222 74 2MB
German Pages 30 [48] Year 1953
DIE QESTALT
1. W. T R O L L U N D Κ. L. W O L F Q o e t h e s morphologischer A u f t r a g 1950. 3. durdiges. A u f l . 76 S. mit 16 A b b . D M 4.40 9. E R N S T V. H I P P E L Rechtsgesetz und Naturgesetz 1949.2. verb. A u f l . 93 S. D M 4.40 18. FRIEDRICH
WAASER
M e n s c h und Tier. Eine pädagogische Betrachtung auf urbildlicher Q r u n d l a g e 2. verb. A u f l . 1950.45 S. und 17 A b b . D M 3.20
20. HERBERT
KOCH
Winckelmann und Q o e t h e in R o m 1950. 32 S. D M 2.20
M A X NIEMEYER VERLAQ TOBINC/EN
COLLOQUIUM
PALATINUM
DIE GESTALT A B H A N D L U N G E N ZU E I N E R
ALLGEMEINEN
MORPHOLOGIE B E G R Ü N D E T UND
HERAUSGEGEBEN
VON F R I E D R I C H KARL
SCHUMANN
W I L H E L M T R O L L U N D K. L O T H A R W O L F
H E F T 24
BERNHARD
SCHWEITZER
VOM S I N N DER PERSPEKTIVE
MAX N I E M E Y E R V E R L A G / T Ü B I N G E N 1953
D r u c k : Tübinger Chronik
Yo r b e m e r k u n g Yon mehreren Seiten ermutigt, veröffentliche ich auf den folgenden Seiten einen Vortrag, der im Herbst 1945 als Rektoratsrede für eine im letzten Augenblick vertagte Wiedereröffnung der alten Universität Leipzig vorbereitet und im Juni 1950 in veränderter Form als Antrittsvorlesung an der Universität Tübingen gehalten wurde. Trotz einiger Erweiterungen und Vertiefungen ist die Gestalt des Vortrages beibehalten worden. Die beigegebenen Abbildungen stehen in nur loser Beziehung zum Text und sollen die Anschauung erleichtern und zum Nachdenken anregen. Zu ihnen sind die Bemerkungen im Abbildungsverzeichnis zu vergleichen.
VOM S I N N DER P E R S P E K T I V E Für die öffentliche Vorlesung, mit weither der neu in den Kreis der Hochschule eintretende Professor die Aufnahme seiner Lehrtätigkeit zu begleiten pflegt, gelten ungeschriebene Gesetze. Man erwartet bei dieser Gelegenheit die zusammengefaßte und allgemeinverständliche Darstellung eines ganzen Wissenschaftsgebietes, das dem Vortragenden nahe liegt, oder gar programmatische Darlegungen - unbekümmert um den Wert oder Unwert von Planwirtschaft solcher Art in den Wissenschaften. Statt dessen will ich über einen Gegenstand sprechen, den Sie alle zu kennen meinen und über den die Akten schon längst geschlossen erscheinen: über angewandte Perspektive. Mindestens von der Schule her sind uns die Perspektive und ihre Regeln als die einzig richtige und lernbare Methode der bildlichen Darstellung vertraut. Man lehrt die Perspektive gewöhnlich als die selbstverständliche, keiner Diskussion mehr bedürfende Voraussetzung einer richtigen Zeichnung oder eines Gemäldes. Sie hat in der landläufigen Anschauung die Geltung eines Axioms erlangt. Vielleicht aber zeigt es sich audi hier, dafi es für den fragenden und forschenden Menschen keine gefährlicheren Fallstricke gibt als sogenannte Selbstverständlichkeiten, über die man des Nachdenkens überhoben zu sein glaubt. Ja, es ist eine immer wiederkehrende Situation der Wissenschaft - i h r e fruchtbare Situation -, daß sie sich genötigt sieht, das vermeintlich Selbstverständliche auf's Neue in Frage zu stellen, scheinbare Axiome in Probleme zu verwandeln. In dem Fall der Perspektive bildet sich diese Funktion der Wissenschaft in aller Deutlichkeit ab. Warum der Archäologe zu ihr das Wort ergreifen darf, wird sich dabei erweisen. Und ebenso, dafi die Bedeutung des Problems weit über das Einzelfach hinausreicht. Was ist Perspektive? Der Name Perspektive ist trotz der Ableitung aus dem Lateinischen nicht antik, sondern in der frühen Re7
neissance geprägt, und zwar als ars perspective. Und wie der Name aus dem 15. Jh. stammt, so sind audi unsere Vorstellungen von Perspektive fast ausschließlich von den Anschauungen und der Lehre der Renaissance bestimmt. W e n n w i r daher die F r a g e nach dem Wesen der künstlerischen P e r s p e k t i v e zunächst aus unserer naiven E r f a h r u n g beantworten wollen, so gehen w i r am besten von dem Abb. ι f ü r uns entscheidenden Fall der Renaissanceperspektive aus. Die ars perspective ist, so können w i r dann sagen: „die Kunst, die Gegenstände und ihren Zusammenhang im Gesichtsfeld eines Bildes so darzustellen, wie sie im Auge des Betrachters erscheinen". Die W i r k u n g dieser Kunst ist Ihnen b e k a n n t : die Formen, Linien und P u n k t e auf einer fladien Bildtafel treten zu einer O r d n u n g zusammen, die einen sich dahinter ausdehnenden T i e f e n r a u m vortäuscht, etwa einen Innenraum, einen Platz, eine Landschaft mit weiten Horizonten. Die zweidimensionale Malfläche öffnet den Blick in einen scheinbar dreidimensionalen Raum, den wir mit dem Auge durchw a n d e r n können wie den realen Raum, in dem w i r leben. Bewirkt wird dieser Eindruck dadurch, dafi j e n e perspektivische Bildordnung sich so genau wie möglich der menschlichen Sehform anpafit. Wir nennen diese die visio perspective. Diese visio perspective ist von eigentümlicher Natur. Machen wir uns klar, dafi in diesem unseren Sehbild die Wirklichkeit gründlich verzerrt erscheint, ja, dafi uns fast Unglaubliches zugemutet wird. Das Bild auf unserer Netzhaut steht auf dem Kopf: oben ist unten und unten ist oben, rechts ist links und links ist rechts. Von den realen Verhältnissen entsprechen n u r zwei der Wirklichkeit: die senkrechten Linien und diejenigen Waegerechten, die parallel zur Netzhaut des Auges verlaufen. Sonst ist alles verändert. Die parallelen R ä n d e r einer von uns w e g f ü h r e n d e n Strefie scheinen eufeinander zuzulaufen und sich in der F e r n e zu b e r ü h r e n ; Telegraphenstangen, die sie begleiten, erscheinen nicht gleich groß, sondern nehmen j e nach der E n t f e r n u n g an Größe ab. Fast alle F o r m e n erscheinen v e r w a n d e l t : ein Redlteck, das unsere Blickriditung schräg sdineidet, w i r d zum Trapez mit völlig v e r ä n d e r t e n Winkeln, ein Kreis zur Ellipse - , wenn er geneu in der Richtung der Sehstrehlen liegt, soger zum Strich. N u r d a u e r n d e Gewöhnung und E r f a h r u n g f ü h r e n eine Versöhnung dieses Wahrnehmungsbildes mit der W i r k lichkeit herbei. Das Wehrnehmungsbild ist wie eine Hieroglyphe, aus der wir von f r ü h an die Wirklichkeit abzulesen gelernt haben. Und doch sind w i r jederzeit bereit - und haben auch eilen Anlaß 8
dazu die „Richtigkeit" dieser Hieroglyphe zu beschwören. Unser Sehbild enthält offenbar das Optimale an Wirklichkeitserfassung, was unser Sinnesapparat leisten kann. Die Verzerrungen, von denen wir sprachen, folgen durchaus einer k l a r e n O r d n u n g . Sie hat ihr Zentrum in dem a u f n e h m e n d e n Auge. Die Waagerechte durch dieses bildet den Horizont. Alle waagerechten Linien und Flächen unter dem Horizont scheinen bis zu diesem anzusteigen, alle d a r ü b e r befindlichen zu ihm abzufallen. Die Senkrechte durch das Auge bildet die Vertikalachse: alle Linien und Flächen links von der Vertikalachse konvergieren nach rechts, alle auf der Gegenseite nach links. Was uns jedoch noch mehr von der „Richtigkeit" des perspektivischen Sehens überzeugt, ist, dafi es sich experimentell nachkonstruieren läßt. Ich meine die camera obscura, deren Linse das gleiche Bild der Wirklichkeit auf eine matte Scheibe w i r f t , wie es auch unsere Netzhaut empfängt. D e r visio perspectiva liegen also mathematisch-physikalische Gesetze zugrunde, die durch die Konstruktion unseres Auges ausgel ö s t ' w e r d e n . Es gibt so nicht n u r eine künstlerische Perspektive und eine Perspektive als naturgegebene F o r m der W a h r n e h m u n g , sondern auch eine Perspektive als Wissenschaft, die einen Teil der O p t i k bildet. Wir nennen sie scientia perspectiva. Durch die Linse sind die Sehstrahlen des menschlichen Auges nach außen und innen jeweils in Kegelform angeordnet. Alle Linien und Flächen, welche diesen Sehstrahlenkegel durchschneiden, liegen daher auf Kegelschnitten, und der Sehvorgang ist nichts anderes als die P r o j e k t i o n von Kegelschnitten auf die Fläche der Netzhaut. Hier ist nichts Willkür oder Zufall: der ganze Sehprozeß läßt sich geometrisch nachkonstruieren. Wenn wir trotz der umstürzenden Verwandlung der Wirklichkeit im Sehbild „richtig" sehen, E n t f e r u n g e n und Größenverhältnisse richtig abschätzen können, so liegt das zunächst an dem Vorhandensein und der A n o r d n u n g zweier Augen, vor allem aber an der mathematischen Gesetzlichkeit des Sehprozesses. Mit Hilfe der Wirklichkeitserfahrung unserer übrigen Sinne und der Urteilskraft des Verstandes sind w i r jederzeit imstande, Teile unseres Netzhautbildes zu isolieren und sie in wirklichkeitsentsprechende Verhältnisse zu übersetzen, indem wir die uns gegebene N e t z h a u t p r o j e k t i o n rektilinear umdenken. All' dies lernen und leisten wir allerdings ganz unbewußt. Die scientia perspectiva lehrt uns zwar nicht, daß das perspektivische Sehen die ganze Wirklichkeit sichtbar macht, wohl aber, 9
daß es die notwendige Form des menschlichen Sehens ist. Damit sind wir auf eine Antinomie des perspektivischen Sehens gestoßen, die uns noch weiterhin beschäftigen wird. Die visio perspective verzerrt die Wirklichkeit, sie ist nichts anderes als eine fa^on d'appercevoir. Nirgends so scharf wie hier scheiden sich voneinander die objektive Gestalt der Wirklichkeit und die subjektive Weise der Wahrnehmung, der Bereidi der Gegenstände und der täuschende Schein des Sehens. Aber diese Weise ist die einzige Form unseres Sehens, und sie ist so allgemein verbindlich, daß sie in sich die Evidenz der Richtigkeit zu tragen scheint. In der Tat ist es dem Menschen gegeben, schon von Kindesbeinen an durch die optische Täuschung des perspektivischen Sehens hindurch die Wirklichkeit zu ergreifen. Die visio perspectiva enthält trotz ihrer Verzerrung in sich alle Möglichkeiten, die wahre Gestalt der Dinge erkennend zu sehen. Unci damit haben wir wohl zunächst das Wesen auch der ars perspectiva, der künstlerischen Perspektive, lokalisiert: sie bietet dem Auge die künstlerischen Eindrücke in der gleichen Form dar, wie sich ihm die Gegenstände der Natur darbieten, in einer vertrauten Täuschung, welche die Wirklichkeit erkennen läßt. Unsere F r a g e nach der Bedeutung der Perspektive scheint beantwortet: zugrunde liegt die Praxis, die visio perspectiva in der menschlichen Wahrnehmung; dann folgt als zweites die Theorie, die scientia perspectiva in der Optik; daraus folgt drittens die Anwendung in der Kunst, die ars perspectiva. Perspektive erscheint als die Anwendung eines wissenschaftlich erkannten Naturgesetzes in der Kunst. Auf der Anlehnung an ein mathematisches Gesetz beruht die „Richtigkeit" der perspektivischen Malerei. Sie wird uns heute täglich demonstriert durch die Photographie, eingehämmert durch den Zeichenunterricht. Soweit die physikalisch-physiologische Analyse des Sehvorgangs und die Folgerungen, welche die landläufige Vorstellung aus ihr für die künstlerische Perspektive zieht. Bei diesen Folgerungen melden sich nun allerdings Bedenken über Bedenken. Ihre Schwäche liegt offenbar dort, wo sie das Prädikat der Richtigkeit - wir werden jetzt wohl besser sagen: der Normalität - das wir dem perspektivischen Sehbild zuerkennen müssen, ohne weiteres auf die künstlerische Perspektive übertragen. Wo kann j e ein Naturgesetz die „Richtigkeit" eines Kunstwerks verbürgen? Naturgesetze wie zum Beispiel die Gravitation können von der Kunst beachtet werden oder nicht. Je nach dem J a oder Nein zum Gesetz der Gravitation 10
ist die Ausdruckshaltung eines K u n s t w e r k s oder einer Kunstepoche verschieden. Naturgesetze sind Ausdrucksmittel, aber sie können nie zur künstlerischen S t r u k t u r werden. Wie N a t u r und Kunst durch eine scharfe Grenze voneinander getrennt sind, so k a n n auch niemals ein Naturgesetz an die Stelle eines autonomen künstlerischen Gesetzes t r e t e n oder gar das K u n s t w e r k legitimieren. Gibt es ü b e r h a u p t „richtig" und „falsch" in der Kunst? Kommt es nicht sehr viel mehr auf „gut" oder „schlecht", „bedeutend" oder „nicht b e d e u t e n d " an? H a t nicht eine unperspektivische Kunst die gleiche Möglichkeit an das w a h r e Sein der Dinge heranzukommen wie eine Kunst, die zwischen die Dinge und den Betrachter den täuschenden Schein der Perspektive legt? Wir erleben es in aller vorgriechischen und einem beträchtlichen Teil der mittelalterlichen und modernen Kunst. Und wie steht es endlich mit der vermeintlichen historischen Reihenfolge? Ist denn tatsächlich im Verlauf der Geschichte auf die visio perspective, die scientia, die Optik, und dann erst die ars, die künstlerische Perspektive gefolgt? Ist diese wirklich n u r eine Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Kunst? Diese F r a g e muß verneint werden. In Wirklichkeit w a r die Perspektive in der Antike und zu Beginn der Neuzeit eine umwälzende Entdeckung bildender Künstler. Die Kunst w a r vor der Wissenschaft da und hat diese erst befruchtet. Die Entdeckung der Perspektive ist nicht aus dem Anliegen der Gelehrten geflossen, Licht in den Sehvorgang zu bringen, sondern aus dem Anliegen der Künstler, f ü r neue geistige Zeitinhalte eine neue Darstellungsform zu schaffen. Die Künstler also sind zu befragen, wie und w a r u m sie die Perspektive fanden. W e n n das Wesen einer Erscheinung von seinem U r s p r u n g her beleuchtet w e r d e n muß, so k a n n das Wesen der Perspektive voll e r g r ü n d e t w e r d e n nicht allein von ihrer physikalischen S t r u k t u r , sondern n u r mit Zuhilfenahme der Kunstgeschichte. Die tieferen Probleme der Perspektive liegen weniger in der Geschichte der Nat u r als in der Geschichte des Menschen. Richten w i r daher den Blick auf das weite Theater der Geschichte. Das Ergebnis ist seltsam genug. Die enge Verbindung der Perspektive mit dem menschlichen Sehvorgang ließe vermuten, daß es allüberall nach primitiven Vorstufen von selbst zu einer P e r s p e k t i v e gekommen sei. Das Gegenteil ist der Fall. Unendliche Erd- und Zeitr ä u m e sind mit einer unperspektivischen Kunst e r f ü l l t ; die ars perspective ist ein seltener Sonderfall, allerdings jeweils mit einem 11
Höhepunkt der Kunstentwicklung verbunden. Nur zweimal in der bisher überblickbaren Geschichte der Welt ist es zu einer spontanen Entwicklung der perspektivischen Bildform gekommen, bei den Griechen und in der italienischen Renaissance, wobei der zweite Fall nicht ganz unabhängig von dem ersten ist. Die vorgeschichtliche Kunst vom Paläolithikum ab, die älteste Kunst Indiens, des Abb. 2 Zweistromlandes, Ägyptens, der Perser, die archaische Kunst Griechenlands sind ohne Perspektive. Entdeckt wurde die künstlerische Abb. 3 Perspektive am Ende des 6. vorchristlichen Jahrhunderts von den Griechen. Großartig entfaltet hat sich diese revolutionäre Schöpfung, mit einer Einschränkung freilich, auf die wir noch zurückkommen werden, in der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert. Schritt für Schritt sind die Griechen im Laufe des 5. und 4. Jahrhunderts bis zu einer Art Raumperspektive vorgestoßen. Dies ist die erste bemerkenswerte Tatsache. Die zweite Tatsache ist ebenso wichtig und erst durch die Forschungen der beiden letzten Jahrzehnte geklärt worden: wo die Perspektive in den folgenden Jahrhunderten vorgedrungen ist - im vorderen Orient, in Indien, in Ostasien, nach Westen in Rom und im Okzident - ist dies eine Folge des hellenistischen Einflusses. Ja selbst die zweite Entdeckung der ars perspectiva im 15. Jahrhundert geschah nicht unabhängig von der griechischen, wenn sie auch einen selbständigen und anderen Weg genommen hat. Die ars perspectiva ist also eine Urerfindung der Griechen. Sie bedeutet eine besondere Form der Wirklichkeitsauffassung, die einer besonderen historischen Situation ihre Entstehung verdankt. Und diese Situation kennzeichnet sich deutlich genug: die Perspektive kehrt nur zweimal in der Weltjgeschichte wieder und zwar unter ähnlichen Aspekten: an der Schwelle der Klassik bei den Griechen des 5. Jahrhunderts und zu Beginn der italienischen Renaissance in der Neuzeit. Das ist die dritte wichtige Tatsache, die es zu beachten gilt. Diese geschichtlichen Tatsachen verlangen eine Vertiefung unserer Fragestellung. Die Frage nach dem physikalischen Wesen der künstlerischen Perspektive und die Wissenschaft von der Optik klären nur die naturgesetzlichen Voraussetzungen der Perspektive. Sie beantworten nur die eine Hälfte der Frage: „Was ist Perspektive?" Die andere Hälfte steht noch aus. Denn nun hat sich gezeigt, daß Perspektive auf Grund der natürlichen Voraussetzungen eine einmalige Schöpfung im Werdegang des menschlich-abendländischen Geistes ist. Wie jede geistige Schöpfung stellt sie das Problem des 12
Verstehens, der Deutung ihres Sinnes. Wir stehen also jetzt vor der Aufgabe, die Entdeckung der künstlerischen Perspektive in ihrer Struktur zu erkennen; und so wird unsere Frage erst fruchtbar, wenn sie zur Frage nach dem Sinn der künstlerischen Perspektive wird. Die Antwort können nur ihre Erfinder, die Griechen geben. Betrachten wir genauer die Vorgänge, welche mit der künstlerischen Entdeckung der Perspektive verbunden waren. Sie haben sich in zwei Phasen abgespielt. Die erste, die weit bis in die Hochklassik des 5. Jahrhunderts hineinreicht, führt zu einer teilhaften Verwirklichung, die wir die „Körperperspektive" nennen wollen. Ein Vasenbild aus der Mitte des 5. Jahrhunderts, das ein Heerlager des heroi- Abb. 4 sehen Zeitalters unter der Führung des Herakles und im Beisein der Athena darstellt, mag diese erste Phase veranschaulichen: alle Körper werden perspektivisch gesehen, d.h.sie erscheinen in Schrägansichten, Verkürzungen, verlorenem Profil und bewegen sich scheinbar frei im dreidimensionalen Raum. Es fehlen aber alle Merkmale einer einheitlichen Bildperspektive: Verkleinerung der entfernten Gegenstände, Konvergenz der Parallelen, Horizont und Augenpunkt. Jeder Körper hat vielmehr seine Perspektive, die an der Körpergrenze aufhört und nicht auf clen allgemeinen Raum übergreift. Die Größenverhältnisse zwischen den Körpern und die Richtungsgerade entsprechen den objektiven Mafiverhältnissen der Naturdinge, nicht den Beugungen und Verzerrungen der menschlichen Sehapparatur. Dies Vasenbild gibt uns die beste Anschauung von der Bildkonstruktion des Polygnot, des größten frühklassischen Malers Athens, dessen Hauptschaffenszeit in das zweite Viertel des 5. Jahrhunderts fällt. In neuerer Zeit hat Hodler eine ähnliche Teilperspektive versucht; an seine Bilder wie etwa den Auszug der Jenenser Studenten im Befreiungskrieg mögen wir als Beispiele denken. Durchgesetzt hat sich die Frühform der Körperperspektive schon einige Jahrzehnte vorher. Der geschichtliche Augenblick ist kein Zufall: damals stürzt endgültig die Staatsform der Tyrannis in den führenden Staaten. An vielen Orten werden Demokratien aufgerichtet. Zugleich beginnen die Körper im Bild sich frei zu drehen und zu wenden und zu einem vielfältigen Ausdruck ihrer selbst zu gelangen. Der frei gewordene Mensch findet in der Körperperspektive seine Darstellungsform. Die Körperperspektive spiegelt so in der Kunst dieser Zeit ein neues Sich-selbst-Bewußtwerden des Menschen, seiner Freiheit und seiner Stellung in der Welt. 13
Abb. 5,6
Die zweite Phase beginnt etwa um 460. Sie führt im Verlauf vieler Jahrzehnte zur „Raumperspektive", d. h. zu der Ordnung aller Bildgegenstände, auch der leblosen, in dem perspektivischen Bildraum, den wir schon geschildert haben. Freilich beobachten wir an dieser griechischen Raumperspektive, die sich bis zum Ausgang der Antike trotz vieler Schwankungen wesentlich gleich bleibt, seltsame Züge, die von der uns vertrauten Zentralperspektive abweichen und in dieser Abweichung von besonderer Bedeutung sein müssen. Sie ist zwar grundsätzlich Raumperspektive, aber sie ist nicht streng nach den Gesetzen der Optik von einem Blickpunkt aus konstruiert; sie hält sich vielmehr in einer Annäherung an die uns geläufige geometrische Konstruktion der Bildperspektive. Sie kennt die Gesetze der Optik; aber sie verhält sich in Freiheit zu diesen Gesetzen, indem sie diese nicht als Gesetze der Erscheinung und des Bildaufbaus heraustreten läfit, sondern nur als praktische, aber unverbindliche Konstruktionshilfe zu einer mit der Zentralperspektive nicht identisdien künstlerischen Perspektive benutzt. Die griechisch-antike Kunst - soviel läfit sich mit Sicherheit sagen - erobert den perspektivischen Bildraum, aber weder unterwirft sie sich ganz dem Gesetz der perspektivischen Wahrnehmung, noch gründet sie die Wirklichkeit der anschaulichen Welt in dieses Gesetz. Hierin wird schon deutlich, dafi die Perspektive in der griechischen Kunst nicht zum Wesen der Wirklichkeit gehört, sondern Ausdruck der Wirklichkeit ist: sie ist „Ausdrucksperspektive".
Man hat dies bisher fast durchweg verkannt und nach dem Muster der neueren Zentralperspektive die Mängel der griechischen Raumperspektive festgestellt. Aber dieses scheinbare Zurückbleiben hat seinen guten Sinn. Wollen wir diesem Sinn näher kommen, so müssen wir von den Elementen ausgehen, mit denen die griechische Perspektive sich von der optisch konstruierten Perspektive unterscheidet. Die wichtigste Abweichung ist, dafi sie das Bild Abb. l nicht von einem einzigen Blickpunkt aus aufbaut, wie es der KonAbb. 7,8 struktionsperspektive entspräche, sondern eine Mehrzahl von Blickpunkten bestehen läfit. Das Auge des Betrachters wird nicht in einem Standpunkt fixiert, sondern wandert dem Bild entlang, indem es von einzelnen Bildgegenständen, die zugleich Brennpunkte des Aufbaus sind, gefangen genommen wird und von diesen aus ihre räumliche Umgebung erfafit. Diese Ausdrucksperspektive ist also nicht Simultanperspektive, sondern bleibt bis zu einem gewissen Grad Sukzessionsperspektive. Das bedeutet, dafi das Bild 14
nidit wie in der Zentralperspektive der simultanen O p t i k des Subj e k t s in seiner Gänze u n t e r w o r f e n ist. Die perspektivische W a h r nehmung des Auges wird vielmehr zum Teil von den Bildobjekten gelenkt, die dadurch eine gewisse Realität a u ß e r h a l b und oberhalb der Raumperspektive bewahren. Die Spannung zwischen dem obj e k t i v e n Fürsichbestehen der Gegenstandswelt, wie sie alle vorund nichtperspektivische Kunst vorträgt, und der subjektiven W a h r n e h m u n g s w e l t der Perspektive wie sie seit 460 in der Kunst allmählich entsteht, wird nicht ganz aufgehoben, sondern in das Bild hineingenommen. Die Bedeutung dieser Ausdrucksperspektive ist w i e d e r u m aus ihrer historischen Situation zu verstehen. Sie bedeutet, wenn w i r dieses Ergebnis der Analyse hier vorweg nehmen dürfen, nicht „Konstruktion" des Raumes an sich, sondern „Auflösung" der objektiven Gegenstandswelt älterer Kunst in dem perspektivischen Augenschein j ü n g e r e r Kunst, aber doch so, daß - dem plastisch-körperlichen Realitätssinn der Griechen entsprechend die Bildobjekte einen Teil ihrer, keiner perspektivischen Relativierung u n t e r w o r f e n e n Realität zurückbehalten. In dem Kampf einer u n e r h ö r t neuen Anschauungsweise mit der alten überkommenen w i r d ein schwebender Ausgleich gefunden. Griechische Raumperspektive hält als Sukzessionsperspektive gewissermaßen die Mitte zwischen reiner Körperperspektive und rein optischer Perspektive. Letztenendes bleibt noch ein Stüde Wirklichkeit im Bildgegenstand f u n d i e r t ; das Seiende geht nicht ganz verloren. Auch diese griechische Raumperspektive ist, wie es die Körperperspektive gewesen war, Ausdruck eines neuen Bewußtseins: des SichBewußt-Werdens der spannungsreichen Beziehungen zwischen dem aufnehmenden Ich und der zugleich wirklichen, d. h. von der W a h r nehmung unabhängigen, und zugleich wahrgenommenen Welt. F ü r die Wesensdeutung dieser eigentümlich griechischen Entwicklung der Perspektive höchst wichtig ist nun der Ort, von dem diese Eroberung der Raumperspektive ihren Ausgangspunkt genommen hat. Es w a r dies w e d e r die Wandmalerei noch die Tafelmalerei, sondern der Bühnenprospekt. Davon k ü n d e t selbst noch die griechische Sprache. Sie besitzt kein Wort f ü r Perspektive, sondern verwendet f ü r sie eine charakteristische Umschreibung. W o sie Perspektive meint, da spridit sie von Skenographia, „Bühnenmalerei"! Solche Bühnendekorationen sind, freilich in sehr viel j ü n g e r e r Weiterbildung, durch späthellenistische Wandgemälde Abb. 9 überliefert. Die gemalten H i n t e r g r ü n d e des griechischen Theaters 15
stellten vorzugsweise eine Palastfassade oder Häuser dar, deren Säulen und Kapitelle, vorspringende Flügel und Dächer, Türen, Fenster und Gesimse durch das Mittel der perspektivischen Darstellung Körperlichkeit und Raumvolumen vortäuschten. Selbst in der wissenschaftlichen Theorie hat die Herkunft der Raumperspektive von der Theaterdekoration noch ihre Spuren hinterlassen. Im zweiten Jahrhundert nach Chr. definiert noch Damianos: „Die Perspektive (Skenographia) ist ein Teil der Optik und untersucht, wie die Wiedergabe von Gebäuden in der Malerei beschaffen sein muß". - Aus der Welt des Theaters (wo sie audi im 16. bis 17. Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt hat) ist also die antike Raumperspektive hervorgegangen, und sie hat noch Jahrhunderte später die Spuren dieser Entstehung getragen. Das war nach 460 in Athen. Dort und im Anschlufi daran hat wenige Jahre später Anaxagoras, der Naturphilosoph, Lehrer und Freund des Staatsmannes Perikles, die erste wissenschaftliche Erklärung der Perspektive gegeben. Ihm folgte in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts der große Demokrit mit einem Buch über Optik. Die Wissenschaft hat aus der künstlerischen Entdeckung sofort ihren Nutzen gezogen. Die Theorie der Perspektive steht nach der Mitte des 5. Jahrhunderts fest. Um so auffallender ist es, daß die künstlerische Perspektive mit der Wissenschaft nicht Schritt hielt. Sie blieb auf die Bühnendekoration beschränkt. Von der reinen Malerei wurde sie trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse zunächst abgelehnt. Nur sehr zögernd drang sie auch dort ein, und es hat ganze hundert Jahre gedauert, bis sie sich auch die Wand- und Tafelmalerei erobert hat. Die Entstehung einer griechischen Raumperspektive innerhalb des Bühnenbildes, die hartnäckige Beschränkung der gleichzeitigen reinen Malerei auf die Körperperspektive und ihre zögernde Aufnahme der Raumperspektive, - das sind drei historische Phänomene, die uns den Weg zu dem weiteren Verständnis der griechischen Perspektive bahnen können. Die Körperperspektive hatte die griechische Kunst in einem raschen Siegeszug erobert. Um die Raumperspektive sind, sobald sie einmal da war, zwischen 460 und der Mitte des 4. Jahrhunderts heftige geistige Kämpfe entbrannt. Vernehmen wir erst die Gegenstimmen. Die Perspektive gehörte für die Griechen der Hochklassik zum Theater, zum Bühnenspiel, in welchem Piaton diejenige Dichtungsart sieht, die am weitesten in der täuschenden Nachahmung des Lebens gegangen ist. Das architektonische Hintergrundbild zeigt 16
nicht eine künstlerische Darstellung von Häusern, es täuscht vielmehr dem Zuschauer mit den Mitteln perspektivischer Malerei den Schein vor. Das Moment der Täuschung liegt hier in der Absicht und in der Wirkung offen zutage. Raumperspektive oder, was damals das gleiche bedeutete, Bühnendekoration baute für die Griechen eine Welt des eingängigen, aber täuschenden und damit unwirklichen Sdieins auf. Die Griechen besaßen ein fein entwickeltes Empfinden für die Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein. Ihr plastischer Sinn erblickte das Wirkliche vornehmlich in den Körpern der Menschen und Dinge, sei es in der Skulptur, sei es in der Malerei. Körper mufi man greifen können, wenn auch nur mit dem Auge; wenigstens aber müssen sie mit der Wirklichkeit darin zusammengehen, dafi man sie messen kann und dafi sie Proportion besitzen. Beides fehlt der perspektivischen Scheinarchitektur. Sie ist weder tastbar noch mefibar noch hat sie Proportion: sie war für die Griechen der klassischen Zeit Täuschung und als solche zweitrangig. Das Bewufitsein dieser Zweitrangigkeit der ars perspectiva ist in dem griechischen Denken lebendig geblieben, als die Raumperspektive schon weit in die reine Malerei eingedrungen war. In seinem Werk über den Staat (X 5 p. 602 C ff.) vergleicht Piaton die perspektivische Malerei mit der krummen Verzerrung, die das Bild eines Stabes zeigt, den man ins Wasser hält; ein perspektivisches Bild vermittle nur eine trügerische Erkenntnis und ihr entspreche ein verworrener Seelenzustand des Betrachters, der nicht die Fähigkeit besitze, zur Wahrheit durchzustoßen, wirkliche Erkenntnis vermittle nur die Meßkunst, die Mathematik; denn an dieser sei der hellste Seelenteil, die Vernunft, beteiligt. Noch in dem späten Dialog „Sophistes" (23 p. 236 B) nennt Piaton ein die Perspektive berücksichtigendes Kunstwerk ,Phantasma', ein „Scheingebilde". Das raumperspektivische Bild besaß für den konservativen Sinn der Griechen nur eine mindere Realität, und dies ist zweifellos der Grund des Widerstandes, der sich gegen die von der Bühne herkommende Raumperspektive erhob. Wir verstehen nun, warum die griechische Kunst die Raumperspektive nur zögernd in ihr Reich eingelassen hat. Sie bedeutete nichts weniger als ein Umstülpen aller bisherigen Anschauungen und Werte. Allein die Griechen können die Perspektive nicht nur negativ beurteilt haben. Sie sind j a selbst die Schöpfer der Perspektive gewesen. Ihre erste Phase, die Körperperspektive, bedeutete eine der gewaltigsten Entdeckungen der Kunst und hat erst 2
17
der Blüte der griechischen Malerei und des Reliefs die Bahn gebrochen. Ihr haben sich die griechischen Künstler sofort mit Leidenschaft hingegeben. In ihr vereinigen sich die stärksten Antriebe der klassischen Kuhstepodie der Griechen. Der damit eingeschlagene Weg läfit sich jedoch nicht von der zweiten Phase, der Raumperspektive, trennen. Welches war nun der positive Wert, den die Perspektive gebracht hat? Ich will die Antwort zunächst in eine knappe Formel zu bringen versuchen: Perspektive bedeutet Anpassung der Dinge an das Auge des Betrachters. Die Objekte im Bild erleiden einen Verlust an Eigengesetzlichkeit, und das Gesetz der Darstellung wandert von jenen zum aufnehmenden Subjekt. Audi die Pole, das Wesen des Betrachters und der Wirklichkeitscharakter des Bildes, verändern sich. Der Mensch als Empfänger des Bildes verwandelt sich in das neu eingegrenzte Individuum, auf das die Bildstruktur abzielt, weil erst in seinem Auge die Linien der Darstellung zu einem sinnvollen Ganzen zusammenschießen. Die Wesenhaftigkeit der Bildgegenstände geht in der neuen Realität des Erscheinungszusammenhanges auf, der sich in der Summe seiner hundertfältigen Raumbeziehungen erschließt. In dem Zurückgehen auf den Augeneindruck liegt eine neue Wahrhaftigkeit. Sie liegt in dem Verzicht auf die die Objekte isolierende Erfassung und befreiende Deutung ihrer Wesenheit in der vorperspektivisdien Kunst und in dem Zurückgeworfensein auf die verwirrende Fülle und Problematik des in optischer Einheit sich darbietenden Wahrnehmungszusammenhanges. Unbegrenzte Möglichkeiten der Deutung durch den individuellen Künstler - unbegrenzte wie im Anblick der Natur selbst werden hierdurch frei gesetzt. Die Redensart, daß der Künstler die Welt „wiedergibt wie er sie sieht", erhält hier ihren prägnantesten Sinn. Wie im Denken durch die Sokratik eine neue Stufe des Begreifens der Wahrheit, so wird in der Kunst durch die Perspektive eine neue Stufe des Schauens der Wirklichkeit erklommen. Die Perspektive ist der engste Bund, den der menschliche Geist mit der natürlichen Erscheinungswelt geschlossen hat. Diese Sätze gewinnen freilich erst Leben, wenn wir sie an den historischen Vorgängen messen, von denen sie abgezogen sind. Wir wollen dies versuchen. Dabei werden wir vor allem darauf achten müssen, welche neuen Inhalte und Sinngehalte durch die Perspektive aussagbar wurden oder gleichzeitig mit ihr auftraten. Grundsätzlich: durch die Perspektive erst wird die Welt der 18
Dinge dem menschlichen Auge unterworfen. Alle vorklassische und daher vorperspektivische Kunst kennt weder in der Skulptur noch in der Malerei den mit einem Blick zu umfassenden Bildraum. Kost- Abb. 2,10 barste Einzelheit steht dort neben Einzelheit, die Figuren werden zu einem Fries aneinander gereiht. Sie wollen der Reihe nach abgelesen werden. So entwickelt eine solche Kunst sein mag, sie enthält immer nodi den Rest einer erzählenden Bildersprache. Das Auge reidit nicht aus, sie aufzunehmen; das Tastgefühl, der motorische Sinn, die Yerstandestätigkeit müssen beitragen, um den Sinn dieser Bildaussage zu erfassen. Schon vor dem Auftreten der Perspektive beginnen die Kunstwerke jedoch immer mehr an das Auge zu appellieren unter Zurückdrängung der übrigen Sinnesorgane. Selbst die Marmorstatuen konzentrieren in zunehmendem Maße ihre Wirkung in einer Hauptansicht, die mit einem Blick umfafit werden kann. Die Perspektive tut den letzten Schritt, hinter den es Abb. 11 kein Zurück mehr gibt: sie gleicht die Darstellung der Dinge an den spezifischen Sehapparat des Menschen an. Die Sicht der Perspektive bindet die Sinnenwirklichkeit mit einer Ausschließlichkeit wie nie zuvor an das komplexeste und geistigste Organ der menschlichen Wahrnehmung, an das Auge. Das Auge wird autonom. Lassen Sie uns nun erstens die formalen Veränderungen betrachten. Die Perspektive hat es zunächst mit dem R a u m zu tun. Durch sie erhält die Darstellung eine neue Dimension, die Tiefenrichtung. Die Bildtafel wird durchsichtig und gibt den Blick frei auf eine theoretisch unbeschränkte Ferne. Die begrenzte Bildtafel nimmt das Unendliche in sich hinein. Es ist sehr lehrreich, daß in dem gleichen Zeitpunkt, als die Raumperspektive bei den Griechen ihre ersten Schritte tat, die Landschaft im Bilde zu sprechen be- Abb. 5 gann: zunächst allerdings nur in einem tiefengegliederten Hintergrund, und es sollte noch lange dauern, bis die Weite der Land- Abb. 13 schaft in das Bild aufgenommen wurde. Eine Fülle von sinnlicher Welt strömte in das Bild ein. Und damit veränderte sich nicht nur die Erscheinung der Wirklichkeit, sondern diese selbst. Welt hat die griechische Kunst von ihren Anfängen an besessen: in jeder Palmette, in jedem Tier, in jeder figürlichen Darstellung. Das, was wir als Welt empfinden, war in den einzelnen Figuren und Gestalten zusammengezogen. Sie war mit enthalten in der verdichteten Symbolik der plastisch hervortretenden Formen. Aber nach dem Eindringen der Perspektive in das Bild zeigt sie sich in der ihr zur
19
gehörigen optischen Ordnung der Erscheinungswelt, eben der Raumperspektive. Die Welt der Augen offenbart sich hier in ihrer eigenen, sinnlich wahrnehmbaren Struktur: Verlockung über Verlockung zu einem banalen Naturalismus, - wenn es nicht die Griechen gewesen wären. Deren Künstler begannen nur auf der neuen, differenzierten Grundlage wiederum das Spiel von Sehen, Formen und Deuten. Die Perspektive hat es aber auch, so wenig das beachtet zu werden pflegt, mit der Ζ e i t zu tun. Denn sie bringt eine neue Aktualität des Bildganzen. Jedes perspektivische Bild ist ein Abb. 12 Ausschnitt aus dem Blickfeld, auch dieses in Ubereinstimmung mit dem Sehvorgang. Nach links und rechts, nach oben und unten, nach der Tiefe und vorne bis zu dem Standort des Betrachters kann man es sich fortgesetzt vorstellen. Es ist ein Stück Welt, welches das Auge fest in den Griff bekommt. Dieses Stück Welt besitzt nun eine andere Struktur als in der vorperspektivisdien Kunst. In dieser waren die Teile vor dem Ganzen da; Raumperspektive aber heißt, daß das räumliche Ganze vor den Teilen, nämlich den dargestellten Teilen, vorhanden ist, ebenso im künstlerischen Prozeß wie in der Wahrnehmung des Betrachters. Weil aber das Ganze sich einem Blick eröffnet, wirkt es als Momentbild, und weil es in einem „Augenblick" zusammengefaßt erscheint, trägt es in sich die Plötzlichkeit jeder sinnlichen Erscheinung. Das Standbild des .Kairos', des „fruchtbaren Augenblicks", das Lysippos damals schuf, war ein echtes Kind dieser Zeit der sich vollendenden Raumperspektive und eines schnelleren Pulsschlages des Lebens. Einheit der Zeit im Bilde hat die ältere vorperspektivische Kunst der Griechen nicht erstrebt; sie kannte j a auch das Momentbild noch nicht. Je ausschnitthafter jedoch mit der sich entwickelnden Perspektive das Bild wurde und die geschlossene Komposition ihre zusammenfassende Kraft an die Perspektive abgab, je mehr sich das Bild einem scheinbar zufällig sich einstellenden Augeneindruck anglich, desto mehr mußte es die scheinbar verlorene Flächenkonzentration in der räumlich-zeitlichen Einheit der Perspektive wiederfinden. Mit diesen formalen Veränderungen hat nun zweitens das perspektivische Sehen der Griechen eine ganz neue O r d n u n g des Daseins herausgehoben. In der Tiefenrichtung, die im perspektivischen Bild als neue Dimension hinzukommt, entwickeln sich neue Sinngehalte. Die Gegenstände und Figuren sind nicht mehr wie bisher an die zweidimensionale Bildfläche gefesselt. Frei bewegen sie sich in dem erweiterten Raum. Wie im wirklichen Leben stehen 20
sie in diesem Raum, und ihre e n t b u n d e n e n G e b ä r d e n w e r d e n zum Spiegel d e r hundertfältigen F o r m e n und Nuancen des Lebens. Diese Freisetzung gilt schon f ü r die Körperperspektive. H i e r blieb jedoch die letzte Ausdruckseinheit die Gestalt. Erst im perspektivischen Raum wird ein Gleichnis f ü r die Verwobenheit des Verschiedenartigen in einem bewegten Lebensganzen gefunden, aus der sich das Individuelle am Individuellen herausarbeitet. Jede Gestalt findet so zum Ausdruck ihres besonderen Seins. Eine neue und sehr differenzierte Schicht des Daseins w i r d jetzt von der Kunst freigelegt: letzte Individualität des Menschen als Person w i r d erst in perspektivischer Sicht darstellbar. Es ist von sehr wesentlicher Bedeutung, dafi ungefähr um die gleiche Zeit ein neuer Zweig der griechischen Kunst nämlich das Individualporträt wie die Perspektive Stufe um Stufe seine eigene F o r m fand. Das geschah im L a u f e des vierten vorchristlichen Jahrhunderts. Wie n u n Individualität und P o r t r ä t durch das perspektivische Sehen eine neue P r ä g u n g erhielten, so t r a t e n weiter als neue Sinngehalte hinzu Gefühl und Leidenschaft. Gewiß brauchte das G e f ü h l nicht auf die Perspektive zu w a r t e n um dargestellt zu werden. Aber die Nähe zur sinnlichen Welt, weldie die Perspektive stiftet, u n d ihre Fähigkeit, den Augenblick erleben zu lassen, die Individualität zu befreien und die Dinge in ihrer vertrauten, täglichen Erscheinung nahe zu bringen, sind dem Gefühlsleben so benachbart, dafi jetzt erst die letzten Schranken der Darstellung fielen. Wie der W a h r nehmungsraum des perspektivischen Bildes ohne Grenzen übergeht in den R a u m des Betrachtenden, so beginnen auch die in den Gestalten verborgenen G e f ü h l e sich aufzuschließen und den Betrachter zu umhüllen. Die attischen Grabreliefs verwandelten sich in dieser Zeit in Familiengrabsteine, und nie zuvor finden w i r die Abb. 14 Innigkeit menschlicher Gefühle auf so engem Raum gesammelt u n d mit solcher K r a f t auf den Beschauer ausströmend. Allerdings ist hiermit ein Verlust verbunden. Die F i g u r erscheint Abb. 4,n im perspektivischen Bild nidit mehr in stolzer Isolierung, autonom u n d unabhängig wie noch in der bloßen Körperperspektive. Ihre Größenverhältnisse erscheinen nicht mehr absolut sondern n u r noch in Relation zu den übrigen Gegenständen des Bildes. Damit stoßen w i r auf eine weitere umstürzende Folge der Perspektive. Alles Dasein ist n u r noch in bezug auf ein anderes Dasein vorhanden, alles Sein w i r d in der Perspektive relativiert. Selbst wo n u r eine Figur im Bild dargestellt ist, bleibt dieses Beziehungssystem des 21
Daseins spürbar. Auf dem nur durch eine antike Beschreibung bekannten Gemälde eines Kriegers von der Hand des Theon von SaAbb. is mos oder auf dem Grabrelief des Aristonautes in Athen ist das eigentliche Thema nicht mehr das objektive Kampfgeschehen, sondern die subjektive, aufs höchste getriebene Kampfesleidenschaft des Dargestellten, die sich dem Betrachter mitteilt, ohne dafi audi nur ein Gegner wiedergegeben ist. Die Krieger stellen nicht etwas, sondern sie stellen sich dar; gleichsam als Mitte einer unsichtbaren Geschehensperspektive, aus der allein das Heraustreten des Gefühls aus sich selber, das Pathos, glaubhaft wird, entsenden sie ihre Erregung auf den Beschauer. Wenn Aristoteles die griechische Dichtung des fünften Jahrhunderts unter dem Begriff des Ethos, und die des folgenden vierten Jahrhunderts unter dem Begriff des Pathos zu begreifen versuchte, so gilt das audi für die bildende Kunst: Das Ethos für die Körperperspektive des vorangegangenen, das Pathos für die Raumperspektive seines eigenen Jahrhunderts. Sinnliche Welt und Augenblick, Individualität und Relativierung des Daseins, Gefühl und Pathos gehören bei den Griechen zur Perspektive. Sie begleiteten das griechische Leben auf dem Weg zu seiner entwickeltsten und zugespitztesten Gestalt. Dafi sich eine hödist verfeinerte Geistigkeit in der Raumperspektive verwirklichte, zeigt sich noch von einer dritten und zusammenfassenden Seite her. Die Perspektive fafit das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit und zur Wahrheit neu. Alle vorperspektivische Kunst baut eine eigene Ordnung der Objekte auf, deren Gesetze andere und strengere sind als die des uns umgebenden Lebensraumes. Der betrachtende Mensch steht dieser Objektwelt gegenüber, durdi eine klare Scheidewand von ihr getrennt. Er mufi sich ihrem strengen und objektiven Gesetz beugen, wenn er in vorperspektivische Kunst eindringen will. Wieder hat die Entwicklung der ars perspective in mehr als einem Jahrhundert einen völligen Umsturz bewirkt. Denn nun beugt sich umgekehrt die Wirklichkeit den subjektiven Gesetzen der menschlichen Wahrnehmung. Im perspektivischen Bild wird die Wirklichkeit, wie wir sahen, den Gewohnheiten des betrachtenden Auges angepafit. Der betrachtende Mensch, das Individuum, wird als Mitte der wahrgenommenen Welt anerkannt. Auf ihn laufen alle Linien zu. Die Trennung zwischen Objekt und Mensch wird zwar nicht beseitigt, aber die Perspektive überbrückt sie in neuartiger Weise. Durdi sie wird die Objektwelt näher an das menschliche Subjekt herangezo22
gen, und umgekehrt saugt die gemalte Perspektive das S u b j e k t in sich hinein, so dafi es in die O b j e k t w e l t sich einbezogen f ü h l t wie in seine natürliche Umwelt. Das Bild wächst auf den Betrachter zu, und dieser findet sich in dem Bild wieder. Die O b j e k t w e l t w i r d dem betrachtenden S u b j e k t „zugeordnet", ihre Erscheinung ihm angeglichen. Die S u b j e k t - O b j e k t - S p a n n u n g , welche unser ganzes Dasein als sehende, fühlende, e r k e n n e n d e Menschen durchzieht, findet so ihr genauestes Abbild in der ars perspective. Die O b j e k t welt steht im K u n s t w e r k dem Menschen gegenüber und doch w i r d sie durch die Perspektive der Gefühlswelt und der Geistwelt des S u b j e k t s zugänglich wie die N a t u r selbst. Die Welt verliert in der Perspektive ihre Transzendenz und w i r d spezifisch menschlich. „Wie die N a t u r selbst", so sagten w i r eben. Hierin liegt das neue Problem der Wahrheit perspektivischer Kunst. Sicher h a t t e es die vorperspektivische Kunst leichter, in der Plastik und d e j Malerei die einfadie Wirklichkeit der Dinge sprechen zu lassen und i h r e r Gewalt die Züge der Wahrheit zu geben. Die archaische Kunst der Griechen ist das größte Beispiel h i e r f ü r . N u n hat die P e r s p e k tive die Dinge ihrer magischen oder religiösen B e k r ä f t i g u n g entkleidet, die Relativierung des Sehbildes ihre Wesenhaftigkeit abgebaut. Was die N a t u r im Schaubild gewonnen hat, das hat sie an Wirklichkeit verloren. Je realistischer sie wurde, desto mehr ist ihre W a h r h e i t ins Verborgene gerückt. Realität und Wahrheit sind nicht mehr dasselbe, sondern sie klaffen auseinander. Im perspektivischen Bild, das so sehr dem Augenschein angenähert ist, muß die Wahrheit w i e d e r u m gesucht w e r d e n wjie in der N a t u r selbst. Das perspektivische Sehen eröffnet daher unendlich viele Möglichkeiten der D e u t u n g der Natur. Sie sind abhängig von dem jeweiligen „ S t a n d p u n k t " des Künstlers, von seiner „Perspektive" im übertragenen Sinne. Die W a h r h e i t spaltet sich in dieser reifen Kunstsituation in die Wege zu der sich ewig verborgen haltenden Wahrheit. Die vom Göttlichen h e r sich immer mehr der perspektivisch e r f a ß t e n Sinnenwelt zuwendende Kunst stellte sich damit neben das D e n k e n der nachsokratischen Philosophie. Ich muß es mir versagen, weiter, als es diese Andeutungen vermögen, auszumalen, wie die Entdeckung der Perspektive n u r ein Teil j e n e r großen geistigen Bewegung war, welche die Griechen vorantrieb und so eine Grundlegung des Abendlandes und seiner Problematik geworden ist. Blicken wir lieber von hier aus noch einmal auf den durchschrittenen Weg zurück! Die ars perspective, 23
die wir in der Schule lernen, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein bedeutungsvoller Sonderfall in der Geschichte der Kunst. Ihre Entdeckung durch die bildende Kunst war eine der denkwürdigsten Schöpfungen des griechischen Geistes. In heftigen Kämpfen und in den zwei Anläufen der Körperperspektive und der bedingten Raumperspektive hat sie sich während der klassischen Jahrhunderte durchgerungen. Sie bedeutet: absolute Herrschaft des Auges; neuen Zusammenschluß der bewegten Welt in der Ordnung raumzeitlich bestimmter Gegenwart; Fülle der Individualität, Relativierung des Daseins und damit ein geistiges Anschauen der Bedingtheiten des Daseins; innigste Durchdringung von Subjekt und Objektwelt in den Werken der bildenden Kunst; schwindende Wirklichkeit der Dinge und Gestalten und neue Verborgenheit der Wahrheit in der Erscheinung. - Perspektive ist Anschauung der Welt vom Menschen her. In ihr vollzieht sich nichts weniger als eine grundstürzende Umwälzung: die Immanenz und das übernatürlich Göttliche in der Kunst ist im Schwinden begriffen, die Kunst wird natürlich und menschlich. Dies war nur möglich in Verbindung mit einem Weltbegriff, in dessen Mitte der Mensch trat. Deshalb waren die Griechen, deren Fühlen, Denken und Gestalten von altersher die Richtung auf den Menschen nahm, dazu bestimmt, die Perspektive zu entdecken. Deshalb war die Perspektive eine der Voraussetzungen der griechischen Klassik, die ihre tiefste Kraft aus dem Menschlichen zog. Deshalb gehört sie auch zu den Grundlagen der europäischen Kunst und ihrer Höhepunkte. Diese Sinndeutung der Perspektive enthält wohl, wie ich glaube, Wesentliches, aber sie ist nicht wörtlich auf andere Epochen zu übertragen. Überall, wo Perspektive auftritt, werden die geistigen und künstlerischen Momente im Spiel sein, die wir hervorhoben. Aber - das hat uns die griechische Form der Raumperspektive gezeigt - die Spielregeln, unter denen diese Momente zusammentreten, sind je nach der historischen Lage verschiedene. Es gibt ebenso viele Spielarten der Perspektive wie Völker und Epochen. Audi der zweite große Fall der Perspektive in der europäischen Kunst, die Renaissanceperspektive, verlangt ihre eigene Deutung. Mit der antiken Klassik, die weit bis in die römische Kunst hineinreicht, ist die Raumperspektive zerfallen. Trümmer der perspektivischen Anschauung hielten sich in der ganzen mittelalterlichen Kunst, und ebenso ist auch die Bildwelt des Mittelalters göttlich-menschlich geblieben, wie sie es in der Antike gewesen war. Freilich ist mit den 24
Gehalten der christlichen Lehre eine neue Transzendenz in diese Bildwelt hereingebrochen und hat sich in den unräumlich-unwirklichen Dimensionen der abstrakten Bildflädie ausgebreitet. Die Nachantike hat damit den realen C h a r a k t e r ihrer Welt zeitweise preisgegeben; diese ist Abglanz des Göttlichen, Kulisse f ü r das menschliche Erleben der Gottheit und der Heilstatsachen. Was an Resten der Perspektive in der mittelalterlichen Kunst noch vorhanden war, deutet auf den menschlichen Empfindungsquell und Ausgangspunkt auch dieser Kunst hin. Aber diese Reste sind n u r noch Bildzeichen: nicht mehr schöner Schein, in dem sich die W i r k lichkeit eines irdischen Kosmos darbietet, sondern Erinnerungsfetzen, eine ihres Wesens fast entleerte Hülle, hinter der sich eine ganz andere, unendliche, dem irdischen Auge nicht mehr sichtbare Perspektive der göttlichen Gnadenwelt a u f b a u t . Es bleibt der Bezug audi dieser Gnadenwelt auf den Menschen. Wie nun aus diesen Resten mit der Renaissance w i e d e r u m eine Raumperspektive erwuchs, k a n n nicht mehr dargestellt und die Bedeutung dieser zweiten Wende n u r angedeutet werden. Zum Unterschied von der Antike erscheint hier der perspektivische Bildraum streng mathema- Abb. l, 16 tisch durchkonstruiert. Man sieht dies gewöhnlich als die große Entdeckung der neuen Kunst an. O b diese Behauptung in dieser F o r m zutrifft, ist durchaus zweifelhaft. Verstehen lehrt sie nichts. Man könnte zur E r k l ä r u n g auf die Nachbarschaft der aufblühenden, ebenfalls mathematisch s t r u k t u r i e r t e n Naturwissenschaften hinweisen. Damit ist jedoch n u r eine, allerdings aufschlufireiche P a r a l lelerscheinung aufgezeigt, indes noch wenig erklärt. Die andere Gestalt, in der die Raumperspektive jetzt auftritt, verrät vielmehr einen von der antiken Perspektive durchaus verschiedenen Sinngehalt der kunstgeschichtlichen und geistesgeschichtlichen Wende. Auch hier laufen die Linien der Gegenstände im Auge des W a h r n e h m e n d e n zusammen; das S u b j e k t tritt in den Schlüsselpunkt der Erscheinungswelt. Perspektive ist jedoch hier nicht „Auflösung", sondern „Konstruktion", nicht Ausbreitung der Dinge im Sehfeld des Menschen, sondern Sammlung des Zerstreuten in der Gültigkeit des Naturgesetzes, weniger S u b j e k t i v i e r u n g einer O b j e k t w e l t , als vielmehr O b j e k t i v i e r u n g einer unwirklich gewordenen Scheinwelt. Natürlich ist audi die Renaissanceperspektive Ausdrude. Aber ihre Ausdrucksgestalt ist diesmal das strenge Naturgesetz, in weldiem sie eine in J a h r h u n d e r t e n irreal gewordene Sinnenwelt aufs neue in der Realität befestigt. Die Perspek25
tive ist fast die gleiche, wie sie die Griechen zweitausend Jahre früher geschaffen hatten, der historische Vorgang vergleichbar. Aber er verläuft in gerade umgekehrter Richtung. Sie bedeutet Säkularisierung wie dort. Die Kunst der Renaissance bleibt von da ab nicht Spiegelung subjektiver Erlebnisse. Sie objektiviert ihren Bildraum am Gesetz der Optik. Indem sie das Naturgesetz zu ihrem Bildgerüst macht, gibt sie ihrer Welt in anderer Form den Wirklichkeitsgehalt wieder, den die Antike von Anfang an besessen und selbst in der Perspektive noch festgehalten hat. Die Bezogenheit aller Bildgegenstände einzig und allein auf den wahrnehmenden Menschen bedeutet hier nicht so sehr Subjektivierung wie in der Antike, sondern ist Ausdrude eines Zeitbewufitseins, das in dem Menschen die einzige Erkenntnisquelle der Wirklichkeit erblickt. Sie bedeutet Abwendung von der geoffenbarten Wirklichkeit, Verweltlichung des Bewufitseins. Ein von der Antike grundverschiedener Realitätssinn mach't sich hier bemerkbar. Er gründet nicht mehr auf dem Gegenstand, sondern auf der Optik des Menschen. Die Realität der Gegenstandswelt zeigt sich jetzt voll erst in ihrer Konstruierbarkeit, die Uberzeugungskraft des Bildes nicht mehr im Schein, sondern in der Nachgestaltung eines Naturgesetzes. Man mag für diesen Vorgang auf eine erhellende und stützende Parallele hinweisen: nämlich auf die Rolle, welche die Befragung durch das nachkonstruierende Experiment in der Naturwissenschaft seit dem Anbrudi der Neuzeit spielt, im Gegensatz zu der an sich hochentwickelten griechischen Naturwissenschaft, welche das Experiment nicht kennt. Neben diesen wesentlichen Unterschieden im Ausdrucksgehalt der neueren Perspektive von der antiken bleiben noch genug Züge, welche in dem abermaligen Auftreten der Perspektive in der Renaissance einen ähnlichen geistig-künstlerischen Umschwung erkennen lassen wie bei den Griechen. Die Welt des späten Mittelalters und der Renaissance wird - in der Kunst - unter Aufhebung der reinen Transzendenz wieder irdisch-menschlich und anschaulich, indem sie mittels der Perspektive in unmittelbare Wechselwirkung mit der menschlichen Wahrnehmung tritt; sie wird real, indem sie ihre künstlerische Gestalt in dem Gesetz der natürlichen Wahrnehmung wiederfindet. Dies ist Wesensgleichheit und Sinnverschiedenheit der antiken und der neueren Perspektive. Mit dieser letzteren hat die Welt zum zweitenmal ihr Gleichgewicht, die Kunst ihre zweite Klassik gefunden. 26
Anmerkung Wer sidi des Weiteren über griechisch-antike Perspektive unterrichten möchte, sei auf die folgenden neueren Schriften hingewiesen: E. P a n o f s k y , Perspektive als symbolische Form (Vorträge der Bibliothek Warburg 4, 1924/5, 266 ff.). - Η. Β u 11 e , Eine Skenographia (94. Berl. Windcelmannsprogr. 1934). - G. J. K e r n , Die Entwicklung der zentralperspektivischen Konstruktion in der europäischen Malerei (Forschungen und Fortschritte 13,1937, 18 ff.). - Ders., Das Jahreszeitenmosaik der Münchener Glyptothek und die Skenographia bei Vitruv (Archäolog. Anzeiger 1938, 245 ff.). - H. G. Β e y e η , Antike Zentralperspektive (Ardiäolog. Anzeiger 1939, 47 ff.). - Ders., Das Münchener Weihrelief (Bulletin van de Verenigung_tot Bevordering der Kennis van de antieke Beschaving 27, 1952, Iff.). - G. Μ. A. R i c h t e r , Perspektive, ancient, mediaeval and renaissance (Scritti in onore di Bartolomeo Nogara, 1937, 381 ff.). Zur geschichtlichen Wirkung der griechischen Perspektive: Α. I ρ ρ e 1, Wirkungen griechischer Kunst in Asien (Der Alte Orient 39, 1-2, 1940). Ders., Wirkungskräfte des Griechentums (Archäolog. Anzeiger 1939, 599 ff.).
27
Ve r z e i c h n i s
derAbbildungen
1 Architekturbild aus dem Umkreis des Piero della Francesca, um 1470, Berlin. Nach J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance (Gr. illustrierte Phaidon-Ausgabe Abb. 291). Musterbeispiel eines perspektivisch konstruierten Renaissance-Bildes. 2 Attische Amphora um 540, München 1379. Nach Corpus Vasorum Antiquorum München I Taf. 13,1. Kampf des Herakles gegen den dreileibigen Geryoneus. Zu seinen Füßen der .tödlich verwundete Eurytion. Flächige, vorperspektivisdie Komposition. 3 Schalenbild des Menon-Malers gegen 510, New York. Nach G. Richter, Greek Painting (1949) Abb. S. 9. Beazley, ARV. 9, 9. Früher Versuch der Körperperspektive. Vergleiche den am Boden liegenden Krieger mit dem Eurytion von Abb. 2. Die gewählte Rüdfenansicht, die verschränkte Lagerung der Beine und der verkürzte Schild sprengen die Fläche und schaffen Raum für Körperlichkeit und freiere Gebärde. D e r stärkste Akzent liegt in der Schrägansicht des von innen gesehenen Schildes und dem verkürzten Schildarm des stehenden Kriegers. Von hier aus beginnt das Flächenbild des Körpers sich mit räumlichen Elementen zu durchdringen. 4 Krater des Niobiden-Malers, gegen 450 v. Chr., Paris, Louvre. Nach Pfuhl, Meisterwerke griechischer Zeichnung und Malerei Abb. 77. Innerhalb der Gestalten Vollendung der Körperperspektive. Durch die Geländelinien ist eine gewisse Tiefenstaffelung der Gruppe angedeutet, aber ohne raumperspektivischen Zusammenschluß. 5 Apulische Amphora um 375, Neapel. Nach Furtwängler-Reichhold, Griechische Vasenmalerei Taf. 148. Orestes und Pylades vor Iphigenie. Oben die taurische Artemis vor ihrem Tempel und Apoll. - Wie in Abb. 3 die Schilde für die Körperperspektive so eröffnen hier der übereck gesehene Altar und der schräg gestellte Tempel als perspektivische Einzelelemente den Raum, der durch die Geländelinien und den Lorbeerbaum landschaftlich gedeutet wird, ohne daß die Vorherrschaft der Gestalten für die Komposition aufgehoben ist. Berührung von Gestalten- und Landschaftsraum.
28
6 und Umschlagsbild: Fragment eines Tarentiner Kraters, um 350 v. Chr. Würzburg. Nadi H. Bulle, Eine Skenographia, 94. Berl. Winckelmannsprogramm 1934 Taf. 1. Perspektivische Darstellung eines Bühnengebäudes mit den Mitteln der Skenographia. Jason, Pelias und Peliade. Der durch die Architekturperspektive gebildete Raum den Figuren übergeordnet. 7 Wanddekoration aus dem Hause des Gavius Rufus, um 60 v. Chr., Pompeji. Nach H. G. Beyen, Die Pompejanische Wanddekoration I Abb. 12. Die Halbnische am linken Ende und jedes der Interkolumnien haben einen eigenen Blickpunkt, der für die jeweilige perspektivische Konstruktion maßgebend ist. 8 Wandbild aus Pompeji, Neapel. Nach Herrmann-Bruckmann, Denkmäler der Malerei des Altertums Taf. 10. Kopie nach einem griechischen Original aus dem Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr.: Achill entläfit Briseis. Die Komposition ist nicht nur aus einer Raumeinheit entwickelt, sondern aus verschiedenen Gestaltengruppen, die jeweils einen verschiedenen Blickpunkt verlangen: die Gruppe des Achill und die Gruppe der Briseis. Diesen beiden Sphären entsprechen die stumpf aufeinanderstoßenden Flächen des Zeltes. 9 Bühnenmäßige Architekturvedute aus Boscoreale, New York. Nach G. Richter, Greek Painting Abb. S. 21. Gemalt um 40 v. Chr. und inspiriert durch hellenistische Bühnenprospekte der Neuen Komödie, worauf auch die oben aufgehängte Maske deutet. 10 Nymphenrelief vom Ende des 6. Jahrhunderts, Athen, Akropolis. Nach Photo Marburg. Beispiel einer vorperspektivischen, flächig auseinandergelegten Bildkomposition. 11 Weihrelief aus Korinth vom Ende des 2. Jahrhunderts v. Chr., München. Nach Photo Kaufmann. Beispiel einer perspektivischen, räumlich zusammenschließenden Bildkomposition, die im späteren Hellenismus selbst das Relief erfaßt. 12 Alexanderschlacht, Mosaikkopie eines Gemäldes des Philoxenos von Eretria gegen 300 v. Chr., Neapel. Nach E. Pfuhl, Malerei und Zeichnung der Griechen Abb. 648. Der Rahmen trennt links und rechts einen scheinbar willkürlichen Ausschnitt aus dem Schlachtgeschehen ab. 13 Odysseelandschaft vom Esquilin, Rom, Vatikan. Nach Pfuhl a.O. Abb.722. Späthellenistische mythologische Landschaftsdarstellung. 14 Attisches Grabrelief gegen 340, Athen. Nach Photo Marburg. Grabstein zweier Frauen: Mutter und Tochter? - Schwestern? Links hinten eine Dienerin. - Neue Räumlichkeit als Sphäre des Gefühls. 29
15 Attisches Grabrelief des Aristonautes. Um 320 v. Chr., Athen. Nadi Photo Marburg. Die Tiefe des Naiskosraumes konzentriert sidi in der Gestalt des Aristonautes und ihren perspektivischen Elementen. In dieser autonom gewordenen Gestalt, die nach derTiefe und den Seiten hin einen weiten Raum um sich spürt (wozu auch die Geländeangabe mithilft), sammelt sich die Weite des Schlachtfeldes und wird in das persönliche Erlebnis verwandelt. 16 Perugino, Vision des St. Bernhard, um 1489, München. Nach E. Hanfstaengl, Meisterwerke der älteren Pinakothek (1922) Taf. 265. Die Realität des konstruierten Bildraumes steigert die Wirklichkeit der Figuren, selbst die der als Vision erscheinenden Maria und säkularisiert sie zugleich.
30
ABBILDUNGEN
Λ1)Ι). 1 : Λ i c l i i l c k t i i r l i i Id a u s d e i n L i n k r e i s d e s I ' i c i o d c l l a I ' r a n c o s c a . B e r l i n I ' m 1470
Λ h b . >: Λ ι ι i s i l i c Sella It·. N e w Y o r k . ( l e i i c n 1 1 0 ν. ( Ii r
Λ Ι ι Ι ι . 4 : Λ11 ist-liiT k n i t e r . I ' i i i is. ( . c ^ e n 4">l) v. ( Iii'
Λ Ι ) Ι ) . (): I n U ' i i U i l . k n i l e i i r a i m e n t l
III 1 ) 0
ιινΙ
B i i Ii l i e n i r o b ü ιι d e . \ \ ii i z l u i r{r
V.Chi·.
Λ 1)1). 8 : U r i s c i s h i l d u n s P o m p e j i . N e a p e l
A l i ! ) . ' ) : liii Ii n e u inii Ιϋμν Λ i'cli i i c k III r v c d u t r a u s U o s c o r r a lo. \ c u ^ c >r k I IcllcniMiseli
Λ1>1). I I : W e i l l r e l i e f . Μ i i i u h e n . K n d e d e s 2. J Iis. v. ( Ii r.
Λ
lib.
14:
Λ
Ii i s d i c s
( , π ι Ι μ τ Ι
icf.
Λ
ι l i e n .
C I c i i c n
->40 \ . ( Ί ι
r
A h l ) . I ( ) : l J F π ι μ ' ϊ n o : V i s i o n d e s S t . B e i n Ii IT i d . M ii Ι Η Ι Κ Ί Ι . Γ ι η I - W S
DIE QESTALT
21. FRANZ
ALTHEIM
Sein und W e r d e n in der Qeschidite 1950. 36 S. D M 2.20
22. R O L A N D Η A M PK Die Qleidinisse Homers und die Bildkunst seiner Zeit 1952. 48 S. mit 23 Tafeln. D M 12.23. W. TROLL U N D
K.L.WOLF
Qestalt und Symmetrie Eine Systematik der symmetrischen Körper 1952. 64 S. mit 99 A b b . im Text, 2 Tafeln, 5 Tabellen. D M 1 2 24. BERNHARD
SCHWEITZER
V o m Sinn der Perspektive 1953. 32 S. mit 16 A b b .
M A X N I E M E Y E R VERLAQ TÜBINQEN