die Volksfremdheit v. Metzschs, des ehemaligen Flügeladjutanten des einstigen Königs von Sachsen, zum Ausdruck kommt. Aber mitnichten. Von Metzsch, einstiger Inspekteur des Erziehungs- und Bildungswesens der Reichswehr, ist einer der beredtesten Wehrpsychologen des Dritten Reiches. Aus seinen Worten spricht die Tatsache, dass tiefe Gegensätze im deutschen Volk über den Sinn des Krieges bestehen. Ein junger Grabenoffizier aus dem Weltkrieg, der heute Oberstleutnant ist, Dr. Kurt Hesse, kam dem f ü r v. Metzsch und den Nationalsozialismus ungelösten „Geheimnis" des Zukunftskrieges auf den Grund, als er schrieb: „Ob es sinnlos ist, dass ein Arbeiter, der sich Proletarier nennt, auf einem Schlachtfeld stirbt, darum geht es hier . . . Wo es in den Massen anfängt zu denken, darf man nicht mit .Sinnlosem' ihnen k o m m e n . . . Wir wollen uns doch kein Hehl daraus machcn, dass das Proletariat in seiner überwiegenden Zahl heute den Krieg als etwas .Sinnloses' ablehnt." 0 Das ist des Pudels Kern: was die Ideologen des Nationalsozialismus und seiner Wehrmacht f ü r sinnvoll halten, halten die entscheidenden Massen des deutschen Volkes f ü r sinnlos. Und die ganze Wehrpsychologie dreht sich im Grunde darum, wie das V Das ist nicht der Geist Scharnhorsts und Gneisenaus, der hier spricht, sondern der des Prinzen Karl von Meck146

lenburg und der reaktionären Junker fronde.. Auch v. Oertzen äussert dementsprechende Zweifel gegen die allgemeine Wehrpflicht, wenn er schreibt: „Wir werden noch sehen, dass die Allgemeinheit der Wehrpflicht nicht durchführbar ist, dass der Zwang Männer einreiht, die geistig und seelisch f ü r den Waffendienst und den Kampf ungeeignet sind . . . , die während ihrer Dienstzeit die Truppe belasten und als Staats- und Gesellschaftsfeinde die Kaserne verlassen; und dass alle die,- denen Religion oder Weltanschauung Waffentragen und Töten untersagen, in einen unlösbaren Konflikt mit der Staatsgewalt geraten und dadurch gleichzeitig die Regierungspolitik vor eine schwer zu bewältigende Aufgabe gestellt wird, die, wie man sie auch immer löst, nicht ohne einen hässlichen, bösartigen Rest aufgeht. Im letzten Krieg erlebten wir, dass von manchen der Ruf in den Schützengraben als Strafe empfunden wurde und die Aufrechterhaltung der .Reklamation' als Prämie für allerlei politisches und sonstiges Wohlverhalten verteilt wurde." 8 8 Damit kommen wir zu der ersten Aushilfe, die sich das Dritte Reich zur Sicherung gegen die Auswirkung dès dem Heere der allgemeinen Wehrpflicht im totalen Staat immanenten Widerspruchs zu schaffen versucht: die Auslese. Die Auslese v. Oertzen " stellt als Nachteil der allgemeinen Wehrpflicht fest, dass sie alle Männer unter Mass stellt, die körperlich waffenfähig sind, auch die Männer, deren geistige und seelische Anlagen dem Soldatentum widerstreben. „Jeder, der im Heere war, kennt diese unglücklichen Soldaten, denen die Dienstzeit.. . eine seelische Qual war." „Für die Truppe sind sie im Krieg und Frieden eine schwere Belastung . . . Leider gibt es kein Mittel, sie auszusondern, ohne den eigentlichen Drückebergern einen Freibrief auszustellen." An anderer Stelle spricht v. Oertzen von den Kriegsdienstverweigerern aus religiöser oder politischer Gesinnung, die abträglich auf den Geist und Zusammenhalt der Truppe einwirken und „die der Zwang in die Regimenter presst". „Eine besondere Schwierigkeit bietet die Be88

„Grundzüge der Wehrpolitik", S. 41. » Ebenda, S. 48, 51, 62.

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handlung staatsfeindlicher Elemente. Kurt Hesse schlägt vor, sie auszusondern und nicht der Ehre teilhaftig werden zu lassen, dem Vaterland Waffendienst zu leisten. Das bedeutet eine Prämierung der Staatsfeindlichkeit... Ausserdem kann man niemandem ins Herz sehen." Ein deutscher Soldat drückte diesen Gedanken in den kritischen Septembertagen 1938 so aus: „Der Rock gehört dem Hitler, aber das Herz ist mein, über das kann kein Hitler verfügen." Die friedfertigen Elemente, sagt v. Oertzen, die den Krieg ablehnen, könne man durch Uniform und Drill dazu bringen, den Anschein von Soldaten zu erwecken, „aber sie brechen in schwierigen Lagen sofort aus und entgleiten der Hand der Führer". Sie stellen „jenen Volks- und Heeresbestandteil, welcher der seelischen Propaganda stets zugänglich ist, die Stimmung im Heere und in der Heimat flau macht und bei revolutionären Möglichkeiten sofort gegen die bisherige tatkräftige Staatsleitung Front macht". Und welche Lösung schlägt v. Oertzen vor? Er kommt auf den ausgetretenen Pfad von der Elitetruppe und zitiert zu diesem Behufe Generalleutnant a. D. v. Metzsch: w „ . . . aus einem ideellen Massenaufgebot muss eine kämpferische Auslese hervorgehen, die den grössten Erfolg mit kleinstem Einsatz sucht. Das Ganze muss von dem Stosstruppgedanken durchdrungen sein. Das gilt zur Erde wie zur Luft. Das gilt auch für jeden zahlenmässigen Umfang des Heeres. Das organisatorische Ziel heisst nicht: Bombenfutter, sondern soldatische Kernkraft. Jeder andere, dem Massenprinzip von gestern entlehnte organisatorische Leitgedanke wird enttäuschen." So wählerisch kann das Dritte Reich nicht sein und ist es auch nicht. Es wird in der Musterungs-Verordnung — wir zitieren nach dem Nachtrag vom 30. VI. 1937 — zwar zwischen Wehrfähigen und Wehrunwürdigen unterschieden. Wehrunwürdig und damit ausgeschlossen von der Erfüllung der Wehrpflicht ist nach § 17, wer 1. mit Zuchthaus bestraft ist, 2. nicht im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte ist, 3. den Massregeln der Sicherung und Besserung (Konzentrationslager. D. V.) unterworfen ist, 4. durch militärgerichtliches Urteil die Wehrwürdigkeit verloren hat, 5. wer wegen staatsfeindlicher Betätigung gerichtlich bestraft ist. Ausnahmen von 3 und 5 können auf Antrag zugelassen werden. 00

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„Arbeit und W a f f e als Grundlage der Nation", Oldenburg 1933.

Die Auslese aus diesen Gesichtspunkten könnte breit sein, wenn die Erfordernisse des totalen Krieges das zulassen würden. Angenommen, es würde nach diesen Richtlinien verfahren, bedeutet das nach v. Oertzen nicht eine Prämierung der „Wehrunwürdigen" und „Staatsfeinde"? Gewiss, sie erfahren und werden eine menschenunwürdige Behandlung erfahren. Sie werden gequält und verstümmelt an Leib und Seele, viele werden totgeschunden. Die Rezepte, nach denen das Dritte Reich seine Wehrmacht vor Widersachern zu sichern gedenkt, liegen seit langem fest. Hitler lässt sich in „Mein Kampf" darüber aus, wo er dem wilhelminischen Regime Halbheit auch in dieser Hinsicht vorwirft. „Was musste man t u n " gegenüber den marxistischen Elementen, fragt er: „Die Führer der ganzen Bewegung sofort hinter Schloss und Riegel setzen, ihnen den Prozess machen und sie der Nation vom Halse schaffen. Man musste rücksichtslos die gesamten militärischen Machtmittel einsetzen zur Ausrottung dieser Pestilenz. Die Parteien waren aufzulösen, der Reichstag, wenn nötig, mit Bajonetten zur Vernunft zu bringen." (S. 185/86.) Unter „Marxisten" sind alle Parteien gemeint, die sich dem Erobererwahn des deutschen Imperialismus in den Weg stellen. Auch die Pazifisten aller Richtungen. „Die Pazifisten und Völkerversöhnler haben in deutschen Landen keinen Platz. Sie sind schlimmer als die Cholera, die Lungenpest, die Syphilis, schlimmer als die brennenden Horden der Kalmücken, schlimmer als Feuersbrunst, Hungersnot, Deichbruch, grosse Dürre, schlimmste Heuschrekkenplage, Giftgas." 01 Nach Hitlers Weisungen verfährt das Dritte Reich und wird es im Kriegsfall unbarmherzig mit den erkannten Gegnern der nationalsozialistischen Diktatur verfahren. Ist damit das Heer vor antinationalsozialistischen Einflüssen gesichert? Keineswegs. Denn auch die Tausende und Abertausende, die sich heute bereits in den Fängen der Gestapo befinden, sind verwachsen mit dem Volk. Die Untat, die ihnen geschieht, wird tausendfältig Früchte tragen, an denen die nationalsozialistische Diktatur keine reine Freude erleben wird. ™ „Die Leibesübungen in der nationalsozialistischen Idee", Heft 46 der „Nationalsozialistischen Bibliothek", München 1934.

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Aber gegen die viel grössere Zahl der unerkannten Gegner des Dritten Reiches kann die nationalsozialistische Wehrmacht nie gesichert werden. Und das Heer derer wird im Kriege stetig neuen Nachwuchs aus den Reihen der ehedem dem Dritten Reich ergebenen Elemente erhalten. Bleibt noch die Auslese nach „rassischen" Gesichtspunkten. Im Wehrgesetz, § 15, wird bestimmt, dass ein Jude keinen aktiven Wehrdienst leisten kann. Jüdische Mischlinge können nicht Vorgesetzte sein, nach den neuesten Bestimmungen nicht einmal Gefreite. Die Dienstleistung von Juden im Kriege ist besonderer Regelung vorbehalten. Sie werden also von der zweifelhaften Ehre, als Soldat für die Erobererinteressen des deutschen Monopolkapitals sterben zu dürfen, ausgeschlossen. Hitler gab bereits im voraus in „Mein Kampf" (S. 772) die Ausführungsbestimmungen zum Arier-Paragraphen im Wehrgesetz, wo er schreibt: „Hätte man zu Kriegsbeginn und während des Krieges einmal zwölf- oder fünfzehntausend dieser hebräischen Volksverderber so unter Giftgas gehalten, wie Hunderttausende unserer allerbesten deutschen Arbeiter aus allen Schichten und Berufen es im Felde erdulden mussten, dann wäre das Millionenopfer der Front nicht vergeblich gewesen. Im Gegenteil: zwölftausend Schurken zur rechten Zeit beseitigt, hätte vielleicht einer Million . .. Deutschen das Leben gerettet." Wie sagte doch Gneisenau? „Jede Nation muss sich selbst ehren und keine Einrichtungen bei sich dulden, die sie in den Augen anderer Nationen herabsetzen." Hitler beschmutzt das Ansehen der deutschen Nation, setzt sie in den Augen anderer Nationen herab und schwächt überdies durch die bestialische Form der physischen Ausrottung von hunderttausende!! Unschuldigen die „seelische Front" des eigenen Volkes. Wir halten fest, alle die hier behandelten Auslesemassnahmen sichern die Wehrmacht des Dritten Reiches nicht vor den Wirkungen der ihr eigenen Widersprüche, vermehren sie nur. Eine Auslese nach dem Gesichtspunkt der Zuverlässigkeit der Soldatenmassen für das nationalsozialistische System ist nicht möglich.

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Erziehung und Ausbildung

Wir untersuchen im Folgenden, ob die Methoden der Erziehung und Ausbildung den Zusammenhalt der Wehrmacht des Dritten Reiches im Kriege gewährleisten können. Wenn man den berufenen Interpreten der Wehrmachtserziehung glauben darf, wird in der Wehrmacht des Dritten Reiches nach den modernsten Erziehungsprinzipien lind mit reichlich viel Psychologie gearbeitet. Die Aenderungen erstrecken sich aber auf die „Kleinigkeiten". Friedrichs II. Wort: „Liebt die Kleinigkeiten. Sie sind nicht ohne Ruhm und der erste Schritt zum Siege", ist das Leitmotiv der Reförmchen in der Wehrmachtserziehung im Dritten Reich. Keine Ueberspannung in den Leistungsforderungen an die Truppe, genügend Essen und Trinken, gerechte Behandlung, Kameradschaft zwischen Vorgesetzten und Soldaten bilden theoretisch „das Feld der bedeutungsvollen Kleinigkeiten". Diese Aenderungen in Kleinigkeiten sind im Grunde nichts anderes als die Uebertragung der sozialen Demagogie, des „Kraft-durch-Freude"Schwindels von der Politik auf die Wehrmacht. Der altrömische Lehrsatz über die Lenkung von Massen durch Brot und Spiele ist im Dritten Reich dahingehend abgewandelt: Je weniger Brot, um so mehr Spiele. Damit ist im Heere im Frieden auszukommen, i in Kriege wirken aber nicht die „Kleinigkeiten", sondern die grossen Gesetze, der Gegensatz von Staatsform und Wehrform. Die exakteste Beachtung der „Kleinigkeiten" führt nicht zum Ziel, wenn es ums Sterben von Millionen geht, für Interessen, die diesen Millionen fremd sind; und wenn den Millionen zudem die „Kleinigkeit" ausreichender Ernährung fehlt. Die „Kleinigkeit" der gerechten Behandlung von Millionen Soldaten ist ein Nichts gegenüber der grossen Ungerechtigkeit, sich für die Interessen einer kleinen Minderheit opfern zu sollen. Die raffiniertesten psychologischen Methoden, die z. B. in der Wirtschaft zur Steigerung der Produktion z. T. mit Erfolg angewendet werden, versagen in einem Kriege für volksfremde Interessen. Ueberdies, was die besorgtesten Ideologen der deutschen Wehrmacht im Hinblick auf die Wehrmachtserziehung fordern und was z. T. seinen Niederschlag schon in den Ausbildungsvorschriften gefunden hat, ist damit noch längst nicht Wirklichkeit. Nirgends wirkt das Gesetz der 151

Tradition stärker als im Heere. Und im deutschen Heer hat sich die Tradition der friderizianischen Erziehung, wonach der Soldat seinen Offizier mehr fürchten soll als den Tod in der Schlacht, im Wesen erhalten, trotz veränderter Mittel, mit denen man dieses Erziehungsresultat anstrebt. Mehr noch. Dieses „Erziehungsprinzip" ist auf ein 80Millionen-Volk ausgedehnt, Regierungsmaxime des totalen Staates. Nur ist das erstrebte „Erziehungs"-Resultat heute schwieriger zu erreichen. Besehen wir uns, wie die Wehrpsychologen das Problem zu lösen versuchen. Wir halten uns im wesentlichen an die Werke von Friedrich Altrichter, Erich Weniger, an die Schriften von Kurt Hesse und an das schon wiederholt erwähnte Buch von Pintschovius. Die Zielsetzung der soldatischen Erziehung sieht Hesse darin, dem letzten Rekruten beizubringen, dass das Sterben auf dem Schlachtfeld der eigentliche Inhalt des soldatischen Berufes ist. Das unbekümmerte Einsetzen der eigenen Person steht aber in Abhängigkeit vom Körperzustand. Darum hat die körperliche Zielsetzung nicht nur einen den Diensterfordernissen entsprechenden Zweck, sondern hängt mit dem geistig-soldatisch Angestrebten eng zusammen. Dieser Zielsetzung steht der Wille des Menschen zum Leben entgegen., „Unsere Aufgabe liegt in der Richtung, Mittel und Wege zu finden, über diesen Trieb zum Leben die Herrschaft zu gewinnen." Diesem Willen zum Leben soll der Soldat „geradezu seinen .Willen zum Tode' gegenüberzusetzen vermögen".*2 Auf diese „Willensbildung" kommt es der Wehrerziehung vor allem an. „An einem Vergleiche zwischen altem und neuem System veranschaulichen wir vielleicht am besten diesen Grundsatz: Halb Kind, halb Mann, ausgestattet mit einem gewissen eigenen Denken und Wollen, so trat der Rekrut der alten Armee in die militärische Ausbildung, wie sie die allgemeine Wehrpflicht bedingte. Von diesem Augenblicke an gab es nur noch eins: blindlings zu gehorchen. Ein Fragen nach dem Sinn eines Befehls gab es nicht. Das Befohlene war eben sinnvoll, und es war letztens gleichgültig, ob es verstanden wurde. Wer anders wollte, wurde gezwungen, sich unterzuordnen. Auch ein geistiges Auflehnen war so gut wie unmöglich. Der Mensch fügte sich, weil er musste. Dann kam ein Tag, an dem er das, M

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Hesse, „Wandlung des Soldaten", S. 40, 66.

was geschah, für ganz zweckentsprechend und vernünftig fand, und nicht viel später entdeckte er vielleicht sogar, dass er selber ja auch gar nichts anderes wolle als sein Vorgesetzter. Der Wille des Untergebenen war mit dem des Vorgesetzten identisch geworden und damit .frei', denn nun hatte ja der Untergebene wieder seinen eigenen Willen, wenigstens vermeinte er es so. Der Wille, den er einmal besessen hatte, war über Bord geworfen." (S. 41.) „Heute versuchen wir, bereits in dem jungen Soldaten das Verständnis für das, was es heisst, freudig zu sterben, zu erwecken. Seien wir uns der Gefahr bewusst, was das bedeutet!" Denn die Beherrschung des Lebenstriebes „findet immer wieder ihre Grenzen, und dieser Trieb ist . . . beinahe unberechenbar. Es ist unmöglich, sich unbedingt zuverlässig auf eine beherrschende Kraft zu verlassen, auch der Tapfere erliegt einmal. Es ist gut, das zu wissen, um auf Enttäuschungen vorbereitet zu sein. Es gibt nur ein Wahrscheinlichkeitskalkül für Begriffe wie Mut, Tapferkeit, Aufopferung, Durchhalten und andere." (S. 42.) „Die Menschen, die Soldaten, die dem Offizier in die Hand gegeben sind, stehen in den Jahren, in denen es um die Entscheidung über ihr ganzes ferneres Leben geht. Es ist die Zeit des Reifens, die Spanne zwischen Kindheit und Mannheit." (S. 45.) „Was in den Jahren zwischen achtzehn und dreissig zum Alltäglichen geworden ist, bleibt es auch späterhin." (S. 54.) Die Wege, die die soldatische Erziehung in der Behandlung des menschlichen Willens gehen kann, sind nach Hesse: Entweder Ausschaltung des Willens des Untergebenen durch den Zwang, mittels des Drills oder der Strafgewalt, oder individuelles Eingehen auf den Willen des Untergebenen, um ihn Verstandes- oder gefühlsmässig zu gewinnen oder triebmässig zu beeinflussen, „so dass er sich harmonisch in die gewünschte höhere Willensrichtung einfügt". (S. 66.) Friedrich Altrichter M weist der Militärpädagogik drei Wirkungskreise zu: 1. Bildung der Fähigkeiten und Anlagen des einzelnen Mannes, Erziehung seines Willens, Charakterformung — Menschengestaltung. 2. „Einfügung des einzelnen in den Rahmen der Truppengemeinschaft und der Gesetze der militärischen Disziplin, deren Richtigkeit M

„Das Wesen der soldatischen Erziehung", Oldenburg 1935.

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er innerlich anerkennen und deren Forderungen er daher freiwillig erfüllen muss . . . Hand in Hand hiermit geht die planmässige Stärkung des Willens zur Unterdrückung aller derjenigen Triebe und Strebungen der Seele, die dem Soldatentum entgegengerichtet sind." 3 den Soldaten mit den politischen Ansprüchen seines Landes vertraut zu machen und dann, ihn zu einem bewussten Kämpfer der grossen Grundgedanken zu schulen, auf denen sich das Staatswesen aufbaut." (S. 8/9.) „Bei der Erziehung des Mannes zum Soldaten steht die Forderung bedingungslosen Gehorsams durchaus im Vordergrunde. .. Daher muss sich jeder eintretende Soldat zunächst einer starken Einschränkung seiner Persönlichkeit unterwerfen. Alle Strebungen des Ichs, die dem Willen des Vorgesetzten entgegengerichtet sind, müssen ebenso rücksichtslos und endgültig unterdrückt werden, wie jede innere Auflehnung gegen die Ansichten, Sitten und Gebräuche der militärischen Gemeinschaft. Jeder alte Soldat weiss aus Erfahrung, dass die Erziehung zur soldatischen Disziplin mit Härten verknüpft ist. Ja, der Entpersönlichung svor gang ist nicht selten mit seelischen Krisenerscheinungen verbunden, deren Behebung jedoch in der Regel durch die innere Wandlung in Verbindung mit der Macht der Gewohnheit nach kurzer Zeit gelingt. Sobald der Soldat die Grundsätze der Disziplin in sich aufgenommen hat, muss die planmässige Entwicklung seiner Persönlichkeit im Sinne des soldatisch Notwendigen einsetzen .. . Diese Persönlichkeitsentwicklung ist für die Militärpädagogik besonders schwierig, weil das ganze militärische Leben mit der Notwendigkeit dauernder Unterordnung und der Befolgung zahlreicher Vorschriften eine unaufhörliche Gehorsamsschulung und damit Hemmung der Persönlichkeit darstellt." (S. 14/15.) Im dritten Wirkungskreis der Militärpädagogik kommt es nach Altrichter auf die staatsbürgerliche Erziehung an, die früher vernachlässigt worden sei. Ihren Ausgangspunkt „bildet die Lehre von dem Wesen einer Volksgemeinschaft. Hierbei ist besonders auf die Tatsache der sozialen Gliederung und gesellschaftlichen Schichtung einzugehen. Der Soldat muss lernen, dass es Unterschiede zwischen Hoch und Niedrig, Arm und Reich immer geben wird, dass diese Spannungen natürlichen Gesetzen entsprechen und daher notwendig sind." (S. 18.) 154

Hesse formuliert denselben Gedanken in seiner Schrift „Von der nahen Aera der .Jungen Armee'" wie folgt: „Es gilt den dreifachen Gedanken des nationalen Glaubens, des sozialen Fühlens und des kapitalistischen Denkens in sie (die Soldaten. D. V.) als den einen des Staates hineinzutragen." Und in der „Wandlung des Soldaten" verlangt er als Grundsatz für den Offizierersatz: „Die selbstverständliche Bejahung des Vaterlandes und die Anerkennung des Kapitals als des Trägers nicht nur der Wirtschaft, sondern des Lebens der ganzen Nation sind notwendige Bedingungen." Doch zurück zu Altrichter. Die staatsbürgerliche Erziehung hat nach ihm „ihren Zweck erfüllt, wenn der Soldat nicht den Schlagworten volksfeindlicher Kreise mit ihren Gaukelbildern von einem Zukunftsstaate, in dem nur Milch und Honig fliesst, erliegt, sondern befähigt ist, ihnen mit den Waffen eigener geistiger Erkenntnisse entgegenzutreten." Es handelt sich „um die Klarstellung der geistigen Strömungen des Marxismus innerhalb des Vaterlandes. Der Soldat muss genau über ihre Anschauung und Kampfesweise unterrichtet und von ihrer Verwerflichkeit für das Bestehen des Staates überzeugt werden. Ganz abwegig wäre es, wenn der Lehrer bei Behandlung dieser Frage sich über den Marxismus lächerlich machen oder sich mit Schimpfereien über sein Vorhandensein begnügen würde. Hierdurch würde er mehr Schaden als Nutzen stiften. Er muss diese Dinge mit höchstem Ernst besprechen und sich an die Einsicht seiner Leute wenden. Er hat gewonnen, wenn der Soldat seinen Ausführungen mit ganzem Herzen zustimmt." (S. 18/19.) Fassen wir die bisherige Problemstellung der Wehrpsychologen zusammen: 1. Die militärische Erziehung hat den Lebenswillen des werdenden Soldaten zu überwinden und ihn dahin zu bringen, dass er dem Willen zum Leben „geradezu seinen Willen zum Tode" entgegensetzt. Beim jungen Menschen ist der Lebenswille besonders betont, wenngleich er auch leichter begeisterungsfähig ist und daher weniger Hemmungen hat, das Leben für eine als gerecht erkannte Sache aufs Spiel zu setzen. 2. Wäre aber die Masse der Soldaten im Dritten Reich von der Gerechtigkeit der Sache, für die sie kämpfen und sterben sollen, überzeugt, dann wäre die „staatsbürgerliche 155

Erziehung" der Soldaten und die ganze gekünstelte und komplizierte „Wehrpädagogik" überflüssig. Was das Dritte Reich vom Soldaten verlangt, muss also etwas sein, was den allgemeinen Interessen der Soldaten zuwiderläuft. Da es im Dritten Reich keine legale antinationalsozialistische Propaganda gibt und der werdende Soldat zudem schon die vormilitärische Erziehung durchlaufen hat, muss das dem Soldaten Widerstrebende eine allgemeine Entstehungsursache haben, die in den Daseinsbedingungen des deutschen Volkes begründet ist. Denn der Lebenswille allein ist keine hinreichende Erklärung für das Widerstreben des Soldaten. Er ist in allen Ländern leicht zu überwinden, wo die Masse der Soldaten auch ohne komplizierte Erziehung allgemeine Interessen ihrer Nation, die ihre einschliessen, gefährdet sehen. Wenn der Soldat erst lernen muss, dass es „Hoch und Niedrig, Arm und Reich immer geben wird, dass diese Spannungen natürlichen Gesetzen entsprechen und daher notwendig sind", heisst das, dass er lernen soll, für die Erhaltung dieses Zustandes zu kämpfen und zu sterben. Wenn der Soldat „kapitalistisch denken" lernen muss, denkt er von Haus aus nichtkapitalistisch. Wird bei allen Soldaten das nicht-kapitalistische Denken vorausgesetzt, dann kann, bei Millionen von Soldaten, dieses Denken nicht volksfremd sein, sondern es ist eben die Denkart des Volkes. Da dieses Denken von Altrichter als identisch mit dem Marxismus bezeichnet wird, kann auch der Marxismus nicht volksfremd sein. Volksfremd ist folgerichtig die Gedankenwelt, die den Soldatenmassen mit Zwang und allen Kniffen der „Wehrpädagogik" beigebracht werden soll, durch rücksichtslose Unterdrückung aller „Strebungen des Ichs, die dem Willen des Vorgesetzten entgegengerichtet sind": die „Gedanken"-Welt des Nationalsozialismus und des totalen Staates. 3. Einem Prozess der „Entpersönlichung" wird der Soldat zu diesem Zweck unterworfen, bis er den Willen des Vorgesetzten, der den Willen des totalen Staates vertritt, für seinen eigenen hält. Nach erreichter „Entpersönlichung" soll die Entwicklung der Persönlichkeit des Soldaten im Sinne des militärisch Notwendigen einsetzen. Das heisst, der Soldat soll bedingungslos fremdem Willen gehorchen, das eben bedingt „Entpersönlichung"; er soll aber grösste Selbstän156

digkeit und Initiative entfalten, das erfordern die Kampfbedingungen des modernen Krieges, und dazu ist die Steigerung des Persönlichkeitsgefühls nötig. Hier haben wir es mit dem Grundwiderspruch der militärischen Erziehung im Dritten Reich zu tun. Er ist nicht dadurch zu lösen, dass, wie Altrichter vorschlägt, erst der Drill den absoluten Gehorsam und dann die Erziehung die Selbsttätigkeit und Freiheit der soldatischen Persönlichkeit erstrebt. Erich W e n i g e r " hat recht, wenn er sagt, „der Drill kann hier nicht mit eigenen Funktionen der Erziehung entgegengesetzt, vorgeschaltet oder gleichgeordnet werden. Wer den Drill an Stelle der Erziehung einsetzen will, glaubt sozusagen an Wunder. Die Brechung des Willens und die Willenlosigkeit soll durch den harten Zwang des Drills erreicht werden, und dann soll eines Tages aus diesem Drill mit seinem Verzicht auf den Anruf von Einsicht und Wille wie der Gott aus der Maschine der freie, vernünftige, selbsttätige, verantwortungsbewusste Kämpfer entstehen. So als ob dem Drill geheimnisvolle Kräfte innewohnten, die er in seinen äusseren Methoden und Zwecksetzungen erreichen könnte, gleichsam durch eine List der Vernunft. Dieser Auffassung des Drills liegt eine Theorie der Gewöhnung zugrunde, die schon im Pietismus wirksam war und von dort in das preussische Heer eindrang, nach der man ein sittlich gutes Verhalten, ohne mit dem Willen und der Einsicht des Zöglings rechnen zu müssen, durch blosse Gewöhnung erreichen könne, wenn nur der absolute Zwang dahinter stehe. Aus der Dauer dieser Gewöhnung werden dann .eines Tages' die sittlichen Motive emporwachsen, die das legale Handeln auch ohne Zwang ermöglichten." So richtig die Feststellung Wenigers ist, so wenig kann die Praxis der militärischen Erziehung im Dritten Reich auf den Drill verzichten. In der Heeres-Dienstvorschrift heisst es: „Unentbehrliches Mittel für die Erziehung der Mannschaft zur Ordnung und Manneszucht ist der Drill." Die Wehrmachtspsychologen mögen sich drehen und wenden wie sie wollen und den Drill mit modernen Ausdrücken verzuckern, er bleibt unentbehrliches Requisit der militärischen Erziehung im Dritten Reich. Um so unentbehrlicher, je geringer das innere Einverständnis der Soldaten mit dem M

„Wehrmachtserziehung und Kriegserfahrung", Berlin 1939, S.

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Regime. Je unentbehrlicher aber der Drill, um so mehr verstärkt sich der Widerwille gegen die Wehrmacht. Nun ist bei keinem Heere ohne mechanisches Ueben bestimmter Formen, die für die Bewegung und Lenkung von Einheiten und ihr äusseres Auftreten notwendig sind, auszukommen. Ebensowenig kann verzichtet werden auf die mechanische Einübung bestimmter Handgriffe zur Bedienung von Waffen und Gerät im Gefecht. Die Dienstvorschriften der nationalsozialistischen Wehrmacht unterscheiden dementsprechend zwischen Exerzier- und Gefechtsdrill, wobei der Gefechtsdrill den Waffen- und Gerätedrill voraussetzt. „Der Gefechtsdrill will Raum schaffen für die Selbsttätigkeit und die Selbständigkeit des Mannes auf dem Gefechtsfeld. Einsicht und Wille sollen nicht gebrochen werden." 93 Aber, sagt Weniger kurz darauf: „Das Entscheidende auch am Gefechtsdrill ist, d a s s . . . ,die Vorstellung des Gehorchenmüssens zwingend ist'." Und zwar soll diese Vorstellung vom Zwang des Gehorchenmüssens beim Gefechtsdrill dem Persönlichkeitsempfinden des Soldaten entspringen, während gleichzeitig der Exerzierdrill für die fortgesetzte Ertötung der Persönlichkeit zu sorgen hat. Wir haben es hier mit einem Problem zu tun, das weder durch Individual- noch durch Massenpsychologie zu lösen ist, sondern nur durch die Politik, und letzten Endes durch die Oekonomie. Ein hohes Mass von Ein- und Unterordnung des Einzelnen unter einen den gesellschaftlichen Gesamtwillen verkörpernden Willen ist in jedem Heere unerlässlich. Diese Ein- und Unterordnung wird freiwillig und selbstverständlich, deshalb ohne Zwang zu erreichen sein, wo die Mehrheit der Bürger eines Staates im Staatswillen — im Frieden wie im Krieg — ihren eigenen Willen eingeschlossen und ausgedrückt sehen, d. h. dort, wo das Prinzip der Demokratie in seiner reinsten Form, ökonomisch und politisch, verwirklicht ist. Dagegen wird der Zwang zur Unterordnung überall dort zu finden sein, wo der Staatswille nicht mit dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung eines Staates korrespondiert. Der Zwang wird um so härter sein, je diametraler sich Volks- und Staatsinteressen gegenüberstehen und der Staat, infolge der Erfordernisse des totalen Krieges, sein Massenheer nicht aus Freiwilligen rekrutieren Weniger, a. a. O., S. 40 ff.

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kann. Das Menschenreservoir, aus dem der totale Staat seine Kerntruppen rekrutieren muss, die Industriearbeiterschaft, bringt den stärksten inneren Widerstand gegen die nationalsozialistische Wehrmacht mit. Sie muss, nach den Erfordernissen des totalen Staates, um sie gefügig zu machen, dem härtesten Zwang unterworfen werden. Ihre vorzugsweise Verwendung bei den Truppen, die hohe technische Qualifikation des Einzelnen erfordern, verträgt aber den Zwang am allerwenigsten. Der Drill, auch in seiner modern frisierten Form, gerät hier in schroffsten Widerspruch zu dem Problem des „verstädterten Menschen im verstädterten Krieg", wie Pintschovius es nennt. „Das Zusammenwirken moderner Bedienungsmannschaften lässt sich nicht mehr durch die Uebungskräfte des Exerzierplatzes erzwingen. Es ist in diesen Fällen unvermeidlich geworden, vernünftige Einsicht und guten Willen als freiwillige Ordnungsmittel der Leute, und zwar in einem für Volksheerverhältnisse bedenklichen Umfang, heranzuziehen. Der Erzieher steht vor der umwälzenden Tatsache, dass der grobe Drill einer Disziplin der sinnvollen Handlung weicht." " Die „Wehrmachtspsychologen" setzen aber voraus, dass die Masse der Soldaten weder vernünftige Einsicht noch guten Willen mitbringt. Wäre es anders, wäre die „Entpersönlichung" nicht nötig. Früher versuchte man durch lange Dienstzeit und fast hermetischen Abschluss der Soldaten in der Kaserne die „Entpersönlichung" zu fördern. Aber auch die Massnahme ist heute von sehr relativem Wert. Pintschovius sagt ganz richtig: „Deshalb warne ich davor, den erzieherischen Wert des Dienstjahres zu überschätzen. Die allgemeine Wehrpflicht ist und bleibt gross. Aber man muss sich andererseits auch nüchtern eingestehen, dass der Kasernenhof allein noch niemals einen Menschen gewonnen hat. Der Kasernenhof und sein Dienst schüchtern . . . höchstens vorübergehend ein. Dies nützt aber für den Ernstfall nichts, sondern verschleiert nur die tatsächliche Lage." (S. 172.) Das ändert sich auch nicht, wenn, wie im Dritten Reich, das ganze Land zu einem einzigen Kasernenhof gemacht und die früher übliche zweijährige Dienstzeit durch vor- und nachmilitärische Ausbildung nach hinten " Pintschovius, a. a. O., S. 125/126.

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und vorn verlängert wird. Bei dem Umfang des Heeres und bei der grossen Masse der unausgebildeten Reservisten, die mehrmonatliche Kurzausbildung durchlaufen, veranlassen das Einströmen ins Heer und das Zurückfluten ins Volk einen so regen gegenseitigen Kontakt, dass der Prozess der „Entpersönlichung" fortgesetzt gestört ist. Je grösser das Heer, um so vielfältiger und enger ist der Kontakt mit seiner sozialen Basis, dem Volk. Im modernen Krieg gar verschmelzen alle Grenzen. Die Sorgen des Volkes sind die Sorgen der Soldatenmassen und umgekehrt. Briefe an den Soldaten teilen ihm die Sorgen der Eltern, Mütter, Frauen, Bräute und Kinder mit, die unter schwerster Last stöhnen; Briefe aus dem Felde vermitteln dem Volk die Sorgen der Soldaten. Urlauber, Verwundete und Genesene wirken auf das Volk und das Volk wirkt auf sie ein. Diesen wechselseitigen Prozess beschreibt Altrichter in seinem Buche von den „seelischen Kräften des Deutschen Heeres im Frieden und im Kriege" sehr ausführlich. Bei den von der Heimat auf das Feldheer ausstrahlenden Wirkungen im Kriegsjahre 1917 hebt er hervor: „Die sich zu einer furchtbaren Gewalt steigernde Kriegführung, die mit harter Hand in alle Zweige des öffentlichen und privaten Lebens eingriff, sowie die durch die Hungerblockade hervorgerufene Unterernährung im Verein mit dem Mangel an allem, was der Mensch sonst zum Leben braucht, hatte zu einem erschreckenden seelischen und moralischen Niedergang des Volkes geführt. Verzagtheit und Mutlosigkeit gaben der Stimmung der Massen das Gepräge. Der Kriegswille war in weiten Kreisen so erlahmt, dass man lieber ein Ende mit Schrecken als die Fortsetzung der Leiden des Krieges wünschte. Der Kraftstrom der Heimat, der immer spärlicher geworden war, war im Jahre 1917 nicht nur ganz versiegt, sondern hatte sich sogar in entgegengesetzter Richtung entwickelt. Die Heimat zehrte jetzt von der Kraft des Heeres." (S. 102.) „Für die Moral des Heeres war es ausserordentlich nachteilig, dass der Streit um die Kriegsziele in der Heimat bei vielen den Glauben erweckte, Deutschland könne Frieden haben, wenn es nur ernstlich wolle. Von selbst musste sich da die Frage nach der Schuld an der Verlängerung des Krieges aufdrängen. Wen konnte sie anders treffen als die Persönlichkeiten, die an dem Kriege verdienten oder 160

sonstige Vorteile von i h m hatten. Das waren aber doch nur die Kapitalisten und die Offiziere, an deren Spitze der Kaiser stand. Mit diesen Anschauungen hielten Gedankengänge ihren Einzug in das Heer, die in gleicher Weise zu einer Gefahr für dessen seelische Einheit und die Disziplin wurden. Die innere Festigkeit des Heeres war nicht zum wenigsten dadurch begründet, dass der Spaltpilz des Klassenhasses, der im Staatsleben der Entfaltung eines einheitlichen nationalen Willens so hinderlich war, im Heere keinen Raum hatte. Die bürgerlich-sozialen Gegensätze waren durch das militärische System, das sich auf Befehl und Gehorsam gründet, aufgehoben. Jetzt trat durch die Auffassung von der Schuld des Kapitalismus an der Verlängerung des Krieges hierin an vielen Stellen eine Wandlung ein. Der Soldat, insbesondere der aus der Industriearbeiterschaft stammende, begann mehr und mehr seine Stellung mit den Augen des proletarischen Arbeitnehmers zu betrachten und sich als Ausbeutungsobjekt der herrschenden Klassen und der Offiziere zu fühlen. Die Interessen des Offizierkorps, vor allem die der höheren Stäbe, deren friedensmässige Lebensweise in zunehmendem Masse Verbitterung erregte, erschienen nicht mehr mit denen der Truppe gleichgerichtet. Die notwendige Folge des hieraus entstehenden inneren Gegensatzes zu der gesetzmässigen Führer schicht war aber ein Rückgang der Autorität von. oben und ein Nachlassen des Willens zum Gehorsam von unten." (S. 104.) Mit der Ueberzeugung des deutschen Volkes, dass Deutschland Frieden haben könne, w e n n die Nationalsozialisten nicht erobern wollten, beginnt das Dritte Reich den Krieg. Alle sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Wehrmacht fangen also nicht erst im dritten Kriegsjahre an zu wirken. Damit wären wir, nach dieser kleinen Abschweifung, wieder bei der Grundfrage unseres Themas, der sozialen und politischen Grenzen der „Entpersönlichung" angekommen und nehmen das von Pintsehovius untersuchte Problem wieder auf. „Der verstädterte Mensch im verstädterten Krieg" Pintsehovius 0 ' geht davon aus, dass die veränderte Kainpftechnik „mit dem alten Menschenmaterial, wie es »7 a. a. O., S. 123 f f .

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die ländlichen Verhältnisse vor der Verstädterung boten, nicht mehr auskomme". Für die „technischen Truppen ist der Verstädterte unentbehrlich. Aber auch der Infanterist hat ganz andere Aufgaben als früher". „Die Funktionen der technischen Spezialisten sind so, dass Mut sehr wenig und seelische Widerstandskraft fast alles bedeutet . . . " „Wohl niemand findet es noch besonders erstaunlich, dass sich 1918 die Keime des moralischen Zerfalls gerade am stärksten bei den technischen Truppen festgesetzt haben, obwohl es diese im allgemeinen noch am besten hatten." Pintschovius zitiert ein aufschlussreiches Urteil von Generalleutnant Marx: „Je stärker der Ersatz eines Truppenteils mit Leuten dieser neuzeitlichen' Berufe durchsetzt war, desto grösser war die Gefahr, dass der Truppenteil versagte, es waren die Kraftfahrer-, Fernsprech- und Funkerformationen, die Telegraphenabteilungen usw., die zuerst abfielen und die meisten Schwierigkeiten machten, das ,T' und ,F', namentlich das ,K' auf den Achselklappen erregten eine Zeitlang beim Offizier ganz ähnliche Gefühle wie die Matrosenuniform." Auch Weniger" betont, „dass die Manneszucht überall da stärker gefährdet ist, wo Werkarbeit im Vordergrund steht, bei den technischen Truppen und Gruppen, bei Handwerkern und Kraftfahrern". Pintschovius betont, dass die in ihrer Gedankenwelt aufgelockerten Menschen besonders leicht von den Waffen des geistigen Krieges erfasst werden. (Dann spricht es aber gegen den „Geist" des Nationalsozialismus, wenn er davon für seine Soldaten besonders zu befürchten hat.) Die Grenzen der alten Ausbildungsmethoden begründet Pintschovius damit, dass die industriellen Ordnungsformen des sozialen Raumes auf das Militärische übergreifen und das Exerziermässige zurücktreten lassen. Um die Wirkungsgrenzen des Drills und unbedingten Gehorsams aufzuzeigen, müssen wir von den Bedingungen des Gefechts im modernen Krieg ausgehen. Die ungeheure Materialwirkung hat zu weitgehender Auflockerung der Verbände in der Kampfzone geführt. Ihr Charakteristikum ist die Menschenleere. „Heute ist es im Landkriege der einzelne Kämpfer, der auf sich gestellt, im schwersten feindlichen Feuer und dadurch in schwerster Lebens" a. a. O., S. 113. 162

gefahr den Sieg erringen, seinen Selbsterhaltungswillen dazu in vielen bangen Stunden niederringen und letzten Endes den tapfer standhaltenden Feind mit Handgranaten oder Bajonett überwinden muss." „Das Wesen solchen Kampfes im totalen Krieg fordert in dem notwendig gewordenen selbständigen Handeln eine bisher noch nicht nötige, seelische Festigung des Kämpfers." „Ein Kämpfer, in eine geschlossene Masse gestellt, wird durch die Masse mitgezogen, er fühlt sozusagen die Augen der Masse auf sich gerichtet und sich in ihr geborgen und von ihr getragen, sie gibt ihm auch seelischen Halt. Er handelt als Glied dieser Masse unter Massenpsychose. Ganz anders ist der Kämpfer gestellt, der einsam, auf sich selbst angewiesen, im leeren Schlachtfelde seine Aufgaben zu erfüllen hat. Er hat keine Anlehnung, er muss die seelische Kraft haben, seinen Selbsterhaltungswillen in sich selbst zu überwinden. Sie besteht aber nicht nur in , Strammsein', nicht nur in der kriegsfertigen Ausbildung; beides kann im Frieden von einem Feigling, aber auch von einem .Unzufriedenen' betätigt werden, und es wird zur Täuschung vielleicht häufiger gezeigt."" Was der Soldat der vordersten Kampfzone nicht aus eigenem Entschluss tut, wird schlecht oder bleibt ungetan. Kein Zwang des Vorgesetzten vermag ihn gegen seinen Willen zu einer Handlung zu bestimmen. Noch komplizierter liegen die Dinge bei den ausgesprochen technischen Truppen. Pintschovius 100 untersucht im Einzelnen die Anforderungen, die an die motorisierten Truppen gestellt werden. Beim Kraftradschützen werden hohe Anforderungen an körperliche Widerstandsfähigkeit gestellt, Mut, Einsatzbereitschaft und technisches Können verlangt. Beim Mann im Strassenpanzerwagen steht an Stelle des Mutes mehr die seelische Widerstandskraft im Vordergrund, da der Aufenthalt im Wagen nervenaufreibend ist, besonders bei feindlicher Gegenwirkung. Im Kampfwagen „wird stark ausgeprägter Sinn für Kampfgemeinschaft verlangt, erhebliche Intelligenz, sichere Beherrschung der Glieder, ein besonderes Vertrauen zum eigenen Glück und Kaltblütigkeit. Die Kampfwagenbedienung hat ebenso wie die Panzerwam

Ludendorff: „Der totale Krieg", S. 55, 57. a. a. O., S. 87 ff.

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genbedienung mit Benzindunst, hohen Hitzegraden und reichlich Rüttelei und Schwankungen zu rechnen". Zu alledem kommt die feindliche Waffenwirkung, die im Kampfwagen viel nervenzerrüttender wirkt als im freien Feld, wo der Mann Ausweichmöglichkeiten hat. Aber auch an den Fahrer der Kraftfahrkolonne werden hohe Anforderungen gestellt. Bei motorisierten Truppen ist immer mit Ermüdungserscheinungen der Fahrer zu rechnen, mit technischen Störungen, Schwierigkeiten der Befehlsübermittlung und Transportstörungen durch Paniken. „In der L u f t . . . helfen nur Leichtsinn, kameradschaftliches Zugehörigkeitsgefühl, Selbstvertrauen und ein gesteigertes Körpergefühl". Possony 101 weist auf die Schwierigkeiten hin, die sich für die Disziplin bei den Mannschaften der Tank- und Flugwaffe ergeben. „Die Bedienung des Tanks ist keineswegs leichter als die des Flugzeugs, ja, wenn Vergleiche dieser Art möglich sind, wahrscheinlich schwerer, da sowohl die physischen Anforderungen des sehr heissen, lärmenden und ratternden Tanks, der auch den robustesten Fahrern sehr heftige Uebelkeiten bereitet, als auch die psychischen Anstrengungen grösser sind; es ist nicht jedermanns Sache, ein derartiges Gefährt durch einen Kugelregen durchzubefördern und ausserdem noch sorgsam seine Kampfaufgaben zu erfüllen. Bei beiden Maschinen fallen übrigens alle Möglichkeiten der Disziplin, bezw. ihrer Nutzbarmachung auf dem Kampfplatz weg; die Kämpfer sind in Gruppen vereinzelt, so gut wie ohne Kontrolle, und haben an den Maschinen zahlreiche Sabotierungsmöglichkeiten; dazu ist die Versuchung, der Gefahr zu entgehen in Vehikeln, die Seekrankheit, Kopfschmerzen usw. verursachen, zweifellos noch grösser als im betonierten Unterstand." Das ist durchaus zutreffend. Wie kann der Vorgesetzte kontrollieren, ob Ermüdungserscheinungen beim Kraftfahrer physische oder psychische Ursachen haben, ob technische Störungen gewollt oder ungewollt auftreten. Später berührt Possony das Problem der Disziplin bei den Elitetruppen im Zusammenhang mit ihren enormen Verlusten erneut. „Selbst wenn es gelänge, das Problem der Disziplin zu lösen, so scheiterte die Beschaffung 101

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a. a. O., S. 63.

(des Ersatzes. D. V.) dennoch an den Voraussetzungen technischer und geistiger Art, die an Flugzeug- und Tankbemannungen zu stellen sind . . . Von der Gesamtbevölkerung welchen Landes immer ist unter den günstigsten Umständen allerhöchstens 1/1000 zum Fliegen geeignet, und wahrscheinlich ein noch kleinerer Satz für das Tankf a h r e n . . ( S . 72.) Wir gaben diese wenigen Anhaltspunkte über die Anforderungen, die an die Truppen im Gefecht gestellt werden, um zu unterstreichen, dass Drill fehl am Platze und Disziplin auf anderen Voraussetzungen beruhen muss, als es die Regierungsdoktrin des totalen Staates verlangt. Das den „Wehrmachtspädagogen" des Dritten Reiches unlösbar erscheinende Problem, „den Mann auf der einen Seite zum Gegenstand bedingungslosen Gehorsams zu erziehen, ihn gleichzeitig aber auch zu einer selbständig denkenden und handelnden Persönlichkeit zu machen",102 ist im Dritten Reich in der Tat unlösbar, weil es — wie gesagt — nicht ein pädagogisches, sondern ein politisches und letzten Endes soziales Problem ist. Die Formel: „Der verstädterte Mensch im verstädterten Krieg" bezeichnet hinlänglich die soziale Wurzel des Problems. „Peitsche und Zucker" Die logische Steigerung der Erzwingung unbedingten Gehorsams durch Drill ist die Strafe. „Die Disziplinargewalt muss, damit sie gerecht wirken kann, stets gleichmässig ausgeübt werden. ,Die rohe Peitsche allein macht es nicht, ihre Wirkung versagt bald, und ebensowenig hilft schroffer Wechsel zwischen Peitsche und Zucker, der nur verstimmt und nervös macht'." Mä Von der Peitsche und dem Zucker soll im folgenden die Rede sein. Die Strafe soll abschreckend wirken, strafbare Handlungen vergelten und bessernd auf den Bestraften wirken. Altrichter befasst sich ausführlich mit der „Disziplinarstrafgewalt als Erziehungsmittel". Er will mit Rügen, Verwarnungen, Streichung von Vergünstigungen und bei Strafen mit Vermeidung von Starrheit gearbeitet sehen. Aber seine Vorschläge sind mehr dem Friedenszustand an,M

Altrichter: „Das Wesen der soldatischen Erziehung", S. 201. Weniger, a. a. O., S. 100. Weniger zitiert aus von Moser: „Feldzug-Aufzeichnungcn." 103

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gepasst als dem Krieg. Hier handelt es sich uns aber um die „Formen der Disziplin im Kriege". Unter diesem Titel befasst sich Weniger 1 " in seinem Buch mit dieser Frage. Er geht davon aus, dass der Strafe im Kriege Grenzen gesetzt sind. „Ihr Sinn im Kriege ist nicht so sehr die Abschreckung und die Vergeltung, deren Wert in den Gefahren und Leiden des Frontdienstes beschränkt ist, als die rücksichtslose Säuberung der Truppe von all den Elementen, die ihre Kampfkraft lähmen." Weniger hat vor allem die „Wehrunwürdigen" im Auge. Die Strafe ist hier also im Wesentlichen als politische Sicherungsmassnahme aufgefasst. „Bei der Säuberung der Truppe wird die Strafe hart sein müssen, um einen Ausgleich gegen die Härte der Anstrengungen, Entbehrungen und Opfer des Dienstes zu bieten, an deren Stelle nun das Straf übel treten soll." „Die Kriegserfahrung lehrt, dass es zweckmässig ist, den Befehlshabern der Truppe vor dem Feind mehr an unmittelbarer Strafgewalt zu geben, als es von den Erwägungen des Friedens aus geschehen ist, und die Standgerichtsbarkeit in der Gefahrenzone eher zu erweitern als einzuschränken.*' „Auch die Disziplinarstrafgewalt wird im Felde auszudehnen sein, vor allem muss das Recht der . . . Kompanie- und Batterieführer gestärkt werden." Das Wesentliche an dem Militär-Strafgebaren des Dritten Reiches für den Kriegsfall ist die Ausrichtung auf die Masse der antinationalsozialistischen Elemente und die Verschärfung gegenüber dem Strafgebaren im Weltkriege. Aber keine Verschärfung der Strafe kann im Felde das überbieten, was den Soldaten ohnehin erwartet, den Tod. In seinem Buch „Die seelischen Kräfte des Deutschen Heeres im Frieden und im Weltkriege" schreibt Altrichter auch über die Entwicklung der Strafrechtspflege im Weltkriege : „Der allgemeine seelische und moralische Rückgang des Heeres führte zu einer derartigen Häufung von militärischen Straftaten, dass ihre vollständige Ahndung praktisch unmöglich wurde." Also weder Drill noch Strafe konnten den „seelischen und moralischen Rückgang des Heeres" verhindern. Aber das sollen sie gerade helfen zu verhindern. Obwohl Altrichter betont, dass den moralischen Niedergang des Heeres die milderen Strafbestimmungen nicht verschuldet haben, tritt er für ihre Verschärfung ein. „Eine 101

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a. a. O., S. 96 ff.

Bestrafung im Kriege erfüllt nur dann ihren Zweck, wenn sie ihre abschreckende Wirkung beibehält. Um das zu erreichen, muss ihre Vollziehung für den Bestraften härtere Daseinsbedingungen schaffen als für die Masse der Uebrigen." An den Bestimmungen des alten Militärstrafgesetzbuches bemängelt Altrichter, dass sie „den Waffengebrauch des Vorgesetzten zur Erzwingung des Gehorsams nicht als selbstverständliche Pflicht forderten". Ferner bemängelt Altrichter, dass „die scharfe Einstellung der oberen Dienststellen gegen Soldatenmisshandlungen" den „Offizieren moralisch die Hände gebunden" habe. Diese „Einschränkungen" gab es im friderizianischen Heere nicht. Wenn der „moderne Wehrpädagoge" Altrichter in der Wiedereinführung der friderizianischen Methoden die Rettung sieht, die „Zuflucht wieder im Holze sucht", dann kann man sagen, dass es mit der „Wehrpsychologie" und „Wehrpädagogik" nicht weit her ist. Man kann dem „Wehrpsychologen" Altrichter auf seinen Vorschlag mit der Erfahrung des Frontoffiziers Altrichter antworten, der im gleichen Zusammenhang ein Beispiel über die Wirkung der Androhung des Erschiessens im Weltkriege anführt. „Ein Vorfall aus dem Grosskampf. Unter der zermalmenden Wucht des Trommelfeuers ist die Willenskraft verschiedener Leute so gelähmt, dass sie nicht in der Lage sind, sich auf das Kommando ihres Führers zu erheben und an dem befohlenen Gegenstoss zu beteiligen. Dem Offizier, der sie mit vorgehaltener Pistole zwingen will, antworten sie mit kläglicher Gebärde: ,Ach ja, schiessen Sie ruhig, Herr Leutnant, dann ist wenigstens alles rasch zu Ende'. Es konnte keinem Zweifel unterliegen, dass die Häufung der Straffälle, die einer Nervenüberlastung entsprangen, auf die Rechtsprechung allmählich im Sinne einer Milderung einwirken musste, weil es sehr schwer war zu erkennen, wo das Nichtkönnen aufhörte und das Nichtwollen anfing." 1 " Und um die Grenze der Strafe im Kriege noch einmal abzustecken und das Problem, um das es hier geht, noch einmal klarzustellen, lassen wir Herrn Pintschovius sprechen. Er betont: „Heute sind den Kriegszielen der Politiker in der seelischen Lage der Truppen sehr enge Grenzen gesteckt und nur kurzfristige Spielräume gelassen. Bei der 106 „Die seelischen Kräfte dos Deutschen Heeres im Frieden und im Weltkriege." S. 220 ff.

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Furchtbarkeit der Schlacht ist es längst unmöglich geworden, den pflichtmässigen Einsatz auf die Dauer zu erzwingen. Im Anfang gelingt es, später nicht mehr, wenn es sachlich sinnlos geworden ist, mit dem Standgericht zu drohen. Vom Material zermürbte Leute haben keine Furcht mehr vor strafrechtlichen Folgen. Vielleicht sind sie im Angesicht des Entsetzens manchmal auch nur noch beschränkt verantwortlich. Was die Besinnungsvollen vor moralischem Zusammenbruch und Selbstaufgabe retten kann, ist nur die Stimme der Vernunft —- und wenn diese von der gegnerischen Propaganda so beeinflusst, dass sie nein sagt? Schlachten sind heute so fürchterlich, dass der einzelne aus seiner Zermürbung heraus selbst seinen Kampfwillen entscheidet, weil es schliesslich nichts mehr gibt, womit man ihm wirksam drohen kann."10* Die Belohnung, der „Zucker" in der soldatischen Erziehung, ist das Gegenstück zur Strafe. Ausser Abzeichen für besondere Leistungen, Vergünstigungen im Dienst und durch Urlaub, Beförderungen etc. ist das Feld der Belohnungen eng gesteckt. Ihre Bedeutung für die soldatische Erziehung .soll nicht unterschätzt werden, wenngleich die Belohnung auch ihre negativen Seiten hat, da sie die Günstlingswirtschaft fördert und auch durch Missgunst Uneinigkeit in die Einheit tragen kann. Insbesondere im Weltkrieg war das eine weit verbreitete Erscheinung im deutschen Heere. Sonderurlaube wurden für Kriegsanleihezeichner gewährt. Das war eine Belohnung der materiell Bessergestellten und gewöhnlich derer, die nicht durch irgendwelche Leistungen glänzten, sich die Gunst der Vorgesetzten erkauften. Urlaube wurden auch durch Bestechung von Vorgesetzten mit Lebensmitteln und Dingen, an denen es mangelte, erkauft. Wiederum konnten das nur die materiell Bessergestellten. Nicht selten kamen sie auf dem Wege der Günstlingswirtschaft auch zu Auszeichnungen. Das Kapitel der Kriegsauszeichnungen war überhaupt ein Quell dauernder Unzufriedenheit und wird es in Zukunft noch ipehr sein. Auf keinen Fall kann durch Belohnungen irgendwelcher Art im Kriege der Zerfall der Moral des Heeres, wenn er einmal eingesetzt hat, aufgehalten werden. Im Gegenteil werden selbst die unvermeidbaren Ungerechtigkeiten nur beschleunigend auf den Zerfall wirken. 1M

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a. a. ()., S. 126/127.

In diesem Zusammenhang kann auf den „Zucker" im weiteren Sinne des Wortes, auf die Versorgung und Behandlung der Soldaten in der Wehrmacht eingegangen werden. Es ist das Feld der eigentlichen „Kleinigkeiten". Was sich auf dem Gebiete der Verpflegung, Unterkunft, Ueberanstrengung der Truppe, Behandlung der Soldaten etc. an Unzuträglichkeiten herausgebildet hatte, ist so recht zum Uebungsobjekt der „Wehrpsychologen" und „Wehrpädagogen" geworden. In diesen Unzuträglichkeiten wird eine der Hauptquellen für den „moralischen Zerfall" des Heeres gesucht. Wir behandeln zunächst die persönlichen Beschränkungen, denen der Soldat der Wehrmacht nach dem Wehrgesetz heute unterworfen ist. „Die einzelnen Vorschriften, die im Gegensatz zu den sonstigen Staatsbürgern das Aufgeben bestimmter Rechte verlangen, sind von wehrfeindlichen Kreisen mit Vorliebe zur Erregung von Unzufriedenheit benutzt worden, um die Zersetzung der Truppe zu erreichen." Zu den gesetzlich festgelegten Beschränkungen gehören vor allem die Genehmigung zur Verheiratung, das Verbot politischer Betätigung und die Zugehörigkeit zu politischen Vereinen, das Ruhen des politischen Wahlrechts, das Verbot der unbefugten Einberufung von Soldatenversammlungen. 107 Die Genehmigungsbestimmungen zur Verheiratung sind allerdings aufreizender Natur. Die Genehmigung wird erst nach 6 Dienstjahren und nicht vor dem 25. Lebensjahre erteilt, trifft also die Berufssoldaten besonders. Die Braut miiss „Arierin" und die Führung des Haushalts geldlich gesichert sein. (Wehrgesetz § 27.) Das bedeutet also die „Standesehe" für die Angehörigen des „Volksheeres". Die Soldaten, die vor Ableistung des Arbeitsdienstes und des Wehrdienstes heiraten wollen, bedürfen einer besonderen Genehmigung. Die Einschränkung der politischen Rechte — Koalitions-, Versainmlungs- und Wahlrecht — ist im Dritten Reich keine Ausnahmebestimmung für Soldaten, sondern für das gesamte Volk, soweit es nicht Parteigänger des Nationalsozialismus ist. Welche Bedeutung das Fehlen dieser politischen Rechte im Kriegsfall erlangt, kann jedermann u. a. bei Herrn Altrichter nachlesen, wo er darüber 107

Altrichter: „Das Wesen der soldatischen Erziehung", S. 78.

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schreibt, wie zersetzend auf die Feldtruppe die Verzögerung der preussischen Wahlrechtsreform im Weltkriege gewirkt hat. Diese Frage wirkte neben der Kriegszielfrage am verheerendsten auf die Moral der Truppe. Das Fehlen jeglichen politischen Rechtes für Volk und Armee im kommenden Krieg wird die entsprechenden Wirkungen zeitigen, allerdings in einem den Nationalsozialisten unerwünschten Sinne. In den Fragen der Unterkunft und Verpflegung ist in der Wehrmacht den Kriegserfahrungen in manchem Rechnung getragen worden. In den Kasernen wird Wert darauf gelegt, dass der „Kommisscharakter" der Räume etwas zurücktritt. Die ungeheure Heeresvermehrung der letzten Jahre lässt aber nur einen geringen Teil der Wehrmacht in den Genuss guter Unterkünfte kommen. Für das Gros bleibt es bei improvisierten Unterkünften. Die Verpflegung unterliegt heute schon den Einschränkungen der im Dritten Reich üblichen Kriegsernährung. Der weiteren Verknappung hat Weniger auch theoretisch schon Rechnung getragen, indem er Radetzkys Wort, dass zu einem guten Soldaten ein voller Magen gehöre, „zeitgemäss umgestaltet" hat in: „Zu einem guten Soldaten gehört ein gut genährter Magen." Ueber die Behandlung der Soldaten haben die Wehrpsychologen dicke Bücher geschrieben, die Militärzeitschriften bringen lange Artikel über zeitgemässe Behandlung der Soldaten. Aber zu dem was vorgeschlagen wird, fehlen die Kräfte. Altrichter muss selber eingestehen, wo er die Aufgaben der Offiziere als Lehrer und Erzieher zusammenstellt: „Fürwahr, eine schwindelerregende Menge von Aufgaben, denen nur ein wissenschaftlich umfassend gebildeter Mann gerecht werden kann." 108 Da weder das Gros der Truppenoffiziere — wir werden es bald aus authentischer Quelle erfahren — noch die Unteroffiziere „wissenschaftlich umfassend gebildet" sind, werden sie den Wehrpsychologen mit dem Wort des altpreussischen Kommissknopfes und Generals Wrangel antworten: „Det is zu hoch vor mir." In der Tat — das bestätigen alle Berichte aus dem Lande, das bestätigen die zahlreichen Beschwerden der Soldaten über rohe Behandlung und übertriebenen Drill — wird in der nationalsozialistischen Wehrmacht nicht nach den 108

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„Das Wesen der soldatischen Erziehung", S. 47.

ausgetüftelten Methoden der „Wehrpsychologen" und „Wehrpädagogen" ausgebildet, sondern nach dem ungeschriebenen Gesetz der Tradition „geschnickt", „geschliffen" und „gedrillt". Besonders hart ist der Drill bei den Kurzausbildungslehrgängen, denn hier muss in 3—9 Monaten die „Entpersönlichung" und die Entwicklung des Persönlichkeitsgefühls zugleich plus der technischen Ausbildung erreicht werden. Das Offizierkorps Nachdem wir geprüft, ob Auslese, Erziehungsmethoden, Strafe und Belohnungen ausreichende Sicherungen der nationalsozialistischen Wehrmacht vor der Niederlage im kommenden Krieg sind und die Frage verneint haben, ist noch zu untersuchen, inwieweit das Offizier- und Unteroffizierkorps Klammern darstellen, stark genug, Auseinanderstrebendes zusammenzuhalten. Der Führerstamm der Berufssoldaten — Offiziere und Unteroffiziere — stellt im stehenden Heer der allgemeinen Wehrpflicht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht dar. Während die Masse der Soldaten in regelmässigen Intervallen kommt und geht, das Soldatsein für den Arbeiter, Angestellten und Bauern nur eine Unterbrechung ihres normalen sozialen Daseins bedeutet, ist für den Führerstamm von Berufssoldaten die Armee ihr ureigenes soziales Milieu. Sie verkörpern den Soldatenstand. Sie sind die eigentlichen Träger der sozialen Funktion des Heeres, die es im gesellschaftlichen Gesamtleben des bürgerlichen Klassenstaates zu erfüllen hat. Diese Funktion umreisst Altrichter 109 mit folgenden Worten: „Das Heer ist das vornehmste und letzte Machtmittel der Staatsgewalt. Damit sind seine Aufgaben gegeben. Es schützt Volk, Vaterland und Staat gegen äussere Feinde, und Recht, Gesetz und Leben gegen innere Umsturzversuche. Zwar dient zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in erster Linie die Polizei, während der Einsatz von Teilen des Heeres nur im äussersten Notfall in Betracht kommt. Trotzdem sorgt es allein durch den moralischen Druck, der von seinem Vorhandensein ausgeht, für die widerstandslose Durchführung der Massnahmen der Regierung und die öffentliche Sicherheit." „Das Wesen der soldatischen Krzichung", S. 7f>. 171

Dass das Heer diese Aufgabe auch als stehendes Heer der allgemeinen Wehrpflicht erfüllt, dass, wie wir von Delbrück hörten, das Volk, obwohl es fast einstimmig in erbitterter Opposition gegen die Regierung steht, in Ordnung gehalten wird durch die Armee, d. h. durch zwei bis drei Jahrgänge eben dieses Volkes, wird zum erheblichen Teil durch den Führerstamm von Berufssoldaten — Offiziere und Unteroffiziere — bewirkt; die Grenzen dieses Wirkens werden durch die sozialen und politischen Gegensätze im Volk gezogen. Ebenso ist die Kriegstüchtigkeit des Heeres in hohem Masse abhängig von der militärischen und geistigen Qualität des Führerstammes und von dessen sozialem Charakter. Der Führerstamm bringt den Soldatenmassen nicht nur die technischen und körperlichen Fertigkeiten bei, die der Soldat zur Ausübung seiner Funktionen benötigt. Der Stamm von Berufssoldaten überträgt auch die ihm eigene besondere Ideologie des Soldatensionrfes auf die Soldatenmasse. Diese ßerii/sideologie des Führerstammes steht aber in dauerndem Kontrast zu der ganz anderen sozialen Funktionen entspringenden Ideologie der vorübergehend dem Heer angehörenden Soldatenmassen. Eine Angleichung dieser beiden Ideologien ist in Friedenszeiten nicht zu erreichen, weil der Soldat, wie gesagt, seine Dienstzeit nur als Unterbrechung seines normalen bürgerlichen Lebens betrachtet, mit dem er mit allen Fasern seines Seins verknüpft ist. *Jn einem längeren Kriege wäre eine Angleichung beider Ideologien denkbar, wenn der Soldat von der Notwendigkeit des Krieges überzeugt ist und der Führerstamm den Krieg nicht als Selbstzweck, sondern nur als ein notwendiges Uebel betrachtet. Hentig" 0 drückt den gleichen Gedanken aus, indem er sagt, der neue Feldherrntyp „wird ein militärischer Psychologe sein, am besten ein Kriegsfeind, der nur deshalb Krieg führt, weil er durch nichts mehr zu vermeiden ist. Ein solcher Feldherr wird sein Volk immer dann erst in den Krieg entlassen, wenn er schon gewonnen i s t . . . " Die Ideologen der nationalsozialistischen Wehrmacht, soweit sie den Krieg als Selbstzweck sehen — wir haben an anderer Stelle die „Monomanie des Krieges" behandelt — streben aber eine Angleichung beider Ideologien im umge1,4

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a. a. O., S. l.'l'i.

kehrten Sinne an. Das Volk in seiner Gesamtheit soll von der Ideologie des ßeru/ssoldatentums, der Ideologie des Soldatensia/irfes erfüllt werden. Es wird stets vom Soldat e n b e r u f , von den ßerti/spflichten, der Berufsehre etc. des Soldaten gesprochen. Ein Teil der Soldaten kann durch die lange Kriegsdauer seinem ursprünglichen sozialen Milieu völlig entfremden, am Kriegs-„Handwerk" Geschmack finden, wie einst der Landsknecht „Handwerker" des Krieges werden. Die Ideologie des Berufssoldatentums wird nie geistiges Eigentum eines Vielmillionenheeres werden, wenn sich seine Ideologie nicht mit der des Volkes deckt, dessen tatsächlichen Lebensinteressen entspricht. „Der Weltkrieg hat gezeigt, dass auch ein von einem einheitlichen Geist beseeltes Offizierkorps die innere, und damit die äussere F ü h r u n g verlieren muss, wenn die Truppe die von ihm vertretenen und verkörperten Ideen und Grundsätze nicht mehr anzuerkennen gewillt ist." 111 Die Wurzeln der Ideologie des deutschen Berufssoldatentums reichen in den Boden der Geschichte bis zu der zeitlichen Tiefe hinab, als das Berufssoldatentum im preussischen Militärstaat unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. von Preussen sein spezifisches Gepräge erhielt. Hort und Träger der Tradition jener geschichtlichen Epoche ist das Offizierkorps. Ohne Kenntnis dieser Tradition, die sich bis in die nationalsozialistische Wehrmacht herübergerettet, die zwei Zusammenbrüche des Heeres —1806 und 1918 — verschuldet hat, ist eine Beantwortung unserer Frage, ob das Offizierkorps der nationalsozialistischen Wehrmacht eine Sicherung vor der Niederlage darstellt, nicht möglich. Wir müssen zur Erklärung dieser Tradition nochmals auf das preussische Heerwesen des 18. und Ii). J a h r h u n derts zurückgreifen. Im ständischen Staat des 18. Jahrhunderts hing das Heerwesen auf das genaueste mit der Absonderung der Stände zusammen. „Ken drei grossen Gruppen der Adligen, der Bauern und der Bürger entsprachen in der militärischen Abstufung: die Offiziere, die Mannschaften und die E x i m i s t e n . D e r 5>olin des Guts1,1 Allrichter: „I)ic seelischen Kräfte des Deutschen Heeres . . .", S. 4:t. 2 " Die Bürger und Handwerker, die in der Hegel vom Heeresdienst ausgenommen waren.

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herrn befehligte als Offizier die Söhne der Bauern seines väterlichen Gutes." 1,8 Der ausgezeichnete Kenner des preussischen Militärstaates, Franz Mehring, hat in seiner „Lessing-Legende" und zahlreichen Studien das wahre Wesen des preussischen Militärstaates und die Belastung der preussisch-deutschen Geschichte durch die traditionelle Macht des preussischen Junkertums enthüllt. Die Rolle des preussischen Adels in der Armee hat Mehring als einen Kardinalpunkt dieser spezifischen Tradition des deutschen Offizierkorps immer wieder hervorgehoben. So fern diese historische Reminiszenz unserem Thema zu liegen scheint, so unerlässlich ist sie für das Verständnis des Geistes und der Tradition des Offizierkorps der nationalsozialistischen Wehrmacht. Denn nie wurden geschichtliche Tatsachen so willkürlich verbogen, nie ein grösserer Missbrauch mit der FridericusLegende, mit dem „Geist von Potsdam" und dem „preussischen Sozialismus" getrieben, als im Dritten Reich. Die Tradition des preussischen Junkertums, seine Nachkommen — das beweisen die Ranglisten der nationalsozialistischen Wehrmacht — und sein Geist walten im modernisierten Gewand im Offizierkorps des Dritten Reiches. Wir untersuchen zunächst den Ursprung der Berufsauffassung des preussisch-deutschen Offizierkorps. Der von Friedrich Wilhelm I. (1713—1740) ausgebaute und befestigte preussische Militärstaat, schreibt Franz Mehring, entstand „als einer jener Verträge zwischen Adel und Monarchie, die die preussische Geschichte kennzeichnen, bei denen der Löwenanteil immer auf die Seite des Adels fällt. Der märkische Adel hatte sich von Anfang des miles perpetuus 115 an die Offizierstellen gedrängt, aber im Anfang noch mit ausländischen Adligen, deutschen Kleinfürsten oder auch bürgerlichen, im Dreissigjährigen Kriege emporgekommenen Offizieren zu kämpfen gehabt. Seine eigentliche Domäne wurde das Heer erst, als er die Frage zu lösen verstand, wie eine Bevölkerung von wenig über zwei Millionen ein Heer von 80 000 Mann unterhalten könne. Die Lösung war verhältnismässig einfach. Noch war 113

Max Lehmann: Scharnhorst-Biographie. „Der Rote Faden der preussischen Geschichte", „Neue Zeit", 34. Jahrgang, 1. Band, 1915/16. 115 Stehendes Heer. 114

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das Heer nicht so weit .verstaatlicht', dass es nicht noch beträchtliche Reste des Kondottierewesens enthalten hätte, vor allem die sogenannte Kompaniewirtschaft. Der Kompaniechef war, um die Worte Max Lehmanns zu gebrauchen, ,ein in der Regel glücklicher, zuweilen aber auch unglücklicher Unternehmer an der Spitze der Waffengenossenschaft'. Aus der königlichen Kasse erhielt er ein Pauschquantum, aus dem er, wie es in dem Reglement hiess, ,alle Unkosten, die bei der Kompanie vorfallen, bezahlen' musste. Das heisst, er musste nicht nur Uniformen und Waffen beschaffen und im Stande halten, sondern vor allem für die ansehnlichen Werbegelder aufkommen, um die Kompanie vollzählig zu erhalten, sobald sie durch Todesfälle und namentlich durch die zahlreichen Desertionen gelichtet wurde. Von dieser Last, und namentlich von allem Risiko befreiten sich die militärischen Unternehmer', indem sie nicht mehr Rekruten warben, sondern ihre gutsuntertänige Jungmannschaft einzustellen begannen, mit einer Dienstpflicht von 20 Jahren, so jedoch, dass diese Rekruten jedes Jahr nur ein paar Monate, später sogar nur einen Monat bei der Fahne zu bleiben brauchten, die übrige Zeit aber auf den adligen Gütern schanzen konnten, zu denen sie .geboren' waren. Auf diese sinnige Weise verlor der Adel keine Arbeitskraft, machte aber durch die Ersparung von Werbegeldern einen ansehnlichen Profit an den königlichen Kassen; wer sich zur Kompanie heraufgedient hatte, war ein gemachter Mann." An der von der Krone betriebenen Heeresverstärkung hatten die Junker alles Interesse, denn sie vermehrte ihre Sinekuren. Sie bezogen daher auch die Städte in ihre Rekrutierungsgebiete ein und dehnten die Rekrutierung auf die vom Heeresdienst Ausgenommenen aus. Dem sollte das Kantonreglement von 1733 Einhalt gebieten. Der König wies den einzelnen Regimentern bestimmte Kantone zum Rekrutieren an, um dem Soldatenpressen durch den Adel unter dem städtischen Bürgertum und den Handwerkern zu steuern; denn das schmälerte die Steuereinkünfte des Königs. Von dieser Einschränkung abgesehen, fügte sich der König dem eigenmächtigen Vorgehen des Adels, weil auf diese Weise sein Heer auf einer für damalige Zeiten enormen Stärke gehalten werden konnte und er gleichzeitig im armen Adel einen reichlichen Offizierersatz hatte, 175

„der sich gern ein paar Jahrzehnte in den unteren Offizierstellen plagte und plagen Hess, mit der Aussicht auf die Kompanie, die ihm reichlich ein Rittergut ersetzte. Freilich begann hier die Kehrseite der Sache, die . . . Hans Delbrück überzeugend auseinandergesetzt hat, nämlich, dass .den Geist der Armee das Offizierkorps bestimmt, das die Mannschaft in seinem Geiste erzieht und vermöge der Disziplin in seinem Geiste regiert', also ,die stärkste Gewalt ist, die wir im ganzen Deutschen Reiche haben, unzerbrechlich von innen heraus, von aussen wäre sie nur zu zerbrechen durch die allerfurchtbarsten Niederlagen'." „Bis zum Jahre 1791 hat es in diesem Heere nicht weniger als 895 Generale aus 518 adligen Familien gegeben, darunter aus der Familie Kleist 14, Schwerin 11, Goltz 10, Bork und Bredow je 9, Dohna und Marwitz je 7; aus der Familie Marwitz allein haben von der Mitte des siebzehnten bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts einige hundert Offiziere gedient. Geben diese Ziffern schon einen Begriff davon, in welchem Umfang der Adel das Heer beherrschte, so ist der Beweis noch kürzer und schlagender durch die Tatsache geführt, dass die Grundlage der ganzen Heeresverfassung das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis war." Hans Delbrück116 seinerseits unterstreicht Mehrings Darstellung. „Das Offizierkorps hing aufs engste zusammen mit dem Adel. Die Stellung des Adels beruhte auf dem Besitz der Rittergüter und der Erbuntertänigkeit der Bauern. "Die Freigebung der Erwerbung von Rittergütern, die Aufhebung der Erbuntertänigkeit hätten die Stellung des Adels untergraben.. Friedrich II. hielt grundsätzlich an diesem Verhältnis fest, indem er darauf achtete, dass ein Rittergut immer wieder an einen Adligen kam117 und dass kein Bürgerlicher in das Offizierkorps eindrang. „Friedrich II. hatte bürgerliche Offizieraspiranten bei der Vorstellung eigenhändig mit dem Krückstock aus den Reihen hinausgestossen. Er versagte sogar den Heiratsconsens mit bürgerlichen Damen. Das Offizierkorps sollte eben ein adliges und bürgerliche Mitglieder in demselben blosse Ausnahme sein. Dieses ""„Der preussischc Offizierstand", S. 116/17. Max Lehmann: Scharnhorst-Biographie.

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Offizierkorps aber war das Knochengerüst der Armee, mit der er seine Schlachten schlug."" 8 Dieses Offizierkorps war es aber auch, an dem die preussische Armee 1806 bei Auerstedt und Jena unter den Schlägen Napoleons kläglich zusammenbrach, wodurch der preussische Staat an den Rand des Abgrunds gebracht wurde. Die Keime des Verfalls der Armee pflanzte Friedrich II., der Heros der nationalsozialistischen Wehrmacht. Meisterhaft schildert das Franz Mehring in seiner „LessingLegende":110 „Während Friedrich Wilhelm I. die ökonomische Ausbeutung des Heeres durch die Junker nach Kräften hinderte, aber die Offiziere als seine Kameraden behandelte und den kameradschaftlichen Geist unter ihnen pflegte, liess sein Sohn dem ausbeuterischen Treiben der Junker die Zügel schiessen, während er sich nach dem Satze: Teile und herrsche! über die Offiziere als unnahbarer Kriegsherr aufzuschwingen und sie in jeder Weise zu schikanieren versuchte." Mehring schildert, wie Friedrich mit Erfolg die Spitzen des Heeres gegeneinander verhetzte und ausspielte und selbst im Kriege jeden General mit eifersüchtigem Neid verfolgte. „Er glaubte den unumschränkten Kriegsherrn nur so spielen zu können, dass er keinen Junker zu einer überragenden Stellung im Heere kommen liess. Nach dem Siebenjährigen Krieg ernannte er überhaupt keinen Feldmarschall mehr und kaum zwei oder drei Generale..." „Während der König aber auf diese Weise die militärische Tüchtigkeit des Offizierkorps verringerte, liess er seiner ökonomischen Entartung den freiesten Spielraum." Die Kompaniewirtschaft verschlechterte sich, weil jedes Gegengewicht gegen die Ausbeutungslust der Junker fehlte. Nach dem Siebenjährigen Krieg entzog Friedrich II. einem Teil der Regimenter die eigene Werbung. Das ergab eine wesentliche Verschlechterung des Soldatenmaterials. „Bei der eigenen Werbung hatten die Kompaniechefs immerhin ein gewisses Interesse, auf einen möglichst starken und zuverlässigen Menschenschlag zu sehen; je weniger Abgang von Ausländern sie hatten, um so grösser war ihr Profit. Des Königs Werbeoffiziere hatten gerade im Gegenteil das Interesse, den verrufensten Menschenkehricht aus aller Her118

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„Der preussische Offizierstand", S. 120. W i r zitieren nach der dritten Auflage, Stuttgart 1909.

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ren Länder aufzutreiben, denn er war am billigsten zu haben, und j e billiger sie warben, um so mehr profitierten sie an den Werbegeldern . . . Um dies Gesindel, dessen unausgesetzte Exzesse den Soldatenstand in den übelsten Ruf brachten, einigermassen bändigen und an die Fahne fesseln zu können, war die gewaltsamste Behandlung notwendig, und diese wirkte dann wieder im höchsten Grade demoralisierend auf die besseren Elemente der Truppe zurück . . . Die inländische Rekrutierung verdarb auf diese Weise auch vollständig. Der Kriegsdienst war die entehrendste und peinvollste Strafe in preussischen Landen geworden und wurde zuletzt vom Könige auch als solche verhängt, so über Pressevergehen..." Wer erinnert sich da nicht an den Brauch im wilhelminischen Deutschland während des Weltkrieges, den Frontdienst als Strafe über politisch unliebsame Elemente zu verhängen. Die Junker-Offiziere hielten sich für die geschmälerte Werbung schadlos am Soldaten. Das Beurlaubungssystem wurde erweitert, dadurch wurde gespart. Bekleidung und Ausrüstung wurden so verschlechtert, dass die Kleiderkassen wahre Goldgruben für die Junker-Offiziere wurden. Der preussische Heeresreformer und Generalfeldmarschall Boyen schreibt in seinen Erinnerungen über die Offiziere des friderizianischen Heeres, sie seien nicht mehr Soldaten, sondern „wuchernde Krämer" gewesen. Auf diesen Stand geht die Tradition des Berufssoldatentums des preussischdeutschen Offizierkorps zurück. Dieser Stand der Junker-Offiziere drückte dem Heere den Stempel auf. Das Abhängigkeitsverhältnis war ein gegenseitiges zwischen dem absoluten König und dem Junkertum. Und es gehört zu dem Legendenstuck, mit dem die bürgerliche Geschichtschreibung geschichtliche Tatsachen zu verbrämen pflegt, wenn selbst ein Historiker wie Delbrück, der sich ein so grosses Verdienst um die Zerstörung von Legenden, vornehmlich in der Kriegsgeschichte, erworben hat, das Verhältnis zwischen Krone und dem friderizianischen Offizierkorps, dem Stande „wuchernder Krämer", so darstellt: „Friedrich wusste wohl, warum er den Adel so bevorzugte und warum er nur ausnahmsweise Bürgerliche in seinem Offizierkorps zuliess: der so genährte, an die alte ritterliche Tradition anknüpfende Standesgeist war das eigentliche Fundament seines Thrones. Die Empfin178

düngen des gemeinen Mannes -waren dem König gleichgültig; für ihn bürgte die Disziplin."129 Dieser „an die ritterliche Tradition anknüpfende Standesgeist" des märkisch-brandenburgischen Adels war besonderer Art; es war der Geist der „Schnapphähne", des typischen Strauchrittertums Für diesen Adel stellte das städtische Bürgertum die zu melkende Kuh dar. Er frass das Land kahl und war eine der besonderen Ursachen für die wirtschaftliche Zurückgebliebenheit des Landes Erst nachdem eine grosse Anzahl dieser Strauchritter, die Quitzows und andere, den Galgen zierten, fing der märkisch-brandenburgische Adel an vom Strauchritterwesen zum Stande der „wuchernden Krämer" überzuwechseln. Das Verhältnis dieses Adels zum Monarchen hat seinen bleibenden Niederschlag in dem geflügelten Wort gefunden: „Und der König absolut, wenn er unsern Willen tut." Die dem Monarchen wie der Junkerkaste eigene Einstellung zum Bürgertum war Missachtung und Ueberheblichkeit, die dem niedrigen geistigen Niveau der Junkerkaste entsprach. Selbst Delbrück kann nicht umhin, das festzustellen. Er schreibt: „Es ist gar nicht anders möglich, als dass ein so kastenmässig abgeschlossener Stand eine Gesinnung erzeugt, die sich häufig in Handlungen des Hochmuts und Uebermuts äussert. Es ist gar nicht anders möglich, als dass ein Stand im Zeitalter Schillers für relativ ungebildet gelten musste, dessen Mitglieder mit zwölf Jahren bloss auf den adeligen Namen hin in die Armee traten, oft mit dreizehn den Offiziersrang erhielten . . . Vielleicht war noch später Gneisenau eine Zeitlang der einzige General in der preussischen Armee, der im Punkte der Grammatik und Orthographie völlig sattelfest war." m Mehring schreibt in seinem „Roten Faden der preussischen Geschichte", dass kein Bürger vor den ärgsten Schimpfreden und Schlägen sicher war, wenn er irgendwie das Missfallen des Garnisonchefs oder auch nur der sonstigen Offiziere erregte. Und Max Lehmann führt in seiner Scharnhorst-Biographie viele Beispiele von Uebergriffen der Offiziere an. „Höhere wie niedere Offiziere schimpften, prügelten und sperrten die Bürger ein, die ihnen ungelegen wurden; der Gouverneur von Breslau bedrohte Geheime Räte mit dem Stock und titulierte sie 120

a. a. O., S. 116. a. a. O.. S. 122.

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Schlingel und E s e l . . . " Eine Verfügung Friedrichs, in der gesagt wurde, dass der Offizier „eigentlich" zum Schutze der Wohlfahrt des Landes da sei, fruchtete nichts, solange er an „dem bevorrechteten Stande des Heeres festhielt". E s erfolgten weiterhin „empörende Eingriffe in die Rechte und Ehre der Bürger. Da erschien wohl eines Tages der Gouverneur der Stadt auf der geweihten Stätte, wo eine Gemeinde ihre Toten beisetzte; der Platz dünkte ihm vortrefflich gelegen zum Exerzierhause eines in der Nähe kasernierten Regiments: nicht achtend der Grabhügel und Kreuze, befahl er den Bau zu beginnen... An anderen Orten führte der Hochmut der militärischen Würdenträger zu den widerwärtigsten Streitigkeiten, ja wohl gar zu Strassenaufständen und Blutvergiessen." Drängt sich da nicht unwillkürlich der Vergleich mit den Zuständen im Dritten Reich auf? Und wenn über das damalige Preussen gespottet wurde, es sei nicht ein Land, das eine Armee habe, sondern eine Armee, die ein Land habe, oder: das preussische Heer sei Staat im Staate, oder: wo der Kriegsstand wisse, dass er dem Herrn im Schosse sitze, da müssten sich die anderen Stände nur bequemen, in Demut zu verharren, da spürt man so recht, wie wahr die Wehrmachtsideologen sprechen, wenn sie sagen, der „Geist von Potsdam" sei in der Wehrmacht und im gesamten Dritten Reiche lebendig. Was bei alledem, insbesondere dank der Kompaniewirtschaft, aus dem kriegerischen Geiste des preussischen Offizierkorps wurde, sagt Mehring,155 „liegt klar auf der H a n d . . . Da die .wuchernden Krämer' nur im Frieden ausbeuten konnten, so begreift man leicht, wie anfeuernd der Krieg auf den .Heldengeist' dieses .Heldenheeres' wirkte. Erst die ökonomischen Voraussetzungen des friderizianischen Heeres erklären die ganze Schmach von 1806, erklären den feigen Verrat der Junker-Offiziere, erklären das frohe Aufatmen, womit viele Tausende von Soldaten nach der Niederlage die Fahne verliessen, erklären endlich die ingrimmige Freude der Bevölkerung über die zermalmenden Schläge, mit denen die .Federbüsche' 153 für den scheusslichen Wucher von Jahrzehnten gestraft wurden." Die preussischen Heeresreformer zielten, wie wir gesehen, vor allem auch auf die Brechung des Adelsmonopols 153 m

trugen.

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„Lessing-Lcgende", S. 121. Spitzname f ü r die Offiziere, die einen Federbusch auf dem Hut

im Offizierkorps ab. Nicht Herkommen, sondern Können sollte hinfort über die Zulassung zum Offizierberuf bestimmen. Diesen Grundsatz vertrat vor allem Scharnhorst, selber ein Nichtadliger, ein hannoverscher Bauernsohn, der erst als Major in preussische Dienste getreten war. Nicht nur die Zulassung von Bürgerlichen zum Offizierdienst, sondern die Wahl von Offizieren durch die Wehrmänner forderten Gneisenau und andere Reformer; ebenso die Schliessung der Kadettenanstalten, die dem Adel vorbehalten waren. Uns interessiert hier vor allem, was vom „Geiste" des friderizianischen Offizierkorps auf das der preussischdeutschen Armee des 19. Jahrhunderts überkam. Kennzeichnend war schon, dass nach den sogenannten Befreiungskriegen die Heeresreformer samt und sonders aus dem Heeresdienst hinausgeekelt wurden und die Junkerkaste wieder Oberwasser erhielt. Immerhin war eine Bresche in das Adelsmonopol im Offizierkorps insofern geschlagen, als auf Offiziere aus dem Bürgertum nicht länger verzichtet werden konnte; einmal nicht aus Gründen der zahlenmässigen Anforderung von Offizieren bei einem Heer der allgemeinen Wehrpflicht, zum andern nicht aus Gründen der höheren geistigen Anforderungen, die durch die Vervollkommnung der Waffentechnik an die Offiziere gestellt wurden. Aber was das Entscheidende war und blieb: obwohl sich in der weiteren Entwicklung die überwiegende Zahl der Offiziere aus dem Bürgertum ergänzte, hatten „die geschichtliche Entwicklung des Offizierkorps und die Macht der Tradition bewirkt, dass das aristokratische Prinzip dem ganzen Stande das Gepräge gab."124 Ueber die Vererbung des friderizianischen Geistes auf das Offizierkorps des Jahrhunderts vor dem Weltkriege gibt das Buch von Karl Demeter, Archivrat im Reichsarchiv: „Das deutsche Heer und seine Offiziere", Berlin, 1929, mancherlei Aufschluss. Charakteristisch für die Position des preussisch-deutschen Offizierkorps war nach Demeter, dass seine Beziehung zum Staate, auch nach dessen Wandlung vom Ständestaat des 18. Jahrhunderts mit dem absoluten Herrscher an der Spitze, zum halb-absoluten, der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts, eine 144

S. 53.

Altrichter: „Die seelischen Kräfte des Deutschen H e e r e s . . . " ,

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persönliche Beziehung zum Träger der Krone blieb. Es wurde darin „bestärkt und versteift durch gewisse Strukturelemente des Staates selbst, die . . . geschichtlich gesehen nach rückwärts, z. T. sogar in die vor-absolutistische Periode wiesen". Es wird an das ständisch orientierte Dreiklassenwahlrecht in Preussen, an das ständisch orientierte Preussische Herrenhaus, an die dem Budgetrecht des Reichstags entzogenen Befugnisse des Kaisers als Oberstem Kriegsherrn erinnert. Das Offizierkorps, gebunden an den Monarchen, empfand dementsprechend die militärpolitischen Erörterungen im Parlament als anmassende Eingriffe in seine persönlichen Verhältnisse. Es wurde und wird häufig behauptet, das Offizierkorps sei unpolitisch gewesen; als ob eben die unbedingte Ergebenheit des Offiziers an den Monarchen, seine Verpflichtung auf ihn — nicht auf die Verfassung oder den Staat — keine politische Parteinahme gewesen sei. Selbst vom Reserveoffizier wurde verlangt, dass er nur für politische Parteien tätig sein dürfte, „deren Königstreue und patriotische Gesinnung ausser allem Zweifel" standen. „In Preussen bildete das Offizierkorps zusammen mit dem Adel den ersten Stand im Staate — praktisch auch dann noch, nachdem der ständische Charakter des Staates einschliesslich der Adelsvorrechte abgeschafft worden und das Offizierkorps sich mehr und mehr aus den bürgerlichen Schichten zusammensetzte; und dementsprechend war auch sein gefühlter und betonter sozialer Abstand von der übrigen Bevölkerung." „ . . . Je mehr bürgerliche Elemente ins preussische Offizierkorps hineinströmten, um so mehr pflegte und betonte dieses ganze Offizierkorps die Gesinnung, die ganze Anschauungs- und Denkweise des Adels, speziell des gutsherrlichen Landadels." Das preussische Offizierkorps pflegte und förderte damit „eine Sitte, eine Gedanken- und Gefühlswelt, die, geschichtlich betrachtet, spezifisches Eigentum des Geburtsadels i s t . . . " Diese Standesideologie, „die einer romantischen Phantasie ebenso wie einem nüchternen Willen zur Macht entgegenkam", übertrug sich mit der Zeit auf das Offizierkorps im ganzen Reich. Ja, im Bürgertum wich der ursprüngliche Bürgerstolz und die ablehnende Haltung gegenüber den „Federbüschen" der Servilität und Kriecherei vor dem „Herrn Leutnant", bei dem, nach einem geflügelten Wort der damaligen Zeit, der Mensch begann. 182

In zahlreichen Urteilen der Wehrmachtsideologen des Dritten Reiches finden wir wertvolle Ergänzungen zu den Feststellungen Demeters. Am typischsten scheinen uns die Auslassungen Altrichters,125 weil sie Schlüsse darauf zulassen, inwieweit die aus dem friderizianischen Heer überkommene Standesideologie des wilhelminischen Offizierkorps zur deutschen Niederlage im Weltkriege beigetragen hat — wenn wir Altrichters These beipflichten, dass „das Offizierkorps den entscheidenden Anteil an dem moralischen Zustande und damit dem kriegerischen Wert des Heeres" hat. Aus einer solchen Rückschau können wir sodann die notwendigen Schlüsse auf das Offizierkorps des Dritten Reiches als Garant des Sieges oder der Niederlage im kommenden Kriege ziehen. Altrichter geht bei der Beurteilung des deutschen Offizierkorps des Heeres der allgemeinen Wehrpflicht davon aus, dass die gewaltige Vermehrung des Heeres gezwungen habe, die Grenzen für den Nachwuchs immer weiter nach unten auszudehnen. Die Ausbreitung der Bildung auf den Mittelstand habe bewirkt, dass sich dieser, in den Grundzügen seiner geistigen Struktur nicht mehr von den ehemals führenden Kreisen unterschieden habe. Das ist eine kleine Verdrehung des Tatbestandes. Die Bildung war geradezu das Monopol des Bürgertums, das in ihr die Zuflucht vor den trostlosen politischen Zuständen und die Entschädigung für vorenthaltene politische Rechte suchte, wohingegen eine Denkschrift des Prinzen Friedrich Karl von Preussen noch 1860 darüber klagte, dass viel bürgerliche Offiziere eingestellt würden, während vom Adel leider „zu oft die Dümmsten der Söhne, die sonst nichts lernen mochten", kämen. Und Manteuffel, der Chef des preüssischen Militärkabinetts von 1850—1867 beschwerte sich über die „Bevorzugung unfähiger Adliger" im Offizierkorps. Dieses sei Anfang der fünfziger Jahre viel schlechter gewesen als 1806. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch eine bei Demeter wiedergegebene Eingabe aus preussischen Adelskreisen aus dem Jahre 1861 an den Chef des preussischen Militärkabinetts, in der über die Bevorzugung der Söhne des gebildeten Bürgertums vor den in der Schule hängengebliebenen Söhnen des Adels, die nicht bis zur verlangten Prima-Reife gekommen waren, Klage geführt wird. „Warum „Die seclischen Kräfte des Deutschen Heeres . . ."

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genügt nicht die bisherige Portepee-Fähnrichs-Prüfung? Wird das Offizierkorps sich nicht wesentlich verändern nach obiger Verordnung? Statt der Dönhoffs, Dohnas usw. werden nicht die Söhne reich gewordener Bankiers die Stellen der Garde du Corps-Offiziere einnehmen? Würde das so veränderte Offizierkorps dieselbe Haltung zeigen, wie das von 1848? Wäre es nicht gefährlich, den Adel zu sehr zu reizen?" Diese Klagen sprechen nicht für die überlegene Bildung des Adels. Wenn Altrichter sagt, dass der „Ersatz niemals ausserhalb der gebildeten Kreise gesucht werden brauchte" und er daraus eine „gemeinsame Grundrichtung" der bürgerlichen und adligen Offiziere herleitet, stimmt das insofern, als im allgemeinen die höhere Schulbildung das Privileg vermögender Kreise oder der Beamtenschicht war. Das soziologische Amalgam, das sich im Deutschland des 19. Jahrhunderts aus dem Kompromiss zwischen Bourgeoisie und Feudalklasse zur gemeinsamen Verteidigung ihrer sozialen Position gegenüber dem „vierten Stand" ergab, sah im Offizierkorps so aus, dass sich der verschuldete Adel von den Börsentiteln der Geldaristokratie angezogen fühlte und die parvenühafte Bourgeoisie von den Adelsprädikaten und Allüren der Junkerkaste. Immerhin hielt das adlige Offizierkorps auf eine Art Naturschutzpark für seine Offiziere in den Garderegimentern und bei der Kavallerie. Bei den Truppen, die umfassenderes, und vor allem technisches Wissen verlangten, fühlte sich der Adel nicht heimisch. Dass das deutsche Offizierkorps vor dem Weltkriege, trotz seines zahlenmässig überwiegend bürgerlichen Kontingents eine geschlossene Einheit war, dem das einer vergangenen Zeit angehörende und einer überholten sozialen Gliederung des Staates entsprechende Standesbewusstsein den Stempel aufdrückte, ist eine geschichtliche Tatsache. Eine ebenso unbestreitbare Tatsache ist es aber auch, dass dieses anachronistische Standesbewusstsein eine der wesentlichen Ursachen für das Zerbrechen des Heeres am Ende des Weltkrieges und damit für die Niederlage war. Der Riss zwischen Offizieren und Soldaten war bereits vor dem Kriege sichtbar; es war der Riss, der durch die ganze gesellschaftliche Struktur des wilhelminischen Deutschland gingAusgehend von dem Abhängigkeitsverhältnis der Offiziere von der Krone — ganz wie in der friderizianischen 184

Zeit — sagt Altrichter (S. 49—60), dass das Offizierkorps zwar unpolitisch, „innerlich doch mit den Kreisen sympathisierte, die weltanschaulich auf demselben Boden standen und ebenso wie er (der Offizier) in der Erhaltung der Macht des Königtums und des Ansehens des Vaterlandes ihre Hauptaufgabe erblickten. Diese Uebereinstimmung in der Zielsetzung des Offizierkorps mit den Konservativen hatte in manchen Linkskreisen den Eindruck einseitiger parteipolitischer Bindung erweckt und Anlass zu allerhand Anfeindungen und Verdächtigungen seiner Ueberparteilichkeit geführt. Sie entbehrten... nicht eines gewissen Scheins des Rechts, denn als Hüter der Tradition und Schützer der bestehenden Ordnung war das Offizierkorps in schärfste geistige Abwehr gegenüber allen den Strömungen gedrängt worden, die die Person des Herrschers und die Grundlagen der Staatsverfassung bekämpften." „Die Parlamente waren die Stätten, in denen der Geist der neuen Zeit immer vernehmlicher und drohender an den überkommenen Anschauungen von Monarchie, Kirche und Staatsautorität rüttelte, also gerade an den Begriffen, von denen aus die Daseinsberechtigung des Offizierkorps ihre sittliche Begründung erfuhr. Es war daher nur ein Ausdruck des Selbstbehauptungswillens, wenn die Gesamtheit der Offiziere die zunehmende Demokratisierung des geistigen und politischen Lebens nur mit höchstem Missbehagen wahrnahm und sich gegen eine Entwicklung stemmte, die letzten Endes zur Zertrümmerung ihrer bevorzugten Führerstellung führen musste." Die kastenmässige Abschliessung des Offizierkorps, „in dem die verhasste monarchische Staatsform ihre stärkste Stütze fand", „hatte im Gefolge, dass sich die Abneigung gegen das Offizierkorps nicht nur auf die sozialdemokratischen Kreise beschränkte, sondern sich bis weit hinauf in das gebildete und national denkende Bürgertum erstreckte. Die Reihen der Kritiker wurden geschlossen durch ehemalige Offiziere". Den Offizieren wurde „Ueberheblichkeit" und „dünkelhafter Kastengeist", „geistige Einseitigkeit und Enge" und „Mangel an Allgemeinbildung" vorgeworfen. In der Einstellung zu den sozialen Problemen, die bei einem Massenheer der allgemeinen Wehrpflicht von grösster Bedeutung ist, gibt Altrichter zu, „dass die konservative Denkart des Offiziers und seine starke seelische Verwurzelung in der 185

Vei'gangenheit dem Erkennen der sich allmählich zuspitzenden sozialen Fragen und der damit einsetzenden geistigen Umschichtung der Massen, aus denen sich die Soldaten ergänzten, nicht günstig waren". Den Vorwurf, der gegen die militärische Erziehung erhöben wurde, tut Altrichter damit ab, dass er sagt, sie habe Schritt gehalten mit der sozialen Entwicklung und dem gesteigerten Selbstbewusstsein der Massen. Aber, gibt Altrichter zu, ungünstig habe sich ausgewirkt „das Festhalten an mancher alten Gewohnheit, als Folge des konservativen militärischen Geistes". „Hierzu gehörte vor allem der grobe Ton mit dem nicht mehr zeitgemässen Schimpfen." Die Kritik an den Soldatenmisshandlungen dagegen sei berechtigt, doch hätten sie ihre Ursache nicht im unsozialen Empfinden der Offiziere oder im Erziehungssystem gehabt. Welche Früchte zeitigte nun der das deutsche Offizierkorps beherrschende Geist im Weltkriege? Zunächst ist ein Blick auf die durch den Krieg bewirkte Veränderung der Zusammensetzung des Offizierkorps zu werfen. „Insgesamt besass das deutsche Heer während des ganzen Krieges 45 923 aktive Offiziere (einschliesslich der 11 375 gefallenen) und 226 130 Offiziere des Beurlaubtenstandes (einschliesslich der 35 493 gefallenen). Die Zahl der aktiven Offiziere hatte sich also gegenüber dem Anfang des Krieges während der viereinviertel Jahre nur etwa verdoppelt, die der Offiziere des Beurlaubtenstandes dagegen verneunfacht. Mit anderen Worten: das aktive Offizierkorps der - letzten Friedenszeit bildete vom gesamten Offizierkorps der Kriegszeit nur etwa den zwölften Teil." Es wirft sich die Frage auf, ob diese Verschiebung in der Zusammensetzung des Offizierkorps eine Veränderung in der geistigen Struktur bewirkt hat. Altrichter verneint das und wir können dem aus eigener Erfahrung nur beipflichten. Altrichter schreibt: „Die Einreihung der Offiziere des Beurlaubtenstandes führte. .. nicht zu einer Abschwächung des Gemeinschaftsbewusstseins des Offizierkorps, sondern eher zu einer Summierung der dieses Bewusstsein tragenden seelischen Kräfte". Auch durch den Hinzutritt der Kriegsoffiziere sei eine Wandlung im Sinne der Zersetzung oder Auflösung nicht eingetreten. Aber so imponierend diese Geschlossenheit scheinen Demeter, a. a. O., S. 220.

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mag, war doch der Geist, der sie bewirkte, gerade jenes Element, der das Offizierkorps dem Heere entfremdete. Die Stärke war eine vermeintliche. Ein Offizierkorps, das seinen abgeschlossenen Kastengeist, der in längst überholten gesellschaftlichen Zuständen wurzelt, in einem über vier Jahre langen Krieg in einem Vielmillionenheer konserviert, dessen übergrosse Mehrheit sich in auf die Zukunft gerichteten Gedanken bewegt, musste eben seines Kastengeistes wegen sich vom Heere ideologisch immer weiter distanzieren. Seine „Stärke" wurde sein Debakel und das des Heeres, grösser als 1806. Nachträglich hat das manch einer der deutschen Offiziere erkannt. So schreibt Hesse in der „Wandlung des Soldaten": „Wenn im Laufe des Krieges sich ein Gegensatz zwischen Offizier und Mann bemerkbar machte und in der Revolution in erschreckender Form zutage trat, so genügt als Erklärung nicht der Hinweis auf das .bessere Leben' des Offiziers, sondern auch hier muss der alte Klassengegensatz gesehen sein. Der Offizier verkörperte ja schliesslich im Kriege für den einfachen Mann allein noch die herrschende Klasse. Hat er ihr nicht aber auch in gewisser Weise den Stempel aufgedrückt? Ueberblicken wir die Entwicklung des Offizierkorps der letzten zweihundert Jahre, so stellen wir fest, dass es einen bestimmten Platz im Staate zu behaupten gewusst hat, den des ersten Standes. Niemand stand bis zuletzt dem Thron näher als der Offizier, und es war verständlich, dass er für eine gesellschaftliche Schicht tonangebend wurde." „In der Katastrophe des November 1918 traf ein nüchterner Klassenkampfgedanke, der im Angriff stand, auf eine stark verzerrte, geistig nicht genügend gestützte alte Anschauung einer Klasse, die seit länger als einem halben Jahrhundert sich in der Verteidigung befand." (S. 146/47.) Wir wenden uns jetzt dem Offizierkorps der nationalsozialistischen Wehrmacht zu. Der Bedarf an Offizieren im kommenden Krieg wird den im Weltkrieg weit übertreffen. Die verhältnismässig kurze Anlaufsperiode, die die nationalsozialistische Wehrmacht bis zum Krieg hat, verlangt eine Beschleunigung im Schaffen von Offizieren. Darunter leidet die Qualität, zumal die Schulbildung für die zum Offizierberuf Zugelassenen eineii bedenklichen Tiefstand erreicht hat. Der hohe Bedarf an Offizieren und vor allem die gesteigerten Anforderungen an technisches Können zwingen, selbst die im Weltkrieg weit nach unten gezoge187

nen Grenzen noch zu erweitern, bei den technischen Truppen z. T. auf den Unteroffizierstand zurückzugreifen. Uns kommt es hier auf den Geist im Offizierkorps der nationalsozialistischen Wehrmacht an. Geht man nach dem, was die Wehrmachtsideologen schreiben, könnte man auf den ersten Blick meinen, es seien grundlegende Umwälzungen in der geistigen Orientierung zu verzeichnen, vor allem in der sozialen Angleichung an das Volk. Bei näherem Zusehen stellt sich das als pure Augenwischerei heraus. Die Rekrutierung der Offiziere erfolgt in der Regel aus den gleichen Gesellschaftsschichten, aus denen auch das wilhelminische Offizierkorps kam. Die den Söhnen sozial bessergestellter Schichten vorbehaltene Absolvierung höherer Schulen ermöglicht es in erster Linie ihnen, den Offizierberuf zu ergreifen. Auf das entsprechende „standesgemässe" gesellschaftliche Milieu, aus dem der Offizier kommt, wird nach wie vor peinlich geachtet. H e s s e g i b t darüber Aufschluss, wenn er schreibt: „Es ist erwünscht, dass sich der Offizierersatz zahlreich aus Offizierskreisen, der höheren Beamtenschaft, dem grösseren Grundbesitz, aus Handel und Wirtschaft, aber auch aus Kreisen der Wissenschaft, d. h. aus Schichten, wo wir auf Tradition stossen, ergänzt." Und doch möchten wir auf einen sich in der Zukunft vielleicht auswirkenden Gesichtspunkt aufmerksam machen, der eine gewisse Differenzierung gegen früher aufweist. Der grössere Offizierbedarf zwingt, auf Söhne des Mittelstandes zurückzugreifen. Diese Schichten nehmen aber heute im Dritten Reich insofern eine andere Position gegen früher ein, als ihnen durch den Konzentrationsprozess des Kapitals ihre materielle Grundlage in einem rapiden Tempo entzogen wird. Die Schuld für diesen Proletarisierungsprozess kann heute weder den Juden noch „marxistischer Misswirtschaft" noch sonst jemandem aufgehalst werden. Der Nationalsozialismus raubt diesen Schichten die selbständige Existenz. Die Erbitterung in diesen Kreisen stapelt sich auf. Sie wird bei einem Teil dadurch kompensiert, dass der Junge Offizier ist. Aber bei denen, die schon proletarisiert sind, ist damit meistens auch die materielle Voraussetzung für den „Aufstieg" des m

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„Wandlung des Soldaten", S. 95.

Jungen genommen. Die aus dem Mittelstand kommenden Offiziere werden in der Regel zunächst am eifrigsten bestrebt sein, ihre nicht „standesgemässe" Kinderstube vergessen zu machen, indem sie sich bemühen, die Allüren der Offiziere besonders herauszukehren. Wer kennt das nicht von den Kriegsleutnants aus dem Weltkriege? Dennoch stellt diese Kategorie von Offizieren ein Element dar, das im weiteren Verlauf des Proletarisierungsprozesses des Mittelstandes von den Sorgen seiner Klasse beeindruckt wird und bei politischer Annäherung von Arbeiterklasse und Mittelstand zu einem Ferment im Offizierkorps werden kann. Kommen wir auf die Hauptfragen, die den Geist des Offizierkorps im Dritten Reich bestimmen, zurück. Wir haben festgestellt, dass sich bis auf die Elemente aus dem Mittelstand an der sozialen Herkunft des Offizierkorps gegen früher nichts geändert hat. Die Offiziere kommen vornehmlich aus der besitzenden Klasse oder dem an sie gebundenen Beamtenstand. Geändert hat sich aber im Dritten Reich das Verhältnis von besitzender Klasse und nichtbesitzender. Die objektiven und subjektiven Gegensätze sind schärfer geworden. Das kommt öffentlich am schärfsten durch die Existenz der nationalsozialistischen Diktatur zum Ausdruck. Das deutsche Trust- und Monopolkapital glaubt dem Volk keine politischen Freiheiten lassen zu können, so bedrängt fühlt es seine soziale Position. Dieses Verhältnis von Besitzenden und Besitzlosen bestimmt den Geist des totalen Staates und dieser den Geist des Offizierkorps. Im totalen Staat hat die friderizianische Tradition des Offizierkorps das Verhältnis zwischen absolutem Herrscher und Vasall wieder eine Heimstatt gefunden, durch kein Parlament und keine öffentliche Kritik beeinträchtigt. Der Offizierstand ist wieder der „erste Stand" im Staate und durch den Eid auf den „Führer" ausschliesslich an die Person des Obersten Kriegsherrn gebunden wie zu Friedrichs II. Zeiten. Der traditionelle „Herrenstandpunkt" des Offizierkorps im Dritten Reich ist durch nichts beengt. „Der Offizier braucht vor allem . . . ein ausgesprochenes Herrengefühl", sagt Altrichter. ** „Der Untergebene muss sich neben seinen Vorgesetzten als Mensch ganz klein ,M

„Die scelischen Kräfte des Deutschen Heeres . ..", S. 46.

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vorkommen." 1 '' Darüber haben sich schon die Soldaten der wilhelminischen Armee lustig gemacht, wenn sie sangen: „Der Hauptmann kam geritten / auf einem Ziegenbock / da dachten die Rekruten / das wär der liebe Gott." Der Charakter der Exklusivität des Offizierstandes kommt aber nicht nur in der Pflege des „Herrengefühls" zum Ausdruck. Dieser Stand hat seine besonderen Gesetze, die in der Dienstvorschrift über die „Wahrung der Ehre" niedergelegt sind. Ueber die Einhaltung dieser Bestimmungen wacht ein besonderer Ehrenrat von Offizieren. Die „Ehre" des Offiziers ist trotz „Volksgemeinschaft" eine von der des übrigen Volkes verschiedene. In dieser Einrichtung hat der Standesdünkel des Offizierkorps auch im Dritten Reich seinen gesetzlich sanktionierten Niederschlag gefunden. Der Offizierstand hat aber nicht nur seine eigenen Gesetze, er vollstreckt sie auch selber, wenn er sie verletzt glaubt. Der Offizier hat nach diesem Ehrenkodex das Recht, wenn er nur wörtlich schwer beleidigt — ob schwer oder nicht, darüber entscheidet der Offizier — von der Waffe Gebrauch zu machen. „Zieht aber ein Offizier die Waffe, so steckt er sie nicht ohne Ehre wieder ein." Das ist so echt nach dem Geist des friderizianischcn Offiziers, wo er alles, der Bürger ein Nichts war. Und das ist der Geist von Zabern.131 Zu dem Ehrenkodex des nationalsozialistischen Offizierkorps gehört natürlich auch das mittelalterliche Requisit des Duells, das im Dritten Reich für Offiziere keiner gesetzlichen Beschränkung mehr unterliegt. „Der Zweikampf, den ein Offizier herausfordert, d a r f . . . nur mit Pistolen und muss dann bis zur Kampfunfähigkeit ausgetragen werden." Auch in Bezug auf den Bildungsgang lehnt sich das Offizierkorps der nationalsozialistischen Wehrmacht eng 180

Altrichter: „Das Wesen der soldatischen Erziehung", S. 50. Oberst Foertsch: „Der Offizier der neuen Wehrmacht. Eine Pflichtenlehre", Berlin 1!>36, S. 25. m Leutnant von Forster hätte 1913 in einer Instruktionsstunde in Zabern die Elsässer als „Wackes" beschimpft und jedem Rekruten, der einen „Wackes" niedersteche, zehn Mark Belohnung in Aussicht gestellt. Das gab grosse Erregung in der Oeffcntlichkeit und Presse, und es gab Zusammenrottungen der Bevölkerung gegen Forster und das Militär. Der Belagerungszustand wurde verhängt. Im Reichstag gab es eine grosse Debatte. Forster wurde von seinem Vorgesetzten und den Militärbehörden gedeckt. ,3S „Der Offizier der neuen Wehrmacht", S. 26. ,m

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an die friderizianische Tradition an. Foertsch sagt: „Als Richtschnur kann dienen, dass der junge Offizier sich zunächst eine feste, gediegene Fachbildung anzueignen hat und öfter in seine Vorschriften als in philosophische Werke schaut." (S. 40.) Das entspricht dem Geiste Hindenburgs, der sich im Kriege rühmte, seit seiner Kadettenzeit kein schöngeistiges Buch gelesen zu haben. Ueber die mangelhafte Bildung der jüngeren Offiziere im Dritten Reich verstummen denn auch die Klagen manches Alten nicht. Das „Militär-Wochenblatt" vom 24. VI. 1938 beschäftigt sich im Leitartikel mit der Heranbildung des Offiziernachwuchses. Der Schreiber knüpft an eine Weisung Napoleons an seinen Kriegsminister an: „Sie schicken mir Offiziere, die der Spott der Leute sind, die Kinder s i n d . . . Schicken Sie mir Männer." Da vom Leutnant 1938 mehr verlangt werde als vom Leutnant 1910, müsse ihm, bevor er diesen Grad erreicht, „eine solidere Grundlage der Ausbildung auf den Lebens- und Dienstweg" mitgegeben werden. Die Ausbildungszeit bis zum Offizier dauert rund zwei Jahre. „Ein Jahr Dienst in der Truppe, 9 bis 10 Monate Kriegsschulzeit, anschliessend Waffenschulkommando, an dessen Ende etwa die Beförderung zum Leutnant erfolgt. Berücksichtigt man, dass die Gymnasialzeit von 9 auf 8 Jahre zurückgesetzt worden ist, so bleibt auch unter Einrechnung des einhalbjährigen Arbeitsdienstes für die Fahnenjunker ein Gewinn von einem halben Jahr bestehen." Der Schreiber bemerkt, dass in keinem anderen Berufe in einer derartig kurzen Ausbildungszeit ein erster Abschluss, wie ihn die Leutnantsbeförderung darstellt, erreicht werde. „Die Allgemeinbildung ist ausserordentlich mangelhaft." Derselbe Verfasser, der als Erzieher und Lehrer auf einer Kriegsschule spricht, ergreift im „Militär-Wochenblatt" vom 18. IX. 1938 erneut das Wort. „Auffallend war vielfach bei Fahnenjunkern", stellt der Schreiber fest, „die doch . . . im Besitz des Abiturientenzeugnisses waren, ein Mangel an logischem Denken." „Auffallend war weiterhin bei den letzten Fahnenjunkerjahrgängen ein geradezu unbeschreibbarer Hang zur Phrase . . . Zuweilen habe ich gestaunt, wie man Seiten füllen kann, ohne irgend, etwas Positives zu sagen. Möchte unsere höhere Schule in allen Fächern dieses Phrasendreschen mit allem Nachdruck bekämpfen." Auch die Rechtschreibung werde zuweilen nicht 191

beachtet. Wenn ein Erzieher künftiger Offiziere •wiederholt die Flucht in die Oeffentlichkeit ergreift, dann muss es um die Bildung des Offiziernachwuchses im Dritten Reich schlimm bestellt sein, was wiederum ganz der friderizianischen Tradition entsprechen würde, wo Kinder Offiziere wurden und es ihnen überlassen blieb, „ob und welche Schulkenntnisse sie mitbrachten oder sich aneignen wollten". Bei dem hohen Offizierbedarf im kommenden Kriege haben wir uns auch mit den Reserveoffizieren, den Offizieren des Beurlaubtenstandes (Offiziere d. B.), wie sie neuerdings genannt werden, zu beschäftigen. Wir hatten oben festgestellt, wie es in der wilhelminischen Armee gelungen war, das Reserveoffizierkorps ideologisch gänzlich mit dem aktiven zu verschmelzen. Ein gleiches Resultat erstrebt man natürlich auch im Dritten Reich. Die Auswahl ist, wie gesagt, in der Regel die gleiche wie vor dem Weltkriege, nur der Bildungsstand ist mangelhafter, dafür ist aber der besondere Standesgeist wie ehedem. Von den Offizieren d. B. wird verlangt, IM dass sie „nach Auffassung, Persönlichkeit und Lebenswandel den an Offiziere zu stellenden Anforderungen genügen. Ausserdem sind geordnete wirtschaftliche Verhältnisse, geachtete Lebensstellung und der Nachweis arischer Abstammung für die eigene Person und gegebenenfalls für die Ehefrau Vorbedingung". Die Wahl des Offiziers d. B. erfolgt durch die Offiziere des Truppenteils, bei dem die vorgeschriebenen Uebungen abgeleistet werden. Seinen gesellschaftlichen Verkehr hat der Offizier d. B. „vor allem in den führenden Schichten des Volkes zu suchen". „Es entspricht der Stellung des Reserveoffiziers mit ihrem Anspruch auf Führung und der in ihr enthaltenen Kampfidee, wenn er in Staat, Wirtschaft und Politik zu massgebendem Einfluss gelangt." Damit ist hinlänglich die Exklusivität auch für den Stand der Offiziere d. B. umrissen. Der Offizier d. B. untersteht natürlich auch dem Ehrenkodex des gesamten Offizierkorps. Den Geist der friderizianischen Tradition unterstreicht noch, wenn z. B. verlangt wird, dass der Vorgesetzte in der dritten Person anzusprechen ist. Dass der ™ Oertzen „Grundzüge der Wehrpolitik", S. 40. 131 Wir zitieren nach Altrichter: „Der Offizier des Beur'.aubtenslandes. Ein Handbuch für den Offizier und Offizieranwärter d. B. aller W a f f e n " , Berlin 193S.

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Offizier d. B. die Heiratsgenehmigung beim zuständigen Wehrinspektor einholen muss, sei der Kuriosität wegen noch bemerkt. Es sei noch kurz auf die in der Oeffentlichkeit wiederholt besprochenen Differenzen im Offizierkorps der nationalsozialistischen Wehrmacht eingegangen. Führer ehemals grosser politischer Parteien haben jahrelang ihre antihitlerische Politik darauf basiert. Es sei hier nur an den Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei erinnert. Noch heute hat man solche Spekulationen nicht gänzlich aufgegeben. Auf was stützten sich diese Spekulationen? In der ersten Phase der Hitler-Diktatur bestand tatsächlich ein politischer Gegensatz zwischen der damaligen Reichswehr und der Hitler-Diktatur. Was war seine Ursache? Das Offizierkorps war traditionell mit den Konservativen — den späteren Deutschnationalen — und mit den hinter dieser Partei stehenden Schichten der junkerlichen Agrarier, der Schwerindustrie und der höheren Bürokratie eng verbunden. Diese traditionelle Verbindung hatte sich in der Weimarer Republik nicht nur erhalten, sondern noch gefestigt. Durch die Kleinheit des Offizierkorps der Reichswehr wurde eine entsprechende strenge politische Auslese begünstigt. Die Sozialdemokratie, die Demokraten und das Zentrum, obwohl lange Zeit Regierungsparteien, hatten nie mehr als einige Konzessionsschulzen im Offizierkorps unterbringen können, die entweder bald hinausmanövriert wurden, oder rechtzeitig das Pferd wechselten. Die engeVersippung des Offizierkorps mit den Deutschnationalen und den extremsten unter ihnen, den Alldeutschen, machte es, und damit die Wehrmacht, zu deren politischem Instrument. Der erste grössere Versuch, mit diesem Instrument, ohne Massenbasis, nach der politischen Macht zu greifen, scheiterte im Kapp-Putsch 1920. Der zweite scheiterte 1932, als die Deutschnationalen, gestützt auf die Reichswehr und liebäugelnd mit den christlichen und freien Gewerkschaften, unter Papen und Schleicher die Diktatur der Wehrmacht zu etablieren versuchten. Und ein dritter Versuch scheiterte, als die Deutschnationalen im Januar 1933 versuchten, gestützt auf die Reichswehr und den Stahlhelm, sich der Massenbasis der Nationalsozialisten zu bedienen und deren Führer bei erstbester Gelegenheit auszubooten. Bei diesem Experiment unterlagen dieDeutsch13

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nationalen. Ihr politischer Kern — die Alldeutschen — wechselte die Taktik. Hitler erhielt die unumschränkte Gewalt, als feststand, dass er das Programm der Alldeutschen zu akzeptieren und durchzuführen bereit war. Der Pakt wurde im Juni 1934 begossen mit dem Blut einiger Exponenten der Reichswehr — Schleicher, Bredow usw. — und dem des Busenfreundes Hitlers — Röhm und vieler anderer. Damit waren alle Spekulationen darauf, die Wehrmacht als Ganzes politisch gegen die Hitler-Diktatur auszuspielen, wenn sie überhaupt jemals berechtigt waren bei Leuten, die im Offizierkorps tief gehasst waren und nie ein Ansehen bei den Offizieren hatten, hinfällig geworden. Aber die Gegensätze zwischen Wehrmacht und dem Nationalsozialismus, wenn auch in den Spitzen beseitigt, wirkten unten noch lange nach und sind heute noch vorhanden. So weit sie sich in den führenden Kreisen äussern, treten sie in der periodischen Abhalfterung höherer Offiziere zu Tage. Mit den dadurch geschaffenen Möglichkeiten rascheren Avancements bindet sich der Nationalsozialismus ergebene Offiziere in den höheren Kommandostellen. Die politische Ergebenheit der Karrieristen bürgt nur nicht für fachliches Können. Hierin liegt eine entscheidende Schwäche der nationalsozialistischen Wehrmacht, die sich nach unten in die Breite auswirkt. Die Offiziere der mittleren Grade, die infolge des öfteren Wechsels in den höheren Führerstellen und der Vergrösserung der Wehrmacht rasch avancieren, fühlen sich zumeist dem System verpflichtet, aber ihre militärische Qualität ist durch den raschen Aufstieg gemindert. Wie es um die Qualität der jungen Offiziere bestellt ist, haben wir oben gesehen. Sie sind natürlich dem System am stärksten verbunden, zumal sie am wenigsten mit einer vorhitlerischen politischen Tradition verknüpft sind. Es wäre aber falsch, das Offizierkorps schematisch als geschlossene, dem Nationalsozialismus blind ergebene Körperschaft anzusehen; ebenso falsch ist es, das Offizierkorps als Ganzes in politische Spekulationen-gegen den Nationalsozialismus einzubeziehen. Das Gros der jüngeren Offiziere sieht zumeist seine Wunschträume durch den Nationalsozialismus erfüllt und ist ihm, wenigstens äusserlicli, ergeben. Bei einem grossen Teil der Offiziere, die noch durch die wilhelminische Schule oder die der Reichswehr 194

gegangen sind und die heute mittlere und höhere Kommandostellen einnehmen, ist die konservative Tradition keineswegs ertötet. Sie haben sich nicht ausgesöhnt und werden sich innerlich nie aussöhnen mit den politischen Emporkömmlingen, die nicht „standesgemässer" Herkunft sind. Hier glimmt ein unversöhnlicher Hass, der an der Geschlossenheit des Offizierkorps nagt. Auf das Offizierkorps übertragen sich, gerade wegen seiner Breite, viel stärker als früher auch gesellschaftliche, politische, weltanschauliche und nationale Spannungen in der Gesamtbourgeoisie. Ein wichtiger Faktor ist hierbei zunächst, dass ein hoher Prozentsatz von Offizieren für die Elitetruppen aus industriellen und Technikerkreisen geholt werden muss. Bei den motorisierten und technischen Truppenformationen tritt ein Verhältnis der Offiziere zur Industrie ein wie es früher zwischen dem Gardeund Kavallerieoffizier und den agrarischen Junkern bestanden hat. Das bleibt dann nicht bei familiärer Versippung, sondern wird auch zur geschäftlichen. Es wäre kein geringes publizistisches Verdienst, diese doppelseitige Versippung im Einzelnen nachzuweisen. Hier tut sich also ein Gegensatz im Offizierkorps zwischen industriellèn und agrarischen Elementen auf, wie er schon im wilhelminischen Offizierkorps bestanden hat. Viele Offiziere der technischen Truppen kommen aus solchen Sektoren der Wirtschaft, die als „kriegsunwichtig" verkümmern. Diese Kategorie sieht im Offizierberuf die einzige Chance, wie einst der verarmte Adel, die „standesgemässe" gesellschaftliche Position zu retten. Sie stehen aber dem Regime mit starker Voreingenommenheit gegenüber, denn es verschuldete den Niedergang oder die Zerstörung der wirtschaftlichen Basis ihrer Familien. Von den Offizieren aus dem Mittelstand und Kleinbürgertum haben wir bereits gesprochen. Zu den aus wirtschaftlichen Ursachen resultierenden Spannungen kommen die politischen, weltanschaulichen und nationalen. An erster Stelle stehen heute wohl die religiösen Spannungen. Die evangelische Konfession war und ist besonders im preussischen, sächsischen und württembergischen Offizierkorps heimisch. Es ist kein Zufall, dass ein früherer U-Bootkommandant, Inhaber des Ordens pour le mérite, Pfarrer Niemöller, Führer der Bekenntnischristen ist, die den Kampf gegen die Gleichschaltung der 195

evangelischen Kirche mit grosser Energie und Beharrlichkeit führen. Niemöller sitzt längst im Konzentrationslager. Sein Kampf bleibt in den Kreisen der Offiziere nicht ohne Widerhall. Ebenso stehen die Offiziere aus den katholischen Gegenden der Verfolgung der katholischen Kirche durch den Nationalsozialismus nicht teilnahmlos gegenüber. Von den politischen Spannungen, soweit sie von konservativer Seite ausgehen, sprachen wir. Politische Spannungen anderer Art, ausgehend vom ehemaligen Zentrum, hängen eng mit den religiösen zusammen. Eine grosse Rolle werden in Zukunft die nationalen Spannungen im Offizierkorps spielen. Es sei denn, man lasse österreichische oder tschechoslowakische Formationen durch reichsdeutsche Offiziere kommandieren, was aber die nationale Leidenschaft der Mannschaften nur um so mehr entflammen würde. Zusammenfassend kommen wir zu der Feststellung: Die Wehrmacht des Dritten Reiches ist bemüht, aufbauend auf der Tradition des alten Offizierkorps, diese Tradition in etwas modernisiertem Gewand auf ihr Offizierkorps zu übertragen. In je stärkerem Masse ihr das gelingt, um so grösser wird die Distanz zu dem Vielmillionenheer und dem Volk in Waffen. Der Geschlossenheit auf der Basis dieser Tradition sind überdies abträglich die aufgezeigten Spannungen im Volk, die sich auf das Offizierkorps übertragen. Abträglich sind die uneinheitliche soziale Schichtung des Offizierkorps und die neu hinzugekommenen nationalen Gegensätze. Abträglich ist der Qualität des Offizierkorps der allgemeine Rückgang der bildungsmässigen Voraussetzungen des Nachwuchses, die Ungründlichkeit bei der Schnellausbildung. Dieses Offizierkorps der nationalsozialistischen Wehrmacht ist keine Garantie des Sieges, zumal es von vornherein mit einem viel stärkeren, wenn auch heute noch unter der Decke schwelenden Widerstand der Soldaten zu rechnen hat. Das Unteroffixierkorps

Zwischen dem Offizierkorps und den Mannschaften steht in einer Zwitterstellung das Unteroffizierkorps; wir gebrauchen hier den Ausdruck Korps, obwohl nichts darunter zu verstehen ist als eine Berufsschicht, soweit es sich um Berufsunteroffiziere handelt. Die Merkmale, die das Offizierkorps, einschliesslich der Reserveoffiziere, als eine 196

feste Gemeinschaft mit eigener Ideologie etc. charakterisieren, fehlen dem Unteroffizier völlig. Die soziale Herkunft des Unteroffiziers und die Gefahr, dass sich hier ein Gegenpol gegen das Offizierkorps bilden könnte, erlauben keinen korpsmässigen Zusammenschluss. Hesse sagt von dem Unteroffizierkorps, dass es eine „nicht ganz klare Zwischenstellung — halb Lehrer, halb Schüler" einnehme. Der Unteroffizier bildet seinem sozialen Herkommen nach mit der Mannschaft eine Einheit. In der Wehrmacht soll er eine Stellung über den Soldaten einnehmen; der Offizier, aus einer ganz anderen Gesellschaftsschicht kommend, distanziert sich streng vom Unteroffizier. In seiner „Wandlung des Soldaten" versucht Hesse den Unteroffizier als den „gehobenen Typ" gegenüber dem einfachen Soldaten hinzustellen, „wenn er auch seine Herkunft aus der Mannschaft niemals verleugnen kann". „Aber", fügt Hesse hinzu, „in gewisser Hinsicht muss er aber auch immer wieder mit diesen zusammen gesehen sein." Ist in Friedenszeiten das Vorgesetztenverhältnis der Unteroffiziere' noch aufrecht zu erhalten, indem man sie. wie Oertzen" 6 sagt, „vor oder nach ihrer Beförderung dem Kreise, in dem sie als Schütze lebten, zum mindesten auf J a h r und Tag entrückt", ist das im Kriege nicht mehr möglich, zumal man es dann nicht nur mit Berufsunteroffizieren, sondern mit einer weit grösseren Zahl von Reserveunteroffizieren zu tun hat. Und deren soziale und ideologische Verbindung zur Mannschaft kann durch kein „Entrücken" zerrissen werden. Im Gegenteil hockt im Kriege der Unteroffizier so eng beim Mann, dass das Vorgesetztenverhältnis kaum aufrecht zu erhalten ist. Aber von den Bedingungen des Krieges müssen wir sprechen, wenn wir feststellen wollen, ob das Unteroffizierkorps eine Sicherung für den Zusammenhalt des Massenheeres ist. Weniger kommt zu der Feststellung, „dass es trotz nachdrücklicher Bemühungen nicht gelang, im Kriege die friedensmässige Form der Achtungsbezeugungen vor den Unteroffizieren . . . und die strenge Trennung zwischen Unteroffizier und Mann durchzuführen . . . Die Macht der Verhältnisse war hier stärker als der Wille der Führung; im Felde gehörte der Unteroffizier offensichtlich mehr auf die Seite der Mannschaft." ,as

„Grundzüge der W e h r p o l i t i k " , S. 113.

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„Die Stellung des Unteroffiziers in der kämpfenden Truppe wie in der Erziehungsgemeinschaft der Wehrmacht stellt die schwierigsten Probleme, von denen man nicht sagen kann, dass sie schon einer glücklichen Lösung nahe wären Im Weltkriege wirkte sich aDer auch die scharfe Distanzierung des Offizierkorps vom Unteroffizier in der Beförderungsfrage aus. Vor allem betraf das die langgedienten Berufsunteroffiziere, denen Schulknaben als Leutnants übergeordnet waren. Der Unteroffizier konnte es bis zum Offizierstellvertreter bringen, nach zwölfjähriger aktiver Friedensdienstzeit in seltenen Fällen zum Feldwebelleutnant. „Die Stellung des Feldwebelleutnants war ausserordentlich unglücklich. Mit ihr waren nicht die Gerechtsame des richtigen Offiziers verbunden. Der Feldwebelleutnant rangierte trotz seines höheren Dienstalters und seiner grossen militärischen Erfahrung immer hinter dem jüngsten Leutnant." „Im deutschen Heere gab es zwar von früher her bereits die Bestimmung, dass Unteroffiziere wegen Tapferkeit vor dem Feinde zum Offizier befördert werden konnten. Im Weltkriege wurde von dieser Bestimmung aber so wenig Gebrauch gemacht, dass sie praktisch ohne Bedeutung blieb. Infolge der Unmöglichkeit, militärisch vorwärts zu kommen, trat bei den alten Unteroffizieren zum grossen Teil ein starker Stimmungsrückschlag ein. Sie verloren die Lust, ihr Leben aufs Spiel zu setzen und suchten sich auf alle mögliche Weise aus der Front zu den Ersatzbataillonen, in die Etappe oder die Verwaltung zu drücken. Ihre Unzufriedenheit nahm mit den Kriegsjahren immer mehr zu. Es war daher nicht erstaunlich, dass viele von ihnen in der Heimat den revolutionären Ideen ein offenes Ohr liehen, weil sie mit ihrer Hilfe die Verwirklichung ihrer Wünsche und Hoffnungen erwarteten. So kam es zu der bedauerlichen Erscheinung, dass nach Ausbruch der Revolution sich in der Heimat gerade viele alte Unteroffiziere an die Spitze der Soldatenratsbewegung stellten und die Hauptträger des militärischen Umsturzgedankens wurden." » »

a. a. O., S. 109.

mAltrichter:

S. 216/17.

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„Die seelischen Kräfte des Deutschen

Heeres...",

In den Beförderungsbestimmungen der nationalsozialistischen Wehrmacht ist dieser Kriegserfahrung augenscheinlich Rechnung getragen. Doch sind die Bestimmungen noch eng gezogen; es wird davon allenfalls im Kriege nach sorgfältigster Prüfung der zu Befördernden Gebrauch gemacht werden. Auf keinen Fall wird durch solche Beförderungen das Unteroffizierkorps zu dem Kitt werden, den es im Weltkriege darstellte, wo es — nicht das Offizierkorps — das Heer zusammenhielt. Als dieser Kitt aus den erwähnten Gründen brüchig wurde, vermochten auch die Offiziere den Zerfall des Heeres nicht aufzuhalten. Im kommenden Krieg ist die Bedeutung des Unteroffiziers noch höher als im Weltkriege. Das ist bedingt durch das zahlenmässige Anwachsen des Heeres, durch die höhere Bedeutung der kleineren Einheiten, die im modernen Gefecht häufiger selbständige Aufgaben durchzuführen haben und durch die komplizierteren Waffen, deren sichere Beherrschung nur bei Facharbeitern oder Berufssoldaten vorausgesetzt werden kann; das werden in der Regel nicht die Offiziere, sondern die Unteroffiziere sein. Damit hängt aufs engste zusammen, dass die Unteroffiziere heute vorzüglich aus der Industriearbeiterschaft oder dem Handwerk rekrutiert werden müssen, weil höhere Anforderungen an Intelligenz und technisches Können gestellt werden. In diesen Schichten — weniger beim typischen Kleinhandwerker — ist aber auch die Abneigung gegen den „Kommiss" grösser und traditionell, die Verbindung mit der dem Nationalsozialismus feindlichen Industriearbeiterschaft enger. Der Unteroffizierberuf wird deshalb im Dritten Reich als ein „lohnender" Beruf so verlockend als möglich gemacht. Einmal um den Bedarf überhaupt decken zu können, zweitens um Unteroffiziere aus den qualifizierten Arbeiterschichten zu gewinnen und drittens, um sie durch materielle Besserstellung und verlockende Versorgungsmöglichkeiten auch ideologisch aus ihrem Milieu zu lösen und sie an den Nationalsozialismus zu binden. Der sich zu zwölfjähriger Dienstzeit verpflichtende Soldat beginnt mit monatlich 118 RM. bei freier Wohnung. Dienstbekleidung und Verpflegung. Das Einkommen steigt während der zwölf Jahre bei entsprechender Beförderung auf monatlich 186 RM Mit 25 Jahren kann der Unteroffizier heiraten. Das Einkommen für verheiratete Unter199

Offiziere beträgt durchschnittlich 153 bis 233 RM. Dazu kommen Kinderzuschläge und freie Heilfürsorge für die Familie. Nach zwölf- oder mehrjähriger Dienstzeit gibt es eine Abfindung von 8000 RM. plus 1200—1800 RM. Dienstbelohnung, Kinderbeihilfen für drei Jahre etc. Bei Uebernahme eines landwirtschaftlichen Betriebes beträgt die Abfindung bis zu 15 000 RM. Bei Einschlagung der Beamtenlaufbahn werden entsprechend niedere Uebergangsbezüge gezahlt. Die Vorbereitungen für den Zivilberuf erfolgen kostenlos auf besonderen Wehrmachtsschulen. Die Beförderung im aktiven Dienst geht bis zum Oberfeldwebel. Nach der Entlassung aus der Wehrmacht können besonders geeignete Unteroffiziere mit zwölf und mehr Dienstjahren zum Offizier d. B. ernannt werden. Unteroffiziere, die auf Grund ihrer Anlagen und Leistungen die Gewähr bieten, vollwertige Offiziere zu werden, können in die aktive Offizierlaufbahn übernommen werden. Im Kriege geben dem Unteroffizierkorps nicht die Berufsunteroffiziere, sondern die Reserveunteroffiziere das Gepräge. Die Grenzen verwischen. Der Berufsunteroffizier kommt wieder in engen Kontakt mit Kameraden seines früheren sozialen Milieus. Er ist mit der Mannschaft genau so eng verbunden wie der Reserveunteroffizier, muss sich der Mannschaft weitgehend anpassen, insbesondere bei den technischen Truppen, wenn der „Laden klappen soll". Von der „glücklichen Lösung" des Unteroffizierproblems ist die nationalsozialistische Wehrmacht im Kriege genau so weit entfernt als es das wilhelminische Heer im Weltkrieg war. Sie ist aber vor den gleichen Erscheinungen noch weniger gefeit als das wilhelminische Heer. Wir wollen das Kapitel über die nationalsozialistische Wehrmacht nicht abschliessen ohne einige Erscheinungen zu erwähnen, die unsere Auffassung unterstreichen und für den inneren Zustand der Wehrmacht charakteristisch sind. Wir wählen Aeusserungen und Handlungen von Wehrmachtsangehörigen, die mit der Besetzung der Tschechoslowakei zusammenhängen. Es handelt sich da um ein Unternehmen, das hart an der Grenze des Krieges spielte und deshalb wichtige Schlüsse auf das Verhalten der Truppen im Kriegsfall zulässt. Unter diesem Gesichtspunkt gesehen sind folgende Erscheinungen aufschlussreich: 1. Die Truppen waren ohne jede Begeisterung; scheu und schuldbewusst hielten sie ihren Einzug in fremdes Ge200

biet. Hätte es sich um ein Unternehmen im Sinne eines gerechten Krieges gehandelt, musste „normalerweise" die Begeisterung überwiegen und jede Widerstandsregung ersticken. 2. Das Unternehmen wurde mit Kerntruppen durchgeführt; Mangel an Begeisterung und gar Widerstandsakte lassen daher besondere Schlüsse auf den inneren Zustand der Wehrmacht zu. 3. Die stärkste Missstimmung und die zahlreichsten Fälle von Unbotmässigkeit waren bei den technischen Formationen festzustellen; bei .Truppen also, die am sorgfältigsten ausgewählt sind und quasi das Herzblatt der Wehrmacht darstellen. 4. Unteroffiziere machten aus ihrer Kriegsabneigung kein Hehl; Subalternoffiziere übersahen geflissentlich Fälle von Subordination. Den Soldaten wurde im Herbst vorgelogen, es handle sich um die Befreiung Deutscher vom „tschechisch-bolschewistischen Terror" und im März: in der Tschechoslowakei müsse die bolschewistische Revolution niedergeschlagen werden. Das stärkste „Argument" der nationalsozialistischen Kriegslügenpropaganda musste herhalten. Hat es die Probe bestanden? Bei einem Teil, namentlich der jüngeren Soldaten, wirkte das Argument. Als sich an Ort und Stelle die Lüge herausstellte, waren viele von ihnen beschämt und entrüstet. Bei älteren Soldaten, namentlich bei technischen Truppen, hatte die offizielle Lügenlosung von vornherein die gegenteilige der beabsichtigten Wirkung. Wir greifen einige Soldatenberichte heraus: Von der Mobilmachung im September erzählt ein Soldat: „Von Kriegsbegeisterung war nichts zu merken. Die Stimmung blieb den Vorgesetzten nicht unbekannt. Feldwebel und Leutnants legten plötzlich ein sehr leutseliges Verhalten an den Tag. Das änderte unsere Meinung nicht. Der Regimentskommandeur forderte vor Verladung der Truppe in bewegten Worten auf, allen Zwist, alles Unangenehme der Vergangenheit zu vergessen. Jetzt müssten die Deutschen einig sein. — Wir lagen 10 Tage an der Grenze. Unsere Offiziere sagten, es gehe gegen die kleine Tschechoslowakei, die schnell überrannt sei, auch wenn sie Widerstand leiste. Die Mobilmachung anderer Staaten wurde uns verschwiegen." Ein Rekrut sagt, die Stimmung im Herbst war bei uns so, dass der Hauptmann verzweifelt schrie: „Gott bewahre uns, mit Euch Krieg führen zu müssen. Hätte der Kaiser solche Soldaten gehabt, wäre er nicht mal niu-h Flandern gekommen, geschweige denn nach 201

Frankreich." Bei einem württembergischen mobilen Truppenteil wurden kurz vor dem Münchener Abkommen die Offiziere ausgetauscht. Einer der neuen Offiziere sagte in der Ansprache an die Soldaten: „Ob gern oder ungern, Ihr seid nun mal Soldaten, genau so wie ich, und man muss der ungewissen Zukunft fest ins Auge sehen." Aus Frankfurt a.M. wird berichtet, dass die Stimmung auch in Offizierskreisen gedrückt war. Sie hofften, dass Hitler auch ohne Krieg sein Ziel erreichen werde. Aus Stuttgart wird von Verhaftungen von Offizieren berichtet, die über die tatsächliche Stimmung unter den Soldaten berichtet hatten. Ein Obergefreiter der Kraftfahrtruppe einer norddeutschen Garnison sagte über die Stimmung in den Septembertagen: „Alle Kameraden sagen, sie fahren mit ihren Fahrzeugen, solange das Benzin reicht. Wisst Ihr wohin? rüber zu den Russen! Von dieser Stimmung sind auch Unteroffiziere und Offiziere angesteckt. Glaubt nur nicht, dass wir für Hitlers Krieg sind!" Ein antifaschistischer Rekrut erzählt: „Bei der Besetzung der Sudetengebiete war in einigen Formationen starke Antikriegsstimmung. Es waren Flugblätter im Umlauf, die offen zur Desertion aufforderten. Die Gestapo nahm zahlreiche Verhaftungen vor. Zwei Mann einer Tankeinheit, bei denen ein Flugblatt gefunden wurde, waren unter den Verhafteten. Viele Tanks blieben beim Vormarsch stecken, es lagen Sabotageakte vor. Um das Ueberlaufen zu verhindern, legte man SS-Formationen vor unsere Linien." Ueber die Besetzung Prags berichtet ein Soldat: „Wie man uns belogen hat, sahen wir, als wir unmittelbar vor Prag weder Rauchwolken noch Flammen sahen. Man hatte uns gesagt, Prag stünde in Flammen. Oberleutnant B. hatte uns schon die Tage vorher erzählt, in P. gehe alles drunter und drüber, Strassenkämpfe seien im Gang und eine kommunistische Regierung terrorisiere das Volk. Einwohner sagten uns, dass alles ruhig sei, und wenn die Kommunisten regiert hätten, wäre die Republik verteidigt worden und kein deutscher Soldat hier." Artilleristen erklärten in einem Gespräch mit Arbeitern: „Wir wissen, dass Ihr uns nicht wollt. Aber glaubt Ihr, wir wären freiwillig gekommen?" Ein Soldat fragt einen Strassenbahnschaffner erstaunt : „Warum wart Ihr eigentlich so dumm und habt uns hereingelassen?" Reservisten schimpfen, dass man sie 202

aus ihrer Arbeit gerissen. „Was tun wir eigentlich hier? Wir haben hier nichts zu suchen. Es ist Zeit, dass -wir zurückfahren." „Man kann es den Leuten nicht übel nehmen", sagte ein dabeistehender Unteroffizier zum anderen. Ein Gefreiter unterhält sich mit seinen Kameraden: „Wir sollten doch froh sein, dass wir die Versailler Ketten los sind. Warum zwingen wir jetzt andere Völker? Mit einem neuen Krieg schaffen wir uns nur ein neues Versailles." Ueber aus der Tschechoslowakei' zurückgezogene Formationen wurde zunächst Urlaubs- und Besuchssperre verhängt, bis die Truppen wieder „in der Hand ihrer Führer" waren. Das wird von der Tankabwehrbatterie in Eberswalde und den nach Jüterbog und Luckenwalde verlegten Tank-, Funker- und Luftabwehrformationen berichtet. Den Soldaten war klar, dass diese Massnahmen verhindern sollen, dass die Wahrheit über die Tschechoslowakei unter der Bevölkerung bekannt werde. Wir haben aus einer Fülle von Berichten nur einige charakteristische Fälle im Telegrammstil herausgegriffen. Wir hüten uns davor, sie zu verallgemeinern. Es gibt genug Beispiele auch davon, dass namentlich jüngere Soldaten ganz von der nationalsozialistischen Propaganda verseucht sind und sich entsprechend, wie der grösste Teil der Offiziere, als „Sieger" in Feindesland aufspielten. Und dennoch lassen die von uns wiedergegebenen Berichte wichtige Schlüsse auf den Zustand der deutschen Wehrmacht zu. Denn im Ernstfall schwindet künstlich entfachte Begeisterung mit der Länge des Krieges, die Missstimmung aber wächst besonders rapid in einem von Volk und Armee als ungerecht empfundenen Krieg.

Die militärischen Sonderverbände Die militärischen Sonderverbände SA (Sturmabteilungen), SS (Schutzstaffeln), NSKK (Nationalsozialistisches Kraftfahr-Korps) und NSFK (Nationalsozialistisches Fliegerkorps) müssen als Teile der gesamten Wehrmachtsorganisation des Dritten Reiches gesehen werden. Sie stehen nicht mehr wie früher im Gegensatz zur Wehrmacht — wenn auch beiderseits die gegenseitigen Spannungen fortwirken — sondern bereiten zum Wehrmnchtsdienst durch 203

die militärische Jugendausbildung vor und führen den „nachmilitärischen Dienst" fort. Die militärischen Sonderverbände sind „Freiwilligen"Organisationen. Der „Freiwilligkeit" wird häufig durch wirtschaftlichen oder behördlichen Druck nachgeholfen. Als „Freiwilligen"-Organisationen kommt ihnen eine besondere militärische Bedeutung zu. Sie bilden den Nachwuchs für die kriegswichtigsten Wehrmachtteile heran und stellen, soweit sie sich mit dem „nachmilitärischen Dienst" befassen, selbständige Reserveformationen — mit Ausnahme der SA wiederum der kriegswichtigsten Wehrmachtteile — dar. In diesen militärischen Sonderverbänden will sich die nationalsozialistische Diktatur eine ergebene Prätorianergarde heranbilden und mit ihr die Wehrmacht durchsetzen. Das NSKK bildet den „ebenbürtigen Ersatz" für die „waffentechnisch und personell hochqualifizierten Verbände" von Hitlers motorisierter Stossarmee. Die mechanisierten und motorisierten Verbände stellen neben den Fliegerformationen und den Formationen für den chemischen Krieg die Kerntruppen einer modernen Armee dar. Ihre „Moral", ihre politische Zuverlässigkeit, ist von entscheidender Bedeutung für das Bestehen der Belastungsprobe der sie im Kriege unterworfen werden. Sie ist aber ebenso entscheidend für den Bestand des Dritten Reiches, das soziale Spannungen durch Konzentrationslager, Zuchthaus und Henkersbeil „auszugleichen" versucht. Durch sorgfältige soziale Auslese der Kerntruppen wird versucht, eine dem nationalsozialistischen Regime günstige „Moral" zu züchten. Beim NSKK wird durch emsig gezüchteten „Korpsgeist", dank einer weitgehenden sozialen Homogenität der Mitglieder, der „Zuverlässigkeitsfaktor" weitgehend erreicht. Die Mehrzahl der Angehörigen des NSKK kommt aus einer gegenüber der Arbeiterklasse schon etwas gehobenen sozialen Schicht. Ihr Einkommen „gestattet" ihnen die Haltung eines Kraftfahrzeuges, d. h. sie werden als Beamte und Angestellte zur Anschaffung gezwungen. Natürlich hat das NSKK auch Arbeiter als Mitglieder, die kein Fahrzeug besitzen, denen aber ihre Mitgliedschaft die Ausübung des Kraftfahrsports in irgendeiner Form erlaubt. Das NSKK muss auf solche Arbeiter in erheblichem Masse zurückgreifen, vor allem auf qualifizierte Arbeiter der AutoIndustrie, denn der kommende Krieg erfordert hundert204

tausende Soldaten, die ein Kraftfahrzeug beherrschen. Je weiter das NSKK auf Arbeiter zurückgreifen muss, um so mehr sinkt seine Bedeutung als „Sicherheitsfaktor". Das NSKK untersteht als selbständige Formation der direkten Befehlsgewalt des Obersten Befehlshabers der Wehrmacht — Adolf Hitler. Es umfasst annähernd eine halbe Million deutscher Kraftfahrer und ist in militärische Einheiten gegliedert: Inspektionen, Motorgruppen, Brigaden, Motor-Standarten (Regimenter), Motor-Staffeln (Bataillone), Motor-Stürme (Kompanien). Im Rahmen der Gesamtgliederung hat das NSKK selbständige Sanitäts-, Pionier- und Nachrichtenstürme und Gasschutztrupps. Der Ausbildungsbetrieb ist der Wehrmacht unterstellt. Das NSFK, als selbständige Organisation dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe unterstellt, hat auf dem Gebiet des Militärflugwesens die gleiche Aufgabe zu erfüllen wie das NSKK auf dem Gebiete der Motorisierung. Seine Mitgliederzahl wird mit einer halben Million angegeben. Die Mitglieder sind „in irgendeiner Weise Stütze und Förderer des deutschen Luftsportgedankens, sei es als Flugzeugführer und Flugschüler auf Motor- und Segelflugzeugen, als Beobachter, als Freiballonfahrer, als Männer der Technik und der Werkstatt". („Luftwelt", 8. XI. 1934.) Neben der vormilitärischen Ausbildung von Kriegsfliegern und technischem Personal obliegt dem NSFK die „nachmilitärische Schulung". Nach Ableistung der Dienstzeit bei der Flugwaffe kehren die Reservisten in das NSFK zurück. Ihre „nachmilitärische Schulung" erstreckt sich: 1. im Motorflug auf die Erhaltung der Flugfrische. Die fliegerische Einsatzbereitschaft wird bei den Flugbereitschaften der NSFK-Gruppen und -Standarten durchgeführt. Nichtflugzeugführern ist beim Segelflug fliegerische Betätigung gegeben; 2. bezüglich der Erhaltung der geistigen Kräfte auf die weltanschauliche Schulung; 3. darauf, die körperlichen Kräfte in sportlicher und wehrsportlicher Betätigung zu erhalten. Durch die „nachmilitärische Schulung" sollen die Reservisten in Kürze als Führer, Unterführer und Ausbilder wirken können."8 Eine ausreichende Sicherung der Flugwaffe des Dritten Reiches vor Einflüssen, die dem System nicht zuträglich sind, ist allerdings auch durch diesen vor- bis nachmilitärischen AusbildungsIM

„National-Zeitung", Essen, 6. II. 1939.

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gang nicht gegeben. Denn der Facharbeiterbedarf der Flugzeug- und Flugzeugmotorenfabriken ist gewaltig gestiegen. Das Verhältnis von Fliegern und Personal zur Instandhaltung von Flugzeugen wird mit 1:15 angegeben. Aus dem daraus ersichtlichen hohen Bedarf von qualifizierten Facharbeitern und dem grossen Verschleiss von Fliegern im Kriege wird für das Dritte Reich die Auswahl von Personal nach sozialer und politischer Zuverlässigkeit im Kriege ein unlösbares Problem, so sorgfältig sie heute betrieben sein mag. Der SS fällt als Polizeitruppe mit ausserordentlichen Vollmachten im Kriege die Aufgabe der Sicherung des Hinterlandes zu. Sie untersteht der unmittelbaren Befehlsgewalt Hitlers. In ihren polizeilichen Befugnissen ist sie auch der Wehrmacht übergeordnet und kann in deren Wirkungsbereich eingreifen. Das hat anlässlich der Teilmobilisierung im Herbst 1938 wiederholt zu starken Reibungen zwischen Offizieren der SS und der Wehrmacht geführt. Besonders aus Süddeutschland wurden solche Fälle bekannt. Die soziale und politische Auslese für die Angehörigen der SS wird, wie wir sahen, sehr sorgfältig vorgenommen. Ihr werden auch besondere Vorrechte gegenüber der Wehrmacht und den Sonderverbänden eingeräumt, die sie in dieser Hinsicht in den Rang der einstigen „Garderegimenter" der wilhelminischen Aera erheben. Der Einsatz dieser Truppe mit dem körperlich besten Menschenmaterial an der Front ist nicht vorgesehen. Das schafft fortgesetzt neuen Reibungsstoff zwischen SS und Wehrmacht. Ihre Sonderstellung bringt sie auch häufig in Gegensatz zur SA. Die SS ist als Prätorianergarde der HitlerDiktatur in allen Zweigen der Waffentechnik ausgebildet und dementsprechend in militärische Einheiten gegliedert. Sie ist auf den Krieg im Innern abgerichtet und besonders mit motorisierten Waffen ausgerüstet. Die Aufgaben der SA seien etwas näher umrissen, da es sich hier um den zahlenmässig stärksten militärischen Sonderverband handelt, der bei der Auswahl seiner Angehörigen daher auch am wenigsten wählerisch sein kann. Generalleutnant z. V. Schmidt-Logan gibt in einem Artikel im „Militär-Wochenblatt" (Heft 7/8, 1938) Aufschluss über die Aufgaben der SA. Er geht davon aus, dass nach Beendigung der Dienstzeit in der Wehrmacht der grösste Prozentsatz der gedienten Soldaten ausser den Reserve- und 206

Landwehrübungen nicht eri'assl werde, die „Erhaltung der Wehrfähigkeit" deshalb leide. „Nimmt man rund 25 Millionen Männer im Alter zwischen 18 und 60 Lebensjahren an und rechnet als Berufssoldaten (Offiziere, Unteroffiziere, Mililärbeamte usw.) etwa 1/10 Million, an Gliederungen der NSDAP (in denen für die Erhaltung der Wehrfähigkeit Sorge getragen wird), rund 2,5 Millionen, so bleiben bei diesen hochgegriffenen Zahlen immer noch fast 22,5 Millionen .Unerfasster' übrig . . . Was geschieht mit diesen ,Unerfassten'? . . . D i e Antwort hat der Führer am Reich spar t e i t a g . . . gegeben mit den Worten: ,Was früher vorübergehend zwei Jahre lang eine Schulung (1er Nation war, um dann im Leben und durch die politische Tätigkeit der Parteien wieder verloren zu gehen, das wird jetzt treuen Händen übergeben und aufbewahrt w e r d e n . . . ' ,Der Knabe, er wird eintreten in das Jungvolk, und der Pimpf, er wird kommen zur HitlerJugend, er wird dann einrücken in die SA, in die SS und die anderen Verbände und die SA-Männer und die SS-Männer werden eines Tages einrücken zum Arbeitsdienst und von dort zur Armee, und der Soldat des Volkes wird zurückkehren wieder in die Organisation der Bewegung der Partei, in SA und SS'." Die „Erhaltung der Wehrfähigkeit" der ausgedienten Jahrgänge soll durch Wiederholungsübungen für das SASportabzeichen, das jährlich neu erworben werden muss und die Verleihung eines Leistungsbuches als besondere Urkunde, ähnlich dem Militärpass, garantiert werden. Die Uebungen, die zum Erwerb des SA-Sportabzeichens berechtigen, sind in drei Gruppen geteilt. Gruppe I umfasst Leibesübungen (Leichtathletik) mit Mindestleistung und Punktwertung für drei Altersstufen: 18.—30., 31. bis 40. Lebensjahr und 41. Lebensjahr und älter. Gruppe II umfasst den Wehrsport und Gruppe III den Geländedienst. Die Ausbildungsgebiete entsprechen den Ausbildungsvorschriften der Wehrmacht. „Bis zur Ablegung der Prüfung . . . ist eine .vorbereitende Uebungszeit' abzuleisten. Diese dauert für Angehörige der SA, SS, des NSKK und RAD (Arbeitsdienst) mindestens 3 Monate und vollzieht sich in diesen Einheiten selbst. Für alle anderen Bewerber aber verteill sie sich auf mindestens 4 Monate und wird in ,SA-Sportgemeinschaften' (SAG) abgeleistet, wobei für 207

Gruppe I mindestens 15 Stunden, für Gruppe II und III mindestens 55 Stunden an etwa 5 Sonntagen und 18 Wochentagen zu verwenden sind." Die Steigerung und Erhaltung der körperlichen Leistungsfähigkeit ist natürlich nur ein Teil der Ausbildungsarbeit. Die Bindung des Deutschen im Dritten Reich von der Wiege bis zum Grab an irgend eine Teilorganisation der Gesamtkriegsmaschinerie, soll vor allem durch politische. Beeinflussung erreicht werden. Schmidt-Logan hebt das als ausdrückliche Aufgabe der SA hervor, die sie gerade durch die Uebungen für das SA-Sportabzeichen lösen soll. Zu diesem Zwecke „greift die SA weit über die eigenen Reihen hinaus", während die anderen Gliederungen der NSDAP sich auf ihre Sonderaufgaben beschränken. Eine Verfügung Hitlers vom 19. Januar 1939 über die „nachmilitärische Ausbildung durch die SA" unterstreicht das besonders. In den dazu erlassenen Ausführungsbestimmungen des Stabschefs der SA wird auch einiges über die „Freiwilligkeit" gesagt. „Während in der SA selbst das Prinzip der Freiwilligkeit selbstverständlich beibehalten wird, erfordert die nachmilitärische Ausbildung, schon um bei den einzelnen aus dem aktiven Wehrverhältnis entlassenen Soldaten im gesamten einen Gleichstand der Ausbildung zu erhalten, eine Verpflichtung. In dem Erlass des Führers heisst es deshalb, dass die aus dem aktiven Wehrdienst ehrenvoll ausscheidenden Soldaten in Wehrmannschaften einzureihen und der SA anzugliedern sind. Erfasst werden von dieser Bestimmung alle Angehörigen des Beurlaubtenstandes, soweit sie neuzeitlich ausgebildet sind und der Reserve oder Landwehr angehören." „Die praktische Wehrertüchtigung, die in der vor- und nachmilitärischen Ausbildung liegt, findet nach der theoretischen Seite hin in der SA ihre Ergänzung in der wehrgeistigen Erziehung, die nach wie vor die Grundlage wehrpolitischer Erfolge sein wird".13" Die Erfassung der ausgedienten Soldaten durch die SA oder ihre Sportgemeinschaften ist durch diese „Verpflichtung" obligatorisch. Schmidt-Logan schreibt, die SA erziehe nach drei Gesichtspunkten: „fanatische Vaterlandsliebe, überzeugte Vertreterin der nationalsozialistischen Idee — Wehrgeist; zu höchstem Angriffsgeist — WehrIW

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Zitiert nach der „ F r a n k f u r t e r Zeitung" vöm 4. I. 1939.

wille u n d . . . sportlich tadellos trainierte Körper — Wehrkraft". Stellrecht140 umschreibt den Zweck der nachmilitärischen Ausbildung wie folgt: „Es muss... eine Einrichtung da sein, in der der entlassene Soldat auch weiterhin aktiv ist, in der keine Atmosphäre der Ruhe, sondern der Spannung herrscht, in der sich jeder eingeschaltet fühlt . . . Zehn Jahre mindestens müssen die Leistungen der Zwanzigjährigen ungefähr erhalten werden, denn jeder Tag kann den Einsatz bringen, in dem alles in die Waagschale geworfen werden muss und zehn Jahrgänge in voller Kraft und Leistung des Körpers bringen die grosse Entscheidung." Noch ein anderer Zweck, auf den wir oben bereits hinwiesen, soll ausser der Erhaltung der militärischen Leistungsfähigkeit erreicht werden. Stellrecht schreibt: „Reserveformationen, bei denen die Leute sich nicht genau kennen, die miteinander in Reih und Glied stehen sollen, sind im Mobilmachungsfall Versager, und wenn der einzelne Mann noch so sehr auf der Höhe der Leistung wäre. W e r im Kriege in engster Gemeinschaft schon in den ersten entscheidenden Tagen zu kämpfen hat, muss in Friedenszeiten schon in Kameradschaft zusammenstehen . . . Diese grosse Aufgabe erfüllt nur eine grosse, vom Staat geschaffene und von den Männern und Führern der Reserve getragene Einrichtung, die jeden gedienten Soldaten erfasst..." Damit ist der Charakter der SA und der anderen militärischen Sonderformationen als mobile Reserven, die in kürzester Zeit als vollwertige, geschlossene Formationen im Kriegsfalle eingesetzt werden können, zugegeben. Die der Wehrmachtsgliederung analoge Gliederung der militärischen Sonderverbände unterstreicht unsere Feststellung. Und nur von diesem Gesichtspunkt der ständigen Bereithaltung von ca. 2 1/2 Millionen Soldaten ausser der Wehrmacht ist die Verfügung Hitlers vom Januar 1939 über die nachmilitärische Ausbildung durch die SA verständlich, die den exklusiven Rahmen dieses Sonderverbandes sprengt — also keine Rücksicht mehr auf die soziale und politische Zusammensetzung nimmt — um für den nahen Kriegsfall ein schlagbereites Millionenheer zu haben. Aber durch die breite Erfassung der Massen ausgedienter Soldaten verliert a. a. O., S. 152 f f .

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die SA auch an Bedeutung als politische Stütze des nationalsozialistischen Regimes. Denn die übergrosse Mehrheit kommt nicht freiwillig, sondern mit Widerstreben. Anzeichen dieses Widerstrebens und zum Teil Widerstandes gegen die militärischen Sonderverbände, besonders gegen die SA gibt es schon heute. Ein 80-Millionen-VoIk lässt sich nicht dahin erziehen, dass das Soldatspielen zur Manie wird. Die Auflehnung gegen den fortgesetzten militärischen Betrieb äussert sich in einer Fülle von Entlassungsgesuchen, die an die SAFührungen gestellt werden. Wo ihnen nicht stattgegeben wird, meiden SA-Männer die Veranstaltungen solange, bis sie ausgeschlossen werden. Die jüngeren Leute ziehen vor, zur Sportorganisation zu gehen, um einen plausiblen Vorwand zum „Drücken" vor der SA zu haben. Bei den älteren SA-Männern wirken wirtschaftliche Enttäuschungen sehr stark. Die SA-Männer, die vor 1933 in der SA organisiert waren, hatten in den Jahren der permanenten Erwerbslosigkeit in der SA zum Teil eine unmittelbare Hilfe, durch Zuschüsse, die diesen Knüppelgarden des MonopolKapitals gezahlt wurden. Vor allem aber hat ein grosser Prozentsatz von ihnen die sozialen Phrasen und Versprechungen, mit denen die Nazis freigebig um sich •warfen, ernst genommen und erwartete nach der Etablierung der Nazi-Diktatur einen Aufstieg aus der Misere durch ein Pöstchen, und wäre es noch so klein. Die Enttäuschung dieser Erwartung verschnupfte gerade die „alten Kämpfer". Die Reaktion waren zum Teil offene Rebellionen. Die Röhmiade vom 30. Juni 1934 stützte sich auf solche Elemente. Die „Reinigungsaktionen" in der SA richten sich immer wieder gegen die „alten Kämpfer", die von Jahr zu Jahr rarer werden. Soweit sie nicht erschossen oder im Konzentrationslager gelandet sind, stehen sie mürrisch bei Seite oder tun widerwillig Dienst, stets aus sozialer Enttäuschung grollend. Ihre Erbitterung richtet sich gegen das „Bonzentum", gegen die, die ihnen die Posten weggeschnappt haben. Heute führen in der SA die Elemente das Wort, die nach 1933 zu ihr kamen. Die Verbitterung der „alten Kämpfer" ist auch häufig der Anlass zu Reibungen mit der SS und anderen Sonderverbänden, deren Mitglieder zum Teil aus einem anderen sozialen Milieu kommen, zum Teil Sondervorteile in der Uniformierung, in der grösseren Beachtung in der Oef210

fcnllichkeit gemessen und in den SA-Männern den „Revolutionär" wittern. Zur dienstlichen Belastung kommt beim SA-Mann die materielle. Arbeitet er im Betrieb, verdient er wöchentlich 30.— bis 40.— Mark. Von diesem Geld muss er ausser Steuern und sozialen Lasten die Beiträge für die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, für die Arbeitsfront, die Partei bestreiten, und ausserdem noch seine Uniform bezahlen. Das gibt Reibungen in der Familie und häufig im Betrieb, wo der SA-Mann nicht selten zu den Elementen gehört, die ihrer Erbitterung in der Weise Luft machen, dass sie mit anderen für bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen eintreten, nicht zuletzt deshalb, weil sie die von der NSDAP aus demagogischen Gründen gemachten Versprechungen noch ernst nehmen, oder sie als Demagogie enthüllen wollen. Es gibt zahlreiche Fälle, wo sich SA-Männer bewusst zum Sprecher ihrer Arbeitskollegen machen, weil ihnen ihre Uniform eine gewisse Tarnung ist. Die neuen Aufgaben, die der SA heute im Rahmen der militärischen Mobilisierung des Volkes zugewiesen sind, werden sie erst recht zu Herden des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Diktatur machen, denn zu den enttäuschten und verbitterten „alten Kämpfern" kommen jetzt auch die prinzipiellen Gegner des Dritten Reiches. Gegen eine solcherart durchsetzte „Reserveformation" hilft letzten Endes auch keine SS und Gestapo. Aus der Geburtshelferin der nationalsozialistischen Diktatur kann ihre Totengräberin werden. Immerhin hat die nationalsozialistische Wehrmacht in den militärischen Sonderverbänden — ausser der SA — insoweit eine zuverlässige Stütze, als sich ihre Mitglieder aus wirklich Freiwilligen rekrutieren, die eine weitgehende innere Bereitschaft, die nationalsozialistische Lehre aufzunehmen und ihr entsprechend zu handeln, mitbringen. Sie sind der nationalsozialistischen Propaganda zugänglich, daher auch Werkzeuge der nationalsozialistischen Politik. Sie unterliegen aber auch eher der allgemeinen Volksstimmung und deren Schwankungen, denn sie sind nicht vom Volk abgesondert, wie der Arbeitsdienstmann im Lager oder der Soldat in der Kaserne. Sie sind nicht nur Soldat, sondern in den meisten Fällen zugleich Industriearbeiter und können sich von deren Sinnen und Trachten nicht losreissen.

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Der Luftschutz Der Verschleiss an „seelischer Widerstandskraft" ist im kommenden Krieg grösser als im Weltkrieg und wirkt besonders verheerend dort, wo sie bereits im Vorkriegsstadium über die Massen in Anspruch genommen wurde. Der moderne Krieg bringt aber für das Volk eine zusätzliche seelische Belastung. Es ist durch die Flugwaffe der Wirkung der Kampfhandlung unmittelbar und fortwährend ausgesetzt, auch wenn sich die Landheere längst in festen Fronten gegenüberstehen. Die Waffenwirkung vermehrt also die durch Entbehrungen, gesteigerte Arbeitsleistung und Sorgen um die Angehörigen im Heere verursachte seelische Belastung der Volksmassen. Weder die Erfahrungen aus dem Weltkrieg, noch die aus den Kriegen in Abessinien, China und Spanien lassen die Wirkung von Flugzeug-Grossangriffen auf die seelische Widerstandskraft eines Volkes in einem Kriege zwischen hochgerüsteten Grossmächten erkennen. Linnebach 1,1 meint, dass solche Flugzeug-Grossangriffe auf die Lebenszentren eines Volkes „entweder Panik, völlige Lähmung des Willens, oder Aufpeitschung des Widerstands- und Vergeltungswillens bis zur Weissglut, Erwecken von Kräften und Leidenschaften, die sonst nicht wirksam geworden wären", erzeugen. Das ist im allgemeinen zutreffend. Mit Sicherheit ist aber auch anzunehmen, dass ein.Volk, dessen seelische Widerstandskraft schon vor dem Kriege geschwächt und das im Kriege seiner Regierung nicht seinen Krieg sieht, viel eher und schneller der Panik, der Lähmung des Willens als der Aufpeitschung des Widerstandswillens unterliegt. Diese Wahrscheinlichkeit ist um so mehr gegeben, als die Schlüsselposition der seelischen Front des Volkes — der zivile Luftschutz — in der Hauptsache von dem Teil der Bevölkerung gehalten werden soll, der am wenigsten widerstandsdisponiert und -präpariert ist: von den Frauen, Greisen, unmündiger Jugend, Kranken und Invalideii. Bevor wir die Organisation des Luftschutzes und seine Möglichkeit behandeln, sei einiges über die „Luftempfindlichkeit" Deutschlands und über die Wirkung von Flugzeugangriffen gesagt. Wir stellen dabei in Rechnung, dass 141

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„Ueber die Kriegsentscheidung". In „Wehrgedanken", S. 20.

die „Wehrpsychologie" zu lavieren hat zwischen dem Bemühen, in der Bevölkerung Angstgefühle vor Flugzeugangriffen hervorzurufen, um Abwehrkräfte zu wecken, und der Sorge, dass die Angstgefühle widerstandslähmend wirken; die Gefahren werden deshalb bagatellisiert, die Möglichkeiten des Schutzes gegen Flugzeugangriffe übertrieben. Wir können deshalb, ohne uns der Uebertreibung nach irgendeiner Seite hin schuldig zu machen, unserer Darstellung über die „Luftempfindlichkeit" Deutschlands und die Wirkung von i'lugzeugangriffen Angaben aus nationalsozialistischen Quellen zugrunde legen. Generalleutnant, von Roques, m Präsident des Reichsluftschutzbundes sagt, dass Deutschland der luftgefährdetste und luftempfindlichste aller Staaten in Europa sei. „Im Verlauf von knapp einer Stunde kann jeder Ort in Deutschland durch Kampfflugzeuge von der benachbarten Grenze angegriffen werden." Erhöht wird die Verwundbarkeit noch durch die Lage der wichtigsten Grossstädte und Industriezentren. „Fast zwei Drittel der deutschen Bevölkerung lebt in Städten mit über 50 000 Einwohnern. Auch die Zahl der Grossstädte mit über 250 000 Einwohnern und die der Riesenstädte mit über 500 000 ist weit grösser als in einem anderen europäischen Lande. Eng verbunden mit der Bevölkerungsdichte ist die Bebauungsdichte, die das Verhältnis der mit Häusern, Strassen, Plätzen bebauten zu der unbebauten Fläche angibt." Die Luftgefährdung wird aus den gewaltigen Luftrüstungen der anderen Staaten abgeleitet. Frankreich habe eine starke Luftwaffe. „Heute steht Sowjetrussland an erster Stelle. England verstärkt seine Luftwaffe materiell und personell in ungeahntem Ausmass." Einiges sei noch über die Wirkung der Flugwaffe gesagt. Die Flugwaffe wirkt durch Abwurf von Brisanz-, Gas- und Brandbomben, von Flugblättern, durch Absetzung von Fallschirminfanterie zum Zwecke des Kampfes, der Sabotage oder Propaganda. Der Einsatz von Bombenfliegern erfolgt in Tag- und Nachtangriffen in regelmässigen Intervallen. Bei Tages10 „Militärwissenschaftliche Rundschau", Heft 2, 1938. v. Roques wurde Ende Mai 1939 unter „Beförderung" zum Ehrenpräsidenten des Reichsluftschutzbundes seines Präsidentenpostens enthoben und durch General der Flakartillerie v. Schröder ersetzt.

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angriffen werden vorzüglich geschlossene Geschwader angesetzt, nachts, wegen der Rammgefahr, Einzelflugzeuge, die sich mit geringen Zeitabständen folgen. Die Angriffe werden — je nach Grösse lind Art des Zieles und der feindlichen Abwehr — als Hochangriffe oder, gegen lebende Ziele, als Tiefangriffe geführt. An Bombenarten werden entweder Splitterbomben von 8—12 kg, leichte oder schwere Minenbomben von 50 bis 500 kg, Gasbomben entsprechenden Gewichts oder Brandbomben zu 1 bis 2 kg mitgeführt. Der Abwurf erfolgt im Einzel-, Reihen- oder Massenwurf. Ein Flugzeug kann gleichzeitig mit sich f ü h r e n : 2 Bomben ä 500, 10 ä 200, 10 ä 100 und 300 bis 500 Brandbomben ä 1—2 kg. Ueber die Wirkung der Sprengbomben können folgende Zahlen als Anhaltspunkte dienen: Bei Abwurfhöhe von 5000 m durchschlägt eine Bombe von 250 kg eine Panzerstärke von 129 mm, bei 6000 m 143 mm, bei 7000 m 154 mm, eine Bombe von 500 kg bei gleichen Abwurfhöhen 170, 180 und 203 mm. Die Durchschlagskraft der Bomben wird um das Drei- bis Vierfache erhöht, wenn sie von Sturzbombern im Sturzflug abgeworfen werden. Die heute bei Bombardierungen von Städten angewandten Bomben im Gewicht von 250 bis 500 kg, vom Sturzboniber aus 5000 m abgeworfen, erfordern eine Panzerung von 5 bis 6,5 m. Die furchtbare Zerstörungskraft der schweren Sprengbomben, die vor allem auf dem ungeheuren, bei der Detonation erzeugten Luftdruck beruht, wird erhellt, wenn man weiss, dass eine 500 bis 1000 kg-Bombe einen ganzen Häuserblock zum Einsturz bringen kann, auch wenn sie nur in der Nähe zur Explosion kommt. Gleichzeitig mit Sprengbomben werden gewöhnliche Brandbomben auf Städte oder Industrieanlagen abgeworfen. Zur Vernichtung von Ernten auf dem Halm oder Wäldern kommen ausschliesslich Brandbomben zur Verwendung; es kann auch eine Vergiftung durch Gasbomben herbeigeführt werden. Ein normales Bombenflugzeug kann 1000 bis 3000 Brandbomben tragen, die ein sehr geringes Gewicht haben. Sie sind mit Stoffen gefüllt, die bei der Verbrennung Temperaturen von 2000 bis 3000 Grad entwickeln. Wasser löscht die Brände nicht, sondern vermehrt die Brandgefahr. Giftgase werden durch Gasbombenabwurf oder durch Abregnen flüssigen Kampfstoffes an den Mann gebracht. 214

Es werden in der Hauptsache drei Gruppen unterschieden: a) Reizstoffe, dazu gehören Tränengase, die die Schleimhäute der Augen angreifen und die Blaukreuzgase, die auf Nasen- und Rachenschleimhäute wirken; b) die Grünkreuzgruppe, die erstickende Gase wie Chlor und Phosgen umfassen; c) die Gelbkreuzgase, ätzende Kampfstoffe, bekannt als Senfgas, Yperit, Lewisit usw. Obwohl es sich bei den Giftgasen um eine der furchtbarsten Waffen des kommenden Krieges handelt, wird ihre verheerende Wirkung den Massen verschwiegen. „Denken wir nicht an die schaurig anzusehenden Bilder mancher Zeitschriften über Gasangriffe", schrieb die „Pommersche Zeitung" (Nr. 66, 1934). Gäbe es einen wirksamen Schutz gegen Giftgase, dann wäre kein Anlass, darüber zu schweigen. Denn man schweigt ja auch nicht über die Brandbekämpfung. Wir stellen in Rechnung, dass Vergasung von grossen Gebieten Grenzen gesetzt sind. Im kommenden Krieg werden jedoch mit Spreng- und Brandbomben auch gleichzeitig Gasbomben abgeworfen. Giftgase dringen in jeden Unterstand und Keller und halten sich dort monatelang. „Stellen wir uns die Folgen eines Gasangriffs auf eine Stadt mit dichter Bevölkerung vor: Panik, die grausamsten Lungenkrankheiten, der verborgene Schrecken der Bevölkerung, die vielen Vergiftungsarten, Folgen gewisser Gase, die sich erst nach Tagen, ja selbst erst nach Wochen auswirken. Dies alles . . . wird nicht verfehlen, Katastrophen zu verursachen, die sich die menschliche Einbildungskraft unmöglich vorstellen kann." Diese Worte schrieb Oberstleutnant Bölke vor Jahren an Professor Haber, den Vater des Gaskrieges. Die Panik stiftende Wirkung des Giftgases ist um so stärker, je weniger die Bevölkerung mit der Frage der Gaskampfstoffwirkung vertraut ist. In der Unkenntnis der Bevölkerung über die Wirkung der Gaskampfstoffe liegt tatsächlich noch eine Möglichkeit der Wirksamkeit der militärischen Ueberraschung. Diese wenigen Anhaltspunkte über Einsatz und Wirkung der Luftwaffe sind unerlässlich, um den Wert des Luftschutzes ermessen zu können. 1,3 "* Die Angaben über die Wirkung der Flugwaffe sind der Zeitschrift „Sirene", dem „Luftschutzmerkblatt" Nr. 2 und einem Artikel des Generalmajors a. D. Häftcr in „Wie würde ein neuer Krieg aussehen?" entnommen.

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Ueber eines sind sich alle militärischen Fachleuteeinig: Einen Schutz gegen Flugzeugangriffe gibt es nicht! Roques zitiert zur Bekräftigung dieser Tatsache ein Wort Görings: „Wenn wir eine Luftflotte noch so gross aufbauen würden, wenn wir an allen Ecken und Enden Zehntausende von Kanonen und Maschinengewehren aufstellen würden, um den deutschen Luftraum zu verteidigen, so würde das niemals ausreichen, um unserem Volke einen wirklichen Schutz zu gewähren." In diesem Falle spricht Göring die Wahrheit. Damit ist das Urteil über den aktiven Luftschutz gesprochen, der von militärischen Sonderformationen ausgeübt wird und sich in der Abwehr feindlicher Flugzeuge durch Tarn-, Beobachtungs- und Alar iiidien st, Abwehr durch eigene Flugzeuge, Fesselballonsperren, Flugzeugabwehrgcschiitze und -maschinengewehre erschöpft. Die Abwehr durch den aktiven Luftschutz kann Flugzeugangriffe abschwächcn, aber nicht verhindern. Das Schwergewicht der Minderung materieller und moralischer Wirkung, hervorgerufen durch Flugzeugangriffe, liegt beim passiven oder zivilen Luftschutz. Unter sein Aufgabengebiet fallen zur Sicherung: Bau, Einrichtung und Unterhaltung von Unterständen, vorbeugende Brandschutzmassnahmen, vorbeugende Gasschutzmassnahmen, Organisierung des Warndienstes, im Falle von Flugzeugangriffen Ueberwachung der Abbiendung, Unterbringung der Bevölkerung in den Luftschutzräumen, Helferdienste bei Bränden, Gas- und Wasserrohrbrüchen, Bergung Verwundeter und Toter, Helferdienste bei Schutzmassnahmen nach Gasangriffen aus der Luft. Der aktive Luftschutz vermag die Bevölkerung vor Luftangriffen nicht zu schützen. Und der passive Luftschutz bietet Sicherung nur in sehr beschränktem Umfange. Der bauliche Luftschutz, auf den die Bevölkerung am meisten Hoffnung setzt, gibt nur unzulänglichen Schutz. Ministerialrat im Reichsluftfahrtministerium, Dr. Ing. Schossberger sagt das sehr offenherzig in einem Aufsatz in „Technik und Betrieb" (16. VII. 1936): „Die baulichen Luftschutzmassnahmen erstrecken sich neben den Vorkehrungen zur Verhütung der Brandgefahr, in der Hauptsache auf die Herrichtun« von Schutzräumen. Diese Schutzraumbauten berücksichtigen aus wirtschaftlichen Gründen bewusst nicht den Volltreffer, jedoch wehren sie die mittel216

baren Wirkungen ab und stellen daher den wirtschaftlich tragbaren und erreichbaren Schutz dar." Der gleiche Dr. Ing. Schossberger schreibt in der Zeitschrift des Reichsluftschutzbundes „Sirene" (Heft 14, 193(5): „Der Schutzraum hat die Aufgabe, die Menschen vor den verschiedenen Wirkungen von Luftangriffsmitteln zu schätzen. Im zivilen Luftschutz verzichtet man dabei bewusst auf einen Schutz gegen Volltreffer von Sprengbomben, da dieser Schutz zu teuer wäre." Es wird also im Dritten Reich bewusst auf ausreichenden Schutz der Zivilbevölkerung vor Flugzeugangriffen verzichtet, angeblich weil es zu teuer ist. Dabei wären die Mittel durch Sonderbesteuerung der Unternehmer und hohen Einkommen in weitgehendem Masse aufzubringen. Der Masse des Volkes wird der Verzicht auf ausreichenden Schutz natürlich nicht zur Kenntnis gebracht. In dem Fall wird die Gefahr bagatellisiert: Nicht jede Bombe sei ein Volltreffer. Aber in dichtbesiedelten Räumen, wie in den Grossstädten, ist eine Bombe nur selten kein Volltreffer. Je mehr ein Volk in dieser Beziehung heute im Kriege von einer sich klug und weise dünkenden „Wehrpsychologie" irregeführt wird, um so verheerender ist die Reaktion des Volkes im Ernstfall. Aber den deutschen Wehrpsychologen ist vor feindlichen Luftangriffen gar nicht so bange. Sie gewinnen ihnen sogar „gute" Seiten ab. Im Dritten Reich gibt es Mediziner, die sich prostituieren und den Abdruck von Beiträgen in ihren wissenschaftlichen Zeitschriften zulassen, in denen „bewiesen" wird, dass im grossen Durchschnitt durch Bombenangriffe feindlicher Flugzeuge eine günstige rassische Auslese in der Zivilbevölkerung stattfinde. Ein Major Erich Suchsland vom Reichsluftfahrtministerium schreibt im „Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie" (Bd. XXX, 1936)"' über „die Verluste der Zivilbevölkerung durch Luftangriffe in ihrer volksgesundheitlichen Auswirkung". Suchsland sagt, dass schon bei Beginn des Krieges durch mehr oder weniger zweckmässiges Verhalten sich rassisch Wertvollere von rassisch Minderwertigen unterscheiden. ;44 Wir verdanken diesen Hinweis einem deutschen Arzt, der uns darauf a u f m e r k s a m macht, dass einer der Herausgeber der Zeitschrift Professor Ernst Fischer ist, einer der prominentesten deutschen Anthropologen und Direktor des Kaiser-Wilhelin-Instituts.

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„Die Wirkung der Auslese durch Erbanlagen geht etwa folgenderinassen vor sich: Die Besten kommen allein auf das, was zu tun ist und richten sich danach. Diese werden am wenigsten zahlreich sein. Die Nächstbesten weiden die von öffentlicher und privater Seite gegebeneil Winke und Anweisungen befolgen. Von da ab stuft sich der Schutz des Einzelnen in dem gleichen Masse ab, wie die geistige Möglichkeit abnimmt, die gegebenen Winke und Anweisungen für sich nutzbar zu machen, bis er bei den geistig Minderwertigen — hier im weiteren Sinne gemeint und nicht auf sogenannte Geisteskranke beschränkt — mehr oder weniger ganz aufhört und unzweckmässiges Verhalten überwiegt. Die Verluste werden also in ganz grossen Zügen — Ausnahmen im Einzelfalle natürlich immer wahrscheinlich — in dem Grade zunehmen, wie die Begabung abnimmt. So bedauerlich vom menschlichen Standpunkt jeder einzelne Verlust ist, die Rassenhygiene kann mit dieser Verteilung einverstanden sein." Dieser Zynismus kann nicht überboten werden und eine solche „wissenschaftliche" Leistung bedarf keines Kommentars. Dem damit zum Ausdruck gebrachten sozialen Denken der Kriegstreiber im Dritten Reich begegnen wir immer wieder. Besonders empfindlich wird eines Tages die Reaktion des Volkes auf eine derartige Verhöhnung sein, .besonders in grossen Rüstungsbetrieben. Denn nicht nur in den Städten wird auf wirksamen baulichen Luftschutz verzichtet, sondern auch in den Grossbetrieben. Dr. Ing. Schossberger sagt darüber: „In Ausnahmefällen muss ein Teil einer Belegschaft einen erhöhten Schutz erhalten. Dann werden Schutzräume gebaut, welche auch gegen Volltreffer von Sprengbomben bis zu einem bestimmten Gewicht sicher sind. Der Bau derartiger Schutzräume ist z. B. für die Werkluftschittzleitung, Befehlsstellen und für einzelne Trupps des aktiven Luftschutzes unter Umständen ratsam. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine Decke, die gegen 100 kg schwere Bomben sichern soll, aus einer 80 cm bis 1 m dicken Eisenbetonplatte bestehen muss. Volltreffersichere Schutzräume liegen wesentlich tiefer unter der Erde, als die splitter- und trümmersicheren Anlagen des zivilen Luftschutzes. Eine Erddeckung von mindestens 4 m wird bei einem Schutzraum, der gegen 300 kg schwere Spreng218

bomben schützen soll, aussei- den entsprechend stärkeren Eisenbetonplatten, nötig sein." Bei diesem bewussten Verzicht auf ausreichenden baulichen Luftschutz für die Belegschaften von Grossbetrieben kann man sich leicht die Rückwirkungen auf die Produktionsleistung und die politische Haltung der Rüstungsarbeiter nach einem oder einigen Flugzeugangriffen auf rheinische, süddeutsche, sächsische oder schlesische Industriezentren vorstellen. Der Reichsluftschutzbund lenkt bewusst vom baulichen Luftschutz ab. Denn ausser aus Mangel an Rohstoffen, Beton und Eisen, erklärt sich das Dritte Reich aus finanziellen Gründen ausserstande, das Problem des volltreffersicheren Schutzraumbaues zu lösen. Er erfordert pro Kopf eine Ausgabe von 100 bis 200 Mark. Die Bevölkerung wird, wie gesagt, von diesem entscheidenden Problem der Sicherung abgelenkt und mit Brandschutzübungen, Bodenentrümpelung etc. beschäftigt. Im Ernstfall wird es nur so sein, dass die Zahl derer zu zählen ist, die sich bei einem Bombardement auf dem Dachboden neben der Sandkiste aufhalten. Die Bodenentrümpelung wird mehr zur Behebung des heute schon brennenden Rohstoffmangels im Dritten Reich durchgeführt. Gegen Giftgase ist die Bevölkerung einer Grossstadt noch weniger zu schützen als gegen Sprengbomben. Selbst wenn die gesamte Bevölkerung mit Gasmasken ausgestattet sein würde, ist das kein ausreichender Schutz gegen schwere Gase. Gegen Senfgase z. B. schützt bekanntlich ausser einer besonders konstruierten Maske nur eine besondere Schutzkleidung (Schutzanzüge, Gummistiefel etc.). Nicht einmal der Hilfs- und Sicherheitsdienst wird im Dritten Reich damit ausgestattet. Interessant ist eine Antwort der „Sirene" (Heft 5, 1939) auf eine diesbezügliche Anfrage. Ein Herr L. v. d. T. fragt, ob es zulässig sei, dass Sicherheits- und Hilfsdienstkräfte des Luftschutzes nur mit gewöhnlichen Volksgasmasken ausgerüstet sind. Ihm wird geantwortet, dass das genüge, da an Jugendliche und das weibliche Personal im allgemeinen nicht die gleichen Anforderungen gestellt würden wie an das männliche Personal über 16 Jahre. Also auch im Gasschutz mangelnder Schutz für die Volksmassen, selbst für Jugendliche und Frauen, die im Kriege das Hauptkontingent des zivilen Luftschutzes zu stellen haben. 219

Diese etwas eingehendere Darstellung der praktischen Massnahmen des zivilen Luftschutzes war nötig, um darzulegen, dass dem Gros der Luftangriffen ausgesetzten Bevölkerung im Dritten Reich kein wirksamer Schutz geboten wird, weder durch den aktiven, noch durch den passiven Luftschutz. Diese Tatsachen erhöhen aber die Gefahr der Panik unter der Bevölkerung bei Flugzeugangriffen. Davor haben die Ideologen des totalen Krieges die grösste Angst. Denn die Panik kann, „im örtlich beschränkten Raum entstehend, sich in überraschend kurzer Zeit auf andere Teile des Kampfgebietes ausdehnen..., ja auch auf ein ganzes Volk. In Zukunft liegt das Schlachtfeld des Luftkrieges überall, sowohl bei den auf der Erde kämpfenden Armeen, als auch im Hinterland, in der Heimat, über und in allen Städten, die der Bomber erreicht. Also ist auch überall in jeder Stadt die Gefahr einer Panik vorhanden dann, wenn das Volk nicht seelisch zur Festigkeit und zur praktischen Abwehr .. . erzogen ist".145 Die Aufgaben, das Volk seelisch zur Festigkeit und zur. praktischen Abwehr gegen Luftangriffe zu erziehen, hat im Dritten Reich der Reichsluftschutzbund (RLB) zu erfüllen. Die „waffenlose Millionenarmee zum Schutze der Heimat" nennt ihn Roques. Da man ihr keine wirklichen Waffen und keinen tatsächlichen Schutz liefern kann, werden „seelische Waffen" geliefert. „Diese seelischen Waffen s i n d . . . von einer solch entscheidenden Wichtigkeit in einem Zukunftskriege, dass kein Staat der Welt mehr Krieg zu führen wagen kann, der nicht auch über diese seelischen Waffen verfügt." Der RLB, eine der grössten nationalsozialistischen Zwangsorganisationen, dem Reichsluftfahrtminister unterstellt, gejit bei seiner Arbeit von dem Rezept des Wehrpsychologen Pintschovius aus, dass die Bevölkerung „wie eine weiche Masse" zu formen ist, wenn „man sie planmässig vor öffentliche Gewohnheitseindrücke stellt". Generalmajor a. D. Häfter"" sagt, dass genau wie beim Heere viele Jahre der Mühe und Arbeit darauf verwendet würden, die Soldaten auf den Krieg vorzubereiten, auch die Bevölkerung eines Landes auf den Luftkrieg vorbereitet werden müsse. 145

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Häfter in „Wie würde ein neuer Krieg aussehen?" a. a. 0., S. 205.

Nach dem Reichsluftschutzgesetz vom 26. VI. 1935 sind alle Deutschen zu Dienst- und Sachleistungen, die zur Durchführung des Luftschutzes erforderlich sind, verpflichtet. Nach einer Entscheidung des Reichsministers für kirchliche Angelegenheiten und des Luftfahrtministers vom 24. II. 1939 unterliegen selbst die katholischen Geistlichen der allgemeinen Dienstpflicht " für den Luftschutz. Der RLB ist die zentrale Organisation des Dritten Reiches für den zivilen Luftschutz. Die Mitgliederzahl des RLB wird zwischen 12 und 13 Millionen angegeben. Er verfügt über 6000 bis 6500 Amtsträger, 3400 Luftschutzschulen, 500 Luftschutz-Hauptschulen und 28000 Hauptlehrer. Das Organ, die „Sirene" erscheint wöchentlich in einer Auflage von 420 000. Der Mindestjahresbeitrag beträgt pro Mitglied 1.— Mark. (Die Angaben sind der „Sirene" entnommen.) Die ausschlaggebende Rolle im RLB ist der Frau zugedacht. Ueber 70 Prozent der Selbstschutzkräfte sollen aus den Frauen rekrutiert werden. Die Frau „muss im Kriege an Stelle ihres an der Front kämpfenden oder in kriegs- und lebenswichtigen Betrieben arbeitenden Mannes für die Sicherheit und den Schutz ihres Hauses und ihrer Familie einstehen. Auf ihre Mitarbeit können wir nicht nur nicht verzichten, sondern ich behaupte: Mit der opferwilligen Einsatzbereitschaft der deutschen Frau steht und fällt der qanze Luftschutz-Selbstschutz", schreibt Generalleutnant v. Roques. Neben den Frauen ist ein starker Einsatz von Jugend*liehen als Laienhelfer beim Brandschutz und als Melder vorgesehen. Die Heranziehung Jugendlicher zum Luftschutz erfolgt durch polizeiliche Verfügung. „Bei Jugendlichen im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren wird eine Bekanntgabe an den gesetzlichen Vertreter nur dann notwendig sein, wenn mangelnde Reife der Jugendlichen diese Massnahme zweckmässig erscheinen lässt." (Erlass des Reichsluftfahrtministers vom 28. IX. 1938.) Die Abwälzung der Hauptlast des zivilen Luftschutzes auf die Schultern von Millionen Frauen vermehrt die Möglichkeit von Paniken bei Luftangriffen, zumal das Dritte Reich beim Luftschutz selbst auf schwangere Frauen keine Rücksicht nimmt. Ein Erlass Görings be221

stimmt, class von den Luftschutzübungen und Lehrgängen grundsätzlich nur schwangere Frauen vom siebenten Monat der Schwangerschaft an befreit sind. („Frankfurter Zeitung", 28. IX. 1938.) Tausende von Frauen mögen durch Uebungen für die Aufgaben des Luftschutzes die nötige Eignung erhalten. Wer sich einbildet, dass Millionen von Frauen den Anforderungen genügen, die ein Luftbombardement grossen Stils an die körperliche und nervliche Widerstandskraft des Einzelnen stellt, der hat keine Ahnung von der Wirkung eines solchen Bombardements. DieFrauen sind zudem als Arbeiterinnen an Stelle eingezogener Männer tätig, haben die Sorge um Kinder und Männer, um die Lebensmittelversorgung der Familie, usw. In einem längeren Jirieg bei sich immer wiederholenden Bombardements wird die „seelische Front" den ersten und tiefsten Knacks in den Organisationen erhalten, deren Hauptträger die werktätige Frau ist. Das sei nicht in einem der Frau abträglichen, sondern in einem sie ehrenden Sinn festgestellt. Es muss noch auf einige andere schwache Stellen des Luftschutzes hingewiesen werden. Eine typische Erscheinung des modernen Krieges ist, wie wir bereits an anderer Stelle festgestellt haben, der Menschenmangel, vor allem der Mangel an Arbeitskräften. Die Frau wird deshalb, unter rücksichtsloser Missachtung der Familie, in den Produktionsprozess eingereiht. Steht sie im Betrieb, kann sie, ebensowenig wie der Arbeiter, gleichzeitig die Aufgabe als Trägerin des zivilen Luftschutzes ausüben. Die Erfordernisse der unausgesetzten Produktion von Kriegsmaterial entziehen dem zivilen Luftschutz seine wichtigsten Funktionäre. Das vermehrt die Möglichkeiten der Panik unter der Bevölkerung — der die Betreuung fehlt — und in den Betrieben, weil die Frauen das begreifliche Verlangen haben, sich um ihre Kinder zu kümmern und deshalb aus den Betrieben heraus drängen. Die Produktion, die unter Arbeitermangel leidet, wird durch Luftalarme gemindert. Possonjf schreibt darüber: ..Am wichtigsten in dieser Beziehung sind aber die durch — richtige oder falsche — Luftalarme erzwungenen Arbeitsunterbrechungen, die notwendigen kleineren Instandsetzungsarbeiten, die Hilfsluftschutzdienste, die Verbesserungen und Neubauten von Luftschutzräumen, die ununterbrochen nötigen Verschiebungen gewisser Produktionsanlagen, kurz jede Vergeudung und Unterlassung der Ar222

bell, welche durch den Krieg gegen die Zivilbevölkerung erzwungen werden." (a. a. O., S. 90.) Namentlich bei unzureichendem baulichem Luftschutz in den Betrieben sind Diskussionen nach Bombardements in den Luftschutzräumen und den Werkstätten nicht zu vermeiden. Das Bestreben, länger im Luftschutzraum zu bleiben oder beim ersten Alarmzeichen in den Unterstand zu kommen, und zwar in den sicheren, kann namentlich in den Grossbetrieben ernste Konflikte heraufbeschwören. Auf die Dauer vermehren Zwangsmassnahmen nur den Konfliktsstoff. Heute schon gibt es bei Luftschutzübungen im Dritten Reich lebhafte Diskussionen, wenn die Funktionäre des Luftschutzes die Arbeiter beim Alarm zwingen, am Arbeitsplatz zu bleiben, mit dem Hinweis, dass im Ernstfalle die Produktion nicht unterbrochen werden dürfe. Gegen diese Konfliktsmöglichkeit hilft auch die vorgesehene Bewaffnung der Führer bis zu den Truppführern einschliesslich und der Ordner in den öffentlichen Luftschutzräumen, der Werkluftschutzleiter und der Betriebsluftschutzleiter und deren Ernennung zu Hilfspolizeibeamten, wie das ein Erlass vom Reichsluftfahrtminister (27. VIII. 1938) vorsieht, nichts. Die angedeuteten Konfliktsmöglichkeiten anlässlich feindlicher Luftangriffe werden sich in einem Staate wie Deutschland besonders stark auswirken, weil erstens die Zusammenballung der Bevölkerung in dicht an den Grenzen liegenden Industriezentren und Grossstädten zu Luftangriffen besonders einladet, weil zweitens der Luftschutz aus „wirtschaftlichen Gründen" für die Masse der Bevölkerung unzulänglich ist und weil drittens die Massen der Werktätigen mit Hass und Empörung gegen die Machthaber des Dritten Reiches geladen sind. Der staatliche RLB wird eher ein Herd des organisierten Widerstandes der Opposition gegen den totalen Krieg des Dritten Reiches werden als ein Schutz und Schild der Interessen des deutschen Trust- und Monopolkapitals und seiner Erobererinteressen. Die von Deutschland angegriffenen Staaten werden nichts unterlassen, sich diesen Schwächezustand der seelischen Front zu Nutze zu machen durch ausgiebige Belegung der Städte und Industriezentren mit Propagandamaterial und eventuell auch durch Absetzung von Fallschirminfanterietrupps und von Propagandisten. 223

Von der Wirkung feindlicher Fallschirminfantcric versprechen sich die Militärs im Dritten Reich nichts Gutes. Ruprecht schreibt in dem oben erwähnten Artikel („MilitärWochenblatt", 12. VIII. 1938), man kann „nicht bestreiten, dass einzelne in der Dunkelheit im Rücken des feindlichen Heeres mit Fallschirmen gelandete Soldaten durch Sprengungen, Anzünden von Bauerngehöften, Scheunen und Rohstoff!agern in einem Staat, der mit Versorgungsschwierigkeiten zu kämpfen hat, einen erheblichen Beitrag zur Erreichung des Kriegszweckes leisten können. Während daher der Einsatz von Fallschirminfanteristen in einem Krieg gegen Russland keinen dem Kostenaufwand entsprechenden Erfolg verspricht, ist er z. B. in einem Krieg gegen England oder Deutschland durchaus wahrscheinlich." Und in der vorausgegangenen Nummer derselben Zeitschrift schreibt Generalleutnant a. D. Marx von dem „ungeheuren seelischen Eindruck, den die Fallschirmschützen in einem zukünftigen Kriege ausüben werden.. . Man braucht in einem zukünftigen Krieg wohl nur einige leere Fallschirme aus Flugzeugen absinken zu lassen, und es werden sämtliche Feldbäckereikolonnen in der nächsten Nacht ihre Privatschlacht hinter der Front schlagen . . . Man darf solche Dinge nicht unterschätzen — sie können die Bewegungsfähigkeit einer ganzen Armee lähmen, wenn sie die Verpflegung verzögern!" Zu der Angst vor der Fallschirminfanterie gesellt sich die Angst vor der Wirkung der durch fremde Fliegei1 abgeworfenen Flugblätter im kommenden Krieg oder vor abgesetzten Propagandisten. In den Luftschutzübungen des Dritten Reiches spielt diese Sorge in der jüngsten Zeit eine grosse Rolle. In einem Luftschutzkursus in Berlin erklärte der Lehrer, nach dem Warnsignal dürfe niemand mehr in der Strasse herumlaufen. Der Feind werde in Zivil gekleidete Propagandisten durch Fallschirme absetzen, deshalb werde nach dem zweiten Signal auf jeden geschossen, der noch auf der Strasse sei. In einem anderen Kursus in Berlin wurde gesagt, vom Ausland brauche man nichts zu fürchten, denn das hätte kein Geld für Bomben. Aber Russland werde keinen Sprengstoff, sondern Flugblätter abwerfen. Das wäre sehr gefährlich, denn der innere Feind sei auch noch da. Dasselbe Thema wurde in einem dritten Kursus behandelt. Auf die Frage, was an den Flugblättern so gefährlich sei, schwieg der Lehrer. In Westdeutschland 224

wurde in einem Luftschutzkursus von feindlichen Flugblättern als dem gefährlichsten Gift gewarnt, dagegen gäbe es keine Gasmasken. Jeder sei verpflichtet, die Flugblätter sofort zu sammeln und ungelesen abzuliefern. In einem anderen Kursus im selben Gebiet wurde vor russischen Propagandisten gewarnt, die durch Fallschirme abgesetzt würden und in der Sprache von einem Deutschen nicht zu unterscheiden wären. Man dürfe deshalb im Kriege mit keinem fremden Menschen sprechen und noch weniger dürfe man ihm Unterkunft geben. In Stuttgart erklärte ein Kursusleiter: „Fallschirmspringer aus bolschewistischen Flugzeugen müssen erschlagen werden wie tolle Hunde." Eine alte Frau meinte: „Wie kann ich einen bewaffneten jungen Mann erschlagen. Man soll uns lieber Pistolen geben." „Da hat man keine Kontrolle, was damit geschieht", antwortete der Leiter. Interessant sind auch die Methoden des passiven Widerstandes der Bevölkerung im Dritten Reich gegen den Luftschutz. Aus Westdeutschland liegen uns Berichte vor, wonach die Bauern unter dem Vorwand, dass die Feldarbeit drängt, die Luftschutzveranstaltungen meiden. In einer rheinischen Stadt liefen die Frauen, die eine Brandbombe löschen sollten, davon. In einem Berliner Kursus verliessen die Frauen aus Protest den Unterricht, weil sie nicht wie Rekruten behandelt sein wollten. Bei einer Uebung im Freien verlangten Frauen Abstimmung darüber, ob die Uebung in der Kälte stattfinden solle. Die Uebung wurde trotz Protestes des Uebungsleiters nicht durchgeführt. In einem Berliner Stadtteil wurden die Frauen im Luftschutzkursus angehalten, die Gesinnung der Nachbarn auszuschnüffeln. Als Begründung wurde angegeben, die Frauen seien die besten Kenner der Stimmung in der Bevölkerung, und im Kriege gäbe es nicht genug Polizei. Die Frauen protestierten, sie seien weder Polizisten noch Spitzel. Eine grosse Rolle in dem passiven Widerstand der Bevölkerung spielt die Finanzfrage. Immer wieder wird gefragt, was mit den Beiträgen für den RLB geschähe, wenn nicht genug und keine richtigen Luftschutzräume gebaut würden. Wo das Geld 'denn hinkäme. Der Kauf der Volksgasmaske wird aus finanziellen Gründen abgelehnt. „Wenn der Führer keinen Krieg will, brauchen wir das alles gar nicht." Diese Berichte kommen aus dem Lande. Sie geben Vorkommnisse aus den Monaten Januar-Februar 1939 wie15

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der und sind eine treffliche Illustration dafür, -wie es am die Geschlossenheit der seelischen Front im Dritten Reich in Wirklichkeit bestellt ist. Die in der „Sirene", dem Organ des RLB und in der deutschen Presse laufend veröffentlichten Gerichtsurteile gegen Bürger, die den Luftschutzdienst ablehnen, sind eine hinreichende Bestätigung für unsere Berichte, aus denen wir einen kleinen Auszug gaben.

Die militarisierte Arbeitskraft Der Schwerpunkt der Entscheidung im kommenden Krieg liegt eher in der Arbeitskraft als beim fechtenden Teil der Wehrmacht, also nicht in, sondern ausserhalb der Wehrmacht. Die Versorgung von Armee und Volk verlangt ein vielfaches Uebergewicht der Arbeitskraft über die Wehrmacht; Sieg oder Niederlage ist mindestens ebenso stark abhängig von der Arbeitswilligkeit der Arbeiter wie vom Kampfwillen der Soldaten. Nach diesen beiden Gesichtspunkten: Arbeiterbedarf und Arbeitswilligkeit wollen wir im folgenden das Problem der Arbeitskraft im Dritten Reich untersuchen. Die hohe Bedeutung der Arbeitskraft im modernen Krieg geht aus dem zahlenmässigen Verhältnis zwischen Frontkämpfern und Arbeitern hervor, das zwischen 1 : 7 bis 8 und 1 : 17 bis 20 angenommen wird. Bereits im Weltkriege zeigte sich dieser neuartige Zug des modernen Krieges. Die vor dem Weltkrieg geltenden Ansichten über den Krieg waren nach rückwärts orientiert, entsprachen in vielem noch dem Geist des Krieges von 1870/71. Der russisch-japanische Krieg und die Balkankriege warfen zwar in vielem schon die Schatten des kommenden Krieges voraus. Aber die Notwendigkeit, dass die gesamte Wirtschaft eines kriegführenden Landes dem Kriege dienstbar gemacht werden muss, dämmerte den Strategen wie den Wirtschaftlern und Politikern erst, nachdem die Illusion des „Blitzkrieges" gescheitert war. In allen Ländern, die 1914 in den Krieg eingriffen, zeigte sich die gleiche Unvorbereitetheit der Wirtschaft auf einen langen Krieg. Ueberall folgte der Mobilmachung ein erster Schock und eine Desorganisation der Wirtschaft, nicht zuletzt veranlasst durch den Entzug der Arbeitskräfte und durch den Mangel an Facharbeitern. Die mangelnde Arbeitskraft blieb den ganzen Krieg 226

hindurch das ungelöste Problem der Kriegführung. Gegen Ende des Krieges, mit der Zunahme des Gewichtes der komplizierten Waffen, der Ersatzstoffwirtschaft, die zusätzliche Arbeitskraft benötigt, mit dem grossen Ausfall von qualifizierten Facharbeitern durch Verluste im Felde, durch höheren Bedarf an Ausfuhrwaren als Aequivalent für kriegswichtige Rohstoffe, die vom Ausland bezogen werden mussten, durch gesunkene Leistung infolge von Unterernährung und Kriegsmüdigkeit, zog der Faktor Arbeitskraft die Waagschale der Entscheidung immer tiefer zugunsten der Niederlage herab. Das Bemühen, den Mangel an Arbeitskraft durch gekaufte Arbeitsleistung neutraler Staaten auszugleichen, war durch die Blockade stark eingeengt. In welch entscheidender Weise die Front im Weltkriege durch den hohen Bedarf von Arbeitskräften für Industrie, Bergbau, Verkehr, Landwirtschaft, usw. geschwächt wurde, geht daraus hervor, dass in Deutschland noch am 1. Januar 1918 2 154 387 Mann vom Heeresdienst zurückgestellt waren, darunter 1 097 108 Frontdienstverwendungsfähige; es waren zu dieser Zeit 250 000 Mann mehr in den Fabriken als am 1. Januar 1917. Im ersten Vierteljahr 1918 wurden 30 000 Mann aus der Kriegsindustrie für den Frontdienst herausgezogen, dagegen stieg die Zahl der Zurückgestellten in der gleichen Zeit um 123 000 Mann."' Der Bedarf an Arbeitskraft überwog immer mehr und stand in stetem Widerstreit mit dem Bedarf an Frontsoldaten. „Die Rüstungsindustrie verlangte Arbeiter, das Heer rief nach Ersatz. Die beiden Forderungen standen dauernd im Gegensatz zueinander."149 Nicht nur der Mangel an Arbeitskraft, sondern ebensosehr der Mangel an Arbeitswilligkeit bereitete Schwierigkeiten. Wie beides ineinandergreift, schildert Ludendorff auf Grund der Weltkriegserfahrung: „Dieses Heinisenden von Arbeitskräften stellte sich als ein gefährliches Mittel heraus. Es führte neben der zunehmenden Verhetzung von weiten Teilen der Arbeiterschaft dahin, dass die Arbeiter sozusagen ,auf der Stelle' arbeiteten und damit in der Arbeitsleistung erheblich nachliessen. Die Arbeitsleistung wurde geringer, der Ruf nach mehr Arbeitskräften ertönte fortgesetzt. Die gegen die Arbeitsminderung unmittelbar Hentig, a. a. O., S. 112. General a. D. von Kühl. '» „Der totale Krieg", S. 46.

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eingreifenden Behörden wussten nun nichts besseres zu tun, als dass sie die Rädelsführer der .Unzufriedenen' in das Feld sandten, was zum Niedergang der seelischen Spannkraft des Heeres nicht unerheblich beigetragen hat. Gerade hier trat das Fehlen der seelischen Geschlossenheit des Volkes und einer geeigneten Gegenwirkung scharf in die Erscheinung . . . Noch schwerer wurden diese Missstände, als der Mann an der Front zu hören bekam, wie gut seine Arbeitskameraden aus der Friedenszeit gelöhnt wurden, und sie für ihre Familien sorgen konnten, während er selbst hierzu bei geringem Lohn nicht in der Lage war." Die Arbeitskraft ist heute mehr als im Weltkriege zu einem erstrangigen militärischen Faktor geworden. Dementsprechend erfolgt ihre Organisation und ihr Einsatz nach militärischen Gesichtspunkten: als Arbeitsarmee. „Die Wehrpflicht ist als eine totale, also auch den Arbeitsprozess berührende, aufzufassen. Hieraus ergibt sich die Forderung nach der Vorbereitung gesetzlicher Massnahmen für die Umgestaltung des Arbeitsverhältnisses und der Lohnbedingungen." 150 Das während des Weltkrieges eingeführte Hilfsdienstgesetz war der erste Versuch, die Arbeitskraft in eine militärische Form zu bringen. Das Dritte Reich hat im Geiste des totalen Krieges, vom ersten Tage seiner Existenz an, die Arbeitskraft nach militärischen Erfordernissen organisiert. Der erste Schritt auf diesem Wege war die Zerschlagung der Gewerkschaften und die zunächst freiwillige Erfassung der Arbeiter in der Arbeitsfront. Der nächste entscheidende Schritt war die Etablierung der Arbeitsfront als obligatorische Zwangsorganisation für alle Lohn- und Gehaltsempfänger, und die Einführung des Verhältnisses von Führer und Gefolgschaft im Betrieb. Die Uebertragung militärischer Formen und militärischer Terminologie auf das Verhältnis zwischen Arbeiter und Unternehmer ist nichts Nebensächliches. Sie drückt hier aus, dass sich im Dritten Reich dieses Verhältnis gegenüber früher und gegenüber nichtfaschistischen, kapitalistischen Ländern geändert hat. Die Arbeitskraft ist restlos militarisiert. Das Verhältnis von „Führer" und „Gefolgschaft" im Betrieb entspricht dem Verhältnis von Offizier und Mannschaft im Heere. Der Betriebsführer-Offizier ist vom totalen Staat bestellter Vorgesetzter und Exploiteur der „Militärwissenschnftlichc

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Rundschau",

Heft 3, 1936.

„Betriebs-Gefolgschaft" für seine persönliche Rechnung in einer Person; diese Stellung entspricht etwa der des JunkerOffiziers als Kompaniechef im friderizianischen Heere und Gutsbesitzers in der Feudalwirtschaft zugleich, übertragen auf die Verhältnisse der modernen kapitalistischen Wirtschaft und des totalen Staates. Mit dieser Form der Militarisierung der Arbeitskraft wird bezweckt, die Stellung des Arbeiters der des Soldaten anzugleichen, in der bedingungslosen Unterordnung und in der Entlohnung. Das militärische Unterordnungsverhältnis gibt die gesetzliche Basis, dem Arbeiter die Hände zu binden und das Militärstrafgesetz gegen ihn anzuwenden. In der Entlohnungsfrage will man heute schon bewirken, dass die Spanne zwischen Arbeiterlohn und Soldatenlöhnung ausgeglichen wird, um eine der Quellen der Unzufriedenheit an der Front, auf die Ludendorff hinweist, zu verstopfen. Man hält zu diesem Zweck die Arbeitslöhne mit Gewalt niedrig und verhängt Strafen gegen Arbeiter, die die Stellung um höheren Lohnes willen wechseln, und gegen Unternehmer, die sich bei dem Facharbeitermangel die Arbeitskräfte gegenseitig abjagen, indem sie höhere Löhne anbieten. Das ist die eine Seite der Lohnfrage. Der Betriebsführer-Offizier zieht aus dieser Art der Militarisierung der Arbeitskraft noch den Vorteil, seine Profitrate wesentlich erhöhen zu können. In der reinsten Form ist das Prinzip der Militarisierung der Arbeitskraft im Arbeitsdienst durchgeführt, der — wie wir sahen — die eigentliche Rekrutenschule für die Arbeitsarmee des Dritten Reiches ist, in der die geistige Präparierung der Arbeiter-Soldaten erfolgen soll. In diese Kategorie der Militarisierung der Arbeitskraft gehört auch der Landdienst der weiblichen und männlichen Jugend, der der Arbeiterflucht vom Lande steuern soll. Die Formierung der Arbeiterarmee ist nicht so leicht durchzuführen wie die des Heeres. Weder in der Organisationsform noch in den Erziehungsmethoden gibt es bei der Militarisierung der Arbeitskraft ein eingefahrenes System. Versuche, die Methoden des Heeres auf die Organisierung der Arbeitskraft anzuwenden, haben von vornherein wenig Aussicht auf Erfolg. Jedenfalls raten selbst die Ideologen der nationalsozialistischen Wehrmacht zur grössten Vorsicht. Noch vor Jahren haben sie die Frage der Militarisierung der Arbeitskraft erst tastend gestolll. 229

Denn es kommt vor allem auf die Erhaltung der Arbeitswilligkeit an. So schreibt Hentig:151 „Die Arbeitswilligkeit dieser Material-produzierenden Volkshälfte ist genau von der gleichen Bedeutung wie die Kampfwilligkeit der Materialutilisatoren. Die Arbeitswilligkeit ist ein militärischer Faktor, für die der Feldherr die Verantwortung nicht auf die Zivilisten abwälzen darf. Die Arbeitsdisposition aber entzieht sich dem blossen ,Befehl'. Zu ihrer Erhaltung und Steigerung bedarf es feinerer Mittel. Hier in der Heimat wird nicht um ein Stück Land, um krafterhaltende, körperliche und seelische Momente gekämpft. Krass ausgedrückt geht hier der Kampf um Magen, Nerven und Uterus." Pintschovius5B betont, dass die Behandlung der Rüstungsarbeiter manche wehrpsychologische Frage aufwirft. „Der Gesichtspunkt militärischer Löhnung und militärischen Dienstverhältnisses ist viel erörtert worden. Unter allen Umständen muss jeder Anlass zum Neid ausgeschaltet und dafür gesorgt werden, dass ein Arbeitsethos gesichert ist, durch das die Arbeitswilligkeit als militärischer Faktor gewährleistet ist. Es ist wichtig, mit der psychologischen Behandlung des Arbeitsverhältnisses schon im Frieden zu beginnen. Die Deutsche Arbeitsfront bemüht sich mit Recht um diese Fragen. Unglücksstimmung innerhalb der Arbeiterschaft greift erfahrungsgemäss in kurzer Zeit auf die kämpfende Truppe über." Oberstleutnant Belli"" will bei der Militarisierung der Betriebe mit Rücksicht auf die Empfindlichkeit der Wirtschaft, vor allem aber wegen der Empfindlichkeit der Arbeiter, sehr vorsichtig vorgegangen wissen. „Ein Gesichtspunkt, den man dafür geltend machen könnte, ist die drohende Luftgefahr. Es kann in besonders wichtigen Anlagen, die dem Feinde natürlich bekannt sind, die Arbeit derart mit persönlicher Gefahr verbunden sein, dass sich der Betrieb — wenn überhaupt — vielleicht nur noch auf militärischer Grundlage aufrechterhalten lässt. Im übrigen ist Vorsicht in dieser Hinsicht geboten, da eine zu starke Bürokratisierung der Wirtschaft vermieden werden sollte. Sie führt leicht zu einem fühlbaren Rückgang der Leistungen." 1M 151 163

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a. a. O., S. 131. a. a. O., S. 112. „Militärwissenschaftliche Rundschau", Heft 1, 1936.

Hier ist also eine Begründung vorgeschlagen, die angeblich von den Interessen der „gefährdeten" Arbeiter ausgeht. Die Praxis des Dritten Reiches hat sich längst über diese „Leisetreterei" bei der Militarisierung der Arbeitskraft hinweggesetzt. Die Kriegsnähe lässt die Machthaber des Dritten Reiches weniger auf Form und psychologische Erwägungen achten. Die restlose Ausschöpfung der verfügbaren Arbeitskraft ist ihnen das oberste Gebot. Denn der Mangel an Arbeitskraft im Dritten Reich ist heute schon, am Vorabend des Krieges, evident. 1936 wurde bereits errechnet, dass bei voller Ausnützung der Betriebsund Arbeiterkapazität 6,7 Millionen Arbeiter gefehlt hätten. Seit 1936 ist die Wehrmacht erheblich erweitert worden. Das hat den Arbeitermangel nur erhöht, zumal mit der Kriegsnähe natürlich auch die normale Ausschöpfung der Produktionskapazität der Wirtschaft sich ihrer Höchstgrenze nähert. Der seit 1936 durch die Annexion fremden Gebietes eingetretene Bevölkerungszuwachs verschiebt nur die absoluten Zahlen in dem Verhältnis von Frontkämpfern und Arbeitern. Die industrielle Reservearmee von 6 Millionen war nach der „Militärwissenschaftlichen Rundschau" im Herbst 1936 bereits aufgebraucht. Es mangelt im Dritten Reich nicht nur an Facharbeitern für die Industrie, sondern sehr stark auch an ländlichen Arbeitskräften. Das stellt die Zeitschrift „Soziale Praxis" vom März 1939 fest: „Gegenüber 1925 sind heute in der Landwirtschaft etwa 1 226 000 Erwerbspersonen, und zwar 527 000 Männer und 699 000 Frauen, weniger tätig. Der hierdurch bedingte ausserordentliche Kräftemangel erforderte in den letzten Jahren den verstärkten Einsatz von Arbeitsdienst, Wehrmacht und ausländischen Arbeitskräften, um wenigstens die Ernte bergen zu können." Die Erfassung aller Arbeitskräfte ist durch gesetzliche Massnahmen sichergestellt. Ueber diese allgemeine Regelung hinaus verfügt eine Verordnung Görings vom 22. Juni 1938, dass deutsche Staatsangehörige vom Präsidenten der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung für eine begrenzte Zeit verpflichtet werden können, auf einem ihnen zugewiesenen Arbeitsplatz Dienste zu leisten, oder sich einer bestimmten beruflichen Ausbildung zu unterziehen. Nach einer weitergehenden Verordnung der Reichsregierung vom 15. II. 1939 kann das Arbeitsamt Bewohner des Reichsgebietes zur Dienstleistung verpflich231

ten. Dienstverpflichtete, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, gelten bei zeitlich begrenzter Verpflichtung als beurlaubt. Bei Verpflichtung zu Dienstleistungen von unbeschränkter Dauer erlischt das bisherige Beschäftigungsverhältnis. Das Dienstverhältnis darf nur mit Zustimmung des Arbeitsamtes gelöst werden. Der Dienstpflichtige hat die Pflicht und das „Recht", Sachen, die sich in seinem Besitz oder Gewahrsam befinden, auf Verlangen des Arbeitsamtes bei der Dienstleistung zu verwenden. Wer auf Grund dieser Verordnung zu einer Dienstleistung verpflichtet wird, die länger als drei Tage dauert und dadurch von seiner Familie getrennt ist, kann Unterstützung für seine Angehörigen beantragen. Nichts spricht mehr für den Kriegswillen des Dritten Reiches als die restlose Versklavung der Arbeiter und Kleinhandwerker. Die Gesetze und Verordnungen, die die Erfassung der Arbeitskraft bezwecken, heben den Rest der persönlichen Freiheiten der Arbeiter, die freie Berufswahl, die Wahl des Arbeitsplatzes, das Kündigungsrecht der Arbeiter, die Freizügigkeit, den Kinder- und Frauenschutz auf. Durch die Einführung des Arbeitspasses ist der Arbeiter unter dauernde staatliche Kontrolle gestellt. Die „Verpflichtung zur Dienstleistung" wo und wann es dem Staate gefällt, zerreisst die Bande der Familie. Hunderttausende Kleinhandwerker werden ihrer selbständigen Existenz beraubt. Eine der „zivilisatorischen" Leistungen des Dritten Reiches ist die Wiedereinführung der Kinderarbeit. Bereits die Arbeitskraft des Kindes ist registriert. Die Arbeitskarle an Kinder wird ausgehändigt, wenn „der seelische und körperliche Zustand des Kindes und die Art der Beschäftigung keine Schädigung der Erziehung und der Gesundheit erwarten lassen". So besagt die Ausführungsverordnung zum Jugendschutzgesetz von Mitte Dezember 1938. In der Praxis wird auf diese Einschränkung wenig Rücksicht genommen. Das zeigt sich insbesondere bei der Rekrutierung der Kinder für die Landarbeit. Im vergangenen Jahr wurden Zehntausende von Kindern zwischen dreizehn und vierzehn Jahren zwangsweise zur Landarbeit verschickt. Jedes Kind erhielt seinen Gestellungsbefehl, dem es bei Androhung von Strafe Folge zu leisten hatte. Die Unterkünfte waren äusserst primitiv, die Arbeitszeit wurde in den Erntetagen weit über 8 Stunden ausgedehnt. Zahlrei232

che Erkrankungen der diese Verhältnisse ungewöhnten Stadtkinder waren die Folge. Für die schulentlassene Jugend besteht seit 1939 Meldungspflicht. Die Ergreifung eines Berufes bedarf der behördlichen Genehmigung. Die Behörde entscheidet, was der Junge lernen soll. Vor allem ist an eine Zuführung von Lehrlingen an die Metallwirtschaft, das Baugewerbe, den Bergbau und die Landwirtschaft gedacht. Durch diese Massnahme soll der Facharbeitermangel behoben und die Zahl der ungelernten Arbeiter eingeschränkt werden. Damit wird das Aufhören der freien Berufswahl umschrieben. Es handelt sich um die zwangsweise Zuführung von Arbeitskräften in die kriegswichtigen Berufszweige. Ueberdies kommen für die schulentlassene Jugend die Bestimmungen für den Landdienst in ausgiebigem Masse in Anwendung. Die sozialpolitische Zeitschrift „Das junge Deutschland" veröffentlichte Anfang Februar 1939 die Richtlinien, die für die Landdienstarbeit gelten. Die Landdienstgruppen nehmen fast ausschliesslich solche Jugendliche auf, die gerade die Schule verlassen. Der Arbeitsvertrag der Landdienstgruppen setzt die Arbeitszeit dieser Schulentlassenen auf 54 Stunden in der Woche, in den Haupterntezeiten auf 60 Stunden fest. Der Lohn wird nach der Tätigkeit bestimmt.16' Eine Anordnung des Reichsstudentenführers verfügt, dass im Sommer 1939 25 000 Studenten und Studentinnen, das ist über ein Drittel der Gesamtzahl der in Deutschland Studierenden, Landdienst machen müssen. Ueber die Auswertung der weiblichen Arbeitskraft sprechen wir an anderer Stelle. Der Mangel an Arbeitskraft macht sich besonders bei den Facharbeitern bemerkbar. Das steigert das Wertbewusstsein der Arbeiter und ermöglicht ihnen vielerorts, höhere Löhne durchzusetzen. Andererseits ist festzustellen, ilass sich die Unternehmer gegenseitig Spezialarbeiter abjagen, indem sie höhere Löhne bieten. Eine Verfügung vom 23. XII. 1938 untersagt dieses Abjagen der Arbeitskräfte, „weil dadurch das Lohnniveau im Betrieb verschoben und das auf andere Betriebe rückwirken" würde. Eine andere Verfügung vom 14. II. 1939 macht die Lösung eines Arbeitsverhältnisses von behördlicher Genehmigung abhän,M Diese Angaben sind d e r „ F r a n k f u r t e r Z e i l u n ß " vom 5. II. 1939 entnommen.

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gig, „um der Fluktuation vorzubeugen und das Lohn- und Preisniveau zu regulieren". 1 " Da im allgemeinen die Löhne aus den erwähnten Gründen niedrig gehalten werden, lässt natürlich auch die Arbeitsleistung beträchtlich nach. Der Arbeiter kann bei niedrigem Einkommen seine Arbeitskraft nicht auf Leistungshöhe halten. Freiwillige Leistung jedoch kann nie bei innerer Feindschaft der Arbeiter zum nationalsozialistischen System erreicht werden. So treten im Dritten Reich bereits am Vorabend des Krieges die gleichen Erscheinungen unter den Arbeitern auf, wie sie gegen Ende des Weltkrieges zu verzeichnen waren. Trotz „Kraft durch Freude", einer Organisation, die zusammen mit der Arbeitsfront das erzeugen soll, was Pintschovius das „Arbeitsethos" nennt, und trotz der Kampagne für die „Leistungssteigerung" geht die Leistung zurück. Die Arbeiter „arbeiten auf der Stelle", ™ wie Ludendorff sagt. Besonders unter den Metall- und Bergarbeitern ist diese Form der passiven Resistenz im Dritten Reich heute schon stark verbreitet. Im Frühjahr 1939 sind in den grossen Industriezentren, im Rheinland, Schlesien, Mitteldeutschland, die Arbeitsleistungen teilweise um 15—25 Proz. gesunken. Wo zu Repressalien gegriffen wurde, schnellten die Krankenmeldungsziffern hoch. Die Bergarbeiter antworten auf die von Göring befohlene Erhöhung der Arbeitszeit und die angeordnete Sonntagsschicht damit, dass sie auf ihrem Ruhetag beharren und im übrigen in der Leistung nachlassen. So ist im Saarbergbau die Monatsförderung im Februar 1939 gegenüber Januar um 150 000 Tonnen zurückgegangen. In der Steinkohlenförderung der ersten Maiwoche 1939 ging die arbeitstägige Förderung von 448 000 Tonnen in der letzten Aprilwoche auf arbeitstägig429 000 Tonnen zurück. Das erinnert an eine Erscheinung aus dem Weltkrieg, wo im deutschen Bergbau die Jahresleistung der Steinkohlenbergleute von 1913 bis 1919 um etwa 45 Proz. zurückgegangen war, obwohl es sich um ausgesuchtes und besonders gut verpflegtes Personal handelte. ^ i5s Verfügungen zitiert nach der „Frankfurter Zeitung" vom 23. XII. 1938 und 4. II. 1939. . mo D e r Ausdruck ist eine Variation des militärischen Ausdrucks: auf der Stelle treten, d. h. die Gehbewegung ausführen, ohne sich von der Stelle zu bewegen. 167 Possony, a. a. O., S. 85.

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Es handelte sich im Kriege und es handelt sich heute im Dritten Reich bei dem Leistungsröckgang nicht nur um Fragen des Lohnes und der Ernährung, sondern um das Veto der Arbeiter gegen den Krieg. Der Leistungsrückgang erhöht aber in jedem Falle die Nachfrage nach Arbeitskräften. Es werden zu diesem Zwecke aus allen Wirtschaftszweigen, die nicht „kriegswichtig" sind, Facharbeiter „ausgekämmt", oder gesunde Arbeiter zum Zwecke der Berufsumschulung herausgezogen. Am schwersten wird das Kleinhandwerk dabei mitgenommen. „Die Zahl der Arbeitskräfte, die im Bereich des Handwerks freigemacht worden sind, wird auf mehr als 100 000 geschätzt. Durch neue Auskämmung durch Verordnung des Reichswirtschaftsministers vom 22. Februar 1939 sollen erneut 60 bis 70 000 Arbeitskräfte gewonnen werden." („Soziale Praxis", März 1939). Auf die Handwerker bezieht sich auch die erwähnte Verordnung über die Pflicht, Sachen, die sich in ihrem Besitz oder Gewahrsam befinden, zur „Dienstleistung" mitzubringen. D. h. der Handwerker wird nicht nur der selbständigen Existenz, sondern auch seiner Produktionsmittel beraubt, die es ihm ermöglichen könnten, später wieder seinen Betrieb aufzunehmen. Ausser aus dem Kleinhandwerk werden gesunde Arbeitskräfte aus den Kommunalbetrieben herausgezogen. Ein Bericht aus dem Rheinland vom Februar 1939 besagt darüber: „Durch das zwangsweise Herausziehen der gesunden Arbeiter aus den Kommunalbetrieben (Müllabfuhr, Strassenreinigung, usw.) werden Magenkranke, Krüppel und alte Leute bis zu 60 Jahren für diese Arbeiten herangezogen. Auch Frauen bis zu 60—65 Jahren werden auf Friedhöfen beschäftigt. Das nennt man Pflichtarbeit." Kann durch all diese Massnahmen der Bedarf des Dritten Reiches an Arbeitskraft während des Krieges gedeckty die Produktion auf ihrer Höchstleistung gehalten werden? Wir hatten, der heutigen Bevölkerungsstärke des Dritten Reiches von rund 80 Millionen entsprechend, eine Gesamtheeresstärke von nur 10 Millionen Mann angenommen. Auf einen Soldaten wären demnach, wenn wir nur das Mittel der oben angeführten Verhältniszahlen (1:7 bis 8 und 1 ; 17 bis 20) nehmen, 12 bis 14 Arbeiter erforderlich. Nur 10 Arbeiter auf einen Soldaten angenommen, erforderte 235

eine Bevölkerung von etwa 120 Millionen. Das Dritte Reich kann also den Bedarf an Arbeitskraft in einem Krieg mit anderen Grossmächten nicht decken. Die nächstliegende Massnahme, einen Ausgleich anzustreben, wäre nach der Auskämmung aller verfügbaren Arbeitskräfte, die Produktionssteigerung. Erfahrungsgemäss tritt aber im Kriege ein Produktionsrückgang ein. Den Rückgang bewirken: a) die Ersetzung der normalen Arbeitskräfte durch Frauen, Jugendliche, Kranke und Greise, die weder physisch noch ihrem Können nach die Leistung der für den Heeresdienst herangezogenen Arbeiter erfüllen; hinzukommende Unterernährung und Missstimmung gegen den Krieg senken die Leistung um ein weiteres; b) der rasche Verschleiss an Maschinen durch Ueberbeanspruchung, Verarbeitung von Ersatzstoffen und unsachgemässe Behandlung durch ungeschultes Personal; c) feindliche Waffenwirkung, wodurch Produktionsstätten zerstört werden, bei Gebietsverlust gänzlich wegfallen oder durch Alarme zeitweilig lahmgelegt werden. Zusätzliche Arbeitskraft im Kriege kann das Dritte Reich durch Kriegsgefangene erhalten. Das ist aber nur ein mattes Aequivalent für eigene Verluste. „Die Mitarbeit anderer Staaten an der Kriegsversorgung eines Grossstaates ist und bleibt die einzige Möglichkeit, das schwerste Problem der Kriegsversorgung, nämlich: die Menschenfrage zu lösen."139 Die Hereinnahme ausländischer Arbeitskräfte ist im Kriege so gut wie ausgeschaltet. Es bleibt also der Bezug von kriegswichtigen Erzeugnissen aus dem neutralen oder über das neutrale Ausland. Das Ausland für sich arbeiten lassen erfordert entweder Devisen, die durch Anleihen oder durch Ausfuhr von Waren zu haben sind, oder direkten Warenaustausch. Anleihen im Ausland während des Krieges dürften für das Dritte Reich kaum in Frage kommen. Ausfuhr von Waren erfordert Steigerung der kriegsunwichtigen Produktion. Die Behebung des Mangels an Arbeitskraft erfordert also erhöhten Einsatz von Arbeitskraft. Stehen die demokratischen Staaten im Falle des Krieges nicht vor dem gleichen unlösbaren Problem? Es kommt ganz auf die Bündniskonstellation an. Kommt es zu der Koalition der drei grossen bürgerlichen Demokratien inil der SowjetIäs

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Possony. a. a! O., S. 93.

union, dann ist das Gesamtkriegspotential dieses Blockes einschliesslich der Menschenreserven, dem der faschistischen Staaten so überlegen, dass für den antifaschistischen Block der Menschenmangel keine lähmende Erscheinung ist. Die demokratischen Mächte unterliegen nie in dem Masse Blockademassnahmen wie die faschistischen Staaten und können daher die Arbeitskraft neutraler Länder in weitem Umfang heranziehen, zumal ihre Mittel nicht so beschränkt sind wie die der faschistischen Staaten. Ausserdem ist bei den demokratischen Staaten die Arbeitswilligkeit der Volksmassen infolge des anderen Kriegszieles eine grössere als bei den Völkern der faschistischen Staaten. Auf die Arbeitswilligkeit kommt es aber um so mehr an, je geringer die Reserven an Arbeitskräften sind. Dem Dritten Reich mangelt es daran. Es mangelt vor allem an qualifizierten Industriearbeitern und ihrer Arbeitswilligkeit. Diese Arbeiter bilden den Kern der modernen Armee und die Seele der kriegswichtigen Betriebe. Sie schmieden und bedienen die entscheidenden Waffen. Der ungeheure Umfang des Heeres und der industrielle Charakter des maschinisierten Krieges steigern den Bedarf an technisch geschulten Kräften im Heere und in der Wirtschaft. Im Heere muss sich das Dritte Reich der Facharbeiter, vor allem bei den Elitetruppen, bedienen. Es muss aus dem Reservoir der qualifizierten Arbeiter schöpfen, die dem Dritten Reich mit unversöhnlicher Feindschaft gegenüberstehen. Diese Arbeiter muss es für die Waffengattungen verwenden, die die zuverlässigste Stütze des Dritten Reiches sein sollen. In der Wirtschaft setzt heute schon der Widerstand der Facharbeiter gegen die Kriegspolitik des Dritten Reiches ein. Es sind noch keine Aktionen wie etwa der Munitionsarbeiterstreik im Januar 1918. Aber das „auf der Stelle arbeiten" ist eine schon weit verbreitete Erscheinung. Possony fasst alle Mittel, die der Facharbeiter im Dritten Reich gegen den Krieg anwenden wird, ins Auge. Er schreibt: ..Ausser den Streiks muss man noch mit Sabotageakten rechnen; neben der direkten Sabotage ist die indirekte viel bedeutsamer, da sie zur Verlangsamung der Produktion, zur Qualitätsverschlechlerung und zur .unabsichtlichen' Vernichtung von Produktionsaningen führt.""" 135

a. a. 0., S. 88.

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Der Kampf um die „Seele" des Facharbeiters in Wehrmacht und Wirtschaft ist heute schon die schwerste Sorge der Kriegstreiber im Dritten Reich. Sie wächst mit der Annäherung an den Krieg. Die „Seele" der Industriearbeiter lässt sich aber weder durch leutselige Phrasen, noch durch soziale Demagogie, und am allerwenigsten durch Terror gewinnen. Keine Militarisierung der Arbeitskraft hebt den unvereinbaren Gegensatz zwischen dem Kern der deutschen Arbeiterklasse und dem Naziregime auf. Ihre Interessen bleiben stets unvereinbar mit denen des Trust- und Monopolkapitals und der Machthaber des Dritten Reiches. Dieser unüberbrückbare Gegensatz lebt im Bewusstsein der deutschen Industriearbeiter. Er kann im Falle eines Krieges wie eine vulkanische Kraft, die lange geruht, die ganze aufgeblasene Herrlichkeit des Dritten Reiches in die Luft jagen.

Die Frou Die Stellung der Frau im Dritten Reich wird ausschliesslich durch die Erfordernisse des totalen Krieges bestimmt. Es ist eine allgemeine Erscheinung der kapitalistischen Wirtschaft, die weibliche Arbeitskraft in hohem Masse in den Produktionsprozess einzubeziehen und zwar in zweitrangiger Stellung, als billigere Arbeitskraft. Der Raubbau an der weiblichen Arbeitskraft, der für die frühkapitalistische Periode charakteristisch war, ist durch den Kampf der Arbeiterklasse um ihre sozialen Rechte im allgemeinen eingedämmt worden. Die nationalsozialistische Diktatur aber hat den Arbeitern die Mittel der Gegenwehr geraubt. Damit ist jedes Korrektiv im fortschrittlichen Sinne, das der schrankenlosen Ausbeutung der Arbeitskraft und der Untergrabung der Volkskraft entgegenwirkte, beseitigt. Der dem Frühkapitalismus eigene Raubbau an der menschlichen Arbeitskraft ist im totalen Staat des deutschen Trust- und Monopolkapitals längst übertroffen und noch durch Formen der Ausbeutung ergänzt, die die Leibeigenschaft der Feudalwirtschaft in modernisiertem Gewand wiedererstehen Hessen. Das trifft den Arbeiter, den Jugendlichen und die Frau, die der Zwangsarbeitspflicht unterworfen sind. „Es ist die grösste Idee des Nationalsozialismus, dass die Frau zurückgeführt werden soll an Heim und Herd, 238

wo sie dem Mann durch ihre Liebe und Sorglichkeit die Basis zum Schaffen bereitet." So prahlte Frau Magda Goeb. bels noch in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Diktatur. Sich den Schirmer der Frau „als treusorgende Mutter und züchtige Hausfrau" zu nennen, ist eine der grössten Heucheleien des Nationalsozialismus. Längst sind diese Phrasen durch die Vorbereitungen auf den totalen Krieg Lügen gestraft. Heute will man Sätze vergessen machen, die 1932 noch der „Völkische Beobachter" schrieb. „Heute gilt die Frau im Berufsleben lediglich als billigere und dabei ebenso gründlich ausnutzbare Arbeitskraft wie der Mann. Eine solche Einstellung ist Raubbau, materialistisch-kapitalistische Nutzgier an den wertvollsten Lebenskräften der Nation. Adolf Hitler will eine Gesetzgebung zum Schutze der arbeitenden Frau vor rücksichtsloser Ausbeutung". Die Gesetze Hitlers sind da. Sie sind diktiert vom Geiste des „Raubbaues, materialistisch-kapitalistischer Nutzgier an den wertvollsten Lebenskräften der Nation". Das Grundgesetz ist das Wehrgesetz, das den Kriegsdienst auch von der Frau fordert. Auf diesem Grundgesetz sind die weiteren aufgebaut, die die restlose Einordnung der Frau in die Kriegsmaschinerie des totalen Staates bezwecken. Im Rahmen des nationalsozialistischen Vierjahresplanes zur Vorbereitung des totalen Krieges ist der deutschen Frau ihr Platz zugewiesen. Zynisch ist mit allen früheren Propagandaphrasen des Nationalsozialismus über die Rolle der Frau aufgeräumt. Den heute amtlich massgeblichen Standpunkt über die Stellung der Frau im Dritten Reich entwickelt Kapitänleutnant Dr. Theodor Sonnemann in seinem 1939 erschienenen Buch: „Die Frau in der Landesverteidigung." 160 Sonnemann betont, dass auf eine allgemeine Dienstpflicht der Frauen nicht verzichtet werden kann. „Sie steht auch unseren grundsätzlichen Anschauungen vom Wesen der Frau . . . nicht entgegen . . . Es gibt keinen vernünftigen Grund, um für die Frauen eine Ausnahmestellung zu rechtfertigen. Gewiss läuft es unserem Empfinden zuwider, die Frau in einer Rolle zu sehen, die Wir folgen hier im wesentlichen den Darstellungen mnnns, soweit es sich um materielle Angaben handelt.

Sonne-

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allein dem Soldaten zukommt. Aber andererseits würde es einen Verzicht auf einen wesentlichen Teil der personellen Kampfkraft bedeuten, wenn der Einsatz der Frau etwa beschränkt bleiben sollte auf die Funktionen der Krankenpflege und der Sozialfürsorge". In einem künftigen Kriege kann die Erfassung der Frauen allein nach dem Gesichtspunkt erfolgen, „überall dort eine Frau anzusetzen, wo sie einen wehrfähigen Mann nur irgend ersetzen kann. Damit ist gleichzeitig ausgesprochen, dass der Kriegsbedarf an weiblichen Ersatzarbeitskräften grundsätzlich genau so unbegrenzt ist, wie der Bedarf der Wehrmacht an Kämpfern". Die Grenze ist nur durch die Zahl der verfügbaren Frauen gesetzt, „wobei der Begriff der Verfügbarkeit lediglich begrenzt sein kann durch die Begriffe der Untauglichkeit und der Unentbehrlichkeit innerhalb der Familie. Entbehrlich, d. h. abkömmlich ist jede Frau, die nicht durch kleine Kinder oder andere hilfsbedürftige Angehörige gebunden ist. Kindergärten und Altersheime, wie auch die Zusammenlegung verschiedener Haushaltungen innerhalb derselben Familie werden im grossen Umfange auch solche Frauen verfügbar machen, die an und für sich an ihren Haushalt gebunden sind." (S. 135/36.) „In einer Zeit, in der die heranwachsende Frau entweder gezwungen, oder weil sie nicht untätig zu Hause sitzen will, ihren Platz im wirtschaftlichen Daseinskampf einnimmt, müssen die Anschauungen der Grossväterzeit von dem Walten der züchtigen Hausfrau einer nüchternen und prosaischen Betrachtungsweise weichen. Und wenn im Frieden die Berufstätigkeit der Frau die inneren Grundlagen des Familienlebens nicht gefährdet, dann gilt das im gleichen Masse auch vom Kriege, zumal dann ohnehin alle aus privaten Sphären entwickelten Rücksichten hinter der grossen Aufgabe des nationalen Daseinskampfes zurücktreten müssen." (S. 137.) Damit ist im allgemeinen die Stellung, die der Nationalsozialismus der Frau im totalen Krieg und bereits in dessen Vorbereitung zuweist, umrissen. Damit sind aber auch alle Grenzen überschritten, die während des Weltkrieges noch eingehalten wurden. Es ist nützlich, zum Vergleich kurz auf die Vorgeschichte der Frauendienstpflicht und auf die Heranziehung der Frau zum Kriegsdienst im Weltkrieg einzugehen. 240

Die Forderung der Frauendienstpflicht wurde in Deutschland zuerst im Jahre 1912 auf einer Tagung des Bundes Deutscher Frauenvereine erhoben. Während des Weltkrieges, als man aufgehört hatte, mit einer raschen Beendigung des Krieges zu rechnen, die hohen Verluste im Felde die Wirtschaft in steigendem Masse von der männlichen Arbeitskraft entblössten, tauchte die Forderung der weiblichen Dienstpflicht erneut auf. „ W a r die erste Hälfte des Krieges, was die Einbeziehung der Frau anbetrifft, gekennzeichnet durch das Bestreben nach Milderung der sozialen Not, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, der Suche nach Brot und Beschäftigung für die dem Arbeitsmarkt zuströmenden Frauen, also durch eine im wesentlichen fürsorgerische Tendenz auf der Grundlage der freiwilligen Hilfeleistung, so stand die zweite Kriegshälfte im Zeichen der Heranziehung zusätzlicher Hilfskräfte, der Auslese und der Vorbereitung zu einer wichtigen Funktion auch der Frauen im Prozess der Kriegswirtschaft, der beginnenden Mobilisierung der weiblichen Arbeitskraftreserven." (S. 65.) In einer Schrift „Kriegsbereitschaft der deutschen Frau" (Berlin 1916) forderte Gräfin Piickler den Einsatz der Frau in allen Zweigen der deutschen Wirtschaft, wo Frauen Männer für den Waffendienst freimachen konnten. In einer Nationalkartei sollten alle Frauen zu diesem Zweck erfasst werden, wie die Männer in der Stammrolle. In dem sich 1916 entspinnenden Kampf um die von der Obersten Heeresleitung geforderte Arbeitsdienstpflicht wurde die Frauendienstpflicht zum Angelpunkt der Meinungsverschiedenheiten. „Merkwürdigerweise wurde auch aus den Kreisen der Frauenbewegung mehr Ablehnung als Zustimmung laut. Auch solche ihrer Führerinnen, die vor dem Kriege grundsätzlich für die weibliche Dienstpflicht eingetreten waren, fanden aus Zweifeln und Bedenken nicht heraus, als nun die Verwirklichung vor der Tür zu stehen schien." (S. 85.) Das Gesetz über die Arbeitsdienstpflicht kam im Dezember 1916 als Hilfsdienstgesetz zustande, unter wesentlichen Streichungen von Forderungen, die die Oberste Heeresleitung erhoben hatte. Die Frauen wurden von der Dienstpflicht ausgenommen. Ihr Einsatz erfolgte weiterhin auf der Grundlage der Freiwilligkeit. Einige Bemerkungen über den Umfang der Heranziehung weiblicher Arbeitskraft während des Weltkrieges und über seine Auswirkungen sind hier noch am Platze. 16

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Bei Kriegsbeginn standen den rund 7 030 000 Industriearbeitern 1 562 000 Arbeiterinnen gegenüber, darunter waren 802 000 ungelernte. Unter dem Schock der Mobilmachung und infolge der Lahmlegung von Industrien, die vornehmlich Frauen beschäftigten, in der ersten Phase des Krieges, ging die Zahl der erwerbstätigen Frauen zunächst zurück. „Von Mitte 1915 bis Mitte 1916 hatte die Zahl der ständig beschäftigten -weiblichen Arbeitskräfte um rund 750 000 zugenommen. Der Zugang entfiel hauptsächlich auf die eigentliche Rüstungsindustrie. So stieg der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Arbeiter während dieses Jahres: in der Hütten-, Metall- und Maschinenindustrie von 9 v.H. auf 19 v.H., in der chemischen Industrie von 7 v.H. auf 25 v.H. und in der Elektroindustrie von 24 v.H. auf 55 v.H." (S. 70.) Unter der Wirkung des Hindenburg-Programms war die Zahl der in der Maschinenindustrie, chemischen Industrie, Metallverarbeitung, in Bergwerken und Salinen und in der Hüttenindustrie von 113 750 im Jahre 1913 auf 702 100 gestiegen. Auf die physische Eignung der Frau für die schwersten Männerberufe wurde, wie schon aus diesen Zahlen erhellt, keine Rücksicht genommen. Sonnemann schreibt, dass in einem mitteldeutschen Stahlwerk z. B. die Frauen alle Funktionen der angelernten Hüttenarbeiter ausführten, „vor dem Stahlofen, in der Giesserei, als Kranführer, an der Walzenstrasse, usw. . . . ebenso an den Schmiedehämmern und beim Pressen und Abdrehen von Geschossrohkörpern." (S. 119.t Die Leistung der Frau kam nach entsprechender Ausbildung in vielen qualifizierten Berufen denen der Männer gleich. Allerdings führt Sonnemahn auch Erscheinungen auf, die die qualitative und quantitative Arbeitsleistung der Frauen erheblich minderten und auf die hinzuweisen uns notwendig erscheint, da sie sich im kommenden Kriege im Dritten Reich mit Sicherheit und in grösserem Ausmass wiederholen und die Kalkulation der Nationalsozialisten empfindlich stören werden. Sonnemann schreibt, dass in der zweiten Kriegshälfte nach monatelanger Propaganda unter den Studentinnen von 5000 nur einige Hundert und diese meist nur für die Ferien, zur Arbeit bereit waren. „Es muss geradezu als Charakteristikum dafür bezeichnet werden, wie sehr die Begeisterung der ersten Kriegsmonate auch in den mittelständischen Kreisen durch seelische Depressionen und körperliche Ent242

behrungen bereits unterhöhlt worden war. Gleichzeitig zeigt es auch, wie wenig der Idealismus der Führerschaft der Frauenbewegung, wie er in der Erklärung vom 24. November 1916 zum Ausdruck kam, den tatsächlichen Stimmungen in der breiten Masse der Frauen entsprach, in deren Namen die Führerinnen des Bundes deutscher Frauenvereine doch glaubten sprechen zu können." (S. 102.) Als Gründe für die Minderleistung der Frau führt Sonnemann ausser den sachlichen Arbeitsbedingungen persönliche Momente an.' „Frauen unterliegen mehr als Männer gewissen Stimmungsschwankungen, die sich natürlich auch in den Arbeitsleistungen ausdrücken . . . Das Interesse der verheirateten Frauen wurde auch während der Arbeit von Sorgen um Familie und Haushalt in Anspruch genommen. Physiologische Ursachen brachten es mit sich, dass mit der normalen Arbeitszeit die Energie- und Kraftreserven der meisten Frauen verbraucht waren. Ueberstunden bedeuteten eine Mehrbelastung, die auch für kürzere Zeiten nicht durchgehalten werden konnte. Bei den bisher berufslosen Frauen machten sich auch nach einigen Monaten deutliche Erschlaffungserscheinungen bemerkbar, nachdem der Schwung des ersten Anlaufs verbraucht und der Reiz des Neuen verschwunden war. Abgesehen von den Kraft- und Willensanforderungen des einzelnen Arbeitstages zeitigte bei den an Fabrikarbeit nicht gewöhnten Frauen eine mehrmonatige Tätigkeit in Hast und Lärm, mit immerwährender gleichmässiger Beanspruchung von Muskeln und Nerven, ein allgemeines Nachlassen der Spannkraft. Die durchschnittliche Arbeitsleistung wurde auch dadurch beeinflusst, dass die Frauen häufiger krank waren als die Männer." (S. 130.) „Eine merkbare Minderung in den Leistungen trat ein mit der Verschlechterung der Ernährung, mit der Auflokkerung der Moralbegriffe, die wesentlich durch übertrieben hohe Löhne hervorgerufen wurde. . . . " (S. 131.) Was Sonnemann unter der „Auflockerung der Moralbegriffe" meint, sagt er nicht bestimmter. Wenn er sie auf „hohe Löhne" zurückführt, dann irrt er sich. Denn die Löhne waren, wie Sonnemann betont, das einzige zugkräftige Werbemittel zur Gewinnung von Arbeitskräften. Die Masse der Frauen folgte dieser Werbung meist aus Not, nicht aus Hingebung zum Kriege. Nicht hohe, sondern 243

niedere Löhne und die anormalen Lebensbedingungen des Krieges bringen die „Auflockerung der Moralbegriffe". Den besten Beweis dafür haben wir, wie wir bald sehen werden, schon im Vorkriegsstadium des Dritten Reiches. Wir kommen zurück auf die Einordnung der Frau in die Massnahmen zur Vorbereitung des totalen Krieges und gehen aus von der Zahl weiblicher Arbeitskräfte, die dem totalen Krieg dienstbar gemacht werden sollen. Sonnemanns Angaben beziehen sich noch auf das „Altreich", also ohne Oesterreich und die Tschechoslowakei. Seine Angaben sind dem Bevölkerungszuwachs entsprechend zu steigern. Sonnemann rechnet mit 22 Millionen Frauen im Alter zwischen 16 und 60 Jahren, die für die Arbeitspflicht vor allem in Frage kommen. Hinzu kämen 1,1 Millionen erwerbstätiger Frauen unter 16 und über 60 Jahren als Reserve. Von , der Gesamtzahl der an sich verfügbaren Frauen innerhalb der fraglichen Altersklassen verbleiben rund 11,6 Millionen, die äusserstenfalls, d. h. wenn sie abkömmlich und tauglich wären, als zusätzliche Arbeitskräfte in Betracht kämen. Alles in allem kommt Sonnemann, nach Abzug der Untauglichen und unter Einbeziehung der „Reserven" unter 16 und über 60 Jahren zu dem Ergebnis, dass über die 11,5 Millionen erwerbstätigen, bzw. „einsatzbereiten" Frauen hinaus „die nationale Verteidigungskraft um rund 5 Millionen, allerdings zunächst meist ungelernter Arbeitskräfte verstärkt werden kann". Dazu errechnet Sonnemann noch 1,75 Millionen berufstätiger Frauen, die der Kriegswirtschaft aus „nebensächlichen Wirtschaftszweigen" zugeleitet werden können, so dass sich eine weibliche Arbeilskraftreserve von 6,75 Millionen ergibt. Die Formen, unter denen die Erfassung der weiblichen Arbeitskraft im Dritten Reich erfolgt, „können nur parallel zu den für männlichen Wehrdienst entwickelten und bewährten verlaufen." Die Zwangsaushebung muss vorbereitet sein und in Erfassung und Ausbildung wie beim Soldaten bestehen. Für die gesamte kriegsdienstpflichtige Zivilbevölkerung ist eine regional gegliederte Stammrolle aufzustellen, „die auch für die Frauen die üblichen Daten über Personalien und Familienstand enthält. Auf ihr baut sich das Musterungsverfahren auf." ;,Das Endergebnis wird sein, dass jeder überhaupt Kriegsdienstpflichtige mit 244

Einschluss der Frauen für eine bestimmte Mobilmachungsverwendung eingeteilt ist und beim Abrollen der Mobilmachung seinen Bestimmungsort in der heimatlichen Kampffront genau so automatisch einnimmt, wie sich der Wehrpflichtige bei seinem Truppenteil stellt." „Von den ausgemusterten und ausgehobenen Frauen sind nur diejenigen ohne weiteres einsatzfähig, die bereits im Frieden in einem kriegswichtigen Betriebe — des Gewerbes, der Landwirtschaft oder der Industrie ;— gearbeitet haben . . . Alle anderen spielen, um im militärischen Sprachgebrauch zu bleiben, die Rolle der unausgebildeten Ersatzreservisten." Damit verlassen wir zunächst die Darlegungen Sonnemanns und gehen dazu über, an einigen Erscheinungen, die seiner Theorie entsprechende Praxis zu überprüfen. Die Mobilisierung der weiblichen Arbeitskraft im Sinne der totalen Mobilmachung ist wenigstens seit 1938 in vollem Gang, nachdem die jahrelangen Vorbereitungen abgeschlossen waren. Bereits im September 1938 wurden von den Arbeitsämtern die ersten regelrechten Mobilmachungsorders an Frauen verschickt. Wir geben nachstehend den Wortlaut eines solchen Gestellungsbefehls wieder unter Aenderung des Namens der Empfängerin und Weglassung einiger Stellen, die die betroffene Frau gefährden könnten. „ , den 12. September 1938. Frau Graf, Ida. Auf Grund der Kriegsgesetze haben Sie sich nach Bekanntgabe des Mobilisierungsbefehls, ohne einen anderweitigen Bescheid abzuwarten, am . . . Mobilisierungstage bis . . . Uhr vormittags in . . . zur Arbeit einzufinden. Diese Mitteilung ist geheim zu halten . . . Sie stehen vom Beginn des Gestellungstages an unter den Kriegsgesetzen!... Die Nichtbeachtung dieser Mitteilung wird bestraft." Dieser Gestellungsbefehl beweist, dass die „stammrollenmässige" Erfassung der Frauen im Dritten Reich existiert. Die Musterung, Aushebung und der Einsatz weiblicher Arbeitskraft nach kriegswirtschaftlichen Gesichtspunkten ist seit der Einführung der weiblichen Arbeitsdienstpflicht in vollem Gange. Auf Grund des Vierjahresplanes ist ab 1. Januar 1939 für alle weiblichen Arbeitskräfte ein Pflichtjahr eingeführt. „Die neue Anordnung schreibt vor, dass allgemein ledige 245

Arbeitskräfte unter 25 Jahren, die bis zum 1. März 1938 noch nicht als Arbeiterinnen oder Angestellte beschäftigt waren, von privaten und öffentlichen Betrieben und Verwaltungen als Arbeiterinnen oder Angestellte nur eingestellt werden können, wenn sie mindestens ein Jahr lang mit Zustimmung des Arbeitsamtes in der Land- oder Hauswirtschaft tätig waren und dies vom Arbeitsamt im Arbeitsbuch förmlich bescheinigt i s t . . . Die generelle Einführung des Pflichtjahres für weibliche Arbeitskräfte erfolgt an sich rückwirkend vom 1. März 1938 an . . . Schätzungsweise werden vom 1. Januar 1939 300 000 bis 400 000 weibliche Arbeitskräfte alljährlich erfasst." m Dieses Pflichtjahr muss in der Hauptsache in der Landwirtschaft abgeleistet werden. Eine Illustration zu den Gesetzesbestimmungen sind die Berichte über die Versklavung der Frau im Dritten Reich. Eine Berliner Studentin, die in Pommern ihr Arbeitsdienstjähr abdient, klagt über die Zwangsarbeit. Um vier Uhr morgens wird im Lager aufgestanden. Dann geht es zum Frühsport. Um fünf Uhr gibt es schwarzen Kaffee und trockenes Brot. Anschliessend beginnt die Arbeit in Gruppen bei den Bauern. Nachmittags vier Uhr geht es ins Lager zurück. Die schwere Feldarbeit bei der kalten Witterung können die jungen Mädchen kaum aushalten. Die Baracken sind kaum geheizt und nicht wetterfest. Nach vier Uhr beginnt der „nationalsozialistische Unterricht". Bei den geringsten Vergehen, so wenn die Mädchen vor Müdigkeit einschlafen, gibt es Straf exerzieren. Mädchen, die unter diesen Bedingungen von ihrem Urlaub nicht ins Lager zurückkehren, verlieren die Berechtigung zum Weiterstudium. Das können sich nur die aus vermögenden Kreisen erlauben, die auf keinen späteren Erwerb angewiesen sind. Aus einem anderen Lager berichtet ein Mädchen, dass sie für 15 Pfennige pro Tag 10 Stunden schwere Arbeit in der Landwirtschaft leisten müssen. Die Behandlung ist sehr streng. Ein lGjähriges Mädchen diente ihr Jahr bei einem Bauern ohne Lohn ab, musste von morgens 5 Uhr bis abends 10 Uhr arbeiten, bei schlechtem Essen und ohne Entschädigung für abgerissene Kleidung. Aus dem Saargebiet wird berichtet, dass eine erschreckend grosse Anzahl von Mädchen schwanger aus dem Landdienst zurückkehren. Im „Frankfurter Zeitung", 3. I. 1939.

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Saargebiet, wie für alle Grenzgebiete, die seit Monaten mit Truppen, Arbeitsdienstlern, Befestigungsbauarbeitern, Gestapobeamten und SS-Leuten überbelegt sind, ist der Landdienst eine wahre Gefahr für Mädchen. Ueberfälle auf Mädchen vom Landdienst sind keine Seltenheit und die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten nimmt in erschreckendem Umfange zu. Womit die Theorie des Herrn Kapitänleutnant Sonnemann, dass hohe Löhne die „moralische Auflockerung" zur Folge hätten, entsprechend erläutert wäre. Eine weitere Mobilisierungsmassnahme in Bezug auf die weibliche Arbeitskraft ist die Umgruppierung der bereits erwerbstätigen Frauen und die Umschulung weiblicher Arbeitskräfte. Der Anteil der Arbeiterinnen an der Gesamtbeschäftigungszahl in der Industrie ist vom 1. Halbjahr 1936 bis zum "l. Halbjahr 1937 von 24,7 auf 25,5 gestiegen. Das war erst der Beginn der Umgruppierung. Ueber die Steigerung im letzten Jahre liegen uns noch keine Zahlen vor. Besonders stark ist die Zunahme weiblicher Arbeitskräfte in den kriegswichtigen Industrien. Ein Bericht aus dem Reiche besagt: In den Rüstungs- und Sprengstoff-Fabriken ist fortlaufend .ein Zuzug neuer Arbeiterinnen festzustellen. In den Textilfabriken mehren sich die Fälle, wo dort beschäftigte Arbeiterinnen direkt von den Arbeitsplätzen wegrekrutiert werden. Aber auch von den Arbeitsämtern werden weibliche Arbeitskräfte zwangsweise in die Rüstungsbetriebe verschickt. Wer sich krank meldet, wird untersucht, tauglich geschrieben und verschickt. In der mitteldeutschen Rüstungsindustrie, in Merseburg, Wittenberg, Leuna, strömen die zwangsrekrutierten Mädchen und Frauen aus dem ganzen Reich zusammen. Auf Kinder oder persönliche Verhältnisse wird keine Rücksicht genommen. Nicht nur die Freizügigkeit und freie Berufswahl der Frauen im Dritten Reich ist aufgehoben. Die Familien werden rücksichtslos auseinandergerissen. Mutter und Kind werden getrennt. Der Arbeiterinnen- und Schwangerenschutz ist aufgehoben. Ueberstunden, Nacht- und Sonntagsarbeit ist für die Frauen erlaubt. Die 52-60 Stundenwoche ist für die Arbeiterinnen zur Regel geworden. Wie durch diese Massnahmen die Volksgesundheit im Dritten Reich schon in der Kriegsvorbereitung untergraben, die 247

Frauen und Mädchen durch Ueberanstrengung und Unterernährung schon jetzt entkräftet und entnervt, die Familien zerstört werden, die allgemeine Moral untergraben wird, darüber machen sich die Kriegstreiber des Dritten Reiches wenig Skrupel. Die Wechsel werden ihnen von den versklavten Frauen bei Kriegsausbruch und im Verlaufe des Krieges präsentiert werden in vermehrtem Widerstand gegen den Eroberungskrieg im Interesse des deutschen Trust- und Monopolkapitals. Bereits im Weltkriege waren es die Frauen, die als erste die Fahne des Widerstandes gegen den Krieg erhoben. Aus den Septembertagen 1938 sind zahlreiche Fälle bekannt, wo die Frauen bei der Zwangsverschickung ihrer Männer die Abfahrt der Züge trotz starken Polizeiaufgebots verhinderten. Gegen den Widerstand der Frauen wird kein Militär- und Polizeiaufgebot nützen. Je mehr die Frau im Dritten Reich schon jetzt auf „Kriegsfuss" gesetzt ist, um so widerstandsunfähiger wird sie den Anforderungen des Krieges und um so widerstandsentschlossener dem Nationalsozialismus gegenüber sein. Die Nationalsozialisten suchen dem vorzubeugen durch ihren organisatorischen Apparat. Es wird versucht, die Frauen ebenso wie die Männer in ein System von Organisationen hineinzupressen, die die dauernde Beeinflussung der Frau im Sinne des Nationalsozialismus sicherstellen sollen. Dem Leiter der gesamten nationalsozialistischen Frauenarbeit, Hilgenfeld, untersteht die Leiterin der NSFrauenschaft. Die NS-Frauenschäft ist die Organisation der nationalsozialistischen Frauen, quasi die Kaderorganisation, von der aus die Fäden in die Massenorganisationen laufen, in denen Frauen erfasst sind: Nationalsozialistische Volkswohlfahrt, Reichsluftschutzbund, Arbeitsfront, usw. Uns interessiert hier besonders die Vorarbeit, die zur Aufrechterhaltung und Sicherung des Einsatzes der weiblichen Arbeitskraft getroffen wird. Sonnemann behandelt ausgiebig die Rolle der „Sozialen Betriebsarbeiterinnen." Sie sollen „ehrliche Makler zwischen den Aufgaben und Plänen des Betriebsführers und den Belangen der Gefolgschaft" sein. Das Werkzeug der „Sozialen Betriebsarbeiterinnen" sollen „die Werkfrauengruppen, die z. Z. in rund 500 Grossbetrieben bestehen", darstellen. Die 248

„Werkfrauengruppen werden gebildet aus einem festen und zuverlässigen Stamm, der das Gerüst für den inneren Aufbau der weiblichen Gefolgschaft abzugeben hat." „Wie eine Truppe sich in ihrem inneren Gefüge um einen wohlgegliederten Stamm von Dienstgraden, angefangen mit dem Rekrutengefreiten, aufbauen muss, so bedarf auch die weibliche Belegschaft eines grossen Betriebes eiries stufenweise organisierten Unterführerkorps. Es muss aus Frauen bestehen . . . Solange er nicht vorhanden ist, bleibt die weibliche Gefolgschaft eine ungeordnete Masse, schwer zu lenken und schwer zu kontrollieren, eben weil in der Person des Unterführers das Bindestück zwischen Führer und Truppe fehlt. Aber nicht allein im Interesse einer möglichst grossen Leistungsfähigkeit des Betriebes ist die Schaffung weiblicher Unterführer erforderlich: sie ist es in gleicher Weise auch mit Rücksicht auf die Moral und die Arbeitsfreudigkeit der grossen Masse der Arbeiterinnen." » In der Theorie lassen sich solche Rechnungen wie die des Herrn Sonnemanns aufstellen und in den nationalsozialistischen Plan über den Einsatz der personellen Kräfte im totalen Krieg einfügen. Aber jeder und jede Einzelne der Millionen, mit denen hier gerechnet wird, sind Menschen mit eigenen Bedürfnissen und eigenen Interessen. Der Frau ist von den Drahtziehern des totalen Krieges eine Last zugedacht und bereits aufgebürdet, die sie weder physisch noch psychisch zu ertragen vermag. Kein weibliches „Unteroffizierkorps" im Betrieb, kein gutes Zureden und kein Terror werden im Dritten Reich die „Front der Wirtschaft" und die „seelische Geschlossenheit der Nation", die von den Millionen Frauen ge- und erhalten werden sollen, garantieren können. Vom Unwillen der deutschen Frauen wird der totale Krieg Hitlers den tödlichen Stoss empfangen.

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Sonnemann, a. a. O.. S. 148/49.

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Kein Schutz gegen die Niederlage „So treten Völker gegen Völker an: Waffe gegen Waffe, Wirtschaft gegen Wirtschaft, Geist gegen Geist. Es kann nicht der Sinn solchen Geschehens sein, nach einem zehnmillionenfachen Heldenopfer ein Trümmerfeld in den Kriegsgebieten, zusammengebrochene Herrschaftsformen, zerrüttete Wirtschaftsverhältnisse und den Wirbel eines kulturellen Chaos zu hinterlassen. Der Krieg hat nur dann einen Sinn, wenn durch ihn die Wege zu neuen Formen und zu neuem Inhalt ihres Menschheitsschicksals er, schlössen werden." Albrecht Blau: „Geistige Kriegführung." Wir stehen am Vorabend des fürchterlichsten und verheerendsten aller Kriege der Menschheitsgeschichte. Die faschistischen Mächte haben den Frieden gebrochen. Sie sind entschlossen, die letzten Dämme niederzureissen, hinter denen noch Völker in Frieden leben. Kein diplomatisches Zwischenspiel wird sie daran hindern. Kein neues Zugeständnis und kein Teilopfer sättigen den Machthunger der faschistischen Räuber. Totale Weltbeherrschung ist das Ziel ihres totalen Krieges. Der Kriegswille des Nationalsozialismus ist der umgeprägte, auf die Weltbeherrschung abzielende Expansionsdrang des deutschen Trust- und Monopolkapitals. Der Vierjahresplan des Dritten Reiches ist der Plan der Vorbereitung des totalen Krieges. . Seine Endkonsequenz ist der totale Krieg. Nichts dokumentiert den Kriegswillen des Dritten Reiches unwiderleglicher als dieser Vierjahresplan, nach dem die gesamte Wirtschaft des Reiches, das politische und kulturelle Leben des 80 Millionen-Volkes den Erfordernissen des totalen Krieges Schritt für Schritt und 250

zuletzt im Eiltenipo unterworfen wurde und unterworfen ist. Die den totalen Krieg mit minutiöser Genauigkeit vorbereiten, wollen kein Zurück und für sie gibt es kein Zurück. Umkehr bedeutet für sie Verzicht auf den Weltmachtstraum, Demobilmachungskrise der Wirtschaft und politische Krise — Abtretenmüssen. Deshalb steuern sie ungeachtet aller Mahnungen auf den Krieg und damit auf die Katastrophe zu. Dem starren Kriegswillen entspringt der Angriffswille des Dritten Reiches. Da kein Staat, ausser den faschistischen Staaten, daran denkt den Frieden zu brechen, muss der Angriff, wie bisher, von den faschistischen Staaten kommen. Denn ohne ihren Ueberfall auf andere Staaten sind die faschistischen Weltbeherrschungspläne nicht zu realisieren. Im Ueberfall sehen die Strategen des Dritten Reiches sogar die einzige Chance militärischer Anfangserfolge. Generalleutnant a. D. v. Metzsch153 gibt die Verhaltungsmassnahmen dafür: „Die wehrpolitische Verschwiegenheit ist vor allem für uns Deutsche deshalb ganz besonders wichtig, weil uns jede Aussicht auf militärische Erfolge fehlt, wenn die Ueberraschung fehlt." v. Metzsch warnt aber auch vor einer Ueberschätzung der nachhaltigen Wirkung des strategischen Ueberfalls, da wahrscheinliche Anfangserfolge den Enderfolg nicht gewährleisten. Die Ueberraschungswirkung ist bei der schon lange währenden politischen Spannung, wie wir schon an anderer Stelle nachgewiesen, erheblich gemindert. Sie kann noch eine Wirkung haben a) Avenn der strategische Ueberfall kombiniert ist mit innerpolitischen Erhebungen beim Gegner, d. h. durch Zusammenwirken mit faschistischen Elementen (Franco in Spanien) oder mit nationalen Minderheiten. Dagegen ist natürlich auch ein Zusammenwirken der demokratischen Staaten mit den antifaschistisch gesinnten Volksschichten in den faschistischen Staaten denkbar, sogar mit grösseren Erfolgsaussichten; b) bei rücksichtsloser Anwendung aller Kriegsmittel — vor allem Gas und Brisanz — gegen die industriellen Lebenszentren und die Zivilbevölkerung. Mit diesen Arten der strategischen Ueberraschung haben die vom Dritten Reich bedrohten Völker zu rechnen. 163 So weit wir in den folgenden Ausführungen Generalleutnant a. d. von Metzsch zitieren, greifen w i r auf sein Ende Februar 1939 hei Junker, Berlin, erschienenes Buch „Wehrpolitik" zurück.

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Bei dei Mächtekonstellation, wie sie in einem Kriege zwischen dem faschistischen und demokratischen Block gegeben ist, haben beide Arten der strategischen Ueberraschung keinen nachhaltigen Erfolg. Im Gegenteil wirken sie sich zum Nachteil f ü r den Angreifer aus, denn auf ihn fällt die ganze Last des Friedensbruches, v. Metzsch gibt das auch zu bedenken: „Das Odium des brutalen Friedensbruches unter Nichtachtung der bisher üblichen Gepflogenheiten kann sogar zu einem Iinpedimentum, d. h. zu einer Verschärfung der aussenpolitischen Kriegslage f ü h ren." „Für den Ueberfall müssen politische und militärische Gründe sprechen. Der überraschende Schlag wird nichts nützen, wenn er die Kriegsaufgabe politisch vergröbert." Die Last des Friedensbruches wird aber noch schwerer, wenn der Angriff barbarischen Vcrnichtungswillen erkennen lässt. Die Machthaber des Dritten Reiches sind entschlossen, in einem Krieg zwischen faschistischen und demokratischen Mächten, die eigene Unterlegenheit in der Zahl durch den rücksichtslosen Einsatz aller militärischen Machtmittel gleich bei Eröffnung der Waffenhandlung auszugleichen. Hemmungen, die in nichtfaschistischen Staaten gegen den Einsatz der teuflischsten Kriegsmittel — Gas-, Brand- und Sprengbomben — gegen die Zivilbevölkerung bestehen, gibt es im Dritten Reich nicht. Vom Einsatz dieser Kampfmittel versprechen sich die Theoretiker des totalen Krieges unter Umständen eine den gegnerischen Widerstandswillen brechende Wirkung. In Spanien haben sie bereits Proben ihres Vernichtungswillens geliefert. Vor den letzten Konsequenzen sind sie dort noch aus Rücksicht auf die Weltmeinung zurückgeschreckt. Die angestrebte schnelle Kriegsentscheidung werden die hier behandelten strategischen Aushilfen, auf die die Strategen des Dritten Reiches bauen, auf keinen Fall bringen. — Wir haben uns mit der damit zusammenhängenden Frage des kurzen oder langen Krieges ausführlich in dem Abschnitt „Ausweglose Strategie" befasst. Die dort von uns entwickelte These, dass der kommende Krieg von langer Dauer sein wird, sei hier nochmals unterstrichen. — Aber nur in einem kurzen Krieg sehen die Theoretiker des totalen Krieges eine Chance des Sieges, v. Metzsch unterstreicht diese Auffassung erneut. Er warnt vor der Illusion, von „einer kurzen Zukunftskriegsdauer" und fordert, 252

„dass wehrpolitisch das Alleräusserste geschehen muss, um sich wenigstens die Aussicht auf eine kurze Kriegsdauer zu verschaffen." Noch weniger als das „kleine Deutschland" vom September 1938 sei „Grossdeutschland" in der Lage, einen langen Krieg zu führen. Der kommende Krieg wird eben letzten Endes durch die wirtschaftliche Kraft und den geistigen Krieg entschieden. „Die Möglichkeiten, mittels eines .Blitzkrieges' einen gleichwertigen Gegner zu besiegen, sind gleich Null; wenn eine Offensive in der Gegenwart überhaupt gelingen kann, dann erst nach Erschöpfung des Gegners durch vergebliche Offensiven. Man hat also mit einer längeren Kriegsdauer zu rechnen, und selbst dann ist es noch fraglich, ob der Krieg mit militärischen Mitteln entschieden werden kann. Mit anderen Worten: die militärische Kraft ist nicht mehr am stärksten, sondern die wirtschaftliche Kraft ist die grösste Macht in der modernen Welt geworden." 101 Dieser These pflichtet auch v. Metzsch bei, wenn er schreibt: „Der deutschen Wehrpolitik ist die Aufgabe gestellt, dem hoffnungslosen Wirtschaftskrieg mit überlegener Schlagkraft zu begegnen. Es gibt im Kriege für uns Deutsche keinen anderen Weg." „Die grossen Seemächte werden sogar das Schwergewicht ihres Kampfes gegen Festlandmächte stets auf den Wirtschaftskrieg zu legen suchen. Sobald maritime Grossmächte am Kriege beteiligt sind, wird daher auch mit langer Kriegsdauer zu rechnen sein. . . Deutschland kann einstweilen ein überlegenes Gegengewicht gegen die franlco-angelsächsischen Seestreitkräfte nicht aufbringen . . . Es darf aber absolut nichts unversucht bleiben, um Deutschland vor einem erdrückenden Dauerkrieg zu schützen." Wir kommen nochmals auf die mögliche Mächtekonstellation im künftigen Krieg zu sprechen. Das Dritte Reich und seine Verbündeten profitierten bislang von der Uneinigkeit der bürgerlichen Demokratien und von ihrem Zögern, mit der Sowjetunion den unüberwindlichen Friedensblock zu bilden. Die faschistischen Angreifer verdanken ihre aussenpolitischen Erfolge der von den bürgerlichen Demokratien verfolgten Politik des „kleineren Uebels", einer Politik, die darauf abzielt, den Frieden auf „Teilzahlung", durch Preisgabe kleinerer Staaten, zu erkaufen oder ' " P o s s o n y , a. a. O., S. 82.

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durch Ablenkung der Aggressionen „in eine mehr oder weniger »annehmbare' Richtung". Diese Tendenz berechtigte Molotow durchaus zu der Fragestellung auf der Tagung des Obersten Sowjets (31. V. 1939): „Wird es nicht so kommen, dass die bestehende Tendenz dieser Länder zur Einschränkung der Aggression in einigen Regionen dennoch kein Hindernis bilden wird für die Entfesselung der Aggressionen in anderen Regionen?" Eine solche Absicht wird an der Wachsamkeit der Sowjetunion scheitern. Ueberdies sind dem Dritten Reich die russischen Trauben zur Zeit zu sauer. Die Zahl der kleinen Staaten aber, die den Aggressoren noch geopfert werden können, ohne dass die Interessen der Grossmächte empfindlich getroffen werden, ist gering. Vor allem befriedigen solche „Teilzahlungen" den Appetit der Aggressoren nicht, sondern regen ihn nur an. Wie lange auch der beschriebene Weg der bürgerlichen Demokratien noch eingehalten werden mag, verhindert er gerade die kriegerische Endauseinandersetzung mit den Aggressoren nicht. Zunächst kann er das Kriegspotential der faschistischen Staaten in materieller Hinsicht stärken. In dem Moment allerdings, wo die bürgellichen Demokratien ohne Vorbehalte den Friedensblock mit der Sowjetunion schliessen, wird sich die Stärkung der Aggressoren in der letzten Konsequenz als eine vermeintliche herausstellen. Das erhellt allein aus dem Beispiel des Dritten Reiches. Denn: 1. „Raumgewinn ist kein Sieg. Raumbehauptung erst recht nicht. Der Anschauungsunterricht, den Spanien und Ostasien bieten, wird leider nur ganz unzulänglich ausgenutzt." Diese Worte v. Metzschs sprechen zwar von Raumgewinn, der durch Waffenhandlung erworben ist — und sie wurden vor dem Verrat Casados geschrieben — aber sie sind ohne Zweifel ebenso auf den Raumgewinn des Dritten Reiches gemünzt, der durch Erpressung erworben wurde. Eines ist sicher: der Raumgewinn durch blutige oder unblutige Eroberungen verdünnt die Front der Aggressoren. „Wer mehr besitzt als bisher, hat auch mehr zu verteidigen als bisher." So schätzt v. Metzsch den Machtzuwachs des Dritten Reiches mit Recht als einen sehr fragwürdiger Natur ein. 2. Vermeintlich ist der Stärkezuwachs der faschistischen Staaten, weil er mit einer erheblichen Minderung ihres geistigen Kriegspotentials verknüpft ist. Dem deut254

sehen Volk ist durch den Raub Oesterreichs und der Tschechoslowakei klar geworden, dass es der Hitler-Diktatur nicht um Revision des Versailler Vertrages, sondern um Eroberungen geht. Sah es in Unternehmungen, die sich auf die Korrektur des Versailler Vertrages beschränkten, z. T. eine Wiedergutmachung eines dem deutschen Volk zugefügten Unrechts und zog Hitler aus dieser Stimmung Nahrung für seine Eroberungspolitik, so lehnt das deutsche Volk in seiner übergrossen Mehrheit Eroberungen ab. Ein um Eroberungen geführter Krieg ist in seinen Augen kein gerechter Krieg. Die vom Dritten Reich unterdrückten Völker sehen in jedem Krieg, den es führt, eine Ungerechtigkeit. Sie sind ein Sprengkörper in der nationalsozialistischen Wehrmacht. Das sind die Faktoren, die, geweckt durch Eroberungen, das geistige Kriegspotential des Dritten Reiches von innen heraus schwächen. Aber das Entscheidende ist, dass durch den Raub der Tschechoslowakei Kräfte ausgelöst wurden, die das geistige Kriegspotential des Dritten Reiches von aussen her vernichtend getroffen haben, was wiederum lähmend auf das eigene Volk und ermunternd auf die unterdrückten Völker zurückwirkt. Hentig macht in seiner nachträglichen Kritik an der wilhelminischen Aussenpolitilc im Hinblick auf die Situation Belgiens nach dem deutschen Neutralitätsbruch 1914 und nach der Besetzung durch deutsche Truppen eine treffende Bemerkung, die den Raub der Tschechoslowakei geradezu als den Wendepunkt in der nationalsozialistischen Aussenpolitik erscheinen lässt. Hentig1® sagt: „Die Völker leben nicht im luftleeren Raum. Auf jede Kraftverschiebung reagiert die Sympathie oder die Antipathie der Völkergemeinschaft. In jedem siegreichen Krieg fühlen sich Nationen bedroht und besiegt, die ganz, scheinbar ganz, an der Peripherie der Dinge stehen. Nicht zu siegen, siegreich zu bleiben, wird immer schwerer, je mehr sich die Interessen der Nationen und der Kontinente verflechten, decken, kreuzen." In der Tat, der Raub der Tschechoslowakei durch das Dritte Reich verursachte einen machtpolitischen Bergrutsch erster Ordnung, der das Grundkonzept der bisherigen nationalsozialistischen Aussenpolitik über den Haufen geworfen hat. Die Grundthese der nationalsozialistischen Aussenpolitik war, sich des Bündnisses mit England, oder we185

a. a. 0., S. 17.

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nigstens seiner wohlwollenden Neutralität zu versichern. Hitler macht es in „Mein Kampf" der wilhelminischen Aussenpolitik zum grössten Vorwurf, dass sie es mit England verdorben habe. Das Dritte Reich gab sich die erdenklichste Mühe, England zu gewinnen und die Front der Demokratien zu sprengen. Darauf fusste die ganze Kriegspolitik Hitlers. Sein Erfolg: Er hat zeitweise den Raum der Tschechoslowakei und Oesterreichs gewonnen und den Block der Demokratien mit Einschluss Englands und Amerikas gegen das Dritte Reich zusammengeschweisst. Diese Mächtekonstellation ist das sicherste Unterpfand der Niederlage des Dritten Reiches im kommenden Krieg, vor allem, wenn die Sowjetunion diesem Block angeschlossen ist. Dann muss das Dritte Reich den von ihm vorbereiteten und provozierten Krieg als Mehrfrontenkrieg führen unter ungleich ungünstigeren Bedingungen als das wilhelminische Deutschland den Weltkrieg. Die Möglichkeit, die für ein demokratisches Deutschland früher bestanden hat und später bestehen wird, sich im Falle der Bedrohung — einen Angriff wird es nicht führen — der Sowjetunion als Verbündete zu versichern, schaltet für das Dritte Reich gänzlich aus. Hitler muss seinen Krieg zusammen mit sehr fragwürdigen Verbündeten führen. Er hat den Krieg vor dem Beginn verloren. Denn die machtpolitische Verschiebung ist zugleich eine Stabilisierung der materiellen, personellen und geistigen Ueberlegenheit des demokratischen Blocks über den faschistischen. Alles über die Ueberlegenheit des Blockes der Demokratien Gesagte gilt allerdings nur für den Fall, dass er die Sowjetunion einschliesst. Es muss nochmals darauf hingewiesen werden, dass auch in den bürgerlichen Demokratien noch Kräfte genug am Werke sind, die einem Zusammengehen mit der Sowjetunion die „Verständigung" mit, d. h. die Kapitulation vor den faschistischen Angreifern vorziehen. Das lange Zögern der westlichen Demokratien, sich mit der Sowjetunion zum Zwecke der gemeinsamen Verteidigung des Friedens zusammenzutun, ist auf das Wirken solcher Kräfte zurückzuführen. Die Sowjetunion hat, wenn es um die Verteidigung des Friedens ging, es nie an Initiative und Uneigenniitzigkeit fehlen lassen. Will man auf ihr Mitwirken in einem Verteidigungskrieg gegen die faschistischen Angreifer verzichten, dann ist nur zu sagen: die Sowjetunion 256

kann dabei bestehen! üb ein solcher Krieg aber mit einem Sieg der Demokratien endet, ist zweifelhaft. Denn eine solche Mächtekonstellation wäre doch nur das Resultat der Tatsache, dass in den börgerlichen Demokratien jene Kräfte Oberwasser behalten hätten, die aus reaktionären Vorurteilen ein Zusammengehen mit der Sowjetunion ablehnen; d. h. dieselben Kräfte, die im Grunde lieber die „Verständigung" mit den faschistischen Mächten hätten. Diese Kräfte würden eine Spaltung ihrer eigenen Völker und damit die Niederlage bewirken. Wollte man diesem Gedanken zu Ende folgen, dann wäre der Fall denkbar, von dem Generalmajor a. D. Buchfinck spricht: der Krieg der vereinigten europäischen Regierungen gegen ihre Völker. E s ist kein Zweifel, dass solche Möglichkeiten im Schosse des künftigen Krieges schlummern. W e n n man alle Konsequenzen des künftigen Krieges ins Auge fasst, dann liegt eine Wandlung seines Charakters im Geiste Buchfincks gar nicht aus der Welt. Eine solche Frontenbildung würde weder auf den Charakter noch auf die Dauer des Krieges ohne Einfluss bleiben. Auf den Charakter, weil er an Grausamkeit nicht zu überbieten wäre und auf die Dauer, weil das ein langwieriger Krieg sein würde. Kehren wir zu dem heute Gegebenen zurück. E s ist ausser Frage, dass, wenn es noch eine Chance gibt, den Krieg zu verhindern, oder, wenn er durch die faschistischen Angreifer dennoch ausgelöst wird, ihn mit der Niederlage des Faschismus zii beenden, die Chance in der Bildung des Abwehrblockes der grossen Demokratien mit Einschluss der Sowjetunion liegt. W i r haben sowohl die materielle und personelle, vor allem aber die geistige Ueberlegenheit dieser Front des Fortschritts und der Freiheit gegenüber der der Unterdrückung und Barbarei im Auge. Denn auf die geistigen Divisionen kommt es in einem solchen Krieg vor allem an. W o und so lange die Sowjetunion im Bunde, werden der Elan und die Hingabe der Völker durch die Ueberzeugung genährt, dass es sich um einen gerechten Krieg handelt. W o und so lange die Sowjetunion im Bunde, wird von den Heeren der Demokratien ein Fluidum ausgehen, das den Arm der faschistischen Kriegsverbrecher lähmt, weil es ihre Armeen spaltet. Das wird sich im Waffengang und erst recht im geistigen Krieg bewahrheiten. 257

Stellen wir uns das Dritte Reich im „geistigen Grosskampf" vor, in dem, wie v. Metzsch sagt, es sich die Mächte „auf offenen oder .schwarzen Sendern' oder auf welchen Wegen sonst angelegeri sein lassen, den Zweifel . . . zu nähren und das Vertrauen zu untergraben". „In diesem beständigen Kampf der Geister nützt kein Bluff und keine Tarnung . . . Jede Tarnung wird schliesslich einmal durchschaut, die wehrpolitische am leichtesten". Wie schnell werden die nationalsozialistischen Kriegsziele entlarvt sein. Heute schon ist weiten Kreisen des deutschen Volkes klar, dass es in Hitlers Krieg nicht um die Verteidigung deutschen Bodens, sondern um den Raub fremden Bodens geht. In diesem Punkte ist die Tarnkappe der nationalsozialistischen Propaganda seit dem Raub der Tschechoslowakei nicht mehr wirksam. Glaubt man aber mit der verschwommenen Losung der „Verteidigung deutscher Lebensinteressen" den imperialistischen Machthunger verbergen zu können? Es ist ein so dehnbarer Begriff, dass man den ganzen Erdball damit umstricken kann. Jeder versteht darunter was er will: der eine Petroleum in Rumänien und in Transkaultasien, der andere Erze in Spanien und Marokko, ein Dritter Getreide in Polen und der Ukraine, wieder ein anderer Kolonien, der Fünfte militärische Stützpunkte und alle diese „edlen" Recken zusammen: die, Beherrschung der Welt durch den „deutschen Frieden". Deutsche Arbeiter und Bauern verstehen darunter Eroberungen, von denen sie nichts haben als Last und Leid, und dass es nicht lohnt, dafür ihre Haut zu Markte zu tragen. Der geistige Krieg wird den Nationalsozialismus in die Herzgrube treffen. Der durch Terror erzwungene. Schein der Einheit des deutschen Volkes und seiner Bedrücker wird sich als der stärkste Bluff erweisen. Die sozialen Spannungen, heute noch mit Knüppel und Beil niedergehalten, werden sich im Kriege mit elementarer Gewalt entladen. „Im Frieden wirken soziale Spannungen wehrlähmend. Im Kriege können sie entscheidend wirken. Es ist ein wehrpolitischer Irrtum, dass sich soziale Friedensrisse in der Not des Krieges schliessen. Sobald der Waffenkampf Krisen durchläuft, ist die Gefahr, dass sich die Gegensätze vertiefen, viel grösser." v. Metzsch will hier als Warner in letzter Stunde verstanden sein. • 258

Wir haben uns in diesem Buche bemüht, die sozialen Spannungen als die dynamische, den Nationalsozialismus letzten Endes sprengende Kraft aufzuzeigen und den Beweis zu führen, dass es für die Machthaber des Dritten Reiches kein Mittel gibt, sich der Wirkung dieser Kraft zu entziehen. Es gibt für die nationalsozialistischen Verderber Deutschlands keinen Schutz vor der Niederlage. Die Wehrmacht, auf die sie bauen, mit der sie ihren Weltbeherrschungsplan realisieren wollen, wird ihnen die bitter^ ste Enttäuschung bereiten. Bei der totalen Ausschöpfung der Wehrkraft des deutschen Volkes verliert die Wehrmacht ihre Sonderstellung gegenüber dem Volke. Das Volk wird Armee. „Mit der Mobilmachung, wo aus dem Beurlaubtenstande Millionen männlicher Volksgeschwister die Wehrmacht verstärken, wird bereits diese Sonderstellung zurücktreten, bis nach und nach die seelische Beschaffenheit des Volkes, und zwar j e länger der Krieg dauert um so mehr, auch die seelische Beschaffenheit der Wehrmacht wird und diese völlig beherrscht." 1M Das heisst also, um im militärischen Sprachgebrauch zu bleiben, dass die Wehrmacht verbürgerlicht. Aber: „Das Soldatentum ist der einzige Stand, der sich in einer Verbürgerlichung selbsttätig auflösen würde." Und um die der Wehrmacht der allgemeinen Wehrpflicht eigene, in einem faschistischen Staat besonders hervortretende Tendenz des Auseinanderbrechens noch klarer hervorzuheben, führen wir noch einen Kronzeugen der nationalsozialistischen Wehrmacht an, Herrn Altrichter, der schreibt: „Eine derartige seelische Wandlung des Heeres führt aber gerade im Zeitalter der allgemeinen Wehrpflicht zu den schwerwiegendsten Folgen, weil das Heer das Volk in Waffen verkörpert, und das Wollen der Massen innerhalb des Heeres mit dem des Volkes in völlige Uebereinstimmung gerät, wenn die Leiden und Lasten des Krieges das Mass des Erträglichen überschritten haben. Dann wird der Volkswille schliesslich zum letzten und höchsten Richter in den Lebensfragen der Nation. Da die bewaffneten Massen zum ausschliesslichen und bewussten Träger der Gewalt werden, verfügt die Staatsleitung auch über keine Machtmittel mehr, um ihren Willen und ihre Autorität gegenüber dem Massenwillen durchzusetzen. In der Unbedingtheit dieser L u d e n d o r f f : „ D e r t o t a l e K r i e g " , S. 11. "* P i n t s c h o r i n s , a . a. O., S. 25

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Verhältnisse Jiegt die ungeheure Gefahr der allgemeinen Wehrpflicht für den Staat, der sie schuf. Das innerpolitische Schicksal der Mittelmächte sowie das Russlands sprechen eine deutliche Sprache." 108 Gegen diese Dynamik gibt es im Dritten Reich freilich keinen Schutz. „Alle Forschungsarbeit und alle organisatorischen Massnahmen haben . . . nur begrenzten Wert, wenn dem Volk in Waffen der eiserne Wille zum Durchhalten und der nötige Opfersinn fehlen. Die Anforderungen, die künftig in dieser Beziehung an die gesamte Bevölkerung herantreten werden, sind aller Voraussicht nach weit schwerer als in vergangenen Zeiten."™ Wenn weder „die tiefgehendste psychologische Forschung" oder irgendein Heilmittel, wie von Rabenau sagt, noch die Todesstrafe, wie Weniger schreibt — „die im Kriege oft als das kleinere Uebel erschien" —, die Wehrmacht des Dritten Reiches zusammenhalten können, dann ist das Schicksal der nationalsozialistischen Tyrannei im künftigen Krieg entschieden. J a : „Der Volkswille wird schliesslich zum letzten und höchsten Richter in den Lebensfragen der Nation." Wo der Volkswille aber vergewaltigt wird, wird er sich in einem dem Volk von seinen Bedrückern aufgenötigten Krieg entladen; der Krieg gibt dem Volk die Machtmittel. Wo hingegen der Volkswille wirklich Gebieter in den Lebensfragen der Nation ist, wird es in einem Kriege, in dein die Lebensinteressen der Nation bedroht sind, nie an Aufopferung des Volkes fehlen. Das ha"t die Geschichte immer wieder bestätigt. In der jüngslen Zeit haben es der Kampf des republikanischen Spaniens bewiesen und beweist es täglich erneut der heroische Kampf des chinesischen Volkes. Zu welchen Leistungen ein um seine Freiheit und Unabhängigkeit kämpfendes Volk in einem Krieg selbst gegen einen materiell überlegenen Gegner fähig ist, haben Spanien lind China gezeigt. Wenn die faschistischen Angreifer ihren Krieg gegen den demokratischen Mächteblock beginnen, werden, je nach dem Grade der sozialen Spannungen in den bürgerlichen Demokratien, auch die Völker dieser Staaten beweisen, dass sie sich in einem als von ihnen als gerecht erkannten Krieg zu schlagen wissen. Die höchste Potenz wird in dieser Hinsicht aber die Sowjetunion aufbringen. ,6

" „ D i e s e e l i s c h e n K r ä f t e d e s D e u t s c h e n H e e r e s . . .", S. 197. „ M i l i t ä r w i s s e n s c h a f t l i c h e T i u n d s c h a u " , H e f t 1, 1936.

,M

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Nie wohl ist ein Volk von seinen Machthabern so gewissenlos in einen Krieg getrieben worden als das deutsche von den nationalsozialistischen Verderbern Deutschlands. Es gibt nichts erbärmlicheres als die Ideologen der deutschen Wehrmacht, die, die sichere Niederlage vor Augen, trotzdem auf Niederlage und Chaos hintreiben. Es zeugt noch von etwas Einsicht und Ueberlegung, aber auch von dem Fehlen jeder Perspektive, die ein Volk begeistern könnte, wenn Pintschovius™ im Hinblick auf den kommenden Krieg schreibt: „Wir fürchten uns ja in Wirklichkeit vor nichts so sehr wie vor blindem Zufall und vor der Gefahr, eines Tages alles, was wir leisteten und litten, für ein unsinniges Opfer halten zu müssen. Im Hexentanz einer Technik aber, wie sie das Artilleriegefecht westlicher Grosskampftage entfaltet hat, wird man im stillen die unbestimmte Angst nicht los, dass hier etwas geschieht, was eigentlich keiner will. Das furchtbarste und nachhaltigste Erlebnis der Materialschlacht beruht auf der Angst davor, dass an einem Vernichtungswerk gearbeitet wird, welches eigentlich keiner will, und das im Grunde jedes Opfer sinnlos, auch politisch sinnlos ist." Ein Verbrechen am deutschen Volk und an der Menschheit ist es aber, wenn deutsche Militärs in reaktionärer Beschränktheit auf einen Krieg hinarbeiten, auch auf die Gefahr hin, dass nur ein Trümmerhaufen bleibt. „Wir wissen es wohl", schreibt Generalmajor a. D. Buchfinck,1" „es ist ein ungleicher Kampf, der uns bevorsteht, und das Land, das diesen Krieg überstanden, wird nichts anderes sein, als ein grosser Trümmerhaufen. Aber was auf ihm noch ein armseliges Leben fristet, ist ein freies Volk." Das ist kein Ziel, dem das deutsche Volk folgen wird. Lassen Sie sich, Herr Generalmajor, die Antwort auf ihre Alternative von ihrem Kameraden Pintschovius geben: „Niemand — ausser Abenteurern — trägt seine Haut für ein als fadenscheinig erkanntes Ideal zu Markte." Wenn das deutsche Volk heute den Krieg schon nicht verhindern kann, geht es dennoch diesem Grauenvollen weder mit Apathie noch mit der verbrecherischen Losung: Nach uns die Sintflut! entgegen. Mögen die Buchfinks auf dem Trümmerhaufen enden, wenn es ihnen so beliebt. Das deutsche Volk hat ein höheres Ziel und verfolgt seinen 1,0

a. a. 0., S. 116/17. a. a. 0., S. 40.

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geraden Weg. Das Ziel ist eine freie demokratische Volksrepublik, der Weg geht über Hitlers Niederlage und Sturz. Das Hitler-System wird jenes Schicksal treffen, das Friedrich Engels 1887 den „deutschen Mordspatrioten" des wilhelminischen Deutschlands prophezeite. Wenn Engels damals die Geister der preussischen Niederlagen von 1806 und 1850 heraufbeschwor, so klingen seine Worte heute, als wären sie dem Nationalsozialismus auf den Leib geschnitten. Nur einige Personen in der Spitze sind inzwischen ausgewechselt, sonst hat heute alles doppelt Gültigkeit. Engels schrieb: ' „Auch jetzt noch wird es nötig sein, immer wieder an jene Zeit der Ueberhebung und der Niederlagen, der königlichen Unfähigkeit, der diplomatischen, in ihrer eigenen Doppelzüngigkeit gefangenen preussischen Dummschlauheit, der sich in feigstem Verrat bewährenden Grossmäuligkeit des Offizieradels, des allgemeinen Zusammenbruchs eines dem Volk entfremdeten, auf Lug und Trug begründeten Staatswesens zu erinnern. Der deutsche Spiessbiirger (wozu auch Adel und Fürsten gehören) ist womöglich noch aufgeblasener und chauvinistischer als damals; die diplomatische Aktion ist bedeutend frecher geworden, aber sie hat noch die alte Doppelzüngigkeit; der Offizieradel hat sich auf natürlichem wie künstlichem Weg hinreichend vermehrt, um so ziemlich wieder die alte Herrschaft in der Armee auszuüben, und der Staat entfremdet sich mehr und mehr den Interessen der grossen Volksmassen, um sich in ein Konsortium von Agrariern, Börsenleuten und Grossindustriellen zu verwandeln, zur Ausbeutung des V o l k s . . . Deutschland wird Verbündete haben, aber Deutschland wird seine Verbündeten, und diese werden Deutschland bei erster Gelegenheit im Stich lassen. Und endlich ist kein anderer Krieg für PreussenDeutschland mehr möglich, als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreissigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unseres künstlichen Getrie262

bes in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankrott; Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Strassenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schliesslichen Siegs der Arbeiterklasse." Das deutsche Volk will den Frieden, so wie jedes Volk den Frieden will. Deutsche Mütter und Frauen bangen um ihre Söhne und Männer wie die Mütter und Frauen in aller Welt. Die deutschen Arbeiter hassen Krieg und Unterdrückung ebenso wie die Arbeiter in aller Welt. Deutsche Bauern lieben ihren Boden, wollen ihn in Frieden bestellen und die Früchte ihrer Mühen ernten wie die Bauern in aller Welt. Die deutsche Jugend in ihren besten Teilen ist des Marschierens und der Stumpfsinnigkeit des Exerzierens müde; sie will lernen, teilhaben an den Schöpfungen des Geistes und Fortschritts wie die Jugend in aller Welt. Deutsche Intellektuelle stöhnen unter der Schande der ihnen vom Nationalsozialismus aufgezwungenen geistigen Prostitution. Nur der Abschaum des deutschen Volkes will den Krieg. Gegen den nationalsozialistischen Kriegs- und Unterdrückungsapparat stehen die deutschen Friedenskräfte in und ausser dem Dritten Reich — die deutsche Opposition. Sie ist eine politische Realität. Ihren Kern bilden die unbekannten Helden des illegalen Kampfes, die antifaschistischen Arbeiter im Dritten Reich. Um diesen Kern scharen sich mehr und mehr alle freiheitlichen und fortschrittlichen Schichten des deutschen Volkes. Die deutsche Opposition, anerkannt und unterstützt von allen, die ihr Freund sein müssten, könnte heute um vieles stärker sein. Aber sie ist längst so stark, dass sie von ihren Feinden als Macht anerkannt ist. Der brutale aber vergebliche Unterdriickungsfeldzug des Hitler-Regimes gegen die deutsche Opposition ist ihr Beglaubigungsschreiben. Die deutsche Opposition kämpft mit allen Mitteln, um die Kriegstreiber an der Auslösung des Krieges zu hindern, wissend, dass das Nazi-Regime am Frieden ersticken muss. Vermag sie die Auslösung des Krieges nicht zu verhindern, setzt sie im Krieg ihren Kampf zur raschen Beendigung des Krieges und zur 263

Uebernahme der Macht fort. Die deutsche Opposition hat den Willen zur Macht und die Ueberzeugung, dass sie die Macht nur aus eigener Kraft erringen und erhalten kann. Die deutsche Opposition ist Willensvollstreckerin der übergrossen Mehrheit des deutschen Volkes. In ihrem Namen kämpft und verkündet sie: Das deutsche Volk kämpft für einen Frieden ohne Annexionen und des völligen nationalen Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Den von Hitler vergewaltigten Völkern wird ihre nationale Unabhängigkeit und staatliche Selbständigkeit zurückgegeben. Der Kampf des deutschen Volkes gegen Hitlers Krieg bis zu seiner Niederlage schafft die Voraussetzung, dass die Niederlage und Zerschlagung des Nationalsozialismus nicht die Zerschlagung und Versklavung Deutschlands wird. Nur wenn das deutsche Volk sich als stark genug gegenüber den nationalsozialistischen Verderbern Deutschlands erweist, wird es auch stark genug sein, etwaigen Versuchen imperialistischer Kräfte, die „deutsche Gefahr" durch die Zerschlagung Deutschlands zu bannen, erfolgreich zu begegnen. Aber nur der Sturz der nationalsozialistischen Diktatur und die Errichtung der freien deutschen demokratischen Volksrepublik garantiert dem deutschen Volk in einem möglich werdenden Verteidigungskrieg die restlose Unterstützung der Sowjetunion und der Völker der demokratischen Staaten, und damit die Existenz eines geschlossenen, freien Deutschlands. Für den Nationalsozialismus gibt es keinen Schutz vor der Niederlage. Das deutsche Volk selber wird Vollstreckerin dieser Niederlage werden, weil sie die Vorbedingung der Freiheit Deutschlands ist. Das deutsche Volk wird, wenn es den Krieg Hitlers schon nicht verhindern kann, dem Krieg den Sinn geben, durch den „die Wege zu neuen Formen und zu neuem Inhalt des Menschheitsschicksals erschlossen werden". Das deutsche Volk wird sich und die Menschheit von der Geissei des Nationalsozialismus befreien und so den Namen Deutscher wieder ehrlich machen. In der Gemeinschaft freier Völker wird das künftige Deutschland seinen Platz haben, der ihm dank der grossen kulturellen Leistungen der Besten des deutschen Volkes gebührt.

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Vom gleichen

Verfasser

erschienen:

Im Jahre 1935:

Hitlers Luftflotte startbereit! Herausgegeben von Dorothij Woodmann (Französische, deutsche Ausgabe) (Dcutschc Ausgabe vergriffen)

Der französische General A. Niessei schrieb im Juli 1935 in der „Revue Bleue", Politique et Literaire, über das Buch u. a.: „Seit Jahren verfolge ich die Fortschritte des deutschen Luftwesens. Ich habe sie bereits wiederholt aufgedeckt... Heute muss ich versichern, dass es unmöglich ist, über diesen ernsten Gegenstand eine ausführlichere, klarere und genauere Dokumentation zu finden als die, die das Buch D. Woodmanns enthält." Im Jahre 1936:

Hitlers motorisierte Stossarmee! Erschienen unter dem Pseudonym Albert Müller (Englische, französische, deutsche Ausgabe) (Deutsche Ausgabe vergriffen)

Der englische Generalmajor J. V. C. Füller schrieb am 10. Mai 1936 im „Sunday Dispatch" in einer längeren Besprechung des Buches u. a.: „ Deutschlands motorisierte Stossarmee' von Albert Müller ist ein aussergewöhnliches Buch, es ist weit interessanter als mancher Reisser, denn es beschäftigt sich mit Tatsachen und nicht mit Phantasiegebilden. Sein deutscher Titel gibt den Geist des Buches in wunderbarer Weise w i e d e r . . . Die Ziffern und die Statistiken des Verfassers... sind sehr eindrucksvoll, besonders diejenigen, welche sich mit den deutschen Luftstreitkräften befassen." Die Baseler „National-Zeitung" vom 17. März 1936 schrieb: „Ein Buch erscheint zur. rechten Zeit, es heisst .Hitlers motorisierte Stossarmee'... Hinter dem Autor A. Müller, wohl einem Decknamen, verbirgt sich ein Fachmann, der militärisch offenbar bis ins Letzte Bescheid weiss. Das Buch ist sachlich und keine Hetzschrift."

[¡âjgjjâg) imp. coopérative Etoile, 18 et 30, Fg. du Temple, Paris

(11 e ).

Anhang

Erinnerungen von Albert Schreiner aus dem Jahre 1956 Über ein Buch, das Hitlers Niederlage voraussagte Einer Reminiszenz um ein Buch, das Hitlers Niederlage voraussagte, seien folgende politische „Binsenwahrheiten" vorangestellt: Die Kommunistische Partei Deutschlands warnte als einzige politische Partei der verendenden Weimarer Republik schon lange vor Auslieferung der Regierungsgewalt durch das deutsche Monopolkapital an Hitler: „Hitler, das ist der Krieg!" Die Machtübergabe an Hitler am 30. Januar 1933 manifestierte, daß die ökonomisch und politisch entscheidenden Schichten des Monopolkapitals entschlossen waren, die Neuaufteilung der Welt zugunsten des deutschen Imperialismus zu erzwingen. Die Vorbereitung auf einen neuen Weltkrieg wurde hinfort das Leitmotiv der gesamten Innen- und Außenpolitik des offiziellen Deutschlands. Zur Durchführung dieses Kurses benötigte die Großbourgeoisie eine Ideologie, die das geplante Verbrechen an der deutschen Nation und an der Menschheit in ein System brachte; und sie benötigte weiter eine das gesamte politische und gesellschaftliche Leben des Volkes monopolartig beherrschende Massenorganisation, geführt von skrupellosen und abenteuerlichen Elementen, die vor keinem Verbrechen zurückschreckten, das Verbrechen vielmehr zum Gesetz ihres Handelns machten. Beide Erfordernisse erfüllte die Hitlerpartei. Der von ihrer Führung angestiftete Reichstagsbrand wurde zum Fanal der konzentrierten Vorbereitung und der darauffolgenden Entfesselung des Krieges und der ihn charakterisierenden, in der ganzen Menschheitsgeschichte ungeheuerlichen nazistischen Kriegsverbrechen. Der Kampf gegen diese Kriegspolitik war in jenen Jahren das beherrschende Motiv der Gesamtpolitik der Kommunistischen Partei Deutschlands in Deutschland und in den Emigrationsländern. Unter den Bedingungen der Illegalität war es äußerst schwer, die politischen Erkenntnisse der Partei möglichst großen Teilen des deutschen Volkes zu vermitteln und sie in Triebkraft des antifaschistischen Kampfes umzusetzen. Zu dessen Unterstützung entstand in den Zentren der deutschen Emigration eine vielseitige, kämpferische Literatur aller Gattungen: getarnte Flugschriften, Zeitungen, Zeitschriften und Werke schöngeistigen und auch politisch-wissenschaftlichen Charakters. Mit den in ihnen geführten, reich variierten und massiv dokumentierten Anklagen gegen den friedens- und menschheitsfeindlichen Charakter des Faschismus wurde die Partei zugleich dem wichtigsten Anliegen gerecht, das Ansehen unserer Nation, des wahren Deutschlands, wirksam zu verteidigen und Verbündete für den antifaschistischen Kampf zu werben. Ein wichtiges Zentrum der deutschen antifaschistischen Propaganda war bereits 1933 Paris. Im Zusammenhang mit der Herausgabe des „Braunbuches" aus Anlaß des Reichstagsbrandprozesses in Leipzig und des in London abgehaltenen Gegenprozesses wurde von dem damaligen Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, Willi 269

Münzenberg, das Verlagsunternehmen „Editions du Carrefour" gegründet. Parallel zum „Braunbuch" entstand 1933 ein weiteres umfangreiches Dokumentationswerk mit dem Titel „Hitler treibt zum Krieg". Es erschien 1934 und zeichnete ein umfassendes Bild vom damaligen Stand der Aufrüstung des deutschen Imperialismus. Auf Grund meiner langjährigen Beschäftigung mit militärischen und militärpolitischen Fragen widmete ich mich in den Jahren meiner Emigration fast ausschließlich dieser Thematik. Dem genannten Werk folgten ein Jahr später „Hitlers Luftflotte startbereit!" und 1936 „Hitlers motorisierte Stoßarmee". In all diesen Büchern stützte ich mich fast ausschließlich auf Angaben einschlägiger nazistischer Fachliteratur und auf interne Berichte von illegalen Kämpfern in Deutschland. Das verschaffte den Büchern ein weites internationales Echo in militärischen Fachkreisen sowie in der Presse. Durch die Übersetzung der Bücher in mehrere Sprachen (zum Beispiel ins Russische, Französische, Englische und Schwedische) wurde ihre Verbreitung wesentlich gefördert. Mehr und mehr kam ich bei dieser Arbeit zu der Überzeugung: Die Dokumentation, die Sammlung und kritische Wertung von Fakten allein genügen nicht. Die Auseinandersetzung mit der spezifischen Wehrmachtsideologie, mit den Fragen der psychologischen Kriegsvorbereitung und Kriegführung sollte Gegenstand meines nächsten Buches werden. Zunächst konnte ich aber diese Aufgaben nicht realisieren. Anfang August 1936 ging ich im Auftrag der Partei mit der ersten Gruppe deutscher Kommunisten nach Spanien. Bereichert durch die Erfahrungen an den verschiedensten Fronten des spanischen Bürgerkrieges, nahm ich nach meiner Rückkehr nach Paris im Jahre 1938 sofort meinen alten Plan wieder auf. Im April 1939 erschien im Verlag „Promethee", Paris, in deutscher Sprache mein Buch „Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Wehrmachtsideologie des Dritten Reiches". Diese am Vorabend des zweiten Weltkrieges veröffentlichte wissenschaftlich-politische Streitschrift wurde als Anleitung für den Kampf um den Frieden geschrieben. Sie sollte zur Entfachung des Friedenswillens in Volk und Wehrmacht beitragen und helfen, in Deutschland und im internationalen Maßstab das Zusammenwirken der Kräfte des Widerstandes gegen den aggressiven, den Frieden bedrohenden deutschen Imperialismus und Militarismus herbeizuführen. Das Buch war auch zur politischen Orientierung der Hitlergegner und als Richtschnur des Handelns gegen den Krieg für den Fall gedacht, daß er nicht verhindert werden konnte. Und schließlich sollte es noch dazu beitragen, den von der faschistischen Propagandamaschine erzeugten Machtrausch in Volk und Armee vom unaufhaltsamen Siegeszug des „Tausendjährigen Reiches" zu zerstören. In diesem Buch werden die Ideologie des deutschen Militarismus samt seinen geschichtlichen Wurzeln und die propagandistischen Methoden bei der Vorbereitung des zweiten Weltkrieges untersucht und einer kritischen Analyse unterzogen. Dabei ließ ich mich von den Erkenntnissen der marxistisch-leninistischen Geschichtsauffassung leiten, die das Wissen um die Gesetzmäßigkeit des historischen Geschehens vermittelt. Das befähigte mich zu der in dem Buch begründeten und dann durch die geschichtliche Entwicklung bestätigten Voraussage der totalen Niederlage Hitlerdeutschlands. Eine solche Voraussage war seinerzeit keineswegs so alltäglich und selbstverständlich, wie es heute scheinen mag, und der Begriff von der Gesetzmäßigkeit der Niederlage 270

des deutschen Imperialismus, eine theoretische Folgerung aus den Erfahrungen zweier Weltkriege, noch nicht verbreitet. Es gab auch kein sozialistisches Weltlager. Noch war die Sowjetunion der einzige sozialistische Staat, zudem in ihrer Existenz bedroht durch die kapitalistische Umwelt. Der gegen die UdSSR gerichtete Rammbock des Kapitalismus war der faschistische deutsche Imperialismus. Seinen Aufstieg hatten die Westmächte gefördert und ihm die ersten Opfer seiner aggressiven Expansion, Österreich und die Tschechoslowakei, in den Rachen gestopft. Das republikanische Spanien war niedergeworfen. Es existierte zudem ein Block hochaufgerüsteter faschistischer Staaten, die die Neuaufteilung der Welt und den Kampf um die Weltherrschaft begonnen hatten. Angesichts dieser Lage war es von Bedeutung, mit welcher inneren Überzeugungskraft der Kampf um den Frieden geführt wurde. Die Zahl der Zweifler an einer Niederlage Hitlers war nicht gering. Deshalb vermerkte ich auch im Vorwort des Buches „Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers": „Es mag vermessen erscheinen, angesichts der letzten politischen Machtverschiebungen in Europa zugunsten des Dritten Reiches von seiner totalen Niederlage im kommenden Krieg zu schreiben. Wir sind in unserer Auffassung nicht nur nicht erschüttert, sondern bestärkt." Zur Voraussage der Niederlage Hitlerdeutschlands gehörte organisch der am Schluß des Buches gewiesene Ausweg zur Rettung der Nation. Er gründete sich auf der programmatischen Konzeption des in Paris unter Vorsitz von Heinrich Mann wirkenden deutschen Volksfrontausschusses, dem ich angehörte. Von Heinrich Mann erhielt ich einen langen, begeisterten Brief über mein Buch. Er wurde mit vielen anderen Dokumenten, darunter auch einem zustimmenden Brief Hermann Dunckers, während meiner Internierung von französischen Freunden sichergestellt, konnte aber leider nicht wieder aufgefunden werden. Das Hermann-DunckerArchiv überließ mir vor einigen Jahren Auszüge aus Briefen Dunckers an seine Frau Käthe, in denen er über mein Buch spricht, im Brief vom 22. Juli 1939 unter anderem: „Schreiner hat ein wirklich famoses Buch geschrieben, das sich eingehend mit der Wehrpsychologie des 3. Reiches auseinandersetzt . . . Ich bin sehr begeistert von dem Buch. Man sollte es in Millionen Exemplaren in die Köpfe schießen können. Wirklich eine Fülle unerhörten Stoffes!" Ja, das war unser Problem, das „Hineinschießen" der im Buch entwickelten Gedanken in die Köpfe deutscher Menschen. Mit Hilfe der Partei gelang es, eine naturgemäß beschränkte Anzahl der Bücher über die Grenzstellen nach Deutschland zu bringen. Auf postalischem Wege wurde von der Schweiz aus versucht, das Buch direkt an Offiziere der Wehrmacht zu schicken. Ein großer Verbreitungserfolg eröffnete sich durch das Anerbieten eines bürgerlichen französischen Verlages, mit dem ich über die Herausgabe des Buches in französischer Sprache verhandelt hatte. Bei der ersten Unterredung war der Verlagsvertreter sehr reserviert, weil das Buch bereits in deutscher Sprache vorlag. Etwa drei Wochen später offerierte er ein Projekt, das mich erstaunen ließ. Der Verlag wollte die Übersetzung auf eigene Kosten vornehmen und das Buch zum Beispiel an alle Parlamentarier Frankreichs, der Schweiz, Belgiens, Luxemburgs und der Niederlande gratis senden. Ich verhehlte mein Erstaunen nicht und gab mein Einverständnis unter der Bedingung, daß keinerlei gedankliche und textliche Veränderungen vorgenommen werden dürften. 271

Das wurde mir zugesichert. Auf meine Frage, wann das Buch erscheinen sollte, erwiderte der Verlagsvertreter: Anfang September. (Die Unterredung fand Ende Mai 1939 statt.) Ich antwortete: „Anfang September ist der Krieg da!" Darauf kam die Entgegnung, das wäre unmöglich, denn es sei mit kompetenten Instanzen verhandelt worden, die die Möglichkeit des Krieges im September mit der Begründung verneinten, die Nazis hätten für Anfang September den „Parteitag des Friedens" nach Nürnberg einberufen. Auf diese Naivität konnte ich nur antworten: „Den Teufel spürt das Völkchen nie, und wenn er es beim Kragen hätte." Wenn mir zu meiner Einschätzung noch ein Argument gefehlt hätte, dann war es das mit dem „Parteitag des Friedens". Das Abkommen mit dem Verlag wurde also geschlossen; denn, so sagte sein Vertreter, im Falle eines Krieges bekomme das Buch erst recht seine Bedeutung. Der September 1939 kam, der Krieg auch, und an der geschlossenen Tür des Verlages fand ich bei meinem Besuch ein gedrucktes kleines Plakat: Verlag wegen Mobilisierung des gesamten Personals geschlossen! Einige Tage darauf mußten wir deutschen Antifaschisten ins Internierungslager. Der reaktionäre Flügel der französischen Bourgeoisie begann den „drole de guerre" — den „komischen Krieg" — uns gegenüber nach der Devise zu führen: Die Feinde unserer Feinde sind auch unsere Feinde! Nun wechselten für mich in größeren Abständen Lagerleben, Flucht aus dem Lager, Verhaftung, Polizeigefängnis, Lager, wieder Flucht, erneut Verhaftung und so fort. Von dem Buch hörte ich erst wieder im Lager. Im Spätherbst 1940 fuhr ein Genosse im Auftrag der Parteileitung von Südfrankreich nach Paris, um Fragen der Koordinierung der Arbeit gegen die deutschen Besatzungstruppen zu besprechen. Nach seiner Rückkehr, etwa im Februar 1941, teilte er mir in Marseille mit, daß er eine weniger gute und eine gute Nachricht für mich habe; die erste: Sofort nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris habe die Gestapo meine Wohnung versiegelt und später geräumt. Die gute Nachricht: Mein Buch werde von deutschen Soldaten in den Antiquariaten am Seineufer eifrig gekauft. Beamte der französischen Geheimpolizei hatten nämlich bei Kriegsbeginn die Verlagsbestände beschlagnahmt und sie an die Antiquariate verscheuert. So kamen die Beamten zu einigen zusätzlichen Aperitifs, und das Buch über die totale Niederlage kam doch noch in die richtigen Hände.

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Nachwort

Das Buch Albert Schreiners „Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers" erscheint als Band 4 in der Reprint-Reihe des Akademie-Verlages „Antifaschistische Literatur in der Bewährung". Es wurde im Frühjahr 1939 vom Verlag „Editions Promethee" in Paris veröffentlicht. Seit sechs Jahren wütete in Deutschland die faschistische Diktatur, und seit sechs Jahren bereitete sich der deutsche Imperialismus mit Hilfe des Hitlerregimes auf einen neuen Kampf um die Weltherrschaft vor. 1937/1938 spitzte sich die Kriegsgefahr außerordentlich zu, denn die Politik der Hitlerregierung zielte auf die Entfesselung eines Blitzkrieges, mit dessen Hilfe die Gegner einzeln und nacheinander niedergeworfen werden sollten. Das war die Militär- und Kriegsdoktrin des faschistischen deutschen Imperialismus und zugleich die Lehre aus dem ersten Weltkrieg, einen Mehrfrontenkampf zu vermeiden. Polen spllte zuerst geschlagen werden. Das Hauptziel aber war die UdSSR. Die „Weisung für die einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht" vom 24. Juni 1937 sah vor, daß die faschistischen Streitkräfte schon 1937/38 „etwa sich ergebende politisch günstige Gelegenheiten militärisch ausnutzen" können sollten. Um die Hauptziele zu erreichen, konzentrierte sich die faschistische Aggressionspolitik vorerst auf Österreich und die Tschechoslowakei. Doch zunächst war offene Waffengewalt nicht nötig. Durch die sogenannte Befriedungspolitik der imperialistischen Westmächte Großbritannien und Frankreich und mit Unterstützung der USA konnte Hitlerdeutschland seine ersten Aggressionsziele ohne Krieg erreichen. Am 12. und 13. März 1938 wurde Österreich annektiert. Und durch das Münchener Abkommen vom September 1938 — Höhepunkt der englisch-französischen Beschwichtigungspolitik — erhielt die Hitlerregierung freie Hand, Teile der Tschechoslowakischen Republik zu rauben. Warnungen der UdSSR schlugen die Westmächte in den Wind. Denn schließlich wollten sie mit ihren politischen und territorialen Zugeständnissen Hitlerdeutschland, das „Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus", wie der englische Außenminister Lord Halifax erklärt hatte, zur militärischen Intervention gegen die UdSSR ermuntern. Dafür wurde die CSR dem faschistischen Deutschland ausgeliefert. Anfang Oktober marschierte die Wehrmacht in das Sudetengebiet ein. Ein halbes Jahr später wurde die CSR als selbständiger Staat beseitigt. Böhmen und Mähren wurden als Protektorat dem Reichsgebiet angegliedert. Die Slowakei mußte sich als „unabhängiger Staat" dem „Schutz" des Hitlerregimes unterstellen. Da Hitler durch die „Befriedungspolitik" der Westmächte scheinbar alles auf friedlichem Wege erreichen konnte, begannen sich immer größere Teile des deutschen Volkes in trügerischen Friedensillusionen zu wiegen. Die von der Nazipropaganda gezüchtete nationa273

listische Überheblichkeit verfehlte in weiten Kreisen des Volkes nicht ihre Wirkung. Die Massenbasis des faschistischen Regimes im Volke wuchs. In Wirklichkeit aber erhob sich die Gefahr eines Weltkrieges riesengroß. Eine neue Etappe, die letzte, für die Vorbereitung des Krieges begann. In diesen spannungsgeladenen Wochen legte Albert Schreiner letzte Hand an sein Buch. Entlarvung der faschistischen Kriegspolitik und Kampf um die Sicherung des Friedens waren zur politischen Hauptaufgabe des antifaschistischen Widerstandes geworden, zur höchsten nationalen Aufgabe aller ehrlichen Deutschen. Die Kommunistische Partei Deutschlands hatte von Beginn der Nazidiktatur an diesen Kampf als einzige organisierte Kraft geführt, den sie angesichts der drohenden Kriegsgefahr verstärkte. Im Mai 1938 beriet das Zentralkomitee der Partei neue Aufgaben, die sich aus dem Übergang des Hitlerregimes zur offenen Aggression ergaben. In der Resolution wurde darauf hingewiesen, daß Hitler mit seiner Außen- und Kriegspolitik die Unterjochung und Ausplünderung anderer Völker, die Vernichtung der Arbeiterbewegung und aller demokratischen Organisationen in Europa beabsichtige. Dieser Krieg würde verheerender als der erste Weltkrieg sein. Dringender denn je seien deshalb die antifaschistische Aktionseinheit zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten und eine breite Volksfront aller Hitlergegner nötig. Eine gründliche Einschätzung der Lage gab die Berner Parteikonferenz der K P D Ende Januar/Anfang Februar 1939, zu einer Zeit, da die Kriegsvorbereitungen des faschistischen deutschen Imperialismus unmittelbar vor dem Abschluß standen. In der Resolution „Der Weg zum Sturze Hitlers und der Kampf um die neue demokratische Republik" trafen die Konferenzteilnehmer die wichtige Feststellung: „Im Westen wie im Osten schafft daher das Hitlerregime eine Lage, wo über Nacht das deutsche Volk in die Katastrophe des Krieges gestürzt werden kann — eines Krieges gegen die gewaltige Front aller von Hitler und der Kriegsachse bedrohten und angegriffenen Völker." 1 Wilhelm Pieck hatte das Hauptreferat „Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Partei" gehalten und unter anderem erklärt: „Wichtig ist vor allem, daß wir in den Massen den Schwindel Hitlers entlarven müssen, daß er den Frieden will . . . Wir müssen aufzeigen, daß der Hitlerfaschismus nicht eine Politik zugunsten der deutschen Nation, sondern nur zugunsten der relativ kleinen Oberschicht der Bourgeoisie, des Trustkapitals, f ü h r t . . . Das trifft gerade auf die Kriegspolitik des Hitlerfaschismus zu. Es gibt nur eine kleine Schicht im deutschen Volk, die ein Interesse am Krieg, an der Eroberung und Unterjochung anderer Völker hat, das ist das Trustkapital, der Reaktionärste, am meisten imperialistische und chauvinistische Teil der B o u r g e o i s i e ' . . . Diesen Gegensatz zwischen der Politik des Hitlerfaschismus und den Interessen der deutschen Nation müssen wir in unserer Agitation sehr stark herausarbeiten." 2 N u r die Aktionseinheit der Arbeiterklasse und die antifaschistische Volksfront können das Hitlerregime stürzen und den Krieg verhindern. 1 Revolutionäre deutsche Parteiprogramme, hg. und eingel. von Lothar Berthold und Ernst Diehl, Berlin 1967, S. 163. 2 Die Berner Konferenz der KPD (30. Januar - 1. Februar 1939), hg. und eingel. von Klaus Mammach, Berlin 1974, S. 64 u. 65. 274

Ganz dieser Aufgabe diente das Buch Albert Schreiners. Es stimmte mit der Einschätzung und Aufgabenstellung der Berner Konferenz der KPD überein und war selbst ein Beitrag zur Erfüllung ihrer Beschlüsse. Albert Schreiner war ein bewährter kommunistischer Funktionär. Am 7. August 1892 in Aglasterhausen, Kreis Mosbach (Baden), als viertes Kind eines Metallarbeiters geboren, wurde er als Maschinenschlosserlehrling schon 1908 Mitglied der Sozialistischen Arbeiterjugend. Ein Jahr später trat er in die Gewerkschaft ein und schloß sich im Jahr darauf der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an. Schon frühzeitig brach er mit der Politik der Sozialdemokratie, vertrat während des ersten Weltkrieges antimilitaristische und revolutionäre Positionen und wurde 1917 Mitglied der USPD. Als Anhänger Karl Liebknechts und Mitglied der Spartakusgruppe gehörte der Autor während der Novemberrevolution zu den Begründern der Kommunistischen Partei Deutschlands in Württemberg. In der K P D hatte Albert Schreiner — in stetem Kampf gegen Militarismus und imperialistische Kriegsgefahr — sich zu einem erfahrenen Militärpolitiker der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung entwickelt; das demonstrierte er besonders an der Seite Ernst Thälmanns in leitenden Funktionen im Roten Frontkämpferbund und in seiner umfangreichen publizistischen Arbeit. Sein Weg in der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung verlief unter den komplizierten Bedingungen des Klassenkampfes nicht immer geradlinig und widerspruchslos. Nach Errichtung der Nazidiktatur emigrierte Albert Schreiner nach Frankreich und widmete sich militärwissenschaftlichen Studien zur Entlarvung der Aggressionspolitik des Hitlerregimes. Das erste größere Ergebnis dieser Studien war das 1934 im Pariser Verlag Editions du Carrefour erschienene umfangreiche Werk „Hitler treibt zum Krieg", dem Schreiner den Untertitel „Dokumentarische Enthüllungen über Hitlers Geheimrüstungen" gab (als Band 1 in die Reprint-Reihe aufgenommen). In den beiden nächsten Jahren folgten zwei weitere Bücher als Frucht dieser militärwissenschaftlichen Arbeit: 1935 „Hitlers Luftflotte startbereit!" und 1936 „Hitlers motorisierte Stoßarmee!", beide ebenfalls im Verlag Editions du Carrefour herausgegeben. Sie sind gleichfalls für die Reprint-Reihe vorgesehen. Nachdem „Hitlers motorisierte Stoßarmee!" im Frühjahr 1936 erschienen war, arbeitete Albert Schreiner als Sekretär im Internationalen Komitee zur Befreiung Ernst Thälmanns. Der von Hitlerdeutschland und Mussoliniitalien unterstützte faschistische Putsch Francos im Juli 1936 gegen die spanische Volksfrontregierung hatte eine große internationale Solidaritätskampagne ausgelöst. Aus aller Welt kamen Antifaschisten, um mit der Waffe in der Hand dem spanischen Volk gegen die Francofaschisten zu helfen. Die deutschen Hitlergegener — Kommunisten, Sozialdemokraten, linksliberale Intellektuelle und andere Demokraten — stellten das größte internationale Kontingent. Zu den ersten deutschen Antifaschisten, die dem spanischen Volk zu Hilfe eilten, gehörte auch Albert Schreiner. Er war vom ZK der K P D beauftragt, mit der Centuria Thälmann die erste internationalistische Kampfeinheit der spanischen Volksarmee aufzustellen. Im September schon ging sie an die Front. Bis Frühjahr 1938 kämpfte Albert Schreiner in verschiedenen Führungsfunktionen der Internationalen Brigaden. Dann rief ihn die Parteiführung nach Paris zurück, wo er für 275

Parteizeitungen und andere antifaschistische Presseorgane arbeitete. Vor allem aber war er zusammen mit weiteren führenden Funktionären in der vom Sekretariat des ZK der K P D im Herbst 1938 gebildeten Arbeitskommission „Zwanzig Jahre K P D " tätig. Während dieser Zeit schrieb Schreiner das Buch „Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers". Nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges wurde Albert Schreiner in Frankreich interniert und passierte verschiedene Lager. Im Mai 1941 konnte er mit Hilfe von Genossen aus Frankreich ausreisen und gelangte über Marokko in die USA. Seit Mai 1945 forderte er immer wieder öffentlich, nach Deutschland zurückkehren zu können. Im Oktober 1946 endlich konnte er die USA verlassen. Auf einem sowjetischen Dampfer reiste er nach Odessa, und von dort gelangte er über Moskau nach Hause. Im Dezember traf Schreiner in Berlin ein. Zuerst arbeitete Albert Schreiner in der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetischen Besatzungszone. Am 1. Oktober 1947 wurde er als Professor für Geschichte an die Leipziger Universität berufen. Seit dieser Zeit wirkte er bis zu seiner Emeritierung an verschiedenen geschichtswissenschaftlichen Institutionen der Deutschen Demokratischen Republik. Am 4. August 1979 verstarb Albert Schreiner in Berlin. Die unmittelbare Arbeit an seinem Buch „Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers" begann Albert Schreiner kurz nach seiner Rückkehr aus Spanien. Genosse Franz Dahlem, damals Leiter des Sekretariats des Z K der K P D in Frankreich, ermöglichte es ihm, dieses Buch in der zweiten Hälfte des Jahres 1938 und Anfang 1939 fertigzustellen. Der Autor gab seinem Werk den Untertitel „Eine kritische Auseinandersetzung mit der Wehrmachtsideologie des Dritten Reiches" und faßte darin die Ergebnisse seiner vorausgegangenen Studien aus den Jahren 1934, 1935 und 1936 zusammen. In seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1956 schrieb Schreiner, daß er durch die Arbeit an den bisherigen Büchern in der Überzeugung bestärkt worden wäre: „Die Dokumentation, die Sammlung und kritische Wertung von Fakten allein genügen nicht. Die Auseinandersetzung mit der spezifischen Wehrmachtsideologie, mit den Fragen der psychologischen Kriegsvorbereitung und Kriegsführung sollte Gegenstand meines nächsten Buches werden." 3 Das Werk „Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers" sollte eigentlich schon im Anschluß an „Hitlers motorisierte Stoßarmee!" in Angriff genommen werden. Doch zunächst war der Kampfeinsatz an der Seite des spanischen Volkes wichtiger. Nun, wieder in Paris, konnte sich Schreiner dieser Arbeit widmen. Sein Buch aus dem Jahre 1934 „Hitler treibt zum Krieg" hatte Albert Schreiner mit der Quintessenz geschlossen: „ D a ß die Kriegsrüstung für den Krieg bestimmt sein muß, daß man zum Kriege treibt, wenn man ein ganzes Volk zu einer riesigen Kriegsmaschine organisiert, das mögen ihre Organisatoren in Beruhigungsreden für das Ausland als eine primitive Logik darstellen. Diese primitive Logik ist die innere Logik der Dinge,"4 Im neuen Werk führte er diese „innere Logik der Dinge" konsequent zur wissenschaftlich begründeten Feststellung: Den kommenden Krieg führt das faschistische Deutschland als totalen Krieg. Der totale Krieg wird mit seiner totalen Niederlage enden! 3 S. 270 des vorliegenden Bandes. 4 Hitler treibt zum Krieg, Berlin 1978, S. 494. 276

Zu dieser historisch bestätigten Erkenntnis hatten den Autor nicht nur seine klaren marxistisch-leninistischen Positionen, seine umfangreichen Studien und seine langjährigen politischen Erfahrungen verholfen, sondern vor allem auch die direkte Konfrontation mit der deutschen Militärmacht im spanischen Bürgerkrieg. Die faschistische Militärdoktrin, die Wehrmachtsideologie, konnte in der Praxis studiert werden. Dadurch erhielt das Werk Schreiners ein noch überzeugenderes Gewicht. Er widmete es den in Spanien gefallenen Kameraden der Internationalen Brigaden. „Wir stehen am Vorabend des fürchterlichsten und verheerendsten aller Kriege der Menschheitsgeschichte", so beginnt der Autor das letzte Kapitel seines Werkes. Und er fährt fort: „Die faschistischen Mächte haben den Frieden gebrochen. Sie sind entschlossen, die letzten Dämme niederzureißen, hinter denen noch Völker in Frieden leben. Kein diplomatisches Zwischenspiel wird sie daran hindern. Kein neues Zugeständnis und kein Teilopfer sättigen den Machthunger der faschistischen Räuber. Totale Weltbeherrschung ist das Ziel ihres totalen Krieges." 5 Diesen Krieg wollte Albert Schreiner auch mit seinem Buch verhindern helfen. Es sollte dem Kampf um Frieden und Fortschritt dienen. Mit einem Streifzug durch preußisch-deutsche Politik und Kriegführung seit dem 18. Jahrhundert wies Schreiner nach, aus welchen Wurzeln die faschistische Militärdoktrin des totalen Krieges wuchs. Ausgehend von den Erfahrungen der imperialistischen deutschen Großbourgeoisie im ersten Weltkrieg und aus der Niederlage in diesen Krieg, zeigt er, wie die angestrebte totale Kriegführung sich aus dem Willen, den Kampf um die Weltherrschaft zu führen, und aus der Angst vor einer erneuten Niederlage ergaben. Angst davor bedeutete aber Angst vor der Revolution der Arbeiterklasse. Denn die Novemberrevolution hatte gezeigt, daß ein abermals verlorener Krieg das Ende imperialistischer Herrschaft in Deutschland bedeuten könnte. Deshalb sollte ein erneuter Kampf um die Weltherrschaft eine Niederlage wie im ersten Weltkrieg ausschließen: Deshalb totaler Krieg! Im Buch wird auch nachgewiesen, wie das Hitlerregime im Dienste des Imperialismus das ganze gesellschaftliche Leben in Deutschland militarisierte und mehr und mehr auf die Vorbereitung des totalen Krieges ausrichtete. Über die Hälfte der Arbeit des Verfassers ist dieser Hauptaufgabe gewidmet. Die Volksmassen müssen kriegsreif und kriegswillig gemacht werden — Männer, Frauen und Jugendliche gleichermaßen. Diesem Ziel ordneten die Nazis alles unter, Wehrwirtschaft und Ideologie. Unter diesem Aspekt wurden die militärische und die geistige Kriegführung des Hitlerregimes untersucht. Antikommunismus und Antibolschewismus waren die ideologischen Hauptinstrumente zur Kriegsvorbereitung, zum geplanten Krieg gegen die Sowjetunion, gegen den Sozialismus. Schreiner entlarvte den wirklichen Zweck der faschistischen Massenorganisationen von der Hitlerjugend über Arbeitsdienst und SA bis zu den militaristischen Sonderverbänden der Nazis. Doch alle diese Anstrengungen des faschistischen deutschen Imperialismus, im totalen Krieg mündend, würden die totale Niederlage Hitlerdeutschlands nicht abwenden können, schlußfolgerte Schreiner. Gestützt auf die Erkenntnisse des historischen Mate-

5 S. 250 des vorliegenden Bandes. 277

rialismus und die geschichtliche Entwicklung, das nationale und internationale Kräfteverhältnis wissenschaftlich analysierend, sah der Autor folgende Faktoren als die entscheidenden für die totale Niederlage des faschistischen Regimes an: 1. Die Kriegsziele des faschistischen Deutschlands. Sie sind die räuberischsten des internationalen Imperialismus und übersteigen alle Möglichkeiten des deutschen Finanzkapitals und seiner Militärmaschine. Sie führen dazu, daß alle anderen Mächte objektiv in Gegensatz gegen den faschistischen Block (Hitlerdeutschland + Verbündete) geraten. 2. Die Mächtekonstellation im künftigen Krieg. Das Dritte Reich zusammen mit seinen Verbündeten ist der Mächtegruppierung seiner Gegner auf längere Zeit in jeder Beziehung unterlegen, sowohl militärisch als auch ökonomisch, ideologisch und moralisch. Eine vorübergehende militärische Überlegenheit Hitlerdeutschlands, bedingt durch die gewaltige Aufrüstung und nicht zuletzt von der Uneinigkeit seiner westlichen Gegner und ihrer Ablehnung eines Friedensblockes mit der Sowjetunion profitierend, schwindet selbst durch den totalen Krieg wie diese Uneinigkeit und Ablehnung. 3. Die Existenz der UdSSR. Das weitreichendste und endgültige Kriegsziel des Hitlerregimes, Vernichtung des ersten sozialistischen Staates als entscheidender Schritt zur Eroberung der Weltherrschaft, ist zugleich der wichtigste Grund für seine totale Niederlage. Die Sowjetunion zusammen mit den anderen Mächten einer Anti-Hitler-Koalition bildet einen unüberwindlichen Friedensblock. 4. Die Kraft der internationalen Arbeiterklasse und der Volksmassen. Von Anfang an wird der künftige Krieg von Seiten der durch Hitlerdeutschland Überfallenen Völker als gerechter, nationaler Verteidigungskampf geführt. Die Kraft der Volksmassen, vor allem der Arbeiterklasse, wird die Regierungen der vom Hitlerregime Überfallenen kapitalistischen Staaten in eine Antihitlerfront zwingen und sie in dieser Front bis zum Sieg über Hitlerdeutschland halten. Der Charakter des künftigen Krieges als antifaschistischer Befreiungskrieg seitens der freiheitliebenden Völker der Welt wird seine volle Ausprägung durch die Teilnahme der Sowjetunion erhalten. Zu diesem Faktor gehört auch der Friedenswille des deutschen Volkes. Sollte es den Krieg nicht verhindern können, wird sich der Widerspruch zwischen den faschistischen Machthabern sowie ihren imperialistischen Hintermännern und den Volksmassen während des Krieges so zuspitzen, daß die Volksmassen dieses Regime stürzen. Zusammenfassend vermerkte der Autor: „Es ist außer Frage, daß, wenn es noch eine Chance gibt, den Krieg zu verhindern, oder, wenn er durch die faschistischen Angreifer dennoch ausgelöst wird, ihn mit der Niederlage des Faschismus zu beenden, die Chance in der Bildung des Abwehrblockes der großen Demokratien mit Einschluß der Sowjetunion liegt . . . Wo und so lange die Sowjetunion im Bunde, werden der Elan und die Hingabe der Völker durch die Überzeugung genährt, daß es sich um einen gerechten Krieg 278

h a n d e l t . . . Es gibt für die nationalsozialistischen Verderber Deutschlands keinen Schutz vor der Niederlage."6 Die Geschichte hat die Voraussage des Autors bestätigt. Albert Schreiner schrieb sein Buch im Wissen um die Kraft der Arbeiterklasse und den schließlichen Triumph des deutschen Volkes über den faschistischen Imperialismus. Die Geschichte hat ihm letztlich recht gegeben, wenn er sich auch in zwei entscheidenden Aussagen irrte. Schreiner unterschätzte die Möglichkeiten des faschistischen Hitlerregimes, mit sozialer und nationaler Demagogie sowie mit brutalem Terror größere Teile des Volkes so zu manipulieren, daß sie nicht nur kriegsreif gemacht werden konnten, sondern bis 1945 willig den Machthabern als Massenbasis dienten. Und er überschätzte die Kräfte der Volksmassen, unter den Klassenkampfbedingungen in Deutschland und entsprechend der internationalen Situation (Beschwichtigungspolitik der Westmächte zur Unterstützung des Hitlerregimes) den Krieg zu verhindern oder der vom faschistischen Regime heraufbeschworenen Katastrophe durch den Sturz der Hitlerherrschaft zu entgehen. Als vor rund 20 Jahren der Plan entstand, das Werk „Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers" überarbeitet noch einmal herauszugeben, beschäftigte sich der Autor mit einem neuen Vorwort. In den Entwürfen dazu hob er selbst diese beiden Punkte hervor. Doch diese Irrtümer schränkten den Wert des Werkes in keiner Weise ein. Im Gegenteil! Sie sind zusätzlicher Beweis für die Grundaussage des Buches: Nirgendwo auf der Welt darf es den Imperialisten gelingen, einen Krieg anzuzetteln. Wehret den Anfängen! In seinen Erinnerungen aus dem Jahre 1956 an ein Buch, das Hitlers Niederlage voraussagte, also vornehmlich an dieses Buch, äußerte sich der Autor auch über Herausgabe, Verbreitung und Widerhall seines Werkes. Dem ist wenig hinzuzufügen. Außer dem zitierten Brief Hermann Dunckers an seine Frau gibt es noch zwei weitere, in denen Duncker auf Schreiners Buch eingeht. Am 20. Juli 1939 schrieb er an seine Frau Käthe unter anderem: „Wenn man doch der Welt die Zitate aus der deutschen wehrpsychologischen Literatur unterbreiten könnte, die Schreiner in seinem eben veröffentlichten Buch ,Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers' niedergelegt hat." 7 Und vier Tage später: „Ich lese noch immer in Schreiners Buch, das ja sehr tröstlich ist."8 Der Brief Heinrich Manns, von dem Schreiner in seinen Erinnerungen spricht, konnte noch immer nicht aufgefunden werden. Das Buch Albert Schreiners wurde in der Emigration weit verbreitet, obwohl durch die Kriegsumstände nur in einer Auflage gedruckt, die noch nicht einmal ganz ausgeliefert werden konnte. Es ging von Hand zu Hand und fand viele Leser. Aus der Schweiz und aus England erhielten es vor allem Angehörige der Wehrmacht, in erster Linie Offiziere. In einem wichtigen Punkt allerdings stimmen die Erinnerungen Albert Schreiners, die auch diesem Reprint beigefügt wurden, nicht. Er glaubte nämlich, daß alle seine Unterlagen über das Buch nach der Wohnungsräumung durch die Gestapo in Paris verloren-

6 S. 257 u. 259 des vorliegenden Bandes. 7 Archiv Schreiner. 8 Archiv Schreiner

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gegangen wären. Am 19. Oktober 1957 erhielt er jedoch vom Innenministerium der D D R eine Mitteilung, ihn betreffende Archivmaterialien in Empfang zu nehmen. Darunter befanden sich die Unterlagen seines Buches „Vom totalen Krieg zur totalen Niederlage Hitlers". Sie hatten einen abenteuerlichen oder — besser — im Sinne des Buches ganz folgerichtigen Weg hinter sich. Im Jahre 1940 von der Gestapo in Paris aus der Wohnung des Autors geraubt, 1945 bei der Befreiung durch die Truppen der Sowjetarmee sichergestellt, von der UdSSR in den fünfziger Jahren der Regierung der D D R übergeben, wurden sie vom Innenministerium dem Eigentümer zurückerstattet. Dazu gehörten Literaturlisten, Exzerpte aus der benutzten Literatur mit umfangreichen Kommentaren (in denen immer wieder auf die Erfahrungen aus dem spanischen Befreiungskrieg eingegangen wird), Zeitungsausschnitte zum Thema, Auszüge aus Reden und Artikeln hoher Nazifunktionäre, Auszüge aus wichtigen Dokumenten des Hitlerregimes, Dispositionen und Gedanken zum Buch und vor allem verschiedene Vorarbeiten zum Vorwort und Entwürfe zu den einzelnen Kapiteln. Das wichtigste aber war das komplette, druckfertige Manuskript mit Korrekturen letzter Hand. Alle diese Unterlagen liegen heute im Archiv Schreiner. Die Herausgeber hatten so die Möglichkeit, einen Blick in die Werkstatt Albert Schreiners zu werfen. Sie konnten den Umfang sowie die Gründlichkeit der Vorarbeiten ermessen, die weit über das schließlich tatsächlich Verwendete hinausgingen. Sie sahen seine Akribie, mit der er das Manuskript fertigstellte. Und sie gewannen zusätzliche Hochachtung vor dem Kommunisten Schreiner, der alles das unter den schwierigen Bedingungen der Emigration bewältigte. Im Schreiner-Archiv entdeckten wir einen weiteren interessanten Bestand. Er betrifft die schon erwähnte geplante überarbeitete Neuherausgabe des Werkes Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Da gibt es ein Exemplar des Buches mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen und einzelnen Ergänzungen. Der Autor hatte „Vorschläge für einen-Neudruck" ausgearbeitet. Auch zwei Entwürfe für ein neues Vorwort liegen vor. Aus den „Vorschlägen" und aus den Vorwort-Entwürfen erhielten die Herausgeber wichtige Hinweise für dieses Nachwort. Am Vorabend des zweiten Weltkrieges wies der kommunistische Militärtheoretiker und Historiker Albert Schreiner wissenschaftlich nach, daß ein kommender totaler Krieg des faschistischen deutschen Imperialismus unausweichlich mit einer totalen Niederlage enden würde. Das Hitlerregime ist in dieser totalen Niederlage untergegangen. Der Imperialismus überlebte in einem Teil Deutschlands noch einmal. Schreiners Buch hat an Aktualität nichts eingebüßt. Berlin, September 1980

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Lothar Berthold Dieter Lange

Auf Grund der Buch vorläge aus dem Jahre 1939 ist die Druckqualität stark gemindert.

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 0 Berlin, Leipziger Str. 3—4 © Akademie-Verlag Berlin 1980 Lizenznummer: 202 • 100/233/80 Einband und Schutzumschlag: Willi Bellert Herstellung: VEB Druckerei „ T h o m a s Müntzer", DDR-5820 Bad Langensalza Bestellnummer: 753 790 5 (2181/4) Printed in G D R D D R 12,50 M