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German Pages 253 [256] Year 2002
Christian Geulen / Anne von der Heiden / Burkhard Liebsch (Hg.) Vom Sinn der Feindschaft
Vom Sinn der Feindschaft Herausgegeben von Christian Geulen Anne von der Heiden und Burkhard Liebsch
Akademie Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen
ISBN 3-05-003761-X
© Akademie Verlag G m b H , Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Katrin Moya Restrepo Druck und Bindung: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza Einbandgestaltung: milchhof: atelier 2 4 : Michael Rudolph Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
CHRISTIAN GEULEN/ANNE VON DER HEIDEN/BURKHARD LIEBSCH
Einleitung: Vom Sinn der Feindschaft
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I. BURKHARD LIEBSCH
Aus Feindschaft geboren? Carl Schmitt, Edgar Morin, Jan Patoöka und die europäische Gegenwart Mit einem Nachtrag zum Geschichtszeichen des 11. September
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SLAVOJ ZIZEK
Willkommen in der Wüste des Realen
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CHRISTIAN GEULEN
,Enemy Mine': Über unpolitische Feindschaft
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BURKHARD LIEBSCH
Werte-Feindschaft, Widerstreit und Gewalt Taylor - Weber - Nietzsche
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FRIEDRICH BALKE
Die Signatur des Feindes: Carl Schmitt und die Moderne
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II. MICHAEL NIEHAUS
Wie man mit inneren Feinden verfährt
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FRANK BECKER
Fremde Soldaten in der Armee des Feindes Deutsche Darstellungen der französischen ,Turko'-Truppen im Krieg von 1870/71
167
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Inhalt
ANNE VON DER HEIDEN
Der unsichtbare Feind
183
JOSEPH VOGL/ETHEL MATALA DE MAZZA
Bürger und Wölfe: Versuch über politische Zoologie
207
ALEXANDER G . DÜTTMANN
Feinde im Diesseits und Jenseits: Radikalisierungen
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CLEMENS KNOBLOCH
„Moralische" Eskalation von Feindschaft
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Autorenverzeichnis
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Personenregister
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CHRISTIAN GEULEN/ANNE VON DER HEIDEN/BURKHARD LIEBSCH
Einleitung Vom Sinn der Feindschaft
I. Für und wider die Aktualität Bisweilen widerfährt Büchern und Themen das Schicksal, von einschneidenden Ereignissen überholt und geradezu widerlegt zu werden. In anderen Fällen bestätigen aktuelle Entwicklungen in ungeahnter Weise die Bedeutung des Geschriebenen und bewahrheiten das Gedachte nachträglich. Es bleibt der Zeit und den Lesern dieses Bandes überlassen, zu beurteilen, wie es in dieser Hinsicht um das vorliegende Buch bestellt ist, der seit drei Jahren vorbereitet worden ist, ohne dass die dramatische Aktualisierung seines Themas zu ahnen war, die der 11. September 2001 mit sich gebracht hat. Gewiss stellt der spektakuläre Terroranschlag eine in dieser Art bislang einzigartige Manifestation exzessiver Feindschaft dar. Doch lässt sich menschliche Koexistenz von Anfang an nicht ohne die Dimension der Feindschaft denken, die die Möglichkeit des Exzesses grundsätzlich einschließt. Als eine solche Dimension fassen die hier zusammengefassten Arbeiten die Feindschaft ins Auge, ohne dabei allzu sehr auf deren aktuelle Virulenz Rücksicht zu nehmen. Entgegen der verbreiteten Auffassung, die Terroranschläge von New York und Washington hätten ein ganz neues weltgeschichtliches Kapitel aufgeschlagen, liefern die hier versammelten, durchaus heterodoxen Texte Einsichten in die Tiefendimension eines Phänomens, das seinen vielen Gesichtern seit dem 11. September 2001 nur ein weiteres hinzugefügt hat. Das spiegelt sich auch in der Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches wider. Es geht auf eine Tagung zurück, die von den Herausgebern 1999 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen im Rahmen der von Jörn Rüsen geleiteten Studiengruppe , Sinnkonzepte als Orientierungssysteme' veranstaltet wurde. Die Thematik wurde dann von der von Burkhard Liebsch und Jürgen Straub geleiteten Studiengruppe „Lebensformen im Widerstreit" weiter verfolgt. Auf deren Arbeit nehmen zwei Beiträge ausführlich Bezug. Von Beginn an waren die Herausgeber davon überzeugt, dass das Thema der Feindschaft dringend einer neuen interdisziplinären Grundlagenreflexion bedarf. Vor allem das Anliegen, diese Reflexion anzuregen, verbindet die vorliegenden Aufsätze. Besonders zwei fatalen Tendenzen wollen sie entgegenwirken: zum einen der Tendenz, Feindschaft für ein überwundenes oder überwindbares Phänomen zu halten und einen, diesem Ziel verpflichteten, politischen Standpunkt für sakrosankt und nicht weiter hinterfragbar zu erklären; zum anderen der Tendenz, Feindschaft für eine unhintergehbare, ewig gleichbleibende Konstante menschlicher Beziehungen zu halten und einen politischen Sinn der Feindschaft ohne weiteres zu affirmieren. Auch vor dem Hintergrund der Zerstörungen in New York sowie der Kriegshandlungen, die ihnen
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Christian Geulen/Anne von der Heiden/Burkhard Liebsch
folgten oder noch folgen werden, erscheinen pauschale Thesen der Überwindbarkeit von Feindschaft und solche ihrer Unhintergehbarkeit als gleichermaßen hilflos und sinnlos. In dieser Hinsicht ist die grundlegende Konzeption des vorliegenden Bandes von der aktuellen Relevanz seines Themas unberührt geblieben. Selbst jene Texte und Textpassagen, die sich direkt auf den neuen Terrorismus und seine Folgen beziehen, vermeiden bewusst die so naheliegende Rhetorik der Wende. Ihre Autoren haben individuelle und sehr verschiedene Wege gewählt, den aktuellen tagespolitischen Hintergrund anzusprechen. Sie alle zeichnen sich aber dadurch aus, das Aktuelle so weit wie möglich vor dem Hintergrund eben jenes so komplexen wie alten Problems der Feindschaft zu betrachten. Alle im vorliegenden Band versammelten Texte gehen davon aus, dass sich die Kontinuität von Feindschaft weder einfach als „Pathologie" sozialen und politischen Lebens noch als ohne weiteres hinzunehmender, „normaler" Aspekt der menschlichen Natur erklären lässt, dass Feindschaft vielmehr immer wieder in unvorhergesehenen Formen hervorgebracht wird, die erst einmal kulturwissenschaftlich, historisch und philosophisch beschrieben werden sollten. Zu einer „realistischen", nüchternen Betrachtung der Feindschaft und ihrer Kontinuität(en) gehört es auch, ihre Randbereiche näher zu beleuchten, nach dem Verhältnis zwischen Feindschaft und Fremdheit zu fragen, Prozesse der Verfeindung zu analysieren, Beispiele der näheren und ferneren Vergangenheit heranzuziehen, das scheinbar so naheliegende Verhältnis von Feindschaft und Krieg zu hinterfragen, Radikalisierungen der Feindschaft zu untersuchen, Feindschaft in ihrer Funktion als Identitäts- oder Gemeinschaftsbegründung in den Blick zu nehmen, den moralischen Umgang mit Feindschaft zu überprüfen, die Formen und Strukturen der Imagination von Feinden zu interpretieren - und selbstverständlich die klassischen Bestimmungen von Feindschaft in der modernen politischen Philosophie zu reflektieren. In dieser letzten Hinsicht spielt Carl Schmitt im vorliegenden Band insofern eine prominente Rolle, als seine Thesen zur Feindschaft nicht wenigen der hier versammelten Texte Ausgangs-, mehr noch aber Kontrapunkt sind, um neue, kritische und zeitgemäße Deutungen des Phänomens Feindschaft zu entwickeln. Welche generellen Überlegungen die Herausgeber bewog, in dieser Weise Feindschaft zu thematisieren und Vertreter unterschiedlichster Disziplinen zur Diskussion einzuladen, wird im folgenden kurz skizziert.
II. Vom Sinn der Feindschaft: Einfuhrende Bemerkungen Die Vermutung, dass wir Menschen uns in einem „ständigen" Krieg miteinander befinden, den keine soziale oder politische Ordnung wirklich aufzuheben vermag, ist so alt und so zeitresistent wie das europäische Denken. Bedarf es überhaupt eines Beweises „anhand dunkler Heraklitischer Fragmente", wie sehr uns nach wie vor ein fortwährender, durch keinen Vertrag wirklich aufgehobener Kriegszustand (polemos) und die Feindschaft, aus der er entsteht, im Griff hat? fragt Levinas noch 1961. Gemeint ist hier nicht der Krieg im militärischen, „konventionellen" oder völkerrechtlich vorgesehenen Sinne, sondern ein „Kriegszustand", in dem einander Widerstreitendes sich unversöhnlich begegnet: eines wird nur auf Kosten des anderen „überleben", das dem Widerstreit zum Opfer fallen muss, wenn er sich nicht aufheben lässt. Diese Denkfigur erfreut sich großer - und äußerst fragwürdiger - Beliebtheit: wo ein Widerstreit gegeben ist, liegt demnach seine feindselige Austragung bereits in der Luft. Gilt das am Ende sogar für heterogene Lebensformen und ganze Kulturen, deren
Einleitung: Vom Sinn der Feindschaft
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„Werte" einander widerstreiten und unversöhnlich erscheinen? Was bleibt dann anderes als der Kampf oder der „Krieg der Werte", den nur die mit Macht und Gewalt durchgesetzten überleben werden? Derartige schreckliche Vereinfachungen inspirieren die gegenwärtige Diskussion in folgenreicher Weise. Man erweckt den Eindruck, als fordere das Vorliegen von Widerstreit gleichsam von sich aus zur feindseligen Austragung „unversöhnlicher Gegensätze" heraus, als bedinge er also bereits vorweg den möglichen Krieg. So kann es den Anschein haben, als sei der Krieg zutiefst im Sein verwurzelt, Heraklit habe demnach unverändert Recht. Aber in einem derart weit gefassten Begriffs des Kriegs, der wechselweise dem Sein, der Natur oder dem Leben zugeschrieben wird, drohen alle Unterschiede zu verschwimmen, auf die es Wesen ankommen muss, die sich mit ihrem Überantwortetsein an den Krieg nicht abfinden wollen oder können. Wie wird denn aus Widerstreit oder aus praktischer Unvereinbarkeit unaufhebbarer Gegensätze manifester Krieg? Selbst wenn die Politik nicht mehr als eine Beschränkung und Hegung des Krieges leisten oder gar (wie Foucault sagt) nur eine „Fortsetzung" des Krieges „mit anderen Mitteln" sein sollte, müssten sich nicht Spielräume denken lassen, die anderem als dem Krieg eine Chance geben? Entsteht der manifeste Krieg, in dem man zunächst einseitig oder gegeneinander - sei es als Uniformierter, als Partisan oder als unsichtbarer Terrorist - zu den Waffen greift, nicht allein aufgrund einer vorgängigen Verfeindung, die sich den Gegensatz von Interessen, Werten oder auch Identitäten zu eigen macht? Und liegt nicht im Verständnis der Feindschaft und ihrer Genese so gesehen der richtige Ansatzpunkt dazu, den „Ausbruch" manifesten Krieges zu verhindern, der sich vom latenten, angeblich im Sein, in der Natur oder im Leben angelegten „Kriegszustand" doch allemal unterscheidet? Selbst Hobbes, den man gerne als Kronzeugen eines ewigen, unaufhebbaren und „anthropologisch" vorgegebenen Kriegszustandes zitiert, hat diese Differenz genau beachtet: Der Kriegszustand, in dem einer dem anderen „das Größte" antun kann (nämlich ihn so oder so, einmal oder mehrfach, physisch oder symbolisch zu töten), wird sich nicht abschaffen lassen, wohl aber die manifeste kriegerische Gewalt - wenn nur alle auf sie zu verzichten versprechen. Freilich erweist sich das Versprechen des GewaltVerzichts, ohne das keine Ordnung menschlichen Zusammenlebens konstituiert und aufrecht erhalten werden kann, als äußerst fragil. Im Prinzip besteht jederzeit die Möglichkeit, dass ein kriegerischer Naturzustand gegenseitiger Verfeindung wieder ausbricht, der durch kein Recht, kein Gesetz und keinen Vertrag endgültig abzuschaffen ist. So bleibt der Kriegszustand untergründig unaufhebbar virulent. Dasselbe Deutungsmuster hat das geschichtsphilosophische und evolutionäre Denken des 19. Jahrhunderts wiederholt und suggestiv auf vermeintlich unaufhebbare Gegensätze zwischen Rassen, Völkern, Nationen und Staaten bezogen, um ihnen eine abgründige Überlebenslogik vorzuschreiben. So konnte es wie ein unabänderliches Gesetz erscheinen, dass einander widerstreitende Überlebenseinheiten, zwischen denen keine dritte, etwa kosmopolitische Instanz schien vermitteln zu können, zu einem tödlichen Kampf gegeneinander verurteilt sind. Wer dieses Gesetz begriffen hatte, konnte sich daran wagen, es vorausschauend an anderen zu vollstrecken, um ihnen den bio-politischen Tod zuzufügen. Erstmals hat in dieser Zeit die Politik im Weltmaßstab die tödliche Regelung „unaufhebbarer Gegensätze" in die eigene Hand genommen. Die zweifellos programmatisch radikalste Version dieser Politik ist von deutschen „Vordenkern der Vernichtung" (G. Aly, S. Heim) konzipiert worden,
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Christian Geulen/Anne von der Heiden/Burkhard Liebsch
deren schreckliche Erscheinungsformen und traumatische Nachwirkungen den Blick auf das Phänomen der Verfeindung lange Zeit verstellt hat, das jeder einseitigen (genozidalen) oder gegenseitigen Vernichtungsanstrengung voraus geht. Erst die nachträgliche, mühsame Arbeit der Historiker fuhrt vielfach auf Spuren lang anhaltender, nicht zuletzt politischrhetorisch formierter Verfeindungsprozesse, ohne die nicht verständlich wäre, wie der Krieg (oder der Genozid) schließlich „Form annehmen" konnte. Die Analyse dieser Prozesse beweist, dass sie niemals bloß „eigendynamisch" ablaufen, sondern vielmehr der konkreten Mitwirkung derer bedürfen, die sich darauf einlassen, einander „feindselig" zu begegnen, um schließlich ganz in ihrer Feindschaft aufzugehen, wenn ein verabsolutierter Krieg es ihnen abverlangt. Lassen wir dahingestellt, ob es je einen „absoluten" Krieg gegeben hat und ob es einen solchen geben kann. Nach M. van Crevelds Analyse der „Zukunft des Krieges" tritt ohnehin der konventionelle, (national-) staatlich organisierte Krieg, den man gelegentlich als absoluten gedeutet hat, seit geraumer Zeit mehr und mehr in den Hintergrund, um wieder einer wilden, sich an keine Regeln der Kriegserklärung, -fuhrung und -beendigung haltenden Feindschaft Raum zu geben, wie sie in vielerorts aufgebrochenen ethnischen Konflikten zu Tage tritt. Der „postkonventionelle" Krieg gibt auf diese Weise den Blick frei auf die Prozesse der Verfeindung, die die menschlichen Verhältnisse versehren und ihre Zukunft weitreichend vergiften. Der Terminus low intensity conflict, der sich in diesem Zusammenhang eingebürgert hat, ist allerdings geeignet, die exzessive Gewalt zu verharmlosen, die diese neuen, und doch so atavistisch erscheinenden Formen der Kriegsführung zeitigen. Beschwören die Formen kollektiver Gewalt, die wir vor Augen haben, nicht von Anfang an ihre potenzielle Exzessivität herauf? Verharmlost man diese Gewalt nicht bereits dann, wenn man den extensiven oder intensiven Exzess für ein bloßes Beiprodukt von Verfeindungsprozessen hält, die der Kontrolle der Beteiligten entglitten sind? Gehört nicht zur Feindschaft in allen ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen die mehr oder weniger akute, im Prinzip aber ständig gegebene Möglichkeit der Eskalation und der Radikalisierung? Tatsächlich macht diese im Einzelfall mehr oder weniger akute Möglichkeit im Unterschied zu anderen „Dimensionen" sozialer Verhältnisse zwischen den Menschen ihre eigentliche Brisanz und ihre eigentümliche Instabilität aus: Ständig schwankt sie zwischen drohender Radikalisierung und Versuchen, sie in Schach zu halten, um sie womöglich zu beenden. So liegt es nahe, das Phänomen der Feindschaft im Spannungsfeld zwischen Krieg (im weitesten Sinne) als dem Extrem kollektiv organisierter tödlicher Feindschaft einerseits und Frieden als dem Ideal abgeschaffter oder wenigstens gebändigter Feindschaft zu verstehen. Sehen wir einmal von der Frage ab, ob von Krieg und Frieden nur hinsichtlich zwischenstaatlicher Verhältnisse oder auch in einem „zwischenmenschlichen" Sinne die Rede sein kann, so muss man zugeben, dass allgemein nur Wesen, die zu tödlicher Feindschaft fähig sind und bleiben, sich zum Frieden oder zur relativen Befriedung ihrer Feindschaft erheben können. Insofern kann man zwar akute Feindschaft (im Sinne „feindseligen" Verhaltens) beenden; aber als Dimension menschlicher „Sozialität" wäre sie nicht abschaffbar. Kein Friede vermöchte ihrer endgültig Herr werden. Gerade deshalb sollten uns nicht die extremen, ausweglosen Formen der Verfeindung, die zuletzt das 20. Jahrhundert geprägt haben, ganz in ihren Bann schlagen. Nicht weniger wichtig als das Bemühen um Entfeindung ist die geschärfte Aufmerksamkeit für den Nährboden und das erste Aufkeimen von Verfeindung, fur die vielfaltigen Prozesse ihrer Mani-
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pulation, Hegung und Pflege, an deren Ende „der Feind" steht, gegen den mit allen Mitteln vorgegangen wird und mit dem man „nichts mehr gemeinsam" zu haben scheint. Unter Menschen gibt es weder „natürliche Feinde", wie uns eine popularisierte Vulgärbiologie glauben machen will, in der der Anthropomorphismus grassiert, noch gar „absolute" Feinde, zu denen wir ein im Sein, in der Natur, im Leben, in der Geschichte oder in der schieren Koexistenz auf demselben Boden „an sich" radikal unvereinbares Verhältnis hätten. Stets werden Feinde erst zu Feinden durch ihre Verstrickung in einen vorgängigen Prozess der Verfeindung, in dem die Feindschaft nicht zuletzt aufgrund von Unterscheidungen und Entscheidungen wächst und gedeiht, die den Feind erst zu dem machen, der er am Ende als „zu Vernichtender" sein wird. Historische, aber auch psychologische, soziologische und politologische Analysen zeigen hinreichend deutlich, welchen Anteil imaginäre Feindbilder an der „Konstruktion" des Anderen als Feind haben. Dabei spielen neben Projektionen, Surrogatbildungen und paranoiden Momenten vor allem Antizipationen der extremen Bedrohung, die der Feind bedeuten kann, eine nicht zu übersehende Rolle. Die Wahrnehmung des „realen" Anderen und die „imaginäre" Aufladung des von diesen Antizipationen bestimmten Bildes, das man sich vom Anderen macht, sind oft kaum mehr auseinander zu halten. Begreift man als eigentliches Extrem, das im Feindschaftsverhältnis bewusst oder latent mitgegenwärtig ist, die drohende Möglichkeit der Vernichtung und befreit man sich von dem Vorurteil, als Vernichtung komme nur die „physische" in Betracht, so öffnet sich der Blick auf eine Vielzahl von Phänomenen der Feindschaft auf sozialer, kultureller und geschichtlicher Ebene. Feindschaft als Dimension menschlicher Koexistenz kommt so gesehen nicht nur dort ins Spiel, wo offen Krieg ausbricht, sondern auch überall dort, wo die drohende Möglichkeit der Vernichtung der sozialen, kulturellen oder geschichtlichen Existenz zu gewärtigen ist. Ob sich diese Möglichkeit als akute darstellt oder ob zunächst der konkrete, vom Anderen zu gewärtigende Schaden und dessen Abwehr im Vordergrund steht, ist eine andere Frage, die zur Dynamik der Feindschaft gehört. Wird die Abwehr des befürchteten Schadens die Feindschaft vertiefen? Wird eine eventuell zunächst einseitige Feindschaft notwendigerweise zur gegenseitigen? Welche Rolle spielen hierbei Dritte oder von außen eingreifende Instanzen? Ist das Problem der Begrenzung von Feindschaft wirklich nur eine Frage des Rechts, wie man von Hobbes her anzunehmen neigt? Ist die „Vergiftung", die jede Verfeindung mit sich bringt, überhaupt juridisch fassbar? Wir verfügen über keine Theorie der Feindschaft, die uns eine befriedigende Antwort auf diese Fragen verspräche. Klassische Theorien der Feindschaft von Hobbes bis Schmitt, auf die man sich gerne so beruft, als ob sie ein „anthropologisch konstantes" Wesen der Feindschaft bereits hinreichend herausgearbeitet hätten, bedürfen dringend der Revision. Das zeigt nicht zuletzt die problematische, in unseren Tagen politisch hochbrisante Nähe von Fremdheit und Feindschaft, die man im Rückgriff auf diese Theorien suggestiv ins Spiel bringt. Wie fragwürdig es ist, Fremdheit von vornherein als potenzielle Feindschaft zur Sprache bringen, beweist hinreichend die aktuelle Diskussion um polemogene Konfrontationen zwischen den Kulturen, die angeblich in ihrer schieren Verschiedenheit oder Gegensätzlichkeit vorgezeichnet ist. In einer allzu unübersichtlichen Lage, wo es von Differenzen, Kontrasten und Gegensätzen nur so wimmelt, schlägt womöglich wieder die Stunde der großen Vereinfacher, die uns erklären wollen, auf welche Unterschiede es ankommt, d.h. welche man „machen" muss - und sei es nur, um zu überleben. Wenn man mit Carl Schmitt
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erklärt, man bedürfe der Feindschaft, um politisch zu existieren, so liegt darin eine Affirmation ihres „Sinns". Angesichts einer durch nichts zu beschönigenden Exzessivität, die die Feindschaft heraufbeschwört, stellen die hier versammelten Beiträge diesen affirmierten Sinn freilich rückhaltlos zur Disposition.
III. Vom Sinn der Feindschaft: Dimensionen eines Phänomens Die Herausgeber möchten sich an dieser Stelle bei den Autorinnen und Autoren der im folgenden kurz vorgestellten Beiträge für ihre Mitarbeit ausdrücklich bedanken. Da wir von Anfang an darauf bedacht waren, Texte zusammenzustellen, die ihre Thesen sowohl in Form theoretischer Grundlagenreflexionen als auch mit Bezug auf konkrete Beispiele, einzelne Texte oder politisch-historische Zusammenhänge entwickeln, haben wir die Beiträge allein nach Maßgabe der Frage, ob der exemplarische oder der übergreifende Charakter überwiegt, in zwei Gruppen geordnet. Den Anfang macht Burkhard Liebsch, indem er die Frage nach dem „Sinn" von Feindschaft in einen europäischen Horizont stellt. Mit Bezug auf Autoren wie Carl Schmitt, Edgar Morin und Jan PatoCka wird die gängige Vorstellung einer weitgehenden inneren Pazifizierung der europäischen Lebensverhältnisse in Zweifel gezogen und in historischer Perspektive an intensive Prozesse kollektiver Verfeindung erinnert, die Europa geradezu als „aus Feindschaft geboren" erscheinen lassen. Statt einer vermeintlich tief in der Geschichte verborgenen „ursprünglichen" Bestimmung europäischen Selbstverständnisses das Wort zu reden, wird die Frage aufgeworfen, ob dieses Selbstverständnis nicht nachträglich von der Erfahrung exzessiver Verfeindung her zu begründen ist. Welche „Lehre" man aus dieser Erfahrung gezogen hat, scheint von erheblicher Bedeutung zu sein für die Einschätzung des jüngsten Terrors, der den Westen insgesamt affiziert. Diese Frage mündet in einen Nachtrag zum „Geschichtszeichen des 11. September", in dem diesem Ereignis freilich nicht (wie vielfach geschehen) umstandslos der Status einer weit-geschichtlichen Zäsur zugesprochen wird. Weder ist seit dem die Welt schlechthin „eine andere", noch auch lässt sich das Ereignis etwa aus irgend einer Theorie der Feindschaft deduzieren. Bevor ihm vorschnell eine Bedeutung zugeschrieben wird, die die eingetretene Verunsicherung kaum mehr zum Anlass nimmt, anders zu denken, als es wohlfeile Feind-Schemata nahe legen, sollte man der Wirkung des Ereignisses selber nachgehen. Möglicherweise fordert das Ereignis nicht nur dazu heraus, eine „neue" Feindschaft zu begreifen, sondern Feindschaft und ihren „Sinn" auf ganze neue Weise zu befragen. Slavoj Zizeks Beitrag beruht auf einem für die vorliegende Publikation umfassend überarbeiteten und stark ausgeweiteten Text, den er im Oktober 2001 in der Wochenzeitung DIE ZEIT veröffentlicht hat. Ziiek interpretiert die Ereignisse vom 11. September 2001 und die Reaktionen insbesondere der Amerikaner auf sie als eine Rückkehr in die "Wüste des Realen". Er konfrontiert die Ereignisse und den vermeintlich durch sie ausgelösten Schock, mit den phantasmatischen Formen ihrer Wahrnehmung, wie sie im Katastrophenfilm Hollywoods über Jahre hinweg eingeübt wurden. Dabei stellt sich heraus, dass nicht nur das wirkliche Amerika vom Terror attackiert wurde, sondern auch das Phantasma einer sicheren und fast jenseitigen Sphäre, in der sich die Amerikaner um so eher zu Hause fühlten, je mehr sie sie als eine virtuelle Welt inszenierten. Symbol dieser virtuellen Welt war das World Trade
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Center, dessen vollständige Zerstörung um so wirkungsvoller an der Stelle des Phantasmas die Wüste des Realen freilegte. Den Konsequenzen, die das für die politische Selbstwahrnehmung der Amerikaner und vor allem für die westlichen Bilder von den Feinden des Westens hat, geht Zizeks Beitrag im einzelnen nach. Er verdeutlicht so, gleichermaßen gestützt auf die Hegeische Dialektik und die Lacansche Psychoanalyse, das komplexe Geflecht aus Politik, Wirtschaft und Medien und deckt am Beispiel der Reaktion auf die Ereignisse grundlegende Symptome unserer Gesellschaft auf. Zizek geht es dabei nicht um die nüchterne Analyse eines „Außenstehenden"; vielmehr wirft er Fragen auf, die letztlich die ethische Grundhaltung eines jeden von uns betreffen. Christian Geulen stellt in seinem Beitrag die meist unhinterfragt angenommene Verwandtschaft von Feindschaft und Krieg zur Disposition. In einer historisierenden, an Michel Foucault und Hannah Arendt angelehnten Argumentation rekonstruiert er zunächst die Verschränkung von Feindschaft und Krieg als eine moderne Tradition des politischen Denkens, die von Clausewitz über den gemeinsamen Zusammenhang von Rassen- und Gesellschaftstheorie im 19. Jahrhundert bis hin zu Carl Schmitt reicht. Anhand von Peter Kropotkins anarcho-sozialistischer Theorie der .Gegenseitigen Hilfe' zeigt er dann, wie auch Konzepte, die sich radikal gegen diese Tradition richteten, noch deren Logik und Voraussetzungen teilten. Die dabei entwickelten Thesen werden anschließend auf den aktuellen Kontext des Terrorismus und der Reaktionen auf ihn in den westlichen Staaten bezogen und anhand des Science-Fiction-Films ,Enemy Mine' noch einmal zusammenfassend illustriert. Geulens Anliegen ist es, jene Ineinanderblendung von Feindschaft und Krieg als eine im Grunde zur Entpolitisierung tendierende Tradition des politischen Denkens auszuweisen und eine wirkliche Politisierung des Phänomens Feindschaft anzuregen. Burkhard Liebschs zweiter Text bringt als eine der folgenreichsten Strategien der Verfeindung die Entwertung zur Sprache. Im Rückgang von Charles Taylor auf Max Weber und Friedrich Nietzsche wird die Rede von Feindschaft zunächst in der modernen Karriere des Wertdenkens situiert, das unversöhnliche Werte zwischen Widerstreit und Gewalt als geradezu zur Feindschaft herausfordernd charakterisiert hat. Das fuhrt weiter zu der Frage, ob die Moderne radikale Verfeindungen gezeitigt hat, die sich mit der Anerkennung eines „menschlichen" Verhältnisses zum Anderen als Feind am Ende nicht mehr vereinbaren lassen. Während Nietzsche den Feind noch als einen „anzuerkennenden" würdigt und „wertet", haben diese Verfeindungen an die Grenze des Wertdenkens selber geführt. Infolge dessen rufen sie die Frage nach einer Grenze sowohl des Wertens als auch der Entwertbarkeit Anderer auf den Plan. Friedrich Balkes Beitrag konzentriert sich zunächst auf Carl Schmitt und fuhrt diesen als einen politischen Theologen wider besseres Wissen vor. Er zeigt, dass Schmitt ein sehr klares Bewusstsein für das Ende der „Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen" hatte, die noch Grundlage seines Konzeptes von Feindschaft waren. Trotz dieser eingestandenen Historizität seines Kategorienapparats hielt Schmitt aber an ihm fest. Balke liefert eine Erklärung dieses Phänomens, die wichtige Implikationen für eine neue Theorie der Feindschaft bereit hält. Er verweist auf ein bereits lange vor Schmitt existentes Machtverfahren, das hauptsächlich in der biopolitischen Einschließung jenes Anderen besteht, den Schmitt später zum Feind erklären und dessen Ausschluss er zum Inbegriff des Politischen machen wollte, und thematisiert gerade in diesem Zusammenhang Schmitts Verhältnis zum NS-
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Regime. Mit der Schmittschen Rückkehr zur Souveränität wurde - so Balke - die Biopolitik nicht überwunden, sondern ihr allererst eine exterministische Logik verliehen. Wie sich im zwanzigsten Jahrhundert die von Schmitt als äußerster Gegensatz gedachte Trennung von Freund und Feind mit der Universalisierung der zwei verschiedenen Machtformen, die Michel Foucault im Nationalsozialismus identifizierte, der Bio-Macht und der Souveränitätsmacht, verband, untersucht Balke im zweiten Teil seines Aufsatzes. In dieser Perspektive wird deutlich, dass das Problem der Feindschaft heute weit jenseits des Politischen, wie es Schmitt bestimmte, behandelt werden muss. Im zweiten, mehr exemplarischen Teil beschäftigt sich Michael Niehaus in seinem Aufsatz mit der Figur des inneren Feindes und fragt, welche besondere Rolle diesem in verschiedenen politisch-rechtlichen Systemen zukam. Dabei geht er auf die griechische und römische Antike, die kirchliche Rechtsprechung des Mittelalters, die Inquisition und das polizeiliche Verhör der Neuzeit ein. Wesentlich am „inneren Feind", so Niehaus, ist der Umstand, dass er eben nicht - wie der äußere Feind - qua einmaliger und einseitiger Erklärung benannt, bzw. erkannt werden kann. Vielmehr impliziert die Kategorie des inneren Feindes „die Frage nach der Wahrheit und nach dem Verfahren, in dem man sie ermittelt". Von hier aus kann Niehaus das Problem des inneren Feindes als ein immer wieder entscheidendes Feld der Konstituierung und des Wandels politischer Rechtssysteme rekonstruieren. Die doppelte Suche nach dem inneren Feind und nach der Wahrheit des inneren Feindes stellt sich so als ein Moment heraus, das die grundlegenden Auffassungen von Recht und Ordnung in verschiedenen politischen Kontexten wesentlich bestimmte. Frank Becker thematisiert in seinem Artikel die Interdependenzen von Fremdheit und Feindschaft am Beispiel des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Mit Rückgriff auf Georg Simmel betont Becker, bei der genauen Beobachtung von Verfeindungsprozessen und damit der Prozesse der Konstitution von Freund-Feind-Unterscheidungen, stelle sich die Thematisierung des Fremden als eine wesentliche Dimension dieses Konstitutionsprozesses heraus. Anhand der Darstellungen der französischen Kolonialsoldaten, der sogenannten Turkos, in der bürgerlich-nationalen Öffentlichkeit Deutschlands analysiert Becker die Effekte der Fremdheitswahrnehmung auf die Struktur und Funktionsweise der nationalpolitischen Feindbilder. Dabei arbeitet er heraus, dass die Fremdheit der relativ kleinen Gruppe der Kolonialsoldaten als eine entscheidende Projektionsfläche für Verfeindungsstrategien fungierte, auf der nicht nur der politische Feind in den existentiell Anderen transformiert wurde, sondern auch grundlegende Vorstellungen über Wehrhaftigkeit und politische Ordnung verhandelt wurden. Anne von der Heiden befasst sich in ihrem Text mit Transformationsprozessen von Fremdheit in Feindschaft. Anhand der Verfeindungsprozesse nach den Attentaten am 11. September 2001 zeigt sie, wie sich in den folgenden Monaten die rasante Formierung eines konkreten Feindbildes über das Moment der Fremdheit vollzog. Nach einer Auseinandersetzung mit den Konstruktions- bzw. Definitionsmechanismen von Fremdheit und Feindschaft mit Bezug auf Nietzsche, Waldenfels und Kristeva wendet sie sich dem Antisemitismus zu, der, weil er ein besonders deutlicher Ausdruck der Sehnsucht nach authentischem Gemeinschaftsleben ist, das immer schon die Züge eines Kollektivsubjekts an sich trägt. Anhand der Konstitution des ewigen Juden, des Ahasver, der keinem Ort, keiner Zeit, keiner Sprache angehört, wird ein Modell absoluter Fremdheit analysiert, das den Juden zunehmend als
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Feind zu stigmatisieren nahelegte. Das Paradox des Antisemitismus, das von der Heiden in seinen Ausprägungen von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne verfolgt, zeichnet sich dadurch aus, dass es die Vieldeutigkeit, die Nichtfassbarkeit, die „Wesenlosigkeit" des Juden, in ein scheinbar eindeutiges Feinbild transformiert. Alexander Garcia Düttmann entwickelt in seinem Beitrag eine philosophische Argumentation, die weniger in einer Auseinandersetzung mit Carl Schmitt als viel mehr in einer nochmaligen Radikalisierung der Schmittschen Letztbegründung des Politischen auf die völlige Unbegründbarkeit von Feindschaft abzielt. Diese weist Düttmann als den eigentlichen Kern des Feindschaftsproblems aus, den prinzipiell jede und zumal feindschaftskritische Untersuchung des Phänomens ignorieren muss. Denn der Feind, so behauptet Düttmann, ist immer der absolute Feind, der Todfeind. Eine Distanz zum Feind ist - so Düttmann - unmöglich. Feindschaft nötigt nicht nur zirkelhaft zur Radikalisierung des Feindes, sondern zwingt auch den, gegen den sie sich kehrt, zur Radikalisierung seiner selbst. Düttmann entwickelt auf diesem Hintergrund einen ganz anderen Weg, Feindschaft zu denken: Er entwirft eine Theorie der Unbegründbarkeit des Feindes. Das heißt, die eigentliche Frage lautet, ob es überhaupt einen Feind gibt, oder ob es sich um eine Wahnvorstellung, eine Projektion oder ein Symptom der Paranoia handelt. Der Feind hat seinen Ort im Zwischen; d.h. auf jeden Fall nicht nur in, sondern auch jenseits (oder eben diesseits) politischer Gegnerschaft. Ethel Matala de Mazza und Joseph Vogl untersuchen in ihrem Beitrag über ,Bürger und Wölfe' eine Tradition politischer Wahrnehmungsweisen des Feindes, die sich als politische Zoologie darstellt. Ausgehend von dem immer schon politischen Motiv des Wolfes in seinen verschiedenen literarischen, philosophischen und auch soziologischen Figurationen, rekonstruieren und skizzieren sie den das politische Denken der Neuzeit grundlegend prägenden und strukturierenden Grenzraum zwischen Tier und Mensch und die an ihn gebundenen Unterscheidungen zwischen Leben und Tod, Recht und Gewalt. Dabei weisen sie die Figuren des Barbaren oder auch des Berserkers, des Friedlosen und des Werwolfs als Verwandlungen und Metamorphosen eines Narrativs aus, mit dem „sich die Politik die Grenze des Politischen und die Menschen-Gesellschaft die Grenze des Geselligen erzählt". Clemens Knobloch geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Implikationen ein moralischer Standpunkt und eine moralisierende Betrachtung der Feindschaft für deren Funktionsweise hat. In einer diskursanalytischen Kritik typischer Redeweisen, Denkfiguren und rhetorischen Strategien, die in öffentlichen Darstellungen und moralischen Bewertungen von Feindschaftskonstellationen am Werk sind, insbesondere mit Blick auf den öffentlichen Diskurs über politische Konflikten der letzten Jahre (vom Golfkrieg bis zum Jugoslawienkrieg) analysiert Knobloch die Formen und Effekte einer moralischen Eskalation von Feindschaftsverhältnissen. Er macht deutlich, in welcher Weise die strukturell normalisierende und normierende Wirkung moralischer Bewertungen, die vorgeblich immer De-Eskalationsstrategien anmahnen, faktisch zur Radikalisierung öffentlicher Feindbilder und zur Verhärtung ihrer Strukturen beitragen. Damit will Knobloch auf Wege aufmerksam machen, solche zirkulären Dynamisierungen zu vermeiden und zu begrenzen. Wenn sich am Ende bestätigen sollte, dass wir weder zu natürlicher noch zu politischer Feindschaft unvermeidlich verurteilt sind, dann tragen die folgenden Sondierungen im Nährboden von Gewalt und Krieg vielleicht zu einem neuen, nicht einfach auf zweifelhafte Anthropologien zurückgreifenden Nachdenken über Feindschaft bei.
B U R K H A R D LIEBSCH
Aus Feindschaft geboren? Carl Schmitt, Edgar Morin, Jan Patocka und die europäische Gegenwart Mit einem Nachtrag zum Geschichtszeichen des 11. September „Nichts wissen von Europa, gar nichts [...] sein, fast Ursprung " Paul Klee
Für Jakob und Pooja I Seit 1989 hat sich ein überraschender und gänzlich unvorhergesehener kultureller Klimawandel vollzogen: Fast vergessen ist der Schatten gegenseitiger apokalyptischer, unabwendbarer Drohungen, der in den Zeiten des Kalten Krieges über Europa lag. Wer sich sogenannter „friedlicher Koexistenz" erfreute, musste bis dahin doch wissen, dass diese Drohungen zuerst auf dem Theater europäischen Bodens als dem privilegierten Ort exzessivster Vernichtung wahr gemacht würden. Diese Drohungen scheinen nun ebenso wie die Verstrickungen der europäischen Politik in deren destruktive Virulenz der Vergangenheit anzugehören.1 Auf dem Boden dieses Vergessens gedeiht ein fragwürdiges Selbstbewusstsein. Die Zeit radikaler Selbstkritik Europas ist offenbar (vorläufig) vorbei. Ein neues Bewusstsein europäischer „Identität" hat sich ausgebreitet, das im 20. Jahrhundert mehrmals bereits definitiv zerstört schien. Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, 1919, um genau zu sein, stellte Paul Valery fest, Europa habe „aufgehört [...], sich selbst zu gleichen". „Der Glaube an eine europäische Kultur ist dahin; daß die Erkenntnis nichts, gar nichts zu retten vermag, ist erwiesen; die sittlichen Ansprüche der Wissenschaft sind tödlich getroffen, sie ist gleichsam entehrt durch die Grausamkeit ihrer praktischen Anwendung; der Idealismus [...] ist tief verwundet und büßt für seine Träume; der Realismus enttäuscht, geschlagen, mit allen Verbrechen und Verfehlungen belastet f...]." 2 Den Grundton einer solchen „Zeitdiagnose" neigt man heute psychologisch zu deuten und auf eine allzu große Nähe des Autors zu Ereignissen zurückzufuhren, die ihn möglicherweise blind gemacht haben für eine europäische Identität, die - im heutigen, distanzierten Rückblick - nicht nur den Ersten, sondern auch den Zweiten Weltkrieg und alle späteren Prüfungen durch wiederauflebende innere und äußere Verfeindungen „überlebt" hat. Wenn auch der europäische „Geist" durch den inneren und äußeren Krieg „verletzt" worden ist und sich als „sterblich" erwiesen hat, wie Valery meint, so hat er sich doch offenbar erholt und ist, so glaubt man, aus den Europa zuzuschreibenden Desastern des 20. Jahrhunderts sogar gestärkt hervorgegangen. Immerhin haben sie negativ vor Augen geführt, was Europa nicht ist oder vielmehr nicht sein „will" und nicht sein kann. Genau so argumentiert Remi Brague: Europa ergibt sich nicht 1 2
Vgl. H. Münkler, „Die Kriege der Zukunft und die Zukunft der Staaten", in: W. Knöbl, G. Schmidt (Hg.), Die Gegenwart des Krieges, Frankfurt/M. 2000, S. 52-73, hier: S. 65. P. Valery, Die Krise des Geistes, Wiesbaden 1956, S. 9; vgl. G. Simmel, Der Krieg und die geistigen Entscheidungen, München, Leipzig 1917, zur „Idee Europa", S. 65ff.
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„durch eine Vereinigung [...], obwohl deren ökonomische und politische Umsetzung - mehr schlecht als recht - im Entstehen begriffen ist, sondern um den Preis einer Trennung, die Europa von dem scheidet, was es nicht ist". Schmerzhaft habe Europa im Zuge einer Reihe erzwungener bestimmter Negationen erst zu seiner „exzentrischen Identität" finden müssen, die es ihm freilich versage, seine eigene kulturelle Geschichte als einen nunmehr unverlierbaren Besitz zu betrachten. Brague insistiert vielmehr darauf, die europäische Kultur sei und bleibe sich mehr als jede andere selbst fremd. „Nur auf dem Umweg über das Vorhergegangene und das Fremde hat der Europäer Zugang zum Eigenen" 3 - zu einem Eigenen, so möchte man hinzufugen, das immer wieder in Vergessenheit zu fallen droht und immer wieder erobert werden muss, um sich nachträglich als solches bewahrheiten zu lassen. Bis in die jüngste Geschichte hinein fuhrt in der Tat das „Vorhergegangene" gerade eine Selbst-Fremdheit vor Augen, die aus einer tiefen Verstrickung in äußere und innere Verfeindungen herrührt, welche mehrfach die Selbstvernichtung Europas heraufbeschworen haben. 4 Deshalb „sollte man es sich versagen, selbstzufrieden auf die griechischen, lateinischen oder jüdischen Kulturschätze zurückzugreifen, als ob es sich dabei um eine Rente handelte, welche den faulen Besitzer dazu berechtigte, einen ,Rundgang des Eigentümers im Garten der Vergangenheit' zu machen. Man mag mit vollem Recht die griechische Rationalität und Demokratie, die römische Ordnung, den jüdischen Sinn für die Transzendenz usw. bewundem; ihre Aufzählung jedoch - schon als Klischee ärgerlich genug - wird vollends anrüchig, wenn es darum geht, sie selbstzufrieden für sich in Anspruch zu nehmen." 5 Genau das geschieht aber mit zunehmendem historischem „Abstand" zu den Zeiten einer verzweifelten Kulturkritik immer häufiger. So wird suggestiv der Eindruck erweckt, Europa, so wie es sich heute präsentiert, habe den langen Alptraum seiner Vorgeschichte endgültig hinter sich gelassen. Die Epoche der Religionskriege ist ebenso nur noch historische Reminiszenz wie die der Kabinettskriege und der Volkskrieg des 19. Jahrhunderts. Vorbei scheint die Zeit, da sich das, „was die Kinder in der Schule als Weltgeschichte lernen", im wesentlichen „als eine Reihe von Völkermorden" darstellte, wie Freud in Zeitgemäßes über Krieg und Tod (1915) schrieb. 6 „Erbfeindschaften" zwischen europäischen Nationen sind längst „begraben" und somit endgültig „Vergangenheit". Hat sich Europa nicht vom Kolonialismus verabschiedet und sogar die Folgen zweier Weltkriege weitgehend überwunden? 7 Und hat man hierzulande nicht Wiedergutmachung gezahlt und entschädigt, wofür noch Entschädigung zu leisten war? Und wo die Zeit nicht alle Wunden geheilt oder vernarben lassen hat, werden Alter
3 R. Brague, Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt/M. 1993, S. 10, 16, 110. 4 Diese Selbst-Fremdheit findet sich nicht in dem bunten und harmlosen Bild eines patchworks ethnischer Diversität, das man gerne von der europäischen Kultur zeichnet; vgl. H. Münkler, „Europäische Identifikation und bürgerschaftliche Kompetenz. Vorbedingungen einer europäischen Staatsbürgerschaft", in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (1997), S. 202-217, hier: S. 208. 5 R. Brague, Europa, S. 110. 6 S. Freud, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt/M. 6 1974, S. 52. 7 Eine ganze andere Frage ist, ob man sich in den ehemals kolonialisierten Ländern ebenfalls „vom Kolonialismus verabschiedet" hat und ob anderswo die Folgen der Weltkriege verblasst sind. Diesen Unterschied in einer selbstzufriedenen Bilanz der eigenen Vergangenheit zu vergessen, könnte sich rächen und erklärt vielleicht schon zum Teil den Hass, der dem „Westen" vielerorts unvermindert entgegenschlägt.
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und Tod bald ganze Arbeit geleistet haben. 8 Die Zeugen einer einzigartigen GewaltGeschichte ziehen sich seit langem in ein endgültiges Schweigen zurück, um lediglich Zeugnisse zu hinterlassen, deren „negative Lebendigkeit" professionellen Historikern noch die Arbeit erschwert. Aber auch sie haben sich offenbar mit dem „Vergehen" dieser Vergangenheit weitgehend arrangiert oder suchen es noch zu forcieren. 9 Die historische „Aufarbeitung" der Vergangenheit schaufelt ihr in den Bibliotheken ein endgültiges Grab. So beginnt endlich das sprichwörtliche „Gras" über eine Gewalt-Geschichte zu wachsen, die man um so leichter endgültig zu vergessen beginnt, wie die „Substanz" Europas unbeschadet überlebt zu haben scheint. Hier und dort (in Nordirland, in Spanien, in Belgien) schwelen auf europäischem Boden noch kleinere Feuer der Verfeindung, die ab und an eine zwar beunruhigende, aber doch als rückständig geltende Gewalt aufflackern lassen. Dabei ist man sich vom Balkan abgesehen - sicher, dass diese Brände nicht mehr um sich greifen und dass sie in nicht allzu ferner Zukunft verlöschen werden. In den Ländern Nord-, Mittel- und Westeuropas hat man der gegenseitigen kollektiven Verfeindung ein endgültiges Ende gesetzt und sich auf universale Geltung beanspruchende Werte verpflichtet, die Europa intern pazifiziert haben und für jedermann auf der Welt annehmbar sein sollten. Da man sich der moralischen Last der eigenen Geschichte nun entledigt zu haben scheint, kann man somit guten Gewissens wieder eine originär europäische Vernunft zum Export anbieten, ohne sich dabei allzu sehr der eigenen Vergangenheit zu erinnern. 10 Führt die historische Erinnerung nicht ohnehin nur die langen Umwege vor Augen, auf denen eine ursprünglich auf europäischem Boden gestiftete und noch immer ihm eigene Vernunft endlich zu sich selbst gefunden hat? Gewiss lässt die Gegenwart am legitimen Sinn einer Europäisierung „fremder Menschheiten" zweifeln, wie sie Husserl in seinen Meditationen über die Kr is is der europäischen Wissenschaften vorsah. 11 Die Vernunft ist heute nicht mehr ohne weiteres als europäische oder als okzidentale in Anspruch zu nehmen, denn ihre europäische oder auch amerikanische Prägung in kultureller, politischer und ökonomischer Hinsicht erweist sich als nicht universalisierbar. 12 Wenn man sich aber auf einen vermeintlich unanfechtbaren Kern einer reinen Universalität zurückbesinnt, den gleichfalls der Westen zuerst für sich und die ganze Welt entdeckt zu haben scheint, 13 kann man dann nicht auf den alten Gedanken einer Europäisierung (im Gewände der Universalisierung 14 ) zurückkommen? Dürfte sich Europa, dessen
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Der leicht sarkastische Ton, der sich hier einschleicht, erscheint angesichts der schäbigen Wirklichkeit der Entschädigung und Wiedergutmachung kaum vermeidbar. Vgl. dagegen v. Verf., Vom Anderen her. Erinnern und Überleben, Freiburg/München 1997, Kap. VII. Vgl. W. Halbfass, „Europa, Indien und die ,Europäisierung der Erde'", in: K. Michalski (Hg.), Europa und die Folgen, Stuttgart 1988, S. 230-252, hier: S. 237. E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1982; J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München 1987. Vgl. G. Vattimo, Das Ende der Moderne, Stuttgart 1990, Kap. IX. In „Die tschechische Bildung und Europa" kann Patoöka noch 1939 schreiben, Europa, das dank der Griechen den Gedanken der Universalität entdeckt habe, bedeute „auch heute noch die Welt schlechthin"; vgl. Kunst und Zeit, Stuttgart 1987, S. 352. Diese Worte wird man nur dann vorschnell als eurozentrische Arroganz abtun, wenn man den historischen Kontext außer Acht lässt, in dem sie geschrieben worden sind: im nationalsozialistisch besetzten Prag; vgl. F. Seibt, Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas, München 31997. Dieser enge Sinn des Begriffs deckt sich offensichtlich nicht mit anderen, eher historischen Bestim-
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„Geist" im Ersten Weltkrieg nach der Einschätzung Paul Valerys bereits im Sterben zu liegen schien, dann nicht mit Recht und ohne allzu viel historisch begründete Z w e i f e l zurückmelden auf der Bühne der Weltgeschichte, der es - unbeeinträchtigt von historischen H y p o theken - nach wie vor die richtige künftige Richtung der Verwirklichung einer originär ihm „eingeborenen" Vernunft zu w e i s e n verspräche? 15 S o gesehen hätte sich das faktische Europa nach einer langen, verheerenden Geschichte, die nun aber „der Vergangenheit angehört", immerhin endlich erfolgreich selbst europäisiert, d. h. auf seinen „Sinn" besonnen. 1 6 Freilich hat es retrospektiv den Anschein, als hätte sich Europa niemals nur aus Einsicht dazu durchgerungen, als habe es vielmehr zweier Weltkriege bedurft, um diesem Sinn zur Geltung zu verhelfen. Und es erscheint fraglich, ob Europa, bzw. der ethische Sinn seiner Identität, diese Kriege, diese e x z e s s i v e n Manifestationen kollektiver Verfeindung, „ ü b e r l e b t hat oder ob Europa - so w i e es sich heute als mit diesem Kern identifiziert präsentiert - infolge dieser Desaster überhaupt erst (neu) erstanden
ist. Besteht etwa ein interner Zusammenhang z w i -
schen der Genesis Europas und der Geltung jener Werte, denen es sich heute verpflichtet weiß? Ist diese Genesis heute nur noch von „historischem" Interesse w i e j e n e GewaltGeschichte - oder müssen aus der Entstehung
Europas
aus einem Exzess
der
Verfeindung
Lehren g e z o g e n werden, die für den ethischen Kern seiner Identität auch heute noch von entscheidender Bedeutung sind? A u f diese Frage möchte ich am Schluss meiner Auseinan-
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mungen, die freilich vielfach unklar lassen, was Europa im nicht-geografischen Sinn überhaupt bedeuten soll; vgl. R. Bartlett, Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350, München 1996, S. 325ff. Von einer Diskussion der fragwürdigen und vielfach angefochtenen Implikation, orientiert an derselben Vernunft hätte man anderswo diesen schmerzhaften Prozess verspätet nachzuvollziehen - nicht um eine europäische Identität anzunehmen, sondern um in einer anderen Identität derselben Vernunft zur Geltung zu verhelfen - sehe ich hier ab, da es mir allein um ein europäisches Selbstverhältnis geht. Zur Besinnung auf den „Sinn" Europas im Geist der Verantwortung, die gerade die exzessivste Gewalt auf europäischem Boden zerstört zu haben scheint, vgl. J. Derrida, „Den Tod geben", in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1994, S. 315-330, hier: S. 333, sowie v. Verf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg/München 1999, wo ohne Rekurs auf einen fragwürdigen historischen Ursprung der Gedanke einer nachträglichen Bewahrheitung jenes Sinns erprobt wird. Wenn im folgenden auf dieser Grundlage von einer radikalen Infragestellung Europas und von seiner Neugeburt „aus Feindschaft" die Rede ist, so bedeutet das im Sinne dieses Gedankens nicht, dass nun jegliche vorherige Geschichte „entwertet" oder „nichtig" sei. Tatsächlich ist etwa der im Vorfeld und während des Zweiten Weltkrieges verübte „Bürgerverrat" Anlass dazu, den Gedanken des Rechtsstaates neu zu begründen; doch lässt diese Infragestellung keine einfache Wiederanknüpfung an ungebrochene Traditionen mehr zu. In eine solche Vorstellung der Überlieferung mündet angesichts allzu „negativistischer Deutungen" der europäischen Geschichte das rechtsstaatliche Denken allzu oft. Am Ende steht eine „Peripetie des Schreckens", die ihm allen Schrecken nimmt und kaum mehr erkennen lässt, wie eine in exzessive Vernichtung mündende radikale Verfeindung gegenwärtig noch das Recht inspiriert. Zur Rückbesinnung auf die rechtsstaatlichen Traditionen Europas vgl. P. Hazard, Die Krise des europäischen Geistes, Hamburg 1939, S. 24f., wo der Sinn Europas von der Herausforderung her bestimmt wird, ein säkulares Recht zu begründen; sowie E.-W. Böckenförde, Staat, Nation, Europa, Frankfurt/M. 1999, S. 99 und 276ff. (zum Bürgerverrat); J. Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt/M. 1998, S. 74f.; J. Derrida, Das andere Kap, Frankfurt/M. 1992, S. 56f., wo Europa ganz von der Frage einer solchen Inspiration her gedacht wird, ohne dass damit die europäische Geschichte einfach verworfen würde. Das wäre in der Tat absurd und ist mit dem Gedanken einer „nachträglichen" Geburt Europas aus seiner radikalsten Infragestellung nicht zu verbinden.
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dersetzung mit einigen Autoren zurückkommen, die Europa als aus Feindschaft geboren verstehen. Gemeint ist in diesem Zusammenhang nicht eine begrenzte oder ritualisierte Feindschaft, die von einem agonalen Spiel kaum mehr zu unterscheiden ist,17 sondern eine ihrem Sinn nach unbegrenzte Feindschaft, die zum Äußersten drängt, wenn nichts anderes sich ihrer eskalativen Dynamik in den Weg stellt. Einer solchen Feindschaft kann man schwerlich in ihrer potenziellen Exzessivität einen „Wert" zuzusprechen, wie es Nietzsche getan hat.18 Denn die exzessive Feindschaft sprengt jedes Maß - und somit auch jeden Wert, den man sich als Maßstab denken könnte. Ich werde im folgenden die Frage aufwerfen, ob man sich von dieser potenziellen Exzessivität auf europäischem Boden bislang wirklich Rechenschaft abgelegt hat. Dabei gehe ich zunächst vom (die europäische Geistesgeschichte lange Zeit bestimmenden) Begriff der Selbsterhaltung aus, der einer in der Feindschaft zu gewärtigenden Zufiigung des Äußersten zutiefst widerspricht (II). Wenn aber in der Welt Andere existieren (und immer existieren werden), die das Äußerste zuzufügen versprechen, hat man dann eine andere Wahl, als zu versuchen, die Feindschaft wenigstens zu regeln? Der prominenteste Theoretiker der Feindschaft, Carl Schmitt, hat diese Frage verneint und immer wieder auf die welthistorisch vorbildliche, noch anhand des Ersten Weltkriegs erläuterte „Hegung" der Feindschaft im Rahmen des Europäischen Völkerrechts hingewiesen, um glauben zu machen, in der Hegung sei auch die drohende Exzessivität der Feindschaft „aufgehoben" (III). Edgar Morin hat eine entgegengesetzte Deutung vorgenommen und Europa im Zeichen dieses Krieges als von abgrundtiefer und letztlich durch nichts zu bändigender Selbstverfeindung vergiftet beschrieben, um nahe zu legen, ein künftiges Europa am Maßstab dieser überlieferten Erfahrung zu messen (IV). Diese Verfeindung war demnach niemals wirklich in einer europäischen Ordnung „aufgehoben". Davon zeigt sich auch der tschechische Dissident und Phänomenologe Jan PatoCka überzeugt, der in seinen Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte die Umrisse einer neuartigen Polemologie skizziert hat (V). Ein solches Projekt hätte den Begriff der Verfeindung radikal zu denken und - ganz im Gegensatz zum Credo Carl Schmitts - den Gedanken ihrer Hegbarkeit preiszugeben. Für PatoCka stellte bereits der Erste Weltkrieg die reale Widerlegung dieses Gedankens auf zwischenstaatlicher Ebel31.ne dar. Daraus zieht er normative Folgerungen, die die Hoffnung auf einen Sieg über die Feindschaft selber zunichte machen. Ich gehe abschließend auf diese Folgerungen mit Blick auf die aktuelle Gegenwart ein, in der man gerade diese Hoffnung wieder in unverantwortlicher Weise zu nähren beginnt (VI).
II Die Epistemologie der Wissenschaften vom Leben bestätigt ungeachtet mancher hartnäckiger Zweifel, dass biologisch gesehen in „menschlichen Lebewesen" im Grunde alles auf Selbsterhaltung und Abwehr möglichen Schadens eingestellt scheint.19 In biologischer Per17
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Einschlägig dazu noch immer: J. Huizinga, Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1956; M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1984. Vgl. v. Verf., „Werte-Feindschaft, Widerstreit und Gewalt" in diesem Band, S. 109-131. Zur Begriffsgeschichte vgl. H. Blumenberg, „Selbsterhaltung und Beharrung", in. H. Ebeling (Hg.),
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spektive kommt dabei zunächst kein Unterschied zwischen Schädigendem und Bösem in Betracht. Das Übel {malum), das umwillen der Selbsterhaltung abgewehrt wird, ist zunächst undifferenziert beides in einem: Schädigendes und Böses. 20 Nur dank einer nachträglichen Differenzierung, die keinen biologischen Sinn hat, erkennen Lebewesen im „Üblen" Keime des Bösen, das zugefügt wird und nicht einfach widerfährt. Für die Selbsterhaltung ergibt sich daraus zunächst scheinbar kein Unterschied, denn sie verlangt unterschiedslos sowohl die Abwehr des bloß widerfahrenen als auch des zugefugten Schmerzes (selbst wenn sich aus seiner „Negativität" in Grenzen ein gewisser seelischer oder geistiger Gewinn ziehen lassen sollte); und sie verlangt die Bewältigung des Leidens. Wenn es sich schon nicht hat abwenden lassen, so sollten Menschen wenigstens „aus ihm lernen" und in ihm zu sich kommen. Am Ende findet selbst in der Erfahrung der Wehr- und Schutzlosigkeit, selbst in der ärgsten Verwundbarkeit noch ein Selbst zu sich selbst, um sich wenigstens als beschädigtes zu erhalten. So macht die Selbsterhaltung (in ihrer traditionellen Auffassung) gleichsam Konzessionen an Widerfahrenes und Zugefügtes, hält aber an ihrem Sinn auch dann noch fest, wenn kein Gedanke an die Restitution eines vorherigen, unverletzten status quo mehr zu verschwenden ist. Aber wie soll die Erfahrung zu bewältigen sein, dass den auf Selbsterhaltung eingestellten Wesen in ihrer Welt Quellen der Verwundbarkeit begegnen, die auf deren Registern spielen, um die zugefügte Verwundung bis zur Fassungslosigkeit zu steigern, statt sie zu minimieren, wie es unter dem „natürlichen Gesetz" der Selbsterhaltung geboten scheint? Die Natur gefährdet ständig die menschliche Selbsterhaltung, doch spielt sie nicht auf den Registern menschlicher Verwundbarkeit. Und wenn Naturereignisse wie das Erdbeben von Lissabon Zweifel am Sinn der Selbsterhaltung wecken, dann lassen sie sich unter Hinweis auf menschlichen Unverstand entschärfen. Nur diejenigen, die fahrlässig den tektonischen Gegebenheiten nicht angemessen Rechnung tragen und es gar wagen, sich auf tief eingefaltetem Terrain auf Dauer niederzulassen, straft die Erde. Demgegenüber gibt es Andere, die jenes „natürliche Gesetz" aller Wesen, mit denen sie dieselbe Erbe bewohnen, ad absurdum zu führen scheinen. Wogegen der ganze Sinn der Selbsterhaltung sich richtet, das fügen sie souverän zu - wohingegen die anthropomorph oft als „feindlich" bezeichnete natürliche Welt bestenfalls der „Gleichgültigkeit" gegen die Existenz der Menschen in ihr zu bezichtigen ist. In Wahrheit gibt es keine „natürliche" Feindschaft und keine Feinde in der Natur. Weder ist uns die natürliche Welt noch sind die von ihr gezeitigten lebendigen Wesen einander feindlich gesonnen. Kein Raubtier, das sich von seinen Beutetieren nährt, „will" diesen Böses - schon gar nicht um des Bösen selber willen, von dem es gar keine Vorstellung hat. In einer bloß natürlichen Welt kann Böses nicht existieren. Die natürlichen Gesetze, die die Anstrengung der Selbsterhaltung bedingen, sind dagegen durchbrochen, wo die Zufügung all dessen, was die Selbsterhaltung als Negatives abwehrt, in der souveränen Macht eines Anderen steht. Dieser Andere ist der Feind, der nicht nur Übles erfahren lässt und sich darin gefallt, sondern auch die Erfahrung selber zerstört, wenn es ihm beliebt. Die Kategorie des Bösen wurzelt wesentlich in dieser Erfahrung souveränen Tuns, das alle Illusionen der Unantastbarkeit und der Wiederherstellbarkeit zerstört,
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Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt/M. 1976, S. 144-207. Vgl. G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, München 1974; R. Bilz, Studien über Angst und Schmerz. Paläoanthropologie, Bd. 1/2, Frankfurt/M. 1974, S. 105.
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denen sich die Selbsterhaltung zunächst hingeben mag. Dem feindlichen Anderen steht nicht nur eine begrenzte Beschädigung und nicht nur ein behebbarer Schaden zu Gebote. Ungehindert, vermag er immer wieder und immer mehr zu schädigen. Er entblößt, wie nicht nur die historische Anthropologie lehrt, bis auf die Knochen; und selbst diese zerstreut er noch, um dem physischen Tod weitere, symbolische Tode folgen zu lassen - so als ob es im Exzess feindseligen Tuns nie ein Genug geben könnte. Weder die Existenz des Feindes noch die der Feindschaft lässt sich angemessen denken, ohne die potenzielle, in gewisser Weise stets drohende Exzessivität in Betracht zu ziehen, in der sich das „feindselige" Tun unbegrenzt bis zum Äußersten steigern kann. Vom Äußersten, das nicht einmal ein vernarbtes Trauma und nicht einmal die bloße Erinnerung daran zurücklässt, haben wir freilich keinen Begriff. Insofern fehlt hier gerade das Maß „angemessenen Denkens". So scheint es sinnlos zu sein, in Erwägung zu ziehen, ob sich die Existenz des feindlichen Anderen bewältigen lässt, der uns dem Äußersten aussetzt, um uns in ihm untergehen zu lassen. Deshalb ist jeder Versuch, begreiflich zu machen, was die Existenz des feindlichen Anderen in der Welt bedeutet, von Anfang an mit der drohenden Exzessivität der Feindschaft konfrontiert, die jedes Begreifen sprengt. Der Verstand kann nicht im vorhinein begreifen, was ihn uns verlieren lässt. Deshalb konzentrieren sich seit je her alle Bemühungen, mit der Existenz des feindlichen Anderen in der Welt „fertig zu werden", weitgehend darauf, es entweder nicht zum Exzess kommen zu lassen, d. h. die Feindschaft zu begrenzen, zu hegen oder darauf, sie gar nicht erst entstehen zu lassen. In letzter Konsequenz ließe sich letzteres freilich nur bewerkstelligen, wenn das, was Verfeindungen heraufbeschwört, an sich zu liquidieren wäre, d. h. wenn man die Feindschaft „mit den Wurzeln" auszurotten vermöchte. Bereits entstandene Feindschaft kann man nur zu begrenzen oder zu hegen versuchen; aber der Entstehung von Feindschaft selber wäre nur mit einer Vernichtungsanstrengung zu begegnen, die versprechen müsste, die Feindschaft ein fur alle Mal aus der Welt zu schaffen. Jedes Versprechen einer endgültigen Pazifizierung der menschlichen Verhältnisse (das auch den aus der Feindschaft keimenden Krieg zu beseitigen verspricht) muss in eine Eschatologie der Vernichtung umschlagen. Und es steht zu befurchten, dass man der Feindschaft „endgültig" nur Herr werden könnte, wenn man gegen die „letzten" Feinde vernichtend vorgehen würde. Steht aber das Ansinnen, uns im Zuge einer Endlösung von der Feindschaft endgültig, für immer zu befreien, seinerseits im Verdacht, zu einem letzten, aber nicht terminierbaren Exzess der Feindschaft gegen die Feindschaft aufzustacheln, so bleibt uns dem Anschein nach nur diese Alternative: die Feindschaft überall dort zu begrenzen, wo sie bereits aufgetaucht ist oder aufzutauchen droht, oder sie geregelt auszutragen, um sie zu hegen. Der prominenteste Theoretiker der Feindschaft, Carl Schmitt, hat genau das glauben gemacht: die Feindschaft sei formalisierbar, konventionalisierbar und folglich rechtlich hegbar, man brauche sie also keineswegs im Keim zu ersticken oder von vornherein zu limitieren. Nur so, durch ihre Hegung, sei die Spitze ihrer stets drohenden - sei es archaischwilden, sei es ideologisch überhöhten - Exzessivität zu brechen. Die rechtliche Hegung der Feindschaft verspricht sowohl mit wilder Feindschaft, wie sie sich an frühen Lebensformen zeigte, die sich geradezu als „Siedlungsgemeinschaften von Kriegern" formierten, als auch mit den religiösen Traditionen „heiliger" Kriege Schluss zu machen. Letztere stellten immer wieder die endgültige Vernichtung der Feinde in Aussicht und sind faktisch derart oft in ge-
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nozidale Exzesse umgeschlagen, dass man sich fragen muss, ob nicht der Gedanke einer genozidalen „Endlösung" überhaupt religiösen Ursprungs ist.21 Freilich hat es genozidale Exzesse vor dem Auftreten der großen Weltreligionen gegeben; und es ist eine offene, heftig umstrittene Frage, inwieweit die einzelnen Religionen ihrem - eigentlichen oder missbrauchten - Sinn nach Schuld daran tragen, dass man die Existenz „des Bösen" auf Andersoder Ungläubige projizieren konnte, um sich von deren realer, restloser Vernichtung das eigene Heil zu versprechen. Gleich welche Antwort man aber auf diese umstrittenen Fragen geben wird, unbestreitbar ist das wilder und religiös-ideologisch überhöhter Feindschaft gemeinsame Element der drohenden (faktisch aber vielfach in Schach gehaltenen) Exzessivität. Was Clausewitz mit Recht vom Krieg sagt, gilt erst recht von der Feindschaft, aus der der Krieg Clausewitz' Theorie zufolge allemal entsteht. In den Begriff des Krieges bzw. der Feindschaft kann „kein Prinzip der Ermäßigung" hineingetragen werden. So wenig wie die Gewalt im Krieg kennt die Feindschaft an sich eine „logische" Grenze.22 In beiden Fällen begründet gerade die potenzielle Exzessivität die eigentliche Virulenz des Phänomens. Und es heißt den Krieg und die Feindschaft in ihrem Wesen verkennen, wenn man sie von vornherein in eine limitierte Form einzwängt, wo doch das Bedrohliche beider Phänomene gerade darin liegt, stets auf die Möglichkeit des Exzesses hin geöffnet zu sein, der nur mehr oder weniger zufällige Friktionen oder Anstrengungen der Begrenzung entgegenstehen.
III Für Schmitt entfaltet diese drohende Exzessivität nur dann ihre zerstörerische Kraft nicht ungehindert, wenn der Feind als solcher anerkannt wird. Demnach wird der Feind und mit ihm die Feindschaft nur dann vor dem Äußersten bewahrt, wenn er nicht als absolut zu vernichtender (böser) Feind, sondern als gerechter Feind, als Feind eigenen Rechts gilt, über dem kein Recht seines Feindes und keine dritte Instanz steht, welche die feindseligen Rechte vermitteln, schlichten oder schiedsrichterlich aufzuheben vermöchte. Gegen einen anerkannten, „gerechten" Feind, dem ein eigenes Recht attestiert wird und der sich als anerkannter der Gerechtigkeit seiner Sache sicher sein darf, ist kein „heiliger Krieg" umwillen einer „Endlösung" zu fuhren - und insofern scheitert zugleich die radikale moralische Diskriminierung, die den Feind jeden Schutzes beraubt und ihn dem Schlimmsten ausliefert. Schmitt unterstellt nebenher, dass es auch dem Anderen nicht genügt, Feind zu sein, sondern dass es ihm darum geht, als Feind „anerkannt" zu werden. Wer nur den Anderen anerkennt, ohne selber als gerechter Feind Anerkennung zu finden, muss die Gefahr der exzessiven Vernichtung gewärtigen, die dem Anderen aufgrund seiner Anerkennung als Feind scheinbar erspart bleibt. Weil beide Seiten insgeheim und ungeachtet aller exzessiven Drohungen, die sie gegeneinander ausstoßen, vor dieser Gefahr zurückschrecken, ist aus Schmitts Sicht anzunehmen, dass sie beide in gleicher Weise nach der Anerkennung als Feind begehren, die ihnen
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Vgl. H. Nolte, Historische Existenz, München 1998, S. 400ff., 424, 219 zur Affinität von Religion und Genozid, sowie M. Dabag, K. Platt (Hg.), Genozid und Moderne, Bd. /, Opladen 1998. Dass die Logik des Krieges (und der Feindschaft) nicht mit seinen realen Erscheinungsformen zu verwechseln ist, hat Clausewitz immer betont.
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gegenseitig das Recht ihrer Sache einschließlich des Rechts zum Kriege zugesteht, in dem sie ihrer Sache gewaltsam zur Geltung zu verhelfen trachten. Zweifellos setzt Schmitt bei diesem Modell der Hegung von Feindschaft und Krieg anthropologisch viel - zuviel - voraus. Niemand kann, so meint er, an einer exzessiven Verfeindung „interessiert" sein.23 Wer aber vor deren Exzess zurückschreckt, muss an einer rechtlichen Hegung von Feindschaft und Krieg interessiert sein und wird nach Anerkennung als Feind begehren: ihm liegt daran, in den Augen des Feindes gerade nicht um jeden Preis zu Vernichtender zu sein - und ist dafür bereit, selber nicht länger eine exzessive Vernichtungsdrohung ins Werk zu setzen. Schmitt unterstellt, ein gemeinsames Interesse, sich vor dem Untergang im Exzess der Gewalt zu bewahren, verbinde die Feinde bereits bevor sie sich in gegenseitigem Einvernehmen darauf verständigen, ihre Feindschaft nur noch in gewissen „Formen" auszutragen. (Gerade dieses Interesse kann aber kein Feind teilen, der umwillen der Vernichtung des Bösen seinem Feind eine endgültige Vernichtung androht und im Namen des eigenen Glaubens glaubt androhen zu müssen.) Den Krieg und die Feindschaft, die ihn begründet, in diesem Sinne „in Form" gebracht zu haben, hat Schmitt unentwegt als die eigentliche Leistung des Europäischen Völkerrechts gepriesen. Er hielt das für eine weltgeschichtliche, für die ganze Welt vorbildliche Leistung, die die Gefahr der Exzessivität der Feindschaft vorläufig endgültig gebannt zu haben schien. Diese Leistung hielt er für um so bemerkenswerter, je mehr in der Moderne massive, aus universalistischen und kosmopolitischen Bestrebungen erwachsende Moralisierungen einer nicht mehr „relativierbaren" Feindschaft zwischen Menschen und Anderen (Feinden der Menschheit oder Unmenschen) zu Tage getreten sind. Wird der Feind der Menschheit (oder des geschichtlichen Fortschritts, der sie erst möglich machen soll) nicht aus vermeintlich höchsten moralischen Gründen zur Liquidierung freigegeben, wenn er sich denen widersetzt, die die Verwirklichung der Menschheit auf ihre Fahnen geschrieben haben? Werden nicht erst so exzessive, letzte Kriege denkbar, die eine absolute Dehumanisierung des Feindes heraufbeschwören? Als dem heren Ziel der Verhütung einer absoluten moralischen Diskriminierung des Feindes verschrieben präsentiert sich uns dagegen das Werk Carl Schmitts. Deshalb verteidigt es das alte Europäische Völkerrecht, das die Feinde vor dieser radikalen Gefahr bewahrt zu haben scheint, indem es sie einer „Form" des Krieges unterworfen hat, in der die Feindschaft begrenzt auszutragen war. Der Gedanke eines „in Form" gebrachten Krieges kehrt vor allem in Der Nomos der Erde mehrfach wieder. Indem das Völkerrecht den Krieg ohne Ansehung der Gründe für legitim erklärte, wenn seine Erklärung und Führung nur den rechtlichen Rahmenbedingungen
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Der bereits im 19. Jahrhundert, verschärft im Vorfeld des Ersten Weltkrieges und dann wieder in der Propagierung „absoluten" Krieges bis hin zu v. Bernhardi und dem unsäglichen Ludendorff zu Tage getretenen Apologie des Vernichtungskrieges wird Schmitts Position hier in keiner Weise gerecht; vgl. G. Ritter, Europa und die deutsche Frage, München 1948, S. 102ff., 112, 141,184f. Auch dieser Autor diagnostiziert eine europäische Selbstzerstörung, glaubt freilich offenbar an eine Wiederholbarkeit der Substanz Europas, die er aber nicht in der demokratischen (mit Blick auf Rousseau „totalstaatlichen" Denkens verdächtigten) Tradition erkennt. Eine Antwort auf die Frage, was den zerstörerischen Naturzustand überlebt haben mag, in dem schließlich keinerlei sittliche Verbindung der Staaten mehr Bestand gehabt haben soll, bleibt Ritter schuldig. Im übrigen lohnt es sich aber nach wie vor, dieses Buch als Kontrastfolie zur Schmittschen Verdächtigung des modernen Kosmopolitismus als Urheber der schlimmsten „Dehumanisierungen" in radikaler Feindschaft zu lesen.
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entsprach, entlastete es von der endlosen Frage nach der Gerechtigkeit seiner Gründe. Die Gerechtigkeit liegt allein in der Wahrung der Form selber, an die sich souveräne Flächenstaaten im Naturzustand ihrer kriegerischen Verhältnisse zu halten haben. Auf der Ebene der Staatlichkeit (für die allein Schmitt sich in diesem Zusammenhang zu interessieren scheint) garantiert die Wahrung der Form zugleich die Begrenzung der Feindschaft. Da die Feindschaft sich nicht abschaffen lässt - auch nicht im Zuge eines eschatologischen Vernichtungsprojekts, das deren Endlösung versprechen müsste - bleibt nur der Versuch ihrer Hegung als aussichtsreiche Option, d. h. als das gegenüber der ungehindert exzessiven Feindschaft kleinere Übel. Alles hängt also davon ab, „dass der Krieg ,ein Krieg in Form' ist, une guerre en forme. Niemand hat das Recht, über die Gerechtigkeit eines Krieges zu räsonieren, weder die Beteiligten noch die Neutralen, wenn nur der Krieg ,in Form' ist. Alle .Gerechtigkeit' reduziert sich auf diese ,Form'." Darin liegt zugleich der kardinale Unterschied zu gewaltförmigen Konflikten, die nicht unter Staaten, sondern im Verhältnis zu „barbarischen Völkern" oder „Seeräubern" und Partisanen etwa stattfinden. Im gehegten Krieg treten territorial klar abgegrenzte Staaten, als personae publicae vorgestellte „Raumeinheiten", in einer Duell-analogen Auseinandersetzung gegeneinander an, die sich als justi hostes betrachten und sich nicht das Recht anmaßen, über das Recht der gegnerischen Partei zu befinden. Der Krieg soll und muss entscheiden, da über dem Widerstreit der konfligierenden Rechte, die in einem Verhältnis der Negation zueinander stehen, keine dritte Instanz.stehen kann, die unparteilich den Konflikt zu schlichten vermöchte. So geht der rechtlichen Hegung der staatlich begründeten Feindschaft der Gedanke der quasi schiedsrichterlichen Entscheidung voraus. Weil diese sich aber nicht institutionalisieren lässt, tritt der Krieg an ihre Stelle. Und weil die europäischen Souveräne das eingesehen haben, konnte der Krieg seiner puren Form nach - unter Hintanstellung allen Streits über gute oder schlechte Gründe - als gerechtfertigt und gerecht gelten. Nur so konnte „aus den Bluthochzeiten der religiösen Parteienkriege" und aus den vernichtenden europäischen Bürgerkriegen der „reine Staatenkrieg als ein Kunstwerk menschlicher Vernunft" hervorgehen. Diesem Kunstwerk widerspricht „höchstens" das Gewissen; doch hat die Moral auf dem Feld der staatlich formierten Feindschaft nun nichts mehr zu suchen, da gerade sie es ist, der man angeblich die gefährlichste aller „Diskriminierungen" des Anderen zu verdanken hat.24 Gegen diese Deutung zwischen-staatlich gehegter Feindschaft können zahlreiche Einwände erhoben werden. Rechtfertigt tatsächlich der moralische Begriff der Menschheit (Kant) die Dehumanisierung des Anderen?25 Schließt allein die prinzipielle rechtliche Hegung der Feindschaft faktisch den Vernichtungskrieg aus? Reduziert dieser Gedanke den Krieg nicht ausgehend vom Modell des Duells auf ein verschärftes agonales Spiel, dem der historischen Erfahrung zum Trotz - vermeintlich die Spitze der unbegrenzten Vernichtungsdrohung gebrochen wird? Trägt Schmitt der Geschichte der wirklichen Vernichtungsdrohungen und der Apologetik des Krieges auch nur annähernd angemessen Rechnung? Hat je das europäische Völkerrecht als solches den Exzess kollektiver Gewalt verhindert? Hat das Recht wirklich die Feindschaft im Innern der Staaten beseitigt?26 Lässt sich die staatli24 25 26
Vgl. zum Vorangegangenen: C. Schmitt, Der Nomos der Erde, Berlin 31988, S. 138f., 113, 123. Vgl. dazu die hier nicht zu wiederholende Kritik d. Verf. in: Moralische Spielräume. Menschheit und Anderheit, Zugehörigkeit und Identität, Göttingen 1999. Nomos, S. 128f. (Ich sehe hier von Schmitts Behandlung der inneren Feindschaft in Schriften ab, die
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che Mediatisierung der Einzelnen rechtfertigen, die für einen souverän erklärten und dezisionistisch jeder Legitimierung entzogenen Krieg in den T o d geschickt werden? Lässt sich aus dem Fehlen einer dritten Instanz, die zwischen konfligierenden Ansprüchen verschiedener Staaten vermitteln könnte, eine Gerechtigkeit
des Krieges
ableiten? 2 7 Dreht sich der
Krieg auf der Grundlage staatlicher, territorialer Souveränität als militärischer Konflikt zwischen „spezifischen, raumhaft konkreten, organisierten Ordnungen" im Grunde nur um „Raum", d. h. um „Gebietswechsel"? In seinem B u c h Der Nomos
der Erde beschreibt Schmitt den modernen, territorial abge-
grenzten Staat als „einzige Raum-Ordnung stiftende Instanz". Zwischen den herrscht aber ein „Naturzustand zwischen Rechtspersonen",
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Staaten
über denen kein Recht steht,
das strittige territoriale Ansprüche schlichten könnte. Nur aus dem Konflikt solcher Ansprüche, in denen die „Konkurrenz der Staaten" begründet liegt, erwächst der Krieg um Gebiete. Die „Ortung" der Menschen in diesen Gebieten und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Lebensformen bzw. die Mitgliedschaft in rechtlich verfassten G e m e i n w e s e n spielt unter dem abstrakten Gesichtspunkt der Territorialität gar keine Rolle. Wird aber der wirkliche Krieg angemessen beschrieben,
wenn man annimmt, die rein zwischen-staatliche Feindschaft dre-
he sich letztlich nur um geografische
Grenzverläufe, 2 9 ohne überhaupt in Betracht zu ziehen,
w a s von der Zugehörigkeit oder Mitgliedschaft in diesem oder j e n e m G e m e i n w e s e n vielleicht sonst noch abhängt? 30 Scheinbar ist der Krieg unter diesen Vorzeichen nur noch ein
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ausdrücklich seinen Begriff des Politischen „bürgerkriegsfähig" hatten machen sollen.) Ebd., S. 137f. - Vgl. A. Kojeve, Hegel, Frankfurt/M. 1975, S. 149. Vgl. Nomos, S. 119, 243. Mit Recht heißt es hier: „Von Hobbes und Leibniz bis Kant, von Rachel bis Klüber behaupten alle berühmten Autoren, daß die Staaten als ,moralische Personen' nach dem Völkerrecht untereinander im Naturzustande leben, das heißt, daß die Träger des jus belli, ohne eine institutionelle gemeinsame höhere Autorität, als souveräne Personen gleichberechtigt und gleichgerecht einander gegenüber stehen. " Schmitt geht in Nomos vor allem in diesem Sinne auf die Entwicklung der modernen Geografie ein. Dem entsprechend geht staatliche Verantwortung nicht über „finanzielle und wirtschaftliche Rechtsfolgen" hinaus (Nomos, S. 243). Die gehegte, zwischenstaatliche Feindschaft spielt sich für Schmitt allemal nur im europäischen Nomos ab. Dieser Nomos, dieses „Zaunwort" (Nomos, S. 43f.), grenzt außereuropäische Verhältnisse (das „Feld" der Welt) ab, in denen sich die europäischen Mächte ohne weiteres das Recht der Okkupation attestieren durften; und zwar aufgrund ihrer vermeintlich unzweifelhaften kulturellen „Überlegenheit", die zur völligen Missachtung fremder Kulturen und Lebensformen „berechtigt". (Völkerrechtliche Rücksichten brauchen sog. „Eingeborenen" gegenüber überhaupt nicht zu gelten; Nomos, S. 171.) Ausdrücklich trennt Schmitt scharf zwischen dem Geltungsbereich des europäischen Völkerrechts einerseits und dem internationalen Recht andererseits (Nomos, S. 209), woraus sich natürlich ergibt, dass von einer Hegung des Krieges im Zeichen des Kolonialismus nicht die Rede sein kann (vgl. ebd., S. 155). Außerhalb des „europäischen Hauses" wurden Entdeckungen ohnehin „ohne vorherige Einwilligung des Entdeckten gemacht. Der Rechtstitel dieser Entdeckungen liegt in einer höheren Legitimität. Entdecken kann nur, wer geistig und geschichtlich überlegen genug ist, um mit seinem Wissen und Bewußtsein das Entdeckte zu begreifen. Um ein hegelianisches Wort Bruno Bauers zu variieren: Entdecken kann nur derjenige, der seine Beute besser kennt als sie sich selbst und sie sich aus dieser Überlegenheit der Bildung und des Wissens zu unterwerfen vermag." Hier wird die Entdeckung, die zur Aneignung berechtigt, selber zum Beweis der Überlegenheit, also dessen, was sie angeblich überhaupt erst ermöglicht. Da die Azteken und die Inkas nicht die Europäer entdeckt haben, waren sie nicht überlegen - und hätten „uns" unmöglich verstehen können. Gestützt wird der territoriale Anspruch, der aus der Entdeckung abzuleiten ist, durch ihren „wissenschaftlichen" Charakter. In dieser Hinsicht war die Ü-
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destruktives Verhältnis von Staat zu Staat, wie Rousseau annahm, und der Hass ebenso wie die „persönliche" Feindschaft in ihm „indifferenciiert" (Hegel). Der rechtlich gehegte und so „in Form" gebrachte Krieg wäre also eine Angelegenheit restlos „verstaatlichter" Feindschaft und würde sowohl die Feindschaft in ihrer drohenden Exzessivität als auch als Produkt und Katalysator des Hasses zum Verschwinden bringen. Genau in diesem Sinne war für Schmitt noch der Erste Weltkrieg „in Ordnung", denn er begann im August 1914 „als ein europäischer Staatenkrieg alten Stils": „Die kriegfiihrenden Mächte betrachteten sich gegenseitig als gleichberechtigte, souveräne Staaten, die sich in dieser Eigenschaft anerkannten und justi hostes im Sinne des Jus Publicum Europaeum waren. Angriff war noch kein juristischer Begriff des damaligen Völkerrechts. Am Beginn des Krieges stand noch die förmliche Kriegserklärung, die im 3. Haager Abkommen von 1907 als eine vorherige, eindeutige und motivierte Ankündigung des Krieges geregelt war. Die Kriegserklärung war also kein Angriffsakt in einem belastenden oder diskriminierenden Sinne, sondern im Gegenteil eine korrekte Handlung und Ausdruck des Krieges in Form [...]." 31 Die eigentliche Katastrophe war nicht etwa die dann zutage getretene Wirklichkeit des Krieges, sondern die Tatsache, dass man ihn nachträglich zu einem „Verbrechen gegen die Welt" erklärte und damit das Europäische Völkerrecht sprengte. So konnte dieses seiner konkreten „Ortung" auf europäischem Boden verlustig gehen. Damit zerfällt die letzte, nämlich staatliche Bindung „traditioneller Ortungen" - mit der Folge einer „allgemeinen Entartung", ja „Raumlosigkeit" des internationalen Rechts.32 Nicht nur rechtfertigt der Autor vor diesem Hintergrund noch fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Revanche, die man für die einseitige Zuschreibung der Kriegsschuld nach dem Ersten Weltkrieg geschworen hat. Er widersetzt sich auch hartnäckig der Einsicht, dass die Völker mitnichten etwa ohne alle vorgängige Verfeindung in den Ersten Weltkrieg „hineingetaumelt" sind, dass vielmehr aus intensiven, nicht zuletzt publizistisch gelenkten Verfeindungsprozessen schließlich verfeindete „Vaterländer" hervorgingen, deren „polemisches" Verhältnis erst den Boden für die teils widerstandslose, teils begeisterte Mobilisierung zum Krieg bereitet hat.33 Gerade nicht als Beispiel für eine restlose „Verstaatlichung" der Feindschaft, die ihr den Nährboden des persönlichen und exzessiven Hasses hätte entziehen müssen, sondern als durchdringendste Vergiftung Europas mit einer von keinem Recht beeindruckten Verfeindung haben denn auch andere Autoren den Ersten Weltkrieg verstanden.
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berlegenheit der Europäer derart drückend, „daß die neue Welt einfach .genommen' werden konnte, während sich in der nicht-christlichen alten Welt Asiens und des islamischen Afrika nur das Regime der Kapitulationen und der Exterritorialität der Europäer entwickelt hat". (Nomos, S. 103.) Gleichsam als Gegenprobe auf das Verständnis Anderer, das Schmitt den Europäern attestiert, empfiehlt sich S. Greenblatt, Wunderbare Besitztümer, Darmstadt 1994. Nomos, S. 232f. Hervorhebung B. L. Nomos, S. 210. Vgl. M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde: Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992.
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IV Immer wieder, von Voltaire, über Freud bis hin zu Keegan, wurde behauptet, im europäischen Horizont fielen Geschichte und Krieg über weite Strecken zusammen. Weithin ließe sich demnach die europäische Geschichte als eine Geschichte von Verfeindungen beschreiben, die im Laufe des 19. Jahrhunderts dann national-staatlich formiert wurden - ohne dabei freilich die Potenziale des Hasses zu erübrigen. Im Gegenteil tritt erst jetzt der eigentliche „Nationalhass" auf den Plan, nicht etwa als geschichtlich Ererbtes, als unvermeidliches Schicksal, sondern als Medium der originären Formierung national-staatlicher Ordnungen, die auf einander prallen.34 Edgar Morin geht so weit, zu sagen, „im historischen Gedächtnis der Europäer" stellten ihre polemogenen, tief in der Verfassung der mittelalterlichen Lebensformen und der Konfessionskriege verwurzelten Verhältnisse35 „die einzigen Gemeinsamkeiten" dar. Ihr „einziges gemeinsames Erbe" sei ihre gegenseitige Feindschaft.36 Europa sei weitgehend das Resultat von Antagonismen und Spaltungen, die in „polyzentrischen Kriegen" zum Ausdruck kamen. Morin spricht von einer „europa-organisierenden Anarchie": „Alles, was das moderne Europa formt, [hat] seine Zerrissenheit zur Folge, und alles was seine Zerrissenheit bedingt, hat eine formende Wirkung. Europa entsteht, entwickelt und behauptet sich, indem es mit sich selbst Krieg führt. Das Geburtschaos hat kein Ende: Es ist zu einer permanenten ,europa-organisierenden' Anarchie geworden."37 Diese Anarchie lässt sich nicht einfach als „ungesellige Geselligkeit" (Kant) verstehen, die unfreiwillig doch die Aufhebung der Zerrissenheit und die Pazifizierung der vielfachen Feindschaften
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Vgl. C. v. Clausewitz, Vom Kriege [1832], Frankfurt/M. Berlin "1994, S. 97, 521, 658ff. - Clausewitz hat den modernen, nationalisierten Krieg zu keiner Zeit derart vom „Element" des Hasses abgekoppelt, wie es Schmitt später versuchte, um den Begriff der Hegung des Krieges zu stützen; vgl. P. Kondylis, Theorie des Krieges. Clausewitz - Marx - Engels - Lenin, Stuttgart 1988, S. 12f. — Ich lasse im übrigen dahingestellt, ob sich der moderne Nationalismus unvermeidlich durch Hass und Feindschaft formieren musste. Z. Bauman bestreitet das, G. L. Mosse lässt diese Frage mit Blick auf die „Konstruktion der Nation gegen die Juden" offen; vgl. Z. Bauman, „Moderne und Ambivalenz", in: U. Bielefeld (Hg.), Das Eigene und das Fremde, Hamburg 1991, S. 23-49; G. L. Mosse, „Die Juden im Zeitalter des modernen Nationalismus", in: P. Alter (Hg.), Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999, S. 15-28. Vgl. J. Keegan, Die Kultur des Krieges, Frankfurt/M. 1997, S. 419, 552. E. Morin, Europa denken, Frankfurt/M. 1988, S. 29, 41, 45-49; M. Mann, „Krieg und Gesellschafts theorie: Klassen, Nationen und Staaten auf dem Prüfstand", in: W. Knöbl, G. Schmidt (Hg.), Die Gegenwart des Krieges, S. 25-51, hier: S. 27, 34 zum Zusammenhang von Krieg und europäischer Staatsbildung, sowie F. Jodl, Die Culturgeschichtsschreibung, ihre Entwicklung und ihr Problem, Halle 1878, S. 17. Es dürfte klar sein, dass Morins These als eine bewusst polemische zu verstehen ist. Sie sollte nicht zum Dogma hochstilisiert werden und erübrigt nicht die genaue historische Auslotung von Kriegsursachen etwa. Allerdings geht es auch nicht an, den Ersten Weltkrieg als eine völlig überraschende, ein „Jahrhundert des Friedens" beendende Zäsur zu beschreiben. Gewiss lag diesem Ereignis keine „objektive" Zwangsläufigkeit zugrunde; aber nachträglich reichen seine Spuren weit zurück, wie etwa L. Hölscher u. a. unter Hinweis auf ein Zitat Treitschkes aus dem Jahr 1876 zeigt. Mit Recht zeigt der Autor, dass die passenden „Erwartungsmuster" schon bereitstanden; sie fugten sich überdies trefflich in die ideologische Folie eines internationalen Naturzustandes, den Treitschke dann im Sinne einer „biologischen Ethik der Gewalt" aggressiv-nationalistisch deutete. Diese Folie hat noch viel tiefere Wurzeln im europäischen Denken, als es jene Jahreszahl vermuten lässt. Vgl. L. Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt/M. 1999, S. 198-209, das Zitat S. 202f. E. Morin, Europa denken, S. 168.
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beförderte. Denn in Verbindung mit einer ungeahnten Entwicklung der Waffentechnologie hat der Naturzustand der Nationalstaaten letztlich zur „Selbstzerstörung Europas" geführt: „Der Begriff .Europa', der sich im 18. Jahrhundert endgültig durchsetzt, entspricht jener von nationaler Souveränität, Kriegen, dem jus gentium und einem Gleichgewicht der Kräfte geprägten Epoche. Diese birgt sowohl den Konflikt als auch die Regelung des Konflikts in sich. Durch die Kriege wird jede Einigung durch eine einzelne Hegemonialmacht verhindert und der europäische Polyzentrismus aufrechterhalten. Als dann aber später die nationalen Staaten zu Nationalstaaten werden, als die Kriege die Nationen total zu vereinnahmen beginnen und den Fortschritten der Waffentechnik Hekatomben von Menschen zum Opfer fallen, wird Europa den Höhepunkt seiner Geschichte erreichen und anschließend in einen Abgrund versinken." 38 Seit dem bestehe die „Grundlage Europas im Verlust aller Grundlagen". 39 Ungeachtet zahlloser, bis heute anhaltender Versuche, in der kulturellen Vergangenheit einen tragfähigen Grund der eigenen Existenz zu finden, könne nur noch in der Gegenwart, die man von den erfolgten Zerstörungen her neu zu bestimmen versucht hat, das Ausmaß und der eigentliche Sinn dieses Verlusts ermittelt werden. Dabei geht es weniger um reale Zerstörungen und um einen materiellen (oder wenigstens bezifferbaren) Verlust, sondern vielmehr um das Schicksal des Sinns von „Europa". Weit entfernt, diesen Sinn auf eine noch immer ungefährdete Urstiftung zurückzufuhren, beschreibt Morin Europa als von einer Selbstverfeindung zerfressen, die schließlich keine Grenzen mehr gekannt und nicht etwa „Fremde", sondern der europäischen Kultur seit langem Zugehörige einer exzessiven Vernichtung zugeführt hat. Morin erhebt die Forderung, diesen „Kontinent", dieses große „Kap" (Derrida), zu demystifizieren und sich dem idealisierenden Rekurs auf eine angeblich ungebrochene Tradition von „Werten" zu widersetzen, auf denen sich ein ruiniertes kulturelles Selbstbewusstsein seit geraumer Zeit wieder aufzurichten beginnt, um europäische Ideale (wenn nicht die Vernunft selbst) erneut weltweit zum Export anzubieten. Gerade der Begriff des Wertes scheint sich für diesen Zweck schlecht zu eignen, wie sich etwa anhand von Max Webers Kulturtheorie zeigen lässt.40 Immer wieder hat Weber von einer „letztlichen", bis zur Todfeindschaft reichenden Werte-Unvereinbarkeit nicht nur mit Blick auf die Verhältnisse zwischen Kulturen oder Nationen, die verschiedenen Werten verpflichtet scheinen, sondern auch innerhalb jeder Kultur gesprochen. Auf eine rationale Vereinbarkeit „letzter", das Leben in seiner „Führung" insgesamt bestimmender Werte zu setzen, hält Weber für wirklichkeitsfremd. Das Leben gestatte es nicht, sich über „die Unvereinbarkeit [...] der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden" hinwegzutäuschen. Und in den unvermeidlichen „Kollisionen" heterogener Werte gehe es letztlich immer darum, herauszufinden und gegebenenfalls zu entscheiden, wer oder was für oder gegen uns sei. Wenn dabei letzte, das Leben insgesamt in seinem Sinn betreffende Werte im Spiel sind, die sich als unvereinbar erweisen und nicht einfach nebeneinander gelten können, so stehen wir hier, aufgrund 38 39
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Ebd., S. 53. Ebd., S. 67. Die Fixierung des Denkens auf die Suche nach dem Grund, die bei Heidegger schließlich ebenfalls in eine Art An-Archie (freilich nicht im politischen Sinne) mündet, die Fixierung auf eine verlorene feste „Ortung" und auf fest umgrenzte „Lebensräume" mag indirekt als eine Art Symptom dafür gelten. Vgl. v. Verf., „Lebensformen zwischen Widerstreit und Gewalt", in: Β Liebsch, J. Straub (Hg.), Lebensformen im Widerstreit, Frankfurt/M., (i. E.).
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dieser „Feindschaft" der Werte, die die sogenannte „Integration" moderner Gesellschaften unterhöhlt, an der Schwelle zur tödlichen Gewalt. Das gleiche gilt fiir Beschreibungen internationaler, ethnischer, rassischer und kultureller Verhältnisse, in denen die vitale Unvereinbarkeit kollektiver Überlebenseinheiten geradezu hypostasiert und eine gewaltsame Auseinandersetzung zwischen ihnen als unvermeidlich hingestellt wurde. Die historische Forschung hat gezeigt, wie (1.) der Naturzustand zwischen den Staaten vielfach als eine Rechtfertigung des Krieges genommen wurde;41 wie (2.) die Geschichte der zwischen-staatlichen Auseinandersetzungen unter Rückgriff auf ein von Malthus inspiriertes demografisches Paradigma evolutionär gedeutet werden konnte;42 und wie man (3.) auf der Basis der Einsicht in die evolutionären Gesetze der Geschichte deren Vollstreckung in die eigene Hand zu nehmen gedachte;43 wie schließlich (4.) daraus das Bild eines auf der weit-geschichtlichen Bühne auszutragenden Überlebenskampfes von Klassen, Rassen, Völkern, Nationen, Ethnien, Lebensformen und Weltanschauungen abgeleitet werden konnte.44 Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges werden auch Kulturen insgesamt als solche Überlebenseinheiten gedeutet, die scheinbar einem quasi-evolutionären Gesetz des Überlebens gehorchen müssen.45 Sie befinden sich so gesehen in einem „natürlichen" Krieg der Kulturen, die auf Gedeih und Verderb gegeneinander in Stellung gebracht sind.46 So wird Kultur als Krieg verständlich und die eigene kulturelle Tradition für den Krieg mobilisiert, in dem es letztlich um das eigene kulturelle Überleben geht.47 In dieser Perspektive kann jede Kultur als eine „Lebenserscheinung" betrachtet werden. Freilich hat die Kulturkri41
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Vgl. M. Mori, „Krieg und Frieden in der klassischen deutschen Philosophie", in: H. Joas, H. Steiner (Hg.), Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie, Frankfurt/M. 1989, S. 49-91. Die vielfach bestätigte Diagnose, zwischen den europäischen Staaten habe ein sog. Naturzustand geherrscht, läuft genau darauf hinaus, zu sagen, es habe ein Zustand geherrscht, in dem latent eine potenziell exzessive Verfeindung ständig gedroht habe. Diese „Latenz", die immerfort die Möglichkeit heraufbeschwört, dass andere „das Größte" tun, was sie vermögen, nämlich Menschen zu vernichten, definiert ja den hobbesianischen Naturzustand (als einen Kriegszustand). So gesehen lässt sich die „Geburt" Europas aus der Selbstverfeindung auch als Überwindung dieses Naturzustandes deuten. Allerdings hat diese Verfeindung auch die inneren Verhältnisse der Staaten erfasst. Der radikalen Feindschaft gegen entrechtete Mitbürger, die sie am Ende nicht einmal mehr als Feinde gelten lassen wollte, wird man mit einer solchen Deutung nicht gerecht; vgl. J. -F. Lyotard, Heidegger und „die Juden ", Wien 1988, S. 42f. Vgl. E.-M. Engels (Hg.), Die Rezeption der Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1995. Vgl. H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 31993, S. 376ff., 286, 533, 709712. Vgl. P. Kondylis, Theorie des Krieges, S. 148f., 260, 271. Von dieser Annahme aus war es nur noch ein Schritt zu der Konsequenz, Arbeit an der Vernichtung fremder Kulturen sei die direkteste Beihilfe zum Überleben der eigenen. - Zur Geschichte einer nicht nur „rethorischen" Gewalt-Apotheose vgl. P. Gay, Kult der Gewalt, München 1996, S. 51-87, der mit Recht daraufhinweist, dass die Rede von einem zum Krieg verurteilenden Gesetz des Überlebens keine Erfindung Darwins war. Vgl. W. J. Mommsens Einleitung und Chr. Cornelißen, „Politische Historik und deutsche Kultur. Die Schriften und Reden von Georg v. Below, Hermann Oncken und Gerhard Ritter im Ersten Weltkrieg", in: W. J. Mommsen, E. Müller-Luckner (Hg.), Kultur und Krieg: Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996, bes. S. 119, 127, 133; R. Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt/M 1997, S. 74f., 364; H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, Basel, Stuttgart 1963, sowie bes. die Beiträge von 0 . Hintze, E. Troeltsch, G. v. Schmoller in: Deutschland und der Weltkrieg (Hg. O. Hintze et al.), Leipzig, Berlin 1915. W. J. Mommsen, „Einleitung", S. lf.
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tik der Vorkriegszeit hierzulande nichts so sehr in Zweifel gezogen wie gerade das „Leben", die „Lebendigkeit" und* die „Überlebensfähigkeit" der Kultur. Im Zuge einer denkwürdigen Vertauschung der Begriffe konnte man sich vom Krieg (d.h. vom zwischen-staatlich organisierten Tod) mehr Leben bzw. eine Wiederbelebung der eigenen Kultur versprechen. Die Revitalisierung der Kultur denken hieß: die Drohung gewaltsamen Todes als Versprechen erneuerten Lebens denken. So wurden Apologien des Krieges im Namen der Zukunft der Kultur möglich. Der Krieg sollte die Formen zerbrechen, in denen das kulturelle Leben (d. h. die Lebensformen) erstarrt schienen. In der Auflösung der Formen werden aber Erneuerung und Zerstörung ununterscheidbar: die Rettung der Kultur erfolgt auf dem Wege ihrer Zerstörung; die Zerstörung der erstarrten, „leblos" gewordenen Kultur verspricht, ihr zu neuem Leben zu verhelfen. So kann gerade das, was die Formen des Lebens zerstört, der Krieg der Kulturen, selber zur Lebensform werden. „Krieg wurde als eine extreme Lebensform des Menschen angesehen", in der man ihn erlebt haben muss, „um wirklich etwas über den Menschen zu wissen" (Otto Dix).48 Im Feuer der äußersten Feindschaft, die im „Graben" und an der „Front" überhaupt jeglichem Gedanken rechtlicher Hegung spottet, soll die Wahrheit menschlichen Lebens nackt ans Licht treten. In der exzessiven Gewalt, die die miteinander verfeindeten, die Selbstzerstörung Europas heraufbeschwörenden Kulturen entfesselten, soll sich in der Tat diese Wahrheit gezeigt haben.
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Das bestätigt Jan PatoCka mit Rekurs auf die einschlägigen Schriften Teilhard de Chardins und Ernst Jüngers. PatoCka sucht Europa ohne jeden historisch unvermittelten Rückgriff auf die philosophische Tradition (etwa auf eine griechische „Urstiftung" europäischer Vernunft 49 ) vom „Ausgangspunkt der extremsten Erschütterung" her zu denken, die er in der „Erfahrung" des Ersten Weltkriegs erkannte. Hier habe sich - jenseits bloß reproduktiven, an der eigenen Erhaltung interessierten Lebens50 - gezeigt, was selbst der extremsten Auseinandersetzung (polemos), selbst scheinbar grenzenloser Verfeindung letztlich stand halte. Gerade dort, wo jegliches Interesse an einem zu „besorgenden" und zu beschützenden Leben in den Mauern des Gesetzes51 sich auflöse, zeige sich - nach der Erfahrung des Ersten
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Vgl. ebd., S. 9, sowie H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 210, 213, 221. - Unaktuell ist die Gleichsetzung von Krieg und Leben im Sinne einer kriegerischen Lebensform keineswegs; vgl. M. v. Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1991, S. 331. Vgl. J. Patoöka, Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1988, S. 69 (=KE), wo der Autor durchaus mit dieser Idee der Urstiftung (Husserl) liebäugelt. Kritisch dazu v. Verf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Kap. III, sowie R. Bemasconi, „Philosophy's Paradoxical Parochialism: The Reinvention of Philosophy as Greek", in: K. Ansell-Pearson, B. Parry, J. Squires (eds.), Cultural Readings of imperialism. Edward Said and the Gravity of History, London 1997, S. 212-226. Vgl. KE, S. 37ff. „Was wir heute Gesetz nennen, bedeutete zumindest bei den Griechen ursprünglich so etwas wie eine Grenze, die in früher Zeit ein sichtbarer Grenzraum war, eine Art Niemandsland, das jeden, der überhaupt ein Jemand war, umschloß und einhegte. [...] Das griechische Gesetz war wirklich eine ,Gesetzesmauer', und schuf als solche den Raum einer Polis." H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich "1985, S. 61.
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Weltkrieges dass so nicht jegliche Gemeinsamkeit aufhört.52 Vielmehr bestätige sich im Grunde die alte Einsicht Heraklits, „daß der polemos nichts Einseitiges ist, daß er nicht trennt, sondern verbindet, daß die Feinde nur scheinbar isoliert sind, daß sie in Wirklichkeit zusammengehören in der gemeinsamen Erschütterung". Davon verspricht sich Patoöka nicht weniger als eine „Solidarität der Erschütterten" jenseits des „bloßen Lebens", das in das Interesse seiner Erhaltung hoffnungslos verstrickt53 scheint. Von der „Knechtschaft" dieses Interesses befreie der Krieg. Auch hier also verspricht der Tod nicht nur mehr Leben, sondern ein (Zier-Leben, das gerade nicht bloß bedeuten soll, länger zu leben oder es länger auszuhalten als irgend ein Anderer. Im Krieg begegnen einander immer wieder namenlose Andere, denen sich auf den ersten Blick nur die Frage stellt, wer zuerst von ihnen sterben wird. Aber gerade in dieser Anonymität der Feindschaft kann der namenlose Andere „nicht mehr [als] der absolute Gegner auf dem Weg des Willens zum Frieden" erscheinen; in ihr „ist er nicht mehr das, was nur dazu da ist, beseitigt zu werden". Der Feind ist vielmehr „der Miterleider der gleichen Situation, er ist Mitentdecker der absoluten Freiheit, ist einer, mit dem eine Übereinstimmung über Gegensätzliches möglich ist, ein Miterleider der Erschütterung von Tag, Frieden, und Leben [...]". Was hier als Übereinstimmung ohne alle Worte, über allen Hass hinweg möglich geworden sein soll, ist die „Solidarität der Erschütterten trotz ihres Gegensatzes und Streits".54 In dieser Solidarität wird der Feind als Anderer entdeckt, dessen Feindschaft keineswegs jegliche „Gemeinsamkeit" aufhebt. Patoöka sieht im Ersten Weltkrieg nicht etwa einen formal untadeligen Vorgang, einen „Krieg in Form", in C. Schmitts Worten, sondern einen historisch beispiellosen Exzess der Auflösung aller Formen im Zuge kollektiver Verfeindung, die der Nationalhass auf den Plan gerufen hat. Dieser Exzess wird bewaffnet praktiziert, so dass es gerechtfertigt (wenn auch paradox) erscheint, vom Krieg als einer Lebensform zu sprechen. In dieser Lebensform offenbart sich eine radikale Krisis des Seins derer, die sich bewaffnet auseinandersetzen. Angesichts dieser Krisis, die eine Zerstörung jeglicher „Gemeinsamkeit" der Kämpfenden zu bedeuten scheint, verbietet sich jede Verharmlosung eines „polemologischen" Ansatzes.55 52
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„Selbst im Sterben auf den Schlachtfeldern und in den bombardierten Städten kann das Entsetzen über die Verwüstungen und die Trauer um die Toten die Feinde verbinden - wenn es denn ein gemeinsames Sterben gibt", steht noch bei K. O. Hondrich zu lesen (Lehrmeister Krieg, Hamburg 1992, S. 59). Wenn es je „gemeinsames", nicht radikal vereinzelndes Sterben und ein Überleben von Feinden gegeben haben sollte, die daraus „gelernt" zu haben scheinen, so hat der technische Krieg aus großer Distanz heraus dem jedoch ein Ende gesetzt. In vor dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Schriften polemisiert Patoöka allerdings gegen eine um sich greifende Normalisierung der Lebensformen, in denen man schließlich nicht mehr wisse, worum es im Leben eigentlich geht. An Schmitt und Jünger, aber auch an Freud erinnert seine Entlarvung „geduckter, harmonischer Seelen", die sich weigern, ihr Leben (etwa im Krieg) mitsamt seinen normalisierten Formen aufs Spiel zu setzen; vgk. J. PatoCka, „Leben im Gleichgewicht, Leben in der Amplitude" (1939), in: Texte - Dokumente - Bibliografie, Hg. L. Hagedom, H. R. Sepp, Freiburg, München 1999, S. 91-102. KE, S. 158. So wie Patoöka auch an anderer Stelle die moderne Erfahrung radikaler Verfeindung mit dem polemos Heraklits in Verbindung bringt, entsteht allerdings der Eindruck, der „Streit" der „Erschütterten" habe sich nicht wesentlich gewandelt. Ob man unter Rückgriff auf den antiken Begriff des Streits (eris) der Spezifität der modernen Erfahrung gerecht werden kann, erscheint fraglich (vgl. ebd., S. 66f.). Eine gewisse Verharmlosung liegt schon in der Übersetzung von polemos mit „Auseinandersetzung" (bei Heidegger, der es unterlässt, nach deren fraglichem Gewaltpotenzial zu fragen) oder mit „Streit"
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Denn im Kampf um Leben und Tod, der zu jedem Mittel greift, wird radikal ungewiss, was und wer die Feinde im Verhältnis zueinander überhaupt sind. Stehen sie angesichts der tödlichen Drohung, die sie füreinander darstellen, überhaupt noch in einem „menschlichen" Verhältnis? Patoöka spricht vor diesem Hintergrund von einer radikalen Vertrauenskrise, die der Erste Weltkrieg aufgrund der auf europäischem Boden unbegrenzt entfesselten, von keinem Recht effektiv gehinderten Verfeindungen bedeutet habe. 56 Erst der „Faschismus" habe zwar diese Vertrauenskrise „bis in die letzten Konsequenzen hinein" gesteigert; 57 doch schon der Erste Weltkrieg bot hinreichenden Anlass zu fragen: „Wogegen wendet sich denn eigentlich das Misstrauen? Was kann diesem Misstrauen standhalten und unerschüttert weiter bestehen bleiben? Ist es die Auffassung vom Menschen, die Idee oder die Ideologie? Ist denn heutzutage [...] noch etwas anderes Übriggeblieben als ein absoluter Realismus in unserer Beziehung zum Menschen, als ein Vertrauensmangel allem gegenüber, das über ein rein sachliches Verhältnis zu ihm hinausginge?" 58 PatoCka versteht die auf europäischem Boden entfesselte Feindschaft offenbar als eine Art Feuerprobe dessen, was Europa ausmacht. Was der radikalen Verfeindung standhält oder aus der Asche ihres Feuers neu sich formiert, wird sich vielleicht als Basis eines rekonstruierten Europa erweisen können.59 Im Gegensatz zu Schmitt, der im „ordentlichen" Krieg (also auch im Ersten Weltkrieg) „die höchste Form der Ordnung erkennt, deren menschliche Kraft fähig ist", sieht Patoöka vor allem im Ersten Weltkrieg die Zerstörung all dessen, was im Bewusstsein kultureller Überlegenheit mit dem Ansinnen in ihn eintrat, einen Krieg der Kulturen zu fuhren. So hat der Erste Weltkrieg scheinbar einen bleibenden Maßstab gesetzt. 60 Insoweit dieser aber von der „Erfahrung" abhängt, die die „Erschütterten" gemacht haben, ist es zweifelhaft, ob sie überhaupt zu historischer Geltung hat gelangen können. Jedenfalls hat sich die zu erhoffende Wirkung dieser Erfahrung nach Patoikas eigener Einschätzung nicht eingestellt. 61 Nimmt man einmal die Geschichte des politischen Totenkults,
(Sternberger). Letzterer erkennt den eigentlichen Sinn des Politischen in einer Institutionalisierung und Aufhebung des Streits. Aber Radikalisierungen der Feindschaft widersetzen sich dem; vgl. D. Sternberger, Die Politik und der Friede, Frankfurt/M. 1986, S. 79. 56 57
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KE, S. 380. Dazu mochte sich Schmitt nicht durchringen. Er verfocht vielmehr die These, nur der moralische Exzess, in dem Anderen jeglicher „Wert" abgesprochen werde, so dass sie am Ende nicht einmal als Feinde gelten könnten, sei fur eine Radikalisierung der Feindschaft verantwortlich zu machen. (Theorie des Partisanen, Berlin 1963, S. 95.) KE, S. 380. S. o., Anm. 16. So gesehen werfen die angesprochenen Schriften PatoCkas ein bezeichnendes Licht auf gegenwärtige Versuche, wieder einem Kampf oder Krieg der Kulturen das Wort zu reden, worin sich gewisse amerikanische Theoretiker und radikale Islamisten bemerkenswert einig zu sein scheinen. KE, S. 159 (wo der Autor allerdings auch spätere „Kriegserfahrungen" mit im Blick hat). Ich sehe an dieser Stelle von der u. a. mit Blick auf Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte viel diskutierten Frage ab, welcher Erfahrungsbegriff hier eigentlich angemessen wäre und verweise nur en passant auf die Diskussion der Frage, ob und wie die „Erfahrung" des Ersten Weltkriegs überhaupt in die literarische Überlieferung oder auch ins kollektive oder kulturelle Gedächtnis hat eingehen können. (Zu dieser Problematik vgl. A. Assmann, Zeit und Tradition, Köln 1999; B. Ulrich, B. Ziemann [Hg.], Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, Frankfurt/M. 1997; G. Hirschfeld, G. Krumeich, G. Langewiesche u. a., Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges, Essen 1996.)
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in dem die Erfahrung des Ersten Weltkriegs öffentlich-politisch repräsentiert wurde, als Maßstab, so weckt auch sie erhebliche Zweifel an dieser Wirkung. 62 Er hat jedenfalls nicht dazu beigetragen, uns „Siege zu ersparen" (Koselleck). 63 Genau das aber hätte fur Patoöka die wichtigste Konsequenz aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs sein müssen: dass kein Krieg (auch kein Krieg gegen den Krieg selber) einen endgültigen Sieg über den Feind herbeifuhren kann (und nicht einmal soll). Der Sieg hat sich als ein „Trugbild" erwiesen, „in dem sich eine künftige Niederlage vorbereitet, und die Niederlage wird zum Ferment neuer Schlachten. Der siegreiche Frieden ist eine Illusion, in der der Sieger moralisch verfällt [,..]." 64 Denn im vermeintlichen Frieden wird sich ein neuer Krieg vorbereiten. So wird der Krieg nicht etwa sterben, sondern sich nur in ein „schwelendes Feuer" verwandeln. Der Friede ist dieses Feuer, dieser andauernde Kriegszustand, der sich aus dem niemals aufgegebenen Ansinnen erklärt, dem Feind (wer auch immer es ist, wo auch immer er sich zeigt) vielleicht doch eine letzte, endgültige Niederlage beizubringen. Man kann sich also vom Krieg nicht wirklich befreien, schlussfolgert Patoöka, wenn man nicht den Gedanken des (finalen) Sieges über den Feind preisgibt. Aber im Zeichen der „Kräfte", die die Moderne freigesetzt und dem Menschen an die Hand gegeben hat, triumphiert nur das „Leben", in dem der Krieg seine Erscheinungsformen wandelt, nicht aber verschwindet. Zwar hat sich der „Erdteil" Europa schließlich zur „Demobilisierung" durchgerungen, „weil ihm nichts anderes übrig [blieb]". Er scheint rein äußerlich weitgehend „pazifiziert". Der offene, heiße Krieg ist zum Stillstand gekommen, doch der Kriegszustand hat nur seine Erscheinungsformen geändert - und im übrigen seinen Schwerpunkt nach außen verlagert. Er zeigt sich als kalter oder schwelender Krieg und verschärft sich dabei. Er ist „um nichts weniger grausam, ja oft sogar noch grausamer als ein heißer Krieg, dessen Fronten ganze Kontinente umpflügen". Ohne weiteres deutet PatoCka den Abgrund, der sich zwischen den „beati possedentes und denen, die auf einem an Energie reichen Planeten Hungers sterben", als einen verlängerten Kriegszustand, als einen „Krieg, der sich mit ,friedlichen' Mitteln auf Dauer etabliert. Hier zeigt der Krieg sein friedliches Gesicht, das Gesicht einer zynischen Demoralisierung, eines Appells an den Willen zum Leben und Haben." Aber das Leben und Haben der einen bedeutet die Armut und den Tod der anderen. Davor verschließen diejenigen, die den Krieg überwunden zu haben glauben, die Augen, obgleich sie insgeheim mit dem Tod der anderen „rechnen" - „als einer Fessel [...], die in Gestalt der vis a tergo da ist, in Gestalt eines Terrors, der die Menschen selbst ins Feuer treib[en]" wird. 65 Von Feindschaft ist in diesen unheilkündenden Worten nicht mehr ausdrücklich die Rede. Doch mahnen sie dazu, an den nächsten Krieg zu denken, den ein saturiertes, die Zerstörungen der Weltkriege durch seinen ökonomischen Erfolg kaschierendes Europa riskiert, das sich dem „Leben" und dem „Haben" ergeben hat und verleugnet, wie es selbst mit dem Tod der anderen „rechnet". Wo die einen aber auf Kosten anderer leben, die nicht (oder nur
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R. Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes, Basel 1998; ders., Zeitschichten, Frankfurt/M. 2000; ders., M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult, München 1994. Vgl. R. Koselleck, „Erfahrungswandel und Methodenwechsel", in: Theorie der Geschichte. Beiträge zurHistorik, Bd. 5, München 1988, S. 13-61, hier: S. 60f. KE, S. 154. KE, S. 160f.
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im Elend) überleben, ist die Fortdauer einer radikalen Verfeindung bereits angelegt. Das äußerlich beruhigte Europa verschiebt die Gefahren, die im fortdauernden Kriegszustand lauern, nach außen und täuscht sich infolge dessen - womöglich bis heute - völlig über sein Verhältnis zu Krieg und Frieden. (Ganz in diesem Sinne hat schon 1917 Lenin das bis zum „Ausbruch" des Ersten Weltkriegs andauernde, nachträglich viel gelobte „Jahrhundert des Friedens" als eine europäische Selbsttäuschung entlarvt: „In Europa herrschte Friede, aber er wurde aufrechterhalten, weil die Herrschaft der europäischen Völker über die hunderte Millionen Bewohner der Kolonien nur durch ständige, ununterbrochene, nie ein Ende nehmende Kriege verwirklicht wurde, die wir Europäer nicht für Kriege halten, da sie häufig nicht Kriegen, sondern der bestialischen Ermordung, der Ausrottung waffenloser Völker ähnlich gewesen sind." Dass der genozidale Kolonialismus im Sinne des Europäischen Völkerrechts „formal" weder als Krieg noch scheinbar sonstwie als Unerlaubtes galt, ändert fur Lenin „nicht das Geringste am Wesen der Sache".66) Läßt sich nun aber mit Blick auf den latenten Kriegszustand, den Patoüka beschreibt, von Feinden im üblichen Sinne sprechen, die einander zu schädigen intendieren? Sind diese Feinde wie in einem „ordentlichen" Krieg auf einen Sieg hin orientiert? Und wie sähe der aus? Bedarf die saturierte reiche, speziell die europäische Welt nicht lediglich einer Fortdauer des Missverhältnisses zwischen denen, die „leben", einerseits und denen, auf deren Kosten sie dies tun, andererseits? Patoika läßt uns bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen im Stich. Seine Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte suggerieren auf unheimliche Weise nur, dass auf das erfolgreiche „Leben" und „Haben", welches des „heißen" Krieges scheinbar gar nicht mehr bedarf, früher oder später der Wiederausbruch einer exzessiven Verfeindung im Verhältnis zu denen folgen wird, die in der Zwischenzeit unter den Folgen des in Wahrheit andauernden Kriegszustandes zu leiden hatten. Dieser Gedanke fuhrt uns mitten ins Zentrum der Gegenwart.
VI Im Vergleich zu Carl Schmitt geht Jan Patoöka offenbar einen genau entgegengesetzten Weg. Er glaubt nicht daran, dass der Krieg „in Form" zu bringen und so - mitsamt der Feindschaft, soweit sie die Verhältnisse zwischen Staaten betrifft - zu entschärfen ist. Sein dem Begriff des Naturzustandes nachgebildeter Begriff des Kriegszustandes bezieht sich gerade auf die unter der Oberfläche eines scheinbaren Friedens nachzuweisenden Spuren neuer, noch „ausstehender" tödlicher Konflikte. Solange im Frieden ständig neue Kriege sich vorbereiten, verdient er aber eigentlich seinen Namen nicht. Der Kriegszustand, auf den Patoöka unsere Aufmerksamkeit lenken möchte, ist nicht an zwischenstaatliche Verhältnisse 66
W. I. Lenin, Über Krieg. Armee und Militärwissenschaft, II, Berlin 1959-1961, S. 1, 101. Zum Beginn des Kolonialismus infolge der Entdeckung der „Neuen Welt", durch die schon Montaigne die „schrecklichste Feindschaft" heraufziehen sah, vgl. auch H. Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg 1994, S. 138f., sowie T. Todorov (Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt/M. 1985, S. 175f.), der im „atheistischen Morden", das die Feindschaft gegen eine ganze Kultur begleitete, „die modernen Zeiten" sich ankündigen sieht. Von den „Endlösungen" her, die sich in diesem Kontext ereignet haben, will Todorov die europäische Moderne deuten (ebd., S. 168,183).
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gebunden, und er bedarf der förmlich erklärten Feindschaft ebenso wenig wie einer im konventionellen Sinne bewaffneten Kriegsführung. Für seine Fortdauer genügt eine Feindschaft, die aus dem Missverhältnis des „Lebens" und „Habens" der einen und der anderen resultiert, mit deren Tod man rechnet und zu deren Sterblichkeit man sich „indifferent" verhält.67 Eben das prangert PatoCka an, um gerade in der Feindschaft auf die Spur einer Nicht-Indifferenz angesichts des feindlichen Anderen zu stoßen, weil er im Feind nicht etwas gleichgültig zu Liquidierendes oder das Böse, sondern den Miterleider des gleichen Schicksals erkannt zu haben glaubt. Er hat, wie gesagt, den Feind als Anderen entdeckt, für den man noch im Exzess kollektiver Verfeindung eine nicht abzuwerfende Mit-Verantwortung trägt. Doch erscheint fraglich, ob die Differenz der Feinde bei Patoöka als radikale Verfeindung gedacht wird, bleibt sie doch überbrückt von einer unverbrüchlichen Einheit im Streit, deren Vorbild der Philosoph im antiken politischen Verhältnis findet. Also auch hier umhegt noch ein Nomos die Verfeindeten. Aber in den post-nationalstaatlichen, von keinem internationalen Recht mehr gehinderten Feindschaften umzäunt kein Gesetz und keine unerschütterliche Gemeinsamkeit die Gegner. Hier lassen sich vielfache Quellen des Hasses - nicht nur die Fixierung aufs Leben oder Haben - nachweisen, ζ. B. ganze Traditionen der Demütigung (die vor allem in der arabischen Welt empfunden wird) und der Verelendung (besonders des afrikanischen Kontinents), die es den Betroffenen nahe legen, sich im Hass gegen die vermuteten Urheber ihrer Misere dessen zu versichern, wer sie selber eigentlich sind. (So verstrickt man mit den gehassten Anderen infolge dessen auch bleiben mag.) Dieser Hass zeigt sich ebenso wie das feindselige Tun, das sich aus ihm speist, vielfach unbekümmert um Formen und Regelungen staatlicher Koexistenz. Er wird immer häufiger vor allem ethnisch und religiös als Antwort auf erlittene Gewalt gegen das eigene identitäre Selbstverständnis artikuliert, wobei interessierte politische Manipulateure den Hass auf ihre Mühlen lenken, um Machtprofit daraus zu schlagen.68 Zuletzt hat das der bisher massivste Terror in New York gezeigt. Dass es sich um ein verzweifeltes Mittel kulturell Gedemütigter gehandelt hat, wie oft behauptet wurde, stimmt nur zum Teil. Mit Recht hat man daraufhingewiesen, dass diejenigen, die dem Terror die erforderlichen intelligenten Mittel bereitstellten und ihm erst die Zielrichtung wiesen, nicht zu den Elenden gehören. Angesichts der Mühe, die man nun darauf verwenden muss, sich nachträglich die konkreten geschichtlichen, kollektivpsychologischen, sozialen, politischen und inter-kulturellen Zusammenhänge klar zu machen, bestätigt sich eine Einsicht PatoCkas: Europa (nicht zu reden vom Westen allgemein) hat sich allzu lange in seinen anderswo bitter erkauften Erfolgen saturiert eingerichtet und erschrickt nun angesichts der unerhöhrten, scheinbar der Zivilisation überhaupt geltenden Gewalt, gegen die keine Zuflucht Schutz bietet: diese Gewalt ruiniert endgültig jede Illusion der Unverwundbarkeit oder des garantierten Schutzes. Gegen eine Gewalt, die sich dem Feind bis zur UnUnterscheidbarkeit angleicht, um hinterrücks aus dem Innern aufzutauchen und alle räumlich-politischen Grenzen zu unterlaufen, hilft kein Rückzug in einen noch so
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S. zu diesem Gedanken v. Verf., Geschichte als Antwort und Versprechen. Man sollte sich hüten, die terroristische Gewalt, die wir aktuell vor Augen haben, durch einen fahrlässigen Kurzschluss mit „Islamismus" oder mit einer ethnischen Identität noch zu nobilitieren. Bin Laden war nicht einmal befugt, einen „Heiligen Krieg" zu erklären. Und Talibane repräsentieren nicht das afghanische Volk, gegen dessen ethnische (nicht-paschtunische) Minderheiten sie selber mit genozidaler Gewalt vorgegangen sind, wenn man den jüngsten Berichten Glauben schenken darf.
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gesicherten Schutzraum. Mühsam muss man jetzt, wo es vielleicht schon zu spät ist und weiter verschärfter Terror bereits auf dem Weg sein mag, zu verstehen versuchen, welche Feindschaft sich gegen die nur um ihren Erfolg, ihr Leben und Haben Besorgten aufgebaut hat, die nun ihrerseits Gefahr laufen, sich dieser Feindschaft hinzugeben. Darin liegt die eigentliche Herausforderung der extremen Gewalt - und die Aktualität von PatoCkas Kritik der Vorstellung eines endgültigen Siegfriedens über den Feind. Wie oft hat man uns im Geist der Rache und der Vergeltung nach dem schrecklichen Ereignis des 11. September schon die Endlösung der terroristischen Gewaltfrage angekündigt! Man werde diese Gewalt „auslöschen" und endgültig zur Strecke bringen, lauteten die maßlosen Versprechungen. Nicht ihre Uneinlösbarkeit ist das eigentlich Beunruhigende an ihnen, sondern dass sie die Gefahr heraufbeschwören, dass die angesagte Gegen-Gewalt nun ihrerseits der rücksichtslosesten Verfeindung verfällt, gegen die sie eingesetzt werden soll. Das aber wäre eine Katastrophe des Politischen. Wer sich der Phraseologie einer manichäischen Sprache bedient, in der dem Feind eine radikale, endgültige Liquidierung prophezeit wird, hat das Feld des Politischen bereits verlassen, in dem niemandem der Anspruch darauf abzusprechen ist, zu existieren. Die Gegen-Gewalt erliegt dieser Gefahr nur allzu leicht, wenn sie auf extreme und einseitige Verletzungen reagiert, wie sie der Terror in seinen jüngsten Erscheinungsformen zufugt.69 Dieser Terror will in Absichten oder Folgen zwischen „Schuldigen" und „Unschuldigen" nicht mehr unterscheiden. Er will schlechterdings das Schlimmste und Äußerste zufügen. Und je mehr ihm das zu gelingen scheint, desto „reiner" die Verletzung und Zerstörung, die er bewirkt. Je „reiner" (im Sinne der Einseitigkeit der extremen Gewalt) aber die Wirkung, desto „gerechter" versteht sich der Hass auf diejenigen, die sie zu verantworten haben. Und je „reiner" in diesem Sinne das Gewissen derer erscheint, die zur GegenGewalt greifen, desto „gerechter" fällt ihre Empörung aus, die in ihrer Selbstgerechtigkeit nach den Waffen ruft; je extremer die Gewalt, gegen die man vorzugehen gedenkt, desto unnachsichtiger und radikaler wird die Gegen-Gewalt zuzuschlagen versucht sein. Infolge dessen läuft sie Gefahr, der Gewalt gleichzukommen, gegen die sie sich wendet. Je tiefer und anhaltender die Auseinandersetzung zwischen Gewalt und Gegen-Gewalt, desto schwerer muss es letzterer fallen, ihre grundsätzliche Verschiedenheit von der Gewalt zu behaupten, gegen die sie sich richtet. Am Ende siegt eine unterschiedslose Gewalt, in der kein Unterschied zwischen dem Terror einerseits und der aus der absoluten Verletzung gespeisten Gegen-Gewalt andererseits mehr erkennbar sein wird.70 So sehr die extreme, einseitige Gewalt auch Anlass dazu geben mag, eine radikale Feindschaft zu erklären, um sie ein für alle
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In Unterschied zu bereits „klassischen" Erscheinungsformen des Terrors wie der anarchistischen Subversion oder der anti-kolonialistischen, ethno-nationalistischen und separatistischen Gewalt, die ihre Opfer stets gezielt ausgesucht (dabei allerdings die Ermordung „Unschuldiger" zunehmend in Kauf genommen) hat, sticht der neueste Terror durch die unerhörte „Wahllosigkeit" hinsichtlich seiner Opfer hervor. (Das sollte nicht zu dem Umkehrschluss verleiten, Terroropfer hätten zu irgend einer Zeit die ihnen angetane Gewalt „verdient". Kein Opfer gleich welchen Terrors kann jemals derart „schuldig" gewesen sein, dass es terroristische Gewalt „verdient" gehabt hätte. Terror als Gegen-Gewalt mag gelegentlich als „verständlich" (erklärbar) erscheinen; gerecht wird er dadurch grundsätzlich nicht.) Ausfuhrlich werden diese Fragen v. Verf. aufgeworfen in: Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit Differenz - Gewalt, Berlin 2001, Teil III; s. a. J. Friedrich, Das Gesetz des Krieges, München, Zürich 2 1996, S. 225; M. v. Crefeld, Die Zukunft des Krieges, S. 294, 256f.
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Mal zu besiegen, so sehr droht sich eben diese Feindschaft schließlich derselben Gewalt schuldig zu machen. Es ist auch hier die von PatoCka herausgestellte Illusion eines finalen Sieges über den Feind, der die von jeder Verantwortung für den Feind sich entbindende Feindschaft exzessiv zu radikalisieren droht, statt sie zu mäßigen oder zu „begraben". Paradoxerweise darf man selbst der exzessivsten Gewalt also nicht mit einer manichäischen „Todfeindschaft" begegnen, die sie endgültig zu liquidieren verspricht. Ein solches Versprechen würde praktisch nur dahin fuhren können, dass die unterschiedslose Gewalt „das letzte Wort" hat. In Europa, wo man den im Anschlag auch ihm geltenden Hass durchaus realisiert, wird man auf solche Versprechen um so leichter herein fallen, wie man die eigene Geschichte extremer Selbstverfeindung vergisst. Wer den von Patoöka bis Morin beschriebenen Exzess der europäischen Verfeindung vergisst, der in seinen Konsequenzen das alte Europa zerstört und seine Neugeburt (gewissermaßen seine Nach-Geburt aus der Asche seiner Zerstörung) erzwungen hat, wird sich um so bereitwilliger in neue, radikale Verfeindungen verstricken; und zwar um so leichter, wie es der terroristische Feind ist, der im Exzess der von ihm zu verantwortenden mutwilligen Verletzungen „allen Grund" dazu gibt. Fällt Europa auf diese Herausforderung herein, so wird es den angeprangerten Feinden am Ende weitgehend ähnlich werden. Dann befände es sich weniger denn je an der Spitze eines moralischen Fortschritts in der Auseinandersetzung mit denjenigen, die an die „okzidentale" Vernunft nicht glauben wollen; es befände sich vielmehr auf dem Gipfel der geschichtlichen Selbstvergessenheit, die als Selbstgerechtigkeit zu politischen Untaten im - alten - Geist der Feindschaft lockt.
Nachtrag Das Geschichtszeichen des 11. September Niemand wird glaubwürdig geltend machen können, er habe dieses Ereignis kommen sehen. Gewiss: folgen wir Hobbes, dann haben sich Feinde seit je her gegenseitig das Schlimmste zu befürchten gegeben, das jeweils in ihrer Macht lag. Daraus würde folgen, dass man zumal in Amerika, wo man seit Jahrzehnten über A-, B- und C-„Massenvernichtungswaffen" verfügt, nicht wirklich überrascht sein konnte. X Tonnen Anthrax lagern auf amerikanischem Boden; und noch vor wenigen Jahren hat man es für opportun befunden, nicht unerhebliche Mengen davon zu exportieren - und zwar in Gebiete, wo sich seit langem ethnisch, kulturell und religiös motivierte Feindschaften abzuzeichnen begonnen hatten, die sich über jegliche staatliche Ordnung hinwegsetzen. 71 Man konnte längst mit einer konkreten, nicht mehr in konventionellen Kategorien der Kriegsfuhrung fassbaren Bedrohung durch eine aus dem Nirgendwo auftauchende Gewalt rechnen, die sich derselben Waffen würde bedienen können, welche man selber eifrig hergestellt und auf ihre konkrete Einsetzbarkeit hin erforscht hatte. Jenseits allen Völkerrechts hat die „militärische Logik" (nicht allein der „irreguläre" Terrorismus) seit Jahrzehnten die Schwelle zum einkalkulierten Terror überschrit-
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Vgl. J. Miller, S. Engelberg, W. Broad, Germs. Biological Weapons and America's Secret War, New York 2001.
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ten, indem sie den Einsatz von „Massenvernichtungswaffen" jederzeit in Erwägung zog. 72 (Erschrecken wir jetzt etwa nur, weil der aktuelle Terror in unseren Augen keiner „guten Sache" dient?) Aus keiner Logik der Geschichte und aus keiner Theorie der Feindschaft folgte allerdings, dass, wann, wie und von wem die entsprechenden Möglichkeiten tatsächlich in die Tat umgesetzt werden würden. Paradoxerweise scheint man erst jetzt zu realisieren, dass der Einsatz biologischer Waffen tatsächlich „möglich" war, der zuvor fur „unmöglich" und „undenkbar" gehalten wurde. Rückwärts gewandte Prophetie, die das vorher gewusst haben will, ist gleichwohl ganz unangebracht. Stets verkürzt sie das Ereignis, durch das sie nicht erst im nachhinein belehrt worden sein will, um seinen eigentlichen Ereignischarakter, um gerade das also, was ihm die Chance gibt, neu zu denken zu geben. Statt uns etwas zu lehren, scheint sich im nachträglich „vorausgesehenen" Ereignis nur gezeigt zu haben, was schon vorher klar war - sei es, weil das Ereignis bereits in seinen Ursachen präformiert war, sei es, weil es teleologisch vorweg dazu bestimmt war, zu Tage zu treten. Wenn aber etwas das Ereignis als Ereignis definiert, dann ist es gerade das, was sich beiden Reduktionsversuchen widersetzt. Das schließt eine nachträgliche Bewahrheitung seiner vorherigen „Möglichkeit" ebenso wenig aus wie die Möglichkeit, dass sich die ihm zunächst zugemessene Bedeutung später in der historischen Bedeutungslosigkeit verliert. Jedes „historische" Ereignis changiert so gesehen auf unbestimmte Zeit zwischen einer ihm zunächst zugemessenen Bedeutsamkeit einerseits und einer auf nichts Früheres und auf nichts Späteres reduzierbaren Ereignishaftigkeit seiner Bedeutung andererseits, zu der auch die „spektakulären" Momente seiner unmittelbaren oder medial verstärkten Effekte gehören. Auf unbestimmte Zeit wird man demnach nicht definitiv wissen können, in welchem Ausmaß sich die dem Ereignis jetzt zugeschriebene Bedeutung nur gewissen - möglicherweise täuschenden medialen Effekten verdankt, die unter Umständen bald verblassen werden, und inwieweit wir jetzt in der Lage sind, bereits eine Bedeutung zu erfassen, die ihm, wenn sie sich „bewährt" hat, auf Dauer zukommen wird.73 Nur unter diesem Vorbehalt einer Geschichte des Ereignisses in statu nascendi kann man gegenwärtig eine Deutung des „einschneidenden", zäsurierenden Charakters des Ereignisses riskieren, das sich bereits in der kurzen Zeit, die inzwischen verstrichen ist, in einem schillernden, symbolisch überdeterminierten Facettenreichtum zeigt. Überwog zunächst das weithin, in der ganzen Welt sichtbare Fanal der rauchenden und schließlich zusammenbrechenden New Yorker Türme, so ist nun die gänzlich „unspektakuläre", in der ganzen Welt unsichtbare, dezentrale Wirkung der biologischen Terrorisierbarkeit in den Vordergrund getreten. (Wobei die Frage, wer letztlich fur den aktuellen biologischen Terror verantwortlich ist, eine bemerkenswert nebensächliche Rolle 72 73
Vgl. R. J. Lifton, E. Marcusen, Die Psychologie des Völkermords, Stuttgart 1992. Bruce Hoffman spricht von einer „Symbiose" der Medien mit dem Terror, der, um überhaupt „wahrgenommen" zu werden, zu immer spektakuläreren Mitteln greifen muss, ohne freilich sicher sein zu können, die Sache, um die es ihm geht, auf diese Weise weit-weit zur Geltung bringen zu können. Im Gegenteil: je „spektakulärer" die verübte Gewalt, desto fragwürdiger erscheint das ohnehin fragliche Recht der Täter, zu ihr zu greifen, desto größer aber auch der „Unterhaltungswert", der mit weitgehender Indifferenz gegen die terroristische „Sache" einher geht. So provoziert immer extremere Gewalt zwar immer mehr Aufmerksamkeit für ihre „spektakulären" Erscheinungsformen, ohne aber ihren „Sinn" besser vermitteln zu können. Auf diese Weise treibt sich der Terror gerade angesichts seiner medialen Effekte zu weiterer Steigerung; vgl. B. Hoffman, Terrorismus. Der unerklärte Krieg, Frankfurt/M. 2001, S. 100, 195, 188, 273.
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spielt. Auch im eigenen Land gibt es offenbar ungezählte Kandidaten, die als radikale Feinde des Systems ernsthaft in Frage kommen.) Die Wirkung dieses Terrors bekommt nun niemand mehr zu sehen·, sie hat sich gleichsam subkutan ganz und gar im denkenden Sein aller festgesetzt, auch im Sein derer, die sich selbst noch im Zeichen der atomaren Bedrohung der Illusion eines konkreten, räumlichen Schutzes vor feindlicher Bedrohung hingegeben haben. Die letzte räumliche Grenze hat dieser Terror nun freilich aufgehoben und damit den Sinn eines Rückzugs in ein geschütztes Inneres, das vor tödlicher Feindschaft sicher wäre, dem Anschein nach ein für alle Mal liquidiert. So lädt sich das Geschehene mit ersten, provisorischen Bedeutungen auf, deren nachträgliche Bewahrheitung unbestimmte Zeit auf sich warten lassen wird. Es bedarf einer langwierigen und schmerzhaften Realisierung dessen, was sich mit den Ereignissen des 11. September eigentlich zugetragen hat und worin seine geschichtliche Bedeutung liegt. Es mag sein, dass man sich aufgrund der geostrategischen Lage und mit ihr einher gehender isolationistischer Tendenzen in den USA allzu lange gewissen Illusionen über die eigene Unverwundbarkeit hingegeben hat, die sich nun nicht mehr aufrecht erhalten lassen. Doch kann das kein Anlass für besserwisserische Belehrungen sein, die etwa unterstellen, auf unserem Kontinent habe man sich längst von der gefährlichen Illusion eines vor radikaler Feindschaft geschützten Raums verabschiedet und es sei nun Zeit, diesen Schritt endlich auch jenseits des Atlantiks nachzuholen. Ob „Europa" so aus seiner von radikalen Verfeindungen Versehrten Geschichte gelernt hat, erscheint zweifelhaft. Haben sich nicht auf europäischem Boden bald wieder Illusionen kollektiver Sicherheit über Spalten tiefster und exzessivster Verwundungen gelegt, die nunmehr einer angeblich erledigten, nur noch „historisch" zu vergegenwärtigenden Vergangenheit angehören, von der keinerlei „negative Lebendigkeit" mehr ausgehen soll? Selbst das Geschichtszeichen, für das der Name Auschwitz steht, hat man zum bloß historischen Datum zu reduzieren versucht, um ihm jede fortwirkende Kraft zu entziehen. Weit entfernt, von sich aus „unvergesslich" zu bleiben, scheint es infolge dessen widerstandslos einzurücken in die indifferente Masse dessen, was tot genug ist, um nur noch historisch zu interessieren. Wenn uns das etwas zu denken gibt, so ist es nicht der Befund, dass ein Geschichtszeichen „sich" von sich aus „nicht vergisst", wie Kant von der Französischen Revolution sagte, sondern, im Gegenteil, dass kein noch so „einschneidendes" Ereignis davor geschützt ist, mitsamt seiner „weltgeschichtlichen" Bedeutung später doch einer weitgehenden Vergleichgültigung und insofern selbst dem Vergessen zu verfallen. Jedes Geschichtszeichen muss uns so gesehen heute daran erinnern, dass noch das angeblich unvergesslichste Ereignis darauf angewiesen war, nachträglich in seiner Bedeutung „realisiert" zu werden und dass der fortgesetzte Aufschub der Realisierung seiner Bedeutung auch die Gefahr des Vergessens verstärkte. Werden wir bald neuen Terror nötig haben, um das Zeichen nicht zu vergessen, das uns diesmal zu denken geben sollte? Oder wird es diesmal anders sein? Liegt nicht wenigstens in den immerzu wiederholten Bildern die Chance eines dauerhaften Erinnertwerdens an die möglichen Lehren aus der unbegrenzten Bedrohung, die sie vor Augen führen? Oder nutzt sich mit jeder Wiederholung auch die Kraft der Erinnerung ab? Trägt also das fortgesetzte Erinnertwerden gerade zum Vergessen bei? Oder hat die visuell übermittelte Bedeutung dieses Ereignisses diesmal die einzigartige Chance, nicht derart rasch zu „verjähren", wie es bislang mit so vielen „Zäsuren" geschehen ist, die man für alle Zeiten in Erinnerung zu halten versprach? Aber worin
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liegt diese zunächst so außerordentlich spektakulär sich aufdrängende Bedeutung? Immer wieder werden wir auf diese offene Frage zurückgeworfen. Man sei auf dem besten Wege, sich in der Normalität wieder einzurichten, war bald aus New York zu hören, während gleichzeitig verkündet wurde, nichts werde mehr wie vorher sein. Das eine mag ebenso zutreffen wie das andere - und doch ist vorläufig nicht zu sagen, wie beides zusammenpassen soll. Daran zeigt sich eine nahezu vollständige Verwirrung in der Frage, welches Zeichen das Ereignis des 11. September eigentlich gesetzt hat. Ungeachtet der ihm zugesprochenen „Signalwirkung" hat man das „normale" Leben wieder aufgenommen. Und die Diagnose, der Terror habe irreversibel die Welt verändert, wird von der Erinnerung daran eingeholt, wie oft schon zuvor verkündet worden ist, „nichts mehr" werde „wie vorher" sein. Insofern ginge die Geschichte, die immer wieder durch den Einbruch außerordentlicher Ereignisse unterbrochen zu werden schien, auch jetzt nur ihren normalen Gang. Dazu würde passen, dass man den Terror als erste Kriegserklärung des neuen Jahrtausends in gewohnten Kategorien der Feindschaft beschrieben hat - ungeachtet des Verdachts, er bedeute gerade das endgültige Ende jeglicher Sicherheit, die mit militärischen Mitteln zu garantieren wäre. Eine neuartige, völkerrechtlich kaum mehr in Begriffen des Krieges fassbare Feindschaft hat sich angekündigt, die alle Demarkationslinien unterläuft, mit denen man zu leben gewohnt war. Dieser anonyme Feind verspricht wie gesagt, für alle Zukunft von Innen zu kommen, um die fragwürdige Normalität politischer Systeme zu zerstören, deren Existenz man bereits fur pazifiziert und nach außen gesichert gehalten hat. Verspricht nun eine radikale Feindschaft, aus ihrem Innern wiederzukehren, so werden diese Systeme ohnmächtig in den Naturzustand, d. h. in einen latenten Kriegszustand zurückversetzt, der jeden Anderen verdächtig macht. Der geordneten Normalität vergesellschafteter Systeme, die einst den Naturzustand aufzuheben versprachen, wird so die unaufhebbare Radikalität außer-ordentlicher Feindschaft eingepflanzt, die nicht mehr bloß einer politischen Ordnung (als „Provokation der Macht") sondern politischer Existenz an sich gilt.74 Bestürzt realisiert man in Systemen, die doch alles schienen integrieren zu können, dass auch sie in Beziehung zu einem radikalen Außen stehen, das sich nicht „aufheben" lässt. In Gestalt der überaus angepassten Terroristen war es Teil unserer Normalität, um nun als absolut unversöhnliche Feindschaft jeden Gedanken an eine verbleibende Gemeinsamkeit, an ein Verbindendes zu zerstören. Das Leben der Terroristen hat den Beweis erbracht: Sie konnten jahrelang mitten unter uns wohnen und wurden doch durch nichts davon abgehalten, diese (unsere) Welt in einem einzigartigen Akt radikal zu verwerfen, in einem Akt, der das Außen im Innern ausbrechen ließ und den Systemen keinerlei Möglichkeit bot, die radikale Negation zu erkennen, die sich in ihnen eingenistet hatte, ohne sich im Geringsten korrumpieren zu lassen von einer Welt des Besitzes, des Lebens, der Macht. Gegen eine Feindschaft, die alles, was entsprechend „Wert" zu haben scheint, radikal verwirft, hilft keine militärische Gewalt (die einen sichtbaren Gegner voraussetzt) und keine geheimdienstliche Verfolgung des Feindes über alle Grenzen hinweg. Denn a tergo ist er schon da, ohne sich zu erkennen zu geben, bevor er zerstört. Die uneingestandene Hilflosigkeit vor einem solchen Nicht-Integrierbaren treibt die Politik in eine pseudo-theologische Rhetorik, die das Böse dieser Feindschaft endgültig zu liquidieren verspricht. So hat es den Anschein, als begänne die Geschichte von vorn, die einige Regierungsberater in einer vom vermeintlich 74
Vgl. P. Waldmann, Terrorismus. Provokation der Macht, München 1998.
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endgültigen Erfolg des amerikanischen Modells saturierten Welt schon zum Stillstand gekommen sahen. Es ist, als fände man nun die archaischsten Skripte bestätigt, die nur eine, sich ewig wiederholende Geschichte kennen: die des Kampfes des Guten gegen das Böse, das unaufhörlich
„endgültig" besiegt werden muss - um den Preis seiner völligen Ent-
menschlichung. Einige Zeitdiagnostiker scheinen die Erinnerung an die Unumgänglichkeit dieses Kampfes, der den Westen aus seiner „Lethargie", aus der Monotonie seines „Realitätsprinzips" zu reißen und die Staaten an den politischen Sinn ihrer Existenz zu erinnern verspricht, geradezu dem Terror danken zu wollen. So schlägt man Kapital aus ihm und findet sich im regelmäßig von C . Schmitt geborgten Wissen um diesen Sinn - ungeachtet der radikalen Negation, die der Terror bedeutet - nur bestätigt. Insofern hat diese unerhörte Gewalt keineswegs neu zu denken gegeben, sondern nur zur erneuten (aber keineswegs neuartigen) Besinnung darauf angehalten, wer wir - nach wie vor - vor dem Hintergrund unserer okzidentalen Identität (nicht) sein wollen. Lässt es sich überhaupt vermeiden, in diese geistige Sackgasse der eigenen, erklärtermaßen nur dem Guten und einer universalen Vernunft verpflichteten Identität zu laufen, die den Terror und seine Hintergründe, deren Spuren zu uns selbst zurückführen könnten, zu verstehen sich weigert und ihm nur mit massiver Gegen-Gewalt zu begegnen verspricht? Besteht überhaupt eine Chance, sich der Verstrickung in ein manichäisches, uraltes Drama erfolgreich zu widersetzen, zu dem die Gewalt verfuhrt? A u f der Suche nach einer Antwort mögen die Bilder helfen, die dem unmittelbar nicht Betroffenen aus der Distanz heraus überhaupt erst die Gelegenheit geben, der Gewalt nach und nach eine andere Bedeutung abzugewinnen. Die Fackel, die wieder und wieder vor unser A u g e tritt, wird noch lange in unseren Seelen schwelen. Die Bilder zeigten das schreckliche Geschehen in einer eigenartigen Stille. Mancher, der seinen gebannten Blick fur Momente abzuwenden vermochte, stammelte vielleicht vor sich hin: Aber dort sind doch empfindende
Wesen eingeschlossen. Hunderte. Tau-
sende. Vielleicht Zigtausende. So rücksichtslos wird der Beton, werden die Stahlträger nicht sein, alles ohne Widerrede unter sich zu begraben. Hat j e die Erde den Menschen derart zugesetzt? Ließ sie nicht selbst in ihren fürchterlichsten Konvulsionen Sekunden zur Flucht ins Freie? Das sollte hier offenbar ausgeschlossen sein. Schreckliche Komplizenschaft des Materials, das es den Drahtziehern des Terrors gestattet hat, ihren Erfolg unverhofft lange auszukosten: Die N e w Yorker Türme fungierten als ein geschlossener Fahrstuhl ins Nichts. Wie wenn es ein perfektes Drehbuch so vorgesehen hätte, blieb den Opfern - darunter wahllos Kinder, Muslime, Frauen, Broker, Schwarze, Weiße - genügend Zeit, zu gewärtigen, dass diesmal das ganze Gebäude sie nach unten befördern würde. Unten öffnete es lange genug denen seine Türen, die nicht sahen, wie sich das Äußerste anzubahnen begann, um möglichst viele unter sich zu begraben. So ausgeklügelt wird der Plan freilich nicht gewesen sein, dass man sich ein noch länger rauchendes Fanal hätten ausrechnen können. Details wie die Frage, wie genau die Gluthitze des explodierenden Kerosins, die Widerstandsfähigkeit des Steins und des Stahlskeletts der Tower zuvor berechnet worden war, um die furchtbare Wirkung zu kalkulieren, brauchen uns heute aber nicht zu interessieren. Gewiss hat die eingetretene Wirkung (zumindest im Fall des World Trade Center) alle terroristischen Erwartungen übertroffen und sie nicht etwa enttäuscht. Wir müssen also davon ausgehen, dass zur gleichen Zeit, w o der Terror sich in unsere Seelen fraß, andere im Verborgenen den Triumph ihres Lebens feierten.
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Nach dem ersten Hochgefühl wird sich allerdings Ernüchterung auf Seiten der Hintermänner eingestellt haben. Man hat Grund zu detaillierter Manöverkritik: Wie konnte die Maschine in Pittsburgh ihr Ziel verfehlen und abschmieren? Wie konnten die restlichen Teppichmesser entdeckt werden? Hätte man nicht später am Vormittag effektivere Ergebnisse erzielt? Usw. Ein noch größerer Triumph erscheint zumindest im nachhinein als denkbar. Ungeachtet aller weltweit anerkannten operativen, logistischen und technischen „Perfektion" lässt sich handwerklich vermutlich noch einiges verbessern. Ein erstes Ziel - das Ziel der symbolischen Demütigung einer unumschränkt sich gebenden Macht nämlich mag erreicht sein, doch muss man fürchten, dass die Avantgarde des Terrors Selbstkritik üben wird, um beim nächsten Mal effizienter vorgehen zu können. Immerhin hat man ihr vielerorts mit Begeisterung bestätigt, auf dem richtigen Weg zu sein. Auf der Welt gibt es offenbar öffentliche Plätze, wo sich die terroristischen Erfolge von Mitläufern in aller Unbeschwertheit feiern lassen, die nicht fürchten müssen, dafür belangt zu werden. Diese vermutlich vielfach auf der Welt empfundene Befriedigung angesichts jener Bilder, die beliebige Menschen, also im Grunde uns alle, in ihrer absoluten Schutz- und Wehrlosigkeit vor Augen führten, wird fortan zu uns gehören. Offenbar ist diese Befriedigung „menschlich". Sie lässt sich nicht einfach als bloß propagandistisch fehlgeleitet abtun. Sie gehört zu dem üblen Spiel, an dem wir teilzunehmen gezwungen sind, ob wir es wollen oder nicht. Man nennt es „menschliches Zusammenleben". Wer jetzt noch sagt, ihm sei „nichts Menschliches fremd", wird sich dazu bekennen müssen, zu dieser Befriedigung wenigstens einen Moment lang Zugang gehabt zu haben. Wer das leugnet und sich insofern ein „gutes Gewissen" bescheinigt, muss wissen, dass es da offenbar Andere gibt, mit denen er denselben Planeten bewohnt; Andere, die mit ihrer Fackel die Seele aller verkohlt haben. Wer nun sich nun aber angesichts dieser „unmenschlichen Tat" dem ebenso „menschlichen" Hass auf die Täter ergibt, hat schon verloren und engagiert sich in einer tödlichen Feindschaft, die wie in alten Zeiten das „Böse" radikal zu vernichten verspricht. Während der Terror die exzessive Gewalt bejaht, dürfen wir uns nicht einmal gegen ihre Propheten der gleichen Gewalt bedienen, wenn wir ihnen nicht am Ende gleichen wollen - ihnen, denen wir zugleich doch nicht absprechen dürfen, „vom gleichen Schlag" zu sein wie wir selber, obgleich „uns" eine Befriedigung angesichts des Terrors jenseits des Menschlichen zu liegen scheint. Welche Bedeutung man dem Anschlag im Lichte seiner noch ausstehenden Folgen auch immer in Zukunft beimessen wird, im Augenblick scheint in dieser Herausforderung das Zeichen zu liegen, das er uns gibt. So gesehen sollte man sich nicht von allzu vordergründiger Symbolik im Horizont der Freiheitsstatue irreführen lassen. Gewiss hat der Anschlag abgesehen von effektiven ökonomischen und militärischen Funktionszentren auch Symbole getroffen - überdeterminierte Symbole des kapitalistischen Erfolgs, der Prosperität, der Spekulation, der imperialen Macht und der nationalen Arroganz. So sehr er aber auch auf der Höhe der Gegenwart symbolisch getroffen haben mag, er bringt doch auch einen radikalen Ana-Chronismus, d. h. die Zeit einer anderen Geschichte ins Spiel, indem er jene Symbole nur als zerbrechliche Auskristallisierungen einer verderbten Kultur der Freiheit gelten lässt, der er als ganzer eine radikale Todfeindschaft erklärt, um so aus der politischen Geschichte dieser Freiheit auszuscheren. Der Westen, der sich gerne an der Spitze des geschichtlichen Fortschritts hin zur Beherrschung der Gewalt sah, hat nun seine symbolische Liquidierung in einer ganz anderen Ge-
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schichte vor Augen. Auf der Höhe einer gealterten Moderae, deren Spielregeln er perfekt beherrscht, eröffnet dieser Terror ein anderes Spiel, in dem wir vorerst nicht mehr wissen, was und wer die Menschen im Verhältnis zueinander sind. Damit zeigt auch der Terror selbst eine neue Qualität, die sich nicht mehr ohne weiteres in die politische Geschichte dieses Phänomens einfügen lässt. Zunächst galt das politische Attentat nur einzelnen, vor allem despotischen Machthabern. Wenn die Gefahr einer unbeabsichtigten Tötung Unschuldiger absehbar war, konnte dies sogar die Tat verhindern, so sehr erschien manchen eine Tötung „Unschuldiger" als unentschuldbar. Später hat sich der Terrorismus mehr und mehr über dergleichen Skrupel hinweggesetzt, um mittels massiver Gewalt Dritte, seine eigentlichen Adressaten, in Angst und Schrecken zu versetzen. So wurde die Zerstörung des Lebens Anderer zum Mittel für einen politischen Zweck. Der Terrorist liquidierte Andere auch als politische Wesen, um seiner Sache politisch Geltung zu verschaffen. Die Zerstörung jedes politischen Verhältnisses zu dem Opfern fungierte als Mittel der politischen Wiederherstellung im Sinne der terroristischen „Sache", deren Wahrnehmung und Anerkennung durch Dritte gewaltsam erreicht werden sollte.75 Mit seiner „Sache" glaubte der Terrorist sich absolut im Recht und zielte auf eine Etablierung der Legitimität seines Anliegens in den Augen Anderer. Insofern blieb er ungeachtet aller Zerstörungen, die er anrichtete und die ihn in den Augen seiner Opfer nur noch als „böse" (d.h. als vernichtenswert) erscheinen ließ, in seinem Verständnis ein politischer Gewalttäter, sofern er nicht seinerseits alle Feinde im Zuge einer „Endlösung" zu vernichten gedachte. Tatsächlich hat sich freilich auch die politische Rhetorik oft genug der eschatologischen Sprache finaler Lösungen bedient und so das Feld des Politischen verlassen, in dem man die (physische, personale, ethnische, kulturelle und geschichtliche) Existenz Anderer schlechterdings nicht in Abrede stellen oder gar liquidieren kann, will man überhaupt an einem politischen Verhältnis und seiner Gestaltbarkeit festhalten.76 Wer kämpft, nicht um von seinem Feind anerkannt zu werden, sondern um ihn endgültig „aus dem Weg zu räumen", wie der frühere Chef der Hizbollah im Libanon sagte, der will kein politisches Verhältnis mehr zum Feind, sondern das an ihm vollstreckte Ende des Politischen.77 Wenn nun im weit-weiten Maßstab eine operativ außerordentlich intelligent organisierte Feindschaft mit manichäischen Akzenten auftritt, die keinerlei politische Forderungen stellt, sondern symbolisch eine ganze feindliche Welt der Vernichtung preisgibt, so liegt darin tatsächlich eine ultimative Herausforderung. 75
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Vgl. B. Waldmann, Terrorismus, und die Aufsätze von M. Funke, Laqueur und D. Fromkin in: M. Funke (Hg.), Terrorismus. Untersuchungen zur Struktur und Strategie revolutionärer Gewaltpolitik, Düsseldorf 1977. Vgl. B. Hoffman, Terrorismus, S. 28 zu H. Göring, sowie D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M. 1984, S. 342f. - Der historisch gut belegbare Begriff der „Vernichtungspolitik" offenbart tatsächlich einen inneren Widersinn: Zu dem, was man vernichten will, kann man nicht mehr in einem politischen Verhältnis stehen. Letzteres setzt eine radikale Absage an den Gedanken der Vernichtung voraus. Bemerkenswert ist, dass sich Sternberger nur einen unaufhebbaren Widerstreit zwischen einer eschatologischen, die Vernichtung Anderer vorsehenden „Politik" einerseits und einer auf Vereinbarung beruhenden sowie auf Befriedung unvermeidlichen Streits abzielenden (aristotelischen) Politik andererseits vorstellen kann. An anderer Stelle ist auch von einem unvermeidlichen Krieg die Rede, der sich im Verhältnis zu einer vernichtenden Politik kaum mehr als ein politischer deuten ließe. „Was die Theorie anlangt, sind wir dazu verurteilt, im Widerstreit des Unvereinbaren fortzudenken und fortzuexistieren." (S. 444f., 384f.). Zit. bei B. Hoffman, Terrorismus, S. 125.
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Denn wie soll nun diese, zutiefst dem Gedanken politischer Freiheit verpflichtete Welt darauf antworten, ohne sich ihrerseits in ein eschatologisches Drama gegenseitig angedrohter „Endlösungen" zu verstricken? Wie kann sie mit anderen Worten noch ein politisches (und rechtliches) Verhältnis im Widerstreit mit Feinden behaupten, die das Feld des Politischen ihrerseits längst verlassen zu haben scheinen und sich weigern, zu Bedingungen einer politisch zu regelnden Koexistenz dieselbe Welt mit ihren Feinden zu bewohnen? Haben die Ereignisse des 11. September so gesehen das Zeichen des Austritts aus der politischen Geschichte gesetzt? Was so als Mutation der Geschichte erscheinen kann, fugt sich auf überraschende Weise in das Bild eines virtuellen, dramatischen Spiels, von dem man sich gerade dort faszinieren ließ, wo jeder Exzess kollektiver Feindschaft wirksam unterbunden worden zu sein schien. Die Kulturindustrie hat diese Faszination mit großem ökonomischem Erfolg bedient und sich zu keiner Zeit der Illusion hingegeben, die Menschen hätten jemals wirklich aufgehört, das gänzlich apolitische Spiel der Vernichtung eines feindlichen Fremden zu spielen, mit dem sich ungeachtet aller phänomenalen Ähnlichkeit keine menschliche Gemeinsamkeit denken lässt. Insofern bestätigt das Zeichen der Fackel die archaischen Szenarien, die die Programmierer den Verbrauchern in einer Welt der vermeintlichen Sekurität zu pseudodramatischem Zeitvertreib glauben offerieren zu sollen. Wenn es in dieser Welt wirklich kein Mensch auf Dauer auszuhalten vermag, dann haben uns diese Leute am Ende nur einen außerordentlichen kultur-pädagogischen Dienst erwiesen. Vielleicht lagen sie intuitiv richtig mit ihrer Vermutung, unserer Seele sei unauslöschlich das Skript jenes uralten, präpolitischen Dramas eingeschrieben und sie ziehe die virtuelle, sich stets an der Schwelle zur gewaltsamen Tat niederlassende Gewalt allemal einem undramatischen, rechtlich eingehegten Leben in relativer Sicherheit vor. Wer sich einmal die entsprechenden „Kulturgüter" anschaut, wird sich des Eindrucks kaum erwehren können, hier werde nach wie vor das uralte manichäische Spiel der Vernichtung des Fremden als des Bösen gespielt. Mit dem Unterschied freilich, dass es heute erst wirklich zu genießen ist, weil man glauben kann, „ nicht wirklich " selber mit im Spiel zu sein. Werden hier nur in der Geschichte der Seele tief verwurzelte Erwartungen bedient, die besagen, worum es auf der Erde im Grunde geht? Oder dienen die wilden psychologischen Vermutungen der Produzenten nur der Bemäntelung ihres pekuniären Kalküls? Lässt das alltägliche Leben von manichäischen Dramen nichts mehr ahnen, so fingiert man sich womöglich Feinde, die die unauslöschliche, archaische Erwartung einer abgrundtiefen Feindschaft bestätigen, durch die das Leben sich erst radikal aufs Spiel gesetzt erfährt. Überlassen wir es den Psychologen, zu beurteilen, ob dabei tiefe Angst vor einem realen oder irrealen Bösen, Lust an der Vorstellung seiner souveränen Macht oder eine Angstlust, in der sich beides mischt, die ausschlaggebende Rolle spielt. Intuitiv haben wahrscheinlich aber die Filmemacher sofort begriffen, worauf es ankommt. Sie haben alle diese Deutungsmöglichkeiten praktisch ausgelotet, dabei nur eines übersehen, was manche von ihnen nun zögernd eingestehen. Vorläufig beschämt gestehen einige Vertreter der Software- und Filmindustrie ein: Was wir am 11. September miterleben mussten, das hatten wir zwar zum Zweck des Zeitvertreibs längst antizipiert, aber doch nicht als real Mögliches in Betracht gezogen. „So ernst" will man es nicht gemeint haben. Und mit Recht weist man darauf hin, dass es der Terror gewiss nicht nötig gehabt hat, sich seine Vorbilder etwa im Kino zu besorgen (wenn er überhaupt
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welche gebraucht hat und nicht selber die Bilder der kommenden Zerstörungen auszumalen imstande war). Und doch bleiben an der inszenierten Gewalt nun die New Yorker Bilder haften. So wie die virtuellen Bilder die reale Gewalt antizipiert haben, so kontaminiert diese nun nachträglich die virtuelle Realität, die als ihr Vor-Bild in allen Bedeutungen des Wortes erscheinen kann. Ausgerechnet die Manipulateure der virtuellen Realität, die uns umwillen der erhofften kommerziellen Effekte doch als wirklich bedrohliche unter die Haut gehen sollte, berufen sich nun auf eine angeblich immer respektierte Grenze zur realen Gewalt. Nur unter dieser Prämisse will man auch den virtuell zu genießenden Terror zum käuflichen Erwerb feilgeboten haben. Da scheint es kaum noch glaubhaft, „nach New York" uneingeschränkte Bestürzung zu bekennen. Hat sich am Bildschirm, vor der Leinwand etwa nicht Kantische Erhabenheit angesichts von Gefahren befriedigt, die uns bis auf die Knochen entblößen müssten, wenn wir ihnen wirklich ausgesetzt wären? Was Kant als Schiffbruch in einem abgründigen Element beschrieben hat, der von der rettenden Küste aus zu beobachten und selbst angesichts von Ertrinkenden in subjektiver Erhabenheit zu genießen ist, ist uns heute eine virtuelle Gewalt, die als Böses zu faszinieren vermag, weil sich die Grenze zwischen „virtueller" und „realer" Realität nie eindeutig und lückenlos ziehen lässt. Genau darauf müssen wir nun auch angesichts der Bilder aus New York, Washington und Pittsburgh bauen: die Wirklichkeit der Gewalt lässt sich nur mittels der Bilder nach und nach realisieren. Mit dem Zusammenbruch der Türme ist die Welt der unbetroffenen Beobachter, der virtuellen Drahtseiltänzer mit ihren mehr als sieben Leben symbolisch mit zur „Hölle" gefahren. Sie alle, die Gewalt nur aus Bildern zu kennen scheinen, waren symbolisch gleichsam mit gemeint. Mühsam, vom äußersten Verbrechen her, müssen wir uns wieder daran erinnern, dass man auch als virtueller Spieler im Spiel bleibt und sich angesichts des Elements der Gewalt nicht an ein rettendes Ufer begeben kann, um von dort aus das Schicksal der Anderen zu beobachten. Paradoxerweise sind es unermüdlich wiederholte Bilder, die uns daran erinnern, dass nicht alles Bild, nicht alles virtuelles Spiel sein kann. Ungläubig hat man es mit angesehen - wie schon so vieles. Die vielen Bilder haben zu perzeptivem Unglauben an das, was sie darzustellen scheinen, erzogen. So kann allein schon die Tatsache beruhigen, dass etwas als Bild sichtbar wird. So schlimm kann es nicht sein, wenn es sich „nur" um ein Bild handelt. Es scheint, als hätten sich die visuellen Medien gegen den Ernst der Wirklichkeit verschworen, die sie zeigen. Und fehlt den meisten nicht auch von New York die eigene Anschauung? Haben wir nicht auch hier „nur" Bilder? Angesichts ihrer durchschlagenden Wirkung muss man zu einem anderen Befund kommen. Gerade im Anblick der reinen Zerstörung lag eine das Visuelle transzendierende Kraft - die Kraft einer Aussage über die Verwundbarkeit der Welt aller - ob sie sich nun „im Bild", gefährdet vor Ort oder weit abseits des Geschehens befanden. Man kann nicht nur Dinge mit Worten tun, man kann, wie es scheint, auch Aussagen sich ereignen lassen. 78 78
Gewiss ist das ein Grenzfall, ein Extrem, in dem die Gewalt der Sprachlosigkeit nahe kommt. Schon oft hat man Uber die Urheber terroristischer Gewalt rätseln müssen, weil sie von sich aus nicht ihren „Sinn" zu erkennen gab. Zweifel an der angestrebten symbolischen Eindeutigkeit der Gewalt hat auch diesmal Erläuterungen von verantwortlicher Seite provoziert. Und so wurden Absichten des Terrors telegen in prophetischer Manier über die ganze Welt verbreitet: Man werde uns zeigen, dass man sich nirgends mehr vor den Feinden, die man sich gemacht hat, sicher fühlen dürfe. Man werde uns unsere rückhaltlose Verwundbarkeit vor Augen fuhren; und niemand, keine Frau und kein Kind, könne sich von ihr ausnehmen. Die Gewalt werde den Beweis einer unbegrenzten Verwundbarkeit erbringen - ohne jede
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Allein mittels der Imagination freilich wird die Frage zu beantworten sein, die die Bilder auf der Suche nach ihrem Sinn aufwerfen: ob man sich daran erinnert, was sie vom bloßen Bild unterscheidet. Mühsam müsste sich die Arbeit der Imagination von der puren Zahl der Getöteten zu den unzähligen, restlos liquidierten einzelnen vorantasten, um ermessen zu können, was ihr Verlust, dieser Einschnitt in den Leib unserer Geschichte, bedeutet. Doch es ist völlig vergeblich, etwa aus der Summe der zerstörten Leben bestimmen zu wollen, was dieses Ereignis, diese Zäsur, fur unsere Zeit bedeutet und worin seine „Aussage" liegt. Dem Schicksal der einzelnen auf der Spur, zerstreut sich die Vorstellungskraft. Bündeln können wird sie das unfassliche Geschehen nur in der dürren Erkenntnis des gemeinsamen Schicksals: Sie alle, die nun im ground zero weniger begraben liegen als vielmehr mit dem Betonstaub zerstreut sind, mussten unterschiedslos „zur Hölle fahren". Auch die gläubigen Moslems, die sich gewiss unter den Opfern befunden haben, hat ihr Glaube nicht gerettet; auch sie sind dem Exzess einer unterschiedslosen Gewalt, reiner Zerstörung aus der Hand von Menschen zum Opfer gefallen, die ihre Menschlichkeit widerriefen, indem sie in der Manifestation ihres Hasses nur noch sich selbst feierten. Für immer, so scheint es, sind die schrecklichsten, bislang immer in eine utopische Gegenwelt ausgreifenden Träume von diesem Ort der Verdammnis überboten von der Wirklichkeit, die uns noch heute fragen lässt, ob wir unseren Augen trauen können. Dieser Ort ist so wenig wie das Utopia anderswo. Er ist unseren Augen zugänglich, in eben der Welt, die nur durch uns existiert und auf die wir fahrlässig zu vertrauen gelernt haben. Nicht die Kosmologie unserer Zeit, die sich dem unverbesserlich geozentrischen menschlichen Leib ohnehin nicht recht verständlich machen lässt, erschüttert nachhaltig das Welt-Vertrauen. Verstört und vielleicht zerstört wird es nicht von Asteroiden, die aus unendlicher Ferne heranrasen mögen, und nicht vom freien Fall der Erde durch schwarzes Nichts, als vielmehr von Nächsten, von denen, die hartnäckig an exzessiver Gewalt als Instrument eines Handelns festhalten, das ihre Feinde keines menschlichen und politischen Verhältnisses mehr würdig findet. Jeder soll im Zeichen des New Yorker Fanals wissen, dass es in unserer „bisherigen", ganz der Sicherheit vor Bedrohungen aller Art verpflichteten und dabei jede unhintergehbare Verwundbarkeit verleugnenden Welt endgültig keinen Schutz vor einer terroristischen Entschlossenheit mehr gibt, die sich durch nichts von ihrem Ziel abbringen lässt. So sprengt sie zugleich die brüchige Sicherheit unter dem vermeintlichen Schutz internationaler Verträge, durch die sich selbst west-östliche Todfeinde dem Anschein nach noch gebunden fühlten. Die Terroristen des 11. September haben ja keine Forderungen gestellt, die man erfüllen oder über die man verhandeln könnte. Selbst ein „Entgegenkommen" in äußerster Selbstverleugnung verspräche nicht, ihrer Gewalt zu begegnen. Darin liegt eine Ankündigung für alle Zukunft.
„Rücksicht" und ohne jeden „Unterschied". Verkündet wird so eine neue Epoche exzessiver Rücksichtslosigkeit, die unterschiedslos jeden treffen wird, der sich die Gewalt zuzieht. Bereits bevor der Beweis dafür angetreten wird, hat die Ankündigung neuen Terrors dieses Ziel erreicht: Schon jetzt malt man sich vielerorts die voraussehbare Verwundbarkeit aus, auf deren Registern er zu spielen verspricht. Man sieht ganze Städte und Länder infolge biologischer Verseuchung in Agonie versinken. So realisiert die kollektive Phantasie das künftig Mögliche als „wirklich Mögliches" und lässt sich nicht als bloße Hysterie abtun, denn sie nimmt die terroristische Verheißung ernst, indem sie sich wieder und wieder die „unglaublichen" Bilder vor Augen führt, in denen sie bereits wahr geworden ist.
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Der Terror ist längst intelligent geworden. Auch er hat seine „Entwicklung", seine „Rationalisierung" durchlaufen und zeigt nun selbstbewusst sein Können. Es handelt sich nicht mehr um die Tat von Verzweifelten, die mit vergleichsweise primitiven Waffen ins Fleisch der Macht vorstoßen, um ihr auf tödliche Weise Besseres abzunötigen. Der neue Terror bedient sich auf kühl berechnende Weise aller technischen Mittel, die zum Gebrauch füreinander ersonnen worden sind, um Menschen zu zerstören. Man begreift, dass sich dieses Prinzip in Verbindung mit einer offenbar weltweit erklärten Todfeindschaft auf alle technischen Errungenschaften wird anwenden lassen. Hektisch begibt sich die (politisch raffiniert manipulierte) Vorstellungskraft überall auf der Welt auf die Suche nach Quellen unserer Verwundbarkeit, die einer terroristischen Phantasie als vielversprechend erscheinen könnten. Und man wird Überfall fundig. Was kommt nicht alles in Frage! Angefangen bei Atomkraftwerden, auf die sich neue sleeper stürzen könnten, die unerkannt unter ihren Feinden leben; über ruinöse Manipulationen von Datenmassen bis hin zu weit effektiveren Fluggeräten als jenen kleinen Sprühflugzeugen, die man ebenfalls bereits in Betracht gezogen hat. Man muss nicht allzu viel Fantasie aufwenden, um sich auszumalen, in welcher Agonie New York bei einem biologischen Angriff versunken wäre, gegen den kein „Held" etwas hätte ausrichten können. (Man braucht sich nur an die Planspiele der eigenen Militärs zu erinnern.) Als Anerkennung der Leistung der Helfer vor Ort mag deren Ausrufung zu Helden ihren guten Grund haben. Doch sollte der erste Überschwang des Dankes nicht täuschen: Der Terror bedeutete auch eine Katastrophe des Heldentums und jeden Rettungsgedankens. Die Feindschaft, die in den rauchenden twin towers für die Zukunft sich ankündigte, kommt von innen und unterläuft jedweden Schutz, den irgend jemand versprechen könnte. Für die Zukunft verspricht vielmehr die Feindschaft rückhaltlose Verwundbarkeit. Das verbindet schon jetzt alle, die unterschiedslos als ihre Opfer in Betracht kommen. Der „Witz" des Terrors ist, dass sich davon niemand ausnehmen kann. Mit jeder bewaffnet garantierbaren Sicherheit, die weitestgehenden Schutz gegen eine Bedrohung versprach, die von außen kommt, die erkennbar und in ihren Wirkungen berechenbar ist, so dass man sich vorbeugend gegen sie schützen kann, ist es aus. Noch das lächerliche star wars-Konzept, SD1 und das letzte Programm einer Raketenabwehr gegen vermeintliche „Schurkenstaaten" basierte auf dieser anachronistischen Vorstellung möglicher räumlicher Integrität. Ungeachtet aller Ortungsprobleme, wie sie etwa mit der modernen U-Boot-Waffe und mit den mehrfache Schallgeschwindigkeit erreichenden Raketen auftraten, hat man hartnäckig bis zuletzt am Gedanken einer lokalisierbaren Bedrohung festgehalten, die letztlich von einer politischen (ebenfalls zu „ortenden") Instanz ausgeht. Der bedrohlichen Diffusität der Wirkungen der Massenvernichtungswaffen glaubte man mit immer besseren Ortungsmethoden begegnen zu können, um zu verhindern, dass die unerhörte Wirkung der Waffen gar nicht erst eintritt. Zuletzt schien das Programm der Raketenabwehr Immunität gegen diese Wirkung zu versprechen. Dieser Traum ist nun - hoffentlich ausgeträumt. Nun lässt sich eine Verwundbarkeit nicht von der Hand weisen, die man überall auf der Welt zu gewärtigen hat. In ihrer Anerkennung liegt eine einzigartige Chance. Gerade der Gedanke des Schutzes, der Sicherheit, gar der Immunität gegen feindliche Bedrohung hat zu immer neuer Rüstung verfuhrt und so zur Verschärfung der Gefahr beigetragen. Denn stets haben die Feinde ihre Absichten gegenseitig antizipiert und erraten. Infolgedessen mussten sie die erratenen Absichten durchkreuzen und damit rechnen, dass auch
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der Feind dies versuchen würde. So wird jeder vorläufig gewährleistete Schutz in Spiralen antizipierter Feindschaft überholt und schließlich außer Kraft gesetzt. Keine noch so exzessive Rüstung kann Unverwundbarkeit versprechen. Im Gegenteil: sie beschwört ihrerseits den Exzess der Verwundung herauf. Nicht zuletzt dieser innere Wider-Sinn im Verhältnis von Rüstung und Schutz, angedrohter und zu erleidender Gewalt hat zur militärischen Paralyse zwischen den ehemaligen „Blöcken" geführt, die man „atomares Patt" zu nennen sich angewöhnt hat. Hat man aber daraus Lehren gezogen? Hält man sich an die programmatische Rhetorik, die die Trauerfeier für die Opfer des Anschlags im New Yorker Yankee-Stadium über weite Strecken inspiriert hat, nachdem die erste verbale Gegen-Gewalt aus dem Munde der amerikanischen Regierungsvertreter verhallt war, so muss man daran zweifeln. Bei dieser Gelegenheit war wieder viel von nationaler Stärke, Entschlossenheit und Sieg über den Feind die Rede - so als ob man es nach wie vor mit einem lokalisierten, sieht- und erkennbaren Gegner zu tun hätte. Man versprach, auch aus dieser Krise werde die amerikanische Nation gestärkt und am Ende bestmöglich geschützt hervorgehen. Schließlich habe man schon „so vieles" gemeinsam (?) durchgestanden. Wenn diese Worte als Trost für die Hinterbliebenen gemeint waren, so wirkten sie verfehlt, wenn nicht gänzlich deplaziert. Manch einer von ihnen wird sich gefragt haben, ob es angeht, derart „willkürlich" Ermordete kollektiv für das künftige nationale Über-Leben in Anspruch zu nehmen. Das hat etwas von Enteignung. Aber vielleicht täuscht sich der beklommene Beobachter an dieser Stelle. Tatsächlich wurde ja enthusiastischer Jubel in der Football-Arena immer dann laut, wenn beschworen wurde, „man" dürfe und werde sich nicht unterkriegen lassen. Ein gewisser Kirchenrat verstieg sich gar zur Rhetorik eines Einpeitschers der J e t z t erst recht" ungebrochenen corporate identity der Nation, in der sich alle Anwesenden aufgehoben fühlen sollten. Mag solche Engführung von Nation und Firmenlogik noch als irritierende Geschmacksfrage abgetan werden, das Versprechen einer die Feindschaft besiegenden Gegen-Gewalt, das in den Nährboden der nationalisierten Trauer gepflanzt wurde, ist es nicht. Ein solches Versprechen kann nicht nur nicht gehalten werden. Es täuscht auch, was schlimmer ist, über die Herausforderung, die sich im New Yorker Desaster wie ein neues Geschichtszeichen angekündigt hat. Diese Herausforderung liegt nicht darin, dass man die verborgenen Urheber des Verbrechens diesmal nur besonders schwer, wenn überhaupt identifizieren, lokalisieren und - nach rechtsstaatlichen Prinzipien - verantwortlich machen kann. Noch weniger liegt sie darin, in Zukunft mehr Sicherheit zu gewährleisten oder für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen, um das Geschehene zu vergelten. Die Rhetorik der Vergeltung, der wiederherzustellenden Sicherheit und des Sieges über diesen Feind läuft bedenklich Gefahr, sich in eine massive Gegen-Gewalt hineinzureden, die, mit eingespieltem militärischem Kalkül vorgetragen, unmöglich einer unsichtbaren, anonymen und sich der Identifikation entziehenden Feindschaft gerecht werden kann. Gewiss: man soll die konkret Verantwortlichen des Attentats ausfindig zu machen suchen; und man soll sie einer Welt-Gerichtsbarkeit zuführen. Aber so wird man nur diesen, dieses Mal verantwortlichen Feind fassen können, nicht die Feindschaft, auf deren Registern er spielt. Zur Radikalität des Feindes, mit dem wir es hier zu tun haben, gehört es, rechtzeitig für das Überleben der Feindschaft vorzusorgen, indem er ihren Geist aussät, bevor er unschädlich gemacht werden kann. Deshalb lassen vermutlich dieselben Leute, die mit dem Terror an der Börse Termingeschäfte gemacht haben, zum „Heiligen
Aus Feindschaft
geboren?
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Krieg" aufrufen. Auf diese Weise hat man schon dafür Vorsorge getroffen, dass die Feindschaft unabhängig von ihren afghanischen logistischen Ressourcen anderswo überleben und neue Blüten treiben kann. Diesen Geist der Feindschaft, den man nur über dem Nährboden einer Tradition der Demütigung der arabischen Nationen durch den sogenannten „Westen" auszusäen braucht, wird man nicht lokalisieren, orten und militärisch liquidieren können. Er droht die Welt auch all derer zu erfassen, die sich mit Recht durch den Terror und durch den ausgerufenen „Heiligen Krieg" in ihrer religiösen Identität als Moslems zutiefst verletzt sehen. Aus dem New Yorker Terroranschlag sollte nicht der Schluss gezogen werden, die amerikanische Nation (oder auch die „ganze zivilisierte Welt", die man, einen ausweglosen Dualismus heraufbeschwörend, gelegentlich mit ihr gleichsetzt) sei hier wie schon öfter in der Geschichte zur Selbstbehauptung herausgefordert. Die kollektive und kulturelle Verletzung, die dieser Anschlag auch bedeutet, muss man nicht in Abrede stellen oder gering veranschlagen, wenn man auf die Gefahr hinweist, die in der Reaktivierung alter Deutungsschemata der Feindschaft liegt. Verspricht man im Sinne dieser Schemata, nicht nur diesen Feind, sondern die Feindschaft selber, die er instrumentalisiert, zu liquidieren, so redet man sich selbst in eine massive Gegen-Gewalt hinein, die ihre Objekte doch nicht zielgenau zu orten und zu treffen vermag. Der Geist der Feindschaft, aus dem dieser Feind seine Stärke bezieht, hat die Welt vergiftet, in der saturierte „Westler" mit so vielen Gedemütigten zusammen leben, deren Existenz sie kaum zur Kenntnis nehmen. Wer verspricht, die Feindschaft, d. h. diesen Geist zu liquidieren, muss sich am Ende an dieser Welt der Koexistenz vergehen und läuft Gefahr, der Gewalt immer ähnlicher zu werden, gegen die er sich in bester Absicht richtet. Das aber würde die Verschärfung des Gegenterrors zur unvermeidlichen Folge haben. Und gegen diesen Terror, das wissen wir jetzt, gibt es keinen Schutz. In dieser unbegrenzten Verwundbarkeit sind wir uns alle gleich. Daran ändert auch die wildeste Entschlossenheit nichts, den Feind „zur Strecke" zu bringen. Selbst wenn der Feind diesmal „dingfest" gemacht werden sollte, bleibt die Drohung potenzierter Wiederholung seines Tuns fortan in der Welt, aus der die Dimension der Feindschaft sich nicht wegdenken lässt. Man kann nur dafür Sorge tragen, dass diese Drohung nicht Tausenden, ja Millionen gedemütigter Menschen attraktiv erscheint. Die Frage, wie es dahin hat kommen können, muss an unsere Adresse gestellt werden. Nur wer das sträflich versäumt, kann auf den Gedanken kommen, es müsse wohl am Widerstreit oder an praktischer Unvereinbarkeit von Lebensformen, religiösen Weltbildern oder Kulturen „an sich" liegen, dass Todfeindschaft zwischen ihnen heraufzubeschwören ist. Nicht erst ein schrecklicher Vereinfacher aus Harvard, schon Max Weber hat sich mit solchen Gedanken getragen. Von diesen Gedanken müssen wir uns trennen, wollen wir nicht in unserer Deutung des in New York entzündeten, neues Unheil ankündigenden Fanals der Feindschaft in die Hände spielen, die die Welt aller versehrt. Das ist die dreifache Herausforderung, die dieses Geschichtszeichen für alle darstellt: die eigene Verwundbarkeit ein für alle Mal einzugestehen und nicht in alte Illusionen des Schutzes oder der Immunität zu verfallen; den Feind nicht einer radikal vernichtenden Gegen-Gewalt preiszugeben, in der wir ihm, jenseits des Politischen, am Ende gleichen müssten; und schließlich dafür Sorge zu tragen, dass den Verfeindeten, die schon bereit sind, in die Fußstapfen des Terrors zu treten, die Feindschaft nicht länger als einzige Möglichkeit attraktiv erscheint, zu zeigen, dass sie und wer sie sind.
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Diese Herausforderung kulminiert in der Frage, wie noch ein politisches Verhältnis im radikalen Widerstreit mit Feinden aufrecht erhalten werden soll, die es absolut unversöhnlich verworfen haben. Keine „menschliche" Gemeinsamkeit, schon gar keine „Einheit im Streit", wie man sie sich in der Antike als Basis des Politischen vorstellte, überbrückt noch diesen Widerstreit. Um so stärker verschafft sich das pseudo-eschatologische Versprechen der Vernichtung der Feindschaft Geltung - ein Versprechen, das seinerseits eine Katastrophe des Politischen heraufbeschwört. Nur wenn das Unmögliche versucht und die eigene Verwundbarkeit als unumgänglich zum menschlichen Zusammenleben gehörig bejaht wird, statt sie abzuwehren wie eine Pest, wird man in der Lage sein, den Feind zu bekämpfen, ohne dem gefährlichen Irrtum zum Opfer zu fallen, gegen die Feindschaft müsse man im Innern mit quasi inquisitorischen Methoden und nach außen mit vernichtender Gewalt vorgehen, um sie ein fur alle mal zu liquidieren. Und nur diejenigen, die nicht erneut in diesen Irrtum verfallen, werden für die Verfeindeten Sorge tragen können, um ihnen einen Weg aus der fatalen Attraktivität der Feindschaft zu weisen. Diese Sorge muss in Zukunft nicht zuletzt auch den Bedingungen der Verfeindung gelten. Es gibt keine Feindschaft ohne vorgängige Verfeindung, in der schließlich unvereinbar wird, was nicht an sich und immer schon unvereinbar ist. Den Gründen und Motiven der Verfeindung nachzugehen, bedeutet im übrigen nicht, die Taten zu rechtfertigen oder gar zu nobilitieren, die aus ihr erwachsen. Selbst zwischen der extremen Demütigung und der verzweifelten Gewalttat, in die sie mündet, bleibt stets ein Spielraum der Wahl, der niemanden von der Verantwortung entbindet. Man darf aber die Gründe und Motive der Verfeindung nicht aus dem Blick verlieren, will man nicht einer fatalen Selbstgerechtigkeit der Gegen-Gewalt verfallen, die nur zu neuer Gewalt Anlass geben wird. Wer sich dieser Selbstgerechtigkeit hingibt, wird sich am Ende archaische Schemata der Todfeindschaft zu eigen machen, die, statt neu zu denken zu geben, dem Terror symmetrisch in die Hände spielen, ohne in einem politischen Verhältnis zu ihm Auswege denkbar werden zu lassen. Das aber sind wir den Opfern der Verfeindung auf allen Seiten schuldig
SLAVOJ ZIZEK
Willkommen in der Wüste des Realen Aus dem Englischen von Frank Born
Alain Badiou kennzeichnete „die Passion des Realen (la passion du reel)"1 als das Schlüsselmerkmal des 20. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert mit seinen utopischen und wissenschaftlichen Projekten, Idealen und Zukunftsplänen zielte das 20. Jahrhundert auf die Freisetzung des Dings selbst, auf die unmittelbare Verwirklichung der ersehnten Neuen Ordnung. Die ultimative und kennzeichnende Erfahrung des 20. Jahrhunderts war die direkte Erfahrung des Realen im Gegensatz zur sozialen Alltagswirklichkeit - des Realen in seiner extremen Gewalt als Preis fur die Befreiung von den trügerischen Schichten der Realität. Bereits in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs pries Ernst Jünger den Kampf Auge in Auge als die authentische intersubjektive Begegnung. Authentizität liegt im Akt der gewaltsamen Transgression, vom Lacanschen Realen - dem Ding, dem sich Antigone gegenübersieht als sie gegen die Ordnung der Stadt verstößt, - zum Batailleschen Exzess. Das Sinnbild dieser „Passion des Realen" im Bereich der Sexualität ist Nagisa Oshimas Im Reich der Sinne, ein japanischer Kultfilm aus den 70er Jahren, in dem die Liebesbeziehung eines Paares von gegenseitiger Folter bis zum Tod radikalisiert wird. Ist nicht die ultimative Gestalt der Passion des Realen die Option, die man auf Hardcore-Websites erhält, wo man das Innere der Vagina vom bevorzugten Standpunkt einer winzigen auf der Spitze des eindringenden Dildos befestigten Kamera aus beobachten kann? An diesem extremen Punkt findet eine Verschiebung statt: Wenn man sich dem begehrten Objekt zu sehr nähert, wird aus erotischer Faszination Ekel vor dem Realen des nackten Fleisches. Wie Badiou am Beispiel der stalinistischen Schauprozesse gezeigt hat, endet die gewaltsame Anstrengung, das reine Reale aus der flüchtigen Realität zu destillieren, zwangsläufig in seinem Gegenteil, der Obsession mit der reinen Erscheinung: So gipfelt die Passion des Realen im stalinistischen Universum (rücksichtslose Durchsetzung des sozialistischen Fortschritts) in ritualistischen Inszenierungen eines theatralischen Spektakels, an deren Wahrheit niemand glaubt. Der Schlüssel zu dieser Umkehrung liegt in der ultimativen Unmöglichkeit, eine klare Unterscheidung zwischen der trügerischen Realität und einem festen positiven Kern des Realen zu treffen: Jedes positiv bestimmbare Stückchen Realität ist a priori verdächtig, da (wie wir von Lacan wissen) das Reale Ding letztlich ein anderer Name fur die Leere ist. Das Streben nach dem Realen kommt daher totaler Vernichtung gleich, einer (selbst-)zerstörerischen Wut, bei der die einzige Möglichkeit, den Unterschied zwischen dem Schein und dem Realen auszumachen, eben genau darin liegt, sie als Schwindel zu in1 Vgl. A. Badiou, Le siecle, Paris (erscheint in Kürze in den Editions du Seuil).
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szenieren. Die grundlegende Illusion besteht hier darin, dass, sobald das brutale Werk der Säuberung verrichtet ist, der Neue Mensch ex nihilo hervortreten wird, befreit vom Schmutz vergangener Korruption. Innerhalb dieses Horizonts werden „real existierende Menschen" auf ihren Rohmaterialbestand reduziert, der sich für die Konstruktion des Neuen rücksichtslos ausbeuten lässt - die stalinistisch revolutionäre Definition des Menschen ist zirkulär: „Der Mensch ist das, was zerquetscht, mit Füßen getreten und gnadenlos geprügelt werden muss, um den neuen Menschen zu schaffen." Wir haben es hier mit der Spannung zwischen einer Reihe „gewöhnlicher" Elemente („gewöhnliche" Menschen als „Material" der Geschichte) und dem außergewöhnlichen „leeren" Element (der sozialistische „Neue Mensch", der zunächst nichts weiter ist als eine Leerstelle, die durch den revolutionären Aufruhr mit positivem Inhalt gefüllt werden muss) zu tun. In der Revolution gibt es keine positive Bestimmung dieses Neuen Menschen a priori: Revolutionen sind nicht durch die positive Idee vom Wesen des Menschen, das unter den gegenwärtigen Bedingungen „entfremdet" ist und durch den revolutionären Prozess verwirklicht wird, legitimiert - die einzige Legitimation von Revolutionen ist negativ: durch den Willen, mit der Vergangenheit zu brechen. Man sollte hier sehr präzise in seinen Formulierungen sein: Der Grund für die Destruktivität der stalinistischen Säuberungswut liegt darin, dass sie von dem Glauben gestützt wird, nach Abschluss der zerstörerischen Säuberungsarbeit werde etwas übrigbleiben, der erhabene „unteilbare Rest", das Vorbild des Neuen. Um die Tatsache zu kaschieren, dass nichts dahinter steckt, muss der Revolutionär sich in absolut perverser Weise an die Gewalt als einzigen Beleg seiner Authentizität klammern, und in diesem Punkt wird der Grund fur die Bindung der Kommunisten an die Partei von den Kritikern des Stalinismus regelmäßig missverstanden. Als etwa die prosowjetischen Kommunisten zwischen 1939 und 1941 zweimal über Nacht ihre Parteilinie ändern mussten (nach dem sowjetisch-deutschen Pakt wurde der Imperialismus, nicht der Faschismus, in die Rolle des Hauptfeindes erhoben; ab dem 22. Juni 1941, dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion, gab es dann wieder die populäre Front gegen die faschistische Bestie), war es gerade die Brutalität der auferlegten Veränderungen, die sie anzog. In ähnlicher Weise ging auch von den Säuberungen selbst eine unheimliche Faszination aus, besonders fur Intellektuelle: Ihre „irrationale" Grausamkeit diente als eine Art ontologischer Beweis, als Zeugnis, dass wir es mit dem Realen zu tun haben, nicht bloß mit hohlen Plänen - die Partei ist erbarmungslos brutal, also ist es ernst gemeint... Wenn also die Passion des Realen im reinen Schein des politischen Theaters endet, dann endet, in exakter Umkehrung, die „postmodeme" Passion der Scheinhaftigkeit der letzten Menschen in einer Art Realem. Nehmen wir das Phänomen der „Ritzer" (hauptsächlich Frauen, die einen unwiderstehlichen Drang verspüren, sich mit Rasierklingen zu schneiden oder auf andere Art zu verletzen), das unmittelbar mit der Virtualisierung unserer Umgebung korreliert: Es steht für eine verzweifelte Strategie, zum Realen des Körpers zurückzukehren. Das sogenannte Selbstverletzende Verhalten steht daher im Gegensatz zu den üblichen Tätowierungen des Körpers, die die Inklusion des Subjekts in die (virtuelle) symbolische Ordnung garantieren - im Fall der „Ritzer" ist es genau umgekehrt, dort geht es um die Bestätigung der Realität selbst. Es handelt sich hier nicht um Selbstmordversuche oder um Signale eines Selbstzerstörungswunsches - die Selbstverletzung ist vielmehr der radikale Versuch, den Halt in der Realität (wieder) zu erlangen, bzw. (ein anderer Aspekt desselben Phänomens) sein Ego fest in der körperlichen Realität zu verankern, gegen die
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unerträgliche Angst, sich selbst als nicht existierend wahrzunehmen. Ritzer berichten in der Regel, dass sie sich, wenn sie das rote, warme Blut aus der selbst zugefugten Wunde fließen sehen, wieder lebendig fühlen, fest verwurzelt in der Realität. 2 Obwohl also das Selbstverletzende Verhalten natürlich ein pathologisches Phänomen ist, ist es auf der anderen Seite auch der pathologische Versuch, eine gewisse Normalität wieder zu erlangen und einen totalen psychotischen Zusammenbruch zu vermeiden. Wir finden heute eine ganze Reihe von Produkten auf dem Markt, denen man ihre schädlichen Eigenschaften entzogen hat: Kaffee ohne Koffein, Sahne ohne Fett, Bier ohne Alkohol ... Die virtuelle Realität verallgemeinert einfach dieses Verfahren, ein seiner Substanz beraubtes Produkt anzubieten: Sie liefert die Realität selbst ohne deren Wesentliches, ohne den resistenten harten Kern des Realen - genau wie entkoffeinierter Kaffee riecht und schmeckt wie echter Kaffee, ohne echt zu sein, wird die virtuelle Realität als Realität erlebt, ohne es zu sein. Was uns am Ende dieses Virtualisierungsprozesses erwartet, ist, dass wir anfangen, die „echte Realität" selbst als virtuell zu erleben. Für den größten Teil der Öffentlichkeit waren die Explosionen des World Trade Centers Ereignisse im Fernsehen. Und fühlten wir uns bei den ständig wiederholten Bildern von Menschen, die verängstigt vor der riesigen Staubwolke des einstürzenden Turms weg auf die Kamera zu rannten, nicht schon durch die Art der Einstellung an die spektakulären Aufnahmen aus Katastrophenfilmen erinnert? Ein Spezialeffekt, der alle bisherigen übertrifft, weil, wie schon Jeremy Bentham wusste, die Realität die beste Erscheinung ihrer selbst ist? Und verhält es sich mit den Angriffen auf das World Trade Center in Hinsicht auf die Katastrophenfilme aus Hollywood nicht ähnlich wie mit der Snuff-Pornographie im Vergleich zu herkömmlichen Sado-Maso-Pornofilmen? Hier liegt das Element an Wahrheit in Karl-Heinz Stockhausens provokativer Äußerung, die Flugzeuganschläge auf das WTC seien das ultimative Kunstwerk gewesen: Tatsächlich kann man den Einsturz der WTC-Türme als Klimax und Konklusion der „Passion des Realen" in der Kunst des 20. Jahrhunderts sehen - die „Terroristen" selbst taten es nicht in erster Linie, um realen materiellen Schaden anzurichten, sondern um der spektakulären Wirkung willen. Die authentische Passion des 20. Jahrhunderts, das Reale Ding (letztlich die destruktive Leere) durch das Spinnengewebe von Scheinhaftigkeiten, die unsere Realität konstituieren, zu durchdringen, kulminiert demnach im erregenden Reiz des Realen als ultimativem „Effekt"; hinter ihm ist man her, von digitalen Spezialeffekten über Reality-TV und Amateurpornographie bis hin zu SnuffFilmen. Snuff-Filme, die das „reale Ding" bieten, sind vielleicht die ultimative Wahrheit der virtuellen Realität. Es besteht eine intime Verbindung zwischen der Virtualisierung der Realität und dem Aufkommen von grenzenlosen und endlos verlängerten körperlichen Schmerzen, die weit über das normale Maß hinausgehen: Eröffnet die Kombination von Biogenetik und Virtueller Realität nicht neue, „erweiterte" Möglichkeiten der Folter, neue unerhörte Perspektiven der Ausdehnung unserer Leidensfähigkeit (durch Vergrößerung unserer sensorischen Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, durch die Erfindung neuer Formen, Schmerzen zuzufügen)? Die ultimative Sadesche Vorstellung eines „untoten" Folteropfers, das imstande ist, grenzenlose Schmerzen auszuhalten ohne die Flucht in den Tod wählen zu können, wartet möglicherweise ebenfalls schon darauf, Wirklichkeit zu werden.
2 Vgl. M. Strong, The Bright Red Scream, London 2000.
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Die ultimative paranoide Phantasie Amerikas wäre ein Mensch, der in einer idyllischen kalifornischen Kleinstadt, einem Konsumparadies lebt und plötzlich zu ahnen beginnt, dass die Welt, in der er lebt, ein einziger Schwindel ist, ein Schauspiel, das inszeniert wird, um ihn davon zu überzeugen, er lebe in einer realen Welt, während alle Menschen um ihn herum in Wirklichkeit Schauspieler und Statisten in einer gigantischen Show sind. Das jüngste Beispiel hierfür ist Peter Weirs Film „The Truman Show" (1998) mit Jim Carrey als kleinstädtischem Versicherungsvertreter, der nach und nach dahinter kommt, dass er der Held in einer rund um die Uhr laufenden Femsehshow ist: Seine Heimatstadt ist auf einem riesigen Studiogelände errichtet und er wird permanent von Kameras beobachtet. Unter den Vorläufern dieses Films sei Philip K. Dicks Roman „Zeit aus den Fugen" (Time Out of Joint, 1959) erwähnt, dessen Held ein bescheidenes Leben in einer idyllischen kalifornischen Kleinstadt Ende der 50er Jahre fuhrt und nach und nach entdeckt, dass die ganze Stadt ein Schwindel ist, der nur zur Aufrechterhaltung seiner Zufriedenheit inszeniert wird ... Die Erfahrung, die „Zeit aus den Fugen" und der „Truman Show" zugrunde liegt, ist die, dass das spätkapitalistische Konsumparadies Kalifornien gerade in seiner Hyperrealität in gewisser Weise irreal ist, substanzlos, seiner Massenträgheit beraubt. Und die gleiche „Derealisierung" des Schreckens fand nach den Angriffen auf das WTC statt: Es überrascht, dass einerseits die Zahl der Opfer von 6000 ständig wiederholt wurde, man andererseits aber von dem eigentlichen Blutbad nur sehr wenig sah - keine zerstückelten Körper, kein Blut, keine verzweifelten Gesichter von Sterbenden ... ganz im Gegensatz zur Berichterstattung von Katastrophen in der Dritten Welt, wo es einzig um die mit grauenvollen Details gespickte Sensationsmeldung geht: an Hunger sterbende Somalis, vergewaltigte bosnische Frauen, Männer mit durchschnittener Kehle. Diese Bilder werden stets begleitet von Warnhinweisen, dass „einige der nun folgenden Bilder sehr drastisch und für Kinder schädlich sein könnten" - eine Warnung, die in den Berichten über den Zusammenbruch des WTC nie zu hören war. Ist dies nicht ein neuerlicher Beweis dafür, wie - selbst in diesem tragischen Moment - die Distanz, die uns von denen und ihrer Realität trennt, aufrechterhalten wird: Die wahren Gräuel geschehen dort, nicht hier?3 Es ist also nicht nur so, dass Hollywood den Anschein des realen Lebens inszeniert, das des Gewichts und der Trägheit der Körperlichkeit beraubt ist, sondern in der spätkapitalistischen Konsumgesellschaft nimmt das „reale soziale Leben" selbst die Züge eines inszenierten Schwindels an, indem sich unsere Nachbarn im „realen" Leben wie Schauspieler und Statisten verhalten ... Die ultimative Wahrheit des kapitalistischen, utilitaristischen, entgeistigten Universums ist die Entkörperlichung des „realen Lebens" selbst, seine Umkehrung in eine gespenstische Show. Christopher Isherwood machte diese Irrealität des amerikanischen Alltagslebens am Beispiel des Motelzimmers deutlich: „Amerikanische Motels sind irreal! [...] sie sind bewusst darauf ausgerichtet, irreal zu sein. [...] Die Europäer has3
Ein weiteres Beispiel für ideologische Zensur: Als im Fernsehsender CNN die Witwen von Feuerwehrleuten interviewt wurden, boten fast alle die erwartete Vorstellung: Tränen, Gebete ... alle bis auf eine, die, ohne eine Träne zu vergießen, sagte, sie bete nicht für ihren verstorbenen Mann, da sie wisse, dass Gebete ihn nicht zurückbringen könnten. Danach gefragt, ob sie Rachegedanken hege, antwortete sie ruhig, dass das den wahren Verrat an ihrem Mann bedeuten würde: Wenn er noch leben würde, würde er immer die Überzeugung vertreten, dass das Schlimmste, was man tun könne, sei, dem Drang nach Vergeltung nachzugeben ... überflüssig zu ergänzen, dass dieses Stückchen nur einmal ausgestrahlt wurde und danach aus den Wiederholungen dieser Sequenz verschwand.
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sen uns, weil wir uns auf ein Leben in unseren Werbeanzeigen zurückgezogen haben, wie Einsiedler, die zum Nachdenken in ihre Höhlen gehen." Peter Sloterdijks Begriff der „Sphäre" ist hier als gigantische, die ganze Stadt umhüllende und isolierende metallische Sphäre buchstäblich realisiert. Vor Jahren hat eine Reihe von Science-Fiction-Filmen, wie Zardoz (1974) oder Logan's Run (dt. Flucht ins 23. Jahrhundert, 1976), das heutige postmoderne Dilemma durch eine Ausdehnung dieser Fantasie auf die Gemeinschaft selbst vorweggenommen: Die isolierte Gruppe, die aseptisch in einer abgeschiedenen Gegend lebt, sehnt sich nach der Erfahrung der realen Welt des materiellen Verfalls. Sind die endlos wiederholten Aufnahmen des Flugzeugs, das sich dem zweiten WTC-Turm nähert und ihn trifft, nicht die Realversion der berühmten und von Raymond Bellour meisterhaft analysierten Szene aus Hitchcocks „Die Vögel", in der Melanie in ihrem kleinen Boot die Bucht durchquert und sich der Anlegestelle von Bodega Bay nähert? Als sie den Anlegeplatz erreicht und ihrem (zukünftigen) Geliebten zuwinkt, kommt plötzlich ein einzelner Vogel (zunächst nur als undeutlicher dunkler Klecks wahrnehmbar) von rechts oben ins Bild und trifft ihren Kopf.4 War das Flugzeug, das den WTC-Turm traf, nicht im wahrsten Sinne des Wortes der ultimative Hitchcocksche Klecks, der formlose Fleck, der die vertraute, idyllische New Yorker Landschaft entstellte? In „Matrix" (1999), dem Kinoerfolg der Wachowski-Brüder, erreicht diese Logik ihren Höhepunkt. Die materielle Wirklichkeit, die wir alle erfahren und um uns herum sehen, ist virtuell und wird von einem gigantischen Megacomputer erzeugt und koordiniert, an den wir alle angeschlossen sind; als der Held (gespielt von Keanu Reeves) in der „wirklichen Wirklichkeit" erwacht, sieht er eine verwüstete Landschaft voller ausgebrannter Ruinen - die Überreste von Chicago nach einem globalen Krieg. Morpheus, der Anfuhrer des Widerstands, begrüßt ihn mit den ironischen Worten: „Willkommen in der Wüste des Realen." Fand am 11. September in New York nicht etwas Ähnliches statt? Die Bürger dieser Stadt machten Bekanntschaft mit der „Wüste des Realen" - und uns, verdorben durch Hollywood, kamen beim Anblick der Landschaft und der Bilder der einstürzenden Türme unweigerlich die atemberaubendsten Szenen der großen Katastrophenfilmen in den Sinn. Wenn wir hören, die Angriffe seien ein vollkommen unerwarteter Schock gewesen, das Eintreten des unvorstellbaren Unmöglichen, dann sollten wir uns an die andere bezeichnende Katastrophe zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnern, die der Titanic. Auch sie war ein Schock, doch war der Boden dafür schon in ideologischen Fantasievorstellungen vorbereitet, da die Titanic als Symbol für die Macht der industriellen Zivilisation des 19. Jahrhunderts stand. Gilt nicht dasselbe auch für diese Anschläge? Nicht nur bombardierten uns die Medien andauernd mit Warnungen über die terroristische Bedrohung; diese Bedrohung war auch offensichtlich libidinös besetzt - man denke nur an die einschlägigen Filme von „Escape From New York" (dt. „Die Klapperschlange", 1981) bis „Independence Day" (1996). Hier liegt die Begründung für die vielzitierte Verbindung der Anschläge mit den Katastrophenfilmen Hollywoods: Das Undenkbare, das geschah, war der Gegenstand der Fantasie, sodass Amerika in gewisser Weise das bekam, worüber es fantasierte, und das war die größte Überraschung. Die ultimative Entstellung dieser Verbindung zwischen Hollywood und dem „Krieg gegen den Terror" war der Beschluss des Pentagon, in Hollywood um Hilfe
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Vgl. Kapitel III in R. Bellour, The Analysis
of Film, Bloomington 2000.
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nachzusuchen. Anfang Oktober war zu lesen, dass auf Veranlassung des Pentagon eine Gruppe aus Drehbuchautoren und Regisseuren aus Hollywood, die auf Katastrophenfilme spezialisiert waren, gebildet wurde, die zum Ziel hatte, mögliche Szenarien terroristischer Angriffe und deren Bekämpfung zu entwerfen. Und diese Wechselbeziehung scheint anzudauern: Anfang November fand eine Reihe von Treffen zwischen Beratern des Weißen Hauses und mächtigen Vertretern Hollywoods statt, in denen es darum ging, die Kriegsbemühungen zu koordinieren und festzustellen, wie Hollywood den „Krieg gegen den Terror" durch Vermittlung der ideologisch richtigen Botschaft - nicht nur innerhalb Amerikas, sondern auch für das Hollywood-Publikum weltweit - unterstützen kann - der endgültige empirische Beweis, dass Hollywood effektiv als „ideologischer Staatsapparat" funktioniert. Man sollte daher die Standardinterpretationen, nach denen die Explosionen des WTC das unsere illusorische Sphäre erschütternde Eindringen des Realen darstellten, umkehren: Ganz im Gegenteil, vor dem Einsturz des WTC lebten wir in unserer Realität und nahmen die Schrecken der Dritten Welt als etwas wahr, das nicht wirklich Teil unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ist, als etwas, das (für uns) nur als gespenstische Erscheinung auf dem Fernsehschirm existiert - und was am 11. September geschah, war das Eindringen dieser phantasmatischen Bildschirmerscheinung in unsere Realität. Nicht die Realität drang in unsere Vorstellung ein: Die Vorstellung drang in unsere Realität ein und erschütterte sie (d.h. die symbolischen Koordinaten, die bestimmen, was wir als Realität erfahren). Die Tatsache, dass nach dem 11. September der Start vieler Blockbuster-Filme mit Szenen, die an den Einsturz des WTC erinnerten (Angriffe auf große, brennende Gebäude, terroristische Aktionen ...), verschoben wurde (einige Filme wurden sogar ganz zurückgezogen), muss also als „Verdrängung" des phantasmatischen Hintergrunds, der für die Wirkung des Zusammenbruchs des WTC verantwortlich ist, gesehen werden. Natürlich geht es hier nicht um ein pseudo-postmodernes Spiel, bei dem der Einsturz des WTC nichts weiter ist als ein neuerliches Medienspektakel, eine Katastrophenversion der Snuff-Pornofilme; die Frage, die wir uns hätten stellen sollen, während wir am 11. September auf den Bildschirm starrten, lautet einfach: Wo haben wir dasselbe bereits unzählige Male gesehen? Das bedeutet, dass die Dialektik von Schein und Realem nicht einfach darauf reduziert werden kann, dass die Virtualisierung unseres Alltags, die Erfahrung, dass wir zunehmend in einer künstlich konstruierten Welt leben, den unwiderstehlichen Drang nach einer „Rückkehr zum Realen", entstehen lässt, um wieder festen Boden in einer „wirklichen Wirklichkeit" zu erlangen. Das wiederkehrende Reale hat (wiederum) den Status der Scheinhaftigkeit: Eben weil es real ist, d.h. wegen seines traumatischen/exzessiven Charakters, sind wir nicht in der Lage, es in unsere Realität (oder in das, was wir als unsere Realität erfahren) zu integrieren und sind daher gezwungen, es als alptraumhafte Erscheinung zu erleben. Das fesselnde Bild der einstürzenden Türme des WTC war genau das: ein Bild, ein Schein, ein „Effekt", der gleichzeitig „das Ding selbst" freisetzte. Dieser „Effekt des Realen" ist nicht dasselbe, wie das, was Roland Barthes in den 60er Jahren / 'effet du reel genannt hat. Er ist vielmehr das genaue Gegenteil, Veffet de l'irreel. Mit anderen Worten, im Gegensatz zum Barthesschen effet du reel, wo der Text uns sein fiktives Produkt als „real" akzeptieren lässt, muss hier das Reale selbst als alptraumhaftes, irreales Gespenst wahrgenommen werden, damit man es überhaupt ertragen kann.
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Gerade jetzt, wo wir es mit dem kruden Realen einer Katastrophe zu tun haben, sollten wir uns der ideologischen und phantasmatischen Koordinaten erinnern, die ihre Wahrnehmung bestimmen. Wie bei jeder Ideologieanalyse geben scheinbar unbedeutende Einzelheiten einen viel besseren Überblick als große Worte - was ist zum Beispiel mit der unheimlichen Tatsache, dass seit Oktober 2001 die Wetterberichte der Tageszeitungen und selbst bei CNN im Anschluss an die Vorhersage für die USA immer auch das Wetter für Afghanistan ankündigen (man sieht eine kleine Karte von Afghanistan mit den gewohnten Wolken- und Regensymbolen und mit Temperaturangaben, als wäre Afghanistan jetzt als neuer Bundesstaat hinzugekommen, gleichwertig mit Texas oder Kalifornien)? Wenn also der Zusammenbruch des WTC überhaupt etwas Symbolisches hat, dann ist es nicht so sehr die altmodische Vorstellung vom „Zentrum des Finanzkapitalismus", sondern vielmehr die Vorstellung, dass die beiden Türme für das Zentrum des virtuellen Kapitalismus standen, für Finanzspekulationen, die von der Sphäre der materiellen Produktion abgekoppelt sind. Die niederschmetternde Wirkung der Anschläge lässt sich nur vor dem Hintergrund der Grenze erklären, die heute die digitalisierte Erste Welt von der „Wüste des Realen" der Dritten Welt trennt. Das Bewusstsein, dass wir in einem isolierten, künstlichen Universum leben, erzeugt die Vorstellung, irgendein ominöser Agent bedrohe uns ständig mit totaler Vernichtung. Aus diesem paranoiden Blickwinkel verwandeln sich die Terroristen in eine irrationale, abstrakte Kraft - abstrakt im Hegeischen Sinne als des konkreten sozio-ideologischen Netzwerks beraubt, dass sie hervorgebracht hat. Jeder Erklärungsversuch, der sich auf soziale Umstände beruft, wird als offene Rechtfertigung des Terrors zurückgewiesen, und jede Einzelheit wird jeweils nur in negativer Weise beschrieben: Die Terroristen verraten den wahren Geist des Islam, sie verkörpern nicht die Interessen und Hoffnungen der armen arabischen Massen ... Ist folglich Osama Bin Laden, das mutmaßliche Superhirn hinter den Anschlägen, nicht das reale Gegenstück von Ernst Stavro Blofeld, dem Erzbösewicht der meisten James-BondFilme, der die Zerstörung der Welt anstrebt? Wir sollten uns hier vor Augen halten, dass die einzigen Stellen, an denen wir in Hollywoodfilmen den Produktionsprozess in all seiner Intensität sehen, die sind, an denen James Bond in das geheime Reich des Erzverbrechers eindringt und dort die Stätte intensiver Arbeit lokalisiert (Destillation und Verpackung von Drogen, Bau einer Rakete, die New York zerstören wird ...). Und wenn der Bösewicht James Bond dann gefangen genommen hat und ihn durch seine illegale Fabrik führt - ist Hollywood nicht an diesen Stellen der realsozialistischen, von Stolz erfüllten Präsentation einer Fabrikproduktion am nächsten? Bonds Funktion ist dabei natürlich, diese Produktionsstätte mit einem Feuerwerk in die Luft zu jagen und uns Zuschauern zu gestatten, zu unserer alltäglichen Scheinexistenz in einer Welt mit „verschwindender Arbeiterklasse" zurückzukehren. Ist es nicht so, dass diese auf das bedrohliche Äußere gerichtete Gewalt mit der Explosion der WTC-Türme auf uns zurückschlägt? Die sichere Sphäre des amerikanischen Lebens wird als ständig von Außen bedroht erlebt, von terroristischen Angreifern, die sich rücksichtslos selbst opfern und feige sind. Wo immer wir solch einem rein bösen Äußeren begegnen, sollten wir den Mut haben, die Hegelsche Lektion zu unterstreichen: In diesem reinen Äußeren gilt es, die destillierte Version unseres eigenen Wesens zu erkennen. Der (relative) Wohlstand und Frieden des „zivilisierten" Westens während der letzten fünf Jahrhunderte wurde durch den Export rücksichtsloser Gewalt und Zerstörung in das „barbarische" Äußere erkauft. Es ist die lange Geschichte von
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der Eroberung Amerikas bis zum Gemetzel im Kongo. So grausam und gleichgültig es klingen mag, wir sollten nicht vergessen, dass die eigentliche Wirkung der Anschläge eher symbolisch als real war. In Afrika sterben täglich mehr Menschen an Aids, als beim Einsturz der WTC-Türme umgekommen sind, und ihr Tod könnte mit vergleichsweise geringen finanziellen Mitteln leicht verhindert werden. Die USA haben eine Kostprobe dessen bekommen, was allerorten in der Welt täglich passiert, von Sarajewo bis Grosny, von Ruanda und Kongo bis Sierra Leone. Fügt man den Ereignissen in New York noch marodierende Vergewaltiger und ein gutes Dutzend Heckenschützen hinzu, die wahllos auf Passanten zielen, kann man sich vorstellen, wie es vor zehn Jahren in Sarajewo aussah. Als unser Blick Tage nach dem 11. September 2001 versteinert war von den Bildern des auf den WTC-Turm auftreffenden Flugzeugs, mussten wir alle erfahren, was „Wiederholungszwang" und jouissance jenseits des Lustprinzips sind. Wir wollten es wieder und wieder sehen, die Bilder wurden bis zum Überdruss wiederholt und unsere unheimliche Befriedigung daraus war die reinste jouissance. Durch den Anblick der einstürzenden WTCTürme im Fernsehen konnten wir erst die Falschheit des „Reality-TV" begreifen. Selbst wenn diese Sendungen „echt" sind, so sind die Menschen darin doch Schauspieler - sie spielen einfach sich selbst. Der übliche Hinweis in einem Roman („Die Personen in diesem Text sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig") gilt auch für die Teilnehmer der Reality-Soaps. Wir sehen fiktionale Charaktere, selbst wenn sie sich selbst als real spielen. Die „Rückkehr zum Realen" kann natürlich auf verschiedene Weise verdreht werden. Einige Konservative erklären bereits, dass uns unsere ausnehmende Offenheit so verwundbar mache - dahinter lauert schon die unvermeidliche Schlussfolgerung, dass wir zum Schutz unseres „way of life" einige Freiheiten opfern müssten, die von den Feinden der Freiheit „missbraucht" worden seien. Diese Logik sollte man vollständig zurückweisen. Sind unsere „offenen" Erste-Welt-Staaten nicht die meist-überwachten Staaten der gesamten Menschheitsgeschichte? In Großbritannien werden alle öffentlichen Orte, von Bussen bis hin zu Einkaufszentren, permanent von Videokameras überwacht, ganz zu schweigen von der fast totalen Kontrolle jeglicher Art von digitaler Kommunikation. Kommentare, die „Das Ende des Zeitalters der Ironie" verkünden, häufen sich in den letzten Wochen in unseren Medien und nähren die Vorstellung, dass die Zeit des postmodernen, dekonstruktivistischen Gleitens der Bedeutungen vorüber ist. Wir brauchen wieder feste und unzweideutige Bekenntnisse. Unglücklicherweise stimmt auch Jürgen Habermas in diesen Chor mit ein, wenn er betont (in seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2001), dass die Zeit des postmodernen Relativismus vorbei sei. (Wenn der 11. September irgendetwas zeigt, dann die vollkommene Ohnmacht der Habermasschen Ethik - oder sollten wir sagen, dass es zwischen Moslems und dem liberalen Westen eine „gestörte Kommunikation" gibt?) In die gleiche Richtung gehen auch rechte Kommentatoren wie George Will, der gleich das Ende des amerikanischen „Urlaubs von der Geschichte" verkündete - die Wucht der Realität zerschmettert den einsamen Turm der liberalen, toleranten Haltung, während sich die Cultural Studies auf Textualität konzentrieren. Jetzt sind wir gezwungen zurückzuschlagen, uns mit realen Feinden in der realen Welt auseinander zu setzen ... Aber wen sollen wir angreifen? Wie auch immer die Reaktion ausfallen mag, sie wird nie das richtige Ziel treffen, uns nie vollständig zufrieden stellen. Die Lächerlichkeit eines amerikanischen Angriffs auf Afghanistan sticht
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sofort ins Auge: Wenn die größte Macht der Welt eins der ärmsten Länder der Erde zerstört, wo Bauern im kargen Gebirge ums Überleben kämpfen, ist das nicht der ultimative Fall des Hilflosen, der sich ausagiert? Andererseits ist Afghanistan ein ideales Ziel: ein Land, das ohnehin schon in Schutt und Asche liegt, ohne Infrastruktur, über die letzten zwei Jahrzehnten mehrfach vom Krieg zerstört ... Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Wahl Afghanistans auch von ökonomischen Erwägungen bestimmt wurde. Ist es nicht das Beste, seine Wut an einem Land auszulassen, das niemanden interessiert und wo es nichts zu zerstören gibt? Die Wahl Afghanistans erinnert dummerweise an die Anekdote über den Verrückten, der unter einer Straßenlaterne nach seinem Schlüssel sucht; als er gefragt wird, warum er dort suche, obwohl er den Schlüssel doch in einer dunklen Ecke weiter hinten verloren habe, erwidert er: „Aber es ist doch viel leichter im Hellen zu suchen!" Besteht nicht die ultimative Ironie darin, dass ganz Kabul schon jetzt wie Downtown Manhattan aussieht? Jetzt dem Drang zum Handeln und zur Vergeltung zu erliegen bedeutet, der Auseinandersetzung mit den wahren Dimensionen dessen, was am 11. September geschah, aus dem Weg zu gehen - es bedeutet einen Akt, dessen wahres Ziel es ist, uns in der Gewissheit zu wiegen, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Auf lange Sicht besteht die wahre Bedrohung in weiteren Massenterrorakten, neben denen die Erinnerung an den Einsturz des WTC verblassen wird - Akte, die weniger spektakulär, aber viel entsetzlicher sein werden. Man denke an bakteriologische Kriegsfuhrung, den Einsatz von Giftgas, die Aussicht auf einen Gen-Terrorismus (die Entwicklung von Giften, die nur auf Menschen mit einem bestimmten Genom wirken). Im Gegensatz zu Marx und seiner Auffassung des Fetisch als einem soliden Objekt, dessen beständige Präsenz seine gesellschaftliche Vermitteltheit verschleiert, gilt es festzuhalten, dass der Fetischismus gerade dann seinen Höhepunkt erreicht, wenn der Fetisch selbst „entmaterialisiert", d.h. in ein flüssiges, „immaterielles", virtuelles Etwas verwandelt wird; der Geldfetischismus ist am wirksamsten beim Übergang in seine elektronische Form, wenn die letzten Spuren seiner Materialität verschwinden - erst dann wird er eine unzerstörbare gespenstische Präsenz erlangen: Ich schulde dir 1000 DM und egal wie viele materielle Geldscheine ich verbrenne, ich schulde dir immer noch 1000 DM, die Schuld ist irgendwo im virtuellen digitalen Raum eingeschrieben ... Gilt dasselbe nicht auch für die Kriegsführung? Der Einsturz der WTC-Türme im September 2001 war kein Vorbote für die Kriege des 21. Jahrhunderts, sondern vielmehr der letzte spektakuläre Kriegsruf des 20. Jahrhunderts. Uns erwartet etwas viel Unheimlicheres: das Gespenst eines „immateriellen" Krieges, in dem der Angriff unsichtbar ist - Viren oder Gifte, die überall und nirgends sein können. Auf der Ebene der sichtbaren materiellen Wirklichkeit geschieht nichts, keine großen Explosionen, und doch beginnt die bekannte Welt zu kollabieren, das Leben zerfällt ... Wir betreten ein neues Zeitalter der paranoischen Kriegsfuhrung, in dem die größte Aufgabe darin bestehen wird, den Feind und seine Waffen auszumachen. Bei dieser neuen Art von Kriegsfuhrung stellen sich die Beteiligten immer weniger öffentlich zu ihren Taten. Nicht nur die „Terroristen" sind nicht mehr bestrebt, sich für ihre Taten verantwortlich zu erklären (selbst die berüchtigte Al Qaida hat sich nicht ausdrücklich zu den Anschlägen vom 11. September bekannt, ganz zu schweigen vom mysteriösen Ursprung der Milzbrandbriefe), auch über die staatlichen Maßnahmen zur „Terrorismusbekämpfung" wird der Mantel der Verschwiegenheit gehüllt. Dies alles ergibt einen idealen Nährboden für Verschwörungstheorien und allgemeine gesellschaftliche Paranoia. Und ist nicht die Kehrseite dieser
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wahnhaften Allgegenwart des unsichtbaren Krieges seine Desubstanzialisierung? So wie wir auch Bier ohne Alkohol oder Kaffee ohne Koffein trinken, bekommen wir jetzt auch einen Krieg, dem das Wesentliche entzogen wurde - einen virtuellen Krieg, der an Computerbildschirmen ausgetragen und von den Beteiligten als Videospiel erlebt wird, ein Krieg ohne Verluste (zumindest auf unserer Seite). Mit der Ausbreitung der Milzbrandpanik im Oktober 2001 bekam der Westen einen Vorgeschmack auf diese neue „unsichtbare" Kriegsführung, bei der - und daran sollte man stets denken - wir, die normalen Bürger, was aktuelle Informationen angeht, den staatlichen Autoritäten völlig ausgeliefert sind: Wir sehen und hören nichts, alles, was wir wissen, stammt aus den offiziellen Medien. Eine Supermacht, die einen trostlosen Wüstenstaat bombardiert und gleichzeitig die Geisel unsichtbarer Bakterien ist - das, und nicht die Explosion des WTC, ist das erste Anzeichen der Kriegsführung des 21. Jahrhunderts. Anstatt kurzentschlossen zu handeln, sollte man sich folgenden schwierigen Fragen stellen: Was wird „Krieg" im 21. Jahrhundert bedeuten? Wer werden „die anderen" sein, wenn klar ist, dass sie weder Staaten noch kriminelle Banden sind? Man kann hier nicht der Versuchung widerstehen, sich Freuds Gegensatz zwischen dem öffentlichen Recht und seinem obszönen Doppelgänger, dem Über-Ich, ins Gedächtnis zu rufen. Sind die „internationalen Terrororganisationen" nicht ebenfalls die obszönen Doppelgänger der großen multinationalen Unternehmen - die ultimative rhizomatische Maschine, allgegenwärtig, wenn auch ohne klare territoriale Basis? Stehen sie nicht für die Form, in der sich der nationalistische bzw. religiöse „Fundamentalismus" dem globalen Kapitalismus angepasst hat? Stellen sie mit ihren partikulären/exklusiven Inhalten und ihrer globalen, dynamischen Arbeitsweise nicht den ultimativen Widerspruch dar? In dem hier angedeuteten Gedanken vom „Kampf der Kulturen" liegt eine Teilwahrheit. Man denke nur an die Überraschung des Durchschnittsamerikaners: „Wie ist es möglich, dass diese Leute eine solche Missachtung für ihr eigenes Leben zeigen und praktizieren?" Besteht die Kehrseite dieser Überraschung nicht in der traurigen Tatsache, dass es uns in den Ländern der Ersten Welt zunehmend schwerer fällt, uns eine Sache auch nur vorzustellen, für die wir unser Leben opfern würden? Wenn nach den Anschlägen selbst der Außenminister der Taliban sagt, er könne „den Schmerz der amerikanischen Kinder fühlen", bestätigt er damit nicht den hegemonialen ideologischen Anspruch dieser PR-Botschaft Bill Clintons? Es scheint tatsächlich, als verlaufe die Spaltung zwischen Erster und Dritter Welt mehr und mehr entlang eines Gegensatzes: Die einen führen ein langes, erfülltes Leben voller materiellem und kulturellem Reichtum, die anderen widmen ihr Leben einer transzendenten Sache. Im Zusammenhang mit diesem ideologischen Antagonismus zwischen der konsumorientierten Lebensart des Westens und dem moslemischen Radikalismus fallen einem spontan zwei philosophische Verweise ein: Hegel und Nietzsche. Entspricht dieser Antagonismus nicht dem, was Nietzsche „passiven" und „aktiven" Nihilismus genannt hat? Wir im Westen sind Nietzsches „letzte Menschen", versunken in stupiden Alltagsfreuden, während die radikalen Moslems bereit sind, alles aufs Spiel zu setzen und bis zur Selbstzerstörung zu kämpfen. (Man kann nicht umhin, die wichtige Rolle der Börse bei den Anschlägen zu bemerken: Der ultimative Beweis ihrer traumatischen Wirkung war die Tatsache, dass die New Yorker Börse für vier Tage geschlossen und ihre Wiedereröffnung am nächsten Montag als richtungweisendes Zeichen für die Rückkehr zur Normalität präsentiert wur-
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de.) Betrachtet man weiterhin diese Opposition aus der Perspektive des Hegeischen Kampfes zwischen Herr und Knecht, bemerkt man zwangsläufig das Paradox: Obwohl wir im Westen als ausbeuterische Herren wahrgenommen werden, nehmen wir die Position des Knechts ein, der am Leben und seinen Genüssen hängt und daher unfähig ist, es zu riskieren (man denke an Colin Powell und seine Vorstellung eines Hightech-Krieges ohne menschliche Verluste), während die armen radikalen Moslems Herren sind, die bereit sind, ihr Leben zu opfern ... Der Gedanke vom „ K a m p f der Kulturen" ist freilich grundsätzlich abzulehnen. Was wir heute erleben, sind vielmehr Kämpfe innerhalb der einzelnen Kulturen. Ein Vergleich der Geschichte des Islam und des Christentums lehrt uns, dass die Menschenrechtsbilanz des Islam (um diesen anachronistischen Ausdruck zu gebrauchen) viel besser ist als die des Christentums. In den letzten Jahrhunderten hat sich der Islam im Vergleich wesentlich toleranter gegenüber anderen Religionen verhalten. Gerade jetzt sollte man auch daran erinnern, dass es die Araber waren, durch die wir Westeuropäer im Mittelalter den Zugang zu unserem griechischen Erbe wiedererlangt haben. Ohne im Mindesten die aktuellen Schreckenstaten rechtfertigen zu wollen, zeigen diese Tatsachen doch deutlich, dass es hier nicht um ein Grundmerkmal des Islam „als solchem" geht, sondern um eine Folge moderner soziopolitischer Bedingungen. Worum geht es eigentlich bei diesem „ K a m p f der Kulturen"? Hängen nicht alle realen „ K ä m p f e " dieser Art ganz eindeutig mit dem globalen Kapitalismus zusammen? Die Zielscheibe des moslemischen „Fundamentalisten" ist nicht nur der globale Kapitalismus mit seiner zersetzenden Wirkung auf das soziale Leben, sondern auch die korrumpierten „traditionalistischen" Regimes in Saudi Arabien, Kuwait usw. Die schlimmsten Gräueltaten (in Ruanda, Kongo und Sierra Leone) ereigneten - und ereignen - sich nicht nur innerhalb der selben „Kultur", sie stehen auch in deutlicher Beziehung zum Zusammenspiel globaler ökonomischer Interessen. Selbst in den wenigen Fällen, in denen die Definition vom „ K a m p f der Kulturen" noch halbwegs passen würde (Bosnien und Kosovo, der südliche Sudan usw.), schimmern deutlich andere Interessen hindurch. Eine gute Portion „ökonomischer Reduktionismus" wäre hier also angebracht. Anstelle von endlosen Analysen über die Intoleranz des islamischen „Fundamentalismus" gegenüber unseren liberalen Gesellschaften und anderen „ K u l t u r k a m p f - T h e m e n , sollte man die Aufmerksamkeit wieder auf den ökonomischen Hintergrund des Konflikts richten - das Aufeinanderprallen wirtschaftlicher
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sen und die eigenen geopolitischen Interessen der U S A (wie lassen sich die privilegierten Beziehungen zu Israel und den konservativen arabischen Regimes wie Saudi Arabien und Kuwait aufrechterhalten). Neben der Opposition zwischen „liberalen" und „fundamentalistischen" Gesellschaften, „ M c W o r l d versus Dschihad", gibt es die befremdliche dritte Größe, Länder wie Saudi Arabien und Kuwait, erzkonservative Monarchien, die aber wirtschaftlich mit den U S A verbündet und voll in den westlichen Kapitalismus integriert sind. Hier haben die Vereinigten Staaten sehr klare und einfache Interessen: Wegen ihrer Ölreserven muss man auf diese Länder zählen können, und daher müssen sie undemokratisch
bleiben (dahinter steckt natürlich der
Gedanke, dass ein demokratisches Erwachen antiamerikanische Tendenzen aufkommen lassen könnte). Das ist eine alte Geschichte, deren unrühmliches erstes Kapitel nach dem Zweiten Weltkrieg der vom C I A dirigierte Staatsstreich gegen den demokratisch gewählten irani-
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sehen Ministerpräsidenten Mossadegh im Jahr 1953 war - es gab dort keinen „Fundamentalismus", nicht einmal eine „sowjetische Bedrohung", lediglich ein demokratisches Erwachen verbunden mit dem Gedanken, dass das Land seine Ölreserven selbst kontrollieren und das Monopol der westlichen Ölgesellschaften zerschlagen sollte. Wie weit die USA fur die Aufrechterhaltung dieses Pakts zu gehen bereit sind, zeigte sich 1990 im Golfkrieg, als die in Saudi Arabien stationierten amerikanischen Soldaten jüdischen Glaubens zum Beten mit Hubschraubern zu den Flugzeugträgern im Golf geflogen werden mussten, weil jedes nichtmoslemische Ritual auf saudischem Boden verboten ist - eine Tatsache, die zweifellos mit einer anderen im Zusammenhang gesehen werden muss, die in den westlichen Medien kaum Erwähnung fand: Der irakische Außenminister Tariq Aziz, eine der wichtigsten Figuren in Saddam Husseins Regime, ist kein Moslem sondern Christ. Und wie steht es mit der Tatsache, dass Saudi Arabien - über Pakistan - bis vor kurzem der wichtigste Geldgeber der Taliban war? Diese „pervertierte" Position der wahrhaft „fundamentalistischen" konservativen arabischen Regimes ist der Schlüssel zu den (oft komischen) Rätseln der amerikanischen Politik im Mittleren Osten. Sie markieren die Stelle, an der die USA gezwungen sind, das Primat der Ökonomie über die Demokratie ausdrücklich einzugestehen, d.h. den zweitrangigen und manipulativen Charakter ihrer Rechtfertigung internationaler Interventionen mit dem Schutz von Demokratie und Menschenrechten. Man sollte nicht vergessen, dass Afghanistan bis in die 70er Jahre, d.h. bis das Land direkt in den Kampf der Supermächte verwickelt wurde, eine der tolerantesten moslemischen Gesellschaften mit einer langen weltlichen Tradition war. Kabul war berühmt für sein reiches kulturelles und politisches Leben. Das Paradox besteht also darin, dass der Aufstieg der Taliban, diese scheinbare „Regression" zum Ultrafundamentalismus, kein Zutagetreten einer tiefliegenden „traditionalistischen" Strömung war, sondern das Ergebnis der Verwicklung des Landes in den Strudel der internationalen Politik - nicht nur als defensive Reaktion, sondern durch direkte Unterstützung ausländischer Mächte (Pakistan, Saudi Arabien, den USA selbst). Wir sollten noch einmal zum „Kampf der Kulturen" zurückkehren und uns den Brief der siebenjährigen Tochter eines amerikanischen Piloten im Afghanistaneinsatz ansehen. Sie schreibt, dass sie trotz ihrer tiefempfundenen Liebe fur ihren Vater bereit sei, ihn sterben zu lassen und für ihr Land zu opfern. Als Präsident Bush diese Zeilen zitierte, wurden sie als „normaler" Ausbruch amerikanischen Patriotismus' wahrgenommen. Machen wir ein einfaches Gedankenexperiment und stellen uns vor, wie ein moslemisches arabisches Mädchen dieselben Worte über ihren Vater, der für die Taliban kämpft, pathetisch in die Kamera spricht - wir müssen nicht lange überlegen, wie unsere Reaktion ausfallen würde: krankhafter moslemischer Fundamentalismus, der nicht einmal vor der grausamen Manipulation und Ausbeutung von Kindern Halt macht ... Jedes dem Anderen zugeschriebene Merkmal ist bereits tief im Herzen der USA vorhanden: Mörderischer Fanatismus? Es gibt heute in den USA über zwei Millionen rechtspopulistische „Fundamentalisten", die, legitimiert durch das Christentum (oder was sie darunter verstehen), ihren eigenen Terror ausüben. Hätte folglich die US-Armee, da Amerika diese Menschen gewissermaßen selbst „beherbergt", nach dem Bombenanschlag auf Oklahoma das eigene Land bestrafen sollen? Und was sollen wir von den Reaktionen Jerry Falwells und Pat Robertsons halten, die in den Anschlägen ein Zeichen Gottes zur Bestrafung des sündigen Lebens der Amerikaner sahen? Schuldig daran seien Hedonismus, Materialismus, Liberalismus und die ausufernde Sexualität, und Amerika
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habe bekommen, was es verdient habe. Es sollte uns zu denken geben, dass dieselbe Verurteilung des „liberalen" Amerika sowohl vom moslemischen Anderen als auch aus dem Herzen Amerikas selbst kam. Am 19. Oktober musste auch George W. Bush eingestehen, dass hinter den Milzbrandattacken mit größter Wahrscheinlichkeit nicht moslemische Terroristen, sondern ultrarechte amerikanische christliche Fundamentalisten stecken - liegt nicht darin, dass die Taten, die man zunächst dem äußerlichen Feind zuschrieb, wohlmöglich tief aus dem Herzen Amerikas stammen, ein weiterer unerwarteter Beleg für die These, dass wir es mit einem Kampf innerhalb der Kulturen zu tun haben? Amerika als sicherer Hafen? In dem Kommentar eines New Yorkers, man sei nach den Anschlägen auf den Straßen der Stadt nicht mehr sicher, liegt eine gewisse Ironie, denn New Yorks Straßen waren vor den Anschlägen berüchtigt für die Gefahr von Angriffen und Überfällen - wenn überhaupt, dann haben die Anschläge eher ein neues Gefühl der Solidarität ausgelöst; dass plötzlich ein junger Afroamerikaner einem älteren jüdischen Herrn über die Straße hilft, ist eine Szene, die ein paar Tage zuvor noch undenkbar gewesen wäre. Jetzt, in den Monaten nach den Anschlägen, ist es, als lebten wir in der einzigartigen Zeit zwischen einem traumatischen Ereignis und seiner symbolischen Wirkung, wie in jenem kurzen Moment, nachdem man sich geschnitten hat und bevor der Schmerz seine volle Wirkung erreicht - es ist noch offen, wie die Ereignisse symbolisiert werden, was ihre symbolische Effizienz sein wird, welche Taten sie rechtfertigen sollen. Zum Mindesten kann man einmal mehr deutlich die Beschränkungen unserer Demokratie erkennen: Es werden Entscheidungen getroffen, die das Schicksal von uns allen betreffen, und wir sitzen da und warten, im Bewusstsein unserer völligen Machtlosigkeit. Selbst hier, in diesen Momenten äußerster Spannung, ist diese Verbindung nicht automatisch, sondern kontingent. Schon gibt es die ersten bösen Omen, wie ζ. B. die plötzliche Wiedereinführung des aus dem Kalten Krieg stammenden Begriffs der „freien Welt" in den öffentlichen Diskurs. Der Kampf ist jetzt einer zwischen der „freien Welt" und den Mächten der Finsternis und des Terrors. Die Frage, die sich hier stellt, lautet natürlich: Wer gehört dann zur unfreien Welt? Sind beispielsweise China oder Ägypten Teil dieser freien Welt? Die eigentliche Botschaft ist doch, dass die alte Trennung zwischen den liberaldemokratischen Ländern des Westens und allen anderen erneuert wird. Man hört in diesen Tagen oft, der Kampf sei jetzt der für die Demokratie - das stimmt, allerdings nicht ganz so, wie es normalerweise gemeint ist. Einige meiner linken Freunde haben mir bereits geschrieben, dass es in diesen schwierigen Zeiten ratsamer sei, sich bedeckt zu halten und nicht unnötig vorzupreschen. Doch statt für die Dauer der Krise den Kopf einzuziehen, muss die Linke jetzt eine bessere Analyse liefern - sonst gibt sie sich von vornherein in politischer und ethischer Hinsicht geschlagen angesichts der Akte echten Heldenmuts ganz normaler Menschen (wie der Passagiere, die in einem Musterbeispiel eines rationalen ethischen Akts die Kidnapper überwältigten und den verfrühten Absturz der Maschine herbeiführten: Wenn man zum baldigen Sterben verurteilt ist, dann sollte man die Kraft aufbringen, so zu sterben, dass man den Tod anderer verhindert). Als die Amerikaner nach dem 11. September scharenweise ihren Nationalstolz wiederentdeckten, Fahnen zeigten und in der Öffentlichkeit gemeinsam sangen, war nichts „Unschuldiges" an dieser Wiederentdeckung der amerikanischen Unschuld, am Abstreifen des Gefühls der historischen Schuld oder Ironie, das viele von ihnen daran gehindert hatte, sich
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vollständig als Amerikaner zu fühlen. Die Geste war ein „objektives" Annehmen der Last all dessen, was „Amerikaner" sein in der Vergangenheit bedeutete - ein exemplarischer Fall von ideologischer Interpellation, der völligen Annahme des symbolischen Auftrags nach der durch ein historisches Trauma verursachten Verwirrung. Welche Geste wäre in der traumatischen Zeit nach dem 11. September, als die alte Sicherheit vorübergehend erschüttert schien, „natürlicher" gewesen, als sich in die Unschuld der festen ideologischen Identifikation zu flüchten? 5 Aber gerade solche Momente transparenter Unschuld, der „Rückkehr zu den Grundlagen", wenn die Identifikationsgeste „natürlich" erscheint, sind vom Standpunkt der Ideologiekritik betrachtet die verworrensten, in gewisser Weise sogar die Verworrenheit selbst. Nehmen wir einen anderen solchermaßen unschuldig-transparenten Moment: die endlos reproduzierte Videoaufhahme vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking auf dem Höhepunkt der „Unruhen" 1989, wo sich ein kleiner junger Mann mit einer Dose in der Hand mutig einem herannahenden riesigen Panzer in den Weg stellte, auch als dieser versucht, rechts oder links an ihm vorbeizufahren. „Die Darstellung ist so gewaltig, dass sie jede andere Deutung zunichte macht. Diese Straßenszene, dieser Zeitpunkt und dieses Ereignis sind zum Fixpunkt beinahe aller westlichen Reisen ins Innere des gegenwärtigen politischen und kulturellen Lebens in China geworden." 6 Auch dieser Augenblick der transparenten Klarheit (die Dinge erscheinen in ihrer äußersten Nacktheit: ein einzelner Mensch gegen die rohe Gewalt des Staates) wird in unserem westlichen Blick wieder von einem Netz ideologischer Implikationen gestützt, das eine Reihe von Gegensätzen enthält: Individuum gegen Staat, friedlicher Widerstand gegen staatliche Gewalt, Mensch gegen Maschine, die innere Kraft eines kleinen Individuums gegen die Machtlosigkeit der gewaltigen Maschine ... Diese Implikationen, vor deren Hintergrund die Bilder erst ihre volle unmittelbare Wirkung ausüben, diese „Vermittlungen", die die direkte Wirkung der Aufnahme stützen, sind für einen chinesischen Beobachter nicht vorhanden, da die genannten Gegensätze zum ideologischen Erbe Europas gehören. Und derselbe ideologische Hintergrund bestimmt auch unsere Wahrnehmung der schrecklichen Bilder von kleinen Individuen, die aus dem brennenden Turm des WTC in den sicheren Tod springen. Und was ist mit dem überall zu hörenden Satz „Nach dem 11. September wird nichts mehr so sein wie vorher"? Bezeichnenderweise wird dieser Satz nie weiter ausgeführt - er ist nur eine leere Geste, mit der man etwas „Tiefes" sagen will, ohne wirklich zu wissen, was man sagen will. Unsere Reaktion darauf sollte also lauten: Wirklich? Ist nicht vielmehr das Einzige, was sich wirklich geändert hat, die Tatsache, dass Amerika gezwungen wurde, die Welt zur Kenntnis zu nehmen, zu der es gehört? Andererseits bleiben solche Veränderungen der Wahrnehmung nie ohne Folgen, da die Art, wie wir unsere Lage wahrnehmen, die Art unseres Handelns bestimmt. Denken wir an die Prozesse beim Zusammenbruch politischer Regimes, etwa den Zusammenbruch der kommunistischen Regimes im Osteuropa der 90er Jahre: In einem bestimmten Augenblick wurde den Leuten plötzlich bewusst, dass das Spiel aus war, dass die Kommunisten am Ende waren. Der Bruch war ein rein symbolischer, „in Wirklichkeit" hatte sich nichts geändert - und dennoch war der endgültige Sturz des Regimes von jenem Augenblick an nur noch eine Frage von Tagen ... Was wenn sich 5
Ich stütze mich hier auf meine kritische Untersuchung von Althussers Begriff der Interpellation im dritten Kapitel von Metastases of Enjoyment, London 1995. 6 Μ. Dutton, Streetlife China, Cambridge 1998, S. 17.
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am 11. September tatsächlich etwas Vergleichbares ereignet hätte? Man sollte nicht vergessen, dass Hollywood das Nervenzentrum der amerikanischen Ideologie ist, die auf der ganzen Welt eine hegemoniale Rolle spielt. Was Millionen Menschen aus der Dritten Welt in die USA zieht, selbst diejenigen, die gemäß ihrer „offiziellen" Ideologie gegen das sind, wofür Amerika steht, ist nicht allein die Aussicht auf materiellen Wohlstand, sondern auch der „amerikanische Traum" und die Chance, daran teilzuhaben. Hollywood ist im wahrsten Sinne des Wortes die „Traumfabrik": Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die hegemonischen ideologischen Träume herzustellen und dem Einzelnen die Koordinaten fur seine privaten Phantasien an die Hand zu geben. Wenn also in der Hollywood-Maschinerie eine Störung auftritt wie nach dem 11. September und die Verantwortlichen verzweifelt versuchen, die neuen Regeln zu erahnen bzw. festzulegen (keine Katastrophenfilme mehr; werden Filme mit Einzelhelden wie James Bond überleben? Gibt es eine Wendung zum Familienmelodram oder eher zum direkten Patriotismus?), dann zeugt diese Tatsache von der tiefen ideologischen Wirkung jener Ereignisse. Vielleicht wird das ultimative Opfer der Anschläge auf das WTC eine bestimmte Gestalt des großen Anderen sein, die amerikanische Sphäre. Als Nikita Chruschtschow in seiner geheimen Rede beim XX. Kongress der Sowjetpartei Stalins Verbrechen anprangerte, erlitt ein gutes Dutzend der Delegierten einen Nervenzusammenbruch und musste hinausgebracht und medizinisch versorgt werden; einer von ihnen, der linientreue Generalsekretär der polnischen kommunistischen Partei Boleslaw Bierut, erlag sogar einige Tage später einem Herzinfarkt. (Der stalinistische Vorzeigeautor Alexander Fadejew erschoss sich Tage später.) Das Entscheidende ist nicht, dass diese Männer „redliche Kommunisten" waren - die meisten von ihnen waren brutale Manipulatoren, die sich keinerlei subjektive Illusionen über das Wesen des Sowjetregimes machten. Was hier zusammenbrach, war ihre „objektive" Illusion, die Gestalt des „großen Anderen", vor dessen Hintergrund sie ihren Machttrieb rücksichtslos verwirklichen konnten: Der Andere, auf den sie ihren Glauben übertrugen, der Andere, der sozusagen für sie glaubte, ihr „Subjekt, dem Glauben unterstellt wird", zerfiel. Und geschah nicht nach dem 11. September etwas ganz Ähnliches? War der 11. September 2001 nicht der XX. Kongress des amerikanischen Traums? Der 11. September wird bereits für ideologische Belange in Beschlag genommen: von den Erklärungen in allen großen Medien, dass die Antiglobalisierung nun vorbei sei, bis zu dem Gedanken, dass der Schock der Anschläge auf das WTC die Substanzlosigkeit der postmodernen Cultural Studies offenbart habe, ihren fehlenden Bezug zum „wirklichen Leben". Während letzteres aus unrichtigen Gründen (teilweise) richtig ist, ist der erste Gedanke ganz und gar falsch. Es stimmt, dass die relative Belanglosigkeit der kritischen Themen, mit denen sich die Cultural Studies in der Regel befassen, zum Vorschein kam: Was ist schon der Gebrauch eines politisch nicht korrekten Ausdrucks mit möglicherweise rassistischem Unterton verglichen mit dem qualvollen Tod tausender Menschen? Das Dilemma der Cultural Studies ist folgendes: Wird man bei den selben Themen bleiben und damit direkt zugeben, dass der Kampf gegen die Unterdrückung ein Kampf innerhalb des kapitalistischen Universums der Ersten Welt ist, was bedeutet, dass man in dem größeren Konflikt zwischen der westlichen Ersten Welt und ihrer Bedrohung von außen seine Treue zur grundlegenden amerikanischen liberaldemokratischen Struktur bekräftigen muss; oder wird man es wagen, seine kritische Haltung zu radikalisieren und diese grundlegende Struktur selbst in
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Frage zu stellen? Was das Ende der Antiglobalisierung angeht, so ist deutlich geworden, dass die dunklen Hinweise aus den ersten Tagen nach dem 11. September, die Anschläge könnten möglicherweise das Werk von terroristischen Globalisierungsgegnern gewesen sein, nur eine plumpe Manipulation waren. Wir können nur begreifen, was am 11. September geschehen ist, wenn wir es in den Kontext der Antagonismen des globalen Kapitalismus stellen. Es gibt unter den ideologischen Aneignungen des 11. September bereits Forderungen, einige Grundbestandteile moderner Vorstellungen von menschlicher Würde und Freiheit neu zu Uberdenken. Beispielhaft ist hier Jonathan Alters Artikel „Time to Think about Torture" (Zeit, über Folter nachzudenken), dessen unheilvoller Untertitel lautet „Das Überleben in dieser neuen Welt macht möglicherweise alte Techniken erforderlich, die bisher nicht in Frage zu kommen schienen" {Newsweek, 5. November 2001, p. 45). Der Text liebäugelt mit der israelischen Idee der Legalisierung physischer und psychologischer Folter in Fällen äußerster Dringlichkeit (wenn wir wissen, dass ein gefangener Terrorist Informationen besitzt, die Hunderte von Leben retten könnten), macht ein paar „neutrale" Bemerkungen, wie „In manchen Fällen ist Folter eindeutig wirksam", und endet wie folgt: „Wir können Folter nicht legalisieren; das steht im Widerspruch zu den amerikanischen Werten. Aber selbst während wir uns weiterhin gegen Menschenrechtsverstöße auf der ganzen Welt aussprechen, müssen wir gewissen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung gegenüber offen bleiben, zum Beispiel der gerichtlich genehmigten psychologischen Vernehmung. Und wir müssen darüber nachdenken, bestimmte Verdächtige an unsere weniger zartbesaiteten Alliierten zu überfuhren, auch wenn das heuchlerisch ist. Niemand hat gesagt, dass es schön werden würde." Die Obszönität solcher Äußerungen ist eklatant. Zum einen: Warum nimmt man die Anschläge auf das WTC als Rechtfertigungsgrund? Geschehen nicht fortwährend viel schrecklichere Verbrechen auf der ganzen Welt? Zum zweiten: Was ist an dieser Idee neu? Hat der CIA nicht jahrzehntelang die militärischen Alliierten der USA aus Lateinamerika und der Dritten Welt in Foltertechniken ausgebildet? Die Heuchelei dauert schon seit Jahrzehnten ... Sogar das „liberale" Argument, mit dem Alan Dershowitz zitiert wird, ist verdächtig: „Ich bin nicht für die Folter, aber wenn es sein muss, dann auf jeden Fall nur mit gerichtlicher Zustimmung." Die Logik, die dahinter steckt - „Da wir es auf jeden Fall tun werden, lasst es uns lieber legalisieren und dadurch Ausschweifungen vorbeugen" ist extrem gefährlich: Sie verleiht der Folter Rechtmäßigkeit und schafft damit den Boden fur mehr illegale Folter. Wenn Dershowitz in analoger Weise argumentiert, dass die Folter in Situationen, wo einem die Zeit davonläuft, nicht gegen die Rechte des Gefangenen als angeklagter Person verstoße (die gewonnenen Informationen werden im Verfahren nicht gegen ihn verwendet und die Folter dient nicht der Bestrafung, sondern lediglich der Abwendung des drohenden Massenmordes), dann steckt dahinter eine noch viel beunruhigendere Prämisse: Es soll also erlaubt sein, Menschen nicht als Teil einer verdienten Bestrafung zu foltern, sondern einfach weil sie etwas wissen? Warum dann nicht auch die Folterung von Kriegsgefangenen legalisieren, die Informationen besitzen könnten, welche das Leben von Hunderten unserer Soldaten retten könnten? Kurz gesagt, solche Debatten, solche Aufforderungen, „offen zu bleiben", sind für jeden echten Liberalen ein Zeichen für den Sieg der Terroristen. Und Artikel wie der von Alter,
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die die Folter nicht rückhaltlos befürworten, sondern sie nur als ein legitimes Diskussionsthema einführen, sind in gewisser Weise noch gefährlicher als die ausdrückliche Befürwortung: Während - jedenfalls im Moment - eine ausdrückliche Befürwortung zu schockierend wäre und daher auf Ablehnung stieße, gestattet uns die Einführung der Folter als legitimem Diskussionsgegenstand, dass wir uns mit der Idee anfreunden und gleichzeitig ein reines Gewissen behalten können. („Selbstverständlich bin ich gegen Folter, aber wem tut es weh, wenn wir bloß darüber diskutieren!"). Die Legitimation von Folter als Gegenstand der Diskussion verändert die ideologischen Voraussetzungen und Optionen viel drastischer als ihre direkte Befürwortung. Sie verändert das gesamte Feld, wohingegen die direkte Befürwortung - ohne eine solche Veränderung - eine verschrobene Einzelmeinung bliebe. Das Problem hierbei ist das der grundlegenden ethischen Voraussetzungen: Faktisch wird hier die Folter mit Blick auf kurzfristige Gewinne (die Rettung hunderter Menschenleben) legitimiert - aber wie steht es mit den Langzeitfolgen für unser symbolisches Universum? Wo soll man aufhören? Warum nicht auch Schwerstverbrecher foltern, oder einen Vater, der sein Kind von seiner geschiedenen Frau entführt hat ...? Die Vorstellung, wir könnten, nachdem wir den Geist erst einmal aus der Flasche befreit haben, die Folter in einem „vernünftigen" Rahmen halten, ist die schlimmste liberale Illusion. Jede konsequente ethische Haltung muss eine solche pragmatisch-utilitaristische Argumentation zutiefst ablehnen. Man ist hier wieder versucht, ein einfaches Gedankenexperiment anzustellen: Man stelle sich vor, eine arabische Zeitung spräche sich für die Folterung amerikanischer Häftlinge aus - und welch eine Welle von Kommentaren über fundamentalistische Barbarei und Missachtung von Menschenrechten dadurch ausgelöst würde! Noch wissen wir nicht, welche Folgen das Ereignis für Wirtschaft, Ideologie, Politik und Krieg haben wird, aber eines ist sicher: Die USA, die sich bis jetzt als eine Insel betrachtet haben, die von dieser Art von Gewalt ausgenommen ist und solche Dinge nur aus der sicheren Distanz des Fernsehschirms miterlebte, sind nun unmittelbar betroffen. Die Alternative lautet also: Werden die Amerikaner es vorziehen, ihre „Sphäre" weiter zu festigen, oder werden sie das Risiko eingehen, aus ihr hinauszutreten? Entweder wird Amerika auf seiner zutiefst unmoralischen Haltung des „Warum sollte uns das passieren? Hier passiert so etwas nicht!" beharren und sie sogar noch vertiefen, was zu noch mehr Aggressivität gegen das bedrohliche Äußere führen würde, kurz: zu einem paranoiden Sich-Abreagieren. Oder Amerika wagt endlich den Schritt durch den phantasmatischen Schirm, der es von der Außenwelt trennt, akzeptiert seine Ankunft in der realen Welt und vollzieht den längst überfälligen Schritt von „So etwas dürfte hier nicht passieren!" zu „So etwas dürfte nirgendwo passieren!". Darin liegt die wahre Lehre der Anschläge: Der einzige Weg, um sicherzustellen, dass es hier nicht wieder geschieht, ist zu verhindern, dass es irgendwo anders geschieht. Kurz, Amerika muss lernen, seine eigene Verwundbarkeit als Teil dieser Welt demütig hinzunehmen und die Bestrafung der Täter als traurige Pflicht behandeln, nicht als rauschende Vergeltung. Die Anschläge auf das WTC stellen uns erneut vor die Notwendigkeit, der Versuchung einer doppelten Erpressung zu entgehen. Sie einfach ausschließlich und bedingungslos zu verdammen, erweckt zwangsläufig den Anschein, dass man die unverhohlen ideologische Haltung der von den bösen Mächten der Dritten Welt attackierten amerikanischen Unschuld annimmt; lenkt man andererseits die Aufmerksamkeit auf die tieferliegenden soziopoliti-
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sehen Ursachen des arabischen Extremismus, dann scheint man den Opfern die Schuld zu geben, die letztlich bekommen hätten, was sie verdienten ... Die einzige konsequente Lösung hier ist, genau diese Opposition zurückzuweisen und beide Positionen gleichzeitig anzunehmen, was nur möglich ist, wenn man sich der dialektischen Kategorie der Totalität zuwendet: Es gibt keine Wahl zwischen diesen beiden Haltungen, jede von ihnen ist einseitig und falsch. Dieser Fall ist weit davon entfernt, eine klare ethische Haltung zuzulassen, wir kommen hier an die Grenzen der moralischen Argumentation: Aus moralischer Sicht sind die Opfer unschuldig und die Tat war ein abscheuliches Verbrechen; gerade diese Unschuld aber ist nicht unschuldig - eine solche Position der „Unschuld" in der gegenwärtigen globalkapitalistischen Welt einzunehmen, ist schon für sich eine falsche Abstraktion. Dasselbe gilt fur den eher ideologischen „Kampf der Interpretationen": Man kann sagen, dass der Anschlag auf das WTC ein Anschlag auf das war, für das es sich in freiheitlichen Demokratien zu kämpfen lohnt - die dekadente westliche Lebensart, die von moslemischen und anderen Fundamentalisten verurteilt wird, ist auch die Welt der Rechte für Frauen und der multikulturalistischen Toleranz; 7 man kann allerdings auch sagen, dass es ein Anschlag auf das Zentrum und das Symbol des globalen Finanzkapitalismus war. Daraus lässt sich natürlich nicht etwa die Kompromissvorstellung einer geteilten Schuld ableiten (die Terroristen sind schuld, aber zum Teil auch die Amerikaner ...) - es geht vielmehr darum, dass die beiden Seiten nicht wirklich gegensätzlich sind, dass sie dem gleichen Feld angehören. Kurz, es gilt, die Notwendigkeit der Bekämpfung des Terrorismus zu akzeptieren, aber auch seine Bedingungen neu zu definieren und zu erweitern, sodass sie auch (einige) Taten der Amerikaner und anderer westlicher Mächte mit einschließen. Die Wahl zwischen Bush und Bin Laden ist nicht unsere Wahl, beide sind „die" gegen „uns". Der globale Kapitalismus ist eine Totalität, und das bedeutet, er ist die dialektische Einheit von sich selbst und seinem Anderen: den Kräften, die ihm auf der Grundlage „fundamentalistischer" Ideologien widerstehen. Von den zwei Geschichten, die nach dem 11. September aufkamen, sind „beide schlimmer", wie Stalin gesagt hätte. Die patriotische amerikanische Erzählung - die Unschuld im Belagerungszustand, die Woge des Nationalstolzes - ist natürlich eitel; aber ist die Erzählung der Linken (mit ihrer Schadenfreude: die USA haben gekriegt, was sie verdient haben, was sie jahrzehntelang anderen angetan haben) wirklich besser? Die vorherrschende Reaktion der europäischen, aber auch der amerikanischen Linken war ein einziger Skandal: Alle erdenklichen Dummheiten wurden gesagt und geschrieben, bis hin zu dem „feministischen" Aspekt, die WTC-Türme seien zwei Phallussymbole gewesen, die auf ihre Zerstörung („Kastration") gewartet hätten. Lag nicht etwas Kleinliches, Jämmerliches in den Zahlenspielen, die einen an den Holocaust-Revisionismus denken ließen (was sind schon 6000 Tote gegen die Millionen in Ruanda, Kongo usw.)? Und was ist mit der Tatsache, dass der CIA die Taliban und Bin Laden (mit-) geschaffen hat, indem er sie finanzierte und beim Kampf gegen die Sowjets in Afghanistan unterstützte? Warum wurde das als Argument gegen einen Angriff herangezogen? Wäre es nicht viel logischer zu fordern, dass es geradezu ihre Pflicht
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Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an die Antwort des Außenministers der Taliban auf die Frage eines westlichen Journalisten, warum Frauen in Afghanistan keine größere Rolle (oder besser: überhaupt keine) bei öffentlichen Angelegenheiten spielen: „Wie soll man einer Person trauen, die jeden Monat von selbst für ein paar Tage blutet!"
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ist, uns von dem Monster zu befreien, das sie geschaffen haben? In dem Moment, in dem man sich Gedanken macht wie „Ja sicher, der Einsturz des WTC war eine Tragödie, aber man sollte sich nicht völlig mit den Opfern solidarisieren, denn damit würde man den USImperialismus unterstützen", hat die ethische Katastrophe schon stattgefunden. Die einzig angemessene Haltung ist die bedingungslose Solidarität mit allen Opfern. Hier aber wird die eigentliche ethische Haltung durch die moralisierende Aufrechnung von Schuld und Schrecken ersetzt und so der entscheidende Punkt verfehlt: Der schreckliche Tod jedes Einzelnen ist absolut und unvergleichbar. Kurz, machen wir wieder ein einfaches Gedankenexperiment: Wenn man bei sich selbst einen gewissen Widerwillen entdeckt, völlig mit den Opfern der Anschläge auf das WTC mitzufühlen, wenn man den Drang verspürt, sein Mitgefühl zu relativieren („Gut, aber was ist mit den Millionen Notleidenden in Afrika ..."), dann demonstriert man damit nicht seine Sympathie mit der Dritten Welt, sondern lediglich die mauvaise foi, die von einer herablassenden, implizit rassistischen Haltung gegenüber den Opfern in der Dritten Welt zeugt. (Genauer: Das Problem bei solchen vergleichenden Aussagen ist, dass sie sowohl notwendig als auch unzulässig sind: Man muss sie machen, man muss darlegen, dass täglich auf der ganzen Welt noch viel schrecklichere Dinge geschehen aber man muss dies tun, ohne sich auf die obszöne Arithmetik der Schuld einzulassen.) Auch mit ihrer Rückkehr zu der alten Beschwörungsformel „Give peace a chance! Krieg beendet nicht die Gewalt!" in den Wochen nach den Anschlägen ist die Linke kläglich gescheitert. Das war ein echter Fall von hysterischem Übereifer als Reaktion auf etwas, das in der erwarteten Form nie geschehen wird. Statt einer konkreten Analyse der neuen komplexen Situation nach den Anschlägen und der sich daraus für die Linke ergebenden Möglichkeiten für eine eigene Interpretation der Ereignisse, hörten wir den blinden ritualistischen Ruf „Kein Krieg!", der selbst die simple und sogar von der US-Regierung selbst (durch ihre Verzögerung der Vergeltungsaktionen um einen Monat) anerkannte Tatsache verfehlt, dass dies kein gewöhnlicher Krieg und die Bombardierung Afghanistans keine Lösung ist. Ein trauriger Zustand, in dem George Bush mehr Reflektionspotenzial erkennen ließ als der Großteil der Linken! Ein weiteres falsches Argument der Linken lag in der Forderung, die Schuldigen an den Anschlägen sollten wie Straftäter verfolgt und behandelt werden - was geschehen sei, sei eine Straftat gewesen. Diese Auffassung verkennt völlig die politische Dimension des modernen „Terrorismus". Es ist kein Wunder, dass der Antiamerikanismus besonders in den „großen" europäischen Nationen zu spüren war, besonders in Frankreich und Deutschland: Er ist Teil ihres Widerstands gegen die Globalisierung. Häufig ist die Klage zu hören, der gegenwärtige Globalisierungstrend bedrohe die Souveränität der Nationalstaaten; diese Aussage gilt es hier allerdings einzuschränken: Welche Staaten sind dieser Bedrohung am meisten ausgesetzt? Nicht die kleinen Staaten, sondern die (ehemaligen) Weltmächte zweiter Klasse, Länder wie Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Sie befurchten, dass sie, sobald sie erst einmal völlig in das sich neu entwickelnde Global Empire eingetaucht sind, auf einer Stufe mit Ländern wie Österreich, Belgien oder sogar Luxemburg landen werden. Bei der von vielen Linken wie Rechtsnationalisten in Frankreich geteilten Ablehnung der „Amerikanisierung" handelt es sich also letztlich um die Verweigerung der Tatsache, dass Frankreich dabei ist, seine Vormachtstellung in Europa zu verlieren. Die Resultate dieser Ablehnung sind oft komischer Natur - auf einem philosophischen Kolloquium beklagte sich
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kürzlich ein französischer Philosoph darüber, dass es außer ihm selbst kaum noch Franzosen unter den Philosophen in Frankreich gebe: Derrida wurde an den amerikanischen Dekonstruktivismus verkauft, die Akademie ist vom angelsächsischen Kognitivismus überschwemmt ... Hier hilft uns wieder ein einfaches Gedankenexperiment: Stellen wir uns einen Serben vor, der behauptet, er sei der einzig verbliebene wahrhaft serbische Philosoph er würde auf der Stelle als Nationalist gebrandmarkt und verlacht werden. Die Gewichtsverlagerung zwischen größeren und kleineren Nationalstaaten sollte also zu den positiven Effekten der Globalisierung gerechnet werden. Hinter dem verächtlichen Spott für die neuen postkommunistischen europäischen Staaten im Osten lassen sich unschwer die Umrisse des gekränkten Narzissmus der europäischen „Großnationen" erkennen. Eine gute Portion Leninscher Sensibilität für die kleinen Nationen (er bestand bekanntlich darauf, dass man in der Beziehung von großen und kleinen Nationen immer mit einem größeren Maß des „kleinen" Nationalismus rechnen sollte) wäre hilfreich. In Ex-Jugoslawien wurde interessanterweise dieselbe Matrix reproduziert: Nicht nur von den Serben, sondern sogar von der Mehrheit der Westmächte wurde Serbien wie selbstverständlich als die einzige ethnische Gruppe wahrgenommen, die über genügend Substanz für die Bildung eines eigenen Staates verfugte. Selbst die radikaldemokratischen Kritiker Milosevics, die den serbischen Nationalismus ablehnten, handelten während der 90er Jahre unter der Voraussetzung, dass Serbien als einzige der ex-jugoslawischen Republiken demokratisches Potenzial besitzt: Nach dem Sturz Milosevics könne nur Serbien zu einem florierenden demokratischen Staat werden, während die anderen Nationen Ex-Jugoslawiens zu „provinziell" seien, um einen eigenen demokratischen Staat aufrecht zu erhalten ... Ist das nicht eine Kopie von Friedrich Engels' bekannten bissigen Bemerkungen darüber, dass die kleinen Balkannationen politisch reaktionär seien, weil schon ihre Existenz eine Reaktion sei, ein Überleben der Vergangenheit? Amerikas „Urlaub von der Geschichte" war ein Schwindel: Amerikas Frieden wurde durch die Katastrophen anderswo erkauft. Die vorherrschende Sichtweise in diesen Tagen ist die eines unschuldigen Blicks, der sich dem unsagbar Bösen gegenübersieht, das von außen hereinbrach - und auch hier sollten wir wieder die Kraft aufbringen und Hegels bekanntes Diktum anwenden, dass das Böse (auch) im unschuldigen Blick selbst liegt, der überall um sich herum Böses sieht. Es liegt also etwas Wahres selbst in der noch so beschränkten Vision der moralischen Mehrheit von einem verderbten Amerika, das sich geistlosen Vergnügungen hingibt, in dem konservativen Entsetzen über diese Unterwelt der sexuellen Ausbeutung und pathologischen Gewalt. Was ihnen entgeht, ist lediglich die Hegeische spekulative Identität zwischen dieser Unterwelt und ihrer eigenen Position der falschen Reinheit - die Tatsache, dass sich so viele fundamentalistische Prediger als heimliche sexuelle Perverse entpuppen, ist mehr als nur ein kontingentes empirisches Faktum. Die Beteuerung des amerikanischen Fernsehpredigers Jimmy Swaggart, dass seine Besuche bei Prostituierten seinen Predigten nur zusätzliche Kraft verliehen hätten (er wisse durch seinen persönlichen Kampf, wogegen er predigt), ist, obwohl auf der unmittelbaren subjektiven Ebene zweifellos heuchlerisch, dennoch objektiv wahr. Kann man sich eine größere Ironie vorstellen als die Tatsache, dass der erste Codename für die US-Militäraktion gegen die Terroristen „Unendliche Gerechtigkeit" (Infinite Justice) lautete (später wurde er aufgrund von Vorwürfen amerikanischer islamischer Geistlicher, dass nur Gott unendliche Gerechtigkeit ausüben könne, verändert)? Nimmt man diesen Na-
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men ernst, ist er extrem zweideutig: Entweder bedeutet er, dass die Amerikaner das Recht haben, nicht nur alle Terroristen schonungslos zu vernichten, sondern auch alle, die sie materiell, moralisch, ideologisch usw. unterstützt haben (und dieser Prozess ist per definitionem unendlich im exakten Hegeischen Sinn der „schlechten Unendlichkeit" - das Werk wird nie wirklich abgeschlossen sein, es wird immer irgendeine terroristische Bedrohung übrigbleiben ...); oder es bedeutet, dass die ausgeübte Gerechtigkeit wirklich unendlich im strengen Hegeischen Sinne sein muss, d.h. dass sie sich in ihrer Beziehung auf andere auf sich selbst beziehen muss - kurz, dass sie die Frage stellen muss, wie wir, die wir Gerechtigkeit ausüben, selbst in das einbezogen sind, wogegen wir kämpfen. Als Derrida am 22. September 2001 den Theodor-W.-Adorno-Preis erhielt, ging er in seiner Rede auf die Anschläge auf das WTC ein: „Mein uneingeschränktes Mitgefühl mit den Opfern des 11. September kann mich nicht davon abhalten es offen auszusprechen: Ich glaube angesichts dieses Verbrechens nicht, dass irgendjemand politisch schuldlos ist." Dieser Selbstbezug, diese Inklusion seiner selbst in das Bild ist die einzig wahre „unendliche Gerechtigkeit". Die größte Ironie liegt vielleicht darin, dass man sich auf das Elend der afghanischen Flüchtlinge und, allgemeiner, die katastrophale Ernährungs- und Gesundheitssituation im Land als größtem „Kollateralschaden" der Reaktion des Westens konzentriert, sodass Militäraktionen gegen die Taliban mitunter beinahe wie Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit humanitären Hilfsgütern präsentiert werden. Dadurch verschwindet der Gegensatz zwischen Krieg und humanitärer Hilfe. Beide sind eng verbunden, derselbe Einsatz kann auf zwei Ebenen gleichzeitig wirken. Der Sturz des Talibanregimes wird als Teil einer Strategie präsentiert, die den von den Taliban unterdrückten afghanischen Menschen helfen soll - in den Worten Tony Blairs: Vielleicht müssen wir die Taliban bombardieren, um den Transport und die Verteilung von Nahrung sicherzustellen. Angesichts dieses doppelzüngigen Geredes möchte man die Worte des Talibanfuhrers Mullah Mohammad Omar aus seiner Ansprache an das amerikanische Volk vom 25. September 2001 wiederholen: „Sie akzeptieren alles, was Ihre Regierung sagt, egal ob wahr oder falsch. [...] Können Sie nicht selbst denken? [...] Es ist also besser für Sie, wenn Sie Ihre Sinne und Ihren Verstand gebrauchen." Diese Aussage ist zwar zweifellos ein zynischer Manipulationsversuch, aber ist sie nicht dennoch, in einem abstrakten, entkontextualisierten Sinn, ziemlich treffend? Das Schlimmste, was man nach den Ereignissen des 11. September tun kann, wäre, sie auf die Stufe des absoluten Bösen zu erheben, als ein Vakuum, das man weder erklären noch dialektisieren kann. Sie in eine Reihe mit der Shoah zu stellen ist blasphemisch. Die Shoah wurde von einem riesigen Netzwerk aus staatlichen Apparatschiks und deren Handlangern verübt, denen im Gegensatz zu den WTC-Attentätern die selbstmörderische Bereitschaft zum eigenen Tod fehlte - sie waren, wie Hannah Arendt dargelegt hat, anonyme Bürokraten, die nur ihre Arbeit machten, und es lag eine enorme Kluft zwischen dem, was sie taten, und ihrer individuellen Selbsterfahrung. Diese „Banalität des Bösen" fehlt im Fall der Terroranschläge. Die Terroristen nahmen den Schrecken ihrer Taten vollständig an, er ist ein Teil der fatalen Anziehungskraft, die sie dazu brachte, sie zu begehen. Mit anderen Worten: Die Nazis betrieben die „Lösung der Judenfrage" als obszönes Geheimnis, versteckt vor dem öffentlichen Blick, während die Terroristen das Schauspiel ihrer Tat heroisch darboten. Der zweite Unterschied ist, dass die Shoah ein Teil der europäischen Geschichte ist, sie war ein Ereignis, dass nicht unmittelbar die Beziehung zwischen Moslems und Juden betrifft.
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Erinnern wir uns an Sarajewo, wo es die bei weitem größte jüdische Gemeinde ExJugoslawiens gab und das darüber hinaus die kosmopolitischste jugoslawische Stadt war, ein blühendes Zentrum der Kinos und der Rockmusik - warum? Eben weil es eine moslemisch dominierte Stadt war, in der die Gegenwart von Juden und Christen toleriert wurde, im Gegensatz zu den christlich dominierten größeren Städten, aus denen Juden und Moslems längst vertrieben worden waren. Warum sollte die New Yorker Katastrophe in irgendeiner Weise privilegiert sein etwa gegenüber dem Massenmord an Hutus durch die Tutsis in Ruanda 1999? Oder der massiven Bombardierung und Vergasung von Kurden im Norden des Irak Anfang der 90er Jahre? Oder den Massentötungen durch die indonesischen Streitkräfte in Osttimor? Oder ... Die Liste der Länder, in denen das massenhafte Leiden größer war und ist als in New York, die aber nicht das Glück haben, so im Blickpunkt zu stehen, dass sie von den Medien zum erhabenen Opfer des absoluten Bösen erhoben werden, ist lang, und das ist genau der Punkt: Wenn man auf dem Gebrauch dieses Ausdrucks besteht, sind dies alles Beispiele des „absoluten Bösen". Sollten wir also das Deutungsverbot ausweiten und sagen, dass dieses Böse in keinem Fall „dialektisiert" werden kann und darf? Und ist man dann nicht verpflichtet, noch einen Schritt weiter zu gehen: Was ist mit „individuellen" schrecklichen Verbrechen, von denen des sadistischen Massenmörders Jeffrey Dahmer bis zu denen von Andrea Yates, die kaltblütig ihre fünf Kinder ertränkte? Liegt nicht etwas Reales/Unmögliches/Unerklärbares in jeder diesen Taten? Stehen wir nicht, wie es Schelling vor über 200 Jahren ausdrückte, bei jeder von ihnen vor dem Abgrund des freien Willens, vor der Unwägbarkeit des „Ich tat es, weil ich es tat!", die sich jeglicher psychologischen, sozialen, ideologischen usw. Deutung entzieht? Haben dann die Ereignisse des 11. September etwas mit dem verborgenen Gott zu tun, der Menschenopfer verlangt? Ja, und genau aus diesem Grund stehen sie nicht auf einer Stufe mit der Vernichtung der Juden durch die Nazis. Man sollte hier Agamben8 folgen und nicht Lacans bekannter Interpretation des Holocaust (der Ausrottung der Juden durch die Nazis) als Holocaust im alten jüdischen Wortsinn, d.h. als Opfer an die verborgenen Götter mit dem Ziel, ihr schreckliches Verlangen nach jouissance zu stillen. Die ermordeten Juden gehören eher zu einer Gruppe, die man in der Antike als homo sacer bezeichnete - diejenigen, die, obwohl sie menschlich waren, aus der menschlichen Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, weswegen man sie ungestraft töten und genau aus demselben Grund auch nicht opfern konnte (weil sie keine würdige Opfergäbe waren). Die spektakuläre Explosion der WTC-Türme war nicht einfach ein symbolischer Akt (im Sinne eines Akts, dessen Ziel es ist, „eine Botschaft zu transportieren"). Sie war in erster Linie eine Explosion tödlicher jouissance, ein perverser Akt, in dem man sich selbst zum Instrument der jouissance des großen Anderen macht. Ja, die Kultur der Attentäter ist eine morbide Kultur des Todes, eine Haltung, die die höchste Erfüllung des eigenen Lebens im gewaltsamen Tod findet. Ja, das ultimative Ziel der Anschläge war kein verborgenes oder offensichtliches ideologisches Programm, sondern - im präzisen Hegeischen Sinne des Wortes - die (Wieder-) Einfuhrung der Dimension der absoluten Negativität in unser Alltagsleben; die Erschütterung des isolierten Tagesablaufs von uns wahrhaft „letzten Men-
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Vgl. G. Agamben, Homo Sacer, Stanford 1998.
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sehen". Auch wenn es ein Sakrileg ist: Die Anschläge auf das WTC haben etwas mit Antigones Tat gemeinsam. Beide unterminieren den „Dienst an den Gütern", die Herrschaft des Lust-Realitäts-Prinzips. Ein „dialektisches" Vorgehen erfordert hier jedenfalls, dass wir diese Taten nicht in einen größeren Zusammenhang des Fortschritts der Vernunft oder der Menschlichkeit einordnen, wodurch sie - wenn nicht beglichen, so doch zumindest - Teil einer größeren, allumfassenden, konsistenten Erzählung würden, „aufgehoben" in einer „höheren" Entwicklungsstufe (die naive Vorstellung des Hegelianismus), sondern dass wir unsere eigene Unschuld in Frage stellen und unsere eigene (phantasmatisch libidinöse) Investition und unser Engagement dabei thematisieren. Anstatt also in lähmender Ehrfurcht vor dem absoluten Bösen zu erstarren, einer Ehrfurcht, die es uns verbietet, darüber nachzudenken, was eigentlich geschieht, sollten wir uns daran erinnern, dass es grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Reaktion auf solch traumatische und unerträgliche, Angst erzeugende Ereignisse gibt: den Weg des Über-Ichs und den Weg des Akts. Der Weg des Über-Ichs ist exakt der des Opfers an die verborgenen Götter, von dem Lacan spricht: die Bekräftigung der barbarischen Gewalt des wilden, obszönen Gesetzes, um die Lücke des fehlenden symbolischen Gesetzes zu schließen. Und der Akt? Eine der Heldinnen der Shoah ist fur mich jene berühmte jüdische Balletttänzerin, die von Lageroffizieren als Zeichen der besonderen Demütigung aufgefordert wurde, für sie zu tanzen. Anstatt sich zu weigern, tat sie es, und als alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet war, entriss sie einer der abgelenkten Wachen blitzschnell ein Maschinengewehr und erschoss über ein Dutzend Offiziere, bevor sie selbst niedergeschossen wurde ... Ist dieser Akt nicht vergleichbar mit dem der Passagiere an Bord der Maschine, die in Pennsylvania abstürzte? Im Bewusstsein des sicheren Todes erzwangen sie sich Zutritt zum Cockpit, brachten das Flugzeug zum Absturz und retteten so Hunderte von Menschenleben. Und die New Yorker selbst? Noch Monate nach dem 11. September 2001 konnte man in Downtown Manhattan bis zur 20th Street den Brandgeruch der WTC-Türme wahrnehmen die Leute begannen daran zu hängen, der Geruch wurde zu einem „Sinthom" von New York und man wird ihn vermissen, wenn er weg ist. Es sind solche Details, die von der wahren Liebe der Stadt zeugen.
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„Enemy Mine": Über unpolitische Feindschaft Was klagst Du über Feinde? J. W. v. Goethe'
Feindschaft, so lehrt der Brockhaus, nennt man ein Verhältnis zwischen Personen oder Kollektiven, das durch „entschiedene gegenseitige Ablehnung" bis hin zum „Vernichtungswillen" geprägt ist. Ihren typischen Ausdruck erfährt Feindschaft laut dieser Begriffsbestimmung in Konkurrenz, Kampf und Krieg.2 Diese Definition wirft eine Frage auf: Wenn Feindschaft typischerweise im Krieg zum Ausdruck kommt und es all unserer Erfahrung nach keinen Krieg ohne Feindschaft gibt, wäre dann nicht der Krieg das entscheidende Moment und die Feindschaft damit als die Möglichkeit des Krieges zu bestimmen? Ist Feindschaft überhaupt ohne Krieg denkbar? In historischen Untersuchungen konkretisieren sich diese im Kern philosophischen Probleme zu scheinbar ganz pragmatischen Fragen darüber, ob ein Krieg durch vorausgehende Feindschaften verursacht und bestimmt wurde oder ob er in seinen Ursachen relativ unabhängig von besonderen Feindschaftskonstellationen war, sie vielleicht sogar erst hervorgebracht hat. Nicht allein die empirische Rechnung, was zuerst da war, sondern die historische Frage nach Ermöglichungen ist bei der Beantwortung solcher Fragen entscheidend. Der Erste Weltkrieg kann als Beispiel dienen: Seine Historiographie ist insofern symptomatisch als sie sich beider Denkfiguren bedient und sie zugleich in kaum vermittelter Weise nebeneinander stellt. Kein anderer Krieg ist so genau mit Blick auf seine vorausgehenden Verfeindungsprozesse untersucht worden.3 Die komplexe europäische Bündnispolitik mit ihren Konferenzen, Affären und diplomatischen Hasardspielen, die kriegsökonomische Konkurrenz, wie sie etwa zwischen England und dem Deutschen Reich im Schlachtflottenbau über Jahrzehnte vorangetrieben wurde, oder der immer wieder entzündete Konflikt der Kolonialmächte über Territorien und Einflusszonen - all das stellte ein ganzes System von Feindschaften dar, das in der vielgebrauchten Metapher vom Pulverfass einen Ausdruck gefunden hat. Dass aber die Rede vom Pulverfass bereits zum zeitgenössischen Vorkriegsdiskurs gehörte, dass kaum ein anderer Krieg so herbeigeredet und noch vor seinem Beginn als eigentlich schon lange stattfindend gedacht, von vielen daher als sich erfüllende Notwendigkeit
1 J. W. v. Goethe, West-östlicher Divan, Hamburger Ausgabe Bd. 2, S. 53. - Für die immer wieder aufgenommene und nicht abgeschlossene Diskussion über die im vorliegenden Text behandelten Probleme danke ich Stefan-Ludwig Hoffmann. 2 Brockhaus Enzyklopädie Bd. 7,19. Aufl., Mannheim 1988, S. 167. 3 Zum Begriff der Verfeindung vgl. die Beiträge von Burkhard Liebsch im vorliegenden Band.
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begrüßt wurde, dass mithin die Verfeindungen auch als solche wahrgenommen wurden, markiert die umgekehrte Sichtweise: Die konkreten Fronten des Ersten Weltkriegs galten schon zu Kriegsbeginn, noch mehr in den Nachkriegsjahren und manchen noch heute als die sich letztlich nur zufällig so und nicht anders konkretisierte Form eines Krieges, der mit der Moderne und ihren technischen und sozialen Dynamiken in der einen oder anderen Weise ohnehin kommen mußte. Mit anderen Worten: So genau sich die konkreten Ursachen des Krieges auch rekonstruieren lassen, das Jahr 1914 markiert immer auch einen Überschuss an historischer Bedeutung, an geschichtlicher Notwendigkeit, der in Kausalerklärungen nicht aufgeht. Zugleich macht das Beispiel des Ersten Weltkriegs aber auch die Nähe und Zusammengehörigkeit der beiden Weisen, Krieg und Feindschaft in Beziehung zu setzen, deutlich: Ohne dass sie aufeinander abbildbar wären, scheint die Betonung der vorausgehenden Verfeindungen nicht ohne jenen übergeordneten Diskurs des Kriegs als geschichtlicher Notwendigkeit und die Betonung dieses nicht ohne den Blick auf seine Manifestationen in konkreten Verfeindungsprozessen auszukommen. 4 Eine ähnliche Ambivalenz liegt noch einem weiteren umstrittenen Ausdruck zu Grunde, mit dem man Kriege und Kriegsausbrüche bisweilen beschrieben findet, nämlich als Naturereignisse. Historiker haben diesen Begriff immer schon und zu Recht kritisiert. Meist allerdings mit dem Argument, dass er eine Zufälligkeit signalisiere, die in historischer Sicht nicht legitim sei, da auch Kriege und Katastrophen durch vorausgehende Handlungen und Entscheidungen hervorgebracht werden und nicht vom Himmel fallen. So plausibel dieses Argument auch erscheint, es birgt die Gefahr, den Gegner zu verfehlen oder zumindest misszuverstehen. Denn wieso sind Naturereignisse zufällig? Aus Sicht der modernen Naturwissenschaft sind sie ganz und gar nicht zufällig, sondern folgen bestimmten Gesetzen, den Naturgesetzen. Und tatsächlich verband sich mit den zeitgenössischen Beschreibungen gerade des Ersten Weltkriegs als Naturereignis weit weniger die Vorstellung seiner Zufälligkeit als vielmehr eben jene seiner Naturnotwendigkeit. Allerdings impliziert auch das die Idee, dass es niemals möglich war, den Krieg zu verhindern, was den eigentlichen Ansatzpunkt der historischen Kritik (im Namen der Veränderbarkeit der Welt durch menschliche Vernunft) an der Kategorie des Naturereignisses darstellt. Einen modernen Krieg ein Naturereignis zu nennen, entzieht ihn also menschlicher Verantwortung, ohne ihn deshalb aber zu einem kontingenten Schicksal zu machen. Die Denkfiguren der Feindschaft als Ursprung des Kriegs und des Kriegs als Ursprung der Feindschaft bilden in ganz ähnlicher Weise zwei Seiten einer Medaille, gerade weil sie beide dazu tendieren, das jeweils als Erklärung des anderen favorisierte Phänomen zu naturalisieren bzw. zu universalisieren. Als klassische Beispiele für eine Universalisierung des Kriegs zum Vater aller Dinge - und also für die Erklärung konkreter Feindschaften zu seinem bloßen Ausdruck - gelten etwa Thomas Hobbes Formel vom .bellum omnia contra omnes' oder auch die Vorstellung eines ewigen Kriegs der Rassen, wie ihn im 19. Jahrhun-
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Ein klassisches Beispiel fur diesen Zusammenhang in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ist der von Ernst Jünger im Jahre 1930 herausgegebene Band Krieg und Krieger. Vgl. hierzu auch die Rezension von Walter Benjamin, „Theorien des Faschismus", in: Gesammelte Schriften, Frankfurt 1972, Bd. III, S. 2 3 8 250. Noch heute spielt die Denkfigur eines zerstörerischen Potentials der Moderne, das im Ersten Weltkrieg zum ersten Mal zum Ausdruck gekommen sei, eine prominente Rolle. Vgl. den Sammelband von B. Hüppauf (Hg.), War, Violence and the Modern Condition, New York 1997.
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dert etwa Arthur Gobineau proklamierte. Als klassische Beispiele für eine Generalisierung der Feindschaft - und damit für die Erklärung des Kriegs zu ihrem bloßen Ausdruck - gelten etwa Carl von Clausewitz' Formel vom Krieg als .Fortfuhrung der Politik mit anderen Mitteln' oder auch Carl Schmitts Unterscheidung zwischen Freund und Feind als Kern des Politischen, deren Setzung im Ausnahmezustand des Kriegs Souveränität legitimiert. Ohne die Differenzen zwischen Hobbes und Gobineau, Clausewitz und Schmitt nivellieren zu wollen, soll in den folgenden ersten beiden Teilen des vorliegenden Essays dennoch argumentiert werden, dass sie gemeinsam einer langen europäischen Tradition des politischen Denkens angehörten, die Feindschaft und Krieg systematisch aneinander gekettet, aufeinander bezogen und fast untrennbar gemacht hat. Die Kritik an dieser Tradition orientiert sich an Lesarten von Krieg und Feindschaft, die sich erst aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts entwickelt haben: insbesondere an Arbeiten von Hannah Arendt und Michel Foucault. Sie möchte zeigen, dass die Verschränkung von Feindschaft und Krieg letztlich immer auf ihre Enthistorisierung hinausläuft, auf die Ersetzung von Geschichte durch einen vorausgesetzten natürlichen Prozess. Das hat die These zur Konsequenz, dass ein mit dem Krieg identifizierter Begriff der Feindschaft - entgegen den Selbstbeschreibungen jener Tradition - letztlich ein unpolitischer Begriff der Feindschaft ist. Ein dritter Teil versucht dann zu zeigen, wie umfassend die historische Wirksamkeit jener Tradition der Verschränkung von Feindschaft und Krieg war, indem er am Beispiel von Peter Kropotkins anarcho-sozialistischer Theorie der .Gegenseitigen Hilfe' darstellt, wie noch Positionen, die jener (scheinbar staatskonservativen) Tradition des Kriegsdenkens diametral entgegenstanden, sie im Grunde übernahmen und für ihre Zwecke nur umdeuteten. Der vierte Teil wird die bis dahin ideengeschichtlich entwickelten Überlegungen zu einer Historisierung des Verhältnisses von Feindschaft und Krieg mit Blick auf aktuellere Kontexte, besonders auf das Problem des Terrorismus konkretisieren. Dabei stehen die Ereignisse vom 11. September 2001 sowie einige der typischen öffentlichen Reaktionen auf sie im Zentrum. Ein fünfter Teil schließlich will anhand eines Beispiels aus dem Science Fiction-Genre zeigen, dass die offensichtlich einzige Idee, die unsere politische Moral der Feindschaft entgegensetzen kann, die Idee der Verwandtschaft ist; und das gerade weil und insofern in unserem Denken Feindschaft immer schon die Möglichkeit des Krieges ist. Demgegenüber möchte der vorliegende Text vorschlagen, über eine strikte theoretische Unterscheidung und praktische Trennung von Feindschaft und Krieg nachzudenken, die einen Raum des Politischen eröffnen kann, der eben nicht ein Raum des potentiellen Krieges ist. Die Diagnose der unpolitischen Feindschaft impliziert daher das Plädoyer für eine wirkliche Politisierung von Feindschaft.
I. Krieg und Politik „Wer hat als erster gedacht, dass die Politik der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg ist?"5 Eigentlich kann das doch nur jemand nach General Carl von Clausewitz gewesen sein, jemand, der dessen berühmte Formel vom absoluten Krieg umdrehte und sie damit radikali-
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M. Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft,
Frankfurt am Main 1999, S. 307.
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sierte - zum Beispiel General Erich Ludendorff.6 Dieser veröffentlichte 1935 seine Schrift über den „totalen Krieg", auf die sich Goebbels später in seiner Sportpalastrede bezog und in der die Theorien des preußischen Generals von 1832 ihre faschistische „Umstülpung" erfuhren.7 Ludendorff war sicher nicht der erste, aber wohl der radikalste Vertreter einer Kriegstheorie, die in der Politik nur ein Mittel zum Krieg sah und die Clausewitzsche, bis dahin von den meisten Politikern und Militärs anerkannte These auf den Kopf stellte. Schon vor Ludendorff hatte etwa Hans Freyer den Krieg 1925 zur eigentlichen „Lebensluft" des Staates, zur „bloßen Steigerung seines wesentlichen Daseins" und die Politik zur „Fortsetzung des Krieges mit veränderten Mitteln" erklärt. Und auch Ernst Jünger hatte bereits 1930 die „totale Mobilmachung" gefordert, die gegeben sei, „wenn das Bild des kriegerischen Vorgangs schon in die Ordnung des friedlichen Zustands eingezeichnet ist."8 Ludendorff selbst hatte ebenfalls schon zu Beginn der 1920er Jahre die These aufgestellt, dass „die Gesamtpolitik dem Kriege zu dienen" habe, da „Politik" im Grunde nichts anderes sei als „eben Krieg".9 Seine Schrift zum totalen Krieg von 1935 fasste all das zwei Jahre vor seinem Tod nur noch einmal zusammen. Die Radikalität Ludendorffs gegenüber den Thesen Freyers oder Jüngers liegt nicht nur im intellektuellen Abstand zwischen diesen und dem geschlagenen General begründet, der nach 1918 im rechtsradikalen Münchener Bierzeltmilieu Trost suchte.10 Vielmehr ist es gegenüber der experimentierenden Umkehrung der Clausewitzschen Formel die endgültige Einebnung auch noch der bloßen Unterscheidung zwischen Krieg und Politik, ihre völlige Identifizierung, durch die Ludendorff den von Clausewitz bis Jünger immer noch theoretischen Diskurs zum Verhältnis von Krieg und Politik sprengte. Aus ihm wurde bei Ludendorff eine praktische Kriegspolitik, in der die Unterscheidung zwischen Politik und Krieg ebenso hinfällig wurde wie die zwischen Theorie und Praxis. Darin liegt zum einen das spezifisch nationalsozialistische Moment, durch das sich Ludendorff von den sogenannten Wegbereitern wie Freyer und Jünger (oder auch Schmitt und Heidegger) entscheidend absetzte, zum anderen aber auch ein Moment der letztmöglichen Konsequenz eines politischen Denkens, das nicht erst seit Clausewitz den Weg der Verschränkung von Krieg und Politik eingeschlagen hatte. So hat etwa Hans-Ulrich Wehler auf eine der Stellen hingewiesen, an der die Konsequenz, die Ludendorff artikulierte, bereits bei Clausewitz angedacht war. „Dass der politische Gesichtspunkt", in den der Krieg eigentlich immer eingebettet sei, sich auflöse und „ganz aufhören sollte", schrieb Clausewitz, „würde nur denkbar sein, wenn die Kriege aus bloßer Feindschaft Kämpfe auf Leben und Tod wären".' 1 Was Clausewitz hier nur als
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Vgl. zu folgendem vor allem H.-U. Wehler, „Vom ,absoluten' zum ,totalen' Krieg oder: Von Clausewitz zu Ludendorff', in: ders., Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918: Studien zur deutschen Sozialund Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. Göttingen 1979, S. 89-116. E. Ludendorff, Der totale Krieg, München 1935. Zit. n. Wehler, „Vom .absoluten' zum ,totalen' Krieg", S. 103. Vgl. H. Freyer, Der Staat, Leipzig 1925; E. Jünger, Die totale Mobilmachung, Berlin 1930. Zit. n. Wehler, „Vom ,absoluten' zum ,totalen' Krieg", S. 106. Vgl. E. Ludendorff, Kriegführung und Politik, München 1922. Zur frühen Beziehung zwischen Ludendorff und der Hitlerbewegung vgl. I. Kershaw, Hitler 18891936, Stuttgart 1998, bes. S. 215-330. Zit. n. Wehler, „Vom ,absoluten' zum ,totalen' Krieg", S. 111 (meine Hervorh., C.G.). Vgl. auch C. v. Clausewitz, Vom Kriege, Neuausgabe Berlin 1999, S. 685.
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Denkbarkeit aussprach, ist genau das, was die jüngere politische Philosophie als Kern des nationalsozialistischen Herrschaftssystems zu beschreiben sucht. Kriege aus „bloßer Feindschaft" sind Kriege, die ihren politischen Zweck gleichsam aufgesogen haben und nur mehr um ihrer selbst willen, als bloßer Überlebenskampf, gefuhrt werden. Eben diesen Schritt zur radikalen Ununterscheidbarkeit von Zweck und Mitteln, zur Indistinktion von politischem Leben und biologischem Überleben, hat jüngst Giorgio Agamben als ein wesentliches Moment des Nationalsozialismus identifiziert: zum einen auf der Ebene der politischen Entscheidungen, auf der es keinen Trennung mehr zwischen Befehl und Gehorsam gab, sondern das Wort des Führers unmittelbares Naturgesetz war, und zum anderen auf der Ebene des totalen Terrors der Konzentrationslager, die einen Raum der völligen Ununterscheidbarkeit von bios und zoe, politischem und biologischem Leben, von Gesetz und Tatsache bildeten.12 Lange vor Agamben hat bereits Hannah Arendt den totalen Terror als das „Gesetz" bestimmt, „das nicht übertreten werden kann", in dem politische Setzung und Naturnotwendigkeit eins geworden sind, Geschichte und Naturprozess ineinandergeblendet werden und zwar nach den, in ihrer Logik ganz und gar nicht harmlosen, Formeln „Wer Α sagt, muß auch Β sagen" oder „Wo gehobelt wird, da fallen Späne": „Solange die Ideologien nur in der Form von Weltanschauungen bestehen, [...] ist ihr eigentlicher Inhalt - der Kampf um die Gerechtigkeit im Kommunismus und die Sorge um den Bestand der Nation in allen völkisch orientierten Ismen - immer noch vorherrschend. Erst wenn die Radikalität totalitärer Bewegungen aus den Ideologien die Prinzipien ihres politischen Handelns gewinnt, erhält das ihnen immer inhärente logische Element so sehr die Oberhand, dass nun die eigentliche Substanz der Ideologie selbst - die Arbeiterklasse oder die Nation - in der folgerichtig stimmigen Bewegung eines reinen Deduzierens zerrieben wird. [...] Der Zwang des totalen Terrors [...] und der Zwang des logischen Deduzierens [...] gehören zusammen, entsprechen und bedürfen einander [...]. Die große Anziehungskraft, die das dem Terror entsprechende, sich selbst zwingende Denken auf moderne Menschen ausübt, liegt in seiner Emanzipation von Wirklichkeit und Erfahrung."13 Trotz des Versuchs, das Spezifische der totalen Herrschaftssysteme des 20. Jahrhunderts zu beschreiben, zielen sowohl Arendts als auch Agambens Überlegungen darauf ab, in diesen Systemen zugleich die Momente zu identifizieren, die sie zur Konsequenz und Folge, mindestens aber zum Ausdruck von etwas machten, das in der umfassenderen Vor- und Nachgeschichte des Totalitarismus als seine Möglichkeitsbedingung erscheint. Denn: je deutlicher die Eigenheiten des Totalitären erkannt werden, desto größer die Chance ihrer Historisierung. Und in eben dieser Perspektive stellt sich die Frage, ob es wirklich erst Luden-
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G. Agamben, Homo Sacer: Souvereign Power and Bare Life, Standford 1998, bes. S. 166-188. Siehe das später hinzugefügte Abschlußkapitel „Ideologie und Terror: Eine neue Staatsform", in: H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 3. Aufl. 1993, S. 703-730, hier S. 71 lf., 720, 723. Auf die Legitimität der Parallelisierungen von Kommunismus und Nationalsozialismus in den Einschüben dieser Passage wird weiter unten noch einmal eingegangen. Sie machten den Text für seine Vereinnahmung durch eine konservativ-simple Totalitarismustheorie anfällig. Zugleich haben sie auch kritische Leser offenbar so nachhaltig abgeschreckt, dass die Arendt-Rezeption diesen Text bis heute sträflich vernachlässigt hat. Vgl. als jüngstes Beispiel S. Benhabib, The reluctant modernism of Hannah Arendt, London 1996, die ihn als irrelevant und mißlungen abtut. Arendt ohne diesen besonderen Text begreifen zu wollen, kann man aber nur in der Absicht, sich eine politisch korrekte Arendt zurechtzuschneiden.
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dorff war, ob es überhaupt nur jemand nach Clausewitz gewesen sein kann, der als erster dachte, „daß die Politik der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg ist," - oder ob nicht umgekehrt schon Clausewitz' Formel ein Verhältnis nur auf den Kopf stellte, das sich bereits zuvor in Form der Vorstellung eines ewigen Kriegs, der sich in Politik nur manifestiere, eingebürgert hatte. Einiges in Clausewitz' 1832 postum erschienenem Werk lässt jedenfalls eine innere Logik erkennen, die nicht völlig in der kanonisierten Formel vom Krieg als Fortsetzung der Politik aufgeht. Oder besser: je detaillierter Clausewitz diese seine Hauptthese ausführte und theoretisch zu begründen suchte, desto deutlicher zeigt sich, dass die darin ausgedrückte Nähe zwischen Politik und Krieg letztlich wichtiger war als die konkrete Form ihrer Relation, die Verwandtschaft des Kriegs zur Politik wichtiger als seine Nachordnung. Gleiches gilt fur die umfassenden methodologischen Überlegungen, die das Werk auszeichnen und in denen die „Versöhnung von Theorie und Praxis" als eine „fundamental wichtige Intention beschrieben" werden kann, deren implizite Voraussetzung darin bestand, den Krieg von vorneherein als „ein Gebiet des gesellschaftlichen Lebens" und damit zugleich als eine „natürliche Erscheinung" aufzufassen.14 So wandte Clausewitz gegen eine zu abstrakte Auffassung vom Krieg ein, dass der „wirkliche Krieg [...] kein so konsequentes, auf das Äußerste gerichtete Bestreben" sei, „wie er seinem Begriff nach sein sollte, sondern ein Halbding", das „als Teil eines anderen Ganzen betrachtet werden muß, und dieses Ganze ist die Politik".15 Die Politik wiederum sei „Repräsentant aller Interessen der ganzen Gesellschaft" und damit „nichts an sich, sondern ein bloßer Sachwalter aller dieser Interessen",16 In diesem Sinne war der Krieg fur Clausewitz eine Fortsetzung der Politik: weil der Krieg „in das Gebiet der gesellschaftlichen Interessen" gehöre, weil er im Grunde nichts anderes sei als „ein Konflikt großer Interessen, der sich blutig löst".17 Hier bedarf es keiner interpretatorischen Anstrengung mehr, um zu erkennen, dass dem manifesten Krieg als Fortsetzung der Politik - und insofern er Fortsetzung der Politik ist - ein anderer, ein sozialer, ein latenter Krieg der gesellschaftlichen Interessen vorausgedacht war. Und die Bedeutung dieses vorgängigen Kriegs wird um so sinnfälliger, je mehr Clausewitz die Politik auf einen bloßen „Sachwalter" gesellschaftlicher Interessen reduzierte. In den historisch-empirischen Passagen verstärkte Clausewitz diesen Aspekt noch dadurch, dass er die Veränderung, etwa Steigerung und Radikalisierung, des Krieges weniger bloß einer veränderten Politik - wie es seiner Hauptformel entsprochen hätte - als vielmehr veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen zuschrieb, wie sie etwa im revolutionären Frankreich der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu beobachten gewesen seien. Und eben hier liegt einer der „Berührungspunkte" zwischen Clausewitz und Ludendorff, denn auch der „totale Krieg wurde als das angeblich unvermeidbare Ergebnis fundamentaler gesellschaftlicher, politischer und auch technologischer Veränderungen hingestellt".18 Anstatt nun aber einem traditionalen Verständnis von Ideengeschichte aufzusitzen und Clausewitz seinerseits zu einem Wegbereiter Ludendorffs zu erklären, ist „die Frage, die
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Wehler, „Vom ,absoluten' zum .totalen' Krieg", S. 91. Zit. n. Wehler, ebd., S. 94. Vgl. Clausewitz, Vom Kriege, bes. S. 682-90. Ebd. (meine Hervorhebg, C.G.). Ebd. Wehler, „Vom ,absoluten' zum ,totalen' Krieg", S. 97.
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zunächst gestellt werden müßte", genau diejenige, der sich Michel Foucaults Vorlesungen von 1975/76 zur „Verteidigung der Gesellschaft", zum Zusammenhang von Geschichte, Politik, Krieg und Rassismus widmeten: „Wie und seit wann hat die Vorstellung um sich gegriffen, daß es der Krieg ist, der die Machtbeziehungen herstellt, dass ein ununterbrochener Kampf den Frieden aushöhlt und daß die zivile Ordnung grundlegend eine Schlachtordnung ist? [...] Wer hat im Lärm und in der Verwirrung des Krieges, im Schlamm der Schlachten das Erkenntnisprinzip der Ordnung, der Institutionen und der Geschichte gesucht? Wer hat als erster gedacht, daß die Politik der mit anderen Mitteln fortgesetzte Krieg ist?"19 Wer, wenn nicht Ludendorff (und erst recht nicht Clausewitz), und wer, wenn nicht Foucault? Letzteres, dass Foucault selber der Erfinder der These vom immerwährenden Krieg innerhalb der Gesellschaft und der Diskurse sei, ist eine in der breit gefächerten Foucaultrezeption immer wieder anzutreffende Behauptung. Sie verwechselt aber systematisch die Selbstreflexivität der modernen Machttechniken, die Foucault diagnostizierte, mit der Selbstreferentialität seiner eigenen Thesen und blendet die Tatsache aus, dass sich Foucault durchaus darüber im Klaren war, in welchem Maße einige seiner zentralen eigenen Thesen noch den Dispositiven verpflichtet waren, die er zu beschreiben suchte, an die er sich aber nur insoweit anschloss, als er ihre Funktionsweise zu Begriff bringen wollte. Das wird nicht nur in seinen bereits zitierten Vorlesungen, sondern schon im ersten Band von ,Sexualität und Wahrheit' deutlich, wo es heißt: „Es geht also darum, sich einer Machtkonzeption zuzuwenden, die das Privileg des Gesetzes durch den Gesichtspunkt der Zielsetzung ablöst, das Privileg des Verbotes durch den Gesichtspunkt der taktischen Effizienz, das Privileg der Souveränität durch die Analyse eines vielfältigen und beweglichen Feldes von Kräfteverhältnissen [...]. Und dies nicht aufgrund einer spekulativen Wahl oder einer theoretischen Vorliebe, sondern weil es einer der grundlegendsten Züge der abendländischen Gesellschaften ist, daß die Kräfteverhältnisse, die lange Zeit im Krieg [...] ihren Hauptausdruck gefunden haben, sich nach und nach in der Ordnung der politischen Macht eingerichtet haben."20 Wer also hat diese „Einrichtung" des Krieges in die Ordnung der politischen Macht zum ersten Mal vollzogen? Als scheinbar sicherer Kandidat gilt häufig Thomas Hobbes. Eben diesen aber schließt Foucault aus seiner Genealogie der kriegerischen politischen Ordnung mit guten Gründen aus. Denn Hobbes' Begründung des Staates beruhte zwar auf dem vorausgesetzten ,bellum omnia contra omnes', konstituierte sich selber aber gerade mit und in seiner Vermeidung und Zähmung. In Hobbes' Krieg „gibt es keine Schlachten, kein Blut und keine Leichen": „Was Hobbes den Krieg aller gegen alle nennt, ist keineswegs ein realer und historischer Krieg, sondern ein Spiel von Repräsentationen, dank dessen jeder die
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Foucault, Verteidigung, S. 307. M. Foucault, Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt am Main 1976, S. 124 (meine Hervorhebg, C. G.). Dass die Macht so funktioniert, wie die Diskursanalyse sie beschreibt, wird also von Foucault nicht einfach vorausgesetzt, es ist kein methodischer Vorschlag, sondern an etwas zurückgebunden, das selber einer diskursanalytischen Untersuchung zugänglich und würdig ist, nämlich an die historische Herausbildung dieses in sich kriegerischen Wesens moderner Macht. Ein weiterer wichtiger Beleg für diese oft übersehene selbst-historisierende Konsequenz in Foucaults Werk ist der Text „Was ist ein Autor?", in: J. Engelmann (Hg.), Michel Foucault: Botschaften der Macht, Stuttgart 1999, S. 49-53. Allgemein zur hier verfolgten Lesart der Foucaultschen Thesen vgl. C. Geulen, „Die Sprache der Ausgrenzung: Biologismus als Dispositiv", in: C. Borck u.a. (Hg.), Faktizität, Kontext, Diskurs. Tagungsdokumentation, Bielefeld 1997, S. 61-72.
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Gefahr ermessen kann, die der andere für ihn darstellt, den Willen der anderen zum Kampf und das Risiko abschätzen kann, das er eingeht, wenn er sich der körperlichen Stärke bedient. Die Souveränität [...] ergibt sich nicht aus einer gegebenen kriegerischen Beherrschung, sondern im Gegenteil aus einem Kalkül, das den Krieg zu vermeiden erlaubt. Der Nicht-Krieg begründet für Hobbes den Staat und gibt ihm seine Form."21 Den eigentlichen Ursprung der Verschränkung von Krieg und Politik sieht Foucault in der frühmodernen Geschichtsschreibung, wie sie sich besonders in England und Frankreich zwischen den Religionskriegen und den ersten Revolutionen der Moderne entwickelte: in den englischen Erzählungen des 17. Jahrhunderts von der Aristokratie als einem normannischen Import, der dem an sich freiheitsliebendem angelsächsischen Volk aufgedrückt worden sei (Edward Coke und John Seiden),22 und in der spätabsolutistischen bis frühaufklärerischen Geschichtsschreibung Frankreichs mit ihren Erzählungen vom germanischen Adel, der die Monarchie installiert habe, von ihr aber verraten worden sei und schließlich ein Bündnis mit dem gallorömischen Bürgertum einging (von Henri Boulainvilliers bis hin zur bürgerlichen Identifikation von Nation und Drittem Stand bei Emmanuel J. Sieyes).23 Was Foucault in dieser Tradition der frühmodernen Geschichtsschreibung identifiziert, hat Reinhard Koselleck mit Blick auf die sogenannte Sattelzeit als Auflösung des Topos der ,historia magistra vitae' bezeichnet.24 Auch Foucault charakterisiert den Typus von Historie, der durch jene neuen Erzählungen ersetzt wird, als eine Erinnerungsform, der es im wesentlichen um die Bewahrung und Stabilisierung der als kontinuierlicher Dauer repräsentierten vormodernen Ordnung und ihrer Gesetzlichkeit ging, welche sich im Gewesenen spiegelt und deren Lehre man aus dem Gewesenen ziehen kann.25 Mit der Auflösung dieser Historie entstand eine neue, eine Gegenhistorie, die jetzt die Vergangenheit nicht mehr als Lehrerin, sondern als Erkenntnisgegenstand konzipierte und sich an die emanzipatorische Aufgabe machte, die wirkliche Geschichte allererst zu entdecken und auszugraben, was das ältere Geschichtskonzept in seiner alleinigen Helferfunktion für die bestehende Machtordnung so lange verborgen hatte. Indem diese neue Historie der alten den Krieg erklärte, konzipierte sie auch ihren Gegenstand im Prinzip als einen Krieg: nämlich als Krieg nicht der glorreichen Schlachten der alten Machtordnung, sondern als immer schon stattfindenden Krieg im Innern dieser Ordnung; als verborgenen Krieg, dessen lange Geschichte der inneren Aufspaltung in Sieger und Besiegte, Herrscher und Unterworfene es jetzt überhaupt erst zu entschlüsseln und zu beschreiben galt. Die vorrevolutionäre Geschichtsschreibung und politische Theorie
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Foucault, Verteidigung, S. 311. Vgl. auch ebd., S. 99-132. Sir Edward Coke (1552-1634) gilt als Urheber der ,Petition of Rights' sowie anderer juristischer Werke, die im Vorfeld der ,Glorious Revolution' entstanden. John Seiden (1584-1654) war Autor der auf H. Grotius' ,Mare liberum' (1609) reagierenden Schrift ,Mare clausum' (1635), in der Englands Anspruch auf die uneingeschränkte Herrschaft über die umliegenden Meere historisch begründet und legitimiert wurde. Vgl. etwa Henri Comte de Boulainvilliers, Histoire de l'ancien gouvernement de la France (1727), Emmanuel Joseph Comte de Siey£s, Was ist der Dritte Stand? [1788]. R. Koselleck, „Historia Magistra Vitae: Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte", in: ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1979, S. 38-66. Vgl. Foucault, Verteidigung, S. 133-162.
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(re)konstruierte den Krieg, den die großen Revolutionen wiederzubeleben und zu Ende zu fuhren beanspruchten. Insofern sich das moderne Politikverständnis - unser Politikverständnis - aus diesen, die Moderne einleitenden Revolutionen herleitet, steht es auch in der Tradition jenes vorgängigen Wissens vom Krieg: „Was wäre die Praktik oder das Projekt der Revolution ohne den Willen, einen wirklichen Krieg ans Tageslicht zu heben - einen Krieg, der sich abgespielt hat und sich weiter abspielt, aber den die stille Ordnung der Macht zu begraben und zu ersticken und zu verkleiden hat? Was wäre die Praktik, das Projekt oder der Diskurs der Revolution ohne den Willen, diesen Krieg wiederzubeleben - mit Hilfe eines präzisen historischen Wissens als eines taktischen Elements innerhalb des wirklichen Krieges, den wir fuhren? Entschlüsselung der Asymmetrien, Wiederaufdeckung des Krieges, Reaktivierung des Krieges, taktische Verwendung eines Wissens im Krieg, endgültige Umkehrung der Kräfteverhältnisse [...], das alles charakterisiert nicht insgesamt die revolutionäre Praxis seit dem 18. Jahrhundert, aber doch einen wichtigen Einschlag darin."26 Jener Krieg, der von der frühmoderaen Geschichtsschreibung den modernen Revolutionen gleichsam vorausgedacht wurde, war in Foucaults Sicht prinzipiell ein Rassenkrieg; und zwar insofern, als er die ewige Spaltung der Gesellschaft in Gruppen bezeichnete, die eine politische Einheit bis dahin nur um den Preis der gewalttätigen Niederwerfung bildeten, die neue Geschichtskonzeption also von zwei physischen Gruppen ausging, die sich trotz eines jahrhundertelangen Zusammenlebens nie wirklich vermischt hätten. Und in der Tat findet sich, wie schon ansatzweise bei Boulainvilliers, auch in der unmittelbar nachrevolutionären Geschichtsschreibung in Frankreich - etwa bei Auguste Thierry - dann auch wirklich das Konzept einer Rassengeschichte oder Rassenkampfgeschichte zur Beschreibung der Entwicklung Frankreichs bis 1789 wieder. (Und es wird eben Thierry sein, auf den sich dann auch Karl Marx als eine wichtige Quelle für sein eigenes revolutionäres Projekt und sein Konzept des Klassenkampfs beruft). Aber nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa erfährt die Rassengeschichte am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichsten, primär vorbiologischen Varianten einen deutlichen Aufschwung.27
II. Rassenkampf und Gesellschaft Als eine allgemeine historische These zum Verhältnis von Krieg und Revolution im 18. Jahrhundert gelesen, werden Historiker wohl eine ganze Reihe von Einwänden gegen die von Foucault beschriebenen Zusammenhänge erheben müssen. Als eine diskurshistorische These zur Herkunft einiger typischer Elemente dessen verstanden, was revolutionäre Prakti-
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M. Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte (hg. v. W. Seitter), Berlin 1986, S. 47f. Dieser Text ist Teil der Vorlesungen, die auch in Foucault, Verteidigung, abgedruckt sind. Hier wird aber die Übersetzung von Walter Seitter vorgezogen, da sie an dieser wie auch an anderen Stellen gegenüber der Übersetzung von Michaela Ott präziser erscheint. Eine endgültige deutsche Fassung wird wohl erst mit der Übersetzung der Dits et Ecrits vorliegen, wie sie der Suhrkamp Verlag derzeit herausbringt. Vgl. Foucault, Verteidigung, S. 249-274; Vgl. auch Auguste Thierry, „Essai sur l'histoire de la formation et des progrfes du Tiers Etat", in: Oeuvres completes Bd. 5, Paris 1868; Brief v. Karl Marx an Friedrich Engels vom 5. März 1852, in: MEW, Bd. 28, Berlin 1970, S. 381-385; W. Conze, Art. Rasse, in: ders., O. Brunner u. R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5 (1984), S. 135-78.
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ken und Projekte der Moderne tatsächlich bis heute kennzeichnet, erscheint es aber sinnvoll, Foucaults Überlegungen aufzugreifen und nach jenen Kontexten zu fragen, in denen und durch die sich eine Verschränkung von Revolution und Krieg, von Politik und Rassenkrieg in der Moderne fortgesetzt hat. Es ist nicht allein der Aspekt zweier sich gegenüber stehender „physischer Gruppen", der Foucault dazu brachte, das Thema der Rassen in diesen Zusammenhang einzuflechten. Vielmehr folgt er hier implizit einer historischen Lesart des 18. Jahrhunderts, um die es etwa auch Hannah Arendt ging, als sie die Besetzung des politischen Raums durch das moderne Konzept der Gesellschaft, die Entstehung der Übermacht des mit der Natur gleichgesetzten sozialen Lebens über das politische, der vita activa über die vita contemplativa beschrieb.28 Auch Arendts Interpretation beruht auf Voraussetzungen, die man nicht teilen muss, so vor allem auf einem idealisierten, mindestens aber hypostasierten Bild der antiken griechischen Polis als einem von der Gesellschaft losgelöstem Raum des Politischen. Die vor dem Hintergrund dieser Folie entwickelten Einsichten in die Verschränkung von Politik und Gesellschaft seit dem 18. Jahrhundert aber lassen sich aufgrund ihrer empirischen wie theoretischen Stringenz nicht leichtfertig von der Hand weisen.29 In ihrem Mittelpunkt steht die Diagnose der Verdrängung des politischen Raums durch einen natürlichen, durch einen Raum des nackten Lebens, innerhalb der zum neuen Leitbegriff gewordenen Kategorie der Gesellschaft. „Was wir heute Gesellschaft nennen, ist ein Familienkollektiv, das sich ökonomisch als eine gigantische Überfamilie versteht und dessen politische Organisationsform die Nation bildet. [...] Die Gesellschaft ist die Form des Zusammenlebens, in der die Abhängigkeit des Menschen von seinesgleichen um des Lebens selbst willen und nichts sonst zur öffentlichen Bedeutung gelangt, und wo infolgedessen die Tätigkeiten, die lediglich der Erhaltung des Lebens dienen, in der Öffentlichkeit nicht nur erscheinen, sondern die Physiognomie des öffentlichen Raumes bestimmen dürfen. [...] Diese Funktionalisierung des Politischen macht es natürlich unmöglich, den Abstand, der das Politische vom Gesellschaftlichen trennt, auch nur zu bemerken. [...] So gehen in der modernen Welt diese beiden Gebiete dauernd ineinander über, als seien sie nur die Wellen in dem immer fließenden Strom des Lebensprozesses selbst."30 Auf welchen genauen Wegen jener neue Begriff eines ewig fließenden Lebensprozesses im modernen Denken, Handeln und Sprechen installiert wurde, ist wiederum ein wesentlicher Teil dessen, was Michel Foucault in „Die Ordnung der Dinge" anhand der Paradigmenwechsel im ökonomischen, sprachtheoretischen und biologischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts zu beschreiben suchte.31 Was er von diesen Studien in seine Analyse des
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Vgl. H. Arendt, Vita Activa oder: Vom tätigen Leben, 11. Aufl. München 1999. Arendts Thesen waren sowohl einer der wesentlichen Anschübe für einige andere Klassiker der historisch-kritischen Selbstreflexion der Moderne, wie etwa für Habermas' und Kosellecks Studien zur Entstehung und Entwicklung der modernen Öffentlichkeit, als auch fur neuere Arbeiten zur Geschichte politischer Kollektive. Vgl. J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1962, Neuaufl. 1990; R. Koselleck, Kritik und Krise: Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt [1959], Frankfurt am Main 1976; J. Stevens, Reproducing the State, Princeton 1999. Arendt, Vita activa, S. 39, 59, 43. Ob und in wie weit sich Arendt und Foucault gegenseitig wahrgenommen haben, ist schwer zu sagen. Wie eng ihre politischen Philosophien aber zusammengehören, zeigt ihre Weiterentwicklung etwa bei
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„Willens zum Wissen" übernahm, bezieht sich vor allem auf die Wissensbestände und Praktiken, welche die Kategorie der Gesellschaft konkretisierten. Zu ihnen gehört wesentlich das - die sogenannte Disziplinarmacht komplementierende - Konzept der Regulierung. Unter Regulierung versteht Foucault ein Wahrnehmungssystem, das nicht mehr den einzelnen menschlichen Körper, sondern den Mensch als Spezies im Blick hat. Es beruht - im Gegensatz zur Disziplin, auf die besonders Historiker das Werk Foucaults bisweilen zu stark reduzieren32 - auf einem ganz anderen, erst am Ende des 18. Jahrhunderts sich bildenden Wissenshorizont. In dessen Zentrum stand zunächst ein neuer Begriff ,des Lebens', der nicht mehr in einer Fundamentalopposition zum Tod gedacht wurde, sondern als eigenes Gegenstandsfeld einer neuen Wissenschaft, der Biologie, auftauchte, welche die Naturgeschichte ablöste. Ihr ging es nicht mehr um die Klassifikation der Lebewesen, sondern um die Organisationsweise des Lebens selbst.33 Doch nicht nur in der entstehenden Biologie, auch in der historischpolitischen Semantik des späten 18. Jahrhunderts nahm dieser neue übergreifende Begriff des Lebens schnell eine zentrale Stellung ein: so im sich zunächst vom neuen Verständnis der Politik als Staatskunst absetzenden Begriff der ,Polizey' als positiv eingreifende Regelung und Verwaltung des Lebens der Regierten (in Deutschland etwa bei Johann Peter Frank oder Johann Gottlob Justi),34 in der frühen Anthropologie und Völkergeschichte oder in der Entstehung des demographischen Wissens über Geburts-, Sterblichkeits- und Reproduktionsraten. In diesem Zusammenhang entwickelte sich laut Foucault ein ganz neues politisches Objekt, ein kollektiver Körper, „ein multipler Körper, ein Körper mit zahllosen Köpfen": die Bevölkerung.35 Bevölkerung oder Population sind Begriffe eines Lebendigen, das den Tod
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G. Agamben, Homo Sacer. Vgl. auch B. Hannsen, „On the Politics of Pure Means: Benjamin, Arendt, Foucault", in: H. de Vries u. S. Weber (Hg.), Violence, Identity and Self-Determination, Stanford 1997, S. 236-52. Vgl. etwa D. J. K. Peukert, „Die Unordnung der Dinge: Michel Foucault und die deutsche Geschichtswissenschaft", in: F. Ewald u. Β. Waldenfels (Hg.), Spiele der Wahrheit: Michel Foucaults Denken, Frankfurt am Main 1991, S. 320-333. Auch P. Sarasin, Reizbare Maschinen: Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt am Main 2001, konzentriert sich ganz auf Foucaults Analyse der individualisierenden Machtechniken am Beispiel des Hygiene-Diskurses im 19. Jahrhundert. Außer Foucault, Die Ordnung der Dinge, vgl. dazu auch W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Verzeitlichung und Enthistorisierung in den Wissenschaften vom Leben im 18. und 19. Jahrhundert, München 1976; G. Canguilhem, Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie. Gesammelte Aufsätze, hg. v. W. Lepenies, Frankfurt a. M. 1979. Einen so knappen wie eleganten Ausdruck fand dieser neue übergreifende Begriff des Lebens bei Goethe in einem kurzen Text über die Natur: „Das Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben", in: J. W. Goethe, „Die Natur", in: Sämtliche Werke, Bd. 16 (Naturwissenschaftliche Schriften), München 1977, S. 923. Vgl. hierzu V. Sellin, Art. ,Politik' in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 7, S. 789-874 und F.-L. Knemeyer, Art. .Polizei', in: ebd., S. 877-897. Vgl. Foucault, Verteidigung, S. 283; N. Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 212f., der - analog zu Foucault - im Konzept der Population als einer sich aus Individuen und ihrer Diversität zusammensetzenden Einheit eine grundlegende Voraussetzung der Herausbildung der modernen politischen Beziehung zwischen Staat und Individuum sieht. In diesem Sinne nennt er die Population auch einen .Kollektivindividualismus', der die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft unsichtbar macht. Vgl. N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1998, S. 1067.
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neutralisiert hat. In einer Bevölkerung taucht der Tod allein statistisch als Sterblichkeitsrate auf, nicht als das Gegenteil des Lebens, sondern nurmehr als seine Schwächung. Es ist dieser Horizont des Wissens von den übergreifenden, sich über den individuellen Tod hinwegsetzenden Prozessen des Lebens, der laut Foucault jene zweite, die Disziplinarmacht ergänzende Regulierungs- oder Bio-Macht konstituierte. Sie unterscheidet sich von jener in mindesten drei Hinsichten: 1. An die Stelle des individuellen Körpers, der im Zentrum der Disziplin steht, tritt der Kollektivkörper der Bevölkerung als ein zugleich wissenschaftlicher und politischer Gegenstand. 2. Die Phänomene, auf die sich Regulierungsmechanismen richten, haben die besondere Eigenschaft, im Einzelnen Zufallsereignisse, im ganzen aber erkennbare Ereignisketten zu sein. (In Darwins Evolutionsbegriff etwa wird diese Vereinnahmung von Kontingenz in eine überindividuelle, zeitliche Regelhaftigkeit zum Paradigma ausgebaut). 3. Im Unterschied zur Disziplin richtet sich die Regulierung nicht auf die Konditionierung des Einzelnen, sondern auf die Sicherung des Ganzen. Diese drei Aspekte kennzeichneten ein um 1800 neu entstehendes Wissen, das im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Demographie, in der Probabilistik, in der Biologie, in der Rassenkunde, in der Evolutionstheorie und schließlich auch in Nationalökonomie, Sozialwissenschaft und Sozialpsychologie kontinuierlich weiterentwickelt wurde.36 Es ist dieses Wissen von der Bevölkerung, ihrer zeitlichen Dauer und den Möglichkeiten ihrer Sicherung, Erhaltung und Optimierung, das laut Foucault seit dem 19. Jahrhundert als biopolitisches Paradigma oder Dispositiv neben der Disziplinarmacht ein zweites entscheidendes Element der modernen politischen Rationalität bildete. „Wie sind wir mittels einer politischen Technologie" - an anderen Stellen heißt es mittels eines politischen Wissens oder einer politischen Rationalität - „dahin gelangt, uns selbst als Gesellschaft wahrzunehmen, als Teil eines sozialen Gebildes, einer Nation oder eines Staates?"37 So fragt Foucault nach der Entstehung und Entwicklung des Wissenshorizonts, der die Vorstellung einer jenseits konkreter Gemeinsamkeiten und Bindungen liegenden und dennoch gegen Gefahren zu sichernden, mithin politischen Zusammengehörigkeit überhaupt ermöglichte und aufrecht erhielt. Und genau hier kam im 19. Jahrhundert dem biopolitischen Paradigma eine wesentliche Rolle zu, indem es ein Wissen von der Bevölkerung produzierte, von jenem abstrakten und doch lebendigen Kollektivkörper, der sich jenseits individueller Lebensläufe und partikularer Bindungen reproduziert. Die Bedeutung dieses regulatorischen Wissens von der Bevölkerung nahm sogar noch zu, je mehr es sich mit dem älteren disziplinaren Wissen über den einzelnen Körper, über sein individuelles Funktionieren im kollektiven Lebensprozess der Bevölkerung verschränkte.38
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Wie wenig differenziert soziale, biologische und ökonomische Kategorien in der frühen Entstehungsphase eines sich mehr als Sozialpraxis denn als Sozialwissenschaft begreifenden Gesellschaftswissens waren, zeigt etwa die Studie von M. Poovey, Making α Social Body: British Cultural Formation 18301864, Chicago 1995. Foucault, Botschaften, S. 169. Für Foucault ist es diese Verschränkung, welche die geschichtliche Möglichkeitsbedingung, das „historische A priori einer wesentlichen Grundannahme politischer Rationalität in der Moderne darstellt: dass nämlich „die Integration des Individuums in eine Gemeinschaft oder in eine Totalität aus der stetigen Korrelation zwischen einer wachsenden Individualisierung und der Stärkung eben dieser Totalität resultiert." Vgl. Foucault, Botschaften, S. 185f.
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Ein zentrales Feld dieser Verschränkung war im 19. Jahrhundert die Sexualität als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ebenso wie als Bezugspunkt von Diskursen der Sicherung politischer Gemeinschaften. Denn „die Sexualität befindet sich an der Kreuzung von Körper und Bevölkerung."39 Sie „bildet das Scharnier zwischen den beiden Entwicklungsachsen der politischen Technologie des Lebens. Einerseits gehört [sie] zu den Disziplinen des Körpers. [...] Andererseits hängt [sie] aufgrund [ihrer] Globalwirkungen mit den Bevölkerungsregulierungen zusammen."40 Doch nicht nur das Thema der Sexualität, sondern auch (und eng mit ihm verwoben) der Rassendiskurs stand im Zentrum dieser Verschränkung von Disziplinierung und Regulierung; und zwar als ein funktionales Element innerhalb der Korrelation von Individualisierung, Integration und Stärkung des Gemeinwesens, innerhalb des Komplexes einer allgemeinen Lebensoptimierung: ein Element nämlich, das dem im Bevölkerungskonzept zunächst neutralisierten Tod eine neue Geltung verschaffte. Denn der Rassendiskurs entwickelte einen mit dem Ideal einer ständigen Lebenssicherung und Lebensoptimierung kompatiblen Begriff des Todes, indem er ihm eine positive, lebenserhaltende Funktion zuschrieb. Das gelang durch die biologische Konzeption des Verhältnisses zwischen dem Eigenen und Anderen: „Der Rassismus [sichert] die Funktion des Todes innerhalb der Ökonomie der Bio-Macht gemäß dem Prinzip, dass der Tod der anderen die biologische Selbststärkung bedeutet, insofern man Mitglied einer Rasse oder Bevölkerung ist, insofern man Element einer einheitlichen und lebendigen Pluralität ist."41 Es ist diese Logik der biokausalen Verknüpfung zwischen Eigenem und Anderem, in der das Leben des Anderen eine grundsätzliche Bedrohung des eigenen Lebens und sein Tod dessen Stärkung und Verbesserung bedeutet, mit der sich am Ende des 19. Jahrhunderts sowohl eugenische Programme der Verhütung (und später Vernichtung) lebensunwerter Individuen verbanden als auch der sozialdarwinistische Glaube an die lebenserhaltende Funktion von Konkurrenz - oder eben auch die Vorstellung, dass sich ein Volk nur dann als die überlegene Lebensform erweisen und erneuern kann, wenn es sich dem Krieg und damit zumindest der Möglichkeit auch des eigenen Todes aussetzt.42 Letzteres ist eine Denkfigur die im Laufe der nationalistischen Kriege des 19. Jahrhunderts um so mehr an Bedeutung gewann, je mehr die politischen Kollektive, die Krieg führten, sich als ethnische Abstammungs- oder biologische Lebensgemeinschaften verstanden und das Evolutionsparadigma sich zu einer der wichtigsten Hintergrundüberzeugungen des Nationalismus entwickelte. Und gerade in diesen Kontexten zeigt sich immer wieder, dass der politische Biologismus nicht nur eine bloße Legitimation für Kriege darstellte (eine Sichtweise, die impliziert, dass die Kriege selber aus ganz anderen Gründen gefuhrt wurden), sondern auch umgekehrt die konkreten Kriege als Legitimation, als Nachweis und Beleg für die Existenz eines vorgängigen, immer schon stattfindenden Kriegs als Normalzustand der Gesellschaft gelesen wurden. Houston Stewart Chamberlains berüchtigte, nationalrassistische Schrift über „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts" etwa, die zwischen ihrem
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Foucault, Verteidigung, S. 291. Foucault, Wille, S. 173. Foucault, Verteidigung, S. 299. Vgl. D. P. Crook, Darwinism, War, and History, Cambridge 1994; P. Berghoff, Der Tod des politischen Kollektivs: Politische Religion und das Sterben und Töten für Volk, Nation und Rasse, Berlin 1997.
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Erscheinen 1899 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs zu den unangefochtenen Bestsellern im Deutschen Reich gehörte und auch im Ausland rezipiert wurde, folgte ganz dieser Logik, in der die panoramatisch ausgebreitete Geschichte der „Germanen" bis zur völligen Ununterscheidbarkeit mit dem ewigen Kampf der zwei abstrakten Prinzipien des „Germanischen" und des „Ungermanischen" gleichgesetzt wurde. 43 Die beiden wichtigsten Vordenker dieser Logik eines immer währenden Krieges waren im 19. Jahrhundert Charles Darwin mit seinem Entwurf einer Evolutionstheorie, die an Stelle friedlicher Vervollkommnung Krieg, Kampf, Konkurrenz und Kontingenz zu den eigentlichen Antrieben der natürlichen Entwicklung erklärte, und Arthur Gobineau, der sein - allerdings noch zyklisches - Panorama der Rassenentwicklung ebenfalls von der Grundidee eines ewig andauernden Kampfes aus entfaltete. 44 Gobineau ist vor allem in vier Hinsichten besonders aufschlussreich und nicht nur wegen seiner internationalen Rezeption zum Verständnis der Ausbreitung und Funktionsweise des biopolitischen Kriegsdiskurses im 19. Jahrhundert wichtig. Zum einen vertrat er nämlich ein explizit vorbiologisches Verständnis von Rasse, die fur ihn weit mehr eine historische als eine naturwissenschaftliche Größe darstellte, und lehnte sich damit an die früheren Rassenhistoriker an - wie in Frankreich Thierry oder in Deutschland Blumenbach oder Carus - und nicht an das unter Biologen um 1850 schon stark diskutierte Evolutionsmodell, dem Darwin zum Durchbruch verhalf. Andererseits aber sah er nicht in den eigentlichen Kriegen zwischen den Rassen, in den Eroberungen und Feldzügen, in den eigentlichen Schlachten der Reiche, jenen übergeordneten Rassenkampf am Werk, sondern in der, diesen wirklichen Kriegen vorausgehenden oder folgenden, Rassen- und Blutmischung. Erst durch sie stelle sich die Verteilung von Siegern und Besiegten als Verteilung des siegreichen, zukunftsträchtigen und unterliegenden, aussterbenden Bluts heraus. Rassen, gedacht als Völker, Nationen oder Kulturen, waren bei Gobineau gar nicht mehr als die eigentlichen Subjekte im Spiel. Völker, Nationen, Gesellschaften und Zivilisationen würden erst zu historischen Subjekten durch ihren „rassischen" Charakter, durch das, was die Rasse, deren Blut sie überwiegend in sich tragen, ihnen an Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Trieben vorgibt. Ausgestattet mit diesen Fähigkeiten beginnt ihre Geschichte erst dort, wo sie sich mit anderen Völkern, deren Blut sich anders zusammensetzt, mischen. Der biologische Vorgang der Blutvermischung liegt in dieser Sichtweise den Entstehungs- und Verfallsgeschichten von Völkern, Nationen und Zivilisationen zugrunde. Kurz: Geschichte ist Sexualität. Zum dritten zeigt sich damit ausgerechnet beim oft als „Vater des Rassismus" bezeichneten Gobineau, dass der Rassenbegriff im 19. Jahrhundert alles andere als einen biologischen Determinismus markierte, der die Unterschiede und Grenzen zwischen politischen Kollektiven auf ewig gleichbleibende rassische Differenzen zurückführte. Nicht die konkreten Ungleichheiten zwischen bestimmbaren Menschenrassen, sondern die ,Ungleichheit der Menschenrassen' als Prinzip war fur Gobineau das entscheidende Moment, das sich nicht in ewigen Rassenmerkmalen, sondern im ewigen Kampf der Kulturen, Gesellschaften und Individuen manifestiere. Insofern konnte Robert Young kürzlich mit vollem Recht gerade an Gobineau eine Einsicht verdeutlichen, mit der sich eine klassisch ideologiekritische Ge43 44
H. S. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, München 1899. Vgl. Crook, Darwinism·, A. C. de Gobineau, Versuch über die Ungleichheit [1853-55], 4 Bde, dt. v. L. Schemann, 5. Aufl, Stuttgart 1939-1940.
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schichtsschreibung des Rassismus nur schwer anfreunden mag, dies aber wohl muß: „The racial was always cultural, the essential never unequivocal."45 Viertens schließlich wird an Gobineau, ebenso wie an Darwin, Chamberlain und den meisten rassenpolitischen Konzepten des 19. Jahrhunderts sichtbar, in welchem Maße jener von ihnen allen vorausgesetzte und vorausgedachte Krieg im Kern genau das zum Ausdruck brachte, was Clausewitz als den einzig möglichen Zustand angesehen hatte, in dem das Politische des Kriegs im Krieg zum Verschwinden gebracht wäre: ein Zustand, in dem „Kriege aus bloßer Feindschaft Kämpfe auf Leben und Tod sind." Bloße Feindschaft ist Feindschaft als Prinzip, Krieg als Naturgesetz und der Krieg/Feindschaft-Nexus als nicht hintergehbares Faktum. Bloße Feindschaft ist der Kampf ums Überleben, der immer und überall und bei weitem nicht nur auf dem Schlachtfeld geführt wird. Bloße Feindschaft kennt keine politischen Ziele mehr, läßt dem Politischen an sich keinen Raum mehr. Und: bloße Feindschaft kennt keine Feinde mehr. Denn Konflikte aus bloßer Feindschaft sind vollständig symmetrische Konflikte. Das fuhrt zum letzten hier anzusprechenden Thema, nämlich zum Verhältnis zwischen der beschriebenen Tradition eines entpolitisierenden Kriegsdiskurses und der zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierten Bestimmung des Politischen durch Carl Schmitt. Es war seine wissenschaftliche Leistung, „die funktionalen und ideologisch gehandhabten Gegensätze der Klassen und Völker, die sich jeweils substantiell artikulierten, so weit zu formalisieren, dass nur die Grundstruktur möglicher Gegensätze sichtbar wurde. Das Begriffspaar Freund und Feind zeichnet sich durch seine politische Formalität aus, es liefert ein Raster möglicher Antithesen, ohne diese selbst zu benennen. Wegen ihrer formalen Negation handelt es sich erstmals um rein symmetrische Gegenbegriffe, da fur Freund und Feind eine Selbst- bzw. Feindbestimmung vorliegt, die von beiden Seiten gegenläufig verwendbar ist. Es sind Erkenntniskategorien, deren inhaltliche Besetzung gemäß der geschichtlichen Erfahrung einer asymmetrischen Auffüllung der beiden Wortfelder dienen kann. Wie auch immer Carl Schmitt mit seiner eigenen Parteinahme diesen Gegensatz konkretisiert hat, er hat zunächst eine Formel geprägt, die als Bedingung möglicher Politik nicht überholbar ist. Denn es handelt sich um einen Begriff des Politischen und nicht der Politik."46 Reinhart Kosellecks so präzise wie unvoreingenommene Anerkennung der theoretischen Leistung Carl Schmitts markiert zugleich dessen Nähe und Ferne zu jener im Vorangegangenen beschriebenen Tradition der Verschränkung von Feindschaft, Krieg und Politik. Die Nähe äußert sich vor allem darin, dass der Diskurs der bloßen Feindschaft und des vorgängigen, immer schon stattfindenden Krieges sich in genau dem Maße der Formel von Freund und Feind als „Bedingung möglicher Politik" entzieht, in dem dieser Diskurs selber eine Formalisierung aller möglichen Politik darstellt. Eine Applikation der Schmittschen Formel auf diese Formalisierung funktioniert nicht. Sie übersähe den Kausalzusammenhang, den fast alle Rassentheorien (spätestens seit Gobineau und Darwin) zwischen der Annihilierung des Anderen und der Stärkung des Eigenen herstellen. Der Schritt von der Negation zur Vernichtung, welche den rassistischen Krieg ebenso wie den totalen Terror kennzeichnet, ist 45 46
R. J. C. Young, Colonial Desire: Hybridity in Theory, Culture and Race, London 1995, S. 28. R. Koselleck, „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe", in: ders., Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 211-259, hier S. 258f. Vgl. auch C. Schmitt, Der Begriff des Politischen [1932], Berlin 1963.
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gerade nicht allein Effekt einer Radikalexklusion des Anderen aus dem Bereich des Politischen, sondern zugleich immer auch seine radikale Inklusion in den Reproduktionsprozess des Eigenen, in den Vorgang seines Erhalts und seiner Verbesserung. Mit Blick auf den Nationalsozialismus konstatiert daher Giorgio Agamben zu Recht: „The seperation of the Jewish body is the immediate production of the specifically German body, just as the application of the rule is its production."47 Darüber hinaus übersähe die Schmittsche Perspektive den Umstand, dass der Diskurs der bloßen Feindschaft und des vorgängigen Krieges auf dem modernen Begriff der Gesellschaft beruht und Konflikt primär als sozialen Konflikt, als einen Kampf im Innern der Gesellschaft und nicht mehr als einen Krieg zwischen Gesellschaften, Nationen, Rassen etc. begreift.48 Zwar ließe sich gerade das mit Schmitt als ein Verfall des Politischen deuten und es spricht einiges dafür, dass Schmitt (hier Arendt verwandt) gerade diesem Übermaß des Gesellschaftlichen mit seiner Rehabilitierung eines klaren Begriffs des Politischen entgegen treten wollte. Doch um so weniger eignet sich dann dieser Begriff des Politischen zur Analyse seines Verfalls. Wo also ein gänzlich formalisierter Begriff des Politischen nach seinen substanzialistischen Auffüllungen sucht, trifft er in jener Tradition des biopolitischen Kriegsdenkens selber auf Formalisierungen - auf den Kampf ums Dasein und seine Gesetze des Überlebens. Was diese Formalisierungen von der Schmittschen unterscheidet, ist ihre Identifizierung von formalem Gesetz und Naturgesetz. Aber gerade weil der Rekurs auf Natur alles Lebendige formal anerkennt und auf die gleiche Stufe stellt, nimmt seine Konkretisierung die Form einer Schmittschen Entscheidung an: eine Entscheidung nicht über die Ausnahme, sondern dem im Darwinschen Überlebenskampf auf Dauer gestellten Ausnahmezustand konform eine Entscheidung über lebenswert und lebensunwert. Eben deshalb kann Agamben die berühmte Formel Schmitts paraphrasieren, um Souveränität unter den Bedingungen von BioPolitik zu definieren: „In modern biopolitics, souvereign is he who decides on the value or the non-value of life as such."49 Mit anderen Worten: gerade weil Schmitt eine symmetrische (und deshalb selber unpolitische) Formel des Politischen begründen wollte, war sein Begriff des Politischen blind für jene, gerade zu Schmitts Lebzeiten vorherrschende, zur Staatsmacht werdende Biopolitik als einer Politik des Unpolitischen.50
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Agamben, Homo Sacer, S. 174. Paradigmatisch für diesen Zusammenhang ist etwa die Tatsache, dass die erste Studie, die den Begriff der ,Soziologie' in den deutschen Sprachraum einführte, Ludwig Gumplowicz Arbeit über den ,Rassenkampf von 1883 war. Gumplowicz Schloß sich in dieser Begriffswahl zwar an Auguste Comte an, wollte seine eigene Arbeit aber explizit eher in der Tradition Gobineaus sehen. Auch gab er trotz seiner Rezeption durch liberale Soziologen wie Simmel oder Weber (und im Gegensatz zu diesen) den Kontakt zur politischen Rassentheorie (etwa zu Ludwig Woltmann) nie auf. Bezeichnenderweise führte Gumplowiczs Buch noch einen anderen Begriff in die deutsche Sprache ein, der heute wie kein zweiter zur vermeintlichen Erklärung von Kulturkonflikten herangezogen wird: den Begriff des „Ethnozentrismus," den er als ein übergreifendes historisches Prinzip ansah, dem sich Politik anzupassen habe. Vgl. Gumplowicz, Der Rassenkampf, Graz 1883, S. 249f. Agamben, Homo Sacer, S. 142. Die nicht uninteressanten Fragen, ob Schmitts persönliche Blindheit gegenüber dem System, dem er sich zeitweise verschrieb, in dieser theoretischen Blindstelle begründet war und in welcher Beziehung diese zu seinem Antisemitismus stand, können hier nur angedeutet werden. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Friedrich Balke in diesem Band.
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Auf welche Weise sich konkrete Feindschaften in bloße Feindschaft, wirkliche Feinde in undefinierbare Bedrohungen verwandeln können, hat in historischer Perspektive Michael Jeismann am Beispiel des Ersten Weltkriegs gezeigt. Anhand eines signifikanten Strukturwandels in der deutschen Propaganda während des Krieges, in dessen Verlauf die politische Diffamierung der Kriegsgegner von der zunehmend selbstreferentiellen Verherrlichung des Eigenen gegenüber einer nurmehr allgemein als „krank" bezeichneten Außenwelt verdrängt wurde - und dies um so mehr, je vielgestaltiger die Gesichter der von ihren Kolonialtruppen unterstützten Feinde wurden - zeigt Jeismann, wie die politische Dimension des Krieges systematisch zum Verschwinden gebracht wurde. Am Ende hatte das Deutsche Reich „Feinde, aber keinen Feindbegriff' mehr.51 Die Asymmetrie konkreter Feindschaften, die Asymmetrie, die jede konkrete Feindschaft auszeichnet, wurde von der im Prinzip symmetrischen Denkfigur der abstrakten Bedrohung ,unseres' Lebens durch das der ,anderen' verdrängt. An die Stelle des wirklichen Krieges, den man führte (und zu verlieren drohte), trat der allgemeine Überlebenskampf. Auf dieses Problem der Symmetrie und Asymmetrie im Zusammenhang von Feindschaft, Krieg und Politik wird zurückzukommen sein. Zunächst aber soll noch gezeigt werden, dass auch die durchaus existente und keineswegs marginale Kritik an jener Tradition des allgemeinen Kriegsdiskurses, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem von .links' artikuliert wurde, nicht umhin konnte, sie unter veränderten Gesichtspunkten und mit anderen Zielsetzungen zu reproduzieren.
III. Natur und Anarchie „Daß Politik nur eine Funktion der Gesellschaft ist, daß Handeln, Sprechen und Denken primär den Überbau sozialer Interessen bilden", schrieb Hannah Arendt, „ist ja weder eine Entdeckung noch eine bloße Erfindung von Marx, sondern gehört im Gegenteil zu den axiomatischen Voraussetzungen, die Marx kritiklos von der politischen Ökonomie der Neuzeit übernommen hat."52 Zu einem ganz ähnlichen Urteil kommt Michel Foucault: „Eines ist jedenfalls sicher: Das Thema der Bio-Macht, das gegen Ende des 18. und während des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, wurde vom Sozialismus nicht nur nicht kritisiert, sondern wurde in der Tat von ihm wieder aufgegriffen, weiterentwickelt, reimplantiert und in einigen Punkten modifiziert, aber keineswegs im Hinblick auf seine Grundlagen und in seinen Funktionsweisen einer Überprüfung unterzogen. Die Vorstellung schließlich, daß Gesellschaft oder Staat oder das, was an die Stelle des Staates treten sollte, im wesentlichen die Aufgabe hat, das Leben in Beschlag zu nehmen, es zu gestalten, es zu vermehren und seine Zufalle zu kompensieren, seine Chancen und biologischen Möglichkeiten zu durchlaufen und einzugrenzen - all das wurde vom Sozialismus, wie mir scheint, übernommen."53 Der Primat des Sozialen, von Foucault ebenso wie von Arendt als Primat einer Ökonomie des alltäglichen Lebensprozesses ausgewiesen, ist in der Tat ein allen sozialistischen
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M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde: Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 334-338. Arendt, Vita activa, S. 43. Foucault, Verteidigung, S. 303.
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Bewegungen und Programmen inhärentes Moment. Auch Marx' Anlehnung an einige Grundprämissen der bürgerlichen politischen Ökonomie, die er zu revolutionieren antrat, ist bekannt und ebenso wenig abzustreiten wie seine Übernahme einer Kampf- und Kriegsrhetorik, die bis dahin vor allem in der vor-darwinistischen Rassengeschichte beheimatet war. Und dass er später ein uneingeschränkter Bewunderer Darwins wurde, tat er selber durch die Zusendung eines signierten Exemplars von ,Das Kapital' an Darwin kund - eine Geste, die dieser allerdings ignorierte.54 Wie genau sich jene Zusammenhänge aber entwickelten, welche Rolle die ganz andere idealistische Traditionslinie nach Hegel in ihnen spielte, in welcher Weise die real in der Vergangenheit existenten und noch existierenden Sozialismen hier ein- oder zugeordnet werden können und inwiefern es möglich ist, ein das 20. Jahrhundert in seinen ,linken' wie .rechten' Formen totaler Herrschaft vergleichend untersuchendes Forschungsprojekt zu entwerfen - das alles sind zu Recht noch sehr umstrittene Fragen, die wohl noch lange ihrer halbwegs begründeten Beantwortung harren werden. Insofern geht es hier nicht um eine umfassende Einordnung des Sozialismus in die beschriebenen Zusammenhänge von Feindschafts-, Kriegs- und Politikkonzepten, sondern allein darum, an einem ausgewählten Beispiel mögliche Berührungspunkte oder Überlappungen und deren Grenzen darzustellen. Peter Kropotkins ,Mutual Aid' 55 ist insofern ein sich anbietender exemplarischer Fall, als Kropotkin einerseits gerade mit dieser Schrift dem zeitgenössischen Sozialdarwinismus mit den Mitteln einer sozialistischen Ethik entgegentrat, zugleich aber der anarchistischen und damit selber noch am ehesten gewaltbereiten und Gewalt theoretisch begründenden Spielart des Sozialismus anhing. 56 Zugleich war es gerade Kropotkin, der als ausgebildeter Geograph nach einer „wissenschaftlichen Grundlage" des Anarchismus suchte und nicht zuletzt durch diesen Anspruch der organisierten internationalen Arbeiterbewegung Zeit seines Lebens verbundener blieb als manche andere Anarchisten, obwohl auch er einen Staatssozialismus, wie er sich in Russland nach der Revolution bildete, grundsätzlich ablehnte. In seinem Artikel „Anarchism" fur die Encyclopaedia Britannica (1910) beschrieb Kropotkin seine eigene Rolle in der anarchistischen Theoriebildung mit der Absicht, „to show the intimate, logical connection which exists between the modern philosophy of natural sciences and anarchism; to put anarchism on a scientific basis by the study of the tendencies that are apparent now in society and may indicate its further evolution; and to work out the basis of anarchist ethics". 57 Zu dieser Verwissenschaftlichung des Anarchismus gehörte vor allem der Versuch, eben jene von der bürgerlichen Gesellschaft' sowieso, aber auch von weiten Teilen der sozialistischen Bewegung vorausgesetzte These vom innergesellschaftli-
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Vgl. J. Hemleben, Charles Darwin, Reinbek 1968; Hans-Ulrich Wehler, „Sozialdarwinismus im expandierenden Industriestaat", in; ders., Krisenherde des Kaiserreichs, S. 281-289. P. Kropotkin, Mutual Aid: Α Factor of Evolution, London 1902. Im Folgenden zitiert nach der deutschen Fassung von 1904: Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt, bes. v. G. Landauer, mit einem Nachwort von H. Ritter, Grafenau 1989, Neuaufl. 1999. Kropotkin selber gründete Ende der 1870er Jahre die erste anarchistische Organisation Frankreichs um die Zeitschrift Le Revolte (später La Revolte), der man die Ermordung des Staatspräsidenten Carnot 1894 durch einen italienischen Anarchisten zur Last legte. Die Zeitschrift wurde anschließend verboten und Kropotkin, der bereits 1882 nach dem großen Anarchistenprozeß in Lyons drei Jahre in französischer Haft gesessen hatte, übersiedelte endgültig nach England. P. Kropotkin, Art. ,Anarchism', Encyclopaedia Britannica, Bd. 1, London 1910.
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chen Krieg und Überlebenskampf als Naturzustand des (tierischen wie menschlichen) Lebens in Frage zu stellen. Wie im Vorwort zur Neuauflage der gegenseitigen Hilfe' 1914 erläutert, stellte sich diese These fur Kropotkin in zwei Formen dar: „der äußere Kampf der Spezies gegen widrige natürliche Bedingungen und gegen rivalisierende Spezies und der innere Kampf um die Existenzmittel innerhalb der Spezies".58 Es war vor allem der zweite, der innere Kampf um die Existenzmittel, der in der Evolutionstheorie und im sogenannten Sozialdarwinismus betont wurde und an dessen Relevanz Kropotkin zu zweifeln begann. Bezugnehmend auf seine Reisen durch die sibirische Steppe schrieb er: „Selbst an den wenigen Orten, wo das Tierleben üppig gedieh, konnte ich, obwohl ich emsig darauf achtete, nicht jenen erbitterten Kampf um die Existenzmittel zwischen Tieren, die zur gleichen Art gehören, entdecken."59 Stattdessen entdeckte er etwas ganz anderes: „In all diesen Szenen des Tierlebens, die sich vor meinen Augen abspielten, sah ich gegenseitige Hilfe und gegenseitige Unterstützung sich in einem Maße bestätigen, dass ich in ihnen einen Faktor von größter Wichtigkeit für die Erhaltung des Lebens und jeder Spezies, sowie ihrer Fortentwicklung zu ahnen begann."60 Kropotkin war nicht der erste, der sich bemühte, ein friedlicheres Bild der Natur zu zeichnen als es durch die strikte Überlebenskampftheorie Darwins vorgegeben war. So reichte etwa die zeitgenössische Tradition einer explizit anti-kriegerischen Natur- und Gesellschaftsbeschreibung in Deutschland, auf die sich auch Kropotkin bezog, von Brehms Tierleben über Albert Schäffles Bau und Leben des sozialen Körpers bis zu Ludwig Büchners Liebe und Liebesleben in der Tierwelt. Von all diesen wollte sich Kropotkin aber dadurch absetzen, dass er den „sozialen Trieb" des Lebens tiefer als ein grundlegendes evolutionäres Prinzip verankern und nicht bloß als Resultat einer auch im Tierreich anzutreffenden „Liebe und Sympathie" ansehen wollte. Denn „den sozialen Trieb bei Tieren auf Liebe und Sympathie zurückzufuhren, heißt seine Allgemeinheit und Bedeutung herabsetzen. Auch die menschliche Ethik, sofern sie sich auf Liebe und Sympathie gründete, hat nur bewirkt, daß der Begriff des Moralgefühls zu eng genommen wurde. Es ist nicht Liebe zu meinem Nachbarn - den ich vielfach gar nicht kenne - was mich treibt, den Wassereimer zu ergreifen und nach seinem brennenden Hause zu eilen; was mich treibt, ist ein viel weiteres, wenn auch unklares Gefühl, es ist ein menschlicher Solidaritäts- und Sozialtrieb. Ebenso ist es bei den Tieren. Es ist nicht Liebe oder Sympathie (im eigentlichen Sinne), was eine Herde von Wiederkäuern oder Pferden einen Ring schließen läßt, um dem Angriff von Wölfen zu widerstehen [...]. Es ist ein Gefühl, unendlich weiter als Liebe und persönliche Sympathie - ein Instinkt, der sich langsam bei Tieren und Menschen im Verlaufe einer außerordentlich langen Entwicklung ausgebildet hat und der Menschen und Tiere gelehrt hat, welche Stärke sie durch die Betätigung gegenseitiger Hilfe gewinnen und welche Freuden sie am sozialen Leben finden können. [...] Es ist nicht Liebe und auch nicht Sympathie, worauf die menschliche Gesellschaft beruht. Es ist das Bewußtsein - und sei es nur im Entwicklungsstadium eines Instinkts - von der menschlichen Solidarität. Man hat erkennen gelernt mag es auch nicht über die Schwelle des Bewußtseins getreten sein - welche Stärke jedes Glied der Gesellschaft der Betätigung gegenseitiger Hilfe verdankt, welche enge Abhängig58 59 60
Kropotkin, Gegenseitige Hilfe, S. 9 (Hervorhebg. im Orig.). Ebd., S. 12 (Hervorhebg. im Orig.). Ebd., S. 13 (Hervorhebg. im Orig.).
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keit zwischen dem Glück des einen und dem aller besteht und welche Achtung vor den Rechten anderer sich bei den Individuen infolge eines Sinnes fur Gerechtigkeit oder Gleichheit entwickelt hat."61 Je repetitiver Kropotkin hier seine Hauptthese darstellt, desto deutlicher wird die wenig anarchistische Nähe seiner Grundidee zu klassisch liberalen Bildern von der NaturGesellschafts-Harmonie. Rudolf Virchow etwa hat sie in ganz ähnlichen Worten aus der Analogie zwischen Zellenorganismen und Gesellschaften abgeleitet, und auch bei Johann C. Bluntschli findet sich Kropotkins Solidaritätsbewusstsein in fast den selben Worten beschrieben wieder - allerdings unter dem Namen „Rassenbewusstsein".62 Und wie Virchow und Bluntschli ging es auch Kropotkin vor allem darum, das Prinzip der gegenseitigen Hilfe mit allen Mitteln als ein Naturgesetz und eben nicht bloß als eine politische Forderung zu begreifen und darzustellen. Die gegenseitige Hilfe „bei den Tieren", „bei den Wilden", „unter den Barbaren", „im Mittelalter" und schließlich „in unserer Zeit" (so die Kapitelüberschriften) beschrieb er als das eine sich stetig fortsetzende Grundprinzip der Natur und der Gesellschaft, dessen Evolution in revolutionären Zeiten nur „beschleunigt" werde. Die Selbsteinfügung des menschlichen Handelns in diese Evolution werde dem Anarchismus letztlich zum Sieg verhelfen: „When men are reasonable enough to follow their natural instincts [!], they will unite across the frontiers and constitute the cosmos."63 Kropotkins Anspruch einer Verwissenschaftlichung des Anarchismus manifestierte sich also vor allem darin, das, was man die „revolutionäre Ungeduld" der Anarchisten genannt hat wie sie sich etwa in ihrer Faszination für die Verwischung von Mittel und Zweck in revolutionären Augenblicken oder im Konzept einer propaganda der Tat' ausdrückte - in eine Art Versöhnung von Theorie und Praxis, oder auch von Natur und Politik, zu übersetzen. Henning Ritter hat mit Recht darauf hingewiesen, wie gerade diese Übersetzung des revolutionären Radikalismus in einen „milden Anarchismus" Kropotkin auf Gedeih und Verderb eben jenem evolutionärem Paradigma auslieferte, dem er entgegentreten wollte. Das wird insbesondere dort deutlich, wo Kropotkin sein Naturgesetz der gegenseitigen Hilfe gegen das Darwinsche Prinzip des Überlebenskampfes antreten lässt wie gegen einen Feind, den es immer schon zu bekämpfen galt. Henning Ritter stellt dazu treffend fest: „Eine Steigerung des Gegensatzes ins Monumentale einer Gesamtentwicklung von Natur und Geschichte bietet schließlich das in eine Kampfszenerie zwischen Prinzipien des Daseinskampfes und der gegenseitigen Hilfe verwandelte Panorama der Darwinschen Evolutionstheorie, welche Kropotkin in den Studien zur gegenseitigen Hilfe beschreibt. Indem [der Formel vom Daseinskampf] ein zweites Prinzip entgegengestellt und durch das gesamte Panorama der sozialdarwinistisch erschlossenen Tier- und Menschengeschichte verfolgt wird, bleiben
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Ebd., S. 16f. In diesem Zitat deutet sich im übrigen auch an, dass Kropotkin, ebenso wie Herbert Spencer und eine ganze Reihe anderer ,Biologisten', gegen die sich Kropotkin wendete, unbedingter Anhänger der Lamarckschen These von der .Vererbung erworbener Eigenschaften' war. Siehe auch Kropotkin, „Inheritance of Acquired Characteristics", in: The Nineteenth Century (1912), S. 511-531. Vgl. R. Virchow, „Atome und Individuen", in: ders., Drei Reden über Leben und Kranksein, hg. v. F. Krafft, München 1971, S. 33-67; J. C. Bluntschli, „Rasse und Individuum", in: Bluntschli, Brater, Staats- Wörterbuch Bd. 8, S. 474-80. Kropotkin, Art. Anarchism.
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strukturelle Merkmale der Theorie erhalten, die vielleicht stärker gewirkt haben als der ausdrücklich gemachte Evolutionsfaktor."64 Insofern wundert es auch nicht, dass an zentralen Stellen der .Gegenseitigen Hilfe' jene erste Form des Überlebenskampfes als Kampf des Kollektivs gegen eine grundlegend feindliche und/oder aus Feinden bestehende Umwelt, die Kropotkin scheinbar nur am Anfang kurz erwähnt, um sich dann der zweiten Form des Kampfes (um die Existenzmittel innerhalb der Spezies) kritisch zuzuwenden, als die entscheidende Voraussetzung für das Funktionieren seiner Gegenseitigen Hilfe wieder auftaucht. Seine Beobachtungen im „nördlichen Asien", schrieb Kropotkin, hätten ihn gelehrt, „welch überwiegende Bedeutung" jener Kampf gegen eine feindliche Umwelt, „das von Darwin als ,die natürlichen Hemmnisse gegen die Übervölkerung' bezeichnete Moment hat im Verhältnis zu dem Kampfe um Existenzmittel zwischen Individuen der gleichen Art, einem Kampfe, der hie und da in einem gewissen Umfange statt hat, aber niemals die Bedeutung des ersten Moments erreicht."65 Und seine einzelnen Kapitel erklärend wie zusammenfassend schrieb er: „Es war notwendig auf die überwältigende Bedeutung hinzuweisen, die soziale Gewohnheiten für die Natur, sowie für die fortschreitende Entwicklung der Tierarten und der menschlichen Wesen haben, zu beweisen, daß sie den Tieren einen wirksamen Schutz vor ihren Feinden, sehr häufig eine Erleichterung für die Beschaffung der Nahrung, Langlebigkeit und damit eine größere Möglichkeit fur die Entwicklung geistiger Fähigkeiten gesichert haben, und dass sie den Menschen neben solchen Vorteilen die Möglichkeit gewährt haben, jene Institutionen auszuarbeiten, aufgrund deren sie in dem harten Kampfe wider die Natur überleben und trotz aller Wechselfälle ihrer Geschichte fortschreiten konnten."66 Hier scheint aus dem milden Anarchismus eine klassisch bürgerliche Fortschrittstheorie geworden zu sein. Hinter der Gegenseitigen Hilfe steht, sie erst ermöglichend, doch wieder der ewige Überlebenskampf. Damit ist das Verhältnis zwischen Anarchie und Evolutionismus im ausgehenden 19. Jahrhundert noch lange nicht erschöpfend beschrieben. Doch es ging hier auch nur darum, zu zeigen, dass noch jene politischen Positionen, die sich scheinbar gegen den Krieg als Natur- und Normalzustand der Gesellschaft richteten, von ihm als einem Paradigma des politischen Denkens zehrten. Woraus der Schluss zu ziehen ist, dass ein entscheidendes Gegenargument zur These vom Krieg als Naturzustand sicher nicht in der schlichten Behauptung ihres Gegenteils liegt. Vielmehr kann man auch hier nur historisierend danach fragen, wann und wie jene These ihren Geltungsanspruch erhielt und wie dieser perpetuiert wurde.
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H. Ritter, „Nachwort: Ein milder Anarchismus", in: Kropotkin, Gegenseitige Hilfe, S. 308-326, hier S. 320, 323. Kropotkin, Gegenseitige Hilfe, S. 12f. Ebd., S. 19.
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IV. Terror und Terrorismus Der anarchistische Idealzustand, wie ihn Kropotkin sich vorstellte, war eine Gesellschaft ohne Regierung, deren Harmonie nicht durch Gesetz und Autorität, sondern durch freie Übereinkunft zwischen Gruppen zustande käme. „Voluntary associations [...] would represent an interwoven network, composed of an infinte variety of groups and federations of all sizes and degrees, local, regional, national and intrernational temporary or more or less permanent - for all possible purposes: production, consumption and exchange, communications, sanitary arrangements, education, mutual protection, defence of the territory, and so on; and, on the other side, for the satisfaction of an ever-increasing number of scientific, artistic, literary and sociable needs." 67 Was hier beschrieben wird, wirkt trotz des im Vergleich zu den Verhältnissen seiner Zeit radikal Anderen, das Kropotkin zu denken versuchte, mehr harmoniesüchtig als anarchistisch. Und nicht nur in seinen Schriften, sondern auch persönlich machte Kropotkin laut Zeitzeugen kaum den Eindruck, er verkehre mit Leuten, die bereit waren, für eine gerechtere Gesellschaft Menschen zu töten, Häuser in die Luft zu sprengen oder zumindest - wie von Bakunin überliefert - beim Anblick eines Hauses, das abgerissen wurde, sofort voller Tatendrang hinzuspringen und mitzutun. Das wird etwa an einer Beschreibung deutlich, die Henning Ritter bei Bernhard Shaw gefunden hat: „Kropotkin war so liebenswürdig, dass es ans Heilige grenzte, und mit seinem roten Vollbart und seinem gütigen Gesicht hätte er ein Hirte aus den lieblichen Bergen sein können." 68 Diese Worte wirken heute, gerade weil sie sich auf jemanden beziehen, der in seiner Zeit trotz aller Milde als radikaler Umstürzler galt, eigentümlich vertraut. Denn in ganz ähnlicher Weise wird derzeit jener meistgesuchte Terrorist der Welt beschrieben, dem man die Zerstörung des New Yorker World Trade Centers am 11. September 2001 zur Last legt.69 Das Zufällige dieser Ähnlichkeit hat da seine Grenze, wo Terroristen, radikalen Propheten, Umstürzlern und Revolutionären fast immer zugeschrieben wird, was man Charisma nennt: eine aus persönlichen Eigenschaften, Verehrung und außeralltäglicher Bindung bestehende Konstellation der Auserwähltheit. Die in den populären Bildern solcher Charismatiker immer wieder anzutreffende Gleichzeitigkeit von radikaler Gewaltanstiftung und persönlicher Unschuldsaura ergibt sich typischerweise aus der von Max Weber systematisch beschriebenen exzeptionellen Position des Charismatikers als Ruhepol inmitten des primär chaotischen Feldes seiner Anhängerschaft, dessen Dynamik durch jede Entscheidung des charismatischen Führers noch gesteigert wird und gesteigert werden muss, will der Charismatiker ein solcher bleiben, mithin sich selbst als Ausnahme innerhalb des Chaos behaupten. 70 Zur charismatischen Herrschaft gehört nach Weber weiterhin der auf Dauer gestellte Ausnahmezustand und die Aufrechterhaltung einer ständigen Außeralltäglichkeit, die sich in der Praxis meist durch die Schaffung eines permanenten Kriegszustands manifestiert. Mit anderen Worten: Die charismatische Herrschaft ist - idealtypisch - die einer grundlegenden 67 68 69
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Kropotkin, Art. Anarchism. Zit. in: Ritter, „Ein Milder Anarchismus", S. 309. Die Beziehung der gegenwärtigen Situation zum Anarchismus im späten 19. Jahrhundert wird in interessanter Weise auch diskutiert bei L. H. Lapham, „Drums along the Potomac: New war, old Music", in: Harper's Magazine, November 2001, S. 35—41. Vgl. Μ. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1980, S. 140-147, 654-687.
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Auffassung von Politik als fortgesetztem Krieg am meisten entsprechende Form von Herrschaft. Das wichtigste Beispiel, an dem diese These immer wieder diskutiert wird, ist der Nationalsozialismus. Seit Franz Neumanns noch während des Zweiten Weltkriegs entstandenen Studie zur Herrschaftsstruktur des nationalsozialistischen Regimes, die sich auf das Webersche Modell charismatischer Herrschaft zur Analyse des Hitler-Staats bezog, hat dieses in verschiedenen einflussreichen Interpretationen des ,Dritten Reiches' eine Rolle gespielt. So beruhte Hannah Arendts Analyse der totalen Herrschaft des NS-Systems ganz wesentlich auf Neumanns Arbeit und auch Hans Mommsens Thesen über die kumulative Radikalisierung des Nationalsozialismus in einem um die charismatische Figur Hitlers gleichsam kreisenden, in sich aber von Entscheidungschaos und Ämterkonkurrenz geprägten, polykratischen System lassen ihren Bezug auf die Weberschen Überlegungen unschwer erkennen. Bis heute ist dieser Diskussionskontext ein wesentlicher Bezugspunkt sowohl der philosophischen als auch der historiographischen Reflexion über das ,Dritte Reich', seine Vor- und seine Nachgeschichte.71 Insofern steht also auch das ,kurze Jahrhundert der Extreme' (Eric Hobsbawm) mit seinen bislang einzigartigen Formen der politischen Gewalt in der Tradition oder zumindest in einer Beziehung zu jener schon das 19. Jahrhundert nicht unwesentlich prägenden Auffassung vom andauernden Krieg als Normalzustand der modernen Gesellschaft, die im vorliegenden Text als eine im Grunde unpolitische Form politischen Denkens ausgewiesen werden soll. Wenn es zutrifft oder zumindest Sinn macht, mit Arendt und Agamben den Nationalsozialismus als eine Politik des Unpolitischen zu charakterisieren, stellt sich die Frage, inwiefern nicht auch andere aktuellere Formen der politischen Gewalt eine hintergründige Dimension des Unpolitischen aufweisen, einen vorausgesetzten und vorausgedachten Horizont des ewigen Kriegs und ständigen Überlebenskampfes, der bloßen Feindschaft und symmetrischen Konkurrenz. Michel Foucault jedenfalls war bis zu seinem Tod 1984 der festen Überzeugung, dass die von ihm mit den Begriffen Bio-Macht und Bio-Politik gekennzeichneten Phänomene „noch heute" das entscheidende Problem darstellten.72 Doch die Wende von 1989, das Ende des Kalten Kriegs und die schlagartige Umstrukturierung der gesamten globalpolitischen Landschaft im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts konnte Foucault weder erleben noch erahnen. In gerade dieser Zeit aber und verschärft seit dem 11. September 2001 ist eine Form politischer Gewalt in ganz neuer Weise zur Geltung gekommen, die mit den Erfahrungen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert, mit dem totalen Terror des Nationalsozialismus oder auch kommunistischer Regime nicht mehr all zuviel gemein zu haben scheint.
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F. Neumann, Behemoth: Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944 [1944], Frankfurt am Main 1990; H. Mommsen, „Der Nationalsozialismus: Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes", in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 16, Mannheim/ Wien/ Zürich 1976, S. 785 790; ders., „Von Weimar nach Auschwitz: Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche", in: Ausgewählte Aufsätze, Stuttgart 1999. Vgl. auch I. Kershaw, Der NS-Staat: Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek 1999; G. Koch (Hg.), Bruchlinien: Zur neueren Holocaustforschung, Köln 1999. Vgl. den letzten noch zu seinen Lebzeiten publizierten Text von M. Foucault, „Die politische Technologie der Individuen", in: ders., Botschaften, S. 202-214.
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Schon in den 1960er und 1970er Jahren hat man angesichts des linksradikalen Terrorismus jene Unterscheidung zwischen dem Staatsterror, wie er sich im jakobinischen ,Terreur' zum ersten Mal und in den Terrorregimen des 20. Jahrhunderts in extremer Weise entwickelte, und dem sogenannten Befreiungsterrorismus antistaatlicher, ethnisch-national oder sozialistisch orientierter Gruppen wiedereingeführt, die bereits in der anarchistischen Theorie des 19. Jahrhunderts eine Rolle spielte.73 Mit dem Umbruch von 1989 aber und seiner auf vielen Ebenen zu beobachtenden Verwirrung des politischen Koordinatensystems liegt es nahe, auch im Bereich des Terrorismus solche scheinbar klaren Unterscheidungen zu überdenken. Das bedeutet selbstverständlich nicht, sie kurzerhand abzuschaffen, sondern es bedeutet, zu fragen, welche Verbindungen, Zusammenhänge und eventuellen Äquivalenzen zwischen staatlichem und antistaatlichem Terror in der Moderne bestanden haben und vielleicht weiterhin bestehen. Nun herrscht heute und besonders seit dem 11. September 2001 die Auffassung vor, es mit einem ganz neuen oder aber wiedergekehrten Terrorismus religiös-fundamentalistischer Art zu tun zu haben - ein scheinbar dritter Typus, der in der Unterscheidung zwischen Staats- und Befreiungsterrorismus nicht aufgeht. Einige wichtige Arbeiten der jüngeren Terrorismusforschung allerdings, die bereits vor dem 11. September erschienen, verfolgen demgegenüber einen Ansatz, der zwar die zunehmende Bedeutung des gewalttätigen religiösen Fundamentalismus besonders im Nahen Osten durchaus wahrnimmt, ihn aber in Zusammenhang mit einer längerfristigen Entwicklung neuer Kriegsformen des GuerillaKampfes und des dezentralen Widerstands stellt, die im Zuge der Globalisierung die klassischen politischen Konflikte zwischen Völkern, Nationen und Staaten durch einen multiplen geopolitischen Bürgerkrieg ablösen.74 Darüber hinaus ist auch der religiöse Fundamentalismus selber in der interdisziplinären Forschung der letzten zehn Jahre einer entscheidenden Revision unterzogen worden, die ihn weder als vormodernes Relikt noch als bloße Reaktion auf den westlichen Universalismus, sondern als eine nicht zuletzt durch die westliche Weltpolitik selber induzierte, hochmoderne Strategie bewusster Religionspolitisierung ansieht.75 Vor diesem Hintergrund könnte sich herausstellen, dass auch die aktuellsten Formen des Terrorismus kein wirklich neues Phänomen sind. Vielmehr könnte ein Zusammenhang bestehen zwischen dem politischen Diskurs des Westens (den Formen seiner politischen Theorie und Praxis im Zeitalter der Globalisierung) und jenem Terror, dem er jetzt in aller Form den Krieg erklärt hat. Schon dieser Sprechakt einer Erklärung des „Kriegs gegen den Terror" und seine bereitwillige Aufnahme und Verbreitung durch die Medien deuten auf Strukturelemente der gegenwärtigen Situation, die durchaus etwas mit den Problemen, die im Vorangegangenen erläutert wurden, zu tun haben. Geht man von der Begriffsbestimmung Bruce Hoffmanns aus, des Autors einer der wichtigsten jüngeren Studien zum Thema, der den Terrorismus als „unerklärten Krieg"
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Vgl. etwa Y. Alexander u.a. (Hg.), Terrorism: Theory and Practice, Boulder 1979; W. J. Mommsen u. G. Hirschfeld (Hg.), Sozialprotest, Gewalt, Terror: Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982. Vgl. u.a. Η. M. Enzensberger, Aussichten auf den Bürgerkrieg, Frankfurt am Main 1996. Vgl. B. Hoffmann, Terrorismus: Der unerklärte Krieg, Frankfurt am Main 1999; H. Bielefeldt, Politisierte Religion, Frankfurt am Main 1998; S. N. Eisenstadt, Fundamentalismus und Moderne, Frankfurt am Main 1998.
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kennzeichnet, so lässt sich die Reaktion der USA auf die Anschläge des 11. September 2001 in der leicht paradoxen Formel einer Kriegserklärung gegen den unerklärten Krieg fassen. Zugleich sind aber die konkreten Formen dieses Kriegs gegen den Terror, ob sie sich nun gegen Afghanistan, das Taliban-Regime oder die Al-Quaida richten, formal ganz genau so „unerklärt" wie es der Anschlag auf das World Trade Center war und ihrer Art nach trotz allen internationalen Redens vom neuen Krieg bislang immer noch internationale Polizeieinsätze in der inzwischen langen Tradition von Angriffen auf den Irak, Lybien oder „Ziele in" anderen islamischen Staaten des Nahen Ostens. Im Grunde handelt es sich also um einen (unerklärten) Krieg gegen den (unerklärten) Krieg. Wie aber ist ein solcher Krieg gegen den Krieg möglich? Wodurch unterscheiden sich diese beiden Kriege? Und wie hängen sie miteinander zusammen? Nicht nur Bruce Hoffmanns Konzept des unerklärten Kriegs, sondern auch eine Reihe weiterer Titel, die in letzter Zeit über Terrorismus und Fundamentalismus erschienen sind, zeichnen sich durch eine Begriffswahl aus, die den Terrorismus in die Nähe dessen bringt, was oben im Anschluss an Clausewitz mit dem Begriff der bloßen Feindschaft gekennzeichnet wurde. „Die globale Bedrohung" (Walter Laquer), „Die neue Weltunordnung" (Bassam Tibi), „Die falsche Verheißung" (John Gray) „Neue Gefahren" (Bruce Hoffmann), „Terror für die Unsterblichkeit" (Robert J. Lifton), „Wie man mit Fundamentalisten redet, ohne den Verstand zu verlieren" (Hubert Schleichen) - das sind nur einige Beispiele, die ungeachtet der teilweise sehr verschiedenen Positionen, die sich hinter diesen Titeln verbergen, eine deutliche Tendenz zur Entgrenzung beim Thema des Terrorismus aufweisen.76 Der Terrorismus gilt als ein jenseits konkreter, bestimmbarer Konflikte liegendes Phänomen, das den Kern unserer Rationalität tangiert, unsere politischen Mittel übersteigt und eine übergreifende Bedrohung darstellt - und das alles in genau dem Maße, in dem der Terrorismus selber den Glauben an letzte Dinge und heilige Kriege, die Unsterblichkeits- und Endkampfrhetorik sowie das Bild von der jüngsten Entscheidungsschlacht ins Feld fuhrt. Dass hier eine eigentümliche Symmetrie besteht, die in einer selber fundamentalisierenden Darstellung des Fundamentalismus zum Ausdruck kommt, zeigte nicht zuletzt die Schnelligkeit und Einhelligkeit, mit der man im gesamten Westen die Anschläge vom 11. September als Angriffe auf „unsere fundamentalen Werte" der Freiheit und Gleichheit auffasste. Verstärkt wurde dieses Phänomen paradoxerweise noch dadurch, dass man aus pragmatischen, aber auch aus Gründen einer angelernten politischen Korrektheit sich bemühte, den Konflikt möglichst nicht zu einem Konflikt zwischen dem mehrheitlich christlichen Westen und dem Islam zu erklären. Eine Bemerkung des britischen Premierministers Tony Blair einige Tage nach dem 11. September ist hier aufschlussreich: Wer die Anschläge verübt und angestiftet und gegen wen man jetzt mit allen Mitteln und aller Gewalt vorzugehen habe, so Blair, seien weder islamische Terroristen noch sonst irgendwelche bestimmten Terroristen, sondern es seien einfach nur Terroristen. So konfliktentschärfend diese Bemerkung gemeint gewesen sein mag und so viel Applaus sie von anwesenden Muslimen auch bekam, in ihr steckte bereits jene Kriegserklärung gegen einen Gegner, der gerade in seiner Entkonkretisierung nicht einmal 76
Vgl. auch den Literaturbericht von M. Terkessedis, „Die Stunde der Schnellschüsse: Warum die meisten Islam- und Terror-Bücher mehr über ihre Verfasser als über ihr Thema verraten", in: Literaturen 12 (2001), S. 37-39.
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mehr mit dem Bösen schlechthin, sondern mit dem Terror schlechthin, mit dem Krieg an sich identifiziert wird. Der Terrorist, der nichts ist als Terrorist, ist ein bloßer Feind; und gegen ihn Krieg zu fuhren ist die konsensfähigste, die gleichsam natürlichste Sache der Welt. Schließlich hat die zivilisierte Welt vor allem dem Krieg immer schon den Krieg erklärt. Hier scheint ein Grundproblem der gegenwärtigen Situation zu liegen: Denn im Gegensatz zu manchen anderen, früheren Formen der universalistischen Rechtfertigung von Kriegen geht es hier nicht um eine asymmetrische Auffüllung der eigenen Position mit universal gesetzten Werten, die gegen die Feinde des Universalismus verteidigt werden müssen. Vielmehr hatte man gerade nach dem 11. September den Eindruck, als würden sich viele Amerikaner auf die Werte der Freiheit und Demokratie als partikulare Werte ihrer eigenen Gesellschaft besinnen, was dann auch in einem exzessiven Patriotismus zum Ausdruck kam. Und auch die europäischen Bündnispartner beeilten sich, ihre Solidarität mit den USA als einer befreundeten Nation „under attack" zu erklären. Zugleich aber blieb und bleibt die Darstellung des Feindes bewusst und explizit non-partikular, das heißt frei von jeder Anerkennung irgendwelcher tatsächlich vom Feind artikulierter oder auch nur vorstellbarer politischer Interessen, Ziele oder Forderungen - nach dem klassischen Leitsatz: Mit Terroristen verhandelt man nicht. Bedeutet dies, dass sich die asymmetrische Ordnung von Universalismus vs. Partikularismus gleichsam umgekehrt hat und die Wiederentdeckung der eigenen Partikularität mit einer Universalisierung des Feindes einhergeht? Ist aber der bloße Feind automatisch der universale Feind? Wie das Beispiel Tony Blairs zeigt, speist sich die Wahrnehmung des Terroristen als einem bloßen Feind aus einer anderen Quelle als der Umkehrung von Asymmetrien. Vielmehr spielt hier gerade Symmetrie eine entscheidende Rolle. Denn wie niemals zuvor wird der gegenwärtige Krieg gegen den Terror als eine Verteidigung weder des Universalismus noch der eigenen Partikularität, sondern als eine Verteidigung der universalen Vielfalt von Partikularismen repräsentiert. Die Freiheit verteidigen heißt heute auch, die Freiheit der Andersdenkenden, die Freiheit der Vielfalt und die Vielfalt in der Freiheit zu verteidigen. Zumindest in der Rhetorik der meisten Politiker und eines Großteils der Journalisten spielt dieser Aspekt eine herausragende Rolle. Er ist Produkt einer inzwischen seit zwei Jahrzehnten geführten internationalen Diskussion über eine politische Anerkennung kultureller Differenz, die vielfach zu Recht und mit guten Gründen gegen eine lange Tradition der universalistischen Asymmetrie im Verhältnis zwischen westlichen Werten und nicht-westlichen Traditionen eingefordert wurde. Weniger der Multikulturalismus als vielmehr die faktische Multikulturalität der modernen Gesellschaften zumal im Westen ist heute zu sinnfällig und als Herausforderung der Politik zu präsent, als dass eine Rückkehr zu älteren Modellen der zivilisierten westlichen und der unzivilisierten restlichen Welt noch möglich erscheint. Obwohl nicht zu übersehen ist, dass manche Politiker an zentralen Positionen bisweilen immer noch nach diesem Schema denken, erscheint es gerade im Rahmen der transatlantischen Koalition gegen den Terror, die nach dem 11. September intensiv aufgebaut wurde, (bislang) nicht durchsetzungsfähig. Die Folge davon aber, in einer Situation, in der nun jener multikulturelle Konsens selber durch den Terrorismus herausgefordert wird und dieser berechtigterweise außerhalb der kulturellen Anerkennungsfähigkeit verortet werden muss, ist jene Fundamentalisierung des Feindes zu einem bloßen Feind, der mit seiner kulturellen auch seine politische Anerkennungsfahigkeit einbüßt.
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Doch nicht nur auf Seiten der westlichen Darstellung des antiwestlichen Fundamentalismus spielt ein solcher radikalisierender Effekt symmetrischer Wahrnehmungsmodelle eine Rolle. Er scheint vielmehr auch in den jüngeren Erscheinungsweisen des antiwestlichen Fundamentalismus selber am Werk zu sein. So haben Religionssoziologen und Islamwissenschaftler in den vergangenen Jahren verstärkt darauf hingewiesen, dass die Wiederkehr, das Aufleben oder die Radikalisierung religiöser Orientierungssysteme in Regionen, die eine ganze Weile auf dem (wenn auch immer konfliktreichen) Weg der Säkularisierung, Liberalisierung oder der Öffnung politischer Räume (an Stelle von oder neben religiösen Ordnungen) waren, zumindest teilweise eine erzwungene Politisierung kultureller Identität widerspiegeln. Erzwungen in dem Sinne, dass an Stelle sozialer oder ökonomischer Interessen und politischer Ansprüche nur mehr der Verweis auf kulturelle Traditionen, religiöse Besonderheiten und kollektive Identitäten im Westen Gehör findet, wenn es um die Verteilung von Entwicklungsgeldern, internationalen Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung oder Integration in die „Völkergemeinschaft" geht.77 In solchen Konstellationen ist nicht ein asymmetrisches Ungleichgewicht als vielmehr die symmetrische Verteilung von Ungleichheit das Problem, in dem sich der Diskurs vom latenten Krieg als gesellschaftlichem Normalzustand spiegelt. Die Radikalität des neuen Terrorismus, die Radikalität der antiwestlichen Ressentiments in vielen islamisch dominierten Regionen und schließlich auch die Radikalität der westlichen Kriegsrhetorik und wohl auch Kriegspraxis spiegeln jedenfalls etwas von der Eskalationsdynamik symmetrisierender Wahrnehmungsmuster wider. Nicht von ungefähr erinnert man sich an jenen Witz vom Inder und Europäer - Inder. „Bei uns ist es eine alte Tradition, Witwen zu verbrennen." Europäer: „Bei uns ist es eine alte Tradition, Leute, die Witwen verbrennen, aufzuhängen." Nach dieser Formel kann die gegenwärtige Globalisierung nur in der Katastrophe enden. Entsprechend sind in jüngster Zeit bestimmte Formen des Multikulturrelativismus von Seiten der politischen Philosophie einer scharfen Kritik unterzogen worden, die gegenüber seinen Symmetrisierungen ebenso wie gegenüber den klassisch universalistischen Modellen der modernen Aufklärungsphilosophie wieder mehr Raum für das Politische in der politischen Philosophie einfordern.78 So hat etwa Slavoj ZiZek argumentiert, dass der postmoderne oder, wie er es explizit nennt, postpolitische Diskurs des Partikularismus, der kulturellen Identität und ihrer Anerkennung, der sich üblicherweise als eine Kritik am westlichen Universalismus versteht, in Wahrheit das genaue Gegenteil ist: nämlich die Form, die der westliche Universalismus in postkolonialen Zeiten annimmt.79 In dieser Sichtweise stehen sich kultureller Relativismus und westlicher Universalismus nicht gegenüber, sondern sind nurmehr zwei Seiten ein und derselben Medaille.80 Demgegenüber plädiert Zi2ek für eine An77 78 79 80
Bielefelds Politisierte Religion; Eisenstadt, Fundamentalismus. Vgl. etwa J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften: Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main 1997. Vgl. S. Ziiek, Ein Plädoyer für die Intoleranz, Wien 1998; ders., Liebe deinen Nächsten? Nein danke!, Berlin 1999. Am Beispiel des ,Streits' zwischen Jürgen Habermas und Charles Taylor zur Frage der Anerkennungspolitik ist diese Verwandtschaft besonders deutlich gezeigt worden von W. Hamacher, „One 2 Many Multiculturalisms", in: H. de Vries, S Weber (Hg.), Violence, Identity and Self-Determination, Stanford 1999, S. 326-346. Vgl. hierzu auch C. Geulen, „Die Ordnung der Unordnung: Multikulturalismus als Modell und als Problem", in: Jahrbuch des Kulturwissenschaftlichen Instituts 1997/8, S. 15-35.
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erkennung nicht von Differenz an sich, sondern fur eine Anerkennung der immer asymmetrischen Relation von Differenzen. Denn es ist diese Asymmetrie, die kulturelle Differenz zu einem Politikum macht. Die Asymmetrie von Universalismus und Partikularismus ist nicht etwas, das durch symmetrische Begriffe des Politischen, der universalen Gleichheit oder der multikulturell gleichmäßigen Verteilung von Differenz überwunden werden könnte. Ein universalistischer Anspruch ist jeder partikularen Kultur inhärent, also keineswegs ein nur für den Westen reserviertes Phänomen, sondern wesentliches Moment des Politischen der - jeder - Kultur. Für Ziiek ist die Politik deshalb generell und die Politik kultureller Identität im besonderen eine Sache grundsätzlich asymmetrischer Perspektiven und Wahrnehmungen, weshalb ihr Ausgangspunkt die Intoleranz zu sein hat. Denn es ist diese Intoleranz, die es politisch zu verhandeln und auszutragen gilt und nicht eine vorausgesetzte Phantasie universaler und/oder multikultureller Glückseligkeit - und, so wäre hinzuzufügen, erst recht nicht ein vorausgesetzter Zustand der ewigen Konkurrenz und des andauernden Kriegs als eine Art gerechte Konfliktharmonie des gesellschaftlichen Naturzustands.81 Die Anerkennung der universalistischen Ansprüche des Partikularen und ihrer asymmetrischen Relation impliziert die Öffnung eines politischen Raums, oder zumindest das Nachdenken über einen solchen, in dem weniger die partikularen Besonderheiten, weniger die kulturelle Lebensweise oder der sozioökonomische Lebensprozess, als vielmehr die Positionierungen der Beteiligten zum Ganzen, mithin ihre Weltsicht und ihre Ansprüche auf Weltgestaltung zur Disposition stünden. In ihm spielte Kommunikation sicherlich eine entscheidende Rolle. Aber gerade nicht eine Kommunikation, die auf der Basis einer universal gedachten kommunikativen Vernunft von den existierenden Machtbeziehungen abstrahiert, um über Differenz zu verhandeln, sondern eine Kommunikation, die von Differenz abstrahiert, um über Machtverhältnisse zu reden.82 Nicht menschliche Vernunft oder menschliche Natur als gemeinsame Ausgangslage, sondern die gemeinsame Welt als der von allen geteilte Ort und Gegenstand der Verhandlung erklärte auch Hannah Arendt zum eigentlichen Raum des Politischen: „Denn wiewohl die gemeinsame Welt den allen gemeinsamen Versammlungsort bereitstellt, so nehmen doch alle, die hier zusammenkommen, jeweils verschiedene Plätze in ihr ein, und die Position des einen kann mit der eines anderen in ihr so wenig zusammenfallen wie die Position zweier Gegenstände. Das von Anderen Gesehenund Gehörtwerden erhält seine Bedeutsamkeit von der Tatsache, dass ein jeder von einer anderen Position aus sieht und hört. Dies eben ist der Sinn eines öffentlichen Zusammenseins, mit dem verglichen auch das reichste und befriedigendste Familienleben nur eine Ausdehnung und Vervielfältigung der eigenen Position bieten kann [...]. Eine gemeinsame
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Es wäre eine weitere interessante, hier nicht zu verfolgende Frage, inwieweit sich auch der derzeit heftig diskutierte Neoliberalismus auf jenen Diskurs des ,In unserer Differenz und Konkurrenz sind wir alle gleich' beruft. Faktisch würde das allerdings bedeuten, dass kaum etwas an der gegenwärtigen Lage neu ist, sondern ,Globalisierung' und Neoliberalismus' Begriffe fur die gleichen Phänomene sind, die in anderer Sprache (,Imperialismus', ,Sozialdarwinismus') schon im 19. Jahrhundert auf der Tagesordnung standen. Eine ausfuhrliche Diskussion der Theorie des kommunikativen Handelns, wie sie Jürgen Habermas vorgelegt hat, kann hier nicht erfolgen. Der Hinweis bezieht sich daher eher auf die Kurz-Form, in der diese Theorie in einem Großteil der öffentlichen Rezeption , verkauft' wird.
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Welt verschwindet, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gesehen wird; sie existiert überhaupt nur in der Vielfalt ihrer Perspektiven."83 Diese Vielfalt der Perspektiven (und nicht etwa der Differenzen und Besonderheiten) sah Arendt vor allem durch ein Politikverständnis gefährdet, das politisches Handeln in der einen oder anderen Form der Logik eines vorausgesetzten Prozesses (der Geschichte oder der Natur) und seinen Gesetzen anzupassen fordert. In den großen Verlaufstheorien der Moderne, in der Klassenkampftheorie des Marxismus und in der Rassenkampftheorie des biologistischen Evolutionsdiskurses identifizierte sie solche Logiken, deren Mechanik darauf hinauslaufe, von der Wirklichkeit zu abstrahieren, indem sie durch eine theoretische Realität ersetzt wird, die den konkreten Konflikt durch einen grundsätzlichen und damit überzeitlichen Konfliktzustand verdrängt. Eben deshalb, so Arendt, sei ein Großteil des politischen Denkens in der Moderne eine Politik des Verdachts: „Der Begriff der Feindschaft wird durch den der Verschwörung ersetzt und damit eine politische Realität hergestellt, in der hinter jeder Erfahrung des Wirklichen - wirklicher Feindschaft oder wirklicher Freundschaft - der Natur der Sache nach etwas anderes vermutet werden muß."84 Es ist dieser Zusammenhang, der auch die gegenwärtige Situation zu bestimmen scheint: Je mehr der Terrorismus zum Krieg an sich und der Terrorist zum bloßen Feind stilisiert wird, desto mehr richten sich auch die Reaktionen auf den Terror an einem übergeordneten und gerade in seinen vielfältig imaginierbaren Manifestationen abstrakten Bedrohungsszenario aus. Das Spektrum möglicher Angriffe und Angreifer, das derzeit und wohl noch lange die Szenarien der Sicherheitsstrategen prägen wird, ist genauso vielfältig und multi-kulturell wie etwa jene Gesellschaftsordnung, die man jetzt in Afghanistan zu installieren sich bemüht.85 Auf beiden Ebenen geht es mit bestem Willen und aus vollem Recht um die Vermeidung von Krieg und Gewalt, allerdings zum Preis der Einebnung des Politischen. Terror ist und provoziert die Entpolitisierung von Feindschaft in genau dem Maße, in dem Feindschaft immer schon als potentieller Krieg gedacht wird.
V. Feindschaft und Verwandtschaft In Wolfgang Petersens Science-Fiction-Film ,Enemy Mine' von 1985, der dem vorliegenden Text seinen Titel leiht, bildet der Zusammenhang von Feindschaft und Krieg die entscheidende Ausgangssituation. Die erinnernde Stimme der von Dennis Quaid gespielten Hauptfigur Willis Davidge umreißt zu Beginn und aus dem ,Off die Lage: Am Ende des 21. Jahrhunderts haben sich die Staaten der Erde endlich friedlich zusammengeschlossen, um gemeinsam den Weltraum zu kolonisieren. Bei der Erschließung eines besonders reichen Planetensystems treffen sie auf die Dracs, eine außerirdische Rasse von eingeschlechtlichen Lebewesen, die wie eine Mischung aus Mensch und Frosch aussehen und Ansprüche auf das gleiche Gebiet des Weltraums erheben. „But they wouldn't get it without a fight." Seit langem tobt ein Krieg zwischen den Menschen und den Dracs, denen man offenbar über Jahre
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Arendt, Vita activa, S. 71 ff. Arendt, Elemente, S. 719. Vgl. hierzu auch G. Agamben, „Heimliche Komplizen: Über Sicherheit und Terror", in: FAZ vom 20. September 2001, S. 45.
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eingetrichtert hat, dass die jeweils andere Spezies der absolute und vernichtenswerte Feind ist. Bei einem Gefecht stürzen Davidge und ein Drac (Louis Gossett Jr.) auf einem unbewohnten Planeten ab. Nachdem sie anfänglich vergeblich versuchen, sich auch noch hier gegenseitig umzubringen, bemerken sie schnell, dass sie gemeinsam bessere Überlebenschancen haben und raufen sich zusammen, lernen sich kennen, lehren sich gegenseitig die jeweils eigene Sprache und retten einander das Leben. Als Davidge von einer Expedition zurückkehrt, bei der er ein Lager von sogenannten Scavengers entdeckt hat (Menschen, die gefangene Dracs als Sklavenarbeiter ausbeuten), stellt sich heraus, dass sein Drac-Freund Jerribad Shigan (von Davidge nur Jerry' genannt) einen Sohn erwartet. Doch es kommt zu einem Unfall, an dessen Folgen Jerry stirbt, während es Davidge gelingt, Jerrys Sohn Zammis zu retten. Kurz vor Jerrys Tod verspricht ihm Davidge, den Sohn eines Tages zum Großen Konzil des Drac-Heimatplaneten zu bringen, um dort - wie es Sitte und Initiationsritual ist - sämtliche Vorfahren des jungen Drac öffentlich aufzuzählen. Davidge zieht Zammis auf, bis dieser zufällig in das Lager der Scavengers gerät, die ihn gefangen nehmen. Bei einem Rettungsversuch kommt Davidge scheinbar ums Leben, wird aber später von einer Raumpatroullie gefunden, zurück zur heimatlichen Raumstation gebracht und dort gesund gepflegt. Schließlich kehrt er zum Planeten zurück, befreit die dort arbeitenden DracSklaven einschließlich Zammis und bringt diesen zum Drac-Heimatplaneten, wo er das Versprechen erfüllt, das er Jerry gegeben hatte. „And when Zammis brought his own son before the Great Council, the name of Davidge was added to his lineage." Der Krieg zwischen Menschen und Dracs jedoch geht weiter.86 Der Film variiert den klassischen Plot von Robinson und Freitag auf der einsamen Insel in Form einer Geschichte der scheinbaren Transformation von Feindschaft in Freundschaft auf dem Wege einer doppelten Adoption. Der Konflikt zwischen Menschen und Dracs wird allein in den einleitenden zwei Sätzen (und dann nochmal in einem kurzen Streit zwischen Davidge und Jerry über die Frage, wer zuerst das besagte Planetensystem besetzt habe) angedeutet und als typischer Krieg zwischen zwei Imperialmächten ausgewiesen, ohne dass man je Näheres über die Ursachen des Konflikts, über den eigentlichen Wert jenes Planetensystems oder über den tatsächlichen Verlauf des Krieges erfährt. Sogar die GräuelPropaganda, von der beide Helden angeblich so stark beeinflusst sind („Enemies, because they were taught to be")87 taucht faktisch im ganzen Film nicht auf. Auf der anderen Seite wird aber auch die sich entwickelnde Freundschaft zwischen Davidge und Jerry kaum expliziert, sondern primär durch überdurchschnittlich viele close-ups auf die Gesichtsmimik der beiden Helden und durch ein paar komische Dialoge angedeutet, die ihren Witz aber vor allem aus der klassischen SF-Konstellation ,Mensch begegnet Nicht-Mensch' beziehen. Das Wort ,Freund' taucht erst auf, als die Freundschaft schon in Verwandtschaft übergeht und Davidge den Sohn des Außerirdischen adoptiert. Von da an steht nur mehr die Sorge des 86
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Der Roman von Berry Longyear, auf dem das Drehbuch des Films beruht, wird hier nicht berücksichtigt. Das eigentliche Vorbild für ,Enemy Mine' war der Film ,Hell in the Pacific' unter der Regie von John Boorman aus dem Jahr 1968. Hier stürzen während des Zweiten Weltkriegs ein amerikanischer und ein japanischer Pilot auf einer Pazifikinsel ab. Petersens Film war kein Kassenerfolg und wurde besonders von der amerikanischen Kritik eher verrissen. Unter SF-Fans aber gilt er als Klassiker und er machte Dennis Quaid in Hollywood bekannt. Filmplakat. Dort lautet die Tag Line vollständig: „Enemies, because they were taught to be. Allies because they had to be. Brothers because they dared to be."
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Vaters um den Adoptivsohn im Zentrum, die schließlich in der zweiten Adoption Davidges in den Familienstammbaum der Dracs gipfelt. Auch die Scavengers und ihre exo-planetaren ,Sweat-Shops', deren pure Existenz den Zuschauer nochmals fragen lässt, um was für einen Krieg es sich da eigentlich genau handelt, werden nicht weiter erklärt und dienen, wie sich schnell herausstellt, vor allem dazu, der Geschichte einen , Show-Down' zu liefern. Dass Petersen an dieser Auflösung weniger interessiert war als an der Darstellung seiner Robinson-und-Freitag-Variante zeigt schon die Tatsache, dass die ersten fünf Minuten (Gefecht und Absturz) und die letzten 20 Minuten des Films (nach dem Tod Jerrys) in schnellen Schnitten als action-reiche Rahmenhandlung gedreht sind, während die restlichen Filmminuten in ruhigen Aufnahmen und langen Einstellungen die Handlungen und Dialoge der beiden Helden auf dem einsamen Planeten in einer Weise beobachten, die eher einem Theaterstück gleicht. Obgleich der Film also eine Geschichte erzählen muss, versucht er eigentlich, von dieser zu abstrahieren und sich in anthropologischer Reduktion auf die Grundkonstellation „Earthman and Alien - marooned on a hell-world" zu konzentrieren.88 Sein Ausgangsthema ist die bloße Feindschaft. Eben die aber lässt fur Freundschaft faktisch keinen Raum. In geradezu mechanischer Konsequenz fuhrt die bloße Feindschaft zur - Verwandtschaft. Das eigentliche Motto des Films lautet: Schlag ich Dir nicht den Schädel ein, musst Du schon mein Bruder sein. Und genau das drückt auch der Titel des Films in einer künstlichen Begriffsverdichtung aus: Enemy Mine.89 Induziert wird die Verwandlung der bloßen Feindschaft in Verwandtschaft durch das nackte Leben, durch den Überlebenskampf zweier intelligenter Wesen in einer feindlichen Umwelt, also: durch die anthropologische Sage von der quasi-logischen Entstehung der menschlichen Gesellschaft durch den Selektionsdruck einer unerbittlichen Natur. Im Film sind es Kälte, riesige Wüstenkäfer in tückischen Fallgruben und regelmäßig niedergehende Meteoritenhagel, die den Helden zu schaffen machen. Und das erste, worauf sie sich nach mehrfachen (bezeichnenderweise eher einseitigen) Mordversuchen90 und in sprachlich noch unbeholfener Weise einigen, ist, ein Haus zu bauen: „We need shelter! You understand me, toadface? Shelter, shelter!" Das Motiv der Häuslichkeit kehrt dann auch regelmäßig wieder. Fast alle zentralen Ereignisse finden in der Behausung der beiden Helden statt und die wichtigsten Dialoge und Streitereien entstehen aus Problemen des täglichen, häuslichen Lebens und drehen sich um die Frage, nach welchen Maximen diese Probleme am besten zu meistern sind.
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Tag line der Video-Kassette. ,Mine' ist im Englischen eigentlich nur Eigentumsangabe (im Sinne von ,this is mine'), seltener aber auch als substantiviertes Adjektiv Ausdruck intimster Zugehörigkeit (im Sinne von ,they are mine' = ,das sind die Meinigen'). Das nachgestellte ,mine' betont in gleichzeitiger Besitz- und Zugehörigkeitsmarkierung die quasi-verwandtschaftliche Unauflösbarkeit der Beziehung. Die Nachstellung von ,mine' klingt im heutigen Englisch aber so antiquiert, dass die Produzenten anfänglich darauf insistierten, „to add a subplot involving a mine, the studio thinking the audience would not realize that the ,Mine' in the title was a possessive rather than an object." (Internet Movie Database). Es ist eigentlich nur Davidge, der diese durch die Wachsamkeit des Aliens vereitelten Mordversuche unternimmt, bis er schließlich die erste wirkliche Chance hat, den Drac im Schlaf zu töten, dann aber davor zurückschreckt. In dieser Asymmetrie, die der Film ansonsten strikt zu vermeiden sucht, kann man wohl ein Überbleibsel des Leitmotivs vom ,guten Wilden' erkennen.
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Christian Geulen
Aus solchen Alltagsschwierigkeiten entwickelt sich auch das gegenseitige Lehren der je eigenen Weisheiten und Werte, wobei Jerry diverse „great Drac-Teacher" zitiert während Davidge keinen anderen Lehrmeister als Mickey Mouse nennen kann. Als Jerry Davidge schließlich ein kleines Buch mit den gesammelten Weisheiten seiner Drac-Teacher schenkt (ebenfalls explizit als ein Initiationsritus ausgewiesen, wenn auch noch damit begründet, dass nun mal niemand anders zum Beschenken da sei), stößt Davidge auf eine Stelle, die er in seiner eigenen religiösen Erziehung schon einmal gehört zu haben glaubt, worauf Jerry meint: „Of course you have, truth is truth". Mit anderen Worten: Die Universalien, auf die sich Davidge und Jerry einigen können, sind paradoxerweise die Werte, nach denen sie erzogen wurden. Immer wenn ein Stück Feindschaft zwischen „Earthman and Alien" endet, tritt an seine Stelle nicht Freundschaft, sondern pädagogisch-familiäre Integration. Nur an einer Stelle, in einem besonders heftigen Streit, bricht die Wirklichkeit durch, wenn Jerry ausruft: „Your Mickey Mouse is one big stupid dope!" Doch entschuldigt er sich anschließend reuig für diese Beleidigung - und kommt 15 Filmminuten später ums Leben. Die oberflächliche Botschaft oder ,message', die der Film vermitteln will: dass es trotz aller noch so grundlegenden Differenzen Wahrheiten und Werte gibt, die für alle intelligenten Wesen gleichermaßen gelten, stellt sich im Film (und stellt sich in vielen anderen Formen dieses anthropologischen Universalismus als einem Leitmotiv moderner Kultur) als überdeterminiert heraus - und zwar überdeterminiert von den Motiven der Verwandtschaft, der Familie, des häuslichen Lebens und der Gesellschaft als Überlebensgemeinschaft. Der im Film doppelt anthropologisierte Krieg, als nicht weiter beschriebener Hintergrund der Geschichte und vor allem als so alltäglicher wie ewiger Überlebenskampf, präformiert die Feindschaft, deren Ende der Film als Möglichkeit erträumt. Und eben deshalb tritt in diesem Traum an die Stelle der Feindschaft unmittelbar die Verwandtschaft, während außerhalb dieser sich Krieg und Feindschaft ihrer Natur nach weiter fortsetzen. Eigentlich bedarf es nicht viel, um aus diesem Traum zu erwachen, die Logik seiner Zusammenhänge zu durchbrechen und eine realistischere Perspektive einzunehmen: Feindschaft und Krieg haben im Grunde so viel und so wenig miteinander zu tun wie Freundschaft und Frieden.
BURKHARD LIEBSCH
Werte-Feindschaft, Widerstreit und Gewalt Taylor - Weber - Nietzsche
I Auf den ersten Blick sind die westlichen Gesellschaften in der Tat „säkulare und unheroische Gesellschaften des Kompromisses, die lieber ehrlos auf den Knien leben als sterben wollen".1 Opportunistisch eher der Nichtswürdigkeit als der Opferbereitschaft zugeneigt, wickeln sie ihre Geschäfte ab, ohne wirklich eine dritte Möglichkeit (etwa das Abenteuer der Fürsorge) zu kennen, die zu leben als „interessant" erscheinen würde. Sie haben jedes Absolute, wofür sich ein ernsthafter Einsatz des eigenen Lebens „lohnen" würde, scheinbar abgeschafft. Ihnen genügt es, das unvollkommene faktische Leben zu erhalten und wenn möglich weniger unannehmlich zu machen. Im übrigen überlassen sie es den Einzelnen, die Möglichkeiten, die ihnen ihr Leben in einer gewissen Frist bietet, auszunutzen, um symbolisches oder materielles Kapital aus ihnen zu schlagen. Ob jenseits des Todes eine moralische Bilanz des gelebten Lebens zu ziehen sein wird, lassen sie dahingestellt. Der Gedanke einer Ökonomie des Gewissens, das in der Furcht angesichts einer finalen Rechenschaftspflicht vor einem unbekannten Dritten lebt, ist ihnen fremd. Die „irdische", immanente Kapitalisierung der Lebensmöglichkeiten verlangt freilich, sorgsam mit ihnen umzugehen und sie nicht fahrlässig „aufs Spiel zu setzen", wenn alles auf ihre befristete Maximierung oder maximale Ausschöpfung ankommt, wie es ein gesellschaftliches „System der Bedürfnisse" (Hegel) nahe legt, das vor allem der Sicherung von Besitz und Eigentum verpflichtet ist. Für Locke war dieses „besitzindividualistische" Motiv der eigentliche Grund der Überwindung des Naturzustandes, in dem, Hobbes zufolge, alles erlaubt schien und jeder den Anderen als seinen potenziellen Feind zu betrachten hatte.2 Der sogenannte Gesellschaftsvertrag musste versprechen, der „natürlichen" Feindschaft der Menschen abzuhelfen, um ihrem Lebensinteresse, d.h. ihrem Interesse daran, unbeschädigt und möglichst ungehindert nach ihrer eigenen fagon zu leben, Rechnung zu tragen. Lassen wir dahingestellt, ob ein vermeintlich „risikoloses" Leben in einer Welt der Sekurität, über die Hegel, Freud und C. Schmitt ihren Spott ausgegossen haben, am Ende schal werden muss „wie ein amerikanischer Flirt" und sich um eben das gebracht sehen muss, was es als Leben eigentlich ausmacht (dass es nämlich aufs Spiel gesetzt wird, um sich allein so seines „Ernstes" zu versichern). Ungeachtet dieses Bedenkens, das längst zum Klischee ver-
1 Vgl. S. Kohlhammer, „Die Feinde und die Freunde des Islam", in: Merkur Nr. 558/9 (1995). 2 J. Locke, Über die Regierung, Stuttgart 1974, Kap. IX, S. 95f.
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kommen ist, herrscht jenes Interesse einigen scharfsinnigen Beobachtern zufolge inzwischen im Innern des Systems der Bedürfnisse unumschränkt. Dazu passt ein nach wie vor primär negativ gefasster Begriff der Freiheit sowie die rechtliche Tabuisierung einseitiger oder gegenseitiger Schädigung. Streit, Antagonismen und ungesellige Geselligkeit mögen sich als unverzichtbares Movens gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortkommens erwiesen haben, wie es Kant, Hegel und A. Smith vorausgesehen haben, zur mutwilligen Schädigung Anderer darf erklärtermaßen niemand mehr greifen. Die rechtlich, auf der Basis des (fiktiven) Gesellschaftsvertrages gesicherte Welt der Sekurität liquidiert insofern endgültig die Feindschaft im Innern. Wer unbedingt eines Feindes bedarf, um wirklich zu „leben" (Nietzsche) oder um zu wissen, wer er selber ist (C. Schmitt), wird sich an Fremden schadlos halten müssen. Ohnehin erzeugt ja nach der Beobachtung Rousseaus jede politische Organisation gesellschaftlichen Lebens aus sich heraus wieder einen äußeren Feind, so dass für diese Möglichkeit auf Dauer gesorgt scheint. Darauf hat noch C. Schmitt seine ganze Hoffnung gesetzt: dass uns die Feindschaft als „intensivstes" Ingrediens des Lebens erhalten bleiben möge - und sei es auch nur in einer „ordentlichen", völkerrechtlich „geregelten" Form ihrer legitimen Austragung. Zu seinem großen Bedauern hat aber der Briand-Kellog-Pakt von 1928 den Krieg „kriminalisiert" und die fragwürdige Perspektive einer endgültigen Abschaffung bewaffneter Austragung kollektiver Feindschaft eröffnet. Ein rechtlich pazifizierter Welt-Raum politischer Koexistenz schien damit in greifbare Nähe gerückt zu sein, in dem die Feindschaft keinen legitimen Platz mehr haben würde. In der Theorie des Partisanen (1961) sah Schmitt freilich voraus, dass sich alsbald neue Formen der Feindschaft zeigen würden, die in einem solchen Raum nicht mehr von „außen" kommen können: Formen der Feindschaft, die nicht mehr an die Existenz politischer (nationaler) Souveräne gebunden sein und die sich um den Gedanken einer rechtlichen Hegung ihrer Destruktivität nicht scheren würden. Tatsächlich werden heute die nach wie vor begrenzten Räume relativer Sicherheit durchquert und unterwandert von einer polymorphen Feindschaft, deren Quellen nicht selten derart schwer zu „orten" sind, dass man zu Hypostasierungen neigt: die Feindschaft erscheint dann als eigentümlich verselbständigte subjektlos-nomadische „Energie", die unvermutet überall auftauchen kann, um die politischen Verhältnisse dramatisch zu „dissoziieren".3 Für Schmitt war Feindschaft tatsächlich ein Intensitätsbegriff und beinhaltete das Versprechen einer Intensivierung des Lebens jenseits allen Kompromisses, des Konsenses und der befriedenden Regelung destruktiven Streits. Von daher musste er selbst mit einem an-archischen Terror „sympathisieren", der in einer Welt, die die offene Feindschaft am Ende tabuisiert, immerhin noch einen Sinn fur existenzielle Unvereinbarkeit dessen, was oder wofür man lebt, wach zu halten schien.4 3 Wer so denkt, begibt sich freilich der Möglichkeit, die Feindschaft noch als Produkt einer vorgängigen Verfeindung zu denken, an der Handelnde mitwirken, die einander keineswegs nur als gegebene Feinde ausmachen und identifizieren, sondern einander zu Feinden machen. Infolge dessen wird aus einer Metapher nur allzu leicht ein hypostasierter „Aggregatzustand" der Feindschaft, der ihre Entstehung kaum mehr zu denken erlaubt. Wer der Analyse vorgängiger Verfeindungsprozesse aber keine Aufmerksamkeit schenkt, wird am Ende auch auf dem „präventiven Auge" blind sein. 4 Genau so verstehe ich jedenfalls die Passagen in der Theorie des Partisanen (Berlin 1963), wo der Autor gerade den „illegalen" Kämpfer (den er einmal mit dem Menschen verschmilzt; S. 25) dafür lobt, den „Ernst des wirklichen Krieges" wiederhergestellt und damit zu „wirklicher" Feindschaft zurück gefunden zu haben, nachdem sie in bloßen Konventionen der Kriegsfuhrung bereits erstickt zu sein schien. In dem
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Hat nicht eine Philosophie, die alle praktischen Gegensätze nach dem Modell der Aufhebung von Widersprüchen für versöhnbar gehalten hat, das existenziell Unvereinbare geleugnet und insofern eine gewaltförmige „Erinnerung" an das Unvereinbare selber heraufbeschworen?5 Auch wenn man diese Philosophie gegen einen derart polemischen Verdacht in Schutz nehmen möchte, muss man zugeben, dass die Gesellschaften, die sich in ihrer politischen Realität der friedlichen Austragung und Beilegung praktischer Konflikte verschrieben haben, einer Gewalt ziemlich hilflos gegenüber stehen, die offenbar willens ist, im Namen einer unvereinbaren Wahrheit zum Äußersten zu schreiten, die sich im demokratischen Kampf der „Meinungen" partout nicht relativieren lassen will. Müssen sie in diesem Kampf nicht auf jegliche absolute Wahrheit bzw. auf jeden „Fundamentalismus" hinsichtlich ihrer Durchsetzung verzichten?6 Selbst wer „unerschütterlichen" Überzeugungen anhängt, die er niemals diskursiv „zur Disposition" zu stellen bereit ist, muss demnach davon absehen, sie mit Gewalt gegen Andere durchsetzen zu wollen. Insofern muss das Versprechen des Gewalt-Verzichts im Namen der Möglichkeit weiteren Zusammenlebens höher stehen als jede noch so „heilige" Wahrheit. Tatsächlich vermag aber keine dritte Instanz, keine übergeordnete Autorität und kein schlagendes Argument diese Vorrangigkeit des Gewalt-Verzichts gegenüber „heiliger", d.h. für absolut und unanfechtbar gehaltener Wahrheit zu behaupten, so dass sich ein nicht auflösbarer Widerstreit ergibt. Wer sich eine „heilige Wahrheit" nicht ausreden lassen und wer sie darüber hinaus anderen zu ihrem eigenen Heil aufzwingen will, „schätzt" nicht das Leben oder das Weiterlebenkönnen mit und unter Anderen über alles. Insofern stellt in der Tat die „fundamentalistische" Gewalt (nicht aber jeder Fundamentalismus per se) eine tödliche Herausforderung für Gesellschaften dar, die auf der Basis eines fiktiven Vertrages eingerichtet scheinen, welcher der Sicherung eines dauerhaften Zusammenlebenkönnens den höchsten Stellenwert einräumt und allen in diesem Sinne ein kollektives Versprechen des Gewalt-Verzichts abnötigt. Diese Herausforderung sollten die westlichen Gesellschaften kampfentschlossen annehmen und sich auf ihre eigenen „Werte" zurückbesinnen, so wird immer wieder gefordert. Zumal unter dem Druck terroristischer Herausforderung müsse sich endlich zeigen, ob es ihnen „ernst" sei mit ihrer Existenz, ob ihnen also etwas an der „Wahrheit" ihrer Existenz liege, die selbst das „Opfer" von Menschenleben rechtfertige. So werden die Gesellschaften Maße, wie Schmitt die „wirkliche" Feindschaft gegenüber ihren Schwundformen hervorhebt, entsteht der Eindruck, er liebäugele selber mit ihr. Freilich wird am Ende die Gefahr der Verabsolutierung einer von jeder „Ortung" (d.h. Einheit von Recht und Raum) gelösten Feindschaft beschworen. Zweifellos sind es diese Passagen, die diese Theorie so überaus aktuell erscheinen lassen. Präfiguriert der spanische Partisan in Schmitts Analyse nicht den islamistischen Terroristen, insofern (a) beide a tergo, hinter jeder Front, auftauchen, insofern (b) sie sich kaum mehr „orten" lassen und (c) jede politisch-territoriale Demarkation unterlaufen? Hinzu kommt allerdings (d) das spezifisch terroristische Moment einer durch nichts mehr gehemmten „moralischen" Motivation des Terroristen. In der ideologischen „Unentrinnbarkeit des moralischen Zwangs", nicht im Vorhandensein unerhört wirksamer Massenvernichtungswaffen sieht Schmitt die höchste Gefahr einer Verabsolutierung der Feindschaft. (Vgl. S. 77, 92 ff.). 5 Ich greife diesen Vorwurf an dieser Stelle nicht auf, um suggestiv in ihn einzustimmen; vgl. die ausfuhrliche Auseinandersetzung mit dem Modell der Aufhebung von Widersprüchen mit Blick auf praktischen Widerstreit und die Tragik praktischer Konflikte in: Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit — Differenz - Gewalt, Berlin 2001. 6 Vgl. H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München/Zürich 1994, Kap. 12.
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des Konsenses, des Kompromisses, des friedlichen Ausgleichs von ihren eigenen Mitgliedern dazu aufgefordert, sich endlich zur Unvereinbarkeit ihrer liberalen Substanz mit einer tödlichen Feindschaft zu bekennen - und dieser Feindschaft selber den Krieg zu erklären. Sie sollen nun ihrerseits „Ernst machen" mit einer ihnen eigenen absoluten Wahrheit, die keine Relativierung dulde: mit der Wahrheit nämlich, dass in der Auseinandersetzung mit Anderen niemals eine heilige Wahrheit gewaltsam gegen sie durchgesetzt werden darf. So redet man sich in einen Krieg der Wahrheit hinein, die Gefahr läuft, auf dasselbe hinauszulaufen und zugleich prätendiert, in diesem Krieg und durch ihn einen absoluten Unterschied zur terroristischen Gewalt aufrecht erhalten zu können. Wie gewaltträchtig dieses Denken selber verfährt, ist schon daran zu erkennen, dass es immer wieder „existenziell unvereinbare" Wahrheiten mit einem „unaufhebbaren Gegensatz" von Lebensformen oder Kulturen als Ganzen kurzschließt. Einer („westlichen") Lebensform anzugehören, bedeutet dann eo ipso, nicht nur in einen Widerstreit, sondern in einen „in letzter Instanz" nur gewaltsam auszutragenden Zusammenstoß konfligierender Wahrheiten verstrickt zu sein.7 Wer das nachweisen kann, hat, so scheint es, zugleich schlagende Argumente für den Krieg der Wahrheit bei der Hand. Es ist allerdings fraglich, ob sich der angedeutete „Kurzschluss" von Widerstreit, praktischem Konflikt und tödlicher Gewalt rechtfertigen lässt. Ebenso zweifelhaft erscheint, ob Lebensformen oder gar ganze Kulturen, die sich im herbeigeredeten Kampf miteinander auf ihre „Werte" zurückbesinnen, angesichts der Herausforderung durch tödliche Feindschaft tatsächlich ihr absolutes Unterschiedensein von ihr behaupten können. Droht nicht vielmehr die Gefahr, dass sie sich am Ende eine unterschiedlose Gewalt zuziehen? Dieser Frage gehen die folgenden Überlegungen im Rückblick auf die Geschichte des WertDenkens nach.
II Werte besetzen seit dem 19. Jahrhundert die „durch den Verfall der Metaphysik verwaiste Stelle des ,Guten'". „Was einst gut hieß, das soll nun ,wertvoll' heißen."8 Was aber als wertvoll erscheint, ist es gerade nicht von sich aus. Streng genommen ist nichts wertvoll, sondern etwas gilt nur als wertvoll - im Gegensatz zu einer zuvor „entwerteten Wirklichkeit", die nun ihrerseits keinen einsichtigen Bezug zum Guten mehr hat. Mit dem integralen Zusammenhang des Seins mit dem Guten ist auch das Ganze zerbrochen. Was die einen in diesem Sinne als katastrophalen Zerfall beklagen, der Europa gerade in dem Moment metaphysisch entwurzelt zu haben scheint, wo es sich auf der Höhe seiner Macht befand, haben andere, allen voran Nietzsche, als die eigentliche Geburtsstunde der Freiheit gefeiert. Nur wo nicht alles, was ist, von sich aus und ohne menschliches Zutun, teleologisch am „guten" Sinn des „Ganzen" ausgerichtet ist, kann eine unbeschränkte Freiheit auf den Plan treten, die 7 Darüber können sich, man ahnt es, natürlich nur „Pazifisten" und „Intellektuelle" täuschen. Diese offenbar zutiefst deutsche Tradition der Denunziation derer, die über die Notwendigkeiten politischen Handelns die des Denkens nicht vergessen wollen, gestattet es bis in die jüngste Zeit hinein offenbar vortrefflich, unter dem Deckmantel der „Realitätsprinzips", das sich durch die Lächerlichmachung des Möglichkeitssinns hervorzutun sucht, eigene Ressentiments zu pflegen. 8 Vgl. K. Kuhn, „Werte - eine Urgegebenheit", in: H.-G. Gadamer, P. Vogler (Hg.), Philosophische Anthropologie, 2. Teil, Stuttgart 1975, S. 343-273.
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allein deshalb, weil das Gute als Sinn des Seins nicht ein für alle Mal verbindlich „gegeben" ist, die Wertung alles Seienden in die eigene Hand nehmen kann. So setzt die Rede von Werten voraus, dass nichts von sich aus Wert „hat". Werte werden nur durch eine wertende Freiheit gestiftet. Der Untergang des Guten zeitigt die Freiheit der Wertung, die sich für immer vom Sinn des Ganzen verabschiedet hat. Selbst „heiligste" Werte werden den Sinn des Ganzen nicht retten können. Auch sie sind nur Produkte von Wertungen, die grundsätzlich Umwertungen, Abwertungen und Entwertungen gestatten. Insofern sind sie ganz und gar der Kontingenz dieser Möglichkeiten ausgesetzt und nichts „an sich". Das gilt auch für die am Guten ausgerichteten Tugenden: Man kann, ja man muss sie umwerten, wenn es nicht darum geht, ein in Wahrheit nirgends vor-gegebenes Gutes zu realisieren, sondern eine Lebensform zu finden oder zu erfinden, in der das Leben nicht erstickt. Nichts rechtfertigt es, das Gute über das Leben zu stellen. Im Widerstreit dieser „obersten", konfligierenden Werte vermittelt kein Drittes, das ihn in einem Ganzen aufheben könnte. Wer sich dem Guten unterstellt, hat der nicht seine Freiheit preisgegeben? Muss die Freiheit, wenn sie „leben" will, nicht diese Unterwerfung verweigern? So können die Tugenden als Untugenden, Werte als Unwerte erscheinen - je nach dem, in welcher perspektivischen Brechung man sie gelten lässt. Jeder einzelne ist aber Subjekt einer originären perspektivischen Wertung der Werte, die unabhängig von der Wertung gar keinen „Bestand", d.h. keine Geltung haben. Heidegger hat darauf hingewiesen, wie sich Nietzsches Begriff des Wertes im Anschluss an Leibniz' Idee einer perspektivisch sich darstellenden Welt verstehen lässt. Für Nietzsche ist freilich die Einheit dieser Welt zerbrochen. Sie bildet kein „Geometral", in dem sich mannigfaltige Perspektiven zu einem Ganzen summieren würden. „Es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen... Aber es giebt Nichts ausser dem Ganzen!" Mehr noch: dieses Ganze ist nur noch ein leeres Wort, wenn die Welt weder auf eine „causa prima zurückgeführt werden" kann, noch „als Sensorium, noch als , Geist' eine Einheit ist". „Dies erst ist die große Befreiung." 9 In der perspektivisch gebrochenen Welt widerstreiten die Werte einander als evaluative „Gesichtspunkte". Selbst das Gute ist dem Widerstreit nicht entzogen und kann unter dem Gesichtspunkt des „Lebens" geradezu als Unwert erscheinen. Damit erfasst aber der Widerstreit den Sinn dessen, was die Menschen im Verhältnis zueinander sein wollen, radikal. Sie können nicht länger als über diesen Sinn „vorverständigt" gelten wie im klassischen politischen Denken, das für eine Art der Koexistenz, die nicht immer schon am Guten orientiert wäre, gar keinen Begriff hatte.10 Die Annahme eines solchen Vorverständigtseins hat inzwischen ihre Glaubwürdigkeit weitgehend eingebüßt. Menschliche, soziale oder politische Koexistenz lässt sich nur im Zeichen des Widerstreits denken, „sans quoi il n'y aurait pas de probteme de consentement ä vivre ensemble", wie Ricceur im Anschluss an Lyotard sagt, der im Widerstreit selbst das „Wesen" des Sozialen und des Politischen einer radikalen Strittigkeit ausgesetzt
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Fr. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, Bd. 6, S. 96 (im folgenden zitiert mit der Sigle KSA); vgl. M. Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, Pfullingen 1961, S. 101 ff. Vgl. v. Verf., „Zwischen aristotelischer und radikaler Ethik. Hannah Arendt - Emmanuel Levinas Paul Ricceur", in: H. R. Sepp (Hg.), Phänomenologie und Sozialphilosophie, Würzburg 2002 (i. V.).
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sieht." Nun hat der Begriff des Wertes in den Sozialwissenschaften und in der Sozialphilosophie der letzten zwei Jahrzehnte eine ungeahnte Renaissance erlebt, die diese Strittigkeit entweder verharmlost oder überspielt. Vielfach beschwört man unter Rekurs auf den Wertbegriff ja gerade die teleologische Einheit menschlicher Lebensformen. Das ändert aber nichts daran, dass man vielfach doch die Nietzscheanischen Prämissen eines Wertdenkens beerbt, das nicht nur einen unaufhebbaren Widerstreit zwischen evaluativen Perspektiven beschreibt, sondern auch eine gewaltsame, u.U. bis hin zur Todfeindschaft reichende „polemogene" Konflikthaftigkeit im Widerstreit angelegt sieht. Dieses „Erbe" setzt sich um so folgenreicher durch, je weniger es bemerkt wird.12 Im folgenden möchte ich in einem ersten Schritt zunächst die angedeutete Affinität von Widerstreit, praktischer Unvereinbarkeit und Gewalt im Wert-Denken plausibel machen. Speziell geht es mir um die Frage, ob dieses Denken im Widerstreit der Werte (oder der Lebensformen, in denen die jeweiligen Werte gelten) zugleich Gewalt - speziell die Gewalt einer potenziellen Verfeindung - angelegt sieht (III). Ausgehend von diesem zu erhärtenden Verdacht gehe ich von der Wertphilosophie Charles Taylors auf Max Weber und auf Nietzsche zurück (IV), die im Zusammenhang von Werten und Feindschaft Horizonte einer radikalen Verfeindung zur Sprache bringen. Während Weber letztere zu bändigen sucht, bejaht Nietzsche sie im Zuge seiner „Umwertung der Werte" im Namen des „Lebens" (V). Das Programm der Umwertung, das sich ohne konsequente Entwertungen nicht denken lässt, hat aber auch vor dem „Leben" nicht halt gemacht. Insofern macht sich Nietzsche auch von den Möglichkeiten radikaler Feindschaft, die einer entfesselten Freiheit zu Gebote stehen, nur einen beschränkten, historisch überholten Begriff (VI). Am Schluss meiner Überlegungen wird die Frage stehen, ob uns nicht das (gescheiterte) Programm einer radikalen Entwertung (das in der Konsequenz von Nietzsches Denken liegt, ohne dass er es vorweggenommen o-
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Vgl. P. Ricceur, „Pouvoir et violence", in: M. Abensour (Hg.), Ontotogie et politique, Paris 1989, S. 141-159, hier: S. 152; J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 2 1989, sowie v. Verf., Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit - Differenz - Gewalt, Kap. 5. Deshalb würde es sich lohnen, nicht im Sinne eines pauschalen Generalverdachts, sondern eines Forschungsproblems die Frage aufzuwerfen, inwieweit neuere Wert-Theorien, die sich mit Phänomenen des Widerstreits und der Gewalt konfrontiert sehen, beide Begriffe gewissermaßen kurzschließen. Zeichnen diese Theorien etwa ihrerseits eine gewisse Gewaltsamkeit dadurch vor, dass sie diese begriffliche Differenz nicht erkennen lassen oder verwischen? Ich betone, dass es sich um ein offenes Problem handelt, und möchte nicht en passant generell unterstellen, gewisse „Nietzscheanische Prämissen" legten uns auf einen „Kurzschluss" von Widerstreit und Gewalt fest (s.u.). Auch Nietzsches eigenes Werk müsste daraufhin genauer untersucht werden. Wer die heutigen, v.a. vom sog. Kommunitarismus angestoßenen Debatten um die „Inkommensurabilität" oder „Fragmentierung" (Th. Nagel) von Werten verfolgt hat, wird aber ohne weiteres Parallelen zum Wertediskurs zur Zeit Nietzsches, Webers, der Neukantianer, Schelers, N. Hartmanns u.a. feststellen können. Es würde sich lohnen, zu überprüfen, ob die Prämissen der Beschreibung von „Werten im Widerstreit" nach wie vor darauf hinauslaufen, dass man annimmt, letztlich könne nur der Machtkampf oder die kollektive Gewalt eine Entscheidung zwischen heterogenen Werten herbeifuhren, die nebeneinander angeblich nicht bestehen bzw. gelten können. Beschwört eine solche Unvereinbarkeit nicht eine „letzte", d.h. endgültige Gewalt herauf? Werden Widerstreit und Gewalt auf fatale Weise kurzgeschlossen, so affirmiert man womöglich einen latenten Naturzustand der Werte, die überhaupt nicht überzeugen, sondern nur „durchgesetzt" werden können - sei es auch um den Preis einer radikalen „Umwertung der Werte" Anderer. Als theoretische Gewaltsamkeit eigener Art wird eine solche Schlussfolgerung nur kenntlich, wo Widerstreit und Gewalt im einzelnen auseinander gehalten werden. Das habe ich an anderer Stelle versucht. S. o. Anm. 5.
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der auch nur geahnt hätte) an eine absolute Grenze der Wertbarkeit, allen Wertens und Umwertens gefuhrt hat.
III Paradoxerweise stehen Werte in kulturwissenschaftlichen und -philosophischen Debatten um so höher im Kurs, je mehr sie im Verfall begriffen oder Opfer einer gewissen Entwertung zu sein scheinen. So verhält es sich gegenwärtig, und so verhielt es sich, als man sich im 19. Jahrhundert verschärft einer irreduziblen, weder in einer kantischen Deontologie noch in einer hegelschen Geschichtsphilosophie13 aufzuhebenden ethischen Heterogenität bewusst zu werden begann, die das Soziale (wovon man ungeachtet der vielfach umstrittenen „sozialen Frage" noch kaum einen Begriff hatte) in eine Pluralität inkommensurabler, unvergleichbarer oder gar unvereinbarer Ordnungen zerfallen zu lassen drohte.14 Beschwört Werte-Pluralität wirklich eo ipso Zerfall herauf? Muss man darauf mit dem Versuch antworten, eine umfassende Werte-Ordnung zu reetablieren? Oder ist der Plural der Werte als ein unhintergehbarer zu bejahen? Lässt sich ungeachtet (oder vielmehr gerade aufgrund) dieser Pluralität gleichwohl eine rechts-staatliche Ordnung denken, die für den Fall des Versagens sozialer Integration eine Art „Ausfallbürgschaft" übernehmen kann? Heute stellt sich vielen Beobachtern mehr noch die Frage, ob Lebensformen, die gegensätzlichen Werten verpflichtet scheinen, überhaupt unter dem Dach einer solchen Ordnung Platz haben oder ob nicht jeder Rechtsstaat gewissen Lebensformen und ihren Werten Gewalt antun muss, insofern er sich selber als „ethisch imprägniert" erweist. Fast immer wird diese Frage unter der Prämisse eines kaum noch bezweifelten Stellenwerts aufgeworfen, den man dem vielfach geforderten Respekt für Lebensformen und für die in ihnen zum Ausdruck kommenden Wertbindungen beimisst. Repräsentieren die Werte nicht tiefe Überzeugungen, in denen das zentrale ethische Selbstverständnis der Menschen zum Ausdruck kommt?15 Anerkennen wir Andere nicht erst dann, wenn wir dieses Selbstverständnis - und damit ihre Identität - respektieren? Gelingt auch eine rechtsstaatliche Pazifizierung des Zusammenlebens nicht erst dann, wenn nicht nur der abstrakte Status der Personalität des Anderen, sondern auch seine Identität, sein „Selbst" und damit zugleich die wert-imprägnierte Lebensform anerkannt wird, der es verbunden ist? Charles Taylor argumentiert in der Tat so. Das Selbstsein lässt sich seiner Meinung nach nicht trennen von einer Bestimmung des sozialen Ortes, an dem es sich gewissermaßen verankert erfährt. „Ich definiere, wer ich bin, indem ich den Ort bestimme, von dem aus ich
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Vgl. H.-G. Gadamer, „Das ontologische Problem des Wertes", S. 207. Vgl. K. Röttgers, Sozialphilosophie. Macht - Seele - Fremdheit, Essen 1997; ders. „100 Jahre Sozialphilosophie", in: 20 Jahre FernUniversität Hagen 1995, S. 159-190. Tatsächlich ist es, wie Rorty zeigt, allerdings schwierig, genau anzugeben, inwiefern Überzeugungen etwa den „unverzichtbaren Kern" eines in sich zentrierten Selbst ausmachen sollen. „Alle Menschen tragen [zwar] ein Sortiment von Wörtern mit sich herum", mit deren Hilfe sie zum Ausdruck bringen, als wer sie sich verstehen, wovon sie überzeugt sind und wer sie in diesem Sinne sind. Vielleicht sind Menschen wirklich nichts mehr als „ein mittelpunktsloses Netz von Überzeugungen", wie Rorty meint. (R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992, S. 127, 151.) Es ist aber nicht ausgemacht, wie eine solche Beschreibung etwa Taylors Begriff der Identität betreffen würde.
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spreche: meinen Ort im Stammbaum, im gesellschaftlichen Raum, in der Geographie der sozialen Stellungen und Funktionen, in meinen engen Beziehungen zu den mir Nahestehenden und ganz entscheidend auch im Raum der moralischen und spirituellen Orientierung [,..]."16 Offensichtlich handelt es sich hier um eine Vielzahl heterogener „Räume", unter denen aber für Taylor derjenige Raum Vorrang hat, in dem es „um die Identität geht und darum, wie man sein sollte".17 Das bemisst sich seiner Meinung nach nun nicht in erster Linie an deontologischen Normen, sondern an „Werten", die in einer evaluativen Sprache als „Wertungen" zum Ausdruck gebracht werden. Dabei geht es darum, im Verhältnis zum Guten seinen „Standort" zu bestimmen und seine „Lebensführung" danach auszurichten. Denn die eigene Lebensführung am Guten bzw. an jenen Werten zu orientieren und zu wissen, dass man sich „auf dem richtigen Weg" befindet, verspricht offenbar „ein Gefühl der Ganzheit - der Erfüllung in meinem Person- oder Selbstsein - ohnegleichen".18 Vor allem darum geht es offenbar, wenn wir „Werte" oder „starke Wertungen" zum Ausdruck bringen, um zu zeigen, was wir für richtig oder falsch halten, was wir bejahen, für gut befinden oder verurteilen. Dabei treten vielfach geschichtliche und apriorische Momente auf eigentümliche Weise zusammen: Aufgrund geschichtlicher Erfahrung plädiert man für (oder gegen) eine „Rehabilitierung" gewisser Tugenden. Aber sind sie nicht auch an sich schätzenswert? Fragen nach Begründung knüpfen an „Werte" oder „Wertungen" stets erst nachträglich an, wenn man sich darum bemüht, sie - gegebenenfalls öffentlich - anderen gegenüber verständlich zu machen und sie zu rechtfertigen. Dabei machen wir ständig die Erfahrung einer irreduziblen Bedeutungsvielfalt und Pluralität der Werte.19 Die einen lassen sich mit den anderen nicht auf einen Nenner bringen; und die einen zu verwirklichen bedeutet, dass andere verletzt werden. Nicht selten implizieren „starke Wertungen" ebenso starke Entwertungen abweichender Überzeugungen. Wenn, wie Taylor in den Worten der Wertphilosophen des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts sagt, „Werte nicht zur dinghaften Ausstattung der Welt gehören",20 wenn sie vielmehr nur durch unsere Wertungen dessen wirklich sind, was scheinbar „an sich" keinen Wert hat, lassen sie sich dann nicht grundsätzlich umwerten, abwerten und entwerten? So weit ich sehe, setzt sich Taylor mit der schon von Nietzsche, dann wieder von M. Heidegger, C. Schmitt und H. Arendt zur Sprache gebrachten „Ökonomisierung" des WertDenkens nicht auseinander.21 Die dabei aufgeworfene Frage, wie es eigentlich kommt, dass ausgerechnet auf Werte sich stützende Überzeugungen, die man mit dem eigenen, unverwechselbaren und nicht austauschbaren Selbstsein verknüpft glaubt, in einer Sprache des Marktes, des unbegrenzten Aus- und Vertauschens beschreibt, harrt noch immer der Aufklärung.22 Für Schmitt gehört der Begriff des Wertes wie der „Preis" (den Kant bekanntlich vom „absoluten Wert" abgesetzt hat) in den Bereich des Ökonomischen, wo alles, was als 16 17 18 19 20 21
22
Ch. Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt/M. 1996, S. 55, 69. Ebd., S. 209. Ebd., S. 123. Vgl. P. Ricceur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 303 ff., 312 ff. Ch. Taylor, Quellen des Selbst, S. 106. Vgl. auch J. Gebhardt, „Die Werte. Zum Ursprung eines Schlüsselbegriffs der politisch-sozialen Sprache der Gegenwart in der deutschen Philosophie des späten 19. Jahrhunderts", in: R. Hofmann et al. (Hg.), Anodos. Festschrift f . H. Kuhn, Weinheim 1989, S. 35-54. Vgl. H. Arendt, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 43 ff.
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Wert eingestuft werden kann, auch ver-wertet, kommensurabel und vergleichbar gemacht werden kann.23 Mehr noch: wenn Werte als bloß „geltende" nicht „gegeben" sind, sondern allererst aus Wertsetzungen entspringen, die evaluative Perspektiven oder Standpunkte zum Ausdruck bringen, so dass die Wertgeltung immer nur für jemanden im Unterschied zu anderen in Betracht kommt, dann kann man nicht davon ausgehen, diese Perspektiven addierten sich zu einem universalen Geometral, in dem sie alle „aufgehoben" wären. Zwar mag man sie durchlaufen und „übernehmen" können, um das Gewertete, das Um- oder Abgewertete jeweils mit den Augen Anderer zu „sehen", doch wenn die Wertung des einen die Anders- oder gar Entwertung von anderem impliziert, verhalten sich Wertperspektiven wie gesagt zueinander wie inkompossible Wahrnehmungsgestalten. Wie eine Wahrnehmung einer anderen zwar nicht widerspricht, wohl aber widerstreitet, wenn sie denselben Gegenstand von woanders her erschließt, so wird auch jeder Wert (wenn wir die Analogie gelten lassen) anderen Werten widerstreiten. Darin hat man schon oft den Kampf um Wertsetzungen und Überzeugungen, ja sogar die Gewalt einer vernichtenden Politik angelegt gesehen, die die „fatale Kehrseite der Werte", grundsätzlich anderes zu entwerten, scheinbar lediglich radikalisiert und zur Austragung bringt.24 Nicht selten mündete die Beschreibung eines unaufhebbaren Widerstreits von Werten geradewegs in eine Apologie des Kampfes, der sich gegebenenfalls auch zum Krieg steigern muss. Werte gibt es wie Güter nur im Plural. Aber sie gelten nicht ohne weiteres in friedlicher oder indifferenter Nachbarschaft, sondern fechten sich vielfach gegenseitig an, ohne aber im Konfliktfall durch ein Drittes vermittelbar zu sein. In seiner Auseinandersetzung mit der „Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts" hat Hans Joas eine darin liegende Affinität zwischen Wertbindungen und Gewalt ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt. Suggestiv liest sich der Titel seines Buches Kriege und Werte so, als ob Wertbindung (die der Autor unter dem Aspekt ihrer identitätsstiflenden Valenz für unverzichtbar hält) unter bestimmten Bedingungen tödliche Gewalt heraufbeschwöre. Wenn ein Wert nur „unbedingt" gilt, sind notfalls Opfer gefordert: die Wertbindung selber provoziert die Gewalt, wenn sie nur intensiv oder exklusiv genug ist und die Unvereinbarkeit mit den Werten Anderer oder mit ihren Lebensformen, in denen diese Werte sich mehr oder weniger realisiert finden, zu einer „existenziellen Erfahrung" werden lässt.25 Der Begriff des Wertes steht hier für das, was für jemanden besonders wichtig ist oder als erstrebenswert gilt. Unterstellt wird, das so „Gewertete" gelte als etwas „Gutes", und insofern als ein „Gut", dem man gemeinsam mit Anderen anhängt. Diese Gemeinsamkeit gilt ihrerseits wiederum als ein Wert, ihr Verlust als etwas Schlechtes. Diese in jedem einzelnen Punkt anfechtbaren Prämissen laufen zusammen im Begriff der Integration: Wo mehrere dasselbe für einen Wert halten und entsprechend leben, liegt eine integrierte Lebensform vor, in der jeder sich als derjenige soll wiedererkennen können, der er zu sein glaubt. So verbürgt die gemeinsame Lebensform Identität; und Identität ist gut, d.h. selber ein Wert.26
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Vgl. C. Schmitt, E. Jüngel, S. Schelz, Die Tyrannei der Werte, Hamburg 1979, S. 13. Vgl. ebd., S. 34. H. Joas, Kriege und Werte, Weilerswist 2000, S. 36. H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1999, S. 13 ff. zu den besagten Prämissen, S. 205 (im Anschluss an Taylor) zur Identität als „Wert" (good). Gründe dafür, nicht (schon gar nicht „restlos") verstanden werden zu wollen, kommen so gar nicht in Betracht. Kaum registriert wird in diesem Zu-
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N u n w e i ß man nach der Überzeugung des Autors v o m Grund der eigenen „Wertbindung" vielfach w e n i g oder nichts. D i e „Objektivität der Geltung", w i e es in neukantianischer Sprache heißt, erweist sich nicht als α priori sultante
feststehender Grund, sondern eher als Re-
einer „Werterfahrung", die überwiegend auf Verletzungen
zurückgeht. Aufgrund
der erlittenen Verletzung 2 7 werden wir uns dessen bewusst, w a s uns als ein Gut gilt, das nicht verletzt werden sollte. 2 8 Ich möchte nun nicht auf die weiteren, wert-theoretischen Fragen nach Kriterien, Präferenzen, Werten zweiter Ordnung usw. eingehen, die mit der Etablierung der Geltung 2 9 eines Wertes zusammenhängen, sondern nur noch den problematischen Zusammenhang von Identität und Wert zur Sprache bringen. Werte, so wird gesagt, gibt es nur für ein Subjekt, das alles wertet - auch die Werte selbst. S o sind die Werte und der normative Gehalt, den sie bedeuten können, unumgänglich im Fluss, d.h. im Prinzip jederzeit der Möglichkeit einer U m - oder Abwertung ausgesetzt. 3 0 Gleichwohl wird auf diesen sandigen Grund das Haus der personalen Identität gebaut. 31 W a s das Subjekt gewertet hat, fällt am Ende mit der eigenen Identität zusammen - mit den „höchsten", „heiligsten", „ewigen" Gütern und Hypergütern. Identität und Werte verbindet infolgedessen weniger die Unentbehrlichkeit letzterer zur Selbstbeschreibung als vielmehr
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sammenhang auch die Diskussion um praktische (nicht bloß narrativ abgestützte und nicht nur in evaluativen Überzeugungen zum Ausdruck kommende) Identität, die vom Anderen her sinnvoll wird; vgl. v. Verf. (Hg.), Hermeneutik des Selbst - Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricoeurs, Freiburg/München 1999. - Im übrigen folgt aus dem eingangs Gesagten, dass das Interesse an Identität, in dem Joas den Sinn von Werten fundiert sieht, unter dem Aspekt des „Lebens" selber umzuwerten wäre. Das hat Foucault im Anschluss an Nietzsche getan, indem er bekannte, es gehe ihm vor allem darum, „morgen ein anderer" zu sein. Vor einer gewissen Beliebigkeit ist dieses Spiel der Wertungen und Umwertungen wohl nur zu bewahren, wenn man es darauf bezieht, was sich ihm ggfs. widersetzt. Die „Spielregeln" hängen nicht allein vom eigenen Interesse ab, wenn man sich etwa als jemand, der „versprechen darf' (Nietzsche) oder auch muss, vom Anderen her den Anspruch zuzieht, morgen nicht ein ganz anderer zu sein, den sein Geschwätz von gestern nicht mehr interessiert... Hier kommt offensichtlich ein weiter Begriff von Verletzung ins Spiel. Gemeint ist jedenfalls nicht allein die physische. Und geht es nur darum, dass ich (oder etwas, das mir womöglich „heilig" ist) verletzt wird? „Werterfahrung" ist ein bedenkenswerter Terminus. Μ. E. verkürzt man phänomenologisch die Erfahrung, wenn man sie von vornherein so fasst, dass nur ein ohnehin bereits geltender Wert „realisiert" wird. In diesem Falle wäre der Erfahrung die originäre Bewahrheitung eines Wertes überhaupt nicht zuzutrauen. Nur wenn man umgekehrt eine solche Möglichkeit denkt, bietet es sich an, die Etablierung der Geltung eines Wertes als nachträgliche Antwort auf die Herausforderung eines vorgängigen Erfahrungsanspruchs zu deuten, der allererst danach verlangt, „zur Geltung zu kommen". Nur so lässt sich auch ein produktives Wechselverhältnis zwischen Erfahrungsanspruch und Geltungsanspruch denken, das die Erfahrung nicht dazu verdammt, nur zu realisieren, was ohnehin gilt. (Vgl. Joas, Die Entstehung der Werte, S. 39.) Als Grund der Wertbindung, nur soviel sei dazu gesagt, erscheint mir die normative Geltung als ein allzu schwacher Kandidat. (Gibt es keine Widerfahrnisse, die binden, keine Ansprüche, die man sich zuzieht und denen man wie in der Fürsorge fur jemanden gerecht zu werden sucht? Hans Jonas hat in seiner Philosophie der Verantwortung die Verantwortung für das Kind so, als Antwort auf einen Erfahrungsanspruch, nicht als Pendant einer Verpflichtung, die ohnehin gilt, beschrieben.) Im zweiten Fall gehört bekanntlich das Ressentiment als eine Form „geistiger Rache" zu den bestanalysiertesten Motiven. Selbst der Wert der Welt wird am Ende bloß gewertet (oder gering geschätzt, so dass man sich voller Verachtung von ihr abwendet).
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die Nichthinnehmbarkeit der Verletzung. Wo in Werten investierte Identität im Spiel ist, droht Gewalt, die sich durch die Verletzung des Höchsten, des subjektiv Heiligsten gerechtfertigt fühlen kann. So scheint es nur noch eine psychologische Frage zu sein, in welchem Fall eine solche gravierende Verletzung erfahren und entsprechend beantwortet wird. Aber liegt es im Wesen von Identität, um subjektiv „heilige", unverletzliche Werte zentriert zu sein, deren Verletzung ohne weiteres eine tödliche Gewalt und Verfeindung mindestens als Drohung auf den Plan ruft? Oder sind hier theoretisch präformierte Zuspitzungen mit im Spiel? Verfuhrt etwa eine bestimmte theoretische Konzeptualisierung des Zusammenhangs von Identität und Werten zu einer „Dramatisierung" praktischer Gegensätzlichkeit, Unvereinbarkeit und Unversöhnlichkeit von Lebensformen?
IV Max Webers kulturtheoretische Schriften werfen bereits die gleiche Frage auf, obgleich sich der Autor einer anderen Terminologie bedient. Zweifellos kann man Weber als Denker kultureller Identität verstehen, dem es um Werte insofern ging, als in ihnen zur Geltung kommt, als wer sich die Menschen verstehen, die sich in ihrer praktischen „Lebensführung" nach ihnen richten (oder zu richten vorgeben). Wie kein anderer hat Weber die Unvereinbarkeit einander widerstreitender Werte betont und auf die praktischen Konsequenzen bis hin zum polemischen Kampf aufmerksam gemacht, der zwischen den Nationen nur allzu leicht in einen Krieg münden kann. Diese Gefahr hat Max Weber für prinzipiell unabwendbar gehalten. Es könne nur darum gehen, zu verhindern, dass sich dieser Kampf über alle Regeln hinwegsetzt, um womöglich zu einer „letzten Gewalt" zu greifen, die verspricht, dem „Polytheismus" an sich „todfeindlicher" Werte32 ein Ende zu machen. Mit dem „ewigen" Widerstreit der Werte müssten wir leben, fordert Weber - und propagiert gerade nicht eine finale Aufhebung der gewaltsamen Konflikte, die aus ihnen resultieren können. Er affirmiert zwar grundsätzlich die „Tragik" der Opfer, die diese Konflikte fordern, hält sie aber offenbar nicht in jedem Einzelfall für absolut unvermeidlich. Der prinzipiell unaufhebbare - d.h. seinem ,J5inn" nach nicht relativierbare und nicht kompromissfähige - Gegensatz der Werte, ihr „tödlicher K a m p f , werde vielmehr alltäglich unterlaufen von der Inkonsequenz derer, die ihnen anhängen. „In fast jeder einzelnen wichtigen Stellungnahme realer Menschen kreuzen und verschlingen sich ja die Wertsphären. Das Verflachende des , Alltags' in diesem eigentlichsten Sinn des Wortes besteht ja gerade darin, daß der in ihm dahinlebende Mensch sich dieser teils psychologisch, teils pragmatisch bedingten Vermengung todfeindlicher Werte nicht bewußt wird und vor allem: auch gar nicht bewußt werden will, daß er sich vielmehr der Wahl zwischen ,Gott' und .Teufel' und der eigenen letzten Entscheidungen darüber: welcher der kollidierenden Werte von dem einen und welcher von dem anderen regiert werde, entzieht."33 Die Werte haben untereinander, so scheint es, ein feindlicheres „Verhältnis" als die Menschen, die ihnen anhängen. Sie „kollidieren" wie von selbst, um schicksalhafte „letzte Entscheidungen" nahezulegen. So entsteht der fatale Anschein eines Überlebenskampfes der 32 33
M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3 1968, S. 507f. Vgl. M. Weber, Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 1968, S. 272.
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Werte, deren Feindschaft die Menschen nur als „wertende" Statisten austragen. Demnach sind die Werte α priori verfeindet, und einer menschlichen Verfeindung, die eine Feindschaft erst zeitigte, bedarf es gar nicht. Wo die Menschen aus dem axiologischen Dämmerzustand ihrer Alltäglichkeit auftauchen, um sich über die Unvereinbarkeit ihrer Werte in Prozessen der Verfeindung klar zu werden, realisieren sie nur eine Feindschaft der Werte, die immer schon besteht und offenbar nur darauf wartet, theologisch oder diabologisch schematisiert zu werden. So ist die Drohung, sich in eine „letzte" Entscheidung zwischen unvereinbaren Werten zu verstricken, ständig mehr oder weniger virulent; eine Drohung, die die Apokalypse des Rechts, der Politik und jeglicher Begrenzung todfeindlicher Kollisionen heraufbeschwört. Die Kollision der Werte, die in ihrer schieren Heterogenität angelegt scheint, verweist von Anfang an auf den Exzess der Verfeindung als ihre Fluchtlinie - und zwar sowohl im Verhältnis einzelner, die sich verschiedenen Arten der „Lebensführung" verpflichtet fühlen, als auch ganzer Lebensformen oder Kulturen, wenn man nur letztere mit der exklusiven Geltung bestimmter Werte im Verhältnis zu heterogenen Werten identifizieren kann.34 Es lag nicht in Webers Absicht, den „Polytheismus der Werte" in dieser Weise zu dramatisieren, doch kann dieses Geschäft unter den skizzierten Voraussetzungen ohne weiteres die politische Propaganda übernehmen, um förmlich zur tödlichen Gewalt gegen Andere aufzufordern, deren Werte als mit den „eigenen" „unvereinbar" erachtet werden. Und wenn in diesen Werten nicht weniger als die eigene (kollektive) Identität zum Ausdruck kommt, kann der bewaffnete Kampf gegen die Anderen dann nicht als gerechtfertigt erscheinen? Liegt diese Konsequenz aber in der „Natur der Sache", die wir Lebensformen oder Kulturen nennen, oder ist es die theoretische Art und Weise, sie von Anfang an „polemologisch" auf den Begriff zu bringen, die uns solche Schlussfolgerungen nahe legt? Liegt in einer „polemogenen" Koexistenz, in der es angeblich vor allem um die Wahrung der eigenen Identität geht, die Drohung einer (letzten) gewaltförmigen Auseinandersetzung mit „heterogenen" Lebensformen? Hängen so gesehen Gewalt und Identität so eng und unvermeidlich zusammen wie Werte und Lebensformen? Nicht nur populäre Buchtitel wie Mörderische Identitäten,35 auch Autoren, die sich eher akademisch mit diesen Zusammenhängen befassen, suggerieren genau das bis heute (s.o.). Bei Weber hat es immer wieder den Anschein, als müsse eine ethische Unversöhnlichkeit verschiedener Lebensformen (oder Weisen der Lebensführung) als mit ihrer Bindung an unterschiedliche Werte immer schon bereits gegeben angenommen werden. So gesehen stellt sich vor allem die Frage, ob, wie und unter welchen Umständen sich diese Unversöhnlichkeit gewaltsam oder gewalttätig manifestiert oder wie diese Gefahr, die die Drohung der Todfeindschaft einschließt, in Schach gehalten wird. Verurteilt in diesem Sinne aber die Bindung an verschiedene Werte zur Koexistenz im Zeichen der prinzipiellen Unabwendbar-
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Vgl. W. Welsch, „Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen", Information Philosophie 2 (1992); W. Perpeet, „Kulturphilosophie'", in: Archiv für Begriffsgeschichte 20 (1976), S. 42-99, hier: S. 78, 89. A. Maalouf, Mörderische Identitäten, Frankfurt/M. 2000. Vgl. H. Joas, Kriege und Werte. Zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Weilerswist 2000; S. Lash, J. Friedman (eds.), Modernity and Identity, Oxford 1992; H. de Vries, S. Weber (eds.), Violence, Identity, and Self-Determination, Stanford 1997; Β. Hüppauf (ed.), War, Violence and the Modern Condition, Berlin, New York 1997.
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keit dieser allein rechts-staatlich zu bändigenden Drohung? Bringen Werte in ihrem „ewigen Kampf gleichsam aus eigener Kraft ganze Lebensformen gegeneinander auf, wenn nur alle, die ihnen zugehören, ganz in ihrer jeweiligen Wertbindung aufgehen, um sie gegebenenfalls bedingungslos zu verteidigen? Lässt sich ein geltend gemachter Wert nicht schon als Angriff auf einen anderen, im gleichen Zug entwerteten Wert verstehen, dem andere anhängen? Weber lässt an der von ihm selber theoretisch suggerierten Antwort Zweifel aufkommen, wo er die irreduzible Heterogenität ethischer und politischer Werte hervorhebt. Er hält es für aussichtslos, moderne Gesellschaften allein auf ethischer Grundlage zu integrieren. Weder gibt irgendeine Ethik hinreichend eindeutige „Weisungen" hinsichtlich dessen her, was aus ihr lebenspraktisch zu folgen hätte, noch ist das Ethische in sich homogen genug, um den Widerstreit verschiedener ethischer Anforderungen und Maßstäbe auszuschließen. Ansprüche des Mitleids, der Verantwortung und der Gerechtigkeit, die Weber im einzelnen diskutiert, erweisen sich bei näherer Betrachtung als jeweils in sich und im Verhältnis zueinander als irreduzibel heterogen. Stößt eine primär ethisch orientierte Lebensführung auf diese Weise an ihre inneren Grenzen, so wird sie im Verhältnis zu Anforderungen politischer und rechtlicher Machtregulierung mit ihren äußeren Grenzen konfrontiert. Neben sittlichen Forderungen gibt es autochthone Anforderungen der Macht und des Rechts, ohne die eine menschliche Gesellschaft keinen Bestand haben kann. Keineswegs dachte sich Weber ethische und nicht-ethische (vor allem politische) Werte als indifferent nebeneinander existierend. Vielmehr ging es ihm gerade um den Aufweis ihrer nicht-indifferenten Interferenz bei gleichzeitigem Widerstreit der entsprechenden Ansprüche, denen sich das Handeln in und zwischen Lebensformen zu stellen hat. In diesem Sinne forderte er „1. die Anerkennung außerethischer selbständiger Wertsphären, - 2. die Begrenzung der ethischen Sphäre diesen gegenüber, - endlich 3. die Feststellung, dass und in welchem Sinn dem Handeln im Dienst außerethischer Werte dennoch Unterschiede der ethischen Dignität anzuhaften vermögen".36 Hier kaschiert der Begriff der Wertsphäre allerdings, was Weber eigentlich im Blick hat, wenn er sagt, dass derselbe Sachverhalt, dieselbe Erfahrung so oder so, als ethische und/oder als politische „gewertet" werden kann, so dass Wertsphären gerade nicht jeweils eindeutig in sich und im Verhältnis untereinander geordnete Wirklichkeitsierei'c/je konstituieren können. (Nur deshalb kann sich überhaupt das Problem einer „Begrenzung" sogenannter Wertsphären stellen.) In der Erfahrung interferieren und vermischen sich ethische und politische Ansprüche, so dass ein Spielraum der Wertung in ethischer oder politischer Perspektive entsteht. Wo etwas als etwas (oder als etwas anderes) erfahren und gewertet werden kann, liegt aber nicht α priori Feindschaft, Konflikt (im engeren Sinne der Auseinandersetzung mit Anderen) oder ein Gegensatz als Widerspruch, sondern zunächst nur ein Widerstreit vor. Im Widerstreit heterogener Ansprüche bewegt sich die Erfahrung bereits prä-diskursiv, also bevor ein Widerspruch von Propositionen überhaupt formuliert werden kann. Und während ein Widerspruch noch den Gedanken der Aufhebung gegensätzlicher Ansprüche in einem Dritten, Versöhnenden gestattet, widersetzt sich der Widerstreit einer solchen Lösung. Keineswegs können wir davon ausgehen, was prädiskursiv in einen „bloßen" Widerstreit verstrickt erscheint, warte gleichsam nur darauf, diskursiv als im Prinzip
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WL, S. 506. Auch umgekehrt ließe sich fragen, ob nicht ethischem Handeln Unterschiede „politischer Dignität" anhaften können.
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auflösbarer Widerspruch artikuliert zu werden. Dem ethischen Anspruch, dem Anderen als Anderem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist nicht zugleich mit dem politischen Anspruch Genüge zu tun, ihn als Gleichen unter Gleichen gelten zu lassen. Tatsächlich ist nirgends ein Drittes in Sicht, das solche konfligierenden ethischen und politischen Ansprüche zu vermitteln und aufzuheben verspräche. Insofern ist der Widerstreit kein bloß vorläufiges oder privatives Phänomen, sondern ein echtes und irreduzibles Problem der menschlichen Koexistenz in heterogenen Lebensformen. Diese Heterogenität betrifft aber nicht erst das Verhältnis verschiedener Lebensformen zueinander, sondern bereits ihre jeweilige innere Verfassung. Diese bedingt praktische Konflikte dann, wenn nur ein Anspruch auf Kosten wenigstens eines anderen realisiert werden kann, so dass sich ein Problem der Entscheidung stellt, die den konfligierenden Ansprüchen nicht zugleich (und eventuell auch nicht sukzessive) gerecht werden kann. Wurzelt in diesem Entscheidungsproblem eine Strittigkeit der Ansprüche, so wird daraus ein praktischer Konflikt, ein Streit oder ein Kampf erst, wenn verschiedene Positionen bezogen werden, die auf jeweils einem Anspruch insistieren. Aus praktischem Konflikt kann eine eskalative Spirale des Insistierens resultieren, wo jedes Insistieren unvermeidlich zugleich den Charakter des Bestreitens der Gegenposition annimmt, der in ihrem eigenen Recht ein „Unrecht" (Lyotard) widerfahrt, das aber vor keiner unabhängigen Instanz zu artikulieren ist. Eben das gibt dem Konflikt ständig neue Nahrung: Die wiederholte Erfahrung dieses Unrechts summiert sich zur Verletzung des eigenen Anspruchs; und die Verletzung wird zum autokatalytischen Motiv der Fortsetzung des Konflikts über den Punkt hinaus, bis zu dem eine am Inhalt des reklamierten Anspruchs orientierte Auseinandersetzung noch sinnvoll erscheinen kann. Erst auf dieser abschüssigen Bahn des praktischen Konflikts kann dieser sich im Zuge gegenseitiger Verletzung in Richtung auf eine Verfeindung steigern, die die Aussichtslosigkeit der Vermittlung der verletzend gegeneinander vorgetragenen Ansprüche zum Anlass nimmt, den Gegensatz als solchen zu liquidieren - was nur gelingen kann, wenn einer der Ansprüche von der Bildfläche des Konflikts verschwindet. So hat die Verfeindung die Vernichtung des heterogenen Anspruchs zum Fluchtpunkt. Erst in diesem Stadium des Konflikts ist aus dem anfänglichen Widerstreit ein praktischer Gegensatz von Unvereinbarem und schließlich eine Unversöhnlichkeit geworden, die dem anfänglich nur Widerstreitenden als solchem nicht von sich aus eignet. Zwar ist kein Widerstreit im klassisch-idealistischen Sinne „aufhebbar" und so zu versöhnen. Das heißt aber nicht, dass nicht andere Modelle der Versöhnung zu denken wären, die zugleich die klassische Alternative von „vernünftiger" Versöhnung durch Aufhebung des Gegensätzlichen vs. offene Gewalt (bis hin zum Krieg oder zum Genozid) zu überwinden versprächen. Wo das klassische Modell der Versöhnung indessen vorherrscht und der Widerstreit unter der Hand am Maßstab der Aufhebung des bloß Widersprüchlichen gemessen wird, da scheint er von vornherein die Gewalt heraufzubeschwören, die am Ende eines sich verselbständigenden praktischen Konflikts droht, der in progressive Verfeindung münden kann. Wird der Widerstreit von Anfang an am Anspruch der Aufhebbarkeit des Widersprüchlichen gemessen, so hat es den Anschein, als präformiere er gleichsam von sich aus schon, was man schließlich in einer ausweglosen Konfrontation unversöhnlicher Werte, die ganze Lebensformen gegeneinander in Stellung bringen, ausbrechen sieht: die Todfeindschaft als einen Entscheidungskampf, in dem es um nichts mehr geht als um das eigene Ü-
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berieben auf Kosten Anderer, deren heterogene Werte sich wie das Versprechen einer „existenziellen Negation" (Carl Schmitt) verstehen lassen. Liegt uns an diesen Werten alles, ist unser ganzes Selbstverständnis aufgrund „letzter Entscheidungen" (Weber) in sie investiert, was bewahrt dann im Fall eines eskalativen praktischen Konflikts vor einer kriegerischen oder genozidalen Behauptung ihrer verabsolutierten Geltung gegen Andere, deren heterogene Werte eine Todfeindschaft heraufbeschwören, wenn Weber Recht hat? Wenn man an dieser Stelle mit Carl Schmitt oder mit Max Weber nur das Recht und den Staat als pazifizierende Instanzen anfuhrt, bestätigt man dann nicht unter der Hand die Friedlosigkeit der sozialen Verhältnisse, die den eigenen Prämissen zufolge in der schieren Heterogenität der Werte angelegt scheint? Bringen diese Prämissen aber nicht die problematischen Übergänge vom Widerstreit zum praktischen Konflikt gegensätzlicher Positionen bis hin zur Verfeindung und ihren exzessiven Möglichkeiten nahezu zum Verschwinden? Macht sich eine entsprechende Theorie der sozialen Verhältnisse dann nicht in gewisser Weise mitschuldig an jener Dramatisierung, die extreme Resultanten möglicher Verfeindung in die heterogene Konstitution von Lebensformen hineinprojiziert, welche unumgänglich im Widerstreit existieren und koexistieren? So den Vorwurf einer „Dramatisierung" zu erheben unterstellt nun aber, im Widerstreit der Lebensformen selber liege nicht schon Feindschaft oder „drohende" Verfeindung angelegt. Mit Carl Schmitt ließe sich diese Annahme freilich bestreiten. Und haben wir Feindschaft bislang nicht unbefragt als einen „Unwert" aufgefasst? Ließe sich hier nicht ebenfalls eine Umwertung denken? Wenn gelten soll, dass es in Lebensformen vor allem darum geht, zu wissen, wer man ist, bietet sich dann nicht ohnehin die Verfeindung als das Mittel par excellence dazu an?37 Und mit Nietzsche wäre diese Frage noch einmal anders zu wenden: Wenn es in Lebensformen als Formen des Lebens nicht etwa um „Identität", sondern vor allem darum geht zu leben (und gerade nicht nur zu „existieren" oder zu „koexistieren"), bedarf man dann nicht gerade der Feindschaft? So gesehen ließe sich gegen die vorangegangenen Überlegungen geradezu der Vorwurf der Entdramatisierung erheben, die den Lebensformen eben das zu nehmen scheint, worum es ihnen als „höchstem Wert" gehen muss: das Leben - nicht als bloßes Dasein und Existieren, sondern als ständige Selbststeigerungsmöglichkeit Uber sich hinaus.
V Bekanntlich war es Nietzsche, der den Wertbegriff erst populär gemacht hat. Im Gegensatz zu Zeitgenossen wie H. Lotze oder zu N. Hartmann und M. Scheler lag ihm aber nichts an einer teleologischen Stärkung einer national-staatlichen, gesellschaftlichen oder gemeinschaftlichen Lebensform, um der vermeintlichen Gefahr politischer Anomie zu begegnen. Weit entfernt, sich irgendeiner vorgegebenen Form des Lebens - und sei es auch nur eine darwinsche Überlebensform - unterwerfen zu wollen, bekannte sich Nietzsche stets als „freier Mensch". Einem freien Menschen aber muss alles erlaubt sein. Er kann weder ein ethisches Gesetz in sich noch einen Kosmos über sich als Grenze seiner Freiheit akzeptieren. 37
Ich habe mich mit dieser Position an anderer Stelle ausfuhrlich auseinander gesetzt; vgl. Zerbrechliche Lebensformen, Kap. 10 und 11.
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In seiner Freiheit weiß er sich zu einem Über-Leben befreit, das gerade nicht dem „natürlichen Gesetz" der Selbsterhaltung (Hobbes) und insofern dem „nackten Überleben" verpflichtet ist, sondern sich rückhaltlos aufs Spiel setzt und gerade darin seine Freiheit affirmiert. Er sucht nicht die feige bürgerliche Sekurität oder gar die „risikolose Privatheit", sondern die Gefahr, den Kampf, den Krieg.38 Darin fühlt er sich der ursprünglichen Kraft und Wildheit des Lebens, der der Kulturgenealoge und -psychologe Nietzsche ständig auf der Spur war, am nächsten. Kein freier Mensch soll sich vom Leben abbringen lassen, auch nicht durch das (falsche) gegenseitige Versprechen eines vermeintlichen Gesellschaftsvertrags, „um unter den Vortheilen der Societät zu leben".39 Verspricht er im Sinne eines solchen Vertrages, auf Gewalt zu verzichten, so betrügt er sich selbst - um das Leben, das ihm, um des Über-Lebens willen, alles gestatten muss. Frei leben und sittlich, etwa durch ein gegebenes Wort gebunden leben, das ist für Nietzsche ein Widerspruch in sich. Deshalb nimmt sich Nietzsche die Freiheit, gewisse Unterwerte umzuwerten. „Bescheiden, fleißig, wohlwollend, mäßig: so wollt ihr den Menschen? Den guten Menschen? Aber mich dünkt das nur der ideale Sklave." Es gibt keine „sittliche Freiheit", die beides in einem, sittlich verlässlich und frei, wäre. Bejahen wir also die Freiheit vom moralischen Gesetz und das Befreitsein zu allem, was als Verstoß gegen es gewertet werden könnte. Bejahen wir die Gewalt, die Feindschaft, den Krieg. Aber nicht, um „böse" zu sein. Denn als „böse" kann überhaupt nur gelten, was der Herrschaft des moralischen Gesetzes (als der Erfindung des ressentimentgeladenen Menschen40) bereits unterworfen ist. Eine radikale Freiheit kann aber nur vom Guten und vom Bösen befreit sein.41 Nur unter dieser Voraussetzung befleißigt sich Nietzsche einer Apologie der Feindschaft. So brandmarkt er gerade die „Guten", die sich ihren Feind erfunden haben, „den bösen Feind [...] und zwar als Grundbegriff, von dem aus [sie] sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen ,Guten' ausdenk[en] - sich selbst!"42 Nietzsche sucht sich vom Guten, das „böse denken" und schließlich „böse machen" lässt,43 zu emanzipieren, um zur wilden Gewalt, zur wilden Feindschaft zurückzufinden. Dabei hat er selbst die Guten als „böse Feinde" kennen gelernt:44 „wer jene ,Guten' nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als böse Feinde kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zueinander so erfinderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen, - sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde, die Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raubthiere. Sie geniessen da die Freiheit von allem socialen Zwang, welche eine lange Einschliessung und Einfriedung in den Frieden der Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des Raubthier-Gewissens zurück, als frohlockende Ungeheuer,
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KSA 6, S. 140. „Der freie Mensch ist Krieger." Vgl. ähnlich KSA 5, S. 120. Der Mensch „ist Krieg", heißt es hier. KSA 5, S. 297. KSA 5, S. 311. Vgl. KSA 6, S. 179. KSA 5, S. 274. KSA 3, S. 73. Vgl. KSA 4, S. 82.
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welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewicht davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei [...]·"45 Noch diese Regression kann als solche nur am Maßstab dessen verstanden werden, was sie unterläuft. Nietzsche geht aber auch hier noch einen Schritt weiter. Die Freiheit, die ihm vorschwebt, regrediert nicht und fällt hinter nichts zurück. Sie hat kein Maß außer sich und benötigt in diesem Sinne keinen „bösen Feind", nur einen Feind zur Kräftigung des Lebens durch Krieg, Vernichtung und Einverleibung.46 Daran ist weder etwas Unrechtes noch auch etwas Rechtes; zu beiden Begriffen verhält sich „das Leben" ursprünglich indifferent: „an sich kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigung, ausbeuten, nichts .Unrechtes' sein, insofern das Leben essentiell, nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter".47 Nietzsche „verkehrt" oder „invertiert" nicht einfach die „Werte"; er propagiert nicht das Böse anstelle des Guten, sondern wie gesagt die Befreiung von beidem im gleichen Zug. Dem steht scheinbar nur die Sprache im Wege. Denn wie nennt man nun das, was dem Anderen angetan wird, wenn nicht Verletzung, Verbrechen (ein Rechtsbegriff), wenn nicht Mord? Bedeutet Leben nicht ständig „pietätsloses" Vernichten? Lässt sich dieses „Bedeuten" überhaupt aussagen in einer ethisch neutralisierten Sprache? Und würde diese Sprache nicht jener anderen Sprache widerstreiten, in der es heißt: „Du sollst nicht tödten!"?48 Vermöchte sie diesen Widerstreit zum Schweigen zu bringen, in dem die ethisch indifferente Vernichtung immerzu in den Verdacht eines ethischen Verbrechens gerät? Ungeachtet dieser Schwierigkeit deutet Nietzsche diesen Widerstreit genau entgegengesetzt. Das ethisch indifferente Töten ist eine Möglichkeit des Lebens, sich zu steigern. Wenn diese Möglichkeit ethisch verneint wird, kann insofern von einer „Verneinung des Lebens" durch das Ethische gesprochen werden, die aber eine Entscheidung zwischen „freiem" Leben und Ethik voraussetzt, die ihrerseits nicht wiederum ethisch begründet werden kann. Nichts lässt sich denken, was den Widerstreit von Leben und Ethik aufzuheben vermöchte. Dann aber ist streng genommen nichts dagegen einzuwenden, sich für das Leben und die radikalen Möglichkeiten der Vernichtung, der Feindschaft, des Krieges und der Grausamkeit zu entscheiden - es sei denn, man hat sich bereits dafür entschieden, sich ethischen Maßstäben zu fugen und in gewisser Weise auf die eigene Freiheit Verzicht zu leisten. Wenn diese Freiheit aber zunächst vom Ethischen entbunden zu denken ist, kann sie dann nicht für das Leben optieren?49 Genau das suggeriert Nietzsche immerfort: frei leben zu wollen, um nicht unter der Last des Ethischen zu verkümmern, das ist eine Frage der Option. Auch leben im Sinne der radikalen Freiheit muss man nicht allein deshalb, weil man (biologisch) existiert. 45 46 47 48 49
KSA 5, S. 274.f. Vgl. ebd., S. 167. KSA 5, S. 312. Deutlich ist der „indifferente" Begriff des Vernichtens auch an der oft zitierten Stelle, wo Nietzsche sich Heraklits Begriff des Werdens anschließt: KSA 6, S. 312f. KSA 3, S. 400. An anderer Stelle habe ich die Fragwürdigkeit untersucht, die in der Unterstellung einer Wahlmöglichkeit (sei es hinsichtlich Nächsten, Anderen oder Fremden) zwischen Ethik und an-ethischem Leben steckt. Sie kommt auch in der immer wieder aufgeworfenen Frage zum Vorschein „Warum überhaupt moralisch sein?" (Tugendhat, Williams u.a.). Vgl. v. Verf., „Freiheit und Verantwortung diesseits der ,aristotelischen Welt'. Negative Freiheit - Lebensformen - ethische Gewalt". Ms 2001.
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Der Entschluss, frei zu leben, suspendiert ja gerade das Interesse an der eigenen Selbsterhaltung und bejaht ohne Wenn und Aber den eigenen Untergang. Nur scheinbar bejaht man so, worauf das Leben mit einem selbst ohnehin hinauswill. Denn das Leben zeitigt auch Formen, die es (wie die „asketische Lebensform") scheinbar reduzieren und sogar bis zur „Lebensfeindlichkeit" gegen sich selbst kehren.50 Wie diese Lebensfeindlichkeit, so ist auch das freie Leben keine bloß ungehinderte Fortsetzung eines ethisch indifferenten biologischen Lebens, sondern Produkt einer erfinderischen Wahl zwischen verschiedenen Formen des Lebens, die gerade auch die bloß biologische Existenz so wie auch jede Lebensform, die über eine Art der bürgerlichen Selbsterhaltung nicht hinausgelangt, verneint. Erklären sich nicht aus dem Leerlauf der Selbsterhaltung jene „Epidemien der Sattheit", gegen die am Ende nur eine erfrischende Gewalt hilft, die den wilden Menschen zu sich selbst zurückzufuhren und von seinem „schlechten Gewissen" zu befreien verspricht?51 „Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man ,zähmen' will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildnis schaffen musste - dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des .schlechten Gewissens'."52 Im schlechten Gewissen ist jeder einzelne, sofern er seine ureigene Wildheit noch nicht völlig verleugnet hat, vor allem sein eigener Feind, der am Ende nur sich selbst zerstört. Zu seiner ureigenen Freiheit und von dieser Feindschaft gegen sich selbst befreit jeder sich nur durch äußere Feinde, die man sich notfalls erst suchen muss. Man bedarf der Feinde, der Surrogate des Krieges und tatsächlicher, „furchtbarster Kriege", um nicht an sich selbst zugrunde zu gehen.53 Darüber aufgeklärt, wird man eine „heimliche Zuneigung" zum Feind verspüren, denn man weiß, was man ihm verdankt: das Leben in der Lust an der „Grausamkeit, der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung".54 Wer freilich „davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt".55 Muss nicht jeder an Feindschaft interessiert sein, wenn man „fruchtbar um den Preis" nur sein kann, „an Gegensätzen reich zu sein"? „Man bleibt nur jung unter der Voraussetzung, dass die Seele [...] nicht nach Frieden begehrt."56 Selbst wenn man dem Feind die Vernichtung wünscht, geschieht das nicht um der Vernichtung willen, die die Feindschaft in der Friedhofsruhe beenden würde, sondern um des eigenen Lebens willen. Es muss also dafür Sorge getragen werden, dass die Feindschaft am Leben bleibt, notfalls dadurch, dass man sie „vergeistigt" und sich einen „inneren Feind" „hält", wenn sich kein äußerer finden oder erfinden lässt.57 Der ideale Feind wäre derjenige, der immer wieder vernichtet, gegen den immer wie50 51 52 53 54 55 56 57
K S A 5 , S. 363. K S A 5 , S.323 Ebd. K S A 2 , S. 312,634. KSA 5, S. 323. Die ausgehaltene Grausamkeit trägt dem Feind Achtung ein, im Gegensatz zum „verächtlichen" Mitleid... KSA 3, S. 129. KSA 2, S. 326. KSA 6, S. 84. Zum Verhältnis von Finden und Erfinden in der Feindschaft vgl. die Kapitel 10 und 11 in Zerbrechliche Lebensformen.
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der Krieg gefuhrt, der endlos verfolgt werden könnte und der doch niemals aufhören würde, Feind zu sein, um so das eigene Leben immerfort zu intensivieren. Im Namen des Lebens sollte es möglich sein, die Städte „an den Vesuv" einer auf Dauer gefährlich bleibenden Feindschaft zu bauen, die nicht zum Ritual, zum bloßen Spiel oder zum käuflichen Abenteuer verkommt.58 Dafür taugt aber nur der wenn nicht gänzlich unsichtbare, so doch ständig seine Erscheinung wandelnde Feind, der sich nie in Gänze zu erkennen gibt. Nach ihm, der immer auch anders und woanders ist, muss man ständig fahnden; nach ihm, von dem man nie endgültig wird wissen können, wer es ist, muss man unaufhörlich fragen. Wo er sich zu erkennen gibt, wird er stets nur die Antwort auf unsere Frage sein, ja er ist, wie Carl Schmitt mit Th. Däubler sagen wird, „unsere eigene Frage als Gestalt".59 Ruht die Frage nach dem Feind, macht er sich am Ende in den Freunden unkenntlich und trägt so den Sieg davon. Man darf also nicht aufhören, nach ihm zu fragen; man muss präventiv alles, vor allem die Freundschaft, vor allem diejenigen, die uns am meisten ähneln, unter Generalverdacht stellen. Denn welche List des Feindes wäre raffinierter als der Versuch, so wie wir, gleich oder ununterscheidbar zu werden? Wenn es freies Leben nur gibt, wo es „gute Feinde" gibt und die Feindschaft nicht aufhört, wird der beste Feind derjenige sein, der ungeachtet aller Kriege und aller sonstigen Vernichtungsanstrengungen, die gegen ihn unternommen werden, nicht „endgültig" zu vernichten ist. Doch muss er uns die Vernichtung wirklich androhen, sonst wäre er kein wirklich ernst zu nehmender Feind, nur ein Gegner. Die auf Dauer gestellte Feindschaft muss in und von diesem Widerspruch leben: die Vernichtungsdrohung, die in der Feindschaft „lebt" und dem Leben auf Dauer eine äußerste Intensität verspricht, muss ernst genommen werden; aber es darf niemals zu einer „endgültigen" Liquidierung, zu einer wirklichen „Endlösung" kommen, die in der Aufhebung der Feindschaft auch das Leben begraben würde. Das Ansinnen, das Leben durch eine nicht ökonomisch, rituell oder spielerisch von vornherein entschärfte Feindschaft zu intensivieren, muss diesen Widerspruch vor sich verbergen, um die Feindschaft am Leben zu erhalten. Es darf dem Feind eine endgültige Vernichtung immer nur androhen oder muss den Feind der endgültigen Vernichtbarkeit entziehen: sie muss ihn vor der eigenen Konsequenz bewahren. So gesehen ist die beste Lebensversicherung des Feindes derjenige Feind, der den Sinn der Feindschaft, das „Leben" zu steigern, begriffen hat. Die Feindschaft umwillen dieses Sinns aber von vornherein zu begrenzen, um den Feind vor der endgültigen Vernichtung zu bewahren, würde bedeuten, sie zu entschärfen und sie gerade um den Ernst zu bringen drohen, der sie von jedem bloß agonalen oder polemogenen Spiel definitiv zu unterscheiden hätte.
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Nietzsches Aufforderung, im Namen des Lebens gefährlich zu leben (KSA 3, S. 526), ist längst trivialisiert. Man kann sie auf gewissen käuflichen Kunstpostkarten mancherorts an jedem Küchenschrank lesen. Entscheidend ist, wie diese Frage (wenn sei nicht ein bloßes Apercu sein soll) zu denken ist; vgl. Zerbrechliche Lebensformen, Kap. 9 u. 10.
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VI Die Bejahung der Feindschaft im Namen des Lebens führt auf die Spur dieser Aporie, die aber - vor allem in Zur Genealogie der Moral und in Menschliches, Allzumenschliches - nur gleichsam aufscheint und von Nietzsche nirgends „zu Ende" gedacht wird. Sein anarchisches Temperament zeigt sich nicht an der inneren Konsequenz einer „Logik der Verfeindung" interessiert. Ein wirklich freies „Leben" wird sich auch von keiner solchen Logik fesseln lassen. Nietzsche entwirft denn auch weder eine „biologische", von einem angeblichen „Naturzustand" der lebendigen Wesen hergeleitete, noch eine „geschichtsphilosophische" Logik der Verfeindung. Die Lebensform des Über-Lebenden, um die es ihm geht, gehorcht wie gesagt gerade nicht den Gesetzlichkeiten eines bloß „natürlichen" Lebens, das sich gegen anderes, feindliches Leben selbst erhält; und sie lässt sich genau so wenig für einen in der Geschichte sich abspielenden Überlebenskampf der Völker und Nationen in Dienst nehmen. Hochmütig hält sich diese Lebensform abseits - voller Spott über all diejenigen, die sich nicht zu „entdeutschen" vermögen und nur ihre nationalen „Erbfeindschaften" pflegen, und voller Verachtung für die „überschüssigen" „Vielen", die um jeden Preis nur die Erhaltung ihrer Existenz im Sinn haben.60 Der Über-Lebende mischt sich - wie Rousseaus Wilder in den Städten - bestenfalls unter die bloß Lebenden, um parasitär die grausamen Schauspiele zu genießen, die sich seinem Auge darbieten. Hier nimmt er sich die offenbar unbeschränkte Freiheit, die Gewalt und die Feindschaft zu bejahen, aber nicht, um etwa durch einen Feind zu erfahren, wer er ist, d.h. um , jemand" zu sein, der hermeneutisch an seiner „Identität" interessiert wäre, sondern umwillen intensiven Lebens, das sich eher im Exzess verschwendet, als unterworfen unter irgend eine biologische oder geschichtliche „Logik" seine Freiheit preiszugeben. Hat Nietzsche nun diese Umwertung konsequent vollzogen, so dass nun auch die Feindschaft ohne falsche Beschönigung durch ein bloß am Guten interessiertes (und die Feindschaft entsprechend „perspektivisch" entwertendes) Subjekt in den Blick kommt? Ist damit die denkbar extremste Möglichkeit einer „Umwertung der Werte" erreicht, wie sie programmatisch in Nietzsches Diktum „Gott ist tot" geltend gemacht wird? Unter anderen hat George Steiner diesen Schluss nahe gelegt und dieses Wort suggestiv in die ideologische Vorgeschichte des Nationalsozialismus gerückt.61 Aber es wäre in mehrfacher Hinsicht ein Missverständnis, die industrielle Liquidierung, in die er mündete, gleichsam als eine Vollstreckung jener Umwertung zu verstehen. Nietzsche bleibt bis zuletzt ein Aristokrat des „Lebens", polymorph verliebt in eine vielgestaltige Feindschaft: „todfeind, erzfeind, urfeind! Oh wohin flog und verflog sich nicht schon meine Feindschaft!" steht im dritten Buch des Zarathustra zu lesen.62 Nietzsche hat nur ansatzweise63 realisiert, wie sich die politischen Systeme der Feindschaft zu bemächtigen begannen. Sein Bild des Krieges bleibt ganz am Napoleonischen orientiert: Sind wir nicht, schreibt er in der Fröhlichen Wissenschaft (1882/7), in das „klassische Zeitalter des Kriegs getreten, des gelehrten und zugleich volks-
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KSA 2, S. 511 zum „entdeutschen". Vgl. G. Steiner, In Blaubarts Burg, Frankfurt/M. 1972, Abschnitt 2. KSA 4, S. 241. Deutlich immerhin in Menschliches, Allzumenschliches I (KSA 2, S. 307) in seiner Kritik des Sozialismus, deren Berechtigung hier nicht zu beurteilen ist.
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thümlichen Kriegs im grössten Massstabe (der Mittel, der Begabungen, der Disciplin), auf den alle kommenden Jahrtausende als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und Ehrfurcht zurückblicken werden: - denn die nationale Bewegung, aus der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegen-choc gegen Napoleon und wäre ohne Napoleon nicht vorhanden."64 Historisch ist aber der Volkskrieg weit vor einer kriegerischen und genozidalen, sich bereits zu Nietzsches Lebzeiten anbahnenden Bio-Politik anzusiedeln, die sich der eigenen Bevölkerung nur mehr als einer Ressource zukünftigen staatlichen Überlebens bedienen wird; und zwar im Sinne einer evolutionär inspirierten Logik, die besagt, dass diejenigen Völker, Nationen oder Staaten überleben werden, die die Dynamik des kollektiven Überlebenskampfes rechtzeitig antizipieren und auf eigene Rechnung zu vollstrecken suchen. Auf dieser Folie konnte es zu Fusionen evolutionären und geschichtlichen Denkens kommen, die neue Formen der Feindschaft zeitigten, welche weder rituell (im Sinne eines „erweiterten Zweikampfs" etwa, von dem Clausewitz ausging) noch konventionell (in Formen des alten Europäischen Völkerrechts, an dem sich noch Carl Schmitt orientierte) zu bändigen waren. Einer genozidalen, keinen Konventionen mehr gehorchenden Vernichtung ganzer Ethnien, Nationen oder Staaten ist theoretisch nicht mehr beizukommen mit der Annahme, darin manifestierten sich womöglich nur Atavismen einer archaischen Natur. Am Modell der Wiederkehr einer längst fur überwunden gehaltenen Grausamkeit und Feindschaft aber orientierte sich Nietzsche: „Die Menschen, welche jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen früherer Culturen gelten, welche übrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen Zufalle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle waren [...]."65 Der für die industrielle Vollstreckung einer genozidalen Bio-Politik typische Täter66 war indessen gerade nicht der ausgesucht grausame, sondern der indifferente Befehlstäter, der - ungeachtet gewisser rhetorischer Übereinstimmungen der politischen Propaganda - sicher nicht dem „Leben" zu dienen gedachte, wie es sich der ÜberLebenskünstler Nietzsche am besten abseits, „auf hohen Bergen", vorstellen konnte. Die radikalisierte serienmäßige Vernichtungsanstrengung hat auch das „Leben" noch einmal einer „Umwertung" unterzogen. Einzelne philosophische Krieger, wie Nietzsche einer sein wollte, waren im Rahmen ihrer kalten Logik ebenso wenig zu gebrauchen wie ungerufene Führer in künftiges „Geschick". Und die Art der Tötung, die sie vorsah, sollte niemandem mehr Achtung abnötigen wie im Fall des Gefolterten, der am Marterpfahl voller Verachtung für seinen Peiniger bis zuletzt stand hält. Dieses - geradezu romantische - Bild des Feindes, der noch seine „Ebenbürtigkeit" zu denken erlaubt, schwebt Nietzsche vor, der das Mitleid als eine Form der Demütigung angesichts eines allzu schwachen Feindes denunzierte.67 Eine Vernichtung indessen, die dem Feind jegliche Verwandtschaft abspricht und ihn im Grunde mit keiner menschlichen Kategorie mehr belegen kann, taucht im Horizont Nietzsches nicht auf. Wer aber derart radikal vernichtet werden soll, dem ist selbst der Schmerz, den der Gemarterte noch als einen menschlichen durchleidet, entwunden. Nietzsche wäre es nicht in
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KSA3, KSA 2, Vgl. H. KSA 3,
S. 610. S. 66. Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, Frankfurt/M. 1982, S. 226. S. 129.
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den Sinn gekommen, einem von ihm „geachteten" Feind den Schmerz, jenen „letzten Befreier des Geistes" abzusprechen, der uns nötigt, „in unsere letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun". Wenn wir es „dem Indianer gleichthun, der, wie schlimm auch gepeinigt, sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge schadlos hält", werden wir möglicherweise ein „anderer Mensch"; dann ist „das Vertrauen zum Leben [...] dahin".68 Nach einer industriellen Liquidierung ungeheuren Ausmaßes dürfte aber auch das Vertrauen in ein „Leben" dahin sein, das sich noch im voyeuristischen Genuss einer archaischen Grausamkeit und Feindschaft zu befriedigen wusste.69 Wenn auch dieser Begriff des Lebens versagt, wo eine radikalisierte Feindschaft jedes Interesse an „intensiver Erfahrung" vergleichgültigt, um stattdessen nur noch einen unmenschlichen Plan zu vollstrecken, ist es Zeit für eine neue „grosse Loslösung", fur ein neues Abschiednehmen.70 Jene „gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt", die ihn im Zuge der Umwertung der Werte auch die Feindschaft als einen Wert entdecken ließ, hat weiter gefuhrt, als es Nietzsche ahnen mochte. Sie hat eine radikalisierte Feindschaft entdeckt, die sich als Atavismus oder archaisches Relikt nicht mehr deuten lässt und insofern fremder noch erscheint als jene „alte" Grausamkeit, die der Kulturgenealoge und -psychologe Nietzsche in so vielen Reminiszenzen als zwar vergessene, gleichwohl aber doch eigentümlich vertraute in Erinnerung zu rufen und dem Interesse am „Leben" anzuempfehlen weiß. Diese Feindschaft ist indessen als radikalisiertes Vernichtungsprojekt gescheitert.71 Auch hier hat sich freilich eine Einsicht Nietzsches bestätigt, der demjenigen, der „seinen Gegner tödten will", zu erwägen empfahl, „ob er ihn nicht gerade dadurch bei sich verewigt".72 Die für eine Philosophie der Werte oder der Umwertung der Werte nach wie vor brisante, ungeklärte Frage ist, wie sich dieses Scheitern erklären lässt. Wenn selbst die radikalste, auch das „Leben" oder „Über-Leben" Nietzsches noch hinter sich lassende Entwertung dasjenige nicht gänzlich aus der Welt zu schaffen vermochte, wogegen sie sich richtete, ist dann nicht die Macht des Wertens, des Menschen als eines alles und jedes „wertenden Thieres" selber an eine unübersteigbare Grenze gelangt? Selbst wenn wir jenes Scheitern als strikt beweisbares (und nicht nur als bezeugtes) Faktum voraussetzen könnten, bliebe es allerdings unsere Aufgabe, diese Grenze zu denken. Wenn es sie gibt, ist der in jeder Radikalisierung der Feindschaft keimende Gedanke einer endgültigen, absoluten Vernichtung absurd, da das Vernichtete im Täter überlebt. Die Frage, in welcher Weise das geschieht, hat noch Freud beschäftigt und zu seinen Spekulationen über den archaischen Ursprung des Gewissens veranlasst.73 Freud hatte aber so wenig wie diejenigen, die sich auf Kant berufen, ein zwingendes Argument dafür parat, dass dieses Überlebende, diese Spur des Vernichteten 68 69 70
71 72 73
KSA 3, S. 350. KSA 3, S. 103, 129. Die „grosse Loslösung" ist bekanntlich das Leitmotiv von „Menschliches, Allzumenschliches" (1878), das dann als Abschiednehmen (von der Welt, in der Gut und Böse noch eindeutig verteilt schienen) gedeutet wird (vgl. KSA 2, S. 15f., 370). Vgl. v. Verf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg/München 1999. KSA 3, S. 254. Vgl. ausfuhrlich dazu v. Verf., Vom'Anderen her. Erinnern und Überleben, Freiburg/München 1997, Kap. II, III, V; KSA 6, S. 352 zur „genealogischen Aufklärung" des Gewissens.
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im Vernichtenden, als unaustilgbar gelten muss. 74 Als solche wird diese Spur nirgends bewiesen, sondern nur bezeugt als absolute Widersetzlichkeit gegen das vermeintlich grenzenlose Spiel der Umwertungen und Entwertungen.75 Erst der Exzess dieses Spiels in einer seriellen Vernichtung, die allen tradierten Vorbildern der Verfeindung spottet, hat diese Bezeugung auf den Plan gerufen. Sie wird die alte Metaphysik des Guten und des Ganzen nicht wiederherstellen; aber sie widerspricht doch der Vorstellung, was ehemals „gut" und als solches unantastbar schien, könne heute nur noch als „wertvoll" gelten. Denn was wertvoll ist, kann entwertet werden; was aber die radikalste Vernichtung zu „überleben" vermag, setzt sich über beides hinweg: über die Entwertbarkeit ebenso gut wie über die Wertbarkeit. Die Frage ist, ob das Wert-Denken diese Herausforderung überhaupt schon wahrgenommen hat.76 Gegenwärtige Apologien der Feindschaft, die sich neues „Leben", neue, anders womöglich nicht zu verschaffende „Intensität" von ihr versprechen und einen entsprechenden „Sinn" in ihr erkennen, lassen nichts ahnen von der Exzessivität einer Drohung radikaler Vernichtung, die über jedes „Maß" hinausschießt. Dasselbe gilt für Erklärungen einer Feindschaft unvereinbarer Werte, die mehr oder weniger offen dazu auffordern, auch den Krieg als Mittel ihrer Verteidigung in Betracht zu ziehen. Wer sich auf den Krieg einlässt, nimmt die Feindschaft unweigerlich in ihrer potenziellen Exzessivität „in K a u f , die von Anfang an in ihr wurzelt.
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Das führt uns zu Nietzsches Diktum zurück, demzufolge es der Mensch „nicht erträgt", um einen Zeugen seines Tuns zu wissen. Und wenn es nun ein Zeuge in uns selbst sein sollte? Dann hätte man sich selbst eine radikale Feindschaft zu erklären, die mit dem Gegner schließlich beide Parteien zugleich liquidieren müsste. Auf die neuere Diskussion um den Begriff der Bezeugung kann ich an dieser Stelle nur verweisen. Er kann jedenfalls nicht mehr einfach mit einem Glauben gleichgesetzt werden, der sich dogmatisch der Prüfung dessen entzieht, woran er glauben machen will. Insofern kann Nietzsches Kritik des Glaubens, wie er sie in Götzen-Dämmerung vorführt, nicht einfach unterlaufen werden; vgl. E. Heller, „Diesseits und jenseits von gut und böse", in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 10-27, hier: S. 25, sowie v. Verf., „Selbstheit und Bezeugung. Soi-meme comme un autre als Antwort auf Sein und Zeit, in: A. Breitling, S. Orth u. B. Schaaff (Hg.), Das herausgeforderte Selbst. Perspektiven auf Paul Ricoeurs Ethik, Würzburg 1999, S. 157-177. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt an die Kritik des neukantianischen WertDenkens bei Heidegger, deren „ontologische" Zielrichtung aber vor allem von den französischen Autoren nur noch mit größten Vorbehalten geteilt oder gar ganz zurückgewiesen wird, die sich vom Zusammenhang von Vernichtung und Entwertung zu einer ethischen Wendung dieser Kritik haben herausfordern lassen. Vgl. J. Derrida, Gesetzeskraft, Frankfurt/M. 1991, S. 108, 119, wo zwar noch von einem „Wert" des Menschen die Rede ist, am Ende aber die Frage der Gerechtigkeit entscheidend wird, die das Verbrechen der Vernichtung (und der radikalen Entwertung) nicht aus der Welt zu schaffen in der Lage ist.
FRIEDRICH B A L K E
Die Signatur des Feindes Carl Schmitt und die Moderne
1. Die Produktivität des Ästhetischen Obwohl Carl Schmitt von Beruf Jurist, genauer:,Staatsrechtslehrer' war, besteht seine frühe publizistische Produktion interessanterweise neben fachwissenschaftlichen Arbeiten aus literarischen oder semiliterarischen Texten; 1916 erscheint eine literaturkritische Studie zu Theodor Däublers monumentalem expressionistischen Epos Nordlicht und 1919 folgt die große Studie zur Politischen Romantik. Zwar weiß man: Carl Schmitt ist Politischer Theologe, er erneuert das klassische Verhältnis zwischen Souveränität, Entscheidung und Ausnahmezustand und schreibt dem politischen Herrscher damit eine Ordnungsleistung zu, die der des göttlichen Schöpfers strikt analog ist. Andererseits ist Carl Schmitt, was bislang gar nicht so gesehen wurde, Politischer Theologe wider besseres Wissen. So weiß er zum Beispiel, dass wir unter Bedingungen leben, die „von ratio und status heute weit entfernt" sind und es ist eben das Thema der Politischen Romantik, den Grad dieser Entfernung zu bestimmen. „Das Klassische" definiert Schmitt im Begriff des Politischen einmal als die „Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen" (BdP, II) 1 . Aus der Perspektive eines klassischen Beobachters erscheint die gegenwärtige Lage, wie es heißt, als eine „verwirrte Zwischensituation von Form und Unform" (BdP, 12). Sein Buch über die Romantik beschreibt, wie das in diesem Sinne verstandene Klassische der Expansion einer neutralisierenden ,Diskussions'-Kultur zum Opfer fallt, fur die Ideen nurmehr Anknüpfungspunkte, occasiones fur weitere Ideen sind. Statt ihre unverwechselbare Identität in einem „Kern" zu besitzen, gewinnen die Ideen ihre Funktion durch ihre ,Fähigkeit', etwas anderes, Überraschendes anschließen zu lassen, sie sind Ereignisse ohne jede Essenz, die nur kurzfristig Aufmerksam-
1 Monographien und Aufsatzsammlungen Carl Schmitts werden im Text mit den folgenden Siglen zitiert: BdP = Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963; BdP 3 = Der Begriff des Politischen, 3. Ausgabe, Hamburg 1933; LM = Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Köln 1981 [1942]; LP = Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1961 [1924]; PB = Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1923 - 1939, Hamburg 1940; PR = Politische Romantik, Berlin 1982 [1925]; PTh = Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Nachdruck der 2. Aufl. von 1934, Berlin 1985; PTh II = Carl Schmitt, Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1984; RK = Römischer Katholizismus und politische Form, München 1925; VI = Verfassungslehre, Berlin 1983 [1928],
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Friedrich Balke
keit binden und im Moment ihres Auftauchens schon wieder zerfallen. Die Produktivität des Ästhetischen triumphiert über den Zwang zur Ordnung und Konsequenz, in dem Schmitt die Gemeinsamkeit der klassischen ratio und des klassischen Staates - und in diesem Sinne: der Staatsraison - sieht. Der Begriff der occasio, den Schmitt in das Zentrum seiner Definition des Romantischen („subjektivierter Occasionalismus") stellt, erhält seine eigentliche Bedeutung durch seinen Gegensatz: „er verneint den Begriff der causa, das heißt den Zwang einer berechnenden Ursächlichkeit, dann aber auch jede Bindung an eine Norm. Er ist ein auflösender Begriff, denn alles, was dem Leben und dem Geschehen Konsequenz und Ordnung gibt [...], ist mit der Vorstellung des Occasionellen unvereinbar." (PR, 22) Wir haben es im Fall des Occasionellen, bildlich gesprochen, mit einer durchschnittenen Kausalität zu tun: Ursache und Wirkung sind auseinandergerissen und gegeneinander verschoben, die Ursachen werden zu (unspezifischen) Anlässen, Gelegenheiten', die ihre Wirkung nicht kontrollieren können und gerade dadurch ein hohes Erregungs- bzw. Resonanzpotential mit sich fuhren. Dass Ursache und Wirkung ihr gemeinsames Maß verloren haben, dass keine ,sinnvolle' Proportionalität, keine Symmetrie mehr zwischen ihnen herrscht, dass kleine Ursachen große Wirkungen und große Ursachen kleine Wirkungen haben können, dass ein „absolut inadäquates Verhältnis" zwischen ihnen besteht, verschärft vor allem, wie Schmitt klar sieht, das nicht zuletzt auch politische Problem der Kontrolle bzw. der Berechenbarkeit dieser „Relation des Phantastischen" (PR, 121). Die spezifische Modernität des Schmittschen Dezisionismus erkennt man daran, dass er sich als - verzweifelte - Antwort auf die Herausforderung der Unabschließbarkeit und thematischen Ruhelosigkeit' moderner, massenmedial organisierter Kommunikation versteht. Mit dem Occasionellen hat Schmitt präzise jenes Phänomen im Auge, das die soziologische Systemtheorie unter dem Stichwort Sinn behandelt: Sinn „erscheint in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns"2. Dieser Verweisungsüberschuss erklärt die Entstehung der Vorstellung eines ,unendlichen Gesprächs', das nicht mehr nur auf die Salons begrenzt ist, sondern sich auf die Gesellschaft insgesamt ausweitet. Mit der „aus dem Nichts geschaffene[n] absolute[n] Entscheidung" reinszeniert der Politische Theologe die Transzendenz eines souveränen Subjekts, dem er zutraut, auch das ideen- bzw. kommunikationsverlorene gesellschaftliche Immanenzfeld zu re-subjektivieren, so dass der „Augenblick des letzten Kampfes" (PTh, 83), der aller Diskussion ein Ende bereitet, kommen kann. Im übrigen buchstabiert Schmitt die Logik des Occasionellen auch rationalitätstheoretisch aus und macht auf diese Weise deutlich, dass sich ihre Wirksamkeit trotz einer unzweifelhaft ästhetischen Signatur keineswegs auf die Sphäre der Künste beschränken lässt. Die occasionelle Vernunft steht nicht mehr im Bann des Zweck/Mittel-Schemas, weder strebt sie eine fortgesetzte .Rationalisierung' der Mittel an, mit denen sich ein bestimmter Zweck erreichen lässt, noch auch versteht sie sich als eine Instanz zur Reflexion der Zwecke und Ziele, die ,souverän' über die notwendigen Mittel disponiert. Weil, wie Schmitt apodiktisch formuliert, der Occasionalist „nicht wirken, noch weniger etwas erzwingen" will (PR, 137), geht er die Probleme nicht frontal an, um sie durch Lösungen zu ersetzen, sondern betrachtet sie gleichsam aus den Augenwinkeln und
2 N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1994, S. 93.
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im Bewusstsein ihrer prinzipiellen Unlösbarkeit: „Die Eigenart des geistigen Typus, den man als occasionalistisch bezeichnen kann, liegt zunächst darin, dass er statt der Lösung des Problems eine Auflösung der Faktoren des Problems gibt" (PR, 135), das heißt aber: der Beobachterabhängigkeit von Zuständen, die als problematisch und lösungsbedürftig betrachtet werden, Rechnung trägt. Der Occasionalist antwortet nicht auf die Fragen, die man ihm stellt, sondern nimmt sich das Recht heraus, die in der Problemstellung versteckten Präsuppositionen zu thematisieren und aufzulösen'. Der Occasionalist ist, mit einer Wendung Dirk Baeckers gesprochen, ein postheroischer Manager.3 Sein Wahlspruch ist schon derjenige der philosophischen Occasionalisten des 17. Jahrhunderts, die allein Gott das Privileg des wirksamen Handelns zugestanden und die innerweltlichen Vorgänge zu bloßen ,Anlässen' für sein Handeln herabsetzten: „Spectator sum in haec scena, non actor (Geulincx)" (PR, 125). Hat Schmitt nun aber für seine eigene politische Begriffsbildung die Lektion der occasionellen Welt gelernt? Schmitt hat sehr genau gesehen, wie die „Relation des Phantastischen" auch in die Sphäre der Politik Einzug hält und deren konstitutive Unterscheidungen wie überhaupt alle „sachlichen Gegensätze" in ein Spiel der Differenzen transformiert, das nicht mehr in einem Repräsentationsverhältnis zu den Dingen, den ,wirklichen' beziehungsweise ,seinsmäßigen' Kämpfen und Konflikten steht. Schmitt erkennt in der Romantik die Speerspitze eines umfassenden Prozesses der politischen und gesellschaftlichen Derealisierung. Symptomatisch ist daher die Überschrift eines Kapitels der Politischen Romantik, das die Bewegung des modernen Denkens seit der cartesianischen Spaltung des Seins in zwei Welten {res cogitans und res externa) als „La recherche de la Realit£" (PR, 77) versteht. Mit dieser Formel ist zugleich die zentrale Antriebskraft des politischen Denkens Carl Schmitts benannt. Denn obwohl Schmitt bereits in der Politischen Romantik offen ausspricht, wie „alle sachlichen Gegensätze und Unterschiede, Gut und Böse, Freund und Feind, Christ und Antichrist, zu ästhetischen Kontrasten und zu Mitteln der Intrige eines Romans werden" (PR, 21), schlägt er knapp zehn Jahre später einen Begriff des Politischen vor, der in der Unterscheidung von Freund und Feind den Garanten für einen nicht funktionalisierbaren und nicht fiktionalisierbaren, einen originären, „seinsmäßigen" und „existenziellen" Sinn ausmacht. Die „Todes- und Tötungsbereitschaft" der existentiell Verfeindeten mag auch weiterhin ein historisches Faktum sein, wer wollte das bestreiten. Aber Schmitt konnte wissen, dass sie im Zeitalter der massenmedialen Kommunikation bzw. des „unendlichen Gesprächs"4 über das Argument nicht länger dazu taugt, die Wahrheit oder Authentizität, die „Seinsmäßigkeit" eines politischen Engagements zu verbürgen.
2. Der Kopf des Königs Von Michel Foucault stammt das Wort: „Im politischen Denken und in der politischen Analyse ist der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt."5 Schmitts Werk, die Hartnäckigkeit, mit der er die Figur des Souveräns, ihre .durchbrechende' und .konstituierende' Hand-
3 Vgl. D. Baecker, Postheroisches Management. Ein Vademecum, Berlin 1994. 4 Schmitt sprach selbst vom Sieg der „plakatmäßig eindringliche[n] Suggestion" beziehungsweise des ,„Symbol[s]'" (LP, 11). 5 M. Foucault, Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, Frankfurt/Main 1977, S. 110.
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lungsmacht (der nationale Souverän als pouvoir constituent) in den Mittelpunkt seines Denkens stellt, gibt eine perfekte Illustration zu dieser Einschätzung Foucaults ab. Auch wenn Schmitt im berühmt-berüchtigten Einleitungssatz der Politischen Theologie - „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." (PTh, 11) - kein Subjekt benennt, das die Position des Souveräns einnimmt, hält er doch an der Notwendigkeit eines souveränen Platzes fest. Um sich als Staatsrechtslehrer das Denken der modernen Macht, die eben nicht länger vom Staat monopolisiert wird, zu ersparen, so meine These, bekennt sich Schmitt als Politischer Theologe. Die Souveränität drängt sich dem Juristen mit derselben Evidenz auf, mit der eine epistemologisch „naive Seele" auf dem Gebiet der Chemie die Irreduzibilität des Feuers behauptet, obwohl sich die Wissenschaft längst von diesem Problem abgewandt hat. Ich zitiere den französischen Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard, der Leser ersetze lediglich „Feuer" durch Souveränität: „Das Feuer ist kein wissenschaftliches Objekt mehr. Das Feuer, das sich der Wahrnehmung unmittelbar aufdrängt, das zu einer Entscheidung nötigt, indem es sehr viele andere Phänomene verdrängt, eröffnet dem wissenschaftlichen Studium keine Perspektiven mehr."6 Das Feuer, die Souveränität: Sie sind - in der Begrifflichkeit Bachelards - zu regelrechten obstacles epistemologiques geworden, wobei die wissenschaftliche Sterilität der durch sie aufgegebenen Probleme nichts über den Grad ihrer sozialen und kulturellen, ihrer .symbolischen' Wirksamkeit aussagt. Selbst wenn ein vermeintlicher Gegenstand des Denkens als „Irrtum" durchschaut ist, bleibt er - und das rechtfertigt unter anderem eine mehr als bloß geistesgeschichtlich interessierte Beschäftigung mit Autoren wie Carl Schmitt - „als Gegenstand glücklicher Polemik erhalten", wie Bachelard formuliert.7 Die den Prozess der Durchsetzung des modernen Territorialstaates begleitende und reflektierende Lehre von der Souveränität scheint in einem Zeitalter, in dem das positive Recht immer weniger in der Lage ist, das konkrete Spiel der Machtverfahren zu ordnen und längst Bestandteil der bürokratischen Machtapparate geworden ist, die einzige Gewähr dafür zu bieten, dass die „Eigenbedeutung des Subjekts" (PTh, 46) und damit die Unberechenbarkeit der Entscheidung - ihr „mystischer Grund" (Derrida) - weiterhin das Spezifikum der juristischen Form ausmacht. Weil das positive Recht sich der technischen Form bzw. dem „Ideal des reibungslosen Funktionierens" (PTh, 38) untergeordnet und damit seinen Charakter als Recht eingebüßt hat, vermag nach Schmitt allein ein Ausnahme-Recht, das eine „prinzipiell unbegrenzte Befugnis, das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung" (PTh, 18) kennt, die juristische Form und ihren hyperbolischen Überschwang8 zu bewahren. Schmitts Souveränitätslehre ist im Kern eine Lehre von der Suprematie des Rechts als Form, das sich im Zeitalter einer Macht, die darin besteht, „etwas zu bewirken" (Spinoza), weil sie die Kräfte bewirtschaftet, statt sie in Ketten zu legen, nur noch mit der Drohung unabsehbarer Destruktion, also ,negativer Produktion', zur Geltung bringen kann. Nun kann man zeigen, dass Schmitt, noch bevor er seine um den „Grenzbegriff' der Souveränität zentrierte Politische Theologie (1922) ausarbeiten sollte, bereits wusste, dass 6 G. Bachelard, Psychoanalyse des Feuers, Frankfurt/M. 1990, S. 6f. 7 Ebd., 132. 8 „In seiner absoluten Gestalt ist der Ausnahmefall dann eingetreten, wenn erst die Situation geschaffen werden muß, in der Rechtssätze gelten können." (PTh, 19)
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ihre klassische Phase unwiderruflich abgelaufen war und dass es nun allenfalls noch darum gehen konnte, das Regime der Souveränitätsgesellschaft unter den Bedingungen einer ganz anders gearteten Machtökonomie, gegen sie oder im - paradoxen - Bündnis mit ihr zu rekonstruieren, einer Machtökonomie, für die Schmitt zunächst keinen Namen fand, deren Wirkungsweise er aber schon früh mit literarischen Mitteln zu beschreiben versuchte. Schmitts 1917 geschriebener „geschichtsphilosophischer Versuch" Die Buribunken, der in der von Franz Blei herausgegebenen Vierteljahresschrift Summa erschien9, ist eine frühe Satire auf jene bereits im 19. Jahrhundert erfundene normalisierende Wissens-Macht, deren Analytik Michel Foucault dann in den sechziger und siebziger Jahren schreiben sollte. Im 19. Jahrhundert nämlich vollzieht sich eine systematische Ausweitung des zunächst auf den religiösen und strafrechtlichen Bereich beschränkten Einsatzes des Geständnisrituals, das nunmehr auch in den entstehenden Wissenschaften vom Menschen zur höchstbewerteten Technik der Wahrheitsproduktion avanciert: „mit größter Genauigkeit bemüht man sich zu sagen", so Foucault, „was zu sagen am schwersten ist; man gesteht in der Öffentlichkeit und im Privaten, seinen Eltern, seinen Erziehern, seinem Arzt und denen, die man liebt; man macht sich selbst mit Lust und Schmerz Geständnisse, die vor niemand anders möglich wären, und daraus macht man dann Bücher"10. Indem man gesteht, bringt man allererst hervor, was man bloß zu enthüllen vorgibt: Man erzeugt jene nicht länger christliche, typisch moderne „Seele", die das „Element" abgibt, „in welchem sich die Wirkungen einer bestimmten Macht und der Gegenstandsbezug eines Wissens miteinander verschränken"11. In den „Buribunken" beschreibt Schmitt eine Gesellschaft, die es jedem ihrer Mitglieder zur Pflicht macht - und alles unternimmt, damit aus der Pflicht eine beständige Neigung wird - , ein permanentes Tagebuch über sich selbst zu fuhren, und ausdrücklich zum Protokoll nicht nur der abseitigsten, Gefühlsregungen, sondern auch zur Dokumentation der Ablehnung dieser Pflicht ermutigt. In dem Maße, wie die moderne, wesentlich ,anreizende' Macht, die die Körper gelehrig macht und zum Sprechen bringt, als Schriftmacht12 an komplexe Aufzeichnungsapparate angeschlossen ist, konstituiert sie das .Individuum' (für Schmitt die „Privatsache" und damit das .Unpolitische' schlechthin) als immer weiter auflösbares Wissensobjekt und piaziert es gleichzeitig in ein statistisch gewonnenes und kontrolliertes Vergleichsfeld, „das die Messung globaler Phänomene, die Beschreibung von Gruppen, die Charakterisierung kollektiver Tatbestände, die Einschätzung der Abstände zwischen den Individuen und ihre Verteilung in einer ,Bevölkerung' erlaubt". Diese Dokumentationstechniken gestatten es, aus jedem Individuum einen ,FalV zu machen und seine .Kräfte', seine komplexe .Virtualität' abzuschätzen (seine soziale Gefährlichkeit ebenso wie seine mögliche Nützlichkeit), was eine folgenreiche „Umkehrung der politischen Achse der Individualisierung" voraussetzt. War die von Foucault so genannte „gemeine Individualität", die Schmitt .niedrig' nennt, lange Zeit unterhalb der Wahmehmungs- und Beschreibungsschwelle geblieben, war es über Jahrhunderte hinweg ein Privileg und Ritual der herausgehobenen politischen Macht, betrachtet, beo-
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C. Schmitt, „Die Buribunken. Ein geschichtsphilosophischer Versuch", in: Summa. Eine Vierteljahresschrift, 4. Viertel, 1918, S. 89-106. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 76. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1983, S. 42. Für das folgende ebd., S. 244-248.
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bachtet und erzählt zu werden, erreichte „die Individualität ihren höchsten Grad in den höheren Bereichen der Macht und am Ort der Souveränität", so löst der neue Machttyp die Individualisierungsprozeduren von der überkommenen Heroisierungsfunktion, dem „Pathos von gloire und honneur" (Schmitt) und stellt sie dem Geschäft der Ermittlung kleiner und kleinster Unterschiede zwischen beliebigen Individuen zur Verfügung. Der Individualität, die die Zielscheibe der neuen Machtökonomie bildet, geht die „Besonderheit gesteigerten und repräsentationsfähigen Seins" (VI, 210), an dessen Vorliegen Schmitt die Möglichkeit des Politischen bindet, vollständig ab; die neue Spielart der Macht interessiert sich ganz im Gegenteil um so intensiver für den einzelnen ,Fall', je .niedriger' er in sozialer Hinsicht (der Arbeiter), in medizinischer (der Kranke), in pädagogischer (das Kind), in psychologischer (der Wahnsinnige) oder in juristischer (der Kriminelle) eingestuft wird. Schmitt legt im Medium des literarischen Diskurses Zeugnis ab vom Problem des Eintritts der „gemeinen Individualität" in das Feld des Wissens, von der Entstehung jener „ruhmlosen Archive" - in den Buribunken ist vom „obligatorischen Kollektivtagebuch" 13 die Rede - , die das Ergebnis einer Ausweitung der politisch-,polizeylichen' Beobachtung sind auf,alles, was passiert', und in denen sich die „Geburt der Wissenschaften vom Menschen" 14 vollzogen hat. Dass die Erforschung und Auswertung von Pathologien bzw. Abweichungen (.kleinste Fehler') der Einsatz des obligatorischen Kollektivtagebuchs ist (dessen organisatorische Details Schmitt ausfuhrlich erörtert: tägliche Sichtung, lokale, regionale und zentrale Auswertung, Anlage von Sach- und Personalregistern, die es gestatten, „sofort die jeweils interessierenden Verhältnisse der einzelnen Personen zu ermitteln"), macht das Beispiel deutlich, das Schmitt für die Nutzung des katalogisierten Geständniswissens gibt: „Wollte zum Beispiel ein Psychopathologe sich dafür interessieren, welche Träume eine bestimmte Klasse von Buribunken während ihrer Pubertätszeit gehabt hat, so könnte das einschlägige Material an der Hand der Zettelkataloge in kürzester Zeit zusammengestellt werden." Für die moderne Macht und ihre normalisierende, dominant inklusive Funktionsweise, die kein Außerhalb duldet, ist weiterhin ihre selbstreferentielle Funktionsweise typisch: „Die Arbeit des Psychopathologen würde ihrerseits aber ebenfalls wieder der Registrierung unterliegen, so dass etwa ein Historiker der Psychopathologie in wenigen Stunden zuverlässig ermitteln kann, welche Art psychopathologischer Studien bisher betrieben wurde und gleichzeitig - das ist der größte Vorteil der Doppelregistrierung - aus welchen psychopathologischen Motiven diese psychopathologischen Studien zu erklären sind." 15 Der Anwendungsbereich des pathologischen Blicks bezieht, wie man sieht, auch diejenigen ein, die seine Wirksamkeit gewährleisten. Für den Politischen Theologen liegt die eigentliche Brisanz der buribunkischen Machtverfahren in der weitgehendsten Einschließung des Anderen, den Schmitt dann später den Feind nennen und dessen Ausschluss er zum Inbegriff des Politischen machen wird. Die nicht länger dominant repressiv oder .abschöpfend', sondern regulatorisch und normalisierend wirkende, den Staat auf Statistik umgründende Macht lässt sich eine Grenze nicht vorgeben, sondern legt sie immer wieder aufs neue durch die flexible Bestimmung von ,Grenz-
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C. Schmitt, „Die Buribunken", S. 101. M. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 246. C. Schmitt, „Die Buribunken", S. 101.
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werten' und Toleranzzonen fest, so dass das ,Verbotene' nicht aufhört, umstritten zu sein und einen Bereich hochgradig affektiver Ambivalenz konstituiert. Es ist zu beachten, so Schmitts fiktiver Berichterstatter, „dass in dem Reich der Buribunken eine unbegrenzte, alles verstehende, nie sich entrüstende Toleranz und der höchste Respekt vor der persönlichen Freiheit herrschen" - sofern die Inanspruchnahme dieser Freiheit nicht mit den Imperativen der buribunkischen Verwertung kollidiert. Nicht nur die Dokumentation des Unvermögens zur Tagebuchführung, auch die Ablehnung dieser Institution ist ausdrücklich erwünscht, denn „die unbedingte Freiheit der Meinungsäußerung" ist der „Lebensnerv" des buribunkischen Daseins: „Es besteht sogar eine angesehne Vereinigung, die es sich zur Aufgabe macht, das Antiburibunkentum buribunkisch zu erfassen, wie ja auch ein eigener Betrieb eingerichtet ist, um dem Ekel und Abscheu vor dem Betrieb und sogar den Protest gegen die Pflicht zum Tagebuch in eindrucksvollen Eintragungen zur Geltung zu bringen."16 Die Pflicht zur Publikation bzw. zur Verwertung der ,Erlebnisse' umgreift ihre eigene Negation - sofern sie nur publiziert wird! Obwohl Carl Schmitt sich also in seinem Werk der expliziten machtanalytischen Argumentation enthält und ein vormodernes Freund-Feind-Denken reaktiviert, ahnt man vor dem Hintergrund dieser äußerst kursorischen Analyse der „Buribunken", in welchem Maße er sich einem fundamentalen Wandel in der Ausübungsmodalität der Macht bewusst war, der keinen der fur die Beschreibung des neuzeitlichen Staates zur Verfugung stehenden klassischen Begriffe unangetastet lässt. Schmitt erweist sich aus dieser Perspektive als ein FreundFeind-Denker wider besseres Wissen. Immer wenn er sich der Problematik moderner Machtverhältnisse widmet, ohne notwendigerweise den Namen der Macht ins Spiel zu bringen, immer wenn er sich in die Region begibt, in der die Politik das Leben in einem Bereich von Wert und Nutzen organisiert, statt sein höchstes Privileg darin zu sehen, sein souveränes Recht zum Töten auszuspielen, zeigt er ein höchst waches Bewusstsein für die Historizität des Kategorienapparates, der seine Analysen leitet. Eine Macht, die selbst den „rebellischen Geist", wie es in den Buribunken anerkennend heißt, ausdrücklich ermuntert, scheint die Unterscheidung von Freund und Feind, auf die Schmitt das Politische später festlegt, längst hinter sich gelassen zu haben. Aber Schmitt erkennt zugleich die ,absolute Grenze' dieser Macht darin, dass sie die Abweichung und die Rebellion nur so lange toleriert, wie sie der Gesellschaft produktive Kräfte zufuhren: „Wer, statt zu schreiben, dass er sich weigere, das Schreiben wirklich unterlässt, macht von der allgemeinen Geistesfreiheit einen falschen Gebrauch und wird wegen seiner antisozialen Gesinnung ausgemerzt."17 Nicht in der Preisgabe unseres Eigensinns und unserer konstitutionellen Anti-Sozialität, sondern in ihrer Überwachung und lückenlosen Dokumentation, in der Selbstverdatung besteht unsere ,soziale Pflicht', wenn anders sich die Gesellschaft weiterentwickeln soll. Die Utopie der Normalisierungsgesellschaft kreist um den Begriff der Entwicklung, wie Franc i s Ewald festgestellt hat.18 Von denen, die das Tagebuchschreiben wirklich unterlassen, heißt es denn auch bei Schmitt: „Das Rad der Entwicklung geht schweigend über den Schweigenden hinweg, es ist von ihm nicht mehr die Rede"19. Der politische Imperativ heißt 16 17 18 19
Ebd., S. 102. Ebd. F. Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt/M. 1993, S. 474. C. Schmitt, „Die Buribunken", S. 102.
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nicht länger: Gehorcht!, sondern: Beireit euch!, entwickelt eure Kräfte und Fähigkeiten, wie abseitig sie euch auch erscheinen mögen, die Gesellschaft braucht sie. Mit seinem um das souveräne Verfugungsrecht des ius belli zentrierten Begriff des Politischen wollte Schmitt diesem sozialen Produktivismus widersprechen; noch seine letzte Buchveröffentlichung aus dem Jahre 1970 greift die Problematik der Buribunken auf und wendet sich polemisch gegen den ,,unaufhörliche[n] Prozeß-Progreß" (PTh II, 125) (also eine permanente, .eindimensionale' Entwicklung ohne revolutionäre bzw. gegenrevolutionäre .Sprünge'). Wenn Schmitt nach 1933 im ,Führerstaat' das Ende des Buribunkentums begrüßte, dann verkannte er völlig (und bis zuletzt), dass das souveräne Recht, prinzipiell jeden Untertanen dem Tode auszusetzen, nicht länger von der juristischen Person des .Führer-Monarchen' monopolisiert, sondern von all jenen über die formierte NS-Gesellschaft verstreuten Organisationen und Personen ausgeübt wurde, die mit der Durchsetzung der sanitären Utopie des NSRegimes betraut waren. Statt, wie Schmitt dachte, mit der Rückkehr zur Souveränität die Biopolitik zu überwinden, verlieh die Rückkehr zur Souveränität der Biopolitik allererst ihre exterministische Logik.
3. Vordenker der Vernichtung? „Lange Zeit war das Blut ein wichtiges Element in den Mechanismen, Manifestationen und Ritualen der Macht", schreibt Michel Foucault. Schmitts Begriff des Politischen ist ganz dieser Symbolik des Blutes verpflichtet und begrüßt im NS-Regime die Rückkehr des Blutes und eines bestimmten ,Geblütes' auf die Bühne der Politik20. „Der Staat als die maßgebende politische Einheit", so Schmitt im Begriff des Politischen, „hat eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit Krieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu verfugen." (BdP, 46) Die Unterscheidung von Freund und Feind ist deshalb der äußerste Gegensatz, weil er im Unterschied zu allen Kontrasten, Konkurrenzen und Intrigen den Menschen „das Opfer ihres Lebens" abverlangt und dieselben Menschen ermächtigt, „Blut zu vergießen und andere Menschen zu töten" (BdP, 36). Um einen Archaismus mit aktueller Funktion handelt es sich bei dieser blutvergießenden Macht deshalb, weil es seit einem Jahrhundert nicht mehr die höchste und vornehmste Funktion der Macht ist, „durch das Blut hindurch" zu sprechen, wie Foucault zeigt, weil ihre Mechanismen „auf den Körper, auf das Leben und seine Expansion, auf die Erhaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung oder Nutzbarmachung [und Mobilisierung, Vf.] der ganzen Art" abzielen. Was philosophisch mit der Bio-Macht auf dem Spiel steht, hat Foucault unmissverständlich klar gemacht: „Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben, was er fur Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht." 21
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„Nach den Gesetzen vom 15. September sind deutsches Blut und deutsche Ehre Hauptbegriffe unseres Rechts", schreibt Schmitt in seinem Kommentar (unter dem Titel: „Die Verfassung der Freiheit") zu den Nürnberger Gesetzen von 1934. In: Deutsche Juristen-Zeitung, 40. Jg., H. 19, S. 1135. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 171.
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Der von Schmitt durchweg behauptete Zusammenhang von Normalität
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tät22, von Gesetz und Schwert löst sich auf und an seine Stelle tritt ein keinem Subjekt mehr zurechenbares soziales Regulationsgeschehen 2 3 , das anstelle der qualitativen, .absoluten' Unterscheidung von Freund und Feind die graduelle Differenz von N o r m und A b w e i c h u n g piaziert, eine Differenz, deren Brisanz, w i e das gerade ablaufende Jahrhundert gezeigt hat, darin besteht, dass sie sich die Freund/Feind-Unterscheidung unterordnet, um sie zu einem Instrument der Durchsetzung des Lebens zu machen. 2 4 D i e s e Entwicklung hin zu einem „Zeitalter der Neutralisierung und Entpolitisierung" (BdP, 7 9 - 9 5 ) , zur Parasitierung des Politischen durch die Bio-Macht, die Schmitt, w i e gezeigt, bereits in frühen Texten w i e den Buribunken
satirisch kommentiert hatte, sah er durch die Ereignisse des Januar 1933 buch-
stäblich aufgehalten.
Schmitt gab sich den Träumen von einer Rückkehr des klassisch-
souveränen Machtregimes hin - und die blutigen Ereignisse etwa v o m Juni 1934 mussten ihn in der Auffassung bestärken, dass hier Politik wieder auf .barbarische' W e i s e betrieben wurde, in dem Sinne, w i e er sie in den Stücken Shakespeares bewunderte. 2 5
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„Es muß eine normale Situation geschaffen werden, und souverän ist derjenige, der definitiv darüber entscheidet, ob dieser normale Zustand wirklich herrscht." (PTh, S. 20) In dem der Staat - als politisches System - weiterhin eine wichtige Rolle spielt, aber nicht mehr die dominierende und schon gar nicht eine souveräne. Mit dem Übergang von der stratifikatorisch zur funktional differenzierten Gesellschaft in Europa (um 1800) gelingt es keinem sozialen Teilsystem mehr, sich den anderen Systemen überzuordnen und ihre Wirksamkeit in Übereinstimmung mit dem, was der Gesellschaft im Ganzen gut und not tut, zu begrenzen. Die moderne Gesellschaft ist weder (in ihr selbst) repräsentierbar noch auch unilateral steuerbar. Eben weil Adressaten für diese Funktionen entfallen, der Bedarf nach der Unterstellung der Existenz solcher Adressaten aber keineswegs verschwindet, wird ,Unregierbarkeit' notorisch und intensivieren sich Steuerungsbemühungen, die sich die prinzipielle Unmöglichkeit ihres Vorhabens verbergen müssen, auf allen Ebenen der Gesellschaft. Man hört nicht auf, etwas zu tun, von dem man wissen kann, dass es Effekte zeitigen wird, die ihrerseits zum ,Gegensteuern' Anlass geben. Steuerungsprozesse unter diesen Bedingungen funktionieren also selbstverstärkend. Vor allem ändert sich die Logik sozialer Interventionen, insofern sie nicht mehr die Reduktion von Abweichungen bewirken, sondern ihre unvermeidliche Verstärkung begleiten und kontrollieren sollen. „Wenn der Völkermord der Traum der modernen Mächte ist, so nicht aufgrund einer Wiederkehr des alten Rechts zum Töten, sondern eben weil sich die Macht auf der Ebene des Lebens, der Gattung, der Rasse und der Massenphänomene der Bevölkerung abspielt." Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 164. Wenn Schmitt allerdings in seinem Kommentar zur Reichtagsrede Hitlers vom 13. 7. 1934 schreibt „Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes" und wenn er zuvor die rächende „Gerichtsbarkeit" des Führers ausdrücklich von der „Aktion eines republikanischen Diktators" unterscheidet, „der in einem rechtsleeren Raum, während das Gesetz für einen Augenblick die Augen schließt, vollendete Tatsachen schafft, damit dann, auf dem so geschaffenen Boden der neuen Tatsachen, die Fiktionen der lückenlosen Legalität wieder Platz greifen können" (PB, S. 200), dann scheint er selbst einem permanenten Ausnahmeregime das Wort zu reden, das seine jeweiligen Maßnahmen ausschließlich am biopolitischen Leitwert des völkischen ,Lebensrechts' orientiert. Aber in demselben Text weicht Schmitt vor den Konsequenzen eines permanenten Ausnahmeregimes zurück, wenn er das Gesetz zur nachträglichen Legalisierung des Röhm-Massakers zum Beweis dafür nimmt, dass „seit Sonntag, dem 1. Juli nachts, der Zustand ,normaler Justiz' wiederhergestellt ist". Das keinerlei Einschränkungen unterliegende ,Führerhandeln' („Inhalt und Umfang seines Vorgehens bestimmt der Führer selbst.") wird nachträglich von „,Sonderaktionen'" und ,,unzulässige[m] Sondervorgehen" unterschieden, für das „eine besonders strenge Strafverfolgung" angemahnt wird (PB, S. 202). Dass das NS-Regime seiner ganzen politischen Logik nach auf eine systematische Ersetzung des ,normalen' Vorgehens durch Sondervor-
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Statt, wie Schmitt, nach 1939 in den Massakern des deutschen Vernichtungskrieges die blutige Genese eines neuen Nomos (,Großraum') zu beschwören und mit Hölderlin zu behaupten: „Auch hier sind Götter und walten,/ Groß ist ihr Maß" (LM, 107), hätte er nicht umstandslos vom Blut auf die Art der Macht schließen sollen, die es vergießt. Dass es fließt, kann nämlich ganz Verschiedenes bedeuten. Schmitt hat den kriegerischen Expansionismus des NS-Regimes lediglich als Zeichen für das Wiedererstarken der souveränen potestas begriffen - „Aus einer schwachen und ohnmächtigen ist eine starke und unangreifbare Mitte Europas geworden", schreibt er 1939 vor Ausbruch des Krieges - und er hat daher auch die völkische Ideologie ernst genommen, die für ihn Ausdruck der „Achtung jedes Volkes als einer durch Art und Ursprung, Blut und Boden bestimmten Lebenswirklichkeit" war, so dass er sich von ihr eine „Ausstrahlung in den mittel- und osteuropäischen Raum" erhoffte (PB, 312). Die Drohung, als die sich dieser Satz für die Bevölkerungen dieses ,Raumes' herausstellen sollte, war Schmitt offensichtlich nicht bewusst - als sie manifest war, weigerte er sich hartnäckig, sie zur Kenntnis zu nehmen. Schmitt war kein „Vordenker der Vernichtung" 26 , weil der Feind - nach den Kriterien des Begriffs des Politischen - nur dann zu töten war, wenn er sich nicht in seine Grenzen zurückweisen ließ, so dass Schmitt außenpolitisch eine völkische Apartheid unter der Dominanz einer souveränen Großmacht als internationales Herrschaftsmodell vorschwebte. Der lange vor 1933 entfaltete identitäre Demokratiebegriff Schmitts, der auf der Homogenität des Volkes beruht, impliziert zwar die „Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen" - aber, diese Einschränkung ist keineswegs bloß ornamental, lediglich ausnahmsweise bzw. „nötigenfalls" (LM, 14) also nicht als permanentes .völkisches' Selbstreinigungsritual. Die „Vordenker der Vernichtung" jedoch, die das Volk als einen Gegenstand des Wissens sowie einer unablässig rangabstufenden und intervenierenden Macht behandeln, lösen die Vernichtung aus dem Zusammenhang mit dem - exzeptionellen - (kriegerischen) Ernstfall und schreiben sie in die Normalität der alltäglichen Machtausübung selbst ein. Der kriegerische Ernstfall ist nicht mehr der exemplarische Fall des staatlich angeordneten Blutvergießens, er erhält vielmehr eine weitere Funktion, die sich seiner militärischen Logik unterschiebt (man denke nur an den Kommissarbefehl oder die Kooperation von Wehrmacht und Einsatzgruppen) und sie sich im Fortgang des Krieges immer stärker unterordnen wird: Der Krieg wird im konkreten Fall genutzt, um in seinem Schatten die Vernichtungsmaschinerie der Lager in Gang zu setzen und konsequent auszubauen, so dass die von Hans Mommsen beschriebene kumulative Verschärfung der antijüdischen Maßnahmen seit 1933 in die ungehemmte „Realisierung des Utopischen", also der „Endlösung" münden konnte 27 . Die Frage, auf die das NS-System die Antwort ist, hat Michel Foucault so formuliert: Wie ist es unter den Bedingungen der Bio-Macht möglich, „zu töten, den Tod zu beanspru-
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gehen und Sonderaktionen zielte, ahnt Schmitt, wenn er die Permanenz des Ausnahmezustandes bzw. die Unmöglichkeit einer Rückkehr zur Legalität ausspricht und zugleich die Augen vor den Konsequenzen eines solchen Regimes verschließt, indem er sich den Gedanken an systematischer (nicht lediglich: ausnahmsweiser) Regierungskriminalität fernhält. Vgl. dazu die Studie von Götz Aly und Susanne Heim: Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Hamburg 1991. Vgl. H. Mommsen, „Die Realisierung des Utopischen: Die ,Endlösung der Judenfrage' im .Dritten Reich'", in: W. Wippermann (Hg.), Kontroversen um Hitler, Frankfurt/M. 1986, S. 248-298.
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chen, den Tod zu verlangen, töten zu lassen, den Befehl zu töten zu geben, nicht nur seine Feinde, sondern sogar seine eigenen Bürger dem Tod aussetzen? Wie kann sie sterben lassen, diese Macht, die im wesentlichen leben machen zum Ziel hat?" Man muss dahin gelangen, dass nicht nur der Feind (klassisch-souveräne Machtausübung), sondern „die gesamte Bevölkerung dem Tode ausgesetzt wird." Was den Nazi-Staat kennzeichnet, ist die Überlappung und Universalisierung beider Mächte, der Bio-Macht und der Souveränitätsmacht, genauer: das Funktionieren der Souveränitätsmacht auf dem Feld der Bio-Macht. Er hat „das Feld eines Lebens, das er gestaltet, schützt, garantiert, biologisch züchtet und gleichzeitig das souveräne Recht, irgend jemanden zu töten, - nicht nur die anderen, sondern auch die seinen - absolut koextensional werden lassen"28. Die Macht über Leben und Tod ist nicht länger Privileg des Staates, sie verteilt sich über den gesamten Gesellschaftskörper. Die zahlreichen NS-Organisationen, letztlich aber jeder einzelne - man denke an die Praxis der Denunziationen, die als permanente Drohung über dem gesamten ,Volkskörper' schwebte verfugt über die Macht des Dem-Tode-Aussetzens, das als eine Art permanenter Bewährungstest der Völker imaginiert wird. Schmitt war von dem „Deckmantel einer unbeschränkten Durchstaatlichung"29 der Gesellschaft, die das NS-System vornahm („Gleichschaltung") und an der er in der Entstehungsphase des Regimes selbst nach Kräften mitwirkte30, so fasziniert, dass er den subkutanen Prozess der Ausweitung der biopolitischen Mikro-Mächte schlicht übersah, deren Objekt der Körper im doppelten Sinne war: der individuelle und der kollektiv-statistische der Bevölkerungen. In den Vernichtungslagern triumphierte keineswegs die „alte Mächtigkeit des Todes, in der sich die Souveränität [also die ,Spitze' von Staat und Gesellschaft, Vf.] symbolisierte" (Foucault). In den Worten Raul Hilbergs, des ersten großen Historiographen der „Vernichtung der europäischen Juden": „Die Vernichtungsmasch'ine war ein Aggregat - keine Behörde wurde allein mit der gesamten Operation betraut. Auch wenn ein bestimmtes Amt bei der Durchführung einer bestimmten Maßnahme eine .federführende' Funktion ausgeübt haben mag, hat doch kein einzelnes Organ den gesamten Prozeß geleitet oder koordiniert. Die Vernichtungsmaschine war ein weitläufiger, mannigfaltiger und vor allem dezentralisierter Apparat."31 Der millionenfache Mord an den Insassen der Lager wird in einem Prozess organisiert, in dem das Staats-Recht durchaus eine vorbereitende und begleitende Rolle spielt32, sich jedoch auf einem bevölkerungsregulatorischen Ermöglichungsgrund erhebt („Völkerverschiebungen"), der ihm seinen .Einsatz' und die Grenzen seiner Reichweite vorschreibt (,Lebensrecht'). Dass es sich bei dem NS-Staat nicht so sehr um einen totalen als vielmehr um einen „selbstmörderischen Staat"33 handelt, der sich in blitzartiger Entwicklung einem point of no return näherte, um ihn ohne Zögern zu überschreiten, entzieht sich der Logik ei28 29 30 31 32
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M. Foucault, „Leben machen und sterben lassen. Zur Genealogie des Rassismus. Ein Vortrag", in: Lettre International, 1993, Η. 1, S. 65-67. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 178. Vgl. seine Mitarbeit am sogenannten „Reichsstatthaltergesetz" von 1933, das die Gleichschaltung der Länder mit dem Reich regelte. C. Schmitt, Das Reichsstatthaltergesetz, Berlin 1933. R. Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt/M. 1994, S. 58. bei der „Definition" des jüdischen .Feindes' und der Organisation der diskriminierenden Maßnahmen wie der Aberkennung von Staatsbürgerrechten oder der Durchführung von Enteignungen bzw. .Arisierungen'. G. Deleuze, F. Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie 2, Berlin 1992, S. 315.
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nes Politischen, die letztlich im Bann der monarchischen Repräsentation des Staates und seines ,existenziellen' Interesses an Selbsterhaltung (,Staatsraison') verbleibt. Im biopolitischen Delirium des NS-Staates wird die Feststellung der Schuld vor Gericht durch die permanente Selektion vor der Rampe ersetzt, in dem nicht umsonst die ,Hüter des Lebens', die Mediziner, die Schlüsselstellung einnehmen. Nur sie dürfen im Zeitalter der Bio-Macht, in dem die so ehrwürdige Formel vom politischen Körper' nicht länger bloß eine Metapher ist, sondern eine operative Bedeutung gewonnen hat (eine wissensformierende und praktikenstimulierende Funktion, an die sich wiederum Metaphern ankristallisieren), noch den Tod verhängen, den individuellen ebenso wie den massenhaften. Dass einem Staat die größte Gefahr nicht von jenen manifesten Feinden droht, die ihrerseits im Namen des Staates (eines auswärtigen oder eines zukünftig zu errichtenden bzw. utopischen Staates) sprechen und handeln, sondern von jenen im 19. Jahrhundert erfundenen virtuell gefährlichen Individuen oder Populationen, die einen Gesellschaftskörper systematisch zu .infizieren' und zu ,schwächen' vermögen, ist eine Entwicklung, die immerhin am Rande des Begriffs des Politischen auftaucht, obwohl Schmitt ihren komplexen diskursiven Hintergrund34 - Bevölkerungswissenschaften, Sozial- und Rassenhygiene, Kriminologie, Wanderungsforschung, eliminatorischer Antisemitismus - ignoriert und stattdessen den Grund für die totalitäre .Entgrenzung' des Politischen in der immer schon in ihm angelegten .Totalität', in seinem endogenen (moralischen) Eskalationspotential, ausmacht35 - eine Totalität, die in Krisenzeiten jede institutionelle ,Hegung' durchbricht. Besonders „intensive und unmenschliche Kriege", sind solche, die „über das Politische hinausgehend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien [hier ist Leerstelle des Begriffs des Politischen exakt benannt, Vf.] herabsetzen und zum unmenschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet werden muß, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist." (BdP, 37)
4. Die unteren Stufen des Vernichtungsprozesses Wenn wir Schmitt also auch nicht als einen „Vordenker der Vernichtung" bezeichnen können, so ist andererseits nicht zu übersehen, dass sein eigenes Denken in den Prozess der Vernichtung involviert ist, der über eine Reihe von Stufen, wie sie Raul Hilberg analysiert hat, zur Vernichtung einer als feindlich markierten Bevölkerungsgruppe fuhrt. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, dass der Begriff des Politischen selbst bereits eine heterophobe Markierung des Feindes vornimmt, die Schmitt dann nach 1933 lediglich semantisch zu verstärken braucht, um der Gleichsetzung des Feindes mit dem Fremden eine antisemitische Pointe zu verleihen.36 Der Feind Carl Schmitts ist der Fremde, genauer: der 34
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Zum interdiskursiven und interdisziplinären Möglichkeitsgrund der ,Menschenökonomie' zu Beginn dieses Jahrhunderts vgl. die Studie von U. Gerhard, Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik, Opladen/Wiesbaden 1998. „Nichts kann dieser Konsequenz des Politischen entgehen", selbst der Pazifismus schlägt in einen „Krieg gegen den Krieg" um, wenn er nur seine „Gegnerschaft gegen den Krieg" ernst genug nimmt (BdP, S. 36f.). Vgl. Vf., „Die Figur des Fremden bei Carl Schmitt und Georg Simmel", in: Sociologia Internationalis, Bd. 30, Η. 1, S. 35-59.
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Fremde zweiter Ordnung. Zunächst nämlich gilt, dass der Feind „in einem besonders intensiven Sinne existenziell ein Anderer und Fremder [ist], mit dem im extremen Fall existenzielle Konflikte möglich sind". In dem Maße, wie aber unter den spezifischen kulturellen Bedingungen der Moderne die Fremdheit und ihre Bedrohung für die Sphäre des Eigenen immer stärker kommunikativ konstruiert und konfirmiert werden muss, verliert das Fremde seine unbefragte Vorgegebenheit und „Seinsgemäßheit", dehnt sich die Zone der Eigenheit immer weiter aus und relativiert all jene ,Andersartigkeiten', die in vormodernen Epochen durch „habituelle, praktisch unreflektierte Segregationspraktiken"37 garantiert waren. Der Fremde bei Carl Schmitt ist der Feind ohne Status. In dieser Situation bleibt dann nur noch die Möglichkeit, den eigentlich Fremden und wirklichen, „seinsmäßigen" Feind als denjenigen zu definieren, der die Unterscheidbarkeit des Fremden - und sei es nur durch seine bloße Existenz - in Frage stellt, indem er sich den Freunden .assimiliert' oder für sich die Position des .unparteiischen Dritten' reklamiert und damit die Freund-Feind-Unterscheidung prinzipiell relativiert: „Weder die Frage, ob der ,äußerste Fall' gegeben ist, noch die weitere Frage, was als ,äußerstes Mittel' lebensnotwendig wird, um die eigene Existenz zu verteidigen und das eigene Sein zu wahren - in suo esse perseverare [Spinoza, Vf.] - könnte ein Fremder entscheiden. Der Fremde und Andersgeartete mag sich streng .kritisch', .objektiv', ,neutral', ,rein wissenschaftlich' geben und unter ähnlichen Verschleierungen sein fremdes Urteil einmischen. Seine .Objektivität' ist entweder nur eine politische Verschleierung oder aber die völlige, alles Wesentliche verfehlende Beziehungslosigkeit." (BdP 3. 8). Der Fremde ist mithin derjenige, der .draußen ist', selbst dann, wenn er sich - topographisch gesehen - ,drinnen' befindet. „.Draußen sein'", schreibt Zygmunt Bauman, „bringt den Fremden in die Position der Objektivität·. Er verfügt über einen äußeren, unparteiischen und autonomen Standpunkt, von dem aus die Insider (samt ihrer Weltanschauung, einschließlich ihrer Karte von Freunden und Feinden) beobachtet, überprüft und zensiert werden können. Allein schon das Gefühl, von einem solchen Standpunkt von außen beobachtet zu werden (von einem Standpunkt, der sich im Status des Fremden verdichtet hat), bereitet den Einheimischen Unbehagen"38, die auf die kognitive Inkongruenz des Fremden mit Exklusionsmaßnahmen unterschiedlicher Intensität reagieren können. Mit der 1933 in die dritte Ausgabe des Begriffs des Politischen Eingang findenden Formel von den .äußersten Mitteln' öffnet Schmitt den .regulären' kriegerischen Ernstfall zur eliminatorischen staatlichen Praxis und weist einer solchen .grenzenlosen' Praxis zugleich ein Objekt zu, indem er die wohlbekannten Stereotypen jüdischer Intellektualität mobilisiert, deren absolute und damit unerträgliche und untolerierbare Fremdheit sich in ihrer Weigerung manifestiere, das Fremde und seine intellektuelle Unzugänglichkeit, die Unmöglichkeit seiner Objektivierung und Rationalisierung, zuzugestehen. Schmitts eigene, nach 1933 einsetzende und 1936 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichende publizistische Unterstützung der staatlichen Maßnahmen des NS-Regimes gegen die jüdischen Bürger macht den Topos der „alles Wesentliche verfehlenden Beziehungslosigkeit" zum Kernpunkt seiner antisemitischen Polemik: „Die Beziehung des jüdischen Denkens zum deutschen Geist ist folgender Art: der Jude hat zu unserer geistigen Arbeit eine pa-
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Z. Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 72. Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt/M. 1996, S. 103.
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rasitäre, eine taktische und eine händlerische Beziehung" - also niemals eine das ,Wesen' treffende. ,Der Jude' ist für Schmitt jenes paradoxe Wesen, das über kein eigenes Wesen verfugt und daher vollständig in seiner äußeren Erscheinung aufgeht. Das mit dem modernen Nationalstaat entstehende Assimilationsprojekt hatte die Zugehörigkeit zum homogenen ,Volkskörper' von einer .Wesensänderung' der zu Assimilierenden abhängig gemacht, die auf dem Wege der Aneignung der Mehrheitskultur (Bildung) herbeizufuhren war; fur die antisemitischen Essentialisten steht fest, dass dieses Projekt scheitern musste und nur die eine Wirkung haben konnte: eine spezifisch assimilatorische Subjektivität zu produzieren, die ihr ursprüngliches Wesen verloren hat, ohne jemals ein neues Wesen erreichen zu können. Geschwindigkeit, Anpassungsfähigkeit sowie ein „Maskenwechsel von dämonischer Hintergründigkeit" sind ihm eigen und konstituieren so symbolisch jene absolute Alterität, die die Bedingung der Möglichkeit ,existenzieller' Verfeindung ist. Wir haben, so Schmitt, „überhaupt zu dem innersten Wesen der Juden keinen Zugang", wir kennen „nur ihr Mißverhältnis zu unserer Art", so dass uns zu ihnen nur das Verhältnis der Feindschaft möglich ist.39 Zygmunt Baumann hat die These vertreten, „dass die prägnantesten Merkmale des Judenbildes aus der aktiven oder passiven, direkten oder verborgenen Verwicklung des typisierten Juden in das intensive Ringen der Moderne um Grenzziehung und Grenzerhaltung entstanden sind." Der typisierte Jude, so Bauman weiter, sei „historisch gesehen als universelle Viskuosität in der westlichen Welt konstruiert" worden. Und er fährt fort: „Die Juden saßen auf ziemlich allen Barrikaden, die für die unterschiedlichen Konflikte in der Entwicklung der westlichen Gesellschaft aufgetürmt worden waren. Die Tatsache, dass der typisierte Jude auf so vielen verschiedenen Barrikaden gesichtet wurde, verstrickt in Konflikte unterschiedlichster Art, ließ seine Viskuosität exorbitant erscheinen." 40 Genau von dieser „exorbitanten Viskuosität" ist auch jener Text Carl Schmitts besessen, aus dem bereits zitiert wurde und der 1936 unter dem Titel „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist" erschien. Auch Schmitt sieht die Juden - mit der Formulierung Baumans „rittlings auf den Barrikaden", so dass sie sich der Logik des Bildes zufolge keinem der beiden Lager ,existenzielP zugehörig fühlen, die die Barrikaden jeweils voneinander trennen. ,Die Juden' verkörpern die Wirksamkeit dessen, was der binären Logik des Politischen zufolge strikt ausgeschlossen ist: das Dritte, die Uneindeutigkeit, die Ambivalenz, die Bauman zufolge das entscheidende Kennzeichen der Moderae und zugleich der Grund ihrer fortgesetzten Beunruhigung über sich selbst ist. Weil sie über keine fixe Identität, kein ,Wesen' oder, im NS-Rassej argon zu sprechen, über keine ,Art' verfügen, dürfe man sich nicht wundern, so Schmitt, die Juden auf so verschiedenen Barrikaden zu sichten. Es stecke „kein tieferes Problem darin, dass manche Juden nationalistisch, andere internationalistisch reden und schreiben, dass sie bald konservative, bald liberale, bald subjektive, bald objektive The41
orien vertreten . Die ,Schleimigkeit' der modernen Kultur, ihre Fähigkeit zur Verbindung oder Verschleifiing des Gegensätzlichen, zur „geistigen Promiskuität" (RK, 12): All diese bereits ins Sym39 40 41
C. Schmitt, „Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist", in: Deutsche Juristen-Zeitung, 41. Jg., H. 20, S.l 197f. Z. Bauman, Dialektik der Ordnung, a.a.O., S. 54f. C. Schmitt, „Die deutsche Rechtswissenschaft", S. 1197.
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bolische übersetzten Merkmale der modernen Ambivalenz konzentriert Schmitt nach 1933 im Bild des Juden und seiner „großefn] Anpassungsfähigkeit", die sich „ins Ungeheure" gesteigert habe. Der von Bauman analysierten Zwangsvorstellung der Viskuosität, die als antisemitisches Zentralsymbol jüdischer (Nicht-)Identitätszuschreibung fungiert, lassen sich auch Schmitts Bilder des „Maskenwechsels" und der „Mimikry" sowie der „Virtuosität"42 zuordnen. Der auf diese Weise typisierte Jude, so Bauman, „erfüllte einen wichtigen Zweck. Er symbolisierte die grauenhaften Folgen der Grenzüberschreitung, die jedem drohten, der nicht an seinem Platz blieb und versuchte, bedingungsloser Loyalität oder eindeutiger Entscheidung auszuweichen"43. „Das Klassische ist die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen", definiert Schmitt im 1963 geschriebenen „Vorwort" zur Neuausgabe des Begriffs des Politischen. Das so verstandene Klassische ist unter den Bedingungen der Gegenwart grundsätzlich problematisch, eine Gegenwart, die Schmitt im selben „Vorwort" auch als eine „verwirrte Zwischensituation von Form und Unform" beschreibt (BdP, 1 lf.). Wie man sieht: Die grundsätzliche Diagnose der Ambivalenz und Uneindeutigkeit, der Führungs- und Führerlosigkeit der Moderne - erstmals prägnant in der Politischen Romantik formuliert44 - behält Schmitt bei, ohne freilich öffentlich noch einen konkreten ,Feind' zu benennen, dem diese universelle Erfahrung von kultureller Unschärfe und Unbestimmtheit zuzurechnen wäre. Seinen Antisemitismus nimmt Schmitt nach 1945 mit in die „Sicherheit des Schweigens", das allerdings, wie das posthum veröffentliche Glossarium zeigt, gerade in dieser Hinsicht äußerst beredt ist. Schmitt erfährt die Moderne als einen Zustand, der immer mehr Dinge hervorbringt, für die immer weniger Formen bereitstehen. Darum kommt alles darauf an, den Dingen wieder Grenzen zu geben und der .motorisierten' Geschichte in der Pose des ,Aufhalters' (Katechori) zu begegnen. Die Qualität von Sätzen und Aphorismen beurteilt Schmitt - diesmal in buchstäblicher Verwendung der von Bauman herausgestellten Viskuositätssymbolik - danach, ob es ihnen gelingt, „durch den Kultur-Schleim des 19. Jahrhunderts" zu leuchten.45 Für Schmitt trifft zu, was Bauman auf die Formel bringt: „Der Schrecken vor der Vermischung reflektiert die Besessenheit von dem Gedanken an Trennung."46 Schmitt versteht das eigene Schreiben - zu unterscheiden von der tatsächlichen Schreibpraxis - als einen ständigen „Kampf der Bestimmung gegen die Mehrdeutigkeit, der semantischen Präzision gegen Ambivalenz, der Durchsichtigkeit gegen Dunkelheit, der Klarheit gegen Verschwommenheit"47. So wie im Politischen fur ihn das Ideal „antiker Simplizität" (PB, 115) gilt, vermag er beim Schreiben nicht auf die „Intensität eines entscheidenden und deshalb ordnenden und gruppierenden Begriffes" (PB, 45) zu verzichten - und es ist kein Zufall, dass es Schmitt im Politischen wie im Literarischen um die Erzeugung von „Intensität" geht: „Die Unterschei-
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Ebd., S. 1198. Z. Bauman, Dialektik der Ordnung, S. 53. „Aus immer neuen Gelegenheiten entsteht eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend, geführt nur von der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance." (PR, S. 25) E. Jünger, Carl Schmitt, Briefe 1930-1983, Stuttgart 1999, S. 12. Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, 1996, S. 28. Ebd., S. 19.
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dung von Freund und Feind hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen" (BdP, 27). Das spezifische Bildarsenal, aus dem er sich bedient, um seine Leser in eine Situation der „absoluten Entscheidung" hineinzuphantasieren - vor allem natürlich das von Donoso Cortes übernommene Bild der „blutigen Entscheidungsschlacht" (PTh, 75) - , antwortet auf einen Typ von Bedrohung, der gerade durch die Amorphheit und ,Fluidität' des Feindes - man könnte auch paradox formulieren: die Freundlichkeit des Feindes - gekennzeichnet ist. Äußerst allergisch reagiert Schmitt daher auf die von Lorenz von Stein vorgebrachte Erklärung der im 19. Jahrhundert von vielen beobachteten neuen Unübersichtlichkeit in Politik und Kultur: Stein, so Schmitt, „antwortet mit dem Hinweis auf das ,Leben' und erkennt gerade in den vielen Widersprüchen die Fülle des Lebens. Das ,unlösbare Verschwimmen der feindlichen Elemente ineinander', das ist ,eben der wahre Charakter alles Lebendigen'; jedes Daseiende birgt seinen Gegensatz; das pulsierende Leben besteht in der fortwährenden Durchdringung der entgegengesetzten Kräfte [...] usw. usw." (PTh, 77f.) In der Beurteilung der Moderne kommt Schmitt übrigens auch mit Ernst Jünger, überein, von dem ihm sonst mehr trennt, als der Mythos vom konservativ-revolutionären Dioskurenpaar insinuiert, wie nicht zuletzt der kürzlich veröffentlichte Briefwechsel zeigt. Es ist Jünger zufolge nicht einfach die größere Intensität des Bösen, sondern seine „Auflösung", die die spezifisch moralische Signatur der Moderne kennzeichne, die insgesamt als ein „Dekompositionsprozeß" begriffen wird und daher, ästhetisch gesprochen, der (konturlosen) Farbe den Vorrang vor der Zeichnung gebe. Und Jünger fährt dann fort: „Ihre Unterscheidung von Freund und Feind ist übrigens nicht moderner Natur, entsprechend tritt in dieser Konzeption die Zeichnung, oder wie ihre guten Freunde behaupten, der ,romanische Charakter' stark hervor." 48 Dem wäre entgegenzuhalten, dass sich die Freund-Feind-Unterscheidung gerade in der unverhüllten Zurschaustellung des Willens zur Unterscheidung, der zu-
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E. Jünger, C. Schmitt, Briefe, S. 18. 1934 stellt Ernst Jünger in einem Brief an Schmitt mit Blick auf die zurückliegenden zwei Jahre, in denen er „politisch mehr gelernt habe als in den 37 vorhergehenden", aufatmend fest: „Wir lassen doch allmählich die Moderne hinter uns, - jeder neue Akt wird irgendwie spannender." Ebd., S. 36. Aber sowohl die intellektuelle Kommunikation als auch die eigene literarische Schreibweise strafen ein solches Urteil Lügen: Sie operieren im strengen Sinne ,occasionell'. Man denke nur an Jüngers Vorliebe für den literarisch stilisierten Erlebnisbericht sowie seine typisch moderne Auswertung privater Erfahrungen in Form des publizierten Tagebuchs. Bei Schmitt entspricht diesen Genres der Hang zur rhetorisch geschliffenen Sentenz, zur Privilegierung der Form der ,Broschüre' als Medium publizistisch eingreifender Kommunikation. Politische Theologie und Begriff des Politischen, Texte, die maßgeblich Schmitts Ruhm begründeten, sind ihrer Konstruktion nach über weite Strecken nicht systematisch, sondern aphoristisch gebaut - und das, obwohl Schmitt in offensichtlicher Verkennung seiner Schreibpraxis vom „Sprung in den Aphorismus" feststellt: „Er ist mir, als Juristen, unmöglich." (BdP, S. 17) Vgl. auch Ernst Jüngers „höchstes Lob" fur den Begriff des Politischen, das vollständig auf die Performanz des Textes abstellt und sich als professionelles Urteil eines Literaten versteht, der die Beherrschung der Kunst des Wortes zum entscheidenden Maßstab wählt: „Ich schätze das Wort zu sehr, um nicht die vollkommene Sicherheit, Kaltblütigkeit und Bösartigkeit Ihres Hiebes zu würdigen, der durch alle Paraden geht." Der Rang von Schmitts Geist, Jünger spricht es unmissverständlich aus, wird durch „sein Verhältnis zur Rüstung" bestimmt - zur sprachlichen Rüstung. In seiner Kölner Antrittsvorlesung vom Juni 1933 akzentuiert Schmitt die semantische Seite politischer Militanz besonders prägnant: „Im politischen Kampf sind Begriffe und begrifflich gewordene Worte alles andere als leerer Schall. Sie sind Ausdruck scharf und präzis herausgearbeiteter Gegensätze und Freund-FeindKonstellationen." (PB, S. 191)
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nächst von allen inhaltlichen Unterschieden abstrahiert und den eigentlichen Feind in der Ununterscheidbarkeit und Unentscheidbarkeit festmacht, als forciert modernistisch erweist. „Die aktuelle Bedeutung jener gegenrevolutionären Staatsphilosophen aber liegt in der Konsequenz, mit der sie sich entscheiden", schreibt Schmitt in der Politischen Theologie und macht damit unmissverständlich deutlich, dass es keine wie immer inhaltlich zu qualifizierende „Legitimität" ist, sondern allein das Bild einer „aus dem Nichts geschaffene[n] absolute[n] Entscheidung" (PTh, 83), die seine Beschäftigung mit den katholischen Gegenrevolutionären motiviert. Von der Entscheidung bzw. der Dezision, die ja (zusammen mit den Korollarbegriffen Ausnahmezustand und Souveränität) zu Schmitts staatsrechtlichem Markenzeichen wurde, gilt, was Bauman von der Ordnung schreibt: Als Problem tauchen sie erst im „Kielwasser der Beunruhigung über Ordnung" und Entscheidung auf, „als eine Reflexion auf die ordnenden Praktiken"49. Unter den Bedingungen der Moderne, der die Ordnung nicht mehr ,vorgegeben' ist, bedarf es eines Maximums an konstruktivem Willen, um den stets drohenden Ausnahmezustand, in dem sich die Ordnung zu bewähren hat, daran zu hindern, ins Chaos abzugleiten, von dem ihn Schmitt ausdrücklich unterscheidet50. Dass sich für Schmitt in den Juden und ihrer bedrohlichen ,Maskenhaftigkeit' die Uneindeutigkeit und Kontingenz der Moderne exemplarisch verkörperte, erklärt also die Vehemenz, mit der er die staatlichen Maßnahmen des NS-Regimes zur Entrechtung der jüdischen Bürger unterstützte und auch vor dem Gedanken ihrer physischen Vernichtung nicht zurückschreckte. So zitiert er im Kontext einer antisemitischen Bemerkung in einem Brief von 1935 an Jünger einen Satz L6on Bloys, demzufolge der Krieg ohne Sinn ist, wenn er kein Auslöschungskrieg ist.51 Eine Anekdote, die Schmitt 1943 mitteilt, wirft in ihrer Drastik ein weiteres grelles Licht auf das durchaus existentiell zu nennende (und sich daher auch nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes nicht verlierende) Motiv seines Antisemitismus: „In Hamburg war ein jüdischer Kunsthistoriker, Panofsky, der 1933, anlässlich einer Straßen-Demonstration, die unter dem Rufe ,Juda verrecke' marschierte, den Ausspruch tat, ,eher werden die Recken verjuden', worauf er mit Recht verhaftet wurde."52 Und obwohl Jünger nach 1933 auf deutliche Distanz zum NS-Regime ging und sich - anders als Schmitt - keineswegs zur Unterstützung der antijüdischen Politik des Regimes bereit fand, finden wir doch bei ihm denselben Schrecken vor der Vermischung und Entgrenzung der .eigenen Art' bzw. .Eigenart', der auch Schmitt heimsucht. Was man bereits aus den Pariser Tagebüchern (12. 3. 1942) wusste, wird im Briefwechsel mit Schmitt (10. 2. 1945) noch einmal bestätigt: Die „Exterminierung der Juden" stößt auf entschiedene Ablehnung, weil sie ein untaugliches Mittel ist, um den von Jünger gutgeheißenen Zweck zu erreichen, nämlich die „ungeheure Ausbreitung der jüdischen Moral" zu verhindern. Diese Moral, so Jünger, sei „durch die Exterminierung der Juden, an die sie gebunden war, nun frei und virulent geworden", der „blinde Wille" des NS-Regimes habe sich auf diese Weise selbst „ad absurdum" gefuhrt. Die symbolisch konstruierte ,Wurzellosigkeit' des Jüdischen - seine, mit Karl
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Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, S. 18. „Weil der Ausnahmezustand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristischen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung." (PTh, S. 18f.) „Eben lese ich bei Bloy (le Vieux de la Montagne 1910) den Satz: la guerre est denuie de sens, quand eile n'est pas exterminatrice." E. Jünger, C. Schmitt, Briefe, S. 49. Ebd., S. 164.
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Mannheim gesprochen, „freischwebende Intelligenz" - wird durch die Vernichtung ihrer physischen Träger vollends ,freigesetzt', weil sich der tibriggebliebene ,Geist' weder lokalisieren noch ghettoisieren lässt.53 Unter vormodernen Bedingungen war die „Andersartigkeit" der Juden selbstverständlich, weil, wie Baumann feststellt, „habituelle, praktisch unreflektierte Segregationspraktiken" die Juden zu einer „Schicht unter Schichten, einen Stand unter Ständen" machten. „Erst mit dem Aufkommen der Moderne wurde die Absonderung der Juden ein Problem. Wie alles in der modernen Gesellschaft musste diese nicht nur erzeugt werden, sondern aufrechterhalten, rational erklärt, nach technischen Maßstäben entworfen, kontrolliert und gelenkt."54 In dem Maße wie der moderne Nationalstaat seinem Ziel einer kulturellen Homogenisierung der auf seinem Territorium lebenden Bevölkerung näher kam, verlor das .Heterogene' seinen Status und wurde daher immer weniger einfach vorgefunden. Es bedurfte vielmehr der expliziten Konstruktion. Die von Schmitt ins Spiel gebrachte stereotype Kollektivsymbolik der ,Maskenhaftigkeit', der ,Mimikry' und der ,Virtuosität' sind Elemente einer solchen Konstruktion, die dem Jüdischen den Charakter einer radikalen Alterität, das Wesen einer fundamentalen ,Wesenlosigkeit', einer proteushaften .Erscheinung' verleihen sollten. Bauman spricht in diesem Zusammenhang vom „Stereotyp der metaphysischen Juden", dem Schmitt ebenso wie Jünger anhing. Nun hat das Stereotyp des metaphysischen Juden eine bestimmte Funktion in dem, was man mit Hilberg den modernen „Vernichtungsprozeß" nennen kann. Dieser Prozess erstreckt sich über die Stufen der Definition einer Bevölkerungsgruppe, ihrer Ausgrenzung aus dem öffentlichen, insbesondere auch dem wirtschaftlichen Leben (Entlassung, Enteignung, Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte), ihrer Deportation und Konzentration, der Ausbeutung der Arbeitskraft bis hin zur Aushungerung und schließlich der organisierten Vernichtung, an die sich noch die Beschlagnahme der persönlichen Habe anschließt. 55 Die Definition der Opfergruppe umfasst neben ,harten' juristischen Diskriminierungsmaßnahmen auch ein ganzes Bündel an spezifisch intellektuellen Strategien, mit denen eine bestimmte Gruppe eingegrenzt und aus den alltäglichen Lebensvollzügen der übrigen Bevölkerung herausgelöst wird. Um die ,Endlösung' organisieren zu können, mussten die Nazis dafür sorgen, „dass die Juden als Objekte der bürokratischen Operation aus dem Umfeld des Alltagslebens beseitigt, aus dem Netz persönlicher Interaktion herausgeschnitten und einem Stereotyp zugeordnet wurden" 56 . Es geht also in einem ersten Schritt darum, eine Trennungslinie innerhalb der Bevölkerung zu ziehen und wirksam werden zu lassen, um den Ausgrenzungsprozess in Gang zu setzen. Wenn man im Wissen um die Logik des Vernichtungsprozesses, wie sie Hilberg rekonstruiert hat, noch einmal zu Schmitts „Schlußwort" anlässlich der 1936 stattfindenden Tagung „Das Judentum in der Rechtswissenschaft" 57 zurückkehrt, erkennt man an den Teilen
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Ebd., S. 189. Z. Baumann, Dialektik der Ordnung, S. 72. R. Hilberg, „Die Struktur des Vernichtungsprozesses", in: Die Vernichtung der europäischen Juden, a.a.O., 56ff. sowie Baumann, Dialektik der Ordnung, S. 205. Z. Baumann, Dialektik der Ordnung, S. 203. „Eingeladen hatte Julius Streicher!" M. Lauermann, „Versuch über Carl Schmitt im Nationalsozialismus", in: K. Hansen, H. Lietzmann (Hg.), Carl Schmitt und die Liberalismuskritik, Opladen 1988, S. 51. Dort auch weitere „Schlüssel zum Antisemitismus Carl Schmitts".
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des Textes, die Schmittkommentatoren als besonders ,unverständlich' und .peinlich' bezeichnen58, den Versuch, die fachinterne Kommunikation der Rechtswissenschaft fur die unteren Stufen des Vernichtungsprozesses zu öffnen. Es geht Schmitt um die Übertragung von Maßnahmen, die sich unmittelbar gegen Personen richten, auf Texte und damit auf das Feld des ,Geistes'. Schmitt führt im einzelnen „Aufgaben der Bibliographie, der Bibliothekstechnik und der Zitierung" an, die sich ohne weiteres den von Hilberg unterschiedenen Stufen der Definition, der .Entfernung' und der Konzentration zuordnen lassen: 1. Definition: Die Aufgabe einer Bibliographie, so schwierig sie sich auch in der Durchführung erweisen mag, ist unabdingbar, „denn es ist selbstverständlich erforderlich, dass wir so exakt wie nur möglich feststellen, wer Jude ist und wer nicht Jude ist". 2. Entfernung·. „Erst auf Grund eines exakten Verzeichnisses können wir in bibliothekstechnischer Richtung weiterarbeiten und durch Säuberung der Bibliotheken unsere Studenten vor der Verwirrung bewahren", die darin liegt, dass selbst 1936 noch der Eindruck entstehe, „als ob der größere Teil der rechtswissenschaftlichen Literatur von Juden produziert würde". 3. Konzentration: „Alle juristischen Schriften jüdischer Autoren gehören, wie Reichsminister Dr. Frank [der spätere Chef des sogenannten .Generalgouvernements', auf dessen Territorium die Vernichtungslager entstehen, Vf.] treffend bemerkt hat, bibliothekstechnisch unterschiedslos in eine besondere Abteilung ,Judaica'."59 Dass die in Büchern niedergelegten Texte jüdischer Autoren räumlich separiert, also ,ghettoisiert' werden können, heißt allerdings nicht, dass ein totales Verbot des ,Umgangs' mit diesen Texten und den in ihnen formulierten Gedanken ausgesprochen würde. Denn, wie Schmitt am Ende seines „Schlußwortes" klarmacht, die Funktion und die Notwendigkeit einer fortlaufenden Beschäftigung bzw. .geistigen Auseinandersetzung' mit „dem Juden" liegt in der allein auf diesem Wege zu bewerkstelligenden Versicherung der eigenen Identität: „Was wir suchen und worum wir kämpfen, ist unsere unverfälschte eigene Art, die unversehrte Reinheit unseres deutschen Volkes."60 Nur durch die fortgesetzte Praktizierung der Trennung von dem, was uns eigentlich gar nicht mehr als ,heterogen' erschien, kann der Prozess der eigenen (unabschließbaren) Homogenisierung bzw. Purifizierung in Gang gehalten werden und die eigene Derealisierung aufgehalten werden. Schmitts „Kampf gegen den jüdischen Geist" entspringt tatsächlich einem ,Leiden' an der „Struktur des romantischen Geistes" und dessen „Wurzellosigkeit" (PR, 77) und vollzieht sich daher als „recherche de la Realite", wie der eingangs bereits zitierte Titel eines Abschnitts der Politischen Romantik überschrieben ist. Da sich also das jüdische Gedankengut' zwar markieren, ausgrenzen und konzentrieren läßt, aber nicht an einer bestimmten Form der textuellen ,Vermischung' mit dem .deutschen Geist' gehindert werden kann, die sich aus der technischen Notwendigkeit des Zitierens ergibt, empfiehlt Schmitt eine permanente Markierung jüdischer Quellen in den Texten deutscher Rechtswissenschaftler und überträgt damit in ge-
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So schreibt etwa, um nur ein Beispiel aus jüngster Zeit anzuführen, Helmuth Kiesel in seinem Nachwort zur Ausgabe des Schmitt-Jünger-Briefwechsels, dass Schmitt „dem peinlichen Aufspüren und Markieren jüdischer .Elemente' im deutschen Rechtswesen Vorschub leistete". E. Jünger, C. Schmitt, Briefe, S. 11. C. Schmitt, „Die deutsche Rechtswissenschaft", S. 1194f. Ebd., S. 1199 (meine Hervorhebung).
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wisser Weise die spätere staatliche Maßnahme der Kennzeichnungspflicht jüdischer Personen61 auf das Feld der akademischen Kommunikation: „Die Beifügung des Wortes und der Bezeichnung jüdisch' ist keine Äußerlichkeit, sondern etwas Wesentliches, weil wir ja nicht verhindern können, dass sich der jüdische Autor der deutschen Sprache bedient. Sonst ist die Reinigung unserer Rechtsliteratur nicht möglich." Es ist auch bezeichnend für Schmitts Position, dass er der strengen Beachtung solcher vermeintlichen Äußerlichkeiten' eine größere Wirksamkeit - nämlich einen ,,heilsame[n] Exorzismus" - beimisst als ,,große[n] Ausführungen gegen Juden, die sich in allgemeinen abstrakten Wendungen bewegen und durch die kein einziger Jude sich in concreto betroffen fühlt." 62 Bauman weist in Übereinstimmung mit vielen Historikern darauf hin, „dass die Vollstreckung des Holocaust nicht die Mobilisierung, sondern die Neutralisierung der normalen deutschen Einstellung gegenüber den Juden voraussetzte." Die Experten und Planer des Genozids koppelten ihr Projekt weitgehend „von der Stimmung im Volk" ab und immunisierten es „gegenüber den Einflüssen spontaner Gefühlsausbrüche" 63 . „Mit einem nur gefühlsmäßigen Antisemitismus ist es nicht getan" 64 , formuliert denn auch Schmitt in seiner Rede zur Eröffnung der Tagung von 1936, um dann jene technischen' Maßnahmen vorzuschlagen, die bestimmte Texte und Autoren aus dem Netz der fachwissenschaftlichen Kommunikation herausschneiden sollen, indem sie als jüdisch' stigmatisiert werden. Indem Schmitt unablässig betont, dass solche scheinbar rein ,äußerlichen' Maßnahmen „etwas Wesentliches", „keine nebensächliche Angelegenheit", sondern ein „ganz grundsätzliches Problem" darstellen, indem er seine ,eigene' inhaltliche Ausfüllung des Stereotyps der metaphysischen Juden den konkreten Maßnahmen, die er erörtert, anhängt und damit bereits textkompositorisch die Relevanzen unmissverständlich festlegt 65 , gliedert sich seine Argumentation in das Muster des von Hilberg beschriebenen Vernichtungsprozesses ein. Der Vernichtungsprozeß ist nicht schon auf jeder seiner Stufen Vernichtung: Insofern bleibt es richtig, Schmitt nicht zu ihrem Vordenker zu machen, auch deshalb nicht, weil er seinen Antisemitismus nicht in jenem Diskursnetz artikulierte, das für die nazistischen Bevölkerungs,optimierer', Bevölkerungsverschieber und Bevölkerungsvemichter typisch war. Schmitt ist kein Vordenker der Vernichtung: Aber insofern sein Denken um die Konstitution einer letzten, jeder technischen oder kulturellen Veränderung entzogenen „existenziellen" Grenze kreist, jenseits derer Menschen oder Populationen angesiedelt werden, die niemals .dazugehören' werden, der „echten participatio" (BdP 3, 8) also auf immer fremd bleiben, bewegt es sich auf den unteren Stufen jenes Prozesses, der, einmal in Gang gesetzt, auf die Vernichtung zusteuert.
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Die Einführung des Judensterns' im Reichsgebiet erfolgte am 1. September 1941, im .Generalgouvernement' bestand die Kennzeichnungspflicht bereits seit November 1939. C. Schmitt, „Die deutsche Rechtswissenschaft", S. 1195f. Z. Bauman, Dialektik der Ordnung, S. 200. ,,[E]in Massenmord von der Größenordnung des Holocaust ist als Aneinanderreihung von Kristallnächten nicht vorstellbar, geschweige denn durchführbar". Ebd., S. 104. Zitiert nach P. Noack, Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin, Frankfurt/M. 1993, S. 204. Wenn er auch auf semantischer Ebene die Begründung der inhaltlichen .Erkenntnis' des Juden als „das Wichtigste" hinstellt. C. Schmitt, „Die deutsche Rechtswissenschaft", S. 1196. Wie immer man weltanschaulich auch die Andersartigkeit der Juden begründet, welche „allgemeinen abstrakten Wendungen" man zu diesem Zweck auch einsetzt, unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit wiegen die permanent anwendbaren Techniken der Identifizierung und Ausgrenzung erheblich schwerer.
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Wie man mit inneren Feinden verfahrt
Im Rahmen seiner Ausführungen zur „innerstaatlichen Feinderklärung' weist Carl Schmitt im Begriff des Politischen daraufhin, dass die Ephoren im antiken Sparta jedes Jahr eine Kriegserklärung an die von ihnen unterworfenen Heloten, die in ihrem Staat als Sklaven lebenden Kleinbauern abgaben.1 Schmitt erklärt, in „allen Staaten" gebe es „schärfere oder mildere, ipso facto eintretende oder auf Grund von Sondergesetzen justizförmig wirksame, offene oder in generellen Umschreibungen versteckte Arten" der innerstaatlichen Feinderklärung - bis hin zum modernen Verfassungsstaat mit seinen sogenannten .Verfassungsfeinden'. Als die „maßgebende politische Einheit" könne der Staat nur dann nach außen hin operieren, wenn es ihm gelingt „innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizufuhren", eine „normale Situation" herzustellen, die die „Voraussetzung dafür ist, dass Rechtsnormen überhaupt gelten können".2 Im Hinblick auf diese Innen/Außen-Unterscheidung bleibt der Hinweis auf die Kriegserklärung an die Heloten in eigentümlicher Weise paradox. In gewisser Weise scheint sie eine Art Nullpunkt dieser Logik darzustellen - ein Nullpunkt, an dem sich die dieser Konzeption zugrundeliegende Logik einerseits unmittelbar ausspricht, der sie aber andererseits auch gerade unterläuft, weil er die Innen/ Außen-Unterscheidung überhaupt unterläuft. Der Feind ist etwas, was innen und außen vorkommen kann. In welchem Sinne aber sind der innere und der äußere Feind dasselbe?3 Der Hinweis auf die Kriegserklärung an die Heloten gibt eine Antwort auf diese (von Schmitt hier nicht aufgeworfene) Frage - aber nur auf einer gewissen Ebene: Die Heloten sind innere Feinde, weil sie zuvor äußere Feinde waren; sie sind einverleibte Feinde, die ihren Status als Feinde gleichwohl beibehalten haben und deshalb ein Fremdkörper sind. Die Existenz der Heloten ist demzufolge eine Bedrohung des Staates als einer „in sich befriedeten, territorial in sich geschlossenen und für Fremde undurchdringlichen, organisierten politischen Einheit".4 Es herrscht der Ausnahmezustand. Nun ist die Kriegserklärung ja auf der einen Seite genau die Feststellung eines Ausnahmezustandes. Auf der anderen Seite dient 1 Nach dem bei Plutarch (Lykurgos, 28, in: Große Griechen und Römer, Bd. 1, Zürich 1954, 160) gegebenen Beleg geschah dies, damit die Heloten ohne Verstoß gegen göttliche Gesetze (ohne Blutschuld) getötet werden konnten. 2 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, 3. Auflage der Ausgabe von 1963, Berlin 1991, S. 46f. 3 Dieser (abgründigen) Frage geht Alexander Garcia Düttmanns Beitrag in diesem Band nach: Feinde im Diesseits und im Jenseits. 4 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 47.
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diese Feststellung des Ausnahmezustandes hier aber gerade der Aufrechterhaltung dessen, was Schmitt die normale Situation nennt. Es handelt sich nur um eine formelle Kriegserklärung, die den Zustand einer Gewaltherrschaft dadurch perpetuiert, dass sie die Überwältigten (auch mit zyklisch wiederkehrenden Gewalttätigkeiten) daran erinnert, dass sie sich hors-laloi befinden. Nicht die innere Befriedung stabilisiert den Staat, sondern der innere Kriegszustand. In diesem Grenzfall scheinen sich die normale Situation und der Ausnahmezustand, der innere und der äußere Feind auf merkwürdige Weise ineinander zu spiegeln. Dadurch wird auch der Begriff der territorialen Einheit zweideutig. Nur nach außen hin ist diese Einheit gegeben, weil der spartanische Staat definierte Grenzen hat und durch die herrschende Kriegerkaste repräsentiert wird. Im Innern hingegen wird die Differenz statuiert.5 Die bellizistische Logik des spartanischen Staates führt den im Begriff des Politischen vorgestellten Feindbegriff gerade deshalb ad absurdum, weil sie die äußerste Konsequenz aus ihm zieht. Das hängt damit zusammen, dass die Kategorie des Feindes nur auf der Ebene der Entscheidung, nicht aber auf der Ebene der Erkenntnis angesiedelt wird. Dadurch geht das entscheidende Unterscheidungskriterium zwischen dem inneren und dem äußeren Feind verloren. Was den äußeren Feind betrifft, mag es genügen, ihn zum Feind zu erklären, damit er einer ist. In Schmitts Argumentation wird aber mit dem inneren Feind in gleicher Weise verfahren. Ein innerer Feind ist für ihn (wie für den Staat) der, der zum inneren Feind erklärt wird, weil „der Staat als politische Einheit von sich aus, solange er besteht, auch den .inneren Feind' bestimmt".6 Das gilt aber nur de iure, nicht de facto. Die Frage ist nämlich, ob derjenige, der zum inneren Feind erklärt wird, tatsächlich ein innerer Feind ist. Und diese Frage ist nur dann leicht zu beantworten, wenn sich der zum inneren Feind Erklärte seinerseits in diesem Sinne erklärt, wenn er sich selbst hors-la-loi stellt. Das aber ist in der Hobbes folgenden Logik Carl Schmitts ja bereits das Zeichen des Bürgerkrieges, der Auflösung der staatlichen Einheit, so dass von einem inneren Feind im eigentlichen Sinne schon nicht mehr die Rede sein kann. Das Besondere am inneren Feind ist gerade, dass er nicht als solcher in Erscheinung tritt, dass man ihn zunächst erkennen muss, wenn man ihn bekämpfen, wenn man ihn unschädlich machen will. Kein Staat (außer vielleicht den Spartanern) wird sich mit der Erklärung beruhigen, er habe seine wahren inneren Feinde dadurch ermittelt, dass er sie zu Feinden erklärt habe (und nur weil die Definition des inneren Feindes ungewiss ist, kann es überhaupt .versteckte' Formen der innerstaatlichen Feinderklärung geben). Die Kategorie des inneren Feindes impliziert die Frage nach der Wahrheit und nach dem Verfahren, in dem man sie ermittelt. Die Frage danach, in welchem Verhältnis die Verfah5
Man kann - die Schmittsche Denkfigur weiterführend - hinzufugen: Weil der spartanische Staat von den Heloten keine Kriegsbereitschaft verlangt, muß er sie auch nicht in sich selbst als maßgebende politische Einheit integrieren. Folglich funktioniert diese Struktur, solange die Heloten als der innere Feind nicht an Kriegshandlungen gegenüber einem äußeren Feind teilnehmen. Als im peleponnesischen Krieg - wie Plutarch an gleicher Stelle berichtet - die Heloten zu Kriegsdiensten gezogen werden mußten, haben die siegreichen Spartaner diejenigen, die sich dabei ausgezeichnet hatten, zuerst für ihre Tapferkeit geehrt und danach heimlich umgebracht. Die hier angesprochene Struktur hängt eng mit der grundlegenden Figur der einschließenden Ausschließung zusammen, wie sie neuerdings von Giorgio Agamben (nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt) eindringlich beschrieben worden ist. Von dieser Figur, deren Paradigma das Lager ist, und die Agamben als ein Bann zu denken versucht, ist nackte Leben betroffen (vgl. Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002, insbes. 25-80).
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Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 46.
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rensweise mit dem inneren Feind zur Erforschung der Wahrheit steht, soll im folgenden exponiert werden - anhand der Sklavenfolter in Athen (I), des römischen Strafprozesses (II), des kanonischen Inquisitionsverfahrens (III), des Strafverfahrens im Spätmittelalter (IV) und dem polizeilichen Verhör (V).
I.
Auch die Sklaven, die sich die Athener ins Land holten, sind überwundene Feinde, die sich nunmehr innerhalb des Gemeinwesens befinden. Weil sie als Sklaven von Natur aus (zumal wenn sie Barbaren sind7) zu Recht einem anderen gehören, können sie keine Rechte geltend machen - denn Feinde fallen definitionsgemäß nicht unter die Rechtsordnung des Verbandes, der sie zu Feinden erklärt. Daraus folgt auch, dass sie nicht in gerichtlichen Verfahren auftreten können. Damit entsteht jedoch ein Problem: Dass Sklaven nicht als Kläger oder als Beklagte vor Gericht erscheinen können, versteht sich von selbst. Sie sind aber dennoch insoweit Menschen, als sie Augen und Ohren haben, sprechen können und somit als Zeugen in Frage kommen. Auf der anderen Seite verbietet es der Status des Sklaven, dass er vor Gericht als glaubwürdiger Zeuge auftreten kann. Infolgedessen hat man im antiken Athen die Doktrin entwickelt, dass die Zeugenaussagen Unfreier nur dann vor Gericht verwendet werden können, wenn sie auf der Folter abgelegt wurden. Der Terminus technicus dafür lautete basanos, was einen Prüfstein bezeichnet: Die Aussage eines Sklaven musste am Prüfstein der Folter erhärtet werden, um Glaubwürdigkeit beanspruchen zu können.8 Dabei sollte die Ausübung körperlicher Gewalt gegen diejenigen, die vom Redehandeln vor Gericht ausgeschlossen waren, nicht vor der Öffentlichkeit geschehen, sondern schon im Vorfeld der Verhandlung im Beisein der Parteien.9 Das attische Gerichtsverfahren war ein reiner Parteienprozess mit privatem Kläger. Damit also ein Sklave der Folter unterzogen werden konnte, mussten sich die gegnerischen Parteien darauf einigen und einen Vertrag (proklesis) abschließen, der den Grad der Folter und gegebenenfalls die Höhe der Schadensersatzforderungen festlegte.10 Da eine solche Einigung ausgesprochen unwahrscheinlich war, ist zwar in den Gerichtsreden allenthalben von den Forderungen nach Folterung die Rede, die der Prozessgegner vereitelt habe, aber es ist kein einziger Fall überliefert, in der es zu ihrer Durchführung gekommen wäre. Das privatrechtliche Verfahren war also (glücklicherweise) denkbar ungeeignet, prozedural vorgesehene Gewalt in das gerichtliche Verfahren aufzunehmen. Immerhin ist die Basanos-Konzeption in Athen der erste abendländische Versuch gewesen, Gewalt gegen den Menschen des eigenen staatlichen Gemeinwesens auf verfahrensförmige und legale Weise auszuüben. Die Sklaven als die Feinde im Innern waren das gleichsam natürliche Objekt dieser Prozedur." 7 8 9 10 11
Vgl. Aristoteles, Politik, 1254a-1255a. Vgl. etwa M. Guggenheim, Die Bedeutung der Folter im Attischen Processe, Zürich 1882; E. Peters, Folter. Geschichte der peinlichen Befragung, Hamburg 1991, S. 33-42. Zum Verhältnis von Gerichtsrede und Folter vgl. auch M. Gagarin, „The Torture of Slaves in Athenian Law", in: Classical Philology 91 (1996), S. 1-18, insbes. S. 16f. Dazu ausfuhrlich die Untersuchung von G. Thür, Beweisführung vor den Schwurgerichtshöfen Athens. Die Proklesis zur Basanos, Wien 1977. Zur Sklavenfolter als Folterung des andern vgl. aus philosophischer Perspektive P. DuBois, Torture and
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Die Sklaven sind zwar nicht innerhalb gerichtlicher Verfahren nach einer Einigung der Parteien gefoltert worden sind, aber sie sind sehr wohl außerhalb dieser gerichtlichen Verfahren gefoltert worden. Und dabei hat sich die der Folter wesentliche Exzessivität entfaltet, die nur ein unbegrenztes und der Rechtsform inkompatibles Gewaltverhältnis voraussetzt. Es sind eine Reihe von Fällen überliefert, bei denen in Staatsangelegenheiten Sklaven und auch freie Nichtbürger - Fremde also - gefoltert wurden.12 Eine Folter, die von staatlichen Behörden angeordnet und durchgeführt wird, gehorcht einer völlig anderen Logik, in der die Verknüpfung von Folter und Feind noch klarer zum Ausdruck kommt. Denn meist haben vor allem zur Zeit des Demosthenes - Parteiregierungen zu diesem Mittel gegriffen, wenn sie einen Verdacht auf Spionage oder Kollaboration mit dem Feind hegten. Während es beim Parteiverfahren darum gegangen wäre, eine Aussage auf der Folter zu erhärten, ging es hier -jenseits des Parteiverfahrens - nur darum, Informationen zu erpressen. Dies ist die gleichsam naturwüchsige Form der Folter: die Folter des Informanten. Es kommt nicht auf eine Schuld des zu Folternden an, sondern auf sein Wissen, das nicht ihn selber, sondern andere betrifft. Auch bei Verdacht auf Kollaboration mit dem Feind hat man in Athen in keinem einzigen Falle einen freien Athener Bürger mit der Folter angegriffen. Nur diejenigen, die ohnehin schon als virtuelle Feinde außerhalb des Gesetzes stehen, können - diesseits der Unterscheidungen zwischen Zeuge und Beklagtem - zu Informationsträgern degradiert werden, die an sich selbst gleichgültig sind. Die Folter zur Erlangung eines - gerichtlichen - Geständnisses ist - wenn man so sagen darf - eine spätere Errungenschaft.
II. Im Römischen Reich hat sich erstmals ein öffentliches Strafverfahren, ein iudicium publicum ausgebildet.13 Die Entwicklung vollzieht sich auf zwei Ebenen, ganz oben und ganz unten. Ganz oben greift der Staat seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert bei - im weitesten Sinne - politischen Verbrechen zur „Selbsthülfe"14: Es werden Sondergerichte mit der sprechenden Bezeichnung quaestiones extraordinariae eingerichtet, was die Feststellung eines Ausnahmezustandes angesichts eines inneren Feindes voraussetzt. Klassisches Beispiel für ein solches Sondergericht mit Senatsmitgliedern als Geschworenen ist die Unterdrückung der Bacchanalienfrevel um 186 v.Chr.15, die für Mommsen ein Beweis dafür war, „in welchem Umfang und in wie scharfen Formen die republikanische Inquisition ihres Amtes hat walten können"16. Hundert Jahre später, nach den Gerichtsreformen unter Sulla, wurde das öffentliche Strafverfahren dann in die geordneten Bahnen der quaestiones perpetuae, einem Parteiverfahren mit staatsanwaltlichen Befugnissen für den Ankläger gelenkt.
12 13
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Truth, London New York 1991. Belege etwa bei J. H. Lipsius, Das Attische Recht und Rechtsverfahren, mit Benutzung des Attischen Processes von Μ. Η. Ε Meier und G. F. Schömann, Bd.I, Leipzig 1905, S. 894f. Zu diesem Thema noch immer einschlägig: T. Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899 [Nd. Graz 1955]; sowie die Forschungen W. Runkels; vgl. etwa die Untersuchungen zur Entwicklung des römischen Kriminalprozesses in vorsullanischer Zeit, München 1962. Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 339. Ausführlich beschrieben bei Titus Livius, Römische Geschichte, S. XXXIX, 8-19. Mommsen, Römisches Strafrecht, S. 342.
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Ganz oben entwickelte sich die öffentliche Strafrechtspflege aus einem Ausnahmezustand, der über den ordentlichen Rechtsgang hinausweist; ganz unten entwickelte sich zu gleicher Zeit mit dem Anwachsen Roms zur Großstadt eine ausgeprägte Polizeigerichtsbarkeit, die tresviri capitales, die unterhalb des ordentlichen Rechtsganges mehr oder weniger brutal gegen das Verbrecherunwesen des Großstadtproletariats vorgingen.17 Die gewöhnliche Bedrohung der Sicherheit - das ist gewissermaßen der alltägliche Ausnahmezustand. In der Kaiserzeit nähern sich - grob gesprochen - diese beiden Ebenen in der magistratischen Gerichtsbarkeit einander an, bei der die Rechte der Parteien zugunsten des Magistratsbeamten (oder auch des Kaisers selbst) als Verhandlungsfuhrer beschnitten werden und das inquisitorische Prinzip immer mehr Oberhand gewinnt. Und dieses allmähliche Vordringen des Inquisitionsgedankens verdankt sich nicht eigentlich der Sphäre des Rechts, sondern der Auseinandersetzung mit dem inneren Feind. Bezüglich der gerichtlichen Sklavenfolter galt in Rom wie in Athen der Grundsatz, dass die Aussage von Sklaven durch die Folter (die hier quaestio heißt) erhärtet werden musste, um vor Gericht verwertet zu werden. Römische Bürger konnten zumal in republikanischer Zeit prinzipiell nicht gefoltert werden (bei der Gefangennahme des Apostels Paulus genügt diesem der bloße Hinweis auf seinen Status als römischer Bürger, damit die Folter unterbleibt). Anders als in Athen allerdings konnten die Sklaven in Rom, wo die Sklaverei ganz konsequent unter das Sachenrecht fiel, nur zugunsten ihres Herrn auf der Folter verhört werden. Das heißt: Der Herr konnte dem Gericht bzw. dem Prozessgegner einen Sklaven benennen, der eine ihn entlastende Aussage auf der Folter bestätigen werde. Aussagen von Sklaven contra dominum wurden hingegen nicht verwertet. Aber diese Regel hat wieder ihre bezeichnende Ausnahme - nämlich in republikanischer Zeit (neben dem Inzest) die Verschwörung gegen das Gemeinwesen, also den Ausnahmezustand. Vor allem in den bürgerkriegsähnlichen Zeiten bei den Proskriptionen des Sulla (82 v. Chr.) oder den Verfolgungen der Triumvirn vierzig Jahre später waren Augen und Ohren der Sklaven gefragt, wurden Belohnungen auf Denunziationen ausgesetzt. Dann wurden - so der Historiker Appian von Alexandria - „die Haussklaven im Handumdrehen zu Feinden", denen sich nun Männer, die hohe Ämter bekleidet hatten, „wehklagend vor die Füße" warfen.18 Das sind tatsächliche Ausnahmezustände, die über die Sphäre des Rechts hinausgehen. Man kann aber Gesetze erlassen, denen zufolge ein Ausnahmezustand auch dann vorliegt und zu außerordentlichen Maßnahmen berechtigt, wenn er nicht vorliegt. Dies geschieht in der Majestätsgesetzgebung der Kaiserzeit. Wenn die Majestät in der Person des Kaisers repräsentiert ist, kann jeder Angriff auf die Majestät - im eigentlichen oder im übertragenen Sinne - als Angriff auf die Referenz aufgefasst werden. Seit der lex Iulia de maiestate des Augustus konnte jedermann ein crimen laesae maiestatis begehen, konnte jedermann zum Staatsfeind werden; unter das Majestätsverbrechen, das später konsequenterweise auch vor dem Kaisergericht verhandelt wurde, konnte alles mögliche fallen - von der wirklichen Verschwörung über Verbrechen gegen den Staat und seine Vertreter bis zur Majestätsbeleidi17 18
Vgl. W. Nippel, Aufruhr und „Polizei" in der römischen Republik, Stuttgart 1988. Appian von Alexandria, Römische Geschichte. Zweiter Teil: Die Bürgerkriege. Übersetzt von O. Veh. Durchgesehen, eingeleitet und erläutert von W. Will, Stuttgart 1989, S. IV, 13-14. Vgl. zur Wirkung der Ausnahmezustände auf die Stellung der Sklaven auch L. Schumacher, Servus Index. Sklavenverhör und Sklavenanzeige im republikanischen und kaiserzeitlichen Rom, Wiesbaden 1982, S. 96ff.
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gung.19 Die römischen Kaiser haben von diesem Willkürinstrument bisweilen exzessiv, bisweilen Uberhaupt nicht Gebrauch gemacht. Drei Besonderheiten des Majestätsverbrechens sind von entscheidender Bedeutung und bewirken, dass es in jeder Gesetzgebung als ein Fremdkörper erscheinen muss. Zum ersten lässt es sich in seinen Tatbestandsmerkmalen nicht klar begrenzen. Man kann sagen: Die Majestät ist angegriffen, wenn sie sich angegriffen fühlt, und der Angreifer wird dann wie ein Feind behandelt, ohne dass eine Feinderklärung von seiner Seite stattgefunden hätte. Zum zweiten überschreitet seine Verfolgung die Grenzen des rechtmäßigen Verfahrens. Frauen und Sklaven konnten Anzeige erstatten (die Gesetzgebung zum crimen laesae maiestatis verwirklicht gewissermaßen ein erstes Menschenrecht - das auf Denunziation). Es konnten nicht nur die Sklaven gegen ihren Herrn, es konnten auch die Herren selber der peinlichen Befragung, der Folter unterworfen werden. Auf die Majestätsgesetzgebung ist es zurückzufuhren, dass die Bürger ihre Rechte einbüßten und der Gewaltanwendung innerhalb gerichtlicher Verfahren ausgesetzt werden konnten, wie es vormals nur bei den rechtlosen Sklaven möglich war. In der späteren Kaiserzeit hat man die Folter dann auch außerhalb der Majestätsgesetzgebung zunehmend auf Personengruppen ausgedehnt, die zwar nicht unfrei, aber verdächtig waren; Vorbestraften, Zuhältern, unehrenhaft entlassenen Soldaten, Gladiatoren usw. sei, so in einem Edikt von Arcadius Charisius um 400 n. Chr., in ihren Aussagen „kein Glauben zu schenken, es sei denn, sie seien unter der Folter gemacht worden."20 Der Name dieses christlichen Kaisers verbindet sich auch mit der dritten Besonderheit des Majestätsverbrechens: der Maßlosigkeit seiner Bestrafung. Die berüchtigte und überaus folgenreiche lex Quisquis der Kaiser Arcadius und Honorius aus dem Jahre 397 n. Chr. verfügte eine Verschärfung der Majestätsgesetzgebung. Der Majestätsverbrecher sollte nicht nur mit dem Tode bestraft werden, es wurde auch die schon vorher übliche Güterkonfiskation auf die Erben ausgeweitet, und die Infamie der Väter sollte die Söhne auf immer begleiten.21 Das Gesetz, das in die Goldene Bulle Karl IV. aufgenommen wird und über Gratian in das Kanonische Recht Eingang fand22, fasst die Majestätsverbrecher ganz deutlich als überwältigte Feinde auf, die restlos vertilgt werden müssen (denn der innere Feind ist diesseits der Grenze; man kann sich nicht damit begnügen, ihn in seine Grenzen zurückzuweisen). Es liegt ihm genau jene Logik zugrunde, die Hobbes im Leviathan formuliert; dort heißt es, dass, „wenn ein Untertan durch Tat oder Wort wissentlich und absichtlich die Autorität der Staatsvertretung bestreitet, ihm die Vertretung nach ihrem Willen jede beliebige Strafe auferlegen kann (welche Strafe auch immer zuvor für Verrat vorgesehen war). Denn indem er
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Vgl. R. Rilinger, Humiliores - Honestiores. Zu einer sozialen Dichotomie im Strafrecht der römischen Kaiserzeit, München 1988, S. 207ff. mit weiterer Literatur. „Si ea rei condicio sit, ubi harenarium testem vel similem personam admittere cogimur, sine tormentis testimonio eius credendum non est." (Corpus Juris Civilis. Volumen Primum. Institutiones. Digesta. [Hg. P. Krüger und T. Mommsen], Dublin Zürich 1973 Digestae, 22, 5; 21,2). Codex Iustinianus, IX 8, 5. Gratian zieht das Gesetz im Zusammenhang des Verfahrens gegen Simonie heran. Vgl. Corpus Iuris Canonici [ed. A. Friedberg], Leipzig 1879 [Nd. Graz 1995]. Bd. 1. Decretum Magistrum Gratiani, Secunda Pars, Causa. VI, Quest. II, C. XXII; vgl dazu Winfried Trusen, „Von den Anfängen des Inquisitionsprozesses, zum Verfahren bei der inquisitio haereticae pravitatis", in: P. Segl (Hg.), Die Anfänge der Inquisition im Mittelalter. Mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert und einem Beitrag über religiöse Intoleranz im nichtchristlichen Bereich, Köln, Weimar, Berlin 1993, S. 39-76, 66.
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die Unterwerfung ablehnt, lehnt er auch die vom Gesetz vorgesehene Strafe ab und wird deshalb als Staatsfeind bestraft".23 Und diese Strafe, deren Maß kein Gesetzbuch angeben kann, in der sich die reine Exzessivität24 verwirklicht, ist eigentlich keine Strafe, sondern Rache, die sich - wie an anderer Stelle des Leviathan in deutlicher Anlehnung an die lex Quisquis erklärt wird - „auf Untertanen, die bewußt die Autorität des errichteten Staates bestreiten, rechtmäßig erstreckt, und zwar nicht nur auf die Väter, sondern auch auf die dritte und vierte Generation".25
III. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts hat sich der Juristenpapst Innozenz III. an zwei verschiedenen, aber logisch miteinander verknüpften Stellen auf die römische Majestätsgesetzgebung berufen. In der Dekretale Vergentis in senium warf er die rhetorische Frage auf, ob die Verletzung der ewigen maiestas nicht noch viel schwerer wiegen müsse als die der zeitlichen und bahnte damit einer analogen Anwendung der römischen Majestätsgesetze auf die kirchliche Ketzergesetzgebung den Weg: Häresie ist ein crimen laesae maiestatis divinae,26 Die Ketzer sind die Feinde der Kirche und damit des Papstes. Innozenz ging es bei der analogen Anwendung der römischen Majestätsgesetze nicht um ein Übermaß an Strafen. Er wollte den um sich greifenden Katharismus vielmehr zu dem machen, was das Strafgesetzbuch heute eine terroristische Vereinigung nennt. Damit tritt eine weitere Besonderheit des MajestätsVerbrechens in den Vordergrund: Es ist in aller Regel kein Verbrechen, das man alleine begeht; auch das Einzelattentat zieht unweigerlich den Verdacht einer Verschwörung nach sich. Der innere Feind ist immer in der Mehrzahl, seine genaue Zahl liegt im Dunkeln, man muss aber annehmen, dass es mehr sind, als man annimmt. Die analoge Anwendung der römischen Gesetzgebung gab neben der lukrativen Güterkonfiskation die Möglichkeit, eine großzügige Demarkationslinie zwischen Freund und Feind zu ziehen und auch gegen diejenigen vorzugehen, die sich der Unterstützung dieser terroristischen Vereinigung schuldig gemacht hatten, selbst wenn ihnen selbst kein ketzerisches Gedankengut nachgewiesen werden konnte. Nicht nur den credentes hereticorum, den eigentlichen Ketzern, sondern auch den defensores, ihren Verteidigern, den receptatores, ihre Beherbergern, und den fautores, ihren Beifallklatschern (in heutiger Terminologie die .Sympathisanten') wurde Infamie in Aussicht gestellt - sie konnten keine Ämter mehr bekleiden, nicht mehr als Zeuge auftreten, waren aus der Erbfolge ausgeschlossen.
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T, Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Herausgegeben und eingeleitet von I. Fetscher. Übersetzt von W. Euchner, Frankfurt am Main [5] 1992, S. 239. Vgl. zur Beziehung von Feindschaft und Exzessivität vgl. das Kapitel 10 („Feindschaft zwischen Affirmation und Exzess") in: B. Liebsch, Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit - Differenz - Gewalt, Berlin 2001, S. 285-312. Hobbes, Leviathan, S. 243. Corpus Iuris Canonici. Bd. 2. Decretalium Collectiones, Decret. Gregor. IX., Lib. V. Tit. VII, Cap. X. Vgl. zum Problemkomplex ausführlich L. Kolmer, „Christus als beleidigte Majestät. Von der Lex ,Quisquis' (397) bis zur Dekretale .Vergentis'", in: H. Mordek (Hg.), Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Festschrift für Horst Fuhrmann zum 65. Geburtstag, Tübingen 1991, S. 1-14, 8f.
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Die zweite Berufung auf die römische Majestätsgesetzgebung durch Papst Innozenz III. erfolgte im Zusammenhang der Einfuhrung des Verfahrens per inquisitionem21, jener Foucault zufolge „unermeßlichen Erfindung"28, die wir ebenfalls diesen Papst verdanken. Allerdings macht gerade die Betrachtung des MajestätsVerbrechens deutlich, dass es sich beim Inquisitionsverfahren zwar um etwas Unermessliches handelt, keineswegs jedoch um eine Erfindung. Denn letztlich ist das Inquisitionsverfahren, das auf die Gewinnung materieller Wahrheit statt formeller Wahrheit zielt, nichts anderes als die Überfuhrung der formlosen Vorgehensweise bei der Verfolgung des Majestätsverbrechens in eine Verfahrensform, die dessen Exzessivität scheinbar bändigt und ihren Bezug zum Majestätsverbrechen in die Latenz verbannt. Bei der Einfuhrung des Verfahrens per inquisitionem, die sich in Etappen vollzog, bis es auf dem Laterankonzil von 1215 verabschiedet wurde, mußte man sich noch auf die römischen Gesetze zum Majestätsverbrechen berufen. In der Dekretale Licet Heli von 1199 geht es um ein Verfahren der Amtsenthebung eines Abtes.29 Der Papst hatte alle Mönche des Klosters als Zeugen vereidigen und vernehmen lassen, damit die Wahrheit über die vermutete Simonie des Abtes ans Tageslicht käme („ex officio nostra voluimus inquirere de praemissis, omnes omnino monachos [...] ut de propositis plenam, quam scirent, exponerunt veritatem"). Die Mönche waren damit nicht mehr Parteizeugen in einem ordentlichen Verfahren, sondern unfreiwillige Zeugen in einem Ermittlungsverfahren, in dem sie im Namen der Wahrheit aufgerufen und nur ihr verpflichtet waren. Der Abt wehrte sich dagegen und machte gegen mehrere Zeugen Einwände geltend. Nach eingehender Beratung der Kirchenjuristen wurde erklärt, dass die Zeugenaussagen verwertet werden konnten, und zwar wegen der „Ungeheuerlichkeit" des Vorwurfs der Simonie, die bei Bedarf unter die Häresien gerechnet werden konnte. Damit hatte man die Brücke zum Majestätsverbrechen geschlagen, bei dessen Untersuchung auch die Aussagen von Infamen und Kriminellen verwertet werden können („in crimine simoniae, sicut in crimine laesae maiestatis, omnes indifferenter, tam infames et criminosos, non solum ad accusandum, sed etiam ad testificandum admittendos"). Es gab nur eine Ausnahme: Eine Aussage darf nicht verwertet werden, wenn der Zeuge ein Feind des Beklagten ist. Die Bestimmung, dass ein Feind nicht zeugen darf, zieht sich durch die verschiedensten Verfahrensordnungen und ist beispielsweise auch die einzige Einschränkung bei den Hexenprozessen. Sie fuhrt noch einmal deutlich vor Augen, dass erstens die Kategorie der Feindschaft mit der Idee eines Verfahrens im Namen der Wahrheit inkompatibel ist, dass aber zweitens die Kategorie des inneren Feindes die Idee eines Verfahrens im Namen der Wahrheit impliziert - da verfahrensförmig festgestellt werden muss, ob der betreffende Zeuge ein Feind des Beklagten
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Vgl. hierzu vor allem W. Trusen, „Der Inquisitionsprozeß. Seine historischen Grundlagen und frühen Formen"; in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung. Bd. LXX1V, (1988), S. 169-230. M. Foucault, Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses. Aus dem Französischen übersetzt von W. Seitter, Frankfurt am Main 1976, S. 289f. Corpus Iuris Canonici. Bd. 2. Decretalium Collectiones, Decret. Gregor. IX., Lib. V. Tit. III, Cap. XXXI, dazu auch Trusen, „Der Inquisitionsprozeß", S. 197ff. Es wäre lohnensvvert, genauer zu untersuchen, welche juristischen Kriterien für das Bestehen einer solchen Feindschaft entwickelt wurden.
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Der in der Dekretale Licet Heli vollzogene Schritt sieht auf den ersten Blick wenig spektakulär aus. Und doch ist es der erste Schritt auf dem Weg zu einem gerichtlichen Verfahren, in dem die Suche nach der Wahrheit von einer Institution vorgenommen wird, die sie von jedem einfordert, weil jeder ein möglicher Informationsträger ist - und die jeden, der sich dieser Forderung widersetzt, zu einem virtuellen Feind macht. Damit verliert der Beklagte seine Stellung als Prozesssubjekt und wird stattdessen ein Objekt, das Objekt einer Untersuchung. Zunächst ist das noch nicht so ausgeprägt. Von Verhör und Folter ist nicht die Rede sie wurde auch erst ein halbes Jahrhundert später im Rahmen der Ketzerinquisition fur zulässig erklärt. Das Verfahren war nämlich zunächst nur zur Disziplinierung innerhalb der kirchlichen Institution gedacht. Es sollte vor allem den höheren Klerikern die Möglichkeit genommen werden, sich über einen Reinigungseid jeder Verurteilung zu entziehen. Das Inquisitionsverfahren wurde nicht zuletzt deshalb akzeptiert, weil es keine eigentlichen Strafen, sondern nur Stra(büßen (ex caritatis affectu) auferlegen sollte, die der Besserung dienten. Thomas von Aquin erklärte zum Beispiel, ein Richter dürfe nur dann - entgegen dem Grundsatz: Wo kein Kläger, da kein Richter - auch ohne einen Ankläger tätig werden, wenn das Verfahren nicht gegen den Beklagten zu seinem Schaden, sondern für ihn zu seinem Besten gefuhrt werde.31 Das klingt nicht so, als ob sich das kirchliche Inquisitionsverfahren gegen Majestätsverbrecher bzw. gegen Feinde richte. Feinde versucht man ja nicht zu bessern. Tatsächlich wird aber genau hier die spezifisch christliche Version des Umgangs mit dem inneren Feind deutlich. Das zeigt eine kurze Überlegung zum Äußersten, was als Sanktion im Inquisitionsverfahren verhängt werden sollte: die Amtsenthebung, die Ausstoßung aus der Institution. In ihr ist die Feststellung der Unverbesserlichkeit impliziert: Man kann nichts mehr für ihn tun. Die Amtsenthebung, die Ausstoßung oder die Verbannung sind nach dieser Logik keine Strafe, sondern an und fur sich - noch einmal nach Hobbes - eher „ein öffentlicher Befehl, durch Flucht Strafe zu vermeiden"; und zugleich sind sie eine Art Feinderklärung, denn ein Verbannter sei - so Hobbes - „ein rechtmäßiger Feind des Staates, der ihn verbannte, da er ihm nicht mehr als Glied angehört".32 Diese Logik hat man seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Ketzerbekämpfung zur Anwendung gebracht, in der das Inquisitionsverfahren erstmals die in ihm angelegte Exzessivität freilegte.33 Auch hier hießen die Strafen Bußen, auch hier war man um die Besserung der Ketzer bemüht. Und die unverbesserlichen Ketzer wurden aus der Kirche ausgestoßen, dem weltlichen Arm übergeben, der ihre Verbrennung übernahm, weil die Kirche niemanden hinrichtet. Oder genauer: Der Ketzer ist per definitionem unverbesserlich; erst mit seiner Unverbesserlichkeit ist er des crimen laesae maiestatis divinae überfuhrt. Und um zu überzeugen, dass er nicht zu den Unverbesserlichen gehört, muß er nicht nur bekennen, er muß nicht nur über sich (de se) aussagen - er muß vor allem alles sagen, was er als Informationsträger über den Feind (de aliis) weiß.34 Das Verfahren basiert auf dem Fehlen der verfahrensmäßigen Trennung zwischen der Prozessrolle des Angeklagten und des Zeugen - ein Ef31 32 33 34
Thomas von Aquin, Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa Theologica, Bd. 18, Recht und Gerechtigkeit, Heidelberg u.a. 1953, Qu. 67, 3. Hobbes, Leviathan, S. 241. Literaturangaben zur Exzessivität der Ketzerinquisition erübrigen sich; vgl. nur den ,Klassiker' Henry Charles Lea, Geschichte der Inquisition im Mittelalter in drei Bänden [Nd. Nördlingen 1987]. Vgl. L. Kolmer, Ad capiendas vulpes. Die Ketzerbekämpfung in Südfrankreich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und die Ausbildung des Inquisitionsverfahrens, Bonn 1982, S. 171 f.
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fekt, der in moderneren Verfahrensordnungen durch die Figur des (in Deutschland bei der Bekämpfung des Terrorismus eingeführten) Kronzeugen erreicht wird.
IV. Während man in Italien das kirchliche Verfahren per inquisitionem sehr schnell rezipierte und - nachdem man seine Vereinbarkeit mit dem Römischen Recht statuiert hatte - auf das weltliche Recht übertrug (als erster Friedrich II. für Sizilien)35, steht in Deutschland die Phase der Rezeption des gelehrten Rechts im 13. und 14. Jahrhundert erst in ihren Anfängen. Eine öffentliche Strafrechtspflege im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Was es gibt, sind die Landfriedensgesetzgebungen, die sich gegen die sogenannten landschädlichen oder einfach schädlichen Leute wenden.36 Der Mainzer Reichslandfrieden von 1235 - wie die Konstitutionen für Sizilien im Namen Fredrichs II. erlassen - versucht erstmals, den Landfriedensbruch als crimen laesae maiestatis einzustufen.37 Auch die Entstehung der weltlichen öffentlichen Strafrechtspflege steht im Zeichen des Majestätsverbrechens. Noch die Wormser Reformation von 1498 erklärt, dass „wer ufflauf macht oder bewegt wider uns unsern Rate oder gemeyne Statt dem gemeinen nutz und Magistrat zu wider, der thut Crimen lese maiestatis und sol mit dem Schwert gericht werden."38 Das Majestätsverbrechen ist noch unkenntlicher geworden; es ist nurmehr der Joker, der das im weiteren Sinne polizeiliche Vorgehen gegen die Feinde des Gemeinwesens - die schädlichen Leute - erlaubt und die Überschreitung der sonst gültigen Verfahrensregeln rechtfertigt. In einer constitutio Heinrichs VII. von 1312 wird die Verwendung des Inquisitionsverfahrens beim crimen laesae maiestatis mit dem Zusatz gemeinrechtlich sanktioniert, man dürfe in diesem Falle ohne die figura iudicii vorgehen.39 Das gilt ganz besonders für die Folter, den Königsweg des vereinfachten Verfahrens. Sie wurde in Deutschland etwa seit dem 14. Jahrhundert geübt, aber nicht innerhalb des formellen Rechtsganges, sondern meist unter der Regie des Rats der Stadt. Sie kam nicht gegen die Bürger der Stadt zur Anwendung, sondern gegen Personen mit schlechtem Leumund, die den Verdacht gegen sich hatten, zu den schädlichen Leuten zu gehören. Ebensowenig wie die Athener Bürger musste man sich als Stadtbürger im Spätmittelalter selbst als mögliches Opfer der peinlichen Prozedur vorstellen, die man anderen angedeihen ließ. Auf der Ebene des Symbolischen sind es stets die anderen, die sich einer Untersuchung ausliefern müssen, die der peinlichen Frage unterworfen werden. 35
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Vgl. F. Zechbauer, Das mittelalterliche Strafrecht Siziliens nach Friedrichs II. Constitutiones Regnis Siciliae und den Sizilischen Stadtrechten. Mit einem Excurse über Herkunft und Wesen des sizilischen Inquisitionsverfahrens, Berlin 1908, S. 168-247. Zur Landfriedensgesetzgebung siehe im Überblick E. Kaufmann, Landfrieden I (Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2), Sp.1451-1465. „Pena contra transgressores sacrarum constitutionum edita prout violatae maiestatis decus et facilitas exigit delinquentis" (zit. nach W. Trusen, „Strafprozeß und Rezeption. Zu den Entwicklungen im Spätmittelalter und den Grundlagen der Carolina", in: P. Landau; F.-C. Schroeder (Hg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, Frankfurt am Main 1984, S. 29-119, 72f.). Zit nach Trusen, Strafprozeß und Rezeption, S. 74. Vgl. die constitutio „Ad reprimendum"; zit. nach: Trusen, Strafprozeß und Rezeption, S. 57.
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Auch bei der Folter war die Majestätsgesetzgebung die juristische Grundlage. Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356 ist das erste Reichsgesetz, das die Folter expressis verbis beim crimen maiestatis für zulässig erklärte.40 Allerdings hat man die Folter teilweise auch ohne jeden Verweis auf gelehrtes Recht gleichsam naturwüchsig praktiziert41 - was noch einmal deutlich macht, dass das Folteropfer zunächst den Status eines ergriffenen Feindes hat. Dabei steht die Qualifizierung eines Subjektes als schädlich nicht unbedingt in Bezug auf eine konkrete Tat. Vielerorts hat man in sogenannten Leumundsverfahren das sogenannte Übersiebnen praktiziert, bei dem sieben gut beleumundete Bürger den schlechten Leumund einer Person bestätigten, worauf dieser - ohne dass ihm ein konkretes Delikt nachgewiesen worden wäre - aus der Stadt verbannt wurde mit der Aussicht, im Falle seiner Rückkehr als Feind behandelt zu werden.42 Im Ganzen geht es weniger darum, zu bestrafen als unschädlich zu machen, den Schaden abzuwenden, den dieser Menschenschlag in Zukunft anrichten wird 43 Und dieses Unschädlichmachen ist schließlich ein Kennzeichen auch des Majestätsverbrechens im Sinne eines tatsächlichen Anschlages auf den Souverän, bei dem es ebenfalls darum geht, die Verschwörer vor der Tatausführung unschädlich zu machen. Die Exzessivität und Regellosigkeit der öffentlichen Strafverfolgung, wie sie in ihren verschiedenen Formen im ausgehenden Mittelalter zu erkennen ist, laufen natürlich den Vorschriften zur Einleitung und Durchführung eines Inquisitionsprozesses nach gelehrtem Recht zuwider. Aber man kann nicht sagen, dass der gelehrte Inquisitionsprozess das eigentliche oder wahre Verfahren ist. Gerade die logische wie historische Verknüpfung mit dem Majestätsverbrechen legt so etwas wie eine ursprüngliche Entartung frei, in der sich etwas vom Wesen - oder vom Un-Wesen - des Inquisitionsprozesses offenbart: dass er sich zunächst nicht gegen ein Mitglied des Gemeinwesens richtet, sondern gegen einen Fremdkörper. In Deutschland hat erst die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 und danach die allmähliche Ausbildung des gemeinrechtlichen Inquisitionsverfahrens den Einzeltäter und das Einzeldelikt zur Norm gemacht, wurde das corpus delicti zur Voraussetzung für die Einleitung der Untersuchung, hat man den Exzess der Folter begrenzt.44 Und wenn man sich selbst (und nicht mehr nur den anderen, den Feind) als möglichen Gegenstand eines Inquisitionsverfahrens denken können muss, wird die Notwendigkeit einsichtig, Verfahrensformen 40
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Vgl. R. Lieberwirth, „Die Aufnahme der Folter in das mittelalterlich-deutsche Strafverfahren", in: C. Thomasius, Über die Folter. Untersuchungen zur Geschichte der Folter. Übersetzt und herausgegeben von R. Lieberwirth, Weimar 1960, S. 13-115, 74; Trusen, „Strafprozeß und Rezeption ", S. 42ff. E. Schmidt hat in lnquisitionsprozeß und Rezeption. Studien zur Geschichte des Strafverfahrens in Deutschland vom 13. bid 16. Jahrhundert (Leipzig 1940) die lange vorherrschende Auffassung vertreten, die Folter habe sich in Deutschland im wesentlichen ohne Zutun des Gelehrten Rechtes aus der Entartung des Fehdewesens entwickelt. Vgl. H. Knapp, „Das Übersiebnen der schädlichen Leute", in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 44 (1924), S. 379-420. Nach Knapps griffiger Definition sind schädliche Leute diejenigen, „welche einen (todeswürdigen) .Schaden' gestiftet haben, oder von denen ein solcher zu besorgen ist" (ebd., S. 396). Es wird in einem Zwischenurteil nur auf einen bestimmten Grad der Folter erkannt, nach dessen Erreichen die Folter abgebrochen wird und nicht wiederholt werden darf. Die unumgängliche Beziehung des Verfahrens zur Exzessivität bleibt gleichwohl schon dadurch gewahrt, dass dem Gefolterten der Grad der Tortur nicht mitgeteilt wird, dass er also immer befürchten muß, dass es noch weiter geht. Nur unter dieser Voraussetzung ist auch die bloße territio als erster Grad der Tortur .sinnvoll'.
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einzuhalten. Das Verfahren ist für uns alle da. Damit tritt auch die Verknüpfung mit dem crimen maiestatis in den Hintergrund. Aber sie bleibt bestehen, weil die Erforschung der Wahrheit für den, der ihrer Zurückhaltung verdächtigt wird, auch dann ein Übel ist, wenn die Folter abgeschafft ist. Und aus einer Perspektive, in der der Staat und die Rechtsform zusammenfallen, muß ein „von der öffentlichen Gewalt ohne eine vorhergehende öffentliche Verurteilung zugefügtes Übel [...] als feindlicher Akt bezeichnet werden".45
V. „Man denke sich im Bürgerkriege einen Offizier, der eine Festung oder ein Lager kräftigst gegen die inneren Feinde zu schützen angewiesen ist, dem auch die nöthigen Mittel zur Gewaltanwendung zu Gebote gestellt sind, und den die Staatsregierung für verantwortlich erklärt hat, dass die feindliche Parthei kein Übergewicht gewinne und in die Schranken der Ordnung zurückgeführt werde; daneben denke man sich aber eine Reihe von Behörden, die diesen Befehlshaber Schritt für Schritt beobachten, die ihn mit Aengstlichkeit bewachen, dass er nicht weiter gehe, als es noth zu thun scheint [...]: alsdann hat man ein treues Bild von dem Amte eines deutschen Untersuchungsrichters vor Augen." Mit diesen Worten leitet Ludwig von Jagemann in der Spätzeit des Inquisitionsverfahrens Mitte des 19. Jahrhunderts seine Schrift Lieber die Mittel zur Unterdrückung der Mißbräuche der Untersuchungsbeamten ein.46 Bald danach hat man den Inquisitionsprozess in Deutschland abgeschafft. Nach dem Willen nicht nur der deutschen Strafprozessordnung ist das rechtsstaatliche Strafverfahren als Parteiverfahren organisiert. Das Vorverfahren, das Ermittlungsverfahren aber basiert weiterhin auf dem Inquisitionsgedanken. Schließlich wünschen wir, dass die materielle Wahrheit an den Tag gebracht wird. Und daher ist derjenige, gegen den ermittelt wird, nicht im eigentlichen Sinne Prozesssubjekt. Das ist er nur in der Hauptverhandlung. Dort stehen sich keine Feinde gegenüber, weil es einen Dritten gibt, den Richter. Es stehen sich Gegner gegenüber47 - Prozessgegner, zwischen denen die sogenannte Waffengleichheit herrschen sollte.48 Anders im Vorverfahren, bei der polizeilichen Ermittlung. Man sieht es schon daran, dass die Rechtsbelehrung vor der Beschuldigtenvernehmung in der kriminalistischen Literatur bisweilen salopp „förmliche Kriegserklärung"49 genannt wird. Das Verhältnis zwischen dem Verhörenden und dem Verhörten ist kein Rechtsverhältnis und daher ein Fremdkörper im gerichtlichen Verfahren. Daher ist auch der Terminus „Verhör" aus dem Wortschatz der Strafprozessordnung gestrichen. Stattdessen soll die Vernehmung nach §136 StPO „dem Be45
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Hobbes, Leviathan, 238. Unter diesem Blickwinkel muß zum Beispiel die Untersuchungshaft als ein feindlicher Akt definiert werden - eine Perspektive, die die ,Fragwürdigkeit' bestimmter Institutionen noch einmal freizulegen imstande ist. L. v. Jagemann, lieber die Mittel zur Unterdrückung der Mißbräuche der Untersuchungsbeamten, Karlsruhe 1839, S. 3. Zur Unterscheidung zwischen Feind und Gegner vgl. den Beitrag von Alexander Garcia Düttmann in diesem Band. Für einen (kritischen) Überblick zur Konzeption der Waffengleichheit siehe (mit weiterer Literatur) I. Müller, Rechtsstaat und Strafverfahren, Frankfurt am Main 1980, S. 57-60. So zum Beispiel - bezeichnenderweise in Anführungszeichen - bei E. Lohner, Der Tatverdacht im Ermittlungsverfahren, Frankfurt am Main 1994, S. 19.
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schuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen". Aus der Perspektive des Rechts kann es nur diesen Begriff der Vernehmung geben. Unterhalb dieser Ebene aber pflegen die kriminalistischen Handbücher mitunter ein ausgesprochen bellizistisches Vokabular: Von der „Überraschungstaktik" ist die Rede, von der „Sondierungstaktik", der „Verstrickungstaktik" oder von der „Widerstandsenergie" des zu Vernehmenden, der damit in die Position des Verhörten rückt.50 Wenn man so spricht, unterstellt man den Verhörten als einen Gegner, der die Wahrheit zurückhält. Diese Perspektive ist aber ebenso unvermeidlich wie die Sprache des Gesetzes, zu der sie sich genau invers verhält. Es ist gewissermaßen die notwendige methodologische Unterstellung dessen, der nach der Wahrheit forscht. Denn danach forschen muss und kann er ja nur unter der Voraussetzung, dass sie ihm nicht mitgeteilt wird. Daher lautet eine klassische Definition aus der Spätzeit des Inquisitionsverfahrens Mitte des 19. Jahrhunderts, das Verhör habe die Aufgabe „von einem widerstrebenden Individuum, ohne Anwendung irgend eines Gewaltmittels, die Wahrheit zu erforschen".51 Der Hinweis auf die Nichtanwendung von Gewaltmitteln belegt, dass die Gewalt stets im Räume steht, dass das Ermittlungsverfahren seiner Logik nach ein begrenzter Exzess ist. Das Verhör spielt sich zwar innerhalb eines durch die Strafprozessordnung geregelten Verfahrens ab, kann aber grundsätzlich nicht in eine Verfahrensform überfuhrt werden. Das heißt nicht, dass der Verhörende und der Verhörte sich in Wahrheit als Feinde gegenüberstehen. Das wäre höchstens dann der Fall, wenn auch der Verhörte durch das explizite Eingeständnis, sich der Wahrheitserforschung widersetzen zu wollen, eine „förmliche Kriegserklärung" abgeben würde. Der Witz der Verhörsituation besteht im Gegenteil ja gerade darin, dass der Verhörte das Gegenteil behauptet - dass er kein Feind sei, der die Wahrheit zurückhält. Und das ist auch der Witz der immer ausgedehnteren und formloseren Anwendung der Majestätsgesetzgebung. Wäre es nur um die Majestätsverbrechen derer gegangen, die sich selbst zu Feinden erklären, hätte man keine Majestätsgesetzgebung benötigt. Ihr Zweck bestand ja gerade darin, innere Feinde dort auszumachen, wo sie sich nicht als solche erklären. Nur wenn die Wahrheit bekannt wäre, deren unterstellte Zurückhaltung den Verhörten in den Augen des mit ihrer Erforschung beauftragten Vertreters der Institution zum virtuellen Feind macht, könnte man wissen, ob sich der Verhörende und der Verhörte gleichsam als Feinde gegenüberstehen. Weil dies so ist, drängt sich die Metaphorik des Krieges und Feindschaft auf der einen Seite auf und wird auf der anderen Seite zurückgedrängt. Und damit hängt zusammen, dass man nicht genau beschreiben kann, was die Situation des Verhörs ist, dass es nicht möglich ist, ein Modell für diese Situation zu formulieren. Der Schriftsteller Franz Werfel hat dieser Unmöglichkeit in folgender Auslassung zur Sprache verholfen, in der zunächst das Modell des Verhörs als Kriegszustand exponiert wird, um dann Stück fur Stück dekonstruiert zu werden: „Sebastian war ein sehr moderner Jurist. Er behauptete zwar, keine Macht der Welt könne den legitimen Kriegszustand aufheben, der zwischen Richter und Angeklagtem herrsche, aber da der eine Teil der Kriegfuhrenden, der Richter nämlich, in gar zu gewaltigem Vorteil 50 51
Exemplarisch etwa bei O. Schubert, Die Vernehmung im Ermittlungsverfahren. Ein praktischer Ratgeber für Polizeibeamte und Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft, Karlsfeld 1983, S. 181-194. L. Jagemann, Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde. Bd. 1, Frankfurt am Main 1838 [Nd. Leipzig 1976], S. 394 (§ 358).
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sich befinde, so wolle es die Menschlichkeit, dass man dem Benachteiligten im Spiele einige ,Punkte vorgebe'. Er verstieg sich sogar mißbilligenden Kollegen gegenüber zu der Behauptung, der Richter müsse einen Teil seiner Truppen auf Seiten des Feindes kämpfen lassen; dies sei nicht nur im Interesse der Gerechtigkeit, sondern mehr noch zum Erweis der Wahrheit vonnöten. All die bewährten Mittelchen der Untersuchung, Kreuzverhör, Verstrickungsfragen, Widerspruchsfallen, Überraschungsschläge, waren ihm in der Seele verhaßt. Er verdammte sie als den ,malleus maleficarum', den rückständigen Hexenhammer der modernen Rechtspflege."52
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F. Werfel, Der Abituriententag, Frankfurt am Main 1955, S. 10.
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Fremde Soldaten in der Armee des Feindes. Deutsche Darstellungen der französischen ,Turko'-Truppen im Krieg von 1870/71
Fremdheit und Feindschaft sind zwei Begriffe, die jeweils für sich schon Gegenstand einer komplexen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Theoriebildung sind. Noch viel komplexer wird das Problem, wenn man die beiden Begriffe aufeinander zu beziehen versucht, wenn man das Fremde im Feind oder das Feindliche des Fremden erfassen will. Im Falle der Feindschaft stellt sich sofort eine merkwürdige Ambivalenz ein: Einerseits implizieren Feindschaft und Verfeindung eine ausgesprochene Intimität, ein ständiges Aufeinander-Bezogensein, eine verbissene Erkundung der genauen Beschaffenheit des Opponenten, andererseits wird aber auch gerade auf das Unbekannte, auf das Ganz-Andere mit feindseligen Gefühlen reagiert - wie auch umgekehrt der einmal etablierte Feind oft im Dunkel des Unbekannten, des Fremden verbleiben muss, weil nur dieser Status es erlaubt, ihm ständig Absichten und Eigenschaften zuzuschreiben, die die Feindschaft nähren können. Wenn eine wirkliche Aufklärung über die Motive des Feindes zugelassen würde, wäre die Feindschaft möglicherweise schon sehr bald ihrer Grundlage beraubt. Im Begriff der Fremdheit ist eine ähnliche Ambivalenz angelegt. Der Fremde ist derjenige, bei dem sich noch erweisen muss, ob er Freund oder Feind ist. Fremdheit ist also fast definitionsgemäß der Schwebezustand, in dem über das Verhältnis noch nicht entschieden ist, in das die Akteure miteinander eintreten. Dieser Schwebezustand kann aufrechterhalten werden, solange die Begegnung mit dem Fremden nur sporadisch erfolgt; wenn der Fremde allerdings ,bleibt', wie es in Simmeis berühmter Formulierung heißt1, dann muss irgendwann auch festgelegt werden, als wessen Freund und als wessen Feind er sich in die Gesellschaft eingliedert.2
1 G. Simmel, „Exkurs über den Fremden", in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe, Bd.ll, Frankfurt/M. 1992, S. 764. 2 Zu diesen Problemen auch K. Prange, „Das Fremde und das Eigene im Erfahrungsprozeß", in: S. Müller/H.-U. Otto/U. Otto (Hg.), Fremde und Andere in Deutschland. Nachdenken über das Einverleiben, Einebnen, Ausgrenzen, Opladen 1995, S. 19ff.; H. Münkler/B. Ladwig, „Dimensionen der Fremdheit", in: H. Münkler (Hg.), Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, Berlin 1997, S. 1 Iff., bes. S. 27; A. Hahn, „Soziologie des Fremden", in: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Hg.), Erfahrungen des Fremden. Vorträge des Studium generale im Sommersemester 1992, Heidelberg 1993, S. 23ff.; ders., „Die soziale Konstruktion des Fremden", in: W. M. Sprondel (Hg.), Die Objektivität der Ordnungen und ihre kommunikative Konstruktion. Für Thomas Luckmann, Frankfurt/M. 1994, S. 140ff.; R.-P. Janz (Hg.), Faszination und Schrecken des Fremden, Frankfurt/M. 2001.
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Zwischen Fremdheit und Feindschaft können also ausgesprochen vielfältige Wechselwirkungen bestehen. Zahlreiche Konstellationen und Kombinationen sind logisch möglich oder psychologisch wahrscheinlich. Dass sie auch in der Realität vorgekommen sind und noch vorkommen, ist so evident, dass es für eine empirische Wissenschaft fast zu billig wäre, hier den Nachweis zu fuhren. Wenn also die Geschichtswissenschaft in diesem Zusammenhang bemüht wird, dann nicht, um bestimmte Aussagen über Interdependenzen von Fremdheit und Feindschaft nur zu verifizieren oder zu illustrieren, sondern um umgekehrt selbst auf den Prozess des theoretischen Nachdenkens einzuwirken. Einer historischen Fallstudie zum Thema Fremdheit und Feindschaft sollte es im Idealfall gelingen, diese Begriffe gerade durch den Zugriff auf die Quellen mit neuen Bedeutungsnuancen anzureichern. Wenn in diesem Sinne auf den deutsch-französischen Krieg von 1870/71, oder genauer: auf die Wahrnehmung der französischen Kolonialsoldaten in der bürgerlich-nationalen Öffentlichkeit Deutschlands eingegangen wird, sind sowohl das Subjekt wie auch das Objekt dieses Wahrnehmungsaktes mit Bedacht gewählt. Mit der afrikanischen Hilfstruppe als dem fremden Einsprengsel in der Armee des Feindes verband sich für die Deutschen, die zu diesem Zeitpunkt noch keine Erfahrungen mit eigenen Kolonien hatten, die erste direkte Konfrontation mit dunkelhäutigen Menschen in einem größeren auch politisch relevanten Maßstab - sicherlich ein einschneidendes Erlebnis. Die Beobachter auf deutscher Seite repräsentierten genau jenes Milieu, in dem der Nationalismus bereits die stärksten Wurzeln geschlagen hatte: die Gruppe der „protestantischen Theologen, Historiker, Schriftsteller, Beamten" und „Gymnasiallehrer"3, der zuletzt noch von Hans-Ulrich Wehler die eindeutige .Meinungsführerschaft' für den Nationalismus im Deutschland des 19. Jahrhunderts zugesprochen worden ist. Diese Nationalisten bewerteten nun auch den Einsatz fremder Truppen völlig anders, als es in der alteuropäischen Tradition üblich gewesen war; hatten in den Heeren der Vormoderne noch Soldaten aus aller Herren Länder Dienst tun können, ohne damit irgendeinen Anstoß zu erregen, so legte der Nationalismus mit seiner strikten Identifikation von Nationszugehörigkeit und nationalem Waffendienst ein gänzlich abweichendes Urteil über diese Form der Rekrutierung nahe. Eine neue Erwartung hinsichtlich der Gestalt nationaler Armeen kam also hier mit der neuen Erfahrung einer direkten Konfrontation mit Farbigen zusammen - eine Konstellation, die auf die deutschen Kommentatoren ganz besonders herausfordernd wirken musste. Was bedeutete das Erscheinen von Fremden in der feindlichen Armee im Zeitalter des Nationalismus? Welches Wechselspiel von Fremdheit und Feindschaft wurde hier in Szene gesetzt? Doch zunächst zu den Fakten. Dass die französische Armee im Ersten Weltkrieg durch koloniale Hilfstruppen, unter ihnen auch Afrikaner, verstärkt wurde, ist allgemein bekannt4; 3 H.-U. Wehler, „Nationalismus, Nation und Nationalstaat in Deutschland seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert", in: U. Herrmann (Hg.), Volk - Nation - Vaterland, Hamburg 1996, S. 271. In gewisser Weise nutzten die Vertreter der bürgerlichen Bildungsschicht ihre Rede- und Schreibkompetenz aus, um den geringen faktischen Anteil des nationalen Bürgertums an den militärischen Ereignissen in Frankreich mit einem umso größeren Anteil an der öffentlichen Darstellung des Krieges zu kompensieren. Wenn diese Gruppe die tatsächliche Gestalt des Krieges auch nur wenig beeinflussen konnte, so spielte sie doch in seiner Deutungskultur eine herausragende Rolle. Siehe F. Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864-1913, München 2001, S. 37ff. 4 Zuletzt G. Höpp/B. Reinwald (Hg.), Fremdeinsätze. Afrikaner und Asiaten in europäischen Kriegen, 1914-1945, Berlin 2000; Ch. Koller, „ Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt". Die Diskussion um die
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dass schon im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 auf solche Kontingente zurückgegriffen wurde, hingegen nur wenigen Spezialisten geläufig. Als Bezeichnung für diese fremden Soldaten in der Armee Napoleons III. wurde der Begriff ,Turkos' verwendet. Er hatte sich während des Krimkrieges eingebürgert, der ersten militärischen Auseinandersetzung, an der die 1842 gegründete afrikanische Fußtruppe unter französischen Fahnen teilnahm. Hier waren die exotischen Krieger von den Russen irrtümlicherweise für Türken gehalten worden. Tatsächlich setzte sich die Einheit, deren offizielle Bezeichnung .algerische Tirailleure' lautete, zu ungefähr gleichen Teilen aus Kabylen, Arabern und Schwarzafrikanern zusammen.5 Die falsche Titulierung als ,Turcos' erhielt sich jedoch wider besseres Wissen bis in den deutsch-französischen Krieg hinein. Dort waren die Afrikaner zwar nur in einer Stärke von drei Regimentern, also von ungefähr 9 000 Mann vertreten6, aber der Eindruck, den sie bei ihren deutschen Kriegsgegnern erzielten, war trotzdem überwältigend. Aus dem realgeschichtlich sehr kleinen Kontingent, das unter den mehreren hunderttausend Mann des französischen Heeres kaum ins Gewicht fiel, wurde wahrnehmungsgeschichtlich ein bedeutendes Faktum, ein Phänomen, das von zahlreichen Kommentatoren des Krieges beachtet und zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Interpretation gemacht wurde. So gingen die Vertreter der deutschen Bildungsschicht, die sich während des Krieges und in den Jahren danach in Reden, Traktaten, Feldzugsdarstellungen und Erinnerungswerken zu Verlauf und Bedeutung des Feldzugs äußerten, mit Vorliebe auch auf die .fremdrassigen' Hilfstruppen des Kriegsgegners ein.7 Besonders nahe lag diese Vorgehensweise, wo bei der Interpretation der gesamten Auseinandersetzung ohnehin bereits mit ethnischen Deutungsmustern gearbeitet wurde. Diese Muster, die den europäischen, insonderheit den deutschen Nationalismus von seinem Ursprung an begleitet hatten, eigneten sich hervorragend zur ,Fundamentalisierung' eines Konfliktes, dessen politische Vorzeichen sich nach der Revolution in Paris am 4. September 1870 grundlegend verändert hatten; als Napoleon III. gestürzt war und eine heftige Diskussion um den Sinn und die Berechtigung einer Fortsetzung der Kampfhandlungen aufbrandete, bildete der vermeintliche ethnische Gegensatz ein starVerwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (19141930, Stuttgart 2001. 5 T. Lindner, Der Krieg gegen Frankreich und die Einigung Deutschlands. Zur 25jährigen Wiederkehr der Gedenktage von 1870/71, Berlin 1895, S. 28. 6 A. Reichardt, Anno 1870. Geschichte des deutsch-französischen Krieges bis zum Friedensschlüsse, Stuttgart 2 1871, S. 32. Rechnete man noch die Zuaven hinzu, eine Söldnertruppe, die zum größeren Teil aus Algeriern, zum kleineren Teil aus Europäern aller Nationen bestand, ergab sich eine Gesamtzahl von ca. 17 000 .Fremden' in der französischen Armee (R. Koenig, Der große Krieg gegen Frankreich im Jahre 1870, Bd.l, Bielefeld/Leipzig 1871, S.62). 7 Außerhalb des nationalen Lagers spielte die Beschäftigung mit den Turkos im übrigen keine besondere Rolle. Die konservativen Kreise in Armee und Regierung, die den Frankreichfeldzug ohnehin in den Bahnen eines klassischen Kabinettskrieges halten wollten, hatten an einer Nationalisierung, ja Ethnisierung des Konfliktes in Theorie und Praxis nicht das geringste Interesse. Hier wurden die Afrikaner, wenn sie überhaupt Beachtung fanden, eher in der Tradition der vornationalen Kriegführung als ,fremde Kriegsleute' wahrgenommen, die in die Dienste eines ausländischen Fürsten getreten waren und nun genauso die Achtung ihrer Feinde beanspruchen durften, wie jeder andere Soldat auch. Ablesbar sind diese unterschiedlichen Wahrnehmungen auch an den bildlichen Darstellungen der Turkos; während die Graphik der bürgerlichen Zeitschriften sie zumeist als .Halbaffen' präsentiert, tauchen sie auf Gemälden, die sich zuvörderst an ein aristokratisches Publikum wenden, als pittoreske Krieger auf, die an Tapferkeit den europäischen Soldaten in nichts nachstehen.
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kes Motiv für die unnachgiebige Weiterführung des Krieges - wenn ,Germanen' und R o manen' um die Vorherrschaft in Europa rangen, dann war es letztlich egal, ob Frankreich als Kaiserreich oder als Republik verfasst war. 8 Was aber reizte die bürgerlich-nationale Öffentlichkeit in Deutschland ausgerechnet an jener kleinen afrikanischen Hilfstruppe, die im großen Heer des französischen, oder wenn auch: .romanischen', .gallischen' Kriegsgegners doch kaum ins Gewicht fiel? - Eine erste Antwort auf diese Frage fällt sehr banal aus. Sie verweist auf den Zusammenhang der Kriegspropaganda, ein Mittel der publizistischen Auseinandersetzung, das in den Jahren 1870/71 bereits eine wichtige Rolle spielte. Die Propaganda der Franzosen arbeitete vor allem mit dem Gegensatz von Zivilisation und Barbarei; die deutschen Eindringlinge seien Barbaren, so hieß es immer wieder, während die französischen Verteidiger für die Zivilisation einstünden. Nichts lag für die gegnerische Seite näher, als dieses Schema einfach umzudrehen und kurzerhand die Franzosen zu Barbaren zu erklären. 9 Die Turkos bildeten hierfür den geeigneten Aufhänger. Zum einen konnten sie selbst als Barbaren tituliert werden, zum anderen bewies ihre rücksichtslose Indienstnahme die Barbarei der Franzosen. Dieser zweifache Vorwurf wurde durch eine charakteristische Doppeldeutigkeit des Begriffs der Barbarei ermöglicht. 10 Die französischen Verantwortlichen, die sich der Waffenhilfe solcher ,Wilden' bedienten", waren barbarisch im Sinne einer aus Schwäche und Überfeinerung geborenen Grausamkeit; etwa vergleichbar mit dem dekadenten, sich an Gladiatorenkämpfen ergötzenden Rom der Spätantike, das auch nicht mehr für sich selbst Krieg führen konnte, sondern auf Söldner aus anderen Ländern angewiesen war. Die Turkos hingegen galten als Barbaren im Sinne der vorzivilisatorischen Rohheit, einer Zurückgebliebenheit, die alle Verunglimpfungen und Hasstiraden auf sich zog, die der europäische Antinegrismus bis zu diesem Zeitpunkt ersonnen hatte. 12 Wohlgemerkt: Dieser Antinegrismus hatte bereits Tradition, es kann nicht darum gehen, seine Existenz nachzuweisen, sein Hineinwirken auch in den deutsch-französischen Krieg zu demonstrieren, sondern das Ziel muss sein, seine konkrete Funktionalisierung im Rahmen der hier zur Debatte stehenden diskursiven Strategien zu analysieren, die Frage zu beantworten, was aus den längst bereitstehenden Mustern in dieser spezifischen Auseinandersetzung gemacht wurde. Dass in der französischen Öffentlichkeit bei Kriegsausbruch sogar Stimmen laut wurden, die dem deutschen Gegner ganz unverhohlen mit dem Einsatz der afrikanischen Hilfstruppen drohten, rückte die Turkos erst recht in das Licht einer Meute, die auf den Feind losge8
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Zu dieser ethnischen Interpretation des Krieges von 1870/71 und ihren Implikationen siehe M. Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992, S. 241ff. Zur besonderen Beliebtheit binärer Schemata bei der Relationierung des Fremden und des Eigenen grundsätzlich auch O. Schäffter, „Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit", in: ders. (Hg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, S. 19. Die Polyvalenz des Begriffs der Barbarei wird in größerer kulturgeschichtlicher Perspektive zuletzt ausgeleuchtet von M. Schneider, Der Barbar, München/Wien 1997. Zu dieser Sichtweise etwa F. Lampert, Kriegs- und Siegs-Chronik 1870-1871, Nördlingen 1873, S.13, sowie C. Stark, Die psychische Degeneration des französischen Volkes, ihr pathologischer Charakter, ihre Symptome und Ursachen. Ein irrenärztlicher Beitrag zur Völkerpathologie, Stuttgart 1871, S. 11. Hierzu zusammenfassend I. Geiss, Geschichte des Rassismus, Frankfurt/M. 1988 bes. S. 151 ff. sowie F. Böckelmann, Die Gelben, die Schwarzen die Weißen, Frankfurt/M. 1998, S. 289ff.
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lassen wurde, um ihn in Angst und Schrecken zu versetzen - besondere Schikane eines dekadenten Aggressors, der sich an seiner eigenen Grausamkeit delektiert. 13 Die Turkos der Vogesenarmee MacMahons, s o hatte kurz nach der Kriegserklärung eine französische Zeitung geschäumt 1 4 , seien schon im Begriff, über den Rhein zu setzen, ganz Baden zu verwüsten und bei ihrem A m o k l a u f auch vor der Zivilbevölkerung nicht halt zu machen; 1 5 insbesondere die Frauen und Mädchen sollten sich vor den entfesselten Wüstenkriegern in acht nehmen. 1 6 D i e s e skandalöse Drohung lieferte den deutschen Kommentatoren immer wieder Munition für die hitzige Diskussion um verschuldete oder erlittene Barbareien. D i e Grande Nation wollte an der Spitze der Zivilisation marschieren, w i e die beliebte Propagandaformel lautete, aber an der Spitze ihrer Armeen marschierten Barbaren, die weder Kulturgüter noch zivilisatorische Errungenschaften, sondern nur Mord, Plünderung und Vergewaltigung ins Feindesland zu tragen beabsichtigten. 1 7 G e g e n diese rohen Gesellen mussten die .wirklich' zivilisierten, das heißt gebildeten und mit den Regeln der europäischen Kriegführung vertrauten deutschen Soldaten antreten; nirgendwo sonst kam so schlagend zum Ausdruck, war man sich östlich des Rheins einig, auf welcher Seite in diesem Krieg die Barbarei, und auf welcher Seite die Zivilisation anzutreffen war. Für die Deutschen sei es fast eine Zumutung, überhaupt g e g e n die Turkos kämpfen zu müssen; der Einsatz, argumentierte man, sei ungleich, w e n n Deutschland aufgrund der allgemeinen Wehrpflicht die ,Blüte seiner Jugend' aufbieten müsse, Frankreich hingegen ,nur' seine Kolonialtruppen ins Feld stelle - der Wert
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„Gleich wilden Thieren", schrieb die Vossische Zeitung, ließ „Louis Napoleon" die „Turcos" gegen „Deutschland" los (Vossische Zeitung vom 25. 9. 1870, Nr.233 [Erste Beilage], S.l). Andere Beobachter verglichen Napoleon III. mit Attila, der ebenfalls die „Zivilisation mit der Barbarei zu überfluthen" im Schilde führte (F. H. Apel, Populäre Geschichte des Feldzuges gegen die Franzosen im Jahre 1870 71, Jena 1871, S. 21; ähnlich auch H. Fechner, Der deutsch-französische Krieg von 1870/71, Berlin 1871, S. 65). Hiervon berichten etwa J. Scherr, 1870-1871. Vier Bücher deutscher Geschichte, Bd.l, Leipzig 21880, S. 189, sowie F. Ranke, Die großen Jahre 1870 und 1871, Nördlingen 1873, S. 9f. Die Verbreitung dieser Drohung in Deutschland war natürlich hervorragend dazu angetan, feindselige Gefühle gegenüber den Franzosen auszulösen - wie ja immer antizipierte Schädigungen ein wesentliches Movens für die Entstehung von Feindschaften sind. Jede Ankündigung von sexuellen Übergriffen bediente auch wieder das Stereotyp von den französischen Verführern, das schon in der Publizistik der Befreiungskriege die Okkupation des Vaterlandes mit der Entehrung der deutschen Frauen gleichgesetzt hatte. Dass nun ausgerechnet die Turkos als die gefährlichsten Vergewaltiger hingestellt wurden, verstärkte die Konnotation der mit dem französischen Einmarsch verbundenen ,Schändung' Deutschlands noch zusätzlich. Oder andersherum formuliert: Die Angst vor den französischen Verfuhrern personifizierte sich nun in den Turkos, die den erwarteten Gräueln ein konkretes Gesicht verliehen - so wie es immer wichtig ist, dem Feind und den Schädigungen, die von ihm befürchtet werden, eine klar umrissene Gestalt zu geben, die die Bedrohung von der abstrakten Ebene in die Sphäre plastischer Vorstellungen heruntertransformiert. Auf diese Paradoxie machen ζ. B. aufmerksam E. Du Bois-Reymond, Über den deutschen Krieg. Rede am 3. August 1870 in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten. Zum Besten des Berliner Hülfs-Vereins der Deutschen Armeen im Felde, Berlin 1870, S. 30; J. C. Bluntschli, Das moderne Völkerrecht in dem französischen-deutschen Kriege von 1870. Eine Rectoratsrede am 22. November 1870, Heidelberg 1871, S.23; H. Blum, „Die Schlacht von Sedan (1. September 1870). Festrede", in: ders., Volkstümliche geschichtliche Vorträge, Berlin 1904, S. 146; Deutsche Kriegs-Zeitung, Nr.l (1870), S.6; K. W. Vetter, Der Deutsch-französische Krieg von 1870 und 1871 in Geschichten und Schlachtenbildern, Breslau [1871], S. 25; G. Jahn, Der Krieg von 1870 und 1871. Dem deutschen Volke erzählt, Halle a. S. 1872, S. 93.
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eines Menschenlebens wurde offensichtlich von Rassenzugehörigkeit und Ausbildungsstand abhängig gemacht.18 Die rassistische Beschimpfung der Turkos äußerte sich aber auch noch in viel konkreterer Form. Zu den vergleichsweise harmlosen Varianten gehörte dabei ihre Titulierung als ,Gesindel'19; mit dieser Bezeichnung wurden nicht nur die Turkos, sondern gleichermaßen die Troupiers des kaiserlichen Heeres bedacht - beiden Gruppen unterstellte man, sie seien arbeitsscheu und kriminell, mit dem Unterschied freilich, dass den Nordafrikanern diese Eigenschaften gleichsam von Natur aus innewohnen sollten. Wenn das ,Gesindel' allerdings aus ,Wilden' bestand, dann war die Grenze zur ethnischen Diffamierung endgültig überschritten: Die Turkos wurden als minderwertige Rasse definiert, als eine Rasse, die in ihrer Entwicklung auf halbem Wege zwischen Tier und Mensch stehen geblieben sei. „Halbwilde Araber und schwarze Neger werden gegen uns ins Feld gefuhrt", rief der Münchener Professor Franz von Löher in seiner Streitschrift „Abrechnung mit Frankreich" ohne Beachtung des Pleonasmus aus, „wie entsetzlich würde dies Raubgesindel in unseren Dörfern und Städten gehaust haben!"20 - der Literarhistoriker Johannes Scherr erfand den Begriff des „Menschenaffengesindels"21, um damit die Zwitterhaftigkeit der Turkos: halb Mensch, halb Tier, angemessen zum Ausdruck zu bringen.22 Solche Zwittergeschöpfe seien kaum mehr als ein „Gezücht"23, glaubte Wilhelm Buchner, ebenfalls Verfasser einer populären Feldzugsdarstellung, und andere Autoren bezeichneten größere Ansammlungen von Turkos nicht als .Gruppen', sondern als .Horden', um sie durch diese Wortwahl schon in die Nähe von Tieren zu rücken.24 18
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So argumentieren R. Dove, („Antwort des Prorectors der Georgia Augusta an die Royal Irish Academy" [14. 12. 1870]), in: ders., Einige Gedenkblätter historisch-politischen Inhalts aus der Geschichte der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen von 1837-1887 mit besonderer Berücksichtigung der Kriegsjahre 1870/71, Göttingen [1888], S. 17; W. Angerstein, Vollständige Geschichte des Deutschen Krieges gegen Frankreich in den Jahren 1870 und 1871, Berlin 21871, S. 222f.; A. Strodtmann, „Alldeutschland in Frankreich hinein!" Kriegserinnerungen, Berlin 1871, S. 19; Der Heilige Krieg 18701871. Nach den Berichten des „Staatsanzeigers" und anderer amtlichen Quellen volksthümlich dargestellt, Leipzig 1872, S. 373. Augsburger Allgemeine Zeitung vom 5. 8. 1870, Nr.217, S. 2; Reichardt, Anno 1870, S.32; Vetter, Der Deutsch-französische Krieg, S. 25; T. Gümbel, Erinnerungen eines freiwilligen Krankenpflegers vom Kriegsschauplatz 1870, München 1890, S. 41. F. v. Löher, Abrechnung mit Frankreich, Hildburghausen 1870, S. 4. Scherr, 1870-1871, Bd.l, S. 89. Die durchgängige Verwendung solcher und ähnlicher Klischees in den deutschen Zeitungen wird am Beispiel der Pfalz nachgewiesen von E. Schneider, „Die Reaktion der deutschen Öffentlichkeit auf den Kriegsbeginn. Das Beispiel der Bayerischen Rheinpfalz", in: P. Levillain/R. Riemenschneider (Hg.), La Guerre de 1870/71 et ses consiquences. Actes du XXe colloque historique franco-allemand organise ä Paris par l 'Institut Historique Allemand en coopiration avec le Centre de Recherches Adolphe Thiers, du 10 au 12 octobre 1984 et du 14 au 15 octobre 1985, Bonn 1990, S. 132f. Die „halbwilden Stämme der Wüste" ([Otfrid Mylius7, Illustrirte Geschichte des Krieges vom Jahre 1870 und 1871, Stuttgart 1871, S. 2) wurden von Paul Hassel kurzerhand mit den ,Wilden' Nordamerikas in einen Topf geworfen, indem er ihnen eine große Lust am „Scalpiren der deutschen Schädel" unterstellte (P. Hassel, „Der Gaulois in Wörth", in: Grenzboten 29 [1870], Bd. 3, S. 344); Egmont Fehleisen aktivierte ein anderes beliebtes Klischee: er verglich die ,Mohren' mit dem Teufel (E. Fehleisen, Heitere Bilder aus dem Soldatenleben im Krieg und Frieden, Reutlingen 1882, S.25). W. Buchner, 70/71. Der große deutsch-französische Krieg 1870-1871, Lahr 1895, S. 43. G. C. H. Raspe, Der Deutsche Krieg. Rede gehalten im Hörsaal der Domschule zu Güstrow am 18. Oc-
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Von hier aus war es nicht mehr weit bis zur vollständigen Identifikation der farbigen Soldaten mit Tieren.25 Die ersten .Bestien'26, die in den Schlachten bei Weißenburg und Wörth Anfang August 1870 von den Deutschen gefangengenommen worden waren, zogen ein beinahe zoologisches Interesse auf sich. Der bekannte Schriftsteller Gustav Freytag schilderte in den „Grenzboten" den Eindruck, den die geschlagenen Turkos bei ihm hinterließen, als er sie zum ersten Mal aus der Nähe betrachtete: „Wer die Horden dieser Gefangenen, von unseren wackern Niederschlesiern bewacht, vor dem Hauptquartier kauern sah, schmutzige Halbaffen, darunter viele mit den ärgsten Galgenphysiognomien, und dies Völkchen mit den ehrlichen rothbäckigen Gesichtern unserer strammen Landsleute verglich, der musste sich sagen, dass eine der Bedingungen des Friedens mit Frankreich sein müsse, dass diese fremde Froschbrut nie wieder gegen christliche und civilisirte Heere gestellt wird"27. Freytag entwirft eine Szene, in der sich die Hierarchie der Rassen idealtypisch spiegelt; die Turkos hocken wie .Halbaffen', ja wie eine ,Froschbrut' am Boden, während ihre deutschen Bewacher halb neugierig, halb entsetzt auf sie herabsehen.28 Die Schwarzen haben ,Galgenphysiognomien', die Deutschen hingegen ,ehrliche, rotbäckige Gesichter' - auch der physiognomische Diskurs, der im 19. Jahrhundert ohnehin sehr populär war29, wurde also für die Darstellung der fremden Soldaten im Krieg von 1870/71 funktionalisiert. In den Gesichtern der Turkos fließen das Fremde und das Verbrecherische bis zur Ununterscheid-
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tober 1870, Güstrow 1870, S. 13; Blum, „Die Schlacht von Sedan", in: ders., Vorträge, S. 146; C. Muff, „Krieg und Frieden" [1890], in: ders., Sieben Sedan-Reden, Halle a. S. 1895, S. 84; L. Korth, Hinter der Front. Erinnerungen, Essen 1911, S. 37. Welcher Tierart die Turkos jeweils zugeschlagen wurden, blieb dabei der Phantasie der deutschen Kommentatoren überlassen. Beliebt waren der Affe (0. R., „Meine Freunde, die Turkos", in: Daheim 6 [1870], S. 704; G. Hesekiel, Deutsche Kriegs- und Sieges-Chronik 1870-1871, Berlin 1872, S. 43; O. Höcker/F. Otto [Hg.], Das große Jahr 1870. Neues Vaterländisches Ehrenbuch, Berlin/Leipzig 1871, S. 46), der Hund (Feldzugs-Erinnerungen eines Kriegsfreiwilligen der 25. Hessischen Division. Aus Tagebuchblättern und Briefen zusammengestellt und herausgegeben von Dr. M., Augsburg 1895, S. 92) und die Katze (H. Koneberg, Der deutsch-französische Krieg in den Jahren 1870-71, Augsburg o. J., S. 17; A. Hecker, Ernstes und Heiteres aus dem Kriegstagebuche eines sächsischen Oberjägers 1870-71, Dresden 1895, S. 95). Fechner, Der deutsch-französische Krieg, S. 65; J. Goeßmann (Hg.), Der Deutsch-französische Krieg in den Jahren 1870 und 1871, Fulda 1872, S. 12; F. Κ. M., Versailler Briefe. Nebst einer Sammlung vaterländischer Aufsätze und Gedichte aus dem letzten Kriege, Berlin 1872, S. 135. G. Freytag, „Kriegsbriefe der Grenzboten. Von der Armee des Kronprinzen. I. Weißenburg und Wörth", in: Grenzboten 29 (1870), Bd. 3, S. 318. Zu den ,gräßlichen' oder .stumpfsinnigen' Gesichtern der Turkos auch G. Hammon, Einiges aus dem Tagebuche eines Feldgeistlichen im Kriege 1870/71, Kempten 1887, S. 16, sowie G. Boschen, Kriegserinnerungen eines Einundneunzigers 1870/71, Oldenburg 1896, S. 205. Von einer neugierigen Begutachtung der gefangenen Krieger der „wilden Stämme der Wüste" berichtet auch der Bonner Theologiestudent T. Hoffmann, Von Weißenburg bis Sedan. Kriegserinnerungen eines freiwilligen Sanitäters, Karlsruhe 1890, S. 10. Ein Infanterist schildert in seinem Kriegstagebuch, dass die bayerischen Kontingente bei der Dritten Armee im Vorfeld der Schlachten von Weißenburg und Wörth sogar eine Flugschrift mit Informationen zu den Turkos erhielten, um auf das Erscheinungsbild und die Kampftechnik dieser ,fremdartigen Wesen' vorbereitet zu sein (A. Uhland, Tagebuch eines Landwehr-Offlzieres aus dem Feldzuge gegen Frankreich im Jahre 1870/71, München 1889, S. 20). Grundlegend hierzu C. Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 1995; dies., Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik, Berlin 1996.
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barkeit zusammen, während bei den Deutschen hier nicht nur Stärke und Gesundheit, sondern auch Ehrlichkeit und Anstand zum Ausdruck kommen. 30 Die Neugierde, welche die deutschen Soldaten ihren fremdartigen Widersachern entgegenbrachten, konnte die skurrilsten Formen annehmen. Der badische Infanterist Ernst Hänßler schlug nach der Schlacht bei Wörth in einem Haushalt sein Quartier auf, in dem zur gleichen Zeit ein blessierter Turko gepflegt wurde - die französische Gastfamilie hatte geglaubt, durch die Versorgung eines Verwundeten der Einquartierung entgehen zu können. Hänßler beschreibt die Konfrontation mit dem Afrikaner in seinen Feldzugserinnerungen wie die faszinierende Begegnung mit einer seltenen Tierart: „Den Turko aber, einen Sergeanten, hatten die Leute im 2. Stock im schönsten Zimmer [...]. Er war am Arm verwundet, konnte aber umhergehen. Er kam auch zu uns herunter in die untere Stube, saß dann mitten im Zimmer wie eine Bronze-Statue. Er hatte immer seinen Turban auf dem Kopf. Da ich doch auch gerne seine Schädelbildung und sein Haar gesehen hätte, zog ich ihm einmal die Kopfbedeckung ab" 31 . Er war „ganz zutraulich mit mir" 32 , resümierte der Deutsche diese Begegnung - als sei der Turko ein freilaufendes Tier, das sich gegenüber dem Menschen .zutraulich' oder w e niger zutraulich' verhält. Hänßler konnte übrigens froh sein, bei seiner Untersuchung des exotischen Wesens so vorsichtig zu Werke gegangen zu sein; der bayerische Jäger Emonts hatte beobachtet, dass die Turkos von Fall zu Fall sogar bissig waren: „Eine afrikanische Bestie", gab der Bayer aus seinen Feldzugserlebnissen kund, „biß beim Abzählen der Gefangenen dem Unterlieutenant in die Finger" 33 . Erscheinen die Turkos in solchen Schilderungen noch als gefährliche Tiere, so gab es umgekehrt auch den Versuch, sie zu tolpatschigen, ja fast liebenswürdigen Kreaturen zu stilisieren, in deren „Wesen", wie der Felddiakon und spätere Pfarrer Theodor Gümbel in seinen Kriegsmemoiren feststellte, sogar etwas „Gutmütiges" und „Drolliges" 34 lag. Tiere solcher Art musste man nicht furchten, sondern
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Einige Kriegsbücher enthielten auch Abbildungen von Turkos, die deren Gesichter, affenartig entstellt, in Aufsicht und Profil wie die Köpfe von Verbrechern zeigten (siehe ζ. Β. H. Schramm/F. Otto [Hg.], lllustrirte Chronik des Deutschen Nationalkrieges im Jahre der deutschen Einigung 1870-1871, Leipzig 1872, 3. Kapitel, S. 23f.; Der Heilige Krieg 1870-1871, S.20). Ein deutscher Soldat, der vorübergehend auf der Festung Spandau Dienst tat, wohin viele französische Kriegsgefangene verbracht worden waren, erzählt in seinen Kriegserinnerungen, dass sogar ein Künstler vom Range Adolf Menzels regelmäßig das Lager aufsuchte, um Zeichnungen von den Turkos anzufertigen - allerdings wohl kaum mit rassistischen Hintergedanken, sondern aus Interesse an den exotischen Gestalten (G. Friedländer, Aus den Kriegstagen 1870, Berlin 1886, S. 21f.). E. Hänßler, Erlebnisse eines Soldaten des 4. bad. Infant-Regiments „Prinz Wilhelm" im Feldzuge 1870/71, Karlsruhe 1896, S. 10; ähnlich auch J. Bengl, Erlebnisse eines Oberkrankenwärters in einem Feldspitale während des Feldzuges 1870/71, Nürnberg 1900, S. 6. Hänßler, Erlebnisse eines Soldaten, S. 10. J. W. Emonts, Unserer Jäger Freud und Leid. Kriegserinnerungen aus dem glorreichen Feldzuge 1870/71 nach dem Tagebuche eines bayerischen Jägers, Kaiserslautern 7 1887, S. 26f. Von einer ähnlichen Szene berichtet H. Retzlaff, Aus meinem Tagebuche. Erlebnisse und Erinnerungen aus dem deutsch-französischen Kriege 1870/71, Berlin 1897, S. 21. Gümbel, Erinnerungen eines freiwilligen Krankenpflegers, S. 39. Die wenigen Autoren, die eine grundsätzliche ,Ehrenrettung' der Turkos versuchten, waren Außenseiter wie der Österreicher Carl Abani oder der Jesuit P. Rudolph Marty. Abani bescheinigte den Afrikanern ein diszipliniertes, ruhiges und maßvolles Auftreten, sah sie aber dennoch in „Rudeln beisammen hocken" (C. Abani, Geschichte des deutsch-französischen Krieges in den Jahren 1870 und 1871, Leipzig u.a. 1871, S. 27); fur Marty wa-
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konnte umgekehrt seinen Schabernack mit ihnen treiben - wie die Gruppe deutscher Soldaten, von der Ernst Leistner, Autor mehrerer populärer Kriegsbücher, nicht ohne Süffisanz erzählt, dass sie eine Abteilung Turkos allein mit einer Bassgeige besiegte; die Schwarzen hielten den Klang der Geige für das Gebrüll eines Löwen und ergaben sich angstschlotternd den vermeintlichen Raubtieren.35 Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, dass der „excentrische Hauptmann L.", ein deutscher Offizier, den ein anonymer Memoirenschreiber erwähnt, auf die Idee kommen konnte, einen „im Walde von Orleans gefangenen Turko" namens „Achmed" nicht nach Deutschland abfuhren zu lassen, sondern lieber „als Spielerei bei sich [zu] behalten"36. In solche Texte spielte nun auch der aus heutiger Perspektive reichlich deplaziert wirkende ,Humor' hinein, der die Tonlage sehr vieler Zeugnisse und Darstellungen aus dem Kontext des Krieges von 1870/71 prägte. Den Widrigkeiten des Feldzuges wurde gern noch eine heitere Seite abgewonnen - auch in die Schilderung der Turkos, die in der Regel von pathetischen Hassausbrüchen oder verwundert-distanzierter Bestandsaufnahme gekennzeichnet war, konnte diese Form von Lustigkeit und Belustigung einfließen. Die gesamte Darstellung der Turkos, ja ihre völlig überproportionale Beachtung in der deutschen Öffentlichkeit überhaupt, hatte aber gewiss auch noch andere als nur propagandistische Funktionen. Die Fremdheit, das Anders-Sein der Kolonialsoldaten wurden so ostentativ herausgestrichen, dass hier offensichtlich auch eine ganz besondere Distanz zum Kriegsgegner konstruiert werden sollte. Zieht man zusätzlich noch den Umstand in Betracht, dass viele deutsche Kommentatoren den Eindruck zu erwecken versuchten, als bestände das französische Heer in wesentlichen Teilen aus nordafrikanischen Kolonialtruppen, aus Soldaten zudem, die ihre Eigenarten auf die übrigen Heeresteile übertrügen und damit der gesamten Armee ihren Stempel aufdrückten37, dann wird die Absicht mehr als deutlich, die feindlichen Streitkräfte in ihrer Gesamtheit mit dem Odium des Fremden zu umgeben. Hier greift genau jener Mechanismus, den Carl Schmitt in seiner Arbeit über den „Begriff des Politischen" theoretisch ausformuliert hat: Feind kann nur ein Anderer, ein Fremder sein, wo keine Unterscheidungen möglich sind, ist auch die Setzung einer Freund-Feind-Relation ausgeschlossen.38 Und dass gerade im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 eine solche Ver-
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ren die Kolonialtruppen im Grunde sogar ihren eigenen ,Soldherren' überlegen, denn der „Turko besitzt dasjenige, was wir Deutsche so sehr lieben und bei dem Franzosen vermissen, - Gemüth" (P. R. Marty, Friedensbilder aus dem deutsch-französischen Kriege 1870-71, Amberg 31872, S. 43). E. Leistner, Das deutsche Volk in Waffen im zweiten Franzosenkriege. Heldenthaten, hervorragende Erlebnisse und Abenteuer einzelner Soldaten des deutschen Heeres im Kriege gegen Frankreich 1870, Leipzig 1870, S.15f. Feldzugs-Erinnerungen eines Kriegsfreiwilligen der 25. Hessischen Division, S. 92. Leicht zu .dressieren' waren die Turkos auch in den Augen Ernst von Bergmanns, des bekannten Arztes, der wie viele seiner Zunftkollegen während der Kriegsmonate in einem Feldlazarett arbeitete (A. Buchholtz, Ernst von Bergmann. Mit Bergmanns Kriegsbriefen von 1866, 1870/71 und 1877, Leipzig "1925, S. 277f.). Zu Realität und Mythos der Turkoregimenter siehe auch T. Rohkrämer, Der Militarismus der „kleinen Leute". Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, München 1990, S. 128; Jeismann, Das Vaterland der Feinde, S. 283ff.; F. Kühlich, Die deutschen Soldaten im Krieg von 1870/71. Eine Darstellung der Situation und der Erfahrungen der deutschen Soldaten im Deutsch-Französischen Krieg, Frankfurt/M. u.a. 1995, S. 153ff. C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. Unveränderter Nachdruck der 1963 erschienenen Auflage, Berlin 1987, S. 27; siehe auch den Kommentar
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Fremdung des Gegners absolut notwendig war, verdeutlicht schon ein flüchtiger Blick auf die nationalpolitische Situation in Deutschland. Dort, wo bis in den Krieg hinein noch ein hartnäckiger Partikularismus fortbestanden hatte, musste jede Chance genutzt werden, um klare Gemeinsamkeiten und eindeutige Abgrenzungen zu konstruieren. Gerade die ehemaligen Rheinbundländer, in denen vielerorts noch große Sympathien für Frankreich bestanden, wurden nur durch die Behauptung eines wirklich fundamentalen Gegensatzes zwischen Deutschen und Franzosen in wünschenswerter Eindeutigkeit der eigenen Nation zugeordnet - getreu der sozialpsychologischen Einsicht, dass gerade dort die härtesten Abgrenzungen vorgenommen werden müssen, wo die Ähnlichkeiten und Überschneidungen realiter am größten sind. Bei vielfältigen Loyalitäten erlaubt nur die Setzung eines eindeutigunterscheidenden Kriteriums zwischen Ingroup und Outgroup wirkliche Festlegungen. Ein frankophiler süddeutscher Katholik etwa wird nur dadurch konsequent in die eigene Gruppe ,hineingeholt', dass ihm suggeriert wird, welche Abgründe ihn von den Franzosen trennen und welche existentiellen Gemeinsamkeiten ihn umgekehrt mit seinen deutschen Landsleuten zusammenschweißen. Der überakzentuierte Gegensatz ist die beste Gewähr für die Unterdrückung ungewollter Affinitäten. Doch auch in dieser - nicht überraschenden, sondern erwartbaren - Strategie, die Deutschland gegen eine ganze Armee von Wilden und Barbaren kämpfen sehen wollte, um ein möglichst eindeutiges Feindbild zu gewinnen, erschöpfte sich die Bedeutung des deutschen Turko-Mythos noch nicht. Die Identifikation des gesamten französischen Heeres mit dem kleinen Turko-Kontingent trug auch noch auf einer anderen Ebene Früchte. Bei dieser Ebene handelte sich um die Form der Kriegführung, um die Kampftechnik, die vom Kriegsgegner praktiziert wurde. Schon während der Regierungszeit Napoleons III., also in den ersten Kriegswochen bis zur Schlacht bei Sedan am 1. September 1870, war es zu vereinzelten Partisanenaktionen gegen die deutschen Invasoren gekommen; nach dem Sturz des Kaisers wurde diese Form des kleinen Krieges von der neuen republikanischen Regierung ausdrücklich akzeptiert, ja im Sinne des ,guerre ä outrance', des Krieges bis zum Äußersten, sogar als erfolgversprechende Verteidigungsstrategie regelrecht propagiert. Neben der Mobilisierung von Massenarmeen in den nicht-besetzten Teilen Frankreichs, die den Belagerungsring um Paris aufsprengen sollten, schien der Partisaneneinsatz am besten geeignet, um die deutschen Nachschublinien zu beunruhigen, damit feindliche Kräfte im Hinterland des Kampfraumes zu binden und insofern den eigenen Feldarmeen größere Siegchancen zu verschaffen.39 Die Deutschen, denen diese Strategie der Nadelstiche immer wieder empfindliche Verluste zufügte, befanden sich bei ihrer Beurteilung der französischen Strategie jedoch in einem Dilemma. Einerseits musste ihnen natürlich daran gelegen sein, den Guerillakrieg mit allen Mitteln zu unterbinden und zu ächten; die Siege, die sie in den offenen Feldschlachten errungen hatten, sollten den Krieg verbindlich entschieden haben und nicht durch eine Neuauflage des Kampfes unter veränderten Bedingungen wieder in Frage gestellt werden dür-
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von F. Balke, „Die Figur des Fremden bei Carl Schmitt und Georg Simmel", in: Sociologia Internationalis 30 (1992), S. 41. Siehe etwa M. Agulhon, „Les Francais devant les operations militaires de Garibaldi", in: Levillain/Riemenschneider (Hg.), La Guerre de 1870/71 et ses consequences, S. 158ff.; G. Krumeich, „The Myth of Gambetta and the .People's War' in Germany and France, 1871-1914", in: S. Förster/J. Nagler (Hg.), On the Road to Total War. The American Civil War and the German Wars of Unification, 18611871, Cambridge/New York 1997, S. 641ff.
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fen. Der ,neue' Krieg, den die Republik nun gegen die Invasoren eröffnete, machte eine zweite große Anstrengung der Besatzer nötig, die den Feldzug nach der Gefangennahme des Kaisers bei Sedan schon erfolgreich abgeschlossen zu haben glaubten. In diesem Sinne hatten sie ein vitales Interesse daran, jede Aktion der Franctireurs - so nannten sich die französischen Partisanen - für irregulär zu erklären, damit zu kriminalisieren und aus dem Spektrum der legitimen Formen der Kriegführung herauszudrängen. Andererseits jedoch war es noch nicht ganz sechzig Jahre her, dass die Preußen selbst einen Volkskrieg gegen ihre französischen Eroberer propagiert hatten - das berühmte Landsturmedikt Friedrich Wilhelms III., mit dem er seine gesamte Bevölkerung zum Widerstand gegen die Eindringlinge aufgerufen hatte, bildete im Jahre 1813 gewissermaßen das Fanal für die Befreiungskriege und war folglich zu einem festen Bestandteil nicht nur des preußischen Geschichtsbewusstseins, sondern auch der gesamten deutschen Nationalmythologie geworden.40 Hier hatte man also - in Ansätzen - selbst eine Form der Kriegführung praktiziert, die man nun, im Krieg von 1870/71, beim Gegner keineswegs zuzulassen, ja noch nicht einmal im entferntesten als legitim anzuerkennen bereit war. Erschwerend kam hinzu, dass der Gedanke der Volksbewaffnung sogar institutionell in der preußischen Heeresverfassung verankert war; die Landwehren hatten immer als Bindeglied zwischen Armee und Gesellschaft, als sinnfälliger Ausdruck der Beteiligung der Bevölkerung an den militärischen Anstrengungen gegolten.41 Noch im Heereskonflikt der frühen 1860er Jahre hatten die Liberalen darum gekämpft, jede Abwertung, jede Statusverschlechterung der Landwehr zu verhindern - so sehr war ihnen an dem Prinzip der Offenheit der Armee gegenüber der Gesellschaft gelegen. Wenige Jahre später sprachen dieselben Liberalen ihr Verdammungsurteil über den französischen Volkskrieg aus. Dieser Gesinnungswandel ist nicht allein darauf zurückzuführen, dass man einem banalen egoistischen Kalkül folgte, dass man den Freischärler dort zum Helden erklärte, wo er einem von Nutzen war, und ihn dort verdammte, wo man durch ihn geschädigt wurde. Es musste auch noch andere Ursachen geben, die mit grundlegenden militärpolitischen Überlegungen zu tun hatten. Das bürgerlich-nationale Lager in Preußen, und sukzessive auch in anderen Teilen Deutschlands, hatte nach 1866 immer größeren Abstand von den alten liberalen Ideen der Miliz und der Volksbewaffnung genommen. Stattdessen vertraute man auf die Organisationsleistungen des Staates, dessen ,Gewaltmonopol' auch in militärischen Angelegenheiten kaum mehr angezweifelt wurde. Diese Position schien moderner zu sein als das ewige Beharren auf der militärischen Eigenverantwortung des Bürgers und fügte sich zudem besser in ein politisches Gesamtprogramm ein, das ohnehin im Bündnis mit den alten Eliten einen Machtstaat formen wollte, in dem die Freiheit des einzelnen längst zur freiwilligen Einordnung in ein professionell geführtes Ganzes mutiert war. Die Volksbewaffnung erinnerte also nur allzu sehr an allgemeinpolitische Optionen, die über Bord geworfen worden waren und tunlichst auch gar nicht mehr auftauchen sollten, um nicht die Wellen der innenpolitischen Diskussion in Deutschland wieder hochschlagen zu lassen. In den französischen Freischärlern bekämpften die deutschen Kommentatoren auch einen Bestandteil ihrer eigenen Tradition und ihres eigenen po40 41
T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 6 1993, S. 83f. U. Frevert, „Das jakobinische Modell: Allgemeine Wehrpflicht und Nationsbildung in PreußenDeutschland", in: dies. (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 17ff.
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litischen Selbstverständnisses, aber einen solchen, der mittlerweile als Irrweg, ja als Gefahr eingestuft wurde, und insofern, aufgrund der angestammten Nähe, vielleicht desto intensiver befehdet werden musste. Gleichzeitig stritten sie dabei auch für eine militärpolitische Option, die pars pro toto für eine politische Grundsatzentscheidung stand: fur die Entscheidung, sowohl in militärischen wie in politischen Angelegenheiten die Führungskompetenz von durch Professionalität ausgezeichneten Personen und Gruppen zu akzeptieren.42 Was aber haben diese Auffassungen von Wehrsystem und politischer Ordnung mit dem Turko-Mythos zu tun? Der Zusammenhang wird sofort deutlich, wenn man sich noch einmal vor Augen führt, mit welcher Versessenheit viele deutsche Beobachter den Eindruck zu erwecken versuchten, als sei die gesamte französische Armee von Kolonialsoldaten durchsetzt, als stütze diese sich in ganz existentieller Weise auf ihre afrikanischen Hilfstruppen. Bestände diese Abhängigkeit wirklich, dann müsste auch die Kampftechnik der Franzosen entscheidend von den Turkos geprägt sein. Wo überall, scheinbar in jedem Regiment, Afrikaner am Werke waren, da ergab es sich fast zwangsläufig, dass auch die afrikanische Form der Kriegführung allenthalben zur Geltung kam - eine Form, bei deren Beurteilung die deutschen Kommentatoren wieder einer Meinung waren. Wer sich tot stellte oder scheinbar ergab, um den Gegner dann rücklings zu erschießen, wie es von den Afrikanern immer wieder kolportiert wurde43, der hatte von europäischen Kriegsbräuchen und Ehrbegriffen offenkundig nicht die geringste Ahnung. Diese besondere Hinterhältigkeit der Turkos wurde nun mit der Kampfesweise der gesamten französischen Nation identifiziert. Ein Land, das seine Bürger auffordere, deutsche Soldaten aus dem Hinterhalt zu erschießen, habe sich offensichtlich der militärischen Praxis der eigenen Hilfstruppen ergeben; als sei die Barbarei der Turkos ansteckend gewesen, überließen sich die Franzosen nun gleichfalls einer barbarischen Kriegführung. Ein Traktat über „Das Franzosenthum", der 1871 von dem Schriftsteller Roderich Benedix veröffentlicht wurde, brachte den Zusammenhang zwischen der Radikalisierung der Kampfmittel auf der einen und dem Einfluss der afrikanischen Kontingente auf der anderen Seite mit wünschenswerter Deutlichkeit auf den Begriff: „Die Franzosen schössen auf Parlamentäre, verletzten die Genfer Convention vielfach, indem sie Aerzte tödteten oder gefangen nahmen und schlecht behandelten, indem sie in Bauernkleidung aus dem Hinterhalte mordeten, indem sie Verwundete tödteten und verstümmelten, indem sie Gefangene auf die roheste und gemeinste Art behandelten. Sie führten den Krieg nach Art der Turcos."44
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Zu diesem Einstellungswandel innerhalb des bürgerlichen Lagers in Deutschland grundsätzlich Becker, Bilder von Krieg und Nation, S. 203ff. Siehe etwa die Kölnische Zeitung vom 1.8. 1870, Nr. 211, S.l. R. Benedix, Das Franzosenthum. Ein Spiegelbild aus dem letzten Kriege, Leipzig 1871, S. 42. Der Franktireurkrieg erinnere an das Gebaren von „australischen Wilden", schrieb Benedix an anderer Stelle (ebd., S. 115), während R. Dove die Kampftechnik der Partisanen mit derjenigen der „aufständischen Sipahis" in Indien verglich (Dove, „Antwort des Prorectors", in: ders., Einige Gedenkblätter, S. 15). „Solche uncivilisirte Truppen" haben zwar keinen „Einfluß auf die militärische Entscheidung", äußerte sich in ähnlicher Weise Robert von Mohl im Württembergischen Staatsanzeiger, aber „in der Nähe solcher Wilden hört jede Sicherheit der Personen und des Eigenthums a u f (Württembergischer Staatsanzeiger, 3. 8. 1870, zit. n. L. Bauer [Hg.], Der Deutschen Hochschulen Antheil am Kampfe gegen Frankreich, Leipzig 1873, S. 454f.).
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Ein in seinen Mitteln nicht zimperlicher Befreiungskampf, der sich selbst in die Tradition der levee en masse des Jahres 1793 stellt, und der von wohlwollenden Betrachtern auch mit der spanischen Guerilla des Jahres 1808, dem Aufstand der Tiroler von 1809 oder dem Widerstand der russischen Bauern von 1812 verglichen werden könnte, wird hier kurzerhand zu einem ,Krieg nach Art der Turcos' erklärt - alle schmeichelhaften Traditionen, in die der französische Volkskrieg mit gleichem Recht zu stellen wäre, werden bewusst abgebogen, um stattdessen einen möglichst diffamierenden Vergleich heranzuziehen. Was die farbigen Hilfstruppen im August 1870 schon angekündigt hatten, das wurde im weiteren Verlauf des Krieges zur gängigen Praxis der gesamten französischen Kriegführung. „Gleich im Vortrab des französischen Heeres", hieß es bei Gustav Freytag, „[gab] das schwarze Gesindel aus Afrika ein Vorspiel, wessen man sich von der Kriegsführung der Feinde zu versehen hätte"45. Wie nachhaltig zahlreiche deutsche Beobachter die Vorgehensweise der Franzosen im Partisanenkrieg mit den genuinen Kampftechniken der Turkos identifizierten, bewies auch die Bereitwilligkeit, mit der etwa Bismarcks Pressereferent Moritz Busch französischen Zeitungsmeldungen Glauben schenkte, die noch kurz vor der Kapitulation im Januar 1871 ankündigten, dass speziell zur Verstärkung der Franktireureinheiten weitere Rekrutierungen in Nordafrika beabsichtigt seien - der „Gambettasche Krieg ä outrance soll jetzt mit Beihilfe von einer Art arabischen Franctireurs weitergeführt werden"46. Der Partisanenkrieg war also nicht nur in einem abstrakten Sinne barbarisch, weil er hinter die Standards des modernen europäischen Kriegsrechts zurückfiel, sondern er wurde auch ganz konkret mit den Kampftechniken von Barbaren in Verbindung gebracht und dadurch jeder Legitimität in einer Auseinandersetzung zivilisierter Völker beraubt.47 Frankreich hatte sich zunächst der Turkos nur bedienen wollen, doch im Verlauf des Krieges sank es nach und nach auf deren kulturelle Stufe herab und bewies damit, dass es sich selbst längst in einem barbarischen Zustand befand. Die Argumentationsstrategie liegt damit klar auf der Hand: Der Volkskrieg wird zu einem Turkokrieg erklärt, dadurch barbarisiert und denkbar weit aus der Normalität der europäisch-gesitteten Kriegführung herausgedrängt. Das Bedürfiiis nach einer besonders scharfen Abgrenzung von allen Formen des Volkskrieges hat in den Afrikanern das geeignete
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G. Freytag, Bilder von der Entstehung des Deutschen Reiches, Leipzig [1911], S. 465. Dass die Turkos Frankreich „bezüglich der Zucht und des Geistes in der Armee sehr geschadet" hätten, wie Wilhelm Zimmermann konstatierte, war in diesem Zusammenhang noch eine sehr zurückhaltende Formulierung (W. Zimmermann, Deutschlands Heldenkampf 1870-1871, Stuttgart 1873, S. 362). Zur ,Barbarisierung' der gesamten Kriegführung durch den Einfluß der Turkos auch Bluntschli, Das moderne Völkerrecht, S.22f., sowie C. G. Bruns, Deutschlands Sieg über Frankreich. Rede beim Antritte des Rectorats der Königl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 15. October 1870, Berlin 1870, S. 7f. Busch, Tagebuchblätter, Bd. 2, S. 11. Zur grundsätzlichen Identifikation des Partisanenkrieges mit der Kampfesweise von .Barbaren' in einer vorzivilisatorischen Ära auch Vossische Zeitung vom 2. 9. 1870, Nr. 210 (Zweite Beilage), S. 6; K. Braun, Während des Kriegs. Erzählungen, Skizzen und Studien, Leipzig 1871, S. 16; G. Freytag, „Die französische Volksbewaffnung", in: Die Grenzboten 29 (1870), Bd. 4, S. 78; W. Müller, Der große Krieg und das deutsche Reich, Stuttgart/Leipzig [1873], S. 98; W. Kopp, Der Krieg Kaiser Wilhelms 1870-1871, Berlin 1872, S. 67; P. Hassel, Von der dritten Armee - Kriegsgeschichtliche Skizzen aus dem Feldzuge von 1870-1871, Leipzig o. J., S. 73; M. v. Eelking, Der Krieg zwischen Deutschland und Frankreich 1870 bis 1871, Leipzig 1871, S. 319; F. Gerstäcker, „Die Franktireurs", in: ders., Kriegsbilder. Erzählungen und Erinnerungen aus den Kriegsjahren 1870/71, Leipzig [1908], S. 7.
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Mittel zur totalen Diskreditierung des ,guerre ä outrance' gefunden. Auch für die eigene Militärpolitik ist die Volksbewaffnung keine ernsthafte Alternative mehr, wenn sie der Kriegfuhrung von Wilden entspricht. Aus der Nähe zu einem Konzept, das aus der eigenen Geschichte, ja noch aus dem weiterschwelenden Heereskonflikt der unmittelbaren Vorkriegszeit bestens vertraut war, ist eine denkbar große Distanz geworden; der Graben, der zwischen Linienarmee und Miliz klafft, ist so breit geworden wie der Graben zwischen Europa und Afrika, zwischen Kultur und Barbarei. Lange Zeit hatte die Idee der Volksbewaffnung als besonders progressiv gegolten, jetzt wird sie so weit in die Geschichte zurückverwiesen - bis in die barbarische Vorzeit - , dass sich das preußisch-deutsche Modell einer staatlich gelenkten und straff durchorganisierten, nur über die allgemeine Wehrpflicht zur Gesellschaft hin geöffneten Armee nun auch noch im Glanz der Modernität sonnen kann. Indem aber die Alternative zur eigenen Wehrverfassung durch die Identifikation mit den Turkos so weit weggeschoben wird, verliert sie aus deutscher Perspektive auch ihr Beunruhigendes, ihr irritierendes Potential einer sich jederzeit anbietenden, im Grunde genausogut wählbaren Option. Diese Option wird kurzerhand, um den Begriff von Bernhard Waldenfels zu verwenden, in die Sphäre der strukturellen Fremdheit gerückt48 - aus der Infragestellung der eigenen militärischen und politischen Ordnung wird damit die bequeme Zuweisung an eine andere .Kultur des Krieges', die man verachten oder auch bestaunen kann, die aber als realistische Alternative zu den eigenen Einrichtungen ohnehin nicht in Frage kommt. Zudem verbindet sich mit dem Konzept des Volks- und Freischärlerkrieges eine radikalisierte Verfeindung, für die sich seit Carl Schmitts Studie über den Partisanen der Begriff der absoluten Feindschaft eingebürgert hat.49 Der absolute Feind ist derjenige Gegner, der nicht nur auf dem Boden der regulären Kriegführung, sondern immer, überall und mit jedem erdenklichen Mittel bekämpft wird. Der Krieg ist mehr als ein abgegrenzter, .gehegter' Konflikt, sondern ein Prinzipienkampf, ein Kampf, den der Hass diktiert und in dem jeder Gegner den anderen mit der vollständigen Vernichtung bedroht. Gerade diese absolute Feindschaft wollten die Deutschen vermeiden, indem sie der ,Enthegung' des Krieges entschlossen entgegentraten;50 hier ging es nicht nur um die Frage von Kriegführung und Heeresverfassung, sondern gleichzeitig auch noch um den Grad der Feindschaft, den man zwischen den kriegführenden Nationen zu akzeptieren bereit war. Das Schreckgespenst der absoluten Feindschaft wurde wieder mit der Maske des Turkos versehen; eine Feindschaft, die keine Grenzen kennt, entspricht dem Gebaren von Wilden, ein Feind, der keine Niederlage akzeptiert, der so lange weiterkämpft, bis er selbst oder der Gegner vollständig vernichtet ist, wird zur Bestie erklärt. Der Zusammenhang zwischen den Franzosen und ihren kolonialen Hilfstruppen, zwischen den Feinden und den Fremden hat sich also als wesentlich komplexer erwiesen, als der erste Zugriff vermuten ließ. Die Fremden dienten nicht nur dazu, den Feind mit einfachen propagandistischen Strategien zu verunglimpfen. Natürlich bildete der Einsatz der Turkos für die bürgerlich-nationale Öffentlichkeit in Deutschland einen willkommenen An-
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B. Waidenfels, „Das Eigene und das Fremde", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43 (1995), H. 4, S. 615. C. Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 2 1975, S. 56. Zum Begriffspaar des gehegten bzw. enthegten Krieges siehe Schmitt, Theorie des Partisanen, S. 17.
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lass, den von den Franzosen erhobenen Vorwurf der Barbarei einfach umzukehren: Nun galten die Turkos als Barbaren, und nicht weniger barbarisch waren die Franzosen selbst, die keine Skrupel hatten, solche , Wilden' auf die deutschen Truppen zu hetzen. Darüber hinaus verbanden sich aber auch noch andere Strategien mit den fremden Soldaten, die erst verständlich werden, wenn man sich vor Augen hält, wie sehr die zahlenmäßige Präsenz der Afrikaner und ihr Einfluss auf die feindliche Armee übertrieben wurden. Deutsche Kriegsdarstellungen erweckten sehr gern den Eindruck, als hätten es die eigenen Soldaten in Frankreich vor allem mit Turkos zu tun. Hier wird die Absicht überdeutlich, eine möglichst große Differenz zwischen Freund und Feind zu konstruieren, um jede Uneindeutigkeit auszuschließen, die möglicherweise noch im deutsch-französischen Verhältnis bestand; immerhin gab es noch Regionen und Gruppen in Deutschland, die durchaus von frankophilen Tendenzen nicht frei waren. Ein Abstand zwischen den gegnerischen Streitkräften wie derjenige zwischen verschiedenen Rassen, ja zwischen Mensch und Tier schuf hier absolute Klarheit. Hier wurde der Fremde also genutzt, um den Feind zu ver-fremden und damit den Abstand zwischen Freund und Feind zu vergrößern, ein Verfahren, das die Zuordnung zu den beiden Lagern erleichtert und insofern zu den Voraussetzungen für die Austragung einer Feindschaft gehört. Die vermeintliche Omnipräsenz der Turkos in den französischen Streitkräften konnte außerdem dazu genutzt werden, die spätestens seit der Septemberrevolution von den Franzosen ganz massiv praktizierte Strategie der Volksbewaffnung und des Partisanenkrieges zu diskreditieren. Diese Kampfesweise wurde kurzerhand mit den Afrikanern identifiziert und damit gleichzeitig zu einer Form der Barbarei erklärt. Für die Deutschen ergab sich hieraus der sehr erwünschte Nebeneffekt, dass in der eigenen Diskussion um die richtige Heeresverfassung jede Konzession an ein Milizmodell verunmöglicht wurde - als vorzivilisatorische Form der Kriegführung erwiesen, war dieses Modell für die deutsche Militärpolitik in denkbar weite Ferne gerückt. Auch die mit der Milizidee seit jeher verknüpfte politische Option für eine Republik oder sogar Demokratie geriet völlig ins Abseits. Der Kohärenz der politischen Ziele innerhalb des nationalen Lagers in Deutschland konnte diese Verdammung nur dienlich sein. Der Fremde in der Armee des Feindes erleichterte also nicht nur die Abgrenzung vom Kriegsgegner, sondern er trug auch noch dazu bei, einen Konsens unter den Freunden zu finden. Fremd war nicht nur das Erscheinungsbild des Feindes, fremd waren auch seine Handlungen, war auch seine Strategie, die aufgrund ihrer Fremdheit desto leichter verworfen werden konnte. Und zuletzt war es auch noch die Form der Feindschaft selbst, die durch die Identifikation mit dem Fremden aus der Normalität herausgedrängt wurde. Der Fremde kann den Feind kompromittieren, er kann ihm ein Gesicht geben, er kann seine Handlungen diskreditieren und zuletzt auch noch die Feindschaft selbst in ihrem Wesen beeinflussen - sogar das konkrete Verhältnis, in das die Feinde zueinander eintreten, sogar die Definition ihrer Feindschaft ist der Wirkung des Fremden ausgesetzt.
ANNE VON DER HEIDEN
Der unsichtbare Feind
Eine der ersten Reaktionen des amerikanischen Präsidenten George W. Bush nach den Selbstmord-Attentaten auf das World-Trade-Center und das Pentagon am 11. September 2001 war die Rede von einem konkreten Feind. Kurze Zeit nachdem der Fernsehsender CNN von dem ersten Einschlag eines Flugzeuges in einen Turm des World-Trade-Center berichtete, wurden Spekulationen laut, die den aus Saudi Arabien stammenden Osama Bin Laden zum mutmaßlichen Urheber der Attentate machten. Damit war ein konkreter Feind bezeichnet, der in den USA und nur wenig später auch in vielen anderen westlichen Staaten ein Gesicht bekam. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. September 2001 hieß es, es müsse sich um einen Typ von Tätern handeln, „der Antrieb und Motive aus einer kruden Mischung von politischem Extremismus und religiösem Fundamentalismus schöpft". Diese Täter seien „eine Gefahr fur jede Gesellschaft" und einer „offenen Gesellschaft wie der der Vereinigten Staaten" falle „es besonders schwer, sie unschädlich zu machen".1 Der Fundamentalismus aus der Ferne zerstöre „das Herz" der USA: „Wer rechnet auf Gewinn, während er [d. i. der Feind], vielleicht Tausende Kilometer entfernt, in einem amerikanischen Sender das terroristische Erdbeben im Herzen des mächtigsten Staats der Erde verfolgt? Zusieht, wie die Türme des World Trade Center einstürzen, wie sich Rauch und Staub über die Stadt ausbreiten, wie die Zahl der mutmaßlichen Opfer höher und höher steigt?" Der Feind ist Osama Bin Laden. Der Feind, ein dünner Mann mit langem Bart, Turban auf dem Kopf und einer Kalaschnikov in der Hand. Er hat eine konkrete Physiognomie, die einer Karikatur gleicht, und der amerikanische Präsident Bush ist in der Lage, diese mit einem Bild aus dem Westernfilm zu vervollständigen: Wanted! Dead or alive! - ein Tötungsbefehl. Der Mann verkörpert - so die amerikanische Propaganda - das schlechthin Böse, das die USA überschattet und das sie daher mit einem „gerechten Krieg" aus der Welt schaffen, der Gerechtigkeit (justice) überantworten muss. Auf der einen Seite - der des Bösen - steht der Feind, und auf der anderen Seite - im Reich des Guten - steht die ganze zivilisierte Welt, in der Jeder ein Amerikaner" ist. Differenzierungen sind nicht erlaubt; es gilt, uneingeschränkte Solidarität gegenüber dem Guten auszusprechen und sich gegen das Böse zu wehren, denn wer sich nicht als uneingeschränkt solidarisch erklärt, wird vom Verdacht verfolgt, auf der Seite des Terrorismus zu stehen. Auf
1 K.-D. Frankenberger: „Ins Herz", in: FAZ vom 13. 9. 2001, S. 1.
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der einen Seite befindet sich der Feind, auf der anderen die gesamte zivilisierte Welt. Diese Formulierung erinnert an das Modell des Barbaren, das immer - wie Manfred Schneider in seiner Studie „Der Barbar" gezeigt hat - in Krisensituationen, bei Krieg, Revolutionen oder Endzeitstimmungen abgerufen wird, um Unterschiede - vor allem den positiven und negativen Unterschied zur Kultur selbst - zu repräsentieren.2 Die amerikanische Politik nach dem 11. September sprach nicht von komplizierten Bedingungsverhältnissen, von langwierigen Verfeindungsprozessen mit verschiedenen Ursachen, auch nicht von einem möglichen Feind im Inneren; es ging nicht um ein globales Gewaltproblem, in dem die USA als große Wirtschaftsmacht einen zentralen Platz einnimmt, nicht um die Politik der Amerikaner in Vorderen Orient, auch nicht um die Thematisierung der Techniken und Netzwerke der westlichen Welt, die die Attentäter nutzten. Es ging zuvörderst um eine einfache Rede von einem Bedrohungsszenario, einer Krise der „zivilisierten Welt", die durch einen fernen Feind hervorgerufen wurde, und um ein direktes, schnelles Handeln, ohne lange Anstrengungen einer Beweisaufnahme. Die „verwundete" Weltmacht inszenierte sich als stark und geeint im Kampf „gegen das Böse", den Feind. Es scheint der Rede vom Feind angemessen zu sein, ihn von sich zu weisen, vom „wir" auszuschließen und ihn in einer großen Geste der Exklusion in der fernen, unzivilisierten Barbarei zu verorten. Ich möchte im folgenden einige Überlegungen zum Begriff der Feindschaft anstellen und dann einen berühmten Fall aus der Kulturgeschichte analysieren, der zeigt, wie ein Modell der Feindschaft, ohne das man nicht auszukommen meint, begründet und etabliert wird. Lässt sich Feindschaft so einfach, wie wir es jetzt wieder erleben, in einer Opposition von Freund und Feind fassen, in - um mit der alten Terminologie von Carl Schmitt zu sprechen - hostis und inimicus trennen?3 Die besondere Leistung Schmitts war die Formalisierung der sich substantiell artikulierenden Gegensätze der „Klassen und Völker", der Blick auf die Grundstruktur möglicher Gegensätze. Es ist nicht zu bezweifeln, dass sich das Begriffspaar Freund und Feind durch eine besondere „politische Formalität" auszeichnet und ein - wie Reinhardt Koselleck gezeigt hat - „Raster möglicher Antithesen" liefert, „ohne diese selbst zu bestimmen". Das Interessante an diesem Raster ist seine formale Negation. Es handelt sich bei dem Schmittschen Feind-Begriff „erstmals um rein symmetrische Gegenbegriffe, da für Freund und Feind eine Selbst- bzw. Feindbestimmung vorliegt, die von beiden Seiten gegenläufig verwendbar ist".4 Die heutige politische Situation zeigt wieder, dass dieses Raster immer noch Verwendung findet, obwohl das höchst problematisch ist und es sich - auch schon bei Schmitt - nur um ein ideales Raster handelt, eben eines der „möglichen Antithesen", das der Sache nicht gerecht wird. Hinzu kommt, dass im Akt der Feinderklärung die Annahme der Reziprozität steckt. Aber macht wirklich der, den ich als Feind bezeichne, zugleich mich zum Feind, bezie-
2 Vgl. M. Schneider, Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling. München, Wien 1997. 3 Ist das nicht schon dann problematisch, wenn man diese formale Opposition auf dem Hintergrund der Schmittschen Unterscheidung von hostis und inimicus trifft, also die Ausschließung des privaten Feindes aus der Sphäre des Politischen unternimmt? Gibt es den Begriff des öffentlichen bzw. politischen Freundes? 4 R. Koselleck, „Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe". In: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 211-259, S. 258f.
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hungsweise: Bin ich Feind desjenigen, der mich zum Feind erklärt? Könnte man diese Frage verneinen, müsste man also nicht die Zwangsläufigkeit der gegenseitigen „Feinderklärung" als Grundelement von Feindschaft verstehen, dann darum, weil man sich nur ungern in die Rolle des vom anderen definierten Feind-Seins einordnen lassen will. Das Argument der Zwangsläufigkeit der gegenseitigen Feindzuschreibung und der Gedanke der Symmetrie der Begriffe mit der Vorstellung, Herrschaftsstrukturen unterlaufen zu können, hat seine Grenzen. Die Argumentation vernachlässigt die Bedeutsamkeit des Prozesses der „Verfeindung", beziehungsweise die Koppelung des Feindbegriffs an die Figur des Fremden, über die die Prozesse der Konstruktion des Feindes deutlicher werden. Häufig ist es der Fremde, der in der Feinderklärung zum Feind gemacht wird. Dies ist auch besonders im momentanen Konfliktfall zu beobachten. Vor einigen Jahren war Osama Bin Laden Vertrauter der amerikanischen Regierung, wurde mit Waffenlieferungen unterstützt, war Verbündeter gegen einen Dritten, einen anderen Feind. Zunächst verfolgte er, der Milliardär, Intellektuelle und perfekte Technik-Experte mit seinen globalen Kontakten dieselben Ziele wie die Amerikaner. Dann - nach den Attentaten am 11. September 2001 - wurde er selbst zum Feind. Attribuiert wurde seine Feindschaft mit einem klaren physiognomischen Modell und über die Herausstellung seiner „barbarischen" Hintermänner, der Taliban, die - so sagte man - eine fremde, fundamentalistische Religionsauffassung haben, die historische Monumente zerstören, Frauen unterdrücken, bereit sind, SelbstmordAttentate zu verüben, mit Drogen handeln und denen man einen Einsatz von biologischen Waffen zutraut. Es ist die Figur des Fremden, die auch hier wieder die Feindschaftszuschreibung motiviert. Wie Friedrich Balke in seiner Interpretation der Theorie Carl Schmitts gezeigt hat, ist der Begriff des Politischen, beziehungsweise Schmitts Feindbegriff, ohne Bezugnahme auf den Fremden nicht denkbar, auch wenn er in der Sphäre der Freund-oder-Feind-Opposition anscheinend keinen Platz hat. Die Idee des Nationalen, Schmitts Vorstellungen von Homogenität, Gleichartigkeit, Identität und Volk weisen auf den großen Stellenwert der Figur des Fremden hin. Das Konzept entfaltet seine ,nationalitäre' Wirkung auf dem Wege einer an der Semantik des Staates abgelesenen symbolischen Aktivierung des vertrauten Raumes, der Grenze, genauer: des eingegrenzten Bodens, d. h. aufgrund von Bestimmungen, die die Substanz des Politischen im Sinne Schmitts konstituieren. Der Feind ist - nach Schmitt - „als etwas seinsmäßig Anderes und Fremdes" zu verstehen, als „die äußerste Steigerung des Anders-Seins".5 Das heißt: Die abstrakte Opposition der Termini „Freund" und „Feind" kommt zustande, wenn der andere zuvor als „Fremder" politisch markiert worden ist.6 Der Feind ist also - überspitzt formuliert - der radikal und bedrohlich gewordene Fremde. Die Unterscheidung von fremd und feind mit in den Blick einer Theorie der Feindschaft zu nehmen, bietet die Möglichkeit, die Position eines Dritten in das Dispositiv der Feindschaft einzubauen, die in der Idee der Feindschaft als politischer Gegnerschaft nicht erscheint. Denn schon die Frage danach, welche Implikationen die politische Unterscheidung von Freund und Feind hat, weist auf dieses Problem hin. Wird als politische Leitdifferenz die Unterscheidung von Freund und Feind eingeführt (wie sie Schmitt vornimmt), dann steht 5 6
F. Balke, „Die Figur des Fremden bei Carl Schmitt und Georg Simmel". In: Sociologia 30(1992), S. 35-59, .41. Vgl. ebd.
Internationalis
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die Annahme im Hintergrund, „in der Politik gehe es in erster und letzter Instanz um eine gemeinsame Selbsterhaltung gegenüber einer jederzeit möglichen Fremdbedrohung. Für eine ,um ihre Existenz kämpfende Gesamtheit von Menschen' kommt es darauf an, ,die eigene Existenz zu verteidigen und das eigene Sein zu wahren'". 7 Der Feind bedroht die eigene Existenz, also muss sie geschützt werden. Es geht allerdings immer nur um die Frage, wie, nicht aber um die Frage, ob das eigene Sein zu bewahren ist; das wird immer schon vorausgesetzt. „Das Eigene wird nicht selbst wieder einer Deutung unterstellt in der Art, daß ich mir und wir uns als Selbst gegenübertreten und das Eigene uns als Eigenes begegnet" schreibt Bernhard Waidenfels. „Vielmehr ist das eigene Dasein die Deutungs- und Entscheidungsinstanz, die im [...] Ernstfall zwischen Freund und Feind unterscheidet. Die Eigenheit des Eigenen wird keiner Befragung ausgesetzt; sie wird in Form einer praktischen Presupposition vorausgesetzt. Dies geschieht beispielsweise in der Bestimmung der Feindschaft als .Negation der eigenen Art der Existenz' oder in verallgemeinerter Form in der Bestimmung der Feindschaft als" - so Schmitt - „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins".8 Selbstverständlich scheint auf jeden Fall zu sein: „Das eigene Dasein ist jenes Sein, um das es im Ernstfall des Krieges geht, das fremde Sein ist jenes Sein, um das es im Ernstfall nicht geht."9 Diesen Gedanken weiterzuspinnen, heißt aber auch, dass die Konstitution des Feindes die Möglichkeit einer Reziprozität der Perspektiven verstellt und damit die Sichtweise eines ,unparteiischen' Dritten, entfällt. Es scheint, als könne „keiner die praktische Perspektive des jeweils anderen einnehmen [...], ohne aufzuhören, er selbst zu sein".10 Diese häufig vertretene Argumentation missversteht den Konstitutionsprozess des Feindes und muss ihn missverstehen, um ihn zu legitimieren. Das Fremde macht sich „unter den Voraussetzungen begrenzter Ordnungen [...] in Form eines Außer-Ordentlichen [bemerkbar], das auf verschiedene Weise an den Rändern und in den Lücken der diversen Ordnungen auftaucht".11 Das „Außer-ordentliche" ist aber nichts als der Schatten der Ordnung, der Schatten, den sie selbst erzeugt. Inklusion und Exklusion bedingen sich gegenseitig. Das Fremde hat nach Husserl in der „bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen" sein Wesen, was streng genommen heißt, dass das Fremde auch wenn es als unzugänglich definiert wird - immer schon in den Begriffen des jeweils Denkenden, immer schon im Lichte der eigenen Begriffe interpretiert wird. Das Fremde ist nicht einfach nur das absolut Unzugängliche und Unzugehörige, denn dann „wäre es nicht mehr, was es ist: ein Fremdes".12 Diese komplexe Verknotung des Eigenen und Fremden zeichnet Julia Kristeva in ihrem Buch Fremde sind wir uns selbst in ihrer kulturgeschichtlichen Genese nach, bis hin zu der psychoanalytischen Lesart, die das Fremde als „Metapher der Distanz" versteht, „die wir im Verhältnis zu uns selbst einnehmen müßten, um die Dynamik der ideologischen und sozialen Veränderung anzukurbeln".13 Als Symptom entstehe
7 8 9 10 11 12 13
B. Waidenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie M. 1997. Waidenfels zitiert Carl Schmitt. Ebd. S. 46. Ebd. S. 46. Ebd. S. 46. Ebd. S. 10-11; vgl. ebd. S. 20. Ebd, vgl. ebd. S. 33. J. Kristeva, Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a. M. 1990.
des Fremden I. Frankfurt a.
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der Fremde, wenn in mir das Bewusstsein meiner Differenz auftauche, und er höre auf zu bestehen, wenn wir uns alle als Fremde erkennen. Die in unseren Gesellschaften vorgeschlagene Absorption des Fremden sei für das moderne Individuum unannehmbar, da dieses auf seine nationale, subjektive und ethische Differenz bedacht sei. Damit mündet die Reise Kristevas durch die historischen Figuren des Fremden in der Überlegung, welche Strategien im Umgang mit Fremdheit denkbar wären. Die Absorption des Fremden stellt für sie keine Lösung dar, womit sie ähnlich argumentiert, wie es Slavoj Zi2ek, Alexander Düttmann und andere in der Debatte um den Anerkennungsbegriff tun.14 Die mit pädagogisch-politischem Impetus immer wieder formulierte Meinung, Feindschaft dann überwinden zu können, wenn sich die Idee eines multikulturalistischen Diskurses durchsetzt, die auf der Grundlage des Gestus der Anerkennung funktioniert, wird in diesen Positionen kritisiert. Es zeigt sich nämlich gerade im Diskurs um die häufig geforderte Anerkennung von Differenz, dass der Sinn der Feindschaft nicht ausreichend analysiert worden ist. Allzu oft entpuppt sich die „multikulturelle Toleranz" als Statthalter eines nur für sich selbst reservierten, privilegierten neutralen Platzes der Universalität, womit letztlich der vorgebliche Respekt vor der Besonderheit des Anderen nicht mehr als die Behauptung der eigenen Überlegenheit ist. Die Frage nach den Strategien im Umgang mit Feindschaft ist nicht allein damit beantwortet, dass zu ihrer Abschaffung aufgerufen wird.15 Kristeva behauptet, durch das Unheimliche führe Freud die mit Faszination gepaarte Zurückweisung des anderen im Innern des ,wir selbst' ein. In der faszinierenden Ablehnung, die der Fremde in uns hervorrufe, sei jenes Unheimliche im Sinne der Entpersonalisierung zu finden, die Freud entdeckt habe und die zu unseren infantilen Wünschen und Ängsten gegenüber dem anderen zurückführe. Es gehe darum, sich selbst als desintegriert zu erkennen und das Fremde weder zu integrieren, noch zu verfolgen, sondern zu verstehen. Kristeva schlägt vor, den Fremden nicht zu verdinglichen, ihn und uns nicht als solche zu fixieren, sondern das Fremde und den Fremden zu analysieren, indem wir uns selbst analysieren.
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Vgl. A. G. Düttmann, „, We're queer, we're here, so get fuckin' used to it' - Spannungen im Kampf um Anerkennung". In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart Heft 13-14, 1994; C. Menke, „Warum und Wie? Bemerkungen zu Garcia Düttmanns Erläuterung von , Spannungen im Kampf um Anerkennung'"; ebd. S. 88-95; S. liiek, Plädoyer für die Intoleranz. Wien 1998. Slavoj Zizek weist in diesem Zusammenhang in seinem Buch „Ein Plädoyer fur die Intoleranz" auf folgendes hin: Der Multikulturalist will, wie der Kolonist die kolonisierten Menschen, jede Lokalkultur studieren und respektieren, sie von einer Art leerem globalen Platz aus beobachten. Die „multikulturelle Toleranz" reserviert damit für sich selbst einen privilegierten neutralen Platz der Universalität, womit letztlich der vorgebliche Respekt vor der Besonderheit des Anderen nicht mehr als die Behauptung der eigenen Überlegenheit ist. Für Intoleranz plädieren, meint nicht etwa, Sympathie für den Fundamentalismus zu hegen, dessen Wunsch nach Rückkehr zur „Substanz" nur die unmögliche andere Seite der ,leeren' Multikulturalität darstellt, sondern die Erinnerung an die Notwendigkeit der Differenz und des Widerspruchs. Immer wieder wurde versucht, das destabilisierende Potential der Politik zu suspendieren, zu verleugnen oder in anderer Weise zu regulieren, indem man die Rückkehr zum präpolitischen Gesellschaftskörper forderte oder Regeln des politischen Wettstreits zu etablieren versuchte. Doch die Macht ist immer eine hegemoniale Universalität, die zwei partikulare Inhalte einbeziehen muß: ,den ,authentischen' populären Inhalt und seine .Verzerrung'. Eine Gruppe von Marginalisierten beispielsweise, muß, will sie Macht erlangen, sich als Repräsentant des Ganzen ausgeben, sich als Mitte konstituieren, Universalität für sich beanspruchen.
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Wenn wir unsere Fremdheit erkennen, beunruhige sie uns nicht länger; wir werden weder unter ihr leiden, noch sie genießen. Die Feindschaft erscheint in dieser Perspektive als eine radikale Abspaltung des Fremden. So kann zum Beispiel die Konstruktion des keinem Ort, keiner Zeit, keiner Liebe Zugehörigen, des ewig wandernden Juden Ahasver - auf die ich im zweiten Teil meiner Ausführungen eingehen will - in die konkret attribuierbare Figur des Feindes überfuhrt werden, der nicht nur nicht meiner Ordnung angehört, sondern sie bedroht. Das Bedrohungsszenarium, das die Feindschaft zeichnet, erscheint als ebenso konkret wie universell. Das heißt, ganz bestimmte Attribute werden dem Feind zugeschrieben, der Feind wird zu einem Typus. Er steht für das Feindliche schlechthin. Seine Partikularität hat eine universelle Seite, beziehungsweise: seine Partikularität ist die notwendige Form zur Artikulation von Universalität. Der Feind ist gebannt und in der Bannung (das, was er ist:) der Feind. Er wird - im Auge der Bedrohung - zum zugelassenen Objekt der Aggression. Ein Blick auf die Konstruktionsmechanismen des Feindes, die Auseinandersetzung mit der Sprache, mit den Medien, in denen sich diese Konstitution vollzieht, macht deutlich, welche Möglichkeiten und Strategien im Umgang mit Feindschaft möglich sind. Feindschaft lässt sich wahrscheinlich nicht damit überwinden, dass man den von Nietzsche hervorgehobenen Wert leugnet, den es hat, Feinde zu haben. Nietzsche konstatierte: Heute ist „ist die Feindschaft [...] geistiger geworden - viel klüger, viel nachdenklicher, viel schonender. Fast jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, daß die Gegenpartei nicht von Kräften kommt; dasselbe gilt von der großen Politik. Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nötiger als Freunde: im Gegensatz erst fühlt es sich notwendig, im Gegensatz wird es erst notwendig ... Nicht anders verhalten wir uns gegen den ,inneren Feind': auch da haben wir die Feindschaft vergeistigt, auch da haben wir ihren Wert begriffen. Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt jung unter der Voraussetzung, daß die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt ,..". 16 Der Multikulturalismusdiskurs hingegen hat dies wieder vergessen. Beispielsweise meint der Philosoph Norberto Bobbio: „Die Toleranz muß sich auf alle Menschen erstrecken, ausgenommen diejenigen, die das Prinzip der Toleranz leugnen. Kurz gesagt, alle, außer den Intoleranten müssen toleriert werden."17 Einen Zugang zu einer differenzierteren Sichtweise könnten die unterschiedlichen Repräsentationen des Feindes und des Feindlichen, die Ikonographie des Feindes, die narrativen, symbolischen und ikonographischen Verfeindungstopoi, sowie die Frage Herfried Münklers eröffnen, ob man sich den Feind als Feind nicht erst schafft, indem man ihn benennt und bildlich vorstellbar macht. Der jeder Feinderklärung vorausgehende Definitionsprozess des Feindes, der als nicht nur der Eigenheitssphäre nicht angehörend, sondern als Opposition zu ihr gedacht wird, schafft die Legitimation, ihn zu bekämpfen. Der Antagonismus ist nicht einfach aufzulösen, auch nicht durch die Anwesenheit eines Dritten. Visuelle Medien eigneten sich immer besonders gut dazu, Feindbilder zu präsentieren und sie für Propagandazwecke zu verwenden. Ein Feindbild soll im Namen der Sehnsucht nach authentischem Gemeinschaftsleben (im Namen des Guten) eingeschärft, memoriert, ins 16 17
F. Nietzsche, „Götzendämmerung". In: Werke in drei Bänden, München 1960, Band 2, S. 966f. N. Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar? Mit dem Text der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Berlin 1998, S. 123.
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kulturelle Gedächtnis eingeschrieben; es soll als unhintergehbar, als plausibel und „natürlich" verstanden werden. Dafür eignen sich besondere Formen der Vermittlung, der Präsentation: die ständige Wiederholung des immer Gleichen, ein festes ikonographisches Repertoire, die Reduzierung von Komplexität auf „repräsentative Anekdoten" u. ä. Die Art der Bedrohung ändert sich mit der medialen Form der Darstellung des Feindes, des Feindlichen. Es lassen sich einerseits Strategien beobachten, den Prozess der Konstruktion des Feindes zu verschleiern und ihn „authentisch", dokumentarisch, als unmittelbar real zu zeigen. Das technische Dispositiv des angeblich unverstellten, unverzerrten Blicks der Kamera (Film, Fotografie) hat hier große Wirkungen gezeitigt. Die das Eigene grundsätzlich umfassend bedrohende Existenz des Feindes muss aber zugleich in der Zeichnung des Typischen zusammenschnurren, so dass es dazu kommt, dass der Typus Feind eines Kollektivsubjekts dem Typus Feind eines ganz anders ideologisch begründeten Kollektivsubjekts ähnlich sein kann. Die Strategie der Nationalsozialisten, „den Juden" als Feind zu definieren, funktionierte genau so. Man etablierte mit Hilfe einer finanziell gut ausgestatteten Filmindustrie, anhand von Plakaten, Ausstellungen, Schriften u. ä. einen an bestimmten, festgelegten Attributen erkennbaren Feind. Dass diese Bilder des Feindes - wie sie beispielsweise im Film „Der ewige Jude" inszeniert wurden - in ihrer Überzeichnung, Plakativität und Stereotypik überhaupt funktionierten, während sie heute eher als absurde Versuche der Komplexitätsreduktion wirken, die nicht mehr an die Realität rückgebunden werden können, ist ein drastisches Beispiel dieser Strategie: Einerseits behaupteten die Bilder die „Wahrheit", das „so sind sie - die Juden", die „Realitätstreue". Andererseits verzerrten sie in der Absicht, die universale Bedrohung zu zeigen, so maßlos, dass ein weiteres Element mit in die Feinddefinition einbezogen werden musste: Charakteristisch für die Juden sei die Kunst der Verstellung. Das Verfahren der medialen Inszenierung selber wurde dem Objekt der Definition, dem Juden, zugeschrieben. Der Jude sei wandelbar, könne sich maskiert, getarnt in die Gesellschaft einschleusen. Er kann sogar wie das eigene Selbst erscheinen. Von dieser dem Feind zugeschriebenen Verwandlungsfähigkeit solle man sich nicht täuschen lassen, man müsse das Objekt der Zuschreibung vielmehr ent-täuschen, ihm sein „wahres" Bild wiedergeben: Denn in Wahrheit „entspricht" er dieser Fiktion und muss darum vernichtet werden. „So lächerlich diese Vorstellung vom .Typischen' auch klingen mag, so liegt doch ein Körnchen Wahrheit in ihr und das rührt vom Umstand her, daß jede scheinbar allgemeine ideologische Vorstellung immer durch irgendeinen partikularen Inhalt hegemonisiert wird, der eben diese Universalität färbt und ihre Effizienz begründet."18 Der authentische, populäre Inhalt und seine Verzerrung sind Momente ein und desselben Vorgangs - und mehr noch: Das Feindbild erlangt sogar Fetisch-Charakter. In der Bannung des unbändigen, bedrohlichen Feindes entlarvt sich die Faszination am konstruierten Anderen, so dass plötzlich der radikale Antisemitismus als eine „Ontologie der Reklame" (Ardorno) erscheint.
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S. Ziiek, Ein Plädoyer für die Intoleranz, Wien 1998, S. 16.
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II Studie Der unfassbare Feind: Der Jude als Ahasver Studien zum Antisemitismus kreisen heute zumeist um Stereotypisierungen. Sie machen Zuschreibungen aus, erheben karikaturhafte Charakterisierungen von Juden oder entschlüsseln rassistische Diskursmomente und ihre vermeintliche Logik. Ich möchte im folgenden auf den Fall einer Verfeindung eingehen, der einen zentralen Stellenwert in unserer Kulturgeschichte hatte und selten behandelt wird. Es handelt sich um das Modell eines nicht fassbaren, unsichtbaren Feindes, um den Juden als wandering jew, als juif errant, als ewigen Juden. Die Beispiele, an denen ich dieses Dispositiv „Jude" vorführe, beziehen sich auf die lange Rezeptionsgeschichte der Figur des Josef Süß Oppenheimer, genannt „Jud Süß", der in Deutschland zu verschiedenen Zeiten einen großen Bekanntheitsgrad hatte und eine der wichtigsten Figuren der deutsch-jüdischen Kulturgeschichte geworden ist. Jedes religiöse System impliziere eine Ökonomie des Heils, behauptet Manfred Frank in seiner Schrift „Die unendliche Fahrt". 19 Die Tradition der Metapher „Lebensreise" appelliert an eine solche Ökonomie des Heils, indem drei Phasen die Bahn des endlichen Lebens markieren: Etwas ist „Ursprung, Heimat, Ausgangspunkt: der feste bleibende Wohnsitz des Menschenwesens (oikos), etwas ist Ziel; und dazwischen dehnt sich eine Bewegung, die den einen Punkt mit dem anderen verbindet". 20 Strukturerfordernis fur die Erhaltung der „Ökonomie des Heils" ist, nach Frank, die Bestrafung und Verfemung alles dessen, was sich ihr widersetzt, und die Schaffung verschiedener Gestalten, die einen negativen Bezug zur Ökonomie des Heils aufweisen. Eine dieser Gestalten ist die Figur des Ewigen Juden. Die Sage vom Ewigen Juden - die in ihrer schriftlichen Form erst im 17. Jahrhundert entsteht - aktualisiert „ein Motiv, in dessen Wandlungen und Revisionen, aber vor allem: in dessen Kontinuität christlich-europäisches Selbstverständnis sich [...] symbolisiert glaubte". 21 Die Art der Auffassung einer „Ökonomie des Heils" und ihre Anwendung auf biographische Modelle wurde in der Prädestinationslehre des Pietismus im 18. Jahrhundert besonders differenziert ausgebaut. Das Modell des christlichen Heilsplans wird im Laufe der sogenannten Subjektivierung, die das Bürgertum im 17. und 18. Jahrhundert vornimmt, für die Konstruktion von Biographie und Autobiographie des bürgerlichen Subjekts übernommen. Das Grundproblem besteht dabei seit Luther darin, Zeichen zu finden, an denen erschlossen werden kann, ob das Subjekt verdammt oder erlöst ist; d. h. ob der Lebenslauf mit dem christlichen Heilsplan übereinstimmt oder nicht. Dass die Zeichen willkürlich bleiben, wird besonders an der Schwierigkeit der Versuche deutlich, die Juden von den Christen zu unterscheiden (durch Physiognomien, Charaktereigenschaften). Das einfachste Verfahren ist stets, vom Ursprung her zu argumentieren und zu behaupten, die Juden seien von Anfang an, d. h. vom Christi Tod an, den sie verursacht haben sollen, verdammt. Sie unterliegen der christlichen Heilslehre nur als ihre Negation. Ahasver, der Buttadeus, dazu verflucht, ewig zu leben, der Intellektuelle, der alle Sprachen spricht, sich verstellen und verwandeln kann, bleibt immer der Fremde. Er ist ein ,Anderer', doch immer der ,Gleiche', der der Schande seiner bösen Tat, der Verstoßung Jesu auf 19 20 21
M. Frank, Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt a. M. 1979, S. 54-71. Ebd. S. 42. Ebd. S. 54.
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seinem Kreuzweg, nicht entrinnen kann. Er leidet an seiner negativen Beziehung auf das Heil, auf das „Symbol der erlösenden Weltüberwindung"22. Er kann dem Erlöser nicht entkommen, spürt ewig seine Macht. „Wer das Heil negiert, bleibt negativ auf diesen Gedanken fixiert und muß die verweigerte Gegenwart des Rettenden als den Fluch endlosen Leidens und Irrens büßen."23 Wie sehr der ewige Jude - verstanden als Modell der negativen Ökonomie des Heils die religiöse Ökonomie der christlichen Lebensweise zugleich spiegelt und mit ihr identisch ist, zeigt das Problem der Bewertung des irdischen Lebenswegs. „Dem Christen ist die Bestimmung des Terminus, an welchem die Zeitlichkeit endet, nicht minder peinvoll als dem Juden."24 Das ,Warte, bis ich wiederkomme!' Christi ist auch dem Christen gesagt. „Mit jedem Tag, den der Jude länger zu irren hat, ist auch der Tag aufgeschoben, auf den der Christ seine Hoffnung setzt." Ist Ahasver ewig zu wandern verurteilt, ist auch das Ausbleiben der Wiederkunft Christi ausgemacht; es vereinigen sich damit die „Irrfahrten des Ahasverus und des christlichen Pilgers".25 Auch „Jud Süß" ist ein solcher Ahasver, ein ewiger Jude. Er bleibt außerhalb der alles Eigene umspannenden Ordnung, aus der „kollektiven Eigenheitssphäre"26 ausgeschlossen; er ist das „Außer-ordentliche" der Ordnung schlechthin, ihr Schatten, den sie selbst erzeugt. „Jud Süß" kann so gleichzeitig als bedrohlich, beängstigend, verlockend und faszinierend erscheinen. Die Bedrohung entsteht durch die aufdringliche Konkurrenz zum Eigenen und die Faszination durch die sich anscheinend auftuenden Möglichkeiten, die eigene Ordnung zu überwinden. Die „Jud Süß"-Rezeption zeigt an unzähligen Beispielen, dass man versuchte, den ortlosen Fremden in eine Örtlichkeit zu bannen und ihn in feste Grenzen zu weisen. Man hat ihn nicht nur in die starre Konzeption einer Schicksalsbiographie mit der zentralen Metapher des Glücksrades eingebunden, des alten Topos, der den Lebenslauf als zwangsweise scheiternd darstellt. Vom Beginn seines Eindringens in die Welt der württembergischen Ordnung aus gesehen, ist sein Scheitern, sein Ende, vorauszusehen. Man will sich den zum Fremden Gemachten wieder aneignen, den als unberechenbar Konstituierten wieder berechenbar machen, was in letzter Konsequenz bedeutet, ihn an einen Galgen zu hängen, und ihn vorsichtshalber außerdem noch in einen Käfig zu bannen, damit der getötete Ortlose nicht doch noch entfliehen kann. Aber bevor ich einen Ausschnitt dieses Prozesses vorführe, möchte ich einige Informationen zur historischen Person des „Jud Süß" und zur Rezeptionsgeschichte geben. Die Rede von „Jud Süß" verbindet sich heute gemeinhin mit der Erinnerung an die nationalsozialistische Propaganda, an den antisemitischen Unterhaltungsfilm „Jud Süß" von Veit Harlan. Der Film, 1940 in Venedig und wenig später in Berlin uraufgeführt, verdichtet viele der möglichen Stereotype über Juden zu einer Art Charakterologie des „Jud Süß". Doch die Diskurse um diese Figur sind viel älter und beginnen mit der Auseinandersetzung um den Hofjuden Josef Süß Oppenheimer im 18. Jahrhundert.
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M. Frank, Die unendliche Fahrt, S. 59. Ebd. S. 60. Ebd. S. 6 0 , 6 1 . Ebd. S. 60. B. Waidenfels, Topographie des Fremden, S. 12.
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Im frühen 18. Jahrhundert beschäftigt die Württemberger und bald darauf aber auch ganz Europa die Diskussion um diesen „Politicus". Der unter der nicht unproblematischen, propagandistisch verwendeten Bezeichnung „Jud Süß" bekannte Jude Oppenheimer stand von 1732 bis 1737 als Hoffaktor im Dienste des Prinzen und später regierenden Herzogs Karl Alexander von Württemberg und wurde 1738 nach dem plötzlichen Tode seines Herrn wegen angeblichen Hochverrats, Amtserschleichung und Majestätsbeleidigung zum Tode durch Erhängen verurteilt und am 4. Februar 1738 nach einem riesigen Schauprozess am Galgen hingerichtet. Der in der Heidelberger Judengasse aufgewachsene Josef Süß Oppenheimer hatte innerhalb weniger Jahre eine exponierte Position im ständisch verfassten und streng protestantischen Land Württemberg erreicht. Als „Geheimer Finanzienrat" und „Kabinettsfiskal" hatte sein Tätigkeitsfeld am Hofe des katholischen Herzogs Karl Alexander beachtlichen Umfang: Er war herzoglicher Schatullenverwalter, Hof- und Heereslieferant, Münzpächter und Münzpolitiker, Agent und Resident. Sein Herr, Herzog Karl Alexander, geriet während seiner Amtszeit in heftige Auseinandersetzungen mit den Ständen seines hoch verschuldeten Landes, da sie den geplanten wirtschaftlichen Reformen negativ gegenüberstanden; diese Tendenz war schon zur Zeit seines Amtsvorgänger Eberhard Ludwig spürbar. Nach dem Tode des Herzogs entlud sich der Haß der „Landschaft" auf den Juden, und sein Abstieg war besiegelt. „Als der erste emanzipierte Jude vor der Emanzipation ist [...] Oppenheimer, als [...] unausweichlich zum Scheitern verurteiltes Experiment einer Einzel- und Selbstemanzipation [...] in die jüdisch-deutsche Geschichte eingegangen." 27 Er wurde zum Sündenbock, zum Opfer im Sinne der Kulturtheorie Ren£ Girards. 28 Schon zur Zeit seiner Verhaftung begann eine rege Auseinandersetzung um seine Person, die im Jahr der Hinrichtung einen Höhepunkt erreichte. Zahlreiche Flugblätter, Kupferstiche, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, Schauspiele, Lieder und Gedichte entstanden, die, mit ganz wenigen Ausnahmen, Hetz- und Schmähschriften gegen den jüdischen Hofmann waren. Das durch die zeitgenössische Veröffentlichungslawine gekennzeichnete „Jud Süß"-Portrait blieb als Thema in verschiedensten literarischen und künstlerischen Stoffen erhalten und wurde mit unterschiedenen Deutungen und Wertungen versehen. Einige wichtige Stationen der „Jud Süß"Rezeption sind zum Beispiel die Novelle von Wilhelm Hauff „Jud Süß"29, der Roman „Ein deutscher Minister" von Salomon Kohn 30 , der bekannte Roman von Lion Feuchtwanger 31 , Paul Kornfelds Drama 32 und eben der nationalsozialistische Film von Harlan 33 .
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B. Gerber, Jud Süß. Aufstieg und Fall im frühen 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur historischen Antisemitismus- und Rezeptionsforschung, Hamburg 1990, S. 21. R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt a. M. Zürich 1987; ders., Das Ende der Gewalt, Freiburg i. Br. 1983; ders., Ausstoßung und Verfolgung. Eine historische Theorie des Sündenbocks, Zürich 1988. W. Hauff, „Jud Süß". In: Sämtliche Märchen und Novellen, München o. J. [1988; Erstausgabe 1827], S. Kohn, Ein deutscher Minister. Roman aus dem Achtzehnten Jahrhundert von Salomon Kohn, Verfasser von ,Gabriel'. 2 Bde. Druck und Verlag: The Bloch Publishing and Printing Company, o. J. [1886] L. Feuchtwanger, Jud Süß. Roman, Frankfurt a. M. 1976 [Erstausgabe 1925], P. Kornfeld, Jud Süss. Tragödie in drei Akten und einem Epilog von Paul Kornfeld. Unverkäufliches Bühnenmanuskript [Masch.] Berlin 1930. Jud Süß. Deutschland 1940. Spielleitung: Veit Harlan. Drehbuch: Veit Harlan, Eberhard Wolfgang Möller, Ludwig Metzger. Uraufführung: 5. 9. 1940 (Venedig) 24. 9. 1940 (Berlin). Die frappierenden Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Darstellung dieser zentralen Figur der deutsch-jüdischen
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Wir haben es hier mit der Kollision einer (angeblich) trügerischen Polysemie des Jüdischen mit der propagandistischen Monosemie des Antisemitismus zu tun: Im Auge ihrer Feinde verstellen sich die Juden, bleiben gerade darum jedoch ewig dieselben. Noch komplizierter ist dieser Vorgang, da er in mehreren Medien mit unterschiedlichen Umsetzungsverfahren fur Polysemie (des Charakters, der Religion, der Rasse etc.) bzw. Monosemie beobachtet wird: Texte, Bilder, Filme. Der Antisemitismus der Moderne zeichnet sich durch einen Mechanismus aus, der die Vieldeutigkeit, die Nichtfassbarkeit, die „Wesen"losigkeit des Juden, also das polysemische Element in ein eindeutiges Bild, ein monosemisches Konstrukt zu binden versucht. Der Jude ist Jenes paradoxe Wesen, das über kein eigenes Wesen verfügt", er verwandelt sich ständig, ist keinem Lager existentiell zugehörig, hat keine Identität. So bestimmt Werner Sombart in seinem 1911 publizierten Buch „Die Juden und das Wirtschaftsleben" das Bild des jüdischen Körpers als Zeichen seiner Veränderlichkeit (Anpassungsfähigkeit) und gleichzeitig als Zeichen seiner inhärenten Unveränderlichkeit: „Die Triebkraft der jüdischen Anpassungsfähigkeit ist natürlich die Idee eines Zwecks und Ziels als Ende aller Dinge. Sobald der Jude sich entschieden hat, welche Richtung er verfolgen will, ist der Rest vergleichsweise einfach, und seine Beweglichkeit macht seinen Erfolg nur sicherer. Wie beweglich der Jude sein kann, ist wirklich erstaunlich. Er kann sich das Aussehen verleihen, das er am meisten erstrebt [...] Die besten Beispiele stammen aus den Vereinigten Staaten, wo der Jude der zweiten oder dritten Generation schwerer von Nichtjuden zu unterscheiden ist. Den Deutschen erkennt man nach noch so vielen Generationen; ebenso den Iren, Schweden, Slawen. Aber dem Juden ist es insoweit, als seine rassischen Merkmale dies zulassen, gelungen, den Yankee-Typus zu imitieren, insbesondere betreffend äußere Zeichen wie etwa Kleidung, Verhalten und die besondere Art des Haarschnitts."34 Georg Simmel, der in seiner Soziologie den Juden als ,,klassische[s] Beispiel" für den Fremden bezeichnet, beginnt seinen „Exkurs über den Fremden" mit der Überlegung, dass „das Verhältnis zum Raum nur einerseits die Bedingung, andrerseits das Symbol der Ver-
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Kulturgeschichte, die Umwertungen des Narrativs von antisemitischen in philosemitische Deutungen und die damit verbundenen Instrumentalisierungsversuche, die in unterschiedlichen Formen und Medien vorgenommen werden, lassen nach den Prinzipien, Mechanismen und Bedingungen des Konstruktionsprozesses fragen, der den Juden als Anderen im Eigenen so bedrohlich und zugleich faszinierend erscheinen lässt. Ich untersuche darum das Dispositiv „Jude" im Hinblick auf die es konstituierenden Elemente und deren Verknüpfung, die Prozesse der Symbolisierung, Metaphorisierung und Metonymisierung, und dies nicht im motivgeschichtlichen und ikonographischen Sinne, sondern im Kontext der sozialpsychologischen Funktion. Sombart schreibt: „Es ist ja erstaunlich, w i e beweglich der Jude sein kann, wenn er einen bestimmten Zweck im Auge hat. Es gelingt ihm selbst, seiner ausgesprochenen Körperlichkeit in weitem Umfange das Aussehen zu geben, das er ihr geben möchte. Wie er sich früher durch , Sichtotstellen' zu schützen wußte, so jetzt durch .Farbenabpassung' oder andere Arten von Mimikry. Das ist besonders deutlich zu verfolgen in den Vereinigten Staaten, wo jetzt der Jude schon in der zweiten und dritten Generation oft nur schwer vom Nichtjuden zu unterscheiden ist. Während man den Deutschen, den Iren, den Schweden, den Slaven auf Generationen hinaus noch ohne weiteres aus der Masse herausfinden kann, hat der Jude - soweit seine rassemäßige Körperbildung es nur einigermaßen zuläßt - am ehesten den YankeeTypus nachzuahmen verstanden: hauptsächlich natürlich, sofern dazu äußere Hilfsmittel, wie Kleidung, Haartracht, Haltung usw. die Möglichkeit bieten." W. Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, S. 327; vgl. auch ebd. S. 323-331.
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hältnisse zu Menschen ist", indem der Fremde der ist, „der heute kommt und morgen bleibt sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat". Den Fremden (also den Juden symbolisiert in der Figur des Händlers) zeichne der spezifische Charakter der „Beweglichkeit", in der die Synthese von Ferne und Nähe lebe, solange sie in einer umgrenzten Gruppe stattfinde. Der „Bewegliche" komme mit jedem einzelnen Element in Berührung, sei aber hingegen mit keinem einzelnen durch ζ. B. verwandtschaftliche oder lokale Fixiertheiten „organisch" verbunden. Damit ist er „objektiv" und „nicht von der Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt", „ein besonderes Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit"35 Der Fremde ist der „Freiere, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, misst sie an allgemeineren, objektiveren Idealen und ist in seiner Aktion nicht durch Gewöhnung, Pietät, Antezedentien gebunden". Hier kehrt sich das Bild des Juden als des Nichtfassbaren, „Wesenlosen", Wandernden, Bewegten ins Positive. Die Qualität der Objektivität, die der Jude verkörpert, ermöglicht die Distanznahme vom Eigenen; der nützliche „enthuschende[...] Nebel", die „Ungreiflichkeit" verunsichert - im positiven Sinne Gewohntes. Das „Bewußtsein", mit dem Fremden „nur das überhaupt Allgemeine gemein zu haben", bringt „doch gerade das, was nicht gemeinsam ist, zu besondrer Betonung". „Darum werden die Fremden auch eigentlich nicht als Individuen, sondern als die Fremden eines bestimmten Typus überhaupt empfunden, das Moment der Ferne ist ihnen gegenüber nicht weniger generell als das der Nähe."36 Ein anderes Bild mit einem ähnlichen Konstruktionsmechanismus zeichnet Carl Schmitt. Hier ist - im Begriff des Politischen schon angelegt - der Fremde „der Feind ohne Status", ein „seinsmäßiger" Feind, der, „der die Unterscheidbarkeit des Fremden - und sei es nur durch seine bloße Existenz - in Frage stellt, indem er sich den Freunden .assimiliert' oder für sich die Position des „unparteiischen Dritten" reklamiert, womit er die „Freund-FeindUnterscheidung" prinzipiell relativiert. Carl Schmitt belegt die „Objektivität" des Fremden mit dem Moment des Verdachts. „Der Fremde und Andersgeartete mag sich streng .kritisch', ,objektiv', .neutral', ,rein wissenschaftlich' geben und unter ähnlichen Verschleierungen sein fremdes Urteil einmischen. Seine .Objektivität' ist entweder nur eine politische Verschleierung oder aber die völlige, alles Wesentliche verfehlende Beziehungslosigkeit." Auch hier ist der Fremde der, dem sein „Draußen-Sein", seine Unzugehörigkeit immer anhaftet. Die Vorstellung der UnUnterscheidbarkeit und Nichtfassbarkeit des Fremden wurde zu einem zentralen Argument des nationalsozialistischen Antisemitismus, was von der Antisemitismusforschung zumeist übersehen wird. Das Judenbild der nationalsozialistischen Propaganda zeichnete sich nicht ausschließlich durch die so häufig betonten Bilder der Jüdischen Physiognomie", des .jüdischen Körpers", des .jüdischen Charakters", des jüdischen „Wesens" aus, sondern es enthielt notwendig ihr Gegenteil, die Vorstellung von der NichtSichtbarkeit, der ständigen Veränderbarkeit der jüdischen Physiognomie, des jüdischen Körpers etc. „Die Juden sind", so formuliert Sander Gilman in seinem Aufsatz „Der jüdische Körper. Gedanken zum Anderssein der Juden", „grundsätzlich sichtbar; denn sie sehen ganz 35 36
G. Simmel, Soziologie. Untersuchungen Band 11. Frankfiirt a. M. 1992, S. 766f. Ebd. S. 770.
über die Formen der Vergesellschaftung.
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anders aus als alle anderen; die Juden sind grundsätzlich unsichtbar; denn sie sehen genauso aus wie alle anderen."37 Man könnte meinen, das vorgeführte Zuschreibungsverfahren sei ein spezifisch modernes, habe sich unter den spezifischen kulturellen Bedingungen der Moderne ausgebildet, da sich die Fremdheit und ihre Bedrohung für die Sphäre des Eigenen verändert und das Fremde seine unbefragte Vorgegebenheit und , Seinsmäßigkeit' verloren hat. Doch lassen sich ähnliche Konstruktionsmechanismen schon in der Frühen Neuzeit beobachten. Der Jude ist - betrachtet man den Hoffaktor Oppenheimer - nicht der eigentlich fremde Fremde, der nicht in die Ordnung passt, denn er ist nicht von den anderen innerhalb der Ordnung unterschieden. Er war in die Welt des barocken Hofes voll integriert. Als Finanzfachmann beherrschte er die Etikette des Hofes. „Selbst seine Feinde rühmten seine vornehme, adelige Haltung und Noblesse, sein freies Wesen und seine Courtoisie. Sie fanden sich in dem einmütigen Lobe, er habe nichts Jüdisches in seinem Wesen, weder den .verdrießlichen Accent', noch ,die wunderbaren jüdischen Stellungen und Gebärden'."38 Er ist weder an seiner Sprache noch an seiner Körpersprache als Jude zu erkennen.39 Er ist höflich 40 , treu und fleißig und er wird von seinem Herzog „wiederholt" für seine „,große und wahre, ihm und seinen fürstlichen Landen, ersprießlichen Dienste'", für seine Treue, Devotion und Fleiß ohne einige Nebenabsichten, gerühmt. Sogar die „Aussagen der späteren christlichen Mitangeklagten, denen man ihren vertrauten Umgang mit dem Juden zur Last zu legen versuchte, enthalten Hinweise darauf, in welch hohem Maße der jüdische Finanzienrat im höfischen Rahmen akzeptiert war und wie selbstverständlich viele nichtjüdische Amtsträger mit ihm 37
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S. L. Gilman, „Der jüdische Körper: Gedanken zum Anderssein der Juden". In: Jüdisches Museum der Stadt Wien (Hg.), Die Macht der Bilder. Antisemitische Vorurteile und Mythen. Wien 1995. S. 168— 179, S. 168. S. Stern, Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und zur jüdischen Geschichte, Berlin 1929, S. 134. T. W. Adorno stellte 1945 folgende Aphorismen nebeneinander: „Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden" und „Fremdwörter sind die Juden der Sprache". Juden sind das Produkt von Sprache, und Wörter werden zur Entsprechung des antisemitischen Bildes vom wandernden oder kosmopolitischen Juden. Die Sprache des Antisemiten definiert hier das Wesen des Juden und seiner Sprechweise. Damit wird der Jude zum Handelnden, der eine „verdorbene" Sprache spricht, und gleichzeitig wird seine „verdorbene" Sprechweise zur Verkörperung des jüdischen Wesens. Adorno stellt ironisch fest, daß die Wirklichkeit der Juden in Deutschland auf Gerüchten über sie beruhe; aber er sieht auch, daß Sprache, besonders im Kontext der historischen deutschen Forderung nach einer „reinen" Sprache, eine Kategorie des Ausschließens und der Stigmatisierung darstellt. Die Austauschbarkeit dieser beiden Kategorien zeigt die Austauschbarkeit der Bilder vom Juden und seinem besonderen - nämlich „verderbten" und „zersetzenden" - Diskurs, der in der Sprache der Juden zum Ausdruck komme, sei es in der Art, wie sie „dichten und denken", sei es, weil sie jiddisch sprechen, vgl. Adorno, T. W., Minima Moralia, Frankfurt a. M. 1964, S. 141. So betont zum Beispiel auch sein Gegner Christoph David Bernards, daß Oppenheimer überaus freundlich zu ihm war. C. D. Bernards, Christoph David Bernards / Linguar. Orient. Lectoris zu Tuebingen / Ausfuehrlicher DISCURS Mit Einem seiner guten Freunde / Von allem, Was Ihme in den drey letzten Tagen des ungluecklichen Jud Sueß Oppenheimers, Vornehmlich Von seiner Beicht / Glaubens=Bekanntniß / und Ablaß / auch zukuenftigen Suenden / und andern merckwuerdigen Vorfallenheiten bekannt worden; Wie auch Von einigen Disputen / die Er mit unterschiedlichen Juden gehalten, welche Sueßen nach seinem Tod selig preisen, und ihn unter die Zahl ihrer Heiligen setzen wolten; Worinnen Aus ihren eigenen PRINCIPIS das Gegentheil gezeiget wird. Auf Verlangen und Zureden einiger guter und gelehrter Freunde zum Druck uebergeben. TUBINGEN, Gedruckt und verlegt durch Joseph Sigmund, Anno MDCCXXXVII. S. 40.
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verkehrten. Süß, der auch geschäftlich mit einem großen Teil von Hofbeamten verbunden war, unterhielt ausgedehnte gesellschaftliche Kontakte zu Hofkavalieren und -damen, darunter nicht wenigen adeligen." Dass er Zugang zu Kreisen höherer Beamter und Hofleute gefunden hatte, spiegelt sich nicht zuletzt in seinen galanten Verhältnissen wider. „In Fragen der Religion war er ein ironischer und skeptischer Freigeist, ein Spötter und Verächter alter Einrichtungen und Sitten." Er nennt sich „Volontär aller Religionen", er vollzieht keine jüdischen Rituale, kümmert sich nicht um die religiösen Speisegesetze, geht am Versöhnungstag nicht in die Synagoge.41 Der Geist der beginnenden Aufklärung hatte ihn erfasst, Thomasius' Philosophie und Christian Wolffs Vernunftlehre interessierten den Kaufmann und den realpolitischen, rationalistisch denkenden Diplomaten.42 Auch sein Aussehen war das eines Hofmannes: Oppenheimer kleidet sich so, wie es am Hofe üblich war. Gesicht und Gestalt des Juden werden - auch von seinen Gegnern - als schön beschrieben, graziös und schlank sei er, trage die am Hofe übliche Perücke. Er ist belesen, weiß manieriert und witzig in mehreren Sprachen und Dialekten zu sprechen. Josef Süß Oppenheimer ist in seinem Lebensrhythmus ein typischer Mensch der Barockzeit, eine repräsentative Erscheinung der Epoche.43 Er muss zum Fremden erst gemacht werden, muss erst zu einem Teil des unwiderruflichen .Draußen' definiert werden. Es wird ein Fremdes geschaffen, (mit Bernhard Waidenfels gesprochen) „das seine unerhörten Ansprüche laut werden läßt, indem es sich innerhalb, aber zugleich außerhalb der jeweiligen Ordnung regt, angesiedelt an einem unwiderruflichen Draußen, das sich gegen jede Eingemeindung wehrt. Wäre das Fremde, das in der ,bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen' sein Wesen hat, schlichtweg zugänglich und zugehörig, so wäre es nicht mehr, was es ist: ein Fremdes."44 Der Hass gegen den Juden war Resultat seiner Gesellschaftsfähigkeit. Denn da er wie alle anderen sich bemüht, durch Gewandtheit, Bildung, Informiertheit auch in der Spitze der Repräsentation, bei Hof, nicht negativ aufzufallen, sondern alle Qualitäten entwickelt, die ihn befähigen und berechtigen, dazuzugehören, muss er beunruhigen und ein Konstrukt hervorrufen, mit Hilfe dessen ihn die bereits Arrivierten, Gesellschaftsfähigen und die noch nicht zur Spitze zählenden, disqualifizieren, ausschalten können. Sie müssen ihm zum Feind erklären.45 Um der Stigmatisierung und Kriminalisierung der Gesellschaft überhaupt anheimfallen zu können, um als feindlicher Fremder zu fungieren, muss der Jude immer als ein Anderer, als ein Fremdkörper interpretiert werden, er darf sich keineswegs vollständig assimilieren, muss anders, auffällig und erkennbar bleiben. Wie wird der perfekte barocke Hofmann zum unverwechselbaren Fremden und sodann zum Feind, der außerhalb der Ordnung steht? Wodurch erkennt man den Fremden, den Anderen, den Feind, wenn man ihn nicht erkennen kann? Wie manövrieren sich die Gegner des Juden durch diese Dialektik? Wie wird propagandistische Eindeutigkeit hergestellt, wenn 41 42 43 44 45
Vgl. Stern, Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und zur jüdischen Geschichte, S. 136, 139. Vgl. ebd. S. 136. Ebd. S. 138. B. Waidenfels, Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990, S. 7. Waidenfels bezieht sich hier, wie auch in seiner Arbeit Topographie des Fremden, auf Husserl. Gerade „daß ein Jude im Rahmen des Hofes, einem Bereich sozialer, kultureller und geselliger Exklusivität, .gesellschaftsfähig' geworden war und sich entsprechend verhielt, dürfte einer der Hauptauslöser von Abneigung gewesen sein", vgl. B. Gerber, Jud Süß, S. 129.
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Identität und Differenz im Grunde in eins fallen? Was macht das „wahre" Gesicht des Juden aus? Welches ist seine Physiognomie, wie wird der Körper des sich ewig wandelnden aber zugleich unveränderlichen Juden definiert? Für die Propaganda war es wichtig, Mechanismen zur Lösung des Problems zu entwickeln. „Jud Süß" wurde über Allegorisierungen, besonders über die inflationäre Verwendung von Tier-Allegorien, als hässlich, unmenschlich und böse dargestellt. Der Jude ist wie alle Juden seinem „Vatter, dem Teuffei ganz gleich". Auch die Formulierung, der sei Jude zwar äußerlich „Wohlgestalt", „inwendig" aber „gleich den Mohren", ist in diesem Kontext interessant. Die Versicherung über das „Wesen" des Juden soll nicht über seine äußere Erscheinung, sondern über das „Innere" des Menschen gewonnen werden; es sei wichtiger als das „Äußere" des Juden. Das „Innere", ein Erschlossenes also, könne nicht täuschen. Da er außen wie die Christen ist, muss er innen ein „verstocktes Judenherz" haben, wie es an anderer Stelle heißt. Deshalb wird das Äußere des Juden als schöne Maske bezeichnet, hinter der er sein widerwärtiges Wesen versteckt hält. Diese Formulierung steht im Zusammenhang mit der Kritik am Maskenspiel, den Karnevalsfeierlichkeiten und prunkvollen Maskenbällen des Herzogs. Die Zeit am Hofe wird als Zeit der Verstellung, der Zeit der Masken verstanden. Die Aversion gegen den intelligenten, gewandten, rhetorisch geschickten und politisch erfolgreichen Hofmann gehört in die Entwicklungsgeschichte der Ideologie der Aufrichtigkeit, die das Bürgertum im 17. Jahrhundert in Frankreich und England entwickelt und im 18. gegen den Adel propagandistisch benützt. Es wirft ihm vor, die gesellschaftliche und politische Herrschaft nicht wegen hervorragender Leistungen und Eigenschaften wie Verlässlichkeit und Fachkompetenz erlangt zu haben, sondern aufgrund von Abstammung und guten Beziehungen. Der Hauptvorwurf gilt dabei der Verstellungskunst der Adligen, die sich vor der Hofgesellschaft inszenieren, einen Charakter darstellen, der mit ihrem Wesen nichts zu tun habe. Sie seien Produkte der Verstellung, die Strategie und Berechnung von ihnen verlangten. Das Bürgertum hingegen baue auf Aufrichtigkeit, Verlässlichkeit, Sachkenntnis und Fleiß. Der Charakter befinde sich in Übereinstimmung mit Handlung und Auftreten, die Motivationen seien nicht verdeckt und nicht von Winkelzügen gekennzeichnet. Die Invektiven gegen Luxus und Verschwendung und allzu feine Sitten des Adels gründen in der Überzeugung, dass bürgerliche Bescheidenheit und Einfachheit moralisch höher zu bewerten sind und durch gesellschaftliche, religiöse und politische Anerkennung belohnt werden müssten. Die Bannung des Fremden, des sich ständig wandelnden Ahasver, wird zudem allerdings nicht ausschließlich über die Konstruktion des „Innen" und „Außen" des jüdischen Körpers vorgenommen, sondern auch über die Konstruktion des „Vorher" und „Nachher". Der Zeit des Juden am Hofe, in der er sich vom Glücksrad in die Höhe reißen ließ, wird ein Ende gemacht; der Jude wird inhaftiert, er wartet im Kerker auf seine Hinrichtung. Alle maskenhafte Schönheit und Verstellungskunst hat ein Ende, er mutiert zu einem grässlichen Scheusal, wird zu einem „Eber ganz und gar". Der schöne Schein seiner Anwesenheit auf dem Parkett des Hofes ist verschwunden und er ist nun „Haman ganz gleich". Ganz „mit Haar bedecket", wird er „beym Judenbart" „in die Holl [...] hinab" gezogen. „Es ist fast unglaublich, [...] wie graeßlich mir der Anblick dieses elenden Menschen war. Hier sähe ich von dem vormals so herrlich und ansehnlichsten Mann fast nichts uebrig als einen schwebenden Tod-
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ten=Coerper, der naechstens voellig zerfallen wuerde"46 schreibt ein Zeitgenosse und fuhrt im weiteren ein riesiges Repertoire an hässlichen Körpermerkmalen an. Ein ,,schwebende[r] Todten-Coerper" mit einem Schädel, der „mit einem dichtschwartzen Bart" - dem Zeichen für Unreinheit - umwachsen ist, erscheint als ein „Todten-Kopf', „umwachsen" mit „Moos" Das wahre Wesen des Juden wird sichtbar, sein Leben in Selbstüberschätzung und Verstellung enttarnt. Der vormals unsichtbare, der verwandelte und sich wandelnde Jude zeigt nun seine eigentliche Gestalt, er hat nun seinen sichtbaren, unveränderlichen Körper erhalten. Dieser Körper ist der stigmatisierte Jüdische Körper", dem „Bild" vom Juden gleich, dem er nicht mehr entrinnen kann. Er wird vom Fluch seiner ewigen Wanderschaft befreit. Sein Status gleicht wieder dem vor Betreten der höfischen Bühne. „Am Süßen kann mans sehen: sein Vater war ein Jud"47, heißt es in einem Gedicht mit dem Titel „Galgengesang, so Joseph Süß Oppenheimer in seinem eisernen Vogelhaus noch vor seinem Ende von sich hören lassen". Der Jude soll wie sein jüdischer Vater aussehen, auch wenn an anderer Stelle im selben Text behauptet wird, daß seine Mutter ein Verhältnis zu einem Offizier aus Heidelberg gehabt haben soll und daher dieser der leibliche Vater von „Jud Süß" sei. Auch wenn sein Vater - wie hier angenommen - ein Christ ist, sieht er aus wie sein jüdischer Vater. Die widersprüchliche Argumentation lässt sich nur auf dem Hintergrund der Vorstellung verstehen, dass ein Jude schlechthin den Teufel zum Vater hat, der alles Negative in sich vereint, alles, was der „Ökonomie des Heils" entgegenwirkt. Der Rhetorik der Überbietung ist es gleichgültig, ob das Narrativ in sich logisch strukturiert ist. (Die Form der Hyperbel - im Sinne Waldenfels' - lässt durchaus Unstimmigkeiten zu.48) Vom jüdischen Vater soll er die Intelligenz und den Fleiß, sein „schacherndes Wesen", vom deutschen Vater, dem berüchtigten Verräter des Vaterlandes, die Skrupellosigkeit und die Menschenverachtung geerbt haben; wichtig ist nur, dass er wie ein Jude, bzw. wie die Repräsentation aussieht. Das Bild hilft über die Nichtfassbarkeit und Wandlungsfähigkeit des Juden hinweg und macht den unsichtbaren zu einem sichtbaren, wenn auch nur im „Vorher" und „Nachher". Von der einmal geschaffenen Repräsentation darf nicht abgerückt werden: Man betont daher immer wieder: „Jud bleibt halt Jud!".49 Mit der Inhaftierung wird Oppenheimer nicht nur die Öffentlichkeit und damit die Wandlungsfähigkeit und Umtriebigkeit verweigert, sondern es wird ihm das Stigma, das stereotype Bild des Juden, übergestülpt. Indem man ihn den Augen der Anderen entzieht, wird er zum sichtbaren Ungeheuer, welches er - so will es die Repräsentation - immer schon war, beson46 47 48
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C. D. Bernhards, Christoph David Bernards / Linguar. Orient. Lectoris zu Tuebingen / Ausführlicher DISCURS, S. 10, 11. K. Steiff, G. Mehring (Hg.), Geschichtliche Lieder uns Sprüche Württembergs. Im Auftrage der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, Stuttgart 1912, S. 662-664. „Die Denkfigur der Hyperbel, des Über-hinaus, die in der paradoxen Form der An-Abwesenheit auftritt, kommt nicht von ungefähr. Sie zeigt sich eben dann, wenn eine Götzendämmerung eintritt und Totalitäten, in welcher Form auch immer, ins Zwielicht geraten." B. Waldenfels, Der Stachel des Fremden, S. 7, 8. „Er war dem Land in nichts verbunden, / er that, wie Schelm und Jude pflegt: / was Wunder, wenn des Landes Wunden / sein Juden=Herz niemal bewegt? / Jud bleibt halt Jud!" Von den zahlreichen Quellentexten zur Rezeption des Josef Süß Oppenheimer im 18. Jahrhundert sei nur folgender Text erwähnt: „Willkomm auf Hohen=Neuffen. 1737. / „Des Genii Custodis auf der berühmten Berg=Festung Hohen=Neuffen an seine ihme kurzhin anvertraute rare Gäste wohlgemeinte Willkomms=Gedanken." Eine ausfuhrliche kommentierte Bibliograhie enthält das schon zitierte Buch von B. Gerber, Jud Süß.
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ders in seinem „wahren" Zustand der vermeintlichen Armut vor seiner Amtszeit am Hofe. Wie plastisch dieses - wenn auch an vielen Stellen umständlich komponierte - Bild von dem „abscheulichen" Feind Jude den Zeitgenossen vor Augen gestanden haben muss, wird klar, wenn man bedenkt,50 dass man den Juden zu seiner Hinrichtung am Galgen in einen großen eisernen Käfig einsperrte. Man denkt den imaginierten mit dem wirklichen Körper so eng verbunden, als könnte man die Metapher ignorieren und direkt vom Signum zum Signatum übergehen. Man nimmt den Körper für das Zeichen und meint damit zugleich dessen gefährliche Bedeutung beherrschen zu können. Die Leiche wurde nach der Hinrichtung sechs Jahre am Galgen hängen gelassen. Tausende Württemberger pilgerten in der Zeit zu der Hinrichtungsstätte.51 Die Repräsentation des Juden als eines Fremden hat sehr viele Ähnlichkeiten mit der Figur des Ahasver, die für antijüdische Einstellungen über Jahrhunderte benutzt wurde. Diese alte volkstümliche Sagengestalt erreichte schon im Mittelalter einen großen Bekanntheitsgrad. In der Neuzeit begann sie ihre enorm weitreichende Wirkungsgeschichte, die sie später in ganz Europa erleben sollte. Die Gestalt des „Ewigen Juden", spiegelt in ihren Wandlungen, besonders aber in ihrer Kontinuität über viele Jahre hinweg ein Stück Selbstverständnis des europäischen Christentums. Mit der Etablierung Ahasvers im kulturellen Gedächtnis rechtfertigt die christliche Heilslehre rückwirkend den kollektiven Fluch, der vermeintlich seit Jahrhunderten auf dem jüdischen Volk lastet. Gleichzeitig ist Ahasver - als ein in sonderbarer und geheimnisvoller Weise überlebender Zeitzeuge der Epoche des Pontius Pilatus - ein Garant für die Wahrheit der Überlieferung. Er hat mit eigenen Augen gesehen, was damals geschah und fungiert daher als eine Art Gedächtnis, in dem das Geschehene eingeschrieben ist, als leibhaftiger Gottesbeweis, als Zeugnis der kommenden Erlösung für die Christen. Im frühen 17. Jahrhundert schildert der protestantische Verfasser der Schrift mit dem fiktiven Namen Christoph Creutzer aus Leyden, er habe von einem Bischof62 folgendes berichtet bekommen: Auf einer Reise nach Hamburg 1542 habe er an einem Sonntag in der Kirche einen Mann gesehen, der durch eine große Statur, nackte Füße und besonders lange Haare aufgefallen sei. Dieser Mann habe andächtig und ohne jede Bewegung der Predigt von der Kanzel zugehört und sich immer dann, wenn der Name Jesus Christus zu vernehmen war, tief verneigt, mit der Hand auf die Brust geschlagen und geseufzt. Im Laufe seines Aufenthaltes habe er den Fremden näher kennen gelernt und von ihm erfahren, dass er schon zur
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Angeblich hing „Jud Süß" in einem Käfig am Galgen, damit die Juden ihn nicht vom Galgen stehlen und nach jüdischer Tradition begraben konnten. Diese Ehre sollte ihm nicht zuteil werden. „Jud Süß" in einem fest verschlossenen Käfig, der an einen Vogelbauer erinnert, paßt allerdings auch besonders gut zum Motiv des Juden als Ahasver, dem man hier endlich seine ewige Wanderschaft nimmt. Der Vogel, der sich von der Erde lösen, in einem anderen Element sich frei bewegen kann, wird in der Luft gefesselt, der fiktive zugleich mit dem „realen", irdischen Körper „verhaftet", im Käfig auch nach dem Tod festgehalten; analog zu der magischen Vorstellung vom „schimpflichen" Tod des Gehängten, dem (doch heidnisch-materiell gedachte) Seele nicht mehr durch die Kehle entweichen, sondern im Körper verbleiben muß oder nur den Weg durch den anderen schändlichen Körperausgang nehmen kann. Der Bischof Paulus von Eitzen wird als Gewährsmann fur die Wahrheit der Erzählung angegeben. Er konnte nicht dagegen protestieren, da er schon 1589 starb, vgl. W. Zirus, Der ewige Jude, Berlin, Leipzig 1930, S. 2.
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Zeit Jesu Christi gelebt habe und bei Jesu Verurteilung und Kreuzweg zugegen gewesen sei. Schuster in Jerusalem sei er gewesen, den Priestern und Schriftgelehrten zugetan. Jesus habe er damals genau wie die anderen für einen Ketzer gehalten und gehofft, dass man ihn töten werde. Er habe bei seiner Verhaftung geholfen und während seiner Verurteilung mit den anderen das ,Kreuzige ihn!' geschrien. Als Jesus seinen Kreuzweg gehen musste, sei er mit seinem Kind auf dem Arm vor die Schusterwerkstatt getreten und habe zugeschaut. Jesus sei vorbeigekommen und habe sich erschöpft an sein Haus gelehnt, worauf er ihn gescholten und zum sofortigen Weitergehen angetrieben habe. Jesus habe daraufhin gesagt: „Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen."53 Er, Ahasverus, habe noch der Kreuzigung beigewohnt, ziehe seitdem aber durch die Lande und kehre nie wieder nach Jerusalem zurück. Er wandere unverändert durch Raum und Zeit und rede zu allen Menschen in deren eigener Sprache. Der Schluss des Textes hebt noch einmal die quälend lange Wanderung hervor: „Dieser Mann soll so dicke Fußsohlen haben, das mans gemessen zwei Zwerch Finger dick gewesen, gleich wie ein Horn so hart wegen seines langen gehen vnnd Reysen".54 Die Ahnenreihe des Ahasverus lässt sich bis zu zwei Zeugen des Leiden Jesu zurückverfolgen. Einer der beiden ist der „wartende Gerechte"55, Johannes, der Jude, der sich in der Gefolgschaft Jesu befindet und als .Lieblingsjünger' bezeichnet wird. Zur Belohnung seiner Treue wird er den Tod nicht erleben müssen, bis der Herr wiederkommt.56 Die andere Figur ist ein Heide, der „wartende Sünder"57, jener Diener des Hohenpriesters, der Christus beim Verhör vor Kaiphas eine Backpfeife versetzte. Eine spätere Tradition verknüpft diesen Diener mit Malchus, dem Kriegsknecht, der Petrus im Garten von Gethsemane ein Ohr abhieb, welches Christus wieder heilte. Malchus ist gefesselt an den Ort seiner Tat, läuft ewig um die Säule, an die Jesus bei seiner Geißelung gebunden war. Vergeblich versucht er sich zu töten, indem er mit seinem Kopf gegen die Säule schlägt.58 Im 13. Jahrhundert wird eine weitere Figur geschaffen: die Gestalt des Cartaphilus (Karta-philos = „der sehr Geliebte"), die später zum wichtigsten Urbild des ewigen Juden wird.59 Ein Erzbischof aus Großarmenien soll berichtet haben, dass ein merkwürdiger Mann Jesus, der nach dem Verhör von Pilatus aus dem Richterhause abgeführt wurde, an der Pforte des
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Zit. n. Frank, Die unendliche Fahrt, S. 55; vgl. A. Soergel, Ahasver-Dichtungen seit Goethe, Leipzig Dissertation 1905, S. 14. Zit. η. T. Kappstein, Ahasver in der Weltpoesie. Mit einem Anhang: Die Gestalt Jesu in der Modernen Dichtung. Studien zur Religion in der Literatur, Berlin 1906, S. 13. Vgl. F. Heibig, Die Sage vom ,Ewigen Juden', ihre poetische Wandlung und Fortbildung, Berlin 1874, S. 4; R. Krickau, Die Sage vom ewigen Juden, Teltow 1867, S. 17; Schmidt, Arno, Das Volksbuch vom Ewigen Juden. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Buches, Danzig 1927, S. 10. Soergel, Ahasver-Dichtungen seit Goethe, S. 6. Ebd. Vgl. Schmidt, Das Volksbuch vom Ewigen Juden, S. 10. Als Erster berichtet Roger von Wendower von Cartaphilus. Hewlett, H. G. (Hg.), Rogeri de Wendower liber qui dicitur flores historiarum, London 1886-1889. (Vol. 84 of Rolls Series; vol II, p. 552ff.) Es heißt dort: „Trahentibus autem Judaeis Jesum extra praetorium, cum venisset ad ostium, Cartaphilus, praetorii ostiarius et Pontii Pilati, cum per ostium exiret Jesus, pepulit eum pugno post tergum impie et irridens dixit, ,Vade, Jesus, citius; vade, quid moraris?' Et Jesus severe vultu et oculo respiciens in eum dixit, ,Ego, inquit, ,vado, et tu exspectabis donec redeam.' [...]" zit. n. G. K.Anderson, „The wandering jew returns to England". In: The Journal of English and Germanic Philology. Vol. XLV, No 3, Juli 1946, S. 237-250, S. 250.
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Prätoriums mit der Faust in den Nacken geschlagen habe. Er drängte ihn spöttisch zu größerer Eile,60 worauf ihn Jesus mit folgenden Worten: „Ich gehe, du aber wirst warten, bis ich komme"61, zu einem ewigen Leben in quälendem Schuldbewusstsein verdammte. Immer wenn Cartaphilus das hundertste Lebensjahr erreicht hat, wird er wieder zum einem dreißigjährigen Mann, der er zur Zeit Jesu Verurteilung war.62 In der italienischen Erzähltradition heißt dieser Mann nach seinem Verbrechen „Buttadeus", der Gottesstoßer. Die Strafe des ,wartenden' Sünders verwandelt sich allmählich in eine Strafe des ,wandernden' Sünders. Malchus lebte an den Ort seiner Tat gefesselt, Cartaphilus kam kaum über Armenien hinaus, Buttadeus hingegen mutiert zum Wallfahrer und wird an verschiedensten Orten Europas gesehen.63 Mit der Zeit wird „aus dem wartenden heidnischen Sünder, dem ,ewigen Heiden', wie Lessing den Cartaphilus genannt hat, der wandernde ewige Jude."64 Die Figur Ahasver ist auf dem Hintergrund der christlichen Heilslehre zu verstehen, als Figur der negativen Ökonomie des Heils, wie ich anfangs ausgeführt habe. Die Heilslehre des Christentums steht religionsgeschichtlich im Zusammenhang mit den prophetischen bzw. Geschichts-Religionen, in denen Zeitlichkeit und Geschichte als Mittel Gottes, an das Ziel zu kommen (Heilsgeschichte) zu verstehen sind. Die Welt wird als Kampfplatz dargestellt, in der es um das Durchsetzen der göttlichen Herrschaft im Ringen mit feindlichen Mächten geht, seine Herrschaft aber noch nicht verwirklicht ist und das kommende Reich noch bevorsteht. Das kommende Reich ist nicht im Sinne eines symbolisierten Nebeneinander von empirischer und wahrer Welt zu verstehen, sondern als ein zeitlich sich auszudrückendes Nacheinander dieser und der kommenden Weltzeit. Die Eschatologie des Evangeliums fuhrt darüber hinaus. In der Geschichte und in der Gegenwart Jesu Christi ist die Herrschaft Gottes schon da. Das exklusive Nacheinander der Äonen wird durchbrochen, ohne aufgehoben zu sein. Die christliche Eschatologie gründet sich in dem Handeln Gottes mit der Menschheit, wie es in der Schöpfung und in der Heilstat Jesu Christi geschehen ist und fortgehend geschieht. Gott ist in Christus Fleisch geworden, er ist als Herr eingesetzt. In seinem Kreuz und seiner Auferstehung ist durch Versöhnung eine neue Gemeinschaft Gottes mit den Menschen begründet worden. Dieser Anbruch bedeutet den Anfang einer neuen Weltzeit, in die alle versetzt sind, die an Christus glauben. Zugleich allerdings besteht das alte Weltalter weiter, die Menschen sind noch nicht vollständig in die vom Schöpferwillen geformten Herrlichkeitsgestalten verwandelt. Das Reich ist verborgen da, verhüllt von dem Fortbestand der Welt der Sünde und des Todes. Er ist da und gleichzeitig noch nicht ganz da. Nach der christlichen Dogmatik hat sich Gott in der Person Jesu in die Welt hineingegeben und die Sünden der Menschen auf sich genommen. Er thront nicht in erhabener Beteiligungslosigkeit jenseits der Geschichte, sondern begegnet dem Menschen in ihr. Aber indem er das tut, bringt er die Geschichte bereits an ihre Grenze. Er hat sich kreuzigen lassen, ist auferstanden von den Toten und hat damit den Menschen die Zuversicht gegeben, dass ihre Todesgeschichte nicht nur ein Ende findet, sondern in das Ziel hineingenommen wird, das Gott in Jesu Christus schon kundgemacht hat. Am Ende der Geschichte steht der Anfang,
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Zit. n. Soergel, Ahasver-Dichtungen seit Goethe, S. 7. Ebd. Vgl. Anderson, „The wandering jew returns to England", S. 240. Vgl. ebd. S. 9ff. Ebd. S. 10.
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Gott ist das Ziel, der Anfang und das Ende, der Seiende, der da war und der da kommt (Apk.1,8). Wer aber den, der das Kreuz auf sich genommen hat und sich für die anderen hingibt, damit sie nach ihrem Tode mit ihm auferstehen können, nicht ernst nimmt, ablehnt, gehört der neuen Ordnung nicht an. Ahasver kann niemals in den Genuss kommen, das ewige Reich Gottes, die wahre Glückseligkeit zu erlangen, denn diese erreicht man nur durch den Tod. Allein wer den Tod schmecken musste, kann - so ist es verheißen - Jesus wahrhaft nachfolgen und ihm ganz gleich sein. Ganz im Sinne dieses Modells sind auch geschichtliche Geschehnisse nur sinnvoll, wenn sie auf einen Zweck jenseits der tatsächlichen Ereignisse verweisen, und weil die Geschichte eine zeitliche Bewegung ist, muss der Zweck ein künftiges Ziel sein. Eine Aussage über den Sinn historischer Ereignisse zu wagen, ist nur möglich, wenn ihr künftiges Telos sichtbar wird. Wenn eine geschichtliche Bewegung ihre Tragweite enthüllt, so denken die Christen über ihr erstes Auftreten nach, um den Sinn des ganzen, obschon besonderen Ereignisses zu bestimmen - des ,ganzen', insofern es einen bestimmten Ausgangspunkt und einen letzten, eschatologischen Endpunkt hat. Die Annahme, die Geschichte habe einen letzten Sinn, antizipiert einen Endzweck als Endziel, das die tatsächlichen Geschehnisse überschreitet. Er macht Geschichte als sinngeleitete konstruierbar, erzählbar. Die Idee einer Heilsgeschichte setzt das Verständnis der Zeit als fortlaufender Linie voraus, welche angesichts der Begegnung des menschlichen Daseins mit der ewigen, eschatologischen Wirklichkeit Gottes, um die es in der Theologie geht, fragwürdig werden muss. Im Lichte dieser Konstruktionen wird Ahasver, der ewige Jude, als ihr negativer Hintergrund erkennbar. Die Fassade seiner Wandelbarkeit verdeckt die Unwandelbarkeit und Verstocktheit des Juden. Er, der Kosmopolit65, der sich aller Sprachen bedienen kann, bleibt immer derselbe; der Jude, der das Heil des Christentums nicht annehmen will und daher die Negation des christlichen Heilsgedankens verkörpert. Er bleibt der „negativ Gläubige par exellence"66; der Gottesverächter ist Mörder des Heilands. Die ständige Aktualisierung des Gottesmordvorwurfes in der Legende des jüdischen Ritualmordes und der Hostienschändung gehört in den Kontext dieser Konstruktion. Das Geheimnis der Verfluchung offenbart sich hier besonders sinnenfällig: es treibt den, den es trifft, nicht einfach hinaus aus dem Bereich der göttlichen Gewalt, sondern es unterstellt ihn dieser Gewalt negativ. Was immer - und seien es verneinende - Beziehungen zum Heiligen unterhält, kann ihm nicht entkommen. Es ist an Gott gefesselt, ist Werkzeug innerhalb der göttlichen Teleologie.67 Ahasver ist zudem unheimlich, da er der Intellektuelle mit einem „monströsen Gedächtnis"68 ist, vor dem sich nichts verbergen lässt. Er weiß alles und ist damit Gott ähnlich. Es „türmt sich in ihm ein unendliches Archiv der Zahlen und Geschehnisse[n]"69, sein Gedächt65
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Nach Heibig ist die Sage von Ahasver mit der Faust-Sage zu vergleichen. Ahasver ist Inbegriff des Kosmopolitismus, wohingegen Faust der Deutsche ist. vgl. Heibig, Die Sage vom ,Ewigen Juden', S. 1; zum Vergleich von Ahasver mit Faust vgl. ebenso Soergel, Ahasver-Dichtungen seit Goethe, S. 2-4; vgl. W. Feudel, „Das Ahasver-Motiv bei Nikolaus Lenau und Adelbert von Chamisso", in: LenauForum Jg. 15 (1989), S. 27-41, S. 30; vgl. G. K. Anderson, „Popular Survivals of the wandering Jew in England", Journal of English and Germanic Philology XLVI (1947) S. 367-382, S. 368. Frank, Die ewige Fahrt, S. 57. S. 60. M. Körte, R. Stockhammer, Ahasvers Spur. Dichtungen vom ,Ewigen Juden', Leipzig 1995, S. 247. Ebd.
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nis ist gezeichnet von den Spuren durchlaufener Räume und Zeiten. Und - wie schon ausgeführt - er kann nicht sterben, lebt ewig auf Erden. In seiner endlosen Zähigkeit und Zählebigkeit wird er zum Faszinosum, zu einer Projektionsfläche für die Wünsche und Allmachtsphantasien der Sterblichen, der Angst vor dem Tod. Doch da Ahasver niemals in den Genuss kommen wird, das ewige Reich Gottes, die wahre Glückseligkeit zu erlangen, da dies nur durch den Tod möglich ist, kann er Jesus wahrhaft nie nachfolgen und ihm ganz gleich sein. Er kann nicht einmal eine Biographie haben, weil sein Leben kein Telos hat, das Modell der Erlösung, die Heilsgewissheit, auf ihn nicht zutrifft. Auch wenn sich Ahasver noch so sehr bemüht, auch wenn er seine Schuld zutiefst bereut, sich tausende Male - wie in der Schrift von 1602 beschrieben - mit der Hand auf die Brust schlägt und ein endloses Leben in Bescheidenheit und Demut lebt, wird er nie eins mit Gott sein können und damit nie ein Teil der christlichen Gemeinschaft. Er bleibt der ewig Fremde, immer im „Draußen", aber gleichzeitig - und das ist sozusagen der Clou der Konstruktion - beweist er mit seiner Existenz die Wahrheit des Evangeliums. In seiner eigenartigen Körperlichkeit, - er ist eine Substanz ohne feste Attribute, d. h. hat keine Individualität, keine Geschichte, soll aber als lebende Reliquie Zeugnis ablegen vom Tod Christi, - ist er als Ergänzungsfigur zu Jesus zu sehen. Sein hartnäckiges Festhalten am Diesseits konterkariert und betont die Geistigkeit des unkörperlichen Wesens des Auferstandenen, aus der Geschichte ins Jenseits Zurückgekehrten. Er bleibt damit außerhalb der Gemeinde, die sich als Leib Christi versteht.70 In der Moderne wird der alte Fluch zugunsten eines neuen, zeitgemäßen Fluchs variiert. Nicht mehr so sehr der Gottesfrevel stigmatisiert nun den Juden, sondern der Handel mit Geld. Sein ewiges Dasein im Sinne eines Zwanges zur Mobilität wird mehr und mehr unwillkürlich identifiziert mit dem modernen Geldwesen und dessen Zirkulation. Schon seit Ende des Mittelalters wird der Jude als Geldverleiher und Wucherer, als Zerstörer der traditionellen Zyklizität stigmatisiert. Er widerspricht dem Dogma der Unfruchtbarkeit des Geldes („Nummus non parit nummos"; Thomas von Aquin), täuscht, betrügt und stiehlt Gott die Zeit. Die zunehmende Abstraktheit, die wachsende Auflösung der Vorstellung von einer Stoffwertigkeit, d. h. dem Mythos des Geldes als des .Werts an sich'; die Entwicklung der modernen Marktwirtschaft, des Kreditwesens und der neuen Kommunikations- und Informationstechniken fuhren dazu, dass der Ahasver-Mythos auch in der Moderne nicht an Gewicht verliert. Der Jude, nie an Ort und Stelle bleibend, erscheint jetzt verstärkt als Reisender, als mächtiger Agent im Geldverkehr. Mit dem Juden - so lässt sich das Argument umdrehen verhält es sich wie mit der Unfassbarkeit des Geldwertes. Das Geld ist nicht fassbar, hat keinen Wert an sich, keine festen Attribute, kann seine äußere Form ständig verändern. Der Verlust der Ikonizität kann daher denen vorgeworfen werden, die mit Geld umgehen. Sie sind für die Zerstörung der Ebenbildlichkeit verantwortlich. Es ist nur konsequent, ihrem Charakter, ihrem Körper mit allen Mitteln unverwechselbare Zeichen einzuschreiben, sie durch Typisierung und Topologisierung kenntlich und lesbar zu machen, ihrer Natur die Ursachen zuzuschreiben, die die ganze Misere der Gesellschaft verschulden. Der Antisemit muss die unhintergehbare Referenz auf den kulturellen Text negieren, denn nichts könnte eine propagandistische Verwendung des Narrativs gründlicher ruinieren als der Anschein, dass es Resultat eines nur für den Moment festgeschriebenen Konstrukts 70
Er hat einen - von der christlichen Metapher aus gesehen, nur irdischen, nicht spirituellen Leib, der aber - spiegelbildlich gedacht, doch unsterblich und damit umso bedrohlicher ist.
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sein könnte, eben nur Interpretation einer Interpretation. Das kulturelle Konstrukt muss soll die Propaganda Erfolg haben - als erfahrbare .Tatsache', als ihre direkte Beschreibung auftreten und die Tradition des Repertoires als „So war es schon immer" und „Anders ist es nicht denkbar", also statisch, erklären. Die Strategie des Antisemitismus, die uneingeschränkte Geltung des Zeichenensembles Jude zu propagieren, muss ihre Appräsentationsstrategie verschleiern, - Appräsentation als Versuch, ein Unsichtbares so darzustellen, dass es mit den Sinnen als wirklich anwesend erfahrbar erscheint. Denn das Bewusstwerden des Mechanismus' destruiert sein Funktionieren. Damit der Anschein von Gültigkeit und Unveränderlichkeit bestehen kann, muss etwas als etwas so repräsentiert werden, als gäbe es keine Alternative, keine Vagheit des Zeichens. 71 Genau dieser Mechanismus der antisemitischen Konstruktion ist eben auch der Mechanismus, der das Konstrukt, den Juden als Feind, ausmacht. Ähnlich wie Adorno den Antisemitismus als das „Gerücht über die Juden" und „Fremdwörter" die „Juden der Sprache" genannt hat, wobei Juden das Produkt von Sprache sind und Wörter zur Entsprechung des antisemitischen Bildes vom wandernden oder kosmopolitischen Juden werden, wird hier deutlich, dass der Jude in gewisser Weise selber Zeichen ist, in dem Sinne, dass er kein eigenes „Wesen", keine Identität hat, und nur dann gesellschaftlich nützlich ist, wenn ihm feste Attribute zugeschrieben werden. Dieser Transformationsprozess von Fremdheit in Feindschaft ist für den Feindschaftsbegriff der Moderne zentral geworden. Der Feind ist gerade im Zeitalter der zunehmenden „Viskosität" gesellschaftlicher Zusammenhänge, wie es Zygmunt Baumann genannt hat, der fassbar gemachte Nicht-Fassbare geworden. 72 An der jüngeren Geschichte des Antisemitismus mit ihren verschiedenen Stigmatisierungen des „Geldjuden", des Kapitalisten, des jüdischen Intellektuellen und des jüdischen, weltverschwörerischen Internationalismus wird das besonders deutlich. Die Jüdische Weltverschwörung", deren Wirkungsmacht Gaston Ritter 1933 mit dem Argument beschrieb, wir wüssten, „daß die Juden über weitverzweigte Geheimorganisationen verfug[t]en, aber [...] niemals [sei es uns] gelungen, deren eigentliche Leitung und deren wirkliche Ziele vollständig aufzudecken", gibt dem aus der Fremdheit transformierten Feindschaftsmodell Aufschwung. 73 Internationalismus - dies wird hier besonders deutlich - ist ein weiteres Moment, das mit dem modernen Ahasver-Mythos in Zusammenhang gebracht wird. Jedoch bleibt dieses Verfeindungsmodell nicht auf den Antisemitismus beschränkt. Auch andere Formen von Feindschaft, wie sie beispielsweise in den Argumentationen deutscher Rechtsradikaler erscheinen und auch solche, die wir zur Zeit wieder im Zusammenhang mit der amerikanischen Politik erleben, funktionieren nach einem ahasver-ähnlichen Feindschafts-Modell. Erinnert sei nur an die anfangs erwähnte Konstruktion des Feindbildes „Osama bin Laden", den die amerikanische Propaganda wie die Figur aus dem alten Ahasver-Mythos erscheinen lässt: mit langem Bart, niemals sichtbar, wandel71
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Ein Mittel kann in diesem Zusammenhang durchaus der Rekurs auf die lange Tradition des Konstruktes sein, aber nur genau in dem Sinne, die lange Tradition als Beweis für die Wahrheit des Behaupteten zu verwenden, sie als Teil einer Begründung des „spezifischen So-Seins" zu instrumentalisieren. Vgl. Z. Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992, S. 45-75. G. Ritter, Das Judentum und die Schatten des Antichrist, Graz 1933, S. 47. Auch die Theorien über die Jüdische Weltverschwörung" tragen ein ahasverisches Moment. Die Wirkungsmacht einer Verschwörung, also einer geheimen Verbindung zur Herbeiführung einer Revolution, gewinnt sie aus dem Geheimnis. Die Idee des im Verborgen liegende verbindende und Grenzen überschreitende Unbekannte nährt die unheimliche Ahnung, daß es ein solches Unbekanntes gäbe.
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bar, faktisch - zumindest durch sein Geld und mittels seiner „Schläfer" - überall (auch im deutschen und Schweizer Bankensystem) potentiell anwesend. Auch er bestätigt - wie Ahasver - den Glauben an die Religion, zwar an eine andere als die der Amerikaner, aber an eine Idee, die höher steht als das individuelle Leben, die gemeinschaftsstiftend ist und ein festes Wertesystem hat. Er hat - aus Sicht der westlichen Welt - eben nur die falschen Bücher gelesen. Schöpfen kann dieses Feindbild aus der fehlenden Ikonizität der amerikanischen Politik in Bezug auf die Sichtbarmachung der aktuellen kriegerischen Handlungen, der fehlenden Kenntnisse von den Fremden in Afghanistan und Saudi-Arabien und der fehlenden selbstkritischen Aufarbeitung eines macht- und wirtschaftspolitischen Prozesses. Die Stigmatisierung dieses Feindes, dieses absolut Bösen, den man nicht kennt, aber kenntlich gemacht hat, wird ideologisch integriert: Sie wird zum stärkenden Element des inneren Zusammenhalts der westlichen Welt, zum Stabilisator einer Wertegemeinschaft, eines Patriotismus, den man schon lange nicht mehr so lautstark vernehmen konnte.
JOSEPH V O G L / E T H E L M A T A L A DE M A Z Z A
Bürger und Wölfe. Versuch über politische Zoologie
Es gehört zu den seltsamen Unordnungen politischer Zoologie, dass kein Tier dem anderen ein Tier, ein Mensch aber dem anderen stets etwas mehr oder etwas weniger als ein Mensch sein und bleiben muss. So verhält es sich jedenfalls mit dem homo homini lupus, der einmal und vielleicht dauerhaft etwas gründen sollte, das sich bis auf weiteres eine bürgerliche Gesellschaft' nennt. Denn so sehr - der Legende nach - alles damit begonnen hat, dass ein Mensch dem anderen ein Wolf gewesen ist, so wenig war und ist jemals ein Wolf dem MitWolf wölfisch gesinnt. Die politische Zoologie ist hier ungenau, parteiisch oder zumindest wenig gerecht: Der Wolf, der im Wolfe steckt, hat immer schon den Pelz abgelegt, um seinesgleichen - mit anderer Haut und anderem Haar - den Wolf zu spielen. Das politische Tier jedenfalls, das seit dem 17. Jahrhundert nach den Fundamenten seiner Zivilität forscht, hat damit nichts als einen gewissen Ungrund aufgetan, einen Ungrund, der diese Forschungen in die Bodenlosigkeit seiner Tierheit, seiner tierischen oder bestialischen Herkunft hineintreiben lässt. Es mögen wohl dahergelaufene Tiere, Wölfe oder ähnliches gewesen sein, die sich - wie es bei Thomas Hobbes heißt - zu einer „Versammlung von Menschen"1 treffen. Gerade über das tierische oder wölfische Vorleben dieser Versammlung aber ist der Natur selbst nichts bekannt. Politische Zoologie ist darum stets eine Lehre von zoo-politischen Metaphern, denen ein tertium comparationis ganz grundsätzlich fehlt. Man müsste vielleicht eher von zoo-politischen Metamorphosen sprechen: Hier hat der Wolf, das Wölfische am Wolf, das undankbare oder diskriminierende Schicksal übernommen, jene Grenze zu ziehen, die nicht das Tier vom Menschen, sondern eben das menschliche Leben vom menschlichen Leben, den Bürger vom Bürger trennt. Es gibt kein politisches ,Tier'. Es sind daher immer gewisse Geschichten von Verwandlungen, von Metamorphosen dieser Art gewesen, mit denen sich die Politik die Grenze des Politischen und die Menschen-Gesellschaft die Grenze des Geselligen erzählt. So ist es sicher kein Zufall, dass ein Räuberhauptmann namens Friedrich Schwan, der nach einer berühmten kriminellen Laufbahn in den Wäldern Württembergs 1760 hingerichtet wurde, mit neuem Namen seine Geschichte noch einmal erzählen soll: unter dem Namen Wolf, Christian Wolf nämlich, mit dem er in Schillers Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre eine doppelte Geschichte, ein doppeltes Geschick und eine zweifache Verwandlung erfährt. Denn einerseits erscheint dieser Schwan bzw. Wolf als einer jener infamen Menschen, an denen sich die Wir1 T. Hobbes, Leviathan, oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, hg. v. I. Fetscher, Frankfurt/M. 1984, S. 134.
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kung eines Banns und einer Verbannung vollzieht und über die Stationen einer zunehmenden Privation ein soziales Leben außerhalb des sozialen Lebens markiert: Vom enttäuschten Liebhaber und Wilddieb über den Kerkerhäftling, den Gebrandmarkten und den Mörder fuhrt dieser Weg in jenen Stand der Ehr- und Rechtlosigkeit, der sich in Schillers Text mit dem Topos des „Unwegsamen" und Wilden verbindet, mit einem Topos, an dem sich die Merkmale des Idyllischen und Verworfenen, des Paradiesischen und Höllischen miteinander verschränken. Eine Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft, ein Ort außerhalb der erreichbaren Orte - fast unwillkürlich wird Schillers Text von einer Poetik des Oxymorons eingeholt, die diesen Wolf mit einem Prozess der Aussetzung und dem Status der Ausnahme und diese wiederum mit der Erinnerung an einen locus amoenus verbindet. Genauer noch ist dieser Ort vor allem ein Nicht-Da und Anderswo, ein Ort, der keinen markierten Platz besitzt und in dem unterschiedslos der Tod das Leben und das Leben den Tod generiert. Es heißt: „Die Welt hatte mich ausgeworfen wie einen Verpesteten - hier fand ich brüderliche Aufnahme, Wohlleben und Ehre."2 Ob Ausschließung oder Selbstausschließung: mit einiger Konsequenz hat Schillers Text ein Exterritorium und einen politischen Körper entworfen, auf dem sich nichts als das Abgründige selbst abspielt, eine ,,-losigkeit", in der die Marken und Markierungen über die Linie ihrer De-Markierung oder Demarkation hinweg verschoben werden. Dennoch - und andererseits - ist dieses Ende der Geschichte nur der Beginn einer anderen Erzählung, die die Fabel verkehrt und mit jeder Entfernung auch eine Näherung, mit jedem Ausschluss auch einen Einschluss und eine Zurück-Verwandlung vollzieht. Dafür werden einige theoretische und poetische Anstrengungen unternommen. Etwa mit der Erzählweise: An markanter Stelle wechselt die Erzählung von der Er-Form in die Ich-Form, und je mehr sich die kriminelle Karriere jenseits der Gesetze und in der Unwegsamkeit Württembergischer Wälder verliert, desto mehr rückt die Figur einer gekränkten Seele und die Sprache eines delinquenten Subjekts heran. Anstelle von Handlungen werden darum bei Schiller Regungen, anstelle von Aktionen Motivationen vorgeführt; und es entspricht der Logik dieser Narration, dass ihre kardinalen Ereignisse nicht in Mord und Hinrichtung, sondern in einer Art innerlicher Parallelwelt, in Gewissensqual und Geständnis liegen. Der soziale Tod, der in mitteleuropäischer Mitte ein monströses, wölfisches oder bloßes, jedenfalls ein privatives Leben freigesetzt hat, wird am Ende in einen Tod verwandelt, der ein neues Sozialleben bedingt. Und nicht von ungefähr wird dem reuigen und schwanengleichen Banditen jene Wendung in den Mund gelegt, die für die alte und gerechte Hinrichtung den neuen und noch gerechteren Tod für das Vaterland, im Krieg nämlich, beansprucht: „Ich möchte leben, um einen Teil des Vergangenen gutzumachen; ich möchte leben, um den Staat zu versöhnen, den ich beleidigt habe."3 Das ist das Programm: Aus einem Exemplar, das den Kontinent des Menschlichen verlassen hat und ganz im Namen seines Schillerschen Pseudonyms zu einem „Geschöpf fremder Gattung"4 geworden ist - aus diesem Exemplar ist am Schluss von Schillers Erzählung wiederum ein Nächster und Verwandter geworden. Als wä-
2 F. Schiller, „Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte", in: ders., Sämtliche Werke, auf Grund der Originaldrucke hg. von G. Fricke und H. G. Göpfert, Bd. 5: Erzählungen, Theoretische Schriften, Darmstadt 1993, S. 13-35; hier: S. 28. 3 Ebd., S. 30. 4 Ebd., S. 14.
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re damit ein Experiment vollzogen und ein Exempel statuiert: Vertierung und Vermenschlichung jenes Wolf sind nun Metamorphosen, an denen sich der soziale Körper über die Art seiner Grenzen, über die Art seines Grenzverkehrs konstituiert. In der „wahren Geschichte"5 Friedrich Schwans, die Schillers Erzählung zuvorgekommen ist, entscheiden diese Verkehrsregeln sich vorerst nach dem Verlauf anderer Grenzen. Es sind die Landesgrenzen Württembergs, die den sozialen Körper in die Schranken der territorialen Gegebenheiten weisen und seine Ordnung auf eine Ortung beziehen, die die Reichweite des souveränen Gesetzes ausmisst. So werden die ehrenwerten Vorsätze des Verbrechers, „im Dienste des Königs von Preußen als ein braver Soldat zu sterben"6, noch auf der Reise durch die heimatlichen Lande Makulatur. Es trägt dem flüchtigen Schwan bzw. Wolf zwar die Solidarität des Literaten Schiller ein, dass er den Widerstand gegen die örtlichen Meldebehörden aufgibt und sein Inkognito lüftet. Mit dem erlösenden Bekenntnis „Ich bin der Sonnenwirt" darf der reuige Bandit am Ende seine unehrliche Wolfshaut ablegen und im Zeichen seines Elternhauses jener „Sonne"7 entgegensehen, deren Licht ihm die soziale Wiedergeburt verheißt. Dagegen beharrt der Spruch des wirklichen Gerichts ohne mildernde Umstände auf einem Gesetz, das dem delinquenten Wolf einen anderen Tod an einem anderen Ort verwehrt. Das Urteil lässt keine Metamorphosen zum Menschen und Bürger zu. Es stößt den Sonnenwirt in das unwirtliche Exterritorium eines nackten Lebens zurück, das sich nicht dem höheren Ruhme aufopfern darf und das als bloßes, tötbares Leben im Hinrichtungsakt dem Schwert des Henkers verfallt, zur Manifestation zugleich des Rechts einer überlegenen Souveränität. So ereilt den Verbrecher aus verlorener Ehre noch einmal jenes doppelte Schicksal, das sein Ende mit der zweideutigen Signatur seines Lebens zeichnet: Vor dem „republikanische[n]" „Gericht" des „lesenden Publikums"8 wird Wolf zum Menschen hin freigesprochen, während ihn die Richter des württembergischen Fürstentums in das (Un-)Recht eines wölfischen Namens setzen, den die literarische Erzählung doch als fremde Zuschreibung ausweist, als Heteronym einer von Rechts wegen aberkannten Zivilität. In diesem anderen Namen also, der symbolisch einschließt, was sein Gesetz ausschließt, ist das historische Schicksal des Übeltäters besiegelt; in diesem Namen des Anderen verwandelt sich der gefallene Schwan ein zweites, nunmehr unwiderrufliches Mal zum Wolf. Als Brecher der Gesetze, als „Vertrags- und Wortbrüchiger" gegen das soziale „Ganze"9 bleibt er für alle Mal der Feind, mit dem der Staat keinen Frieden schließt. Er stirbt als Friedloser, als „Wolf', der im Menschen seinen ungnädigen Wolf gefunden hat - nicht im Naturzustand allerdings, sondern im Herzen der souveränen Machtsphäre selbst. Christian Wolfs Geschichte ist die Geschichte eines doppelten Geschicks und einer zweifachen Metamorphose, die an die Stelle der Bürger und der Wölfe gleitende Übergänge, reziproke Vertierungen und Vermenschlichungen setzt. Damit liefert sie nicht allein den An5 Vgl. den Untertitel der Erzählung. 6 Ebd., S. 31. 7 Zu Beginn der Erzählung wird eigens darauf verwiesen, dass die „Sonne" das „Schild zu dem Wirtshaus" der Eltern war; vgl. ebd., S. 16. 8 Ebd., S. 14. 9 F. Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral. Zweite Abhandlung: ,Schuld', schlechtes Gewissen' und Verwandtes", in: Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Bd. 5, München 1999, S. 307.
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lass für eine literarische Erzählung, die „Novelle" auch im Sinne eines juridisch-politischen Revisionsprogramms sein will: das Plädoyer für eine Gouvernementalität, die nicht straft, sondern resozialisiert. Über Schiller hinaus bietet die Erzählung allen Grund, den Naturverhältnissen in der politischen Zoologie zu misstrauen - insbesondere den Grenzverläufen, die diese konstatiert. Denn so wenig Hobbes in seinen wölfischen Vertragspartnern je etwas anderes als gesellige Menschen adressierte, so wenig fuhrt die Grenze, die sich hinter Schillers Wolf schließt, in die natürliche Ungeselligkeit der wilden Fauna zurück. Eher erweist sich diese Grenze als politische Grenze in jenem „polemischen Sinn"10, den Carl Schmitt dem Politischen unterlegte: als Markierung jener „eigenen letzten Unterscheidungen", auf die „alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann", allen voran die Unterscheidung zwischen Freund und Feind.11 Damit wiederholt der Schmittsche Begriff des Politischen allerdings nur, was der Begriff des Kriminellen längst besagt. Das Wort crimen geht, wie sich bei Hobbes nachlesen lässt, auf das lateinische cerno, wahrnehmen12 zurück und bezeichnet demnach dasselbe Beobachten, das, mit Niklas Luhmann13, immer auch ein Unterscheiden ist: ein Diskriminieren gewissermaßen, das Unterschiede und Unentschiedenheiten nicht vorfindet, sondern schafft. Genauer als die Gründungsfiktionen der Neuzeit waren deshalb im frühen und vor allem im hohen Mittelalter Nordeuropas jene Strafgesetze, die im kriminellen Wolf von vornherein den verwandelten, den unkenntlich gewordenen Menschen bezeichneten: als friedlosen Garulupus, als wargus oder Werwolf, als ein wolfmenschliches Mischwesen, das die Zugehörigkeit zum Gemeinwesen erst verwirken muss, um als Ausgestoßenes in die wilde Unfreiheit des Freiwilds entlassen zu sein.14 Während die Verstöße gegen ,,subjective[s] Recht[]"15 - zivilrechtliche Vergehen nach heutigem Verständnis - mit Bußstrafen geahndet wurden, hatte der Friedensbruch als Angriff auf den ,,geordnete[n] und gesicherte[n] Zustand unter der Herrschaft des Rechts"16 die Friedloslegung zur Folge, die Ausnahme des Missetäters von der Wirksamkeit des Friedens selbst. Nach dem Recht der salischen Gesetze, dem legislativen Werk des fränkischen Reichsgründers Chlodwig (481-5II) 17 , ging die10
C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1996, S. 31. Zu Recht hat Jacques Derrida auf den Doppelsinn dieser Polemik politischer Begriffe bei Schmitt verwiesen: „Sie sind Begriffe des Polemischen; und sie werden stets innerhalb eines seinerseits polemischen Feldes gebraucht. Es gibt diese Begriffe des Polemischen nur in polemischer Verwendung." J. Derrida, Politik der Freundschaft, Frankfurt/Main 2000, S. 163. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 26. Hobbes, Leviathan, S. 224. „Beobachtung heißt in diesem Zusammenhang, das heißt auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie, nichts weiter als: Handhabung von Unterscheidungen." N. Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 4 1991, S. 63. Diese Zusammenhänge entwickelt die Studie von W. E. Wilda, Das Strafrecht der Germanen (1842), Neudruck Aalen 1960, die in der Forschung lange Zeit kanonisch war. An ihn schließen die beiden Studien an von L. Weiser-Aall, „Zur Geschichte der altgermanischen Todesstrafe und Friedlosigkeit", in: Archiv für Religionswissenschaft 30 (1933), S. 209ff.; und von L. Kretzenbacher, Kynokephale Dämonen südosteuropäischer Volksdichtung. Vergleichende Studien zu Mythen, Sagen, Maskenbräuchen um Kynokephaloi, Werwölfe und südslawische Pesoglavci, München 1968, S. 107f. Wilda, Strafrecht der Germanen, S. 268. Ebd., S. 225. Vgl. dazu R. Schmidt-Wiegand, „Lex salica", in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. von A. Erler und E. Kaufmann, 2. Bd.: Haustür-Lippe, Berlin 1978, Sp. 1949-1962. 6
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se Friedlosigkeit immer v o m König aus; sie bedeutete eine „Verbannung aus dem Lande, eine Ausstossung aus der Menschengesellschaft, d.h. aus der Lebens- und Rechtsgemeinschaft des V o l k e s zu den Thieren des Waldes". 1 8 D a s s der Friedlose verbannt sein solle, „so weit als M e n s c h e n den W o l f verfolgen", hält später auch die Friedensformel der altisländischen Grägäs angels, wearg)
fest. 1 9 Indem der altgermanische N a m e wargus
(von althd. ware, altn.
vargr,
d e m Friedlosen aber nicht nur den N a m e n des W o l f e s zuschreibt, sondern
diese Animalität zugleich als Ergebnis einer Verurteilung kennzeichnet 2 0 , prägt er dem Abjekten das Mal der symbolischen Ordnung ein. Der Wolf, den das Gesetz erzeugt: als „Feind der Rechtsgemeinschaft", der „von Allen und Jedem" „busslos [ . . . ] erschlagen" werden kann 21 , ist damit explizit sowohl von den Bürgern unterschieden als auch von den Tieren der Wildnis. Er gehört weder jenen zu, die mit ihrem N a m e n zivile Rechte garantiert wissen, noch geht er in der Tierheit derer auf, die kein N a m e überhaupt zu straffrei tötbaren W e s e n ernennen muss. D i e Gesetzlosigkeit, die den wargus
einer allseitigen Feindseligkeit auslie-
fert, ist das Resultat einer rechtlichen Privation und als solche selber Rechtsphänomen, der wilde Effekt eines gesetzlich verfügten Rückzugs des Rechts. 2 2 D a s bloße Leben, das dem Missetäter bleibt, ist das Spaltprodukt eines „bürgerlichen Tod[es]" 2 3 , der erwirkt ist durch
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Wilda, Strafrecht der Germanen, S. 279. Vgl. dazu auch J. Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, 2 Bde. (41899), Darmstadt 1955, S. 335: „Die lex. sal. 58,1 [55,2] rip. 85,2 hat wargus, hoc est expulsus de eodem pago, wargus aber bedeutet wolf und räuber, weil der verbannte, gleich dem raubthier, ein bewohner des waldes ist und gleich dem wolf ungestraft erlegt werden darf." Wilda, Strafrecht der Germanen, S. 230. - Grägäs, altisl. Graugans, ist die seit dem 16. Jahrhundert übliche Bezeichnung für das Gesamtcorpus des isländischen Rechts der sogenannten freistaatlichen Periode (ca. 930-1264); es handelt sich dabei nicht um eine systematische Rechtskodifikation, sondern eher um Privataufzeichnungen, „gestützt auf ein recht vielgestaltiges Material". Vgl. H. Ehrhardt, „Grägäs", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. IV: Erzkanzler bis Hiddensee, München Zürich 1989, Sp. 1636f.; Zitat 1637. „Gavargjan (althd. wergian) ist beim Ulphilas: damnare verurtheilen, vargida kommt selbst in den Capitularien für condemnatio: mit einer Strafe belegen, vor." Wilda, Strafrecht der Germanen, 280. - Eine neuere sprachgeschichtliche Studie räumt der Semantik des Verbrechers historisch sogar den Vorrang vor der genetischen Tierkennzeichnung ein und findet das Bedeutungselement ,Wolf in der Wortgruppe v/arg- erst nach 1000 im germanischen Recht belegt. Vgl. M. Jacoby, wargus, vargr, , Verbrecher', , Wolf. Eine sprach- und rechtsgeschichtliche Untersuchung, Uppsala 1974. Wilda, Strafrecht der Germanen, 281. - In der jüngeren Forschung ist es inzwischen strittig, ob man diese Regel mit der harten Konsequenz der Tötung bereits für das germanische Altertum in Anschlag bringen darf. Einiges deutet darauf hin, dass die Friedlosigkeit in fränkischer Zeit für Raub, Diebstahl und Totschlag verhängt wurde, die Strafe allerdings nicht zwangsläufig auf die Tötung des Missetäters zielte, sondern in erster Linie auf den Schutz der Gemeinschaft. Vgl. dazu M. Lundgreen, „Friedlosigkeit", in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, von Johannes Hoops, zweite, völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Ausgabe mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Neunter Bd.: Fidel bis Friedlosigkeit, Berlin New York 1995, S. 613-621; bes. 617f. Lily Weiser-Aall hat in ihrer Studie über die altgermanische Todesstrafe auf die mythische Vorgeschichte dieser Namengebung hingewiesen: „Der Wolf ist von alters her in den griechischen und italischen Religionen und bei den Germanen das Tier der Fremden, Verbannten und aus dem heimischen Bereiche Ausgestoßenen" (vgl. dies., Geschichte der altgermanischen Todesstrafe und Friedlosigkeit, S. 220). Dass solche imaginären Besetzungen schließlich auch die symbolische Logik von Institutionen strukturierten, zeigt sich etwa an jenem „abzeichen eines wolfs", mit dem sich in der Lombardei die „gerichtsbehörde für Verbannungsangelegenheiten" auswies. Vgl. dazu J. Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer, Bd. 2, S. 336. Wilda, Strafrecht der Germanen, S. 292.
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das Verbot, mit dem Friedlosen zu verkehren, ihm Nahrung und Herberge zu geben24, aber vor allem durch die gewaltsame Löschung seiner Spur und seines Andenkens: durch die Einziehung seines gesamten Vermögens25, durch die Zerstörung seiner Wohnung und die Verweigerung der letzten Ruhe in einem vom Frieden der Kirche geheiligten Grab.26 Als Geschöpf eines Rechtsakts der Rechtlossetzung ist der zum Wolf verwandelte Mensch, der Werwolf damit die Inkarnation jener einschließenden Ausschließung, in der der italienische Philosoph Giorgio Agamben den grundlegenden Mechanismus abendländischer Souveränitätskonzepte ausgemacht hat.27 Agamben hat die Aufmerksamkeit auf jene Indifferenzzonen gelenkt, die durch juridische Entscheidungen und Unterscheidungen entstehen, und er hat die Reproduktion der politischen Ordnung an die Herstellung solcher ungeordneter Verhältnisse geknüpft, an die Einhegung exemter Orte, in denen alle Unterscheidungen vergleichgültigt sind: die Differenzen von Tier und Mensch ebenso wie die von Recht und Gewalt, von Leben und Tod. Für die politische Zoologie haben diese Beobachtungen erhebliche Konsequenzen; zumindest erfordern sie eine Revision und Ergänzung der generischen Kategorien. Wie die Werwölfe ermessen lassen, kommt eine Naturgeschichte des sozialen Körpers dem Wesen bzw. den Wesen des Politischen nur in unzureichender Weise bei, solange sie ihre Paradigmen unter den reinen Arten sucht: seien es die vorzivilen Wölfe des Thomas Hobbes oder jene Ameisen und Bienen, an die Aristoteles, später Mandeville sich hielten, um den Naturgesetzen der Staatenbildung auf den Grund zu gehen. Politisch ist eine Zoologie nur, wenn sie die hybriden Geschöpfe an den Rändern des homogenen Kollektivkörpers typologisch erfasst. Vor dem Hintergrund eines solchen Bestiariums, wie es hier probeweise skizziert werden soll, zeichnen sich dabei zugleich die Konturen einer Gattungslehre ab, die sich als Kasuistik des politischen Unheimlichen präsentiert. Offensichtlich bleiben die vertierten, verwilderten Wesen in einer spekulären Doppelgängerschaft auf jenes Menschentum bezogen, das sie aus seinem Verbund exkommuniziert. Was der kollektive Körper an ihnen, den politischen Hybridbildungen, als buchstäbliche Heimsuchung erfährt, sind die entstellten Spiegelbilder des verworfenen sozialen Selbst. Das Ungeheuerliche der Mischwesen lässt sich darum nicht auf eine Akkumulation verschiedenartiger Bestimmungen zurückfuhren, auf eine Monstrosität, die aus der Überdeterminierung des Tierhaften am Tier erwächst. Das Unheimliche, Ungeheuerliche der Menschenwölfe geht vielmehr aus dem Verlust symbolischer Markierungen hervor, von Markierungen, die zugleich die Grenze aller Demarkierungen setzen. Es ist die Defiguration in der Figur, es ist der Grund oder Abgrund, vor dem sich die Menschen-Form selbst abzeichnet - ein aufsteigendes Tier, eine aufsteigende Tierheit oder Bestialität.28 Was die Sprache des mittelalterlichen Rechts , Vogelfreiheit' nennt, ist nur der Euphemismus für eine feindselige Diskriminierung, die ein Doppeltes erzeugt: die Rechtlosigkeit des Kriminellen, aber auch den Rechtskörper des Sozialen, seine Integrität und Identität. Umgekehrt ist dar24 25 26 27 28
Ebd., S. 285f. Ebd., S. 288. Ebd., S. 293f. G. Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/Main 2002. „Es ist ein dürftiges Rezept zur Herstellung eines Ungeheuers, verschiedenartige Bestimmungen aufzuhäufen oder das Tier zu überdeterminieren. Besser läßt man den Untergrund aufsteigen und die Form schwinden." G. Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, S. 50.
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um der Werwolf nicht nur das Doppel-, Mehrfach- oder Mischwesen, über das die Artreinheit richtet, sondern stets auch jene Vielheit oder Meute, mit der sich die Einheit des sozialen Körpers diskriminiert. „Man kann nicht ein Wolf sein", so haben Deleuze und Guattari es formuliert, „man ist immer acht oder zehn Wölfe, sechs oder sieben Wölfe. Nicht sechs oder sieben gleichzeitig, sondern ein Wolf unter anderen, zusammen mit fünf oder sechs anderen Wölfen."29 Die Menschen-Form ruft zugleich ihre Deformation, die Einheit an ihrer Grenze die Vielheit auf den Plan. Die Geschichte dieser Ränder, dieser Unterscheidungen ist die Geschichte selbst. So hat etwa die Volkskunde am Rande Europas, zwischen dem Karpatenbogen und der unteren Donau, einige Exemplare ausgemacht, die - erstmals erwähnt von dem griechischen Geographen Strabo (ca. 63 v.Chr. - 19 n.Chr.) - unter dem Namen „Daker" in die Ahnenreihe des Rumänischen eingegangen sind. Als Daker leiteten sie sich von dem Wort δαοι - aus dem Indogermanischen dhäu für „pressen, drücken, würgen, erdrosseln"30 - ab und waren damit schon namentlich eine Derivation von Wesen, die das Würgen des Werwolfs ins Griechische übersetzten. Zusammenfanden diese Daker wohl zunächst als eine lose Ansammlung von Flüchtlingen, von Staaten- und bindungslosen Exulanten also, die als aggressive Landsucher auftraten und sich durch Raubzüge Asyl erzwangen: in der martialischen Vermummung und Ekstatik jener Wölfe, die ihnen zum Gattungsmerkmal erwachsen sind.31 Damit haben die Daker den legendären Typus einer Existenzform von Wolfsmenschen geprägt, die sich im Niemandsland der Gesetzlosigkeit auf die Gewalttätigkeit des Kriegertums verlegten. Sie sind der Präzedenzfall einer verwilderten Horde und Werwolfsmeute, die von der verfransten Peripherie in die befriedeten Räume einbricht und diese mordend und marodierend zersetzt. Mit ihnen verschafft sich aber auch eine Feindschaft Raum, die dem Begriff des Politischen unbegreiflich bleiben muss, solange er wenigstens jene Unterscheidungen feststellen soll, auf denen Carl Schmitts polemische Begriffsbestimmung beharrt. Schmitt hat seinen Begriff des Politischen explizit als einen reinen Begriff entwerfen wollen und diesem Reinheitsbegehren mit einer semantisch leeren Definition des Feindes entsprochen. Er hat mit dem inimicus nicht nur die private Aversion, den persönlichen Affekt und die Xenophobie aus der politischen Unterscheidung heraushalten wollen, sondern seinen „öffentliche[n] Feind" auch gegen den ökonomischen Konkurrenten und den moralischen Gegner abgegrenzt. So statuiert sein Feindbegriff „eine wenigstens eventuell, d. h. der realen Möglichkeit nach kämpfende Gesamtheit von Menschen, die einer ebensolchen Gesamtheit gegenübersteht"32. Politisch bleibt dieser Kampf aber nur, solange er mit dem Ziel einer Auseinandersetzung im Wortsinn: einer Durchsetzung der Unterscheidung ausgetragen wird und den Feind „in seine Grenzen" zurückzuverweisen sucht. So sehr ein Kampf „über das Politische hinausgeh[t]"33, der es auf eine Vernichtung des Feindes anlegt, so sehr fällt 29 30 31
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G. Deleuze, F. Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin 1992, S. 46. Kretzenbacher, Kynokephale Dämonen, S. 106. Vgl. M. Eliade, „Les Daces et les loups", in: Numen. International Review for the History of Religions, Bd. VI/1, Leiden 1959, S. 15ff. - Ob es sich bei dem Namen der Daker um eine Selbstbezeichnung handelte oder um einen „Schreckensnamen [...] von seiten der Bedrohten, Vergewaltigten", lässt sich aus der historischen Distanz allerdings nicht mehr rekonstruieren; vgl. Kretzenbacher, Kynokephale Dämonen, S. 109. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 29. Ebd., S. 37.
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das Politische einer Entpolitisierung anheim im Zugriff eines Feindes, der mit bloßer Gewalt alle Grenzen und Unterscheidungen suspendiert. Die Kriegerhaufen, die kein Territorium kennen und anerkennen, dementieren den Begriff eines Feindes, der letzthin seine Grenzen kennen und die Souveränität seines Gegners akzeptieren muss. In der beliebigen Feindschaft derer, die ihre Gegner unterschiedslos vertilgen, finden die Friedlosen, denen das Recht die Feindschaft aller zudiktiert hat, ihr strukturelles Pendant. Und das heißt: Auch Schmitts Begriff des Politischen kann sich nicht der Bedingungen jener Unterscheidung vergewissern, die ihn trägt und definiert. In der Geschichte blieben die Daker kein Einzelfall. Derselbe Ruf tierischer Rotten umgibt die Kriegerbünde der bärenhäutigen „Berserker"; er begleitet die „Hundinge" der frühen Langobarden und die „Wolfswämser" 34 und weist sie als mörderische Kämpfer aus, als Barbaren, die das Bild jener guten, gesellschaftsfähigen und tauschwilligen Wilden aus den Sozialanthropologien des 18. Jahrhunderts konterkarieren. Michel Foucault hat diesen Typus des Barbaren prägnant in seiner Ambivalenz als Produkt und als Bedrohung der Zivilisation charakterisiert. „Der Barbar ist dem Wilden entgegengesetzt", so schreibt er, „aber auf welche Weise? Zunächst darin, dass der Wilde nur mit anderen Wilden in seiner Wildheit wild ist; sobald er in einem sozialen Bezug steht, hört der Wilde auf, wild zu sein. Dagegen ist der Barbar einer, der sich selbst unbekannt ist und sich nicht charakterisieren lässt und nur in Hinblick auf eine Zivilisation, von der er ausgeschlossen ist, beschrieben werden kann. Ein Barbar ist ohne einen zivilisatorischen Bezugspunkt, zu dem er in ein Verhältnis des Außerhalb tritt und gegen den er ankämpfen wird, nicht denkbar. Ein zivilisatorischer Bezugspunkt - den der Barbar verachtet und den er aufsucht - , zu dem er in ein Verhältnis von Feindschaft und fortgesetztem Krieg tritt. Es gibt keinen Barbar ohne eine Zivilisation, die er zu zerstören oder sich einzuverleiben trachtet. Barbar ist immer der Mensch, der an den Grenzen der Staaten herumstolpert und gegen die Mauern der Städte anrennt. [...] Der Barbar ist im wesentlichen alles andere als Tausch: er ist ein Vektor der Beherrschung. Der Barbar bemächtigt sich der Dinge, eignet sie sich im Gegensatz zum Wilden an; er praktiziert nicht eine primitive Besetzung des Bodens, sondern Raub. Sein Verhältnis zum Eigentum ist immer sekundär: Er bemächtigt sich allenfalls eines schon vorhandenen Eigentums, genauso, wie er andere in Dienst nimmt, das Land von anderen bestellen, seine Pferde hüten, seine Waffen vorbereiten lässt. Auch seine Freiheit beruht nur auf der verlorenen Freiheit anderer. [...] Der Barbar [...] muß schlecht und böse sein, selbst wenn man ihm Qualitäten zuerkennt. Er kann nur voller Arroganz und inhuman sein, da er eben nicht der Mensch des Tausches und der Natur ist; er ist der Mensch der Geschichte, der Plünderung und der Brandschatzung, er ist der Mensch der Herrschaftsausübung." 35 Ein spätes literarisches Exempel dieser Barbaren hat Hermann Löns 1910 in seinem berüchtigten Wehrwolf statuiert: einem Roman, der die rasende Vernichtungswut der Söldnerheere zu Zeiten des 30-jährigen Kriegs ausmalt, um ihnen - nicht weniger wölfisch - die Rache der Lüneburger Heidebauern unter dem Anfuhrer Wulf entgegenzusetzen. Sie schlagen los, sobald der Herzog das Verbot der Lynchjustiz suspendiert. 36 Der Text, der sich 34 35 36
Kretzenbacher, Kynokephale Dämonen, S. 83-89. Vgl. M. Foucault, In Verteidigung der Gesellschaf, Vorlesungen am College de France Frankfurt/Main 1999, S. 225-227. H. Löns, Der Wehrwolf. Eine Bauernchronik, Hannover Hameln 1996.
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„Bauernchronik" nennt, nährt das Phantasma einer verwitterten zentralen Ordnungsmacht, die das Terrain den entfesselt kämpfenden Meuten überlassen muss. Die paramilitärischen „Wehrwölfe" des Nationalsozialismus haben das gerne zitiert.37 Prägnanter hat allerdings Kafka die politische Logik des Barbarischen gefasst. Wiederum in Form einer Chronik zeigt sein Fragment Ein altes Blatt geradezu programmatisch das Eindringen des Außen, der Peripherie ins Zentrum der Macht. Mitten im Reich, in der Hauptstadt, auf dem zentralen Platz vor der Kaiserpalast, haben sich hier die Horden jener seltsamen Wesen eingefunden, die nicht sprechen und kein Gesetz kennen, Nomaden oder Barbaren, Krieger oder Feinde, die sich nehmen, was ihnen nicht gehört, lassen, was sie nicht interessiert, und aus dem reinlichen Ort einen „wahren Stall" gemacht haben. Bezugslos und gekennzeichnet durch Privation sind diese Wesen zuletzt bezogen nur auf den „Kaiser" selbst, der nun manchmal aus den innersten, verborgenen Gemächern seines Palastes hervorkommt, ans Fenster tritt und „mit gesenktem Kopf auf das Treiben vor seinem Schloß" blickt.38 Wie schon das antike barbaros als Onomatopoesie des Stammeins mit der Grenze der hellenischen Welt auch die des Menschlichen und schließlich die Ungestalten einer ewigen Feindschaft markierte39, so lässt sich auch hier, bei Kafka, die Figur einer unbestimmten Feindseligkeit erkennen, mit der das Ausgeschlossene, das Außerhalb souveräner Ordnungsmacht in ihrem Innern wiederkehrt. Dass diese Monstrosität an den Rändern tatsächlich auf die Mitte selbst verweist, bezeugen jene Geschichten, mit denen das Geschick souveräner Herrscher erzählt und zu Ende erzählt wird. So erinnert einer der Gründer neuzeitlicher Souveränitätslehre, Jean Bodin, in seinen Sechs Büchern über den Staat an den ersten Usurpator des Herrschaftsmonopols: an den assyrischen Despoten Nimrod, der in der Heiligen Schrift den Titel des „mächtigen Jägers" fuhrt, von Bodin aber als Räuber und „schrecklicher Herr"40 übersetzt wird - auch hier eine wölfische Ununterscheidbarkeitszone zwischen gejagtem Räuber und räuberischer Jagd. Spätestens von 1760 an, so hat Michel Foucault gezeigt, wird diese strukturelle Verwandtschaft zwischen Verbrecher und Despot zum Politikum schlechthin.41 Der absolute Fürst, wie ihn etwa Hobbes konzipiert, ist als Souverän per defmitionem Herr über die Gesetze, ohne ihnen selbst zu unterliegen. Er firmiert als gefurchtete Instanz eines Rechts, das ihn selbst nicht an die eigenen Untertanen bindet. Unter den Bürgern ist er damit der einzige Wolfsmensch von Rechts wegen. Er allein genießt das Privileg, jene Rebellen als Feinde zu bekriegen, die „nach bewußter Auflehnung die souveräne Gewalt verwerfen"42. Im herrscherlichen Straftheater des Schreckens, in dem 1760 auch der „Wolf Friedrich Schwan zu 37
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Vgl. exemplarisch den Band Kamerad, weißt Du noch? Erinnerungen aus der Geschichte des „ Wehrwolf" 1923-1933, zusammengestellt durch A. Bochinsky, P. Dali' Asta und F. Kloppe, Berlin 1938, S. 40f. F. Kafka, Ein altes Blatt, in: Drucke zu Lebzeiten, hg. von W. Kittler, H.-G. Koch und G. Neumann, Frankfurt/Main 1994 (= F. Kafka, Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, hg. von J. Born, G. Neumann, M. Pasley und J. Schillemeit), S. 263-267. Vgl. M. Schneider, Der Barbar. Endzeitstimmung und Kulturrecycling, München 1997, S. 20ff. J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, Buch I—III, übers, und mit Anmerkungen versehen von B. Wimmer, eingel. und hg. von P. C. Meyer-Tasch, München 1981, S. 338. M. Foucault, Les Anormaux, Cours au College de France 1974-1975, Edition 6tablie sous la direction de Franiois Ewald et Alessandro Fontana, par Valerio Marchetti et Antonella Salomoni, Paris 1999, S. 86. Hobbes, Leviathan, S. 239.
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Tode kam, feiert dieses Kriegsrecht sich als exzessive Manifestation der übermächtigen Staatsgewalt.43 Der letzte Souverän des absolutistischen Frankreich hat dieses Schicksal ganz konsequent durch sein Ende vollendet. Bis zuletzt nämlich blieb es unter den französischen Revolutionären umstritten, ob er als Bürger behandelt und vor ein ordentliches Gericht gestellt werden kann. Saint-Just sollte dafür plädieren, den Monarchen als einen Feind zu richten: als ein unziviles Mischwesen, das in den Sozialvertrag nie eingebunden war und deshalb keinen Anspruch auf eine rechtmäßige Verurteilung hat, nur auf eine umstandslose Liquidation.44 Damit wird der Souverän, der das exklusive Recht hatte, sterben zu machen, selber in die Friedlosigkeit des bloßen, tötbaren Lebens entlassen und auf dem Schafott als politisches Monster gerichtet. Sein Kopf fällt stellvertretend für alle Repräsentanten des Rechtsinstituts Monarchie, in denen die revolutionäre Geschichtsschreibung, mit den Worten einer Quelle von 1793, nurmehr die „Wölfe der menschlichen Gattung"45 erkennt. Ludwig XVI. stirbt als letzter dieser Werwölfe; doch soll er zugleich das erste in einer langen Reihe neuer politischer Monster sein, deren Kriminalität nicht länger nur als feindlicher Angriff auf das Recht des politischen Körpers justiziabel wird, sondern als notwendige Folge einer aus der Art geschlagenen Natur. Der Erkundung und Administration dieser Natur gelten die unzähligen polizeilichen Maßnahmen, die der König von seiner Gefangensetzung an über sich ergehen lassen muss. Mit ihnen wird die Physis des devestierten Königskörpers zum Zugriffspunkt der revolutionären Politik, die penibel kontrolliert und überwacht: die Besuche der Verwandten, die Beschränkung der Hygiene, die Bewegungen der Inhaftierten bei Tag und Nacht.46 Die Bürokratie der Revolutionäre kündigt damit die Herrschaft einer Gouvernementaliät an, eines Disziplinarregimes, das sich auf die Regulierung von Lebenssituationen, von biologischen, medizinischen, sozialen, ökonomischen und moralischen Milieus verlegen wird. Michel Foucault hat diesen Regulierungstypus auf die Begriffe einer Pastoralmacht gebracht: einer Form von „Heerden-Organisation"47, in der der Hirte seine Schutzbefohlenen unter seine „dauernde, individualisierte und zielgerichtete Hut"48 nimmt. Welches Programm diese Pastoralmacht verfolgt, zeichnet sich in Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre bereits ab. Es ist ein Programm, das die alte Ausschließung, die Verstoßung der abjekten Körper, mit einer neuen Einschließung beantwortet, mit einer 43
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„L'exces de la punition devait röpondre ä l'excös du crime et devait l'emporter sur lui. II y avait done necessairement un desöquilibre, au cceur meme de l'acte de punition. II fallait qu'il y ait une sorte de plus du cötö du chätiment. Ce plus, c'ötait la terreur, c'etait le caractdre terrorisant du chätiment." M. Foucault, Les Anormaux, S. 76f. Vgl. die Rede Saint-Justs am 13. November 1792 vor dem Konvent; in: P. Fischer (Hg.), Reden der Französischen Revolution, München 1989, S. 217ff. A.-R. Mopinot de la Chapotte, Effrayantes histoires des crimes horribles qui ne sont communs qu 'entre les families des rois depuis le commencement de l'ere vulgaire jusqu'ä la fin du XVIIf siecle, Paris 1793, zit. nach: Foucault, Les Anormaux, S. 90. Vgl. dazu ausführlich F. Balke, „Wie man einen König tötet oder ,Majesty in misery'", In: VZ 75 (2001), H. 4, S. 657-679. F. Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?", in: KSA 5, S. 384. M. Foucault, ,„Omnes et singulatim'. Zu einer Kritik der politischen Vernunft", in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt/Main 1994, S. 65-83; hier: S. 69.
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Ökonomie der Einschließung, die nichts und niemanden für den Körper des Staats verloren gibt und keine Werwölfe, nurmehr und allenthalben „menschliche Monster"49 kennt. Die lokale, temporäre und rechtliche Ausnahme, mit der die Souveränität sich selbst und zugleich ihr verworfenes Gegenstück produziert hat, ist zu einem dauerhaften Zustand geworden, in dem sich die politischen Tiere nicht zuletzt durch die biopolitische Konfiszierung ihres bloßen Lebens zur Herde formieren. Für das Bestiarium der politischen Untiere ergeben sich so mehrere Typologien, die sich abschließend vielleicht in das Verhältnis zweier Konkurrenzen und Komplementärfiguren setzen lassen. Dabei ist einerseits ein Gegeneinander von Einheit und Vielheit zu konstatieren: Dem einen, despotischen Wolfsmenschen im Zentrum der souveränen Macht stehen an den Rändern der Rechtssphäre die vielen Meuten der Werwölfe gegenüber, die das Gemeinwesen heimsuchen und eine Tyrannei der Unzahl, einen multipel gewordenen Despotismus entfachen. Andererseits sind zwei konkurrierende Arten von Mannigfaltigkeit auseinanderzuhalten: diejenige der Rotte und Meute zunächst, die sich mit Elias Canetti über die Zerstreutheit und begrenzte Zuwachsmöglichkeit charakterisieren lässt: die lockere, nach jeder Versprengung wieder zusammenfindende Assoziation; die Ausrichtung auf ein gemeinsames Angriffsziel; die Verteilung des Erbeuteten.50 Von ihr zu unterscheiden ist die Herde, die eines Hirten bedarf, der sie versammelt, leitet und führt, ihr eine tagtägliche Hege angedeihen lässt und seine Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Mitglied der Herde richtet. So behütet, ist diese Mannigfaltigkeit unter der Obhut moderner Pastoraltechnologen dazu angetan, das Soziotop der bestialischen Artenvielfalt erheblich einzuschränken. Gemessen an den Entstellungen der bürgerschreckenden Werwölfe sind die Abweichungen zwischen weißen und schwarzen Schafen eher gering. Man wäre versucht, die Werwölfe für ausgestorben zu erklären, hätte nicht Thomas Pynchon in seinem jüngsten Roman Mason & Dixon im England des 18. Jahrhunderts ein letztes, bemerkenswertes Exemplar aus einem unterirdischen Tunnellabyrinth unterhalb der Geometrie des Landes zutage gefordert: einen Werwolf namens Ludowick, der sich - in Verkehrung seiner Mythologie und zum Schrecken seiner zivilen Mitmenschen - bei Vollmond für „zwei oder drei Nächte" in einen ,,glattrasierte[n], etwas schmale[n] Jüngling" verwandelt, in einen „Durham-Dandy in Silberbrokat".51 Vielleicht muss dieser Ludowick tatsächlich als die Personifikation jener Heimsuchung angesehen werden, die die sozialen Körper der Moderae bis heute verfolgt. In einer Zeit, die für den Ausnahmefall der Despotie keine monströse Phänomenologie mehr hat und jede Ausschließung mit einer Einschließung verdoppelt, lebt der Werwolf mit dem königlichen Namen im Double eines zivilen Wesens fort - ein Double, das allen Grund hat, sich selber nicht geheuer zu sein.
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M. Foucault, Les Anormaux, S. 87. E. Canetti, Masse und Macht, Frankfurt/Main 1980, S. 108-114. T. Pynchon, Mason & Dixon, Reinbek 1999, S. 316f.
ALEXANDER GARCIA DÜTTMANN
Feinde im Diesseits und Jenseits Radikalisierungen1
Ein Gedicht des Dichters und Philosophen Dieter Leisegang lautet: „Über mir wohnt ein Mann/ Ich höre ihn heimkommen nachts/ Höre, wenn er sich Kaffee kocht// Viel ist das nicht/ Gerade genug, um zu wissen,/ Dass er/ Mein Feind ist."2 Dieses Gedicht bringt den Leser in eine doppelte Versuchung, in die Versuchung, es entweder zu leicht oder zu schwer zu nehmen. Der Leser, der es zu schwer nimmt, vermeint, in dem Gedicht eine verknappte existentielle Aussage zu erkennen; der Leser, der es zu leicht nimmt, reduziert das Gedicht auf das Kalauerhafte seiner verknappenden Faktur. Vielleicht nämlich ist dieses Kalauerhafte eine Auswirkung der in der letzten Zeile genannten Feindschaft, während umgekehrt die mit dem Pathos der Existenz vorgetragene Verallgemeinerung der Feindschaft zur Erfahrung der Andersheit schlechthin das Kalauerhafte gar nicht erst wahrnimmt. Besteht nicht zwischen der Feindschaft und der Willkür, mit der das im Gedicht ausgesprochene Wissen zusammengefasst wird, eine Beziehung? Das spärliche Wissen, ein Wissen um alltägliche Vorgänge, nicht um ein besonderes Verhalten und dessen Antriebsfeder, scheint kaum auszureichen, um die Gleichsetzung des anderen mit einem Feind als eine berechtigte erscheinen zu lassen. Die Deutung, die das Gedicht als Kalauer ansieht, beruft sich auf die Unverhältnismäßigkeit zwischen dieser Gleichsetzung und ihrer Berechtigung. Der durch die Gedichtform ermöglichte, spektakuläre und zugleich harmlose Theatercoup der letzten Zeile wird von ihrer Unverhältnismäßigkeit gezeitigt. Wenn aber die Unverhältnismäßigkeit zwischen der Identifikation des Feindes und der Begründbarkeit der Identifikation konstitutiv zur Erfahrung der Feindschaft gehört, erschöpft sich das Gedicht nicht im Kalauerhaften und enthält eben als kalauerhaftes eine Auskunft über jene Erfahrung, über das, was Feindschaft zur Feindschaft macht. Dass einer mein Feind ist, erweist sich letztlich als so willkürlich, als so unbegreiflich oder als so übertrieben, wie die unverhältnismäßige Gleichsetzung es in Leisegangs Gedicht zu sein scheint. Der Feind ist ein Gegner, der mir „entgegenarbeitet". Kafka wählt dieses Wort am Ende seiner kurzen Geschichte „Der Nachbar".3 Ein unsichtbar bleibender Nachbar, von dessen Lebensumständen und Absichten der Erzähler nichts weiß, wird darin unvermittelt zum
1 Dieser Aufsatz ist bereits in einem Buch des Verfassers erschienen: Freunde und Feinde, Wien 1999. 2 D. Leisegang, „Feind", in: ders., Unordentliche Gegend. Aphorismen, Gedichte, Übersetzungen 19601970, Frankfurt am Main 1971, S. 35. Corinna Oppler bin ich dafür dankbar, dass sie mich auf dieses Gedicht aufmerksam gemacht hat. 3 F. Kafka, „Der Nachbar", in: ders., Sämtliche Erzählungen, Frankfurt am Main 1980, S. 301.
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Alexander Garcia Diittmann
Gegner oder zum Feind, dessen Entgegenarbeiten darauf zielen soll, dem bedroht sich fühlenden Ich Schaden zuzufügen. Unvermittelt ist die Verwandlung nicht, weil die Geschichte keine Steigerung kennt, die zu der verblüffenden Annahme des Entgegenarbeitens führt, sondern weil diese Annahme kaum eine zufriedenstellende Begründung erhält. Zwar legt die allmähliche und zugleich überstürzte Verwandlung des Nachbarn in einen Gegner oder Feind eine psychologische Deutung nahe; doch würde eine solche Deutung die Möglichkeit außer Acht lassen, dass die Steigerung tatsächlich von einem Entgegenarbeiten ausgelöst wird, ja dass sich in der Hervorrufung einer Besessenheit, der das Ich nicht zu widerstehen vermag, das Entgegenarbeiten selber auswirkt. Im Gegensatz zu Kafkas Geschichte erschwert es Leisegangs Gedicht dem Leser, einen Grund für seine UnVerhältnismäßigkeit in der Psychologie des Redenden zu suchen, bleibt es doch ohne Steigerung, platt eben wie ein Kalauer. Das Unbegründete aber, das letztlich in der mehr oder weniger unvermittelten Gleichsetzung des anderen mit einem Gegner oder Feind liegt und das sowohl in der Geschichte als auch im Gedicht die UnVerhältnismäßigkeit hervorbringt, zeigt den Unterschied zwischen einem Gegner und einem Feind an. Denn während man sich an dem Entgegenarbeiten des Gegners wie an den Handlungen eines agonalen Gegenübers messen kann, während zwischen Gegnern ein Antagonismus vorherrscht, der ihr Verhalten im Gleichgewicht hält, gleichgültig, wie weit die gegenseitige Überhöhung reicht oder wer einen Sieg davonträgt, hat es der Feind auf die Vernichtung dessen abgesehen, gegen den er arbeitet. Dass mich einer vernichten möchte, dass seine Existenz in nichts als eben diesem Willen besteht und dass ich mich aus diesem Grund nie vor ihm sicher wähnen und nichts gegen sein Entgegenarbeiten ausrichten kann, muss - muss mir am Ende willkürlich und unbegreiflich vorkommen. Feindschaft ist unbegründbar, so zahlreich ihre Begründungen und die Versuche der Rationalisierung auch sind, so sehr man ihren sinnstiftenden und rechtfertigenden Zug auch hervortreten lässt und so sehr man auch sich um ihren Sinn bemüht, um einen sinnvollen Begriffsgebrauch, um gerechtfertigte terminologische und sachliche Unterscheidungen zwischen privater und öffentlicher, konventioneller und absoluter Feindschaft. Unbegründbar und dadurch unbedingt, kann man Feindschaft nicht mit anderen Zügen einer Existenz vergleichen. Die Existenz des Feindes wird als solche von der unerklärlichen Willkür eines Willens zur Vernichtung bestimmt, von einer bloßen „Menschenähnlichkeit", auf die sich die Frage bezieht, in welchem Sinne Feindschaft als anthropologische Kategorie zu gelten vermag. Willkürlich und dadurch unentrinnbar, transzendiert Feindschaft die zeitliche, geschichtliche Bedingtheit und ist ein absolutes Gedächtnis. Selbst wenn man zu wissen glaubt, dass es keine Gründe dafür gibt, einen Feind zu haben, kann man einen möglichen Feind haben, einen Feind, der mir um so wirksamer entgegenarbeitet als ich ahnungslos bin und nicht von ihm weiß. Selbst wenn man zu wissen glaubt, dass keine Feindschaft fortbesteht, sei es, dass der Feind besiegt worden ist, dass man seine Spur verloren hat, oder dass Friede geschlossen wurde, überdauert das Unbegründbare, Willkürliche, Unbegreifbare alle Veränderungen, die sich in der Zeit oder in der Geschichte ereignen. Der Feind bleibt ein Feind, ein möglicher Feind. Er ist ein unbeugsam verfolgendes Gedächtnis, an dem sich das Ich - an dem sich ein anderes Gedächtnis und ein anderes Vergessen nicht messen können. Deshalb arbeitet er bereits gegen mich und betreibt meine Vernichtung, bevor er sich und ohne dass er sich vielleicht je als eindeutig erkennbarer Feind zu erkennen gibt. Ein Gegner kann ein
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und Jenseits.
Radikalisierungen
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Feind sein, ein Feind indes kein Gegner. An dieser radikalen Asymmetrie der Feindschaft kann man ihre Differenz ablesen, den Umstand, dass sie, wie Kant in seinen Vorlesungen über Moralphilosophie bemerkt, mehr ist als ein negativer Begriff, ein „Mangel der Freundschaft", die ein „Verhältnis der Gleichheit" darstellt.4 Denke ich dann nicht immer in dem Zeitraum über den Feind nach, den dieser - den ein möglicher Feind mir vielleicht noch lässt? Weil es grundsätzlich keinen sicheren Ort gibt, von dem aus ich über Feindschaft nachzudenken vermag, weil die Entfernung zur Feindschaft, deren das Nachdenken über sie bedarf, immer die Spur der Dringlichkeit trägt, die ein möglicher Feind der Reflexion auferlegt, kann sie sich nicht einfach frei zu ihrem Gegenstand verhalten. So überzeugend die Radikalisierung der Feindschaft durch die Reflexion legitimiert werden kann, so sehr ist ihr Zwanghaftes, das Zwanghafte, das jeder Radikalisierung innewohnt, ein Reflex des Gegenstands und seiner Unbegründbarkeit. Damit befindet man sich in einem Zirkel, in dem Zirkel, den der Feind zeichnet. Aus diesem Zirkel könnte man nur heraustreten, wenn es ein freies Verhalten zum Feind gäbe. Gewiss, eine solche Feststellung setzt bereits ein Maß an Freiheit voraus, an Unabhängigkeit vom Feind, ohne das kein Nachdenken über Feindschaft möglich wäre. Um über etwas überhaupt nachdenken und es dabei als solches vorstellen zu können, um also nicht wahnsinnig zu werden, muss man, wie Unica Zürn es ausdrückt, „an eine Sache im Leben [...] glauben" - an jene „einzige Stelle in meinem Körper, die nicht betrügen kann".5 Doch kann ich nicht im voraus und für immer entscheiden, wo dieser Glaube aufhört, ein ermöglichender und schützender Glaube zu sein, und wo er beginnt, mich zu betrügen und der Unmöglichkeit näher zu rücken, der Vernichtung durch meinen Feind. Die sowohl gerechtfertigte als auch zwanghafte und übertriebene Radikalisierung, zu der die Feindschaft das Nachdenken über sie nötigt, findet ihren Ausdruck in der These, dass trotz aller historischen und kulturellen Unterschiede, die verschiedene Gestalten der Feindschaft voneinander abheben und den einen Sinn der Feindschaft von dem anderen trennen, und trotz der Entwicklungen in der Geschichte, die Feindschaft zu neutralisieren und in einen Anachronismus zu verwandeln scheinen, der Wille zur Vernichtung oder das erstarrte Gedächtnis der tödlichen Verfolgung zur Feindschaft wesentlich gehören, ungeachtet dessen, ob sie abgeschwächt sind oder vermittelt durch andere Verhältnisse, etwa durch den Anschein einer bloßen Gegnerschaft. Lässt sich nicht die Freude an dem Geist, der stets verneint, auf die Schwierigkeit zurückführen, deutlich zwischen Verführer, Gegner und Feind zu unterscheiden? Eine rein kulturwissenschaftliche Untersuchung der Feindschaft, die sie in der vergleichenden Gegenüberstellung von Mustern und Konstruktionen auflöst, verleugnet den Feind. Ihre verharmlosende Auflösung erzeugt eine Ideologie der Feindschaft, durch die sie sich hilflos dem möglichen Feind ausliefert. Mehr als ein Kontrahent und ein Konkurrent, mehr als ein Antagonist und ein Antipode, mehr als ein Herausforderer und ein Angreifer, mehr als ein Gegenspieler und ein Gegner: ein Feind also ist der Feind nur als absoluter Feind. Der Feind ist der Todfeind, den der Tod nicht von anderen Feinden abhebt, radikal, weil er die Wurzel durchschneidet. Feindschaft erweist sich daher als Möglichkeit und Unmöglichkeit der Radikalisierung, die im Todfeind ihre wesentliche Gestalt erblickt. Es ist, als 4 I. Kant, „Vorlesungen zur Moralphilosophie", in: Kants Vorlesungen, herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Band IV, Erste Hälfte, Berlin 1974, S. 430 und S. 426. 5 U. Zürn, Das Haus der Krankheiten, Berlin 1986, S. 59.
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müsste der Feind in seiner unerbittlichen Zuwendung töten, was er am meisten liebt. Selbstliebe, die an etwas glauben muss, um nicht dem möglichen Feind zu erliegen, und Liebe des Feindes, der an nichts so stark glaubt wie an das Selbst, das er verfolgt und dem er vollkommen erlegen ist, doppelte und in sich verschlungene Spirale der Feindschaft, die sich selber unaufhörlich einholt, Feindschaft im Diesseits, im Inneren des verfolgten Ichs, und im Jenseits, im Außen, dem dieses Ich ausgesetzt ist. Carl Schmitt hat die Radikalisierung legitimiert, zu der die Feindschaft zwingt. Eine Radikalisierung rührt an ein Extrem, an eine Ausnahme, von der die Reflexion dann ihren Ausgang nehmen kann. Während Schmitt bereits 1922 in seiner Politischen Theologie behauptet, dass die Ausnahme alles beweist, die Norm hingegen nichts, und dass sich der Philosoph, der die Abhängigkeit oder das Normierte der Norm erkennt, von der durchbrechenden Kraft der Ausnahme tragen oder von der Norm der Norm leiten lassen muss, um das Allgemeine zu denken, hat er fünf Jahre später diese paradox wirkende Behauptung in seiner Abhandlung über den Begriff des Politischen in einen Zusammenhang mit der Manifestation der Feindschaft gestellt. Der Ausnahmefall des Kriegs hat, Schmitt zufolge, eine „den Kern der Dinge enthüllende Bedeutung", weil darin, in dieser „äußersten Realisierung der Feindschaft", deren Wesen, die „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins", zum Vorschein kommt.6 Verändert sich geschichtlich das Verhältnis von Krieg und Feindschaft und setzen sich beide in wechselnden Situationen der Geschichte jeweils voraus (Schmitt untersucht eine vom Krieg vorausgesetzte Feindschaft und einen von der Feindschaft vorausgesetzten Krieg in Notizen, die 1938 entstanden sind7), so bleibt die „enthüllende Bedeutung" des Kriegs als Erscheinung des Wesens der Feindschaft von solcher Veränderbarkeit wohl unberührt. Aus dem Beharren auf der unableitbaren Besonderheit des Politischen, die in der Entscheidung über den Feind liegen soll, ergeben sich allerdings schwer vereinbare Schlußfolgerungen und ein zweideutiger Gebrauch der Begriffe der Abwehr und der Bekämpfung. Auf der einen Seite soll der Begriff des Feindes seinen Sinn allein dadurch erhalten, dass er sich auf „die reale Möglichkeit der physischen Tötung" bezieht, auf der anderen Seite indes soll gerade die Verwechslung des Politischen mit dem Moralischen zur Vernichtung des Feindes fuhren, der als moralischer Feind „nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind"8 ist. In nachträglich veröffentlichten Ergänzungen zu seiner Abhandlung unterstreicht Schmitt, dass der Begriff, um den es ihm darin zu tun ist, „nicht in der Vernichtung des Feindes, sondern in der Abwehr, in der Messung der Kräfte und in der Gewinnung einer gemeinsamen Grenze seinen Sinn" erhält.9 Schwerlich wird man bestreiten wollen, dass in dem Augenblick, in dem man den Feind als einen absoluten definiert und deshalb vielleicht in dem Zeitraum über Feindschaft nachdenkt, den ein möglicher Feind der Reflexion lässt, das Nachdenken selber als „Schwächung" und „Gefährdung" interpretiert werden kann. Schmitt zieht daraus die Konsequenz, dass der absolute Feind ein dämonisierter sein muss. Gegen die Dämonisierung wendet er sich im Namen eines von aller wertenden Interpretation freien Begriffs, im Namen einer reinen Entscheidung über den Feind.10 Wird aber nicht durch sol-
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C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1996, S. 33 und S. 35. Ebd., S. 102. Ebd., S. 37. Ebd., S. 119. Ebd., S. 118.
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ches Verfugen, das, sollen Dämonisierungen und Normalisierungen vermieden werden, einem gleichsam technischen Zugriff ähnelt, das Verhältnis zum Feind in das agonale der Gegnerschaft verkehrt, eben in eine abgegrenzte und abgrenzbare „Messung der Kräfte", welche die „Möglichkeit der physischen Tötung" nicht mehr als „reale", sondern nur noch als „abstrakte" kennt? Übersieht Schmitt nicht den Zusammenhang zwischen dem Physischen und dem Metaphysischen, zwischen dem Absoluten der „physischen Tötung" und dem Absoluten einer Feindschaft, die allein dadurch nicht normalisiert und neutralisiert: nicht verharmlost wird, dass man ihren Sinn von einer Sinnlosigkeit nicht willkürlich loslöst? Verrät Schmitt nicht seine eigene Einsicht, Technik sei grundsätzlich gegen ihre Vereinnahmungen machtlos, wenn er die politische Entscheidung vor ihnen zu schützen sucht und um der begrifflichen Reinheit willen in eine Art technischen Zugriff verwandelt? Die Frage nach der Verwandlung der Entscheidung in eine Art technischen Zugriff ist natürlich eine kritische Frage. Wenn „aus der Immanenz des Technischen heraus [...] keine einzige menschliche und geistige Entscheidung" resultiert," ist die Entscheidung, ohne die es keine Unterscheidung zwischen Freund und Feind gibt und folglich nicht das Politische, mit einem technischen Zugriff unvereinbar. Politisch entscheiden heißt für Schmitt nicht nur, Freund und Feind zu unterscheiden, sondern ebenfalls Technik und Seinsmäßigkeit. Die einleuchtende, durch den Rekurs auf andere Texte untermauerte Auskunft, Schmitt habe mit der Bestimmung von Feindschaft im Sinne einer „realen Möglichkeit der physischen Tötung" und im Sinne einer abwehrenden „Messung der Kräfte" einen Unterschied in der Öffentlichkeit der Feindschaft ausdrücken wollen, den Unterschied nämlich zwischen der unvermeidlichen, gerechtfertigten Tötung einzelner und der ungerechtfertigten, vermeidbaren Vernichtung des Ganzen, des kämpfenden Volks oder der kriegführenden Nation, impliziert strenggenommen ein Verständnis, das in der Feindschaft nicht mehr entdeckt als eine bestimmte Gestalt oder als einen Fall der Gegnerschaft. Es ist folglich das Absolute jener „realen Möglichkeit der physischen Tötung", das die Feindschaft auszeichnet, nicht das Relative eines grenzziehenden gegenseitigen Kräftemessens. Vielleicht ist die Zweideutigkeit im Text der Abhandlung, welche die späten Ergänzungen und Selbstrechtfertigungen leugnen, das Ergebnis einer „provozierenden Thesenhaftigkeit", einer für das Politische oder für die Rechtfertigung einer politischen Entscheidung konstitutiven „Unsachlichkeit", eines polemischen und dadurch bereits politisch motivierten Zugs gegen die moralische Usurpation des Politischen. Die Möglichkeit einer Usurpation des Politischen ist dadurch gegeben, dass das Politische kein „Sachgebiet" bildet, sondern ein nicht normierbares und folglich nicht universalisierbares „Beziehungsfeld von Kräften", die sich um einen intensiven „Punkt" sammeln, um einen „Punkt", der sich einzig durch eine „Seinsmäßigkeit" bestimmt und der deshalb von jedem „Sachgebiet" aus erreicht werden kann. Man kann sich an dieser Stelle fragen, ob es einer verhängnisvollen Entpolitisierung gleichkommen würde, einer Entpolitisierung mit politischen Folgen, begegnete man der Zweideutigkeit, in der bei Schmitt Abwehr und Bekämpfung des Feindes befangen sind, mit dem Gedanken, der Feind sei immer der andere. Man würde in diesem Fall einen Feind haben und ihn zur Bewahrung der „eigenen, seinsmäßigen Art von Leben" abwehren oder bekämpfen, wäre aber selber nicht der Feind dieses Feindes; nur unter dem Zwang zur Radika11
C. Schmitt, „Das Zeitalter der Neutralisierungen", in: ders. Der Begriff des Politischen, a.a.O., S. 90.
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lisierung, den der andere auferlegt hätte, würde man sich zur „physischen Abwehr" entscheiden. Die Entscheidung über den Feind ist aber bloß dann eine freie und souveräne Entscheidung, eine Entscheidung und nicht ein Reflex der Selbsterhaltung, dem als Reflex der Raum des Politischen verschlossen bleiben muss, wenn man durch sie zum Feind dessen wird, den sie zum Feind erklärt. „Feindschaft ist eine declarierte Gesinnung, dem andern was Böses zu thun", heißt es bei Kant;12 noch die verzweifelten Versuche, unter den grausamsten Umständen den Feind nicht als Feind anzuerkennen, so, als würde man ihn dadurch gerade bannen, haben eine Schutzfunktion, die gerade die Feindschaft bezeugt und vor allem die Bedeutung, welche die Erklärung, die Deklaration, die Entscheidung für sie hat. Feindschaft konstituiert sich in der Entscheidung über Feindschaft, geht ihr nicht voraus; denn in dieser Entscheidung liegt eine zweifache Vorgängigkeit: Feind ist zunächst der andere, der meine Existenz negiert und gegen dessen Negation ich mich wehre, gleichzeitig bin aber auch ich zunächst der Feind des anderen, da sonst meine Entscheidung keine wäre und ich mich lediglich reflexhaft zum anderen verhalten würde. Verhielte ich mich rein reflexhaft zum anderen, könnte ich kaum von einem Feind sprechen, hätte ich keinen Begriff und kein Bewusstsein vom Feind; würde ich hingegen nicht auf das Verhalten des feindlich anderen reagieren müssen, könnte ich über den Feind frei verfügen und hätte keine Feinde mehr. Da sie den Feind in seiner Feindschaft bestätigt und stiftet, erweist sich die politische Entscheidung tatsächlich als „Anerkennung" - Schmitt verwendet diesen Begriff wiederholt, um das Verhältnis zum feindlich anderen zu kennzeichnen. Versucht Schmitt, das Politische und seine Radikalisierung dadurch zu rechtfertigen, dass er „Seinsmäßigkeit" als Kriterium einer unableitbaren und bestimmbaren Besonderheit einführt, schreibt er, dass die Rechtfertigung einer „physischen Vernichtung menschlichen Lebens" von „der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form" abhängen müsse,13 so hat die zweifache Vorgängigkeit in der politischen Entscheidung, die unaufhebbare Spannung zwischen Bestätigung und Stiftung, zur Folge, dass sich jene Entscheidung nie vollkommen rechtfertigen lässt und dass sie gerade als „seinsmäßige" „unsachlich" bleibt, als Entscheidung, durch die der „Seinsmäßigkeit" Gerechtigkeit widerfährt. Die Radikalisierung der Feindschaft zu einem Verhältnis abstrakter Negation, die nicht in der Abwehr des Feindes, sondern in dessen Tötung die unumkehrbare Verwirklichung einer „realen Möglichkeit" ausmacht, ohne die keine Feindschaft denkbar ist, wird von Schmitt methodologisch legitimiert, indem er auf die Notwendigkeit einer Radikalisierung der Norm aufmerksam macht, die sie bis an ihre eigene Grenze treibt, bis zur Ausnahme als Norm der Norm. Ob sich aber die Feindschaft selber legitimieren lässt und damit die Bestimmung des Politischen in seiner „unsachlichen" Radikalität, ist eine Frage, die mit der Frage nach der Rechtfertigung der Radikalisierung nicht vermischt werden darf. Denkbar soll die Feindschaft einzig als radikale sein. Markiert nicht auch umgekehrt Feindschaft als „intensivster und äußerster Gegensatz"14 die Grenze aller Radikalisierungen? Muss er nicht als die radikalste Radikalisierung angesehen werden? Bedeutet er nicht mehr als den Tod, den jede Grenze bedeutet? Ist er nicht die Grenze eines Todes, der eine mögliche Existenz negiert bevor ein Lebensende überhaupt erreicht werden kann, eines Todes, der weder leben noch 12 I. Kant, „Vorlesungen über Moralphilosophie", S. 431. 13 C. Schmitt, Begriff des Politischen, S. 50. 14 Ebd., S. 30.
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sterben lässt, und der deswegen häufig die Identifikation einer das Leben gewaltsam unterbrechenden unheilbaren Krankheit mit einem Feind provoziert? Weil der „Punkt des Politischen" kein umgrenztes „Sachgebiet" bildet, weil jeder Gegensatz sich als solcher schon von dem „intensivsten und äußersten" Gegensatz der Feindschaft anziehen lässt, und weil die Entscheidung über den Feind eine Setzung ist, die man nicht vollständig zu rechtfertigen vermag, ist alles der Möglichkeit nach politisch, ist der Feind der Möglichkeit nach überall. Die Beweglichkeit der politischen Begriffe und des Begriffs des Politischen selber, die Schmitt in deren „polemischem Sinn" und „Unsachlichkeit" erkennt,15 in deren Widerstand gegen eine entpolitisierende Universalisierung und gegen die entradikalisierende Normativität der Norm, muss auf die Unbestimmbarkeit der politischen Entscheidung zurückgeführt werden, die sich aus ihrer zweifachen Vorgängigkeit ergibt, aus ihrem Uneinssein. Damit wird jedoch bestritten, dass es sich bei der politischen Entscheidung um eine klare und eindeutige, um eine „klassische" Unterscheidung handelt und bei dem Begriff des Politischen - bei dem Begriff des Feindes um einen bestimmbaren Begriff. Radikalität stellt nicht die Reinheit einer Bestimmung her, etwa einer in ihrer Besonderheit und Unverwechselbarkeit sich regelmäßig abhebenden Bestimmung des Politischen, vielmehr versetzt sie den Radikalen in die Mitte eines uneinholbaren Uneinsseins. Schmitt sieht durchaus, dass die Möglichkeit „klassischer" Unterscheidungen eine Entpolitisierung bereits voraussetzt, dass sie sich einer „Hegung und Begrenzung" verdankt und dass sie eine „Hegung und Begrenzung" ist, die mit einer „Relativierung der Feindschaft" einhergeht.16 Dennoch sollen die „Höhepunkte großer Politik" jene Augenblicke sein, „in denen der Feind in konkreter Deutlichkeit als Feind erblickt wird"17, in denen man also den Feind als solchen identifiziert und bestimmt. Ist es allerdings unmöglich, Feindschaft zu bestimmen und zu rechtfertigen als „seinsmäßige Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form", bleibt die politische Entscheidung aufgrund ihres irreduktiblen Uneinsseins in der Schwebe und ist sie daher um so bedrohlicher und gewaltsamer, dann ist der Feind stets ein anderer und Feindschaft stets ein anderes, etwas, über das ich nicht verfügen kann und das mir unbegreiflich ist. Der Satz aus Schmitts Vortrag über das „Zeitalter der Neutralisierungen", der besagt, dass „man immer unter dem Blick des radikaleren Bruders [lebt], der einen zwingt, die praktische Konklusion zu Ende zu führen",18 formuliert ein Strukturgesetz der Feindschaft, eine Vorgängigkeit, die man wiederum von der zweifachen Vorgängigkeit der politischen Entscheidung oder der Unentscheidbarkeit des Politischen unterscheiden muss. In dem Maße gerade, in dem eine Entscheidung die Feindschaft bestätigt und stiftet, um sich als politische zu behaupten und den Raum des Politischen zu eröffnen; in dem Maße, in dem die politische Entscheidung sich und das Politische der Unentscheidbarkeit oder der Unbestimmbarkeit aussetzt, zwischen der Vorgängigkeit des anderen als Feind und meiner selbst als Feind des anderen, wird der Feind zu meinem Vorgänger, der mir eine Radikalisierung aufzwingt. Die Feindschaft nötigt nicht nur zirkelhaft zur Radikalisierung des Feindes, sondern zwingt auch den, gegen den sie sich kehrt, zur Radikalisierung - zur Radikalisierung seiner selbst. Wenn aber der Gegensatz der Feind-
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Ebd., S. 31f. Ebd., S . U . Ebd., S. 67. C. Schmitt, „Das Zeitalter der Neutralisierangen", S. 80.
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Schaft die Grenze der radikalsten Radikalisierung anzeigt, die Grenze, auf die hin alle Radikalisierungen implizit tendieren, verhält sich jener, der radikalisiert, zu einem möglichen Feind, gleichgültig, worum es (ihm) bei der Radikalisierung geht. Feindschaft ist unbegründbar, weil es keinen Grund dafür geben kann, dass ein anderer oder ein anderes meine Vernichtung betreibt, ohne mich je zu vergessen und ohne von dem Vorhaben je abzuweichen: „reale Möglichkeit" der Feindschaft, die in ihrer Unbegründbarkeit nie als ein Wirkliches zu erscheinen vermag, als etwas, das beginnt, dauert und aufhört, und die daher Feindschaft perpetuiert, ohne dass man zwischen einem physisch und einem metaphysisch Absoluten mehr unterscheiden könnte. Feindschaft ist unbegründbar, weil die Einheit ihres Begriffs von einer zweifachen Vorgängigkeit auseinandergerissen wird. Diese doppelte Unbegründbarkeit der Feindschaft spaltet den Feind und verbietet es, darüber zu entscheiden, ob der Feind ein Feind im Diesseits oder ein Feind im Jenseits ist, ein Feind, der von außen und in der äußersten, unangreifbaren Transzendenz seiner Unbegreifbarkeit gegen mich arbeitet, oder ein Feind, der mich von innen angreift, unbegreifbar und unangreifbar aufgrund seiner Nähe. Die Frage der Feindschaft ist deshalb immer die, ob es einen Feind überhaupt gibt, ob der Feind nicht eine Projektion ist, eine Wahnvorstellung, ein Symptom der Paranoia. Aber selbst wenn eine aus der Analyse der Psyche resultierende Antwort auf diese Frage gegeben werden könnte, würde die Unentscheidbarkeit zwischen Diesseits und Jenseits oder die Ungreifbarkeit des Feindes fortbestehen, hätte der Feind seinen unbestimmbaren Ort in dem Zwischen, das weder zum Diesseits noch zum Jenseits gehört. Denn als mein eigener Feind wäre ich diesseits und jenseits meiner selbst. Ineins ein Selbst und ein anderer, wäre ich uneins. Die Auswirkung der Feindschaft, die in ihrer Radikalität der ihr wesentlichen Unentscheidbarkeit zwischen Diesseits und Jenseits, Innen und Außen, Selbst und Andersheit entspricht, kann man folglich daran erkennen, dass ich mich gegen mich selber kehre und so zum Feind meiner selbst werde, zum Virus, der das Immunsystem gegen die körperliche Immunität mobilisiert, zum Anfang einer Übertragbarkeit, die zum Beispiel Aids zum Feind stempelt - sei es, dass ich in meinem „Inneren" an einer psychischen Verstörung leide, dass eine „äußere" Bedrohung eine selbstzerstörerische Tätigkeit zeitigt, oder dass ich zu meinem Schutz die Strategien des Feindes vorwegzunehmen versuche. Keiner hat diese radikale Auswirkung der Feindschaft so deutlich gemacht wie Kafka. Am 31. Oktober 1947 notiert Carl Schmitt: „Franz Kafka könnte einen Roman schreiben: Der Feind." Gegen diesen Feind aber, gegen Kafka als Feind des Feindes, gegen die Geschichte, die Bestimmtheit der Unbestimmtheit zuführt, und gegen den Begriff als feindlichen Übergriff, setzt Schmitt die Bestimmtheit, die Bestimmbarkeit und die Vernunft des Politischen - so, als wäre das Polemische nicht länger dessen wesentlicher Zug: „Dann wäre sichtbar geworden, dass die Unbestimmtheit des Feindes die Angst hervorruft (es gibt keine andere Angst und es ist das Wesen der Angst, einen unbestimmten Feind zu wittern)·, dagegen ist es Sache der Vernunft (und in diesem Sinne der hohen Politik), den Feind zu bestimmen (was immer zugleich Selbstbestimmung ist) und mit der Bestimmung hört die Angst auf und bleibt höchstens Furcht. Wie aber sollen wir etwas der Unbestimmtheit entreißen und der Bestimmtheit zuführen, wenn wir keine gemeinsamen Begriffe mehr haben? Zur Bürgerkriegslage gehört es, dass die Feinde keine gemeinsamen Begriffe mehr haben und jeder Begriff zu einem Übergriff ins feindliche Lager wird."19 19
C. Schmitt, Glossarium, Berlin 1991, S. 36 - meine Hervorhebung, AGD. Ich danke Stefan Hoffmann
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Die Erzählung „Der Bau" ist ein abgebrochener und nachgelassener Text, wie alles Abgebrochene und Nachgelassene durch eine Kontingenz unterbrochen, die man auf der Suche nach Sinnstiftungen stets als Einbruch eines Feindes interpretieren kann, eines Feindes des Autors und eines Feindes der Figur, eines Feindes der Figur, der sich im Autor, eines Feindes des Autors, der sich in der Figur verkörpert. Diese Figur, ein Tier, hat in langwieriger mühsamer Arbeit einen unterirdischen Bau angelegt: zum Selbstschutz, zur Verteidigung gegen einen möglichen, feindlich gesinnten Eindringling, der „für immer alles zerstören" könnte, ,,äußer[er] Feind" oder sagenhaftes „Wesen der innern Erde". Das Tier hat sich ein Heim geschaffen, das auf festem Grund steht und es ihm sogar ermöglicht, als ein tödlich verwundetes dem Angriff des Feindes zu widerstehen, versickert doch sein Blut im eigenen Boden und geht so nicht verloren: „Das Haus ist geschützt, in sich abgeschlossen, Du lebst in Frie20
den, warm, gut genährt, Herr, alleiniger Herr über eine Vielzahl von Gängen und Plätzen." Solche Sicherheit, solche Herrschaft, zu der Beckett im Endspiel bekanntlich die letzte Parodie liefert, ist das Ergebnis der unermüdlichen Tätigkeit eines umsichtig planenden, vorauswissenden, immer wieder mit Verteidigungsvorbereitungen beschäftigten Strategen, der dem Ideal einer „unfehlbaren Methode" folgt, sich jedoch der Tücken allzu ausgeklügelter Listen ebenso bewusst ist wie der Dialektik der Vorsicht, die das „Risiko des Lebens" verlangt, und des Trugs der Stille, die mit der Sicherheit einhergeht und zur Selbsttäuschung beitragen kann, wenn sie die „Gespenster der Nacht" heraufbeschwört oder über sie hinwegtäuscht. Liegt nicht in dem radikal Jenseitigen, in dem ungreifbar und unangreifbar Transzendenten der diesseitigen oder jenseitigen, inneren oder äußeren Feindschaft, die Umkehrbarkeit, die dazu fuhrt, dass der Bau, der „bisherige Ort des Friedens", zum „Ort der Gefahr" wird, zum Ort des Abbaus? Die äußerste Strategie, die das Tier verfolgt, um Vorkehrungen gegen diese unheimliche Umkehrbarkeit zu treffen, die Strategie der Radikalisierung, ist die einer Verdoppelung, mit der sich wiederum ein Diesseits und ein Jenseits, ein Innen und ein Außen bilden. Unter dem Blick des anderen verdoppelt man sich, unter dem Blick des möglichen Feindes verdoppelt sich das Tier, es zieht die „praktische Konklusion" und wird zum Feind seiner selbst, damit es sich seiner selbst vergewissern und sich gegen den Feind absichern kann, damit es zu sich finden und ein mit sich identisches Subjekt zu werden vermag, ein Subjekt, das durch den Tod hindurchgegangen ist und sich überlebt hat, geheilt von dem Speer, der seine Wunde schlug. Der Feind erfindet den, den er vernichtet: performativer Effekt der Feindschaft, in dem sich sowohl der Ursprung der positiven als auch der einer negativen Dialektik ausmachen lässt, je nachdem, wie radikal man den Begriff des Feindes fasst und wie weit der subjektive Bau aus dem „bisherigen Vernichtungskampf' herausragt. Was zunächst noch eine hypothetische Selbstbeobachtung ist („Mir ist dann, als stehe ich nicht vor meinem Haus, sondern vor mir selbst, während ich schlafe, und hätte das Glück gleichzeitig tief zu schlafen und dabei mich scharf bewachen zu können"21), radikalisiert der Stratege, dessen Ingenium sich in der Handhabung von Möglichkeiten und Hypothesen bewährt („Nein, ich beobachte doch nicht wie ich glaube meinen Schlaf, vielmehr bin ich es der
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fur den Hinweis auf diese Stelle. F. Kafka, „Der Bau", in: ders., Nachgelassene Schriften und Fragmente, II, in der Fassung der Handschriften, herausgegeben von J. Schillemeit, Frankfurt am Main 1992, S. 589. Ebd., S. 591.
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schläft, während der Verbrecher wacht"22), zur Hypothese der Feindschaft, dort, wo er zwischen Innen und Außen, Diesseits und Jenseits seinen geheimen Bau im Auge behält und insgeheim Gegenspionage betreibt („Es ist schon fast so, als sei ich der Feind und spioniere 23
die passende Gelegenheit aus um mit Erfolg einzubrechen" ). Je mehr man aber strategisch die Begegnung mit einem möglichen Feind sucht, je mehr man Hypothesen gegen Hypothesen ausspielt, desto ungreifbarer und unangreifbarer, desto jenseitiger wird der Feind. Auf den letzten überlieferten Seiten der Erzählung erwägt das besessene Tier die Möglichkeit eines „über alle Vorstellbarkeit hinaus" gefährlichen und alle Erwartung überraschenden Feindes, eines Feindes, der sich in der Absolutheit seiner unbegreifbaren Konditionierung über die Zeit erheben muss („Dort drüben gehen keine Veränderungen vor sich, dort ist man ruhig und über die Zeit erhaben"24), eines Feindes, der gerade deshalb unvorstellbar ist und unverständlich, ein Feind der Hermeneutik, weil er vielleicht nicht einmal sich selber versteht und „von mir weiß". Gilt nicht, was hier vom Feind gesagt wird, vom möglichen Feind oder vom Verhältnis zum Feind, ebenfalls für den Text selber, für den „Bau" als Bau, als „Hegung und Begrenzung", zwischen Vollendung und Fragment, ausgesetzt der Kontingenz seiner Entstehung und seiner Überlieferung? Ein Ich, das zum Feind seiner selbst wird, indem es, bestimmt von dem Willen einer sicheren und unerschütterlichen Grundlegung, die Möglichkeit eines absoluten Feindes hypothetisch anerkennt, ist bekanntlich das methodisch zweifelnde, Undeutliches und Unbestimmtes verwerfende, frei urteilende Ich, das in Descartes' Metaphysischen Meditationen von der „gleichsam metaphysischen Meinung"26 ausgeht, es könne durch das willentliche Wirken eines bösartigen, täuschenden Geistes {genius malignus, deceptor, malin genie) einer Täuschung über seine Existenz erliegen, einer Täuschung über die Wirklichkeit der Außenwelt und einer Täuschung über die Wahrheit des Denkens. Während es Kafkas Tier nicht gelingt, eine „unfehlbare Methode"27 des Übergangs von der gefährlichen Sichtbarkeit der äußeren Welt zur gefährdeten Unsichtbarkeit des inneren Baus zu entwickeln, weist bei Descartes gerade der Zweifel, der zunächst allein die Unfehlbarkeit des Urteils verbürgt, sicher den Weg vom Außen zum Innen - freilich nur deshalb, weil der Zweifel an eine Grenze stößt, an die unbezweifelbare Existenz des Ich, dessen Sitz wiederum von der Unbezweifelbarkeit der Existenz Gottes seine Festigkeit erhält. Im Gegensatz zu dem meditierenden Ich ist das Tier primär ein körperlich bedrohtes, ausgesetzt in eine Welt, in der man immer nur so sicher sein kann, wie man eben in der Welt sicher zu sein vermag. Aber die Hypothese des Dämons, so kontrovers sie auch von Philosophen diskutiert wird, die darin: in diesem radikalen Zweifel entweder einen „Krieg" des Ich gegen den „Angriff' des „Widersinns" erblicken, dessen „Übermäßigkeit" Denken und Wahnsinn bis zur unaussprechlichen Unbestimmbarkeit und UnUnterscheidbarkeit einander annährt,28 oder umgekehrt eine „von Anfang bis Ende gewollte, gesteuerte, geregelte Übung des meditierenden Subjekts, das sich 22 23 24 25 26 27 28
Ebd., S. 593. Ebd., S. 596. Ebd., S. 629. Ebd., S. 623. R. Descartes, Miditations mitaphysiques, Paris 1992, S. 97. F. Kafka, „Der Bau", S. 594. J. Derrida, „Cogito et histoire de la folie", in: ders., L 'ecriture et la difference, Paris 1967, S. 72, S. 87, S. 95.
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niemals überraschen läßt"29 - die Hypothese des Dämons impliziert, dass die geistige Existenz des Ich und die körperliche Wirklichkeit Gespenster sind, ein Schein, jenseits oder diesseits von Leben und Tod. Das Argument, das Descartes entfaltet, um diesen Schein aufzulösen und die Existenz zu sichern, beruht zum einen auf der Einsicht, dass selbst das getäuschte Selbst in dem Augenblick existiert, in dem es (die Täuschung) denkt, zum anderen auf dem Gedanken, dass die Vorstellung einer unbedingten Vollkommenheit aufgrund ihrer Unvergleichbarkeit und Unableitbarkeit: aufgrund ihrer Ursprünglichkeit eine „eingeborene Vorstellung" sein muss, die auf die Existenz Gottes schließen lässt: gemessen an dieser Vorstellung erweist sich die Täuschung als Mangel und der täuschende Gott als ein unvollkommener, als ein Gott, der kein Gott sein kann. Erst die Unbezweifelbarkeit der Existenz Gottes erlaubt eine Zurückweisimg der Hypothese des täuschenden, bösartigen Geistes. Denn das bloße Ich, das als ein in seinem Getäuschtsein denkendes Ich, als ein „Etwas", dessen es zur Täuschung bedarf, der Täuschung zuvorkommt und sie überdauert, diesseits und jenseits des Feinds, hält ihr nicht einfach Stand. Die Täuschung ist ihrerseits sich selber voraus und holt das ihr zuvorkommende Ich ein. Gibt Descartes nicht an einer Stelle zu, dass alles, was das Ich für unbezweifelbar halten muss, weil es ihm deutlich und bestimmt erscheint, dennoch falsch und unwahr sein könnte - eine Annahme, welche die Freiheit und die Urteilskraft des Ich, seine Begriffe des Irrens und des wahren Erkennens in Frage stellt?30 Je mehr seine eigene Voraussetzung das bloße Ich absichert, desto sicherer liefert sie es dem Feind aus, desto tiefer gerät es in die schlechte Unendlichkeit von zwei sich abstoßenden Voraussetzungen, desto verhängnisvoller verstrickt es sich in den Kampf mit einem absoluten Feind, bis es - nicht als gleich-gültig logisches oder transzendentales, wohl aber als meditierendes Ich endlich irre wird an dem unaufhörlichen Ziehen und Aufheben von Grenzen, an dem ständigen Verkehr zwischen Diesseits und Jenseits, an dem Riß seiner Existenz. Im radikalen Solipsismus der Introspektion löst sich am Ende das verzweifelte Ich auf - und mit ihm die Feindschaft. In kurzen Betrachtungen, die Erfahrungen aus den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg wiedergeben und die aus ihnen erwachsen, nennt Carl Schmitt einmal den Cartesischen Dämon, den Dämon des „Maskenmenschen": „Der Selbstbetrug gehört zur Einsamkeit. Der Einsame denkt mit sich selbst und spricht mit sich selbst, und im Selbstgespräch sprechen wir bekanntlich mit einem gefährlichen Schmeichler [...] Im tiefsten Kern der Zelle steckt das Selbstgespräch und der Selbstbetrug [...] Grauenhaft ist die Angst des Descartes, der in seiner einsamen Stube am Ofen philosophiert und nur daran denkt, dem bösen, betrügerischen Geist zu entgehen, dem spiritus malignus, vor dessen Tücken wir niemals sicher sind, am wenigsten, wenn wir uns sicher fühlen [...] Wer nur daran denkt, dem Betrug zu entgehen, läuft geradewegs in ihn hinein."31 Den Zusammenhang zwischen der Feindschaft und dem im „Selbstgespräch" lauernden Betrug, der immer „Selbstbetrug" ist, stellt Schmitt dadurch her, dass er im nächsten Abschnitt den Feind als „objektive Macht" bezeichnet, der man nicht entgehen kann durch Betrug, weil der Feind als „echter Feind" sich eben nicht betrügen lässt. In dem derart hergestellten Zusammenhang findet eine unterbrechende Umkehrung statt, da in dem Maße, in dem Betrug Selbstbetrug ist, der Feind nicht als Betrüger 29 30 31
M. Foucault, „Mon corps, ce papier, ce feu", in: ders., Dits et icrits, II, Paris 1994, S. 265. R. Descartes, Meditations metaphysiques, S. 95 und S. 147. C. Schmitt, Ex Captivitate Salus, Köln 1950, S. 87f.
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betrachtet werden kann, als bösartiger, täuschender Geist. Wäre er ein Betrüger, würde der Feind sich betrügen und aufhören, ein Feind zu sein, einer, der nicht betrogen zu werden vermag. Kann man nun Feindschaft nicht von ihren durchschnittlichen Seinsweisen aus bestimmen, sondern allein von der innersten Grenze her, die der Begriff des „echten Feindes" meint, lässt diese Radikalisierung die ohnmächtige Subjektivität hinter sich, rührt sie an die Macht des Objektiven und entspricht in gewisser Hinsicht der Leugnung einer lediglich „privaten" Feindschaft im Begriff des Politischen, dann prallt an dem, was Feind genannt wird, der Betrug ab und wird auf sich zurückgeworfen als Selbstbetrug, als Betrug, der sich über sich selber betrügt. Der Feind betrügt nicht, betrügt sich nicht, er ist die Wahrheit des Betrugs und des Selbstgesprächs: man schreibt die eigene Biographie unter dem unsichtbaren Blick des Feindes. Wenn Schmitt in seinem Vortrag über das „Zeitalter der Neutralisierungen" behauptet, dass jener, der keinen anderen Feind kennt als den Tod, eigentlich keinen Feind mehr hat, mit dem er kämpfen, kein Leben, in dem ein Feind ihm gegenübertreten könnte,32 stimmt seine Auffassung durchaus mit der späteren überein, auch der Tod könne mich betrügen.33 In beiden Fällen geht es darum, dass der Tod kein Feind ist. Man hat Feindschaft neutralisiert, wo sie entweder im Tod allein oder im Betrug gesucht wird. Freilich wird damit wieder die Frage nach der Bedeutung der „realen Möglichkeit der physischen Vernichtung" für die Bestimmung des Feindes aufgeworfen. Dass Schmitt von dem Dämon nicht als Feind redet, hat seinen Grund vielleicht auch darin, dass die Einsamkeit, in der die Hypothese des Dämons den Philosophen heimsucht, zu sehr der Privatheit ähnelt, die er dem Feind aberkennt, mag sie auch die Einsamkeit eines subjektiven, meditierenden Ichs sein und die Vereinzelung eines gereinigten, logischen oder transzendentalen „Ich denke". Dass ich einen Feind habe, heißt, dass ich nicht allein auf der Welt bin und nicht zu zweit, wird Zweiheit als Privatheit gedeutet. Die Vereinzelung, die der Schmittsche Begriff des Feindes einschließt, schließt den einzelnen als Privatperson ebenso aus wie die Menschheit als abstraktes Kollektivsubjekt. Wird die „objektive Macht" des Feindes indes nicht apotropäisch neutralisiert, wenn sich Schmitt fragt, wer eigentlich ein Feind sei, und das Verhältnis der Feindschaft auf eines spekulativer Gegenseitigkeit reduziert? Die spekulative Gegenseitigkeit hebt die doppelte und in sich uneinige Vorgängigkeit auf, welche die für die Feindschaft konstitutive Entscheidung über den Feind immer aufs Neue suspendiert, sie hebt das Uneinsseins von Anerkennung als Bestätigung und Stiftung, ihre schlechte Unendlichkeit, in der resultathaften Einheit eines Anerkanntseins auf, das ein Wiedererkennen ist, eine positive Unendlichkeit: „Wer kann denn überhaupt mein Feind sein? Und zwar so, dass ich ihn als Feind anerkenne, und es sogar anerkennen muss, dass er mich als Feind anerkennt. In dieser gegenseitigen Anerkennung der Anerkennung liegt die Größe des Begriffs." 34 Kein Zweifel, dass Schmitt an dieser Stelle auf Hegel anspielt. Ohne seinen Namen zu nennen, und nachdem er auf die Frage nach dem Wer der Feindschaft die Antwort gegeben hat, der Feind sei der andere, erinnert er ausdrücklich an die „großen Sätze des Philosophen" und verdichtet ihren gedanklichen Inhalt zu der Aussage, die „Beziehung
32 33 34
C. Schmitt, „Das Zeitalter der Neutralisierungen", S. 95. C. Schmitt, Ex Captivitate Salus, S. 88. Ebd, S. 89.
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im Andern auf sich selbst" sei das „wahrhaft Unendliche".35 Die Einheit der gegenseitigen Anerkennung, die dort hergestellt wird, wo sich das eine und das andere Selbstbewusstsein anerkennen „als gegenseitig sich anerkennend", begreift Hegel in der Phänomenologie des Geistes als Bei-sich-selbst-Sein-im-anderen: Jch, das Wir, und Wir, das Ich ist".36 Die „wahrhafte Unendlichkeit" der Spekulation tritt so bei Schmitt an die Stelle der „realen Möglichkeit einer physischen Vernichtung": Anerkennung als Zurückschrecken vor dem Töten, die den Feind unter der Hand in etwas anderes verwandelt als einen Feind, in einen „Bruder".37 Der „Bruder" kann sich zwar als Feind erweisen - Schmitt setzt die Feindschaft der Brüder sogar mit dem Ursprung und dem Antrieb der „Weltgeschichte" gleich und ratifiziert mit dieser an Freud erinnernden These seine Ansicht von der Radikalität, von dem „intensivsten und äußersten" Gegensatz, als „Beziehung im andern auf sich selbst" hat das einheitliche Verhältnis der Brüder jedoch die Feindschaft und den Selbstbetrug des einsamen oder vereinzelten Selbstverhältnisses aufgehoben, um sich als deren Wahrheit zu behaupten. Zur spekulativen Aneignung des Feindbegriffs gehört ebenfalls, dass das Verhältnis zwischen Feinden als ein gegenwärtiges, lebendiges und sogar gesundes begriffen wird. Bereits in dem Vortrag über Technik macht Schmitt ja deutlich, dass das Leben nicht mit dem Tod kämpft und dass der Feind kein Feind mehr ist, wenn man im Tod selber den Feind sucht. Die „romantische Klage" tritt dann an die Stelle des Kampfes - der Entscheidung, die sich 38
im Ausnahmefall bewährt. Im Glossarium findet sich folgende Eintragung aus dem Jahr 1948: „Wenn die Polemik sich nicht mehr ganz direkt gegen einen total präsenten, einen direkt an der Gurgel sitzenden starken Feind richtet [...] sondern gegen einen toten Feind, dann wird sie sofort schielend und von dem Leichengift des toten Feindes zerstört."39 Fügt die rätselhafte Voraussage, Drohung, Feindschaftserklärung, mit der Schmitt seine spekulative Aneignung der Feindschaft ergänzt und zur Schwelle des Jenseits vorauseilt, als hätte es noch eines letzten Theatercoups bedurft, sich in deren Strategie ein? „Weh dem, der keinen Feind hat, denn ich werde sein Feind sein am jüngsten Tage."40 Vielleicht kann man diese Volte, die etwas Ohnmächtiges und Verstocktes hat, so dass der spektakuläre Theatercoup wiederum harmlos anmutet, im blendenden Licht der wesentlichen Willkür der Feindschaft deuten. Denn zu keinem Zeitpunkt tritt ihr Willkürliches, Unbegründetes, Radikales so deutlich hervor wie am jüngsten Tag, an dem die letzte Entscheidung fällt; nirgends zeigt es sich so unmissverständlich wie dort, wo es den Unschuldigen trifft, der von der Feindschaft nichts ahnt und nichts weiß, dem sie ein irreparables Unrecht antut. Es ist, als würde Schmitts schlimmer und blasierter Ausruf das Gesetz der Radikalisierung rein zum Ausdruck bringen: dass man stets unter dem zwingenden Blick des „radikaleren Bruders" lebt. Ist Feindschaft als „reale Möglichkeit der physischen Tötung" ein absolutes Gedächtnis, eine bis zum jüngsten Tag den Unwissenden und Unschuldigen verfolgende Erinnerung, weil sich die „physische Vernichtung" selber nie begründen und, geschieht sie, nie ungeschehen 35 36
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Ebd., S. 90. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Theorie-Werkausgabe, Band III, Frankfurt am Main 1970, S. 147 und S. 145 Vgl. dazu auch: A. G. Düttmann, Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf um Anerkennung, Frankfurt am Main 1997, passim. C. Schmitt, Ex Captivitate Salus, S. 89. C. Schmitt, „Das Zeitalter der Neutralisierungen", S. 95. C. Schmitt, Glossarium, S. 122. C. Schmitt, Ex captivitate salus, S. 90.
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machen lässt, Mal des Unvergesslichen selbst dann, wenn die Tat vergessen worden ist, kann man sich dem unentrinnbaren Feind vielleicht doch nur durch das Vergessen entziehen, durch das, was dem Feind verwehrt bleiben muss und was darum auch eine subversive Kraft hat. Wie aber kann man sich frei machen und die Fähigkeit zu einem solchen aktiven, übermenschlichen Vergessen erwerben? Wie unterscheidet sich ein Vergessen der Feindschaft von einem reaktiven Ausweichen und von dem unbedingten Gedächtnis des Feindes, das ebenfalls ein absolutes Vergessen ist? „Dass ich Feinde habe, wie jeder Mensch, weiß ich. Einige, aber bestimmt die wenigsten, sind menschenähnlich und vielleicht einen von diesen kenne ich während vieler Jahre. Ich bin zufrieden, dass diese Feinde weder in meiner Stadt noch in meinem Land leben. Natürlich schießen sie hin und wieder, wenn es ihnen in den Sinn kommt. Aber da ihre Waffen und auch ihre Verletzungen immer die gleichen geblieben sind, wage ich zu hoffen, dass ich mit der Zeit wie gegen eine bestimmte Art von Bakterien, auf die der Körper durch Gewohnheit nicht mehr reagiert, immun geworden bin. Das kann man aber nie mit Sicherheit sagen, so wie überhaupt die Wissenschaft, die von den Feinden handelt, trügerisch und unsicher ist."41
41
U. Zürn, Das Haus der Krankheiten, a.a.O., S. 57.
CLEMENS KNOBLOCH
„Moralische" Eskalation von Feindschaft
1. Zur Motivgeschichte Die „Moral" hat in den Kreisen der gebildeten Intelligenz eine schlechte Presse. Kaum ein Text, der nicht Musils sarkastischen Satz zitierte: „Die These, dass der große Umsatz an Seife von großer Reinlichkeit zeugt, braucht nicht für die Moral zu gelten, wo der neuere Satz richtiger ist, dass ein ausgeprägter Waschzwang auf nicht ganz saubere innere Verhältnisse hindeutet."1 Die Geistesgeschichtler sind da rasch bei der Hand und warten bereitwillig auf mit einer illustren Galerie bedeutender Moralverächter. Sie beginnt, je nach Geschmack und Bildung, mit Nietzsches Klage über die christlich-jüdische Herdenmoral, welche im Namen der Schwachen, der Nicht-Lebensfähigen, des Ressentiments die aristokratische Macht- und Heldenmoral entthront hat, oder mit Rousseaus Entlarvung der moralischen Heuchelei in der Gesellschaft des ancien regime, oder auch mit Thomas Hobbes, von dem die (seither oft wiederholte) Ansicht ihren Ausgang nimmt, für den Einzelnen sei die Befolgung moralischer Regeln nur dann sinnvoll, wenn er davon ausgehen könne, die anderen täten desgleichen, weshalb ein starker Souverän die Einhaltung ihrer Regeln garantieren und durchsetzen müsse. Die Geistesgeschichte liefert einen Vorrat von kontinuierbaren Formeln. Deren bekannteste besagen: Moral untergräbt die Macht, indem sie sie zu begründen vorgibt, sie ist von Hause aus doppelt, heuchlerisch und sie vermag nichts ohne den starken Souverän, der ihre Durchsetzung garantiert. Im 20. Jahrhundert scheinen dann Soziologen und Staatswissenschaftler diese älteren Motive aufzunehmen und zeitgemäß zu kontinuieren: Carl Schmitt und Arnold Gehlen sind vielleicht die bekanntesten unter ihnen. Von Carl Schmitt stammt vermutlich die eindrücklichste politische Version der warnenden Geschichte von der enthegenden, enthemmenden, den Feind radikal entwertenden Kraft universalistischer ethischer Argumentationen. Gegen die „liberale" Auflösung des Politischen in „Ethik und Ökonomik" pocht er auf das autonome Pathos politischer Freund-Feind-Verhältnisse. Dem prophetischen, warnenden Gehalt solcher Sätze wie der im Folgenden zitierten wird sich so leicht keiner entziehen, der die „humanitären Interventionen" und „Friedensmissionen" der Gegenwart vor Augen hat: „Wir kennen das geheime Gesetz dieses Vokabulariums und wissen, dass heute der schrecklichste Krieg nur im Namen des Friedens, die furchtbarste Unterdrückung nur im Namen der Frei1 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften (=Gesammelte Werke 1-5), Reinbek 1978, S. 246.
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heit und die schrecklichste Unmenschlichkeit nur im Namen der Menschheit vollzogen wird."2 Eher soziologisch akzentuiert (und geistesgeschichtlich näher an Nietzsche) sind die Formeln Arnold Gehlens.3 Der spricht von der einen humanitaristischen und eudaimonistischen Moral, welche eine Vereinseitigung der pluralen moralischen Motivquellen (und ergo eine Fehlentwicklung) darstelle. Diese Moral, so Gehlen, durchzieht den Alltag mit halb artikulierten chronischen Konflikten und fördert die moralisierende Aggression, weil die (Konfliktlösungen dauerhaft garantierenden und sicher bewältigenden) Institutionen wegbrechen: „Die Radikalisierung jeder Ethosform setzt Aggression frei, auch natürlich die Radikalisierung des Pazifismus."4 Unmittelbar darauf spricht Gehlen von der „vollen Aggressivität der guten Sache"5, und von hier ist der Weg nicht mehr weit zu den tagespolitischen Formeln von der „polemogenen" Moral (Niklas Luhmann), von der Moral als „Selbstermächtigung zu Regelverstößen" (Hermann Lübbe), zum „Tugendterror der Politisch Korrekten", zur „Moralkeule", zur „vorgehaltenen Moralpistole" (Martin Walser). Hier halten wir einen Augenblick inne und überlegen, wo wir jetzt sind. Einmal sind wir natürlich beim Thema dieses Aufsatzes, beim Thema der „moralischen" Eskalation und Entgrenzung von Feindschaft. Aber hinter der geistesgeschichtlichen Kontinuität der Motive verbirgt sich eine tiefe Diskontinuität der Konstellationen und der Funktionen. Einmal haben wir es längst nicht mehr mit den Beweggründen des Handelns zu tun, mit ihren „Motiven" im psychologischen Sinne, sondern mit den vorgebrachten Legitimationen, mit sprachlichen Begründungen, mit Geschichten, die erzählt werden, um Machthandeln zu legitimieren oder zu delegitimieren. Wie ja auch schon das eingangs zitierte Musilwort recht eigentlich vom demonstrativen und öffentlichen Gebrauch der „Moral" handelt. Zum anderen sind unter der Hand die Gegner der Argumentation ganz andere geworden. Und wenn wir irgend eine Lektion gelernt haben, dann die Lektion, die besagt, dass man einen politischen Text oder einen Begriff oder eine Narration nicht verstehen kann, solange man nicht weiß, gegen wen sie gerichtet sind. Unter der Hand verwandelt sich die Frage nach der Konflikte schürenden, Aggression freisetzenden Moral in eine ganz andere Frage. Und die betrifft nicht mehr direkt die Substanz „moralischer" Werteinstellungen in politischen Konflikten, sie betrifft vielmehr die politische Funktion der Narrationen, die vor der moralischen Eskalation von Konflikten warnen zu müssen glauben. In diesem Sinne könnte ich meiner These ein Motto des Kommunikationspsychologen Jerome Bruner voranstellen. Und das lautet: „[...] narrators seek to subvert the conventional means through which stories take a moral stand. To tell a story is inescapably to take a moral stance, even if it is a moral stance against moral stances."6 Anders und etwas vereinfacht gesagt: Die Geschichten, die vor der „Moral" warnen, sind selbst „moralische" Geschichten.7 Der „moralische" Sinn einschlägiger Warnungen besteht 2 3 4 5 6 7
C. Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 94. A. Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt/M. 1969, S. 180. Ebd. Ebd., S. 182. J. S. Bruner, Acts of Meaning, Cambridge, Mass. 1980, S. 51. Geschichten by the way, die illustrieren, dass das Paradox der Menge, die sich selbst als Element enthält, zwar logisch eine Kalamität darstellt, pragmatisch in der Politik aber vorzüglich zu handhaben ist.
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darin, dem nicht moralisch begründeten (oder nicht moralisch begründbaren) Machthandeln selbst eine höhere ethische Legitimation zu erteilen als dem moralisch begründeten. Man moralisiert den Unterschied zwischen „moralischen" und außermoralischen Haltungen, und zwar zugunsten der außermoralischen. Dem kommt die einigermaßen paradoxe Semantik moralischer Hochwertausdrücke ebenso entgegen wie die heutigentags allgemein abrufbare Erfahrung, dass öffentlich zur Schau gestellte Hochwertorientierungen oft den diskursiven Schutzschirm abgeben, hinter dem sich sehr viel profanere Macht- oder Geldinteressen ungestört entfalten können.
2. Zur paradoxen Semantik von „Moral" Ich fasse mich hier ganz kurz, weil man mit Recht Spezialbedürfnisse des Sprachwissenschaftlers vermuten könnte, für die kein allgemeines Interesse besteht. Dennoch: die Semantik von „Moral" ist ein Zerr- und Brennspiegel der Verwendungsbedingungen des Wortes in öffentlicher Kommunikation. Neben der nüchternen Bezeichnungsdefinition: „Gesamtheit von ethisch-sittlichen Normen, Grundsätzen, Werten, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren, die von ihr als verbindlich akzeptiert werden" (DUW) steht unvermittelt eine Fülle eindeutig pejorativer Ableitungen, wie „Moralist", „moralisieren", „Moralprediger", „doppelte Moral" etc. Vom Bezeichneten her gehört das Wort „Moral" eindeutig in die evaluative und programmatische Hochwertsphäre der öffentlichen Kommunikation. Dennoch und gleichzeitig steht es, ausweislich seiner Ableitungen und seiner emphatischen Verwendungen, unter Generalverdacht und konnotiert negativ. Lösen wir den Ausdruck „de re", nach der Seite des Bezeichneten, auf, dann gehört er in die Hochwertsphäre. Lösen wir ihn „de dictu", nach der Seite des öffentlichen Verkehrswertes, auf, dann gehört er in die leicht anrüchige und verächtliche Sphäre des leeren Wortes, der „Predigt", des „Rituals". Im besten Falle ist „gut gemeint" das „Gegenteil von gut", im schlechtesten Falle tarnt die „moralische" Rede Motive, die nicht öffentlichkeitsfähig sind.8 In der politischen Kommunikation ist der Befund eindeutig: Von „Moral" gibt es immer entweder zu wenig oder zu viel. Zu wenig, wenn mal wieder einer gehen muss, weil er seinem Vetter ein Geschäft zugeschanzt, sein Dienstmädchen von der Steuer abgesetzt, die Flugbereitschaft des Bundestages fur persönliche Zwecke eingesetzt oder seine Untergebenen sexuell missbraucht hat. Zu viel, wenn der Verdacht aufkommt oder geschürt wird, dass der intime Zusammenhang zwischen Wertrhetorik und öffentlicher Zustimmungsbereitschaft für profane Machtzwecke instrumentalisiert wird. Dann blüht die Rede vom „Tugendterror" und von den „entsicherten Moralpistolen". Dieser semantische Befund legt den Schluss nahe, dass wir es bei der Moralisierung von Konflikten mit einer diskursiven Ressource zu tun haben, die nicht von vornherein eindeutig auf Konfliktverschärfung spezialisiert ist, sondern eher auf die Steuerung der Wahrnehmung von Konflikten, auf ihre fallweise Konturierung und Akzentuierung vor einem Hintergrund,
8 Es fallt merkwürdigerweise den Politologen, die doch ex professio von „Macht" handeln, nur selten auf, dass „Macht" selbst bei uns kein diskursfähiges Motiv mehr ist. Keiner will „an die Macht", alle wollen „Verantwortung tragen".
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den man zuerst etwas genauer unter die Lupe nehmen muss. Was es bedeutet, einen Konflikt in der Öffentlichkeit moralisch zu codieren, steht nicht ein fur alle Male fest.
3. Moralisierung und Normalisierung Die politische Trägerschicht der älteren Geschichten von der konfliktverschärfenden Moral ist leicht auszumachen. Historisch stammt die Warnung vor der polemogenen Moral aus dem Umkreis der Weimarer Rechten, von den auf Modernisierung der traditionellen Macht bedachten misstrauischen Beobachtern der „liberalen" Massen-, Medien- und Parteiendemokratie. Verwertet hat sie seither freilich jeder, der sich davon Nutzen versprechen konnte. In den (zweifesohne komplexeren) Kern dieser etatistisch-antiliberalen Position gehört die Beobachtung, dass ein Staat ohne eigenes Machtethos (wie der „liberale" Sozial- und Verwaltungsstaat) Feindschaft fallweise moralisch improvisieren muss, wenn er auf die Kriegs- und Kampfbereitschaft seiner Untertanen rechnen möchte. 9 Man denke noch einmal an Carl Schmitts polemische Formel „Ethik und Ökonomik" seien das einzige, was der Liberalismus vom Staat übriggelassen habe. Aus Kunden, Konkurrenten und Diskussionspartnern werden aber Feinde in der Tat nur dann, wenn sie unter den höchsten moralischen Vorbehalt gestellt und damit gewissermaßen aus der gemeinmenschlichen Wertewelt exkludiert sind. Mit dem Ende des Kalten Krieges ist die klar bipolare Inklusions- und Exklusionssemantik der asymmetrischen Gegenbegriffe (Koselleck) nicht mehr verfügbar, mit der man jede außen- und innenpolitische „Feindlage" mühelos codieren konnte. Was mit halbwegs Aussicht auf öffentlichen Erfolg mit der Sowjetunion in Verbindung gebracht werden konnte, das war auf Dauer als feindlich und gefährlich markiert. Und es ist bekannt, dass in der Geschichte der BRD keine oppositionelle Strömung (von der Sozialdemokratie über die Studentenbewegung bis hin zu den Grünen, der Friedensbewegung) diesem Schicksal entgangen ist. Die Tatsache, dass es keinen ideologisch vorentschiedenen und abrufbaren Feind (mit dauerhaften Hass- und Angstpotentialen) gibt: den Franzosen, den Kommunisten, fördert das Vorrücken ursprünglich in den sozialen Nahbereich gehöriger Achtungsparameter in die politische Sphäre und beschert uns von Fall zu Fall wechselnde „Schurkenstaaten", verkörpert durch einen bösen Führer: Der Feind ist ein grausames, nichtswürdiges Individuum, ein Schurke, der nur die Sprache der Gewalt versteht, wie Saddam Hussein oder Milosevic. Man meint fast, es seien die Bösewichte der Massenkultur, die hier Pate und Modell gestanden haben könnten. Als Probelauf für eine kurzfristig moralisch improvisierte außenpolitische Feindschaft nach 1990 gilt gewöhnlich der Zweite Golfkrieg. Binnen weniger Monate wurde der Irak (bzw. sein Machthaber) vom Verbündeten der westlichen Wertegemeinschaft gegen die fundamentalistischen Mullahs im Iran zum absoluten Schurkenstaat umgeschminkt. Die vollkommene Enthemmung, mit der dieser Krieg geführt (und nach der militärischen Niederlage des Irak im Namen der UN politisch und ökonomisch fortgeführt) wurde, scheint wie geschaffen zur Illustration der These von der Feindschaft entgrenzenden und absolut setzenden
9 Der moralisch hoch integrierte und sichtlich überlegene Sozialismus der Arbeiterbewegung, der zudem geschichtsphilosophisch rückversichert war, dürfte der eigentliche Gegner gewesen sein, vor dem die Weimarer Rechte warnen zu müssen glaubte.
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Moral. Manche Beobachter codieren die Folgen der UN-Politik gegen den Irak als „Völkermord" an der dortigen Zivilbevölkerung. Doch das sei vorerst, wie es mag. Wir müssen den Hintergrund in Augenschein nehmen, vor dem heute die Geschichte von der polemogenen Moral mit Aussicht auf Erfolg erzählbar wird. Für die Weimarer Rechte war diese Geschichte dadurch interessant, dass sie es erlaubte, Liberalismus und Sozialismus symbolisch zu einem Gegner zusammenzuschmieden, obwohl die beiden auch untereinander Feindschaft hielten.10 Dass diese Option so heute nicht mehr besteht, ist evident. Sie ist nicht einmal mehr sinnvoll zu denken, denn sie gehört ins Dispositiv des „Symbolischen Bürgerkriegs", das zwar gelegentlich noch beschworen, aber weitgehend außer Kurs gesetzt ist durch das „flexibel normalistische" Dispositiv der inklusionsmächtigen „Mitte", welche die Extreme im Gleichgewicht hält.11 Seinen polemischen Gegensatz findet der Moralbegriff zusehends im Begriff der „Normalität", wie neulich in der Kontroverse zwischen Bubis und Walser zu besichtigen war, wo Walser den Begriff der „Normalität" ausdrücklich in Stellung brachte gegen ein ganzes Arsenal von verunglimpften (bzw. verunglimpfenden) Moral- und Hochwertwörtern: „Moralkeule", „Moralpistole", „Gedenkritual", „Schuld", „Schande" und viele andere mehr. Dieser (sich erst allmählich konturierende) Gegensatz zwischen Moralisierung und Normalisierung legt die Hypothese nahe, Moral sei eine Ressource zur Hochwertcodierung des nicht Normalisierbaren oder des „zu Normalisierenden" (bzw. dessen, was dem normalisierenden Diskurs entzogen, was den ernüchternden, über Zahlen, Daten, Verteilungen laufenden Praxen nicht überlassen werden soll oder kann) in der öffentlichen Kommunikation. Man könnte ein komplementäres Verhältnis zwischen beiden Techniken oder Praxen annehmen und der Frage nachgehen, welche Gruppe in der öffentlichen Kommunikation welche Themen eher moralisierend und welche eher normalisierend traktiert.12 In der Tat ist es ja leicht auszumachen, dass eine Vielzahl kontroverser Themen just dadurch präsent bleiben, dass sich Normalisierungs- und Moralisierungspraxen mitten in ihnen überkreuzen, dass gewissermaßen von zwei Seiten an ihnen gezerrt wird: Abtreibung, Drogen, Tierversuche, Ökologie, Atomkraft, Gentechnik, Einwanderung. Die moralische Dramatisierung dieser Themen mobilisiert und konzentriert öffentliche Aufmerksamkeit und Engagement. Die (flexibel) normalistische Praxis im Gegenzug neigt zur Entdramatisierung, zur kontinuierlichen Beobachtung, zur verfahrensförmigen Regelung konfliktträchtiger Bereiche. Im Zusammenspiel dieser beiden Praxen (und nota bene nur dort) ist die Moralisierung eher „ausschließend", die Normalisierung eher „einschließend", die Moralisierung dient der alarmis-
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Zu dieser Konstellation vgl. die peniblen semantischen Analysen des Diskurses der Weimarer Rechtsgruppierungen bei J. P. Faye, Totalitäre Sprachen. Kritik der narrativeη Vernunft. Kritik der narrativen Ökonomie, 2 Bde, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977. „Totalitär" nennt er die Logik, welche den (möglichst symbolisch unifizierten) Feind direkt jenseits der eigenen Inklusionsgrenze beginnen läßt: Für die Kommunisten beginnt der „Faschismus" schon bei den als „Sozialfaschisten" bezeichneten Sozialdemokraten, für die Kulturkonservativen ist alles „Kulturbolschewismus", was sie nicht selbst verkörpern, für die Nazis sind alle anderen „Systemparteien" etc. J. Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1977, S. 395f. So gibt es geradezu spezialisierte Rollen für beide Praktiken in der öffentlichen Kommunikation: Die moralische Restautorität der katholischen Kirche beruht ebenso wie ihre Marginalität, ja Lächerlichkeit, für die Mehrheit des Publikums in dem meisten Fragen auf der Hartnäckigkeit, mit der sie an „normistischen" Orientierungen festhält. Ein Agent der Normalisierung ist dagegen der „Experte".
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tischen Akzentuierung eines (aus dem Ruder gelaufenen) Problems, die normalistische Praxis seiner geregelten Beobachtung und „Abblendung bis auf weiteres". Während Moral als Ressource in den (normalistisch entpathetisierten) Funktionssystemen der Gesellschaft eher zurücktritt, wird sie als Ressource in den Kommunikationssystemen unentbehrlich. Für den Beobachter tagespolitischer Kleinstereignisse wird es eigentlich dann besonders interessant und aufschlussreich, wenn sich Akteure im kurrenten Dickicht „moralisierender" und „normalisierender" Figuren ungeschickt verheddern, wie jüngst die Leitung des (hinter dem guten Namen Hannah Arendts halbwegs getarnt agierenden) Dresdener „Instituts für Totalitarismusforschung". Die hatten einen „Nachwuchswissenschaftler" vorgeschickt, welcher, ausgestattet mit einer (im Jahre 1999 resonanzfahigen) privaten Pennälermoral, auf den Hitler-Attentäter Georg Elser losging und erwartungsgemäß zu dem Schluss kam, das Attentat sei moralisch nicht zu rechtfertigen, weil dabei Unbeteiligte leichtfertig zu Tode gebracht worden seien. Die Herren Jesse und Backes, die „ihrem" Nachwuchswissenschaftler bei diesem Moralisierungsversuch beisprangen, sind nun unglücklicherweise dafür bekannt, dass sie ansonsten der „Entmoralisierung" und „Historisierung" des NS-Diskurses das Wort reden. Und für so dumm wollte sich dann nicht einmal das Feuilleton verkaufen lassen.13 Dass „Moralisierung" und „Normalisierung" komplementäre Ressourcen des Diskurses bilden, ist offenkundig. Wirklich auffällig wird das jedoch erst dann, wenn einer in derselben Sache leichtfertig von beiden Optionen Gebrauch zu machen wünscht. Moralisierung ist damit jedoch nicht nur flexibles Gegenmittel und Dramatisierungsressource im flexibel normalistischen Alltag unserer Gesellschaften, sie gehört vielmehr eng in deren Symptom-, Steuer- und Kontrollfeld. Sie zeigt an, dass ein Wert aus dem Normalbereich herauszurutschen droht. Darauf kann mit Verschiebung der Grenzen des Normalbereiches oder mit anderen normalisierenden Praxen reagiert werden. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist die Moralisierung in der Tat ein ganz „normales", ein unentbehrliches Element des normalistischen Codes. 14 Aus diesem Blickwinkel betrachtet scheint aber auch die Geschichte von der polemogenen Moral keinen rechten Sinn mehr zu haben. Wir müssen also noch einmal ausholen.
4. Die moralische Improvisation von „Freund" und „Feind" Einmal - das ist banal - taugt die „Vorsicht, Moral!"-Geschichte dazu, „fundamentalistische" Übergriffe auf normalistisch befriedetes Terrain abzuweisen. Wenn radikale Tierschützer Labortiere freilassen oder, etwas dramatischer, radikale Abtreibungsgegner auf einschlägig aktive Ärzte schießen (wie in den USA vielfach geschehen), dann scheint Hermann Lübbes (1987) erste Formel des politischen Moralismus zuzutreffen: Moralismus - das sei 13
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Es ehrt Patrick Bahners, der den beiden Biedermännern im Namen der „Wissenschaftsfreiheit" beizuspringen versuchte (FAZ vom 11.1. 2000), dass er offenbar Mühe hat, sich so dumm zu stellen, wie es die causa erfordert. Seit jeher versteckt sich der Revisionismus in Sachen NS-Vergangenheit hinter dem vermeintlich sicheren Schirm der „Wissenschaftsfreiheit", wenn er glaubt, im Felde der „Meinungsfreiheit" nicht ungeschützt bestehen zu können. Der Sprachwissenschaftler mag noch anzumerken wünschen, dass die Polysemie von „Norm" als statistischem Durchschnitt und „Norm" als kontrafaktisch stabilsiertem Erwartungswert das Hin-und-Her zwischen beiden Sphären jedenfalls erleichtert.
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die Selbstermächtigung zum Verstoß gegen die Regeln des allgemeinen Rechts unter Berufung auf das höhere Recht der eigenen, moralisch besseren Sache. Wem Formel und Ereignis hier glänzend zusammenzupassen scheinen, der sollte sich daran erinnern, dass die urdemokratische Tradition des Zivilen Ungehorsams (von Gandhi über Martin Luther King bis zu den Vietnamprotesten) ebenso mit dieser Formel belegt (und diskreditiert) werden kann.15 Die zweite Facette des politischen Moralismus besteht nach Lübbe (1987) im Abklopfen der öffentlichen Kommunikation nach Gesinnungsindikatoren, die es erlauben, die Sachebene zu verlassen und den Sprecher durch eine ihm zugeschriebene Gesinnung moralisch zu diskreditieren und als Feind zu brandmarken.16 Hier denkt man unwillkürlich an den Komplex der hierzulande unter „political correctness" subsumiert wird17 und der damit zusammenhängt, dass jede Form der sprachlichen Ritualisierung von Achtung (gegenüber historischen, sozialen, politischen Opferkategorien) leicht dem Spott und der Lächerlichkeit anheim gegeben werden kann. Aber auch hinter dieser leicht einrastenden und „plausiblen" Illustration verbirgt sich die ein oder andere Paradoxie. Angesichts der raschen Erosion politisch identifizierender Semantik (von „Solidarität" spricht nicht die Arbeiterbewegung, sondern notfalls auch die FDP, der Ärzteverband und die Krankenkassen) und angesichts der raschen Ausbreitung resonanzfähiger Vokabulare über das ganze politische Spektrum entwickelt sich von selbst ein verbindliches Hochwertarsenal. Was man wollen muss und was man nicht wollen darf, steht für alle fest. Das Publikum kann nicht anders, als einen Sinn für sprachliche Nuancen zu entwickeln. Und hier richtet sich das Misstrauen der Anti-MoralGeschichte gegen ein Wertvokabular, das offensichtlich Konflikte reduzieren und rituell Konsens beschwören soll. Die Achtungskommunikation gegenüber Opfern, Behinderten, Verfolgten, Minderheiten ist an sich nicht polemogen - wohl aber die Warnung vor Moralkommunikation in diesen Fällen. Wir sind also wieder an dem Punkt angelangt, da wir die Warnungen vor dem politischen Moralismus selbst als konfliktverschärfende Moralisierungen erkennen.18 Aber wir sind noch nicht am Ziel. Hoch verbindliche Moralisierungen teilen mit gesellschaftlichen Institutionen die Eigenschaft, (ideologische oder affektive) Ambivalenzkonflikte zu reduzieren und zu vereinseitigen. Jeder Versuch, einen Konflikt zu entmoralisieren, schwächt die Partei, die durch die Reduktionsleistung der Moralisierung zusammengehalten wird (und stärkt die jeweils andere!). Um ein aktuelles Beispiel zu nehmen: Ob Martin Walser sich im Umkreis der Konflikte nach der Friedenspreisrede als „Antisemit" geoutet hat, halte ich für völlig uninteressant, für belanglos, die Frage bleibt selbst im moralisierenden
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Lübbe selbst, der erfahrene Rhetor, illustriert seine These mit dem RAF-Terrorismus, mit dem Effekt, dass jede Versuchung zum Zivilen Ungehorsam von vornherein als terrorismusaffin dasteht. Fast immer geht es in solchen Fällen um das Verhältnis einer plausiblen Formel zur einer sie plausibilisierenden indexikalischen Konstellation. H. Lübbe, Politischer Moralismus, Berlin 1987. Und der konstellativ und thematisch nicht identisch ist mit dem in der USA unter der gleichen sprachlichen Marke prozessierten Komplex. Die kommunikative Privilegierung von Opfern, Minderheiten, Benachteiligten gehört zur egalitären Oberfläche, zur Selbstpräsentation der Massendemokratie als einer auf Gerechtigkeit und Chancengleichheit fur den Einzelnen beruhenden Gesellschaftsform. Sie ist die universalistische Kehrseite des Wertepluralismus, der zwangsläufig die Werte moralisch ausschließen muß, die ihrerseits als „exklusiv" geoutet werden konnten.
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Muster persönlicher Achtungs- und Missachtungskommunikation stecken. Dass er jedoch mit seinen Äußerungen den hoch moralisierten (und inzwischen aus anderen Gründen brüchigen) antifaschistischen Konsens geschwächt und den Antisemitismus semantisch enthemmt hat, steht wohl fest. Entmoralisierungsversuche dieser Art werden entscheidend erleichtert, wenn man den Verdacht zirkulieren kann, dass die Opferkategorie (oder der in ihrem Namen sprechende) aus diesem Status Vorteile zieht - und wenn es nur der Vorteil ist, „gut dazustehen". Psychologisch gesprochen: Moralisierungen dienen der Ambivalenzreduktion (und sind damit parteibildend, insofern nämlich jede handlungsfähige Parteiung auf Ambivalenzreduktion angewiesen ist). Entmoralisierung eines Konflikts hat den Effekt, dass Ambivalenz wieder in ihr Recht tritt, wodurch die „moralisch" geeinte Partei geschwächt wird (und die außermoralisch geeinte gestärkt). Fasst man nun von hier aus die öffentlichen Diskussionen ins Auge, die seit dem Zweiten Golfkrieg (und seit Enzensbergers griffig moralisierender Formel: Saddam = Hitler) über die deutsche Beteiligung an UN- und NATO-Einsätzen stattgefunden haben, über den Golfkrieg selbst, über Bosnien und jetzt über den NATO-Einsatz im Kosovo, dann ist nicht zu übersehen, dass jeweils beide Seiten, Bellizisten und Pazifisten, in höchstem Grade moralisch integriert sind. „Dass im politischen Raum niemand auf die Endabstimmung tapferer Moralisten wartet"19, ist sicher richtig, zeigt aber auch den massendemokratischen Nutzen öffentlicher und moraloider Freund-Feind-Improvisationen. Die Moral-Bühne liefert ein massendemokratisch brauchbares Forum, auf dem Konflikte öffentlichkeitswirksam, unschädlich und wirkungsvoll inszeniert werden können, für die es keinen anderen offiziellen Code (Geld, Macht, Wahrheit) gibt. Bei aller gegenseitigen Verunglimpfung wird der Streit als Hochwertdebatte auf die Bühne gebracht. Wer am Ende auf der siegreichen Seite herauskommt, der darf das Gefühl haben, gleichermaßen im Einklang mit der Moral und der Machtwirklichkeit gehandelt zu haben. Wer zur unterlegenen Partei gehört, der wahrt gleichwohl sein Gefühl der moralischen Integrität. Und das alles angesichts der Tatsache, dass weder die Motive der einen noch die der anderen Seite die mindeste Rolle bei der Entscheidung über Krieg und Frieden gespielt haben. Zur enthemmenden Wirkung der Moralisierung von Feindschaft nach außen tritt in diesem Falle ohne Zweifel die integrierende Wirkung nach innen, die wenigstens so weit reicht, wie das Prinzip des inneren Wertepluralismus trägt. Solange der Krieg als Hochwertkonflikt inszeniert werden kann, ist jedenfalls für beide Parteien gesorgt. Dass die Spielräume hier für den Einzelfall beträchtlich sind, zeigt der Vergleich strukturell ähnlicher Konflikte, etwa Kurdistan und Kosovo. Bei drohender ethnisch motivierter Sezession lässt sich die Zentralmacht entweder als legitim, an der Integrität des Landes interessiert codieren oder als ultranationalistische ethnische Säuberer. Die Sezessionspartei lässt sich als „terroristisch" oder als „Freiheitskämpfer" codieren. Im Effekt verhandelt der eine ethnisch-nationalistische Guerillaführer unter dem Schutzschild der NATO mit der (unter militärischer Dauerdrohung stehenden) Zentralmacht, der andere wird von der nämlichen
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NATO über den ganzen Erdball gejagt und der (moralisch keineswegs präsentablen) Zentralmacht zum Schauprozess ausgehändigt.20 Bei diesem konträren öffentlichen Bild, das von zwei doch recht ähnlichen Konstellationen gezeichnet wird, übersieht man leicht, dass beide Typen von außenpolitischen Relationen nicht unter „Gleichen" möglich wären. Sie setzen vielmehr beide die Wahrnehmung unterschiedlicher politischer „Normalitätsklassen" der Staaten (Link) voraus, derart dass die intervenierenden Mächte als zu einer „höheren" Normalitätsklasse gehörend wahrgenommen werden. Den „moralischen" Zustand eines Landes, das zu einer niedrigeren politischen Normalitätsklasse gehört, kann man (im Vergleich zum eigenen) als ein „Noch nicht" codieren, wie gegenüber der Türkei (und manchen osteuropäischen Ländern) üblich, oder als ein (moralisch natürlich sehr viel schärferes, weil nicht temporalisiertes) „So nicht". Die Bevölkerung solcher „Schurkenstaaten" (wie Irak, Jugoslawien, Libyen) muss durch spürbaren Druck ermutigt werden, sich ihrer bösen Machthaber zu entledigen. Das „rechtfertigt" kriegerische und ökonomische Maßnahmen, deren Opfer regelmäßig die Zivilbevölkerung ist, obwohl es auf der Hand liegt, dass der diskursiv konstruierte Effekt niemals eintritt, sondern der entgegengesetzte.21 In dieser Konstellation: „Mitmachen" im Irak, in Bosnien, im Kosovo, taugt die Geschichte von der polemogenen Moral zuverlässig zur „moralischen" Diskreditierung derjenigen, die Pazifismus und Nichteinmischung hochhalten (und derart als „Verbündete" der selbst moralisch geächteten Schurken dargestellt werden).22 Die Moral ist dann im Einklang mit dem bösen Prinzip (q.e.d.) und die Geschichte tarnt weithin erfolgreich die Moralbasis der „Realisten" und Bellizisten in der öffentlichen Diskussion, die ja ebenfalls Hochwertausdrücke wie „Menschenrechte" und Enthemmer wie „Völkermord" und „ethnische Säuberung" vor sich her tragen. In anderen Konstellationen dient die Anti-Moral-Geschichte, kraft der Tatsache, dass sie eben auch eine „moralische" Geschichte ist, ebenso zuverlässig der Eskalation von Feindschaften wie die direkte Berufung auf Hochwert- und Fahnebegriffe. Beispiele dafür sind die PC-Debatte, die Bubis-Walser-Kontroverse. Eine feste Bedeutung der Anti-Moral-Geschichte kann es daher, so wie die Dinge liegen, gar nicht geben. Wie bei allen politischen Narrationen kommt es auch bei dieser darauf an, sie richtig zu positionieren. Eine Konstante dürfte darin bestehen, dass sie regelmäßig die Desintegration „kompakter Subjekte" fördert, die nur (oder in erster Linie) durch moralische
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Für die Innensicht der Bürgerkriege gilt allenthalben, dass sie der moraloiden oder sonstigen Motivund Legitimationsproduktion über den Beginn hinaus durchaus nicht bedürfen. Wenn die Gewalt einmal in Gang gekommen ist, dann produziert sie selbst hinreichende Motive und Beweggründe ihrer eigenen Fortsetzung. Das wenigstens läßt sich von W. Sofsky lernen: Traktat über die Gewalt, Frankfurt/M. 1996. Nicht nur schweißt diese Art von „Stellvertretung" die Einheit enger zusammen, die erschüttert werden soll, sie macht auch jeden Ausbruchsversuch als Kollaboration mit dem Feind codierbar. Das ist die hochmoralisierte Figur des „Täterschützers", die strukturell überall da ihren Platz hat, wo der Opferstatus die letzte Legitimationsquelle für Haltungen darstellt. Eine paradigmatische Narration in diesem Zusammenhang stammt von Heiner Geißler. Es ist die Geschichte vom Pazifismus, der „Auschwitz erst möglich gemacht" habe. Grüne Bellizisten leben heutigentags glänzend von der Abwandlung dieser Geschichte. Nur wissen sie es nicht oder wollen es (noch) nicht wahrhaben.
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(und symbolische) Ermächtigung zusammengehalten werden und über weiter keine Machtressourcen verfügen.
5. Moral als Ressource der politischen Kommunikation Als Ressource der Kommunikation hat „Moral" offenbar einen widersprüchlichen Status und dient anscheinend entgegengesetzten Zwecken. Moralisierung dient: - der fallweisen Begründung politischer Machtentscheidungen, da Macht selbst keinen öffentlichkeitsfähigen Code hat („Verantwortung" statt Macht); - der fallweisen Emphatisierung „kalter" und individualisierter gesellschaftlicher Integrationen (Abtreibung, Drogen, Tierschutz etc.); - der fallweisen Improvisation, Legitimation (und Enthemmung) von Feindschaft in einer Welt mit normalistisch gestaffelten Länderklassen (Menschenrechtsverletzung, ethnische Säuberung, Terrorismus, Fundamentalismus); - als Figur für die fallweise öffentliche Inszenierung von Ansprüchen, die sich auf einen Opfer-, Minderheiten- oder Verfolgtenstatus gründen (Abweichungen vom egalitären Pluralismus der Massendemokratie müssen „wiedergutgemacht" werden). Gegen all diese diskursiven Figuren können Anti-Moral-Geschichten gerichtet werden, die dann jedoch lediglich eine „höhere" Moral für sich reklamieren. Als Dramatisierungsressource kann Moral zur Legitimation wie zur Delegitimation von politischen Handlungen in Stellung gebracht werden. Was da jeweils Aussicht auf Erfolg hat, hängt von der „Normalität" der Konstellation (bzw. ihrer Wahrnehmung) ab. Für einen massendemokratischen Krieg dürfte moralisch enthemmte Feindschaft die einzige zur Zeit zustimmungsfähige Ressource sein, da Macht- und Wirtschaftsinteressen als Motive in der Öffentlichkeit nicht zugelassen sind. Das kann sich jedoch rasch ändern, weil die hochmoralische Fassade nicht ständig hochgezogen werden kann. Gewöhnung tritt ein, und wenn der moralisch geadelte Krieg ohne Einbußen an innerer Stabilität über die Bühne geht, benötigt der nächste schon weniger moralischen Aufwand. Da die Hochwertsemantik von „Moral" von denen, die sie für sich in Anspruch nehmen, einen Verzicht oder Widerstand, ein Hindernis oder einen „Preis" impliziert, der vom Akteur gezahlt werden muss, genügt es bisweilen, von einer „moralisch" auftretenden Position zu behaupten, sie sei majoritär, allgegenwärtig und damit kostenlos zu haben, um sie zu diskreditieren. So geschehen mit dem Pazifismus der Friedensbewegung, mit dem Dritte-WeltEngagement („Wohlfeile Fernstenliebe"), mit dem - als ritualisiert gescholtenen - Antifaschismus). Zur wirkungsvollen Inszenierung einer moralischen Position gehört die Mitinszenierung von „Selbstlosigkeit", insbesondere natürlich bei Akteuren, die diesbezüglich „unter Verdacht" stehen. Der Hinweis auf Achtungs- und Reputationsvorteile, die mit einer „moralischen" Präsentation verbunden sind, kann dann schon der Anti-Moral-Geschichte den Weg bahnen. Solche Überlegungen gehören freilich zur „Grammatik" moralischer Motive in der öffentlichen Kommunikation. Und sie wären zu unterscheiden von der jeweils konstellationsgebundenen „Rhetorik" der Moral im Einzelfall.23 23
Zur Erläuterung der Begriffe „Grammatik" und „Rhetorik" in diesem Sinne vgl. K. Burke, A Grammar of Motives. Berkeley, L.A., 1969.
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In der politischen Kommunikation - aber das sollte eigentlich trivial sein - kommt es nicht darauf an, ob eine Geschichte wahr oder falsch ist. Die meisten Geschichten bilden eine schwer zu entmischende Fusion konträrer Wahrheitswerte. Es kommt darauf an, die AntiMoral-Geschichte in einer Konstellation zu erzählen, in der sie eine aktuelle Konfliktlage plausibel dramatisiert und den aktuellen Gegner schwächt. So kommt der Widerspruch zustande, dass die Sphäre der politischen Macht gleichzeitig an moraloiden oder moralisierten Themen lebhaft interessiert ist, weil sie die conditio sine qua non der öffentlichen Wahrnehmung, der Emphatisierung (und der fallweisen Zuspitzung einer Konstellation zur Entscheidungsreife) bilden, und doch auch vor Moralisierung warnen zu müssen glaubt. Moralisierung wird unerlässlich und gerade darum zunehmend auch: suspekt. Denn was man bei allen Parteien des politischen (massendemokratischen) Feldes beobachten kann, das verspricht gleichzeitig Distinktionseffekte im intellektuellen Feld, wenn man es dort öffentlich anprangert. Weshalb auch in den intellektuellen Gazetten die Warnung vor der „Moral an der Macht" oder die hortativ gleichwertige Feststellung, sie sei es schon, fast so etwas wie ein Genre bilden. Allgemeine Aufklärung über den Sinn von AntiMoral-Geschichten verspricht jedoch nur die Analyse all derjenigen Positionen, die diese Geschichten in der „narrativen Ökonomie" der Massendemokratie einnehmen kann.
6. Statt einer Schlussbemerkung: Moral-Geschichten im NATO-Krieg gegen Jugoslawien Die schiere Existenz eines sprachlichen Ausdrucks wie „Moral" suggeriert da semantische Kontinuität, wo allein die konnotative Ambivalenz auf uns wirkt. Hinter unserer Vorstellung, was mit demselben „Wort" bezeichnet wird, das müsse auch wesentlich dasselbe „sein", versteckt sich der (in jeder Hinsicht) praktische Occasionalismus solcher Ausdrücke, der zur episodischen Betrachtung und zu fallweisen Berücksichtigung der jeweiligen Gebrauchskonstellation zwingt. Weder lässt sich der Ausdruck „Feindschaft" heute so gebrauchen wie in einer (national exklusiv codierten) Welt, in der Sprüche wie „Jeder Schuß ein Ruß" oder „Jeder Stoß ein Franzos" zirkulationsfähig waren, noch hat „Moral" als Ressource der politischen Kommunikation notwendig immer den gleichen Stellenwert. Wie mutiert „Feindschaft" vor dem Hintergrund einer „Szene" (Kenneth Burke), in der ethnischer Nationalismus verpönt ist, als archaisch und primitiv gilt, und Menschenrechts-Moralismus ebenso zur kurrenten Weltanschauung der „fortgeschrittenen" Nationen gehört wie die öffentliche Ächtung von Gewalt und Terror? Wie erzeugt und eskaliert man Feindschaft in einer massendemokratischen „Szene" mit diskursiv halbwegs durchgesetztem Multikulturalismus - der ja als Figur auch den rhetorischen Vorzug hat, seinen Vertretern die Ressourcen einer nicht überbietbaren universalistischen „Toleranz" zuzuspielen, der gegenüber alle anderen Positionen als eng, partikular (und potentiell feindlich) codiert werden können? Der NATO-Krieg gegen Jugoslawien (bzw. das, was nach einem Jahrzehnt westlich ermutigter ethnischer Sezession davon noch übrig ist) hat einige lehrreiche Proben der „moralischen Eskalation" von Feindschaft vor einem solchen Hintergrund geliefert. Für methodisch halbwegs reflektierte Analysen ist es noch zu früh. Sie hätten vor allem ein Instrumentarium für die Analyse der professionellen Selbstinszenierung der Akteure (die tägliche NATO-Pressekonferenz, die „briefings" des Verteidigungs- und des Außenministers etc.)
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und deren Außenhalt im Bezugssystem der Massenmedien zu erarbeiten. Vorerst müssen einige Impressionen genügen. Naturgemäß zwingt ein verfassungs- und völkerrechtswidriger Krieg, eben weil ihm rechtliche und politische Legitimität fehlen, zur Produktion von moralischen Selbstermächtigungen. Deren Fertigung „in allen Preislagen" lief denn auch schon vor Beginn der Kampfhandlungen auf Hochtouren, von der gemeinen Gräuelpropaganda mit dubiosen Bildern, Videos und Geschichten über den „Völkermord" im Kosovo bis hin zu den wohlgesetzten Worten akademischer Stichwortgeber. Die höchst auffällige Abwesenheit (und NichtVerfiigbarkeit) macht- und interessenpolitischer Codierungen für den Ν ΑΤΟ-Angriff hat alle Akteure gezwungen, ein „moralisches" (oder doch wenigstens: ein „symbolisches") Gewand überzuwerfen.24 Da ernsthafte und fühlbare Opposition auf den Straßen und Plätzen unterblieb, ergab sich die einmalige Gelegenheit, den Krieg als moralischen Wertkonflikt im Feuilleton zu inszenieren, gewissermaßen als „Probehandeln" mit kleinen moralischen Energiequanten. Insbesondere die Grünen lernten rasch, den tragischen Konflikt zwischen der „Nie-wieder-Krieg"-Seele und der „Nie-wieder-Auschwitz"-Seele werbewirksam in die jeweils eigene Brust zu verlegen. Das Publikum bekam die Chance, sich (vollkommen folgenlos) entweder auf die eine oder auf die andere Seite zu schlagen, was ja immer als Sternstunde der Demokratie gefeiert werden kann. Insofern sind wir Zeugen eines zutiefst „buribunkischen" Rituals geworden.25 Und wie man ein solches Ritual in Szene setzt, das muss ein erfolgreicher Machttechniker heute einfach wissen. Gelernt hat er, wie man eine solche Nummer hinlegt, von den wohlerzogenen und frei unterworfenen „Geständnistieren" (Foucault). Dass die „Moral" in dieser Sache bloß gespielt ist, dass im Zeitalter massenmedial erzeugter und konditionierter moralischer Zu- und Abneigungen keine „existentielle" Feindschaft vonnöten ist, um Tötungsbereitschaft zu erzeugen, das weiß - außer dem Verteidigungsminister - fast jeder. Lediglich als „Türöflner" für ein kriegsentwöhntes humanitäres Publikum taugt die aggressive Enthemmung des Humanitarismus. Im nächsten Krieg wird das schon weniger verkrampft über die Bühne gehen. Für die global unangefochtenen Profisoldaten der NATO genügt das profane und unaufgeregte Sendungsbewusstsein, Ordnung und „Normalität" wiederherzustellen, mit welchen Mitteln auch immer. Der „existentielle" Charakter der Feindschaft zwischen den Ethnien Jugoslawiens wird uns ja gerade als „archaisch" und vor- bzw. außernormal präsentiert. Für die jeweilige Entscheidung der überethnisch-universalen Macht kann es offen bleiben, ob man auf den primitiven ethnischen Hass zurückgebliebener Völkerschaften mit verächtlichexklusivem Zurücklassen oder mit fürsorglicher Intervention reagiert, um sie (un-)sanft auf die Bahn der Normalisierung zu bringen. Es genügt die durchgesetzte Wahrnehmung, dass die intervenierenden Staaten zu einer höheren „Normalitätsklasse" gehören, dass sie gewissermaßen in der Oberliga spielen.26 24
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Die rasch improvisierten „Interessen" der NATO oder der USA blieben ihrem Charakter nach esoterisch oder sie changierten insofern ins Symbolische, als sie die erweiterungssynchrone Vorführung der neuen NATO-Doktrin in den Blick nahmen - oder die Klärung der globalen Tnterventionsfahigkeit zugunsten der USA. Dazu ist zu bemerken, dass der Wegfall ernster (und potentiell feindlicher, auch im „existentiellen" Sinne) Konkurrenz natürlich symbolische Aktionen, das Probehandeln mit kleinen Energiequanten gewissermaßen, begünstigt. Vgl. den Aufsatz von F. Balke in diesem Band. Vgl. J. Link, Versuch über den Normalismus.
Moralische" Eskalation von Feindschaft
245
Studieren konnte man jedoch auch den unmittelbaren Zusammenhang zwischen moralischer „Fallhöhe" und militärischer Eskalationsbereitschaft bei den Akteuren des NATOKrieges. Am deutlichsten noch am öffentlichen Verhalten der Grünen, die nicht nur im „Kampf zweier Seelen" exzellierten, sondern auch in der Bereitschaft, sich aus „moralischen" Gründen auf die Eskalation zum Bodenkrieg einzulassen. Wer nur mit der Menschenrechtsmoral bewaffnet in einen Krieg eintritt, der wird automatisch empfänglich für die Frage, inwiefern denn die Bombardierung des multiethnischen Novi Sad den verfolgten Kosovoalbanerinnen (ihnen natürlich besonders) zum Vorteil gereiche. Anders gesagt: Die rhetorische „Humanisierung" des eigenen und die klappsymmetrische „Enthumanisierung" des gegnerischen Handelns zwingt zu Inszenierungsweisen, die nur dann störungsfrei durchzuhalten sind, wenn man über ein absolutes Bild- und Nachrichtenmonopol verfügt. Die „Ausschaltung" des jugoslawischen Fernsehens war darum ebenso folgerichtig, wie die hartnäckige, nicht aus der Ruhe zu bringende Bilder-Stürmer- und Stürmer-Bilder-Art des Verteidigungsministeriums. Solange nämlich das jugoslawische Femsehen Bilder der tatsächlichen Wirkungen der NATO-Fürsorge zeigen konnte, blieb immer Stoff für Gegenmoralisierungen in der Zirkulation. Die „Ferntötung" von Wehrlosen und Unbeteiligten gehört zum modernen massendemokratischen Krieg. Denn der kann nicht den „militärischen" Gegner, sondern nur dessen „zivile" Legitimation und Machtbasis zerstören. Das jedoch ist ein Umstand, der sich gegen Moralisierung auf Dauer sperrt. Wenn sich die berichteten „Kollateralschäden" häufen, dann muss man irgendwann von „defensiven" Entschuldigungen zu „offensiven" Grenzverschiebungen übergehen. Auch da war der KosovoKrieg als „Probehandeln" lehrreich: ein Wohnhaus kann als „Terroristennest", eine Brücke als „Nachschubweg", eine Fabrik als „kriegswichtig" oder als Eigentum eines bekannten Bösewichts recodiert werden. Der russische Krieg in Tschetschenien hat es sich nicht nehmen lassen, die erprobten NATO-Muster gleichsam ironisch zu rekapitulieren.27 Der Verteidigungsminister dagegen konnte darum gar nichts falsch machen, weil sein moralischer Furor auch dann „authentisch" blieb, wenn die gezeigten Bilder es nicht waren. Ultramoralisierung auf dem Ereigniskamm passt zudem zu den kurzen Zeitrhythmen der massenmedialen Aufmerksamkeit. Ihr aufrüttelnder Effekt unterliegt raschester Abnutzung. Viel länger hätte der Krieg um Kosovo nicht dauern dürfen. Ähnlich wie auch im Irak schirmt der Zwang zum raschen Themenwechsel die weitaus zeitraubendere Vernichtung des Gegners im militärischen und ökonomischen Kleinkrieg von der öffentlichen Aufmerksamkeit weitgehend ab. Dauermoralisierung ist weder tunlich noch möglich. Die (gefälschten) Bilder von den Säuglingen, die irakische Soldaten angeblich aus ihren Brutkästen gerissen haben, gingen um die Welt. Für die (nach vorsichtigen Schätzungen fünfstellige) Zahl von irakischen Kindern, die das UN-Embargo gegen den Wüstenstaat tatsächlich nicht überlebt haben, interessiert sich die Öffentlichkeit nicht sonderlich. Auch Moralisierung braucht einen interessierten Agenten. Vor ungefähr 30 Jahren schrieb Arnold Gehlen in seiner (deutlich gegenwartsbezogenen) Suada gegen den „Humanitarismus" als Staatsdoktrin folgenden Satz: „Vielleicht denken manche Machthaber, dass sie in sanfter Form entwaffnet würden, wenn man ihnen die Inte-
27
S. Margolina, „Spiegel der Geblendeten. Was der Krieg in Tschetschenien mit dem im Kosovo zu tun hat". FAZ vom 19. 11. 1999.
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Clemens Knobloch
ressen der Unterworfenen als die der Menschheit ans Herz legte."28 Heute taugen die „humanitären" Interessen der Unterworfenen irgendwo auf der Welt als Ressourcen der „sanften Bewaffnung' für die übrig gebliebenen Weltmächte. Der Krieg wird inszenierbar als ein moralisch purifizierendes Ritual für die Massen, denen man sonst „Gleichgültigkeit" gegenüber dem Elend anderswo ins Stammbuch schreiben könnte. „Macht" äußert sich einzig noch in der Fähigkeit, die Themen und Motive potentieller Gegner abzufangen und sie in das eigene Dispositiv einzubauen. Der Krieg sichert den Frieden oder stellt ihn wieder her. So nimmt die NATO-Intervention gegen Jugoslawien die Beweggründe auf, die zum Engagement der moralisch Linken für „antiimperialistische" nationale Befreiungsbewegungen geführt haben. Sie spricht die Sprache des moralisch Enragierten, um damit legitim einen kalten Technokrieg zu implementieren. Die Dämonisierung des Gegners und seiner causa (immerhin: einen multiethnischen Staat zusammenzuhalten) dient nicht der tatsächlichen Enthemmung des Publikums, jedenfalls (noch) nicht bei uns. Freiwillige werden nicht geworben. Sie dient allein der Kanalisierung der Debatten in den breiten Strom moralischer Rechtfertigungen und Tagesfragen. Und um in diesem breiten Strom an der Oberfläche zu bleiben, darf ein politischer Akteur keinen Augenblick vergessen, dass alle Inszenierungen immer zugleich auch Inszenierungen seiner selbst als eines „moralischen Individuums" sind. Auch hier enthüllt der Krieg den Kern der Dinge, und der besteht in der einfachen Gleichung: Je scheußlicher die präsentierten Untaten des Feindes, desto wirkungsvoller wird die Inszenierung der eigenen Betroffenheit. Wie Verteidigungsminister Scharping vergewaltigte Albanerinnen, herausgerissene Föten, mit Baseballschlägern zertrümmerte Schädel, vor den Augen ihrer Schüler erschossene Lehrer, Leichenberge an den Flüchtlingswegen und was dergleichen Scheußlichkeiten mehr sind, dem sprachlosen Publikum vorzuführen wusste, wird so schnell keiner vergessen. Dass die (auch im Nachhinein unzensierten) Ergüsse des Verteidigungsministers jetzt in Buchform vorliegen und „out of context" gewinnbringend studiert werden können, hat zu öffentlicher Ratlosigkeit geführt.29 Wie bespricht man einen (nicht untypischen) Passus wie den folgenden: „Das Elend nimmt weiter zu. Allein gestern und vorgestern kamen Tausende von erschöpften Vertriebenen über die Grenzen. Die Brutalität eskaliert, die Fliehenden ziehen buchstäblich an Bergen von Leichen vorbei. Mir geht eine alte Angst durch den Kopf: Dieser Verbrecher will einen Waffenstillstand auf dem Friedhof."30 Wer angesichts dieser schlichten Lyrik ganz nüchtern darauf verweisen wollte, dass dieses Buch eine Art humanitärer Breschnew-Doktrin enthält, ein Programm für „Menschenrechts"-Interventionen in ganz Europa, der würde dem Stil des Ganzen offenbar nicht gerecht. Schon aus der historisch nicht eben bedeutenden Distanz von sechs Monaten lehrt das „Kriegstagebuch" des Verteidigungsministers, dass eskalierende Ultramoralisierungen ein höchst prekäres Verhältnis zur Zeit haben. Weder lassen sie sich lange durchhalten, noch lassen sie sich innerhalb kurzer Zeitspannen wiederholen. Sie sind „Türöffner" und werden entbehrlich, wenn die Tür bereits geöffnet ist. Im „gewöhnlichen" Krieg übernimmt der Fortgang der Feindseligkeiten selbst die Aufgabe, die Handelnden mit dem nötigen Furor zu versorgen. Man verkenne jedoch nicht, dass es sich bei den NATO-Kriegen des letzten Jahr28 29 30
A. Gehlen, Moral und Hypermoral, Frankfurt/M. 1969, S. 82. R. Scharping, Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovo-Krieg und Europa, Berlin 1999. Ebd., S. 141.
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zehnts nicht mehr um „normale" Kriege in diesem Sinne handelt. Wo die Ordnungsmacht zu einer wesentlich höheren Normalitätsklasse gehört als die angegriffene Macht, da ist der getötete eigene Soldat kein Eskalationsmittel mehr, sondern eine unverzeihliche Peinlichkeit. Das heimische Publikum hat ein Recht darauf, dass alle seine Piloten wohlbehalten in ihre Basen zurückkehren. Anderenfalls wäre es eine rechte Zumutung, anderswo Ordnung schaffen zu müssen. Kriege werden ja in diesen Tagen nur gegen Feinde gefuhrt, die keine Chance haben, die Feindseligkeiten auf das Territorium des Angreifers auszudehnen.
Autorenverzeichnis
Friedrich Balke, Dr. phil., Wissenschaftlicher Geschäftsführer des Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs „Medien und kulturelle Kommunikation" an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Politische Philosophie, französische Gegenwartsphilosophie, Gesellschafts- und Kulturtheorie, Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Der Staat nach seinem Ende. Die Versuchung Carl Schmitts (1996); Gilles Deleuze (1998); „Die Enzyklopädie als Archiv des Wissens. Von Diderot zu Hegel", in: Gert Theile (Hg.), Das Archiv der Goethezeit. Ordnung, Macht, Matrix (2001); „Wie man einen König tötet oder: Majesty in Misery", in: DVjs 75 (2001); „From a biopolitical point of view: Nietzsche's Philosophy of Crime", in: Cardozo Law Review (2002); „Tristes Tropiques. Systems Theory and the literary scene", in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie (2002). Frank Becker, Priv.-Doz. Dr., Studium der Geschichtswissenschaft, Germanistik, Philosophie und Pädagogik in Münster. 1. Staatsprüfung 1989, Promotion 1992 bei Hans-Ulrich Thamer. 1993/94 Postdoktoranden-Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft, seit 1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster. Habilitation für Neuere und Neueste Geschichte 1998. Seither Forschungsprojekt zur Politik der Rassentrennung in den Kolonien des Deutschen Kaiserreichs. Bücher: Amerikanismus in Weimar. Sportsymbole und politische Kultur 1918-1933, Wiesbaden 1993; Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 18641913, München 2001; (zusammen mit Elke Reinhardt-Becker) Systemtheorie. Eine Einführungfür die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2001. Alexander Garcia Düttmann ist Professor für Moderne Europäische Philosophie an der Middlesex University. Zu seinen Publikationen gehören: At Odds with Aids (Stanford, 1996), Freunde und Feinde (Wien 1999), Between Cultures. Tensions in the Struggle for Recognition (London 2000), Liebeslied / My Suicides (mit Rut Blees, Luxemburg 2000), Kunstende (Frankfurt a. M. 2000), The Memory of Thought. An Essay on Heidegger and Adorno (Continuum, 2002). Christian Geulen ist zur Zeit PostDoc-Stipendiat am Graduierten-Kolleg der Fakultät für Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften an den Universitäten Münster, Bielefeld und an der Johns Hopkins University,
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Autorenverzeichnis
Baltimore, USA. Dissertation: Wahlverwandtschaften: Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jarhundert, Bielefeld 2002. Aufsätze zur Ideen- und Wissenschaftsgeschichte, zur Geschichte des Nationalismus, Geschichtstheorie und Kulturgeschichte. Anne von der Heiden ist zur Zeit Fellow in Residence am Kolleg Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik, lehrt in Weimar an der Bauhaus-Universität im Fach Medienkultur und veranstaltet in Zusammenarbeit mit Slavoj Zizek eine Vortragsreihe zum Thema „Die Passion des Realen". Nach ihrem Studium der Kunstwissenschaft, Sozialwissenschaften und Psychologie, war sie Dozentin in den Fächern Kunst- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Essen, Stipendiatin am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und wissenschaftliche Assistentin von Prof. Dr. Slavoj ZiZek. Arbeitsschwerpunkte: Kulturtheorie, Antisemitismus, Bild- und Medientheorie, Gegenwartskunst. Ihre Dissertation trägt den Titel: Die negative Ökonomie des Heils. ,Jud Süß' und die Medien. Clemens Knobloch, Prof. für Sprachpsychologie, sprachliche Kommunikation und Geschichte der Sprachwissenschaft an der Universität GH Siegen; Studium der Sprach- und Kommunikationswissenschaft in Bonn und Essen; Promotion 1979 in Essen, Habilitation 1987 in Siegen mit einer Arbeit über „Die Geschichte der psychologischen Sprachauffassung in Deutschland von 1850 bis 1920"; Arbeitsschwerpunkte: Politische Kommunikation, Geschichte der deutschen Sprachwissenschaft im NS und in den 50er Jahren, Erstspracherwerb. Neuere Buchpublikationen: Moralisierung und Sachzwang: Politische Kommunikation in der Massendemokratie (Duisburg 1998), Semantischer Umbau der Geisteswissenschaften nach 1933 und nach 1945 (zus. mit Georg Bollenbeck, Heidelberg 2001); Grammatikalisierung, Spracherwerb und Schriftlichkeit (zus. mit Helmuth Feilke und Klaus-Peter Kappest, Tübingen 2001). Burkhard Liebsch, Studium der Psychologie, Philosophie, Pädagogik und Sozialwissenschaft in Heidelberg und Bochum; 1989 bis 1995 Assistent an der Universität Bochum; danach Privatdozent ebd. und Forschungsstipendiat der DFG; 1996/7 Gastprofessor für Philosophie an der Universität Ulm; ab 1997 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen in Essen. Zuletzt, seit 1999, mit J. Straub Leitung der Studiengruppe „Lebensformen im Widerstreit" ebd. Veröffentlichungen u. a.: Geschichte im Zeichen des Abschieds (1996); Vom Anderen her (1997); Geschichte als Antwort und Versprechen (1999); Moralische Spielräume (1999); Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit - Differenz - Gewalt (2001). Hg.: Sozialphilosophie (1999); Hermeneutik des Selbst - Im Zeichen des Anderen (1999); Trauer und Geschichte (2001, mit J. Rüsen); Vernunft im Zeichen des Fremden (2001, mit M. Fischer und H.-D. Gondek). Ethel Matala de Mazza, Dr. phil., Studium der Neueren deutschen Literatur, Philosophie, Linguistik und Kunstgeschichte in Bochum, Paris und München. Derzeit wissenschaftliche Assistentin am Institut für Deutsche Philologie in München. Seit Oktober 2000 zu Gast am ZFL Berlin, seit März 2002 Habilitations-Stipendiatin des Bayerischen Wissenschaftsministeriums. Veröffentlichungen u. a.: Der verfaßte Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg 1999; mit Thomas Frank, Albrecht
A utorenverzeichnis
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Koschorke, u. Susanne Lüdemann: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, Frankfurt/Main 2002. Aufsätze zu Novalis, Kleist, Adam Müller, Hofmannsthal, Goethe und Napoleon, Nietzsche, verschiedenen Mozart-Opern und zu Fragen der politischen Theorie. Michael Niehaus, Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Freiburg i. Br., Promotion 1993 und Habilitation 2001 an der Universität GH Essen im Fach Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Arbeitet derzeit in einem Forschungsprojekt zu Naturrecht und Kommunikationstheorie an der Ruhr-Universität Bochum. Buchveröffentlichungen u. a. „Ich, die Literatur, ich spreche ... ". Der Monolog der Literatur im 20. Jahrhundert, 1995; Unzurechnungsfähigkeiten. Diskursivierungen unfreier Bewußtseinszustände seit dem 18. Jahrhundert (hg. zusammen mit Hans-Walter Schmidt-Hannisa), 1998. - Aufsätze zur Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts, zur Literaturtheorie, zur Geschichte des Strafverfahrens, zur Kommunikationstheorie und zu Film und Fernsehen. Joseph Vogl, Prof. Dr., Professor für Theorie und Geschichte künstlicher Welten an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Zuletzt erschien: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002. Slavoj Zizek ist Professor für Philosophie an der Universität Ljubljana, Slowenien. 1999 wurde ihm der erste Kulturwissenschaftliche Forschungspreises des Landes Nordrhein Westfalen verliehen. Er leitete im Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen eine Studiengruppe zum Thema „Antinomien der postmodernen Vernunft". Zur Zeit ist Ziiek Stipendiat am Kolleg Friedrich Nietzsche der Stiftung Weimarer Klassik. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen in deutscher Sprache gehören Das Verweilen beim Negativen (Wien 1994), Liebe Deinen Nächsten? Nein Danke (1999), Die Tücke des Subjekts (2000), Die gnadenlose Liebe (2001), Die Furcht vor echten Tränen (2001), Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten (2002).
Personenregister
Agamben, Giorgio 74, 81, 92, 99,212 Alter, Jonathan 68 Aly, Göt 9 Appius von Alexandria 157 Arendt, Hannah 13,73,79,81, 86, 93-94, 99, 104-105, 116, 238 Aristoteles 212 Aziz, Tariq 64 Bachelard, Gaston 136 Badiou, Alain 53 Baecker, Dirk 135 Bakunin, Michael 98 Balke, Friedrich 185 Barthes, Roland 58 Bataille, Georges 53 Bauman, Zygmunt 145-147, 150, 152, 204 Beckett, Samuel 227 Bellour, Raymond 57 Bentham, Jeremy 55 Bin Laden, Osama 59, 70, 183, 205 Bismarck, Otto v. 179 Blair, Tony 73, 101-102 Blei, Franz 137 Bloy, Lion 149 Blumenbach, Johann Friedrich 90 Bluntschli, Johann C. 96 Bobbio, Norberto 188 Bodin, Jean 215 Boullainvilliers, Henri 84-85 Brague, Remi 17 Brehm, Alfred Edmund 95 Bruner, Jerome 234 Bibis, Ignatz 237
Buchner, Wilhelm 172 Burke, Kenneth 243 Busch, Moritz 179 Bush, Georg. 65, 71, 183 Canetti, Elias 217 Carrey, Jim 56 Carus, Carl Gustav 90 Chamberlain, Houston S. 90 Chardin, Teilhard de 32 Chruschtschow, Nikita 67 Clausewitz, Carl von 13,24, 79-80, 82-83, 91, 101, 129 Clinton, Bill 62 Coke, Edward 84 Cort6s, Donoso 148 Creveld, Martin van 10 Däubler, Theodor 127,133 Darwin, Charles 31,88, 90-92, 94-95, 97 Deleuze, Gilles 213 Derrida, Jacques 30, 72-73, 136 Dershowitz, Alan 68 Descartes, Rene 228-229 Dicks, Philip K. 56 Dix, Otto 32 Düttmann, Alexander G. 187 Elser, Georg 238 Engels, Friedrich 72 Ewald, Francis 139 Fadejew, Alexander 67 Falwell, Jerry 64 Feuchtwanger, Lion 192 Foucault, Michel 9, 13, 79, 8384, 86-88, 93-94, 99,1 SS-
IS?, 140, 142-143, 159-160, 214-216, 244 Frank, Johann Peter 87 Frank, Manfred 190 Freud, Sigmund 18, 29, 109, 130 Freyer, Hans 80 Freytag, Gustav 173,179 Friedrich II. 161-162 Friedrich Wilhelm III. 177 Gehlen, Arnold 233-234, 245 Geulincx, Arnold 135 Gilman, Sander 194 Girard, Rene 192 Gobineau, Arthur Comte de 79, 90-92 Goebbels, Josef 80 Goethe, Johann Wolfgang von 77 Gossett, Jr. Louis 106 Gray, John 101 Guattari, Felix 213 Gtimbel, Theodor 174 Habermas, Jürgen 60 Hänßler, Ernst 174 Harlan, Veit 191-192 Hartmann, Nicolai 123 Hauff, Wilhelm 192 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 28, 59, 62-63, 72-74, 94, 109-110, 230 Heidegger, Martin 80, 113, 116 Heim, Susanne 9, Heraklit 9,33, Hilberg, Raul 143,150,152 Hobbes, Thomas 9, 11, 39, 78-
253
Personenregister 79, 83, 124, 154, 158,161, 207,210,212,215 Hobsbawm, Eric 99 Hoffmann, Bruce 101 Hölderlin, Friedrich 142 Hussein, Saddam 64 Husserl, Edmund 19,186
Löns, Hermann 214 Lotze, Rudolf Hermann 123 Lübbe, Hermann 234, 238-239 Ludendorff, Erich 80, 82-83 Ludwig XVI. 216 Luhmann, Niklas 210, 234 Lyotard, Jean-Fran^ois 113,122
Innozenz III. 159 Isherwood, Christopher
Mandeville, Jean de 212 Mannheim, Karl 149-150 Marx, Karl 61,85,93-94 Milosevics, Szlobodan 72 Mommsen, Hans 99, 142 Morin, Edgar 12,21,29-30 Münkler, Herfried 188 Musil, Robert 233
56
Jagemann, Ludwig v. 164 Jeismann, Michael 93 Joas, Hans 117 Jünger, Ernst 32, 53, 80, 148150 Justi, Johann Gottlob 87 Kafka, Franz 215,219-220, 226, 228 Kant, Immanuel 29, 41, 47, 110,116,221,224 Karl IV. 158, 162 Karl V. 163 Karl Alexander, Herzog v. Württemberg 192 Keegan, John 29 King, Martin Luther 239 Kohn, Salomon 192 Kornfeld, Paul 192 Koselleck, Reinhart 84, 91, 184, 236 Kristeva, Julia 14, 186-187 Kropotkin, Peter 79,94-98
Napoleon III. 168,176 Neumann, Friedrich 99 Nietzsche, Friedrich 13-14,21, 62,110,112-114,123-125, 128-130, 188,233-234 Oshima, Nagisa 53 Omar, Mullah Mohammad 73 Oppenheimer, Josef Süß 190, 192, 195 Patoöka, Jan 12,21,32-39 Paulus 157 Petersen, Wolfgang 105 Powell, Colin 63 Pynchon, Thomas 217 Quaid, Dennis
Lacan, Jacques 53, 74-75 Laqueur, Walter 101 Leibniz, Gottfried Wilhelm v. 113 Leisegang, Dieter 219-220 Leistner, Ernst 174 Lenin, Wladimir I. 36, 72 Levinas, Emmanuel 8 Lifton, Robert J. 101 Locke, John 109 Löher, Franz v. 172
105
Reeves, Keanu 57 Ricceur, Paul 113 Ritter, Gaston 204 Ritter, Henning 97 Robertson, Pa 64 Rousseau, Jean Jacques 128,233 Rüsen, Jörn 7 Schäffle, Albert
95
28,
Scheler, Max 123 Scherr, Johannes 172 Schiller, Freidrich 207-209,216 Schleichert, Hubert 101 Schmitt, Carl 8,11-15,21, 23-26, 28, 33-34, 36, 43, 7980,91-93,109,116,123,127, 129,133-152,153-154,180, 184-185, 194,210,213, 222226, 229-231,233,236 Schneider, Manfred 184 Schwan, Friedrich 207,215 Seiden, John 84 Shakespeare, William 141 Simmel, Georg 14, 167, 193 Sloterdijk, Peter 57 Smith, Adam 110 Sombart, Werner 193 Spinoza, Benedict 145 Stalin, Josef 67 Stein, Lorenz v. 148 Steiner, Goerge 128 Sulla 156 Swaggart, Jimmy 72 Taylor, Charles 13,114-116 Thomas v. Aquin 203 Thierry, Auguste 85, 90 Tibi, Bassam 101 Valiry, Paul 17, 20 Virchow, Rudolf 96 Voltaire 29 Waldenfels, Bernhard 14, 186, 196, 198 Walser, Martin 234, 237, 239 Weber, Max 13, 30, 51, 98-99, 114, 119-121, 123 Wehler, Hans-Ulrich 80,168 Weir, Peter 56 Werfel, Franz 165 Will, Goerge 60 lizek, Slavoj 103-104,187 Zürn, Unica 221
p e t i1 I Lebensformen im Widerstreit _
Burkhard Liebsch
Zerbrechliche Lebensformen Widerstreit - Differenz - Gewalt 2001. 398 S. - 170 χ 240 mm Gb, € 39,80 ISBN 3-05-003668-0
Zerbrechliche Lebensformen
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JF'S® yjißäim Wir leben in Zeiten beispielloser Vermischung und Verflechtung von Ideen und Kulturen, Denk- und Lebensformen. Daraus resultieren teils Prozesse der Einebnung von Gegensätzen, teils ihrer lebenspraktischen Zuspitzung. Müssen gegensätzliche Formen menschlicher Koexistenz in gewaltförmige radikale Konflikte münden, wenn sich das Gegensätzliche nicht versöhnen oder „aufheben" läßt? Tragische Erfahrungen, aber auch alltägliche Konflikte spotten vielfach der Vorstellung ihrer Aufhebbarkeit, insofern sie uns in praktischen Widerstreit verwickeln, der sich dem Vernunft-Interesse an Versöhnung widersetzt. Das vorliegende Buch ist als ein energischer Einspruch gegen eine umstandslose affirmative Antwort auf diese Problematik gedacht. Eröffnet Widerstreit nicht andere (politische oder ethische) Spielräume des Verhaltens?Vor jeder möglichen Antwort auf diese Frage liegt die fällige Wahrnehmung des Widerstreits. Wie widerfährt er uns „leibhaftig" - in uns selbst, im Verhältnis der Geschlechter, in der Differenz der Anderen? Betrifft er nur verschiedene Lebensformen, oder gehört er konstitutiv zu jeder denkbaren lebenspraktischen Form menschlichen Zusammenlebens?
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