Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge: Band 2 Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung [Reprint 2019 ed.] 9783111507156, 9783111140018

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Table of contents :
VORWORT
Verbesserung
INHALTSVERZEICHNIS
ERSTES BUCH. ENTSTEHUNG UND ERSTE AUSBILDUNGEN DES ENTWICKLUNGSGEDANKENS
Einleitung. Die Geburt der Geschichtsschreibung
Erster Abschnitt: Die großen Ahnenden
Zweiter Abschnitt: Die ersten Vollender
ZWEITES BUCH. DIE GROSSEN GESCHICHTSWERKE DER DEUTSCHEN DES ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERTS
Erster Abschnitt. Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums
Zweiter Abschnitt: Justus Mösers Osnabrükkische Geschichte
Dritter Abschnitt: Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit
Schluß: Die Tragödie eines großen Menschen
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Vom Sein und Erkennen geschichtlicher Dinge: Band 2 Die Meister der entwickelnden Geschichtsforschung [Reprint 2019 ed.]
 9783111507156, 9783111140018

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DIE MEISTER DER ENTWICKELNDEN GESCHICHTSFORSCHUNG VON

KURT B R E Y S I G PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT B E R L I N

WALTER DE G R U Y T E R & CO • B E R L I N

Erschienen 1936 bei M. & H. Marcus, Breslau Druck von C. Schulze & Co., GmbH., Gräfenhainichen

WALDEMAR MITSCHERLICH IN FREUNDSCHAFT UND VEREHRUNG

VORWORT. Wenn diesem Buch

die Aufschrift »Entwickelnde

Ge-

schichtsforschung« gegeben worden ist, so ist darunter im Gegensatz

zur

beschreibenden

Geschichtsdarstellung

die-

jenige Behandlung geschichtlicher Gegenstände gemeint, die nicht von der geschichtlichen Einzeltatsache als solcher ausgeht, sondern von den langen Tatsachenzügen, die, von Zeiten zu Zeiten ziehend, sie untereinander zu Einheiten verbinden und Jahre mit Jahren, Jahrzehnte mit Jahrzehnten zu Ketten zusammenschließen, oder gar aus Abfolgen von Jahrhunderten, von Jahrtausenden ganze Reihen formen wollen.

Der Sinn der entwickelnden

Geschichts-

forschung ist der, den Zusammenhang der Einzeltatsachen aufzuspüren, während die beschreibende sich an der Herstellung eines gesicherten Tatbestandes, einer von Irrtümern gereinigten Überlieferung genügen lassen will. Die Pflichten beider sind im tiefsten verschieden; die Uraufgabe aller Geschichte ist sicher die beschreibende Forschung, und da sie immerdar die gründende bleiben muß, so kann sie allenfalls auch als die einzige für sich bestehen. Das ganze Rund eines vollkommenen Geschichtsbildes, sei es von einer Zeit, einem Volk oder gar von der Geschichte der Menschheit selbst, wird immer nur durch das Zusammenwirken beider zustande kommen.

Denn die Vergangenheit unseres Geschlechts zu

ermitteln und neu aufzuzeichnen, hat Wert, ja Sinn nur dann, wenn die aufgezeichneten Tatsachen den geschilderten Hergängen entsprechen, wenn sie — soweit dies überhaupt im Bereich menschlicher

Geisteskräfte liegt —

Wahrheit

VI

Vorwort.

sind; aber auch das Auf-, In- und Auseinanderwirken zu erforschen ist überall dort, wo unsere Wissenschaft zu ihren Jahren gekommen ist — im Rohen gesprochen seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts — Ziel und Ehrgeiz der meisten hochstrebenden Geschichtsforschung geworden. Der Versuch, der nun in diesem Buch, meines Wissens zum erstenmal, gemacht worden ist, will von diesen beiden Wissenschaftsformen nur die eine, die entwickelnde Geschichtsforschung selbst zum Gegenstand geschichtlicher Behandlung machen. Der Befund der Tatsachen konnte hier nur dazu führen, einen verhältnismäßig einfachen Weg einzuschlagen, den nämlich, die an sich geringe Anzahl der großen Menschen zu überschauen, die das Werk des Geistes, das hier geschildert werden soll, zuerst ins Leben zu rufen und demnächst zu fördern vermocht haben. Von Aristoteles, dem Allumfasser, der wenigstens an einem Punkt hier Hand angelegt hat, als dem Vertreter alteuropäischer Geschichte führt zu Ibn Chaldun, dem genialen Araber, der zuerst unter allen sterblichen Menschen den Sinn einer tiefbohrenden und zugleich weitumspannenden Entwicklungsgeschichte gefaßt hat und der das Insgesamt aller außereuropäischen Völker würdig vertritt, ein oft unterbrochener und doch gerader Weg bis zu Giambattista Vico, der als erster den neueuropäischen Völkern die Botschaft des Entwicklungsgedankens in der Geschichte verkündet hat und der der erste große Ordner und Wegweiser für eine universale Entwicklungsgeschichte geworden ist. Noch während Vico am Werke war, hat dann eine zweite Reihe romanischer Geschichtsforschung eingesetzt, die von Montesquieu ab, Voltaire umfassend und mit Turgot und Condorcet schließend, immer neue Anläufe zu entwickelnder Geschichtsforschung machend, in etwas bei Montesquieu, besonders wenig bei Voltaire, mit großem Erfolg bei Turgot

Vorwort.

VII

und Condorcet dem hohen Ziele sich näherte. Drei von diesen großen Franzosen haben kein Werk ausgeführter Geschichtsdarstellung aufzurichten gewagt; dem einzigen von ihnen, der derartiges unternahm, Voltaire, gelang es durchaus nicht, den entscheidenden Schritt von der beschreibenden zur entwickelnden Geschichtsforschung zurückzulegen. Einen um so größeren Ruhm für Deutschland und seine Rolle in der Geschichte des forscherlichen Geistes bedeutet es, daß sein Eintritt in die Geschichte der entwickelnden Geschichtswissenschaft bezeichnet ist durch das Auftreten von drei Forschern des höchsten Ranges. Bezeichnend für den Anteil nicht nur der deutschen Wissenschaft, nein auch des deutschen Schrifttums an dem Gesamtwerk des europäischen Geistes ist die große Überlegenheit der deutschen Forscher über die Franzosen in Hinsicht auf Ernst und Gründlichkeit ihres forscherlichen Tuns. Mit Vico sollen sie nicht verglichen werden: er steht auf der Stufe des höchsten Ranges universalgeschichtlicher Geistigkeit; den Franzosen aber haben sie insofern den Vorrang abgelaufen, als sie in allen drei Fällen Schriften von werktätiger, voll ausgeführter Geschichtsschreibung schufen: Winckelmann und Moser ganze Segmente von Volksgesohichten umfassend, Herder aber sogar das volle Kreisrund einer Menschheitsgeschichte umgreifend. Ich hoffe, durch diese Blätter auch der weiteren Aufgabe zu nützen, die die Geschichte der Geschichtsschreibung umfaßt. Die Einzelschilderungen, die hier gegeben sind, möchten der Geschichte der großen Geschichtsforschung sehr viel eingehender dienen, als es die Gesamtdarstellungen der Geschichte allgemeiner oder deutscher Geschichtsforschung getan haben. Daran liegt mir um so mehr, als ich seit 1894, seit den Tagen also meiner letzten monographischen Werke zur brandenburgischen Verfassungs- und Verwaltungs-

VIII

Vorwort

geschichte, zum erstenmal wieder ein Buch zur einzelgeschichtlichen Forschung veröffentliche. Man wird gegen ein Buch, wie das hier vorgelegte, einwenden können, daß es für die praktischen Zwecke der noch zu leistenden Geschichtsforschung Vorbilder aufstellt, die zu hoch und zu weit entfernt seien, um auch den Schriften mit minder weit gesteckten Zielen als Muster zu dienen. Doch soll diesem Mangel durch weitere Arbeiten wissenschaftsgeschichtlicher und wissenschaftstheoretischer Art abgeholfen werden. R e h b r ü c k e bei Berlin, den 4. November 1935. KURT BREYSIU.

Verbesserung. S. 17 Z. 17 v. u. lies ist s t a t t

sind

S. 64 Z. 15 v. u. lies ¿/i£&oSoi statt äiie&ödog.

INHALTSVERZEICHNIS E R S T E S BUCH ENTSTEHUNG UND ERSTE AUSBILDUNGEN DES ENTWICKLUNGSGEDANKENS Einleitung: Die Geburt der Geschichtsschreibung

1—9

T r i e b des F e s t h a l t e n s u n d W i e d e r h e r a u f r u f e n s e m p fangener Eindrücke 1 — Mündliche Überlieferung v o n Geschichte — E r s t e s c h r i f t l i c h e F e s t l e g u n g e n : Büffelfelle, W a l a m Olum 3 Fortbildung der S c h r i f t , Satzbilder 4 — Glcichlilufigkeiten zwischen i n d i a n i s c h e r u n d f r ü h - j ü d i s c h e r Geschichtsschreib u n g 5 — E r s t e griechische C h r o n i k e n , zeitliche O r d n u n g der G e s c h i c h t e C — F ö r d e r n d e u n d h e m m e n d e W i r k u n g d e r z e i t l i c h e n A n o r d n u n g 7 — Begriffliche O r d n u n g e n d e r G e s c h i c h t s f o r s c h u n g 8 — Entwickelnde Geschichtsschreibung 9

Erster Abschnitt: D i e

großen

Ahnenden

Erstes Hauptstück: Aristoteles und die tätige Entwicklungsgeschichte

. . 10—40 werk-

Bedürfnis nach konkreten Beispielen; die Zeitordn u n g als s t ü t z e n d e F o r m d e r O r d n u n g 10 — H e m m e n d e E i n w i r k u n g e n der Z e i t o r d n u n g 11 — A r i s t o teles u n d der e r s t e Anlauf zu e n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t licher F o r s c h u n g 12 — Der E n t w i c k l u n g s g e d a n k e bei P i a t o n 13 — A u f s p r u n g einer n e u e n W i s s e n s c h a f t 15 — B r e i t e d e r V o r b e r e i t u n g 16 — A t h e nische V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e 17 — V o l k s g l i e d e r u n g , G r ü n d e des V e r f a s s u n g s b a u s 18 — Die g r o ß e n Verf a s s u n g s ä n d e r u n g e n d u r c h D r a k o n u n d Solon 19 — P a r t e i n a h m e f ü r die D e m o k r a t i e 20 — F o r t s c h r i t t zur e n t w i c k e l n d e n G e s c h i c h t s f o r s c h u n g ; k e i n e N a c h folge 21 — K e i n e b e t o n t geschichtliche A n o r d n u n g 22 — R e i h e n f o l g e d e r S t a a t s f o r m e n , W e r t u n g e n 23

10—24

X

Inhaltsverzeichnis.

Zweites Hauptstück: Ibn Chaldun

24—40

Erstes Stück: Der Aufbau seiner Geschichtslehre 24—33 Geistiger B a n g I b n C h a l d u n s 24 — G e s i n n u n g eines E m p i r i k e r s 25 — U n t e r s c h i c h t b e s c h r e i b e n d e r Geschichtswissenschaft m Ibn Chalduns Gesamtwerk; Ü b e r s p r i n g u n g d e r Z w i s c h e n s c h i c h t einer vergleic h e n d e n U n i v e r s a l g e s c h i c h t e des w e s t ö s t l i c h e n K u l t u r k r e i s e s 26 — Die e i n z e l n e n g r o ß e n E r r u n g e n s c h a f t e n 27 — Die e r s t e n S t u f e n a l t e r : N o m a d e n t u m , städtische Zivilisation, Verfall; S t u f u n g nach G e n e r a t i o n e n , r a s c h e r R h y t h m u s 28 — E m p i r i s c h e Grundlage; Unterschied zwischen I b n Chalduns S t u f e n a l t e r n u n d d e n e n Vicos u n d C o m t e s 29 — S t u f e n g e p r ä g e t r o t z d e m 30 — A b g l e i t e n in d i e m e h r c h r o n o l o g i s c h e T e i l u n g d e r g r o ß e n Z e i t a b s c h n i t t e 31

Zweites Stück: Erste Entwicklungsgedanken . . 33—40 G r o ß e V o r a u s s e t z u n g e n : Gesetze d e s g e s c h i c h t l i c h e n L e b e n s 33 — K a u s a l i t ä t ; F o r d e r u n g l e t z t e r Urs a c h e n a u f s u c h u n g 34 - - V e r h ä l t n i s z u r V o r a u s b e S t i m m u n g d e r Z u k u n f t 35 -- A n t h r o p o g e o g r a p l n e : K l i m a , B o d e n b e s c h a f f e n h e i t , B a s s e 36 — Ö k o n o m i s m u s u n d M a t e r i a l i s m u s als v e r m i e d e n e F e h l e r ; N o i n a d e n t u m u n d Z i v i l i s a t i o n 37 — Ü b e r l e g e n h e i t d e r Geschichtslehre von I b n Chaldun über die von Karl M a r x ; I b n C h a l d u n s E n t s c h e i d u n g f ü r d i e Mehrf a l t i g k e i t d e r E n t w i c k l u n g s r e i h e n des g e s c h i c h t lichen L e b e n s 38 — Die S p r u n g h a f t i g k e i t v o n I b n C h a l d u n s F o r s c h e r p h a n t a s i e ; d i e Mängel seiner E m p i r i e 39 — I b n C h a l d u n s geistiger B a n g 40

Zweiter Abschnitt: D i e e r s t e n V o l l e n d e r .

. . 41—137

Erstes Hauptstück: Vico

41—60

Erstes Stück: Der Gedankenbau seiner Lehre . 41—49 A r i s t o t e l e s , I b n C h a l d u n , Vico 41 — I b n C h a l d u n ähnliche s p r u n g h a f t e Forscherphantasie, tiefer Unt e r s c h i e d d e r m e t a p h y s i s c h e n G r u n d g e s i n n u n g 42 — Vicos M e t a p h y s i k ; d i e A n m a ß u n g e n d e r M c t a -

Inhaltsverzeichnis.

XI

p h y s i k 43 — V'icos S e t z u n g e n - i m - V o r a u s : der G o t t e s g e d a n k e als A u s g a n g s p u n k t ; m e t a p h y s i s c h e Fehlschlüsse; anthropologische Wahrscheinlichkeit 44 — K i r c h l i c h e u n d p l a t o n i s c h e E i n w i r k u n g e n ; Vicos e m p i r i s c h e G e s c h i c h t s f o r s c h u n g ; W e r k e des Übergangs und der reinen Erfahrungswissenschaft 45 — A b g r e n z u n g s c h w i e r i g u n d v e r w i s c h t ; E i n teilung der Entwicklungsreihen i m Querschnitt; L ä n g s s c h n i t t e ; drei E n t w i c k l u n g s s t u f e n 46 — Verw a n d t s c h a f t m i t C o m t e 47 — P a r a l l e h s m u s z w i s c h e n a l t - u n d n e u e u r o p ä i s c h e r G e s c h i c h t e 48 — Die ges c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e E l e m e n t a r e r k e n n t n i s Vic o s : d i e E n t w i c k l u n g s r e i h e als solche 49

Zweites Stück: Geschichtliches Handeln und geschichtliches Denken . . . . . . . 49—60 Vicos V e r h ä l t n i s z u r t h e o r e t i s c h e n u n d p r a k t i s c h e n E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e 49 -- Die I d e n t i t ä t des geschichtlichen Denkens mit dem geschichtlichen H a n d e l n öO — Vico als P l a n e r u n d E r f u i l e r v o n E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e 51 -- F e h l e n j e d e r Selbst vei'kundung m Sachen der Geschichtsforschung, V o r h e r r s c h a f t v o n Vicos G r u n d g e d a n k e n v o n d e r I d e n t i t ä t 52 - Die R e g e l n des Drei S t a d i e n Gesetzes 53 — Die Quer- u n d L ä n g s s c h n i t t s p a l t u n g e n der zwei S i e b e n t e i l u n g e n 54 — Gesetz d e r Corsi e R i c o r s i ; die r ö m i s c h italienische Goschichte als e i n h e i t l i c h e r Verlauf 55 - Vicos S c h a r f b l i c k i n d e r A u f d e c k u n g des U n t e r s c h i e d e s zwischen a l t - u n d n e u e u r o p ä i s c h e r G e s c h i c h t e ; m e h r teleologische als k a u s a l i s t i s c h e N e i g u n g e n 56 — E n t w i c k l u n g s g e s c h w i n d i g k e i t , G r i e c h e n l a n d u n d R o m 57 — Ber ü h r u n g Vicos m i t d e n G e d a n k e n d e r E n t w i c k l u n g s r i c h t u n g u n d d e r E n t w i c k l u n g s g e s c h w i n d i g k e i t 58 — D a s F o r s c h e r s c h i c k s a l Vicos 59

Zweites Hauptstück: Vorläufer

Montesquieu

und seine

Macchiavelli a l s N a c h a h m e r des P o l y b i o s 60 Reihe der Stufenalter der Verfassungsgeschichte, S i n n d e u t u n g 61 — Die Rolle d e r V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e m d e r E n t w i c k l u n g d e r Geschichtsschrei-

60—69

XII

Inhaltsverzeichnis. bung 62 — J e a n Bodin 63 — Montesquieus Betrachtungen und die erfahrungswissenschaftliche Geschichtslehre 64 — Ursachen des Aufstiegs der R ö m e r : Kriegskunst, Bodenbesitzverteilung, Stand haftigkeit 65 — Auswärtige Staatskunst 66 — Allgemeine Fehler Montesquieus: irrige Zerspaltungen des Gesamtgeschehens 67 — Fehlen von Querschnitt Verbindungen 68

Drittes Hauptstück: Voltaire

69—84

Erstes Stück: Siècle de Louis XIV

69—72

Stärkegrad der neuen Leistungen; werktätige Ausführung 69 — Voltaires T h e m a : nicht die Taten der Könige, sondern der Geist der Menschen in dem geschilderten Jahrhundert 70 — Erste Querschnitte, keimhafte Längsschnitte 71

Zweites Stück : Essai sur les mœurs et l'esprit des nations 72—84 Pläne und Versuche einer Universalgeschichte 72 — Sachliche und wissenschaftliche Gesinnung 73 — Mißverstände im Entwicklungssinne 74 — Synchronistisches Zusammensehen 76 — Übergang zu beschreibender Weise 77 — K a r l der Große als Deutscher betrachtet 78 — Entwicklungsgeschichtliche Einzeltatsachen 79 — Ausblick auf die spätere Darstellung, Überwiegen einer Auslese deskriptiver Tatsachen 80 — Ausdehnung im Querschnitt: außergermanische und außereuropäische Völker; Mängel im Sinne innerer UnVollständigkeit 81 — Fehler des geschichtlichen Sehens: Luther 82 — Parteinahme gegen jede Unterdrückung der niederen Stände 83

Viertes Hauptstück: Turgot Erstes Stück: Die Leistungen Turgots Drei Sendungen Turgots 84 — Turgots Wissenschaft : Geschichtslehre 85 — Der Unterschied zwischen Physik und Geschichte 86 — Fortschritt und Leidenschaften bei Turgot und Hegel 87 — Der Ver voll kommnungsgedanke 88 — Wirtschaftsstufen und

84—103 84—92

xni

Inhaltsverzeichnis. Tier bestände 89 — Wirtschaftsgeschichtliche Irrtümer; Formenskizze der Staatenbildung 90 — Entwicklungsbeobachtungen 91

Zweites Stück: Kritik Turgots

92—103

Die Fortschritte des Geistes 92 — Talent und Genie bei den Völkern 93 — Die Verschiedenheit der E n t wicklungsgoschwindigkeiten als höchste Formel für alle Entwicklungsgeschichte 94 — Irrtümer Turgots in Hinsicht auf den Zusammenhang von Klima und Geschichte 95 — Sprachen 97 — Wechsel von Fortschritt und Niedergang; Irrtümer als Förderer der Wahrheit 98 — Drei Stufen des Weltgeschehens zwischen Menschen; die Urzeit als Zeitalter der Gottesmacht 99 — Philosophischer R a t i o nalismus als Charakterzug des zweiten, technischmechanische Haltung als Charakter des dritten Zeitalters 100 — Allzu soziologisch-machtmäßige Beurteilung der Urzeit 101 — Gründe für Turgots Verfahren; das zweite Entwicklungszeitalter: Metaphysik; Ergänzungen 102 — Das dritte, das mechanischphysikalische Alter 103

Fünftes Hauptstück: Condorcet

104—137

Erstes Stück: Der Optimismus Condorcets . . 104—113 Stellung Condorcets in der Wissenschaftsgeschichte 104 — Geistiger Entwicklungsgang Condorcets 105 — Der Fortschritt der Menschheit als Prinzip ihrer Geschichte 106 — Die Notwendigkeit der Zerlegung des Einzelmenschen in Seelenkräfte und so der Geschichte in Seelenkraftreihen 107 — Zeitbestimmtheit Condorcets 108 — Inhalt und Grenzen des menschlichen Fortschritts; Condorcets Optimismus, Burckhardts K r i t i k 109 — Der Gedanke der Vervollkommnung 110 — Möglichkeit einer entgegengesetzten, pessimistischen Geschichtssicht; Vernichtung von Volkspersönlichkeiten 111 — Gewaltsame und kulturelle Überwältigungen 112

Zweites Stück: Der Begriffsbau Condorcets Abgrenzung von Formen der Geschichtslehre 113 — Abwendung von der Philosophie 115 — E n t -

113—122

XIV

Inhaltsverzeichnis. stehung der Sprachen 116 — Schwierige Wahl für eine generelle Linie, die alle Volksgeschichte in sich vereinigen soll 117 — Lehre von den Irrtümern der Menschheit; Übergang der Hirtenvölker zum Ackerbau ? 118 — Das Verharren der frühesten Völker auf niederen Stufen; dritte Geschichtsschicht: Kulturfortschritte der Ackerbau Völker 120 — Geringe Berücksichtigung der Schöpfung der starken Königsherrschaft 121

Drittes Stück: Die vierte bis achte Epoche . . 122—130 Ubergang zur Gruppe der europäischen Völker 122 — Zusammenschluß und Vereinheitlichung der griechischen Kulturäußerungen 123 — Die fünfte Epoche, von Alexander bis zur Spaltung der Wissenschaften 124 — Die sechste Epoche, vom Zusammenbruch des Geistes bis zu semer Wiederherstellung zur Zeit der Kreuzzuge 125 — Ungunstiges Urteil über das Mittelalter 126 — Entwickelnde Geschichtsforschung ? 127 — Die siebente Epoche, bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst 128 — Wertschätzung der Buchdruckerkunst 129 — Reformation und Religionskriege 130

Viertes Stück: Von Descartes bis zur Revolution 130—137 Philosophie und Staatsverfassung 130 — Fortschritte der Philosophie 131 — Der Grundbegriff der Perfektibilität 132 — Mathematik und Naturwissenschaften als Grundlagen auch der Politik und Moral 133 — Individual- und Kollektivgeschichte 13-1 -Tatsachenbericht und Beobachtungen 135 — Menschen- und Sachkultur; drei Hoffnungen 136 — Demokratische Forderungen 137

Z W E I T E S BUCH DIE GROSSEN GESCHICHTSWERKE DER DEUTSCHEN DES ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERTS Erster Abschnitt: W i n c k e l m a n n s G e s c h i c h t e der K u n s t des A l t e r t u m s 138—166 Erstes Stück: Winckelmanns Kunstwissenschaft 138—148 Der Anteil des deutschen Geistes an der entwickelnden Geschichtswissenschaft; Paarung tiefer Begriff-

Inhaltsverzeichnis.

XV

lichkeit m i t hingegebener Geschichtstreue 138 — Winckelmann 139 — Zwei A n g r i f f s p u n k t e : keine chronologische, also keine d e s k r i p t i v e A n o r d n u n g , sondern ein L e h r g e b ä u d e 140 — E x a k t h e i t der empirischen Grundlage ; kunstwissenschaftliche D a r legung 141 — T ü r m u n g i m m e r neuer Setzungenim-Voraus a u f e i n a n d e r ; U m g r e n z u n g f ü r d e n Begriff der Schönheit 142 — R u h m dieser Begriffsumgrenzung 143 — Die F o r d e r u n g der Unbezeichn u n g 144 — B e w i r k u n g v o n K u n s t u n d L e b e n 145 — Die N a c h w i r k u n g e n v o n W i n c k e l m a n n s K u n s t lehre: Schick; der W o r t f ü h r e r einer K u n s t p a r t e i 146 — W e r t des Klassizismus in der Folge der K u n s t a l t e r ; d a s v e r s ü ß t e u n d v e r g l ä t t e t e Bild der A n t i k e 147 — R e c h t W i n c k e l m a n n s auf seineZeitbeschränktheit 148

Zweites Stück : Winckelmanns entwicklungsgeschichtliche Forschungsweise 149—156 Winckelmanns Hintergrundsschilderung: d i e Ä g y p t e r , Allgemeines, K u n s t 149 — Die Gründe des Vorrangs der griechischen K u n s t 150 — W i n c k e l m a n n der Hohepriester der Schönheit; W a c h s t u m u n d F a l l der griechischen K u n s t 151 — Vier Stile: der älteste Stil; völlige U m d r e h u n g des Urteils seit Winckelm a n n s Tagen 152 — Der Ü b e r g a n g v o m h o h e n z u m schönen Stil 153 — I n n e r e Merkmale des Gesinnungswandels v o m älteren z u m großen Stil 154 — Größe des zweiten Stiles ? Verfall der K u n s t 155

Drittes Stück : Die Gesamtleistung von Winckelmanns Werk 156—166 E r n s t e Wissenschaftlichkeit, entwicklungsgeschichtliche R i c h t u n g 156 — Begrifflicher Querschnitt, doch n i c h t ein Lehrgebäude der K u n s t w i s s e n s c h a f t 157 — Der P l a n der Querschnittteilung als geistige T a t ; die E n t w i c k l u n g im L ä n g s s c h n i t t 158 — Koll e k t i v u m u n d Einzelner als Träger der Entwickl u n g ; Technik der entwickelnden Geschichtsforschung i m L ä n g s s c h n i t t 159 — Maß der L e i s t u n g ; Vergleich m i t der Schrifttumsgeschichte 160 — F o r t s c h r i t t e der Kunstgeschichte seit W i n c k e l m a n n :

XVI

Inhaltsverzeichnis. Wölfflin 161 — Alt- u n d neueuropäische Vergleiche 162 — Bewirkung d u r c h die N a t u r f o r s c h u n g : B u f f o n 164 — Goethes Urteil über W i n c k e l m a n n 165

Zweiter Abschnitt: J u s t u s Mösers Osnabrükkische G e s c h i c h t e 166—191 Erstes Stück: Die Zeitalter der Gemeinfreien und des Heerbanns in der deutschen Geschichte . 166—177 Winckelmann u n d Moser: Gemeinsames u n d E n t gegengesetztes 166 — E r s t e Querschnittteilungen in den Einleitungen zur Osnabrückischen Geschichte 167 — F ü h l u n g n a h m e mit allen Bezirken des geschichtlichen Lebens 168 — Längsschnittordnungen 169 — Die große Losung f ü r die Gesamteinheit der deutschen Geschichte; Sinn dieser Vereinheitlichung 170 — B e d e u t u n g f ü r den Entwicklungsgedanken; Z u s a m m e n h a n g von Mösers Entwicklungsgedanken m i t seiner Liebe zum B a u e r n s t a n d 171 — Die güldne Zeit bis zu K a r l d e m Großen; das seelischgeistige Gepräge von Mösers Urzeitbild 172 — Mösers dichterische Auffassung der Ganzheit der deutschen Geschichte; der zweite Z e i t r a u m von Ludwig d e m F r o m m e n bis zum I n t e r r e g n u m 173 — Das Verhältnis zwischen K a i s e r t u m u n d Bauernt u m 174 — Vergleiche zwischen Mösers entwickelnder Geschichtsforschung u n d der beschreibenden bis zu Giesebrecht 175 — Standes- mehr als staatsgeschichtliche D e u t u n g der Umwälzungen der Neuer e n Zeit 176 — Moser u n d K a r l Wilhelm Nitzsch 177

Zweites Stück: Der Untergang von Eigentum und Ehre der Gemeinfreien in der neueren Zeit 178—191 D r i t t e r Z e i t r a u m : v o m I n t e r r e g n u m bis zum 15. J a h r h u n d e r t ; Verlust a n E h r e u n d F r e i h e i t ; Gegensatz zwischen Gemeinfreien u n d B ü r g e r n : die Ehre 178 — Die Freiheit u n d der a n ihr erlittene Verlust; möglicher Weg des B ü r g e r t u m s 179 — Mösers politische Gedanken 180 — Sein innerer Nationalismus 181 — Mösers Stellung zum politischen Leben seiner Gegenwart 182 — Die gegenwärtig verwirklichte Möglichkeit: die Landeshoheit der F ü r s t e n ; Verlust-

Inhaltsverzeichnis.

XVII

rechiiung f ü r den Vergleich auch noch der Gegenw a r t m i t der Urzeit 183 — Möglichkeiten der nordgermanischen E n t w i c k l u n g ; Mosers Geschichtsurteil u n d Mosers Geschichtsträume 184 — Beurteilung der neuzeitlichen Umwälzungen 185 — Die Möglichkeiten der R e f o r m a t i o n als politischer Bewegung; Mosers Anteil a n Territorial- u n d Nationalgeschichte 186 — Die innere Verbindung zwischen Mosers beiden Geschichtsbestrebungen 187 — Mängel des W e r k s : Torso, Zwiespältigkeit; entwickelnde u n d beschreibende Abschnitte 188 — E i n z e l t a t s a c h e n : H i n r i c h t u n g von 4500 Sachsen 189 — W i d u k i n d 190 — Goethe über Moser; Moser über sich selbst 191

Dritter Abschnitt: H e r d e r s I d e e n zur P h i l o s o p h i e der G e s c h i c h t e der M e n s c h h e i t 192—267 Erstes Stück: Gott, Vorsehung, Natur, Organische Kräfte 192—207 H e r d e r s historischer Sinn; Sammlung der Volkslieder 192 — Auch eine Philosophie der Geschichte 193 — Die oberste Absicht der I d e e n : die Ganzheit der Menschheitsgeschichte 194 — K a n t s Rezensionen 195 — Die die Menschheit lenkenden Gewalten: der persönliche Gott 196 — Keine einheitliche Lehrmeinung 197 — Der Begriff der Vorsehung 198 — Doppelte B e d e u t u n g des Begriffs Vorsehung 199 — Der Begriff N a t u r in Synthese m i t d e m Begriff Gott 200 — Versachlichung nicht Symbolik des Naturbegriffs 201 — Herders wechselndes Verhältnis zur Metaphysik 202 — Teleologische Deutungen 203 — H e r d e r als Absichtendichter 204 — Abwandlungen der Zwecke 205 — Die organischen K r ä f t e 206 — Stärken der naturwissenschaftlichen, Schwächen der erkenntniswissenschaftlichen Deutung 207

Zweites Stück: Entwicklungsgeschichte als Tat 208—216 Vorzüge u n d Mängel eines Überblicks über die Weltsicht H e r d e r s ; Abgrenzung u n d Gesamtabsicht des Werkes 208 — Metaphysische u n d überwiegend erfahrungswissenschaftliche Einzelheiten 209 — Besondere Werdegänge u n d allgemeine Regeln des B r e y e l l ? , Meister der Geschichtsforschung.

II

XVIII

Inhaltsverzeichnis

W e r d e n s 210 — E r k e n n t n i s der Schranken der Wissenschaft 211 — Vergleich über weite Zwischengebiete f o r t ; Vorzüge u n d Mängel von Herders Verbindungen zwischen außermenschlichen u n d menschlichen Organisationen 212 — Gesellschaftswissenschaftliche Vorahnungen Herders 213 — Anthropogeographische Vorbereitungen; geringerer Einfluß der materiellen, höherer der geistigen Vorbedingungen 214 — Gesellschaftswissenschaftliche Nebene r t r ä g e : N a c h a h m u n g , Gewohnheit, Überlieferung 216

Drittes Stück: Asiatische Kulturen

217—-227

Kein Rückblick auf die Urzeit, keine Stufenalter 217 — Chronologische Ordnung, Vorwegnahme von Mittel- u n d Hinterasien 218 — Kein tieferes Eindringen in Staats- oder Kulturgeschichte Chinas 219 — Tibet u n d der B u d d h i s m u s 220 — Vorderer Orient, Kurzlebigkeit seiner Reiche, Gipfelleistungen seiner K u l t u r 221 — Babylonier, P e r s e r ; Geschichte des jüdischen Glaubens 222 — Moses 223 — Geist u n d W i r t s c h a f t der J u d e n 224 — Die politische Tragödie des J u d e n t u m s 226 — Geohistorische Zus a m m e n h ä n g e 226

Viertes Stück: Die Alten Griechen: Sprache, Mythos 227 — Bildende K ü n s t e ; Sitten u n d Sittlichkeit; Staats- und Staatenbildung 228 — Vorzug der R e p u b l i k e n 229 — Die großen S t a a t s f ü h r e r ; ihre Trauer 230 — S p a r t a u n d A t h e n ; P a t r i o t i s m u s u n d H u m a n i t ä t 231 — Beredsamkeit u n d Theater 232 — Versagen gegenüber der griechischen Wissenschaft 233 — Äußere Staatsgeschichte 234 — Die griechische Geschichte in der Ganzheit ihres Entwicklungslaufes 235 — N a t ü r liches oder gewaltsames E n d e der griechischen E n t wicklung ? 236 — Völkerverbindungen; Blüte u n d Verfall der K u l t u r e n ; ungerechtfertigte Verallgemeinerung der Verfallsregel 237 — Die Etrusker 238 — Der Kriegergeist der Römer als Großmut u n d Insolenz 239 — Die Auswirkungen des Römergeistes; K a r t h a g o 240 — Menschheitliche Sichten auf die K ä m p f e der R ö m e r ; Verderbung Griechen-

227—245

XIX

Inhaltsverzeichnis. lands 241 — Verwüstungen in W e s t e u r o p a 242 — L e h r e n der römischen Geschichte; R u h m der R ö m e r : Geschichtsschreibung, Beredsamkeit, Theorie der Kriegskunst 243 — Verurteilung des Anteils der R ö m e r an d e m Insgesamt der Menschheitsgeschichte; E n d z i e l : die Herstellung einer Ganzheit, also einer E n t w i c k l u n g in der Menschheitsgeschichte 244

Fünftes Stück: Zweck der Geschichte: Humanität, Vernunft 245—254 H u m a n i t ä t als Zweck der Menschheitsgeschichte 245 — / w e c k , H u m a n i t ä t , V e r n u n f t 246 — Zeitbedingte Bewertung von T r a d i t i o n u n d Despotismus 247 — Eine allgemeine B e t r a c h t u n g über den Sinn der Geschichte; Pessimismus u n d Optimismus in Herders Seele 248 — Endgültige Entscheidungen aus entgegengesetzten S t i m m u n g e n h e r a u s ; E n t gleisung im Dienst des Entwicklungsgedankens 250 — Das oberste Gesetz der Ordnung im anorganischen, organiach-biischen a n d inensuhheitlichen R e i c h ; optimistische Grundauffassung des Aufstiegs der Geschichte 251 — Steigerung der Vers t a n d e s k r ä f t e 252 — V e r k e t t u n g der Zeiten u n d ihre k u m u l a t i v e W i r k u n g 253 — Kulturerweiter u n g e n 254

Sechstes Stück: Neueuropäische Wachstümer . 255—264 Der neueuropäische Völkerkreis; die deutschen Völker 255 — J e s u s ' Lehre; K r i t i k des Christent u m s 256 — Tadel u n d Tadelsucht gegenüber d e m C h r i s t e n t u m 257 — H e r d e r s Mißgriffe in der Beurteilung des Mittelalters 258 — F o r m u n g e n u n d Umf o r m u n g e n des C h r i s t e n t u m s ; christliches u n d germanisches Geschehen 259 — Die Verwüstungen a n den Volkssprachen durch die lateinische Kirchenu n d U r k u n d e n s p r a c h e 260 — Einzelne K u l t u r v e r luste 261 — Die Araber 262 — Die Kreuzzüge u n d ihre geistigen Mängel 263 — I n n e r e Vollständigkeit des Werkes bei äußerer Unvollständigkeit 264

Schluß: Die Tragödie eines großen Menschen . 265—267 H e r d e r s Nichtvollenden; dramatische Dichtungen 265 - Letzte J a h r e 266 — Die Gesamtleistung 267. II*

ERSTES BUCH.

ENTSTEHUNG UND ERSTE AUSBILDUNGEN DES ENTWICKLUNGSGEDANKENS. Einleitung. D i e G e b u r t der

Geschichtsschreibung.

Es muß in der menschlichen Seele ein Urtrieb vorhanden sein, der sie bewegt, ihre Erlebnisse sich in das Gedächtnis zurückzurufen. Dieser Trieb kann kein anderes Ziel haben, als die Eindrücke, die das von uns gelebte Leben in uns zurückläßt, über die ihnen an sich beschiedene Zeit hinaus festzuhalten, d. h. durch künstliche Wiederholung zu erneuern. Sehr stark ist dieser Antrieb bei uns sehr schauderhaften oder auch nur peinlichen Eindrücken. Weniger stark wirken die sehr erfreulichen Erlebnisse auf uns ein; die Bewirkungen gleichgültiger Art üben diesen Einfluß im geringsten Maße aus; zu ihnen gehören vornehmlich die häufig sich wiederholenden Eindrücke. Die seelische Ursache für dieses Geschehen ist ersichtlich tiefer: die Eindrücke von traurigen, schmerzhaften Erlebnissen wirken auf uns so nachdrücklich ein, daß ohne, ja selbst gegen unseren Willen sie sich wiederholen. Freudige Erlebnisse werden über den ersten Eindruck hinaus noch absichtlich erneuert, um diese Freude zu verlängern, zu wiederholen. Viele Formen der Gedächtniserneuerung sind unwillkürlich. Im weiteren Verlauf des Lebens der Menschheit ist dies Geschehen ein willkürlich herbeigeführtes und als solches ein wiederholtes, gewohntes Tun geworden. Lange Zeiträume hindurch muß der Mensch sich haben genügen lassen, diese Gedächtniserneuerung mündlich zu vollziehen: am meisten sicherlich in der Form der ErB r e y a i g , Meister der GeBchiohtsforschung.

}

2

Die Geburt der Geschichtsschreibung.

Zählung, der Märe, wie unsere Vorfahren sagten. Sehr frühzeitig mögen sich weitere Lebenszwecke mit dieser an sich absichtsvollen Übung einer Aufbewahrung von Erlebnisbildern verbunden haben. Die Erneuerung der Erinnerung an den gewaltsam von einem Feind herbeigeführten Tod eines Nahe-Yerwandten kann den Zweck haben, den Wunsch nach Rache an dem Mörder wach zu erhalten, oder die Freude an einem glücklichen Ereignis, etwa an einem über den Feind errungenen Sieg, kann so groß sein, daß man sie beständig, etwa am Jahrestag dieses Geschehens, etwa in Gestalt einer Feier zu erneuern trachtet. Das Gedächtnis sehr junger Völker ist so stark und so frisch, daß sie die Erzählungen, die man aus solchen Ursachen herzusagen pflegte, mühelos in ihrem genauen Wortlaut festzuhalten vermochten. Vers und Gesang, dazu begleitendes Spiel mögen dazu beigetragen haben. Die Hersagungen zu anderen Lebenszwecken: Strophen von Festgesängen, Stellen aus Gesetzen, Stücke aus Märchen und Mythen haben sich angeschlossen — Geschichte waren oder wurden im Grunde auch sie. Am deutlichsten wird der Übergang von festlichen Hersagungen zu wahrer Geschichte etwa durch die Gestaltung von Staatsfesten bei höchstentwickelten Urzeitvölkern, wie bei den Irokesen. Bei ihnen wurde besonders die Geschichte der Begründung des Fünf-Stämmebundes in einem ein für allemal festgelegten Wortlaut erzählt. Dazu aber fügte man auch die Schilderung der Taten der Irokesen bis zum letzten Jahre 1 . Eine begrifflich faßbare Unterscheidung zwischen einer solchen mündlich überlieferten und einer geschriebenen Geschichte wird man nicht auffinden können — die von Turgot und Condorcet2 bis zu Ranke3 x) Morgan, League of the Ho-dé-no-sau-nee or Iroquois I (1904) 114f.; ferner Ancient Society (1907) 142f. 2) Turgot, Plan de Deux Discours sur l'Histoire Universelle (Oeuvres I [1913J 277), Condorcet, Esquisse d'un Tableau Historique des Progrès de l'Esprit Humain ( 2 1792) 13f. 3) Ranke, Weltgeschichte 2 I I S . III.

Mündliche und erste Schrift-Überlieferung von Geschichte.

3

immer wiederholte Behauptung, erst mit der schriftlich niedergelegten Geschichte — historia — fange die Geschichte im Tatsinne — res gestae — an, ist denkbar falsch. Immerhin besteht kein Zweifel daran, daß die schriftliche Festlegung der Überlieferung von Taten, Gesetzen, Gesängen das Wachstum von Geschichte im Sinne von historia ganz außerordentlich befördert hat. Die seelischen Ursachen für die Aufbewahrung des Gedächtnisses von Erlebnissen aber bleiben fürs erste dieselben. In den allerersten Anfängen kann man dies innere Geschehen z. B. an jenen Büffelfellen beobachten, auf denen nordostamerikanische Indianer, etwa vom Stamme der Dakota, in mehreren Generationen siebzig Jahre lang Jahr für Jahr je ein denkwürdiges Ereignis aufgezeichnet haben: sei es eine Sonnenfinsternis, seien es Epidemien — Pocken, Masern, Keuchhusten — oder aber auch glückliche Ereignisse: so ein Jahr von besonders großer Büffelfülle, dann wieder ein Bild, das zeigt, wie die Dakota oder eine ihrer Völkerschaften den Reigen der befiederten Pfeile tanzt, d. h. zu Felde zieht. Dabei werden auch Ereignisse aufgezeichnet, die uns als außerordentlich unbedeutend erscheinen: so daß dem Dakota Zwei Pfeile von einem weißen Händler ein Kriegsanzug für seine Tapferkeit geschenkt worden ist. Die Chronik eines solchen Büffelfelles umfaßt eine lange Jahrzehntereihe; eine ihresgleichen reicht von 1786 bis 1877 1 . Von diesen ersten Erzeugnissen noch recht keimhafter Art war der Weg nicht mehr weit bis zu einem Werk, das in seiner Art vollendet und vielleicht das höchste ist, das Völker der roten Rasse, wenn nicht aller Urzeit überhaupt, hervorgebracht haben; es ist das Walam Olum, die Welt- und Stammeschronik der Delawaren. Sie ragt in jedem Betracht weit über jene Büffelfellaufzeichnungen hinaus, schon darum, weil eine wirkliche Geschichte der eigenen Völkerschaft gegeben wird, eine Geschichte, die noch dazu nach Weise ') Vgl. Die Ursprünge der Geschichtsschreibung Rundschau X V I I I [1909] 355f.).

(Österreich. 1*

4

Die Geburt der Geschichtsschreibung.

der Urzeitvölker die eigene Blutsgemeinschaft mit dem Menschengeschlecht gleichsetzt — sie erzählen, ganz wie die uns nächste Urzeitsage, die Genesis, vom eigenen Volk, als sei es ein und dasselbe mit der Menschheit selbst. Zugleich aber wächst die Geschichte der Anfänge wieder von Volk und Menschheit zusammen mit der heiligen Sage, mit dem Schicksal der Geister und der aus ihnen emporwachsenden Götter. Die Irokesen, die nächsten Nachbarn, doch freilich die härtesten Feinde der Delawaren, haben diese heilige Urgeschichte in allen Stadien vom Weißen Hund bis zu Hawenn^yu, dem Herrschergott, den die alten Geister nur wie ein Chor von Dienenden umgeben, ausgebildet. Die Delawaren aber lassen ihr Walam Olum von einer Geisterschicht mit Drachenkampf und Sintflut aufsteigen zu einer schon ganz geschichtlich anmutenden Wandersage, und wenn deren Ziel, die gegenwärtigen Sitze des Stammes, erreicht ist, dann setzt eine Liste von Häuptlingen, in der jedem Namen eine kürzeste Kennzeichnung seiner hauptsächlichsten Tat beigegeben ist, das Werk fort und führt es seinem Ende, dem Erscheinen der Weißen, zu. Man kann ihre Regierungszeit, vergleichbar mit der der Päpste, auf allenfalls vierhundert Jahre schätzen: von 1725 — in welches Jahr ungefähr ihr Endpunkt verlegt werden mag—rückwärts gerechnet. 1733 ist das Walam Olum, in Satzbilderschrift aufgezeichnet, aufgefunden. Die Schrift ist selbst bei diesen Indianern schon der getreue Träger der geschichtlichen Aufzeichnungen: die Satzbilder, schon eine Konventionalisierung, eine geprägte Übereinkunft beständiger oder doch halbbeständiger Schriftbilder, sind die Form, in der das Walam Olum aufgeschrieben worden ist. Und es ist ein höchst wertvoller Beweis für die verwandtschaftsartige Fortbildung beider Besitztümer des Geistes, daß sich bei sehr verschiedenen Zweigen des Stammbaums der Menschheit ganz ähnliche Entwicklungsabschnitte der Fortbildung finden 1 . Die nordostamerikanische Schriftx ) Vgl. Die Entstehung der Schrift. Vossiache Zeitung (1907) 13., 14. September.

Fortbildung der Schrift; Gleichläufigkeiten der Entwicklungen.

5

entwicklung, die von freier zu konventioneller Bilderschrift, zu Satzbildern fortschreitet, hat ein ganz gleichläufiges Seitenstück in dem Verlauf der Entwicklung der sumerischen Schrift von freier Bilderschrift zu der schon völlig konventionalisierten Keilschrift, ebenso in dem Werdegang der ägyptischen Schrift vom freien Bildzeichen zur konventionalisierten Zeichen-, zur Wortschrift, endlich zur Buchstabenschrift hin1. Die chinesische Schrift ist schon am Ende des zweiten Jahrtausends bei der Wortschrift, d. h. also einem verhältnismäßig hohen Erzeugnis der Schriftentwicklung, der Ebene der hochentwickelten Hieroglyphenschrift der Ägypter entsprechend, angekommen. Noch weiter ist die hebräische Schrift entwickelt; sie ist schon um 1000 vor Beginn unserer Zeitrechnung bei einer Buchstabenschrift angelangt. Wollte man den Stammbaum der Entfaltung der Geschichtsschreibung aufstellen, so würde man vermutlich einem ähnlich angeordneten, nur etwas weniger ausführlich gegliederten Wachstum begegnen. Wo immer man diesen Dingen nachgeht, finden sich über blutmäßig sehr weit voneinander entfernte Zweige des Menschengeschlechts fort die augenfälligsten Ähnlichkeiten. Zwischen dem Walam Olum der Delawaren und anderen Ursagen der Algonkin und der Genesis der frühen Juden lassen sich Gleichläufigkeiten nachweisen, die von schlagender Kraft sind. Vor allem ist die Verflechtung von heiliger mit profaner Sage in beiden Fällen die gleiche; ferner sind sachlich Heilbringer, Sintflut, Drachenkämpf, d. h. also die wichtigsten Urbestandteile der Heilbringersage, in beiden Überlieferungen zu finden, oft bis zur sinnfälligsten Übereinstimmung: so zwischen dem Floß des Großen Hasen und der Arche Noahs, beide mit allen Tieren beladen, zwischen der dreimal ausgesandten Moschusratte des Großen Hasen und der ebenso oft ausgeschickten Taube des Noah2; endlich der Übergang von der heiligen zur pro') Erman, Die Hieroglyphen (1917) 38. *) Vgl. Die Entstehung des Gottesgedankens und der Heilbringer (1905) 25; ferner Brinton, American Hero-Myths (1882) 40.

6

Die Geburt der Geschichtsschreibung.

fanen Sage, in der selbst die Häuptlingslisten der Delawaren sehr wohl mit denen der Volksführer in dem Buch Josua, dem Buch der Richter, den Büchern Samuels und den Büchern der Könige verglichen werden können. Wenn es sich um jene frühesten Stufen der Entwicklung der heiligen Sage zur Geschichte hin handelt, sind die Götterstammbäume der Maori und die Hesiods von bewunderungswürdiger Näho der Verwandtschaft. Einer wesentlich späteren Stufe der Entwicklung gehören die ersten Geschichtschroniken der Griechen an, während die Horo- und Logographen und Hekatäos den Anfang und den Übergang von heiliger und Profansage zur Geschichtsschreibung darstellen. Hekatäos hat mit seiner höchst willkürlichen Rationalisierung und Chronologisierung wohl das gleiche im Sinne einer Wissenschaft, wie er sie mißbräuchlich verstand, angestrebt, ohne doch zu irgend haltbaren Ergebnissen zu gelangen. Herodot und Thukydides haben dies in einem großen Sinn wirklich durchgesetzt: sie haben Geschichte zur Wissenschaft gemacht. Gleichwohl gehören sie noch einer mittleren Schicht der Entwicklung der Geschichtsschreibung an. Sie wollen ein Spiegelbild der Vergangenheit des eigenen Volkes geben, und zwar in der letzten, der noch nicht allzuweit zurückliegenden Zeit, und insofern wollen sie schließlich doch nur das gleiche wie die Männer, die in der Urzeit und in den mittleren Zeiten, den Mittelaltern und der Altertumsstufe, irgendwie Vergangenheit aufzeichnen wollten. Eine ordnende Behandlung des geschichtlichen Stoffes, d. h. eine Gruppierung der überlieferten Nachrichtenmassen nach den Gesichtspunkten einer denkmäßigen Umstellung und Zusammenstellung dieser Nachrichtenmassen, fand nicht statt. Eine stärkste, wenn nicht die einzige Ursache dieser Unterlassung ist ganz gewiß die sehr tiefgreifende Unterstützung gewesen, die dem Spiegelungsbedürfnis des menschlichen Geistes durch eine gewachsene, eine naturgegebene Ordnung ward, die der geschichtliche Stoff durch seine eigene

Zeitliche Ordnung, fördernde und hemmende Wirkungen.

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Beschaffenheit ohnehin hatte: durch die Zeitfolge, in der sich uns alles Tun der Menschen darstellt, so als sei mit ihr erstlich eine unerschütterlich feste, zum zweiten aber eine völlig zureichende Ordnung gegeben. Man sieht sogleich, daß diese besondere, innerhalb der menschlichen und sehr vieler außermenschlicher Angelegenheiten einzigartige Ordnungsform auf alle Behandlung der Geschichte eine doppelte Wirkung hervorgebracht h a t : eine unendlich günstige, fördernde und eine im selben Maße hemmende, lähmende. Die günstige bestand in einer sehr subalternen Folge, nämlich darin, daß ein für allemal jede geschichtliche Nachricht an einem sehr leicht auffindbaren Ort zu suchen war, und in einer bis in die tiefsten Gründe der Geschehenserklärung hineinleuchtenden Aufklärung, derjenigen nämlich, daß jedes Nacheinander von Tatsachen auch das Auseinanderfolgen von Tatbeständen, sei es zum Teil, sei es ganz, erklärt. Nur sei von vornherein ausgesprochen, daß mit dem Wort und Begriff Erklärung nicht der tiefere Begriff Verursachtheit, Kausalität umgriffen werden soll. Was unter ihnen zu verstehen ist, scheint mir noch heute durchaus unaufgehellt. Es sei darunter verstanden, daß ein oder mehrere Tatbestände dann als die Ursache eines weiteren Tatbestandes angesehen werden dürfen, wenn ihr Geschehen allein genügt, den als Folge betrachteten Zustand hervorzurufen. Da aber diese zunächst nur an der Oberfläche schöpfende Erklärung sich, vornehmlich in den frühen Zeiten, genügen läßt an der Feststellung, daß zwei Tatbestände aufeinander gefolgt sind, so muß nach dem alten Wort, nach dem das post hoc immer als propter hoc gedeutet wurde, das vielleicht eigentlich ein Zornwort war, vorläufig doch verfahren werden. Und es darf versichert werden, daß die unermüdliche Anwendung dieser Regel doch eine ganze Fülle von Nutzen, ja von Segen gestiftet hat. Aber dieser einen guten Wirkung steht doch auch eine andere, üble entgegen, die vor allem dann, wenn man vom

8

Die Geburt der Geschichtsschreibung.

Standpunkt einer späteren und höheren Entwicklung aus sieht, dem Fortgang des geschichtlichen Erkennens nichts als Schaden gebracht hat. Indem die zur Wissenschaft herangereifte Geschichtskunde zu ihren Jahren kam, ist sie ganz unzweifelhaft dadurch, daß sich ihr diese in Wahrheit doch ganz äußerliche Ordnungsform gewissermaßen sehr bequem anbot, auf überlange Zeit daran gehindert worden, nach Mitteln und Werkzeugen für eine tiefere, innerlichere Ordnung zu suchen. Wie schwer und wie langsam aber die Bahn zum Ziel einer inneren Ordnung zurückgelegt worden ist, das wird die Schilderung ergeben, die hier von dem in hundert Staffeln und nach Überwindung von noch mehr Schwierigkeiten durchmessenen Weg entworfen werden soll. Wie dagegen die Gegenform beschaffen ist, die in dem Wirrsale aller geschriebenen Geschichte aufgesucht werden soll, um zu zeigen, daß eine tiefere und höhere Ordnung für den geschichtlichen Stoff als die der schlichten Zeitordnung möglich und notwendig ist, das könnte sich rein begrifflich aus der Untersuchung des Was und des Wie der Behandlung dieses Stoffes ermitteln lassen. Aber dieser Weg soll hier nicht eingeschlagen werden, sondern der allerdings umständlichere, aber aller Geschichtsbetrachtung näherliegende einer Aufsuchung und Schilderung der Versuche, die von den werktätigen Geschichtsforschern oder den Theoretikern der neu entstehenden Geschichtslehre gemacht worden sind, um eine nur vom Begriff ausgehende und zu begrifflichen Ordnungen strebende Geschichtsforschung höherer Ebene zu schaffen. Diese Geschichtsforschung hätte begrifflich genannt werden können, weil sie zuerst und zuletzt das geistige Mittel des Begriffs anzuwenden berufen ist, um an die Stelle der äußerlichen Ordnung der Zeitfolge eine von innen her, d. h. von den begrifflichen Zusammenordnungen und Scheidungen bestimmte Ordnung zu setzen. Sie hätte mit dem besten Recht auch als bauende Geschichtsforschung bezeichnet werden können, da sie eben, um so begrifflich zu verfahren,

Begriffliche Ordnung, entwickelnde Geschichtsschreibung'.

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Bauten zu errichten trachten muß, die zwar wohlgemerkt nicht deduktiv, nicht von oben her, nicht vom a priori, von der Setzung-im-Voraus ausgehen sollen, sondern deren Gebäude induktiv von unten her, vom sichern Boden der wohl beschriebenen Erfahrung aus entstehen sollen. Aber hier ist eine dritte Möglichkeit vorgezogen, und die Geschichtsforschung höherer Ebene, die hier umschrieben werden soll, ist entwickelnd genannt worden, und zwar um deswillen, weil die Form der Verkettung, durch die die einzelnen Glieder jeder geschichtlichen Darstellung verbunden sind, als entwickelnd bezeichnet werden soll — im Gegensatz zu der beschreibenden Schilderung, die unter Verzicht auf die Aneinanderbindung aller Einzelglieder einer Geschehensreihe lediglich die Einzeltatsachen aufeinander folgen läßt. Das ist eine Bezeichnung des Pars pro toto, aber sie kann durchaus das Ganze des Geschehens decken. Sie stammt ursprünglich aus der Biologie und iät um deswillen eigens nützlich für das Allgemeingeschehen, das sie umfassen soll, weil das Wachstum, von dem der Begriff Entwicklung hergeleitet ist, die Form der dichtesten und innigsten Verkettung bezeichnet, die wir überhaupt im ganzen Bereich des Weltgeschehens kennen. Am weitesten aber wird man allerdings zu dem Erkennen des Wesens und der Formen der entwickelnden Geschichtsforschung vordringen können, wenn man den durch mehr als zwei Jahrhunderte und, wenn die ersten Vorläufer mitgezählt werden, durch fünf Jahrtausende sich fortsetzenden Werdegang der lehrhaft umschriebenen oder gar schon der werktätig geübten Geschichtsforschung verfolgt, die sich dem Entwicklungsgedanken dienstbar gemacht hat.

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Entstehung: D i e großen A h n e n d e n : Aristoteles.

Erster

Abschnitt.

Die großen Ahnenden. Erstes Hauptstück. Aristoteles

und die w e r k t ä t i g e

Entwicklungs-

geschichte. Darlegungen, wie sie soeben hier gegeben wurden, können leicht auf das Bedenken stoßen, daß sie, mögen sie auch noch so begriffsscharf und folgerichtig gefaßt werden, doch nicht ihre volle Beweiskraft entfalten können, weil sie zu allgemein und nur in abgezogener Form gehalten sind. Beispiele von gewachsener, konkreter Art können unter Umständen viel wirksamer sein. Solche mögen daher hier auch gegeben werden, damit beide Formen der Überzeugung ins Feld geführt werden. Die ursprünglich gegebene Gattung der Geschichtsschreibung ist sonder allen Zweifel die beschreibende. Einen wirksamen Einfluß hat, wie dargetan, in dieser Sache die zeitliche Ordnung gehabt, in der für den aufnehmenden Verstand sich ohne jede Ausnahme alle, ausnahmslos alle Tatsachen geschichtlichen Inhalts dargestellt haben. Gleichviel ob man die Jahrestafeln der nordostamerikanischen Indianer in Betracht zieht, die sie auf ihren Büffelfellen und oft siebzig Jahre hintereinander in einer Familie aufgezeichnet haben, oder die dürftigen Jahresnotizen, die die ältesten griechischen Logographen in ihren dürren Chroniken niederlegten: die zeitliche Ordnung herrscht immer vor. Ebenso gewiß ist, wie dargetan, daß aller anfänglichen Geschichtsschreibung durch diesen Umstand ein äußerstes Maß von Stützung, aber auch ebenso viel an Hemmung zu Teil geworden ist: Stützung, insofern durch ihn überhaupt eine Ordnung in alle geschichtliche Überlieferung gebracht wurde, und zwar eine höchst wirksame, nicht nur um der äußeren Aneinander-

Zeit- und Entwioklungsordnung-, Lebenswert der Geschichte. 11

reihung willen, sondern auch um ihrer inneren Bedeutung willen, insofern so immer das spätere einem früheren, d. h. ein vorbereitetes einem vorbereitenden Geschehen nachfolgt. Unzweifelhaft hat sich dieser Einfluß in allen Anfängen der Geschichtsschreibung als ein lediglich fördernder geltend gemacht. Sobald aber die Geschichtsschreibung zu einer Wissenschaft emporwuchs, hat er ebenso sicher auch hemmende Wirkungen ausgeübt; und zwar um deswillen, weil die Zeitordnung, als die einmal vorhandene und schlechthin monopolhaft ausgebildete, keine andere neben sich aufkommen ließ. Sie war, verglichen mit aller begrifflich verfahrenden und hier kurzab entwickelnd genannten Ordnung, eine Scheinordnung und hat das Bedürfnis nach dieser gar nicht erst aufkommen lassen und mithin einen Fortschritt, der schließlich dem inneren Gesetz der Entwicklung nach dennoch kommen mußte, für ganze Jahrhunderte-Reihen aufgehalten. Man könnte einwenden, daß der unmittelbare, rein lebens mäßige Zweck der Geschichte auch von einer rein beschreibenden und lediglich nach der Zeit geordneten Geschichtsschreibung erreicht werden könne und auch wirklich erreicht worden sei. Man erwäge den Wert, den die Geschichte hat, »nicht als Wissenschaft«, wie ich es einmal ausgedrückt habe, »sondern den im Grunde viel allgemeineren Wert, den sie für das Leben selbst h a t : die Geschichte ist der Spiegel, den das Leben sich vor das Antlitz hält, um seiner selbst zu genießen. Das ist ihr tiefstes Anrecht auf Dasein und Tätigkeit. Denn letztlich hat Recht zu sein und zu leben nur, wer dem Leben neue Kraft zuführt«. 1 Und gewiß ist zuzugeben, daß eine rein beschreibende Geschichtsdarstellung, wenn sie nur mit Mark und Feuer geschrieben ist, die Funktion, die ihr hier als ihre lebensmäßigste zugeschrieben ist, in vollem Umfang auszuüben vermag. Und dennoch würde der irren, der die Meinung vertreten wollte, daß der Übergang von der beschreibenden zur ent1

) Geschehen und Geschichte (»Der Tag«, 8. Juni 1915).

Entstehung: Die großen Ahnenden: Aristoteles.

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wickelnden Geschichtsschreibung nicht auch Feuer und Wirkung so lebensmäßiger, lebensnaher und lebenswarmer K r a f t besitzen könne, oder gar, daß der •wissenschaftliche Fortschritt hier eine Abminderung der Lebensstärke herbeigeführt habe. Denn es wird nicht abzuleugnen sein, daß die Fähigkeiten, durch die die entwickelnde Geschichtsforschung den wissenschaftlichen Wert der Bearbeitung des geschichtlichen Stoffes zu steigern gewußt hat, auch die lebensmäßige Eindringlichkeit seiner Überlieferung vermehrt, nicht aber vermindert hat. Denn auch der Wucht des forscherlichen Gedankens ist solche Kraftvermehrung zuzutrauen. Es ist der Ruhm der altgriechischen Wissenschaft, daß sie zwar noch gewiß nicht die eigentliche Geschichtsforschung zur entwickelnden Weise bekehrt hat — im Gegenteil, die ruhmreichsten Träger der werktätigen Geschichtsschreibung, Herodot und Thukydides an der Spitze, blieben Descriptoren von Grund aus —, daß es aber dem gewaltigsten der griechischen Denker beschieden gewesen ist, dort wo er bei der geschichtlichen Begründung seiner athenischen Verfassungslehre sich den Anlaß schuf, lange Geschehensreihen in systematischer Anordnung zu behandeln, den Weggedanken der Entwicklungsgeschichte zu empfangen und sogleich auch an einem großen Beispiel zu verwirklichen. Wenn Aristoteles auch noch eine Anzahl anderer griechischer Verfassungsgeschichten in gleichem Sinne bearbeitet hat, so ist der Verlust dieser Werke zwar an sich nicht genug zu betrauern, er erweist aber wenigstens, wie grundsätzlich und auf wie breiter Grundlage der König der Denker, der sich solcher Gestalt auch zum Herrscher im Reich der Erfahrungswissenschaft machte, seinen neuen Forschungsgedanken verwirklichen wollte 1 . Ein Denker, dem man allerdings eine Hilfeleistung für den Entwicklungsgedanken am allerwenigsten zutrauen l

) Die Historiker der Aufklärung (Zukunft X V [1896] 300ff.).

Anfänge entwickelnder Geschichtsforschung der Griechen.

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sollte, Piaton, hat doch sehr früh, wenn nicht als der Erste, an diese Dinge gerührt. Er entfaltet in seinem Gespräch über den Staat zunächst ein System der Staatsverfassungen — fünf an der Zahl — das zwar nicht zu dem Zweck eines Nache i n a n d e r , um der Abfolge willen, aufgebaut erscheint, das in seinen einzelnen Verkettungen aber doch in der Form der Zeitfolge auftritt. An die Spitze, jedoch nicht nach der Zeit sondern nach der Vorzüglichkeit, wird eine doppelte Möglichkeit, Aristokratie oder Monarchie umfassend, gesetzt; von ihr herabsteigend gelangt Piaton zum kretisch-lakonischen Staat, den er der von ihm zumeist gepriesenen Staatsform, der Aristokratie, am nächsten verwandt findet. Von ihr gelangt er zur Oligarchie, von ihr zur Demokratie, von ihr zur Tyrannis. Zwischen Aristokratie und Oligarchie wird als Zwischenstufe noch die Timokratie, die Herrschaft der Ehrliebenden angesetzt, bei der der Kriegerstand sich des Arbeitens, des Handwerks und allen Gelderwerbs auch noch völlig enthält. Die Auslegung des Inhalts als eines auch geschichtlichen ist durch eine Anzahl von scharf betonten Ausdrücken sichergestellt: so der der Demokratie, die der Oligarchie folgt, als eine der Reihe nach werdende 1 . An einem anderen Ort seiner Schriften, in dem Gespräch über die Gesetze, ist Piaton der Ausprägung der Reihe von möglichen Verfassungsformen zu einer zeitlichen Folge wesentlich näher gekommen. Denn während er im Dialog über den Staat von den ältesten Zeiten überhaupt nichts und auch von den von ihm geschilderten Verfassungszuständen nur merkwürdig Unscharfes sagt, tritt an der in den Gesetzen gegebenen Reihe zunächst auf das deutlichste zutage, daß hier eine durch die Zeiten hindurchgehende Abfolge gegeben ist, und sodann wird die Absicht eine geschichtliche Reihe zu bieten durchaus klar zum Ausdruck gebracht. Die Blätter, auf denen diese Darstellung 1

) 'Eyetfjq yiyvo/ievrj (Piatonis Dialogi, rec. Hermanni IV [1873] 234). Die Übersetzung von Apelt (Piatons Dialoge V [1920]) »sich entwickelnd« empfiehlt sich als zu viel besagend nicht.

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Aristoteles.

gegeben wird, lesen sich, wenn nicht wie die Abschnitte eines geschichtlichen Werkes, so doch wie die eines ernsthaft und wirklich gemeinten Staatsromans. Und nicht nur scharf geprägte Einzelausdrücke, wie Periode, Zeitalter 1 , sondern auch die Schichten eines ganzen Aufbaues von aufeinanderfolgenden Gesellschaftszuständen lassen erkennen, daß in Wahrheit eine Entwicklungsgeschichte des eigenen Volkes geboten wird. Die frühen Zeiten, die Piaton mit den großen Überschwemmungen anheben läßt, und für die er eine lange Reihe von Generationen ansetzt, schildert er sehr anschaulich als eine Zeit von Hirten und Bergbewohnern, eine Zeit des Webens und der Töpferei, aber nicht des Eisens und des Bergbaues. Ihre Verfassung nennt er patriarchalisch. In einem zweiten Zeitalter läßt er Monarchie von etwas wildwachsener Art entstehen. Etwas später geht die Darstellung gar in eine kurze Wiedergabe von Tatsachen der griechischen Geschichte über. Es ist die Rede von der Gründung des spartanischen und argivischen Königtums, von dem zehnjährigen trojanischen Kriege, von den Perserkriegen. Setzt man diese geschichtlichere Darstellung aus dem Gespräch über die Gesetze und jene systematische Darlegung über den Wert der Staatsformen zusammen, so ergibt sich eine, wenngleich sehr kurze Ubersicht zu einer griechischen Verfassungsgeschichte, die ganz und gar entwickelnder Art ist. Sie war, wie sich von selbst versteht, ohne jeden Hinblick auf die Bedürfnisse der Geschichtsschreibung abgefaßt; daß sie dem Entwicklungsgedanken etwa in der Person des Aristoteles, als des Ver1 ) Von den frühesten Zeiten noch vor Erfindung der Schrift heißt es iv vovzq) rä> fieoei vfj~ negioöov (Piatonis Dialogi I I [1873] 71). Wobei Apelt (Piatons Sämtl. Dialoge V I I [1916] 79) mit seiner Ubersetzung »einer so frühen Entwicklungsstufe« zu weit greift. Mehr als »in diesem Abschnitt eines Umlaufs« steht nicht da. Selbst »hat sich entwickelt« für yeyovev (Dialogi V 68, Apelt Sämtl. Dialoge V I I 72) ist falsch, weil es dort ebenfalls nur »geworden ist« heißt. Man begreift, daß es in dem hier verfolgten Zusammenhang auf präzise Übersetzungen ankommt.

Aufsprung einer neuen Wissenschaft.

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fassers des Staats der Athener, Dienste geleistet hat, wird dennoch nicht in Zweifel zu ziehen sein. Wie in Hinsicht auf die Philosophie des Meisters sein größerer Schüler der eigentliche, und zwar wahrlich nicht milde Kritiker des Lehrers geworden ist, so findet das gleiche Verhältnis, nur in noch schärferer Ausprägung, zwischen der Geschichtsforschung des Aristoteles und der Geschichtsanschauung des Piaton statt. Bei Piaton einige erste, im Forschen noch ganz kindhafte Anläufe, stammelnde Anfänge eines ersten Trachtens nach entwicklungsgeschichtlicher Erkenntnis, angewandt auf die griechische Verfassung in älterer und neuerer Zeit, bei Aristoteles das vollendete, wenngleich uns jammervoller Weise verlorengegangene Werk einer großen Gesamtgeschichte der griechischen Verfassung und davon als einziges erhaltenes Stück dieses riesenhaften Gliederbaus die Geschichte des erlauchtesten und in jedem inneren Sinn erfolgreichsten unter den griechischen Teilstaaten, die Geschichte der athenischen Staatsverfassung, in sehr weitgehender Vollendung und in vollkommener Erreichung der elementaren Zwecke einer Verfassungsgeschichte von ganz hohem und von durchgreifend entwicklungsgeschichtlichem Sinn. Es hat sich hier einmal das Außerordentliche zugetragen, was denn freilich auch der Außerordentlichkeit des Urhebers dieses Geschehens nur entsprach, daß ein Mann nicht nur ein Werk von neuem Gepräge, sondern eine neue Wissenschaft, ja man kann sagen eine neue Form geistigen Geschehens geschaffen hat. Es war doch im Bereich geistigen Schaffens, als ob Athene angetan mit allem Schmuck und allen Waffen aus dem Haupt des Zeus hervorgegangen sei. Und wie es später noch so oft geschehen sollte, hat schon bei diesem ersten Aufsprung entwicklungsgeschichtlichen Tuns die entsprechende, innerlich durchaus benachbarte Begriffswissenschaft, die Staatsrechtskunde, hilfreiche Dienste geleistet. Wohl hat man mit Recht geltend gemacht, daß Aristoteles nicht eigentlich den Bau eines

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Aristoteles.

begriffsmäßig geordneten Staatsrechts schaffen wollte. Dennoch ist höchst bezeichnend, daß das Werk, das die Aufschrift: Der Staat der Athener trug, zwar in seiner ersten Hälfte eine Geschichte der athenischen Verfassung darstellte, in seiner zweiten Hälfte aber eine systematisch geordnete Staatskunde des gegenwärtigen Athens bot. Kein Zweifel, daß die Systematik dieses zweiten Teils den gewaltigen Fortschritt zum größten Teil hervorgelockt hat, den der erste Teil von einer beschreibenden Verfassungsgeschichte, die etwa den ersten Schritt auf dieser Bahn bedeutet haben würde, zu einer entwickelnden Verfassungsgeschichte, wie sie Aristoteles nun mit einem großen Schlage schuf, zurückgelegt hat. Wie verkehrt oft die Sehweise war, unter der man das Buch gesehen hat, geht daraus hervor, daß man sich im Ernst darüber gestritten hat, ob dies Werk, das eine so ungeheure Leistung darstellt, auch wirklich von Aristoteles stamme. Ein Trefflicher, offenbar mit geringen Kräften für die Philologie Ausgestatteter bewies sogar haarscharf, diese Schrift sei durch so viele Fehler entstellt — Mikrobenfehler, die aber für die Sehweise dieses Kritikers bedeutend erschienen — daß sie unmöglich von Aristoteles verfaßt sein könnte 1 . Man sieht, es gibt keinen Unsinn, der zu groß wäre, als daß man ihn nicht einem Größten wie Aristoteles zufügen könnte. Andrerseits ist es vorgekommen, daß man die gewaltigsten und umfassendsten Werke, als wären sie ein Nichts, ohne sie mit einem Worte zu würdigen übergangen hat. Die Verfassungsgeschichte Athens ist das einzig erhaltene Werk aus der Reihe der Polititien des Aristoteles; von dieser Reihe aber ist überliefert, daß sie 158 — doch wohl allesamt griechische •— Staatsverfassungen durchweg entwicklungsgeschichtlich behandelt habe. Dies zu planen ist an sich eine Aufgabe, und dies eine wird jedenfalls erkennbar aus 1

) Friedrich Cauer, Hat Aristoteles die Schrift »Der Staat der Athener« geschrieben? (1891).

Breite der Vorbereitung; athenische Verfassungsgeschichte.

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solcher Nachricht, daß die gigantische Geisteskraft dieses obersten aller Denker und zugleich aller Forscher Griechenlands es doch auch erstrebte, in die Breite hinein sich Unterlagen zu verschaffen. Und man ist doch einigermaßen erstaunt, daß die Fachforschung diesen Umstand, der wahrlich nichts Geringes bedeutet, nicht stärker hervorgehoben und lauter gerühmt hat. Für alle Forschung aber, die ihrerseits auch der Breite und Weite umfassender universeller Pläne zustrebt, mag es noch heute eine Bestärkung und Bestätigung bedeuten, daß ein so hohes Vorbild die gleichen Wege gegangen ist. Es bedeutet sehr viel, daß ein Forscher von diesen höchsten Graden es für rätlich und richtig hielt, eine so kaum übersehbar breite Unterlage in langwieriger Vorarbeit zu schaffen und darauf seine Staatslehre, die doch aller Wahrscheinlichkeit nach Ziel und Zweck seiner umfassenden Vorbereitung ausmachte, zu erbauen. Das Wie der athenischen Verfassungsgesehiehte wird dem bei ihr Belehrung Suchenden von ihren ersten Anfängen offenbar. Eine Reihe der ersten Blätter ist verloren gegangen, sind aber durch kurze Auszüge aus dem Urtext ersetzt worden. Aber schon diese Auszüge zeigen sich zwar gewiß noch nicht durchdrungen vom Geist der Entwicklungsgeschichte, wohl aber von ihm berührt. Der sogenannte Auszug des Herakleides gibt zwar mit Vorliebe anekdotische oder im Geschehen drastische Züge aus dem geschichtlichen Leben Athens, doch ist sein Bestreben immerhin beständig darauf gerichtet, verfassungsgeschichtliche Mitteilungen zu machen. Von da aber, wo in dem vorhandenen Textbestand der eigentliche aristotelische oder doch halbaristotelische Wortlaut, wenngleich zunächst in unzusammenhängenden Bruchstücken, anhebt, da verschwinden auch alle störenden Zusätze und ein breiter Strom von schlechthin entZu Anfang stehen wickelnder Sachgeschichte setzt ein. zwar noch mythologische Nachrichten, doch auch sie in drolliger Verkettung mit reiner Verfassungsgeschichte: Ion, der Attika besiedelt habe, sei der Sohn Apollons gewesen, B r e y s i g , Meister der Geschichtsforschung.

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Aristoteles.

und von ihm wird überliefert, daß er der erste Polemarch der Athener gewesen sei. Von Theseus aber, der, durchaus wahrscheinlich, nicht als mythische, sondern als geschichtliche Gestalt auftritt, wird behauptet, daß er das athenische Volk nach dem Grundsatz allgemeiner Gleichheit zu einer ganz demokratischen Ordnung zusammenschließen wollte. Er habe aber eingesehen, daß aus solcher Ordnung eher Unordnung entstehen müsse und eine unterschiedslos zusammengewürfelte Menge, und so habe er drei Stände geschaffen: Adel, Bauern, Handwerker. Die Behauptung, daß diese Schichten alle mit einem Schlage geschaffen worden seien, klingt abenteuerlich genug, doch mag ihr irgendein Kern von Wirklichkeit zugrunde liegen. Von einer anderen Teilung des Volkes ist die Rede, die sich von vornherein als von Alters her bestehend zu erkennen gibt; doch daß sie für diese Zeit noch sichergestellt ist, ist von höchstem Wert nicht allein für die Erkenntnis des damaligen Zustandes, sondern ebenso aufhellend für den Fluß des früheren und weiteren Geschehens. Es handelt sich um die Gliederung des athenischen Volkes in vier Geschlechterverbände, vier Phylen, diese den vier Jahreszeiten entsprechend, und in zwölf Bruderschaften, Phratrien, die man mit den zwölf Monaten zusammenbrachte. Jede Phratrie bestand, so lautet diese Überlieferung, aus dreißig Geschlechtern, die als den dreißig Tagen entsprechend angesehen werden. Und jedem Geschlecht wurden, so schließt dieser Bericht von einer zunächst gewachsenen, demnächst aber sehr absichtlich geometrisch aufgebauten Ordnung, je dreißig männliche Mitglieder zugerechnet. Die ersten Absätze, die dem sicher dem Aristoteles selbst zuzuschreibenden Anteil der Schrift vom Staat der Athener angehören, legen Zeugnis dafür ab, wie es dem Verfasser von vornherein darauf ankam, von dem Bau der athenischen Verfassung dem Leser nicht allein die oberste Schicht der eigentlich staatlichen Ordnung zu übermitteln, sondern ihn zugleich die tieferen Gründe der gesellschaftlichen und

Volksgliederung; Bau und Änderungen der Verfassung.

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wirtschaftlichen Verfassung erkennen zu lassen. Er geht für diesen alten Zeitraum — vor der kleisthenischen Reform — auf die Lage des Landvolkes ein, die er als übel genug schildert. Dem niederen Landbewohner, dem die Last der Bebauung des Bodens ganz auferlegt war, sei doch nur ein Sechstel des Ertrages überlassen worden, wovon sie den Namen Sechstelleute führten. Für die richtige Ablieferung aber, so berichtet Aristoteles, hafteten sie mit ihrem Leibe. Man fühlt diesen Zeilen leicht ab, mit wieviel sozialer Gesinnung der Berichterstatter Partei nimmt für das arme und — wie einleuchtet — hart bedrückte Volk. Der Unterschied, der sich zwischen diesem Zustand und dem des französischen und italienischen Landvolkes, das in der Regel mit der Hälfte des Gewinnes beteiligt war, ergibt, läßt den Druck, den die Bodeneigentümer auf die Bodenbebauer ausübten, als einen außerordentlich harten erkennen. Da die Zahl der Grundeigentümer sehr gering war, so erscheint der hier gegebene Zustand nicht allein als ein aristokratischer, sondern zugleich als ein plutokratischer, als eine Herrschaft der Überreichen. Die Ordnung der Ämter ist ebenfalls nach ihrer gesellschaftswissenschaftlichen Bedeutung gewertet: das Verschwinden der letzten Reste des Königtums ist beobachtet, der Aristokratismus der Ämterbesetzung hervorgehoben. Die Macht des Areopags, der sich aus den gewesenen Archonten zusammensetzt, ist als wichtig verzeichnet, die immer neue Steigerung der Einrichtungen ins Aristokratische daraus abgeleitet. Die von Drakon herbeigeführte Neuordnung wird in ihren Einzeleinrichtungen umschrieben, der aristokratische Grundzug der Verfassung als bleibend gekennzeichnet. Die von Solon eingeführte Neuordnung wird als eine grundsätzlich demokratische umschrieben. Die Einzeleinrichtungen, soweit sie Verfassung, Steuerwesen, Schuldengesetzgebung angehen, werden genau verzeichnet, immer aber auf ihre letzten Wirkungen in Hinsicht auf den politischen und gesellschaftlichen Aufbau des Volkes geprüft. 2*

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Aristoteles.

Es ist nicht vonnöten, den Gang der Darstellung in des Aristoteles Verfassungsgeschichte in allen ihren weiteren Strecken zu verfolgen. Ihr Charakter wird festgehalten, und er bleibt entwicklungsgeschichtlich im strengen Sinn des Wortes: denn es werden wohl bei einschneidenden Veränderungen die Einzelereignisse und dann auch in Kürze die Grundeigenschaften der die Umwälzung herbeiführenden Einzelnen — so des Solon, so des Pisistratus — verzeichnet; die Grundabsicht aber, die einzelnen Zeitabschnitte nach ihrem verfassungsgeschichtlichen Grundgepräge zusammenzufassen und sie dann, wenn sich ihr Charakter ändert, nach der Richtung ihrer Änderungen zu kennzeichnen, wird festgehalten. Die Parteinahme des Verfassers gegen die Einrichtungen und Veränderungen aristokratischer Grundrichtung und für die Einrichtungen und Veränderungen demokratischer Art ist nicht verhehlt. Man könnte gegen sie vom Standpunkte der reinsten und folgerichtigsten Entwicklungsgeschichte den Einwand erheben, daß deren Anforderungen eine völlig parteilose Stellungnahme am vollkommensten entsprechen müßte. Doch ist, da es sich ja erst um das früheste Hintasten der Forschung zu neuen Zielen handelt, dieses Versagen um so eher zu vernachlässigen, weil solche Parteilichkeit zugleich auch eine vorteilhafte Wirkung ausüben muß. Denn indem die Parteilichkeit eine immer gleichbleibende ist, so wird durch sie eine haltende Klammer um das Insgesamt aller der aufeinander folgenden Zeiträume geschmiedet, die ein Maß von Einheitlichkeit gewährleistet, zu dem es sonst nicht kommen würde. Daß hier immer Aristoteles, als der Begünstiger der Demokratie, zu Worte kommt, hat diese Wirkung hervorgebracht. Wohl steigt die Forderung auf, daß Aristoteles selbst, sei es im Ganzen, sei es in Einzellängsschnitten, nun Folgerungen aus dem Nacheinander der von ihm durch Zerteilung gewonnenen Zeitstrecken hätte ziehen sollen. Dazu aber ist es nicht gekommen: nur am Schluß des geschichtlichen

Parteinahme für die Demokratie; Grenzen, Wert, Nachfolge. 21

Teils seiner Schrift, im einundvierzigsten seiner Teilabschnitte, hat er einen Rückblick auf das Ganze der athenischen Verfassungsgeschichte geworfen, aber er läßt sich in ihm daran genügen, elf Verfassungsänderungen abzuzählen und je mit einer Zeile zu bezeichnen. Bis hierher reichte auch das Erkennen des Höchsten unter den Forschern Griechenlands nur und nicht weiter. Doch war dies Ergebnis für einen ersten Anfang erstaunlich genug, ja es ist innerhalb der Geschichtswissenschaft damit der größte denkbare Fortschritt gemacht: der von der beschreibenden zur entwickelnden Geschichtsforschung 1 . Und es bleibt wichtig, daß es sogleich zu einem Versuche werktätiger Geschichtsschreibung im Sinne des Entwicklungsgedankens gekommen ist und nicht etwa nur zu einer Aufstellung von theoretischen Weisungen. So zu verfahren, hätte dem Denker, der hier sprach — und es war der schöpferischste von allen im alteuropäischen Weltaltcr — nahe genug gelegen. Und wenn die Verpflichtung, die die Menschheit im Gesamtzuge der Entwicklung ihres Geistes Aristoteles schuldet als dem Korrektor, dem Rückänderer des platonischen Entgleisens, das über alle erfahrende Wissenschaft, über alle echte Forschung die schlimmste Gefahr verhängt hatte, eine ungeheuer große ist, so sei doch auch die an sich kleinere, im Bereich der Geschichte aber ungeheuer große Dankesschuld nicht vergessen, die Aristoteles sich dadurch erworben hat, daß er an einer Stelle, an der ihm eigens nahe gelegen hätte, sich nur lehrhaft zu verhalten, derb zupackend die wichtigste der Aufgaben der werktätigen Geschichtsforschung in Angriff nahm und da, wo noch niemals eine Hand oder ein Hirn sich geregt hatten, ein Neues, man kann sagen eine neue Wissenschaft schuf. Nur eine Form des Erfolges blieb selbst diesem Größten der Forscher versagt: eine Nachfolge, die auf dem von ihm *) Das Allgemeine hierüber vgl. in der Abhandlung Historiker der Aufklärung (Zukunft X V [1896] 298ff.).

Die

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Aristoteles.

geschaffenen Grunde einer ausgeführten Verfassungsgeschichte eine Wissenschaft aufgebaut hätte. Zieht man in Betracht, daß Aristoteles diesem einen erlauchtesten Beispiel noch 157 Seitenstücke gegeben hat, so ist dieser Sachverhalt um so auffälliger, freilich auch um so bedauernswürdiger. Man ist vielleicht verwundert, daß Aristoteles am Schluß seiner athenischen Verfassungsgeschichte nicht auch zu einer wertenden Zusammenfassung, einer stufenden Vergleichung gelangt. Aber das würde sicherlich seiner so ganz auf bauende, auf systematische Anordnung gestellten Weise von Grund aus widersprechen. An einer anderen Stelle des großen Begriffsnetzes, das er über die Erscheinungsformen des Staats geworfen hat, spricht er sich zu diesem Gegenstand um so eingängiger aus. Es geschieht dort, wo man es erwartet: in seiner großen Staatslehre an dem Ort, an dem von den Unterschieden und von den Werten der Staatsverfassungen die Rede ist. Was die Unterschiede, also die eigentliche Formenlehre anlangt, die übrigens erst an zweiter Stelle zur Sprache kommt, so hat sich Aristoteles aller Vermutung nach in ihr an jene ersten Andeutungen angelehnt, mit denen Piaton — doch wohl als Erster — eine Stufenleiter der Staatsformen aufgestellt hat. Vom Standpunkte der entwickelnden Verfassungsgeschichte findet sich im Nacheinander von Piaton zu Aristoteles auffälligerweise auch e i n Rückschritt. Denn während Piaton zwar noch nicht an der ersten Stelle, die er diesen Dingen widmet, wohl aber an einer späteren ganz unverhohlen eine zeitliche und nicht mehr nur systematische oder — vom Standpunkt der Geschichte aus gesehen — willkürliche Anordnung gewählt hat, hat Aristoteles eine solche Entscheidung überhaupt nicht getroffen. Er gibt eine Anordnimg, ohne sie mit Betonung als zeitliche, als geschichtliche zu bezeichnen. Doch mag sie immerhin als auch zeitliche angesehen werden. Ein weiterer Unterschied in der Behandlung, die beide Denker diesem an sich wahrlich wichtigen Gegenstand widerfahren lassen, ist ebenso ver-

Anordnung nicht betont zeitlich; Reihenfolge der Staatsformen. 2 3

wunderlich. Die Stufenfolge, die Piaton aufstellt, ist etwas zergliederter und geradezu stufenreicher, ein Ergebnis, das Wunder nimmt, da man weit eher das Gegenteil vermuten und dem empirischeren Forscher auch die weiter fortgeschrittene Zerteilung zutrauen möchte. Dem sei nun, wie ihm wolle. Die von Aristoteles zwar nicht ausdrücklich ausgesprochene, aber immerhin angedeutete Zeitordnung der Verfassungsformen hebt mit der Einzelherrschaft an, die man dann, wenn sie auf das allgemeine Beste gerichtet sei, als Königtum bezeichne; die Herrschaft Weniger, die in der hier gewählten Reihe zunächst folgt, werde als Herrschaft der Besten bezeichnet, entweder weil es die Besten seien, die in ihr regierten, oder weil diese Herrschaft das Beste der Untertanen wolle; wenn endlich aber das Volk den Staat beherrsche, so werde diese Staatsform als Staatsherrschaft, als Politie bezeichnet, ein Wort, das doch auch für alle Verfassungsformen anwendbar sei. Von dieser Staatsform rühmt Aristoteles, daß wenn auch Einer oder Mehrere leicht einzelnen Tugenden genügen könnten, von der Masse des Volkes immerhin vorausgesetzt werden kann, daß ihr kriegerische Fähigkeiten allgemein zu eigen sein könnten. In dieser Staatsform müsse der wehrhaften Bevölkerung die Gewalt übertragen bleiben, die Staatsbürger müßten in ihr die Waffentragenden sein. Drei Arten der schädlichen Übersteigerung unterscheidet Aristoteles in dieser Formenreihe: die Tyrannis, die nur der Einzelherrschaft zum Nutzen diene, die Oligarchie, die lediglich den Vorteil der Reichen verfolge, die Demokratie, die nur den Vorteil der Massen erstrebe. Aber dem Wohle der Gesamtheit diene keine von ihnen. Und dieser Formenlehre läßt Aristoteles noch eine Reihe von Wertungen folgen. Er stellt als allgemeine Regel für alle Verfassungen auf, daß alle richtig sind, die nicht einer von diesen drei Inhaberschaften dienen, also nicht einem Einzelnen oder Mehreren oder der Menge dienen, sondern auf den allgemeinen Nutzen abzielen — denn so gebiete

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Entstehung': Die großen Ahnenden: Ibn Chaldun.

es das Recht —, daß aber alle Veifassungen, denen man jene Einseitigkeit nachsagen könne, fehlerhaft seien, weil sie despotischer Art seien. Der Staat aber sei eine Gemeinschaft freier Menschen. Der entwicklungsgeschichtliche Wert dieser Ordnungen besteht darin, daß sie — abgesehen etwa von Sparta — den Entwicklungsgang der griechischen Verfassungsgeschichte recht treffen. Doch würde man ihnen, um sie an die athenische Verfassungsgeschichte nahe anschließen zu können, sehr viel mehr Differenzierung und Einzelbehandlung wünschen. Dann freilich, nach Aristoteles, ist es ebensowenig wie von ihm zur Ausbildung einer Entwicklungsgeschichte gekommen; einige Sätze des Polybios, die allerdings die Einsicht in den Entwicklungscharakter der Hauptalter der Verfassungsgeschichte — Urkönigtum, Verfassungskönigtum, Tyrannis, Aristokratie, Oligarchie, Demokratie, Ochlokratie —• erkennen lassen, können zuletzt nicht als Ersatz für eine ausgeführte Verfassungsgeschichte gelten, wenn diese auch sicher ein entwicklungsgeschichtliches Gepräge getragen haben würde. Sonst ist es zu keinem Versuch gekommen. Dem griechischen Geist war die Idee des Werdens, um deren Ausgestaltung es sich hier hätte handeln müssen, durchaus nicht nahe genug, um hier Hand anzulegen 1 .

Zweites Hauptstück. Ibn Chaldun. Erstes Stück. Der A u f b a u seiner Geschichtslehre. Der Träger einer ganz anderen, weder alt- noch neueuropäischen Geistesbildung, der ebenso verstandesklare wie Vom geschichtlichen Werden III (1928) 301, 441 ff. Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschen zum Geistgeschehen (1935) 305ff.

Wertungen; der geistige Rang Ibn Chalduns.

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phantasiestarke Araber Ibn Chaldun, hat unstreitig mit viel größerer Schlagkraft des methodischen Planens, zugleich aber auch in der Breite einer großen Darstellung alle Verwirklichungen des Entwicklungsgedankens bei den Griechen weit hinter sich gelassen: so ist er im Bereich der europäisch-orientalischen, der west-östlichen Kultur der erste und auf Jahrhunderte hinaus der größte, ja der einzige Entwicklungshistoriker großen Stils geworden, einer der geistesmächtigsten und wirkungsstärksten Erzeuger geistiger Schöpfungen in aller Geschichte des menschlichen Denkens. Ibn Chaldun ist einer der auch unter den Großen im Geist Seltensten, die dem Gedanken nicht ihres Volkes nur, nein aller Völker um ganze Jahrhundertreihen vorwegeilen. Die Gedanken, die ihm in reicher Fülle aus den Händen rinnen, sind von so erstaunlicher Ursprünglichkeit und Niedagewesenheit, daß uns Heutige immer wieder ein kalter Schauer überläuft ob so außerordentlicher Geisteskraft. Ibn Chaldun ging aus, wie es nicht anders sein konnte, von der entschiedensten geistigen Stellungnahme, ohne die echte Erfahrungswissenschaft kaum zu denken ist. Er überläßt dem Glauben sein Herrschaftsgebiet, ja er überläßt auch unter dem auch hier weit in die Ferne wirkenden Einfluß Piatons den Ideen einer aprioristischen Denkwelt den von ihnen beanspruchten Bezirk; aber um den Bereich seiner eigenen Forschung zieht er eine Grenze, die all' derartige Bildungen eines freien, in irgend einem Sinn metaphysischen Gedankens von seinem eigentlichen Tim und Planen ausschließt. Nicht als ob er nicht seiner Lehre auch derlei Ausstrahlungen gegeben hätte, ja er rechnet die Aufgaben der Geschichtsforschung dem Hauptamt der Philosophie zu; aber die innerste Gesinnung wie die äußere Ausführung seiner Wissenschaftlichkeit ist durchaus und geradezu ausschließlich einer vollauf realistischen und empirischen, einer wirklichkeits- und erfahrungsgefüllten Sehweise verschrieben.

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Ibn Chaldun.

Ibn Chaldun hat zunächst eine Grundlage beschreibender Geschichtsforschung geschaffen, die sich allerdings durch die ganz ungewöhnliche Breite ihrer Anlage von der im europäischen Westen herkömmlichen Wissenschaftsform abhob, in der Art der Behandlung des überlieferten Stoffes aber rein beschreibender Weise treu blieb. Eines der drei Teilwerke, aus denen sich des klugen Arabers großes geschichtliches Gesamtwerk zusammensetzt, ist der Geschichte der Berber gewidmet. In dem zweiten Teilwerk aber schreitet Ibn Chaldun zu einer umfassenden Universalgeschichte vor; doch hat er auch in ihr nur nach hergebrachter Weise das überlieferte geschichtliche Wissen ausziehend und zusammenstellend und zumeist nur den älteren Behandlungen des geschichtlichen Stoffes folgend verarbeitet. Der Oberbau aber, den er dieser beschreibenden Grundschicht gab und dem er die bescheidene Aufschrift Einleitung gab, durfte von ihm, wie er getan hat, als eine Neue Wissenschaft bezeichnet werden. Denn in ihm hat er nicht mehr und nicht weniger als eine theoretische Geschichtswissenschaft gegeben, in der er ein nie zuvor versuchtes, von jeder Bindung an Ort und Zeit befreites Gesamtbild vom Wesen und den Formen des geschichtlichen Lebens, also eine Geschichtslehre im strengen Sinn des gegenwärtigen Geschichtswerkes darzubieten trachtete. Sehr bezeichnend für die, wenn man so sagen darf, sprunghafte und jedenfalls nicht im mindesten rationale, Schritt vor Schritt vorsichtig schließende Art, sondern gerade für die genialste Form wissenschaftlichen Vorwärtsdringens ist es, daß Ibn Chaldun nicht, wie man hätte erwarten sollen, über der Unterschicht seiner wirklich beschreibenden Geschichtswerke einen mittleren Aufbau von im großen Maßstab zusammenfassender Universalgeschichte errichtet hat, der dann zwar auch schon entwicklungsgeschichtlich hätte ausfallen können, aber den naturgemäßen nahen Anschluß an die noch nach Raum und Zeit, also etwa nach Völkern und Zeitaltern geordnete Einzelgeschichte gefunden hätte. Es

Unterschicht beschreibender Forschung; Drei-Stadienlehre.

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hätte dann eine Geschichte des westlichen Orients und der südeuropäischen Länder entstehen müssen, die in Hinsicht auf die innere Verkettung und zugleich auf die äußere Vergleichung der zu diesem locker zusammenhängenden Kulturkreis gehörigen Volksgeschichten einen außerordentlichen Fortschritt der Forschungswege und -weisen dargestellt haben würde. Aber so war die Art des Fortganges der geschichtlichen Wissenschaft nicht, sondern Ibn Chaldun, in dem freilich menschliche Geisteskraft bis zu den letzten Grenzen ihrer vordringenden Fähigkeiten gelangte, übersprang mit einem einzigen ungeheuren Satze diese von der Natur der Dinge gegebene Zwischenschicht und errichtete sogleich den maßlos kühnen Bau seiner Geschichtslehre, in der er dann in einer Art von angewandter Anthropologie, von geschichtlich begründeter Kulturwissenschaft, zwar immerdar an der Sicht auf das Leben der Menschheit als ein in der Folge der Zeiten, also im geschichtlichen Werden sich vollziehendes Geschehen festhielt, in ihr zugleich aber doch auch das Wesen alles menschlichen Daseins erfassen wollte. Und sehr bezeichnend ist nun die Wahl der Wege, auf denen dieser Pfadfinder der Wissenschaft zu seinem hohen und fernen Ziele vordrang. Sie führten nie in das Land blasser Abgezogenheiten und wollten zwar das allgemein Menschliche ergründen, aber sie vergaßen dabei die besondere Natur ihrer völkisch und zeitlich so ganz konkret bestimmten Heimat nicht. In seltsamer Vorwegnahme der großen Teilung, die der zweite Begründer der neueuropäischen Geschichtslehre Comte am Gesamtkörper seines Geschichtsaufbaues vornahm, hat Ibn Chaldun, dessen Jahre erfüllt von der Beobachtung staatlicher Schicksale und Händel gewesen waren, eine Drei-Stadienlehre des gesellschaftlichen und damit auch des geschichtlichen Lebens der Völker aufgestellt. Und da ist nun denkwürdig, daß der Araber des vierzehnten mit dem Franzosen des neunzehnten Jahrhunderts darin übereinstimmt, daß beide über die Chrono-

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Entstehuog: Die großen Ahnenden: Ibn Chaldun.

logie hinaus zum Stufengedanken, also zu dem allgemeinsten Grundsatz einer Entwicklungsgeschichte vordringen. Daß Ibn Chalduns Ordnung aber im tiefsten gesättigt mit den besonderen Kulturbedingungen seines Völkerkreises vorgetragen wird, läßt um so deutlicher erkennen, wie ganz er von den starken Wirklichkeiten, die ihn umgaben, ausging, nicht aber von irgend welchen dünnen oder dürren Abgezogenheiten, zu denen ihn ein allzu rasches Schlußfolgern getragen haben würde. Ibn Chaldun geht aus vom Nomadentum, dem wilden Zustand, den er den Anfängen der Urzeit zuweist. Es ist der Geschlechterstaat, in dessen Form dieser früheste Staat auftaucht und eine ganz eigentümliche Form des inneren Zusammenhalts, die ihm seine Stärke gibt: der Gemeinsinn oder, wie nicht ganz übersetzbar besser in der Ursprache zu sagen ist, die Hasabijja. Die staatliche Ordnimg steigt von dem Häuptlingtum der Anfänge zur Adelsherrschaft auf, die aus der Geschlechterverfassung emporsteigend gedacht ist. Beim Übergang zum zweiten Stufenalter vollzieht sich die Umwandlung in die Zivilisation, d. h. in Seßhaftigkeit und städtische Lebensweise, wobei Viehzucht und Ackerbau der nomadischen Urzeit zugefallen. Die Hasabijja geht auf dieser Stufe noch keineswegs verloren. Aber die Verfassung vollzieht den Übergang von der Adelsherrschaft zu dem unumschränkten Königtum. Den Beschluß macht das dritte Stufenalter aus, das durch Luxus und Verfall gekennzeichnet ist 1 . Die Eigenschaft der Stufung teilt diese früheste aller inneren Ordnungen, diese erste der Überwindungen der reinen Zeitfolge, mit den Stufenordnungen von Vico und Comte — insofern ein echter Vorläufer —; aber sie unterscheidet sich von ihnen sehr wesentlich durch die viel kürzere Kamil Ayad, Die Geschichts- und Gesellschaftslehre Ibn Chalduns: Forschungen zur Geschichts- und Gesellschaftslehre I I hrsg. von Kurt Breysig (1930) 146, 188.

Stufenalter: Nomadentum, Stadtzivilisation, Verfall.

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Dauer der Stufenalter und damit durch den viel rascheren Atemzug des dergestalt eher in ein Staccato abgeteilten Entwicklungsganges. Ibn Chaldun mißt nämlich dem einzelnen Stufenalter die Dauer einer Generation, also von allenfalls dreißig bis vierzig Jahren zu. Dieses Maß beruht nicht auf einer willkürlich gewählten Theorie, sondern auf wirklich induktiver Beobachtung. Ibn Chaldun glaubte an der Lebensdauer der arabischen Dynastien seines nordafrikanisch-südeuropäischen Kulturkreises beobachtet zu haben, daß ungefähr 120 Jahre die Lebensdauer eines Herrschergeschlechts ausmachten. Einige der geschichtlich bedeutendsten Dynastien des arabischen Nordafrika haben ungefähr die Regierungsdauer dieses Zeitraums erreicht: die Almorawiden 90, die Almohaden 139, die Idrisiten 134 Jahre. Daß es sich dabei um einen biologischen Ablauf handelt, wird in etwas dadurch wahrscheinlich gemacht, daß die deutschen Königshäuser eine ähnliche Lebensdauer gehabt haben: das sächsische 105, das salisch-fränkische 101, das staufische 116 Jahre; die Tudors schließen sich mit 118, die englischen Stuarts mit 116 Jahren an. Man gewahrt aber sogleich, daß die so für Ibn Chalduns Zeitrechnung zu Stande gekommenen Zeitabschnitte ein von der Weise Vicos und Comtes weit abweichendes Maß aufweisen. Die Stufenalter Vicos und Comtes sind große, ganze Jahrhunderte-Reihen umfassende Zeiträume: die Stufenalter Ibn Chalduns, die nicht einmal die von ihm angesetzten Dynastie-Perioden sind, nehmen sich neben jenen großen Zeitabschnitten nur wie kleine Bruchteile aus. Denn das Stufengepräge sollen ja nicht diese Perioden, sondern nur ihre Drittel von 30 bis 40 Jahren tragen; sie, die als Abstufungen angesehen werden, stehen nach unseren Begriffen den Generationen oder den Menschenaltern nahe, nicht aber jenen Riesenzeiträumen, die bei Vico und Comte oder die auf den Blättern dieses Werkes und seiner Vorgänger als Stufenalter angesehen werden. Es ist ein un-

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Ihn Chaldun.

vergleichlich viel heftigeres Staccato, das hier dem Rhythmus der Zeitenfolge gegeben wird. Man könnte um dieses wahrlich nicht nur zahlen-, sondern wesensmäßigen Unterschiedes willen die innere Verwandtschaft beider Teilungen in Zweifel ziehen mit der Begründung, daß die von dem älteren Geschichtsdenker gewählte Weise näher an der Oberfläche des geschichtlichen Geschehens gelagert sei, daß hier nur ein Geschehenswandel von geringerer Wucht und von einer minder beträchtlichen Stärke gemeint sei. Das mag nun für die Baubeschaffenheit einzelner Fälle zutreffen: schon die kürzere Dauer der hier abgeteilten Zeiträume läßt erkennen, daß hier bei weitem nicht an die tiefere Wucht gedacht ist, die den Stufenaltern Vicos und Comtes beizumessen ist. Dennoch darf an dem recht eigentlich stufenhaften Gepräge von Ibn Chalduns Schöpfungen nicht gezweifelt werden, denn der begriffsmäßig entscheidende Grundgedanke der Abfolge von innerlich gewandelten Geschichtszuständen ist ihnen sicherlich nicht abzustreiten. Um die immerhin vorhandene Abweichung der Zeitenteilung Ibn Chalduns von der Vicos und Comtes zu erklären, wird man allenfalls annehmen können, daß bei Ibn Chaldun der letzte Endzustand einer an sich um lange Jahrhunderte-Reihen zurückreichenden, von ihm aber nicht benannten Urzeit beschrieben ist, daß aber der von ihm Zivilisation genannte und durch die äußeren Merkmale eines starken Königtums und einer städtischen Kultur gekennzeichnete Entwicklungsabschnitt ganz unzweifelhaft auch im Sinn autogener Geschichte als Stufenalter anzusehen ist. Er ist den Stufenaltern Vicos und Comtes gleichzustellen und darf im Sinn der Auffassungsweise dieses Werkes etwa der Altertumsstufe gleichgestellt werden. Selbst wo im Vergleich mit der im Stufenbau der in der gegenwärtigen Werkereihe festgehaltenen Einteilung Unterschiede hervorzutreten scheinen, sind es nur scheinbare: so da, wo Ibn Chaldun die Urzeit in einer aus dem Geschlechterstaat hervorgehenden Adelsherrschaft ausgipfeln läßt. Es ist

Unterschiede und Verwandtschaft mit späteren Stufenteilungen. 3 1

zwar noch nicht in den frühesten Darlegungen der hier vertretenen Geschichtslehre, wohl aber in später eingeschobenen Hinzufügungen ganz der gleiche Standpunkt vertreten: die japanische Entwicklung, die die Teilungen des Geschlechterstaates der Urzeit in den Adelsbildungen der Altertumsstufe ausmünden läßt, bietet hierfür den Schulfall dar, und zwar einen Archetypus, der f ü r mannigfache afrikanische, griechisch-römische, germanische Entwicklungen vorbildliche Gültigkeit hat. Man kann an diesem Beispiel zugleich erkennen, mit wie außerordentlichem Scharfblick und zugleich mit wie viel baukräftiger Phantasie der große arabische Geschichtsforscher die geschichtlichen Dinge durchdrungen hat. Vor allem vermochte er das Nebeneinander sehr verschiedener Kulturformen — denn in Nordafrika mischten sich damals noch mehr als heute Urzeit- und Altertumszustände in buntem Wechsel durcheinander - - in ein Nacheinander von Entwicklungszuständen aufzulösen, d. h. er bewährte die stärkste Tugend, die der Entwicklungshistoriker überhaupt zu bewähren hat, das Sehen in die Tiefe der Zeiten. Auf die Kennzeichnung der letzten Stufe, der durch Luxus und Verfall gekennzeichneten, wird man nicht allzuviel zu geben haben, denn sie umschreibt zwar einen Zustand, den Ibn Chaldun, der Weitgereiste und vom Schicksal immer wieder in neue Verhältnisse, neue Staaten Verschlagene, nur allzu oft in der Wirklichkeit kennen gelernt haben mag, der also auch einen wirklichen Verlauf bedeutete; aber es war ein Abstieg und kein emporstrebendes Wachstum und mag auch weit mehr in den besonderen Verhältnissen dieses Staatenkreises begründet gewesen sein, als in einem allgemeinen, wirklich universal-menschheitlichen Geschehen. Daß Ibn Chaldun sehr wohl empfand, daß es sich hier nicht, wie sonst immer, um ein regelhaftes Geschehen handle, geht daraus hervor, daß er, wenngleich an einem andern Ort seines Begriffsbaus, von einer Periodisierung handelt, die

Entstehung: Die großen Ahnenden: Ibn Chaldun.

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ein ganz Anders, vor allem die Zusammenfassung eines geschichtlichen Geschehens von unvergleichlich viel größerem Ausmaß bedeutet. Es ist da, wo er von den vier großen Zeitabschnitten redet, in die der Gesamtverlauf der Geschichte der Menschheit zerlegt werden könne. Diese großen Zeitabschnitte sind aber rein chronologischer Natur. Ihr erster umspannt die Reiche der ersten Perser, der Assyrer, der Babylonier, der Südaraber, der Israeliten und der Ägypter. Der zweite umfaßt die zweiten Perser, die Griechen, die Römer, die alten vorislamischen Araber und die Franken, will sagen alle germanischen Stämme. Der dritte Abschnitt handelt vom Sieg des Islam und der Herrschaft der neuen Araber. Der vierte Abschnitt umfaßt die Herrschaft der Türken im Osten, der Berber in Nordafrika, der Franken im Norden. Chinesen und Inder umspannt seine Blickweite noch nicht: eine Universalgeschichte in unserem Sinne zu schreiben war nicht seine Absicht. Die Geschichte der Araber und Berber war sein eigentlicher Gegenstand, von Europa war nur nebenher die Rede. Man wird sogleich gewahr: gerade bei diesen Teilungen, die am ersten noch denen Vicos und Hegels entsprechen, glitt Ibn Chaldun in ein chronologisches Schema ab und schreitet gerade hier nicht im Sinne der Entwicklungsgeschichte fort. Um so gewisser aber ist, daß jene kleinen Abschnitte, in die er die Geschichte der Staaten seiner engeren Völkerwelt zerlegte, vom Geist des Entwicklungsgedankens beherrscht sind, so viel kürzer auch die hier umfaßten Entwicklungsstrecken sind. Doch bleibt für ihn immerhin auch für die Geschichtsverläufe jener großen Zeitabschnitte die Vorstellung von einer inneren Geschichtseinheit bestehen, die auch für die so viel größeren Zeitstrecken der bei dieser zweiten Teilung umfaßten Völkergeschichten festgehalten erscheint 1 . Denn das tief innerliche Band der Fortdauer der Hasabijja wird auch für sie als sittlich-gesellschaftl

) Kamil Ayad, Ibn Chaldun 86, 150.

Abschnitte des Gesamtverlaufs, Geschichtsgesetze.

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licher Grund ihres dauernden Zusammenbleibens angenommen. Die allgemeinen Staaten, wie Ibn Chaldum diese Reiche großen Umfanges nennt, haben eine Hasabijja, die nicht mehr an den Herrschaftsbezirk und die Herrschaftsdauer einzelner Herrschergeschlechter gebunden erscheint, sondern jene größeren Volkseinheiten umfaßt und so lange in Kraft bleibt, bis sie auch dem ganzen Volkskörper verloren geht.

Zweites Stück. Erste

Entwicklungsgedanken.

Die der rein entwicklungsgeschichtlichen Geschichtsanschauung dienenden Gesamtsichten Ibn Chalduns umfassen in ihrem inneren Aufbau Sehweisen, die über ihre einzelgeschichtliche Tragweite noch weit hinausführen. Die wichtigste von ihnen ist wohl die Grundauffassung, die alles geschichtliche Leben gesetzlichen Regeln unterwirft und die mit ihrem eisernen Zwang in denkbar stärkstem begrifflichen Gegensatz zu dem sorglosen Descriptivismus der Geschichtsschreibung vor Ibn Chaldun steht. Im ganzen unterstehen die Regeln einer höchsten: der nämlich der Gesetzmäßigkeit selbst. Dieser oberste Satz, der, wenngleich vielleicht nirgends im selben Maße ausgesprochen, doch den Grundsinn von aller Geschichtsanschauung Ibn Chalduns ausmacht, umfaßt das Insgesamt aller seiner Einzel Vorstellungen. Aus ihm sind noch folgende allgemeine Teilsätze abzuleiten. Alle menschheitlichen Erscheinungen haben ein ihnen eigentümliches Wesen, aus dem sich alle ihre geschichtlichen Entwicklungen ableiten; diese Entwicklungen folgen einer bestimmten Regelmäßigkeit und Ordnung; die dieser gemäßen nacheinander folgenden Zustände bilden eine unveränderliche, zwangsläufige Reihe. In der nächst tiefer gelagerten Schicht aber findet sich schon eine ganze Reihe von Gesetzen, die B r e y B i g , Meister der Gesohiohtsforachuug.

3

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Ibn Chaldun.

Ibn Chaldun selbst ausgesprochen hat, unter ihnen die folgenden: das Nomadentum geht der Seßhaftigkeit und Zivilisation voraus; die Hasabijja, der Gemeinsinn, das Gemeinschaftsgefühl der Urzeitgenossenschaften, führt zunächst zur Entstehung des Urzeitstaates, demnächst zu der der Königsherrschaft 1 . Aber die Sichten, die Ibn Chaldun über das Wesen der Geschichte eröffnet, dringen von der Ebene des Gesetzes der Gesetzmäßigkeit nicht nur in die Tiefe des besonderen und gewachsenen Lebens der Völker und Staaten, sondern erheben sich auch zur Höhe noch allgemeinerer Begriffe. So zu dem allgemeinsten, der innerhalb wissenschaftlichen, und zwar nicht nur geschichtlichen Denkens Wichtigkeit erlangt, dem der Verursachtheit, zum Prinzip des Kausalismus. Das Schwergewicht seines neuen Erkennens liegt hier, wie so oft, in dem Nein oder besser gesagt in dem Nochnicht-Genug seiner Lehre. Er bleibt nicht stehen bei der Forderung der Kausalität für die Verkettung der Einzelereignisse, mit der die beschreibende Geschichtsforschung zwar auch keineswegs Ernst gemacht hatte, die ihr aber immerhin in der vagen Weise, die ihr überhaupt eigentümlich war, als Ziel vorgeschwebt haben mochte, sondern er schreitet weit über sie hinaus, und zwar sogleich zu dem fernsten denkbaren Ziel, indem er fordert, daß die Geschichtsforschung bis zu dem letzten für sie überhaupt erkennbaren Zusammenhang vordringen solle. Er gelangt auf diesem Wege zu dem Gedankenbezirk, der hinüberleitet zu metaphysischen Fragstellungen; aber er kommt hier, getreu seiner so ganz ausschließlich erfahrungswissenschaftlichen Gesinnung, nicht im mindesten zu irgendwelchen glaubensmäßigen Setzungen-im-Voraus, die er grundsätzlich vermeidet. Er spricht nur von naturgegebenen Verursachungen und erklärt — mit unverblümt deistischem Bekenntnis — die Weisheit Gottes habe es so eingerichtet, Kamil Ayad, Ibn Chaldun 151 f.

Forderung letzter Ursachenaufsuchung, Zukunftsvoraussicht.

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daß alle Geschehnisse in der Welt ihren gesetzmäßigen oder, wie er es ausdrückt, ihren gewohnten Verlauf nehmen. Er kommt dabei zu dem Begriff des in der Natur der Sache Liegenden, der etwas alltäglich erscheint, der aber in seiner wohl erwogenen Selbstbeschränkung wie das Bekenntnis eines weisen Empiristen wirkt. In dem Begriff der Natur des Geschehens wird man den Kern einer Überzeugung von dessen innerer Gesetzmäßigkeit erkennen. Die an sich ganz unersetzliche Vorstellung von einer Autarkie und Autogenie, einer Eigenwüchsigkeit und Eigenwerdigkeit des geschichtlichen Geschehens ist hier als der wenngleich nicht ausgesprochene, wohl aber vorauszusetzende Grundbegriff anzunehmen. Der nicht meta-, sondern endophysische Gedanke der Eigenbewegtheit, wie er auf den Blättern dieser Geschichtslehre immer wieder und wieder vertreten worden ist, liegt durchaus in der Richtlinie von Ibn Chalduns natürlichem Geschehen. Und Ibn Chaldun kommt laier nach der immerhin verständlichen Weise eines über die Grenzen hinaus Strebenden bis zu dem Gedanken, der so oft eine Lockung, eine Versuchung für den Entwicklungshistoriker gewesen ist: daß Wissenschaft aus der Voraussetzung der Zwangsläufigkeit des früheren Geschehens zur Vorbestimmung des zukünftigen Geschichtsverlaufes vorschreiten solle. Er spricht es geradezu aus, daß die Geschichtsforschung es uns ermöglichen solle, über die Zustände in der Zukunft Erkenntnis zu erlangen. Doch spricht er nur, wie es einem vorsichtigen Empiriker zukommt, mit wenigen, leise an die Dinge rührenden Worten von dieser Aufgabe. Religiöse, astrologische Behauptungen werden erwähnt, auch nicht aus Ibn Chalduns Wissensbereich ausgeschlossen, doch nicht eigentlich zum Grunde weiterer Folgerungen gemacht. Von sonstigen allgemeinen Forderungen der Weglehre, der Methode, sei die nach beständiger Anwendung der Vergleichung genannt, als ein Beweis der Fähigkeit Ibn Chalduns, sich des Prinzips einer Forschungsweise bewußt zu werden, die er beständig handhabte. Wie selten diese Folgerung 3*

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Ibn Chaldun.

gezogen wird, dafür liefert leider noch die werktätige Geschichtsforschung unserer Tage Belege genug. Am glücklichsten aber ist Ibn Chaldun doch dort, wo er sich dem Bereich der mit Wirklichkeit gesättigten geschichtlichen Gegebenheiten nähert. Er hat innerhalb seiner Lehre von den Einflüssen der Umwelt, vom Klima gehandelt und ist dabei doch wesentlich weiter gelangt als die in Anlehnung an Ptolemäus verfahrenden anthropologischen Darlegungen früherer arabischer Forscher. Vor allem gelangt er zu der Erkenntnis, daß bestimmte Zustände und Leistungen geistiger und gesellschaftlicher Art weder in den Zonen allzu kalter, noch in denen allzu heißer Temperatur erreichbar sind. Die Bevorzugtheit der Landgürtel des gemäßigten Klimas wird mit unparteiischer Gerechtigkeit an Persern und Arabern, Indern und Chinesen, Juden und Griechen, Spaniern und Franken nachgewiesen. Auch die heutige Leibeskunde ist mit Ibn Chaldun der Meinimg, daß die schwarze Hautfarbe der Neger, die dunkle der Südländer, auf die Einwirkung der Sonnenstrahlen zurückzuführen ist; er will auch das blonde Haar und die blaue Augenfarbe der Nordländer aus entsprechenden Gründen erklären. Er sucht auch Wege zur Gemütsart vom Klima her: die sorglose Leichtlebigkeit der Neger, die weit schwerere, vorsichtigere Weise der Marokkaner führt er auf das verschiedene Klima zurück. Die Bodenbeschaffenheit der Länder wird ihm zum Grunde für die Verschiedenheit der Körper- und Wesenseigenschaften ihrer Bewohner. Die Gegensätze zwischen Wüsten und fruchtbaren Ländern bilden hier den Ausgangspunkt seiner Lehre1. Eigens denkwürdig ist Ibn Chalduns Stellungnahme zur Rasse. Sie macht es sich, das zeichnet sie vor manchen früheren Rassetheoretikern aus, nicht so bequem wie diese, insofern sie einen Teil der Unterschiede in Seele und Geist der einzelnen Völker nicht ausschließlich auf das Blut, sondern auf das Klima zurückführt. Nur bei bestimmten Völkern, ») Ayad, Ibn Chaldun 101 f.

Klima, Boden, Rasse; weder Ökonomismus noch Materialismus.

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dies ist seine Meinung, so bei Arabern und Juden, trete die Rasse in den Vordergrund, während bei andern, so bei Negern und Slaven, die Einwirkungen des Klimas überwiegen. Nach der Analogie der geistigen Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts und insbesondere des marxistischen Sozialismus hätte nun an dieser Stelle seiner Gedankengänge für Ibn Chaldun die Versuchung nahe gelegen, in eine Denklinie des Ökonomismus und Materialismus abzugleiten. Aber wie weit blieb er doch vor diesem Irrtum bewahrt. Wohl ist ihm zuerst die Ernährung und Lebensweise einer der wichtigsten Faktoren für die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, und er führt sie wiederum auf die physische Umwelt eines Volkes zurück; aber das sind mehr statische als dynamische, mehr die bleibenden Lebensbedingungen als die fortarbeitenden Geschichtsbedingungen angehende Einwirkungen. Den Fortgang der wirtschaftlichen Entwicklung, den er für die Entstehung uer Unterschiede zwischen den einander folgenden Generationen für eigens wichtig hält, sieht er im wesentlichen als einen autogenen, eigenwerdigen, aus sich selbst entstehenden an. Ibn Chaldun geht, wenn er diesen Werdegang erforscht, aus von dem Nomadentum, das er als den wirtschaftlichen Urständ der Menschheit ansieht. Dieser Urständ benutzt die Viehzucht und den —• offenbar noch als flüchtig und wechselnd angesehenen — Bodenbau, um die unentbehrlichsten Lebensmittel zu gewinnen. Bei wachsendem Wohlstand der Bauern und Viehzüchter und bei zunehmender Seßhaftigkeit werden größere Häuser gebaut, Städte gegründet; man sucht die Annehmlichkeiten des Lebens auf. So kommt aus diesen Gründen der wirtschaftlichen Eigenentwicklung eine der Voraussetzungen des zweiten Stufenalters, der Zivilisation zu Stande. Aber wohl gemerkt, nur eine dieser Voraussetzungen : die Hasabijja, der Gemeinsinn, der schon die Urzeit bestimmte, wirkt noch fort, und die Entfaltung des Machttriebes der starken Einzelnen zu Führertum und Königsherrschaft kommt erst jetzt zur vollen Geltung.

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Ibn Chaldun.

Die Überlegenheit der Geschichtslehre von Ibn Chaldun über die von Karl Marx oder vollends die des Marxismus ist in der so viel größeren Weisheit zu suchen, die ein Nebeneinander von Geschichtskräften verantwortlich macht für das Emporkommen eines neuen Stufenalters, während der große — freilich in der geistigen Form von Hegel herzuleitende — Grundfehler des Marxschen Sehens darin bestand, daß er alles geschichtliche Werden auf e i n e Urwurzel, die des wirtschaftlichen Handelns zurückführen wollte. Dazu kommt, daß für die Seelenkunde Ibn Chalduns ganz gewiß die beiden anderen Triebkräfte, die das neue Stufenalter heraufführten, die Hasabijja, die den inneren Zusammenhalt der Gruppen und damit ihren Staatssinn schuf, und der Machttrieb der stärksten Einzelnen, der mit Einzelherrschaft und Königtum den nachdrücklichsten Außenzwang auf die Gruppen ausübte, sicher von wesentlich stärkerem Gewicht waren, als das nur materielle Geschehen des wirtschaftlichen Fortschrittes. Die Sehweise Ibn Chalduns entspricht bis auf die Einzelheiten seiner Urteilsweise den Sichten, die eine Geschichtsauffassung, wie die auf diesen Blättern vertretene, geltend macht 1 . Er ist von der freilich von Grund aus dem neunzehnten Jahrhundert und der Geschichtsanschauung von nach 1848 angehörigen Einseitigkeit einer rein ökonomischen Geschichtsanschauung völlig frei und gelangt mit seiner umsichtigen, an vielfacher Lebenserfahrung geschulten Geschichtsweisheit zu der allein möglichen Entscheidung, daß nur das Nebeneinander von mehreren teils gleich, teils verschieden mächtigen Geschehensreihen der geschichtlichen Entwicklung dem wahren Wesen des geschichtlichen Werdens entsprechen kann. Ibn Chaldun hat außer den schon genannten Reihen des geschichtlichen Lebens auch das Leben der Glaubensgemeinschaften und die Fortbildung des Adels Vom geschichtlichen Werden: I Persönlichkeit und Entwicklung (1925) 138f. und I I Die Macht des Gedankens in der Geschichte in Auseinandersetzung mit Marx und mit Hegel (1926) 114f.

Mehrfaltigkeit der Entwicklungsreihen; Mängel der Empirie.

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in Betracht gezogen, und ganz sicherlich nahm die wirtschaftliche Entwicklung nicht wie in der marxistischen Geschichtslehre den obersten, in Wahrheit entscheidenden Rang ein, sondern einen der letzten. Seine Gesinnung läßt in allen ihren Bezeugungen die Bevorzugung der seelischen vor den materiellen Werten erkennen. Den geistigen Fortschritt des zweiten Stufenalters, der Zivilisation, läßt er — hierin tief irrend, auch sich selbst im selben Atemzug in Hinsicht auf die anfänglich nicht schriftlich festgelegte Glaubensbildung widersprechend — bedingt sein von der Voraussetzung wirtschaftlichen Wohlstandes; aber er war weit entfernt von der irrigen Grundmeinung der Marxisten, als sei dieses geistige Geschehen eine Auswirkung des wirtschaftlichen Portschrittes 1 . Am tiefsten faßt die Geschichtslehre des Ibn Chaldun da, wo sie sich als eine Weltanschauung im kosmologischen Sinne des Wortes offenbart. In der ganzen Welt, sagt er an einer der bekenntnishaftesten Stellen seines Werkes, herrscht eine feste Ordnung. Alles ist als Ursache und Wirkimg miteinander zusammengekettet. Ibn Chaldun war in Wahrheit Daseinsforscher, und in der Gesetzlichkeit alles Geschehens sah er den Schlüssel für alles Verstehen von Welt und Menschen. Ibn Chalduns Lehre ist gekennzeichnet durch ihr in aller Geschichte der Geschichtsforschung erstmaliges und auf anderthalb Jahrtausende einzigartiges Hindringen zum Allgemeinen, und doch, was wir nicht verschweigen dürfen, bedeutete diese seine größte Stärke doch auch seine Schwäche. Was ihn so stark vorwärts trieb und was ihn dadurch alle seine großen Erfolge erringen ließ, war die Fähigkeit, weit in die Zukunft hinaus vorwärts zu schauen, mit einer schlechthin sprunghaften Phantasie ganze weite Zwischenräume von Wissensgebieten, die vor ihm niemand durchforscht hatte, die aber auch ihm gänzlich unbekannt waren und blieben, zu Ayad, Ibn Chaldun 103, 105, 140, 187 f.

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Entstehung: Die großen Ahnenden: Ibn Chaldun.

überfliegen. Und diesem Schicksal verfiel die ganze Breite der Zone, die eine in vollem Sinne entwicklungsgeschichtlich behandelte Universalgeschichte hätte einnehmen müssen. Kein Zweifel, er wäre seinen geistigen Möglichkeiten nach zur Lösung einer solchen Aufgabe vollauf befähigt gewesen. Aber über sie fort trug ihn eben der überstarke Flügelschlag seiner forscherlichen Phantasie. Und so kam es, daß er den für ihn nächst gelegenen Gegenstand historischer Bemühung, die histoire contemporaine, die zeitgenössische Geschichte seines eigenen Völkerstammes, der Berber, auf eine im wesentlichen descriptive, in Wahrheit nur beschreibende Weise erledigte, daß er diesem Buche, um dafür einen weiteren Hintergrund zu schaffen, eine Universalgeschichte von ähnlicher Beschaffenheit als Einleitung gab, daß er dann aber zu einer Geschichtslehre höchsten Stiles und weitesten Maßstabes hindrang und die im Grunde natürliche Zwischenstufe einer Universalgeschichte entwicklungsgeschichtlicher Art wie etwas Überflüssiges übersprang. Er t a t damit in Wahrheit nach dem ersten den dritten Schritt, ohne den innerlich in jedem Betracht geforderten zweiten auch nur im Plan zu berücksichtigen. Wie viel breiter, fester und stichhaltiger auch das von ihm ausgeführte Werk der höchsten Krönung, wie viel reicher auch die von diesem selbst gezogenen Schlußfolgerungen geworden wären, ist leicht zu ermessen. Doch soll über dieser Einschränkung von Ibn Chalduns Ruhm, die nur um der wissenschaftsgeschichtlichen Wahrheit willen hier vermerkt werden mußte, der unvergleichlich viel größere Reichtum, den nicht nur sein Völkerkreis, sondern die Menschheit selbst Ibn Chaldun verdankt, nicht vergessen werden. Er ist durch ihn in die Reihe der größten Forscher in aller Wissenschaftsgeschichte und zum Rang eines der höchsten Geister der Menschheit erhoben worden.

Aristoteles, Ibn Chaldun, Vico.

Zweiter

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Abschnitt.

Die ersten Vollender. Erstes Hauptstück. Vico. Erstes Stück. Die G r u n d g e d a n k e n seiner Lehre. Die Geschichte der Großtaten der Wissenschaft bewegt sich in einem besondern Schrittmaß. Es sind nicht einmal Bergkegel, die sich über Gebirgsgruppen mittlerer Höhe erheben, sondern es ist eine Anzahl von höchsten Gipfeln, die wie vulkanische Gebilde aus weiten Zwischenräumen platter Ebene aufsteigen, so als hätte es zwischen ihnen überhaupt nie Erhebungen auch nur der niedersten Art gegeben. Aristoteles, Ibn Chaldun, Vico: das ist die erste für den entwicklungsgeschichtlichen Gedanken in Betracht kommende Reihe. Aber welche Klüfte fast völliger Berührungslosigkeit und welche Weiten geistiger Unfruchtbarkeit dehnen sich zwischen diesen drei Gipfeln aus. Sie gehören drei Völkern, drei Kulturkreisen an, und wenn auch Vico nicht ohne die Wurzelschicht des altgriechischen Geistes zu denken ist, so führen von seinem Geschichtsdenken zu dem des Aristoteles, dessen geschichtliche Werke zu Vicos Zeit noch nicht gekannt oder mit seinem Namen verbunden waren, kaum irgend welche Fäden unmittelbarer Verbundenheit zurück. Und zwischen Ibn Chaldun, der auch für unsere Zeit erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entdeckt worden ist, und Vico fehlt vollends jeder Zusammenhang geistiger Beziehung. Daß zwischen Aristoteles und Ibn Chaldun ein zeitlicher Abstand von siebzehn Jahrhunderten, zwischen Ibn Chaldun und Vico immerhin noch einer von dreieinhalb Jahrhunderten aufklafft, erscheint

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Entstehung: Die ersten Vollender: Vico.

neben diesen Kulturentfernungen mehr wie ein Sinnbild, denn wie eine Ursache der Getrenntheit. Vico ist zunächst in einem Betracht ein naher Geistesverwandter von Ibn Chaldun: das Schwergewicht seines Schaffens liegt nicht bei der Anteilnahme an werktätiger und zumeist beschreibender Geschichtsforschung, für die er — wenngleich sehr viel weniger als Ibn Chaldun — tätig gewesen ist, sondern ebenfalls wie bei dem großen Araber in einer ganz gipfelhaften Geschichtswissenschaft höchsten Ranges, einer Geschichtslehre von halb metaphysischer Geistesrichtung. Auch die Auswirkung dieses Grundverhältnisses zur Geschichtswissenschaft ist bei Vico der in Ibn Chalduns Entwicklung ähnlich. Es ist eine verhältnismäßig dünne Schicht, die in der Pyramide von Vicos Schaffen durch die Anfangswerke beschreibender Richtung eingenommen wird, und es fehlt in ihr ebenso wie bei Ibn Chaldun eine breite Mittelschicht von folgerichtiger Entwicklungsrichtung. Schon das rechtsphilosophische Buch von 1720 gehört der obersten Schicht reinen Geschichtsdenkens an, durch deren Werke er seinem Namen, wenn auch gewiß noch nicht seinem Leben, Ruhm errang. Der Grund, aus dem diese Ähnlichkeit hervorging, ist begreiflicher Weise die gleiche geistig-seelische Grundanlage: ein leidenschaftliches Hinstreben zu den obersten Schichten erfahrungswissenschaftlichen Forschens, ein innerster Zwang, nur die letzten Erkenntnisse zu gewinnen. Trotz dieser Ähnlichkeit unterscheidet eine tiefe Wesenskluft die beiden Geschichtsdenker: es ist der unüberwindliche Hang und Drang Vicos zur Metaphysik, d. h. zu einer Daseinslehre, die das erfahrungswissenschaftliche Gepräge und damit die erfahrungsmäßige Sicherheit in seiner Forschung in hohem Maße in Frage stellt. Gewiß, auch Ibn Chaldun war in etwas angewandelt von einer Neigung zu metaphysischer Sehweise; aber es ist dargelegt, ein wie geringes Maß von änderndem oder gar lähmendem Einfluß diese Eigenschaft seiner Geistigkeit auf sein werktätiges Forschen ausgeübt hat. Sein Verhältnis zu der Gotteslehre

Sprunghafte Forscherphantasie, metaphysische Grundgesinnung. 4 3

des muslimischen Glaubens blieb ein oberflächliches, und die wenigen Ausstrahlungen weltlicher Metaphysik, die in seinem Lehrbau nachgewiesen sind, haben noch geringere Bedeutung. Ibn Chaldun war als der nüchterne arabische Realist, der er seinem Grundwesen nach war, völlig geschützt vor jedem Abgleiten in das halb dichterische Traumreich der Hinterweltler, um Nietzsches Scheltwort für die Metaphysiker zu entlehnen. Ganz anders Vico: in seiner Geschichtslehre spielt die metaphysische Sehweise eine so überwiegende Rolle, daß sie ihren erfahrungswissenschaftlichen Wert geradezu in Frage stellt. In den obersten Setzungen seiner Lehre streiten sich die beiden Grundneigungen seines Geistes: der Drang zum Wahren, wie er die lediglich aus dem Gedanken geborene Anschauung vom eigentlichen Sinn der Welt nannte, und der andere, vielleicht doch stärkere zum Gewissen, Wirklichen. Und diese Gesinnungen des Verum und des Certum sind, so gewiß sich Vico auch immer für das Verum entschied, doch nie ganz in seinem Werke zum Austrag gekommen. Alle Anhänger der Erfahrungswissenschaft, die sie am liebsten d i e Wissenschaft nennen möchten, sind der Metaphysik an sich nicht hold, am wenigsten aber dort, wo sie wie eine siegreiche Eroberin in das Reich der Einzelwissenschaft eindringt und es ihrer Macht unterwerfen will. Dann widerstehen wir, die wir wahrlich Anwälte und vorurteilsvolle Verteidiger des vichianischen Certum sind, die wir aber die Metaphysik — der wir allenfalls ihr Schalten und Walten gönnen möchten, wo sie in ihrem eigenen Bezirk, in dem Bereich von halb wissenschaftlicher Verstandes- und halb dichterischer Phantasietätigkeit verharrt — doch äußerst peinlich empfinden, wenn sie in unser Reich, das der Erfahrungswissenschaft, eindringt und hier von vornherein ein unldares Gemisch absichtsvoll-gewollter Gedankenherrschaft und treuen Wirklichkeitssinnes hervorbringt. Und dies gerade war Vicos Fall: er ist im Allgemeinsten wie im Innersten Apriorist. Er häuft eine Setzung-im-

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Entstehung: Die ersten Vollender: Vico.

Voraus auf die andere: im schroffsten Gegensatz zu Ibn Chaldun erliegt er schon bei dem Ausgangspunkt seiner Gedankengänge dem Gottesgedanken, dem reine Erfahrungs-wissenschaft doch am grundsätzlichsten fern bleiben sollte. Vico stellt den Satz auf, daß nur diejenige Forschung zum höchsten Ziel gelange, die den einzigen Quell der ewigen Wahrheit, die Gott selbst zum Garanten ihrer Weltsicht mache. Der Mensch selbst — und mit diesem kühnen Schritt geht Vico von einer theozentrischen zu einer anthropozentrischen Daseinslehre über — verhält sich zu dem von ihm geschaffenen Geschichtsbild wie der Schöpfer zu seinem Geschöpf. Eine Gewißheit kann nur die Erkenntnis geben, die aus sich selbst das von ihr angenommene Bild erschafft: der Mensch aber lebt zwar einmal die Geschichte, zugleich jedoch erschafft er durch den Gedanken auch in sich ihr Bild. Diese von ihm geschaffene Erkenntnis muß wahr sein, da nur eine ewige Ordnung der Dinge eine wahre Erkenntnis gewähren kann. Gott aber verbürgt die Ewigkeit und damit die Wahrheit dieser Erkenntnis, da jeder Zweifel an ihr einen Abfall von Gott bedeuten müsste und damit eine Verirrung des menschlichen Geistes. Man sieht, hier wird ein Apriori auf das andere gebaut, ein Fehlschluß auf den anderen. Und wenn etwa diese Darlegung in dem Satz gipfelt: weil der Glaube an Gott gesichert sei, sei auch die Ordnung der Dinge als ewig erwiesen; wenn sie aber ewig sei, so existiere sie in der Idee; das Reich der Idee aber sei dem Menschen durch seine Vernunft zugänglich, so ergibt auch das einfachste Nachdenken über diesen Gedankengang, daß er nur eine fortgesetzte Kette von willkürlichen Folgerungen, also von Fehlschlüssen darstellt. Es bleibt nur als in etwas plausibel die Behauptung, daß das vom menschlichen Geist entworfene Geschichtsbild um deswillen eine Garantie seiner selbst in sich trage, weil dann, wenn der Erlebende eines Geschehens mit seinem Schilderer identisch sei, die Sicherheit dieses Bildes gewährleistet sei. Aber man gewahrt auch sogleich,

Setzungen-im-Voraus; empirische Forschung.

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daß Vico hier das Gebiet der Metaphysik verläßt und sich mit einer schlechthin anthropologischen Lehre begnügt. Auch sie wird nicht ohne weiteres als sicher angenommen werden können —• denn warum soll die Auslegung, die die Menschheit ihrem Erleben gibt, nicht einen oder mehrere Irrtümer in sich schließen —, aber daß diese anthropologische Vermutung sehr viel mehr Wahrscheinlichkeit in sich trägt, ist ebenso gewiß. Es wird sich sagen lassen, daß jener metaphysische Oberbau in keinem Betracht eine Bereicherung des Vichianischen Geschichtsbildes darstellt. Sein Wert wird ohnehin noch des weiteren dadurch gemindert, daß sein Urheber nicht völlig dem Verdacht entzogen bleibt, daß er seiner Lehre nur deshalb alle seine theologischen Begründungen gibt, weil ihn die Sorge vor dem möglichen Groll der in Italien noch allmächtigen Kirche dazu gedrängt habe. Die rein metaphysischen, außertheologischen Bestandteile seines Lehrbaus aber sind in ihrer griechischen, d. h. platonischen Herkunft ohne weiteres zu erkennen. Die alte selig-unselige Hinterlassenschaft dieses Erbganges hat sich an diesem Großen des neuen Weltalters mit dem verhängnisvollsten Nachdruck wirksam erwiesen. Doch war Metaphysik nicht die einzige Sprache, die VicoGeist gemäß war. Wohl war das Ziel, das ihm vorschwebte, eine Vereinigung von Geschichte und Ideenlehre, und da die aus dem Denkbild geborene Wissenschaft das Wahre enthüllte, so kam ihr der höhere Rang zu. Auch war unter den Einzelwissenschaften, die Vicos Arbeitsprogramm enthielt, Geschichte nicht die einzige. Vico wünschte vielmehr auch eine weltliche Gotteslehre — una teologia della Providenza nannte er sie — eine Philosophie der Autorität, als welche ihm eine Theorie der Rechtsgeschichte galt, eine Geschichte der Ideen, die nicht nur eine Geschichte von Sprache und Mythus sein sollte, eine philosophische Kritik der Urgeschichte, ein System der Rechtsphilosophie. Dies sind fünf Pläne, aber erst der sechste und siebente Plan gehen

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Entstehung: Die ersten Vollender: Vieo.

die Geschichte an: der sechste, der wohl für die geschichtswissenschaftliche Sicht der Hauptplan in dem System Vicos ist, führt den bezeichnenden Namen »Eine ideale und ewige, allen Völkern gemeinsame Geschichte« und über sie erhebt sich noch wie eine höchste Zusammenfassung der Plan »Die Prinzipien einer Universalgeschichte«. Zweck und Aufgabe dieser beiden letzten Pläne sind in Vicos werktätigem Schaffen zusammengefaßt in dem Hauptwerk seiner Feder, in den »Grundzügen einer Neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker«. Es ist das Werk, das, 1723 veröffentlicht, 1730 in zweiter und endgültiger Gestalt abgeschlossen, die Summe von Vicos Geschichtslehre umfaßt, und neben dem die anderen Schriften Vicos weit zurücktreten. Vicos Neigung zu deduktiven und so auch metaphysischen Schlüssen ist zu groß, als daß man den empirischen Außengürtel seines Werkes in Klarheit etwa wie eine Hülle von dem Kern seiner allgemeinsten oder, wenn man will, seiner philosophischen Gedanken ablösen könnte. Dennoch wird möglich sein, die beiden Substanzen seines Denkens mit einiger Sicherheit auseinandertreten zu lassen. Wie vorsichtig Vico verfährt, wenn er von unten her baut, wird offenbar, wo er einen Querschnitt herstellt, durch den er die Reihen der geschichtlichen Entwicklung, in die er wie selbstverständlich den Längsschnitt der Geschichte zerlegt, in Gruppen spaltet. Er teilt sie in die Natur der Völker, ihre Sitten, ihr Naturrecht, ihre Verfassungen, ihre Sprache, ihre Rechtswissenschaft, den Aufbau ihrer Autorität. Die Abfolge erscheint uns nicht ganz vollständig, aber gegen den Grundsatz der Teilung ist nichts einzuwenden. Seine Sehweise ist sicherlich umfassender als die Ibn Chalduns. Wenn er zu den Entwicklungsstufen übergeht, unterscheidet er drei Naturen. In der ersten Natur herrscht die Phantasie. Mit den Mitteln dichterisch-schöpferischer, glaubensmäßiger Verklärung belebt und vergöttlicht sie die materiellen Dinge. Für sie ist maßgebend die Vorstellung, die sie sich von den Göttern bildet.

Die Neue Wissenschaft.

Drei Naturen.

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Die zweite Natur ist die heroische, die dritte die menschlich vernünftige. Die zweite Natur beherrscht das heroische Zeitalter, dessen Umfang sich etwa in der römischen Geschichte mit dem des Zeitalters der Klassenkämpfe, der Kämpfe zwischen Patriziern und Plebejern deckt. Es ist wohl eine der feinsten und instinktsichersten geschichtlichen Wertungen bei Vico, daß er die straffe, starke Kampffreudigkeit des römischen Bürgerkriegs als heldenhafte Gesinnung erkennt, mag auch seine Begeisterung, die in den Überlieferungen aus dieser Zeit mythische Symbole entdecken will, zu weit gehen. Der Grundsinn, aus dem heraus dies Zeitalter so gedeutet ist, zeugt von hohem Adel der Gesinnung und beweist eine Weite des geschichtlichen Blicks, die Vico nur allzu hoch hinaushebt über die Bürgerlichkeiten der Mommsenzeit. Dabei wird Vico den Parteien beider Seiten gerecht: er würdigt die grausame und hochmütige Härte des römischen Adels, aber er fühlt auch mit den gequälten und geknechteten Plebejern 1 . Die dritte Natur gibt dem humanen Zeitalter Farbe und Gesinnung: es ist die demokratische Volksrepublik, die von ihr erzeugt wird; ihr aber folgt die Monarchie des Kaisertums auf dem Fuße, der Vico in vollem Maße, ja mit hingegebener Begeisterung zugetan ist und der er die Erzeugung einer höchsten, einer gipfelhaften Kultur nachrühmt. Er sieht in ihr — in einer mittleren Zeit seines geschichtlichen Denkens - - geradezu das Ziel- und Endbild einer allgemein-menschheitlichen Entwicklung. Die Teilungsweise, die hier obwaltet, nähert sich in gewissem Maß der von Comte durchgeführten. So viel auch das Drei-Stadiengesetz Vicos von dem Comtes in seinen allgemeinsten, wie erst recht in seinen einzelnen 1

) Richard Peters, Der Aufbau der Weltgeschichte bei Giambattista Vico. Forschungen zur Geschichts- und Gesellschaftslehre, hrsg. von Kurt Breysig, I (1929) 114.

Entstehung: Die ersten Vollender: Vico.

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Absichten abweichen mag, ihrem Grundgepräge nach sind sie doch einander durchaus verwandt 1 . Drei Staatsformen Theokratie, Autokratie, Monarchie entsprechen den drei Naturen, die wir sehr viel lieber drei Stadien oder drei Phasen nennen möchten, und ebenso drei Formen des Rechts: die des göttlichen, die des Gewaltrechts und die des menschlichen, des Vernunftgesetzes. Die Völker gehen aus, so faßt Vico diese Reihe zusammen, von der häuslichen Monarchie des Familienvaters und durchlaufen weiter als Regierungsform die Herrschaft einer kleinen Anzahl, dann die einer großen Anzahl, endlich die Aller. Er nähert sich hier Hegel. Diese Entwicklungsreihen entsprechen einer Sehweise, die den von der beschreibenden Geschichte aufgefundenen Tatbeständen noch verhältnismäßig nahe blieb. Mit einer zweiten Teilung aber dringt Vico weit über solche einfachen Gegebenheiten fort und will den großen Stoff der Menschheitsgeschichte in ganz große Entwicklungsalter teilen, durch die er die Längsschnitt-Teilung noch des weiteren und auf eine wahrhaft herrscherliche Weise gewissermaßen in eine zweite Potenz erheben will. Er findet nämlich, daß das Insgesamt nicht nur der Menschheits-, sondern schon der europäischen Geschichte im Längsschnitt der Zeiten in zwei Hälften zerlegt werden könne und müsse. Es war die Entdeckung des Parallelismus zwischen alt- und neueuropäischer Geschichte, die ihm geworden war. Heute, da wir schon seit vier Jahrzehnten im Besitz dieser Erkenntnis sind 2 , mag sie uns nicht so erstaunlich vorkommen, wie sie es verdient. Innerhalb von Vicos Wissenschaftsreich war sie gewiß die gewaltigste seiner forscherlichen Taten, vor allem 1

) Weiteres hierzu vgl. bei Marcuse, Das Dreistadiengesetz bei Giambattista Vieo. Schmollers Jahrbuch L I X , Heft 2 (1935). 2 ) Ich darf als auf die erste Form, in der sie öffentlich vertreten wurde, hinweisen auf den Aufsatz: Die soziale Entwicklung der führenden Völker Europas in der neueren und neuesten Zeit. Ein Versuch. Schmollers Jahrbuch, Bd. 20 — 22 (1896—1898).

Parallelismus zwischen alt- und neueuropäischer Geschichte. 4 9

um deswillen, weil ihm mit ihr zum ersten Mal eine Steigerung, ja man darf sagen, eine Potenzierung der einfacheren seiner geschichtswissenschaftlichen Errungenschaften gelang. Denn so war doch der Gang seines wissenschaftlichen Erkennens bisher gewesen. Er sah in den lang durch die Jahrhunderte hin gestreckten Geschehensreihen Längsschnitteinheiten, wozu die Geschichtsforschung bis dahin noch in keine Wege gelangt war. Es sind die sieben nach den großen Geschichtsvölkern geordneten Reihen, in die er den gesamten Geschichtsstoff geordnet hat 1 , und für sie ist die Anordnung, in der sich ihm die Abfolge des Geschehens darstellt, wie selbstverständlich eine entwickelnde. Freilich, die Zeittafel, die Vico in der zweiten Auflage seines Werkes entworfen hat, verfolgt mehr den Zweck einer synchronistischen Nebeneinanderstellung der sieben Völkergeschichten. Aber die Grundabsicht dieser Zeitenübersicht ist doch, lange Geschehensreihen von fortschreitender Veränderung als die Grundform des geschichtlichen Bildes erscheinen zu lassen. Das gleiche gilt von jener anderen Siebenteilung, durch die er, zuerst im Querschnitt, das Insgesamt des geschichtlichen Lebens zerlegt, um durch dieses Begriffsnetz sodann das Strömen der Geschichte fließen zu lassen, um auf diese Weise ein Bündel von Sachgeschichten im Längsschnitt zu gewinnen. Jene Gesamt-, diese Sachgeschichten können der Geschichtsanschauung von Vico sich kaum anders dargestellt haben, denn als Reihen von sich ändernden Zuständen. Zweites Stück. Geschichtliches Handeln und geschichtliches Denken. Von Vicos Verhältnis zum Entwicklungsgedanken wird der folgende einigermaßen komplexe Sachverhalt auszusagen ') Tavola Cronologica (Principi di Scienza nuova (II. Fassung 1857) S. 42. B r e y s i g , Meister der Geschichtsforschung.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Vico.

sein. Vico ist zuerst in den Forderungen seiner Geschichtsforschungslehre, in den zahlreichen Vorschriften, die er dem Geschichtsforscher erteilt, demnächst aber auch in den — meist kurzen und nie vollständigen — praktisch ausgeführten Stücken darstellender Geschichtsschreibung, in denen diese Entscheidung in Frage kam, in Wahrheit ein Verwirklicher des Entwicklungsgedankens geworden. Man hat dies nicht so zu verstehen, als hätte er den grundsätzlich so wichtigen Schritt, den wichtigsten, den die Geschichtsforschung je getan hat, in der Weise vollzogen, daß er wie ein Reformator der Geschichtsschreibung in diesem Betracht aufgetreten wäre; das ist ihm nicht in den Sinn gekommen. Denn er hatte zwar ganz gewiß nicht die Neigung, sein Tun zu unterschätzen und sehr den Wunsch, Rang und Sinn seiner großen Sendung zu verkünden; aber woran ihm lag und wo er durchaus den Wunsch hegte, den Wert seines Werkes der Welt kund zu machen, das war etwas ganz anderes, in seinen Augen sicherlich viel Höheres. Sein Ehrgeiz war, eine neue Wissenschaft höchsten Ranges, vom Rang der Philosophie selbst, zu begründen; er plante, die Philosophie von ihrem Throne zu stoßen und an ihre Stelle die Erkenntnisform zu setzen, die er selbst erst geschaffen hatte und dann Nuova Scienza nannte. Er selbst wollte so hoch steigen wie Descartes und an dessen Stelle, den er zu stürzen gedachte, der ungekrönte König im geistigen Reich seiner Zeit werden. Das war der Sinn des Gedankens gewesen, den er selbst sicherlich für die leitende und krönende aller seiner Ideen gehalten hatte: daß seiner Wissenschaft, der er als der idealen und ewigen Geschichte der Menschheit das bisher zu Unrecht von der Philosophie innegehabte Königsamt unter den Wissenschaften erobern wollte, um deswillen das Vorrecht unumstößlicher Erkenntnis und unvergänglicher Gewißheit zukomme, weil in ihr der Mensch sich selbst die ideale Geschichte der Menschheit erzähle, weil er sich hierin nicht irren könne, da ja diese Geschichte in den Modifikationen

Metaphysisches Planen, entwieklungsgeschichtliche Tat.

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seines Geistes vorkomme, weil in ihr der Erzähler und der Geschilderte der gleiche, weil in ihr Subjekt und Objekt dasselbe seien. Und Gott selbst, der zuerst die Welt gedacht nnd demnächst sie geschaffen hat, wird ihm zum Gleichnis des Menschen, der, da er das Tun der Menschheit denken könne, es auch richtig denken müsse. Man wird die Richtigkeit dieses Satzes ebenso in Zweifel ziehen können, wie das Schicksal Yicos heiße Hoffnungen unerfüllt gelassen hat; das eine aber geht aus diesen an sich wahrlich hochstrebenden Begehrungen hervor, daß Vicos Weise in Hinsicht auf sein eigenes Schicksal ähnlich sprunghaft den dritten Schritt vor dem zweiten vorweg nahm, wie als Forscher. Ein Verächter der Metaphysik würde sagen, daß es ihm erging wie Saul, dem Sohn des Kis, der ausging seines Vaters Eselinnen zu suchen und dabei ein Königreich fand. Der Traum einer metaphysischen Geschichtslehre, den Vico für sich und die Welt zu erfüllen trachtete, blieb ein Phantasma; aber die Entwicklungsgeschichte, als deren Urheber er sich sicher nie gefühlt hat, ihr wurde er nicht nur der Vater im Geist und Plan, sondern auch der Erfüller in Tat und Wahrheit, wenigstens so weit ihm das als dem Vollender von artvertretenden Bruchstücken gelingen konnte. Wie weit dies dem Sachverhalt entsprach, dafür vergleiche man einzelne, sein Planen und Vollbringen oder, wie er zu sagen pflegte, sein posse, nosse, velle artvertretend wiederspiegelnde Strecken seiner ins einzelne gehenden Darstellung, wie sie ihm dicht neben seinen, sei es erkenntnis-, sei es daseinswissenschaftlichen Konstruktionen immer wieder gelangen. So wenn er den Übergang von der heroischen Aristo-? kratie des mittleren Stadiums der römischen Geschichte zur Volksrepublik oder den von der Volksrepublik zu der Monarchie der Kaiserzeit als einen langsamen Werdeprozeß schildert. Das eigentlich Entscheidende ist hier die Einsicht in das langsame Werden als die häufigste Form des geschichtlichen Geschehens, und diese Einsicht mit immer 4*

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Entstehung: Die ersten Vollender: Vico.

neuen Belegen aus der beschreibenden Geschichte zu beweisen, wird Vico nicht müde. Daß er über allen diesen Einzelauswirkungen des Entwicklungsgedankens nicht zur ausdrücklichen Verkündung einer Losung für sein neues Tun gelangte, kann den Wert seiner Neuerung so wenig mindern, wie es an sich Verwunderung zu erregen geeignet ist. Denn die Geschichte der Wissenschaft ist voll von Beispielen dafür, daß es immer wieder zur Durchsetzung von werktätigen Umwälzungen in Wie und Weg von Neuerungen kam, ohne daß die glücklichen Finder auch nur auf den Gedanken gekommen wären, der Welt den unter der Hand errungenen Sieg zu verkünden. Daß es in diesem besonderen Fall dazu nicht kam, wird hinlänglich dadurch erklärt, daß Vico mit viel größerem Eifer nach dem weit glänzenderen Lorbeer eines Restaurators alles philosophischen Denkens und des Begründers einer nie erhörten Wissenschaft strebte. Es war ja doch auch, was er wollte, in gewissem Betracht die Quadratur des Zirkels, die ihm als Siegespreis für sein geistiges Mühen winken sollte: er wollte die Philosophie, insofern sie ein rein aprioristisches nosse, posse, velle verwirklichen sollte, aus der Welt der Wissenschaften verbannen; er wollte an ihre Stelle eine Geschichtswissenschaft des höchsten Stiles setzen, eine in der untersten ihrer gegebenen Grundlagen empirische Wissenschaft also, von der er aber doch überzeugt war, daß sie im Aufbau ihres Weltbildes ebenso sehr der Folgerichtigkeit und der begrifflichen Sicherheit des denkerischen Schließens, wie der Wirklichkeit des durch die Beobachtung aufzunehmenden Geschehens Genüge tat — gemäß seinem tiefsten Gedanken, zu dem er immer wieder zurückkehrt, zu der, wie er meint, notwendig gegebenen Dasselbigkeit des geschichtlichen Handelns und des denkerischen Schließens. Und wenn diesem schönen Begeisterten des Gedankens die Möglichkeit des Irrens in den letzten Fragen in seiner Trunkenheit gar nicht ankam, so hat er auch ganz ver-

Geschichtswissenschaft statt Philosophie; drei Stadien.

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säumt, sich der an sich gewiß bescheidenen, aber um so sichreren Erträge seines im engeren Sinn geschichtlichen Forschens zu rühmen, ja sich ihrer auch nur recht bewußt zu werden. Um so mehr ist es Pflicht der wissenschaftsgeschichtlichen Beleuchtung, diesen Sachverhalt bis zur Evidenz aufzuklären. Man wird sagen dürfen, daß an diesem eigens schicksalvollen Geschehen sich deutlich das Wesen und zugleich das Geheimnis der gleichen Entwicklungsgeschichte zeigt, um deren Wesen und Geheimnis es sich handelte. Denn vielleicht f ü h r t diese Eigenschaft am tiefsten in die Verborgenheit entwicklungsgeschichtlicher Zusammenhänge, daß es so oft den eigentlich Führenden gar nicht bewußt wird, was Zweck und Ziel ihres Tuns ist. Und dies, obwohl, zum wenigsten in der Wissenschaft, es doch nur das denkbar gedankenhellste Schaffen ist, um das es sich da handelt. Das Reich des Unbewußten ist doch wohl ausgedehnter, als wir Verkünder der Bewußtheit es inne werden, die wir so oft nur ausführende Organe unseres Unbewußten sind. Am glücklichsten ist Vico da, wo seine Forschungen sich ganz aus dem dunklen Bereich der nur halb bewußten und halb geahnten Denkvorgänge •— eben wie die sind, die er seinem eigenen Schaffen gewidmet hat — - heraus heben und zu ganz klaren Behauptungen emporsteigen. Es ist der Ruhm eben der letzten Folgerungen, der höchsten Ausgipfelungen seiner Geschichtslehre, daß gerade sie diesem Bereich seines besten Schaffens angehören. Es sind erstens die Beobachtungen des allgemeinen Geschichtsverlaufs, die als zu seinem Drei-Stadien-Gesetz gehörig bezeichnet werden können, wenngleich Vico selbst sie nicht unter diesem Namen zusammengefaßt hat. Es ist jene Regel von den drei Naturen, die er als Durchgang und Entwicklungsstufen aller geschichtlichen Verläufe erkannt hat. Diese völlig gesetzlichen Feststellungen können als Ausfluß der tiefsten Erkenntnis von Vicos geschichtlichem Sehen gedeutet werden, der Erkenntnis von dem beständigen Fließen des menschlichen Ge-

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Entstehung: Die ersten Vollender: Vico.

schehens, der hierdurch geschaffenen Notwendigkeit, alle von der Geschichte überlieferten Zustände als eine Abfolge von nicht nur auf, sondern aus einander folgenden Handlungsweisen zu deuten. Und die stärkste Fähigkeit, die Vicos Geistigkeit ausgezeichnet hat, sein Vermögen, Wirres in Ordnungen zu schlichten und das Geordnete zu gliedern und zu bauen, setzt schon hier bei der primärsten seiner Ordnungen ein, bei der Einteilung des gesamten Verlaufs der Völkergeschichten in drei auf einander folgende Stufenalter — wie wir Heutigen sie nennen würden — Stadien, wie Comte sie getauft haben würde, Phasen, wie man sie möglichst sachlich-farblos bezeichnen könnte. Es ist schwer zu ermessen, wie viel Ordnung und Ordnungen schon durch diesen ersten Sieg von Vicos bauendem Geist geschaffen worden sind. Aus einem Chaos, wie es damals herrschte und wie es freilich in manchen Köpfen der beschreibenden Geschichtsforscher noch heute vorhanden ist, schuf er einen Gliederbau, der doch eben nicht nur die drei großen Stufenschichten umfaßte, sondern aus dem sich notwendig auch fast die ganze Fülle seiner anderen Ordnungen ergab. Die Sieben-Teilung nach den Geschichten der großen Völker und die zweite Siebenteilung der Sachgeschichten, in die er die Geschichte jedes Volkes zerspaltete, bedeuteten dann nur zwei weitere Schritte auf der durch die Stadienteilung eingeschlagenen Bahn. Die Querschnitt-Teilung der Völkergeschichten setzte sich gemäß der obersten Erkenntnis von Vicos Geschichtslehre vom Fließen der Zustandsgeschichte in die zwei großen Längsschnitt-Teilungen der sieben Völker- und der sieben Sachteilungen fort. Und es kommt gar nicht darauf an, ob man die Drei-Stadien-Teilung von Vicos drei Naturen aufrecht erhält oder ob man sie, was wahrscheinlicher ist, teilweise umändert: die Gewalt, ja die Größe dieser wissenschaftlichen Entdeckung bleibt ungemindert bestehen. Denn einmal war mit dieser ersten Teilung das Prinzip für alle weiteren Querschnitt- wie Längs-

Siebenteilungen;

Corsi e

Ricorsi.

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schnitt-Teilungen gefunden, sodann waren diese Stufenalter richtig: das göttliche Zeitalter, unter das er die Entstehung des Glaubens und der Familie sowie den Zustand einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung faßt, das heroische der mittleren Zeiten —• in Rom bis zum Ausgang der Bürgerkriege — und das humane der demokratisch-republikanischen und der Kaiserzeit, alle drei sind vollkommen gesund gesehene Entwicklungsabschnitte. Die zweite große Entdeckung, in Vicos eigener Benennung das Gesetz der corsi e rir.orsi, kann nicht nach der einfachen Formel von J a oder Nein, von Richtig oder Unrichtig beurteilt werden. Aus dem sehr einfachen Grunde, weil Vico hier zwar mit dem größten Scharfsinn einen inneren Unterschied zwischen zwei großen Entwicklungen erkannt hat, weil er ihn aber selbst nach seinem eigenen Maßstab auf einen falschen Grund zurückgeführt hat. Er hat ihn nämlich nicht, wie er nach seinen eigenen Regeln hätte tun sollen, auf das Einsetzen einer neuen Völkergeschichte, sondern auf die sehr merkwürdige Erscheinung eines inneren Geschehens, nämlich die Wiederholung eines schon einmal zurückgelegten völkergeschichtlichen Verlaufes zurückgeführt. Es ist der sehr stolze, auch von den heutigen Italienern gehegte Gedanke, daß mit der Völkerwanderung nicht ein neues Weltalter der europäischen Geschichte eingesetzt habe, sondern lediglich der Verlauf der römisch-italienischen Geschichte sich fortgesetzt habe. Nach unserer doch eben nicht nur germanischen, sondern auch objektiv richtigen Uberzeugung begann damals der Lauf der germanischen, später germanisch-romanischen Völkergruppe als der einer noch ganz jungen Völkergruppe ganz naturgemäß von neuem und konnte gar nicht anders als in parallelem Verlauf die Stufenalter der alteuropäischer Völker wiederholen und damit dann freilich auch ein neues Beispiel in der Reihe der schon früher zurückgelegten volksgeschichtlichen Verläufe, insbesondere der griechischen und römischen Geschichte, entstehen lassen.

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Entstehung 1 : Die ersten Vollender: Vico.

Vico aber, ganz eingenommen von der Überzeugung, daß die italienische Geschichte die ununterbrochene Fortsetzung der römischen Geschichte sei, wie denn in den Adern seines italienischen Volkes kein anderes Blut als das der Römer fließe, war zwar viel zu folgerichtig von den Schlüssen aus seiner älteren Geschichtserkenntnis erfüllt, um nicht den tiefen Unterschied zwischen der römischen und der italienischen Geschichte zu erkennen; aber da er sich von dem Gedanken der römisch-italienischen Geschichtseinheit nicht entfernen wollte, so geriet er auf den Ausweg, innerhalb dieser Geschichtseinheit einen Rückfall in die frühe Urzeit und einen zweiten Entwicklungslauf von diesem neuen Anfang bis in seine eigene Gegenwart anzunehmen. Und um für diese einzigartige, nie vorher dagewesene Erscheinung einen Grund zu finden, stellte er das Gesetz von Lauf und Wiederlauf, die Regel der corsi e ricorsi auf. Denn da er die Verursachung dieses Geschehens durch äußere Tatsachen, die des Einströmens des germanischen Blutes und Volkstums und des völligen Versiechens der Geschichtskraft der Römer, sei es durch den äußeren Zusammenbruch, sei es durch innere Ermattung, nicht als eigentliche Ursache des neuen Geschichtsverlaufs anerkannte, so mußte er zum mindesten als halbe Ursache ein Geschehen des inneren Geschichts verlaufes annehmen: den Rückfall in die Barbarei. Man wird die UnVollkommenheit dieser Gesamtkonstruktion nicht verkennen können, wird dabei aber doch anerkennen müssen, daß Vico den tiefsten und wahrlich für die Augen alltäglicher Geschichtsschreibung ganz verborgenen Sachverhalt genau erkannte: die tiefe Kluft zwischen alt- und neueuropäischer Geschichte, die sich zur Zeit der Völkerwanderung auftat, und den Parallelismus zwischen beiden GeschichtsVerläufen. Diese Erkenntnis aber ist von so schwerem Gewicht, daß daneben Vicos Fehler als belanglos verschwindet. Wenn für Vico die Kausalität alles geschichtlichen Geschehens ein Grundgedanke war, so braucht nicht an der

Alt- und neueuropäische Geschichte; Entwicklungstempo.

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K r a f t seines geschichtlichen Sehens irre zu machen, daß er zu den tieferen Gründen dieses Problems nie vorgedrungen ist. Und es entsprach der Grundneigung seines Jahrhunderts, daß ihm teleologische Vorstellungen näher lagen als kausalistische. Zu jenen führten ihn schon seine Vorstellungen von der Vorsehung Gottes, die er seinem Naturalismus nur dadurch erträglich machte, daß er die Meinung vertrat, die Vorsehung bediene sich für ihre Zwecke der natürlichen Bedingungen des menschlichen Geschehens als ihrer Mittel. Aber die Gedanken eines Hinstrebens aller menschlichen Entwicklung zu einem Ziel- und Endzustand nahmen bei ihm wenigstens zeitweise so greifbare Gestalt an, daß er von einer ewigen Republik — die er sich monarchisch dachte •— als einem endgültigen Zustand der Menschheit träumte. Andererseits war er doch auch befangen von der Vorstellung eines von Zeit zu Zeit wiederkehrenden Unter-, richtiger gesagt Niederganges, nach dem dann immer wieder eine ihm auf dem Fuße folgende Wiedergeburt die Heilung bringt 1 . Aber so weit hin über die Grenzen geschichtlicher Wirklichkeit schweifende Gedanken überwiegen nirgends. Vicos beste Stärke zeigt sich dort, wo er zwar über die Grenze beschreibender Geschichtsforschung weit hinaus fliegt, aber nicht die desjenigen Bereichs überschreitet, den auch ganz umsichtige Geschichtslehre noch einhält. So wenn er einmal, mit einer allerdings nur einmaligen, aber um so denkwürdigeren Bemerkung bis zu dem Gedanken des Tempos der Geschichte vordringt. Er vergleicht da die römische mit der griechischen Geschichte und macht dabei eine Beobachtung, mit der er den allerdings viel allgemeineren Gedanken der Entwicklungsgeschwindigkeit wenigstens in e i n e r Anwendung vorweg nimmt. Er findet, daß die Griechen in ihrer Entwicklung durch ihre Philosophie übereilt worden wären, während im Gegensatz zu ihnen die Römer im rechten Schritt vorwärts gegangen seien: con- giusto passo. Was *) Peters, Vico (1929) 172.

Entstehung: Die ersten Vollender: Vico

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kann hier mehr Bewunderung einflößen: das tiefe Eindringen in die Erscheinung des geschichtlichen Tempos oder die ebenso scharfsinnige Auffassung, daß dies Tempo eine große Norm haben müsse und daß die in Wahrheit gemäßigte Entwicklungsgeschwindigkeit der Römer dieser Norm nahe komme 1 . Gerade die eingängigste Untersuchung dieser Dinge, die wahrlich ohne jede Kenntnisnahme von Vicos Darlegung unternommen wurde, ist genau zu dem gleichen Ergebnis gekommen. Und um die Summe des Erstaunlichen zu vermehren schreitet Vico noch zu einem Vergleich der Griechen und Franzosen vor aus dem gleichen Grund ihrer geistigen Beweglichkeit. Und die allgemeinste von Vicos Beobachtungen zum Aufbau der Geschichte der Menschheit, die des Parallelismus der großen Volksentwicklungen beruht, im Grund doch auch auf dem tieferen Gedanken, daß die Entwicklungsrichtung in allen großen Volksgeschichten die gleiche gewesen ist, wenngleich Vico diesen Gedanken ebenso wenig ausspricht wie den anderen, zu dem hier eine reifere Geschichtsbetrachtung vordringen konnte und mußte, daß die von den einzelnen Geschichtsmächten aufgewandten Entwicklungsgeschwindigkeiten ebenso verschieden waren, wie das Maß der von ihnen in der bisherigen Geschichte zurückgelegten Entwicklungsstrecken. Denn man braucht in der Tat nur die eine Bemerkung Vicos, daß die amerikanischen Völker, wenn sie nicht durch die europäische Eroberung gestört worden wären, den gleichen Weg des geschichtlichen Fortschrittes hätten zurücklegen müssen wie die Europäer, auf die notwendigen Voraussetzungen ihres Denkens zu prüfen, so ergibt sich, daß hier beide Annahmen, die von der gleichen Entwicklungsrichtung und von der wenigstens ungefähr gleichen Entwicklungsgeschwindigkeit, bei Vico zu Grunde gelegen haben müssen. Und es verschlägt wenig, wenn nach 1

) Man vergleiche die nunmehr prinzipielle und eben darum allgemeinere Darlegung dieser Lehre (Vom geschichtlichen. Werden I I I [1928] 5 9 - 7 8 ) .

Entwicklungsrichtung; Vicos Forscherschicksal.

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der Überzeugung unserer Forschung die Verschiedenheiten zwar nicht der Entwicklungsrichtung, wohl aber die des Entwicklungstempos so groß sind, daß die Unterschiede der zurückgelegten Entwicklungsstrecken als unter Umständen endgültige und nie wieder einzubringende anzusehen sind. Der Kerngedanke der Wesensbeschaffenheit der Entwicklung ist doch in großartiger Vorwegnahme einer viel weiter vorgedrungenen Erkenntnis als Vicos Errungenschaft festgestellt. Wenn dann auch eine Lehre von den zurückbleibenden Völkern angefügt ist, so wird damit nur der notwendige Kontrastgedanke zu jener positiven Erkenntnis ausgesprochen. Der Größe dessen, was dem Geiste Vicos an Errungenschaften zu bewältigen gelang, entspricht nur die Größe der Leiden, die das Schicksal über das Leben dieses Märtyrers der Wissenschaft verhängt hat. Kollegialer Neid, eine Eigenschaft, die man leider wohl als das Berufslaster des Gelehrten, vornehmlich des beamteten Gelehrten, wird ansprechen können, hat an ihm so viel Schändliches an Misset a t vollbracht, wie an keinem anderen Forscher großen Namens. Er hat ihm mißgönnt, ihn aus dem jämmerlichen Hilfsamt eines Professors der Rhetorik zu der Stelle eines Professors in der juristischen Fakultät aufrücken zu lassen, und so kam es, daß der größte und schöpferischste aller Juristen, die je in Neapel, in Italien aufgetreten sind, von der Stellung ausgeschlossen worden ist, die ihm auch nur im Mindestfall gerechter Bewertung seiner Leistungen gebührt hätte. Man mag den inneren Wert von Amt und Rang noch so gering anschlagen, so wurde hier doch etwas schlechthin Bübisches vollbracht. Denn man fügte einem großen und zugleich edlen Menschen ein Übermaß von Kränkung zu. Und die Niedertracht, die hier am Werke war, h a t ihren Gipfel erreicht, als man den wehrlosen Mann an der Stelle traf, an der er am leichtesten und tiefsten verwundbar war. Man verstand von Neapel aus einen Angriff in eine wissen-

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Entstehung: Die ersten Vollender: Montesquieu.

schaftliche Zeitschrift Deutschlands zu praktizieren und so das Opfer dieser gelehrten Intrigue in den Augen desjenigen Landes zu diskreditieren, an dessen Schätzung als an der des Vaterlandes von Leibniz ihm am meisten gelegen sein mochte. Den Schurken, die an dem Unseligen so übel handelten, ist ihr böses Tun vollauf gelungen. Vico ist an den Folgen allzufrüher Überalterung dahin gesiecht. Er fuhr mit dem Gedanken in die Grube, nie auch nur das leiseste Äquivalent an Anerkennung für sein großes Wirken erhalten zu haben. Man wird es als den gerechten Triumph der Selbstbehauptung eines Großen ansehen müssen, daß Vico selbst sich in den schönen stolzen Worten, die er für sein Wirken fand, das Gegengewicht für alles Herzeleid und alle ihm zugefügte Schmach geschaffen hat. Er schrieb in einem Briefe des Jahres 1726, drei Jahre also nach Veröffentlichung seiner Scienza Nuova in ihrer ersten Gestalt: »Die Zeugung dieses Werks hat mich mit einem heldenhaften Geiste beseelt, der mich über den Tod und über die Verleumdungen meiner Feinde erhebt. Ich sehe mich sitzen auf einem Felsen von Diamant, wenn ich an das Gottesurteil denke, das dem Genius sein Recht werden läßt dank der Hochschätzung der Weisen«. Die Gesinnungsgenossen der Gegner Vicos, an denen ja auch heute kein Mangel ist, werden diesem stolzen Manifest gegenüber von Dünkel und grenzenloser Selbstüberschätzung reden. Man lasse sie bei ihrer Meinung, das wird ihr gerechtester Lohn sein.

Zweites Hauptstück. Montesquieu und seine Vorläufer. Vico steht wie ein erratischer Block einsam für sich; es würde irreführend sein, wollte man ihn in eine italienische, ja auch eine romanische Reihe stellen. Anders Macchiavelli,

Macchiavelli als Nachahmer des Polybios; Stufenalter.

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den man allenfalls den Vorläufern Montesquieus wird zuzählen dürfen. Mit demselben Recht würde man ihn freilich den Nachahmern der antiken, der griechischen Geschichtsauffassung zurechnen dürfen. Den besten Beweis dafür liefert die bekannte Stelle im zweiten Kapitel der Discorsi über die erste Dekade des Titus Livius, in der Macchiavelli den Kreislauf der Staatsformen in der Geschichte schildert. Vergleicht man nämlich diese Darstellung mit der ihr entsprechenden, in der Polybios seine Meinung über den gleichen Gegenstand darlegt, so findet sich, daß Macchiavellis Äußerungen in fast übersetzungsartiger Nähe zu dem griechischen Vorbild stehen. Das erste Stufenalter, das bei Polybios das Urkönigtum — Monarchia — und das Verfassungskönigtum — Basileia — umspannt, wird von Macchiavelli zu einem zusammengefaßt, das er principalo nennt. Das dritte Zeitalter bleibt wie bei Polybios Tyrannis — Willkürherrschaft — siaio tirannico. Die vierte Stufe des Polybios, Aristokratia, wird von Macchiavelli stato di ottimati genannt, die fünfte bei Polybios, Oligarchia — Minderheitswillkürherrschaft — stato di pochi. Demokratia, bei Macchiavelli stato popolare, darauf Ochlokratie, also allgemeine Willkürherrschaft, Anarchie, stato lizenzioso folgen. Diese Reihe kennzeichnet sich als eine Abfolge von drei starken Staatsformen, von denen je eine durch eine Abgleitung in ihre Übertreibung gefolgt ist. Am erstaunlichsten ist, daß Macchiavelli auch den Epilog des Polybios übernimmt, der zugleich den Sinn dieser Abfolge deutet, denn es heißt bei ihm wie bei Polybios: die Folge dieser Reihe bilde einen Kreislauf, den jede Volksentwicklung zuerst durchlaufen und sodann wiederholen müsse. Es ist vom Standpunkt denkender Geschichte aus gesehen sehr viel, was er in diesen wenigen Sätzen behauptet: zuerst eine ganz bestimmte Abfolge von Verfassungsformen, die zwar nicht a priori behauptet wird, sondern als der Ertrag der geschichtlichen Erfahrung dargeboten wird, von der aber durch eine

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Entstehung1: Die ersten Vollender: Montesquieu.

seelenkundliche Sinndeutung doch behauptet wird, daß sie die Reihenfolge der nacheinander auftretenden Verfassungszustände aus sich selbst heraus erzeuge. Diese Autogenie, diese Eigenwerdigkeit des Geschehens wird seelisch begründet dadurch, daß die drei Grundformen, die recht eigentlich das Knochengerüst dieses Stufenaufbaus bilden, zwar wie durch natürliches Wachstum entstanden erscheinen, die ihnen auf dem Fuße folgenden Staatsformen der Übertreibung aber wie durch Übersättigung hervorgereizt erscheinen 1 . Und damit ist an sich eine oberste Regel f ü r diese Geschichtslehre gefunden: die Gesetzlichkeit der Wiederholung. Man wird inne, daß mit dieser Behauptung im Grunde schon die Setzung, die Vico corsi e ricorsi nannte, gegeben ist, allerdings mit der Herabminderung, daß nicht die mindeste geschichtlich-erfahrungsmäßige Grundlage f ü r sie gegeben ist. Zum dritten aber bedeuteten diese beiden Regeln, daß beide Autoren, Polybios wie sein Nachahmer Macchiavelli, überh a u p t eine Gesetzlichkeit des geschichtlichen Geschehens annehmen. Man wird zugeben, daß dieser Gedanke der wurzelhafteste in aller Geschichtslehre und damit zugleich derjenige ist, der die tiefste Begründung für alle entwicklungsgeschichtliche Auffassung bedeutet. Was den Querschnitt dieser Geschichtsreihe anlangt, so mag er nicht allzu umfassend sein; es ist ja wirklich nur eine Reihe, die sich hier als Trägerin der Geschichte darstellt: es wird keinerlei Bündel von nebeneinander herlaufenden Entwicklungsreihen angenommen u n d noch weniger ein Bündel von Volksgeschichten. Andererseits aber ist die Reihe von Verfassungszuständen, die Macchiavelli hier zu einer Längsschnitteinheit verbindet, diejenige, die durch die Präzisheit, die scharfe Umgrenztheit ihrer Umrisse sich besser als jede andere dazu eignete. Es ist wahrlich kein Zufall, daß Piaton, wo er sich überhaupt mit Zeitfolge und Geschichte befaßte, daß Aristoteles, als er das erste Buch *) Es ist zu vergleichen Polybios Historiae liber VI, cap. 3 §§ 4—11 mit Macchiavellis Discorsi 1. I, cap. 2.

Gesetzlichkeit der Geschichte; Stufenfolge Jean Bodins.

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entwicklungsgeschichtlicher Art schrieb, daß Polybios, wo er wenigstens Beobachtungen zu entwicklungsgeschichtlichen Zwecken anstellte — kurz, daß sie alle drei, als sie ihren Weg zu entwickelnden Zielen einschlugen, Verfassungsgeschichte zum Gegenstand wählten, um die an sich neue Forschungsweise zu bewähren. Bei den romanischen Völkern, insonderheit bei den Franzosen, hat sich diese Reihe fortgesetzt, von Macchiavelli bis Montesquieu reichend. Mittwegs steht Jean Bodin, doch erstreckt sich seine Anteilnahme an der Geschichtslehre mehr auf ihren Kreisrand, als auf irgendwelche Fragen und Beantwortungen der Mitte. Selbst die Begriffsumgrenzungen der Staatsformen, unter denen er die überlieferten aristotelischen: Monarchie, Aristokratie, Populärst aat — Demokratio — unterscheidet, ist bei ihm nicht in geschichtlich-wc densmäßiger, sondern in begriffsmäßiger, systematischer Weise aufgebaut. Die einzige, allerdings sehr feine Beobachtung, die er in dieser Sicht angestellt hat, ist die Feststellung, daß die Abfolge der auseinander hervorgehenden Staatsformen bestimmten, wenigstens überwiegenden Normen unterliegt. Er meint zunächst, daß die beständigere Monarchie weniger leicht sich erschüttern und also verwandeln läßt, als die beweglichere Demokratie. Die uranfängliche Entstehung des Staates sieht er in der Monarchie, die, emporkommend als tyrannische Ursurpation, zuerst zum Despotismus, zuletzt zur Rechtsmonarchie übergeht. Es liegt näher, daß die Monarchie sich zuerst in die Aristokratie umformt, als sogleich schon in Demokratie. In diese schlägt die Aristokratie um. Abgesehen von der Anfangsphase, über die Bodins Denken völlig in die Irre geht, erweist sich seine an sich begrifflich theoretisch gemeinte Stufenfolge doch auch als empirisch halibar. Selbst die Lehre von den Wandlungen, die eine Formenlehre der Revolutionen enthält, und in der man einen Kern von Geschichtslehre vermutet, befaßt sich nicht eigentlich mit den Umwälzungen der Staaten als Formen von geschichtlichem Geschehen, sondern als Ausbrüchen heftigen und ge-

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Entstehung: Die ersten Vollender: Montesquieu.

steigerten staatlichen Lebens. D e n bei weitem f r u c h t b a r s t e n u n d folgenreichsten Dienst h a t J e a n Bodin der Geschichtsw i s s e n s c h a f t , d e r w e r k t ä t i g e n s c h i l d e r n d e n , wie d e r b a u e n d e n lehrmäßigen Geschichte, geleistet m i t der Lehre v o m Zus a m m e n h a n g zwischen E r d k u n d e u n d Geschichtswissenschaft. E r h a t eine geohistorische Sonderwissenschaft b e g r ü n d e t , die, s e l b s t h e u t e n o c h k a u m a u s d e n K i n d e r s c h u h e n h e r a u s gewachsen, doch einer großen Z u k u n f t entgegen geht. M o n t e s q u i e u , d e r 1734, also z w e i h u n d e r t J a h r n a c h M a c c h i a velli u n d h u n d e r t f ü n f z i g J a h r e n a c h J e a n B o d i n , e r s t d a s W o r t e r g r i f f e n h a t , ist i n H i n s i c h t a u f seine G e s c h i c h t s l e h r e beiden erstaunlich überlegen. Bezeichnend schon f ü r seine h o h e F ä h i g k e i t i n d i e s e m B e t r a c h t i s t die A u f s c h r i f t , d i e sein G e s c h i c h t s w e r k t r ä g t : B e t r a c h t u n g e n ü b e r die U r s a c h e n d e r G r ö ß e d e r R ö m e r u n d ü b e r die U r s a c h e n i h r e s V e r f a l l s . S c h o n d i e F a s s u n g dieser A u f s c h r i f t i s t i m G r u n d e d i e L o s u n g f ü r die E n t s t e h u n g e i n e r n e u e n g e s c h i c h t l i c h e n S o n d e r w i s s e n s c h a f t , eines Zweiges d e r z u k ü n f t i g e n G e s c h i c h t s l e h r e . D e n n es h e i ß t n i c h t z u v i e l b e h a u p t e n , d a ß n a c h Vico, d a ß vor Herders Ideen u n d vor J a c o b Burckhardts Weltg e s c h i c h t l i c h e n B e t r a c h t u n g e n nie e i n e S c h r i f t e r s c h i e n e n ist, d i e d e r g e s t a l t f r e i v o n d e r d/Lie&oöoi; v?.t], d e m u n g e f ü g e n Klotz des rohen Geschichtsstoffes, Weises u n d Starkes ü b e r d e n L a u f d e r G e s c h i c h t e g e s a g t h a t . D e r völlig e r f a h r u n g s w i s s e n s c h a f t l i c h g e r i c h t e t e n G e s c h i c h t s l e h r e a b e r w i r d es i m m e r d a r z u m R u h m e gereichen, d a ß der erste, der im geistigen W e s t e u r o p a das W o r t zu I n h a l t u n d Sinn eines langen Gesamtzuges innerhalb der Geschichte ergriff, einen völlig e r f a h r u n g s m ä ß i g e n W e g e i n g e s c h l a g e n h a t . S c h o n i n d e n A n f ä n g e n seines W e r k e s h a t e r sich w o h l d a f ü r a u s g e s p r o c h e n , d a ß sich G e s c h i c h t e u n d P h i l o s o p h i e v e r b i n d e n sollten; aber er m i ß t r a u t e d u r c h a u s einer Geschichtswissens c h a f t , d i e sich a u f S p e k u l a t i o n e n v e r l a s s e n w o l l t e . I n d e r T a t ist d e n n a u c h sein B u c h so g e w o r d e n , d a ß es d i e G r e n z e n e i n e r s t a r k e n , a n die Ü b e r l i e f e r u n g g e b u n d e n e n G e s c h i c h t s s c h r e i b u n g nie ü b e r s c h r i t t e n h a t .

Ursachen des Aufstiegs der Römer.

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Die Zweiteilung, in der sich der Titel darstellt, ist selbst der schlagende Beweis für eine forscherliche Gesinnung, die ihren Wurzelboden in einer reinen Geschichtslehre h a t : daß die Ursachen der Größe der Römer und die Ursachen ihres Verfalls einander gegenübergestellt werden, ist eine Fragestellung, die um Siriusweite von aller Seh weise beschreibender Geschichtsauffassung entfernt war. Die pflegte treuherzig zu erzählen, wie zuerst die Könige kamen, wie die Römer die Welt langsam eroberten, und wie zuletzt die Caesaren starben. Am meisten ist der Leser der Considérations gespannt zu vernehmen, worin denn Montesquieu die Gründe für den Aufschwung der Römer sieht. Zuerst ist man etwas enttäuscht zu hören, daß es die große Bereitschaft der Römer gewesen sei, ihren Gegnern die Mittel ihrer Kriegskunst abzulauschen und sich numidische Pferde, kretische Bogenschützen, balearische Schleuderer und rhodische Schiffe anzueignen. Kein Volk habe je mit so viel Umsicht den Krieg vorbereitet. Dann aber kommt er sogleich zu tieferen organischen Ursachen der römischen Überlegenheit: zur gleichmäßigen Verteilung des Bodenbesitzes — einem Erzeugnis also echter wirtschaftlicher Demokratie, nach deren Regeln jeder Bürger das gleiche und sehr starke Interesse an der Verteidigung des Landes gehabt habe, ein treffliches Heer des weiteren aus solcher Wehrpflicht gewährleistet gewesen sei. Montesquieu rühmt dann des weiteren die unerhörte Pflichttreue des römischen Volkes in der Gestellung eines Heeres, das viel größer gewesen sei, als die Größe seiner Bevölkerungszahl irgend habe erwarten lassen. Im zweiten punischen Kriege habe Rom in den schlimmsten Zeiten zweiundzwanzig bis vierundzwanzig Legionen auf den Beinen erhalten, bei einem Zensus von nur einhundertdreißigtausend Bürgern. Die römische Staatskunst war standhaft bis zum äußersten. In den Zeiten, da die Karthager ihre höchste Übermacht in Italien innehatten, nach den Unglückstagen am Ticinus, an der Trebia, am trasimenischen See, ja selbst B r e i s i g , Meister der GesohiohtsforBchung.

5

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Entstehung: Die ersten Vollender: Montesquieu.

nach der schwärzesten Niederlage bei Cannae hat sich der Senat nicht anders verhalten als einst gegen den siegreichen Pyrrhus: er lehnte jede Verhandlung ab, solange der Feind nicht den Boden Italiens verlassen haben würde. Nie nachgeben, auch nicht in der äußersten Not, das war römische Losung. Und das Volk selbst zeigte den höchsten Opfermut: es wurde Geld gesammelt für den Staat und als höchste Ehre galt eigens viel, und als Schmach eigens wenig zu opfern. Zu den Tugenden gespannter Willenskraft und höchster Begeisterung für die gemeinsame Sache fügten, nach Montesquieu, die Römer eine an Verschlagenheit grenzende Vorsicht. Ein Grundsatz ihrer äußeren Staatskunst war immer, wenn zwei Nachbarn ihres Landes in Streit geraten waren, f ü r einen von ihnen Partei zu ergreifen. Sie gewährten ihre Hilfe dem, der sie um Hilfe bat. Die Losung, die bei ihnen sprichwörtliche Geltung erhielt: »Teile und herrsche« war ein Grundsatz ihrer Staatskunst. Ebenso hatten sie zum Grundsatz erhoben, dann, wenn sie, namentlich in der Ferne, Krieg zu führen hatten, eine der dort starken Mächte sich zum Verbündeten zu machen. Rom brach bedenkenlos jeden Vertrag, den etwa einer seiner Feldherren geschlossen hatte und der dem Senat unbequem war. Andererseits haben die Römer lange Zeiten hindurch mit aller Absicht besiegte Staaten nicht erobert, sondern nur in Abhängigkeit erhalten. Erst zuletzt wurden sie dann der Republik einverleibt. So versteht Montesquieu, indem er eine Anzahl charakteristischer Einzelzüge sammelt, ein System ihrer Staatskunst aufzubauen und ein Gesamtbild ihres Emporkommens zu entwerfen. Als das Gegenbild baut Montesquieu die Summe der Ursachen des Verfalls der Römer auf; doch fällt sogleich sehr deutlich in die Augen, daß diese Gegenrechnung bei weitem nicht mit der gleichen Sorgfalt, vor allem nicht mit derselben Vollständigkeit aufgestellt ist. Es wird darauf hingewiesen, daß allmählich Söldner an der Stelle von Bürgern als die Verteidiger des Staats auftreten, Söldner, die nur der

Ursachen des Niedergangs der Römer.

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Autorität ihres Führers sich untergeordnet halten. Sie waren nicht mehr Krieger der Republik, sondern des Sulla, des Marius, des Pompejus, des Cassius. Es sei hinzugekommen, daß die Stadt Rom selbst zu groß geworden sei; die italischen Völker waren Bürger von Rom geworden, aber sie fühlten sich nicht als Römer, es gab keine römische Gesinnung mehr. Die römischen Gesetze waren die alten, aber sie paßten nicht mehr zu den neuen Umständen. Roms Gesetze waren vortrefflich dazu geeignet gewesen, um es zu vergrößern. Und unter allen Staatsformen, unter der Herrschaft der Könige, unter der Adels- und Volksherrschaft hat es nie aufgehört Unternehmungen zu wagen und, es hat unter allen Staatsformen Erfolg gehabt. Aber Rom verlor seine Freiheit, weil es sein Werk zu bald vollendete. Epikurs Gesinnungen hatten Übergewicht gewonnen, und die Sittenverderbnis, so schließt Montesquieu, die ihnen auf dem Fuße gefolgt sei, habe Geist und Herz der Römer verdorben. Von den Anfängen an, so behauptet er, sei die vaterländische Gesinnung der Römer eine mit einem religiösen Gefühl verbundene gewesen. Diese Stadt, die unter den besten Vorzeichen gegründet sei, habe Romulus zum König, aber auch zum Gott gehabt. Das Kapitol war ewig wie die Stadt, ewig wie der Gründer der Stadt. Jetzt aber kam das große Privateigentum auf: ein Eigentum aber, das den Normalbesitz eines Bürgers überstieg, habe an sich die Verderbnis der Sitten nach sich gezogen. Ein Vorwurf läßt sich allen diesen Ausführungen Montesquieus machen: das geistvolle Betrachten des Niedergangs der Römer zerlegt die ganz allgemeingeschichtliche Beobachtung, die er macht, in eine sehr große Anzahl von Einzelerwägungen und Einzeldarlegungen, die er alle wie die entscheidenden Ursachen des großen Geschehens erscheinen lassen will. Das aber ist gewiß mißgriffen, und zwar darum, weil ein Geschehen wie dieses ein so allgemeines, das Insgesamt einer großen Volksgeschichte umfassendes ist, daß es auch nur aus dieser Allseitigkeit begriffen und recht ge5«

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Entstehung: Die ersten. Vollender: Montesquieu.

würdigt werden kann. Mit anderen Worten: Montesquieu scheint von dem Vorurteil beherrscht zu sein, als könne der Abstieg der römischen Macht, der doch auch ein Abstieg der römischen Volkskraft war, durch e i n e Wurzelerscheinung erklärt werden und sei deswegen unter e i n e Formel zu bringen. Denn er kennt zwar eine ganze Anzahl solcher Geschichtsgründe, aber er führt sie hintereinander so auf, als genüge jeder von ihnen, um das Gesamtgeschehen zu erklären. Er denkt nicht daran, diese einzelnen Geschehensreihen miteinander zu verbinden, noch weniger sie auf einen großen Generalnenner zurückzuleiten. Er übersieht, daß ein so komplexer, zusammengesetzter und verflochtener Geschichtsvorgang wie der Niedergang eines großen Volkes auch nur durch ein großes, ebenso zusammengesetztes, ebenso verflochtenes Gesamtgeschehen erklärt werden kann. Der Ausgang des Römertums hätte, wenn überhaupt, zur Genüge nur aufgehellt werden können durch eine Übersicht der römischen Geschichte zum mindesten in den nachdiokletianischen Jahrhunderten, die wieder nur durch eine mit fester Faust zusammengepackte Vereinigung der hauptsächlichen Einzelreihen der römischen Entwicklung und wenn möglich ihre Zurückführung auf eine große Wurzelerscheinung herzustellen gewesen wäre. Überträgt man, was hier von Montesquieu gefehlt worden ist, in die Sprache der auf diesen Blättern vertretenen Geschichtslehre, so sind hier zu viele und zu zerspaltene Längsschnittgeschehensreihen nicht hinlänglich durch Querschnittbindungen und Querschnittvereinigungen zu einer geistigen Einheit verknüpft worden. Montesquieu war doch im Erkennen geschichtlicher Werdegänge noch nicht bis zu ihren tieferen Wurzelebenen durchgedrungen. Ihm darüber Vorwürfe zu machen, als habe er damit ein Ziel des Forschens nicht erreicht, das ihm zu erreichen vorbestimmt gewesen wäre, wäre denkbar ungerecht und gewiß nicht im Sinn des entwicklungsgeschichtlichen Gedankens selbst. Geistige Fortschritte vollziehen sich schrittweise, und

Pehlen von Querverbindungen; alte und neue Leistungen.

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was Montesquieu in dem Hinstreben zu den — erst später erreichten —• Zielen entwicklungsgeschichtlicher Forschung gelungen ist, bleibt erstaunlich genug. Allerdings blieb er sowohl an Kühnheit der wissenschaftlichen Einbildungskraft wie a n Energie der Durchführung um vieles hinter den Leistungen seines Zeitgenossen Vico, von dessen Werk er aller Vermutung nach nie etwas vernommen hat, zurück, und dennoch war es Großes, was er erreichte. Und die Wirkungen seines Werkes waren schon um deswillen, weil sie der zentralen unter den europäischen Wissenschaftsentwicklungen angehörten, größer als die Vicos, dessen Wirken so tragisch abseits blieb.

Drittes Hauptstück. Voltaire. Erstes Stück. Siècle

de Louis

XIV.

Wer für den Aufbau der Geschichte des Entwicklungsgedankens den Maßstab nach der Größe der in dieser Reihe aufgetretenen Werke des Geistes bemessen wollte, der müßte das Ende der klassischen Zeit der schöpferischen Geschichtslehre mit dem Tode Vicos ansetzen. Denn wenn man, wie billig, die Stufenleiter dieser Werke nach dem Stärkegrade der geistig-seelischen Leistung bemessen wollte, so müßte das Schaffen Ibn Chalduns und Vicos höher eingeschätzt werden als das aller späteren Meister der Geschichtslehre. Denn der Stärkegrad der vollendeten Werke, der allerdings zu einem anderen Ergebnis führen würde, kann bei weitem nicht so hoch bewertet werden, wie die Spannungen, die einst jene großen Eröffner der Reihe eingesetzt haben. So wenig auch die geistige Bedeutung von Voltaires oder Mosers Geschichtswerken als der der Schöpfungen jener beiden Großen ebenbürtig eingeschätzt werden darf, so ge-

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Entstehung: Die ersten Vollender: Voltaire.

wiß muß doch der Übergang von Plan und Forschungslehre zum ausgeführten Werk hoch bewertet werden. Nur darf man sich nicht verwundern, wenn es nur die ersten Schritte auf der neuen Bahn waren, die hier getan wurden. Voltaires Siècle de Louis XIV., dem man den ersten Platz in dieser Reihe schwerlich wird streitig machen dürfen, hat wenigstens in einem Stück die Erfüllung des Plans einer wahren Entwicklungsgeschichte in Angriff genommen: das ist die Ausdehnung des Programms der Geschichtsschreibung in die Breite. Es ist die Vervollständigung des Querschnitts der Geschichte, die von diesem ersten Begründer der werktätigen Entwicklungsgeschichte in Angriff genommen wurde. In den einleitenden Sätzen, in denen Voltaire den Plan seines Werkes entfaltet, ist ein Protest dagegen ausgesprochen, daß es sich mit dem Leben des Herrschers, dessen Namen es trägt, allein befasse. Die Gesinnung, die den Verfasser beseelt, ist offenbar eine Abneigung dagegen, so, wie die Geschichte bisher immer getan, sich mit den Taten der Könige allein zu beschäftigen. Voltaire will vielmehr, so wenigstens verkündet er, den Geist der Menschen des von ihm geschilderten Jahrhunderts malen. Und was er unter diesem Geist versteht, wird allenfalls dadurch angedeutet, daß es in der Geschichte nach Voltaire vier große Jahrhunderte gegeben hat: die Zeitalter des Perikles und des Alexander, des Augustus und des Horaz, der Medizeer und das Ludwigs XIV. Soll also der Geist der Menschen eines Zeitalters gekennzeichnet werden, so soll offenbar ihre geistige Kultur geschildert werden. Die Blüte der geselligen, vornehlich der höfischen Bildung und die des geistigen, besonders des künstlerischen Schaffens sind ersichtlich die Gegenstände, die der von ihm gewünschten Geschichtsschreibung zum Vorwurf dienen sollen. Immerhin weicht die Ausführung des dergestalt umschriebenen Planes von diesem selbst in beträchtlichem Maße ab: die mit einiger Mißachtung in den Hintergrund geschobene Geschichte der Könige und ihrer Taten behauptet in Wahrheit nicht viel weniger als drei

Programm; Erweiterung des Stoffes im Querschnitt.

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Viertel des dem ganzen Stoff gegönnten Raumes. Die größere Zahl der Kapitel ist der Politik und der Kriegsführung des Königs und seiner Staatsmänner und seiner Feldherren gewidmet. Und wenn vier unter diesen Kapiteln den Anekdoten und Besonderheiten — particularités — eingeräumt sind, so wird dadurch noch eigens deutlich gemacht, was sich freilich aus der Einzelausführung der politischen und militärischen Aktionen schon zur Genüge erkennen läßt : daß es beschreibende Geschichte ist, die hier dargeboten wird, wenn auch in geschmackvoller, künstlerischer Darstellung. Immerhin wird dann in zwei weiteren sehr umfassenden Abschnitten die Geschichte der Verwaltung und der Finanzen dargestellt, und endlich sind den Wissenschaften und den Künsten eigene Kapitel gewidmet, während vier Abschnitte den kirchlichen Angelegenheiten eingeräumt sind. Gerade diese Teile stellen wohl die geistig bedeutendsten Neuerungen dieses Geschichtswerkcs dar. Doch betrug ihr Umfang immerhin nur ein Viertel der ganzen Darstellung. Kein Zweifel, diese Erweiterung des geschichtlichen Stoffes im Querschnitt diente dem Entwicklungsgedanken in seiner Ganzheit. Man entsinne sich, wie in den ersten Ansätzen bei Ibn Chaldun, in weitgehender Fortbildung bei Vico, diese Ausdehnungen des Querschnittplanes und seiner Spaltungen schon da, wo sie nur Plan und Theorie waren, sich als Förderungen geltend machten. Man könnte wünschen, Voltaire wäre in der Richtung dieses Fortschrittes noch weiter gegangen und wäre zu einer Feststellung der Verflechtungen der von ihm durch diesen Querschnitt hergestellten Längsschnittreihen vorgedrungen. Doch kam es dazu ebensowenig wie zu den Intensivierungen der Längsschnitteinheiten, die man bei einer ernsthaften Durchdringung des neuen Entwicklungsschemas hätte erwarten sollen. Prüft man etwa die Abschnitte, die den Fortschritten der bildenden Künste gewidmet sind, so findet man nichts als die nicht eben eindringliche Aneinanderreihung einzelner Tatsachen, etwa einzelner Künstler oder allenfalls

Entstehung: Die ersten Vollender: Voltaire.

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einzelner Werke. Voltaire ist nirgends zu einer im Längsschnitt vergleichenden Kunstgeschichte von dem Rang und Wert der Kunstgeschichte des Altertums von Winckelmann gediehen. Was ihm gelang, war zuletzt und insofern Entwicklungsgeschichte, als die Tatsachen etwa der einzelnen Künste in Reihen gerichtet und insofern also zu Abfolgen des Nacheinanders geordnet waren. Zu irgend welcher inneren Verkettung des Wirkens der einzelnen Künstler oder auch nur zu irgend welcher Kennzeichnung der Richtungen oder Schulen ist Voltaire im mindesten nicht vorgedrungen. Das gleiche gilt von den Tatsachen oder Tatsachengruppen der Verwaltungs- und der Wirtschaftsgeschichte. Es ist lediglich eine Summierung von Einzelereignissen, zu der es kommt.

Zweites Stück. Essai

sur les moeurs

et Vesprit

des

nations.

Doch Voltaire hatte schon lange bevor er das Jahrhundert Ludwigs XIV. zu schildern unternommen hatte —• iip Jahre 1751 — ein sehr viel umfassenderes Werk in Angriff genommen, den Essai sur les moeurs et Vesprit des nations, der wenigstens seiner Aufschrift und wohl auch seinem ursprünglichen Plan nach eine Universalgeschichte der — europäischen — Völker seit dem Untergang der Antike darstellen sollte. Er hatte es schon vor 1740 zu schreiben begonnen; er hat unter dem Titel Nouveau plan d'une Vhistoire de l'esprit humain seit 1745 Bruchstücke daraus im Mereure de France veröffentlicht, und eine erste Gesamtausgabe mit der Aufschrift Essai sur Vhistoire universelle ist 1756 von ihm herausgegeben worden 1 . Erst die Ausgabe von 1769 erhielt den soeben genannten endgültigen Titel. Es wird sich ergeben, daß dies Werk ganz gewiß nicht ein Erzeugnis rein-entwickelnder Geschichtsforschung gel

) Hettner, Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts II (51894) 215.

Pläne und Versuche einer Universalgeschichte; Gesinnung.

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worden ist, aber es hat in Einzelbemerkungen und — was mehr sagen will — in Einzelzügen, genug Bestrebungen aufzuweisen, die die Richtung zum Entwicklungsgedanken einschlagen. Schon der erste Satz des Werkes, in dem Voltaire von den Sitten und dem Geist der Völker und von den hauptsächlichsten Tatsachen der Geschichte seit Karl dem Großen und bis zu Ludwig X I I I . handeln wollte, enthält ein Zeugnis der Gesinnung, in der es unternommen wurde, ein Zeugnis, das ebenso bezeichnend für seinen Urheber wie für das Zeitalter ist, für das er und aus dessen Geist heraus er schreibt. Als den Zweck seines Buches bezeichnet er kurzab die Absicht, den Widerwillen zu überwinden, den uns die moderne Geschichte, d . h . die Geschichte seit dem Verfall des römischen Reiches einflöße. Es sei dahingestellt, ob die abgöttische Verehrung der Alten, die noch lange dieses, das achtzehnte Jahrhundert beseelte, und die mehr als ein Jahrtausend hindurch in den Gemütern zu einer unerschütterlichen Übereinkunft geworden war, Voltaire zu diesem Satz bewogen hat, oder ein sachlicher, ein gesinnungsmäßigerer Grund, die unvertilgbare Höherwertung des Heldentumes und der Härte des römischen Geistes gemessen an der Haltung der eigenen Völker — insbesondere in der weicheren Gegenwart. Vermutlich haben beide Gedankengänge dazu beigetragen, um diese Gesinnung zu erzeugen, die Voltaire unverhohlen einen Abscheu gegen das eigene Zeitalter nennt. Auch die wissenschaftliche Gesinnung, der das Werk, das zu der Zeit seines Entstehens noch keines seinesgleichen zur Grundlage hätte nehmen können 1 , dienen sollte, ist schon in seinen ersten Sätzen sehr kurz, aber auch sehr nachdrücklich umschrieben. Es sollen der Geist, die Sitten, die Gebräuche der Hauptvölker geschildert werden 2 . Daß dies eine AbCet ouvrage fut composé en 1740 pour Madame du Châtelet, amie de l'auteur. Aucune des compilations universelles qu'on a vues depuis n'existait alors (Oeuvres complètes X X I I I [1792] 3 Anm.). a ) Oeuvres complètes X X I I I (1792) 3.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Voltaire.

Wendung von der politischen und eine Hinneigung zu dem, was gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts KulturGeschichte genannt zu werden pflegte, bedeutete, ist unverkennbar, auch wenn der Zusatz »gestützt auf die Tatsachen, die nicht übersehen werden dürfen« nicht darüber belehrte, freilich in einer Fassung, die nicht verkennen läßt, daß diese Tatsachen doch auch im Bild des Buches erscheinen sollen, wenn auch nur in zweiter Reihe. Und die Abneigung, von der sich dieser Geschichtsschreiber der Kultur beherrscht fühlt, gilt vornehmlich den Daten der Geschichte der Fürsten und der Herrschergeschlechter; wer das Unglück hätte, sie sich ins Gedächtnis zu prägen, der würde nur Worte in ihm aufbewahren. Wenn Voltaire dann fortfährt, es sei ebenso nötig, die großen Handlungen der Herrscher zu kennen, durch die sie ihre Völker größer und besser gemacht hätten, wie es überflüssig sei, das vulgäre Verhalten der Könige zu wissen, so berührt uns Heutige der Ton von Alltäglichkeit in diesen Gedanken, der in ihnen mitklingt, nicht angenehm. Aber welcher Geschichtsforscher von allgemeiner Interessenspannung möchte nicht die an Ingrimm grenzende Verachtung teilen, mit der dieser Universalhistoriker von Sendung erklärt, daß jede Stadt auch eine Geschichte habe, weitläufiger und detaillierter als die Alexanders, und daß die Jahrbücher eines Ordens mehr Bände umfaßten als die des römischen Reiches. Voltaire hält gegen eine Einseitigkeit in der Auswahl des geschichtswichtigen Stoffes eine Abwehr für nötig, die ihm naheliegen mochte als dem sehr unkirchlichen Freigeist, der er war, aber auch ein wenig aus der Rücksicht heraus, die er dem einzigen Geschichtsschreiber von wahrhaft universalgeschichtlichem Forscherwillen zu schulden glaubte, und die aus Respekt und Gegnerschaft seltsam gemischt war. Er greift Bossuet an, weil er alle Tatsachen der Weltgeschichte allzusehr vom Standpunkt des jüdisch-christlichen Geschehens ansehe. Doch ist Voltaire selbst, sobald er sich auf die Tatsachen der Geschichte bezieht, keineswegs frei von Irrtümern, und

Kulturgeschichte; Mißverständnisse im Entwicklungssinne.

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so gewiß es erlaubt ist, ihn zu den Förderern des Entwicklungsgedankens zu zählen, so gewiß läßt er es selbst in Sachen der augenfälligsten Entwicklungsunterschiede nicht an den allergröbsten Mißverständnissen ermangeln. So wenn er die Vorväter seines eigenen Volkes in einer Weise wegen ihres Kulturmangels schilt, die deutlich erkennen läßt, daß ihm jede Vorstellung davon abgeht, daß die Jugend oder gar die Kindheit der Völker eine völlig andere Sprache des Geistes spricht als die seiner eigenen Zeit. Den Galliern wirft er vor, daß sie einen greulich anzuhörenden Dialekt gesprochen hätten — es bleibt völlig unklar, woher ihm diese Wissenschaft kam. Ihre Sitten seien ebenso barbarisch wie ihre Sprache gewesen, die Druiden plumpe Betrüger, die Biskayer und die Gascogner Menschenfresser. Man müsse, so schließt er diese Anklagerede, seine Augen von diesen wilden Zeiten abwenden; sie seien eine Schmach der Natur gewesen. Man sieht, ein wie hoher Grad von Gescheitheit und selbst elementarer Geschichtskenntnis auch vor so großer Geschichtstorheit, wie sie sich hier ausspricht, nicht schützte. Einer der wesentlichsten Charakterfehler von Voltaires eigener Zeit, der unermeßliche Europäer- und Kulturdünkel des achtzehnten Jahrhunderts, hat hier wohl am stärksten mitgewirkt. Noch übler fahren unter dem Eindruck des gleichen Irrtums die Germanen, von denen ausgesagt wird, daß sie die nächsten Stammverwandten der Kelten, daß sie aber noch plumper und von einem minder trefflichen Gewerbefleiß gewesen seien. Am schlimmsten fahren die Briten: von ihnen heißt es, daß die Frauen allen Männern der Gruppe — canton ist hier wörtlich gesagt — gehörten und daß sie sich tätowierten1. Nicht die Aufreihung dieser zumeist — nicht immer — richtigen Angaben erscheint hier peinlich, sondern die Stimmung, aus der heraus sie gemacht werden, und die halb die eines überheblichen Hochmutes, halb die einer völlig unverständigen Verkennung aller Notwendigkeiten frühgeschichtlichen Wachstums ist. Oeuvres completes X X I I I (1792) 10 f.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Voltaire.

Der Drang nach entwicklungsgeschichtlichem Sehen ist bei Voltaire gleichwohl von Anfang an nicht zu verkennen: so in einer selbst für das meiste neueuropäische Geschichtswissen völlig unbekannten, ja noch für heutige Sichten seltenen Erkenntnis. Voltaire sieht die Wichtigkeit eines synchronistischen Zusammensehens auch räumlich und sachlich weit auseinander liegender Geschichtsreihen für eine wirklich universalgeschichtliche Betrachtung und gelangt so schon in den Anfängen seines Essais zu einer Vergleichung der babylonischen mit der chinesischen Zeitrechnung und zwar dort, wo es eigens möglich und freilich auch geboten erscheint, in Sachen der Sternkunde 1 . Ja, er gelangt schon dazu, Schlußfolgerungen in dem Bereich von Geschichtsentwicklungen zu ziehen, über die es zwar Nachrichten schon gibt, von denen er aber ganz mit Recht annimmt, daß sie unter anderen Voraussetzungen auch fehlen könnten. Er setzt den Fall, daß die Geschichte nicht wüßte, zu welcher Zeit Karl der Große gelebt habe, und stellt die völlig richtige Behauptung auf, daß man dann aus der Größe seiner Heere und der Ausdehnung seiner Eroberungen auf den Bestand eines großen Reiches und mit der gleichen Sicherheit auf eine Vorgeschichte von Jahrhunderten würde schließen können. Und er benutzt diese Analogie mit dem besten Recht für die chinesische Geschichte und diejenigen Zeiträume, mit denen sie nach Voltaires Schätzungen in die Frühgeschichte reicht, von der auch die älteste Überlieferung nichts zu melden weiß 2 . Er stellt kluge Vergleiche an, so wenn er feststellt, daß die Chinesen zur Zeit des Konfuzius vierfach, die Griechen zur Zeit des trojanischen Krieges erst zwei- und dreifach bespannte Streitwagen, beide aber nicht die mindeste Reiterei kannten. Dennoch, meint er, muß die Weise des Reiterkampfes der des Wagenkampfes vorangegangen sein. Und er zieht auch noch das dritte Reich sehr hohen Altertums hinzu und berichtet von einem *) Oeuvres complètes X X I I I 15. ») Ebenda X X I I I 18.

Synchronistisches Zusammensehen; Übergang zu Beschreibung.

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Nebeneinander von Reitern und Wagenkämpfern unter den Pharaonen. Er rechnet den Chinesen nach, daß sie mit dem Hammer geschlagene Gold- und Silbermünzen viel früher geprägt haben als die Perser ihre Dareiken. E r stellt zum Ruhme der Chinesen fest, daß sie die Herstellung des Glases und noch wichtiger die Druckerei schon vor 2000 Jahren erfunden haben. Er fügt dann freilich auch die doch sehr wichtige Ergänzung hinzu, daß die Chinesen zu diesen ihren Erfindungen die hundert Verbesserungen, zu denen die neueuropäischen Völker gelangten, nicht zu ersinnen imstande waren, was für die Beschaffenheit ihres Geistes vielleicht ebenso bezeichnend ist, wie die Erfindung selbst 1 . Beträchtlicher noch für die Gesamthaltung der Untersuchung ist, daß Voltaire in allen diesen ersten Abschnitten und noch lange darüber hinaus die entwickelnde Gesinnung, die ihn in den Anfängen zu beherrschen schien, jetzt, da es sich darum handelt, die einzelnen Volksgeschichten zu verfolgen, fast vollkommen fallen läßt. Wie schon einzelne Teile des chinesischen Abschnittes, so hat er erst recht die den Indern, den Persern und den Arabern gewidmeten Abschnitte so behandelt, als käme es ihm nur darauf an, die ihm auffällig und merkwürdig erscheinenden Einzeltatsachen herauszuheben, statt in Wahrheit einen Essai über Universalgeschichte, das Wort in unserem Sinn verstanden, zu schreiben. So berichtet er denn von den Lastern der Chinesen, von der Witwenverbrennung bei den Indern, von den Sittengeboten der Perser, von den Einzelheiten in Muhammeds Lebenslauf und vom Sittenkodex des Koran. Die Betrachtungsweise ändert sich nicht allzuviel in den Teilen, in denen Voltaire zur Geschichte der christlichen, keltischen und germanischen Völker des neueuropäischen Völkerkreises übergeht. Aber auch dann, wenn er große und umfassende Geschichtsumwälzungen in einem weiteren ») Oeuvres completes X X I I I 18, 22 ff.

Entstehung: Die ersten Vollender: Voltaire.

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und nunmehr wieder entwicklungsgeschichtlichen Sinne wiedergibt, geschieht es mehr im Sinne des Einfalls, des universalgeschichtlichen Aperçus, als einer gründlichen Durcharbeitung des vorhandenen Nachrichtenstoffes. So wenn er einen so wahrhaft universalgeschichtlichen Geschehenszusammenhang wie den Niedergang des römischen Reiches schildert, auf den er durch Montesquieus Vorgang noch eigens nachdrücklich hingewiesen war. Hier erklärt er kurzerhand zwei Umstände für die Ursachen dieses doch wahrlich weit gegliederten Geschehens : das Aufkommen des Christentums und die Einbrüche der Barbaren. Daß er die Rolle des Christentums nicht mit allzu günstigen Augen ansieht, darf man im voraus erwarten. Wenn er aber den Ausgang dieser höchst zusammengesetzten Geschehensverflechtungen so schildert, daß er erklärt, in den letzten Zeiten der römischen Kaiserherrschaft habe es in ihrem Reich ebensoviel Mönche wie Soldaten gegeben 1 , und wenn er ihre Missionstätigkeit so schildert, als seien sie im Lande umhergezogen, um Stadt nach Stadt wie Heuschreckenschwärme zu überfallen, so ist man doch etwas verwundert ob einer so grobfädigen Darstellung. Und selbst einen großen Ttil der Schuld an dem Vordringen der nordischen Barbaren sieht Voltaire in den Auswirkungen des Christentums. Er wirft die Frage auf: und was taten die Kaiser, während die Langobarden, die Goten, die Franken im Reiche vordrangen ? E r wisse nur diese Antwort darauf: sie versammelten Konzilien. Zur Kennzeichnung des Christentums dieser Zeiten aber weiß er nur diesen Bescheid: Chlodwig habe nach seinem Ubertritt zum Christentum noch größere Greuel und Grausamkeiten begangen als vorher. Und sie seien keineswegs heroischer, sondern niederträchtiger Art gewesen 2 . Immer bleibt die Weise Voltaires die gleiche überwiegend beschreibende — selbst wenn eine so übergewaltige Gestalt wie die Karls in den Blickkreis seiner Darstellung t r i t t . ') Oeuvres complètes X X I I I 135. ) Oeuvres complètes X X I I I 138 f.

2

Rom; Karl; entwicklungsgeschichtliche Einzelheiten.

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Immerhin soll ihm nicht vergessen werden, daß er oft in wenigen Sätzen Bemerkungen von zu tiefst greifendem Wert niederlegt, so wenn er eine Streitfrage, die in unseren Tagen die Gemüter so heftig bewegt hat, wie die nach der nationalen Zugehörigkeit Karls mit dem stärksten Nachdruck für uns Deutsche und gegen die Franzosen entscheidet. Schon Chlodwig, so erklärt er, und seine Genossen waren nicht Gallier, sondern Franken — Francs — Pippin und Karl waren Deutsche — Allemands. Die Stützen, auf die er sich beruft, sind erstens ein Kapitular Karls, wo es im vierten Artikel heißt: wenn Franken in unseren Besitzungen ein Verbrechen begehen, so sollen sie nach ihrem Gesetz gerichtet werden 1 ; Voltaire meint, daß aus dieser Stelle hervorgehe, daß Karl und sein Vater nicht Franken gewesen seien, sondern Deutsche, worunter man nur Franken von später deutscher Zurechnung verstehen kann, also etwa ripuarische Franken. Als auf ein zweites Zeugnis beruft er sich auf ein Schreiben des Papstes Hadrian IV. an die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, in dem er sagt, daß das Kaisertum durch päpstlichen Willensakt von den Griechen auf die Deutschen übertragen worden sei. Und wie hier, so spricht Voltaire oft genug von ganz allgemeinen Geschichtserscheinungen, die gewiß nicht anders denn als Tatsachen der Entwicklungsgeschichte zu bewerten sind. So etwa wenn er aus der ihm nun einmal unentbehrlichen Befehdung des Christentums heraus die Beobachtung anstellt, daß man die Sittlichkeit der Völker nach der ihrer Könige beurteilen kann, und wenn er daraus sehr trübe Folgerungen für die Sitten der vorkarolingischen Zeiten zieht, indem er auf die große Zahl der Greueltaten verweist, die damals in den Herrscherhäusern begangen wurden. Oder er macht höchst geistreicher Weise darauf aufmerksam, daß unter den Gründern von achtzig in diesen Zeiten entstandenen Sekten nur ein einziger, Novatianus, ein Römer l

) Oeuvres complètes X X I I I 177.

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Entstehung1: Die ersten Vollender: Voltaire.

gewesen sei, und daß unter den Führern der heranwachsenden Kirche in den fünf ersten Jahrhunderten nie einer der Kirchenväter, aber auch nie einer der führenden Ketzer, einer der Häresiarchen, ein Römer gewesen sei 1 . Es ist nicht der innere Zweck noch die wissenschaftsgeschichtliche Absicht dieser Untersuchung, den Zug der europäischen Geschichte, den Voltaire verfolgt, auch nur in den gröbsten Richtlinien wiederzugeben. Es braucht nur gesagt zu werden, daß die Darstellung sich, je weiter sie in die Zeiten, zuerst der ausgehenden Antike, später des germanisch-romanischen Mittelalters, vorschreitet, desto mehr in eine geistreiche Auslese aus den Einzeltatsachen vornehmlich der staatlichen Geschichte verwandelt und desto mehr von einer in irgendeinem Sinn überwiegend entwicklungsgeschichtliche nZusammenfassung des behandelten Geschichtsgebietes entfernt bleibt. Immer wieder läßt dieser wahrlich auch hier funkelnde Geist seine Blitze über die bei anderen so stumpf und tot bleibenden Massen geschichtlichen Stoffes herfahren; er versteht es, aus allen Tatsachenmengen die denkwürdigen auszulesen; er stellt sie anregend und geschmackvoll dar; er erhebt sich um Bergeshöhe über die abschreckende Nüchternheit und Langeweile der damaligen Zunftwissenschaft. Aber man wird nicht sagen dürfen, daß er auch nur entfernt im Sinne der Geschichtswissenschaft Vicos seine Kraft auf die Herstellung weiter Sichten oder gar auf die Erforschung der tiefsten inneren Zusammenhänge dieser Geschehensmassen verwandt hätte. Er war letzten Endes doch nicht eigentlich Erforscher, sondern mehr lediglich Darsteller geschichtlicher Dinge. Er wollte mehr — wenn auch im höchsten Sinne — unterhalten als belehren. Das eine ist ihm wahrlich in einem Maße, wie vorher keinem Geschichtsschreiber gelungen; dafür aber kann er mit einem Forscher wie Vico, aber auch mit den drei großen Deutschen, die seinem Wirken auf dem Fuße folgten, mit Winckelmann, 1

) Oeuvres complètes X X I I I 155.

Auslese deskriptiver Tatsachen; Querschnittausdebnung.

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Möser und Herder, an forscherlicher Energie nicht verglichen werden. Einzelne Werte seines Werkes auch im Sinne der Entwicklungsgeschichte sollen und dürfen nicht verkannt werden. Vor allem Voltaires Drang, sein Geschichtsbild in die Breite zu erweitern: er bleibt nicht bei der Doppelreihe germanischer und romanischer Völker, sondern greift frühzeitig zu den europäischen Außenländern, zu Polen, Rußland, ja zur Türkei, dann über Europa hinaus zu Indien und Persien, China und Japan. Nicht im buchstäblichem Sinne, aber immerhin viel weiter greifend, als damals sonst Brauch war, erweitert sich so sein Werk zu einer Gesamtgeschichte der Menschheit. Niemals allerdings in dem Sinne Vicos, dem an einer Einheit der Universalgeschichte lag: es sind immer nur angefügte Einzelstreifen, die Voltaire hier herzuzieht; aber das Streben nach einer weit über die Grenzen Europas hinausreichenden Vollständigkeit ist nicht zu verkennen, mögen auch die Urzeitvölker, die Staaten der höheren Neger, die Amerikaner völlig unbeachtet beiseite bleiben. Zwischen Vico und Herder behauptet Voltaire, den leider die Wirkung Vicos nicht erreicht hat, immerhin eine bedeutende Mittelstellung. Eines ist freilich sehr auffällig: im inneren Sinne kommt es zu Unvollständigkeiten, die man in diesem Werke am allerwenigsten vermuten sollte. Die Aufschrift, die Voltaire seinem schließlich sieben Bände zählenden Buch gegeben hat, spricht an erster Stelle und, wie man vermuten sollte, als von seinem Hauptinhalt von den Sitten und dem Geist der Völker. Und nun kann man sagen, daß von beiden im Grunde am wenigsten die Rede ist. Wohl sind genug große Züge des allgemeinen geschichtlichen Geschehens in das Bild einbezogen; im ganzen aber überwiegt durchaus die staatliche Geschichte, insonderheit die Geschichte der auswärtigen Staatskunst und der wichtigsten inneren Umwälzungen. Sehr vereinzelt stehen Abschnitte, die von Glaubensgeschichte handeln, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte fallen fast ganz Breysig,

Meister der G e s c h i c h t s f o r s c h u n g .

(J

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Entstehung: Die ersten Vollender: Voltaire.

aus, und auch die eigentlich geistige Geschichte, die Geschichte von Kunst und Wissenschaft, ist spärlich genug vertreten. In allen diesen Stücken wird immer von neuem offenbar, daß Voltaire nicht eigentlich ein wissenschaftlich, am allerwenigsten aber ein systematisch denkender Geist war. Er war unter den Franzosen seines Jahrhunderts sicher der gescheiteste Kopf, er hatte dazu im höchsten Maße die Gabe geistreich zu unterhalten, aber gerade diese Fähigkeit, die ihn selbst vermutlich am meisten befriedigte, überwog in dem Haushalt seiner Geistigkeit so sehr, daß er auf Erwägungen, wie die hier ins Auge gefaßten, gar nicht gekommen wäre. Er hätte sie, wenn man sie gegen ihn geltend gemacht hätte, als eitel Pedanterie von sich gewiesen. Für das geistige Gesamtbild von Voltaire ist vielleicht von noch größerer Bedeutung, daß auch dort, wo Voltaire dem außerpolitischen, dem geistigen Geschehen gerecht wird oder vielmehr es wenigstens berücksichtigt, es dermaßen oberflächlich geschieht, daß es ihm geradezu Unehre macht. Man lese den Abschnitt, den er Luther widmet: er ist von bejammernswürdiger Flachheit. Gewiß möchte man einwenden, es gibt keine größeren Gegensätze der seelischen Beschaffenheit als den zwischen dem Lobredner des Siecle de Louis Quatorze und dem urtiefen zornigen Umsturzmann von Wittenberg. Aber so viel Anforderungen waren doch auch an diesen Wortführer des leichten Jahrhunderts zu stellen, daß er den Urheber einer Glaubensumwälzung, die auch sein Frankreich in die schwersten Erschütterungen stürzte, mit größerem Ernst gewürdigt hätte. Die Oberflächlichkeit, mit der der Wortführer eines ganzen Jahrhunderts der Geschichte des europäischen Geistes über ein Ereignis redet, das einem anderen Jahrhundert dieser Geschichte Stempel und Richtung aufprägte, ist nicht nur um ihrer eigenen Unzulänglichkeit willen bezeichnend — Voltaire gewinnt es über sich, nicht ein Wort von der glaubensgeschichtlichen Bedeutung dieser Revolution, der gewaltigsten, die es bis dahin gegeben hatte, zu sagen —, bezeichnend für die Rieh-

Luther; Parteinahme gegen Unterdrückung des niederen Standes.

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tung, die sein geschichtliches Interesse im positiven Sinne einschlug, ist auch, daß er an dieser Stelle des längeren bei den weltgeschichtlich unvergleichbar viel geringfügigeren Einwirkungen verweilt, die von den deutschen Teilfürsten auf die religiösen Streitigkeiten ausgingen. Der Kurfürst Friedrich von Sachsen wächst unter seinen Händen zu einer Gestalt neben und fast über Luther an. Noch war das Zeitalter, in dem Voltaire lebte, zu politisch gesonnen, um nicht kleine Staatszwistigkeiten für wichtiger als welterschütternde Glaubensspaltungen zu halten. Zwingli, ja selbst Calvin erfahren kein besseres Schicksal 1 . Es ist, als ob noch für Voltaire die Aufklärung des Verstandes eine vollkommene Verdummung für Gemüt und Phantasie im Gefolge gehabt hätte, wenigstens soweit die Angelegenheiten des Glaubens in Frage kamen. Nur wo die gesellschaftliche Unterdrückung der niederen Stände in Betracht kommt, ergreift Voltaire die Sache des Herzens, gleichviel, ob sie auch die des Verstandes ist. Er erklärt den Papst Alexander I I I . für den größten Menschen innerhalb des «plumpen» Zeitalters, d. h. des Mittelalters, nur aus dem Grunde, weil er die Abschaffung der Sklaverei gefordert hat. Voltaire fällt über die Geschichte, nicht allein des «plumpen» Mittelalters 2 , sondern über die aller Zeiten das Urteil, daß sie aus einem Wust von Verbrechen, Narrheiten und Unglücksfällen bestehe, unter die nur, wie die Oasen in der Wüste, einige Ausnahmefälle von Tugenden und von glücklichen Zeiten eingestreut seien. Aber man sieht leicht, daß eine solche allgemeine Betadelung des Laufs der Welt, die allerdings vermutlich die Stelle positiver Wertung der so schnöde übergangenen Gemütswerte des Glaubens, der Voltaire, Oeuvres complètes X X V I (1792) 219ff., 229, 232. *) Wie Hettner irrtümlich behauptet (Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts II ( 5 1894: 1. Aufl. 1856 ff.) 217; Voltaire hat vielmehr alle Geschichte der Menschheit unter diesen Tadel gestellt (Oeuvres complètes X X I X 140). Das Mittelalter wird überhaupt erst erwähnt, nachdem dieser Tadel ausgesprochen ist. 6*

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

Kunst und selbst noch der Wissenschaft vertreten und für sie einigermaßen Ersatz leisten soll, erstlich um ihrer blassen Allgemeinheit willen, zum zweiten auch wegen ihrer leeren Negation nicht einen genügenden Ersatz darstellen kann für alles, was dieser eifernde Anwalt der Verstandesmäßigkeit an Unterlassungssünden an den Werken des Gemütes begangen hat. Den schwersten Vorwurf gegen Voltaires Werk hat ein so bedeutender Geschichtskenner wie Hettner erhoben: er sagt von ihm, er messe alle Zeiten und Völker nach dem einen Maßstab — der Aufklärung — »er kennt das Gesetz der geschichtlichen Entwicklung nicht1«. So hart dies Urteil ist und wie sehr auch Voltaire, wie hier dargelegt wurde, in vielen Einzelbemerkungen gegen diese Ablehnung in Schutz genommen werden muß, für den Gesamtzug seines Werkes, das ja eigentlich eine Universalgeschichte geworden war, trifft es zu.

Viertes Hauptstück. Turgot. Erstes Stück. Die L e i s t u n g e n

Turgots.

Turgot, der, wenn man so will, den Faden, den Montesquieu und Voltaire zuerst gesponnen haben, weitergeführt hat, ist einer von den seltenen Menschen, die an mehr als einem Werk Hand angelegt haben und doch in allen Formen ihres Wirkens das Außerordentliche geleistet haben. Dem Adel entstammend — er war ein Baron de l'Aulne — hat er in seinen drei Berufen sehr bürgerliche Werke getrieben und jedes von ihnen auf das wirksamste gefördert. Er ist einer der erfolgreichsten Leiter der Staats- und FinanzverLiteraturgeschichte des 18. Jahrhunderts II (51894) 217.

Turgots Wissenschaft die Geschichtslehre.

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waltung gewesen, die Frankreich besessen hat, er war ein höchst scharfsinniger Förderer der Wirtschaftslehre und endlich — und davon allein soll hier die Rede sein — der bedeutendste Geschichtsdenker, den Frankreich vor Comte hervorgebracht hat. Gegenüber seinen drei Vorgängern im Bezirk der Geschichtsforschung großen Stils setzt sich Turgots Anteil überaus klar und deutlich ab. Zu Bossuet, von dem noch die Rede sein wird, steht Turgot in einem schroffen Gegensatz, denn Bossuet ist als nahezu vollkommener Deskriptor ein reiner Reaktionär und hat mit der neuen Reihe von entwickelnden Geschichtsforschern so gut wie nichts zu schaffen. Turgot hat gleichwohl von Bossuet und seinem Werk mit einiger Anerkennung gesprochen, doch immerhin seine Kritik unverhohlen ausgesprochen1. Montesquieu hatte wesentlich mehr Gesinnungsverwandtschaft mit Turgot; da er aber ja keineswegs wie dieser eine immerhin universale Geschichtslehre geschrieben hat, sondern nur an einer Stelle werktätig sich als Entwicklungshistoriker versucht hat, so ist er doch sehr weit hinter dem Punkt der wissenschaftlichen Entfaltung zurückgeblieben, den Turgot erreicht hat. Voltaire hingegen hat, trotzdem er dem Versuche werktätiger Geschichte, den er in seinem Essai sur les moeurs unternommen hat, eine so sehr viel weitere Ausdehnung gegeben hat als Montesquieu dem. seinigen, an Energie und Folgerichtigkeit der entwickelnden Gedanken die von Montesquieu erstiegene Ebene noch bei weitem nicht erreicht. Turgot aber hat die volle Breite seiner sehr beträchtlichen geistigen Kraft der Absicht zugewandt, eine wahre Ge»M. Turgot, dit Du Pont, rendait à Bossuet l'hommage que meritent la hauteur de ses pensées et le nerf de son expression . . . mais il regrettait que le Discours sur l'histoire universelle ne fût pas plus riche de vues, de raison, de véritables connaissances: il le voyait avec peine au-dessous du beau cadre que l'auteur avait choisi . . . (Oeuvres de Turgot I [1913] 275).

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

schichtslehre zu entwerfen. Denn wenn er sein an sich sehr wenig umfangreiches Werk über Geschichte — es sind 50 Seiten, die es einnimmt — Plan zweier Reden über die Universalgeschichte genannt hat, so hat er damit von vornherein erklären wollen, daß es ihm um Gedanken über Geschichte zu tun war; von der Vorstellung, etwa eine kurze Übersicht über den Gehalt der Weltgeschichte zu geben, blieb er weit entfernt. Da er aber beständig von dem Wesen und den Formen der geschichtlichen Vorgänge handelt, so wird man mit allem Recht als die Wissenschaft, der Turgot in seinem sehr kurzen, aber unendlich inhaltreichen Werk dienen will, die Geschichtslehre bezeichnen. Schon in den ersten einleitenden Worten, mit denen Turgot seinen Plan eröffnet, gibt er die forscherliche Gesinnung zu erkennen, in der er zu verfahren gedenkt. Er zieht zunächst einen sehr entschiedenen Grenzstrich zwischen der Physik auf der einen Seite und der Geschichte, unter deren Namen er die Wissenschaft von den Menschen, aber auch von den Tieren zusammenfaßt. Und wenn er erklärt, daß die Physik aus den Gesetzen bestehe, denen die Körper folgten, und daß man diese Gesetze wohl aufzeichnen, sie aber nicht erzählen könne, so ist damit mit hinreichender Schärfe der Unterschied bezeichnet, den Turgot gemacht haben will. Er will mit diesen Worten zu erkennen geben, daß die stets sich gleich bleibenden Regeln, die das Geschehen der Körper bestimmen, zwar wiedergegeben werden können, daß es aber nicht vonnöten sei, die Folgen im einzelnen zu schildern, die diese Gesetze haben können. Zugegeben, daß diese Unterscheidung zwischen geschichtlicher und physikalischer Forschungsweise noch etwas umständlich und nicht allzu geschickt ist, so ist hier doch ein guter Anfang zu einer sehr richtigen Entgegensetzung von gesetzmäßiger zu schildernder Darstellungsweise gemacht. Für die Universalgeschichte gibt Turgot die allgemeine Losung aus, daß sie aus einer Verflechtung von Fortschritten und Leidenschaften bestehe, offensichtlich in der Absicht, zu

Physik und Geschichte; Unregelhaftigkeit, Leidenschaften.

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der großen Hauptstraße des Fortschrittes noch einen irrationalen Bestandteil hinzuzufügen, um dem Gewicht jener Elemente einer sich gleichbleibenden Regelhaftigkeit ein Gegengewicht zu geben, das die mancherlei Unregelmäßigkeiten des wirklichen Geschehens erklärt. Damit ist eine weder sehr systematische noch sehr durchgreifende Erklärung der mancherlei Unebenheiten im Bild der Geschichte gegeben, aber immerhin ein Zugeständnis gemacht, das zwar der Regelhaftigkeit des Grundgeschehens das Übergewicht zurechnet, aus der durchaus unregelhaften Natur des Menschen und seiner Leidenschaften, d. h. der Auswirkungen seiner eigens irrationalen Anlagen aber die Möglichkeit ableitet, auch jenen Regeln widersprechende Abweichungen des menschlichen Handelns im allgemeinen zu erklären. Es wird auf diesem Wege ein Dualismus, eine Zweiheitslehre geschaffen. Es geschieht in seltsam starkem Anklingen an Hegel, der zwei Menschenalter später mit dem gleichen Begriff, dem der Leidenschaften, einen ähnlichen Zwiespalt der Kräfte in der Menschheit wie in der Einzelseele hervortreten läßt 1 . Höchst bezeichnend aber ist, daß der Deutsche, mehr gewiß durch die Tiefe seines Deutschtums als durch die zwischen ihnen liegenden sechzig Jahre von dem Franzosen getrennt, aus dieser Zweiheit sich doch zu einer höheren Einheit hindurchfindet. Turgot nämlich läßt es bei dem Gegenüber von Gesetzen und Leidenschaften sein Bewenden haben, Hegel aber steigt über sie fort zu dem großen Gedanken empor: wie die Elemente, die sich ursprünglich befehden, von der großen Macht der Natur doch überwältigt und zu einheitlichem Wirken zusammengezwungen werden, durch das sie notgedrungen beschränkt werden, so auch »befriedigen sich die Leidenschaften: sie führen sich selbst und ihre Zwecke aus nach ihrer Naturbestimmung und bringen das Gebäude der menschlichen Gesellschaft hervor, worin sie dem Rechte, der Ordnung die Gewalt J

) Man vergleiche Hegel, Vorlesungen über Philosophie der Geschichte (s1848) 34 mit Turgot, Plan de deux Discours (Oeuvres I) 276.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

g e g e n s i c h verschafft haben.« Wieviel feiner und tiefer und zugleich doch auch energischer ist hier die Ideenführung des großen deutschen Denkers und zugleich wieviel befriedigender, im Weltsinne harmonischer, ist die von ihm gefundene Lösung. Der Anhänger einer nur erfahrenden Wissenschaft aber wird mit Befriedigung bemerken, daß Hegels Erklärung nicht etwa deduktiver, aprioristischer, ableitender und mehr zu einer Setzung-im-Voraus neigend ist, sondern weit wirklichkeitsnäher und wirklichkeitstreuer als die des Franzosen. Die eigentlich gründenden Gedanken, auf denen Turgot den Bau seiner Geschichtslehre aufrichtet, sind die von dem Fortschritt und von der Vervollkommnung der Menschheit. Freilich ist auffällig, wie unsicher er von Anbeginn an in dieser Vorstellung ist, obwohl sie die ihn bei weitem am stärksten beherrschende ist. Er benutzt zwei Gleichnisse: er zeigt die Entstehung der Völker, die Fortschritte der Sprachen, der Physik, der Moral, der Sitten, der Wissenschaften und der Kunst, die Revolutionen, die Reiche auf Reiche, Völker auf Völker, Religionen auf Religionen sich folgen lassen — dies alles wandle sich, aber das Menschengeschlecht bleibe immer dasselbe in seinen Umstürzen, wie das Wasser des Meeres in seinen Stürmen, u n d s t e t s f o r t s c h r e i t e n d zu s e i n e r V o l l k o m m e n h e i t . Er bemerkt offenbar gar nicht, daß die beiden Bilder, die er hier zu Gleichnissen wählt, einander vollkommen widersprechen, das Meer, das immer dasselbe bleibt, und der Wanderer, der immerfort dem Ziel seiner Vollkommenheit zustrebt. Ihm ist ersichtlich mehr an der Buntheit seiner Bilder gelegen, als an der Folgerichtigkeit seiner Vergleiche. In einem starken Gegensatz der Gesinnung gegen Voltaire beginnt Turgot seine erste Rede mit einem Bekenntnis zum Dasein Gottes; er findet seine Hand überall dem Antlitz der Welt aufgedrückt. Aber er setzt hinzu, wohin er auch seine Blicke schweifen lasse, um sichere Umrisse dieses Bildes zu erkennen, finde er es durchweg von Nebeln ver-

Vervollkommnung;

Wirtschaftsstufen.

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borgen. Die erste Bemerkung aber, die er in Hinsicht auf das Bild der Menschheit macht, beweist seinen überlegenen Scharfsinn, zugleich aber auch seine überreiche Ausstattung mit geschichtlichem Sinn. Er findet, daß alle Tage von den Menschen neue Künste erfunden werden, für sein Sehen also ein unumstößlicher Beweis für das beständige Fortschreiten; zugleich aber sieht er ein Höchstmaß von Verschiedenheiten im Kulturstand: er findet einmal Völker von hoher Lebensform und im Geist erleuchtet, andere aber, die noch in den Wäldern umherirren. Er zieht, daraus einen durchaus nicht einfachen, sondern sehr überlegten Schluß: er folgert daraus, daß die Welt nicht habe ewig können bestanden haben. Denn wäre sie wirklich schon von ewiger Dauer, so hätten sich in dieser Zeit alle Unterschiede zwischen den Völkern ausgleichen müssen 1 . Aber wenn sie auch nicht ewig, so könne man doch annehmen, daß sie sehr alt sei. Warum, darüber spricht sieh Turgot nicht aus; aber einer anderen Weltfrage gegenüber bekennt er sein Unvermögen zu einer Antwort: bis zu welchem Zeitpunkt die Welt dauern möchte. Turgot begeht auch seinerseits den später so oft, auch von Ranke, wiederholten Irrtum, anzunehmen, daß die geschichtliche Zeit nur bis zur Erfindung der Schrift zurückreichen könne 2 . Aber er ist so einsichtig, zu erkennen, daß auch noch über diesen Zeitpunkt fort die Überlieferungen über die ältesten Zeiten notwendig sehr unsicher und schwankend bleiben mußten. Für die ältesten geschichtlichen Zeiten aber wagt er doch schon einen Aufbau der geschichtlichen Entwicklung nach Stufen der kulturellen, insbesondere der wirtschaftlichen Betätigung. Er begründet die Spaltung früher Urzeitvölker in Hirten- und Jägervölker durchaus richtig mit dem Vorkommen von zähmbaren Haustieren — so des Lamas bei den Altperuanern — und das Verharren im Jägerzustande — so aller übrigen Amerikaner — mit dem Ausbleiben solcher Tiere. 2

P l a n d e d e u x D i s o o u r s , O e u v r e s I 277. ) Vgl. o. S. 2.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

Er begeht dann auch Fehler, so wenn er die Hirtenvölker für eigens geeignet zur Ausbildung des Eigentumsgedankens erklärt — ein offenbarer Irrtum, da der Fortschritt zum Landbau und zu den in seinem Gefolge einherschreitenden Ackergrenzen sicherlich eine sehr viel sicherere Grundlage für die Ausbildung festen Eigentums, zuerst des kollektiven, zuletzt aber auch — wie bei den Irokesen 1 — des privaten abgegeben hat. Überhaupt aber ist diese Aufteilung der wirtschaftlichen Entwicklung lediglich nach Wirtschaftsformen bedenklich; die festländischen Australier, die, sehr weit zurückgeblieben, noch auf der tiefsten Wirtschaftsstufe, der Sammel- und Jägerwirtschaft verharrten, haben gleichwohl für den von ihnen für beherrscht angesehenen Bezirk einer Völkerschaft eine ziemlich beständig bleibende Abgrenzung festgehalten 2 . Man wird hier gewahr, wie geschichtliche Wissenschaft in einem frühen Entwicklungszustand einem Hang zu Deduktion und Apriorismus, zu ableitender Forschung und Setzung-im-Voraus unterliegt, der sie immer wieder zu irrigen Verallgemeinerungen oder zu voreiligen Schlüssen führt. Es gibt, man möchte sagen, Alterskrankheiten — in diesem Falle Jugendkrankheiten — die allerdings auch durch den natürlichen Fortschritt der Lebensreife, die zunehmenden Vertiefung und Erweiterung des wohldurchpflügten Feldes genauer erfahrungswissenschaftlicher Arbeit nach etwa einem Jahrhundert geheilt zu werden pflegen. Turgot muß an der Charakterisierung von Entwicklungsaitern nicht genug Geschmack gewonnen haben, um aus ihnen einen folgerichtig durchgeführten Bau von Entwicklungsstufen zu errichten. Wohl gibt er noch eine Skizze der Vorgänge, durch die er sich Staaten entstanden denkt: wie Jäger auf Hirten oder Hirten auf Hirten stoßen, wie kleine Trupps von größeren oder von kühneren überwunden werden, wie durch Eroberung immer größere Staaten entstehen, und x

) Morgan, The League of the Iroquois I 306, 317. ) Die Geschichte der Menschheit I (1936) Buch III Abschnitt 2.

2

Skizze der Staatenbildung; Entwicklungsbeobachtungen.

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wie die Unterworfenen in Sklaverei verfallen; dies alles deutet er an, jedoch nur in flüchtigen Umrissen. Es ist mehr eine Sammlung von Einfällen, oft glücklichen, geistreichen, aber nicht mehr. Auch da nicht, wo er von den Staatsformen spricht 1 . Jedenfalls kommt Turgot nicht dazu, ein Netz beständiger Fragestellungen aufzustellen und in seine Maschen die auf sie immer neu erwidernden Antworten einzufangen. Nur wenn es sich um ganz große, über weite Zeiträume hin verteilte Veränderungen handelt, kommt er zu sehr bedeutenden Feststellungen. So, wenn er findet, daß allmählich ein Arbeits-, ein Arbeiterstand aufkommt, oder, was ihm wesentlich wichtiger erscheint, daß die Völker menschlicher geworden sind, wenigstens in Europa, im Gegensatz zu Amerika, wo sie noch wild und grausam sind. Und hier tritt denn auch ganz unverhüllt zutage, was bei den Bemerkungen auf kurze Sicht doch nur im Hintergrund und zuweilen sich geltend macht: wie ganz Turgot dem Entwicklungsgedanken verschworen war; denn nur in seinem Dienste konnte er so umfassende Wandlungen der Gesinnung und des Tuns der Menschen überhaupt bemerken. Länger hin sich erstreckende Beobachtungen macht Turgot über die Gestaltung des Despotismus, über die Unterwerfung der Frauen unter die Herrschaft der Männer, über die Entstehung der Sklaverei, der Vielweiberei. Nicht immer sind seine Behauptungen geschichtlich richtig: so wenn er ohne jeden haltbaren Grund die Sklaverei mit der Viehzucht in Verbindung bringt, während die längst vor aller Viehzucht und weithin verbreitete, vermutlich überall sich durchsetzende Ursache der Sklaverei die Kriegsgefangenschaft war. Ebenso irrtümlich ist, was er über die Vielweiberei sagt: von ihr ist zu sagen, daß als fast ausnahmslos gültige Regel angenommen werden kann, daß bei den Urzeitvölkern die Männer so viel Frauen zu haben pflegten, als sie zu *) Plan da deux Discours, Oeuvres I 284.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

unterhalten vermochten. Und es bleibt vollkommen unerfindlich, weswegen Turgot von den Germanen als besonders am »Laster« der Vielweiberei beteiligt spricht. Man scheut sich doch anzunehmen, daß es lediglich aus freundnachbarlicher Gesinnung — etwa nach der Analogie der Boche-Gesinnung heutiger französischer Chauvins — geschieht. Sonst hätte er bei den Ahnen der heutigen Franzosen, den keltischen Galhern, das Beispiel der Vielweiberei etwas näher bei der Hand gehabt; sie war dort erlaubt 1 , und er würde sich dann vermutlich erspart haben, von diesem »Laster« zu sprechen.

Zweites Stück. Kritik

Turgots.

Während Turgots erste Rede der Bildung der Staatsformen und der Vermischung der Völker gewidmet war, hat die zweite die Fortschritte des menschlichen Geistes zum Gegenstand. Die Gedanken, mit denen er diese zweite Reihe seiner universalgeschichtlichen Betrachtungen einleitet, sind sehr allgemeiner und oft nur allzu blasser Art. Man hat den Eindruck, als ob Turgot, indem er sich von dem handelnden Leben ab- und zum Geist hinwendet, den sicheren Boden langgewohnter Vertrautheit verläßt und sich auf ein Gebiet begibt, auf dem ihm sehr viel weniger Einsicht und vor allem sehr viel weniger Kenntnis zu Gebote steht. Er steht in Gefahr, in ein etwas schwimmendes und schwankendes Gerede zu geraten, das uns Heutigen eigens wenig bietet, und er ist dieser Gefahr durchaus nicht immer entgangen. Er schreibt zuweilen Seiten und Seiten, die der Leser unserer so sehr viel besser unterrichteten Gegenwart ohne Schmerz 1 ) Der Zusatz des heutigen Forschers «sans être de règle« ist völlig überflüssig ; das ist selbstverständlich. Vgl. Bloch, La Gaule indépendente : Lavisse, Histoire de France I [1900] 92|

Fortschritte des Geistes; Talent und Genie der Völker.

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missen würde. Das in aller Ruhe einzuräumen ist um so mehr Pflicht, als der Sache der Entwicklungsgeschichte damit schlecht gedient sein würde, sollte sie um eines großen Namens willen für Billiges oder Überflüssiges einstehen. Sie hat Feinde genug, um nicht zu erwarten, daß man eigens eilig ihr die Verantwortung für eine Forschungsweise zuschiebt, die sie ablehnen muß. Doch soll nicht versäumt werden, an die Bemerkungen Turgots zu erinnern, in denen er seiner Zeit Voraneilendes oder auch für uns noch Gewinnreiches sagt. Wenn er verkündet, daß die Fortschritte der Völker sich je nach den Umständen und nach ihren Talenten verschieden rasch vollzogen hätten, so fühlt man sich von solcher Erkenntnis nicht eben reich beschenkt. Gewichtiger und freilich auch problematischer ist, was Turgot vom Genie sagt, dem er den sehr viel höheren Rang als dem Talent beimißt. Er meint, mit ihm verhalte es sich wie mit dem Gold in einer Mine. J e mehr Metall sich in einer solchen finde, desto mehr Gold müsse sich schließlich in ihr finden; je mehr Menschen es gebe, desto mehr große Menschen oder Menschen, befähigt groß zu werden, müßten auch vorhanden sein. Diese Art der Berechnung ist etwas allzu mengenmäßig, als daß sie zu uneingeschränkter Zustimmung verlocken könnte. Es ist nicht einzusehen, daß dann, wenn im Zeitalter des Perikles Athen statt einer halben eine ganze Million Einwohner gezählt haben würde, die doppelte Anzahl von Ingenien höchsten Ranges geboren sein und sich entfaltet haben würde. Um so tiefer in das Wesen geschichtlicher Dinge dringt die Bemerkung, die Turgot an diesen Sachverhalt anknüpft und in der er sagt, wenn Virgil als Kind verstorben wäre, so hätte es nie einen Virgil gegeben 1 . Diese Beobachtung, die vollkommen richtig ist, vermeidet einen besonders gröblichen Irrtum, dem die Kollektivisten der materialistischen Geschichtslehre besonders leicht verfallen sind. Sie gingen in *) Plans de deux Discours, Oeuvres I 303.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

dieser falschen Richtung so weit, daß sie erklärten, die Geschichte würde durch einen frühen Tod Caesars, der ihn etwa schon in seiner Jugend aus den Reihen der Lebenden gestrichen haben würde, kaum in ihrem Laufe geändert worden sein, denn es wären sicherlich zur Zeit dieses Todes noch zehn Individuen vorhanden gewesen, von denen jedes seinen Fähigkeiten nach an die Stelle Caesars hätte treten können 1 . Sonst ist Turgot, der hier den sozusagen berufsmäßigen Fehler der Kollektivisten vermeidet, seiner Weise nach sehr geneigt, die Lehre von den möglichst kleinen Ursachen, die dennoch große Wirkungen hervorbringen und die — das markanteste Beispiel hierfür ist Darwin und seine Entwicklungslehre — eigens gern von den kollektivistisch gesonnenen Evolutionisten aufgesucht wird, anzuwenden. Er stellt sich die ersten Strecken der menschheitlichen Entwicklung so vor, daß die ganz jungen Völker, die, wie er ganz richtig annimmt, sich noch sehr wenig voneinander unterschieden, sich in der Weise voneinander differenziert hätten, daß eines, das nur um ein weniges mehr erleuchtet wurde als seine Nachbarn, zuerst etwas schnellere Fortschritte gemacht hätte als die anderen, allmählich aber immer mehr. Denn so ist seine Meinung: die Geschwindigkeit, mit der die Völker ihren Weg fortsetzen, verändert sich beständig, eine Meinung, die sich vielleicht nur in einzelnen besonders günstig gelegenen Fällen empirisch wird nachweisen, für sie dann also mit eigenem Nachdruck als gültig sich wird beweisen lassen, die aber in anderen Fällen ebenso gewiß nicht zutrifft. In diesem Zusammenhang aber gelangt Turgot zu einer allgemeinsten Erkenntnis, die — so einfach sie scheint — gefunden zu haben ihm immer zum höchsten Ruhme gereichen wird. Denn sie ist im Grunde die einfachste, aber So Oppenheimer, Skizze der sozial-ökonomischen Geschichtsauffassung (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie X X V I I 334).

Mitbestehen aller Entwicklungsgrade in der Gegenwart.

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zugleich die umfassendste Formel, die sich für alle Entwicklungsgeschichte finden läßt. Er erklärt kurzab, ein kürzester Überblick über den heutigen Zustand des Erdballs lasse vor unseren Augen die ganze Geschichte des Menschengeschlechts erstehen, indem er die Spuren ihrer Schritte und die Denkmäler aller der Stufen — degrés sagt Turgot etwas blasser — erkennen läßt, über die es fortgeschritten sei, von der Wildheit — barbarie — der amerikanischen Völker, die noch heute existiere, bis zur Kultiviertheit — politesse — der aufgeklärtesten Völker von Europa. »Denn ach«, so schließt er fast klagend und damit eigentlich seinen obersten Grundgedanken verleugnend, »unsere Väter und die Pelasger, die den Griechen vorangingen, haben den Wilden von Amerika geglichen«. Man wird nicht leugnen können, daß in die Sätze dieser kurzen Formel alle die Erkenntnisse zusammengedrängt sind, die auch noch der heutigen entwicklungsgeschichtlichen Auffassung zugrunde liegen. Als Erstes: die Vorstellung, daß die Entwicklungsrichtung aller Völker der Menschheit die gleiche ist, als Zweites aber, daß die Geschwindigkeit, mit der sie diesen Weg verfolgen, eine verschiedene ist, als Drittes, daß sich aus diesen beiden Tatbeständen die ganze für unser Sehen so unübersehbare Mannigfaltigkeit und zugleich unerklärbare Buntheit ableiten läßt. Turgot ist noch nicht bis zur vollen Schärfe dieser Formelgebung, wie sie hier vorgelegt wird, vorgedrungen; die Einsicht in den mit ihr behaupteten Tatbestand wohnte ihm in vollem Umfang bei. Doch gerät Turgot dann wieder zu Schlußfolgerungen, denen man im mindesten nicht wird zustimmen können, so, wenn er sich in eine erregte Fehde gegen die Lehrmeinung derjenigen einläßt, die dem Klima der Länder die stärkste Wirkung auf die Verschiedenheit der Volkspersönlichkeiten zuschreiben wollen. Gewiß ist das Klima nicht die einzige Quelle dieser Verschiedenheit, und die Beschaffenheit des Landes — die Verteilung von Ebenen und Gebirgen, von

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

Land und Meer und so fort —, dazu aber noch die unendliche Verschiedenheit der geschichtlichen Schicksale haben zum mindesten das gleiche Maß von Einfluß auf die Bildung einer Volkspersönlichkeit; aber der gewaltige Anteil, den das Klima auf diese Bildung hat, sollte doch nicht so, wie Turgot es tut, verkannt werden. Die Beweise, die er für seine Gegenmeinung vorbringt, sind denn auch teils falsch, teils so bis zur Blässe allgemein, daß man ihnen keine Schlagkraft zubilligen kann. So, wenn er erklärt, viele Völker, die in ihrem Land das gleiche Klima zu durchleben hätten, hätten die verschiedensten Volkspersönlichkeiten. Damit ist, wenn man sich der soeben aufgeführten weiteren Quellen für die Bildung von Volkstümern erinnert, so gut wie gar nichts gesagt. Dann wieder findet Turgot Ähnlichkeiten, von denen er meint, sie seien unerklärlich, wenn die Meinung seiner Gegner die richtige wäre; denn die in Wahrheit sehr verschiedenen Klimate der von diesen Völkern bewohnten Länder hätten viel verschiedenere Volkspersönlichkeiten hervorbringen müssen, wenn das Klima wirklich die von seinen Gegnern behauptete entscheidende Wirkung gehabt hätte. Und er stellt fest, daß der Orient aus der gleichen Barbarei den Enthusiasmus — er denkt hier wohl an die Steigerungen mystischer Glaubensstufen — und den Despotismus hätte hervorgehen lassen können. Daß diese Verschiedenheit durch die Verschiedenheit der Entwicklungsstufen erzeugt sein könnte, dieser Gedanke kommt ihm nicht. Eine schlechthin verwunderliche Auffassung aber äußert er da, wo er von Sprache und Klima spricht. Er bemängelt da, daß man die metaphorischen Sprachen, d. h. also die, die sich eigens zahlreicher Bilder und Gleichnisse bedienten, mit der Einwirkung der Sonne — er meint damit wohl die eigens warmen Klimata — in Verbindung bringe, während doch die Sprache der Gallier und Germanen, ja auch die der Irokesen, also unter Einwirkung eines viel kälteren Klimas, ähnüch metaphorisch geworden sei. Er begibt sich hier auf ein Feld, dem er vermutlich ebensowenig

Geschichte und Klima; Festlegung und Fortbildung der Sprache.

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Kenntnis und Einsicht geschenkt hat wie den klimatischen Verhältnissen, wenn er von dem Gebiet der Irokesen, deren Land ungefähr die Breite von Rom hat, spricht, als ob es sich im Eise von Kanada befinde. Die physikalischen Ursachen der Charakterbildung, so schließt er diese Betrachtung, deren Einwirkungen sich unserer Kenntnis entzögen, möge man doch erst dann heranzuziehen trachten, wenn die seelischen — Turgot sagt moralischen — Voraussetzungen, die man im Inneren unseres Herzens verfolgen könne, erschöpft seien 1 Um so tiefer dringt Turgots Einsicht, wenn er nicht die sozusagen vorgeschichtlichen Zusammenhänge zu ergründen sucht, sondern zu den Erzeugnissen eines unserer geschichtlichen Erkenntnis näher liegenden Entwicklungsalters vorschreitet. So, wenn er in Abweisung einer Unterstellung, die sein Zeitalter vielfach, aber unter ganz unmöglichen Voraussetzungen beschäftigt hat, mit guter Sicherheit erklärt, daß die Sprachen der heute noch lebenden Völker frühester Kindheit keineswegs als Formen einer Ursprache anzusehen seien. Turgot macht hier ganz mit Recht geltend, daß alle diese, auch die primitivsten Sprachen, erst das Erzeugnis eines langen Bildungsvorganges seien. Wenn er dann aber behauptet, daß die ersten metaphorischen Neubildungen und die ersten Abstraktionen, die zu den Zwecken der Konjugation und der Deklination, überall in den Sprachen die gleichen gewesen seien, so überschreitet er hier weit die Grenzen dessen, was nach dem Maß der schon geleisteten Forschungsarbeit damals — wie übrigens auch heute noch —gewissenhafter Weise behauptet werden konnte. Dann wieder sieht er, ungewöhnlich scharfsinnig, wie jede Festlegung auf einen Zustand im Werdegang einer Sprache eine Beraubung dieser Sprache um die Gelegenheiten sich zu vervollkommnen ist. Man sieht, er kommt hier schon zu der Erkenntnis, die ein Forscher wie der Biologe Uexküll für x

) Plan de deux Discours, Oeuvres I 304.

B r e y s i g , Meister der Qesohiohtsforscliung.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

sein Forschungsgebiet in die sehr tief greifende Formel: Struktur hemmt Strukturbildung gefaßt hat. Andererseits sagt er in schönem Optimismus von jedem Werdegang: le génie ne manque jamais avec le temps. Er ist von der Zuversicht erfüllt, daß jede Entwicklung zu ihrem Ziel komme. Man wird Turgot eine Grundeigenschaft zuweisen können, die er mit den meisten Theoretikern der Geschichtswissenschaft teilt, und die man ihnen so oft als einen Fehler angerechnet hat: es ist sein Drang zur Regel, damit dann auch zu Regelhaftigkeit und Einförmigkeit. Aber so sehr sein stetes Streben auf das Aufsuchen von Ubereinstimmungen und damit von Gesetzhaftigkeiten geht, so wenig verkennt er das Vorkommen von tausend Unregelmäßigkeiten: er gelangt zu der Weisheit eines ganz allgemeinen Satzes in diesen Dingen, wenn er sagt, daß Fortschritte »wenngleich notwendig« mit Zeiten des Niederganges wechseln, vermöge der sie unterbrechenden Zwischenfälle und Revolutionen 1 . Über die wissenschaftliche Notwendigkeit, zu möglichst allgemeinen Erkenntnissen vorzudringen, sagt er Vortreffliches in Hinsicht auf die Wissenschaftsgeschichte. Er schärft dem Forscher die Pflicht ein, aus den besonderen Wahrheiten emporzusteigen und, wenn dieser Standpunkt erreicht ist, von ihm aus aufzuzeigen, wie durch diese allgemeinen Erkenntnisse alle jene früher gewonnenen Sondereinsichten untereinander verbunden sind. Aber er macht darauf aufmerksam, daß auch Irrtümer den Fortschritt der Wissenschaft fördern 2 ; er verweist als auf das schlagendste Beispiel auf die Physik, an der dann freilich die zahllosen Fehler, vermittels derer sie ihren Fortschritt bewerkstelligt hat, am leichtesten studiert werden können. Mit Recht geht Turgot soweit, zu sagen, daß selbst der Bestand von haltbaren, d. h. bis heut unangetasteten Wahrheiten sehr *) Plan de deux Discours, Oeuvres I 303. 2 ) Ebenda I 314.

Niedergang, Irrtümer, Unterbrechungen; Drei-Stufen-Lehre.

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deutlich erkennen läßt, wie groß die Zahl der überwundenen Irrtümer ist. Denn man wird nicht in Frage stellen können, daß die allergrößte Mehrzahl von diesen heute noch für stichhaltig angesehenen Erkenntnissen sich aufbaut auf langen Ketten immer wieder aufgestellter, aber auch ebenso oft beiseite geschobener Irrtümer. Und mit dem gleichen Recht verweist Turgot auf die übergroße Zahl jener Unterbrechungen im Fortgang der Kunst, die ganz ebenso wie die Irrtümer im Fortgang der Wissenschaft ein intermittierendes Versagen der Kunst bedeuten. Als auf das einleuchtendste Beispiel macht Turgot aufmerksam auf die erstaunliche Kürze der Blüte der griechischen Kunst. Was aber alle diese Beobachtungen so besonders wertvoll macht, ist, daß Turgot am öftesten dem ruhigen und dem unter Regeln gestellten Fortgang der Entwicklung die Bemerkungen abgewinnt, die ihm wichtig erscheinen. Es bedarf nicht starker Ausbrüche oder Katastrophen; ihm liegt auch wenig daran, die politische Geschichte, die voll ist von umsturzhaften Wendungen, zum Gegenstand seiner Betrachtungen zu machen. Viel öfter und lieber beobachtet er das leise Strömen und Fließen der ruhig sich vollziehenden Geschichtsverläufe. Zuletzt aber erhebt er sich zu einer Betrachtung, die nur aus der allerweitesten Sicht zu erlangen war, und gewinnt ihr einen Ertrag ab, den man als d a s Gesetz der Geschichte bezeichnen darf. In drei Stufen, so ist seine Lehre, vollzieht sich das Weltgeschehen, soweit es die Menschheit angeht. »Ehe man die Verbindung der physischen Wirkungen untereinander kannte, war nichts natürlicher« —so erklärt Turgot 1 — »als anzunehmen, daß sie durch intelligente, unsichtbare und uns ähnliche — denn wem hätten sie sonst gleichen sollen —• Wesen hervorgebracht werden. Alles, was geschah,« so fährt er fort, »ohne daß Menschen daran Teil hatten, hatte seinen ') Plan de deux Discours, Oeuvres I 315 f. 7*

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turcot.

Gott, und ihm, so bewirkten es Furcht oder Hoffnung, wurde bald ein Kult, ein Dienst geweiht. Und diesen Kult bildete man nach dem Vorbild der Rücksichten, die man für die Mächtigen unter den Menschen hatte. Denn die Götter waren ja noch mächtigere und mehr oder weniger vollkommene Menschen, je nachdem sie das Werk eines mehr oder weniger in Hinsicht auf die wahren Vollkommenheiten der Menschlichkeit aufgeklärten Zeitalters waren.« »Als die Philosophen,« so erklärt Turgot weiter und gelangt damit zu seiner zweiten Geschichtsstufe, »die Absurdheit dieser Fabeln erkannt hatten, ohne nichtsdestoweniger die wahren Einsichten in das Naturgeschehen gewonnen zu haben, so bildeten sie sich ein, die Ursachen der Erscheinungen durch abstrakte Ausdrücke als Daseins- und Fähigkeitsformen erklären zu können, Ausdrücke, die aber nichts erklärten und über die man doch räsonierte, wie wenn sie wirkliche Wesen wären, neue Gottheiten, die an die Stelle der alten gesetzt waren.« »Es war doch erst viel später, daß man die mechanische Wirkung bemerkte, die die Körper aufeinander ausüben, daß man neue Hypothesen auf diese Mechanik aufbaute, die der Mathematiker entwickeln und das Experiment bestätigen konnte. Das war der Grund, um dessentwillen die Physik nicht aufgehört hat, in eine schlechte Metaphysik zu entarten.« »Aber«, so fährt Turgot fort, »allmählich sind die Tatsachen sicherer erkannt worden und die Praxis der Künste selbst ist der Kontrolle der Philosophen unterworfen worden. Die Buchdruckerkunst, die literarischen und wissenschaftlichen Zeitschriften, die Verhandlungen der Akademien haben die Gewißheit der Erkenntnis so weit gesteigert, daß nur die Details noch zweifelhaft geblieben sind«. Es ist, als hätte Turgot als der Vorgänger von Comte seinerseits schon ein Dreistadiengesetz aufstellen wollen. Will man diese in ihrer Anwendungsfähigkeit als schlechthin universal gedachte Reihe von Regeln auf ihre Schlagkraft prüfen, so wird man das Verhältnis dieser Kritik zu der an

Allzu soziologisch-machtmäßige Beurteilung der Urzeit.

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dem von Turgots Nachfolger, Comte, aufgestellten Gesetzentwurf ausgeübten sehr sorgfältig erwägen müssen. Denn da das Comtesche Gesetz dem von Turgot aufgestellten so ähnlich, weil zweifelsohne von ihm stark beeinflußt, war, so liegt Gefahr vor, daß die gegen Comte gerichteten Einwürfe leicht allzu sorglos auch gegen Turgot gerichtet würden. Man hat Comtes Dreistadiengesetz, wie es 1822 in einem ersten, 1844 in einem zweiten Entwurf in einer erweiterten und noch näher begründeten Form vorgelegt wurde, doch vor allem um deswillen angreifbar gefunden, weil es eine große Regel des gesamten Menschheitsgeschehens aussprechen wolle, weil es aber seinem begrifflichen Umfang nach weit beschränkter sei, vor allem insofern es sich auf die intellektuelle Entwicklung eingrenze. Nun steht es so, daß, gleichviel wie man über Comte urteilt, der hier genannte Entwurf Turgots allerdings auch seine schwachen Stellen dem gleichen Einwand darbietet. Wohl ist das erste Entwicklungsalter, insofern es vom Glauben ausgeht, keineswegs rein verstandesmäßig, sondern auch seelisch aufgefaßt. Doch erhält man keineswegs den Eindruck, als sei der Glaube, wie er doch sollte, aus den Tiefen des Gemütes begriffen, sondern namentlich dann, wenn die Götter mit mächtigen Menschen verglichen werden, geschieht es auf eine allzu trocken soziologische Weise. Es war doch ein seelisch ungeheures Geschehen, daß der Mensch in diesem Alter seiner frühesten Kindheit so ganz aus den Seelenkräften des Gefühls und der Phantasie sein Leben aufbaute. Davon ist in dieser Formelgebung von Turgot nichts zu spüren; es ist, als ob er in dem Verhältnis des Menschen zu den Göttern eine Machtfrage sähe. Man geht schwerlich fehl, wenn man in dieser einseitigen und untiefen Sehweise eine starke Auswirkung des Fühlens dieser etwas allzu kühlen Zeit sieht; Gefühl und Phantasie waren gerade die Seelenkräfte, die diesem Zeitalter am meisten abgingen. Und so kommt denn in der Tat die Verstandesmäßigkeit doch als der Grundfehler dieser Sehweise zum Vorschein.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Turgot.

Doch läßt sich außer diesem besonderen Vorwurf auch noch ein allgemeiner Einwand gegen Turgots Zeitalterformulierung erheben. Es war doch, so wichtig und nahezu richtig die Hervorhebung des Glaubens als der Dominante im Triebwerk der Seele war, eine allzu eingleisige Auffassung in Hinsicht auf die Bahn des Fortschrittes. Es hätte zum mindesten auch von der Ordnung der Familie und des Geschlechtslebens, die eine so übermäßig überwiegende Rolle im Leben des Urzeitmenschen spielt, die Rede sein müssen. Warum Turgot so verfahren ist, ist unschwer zu ergründen: jede Hervorhebung einer einzigen Entwicklungsreihe mußte sich einem so folgerichtigen Denker wie Turgot bei weitem am meisten empfehlen, aus demselben psychologischen Grunde, wie Hegel für seine vier Entwicklungsalter immer nur vom Geist und seinen Wandlungen, Marx immer nur von Wirtschaft und Ernährung ausging: der eigentümliche Zusatz von Eigensinnigkeit und von Überbetonung des Willens, der allen großen Aprioristen innewohnt, hat auch. Turgot bestimmt. Das zweite Entwicklungsalter, das Turgot das metaphysische zubenennt, und unter dem er die Zeiten wirklichkeitsfernen spekulierenden Denkens verstehen mag, empfiehlt sich im Insgesamt der Anlage durch die Folgerichtigkeit des Aufbaues: es nimmt sehr für die Denkklarheit Turgots ein, daß er auf die religiöse die profane Weise der Bevorzugung des Denkens folgen läßt, obwohl seine Abneigung gegen die Metaphysik besonders groß ist, größer als diejenige gegen den Glauben. Aber gegen diese doch auch wieder unmäßig zugunsten des Verstandes überbetonte Hervorhebung der Metaphysik läßt sich der gleiche Einwand wie gegen die Benennung des frühesten Zeitalters erheben, nur mit noch viel größerem Recht. Denn warum für dieses Zeitalter nicht die Macht des zuerst emporsteigenden, demnächst siegreichen Königtums als eine Dominante angesehen und stark hervorgehoben wird, ist nicht einzusehen; wieso ferner nicht die tiefgründige Rationalisierung des Christen-

Philosophie des zweiten, Mechanistik des dritten Zeitalters.

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tums im Protestantismus und die ebenso weit gehende Rationalisierung der Kunst in der Stilisierung der Malerei und der Bildnerei, zum Teil auch der Baukunst ebenso als eine höchste charakteristische Wandlung in dem Bild der Zeit einzutragen sind, kann ebensowenig begriffen werden. Wenn endlich das dritte Zeitalter von Turgot als die Stufe mathematisch - physikalischer Mechanik bezeichnet wird, so wird auch dieser Zuweisung nicht ihre geistige Feinheit abgesprochen werden können. Auch hier ist bewunderungswürdig der sieghafte Drang, in der Einhaltung der bisher verfolgten Linien die immer gleiche Richtung beizubehalten. Am lobenswertesten ist vielleicht, daß Turgot da, wo er dem wirklichen geistigen Geschehen weder Gefolgschaft noch Lob zubilligen kann, mit Ruhe, aber auch mit Mäßigung, diese Bedenken ausspricht. Noch vortrefflicher, als daß er die Anfänge dieses Zeitalters tadelt um ihrer in eine unzulängliche Metaphysik abirrenden Physik willen, dann aber seinen Fortgang lobt, wegen seiner immer erfolgreicheren, zu guter Physik zurückkehrenden Wendung, konnte mitten in einer so schwierig zu übersehenden Entwicklung gar nicht geurteilt werden. Genau um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts konnten auch die anderen geistigen Strömungen, so stark sie schon zur entscheidenden Wendung einsetzten, noch nicht übersehen, ja nicht einmal in ihren Grundrichtungen bestimmt werden; noch war Demokratie oder gar Sozialismus nicht ausgesprochen verkündigt worden, noch war auch die völlige Umkehr in Staat und Kunst durch Rousseaus Demokratismus und Realismus nicht vollzogen, sondern nur erst vorbereitet worden. Ebenso durchdringend muß uns Turgots Scharfblick erscheinen, der doch immerhin in der Entwicklung, auf die es ihm allein ankam, in der Linie der Umwandlung der Metaphysik zur Physik, so gut die Richtung des Zeitalters erkannte. Soll man aber zu einem Urteil über Wert und Rang von Turgots Gesamtleistung gelangen, so wird man freilich die eine sehr starke Reservation ihr gegenüber aussprechen

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Entstehung': D i e ersten Vollender: Condorcet.

müssen, daß seine Haltung überwiegend aprioristisch und für unser — heutiges, aber auch deutsches — Gefühl allzu wenig empirisch, allzu hoch über dem sichern Boden erfahrbarer Wissenschaft schwebend ist. Oft wünschen wir, wir würden mehr von den Dingen und etwas weniger von abschließenden, aber nicht allzu fest begründeten Urteilen über die Dinge hören. Aber da es hier, wie immer, richtiger ist, vom J a als vom Nein einer Leistung, von ihren positiven Leistungen als von ihren negativen, ihren Mängeln auszugehen, so wird auf das entschiedenste ausgesprochen werden müssen, daß von allen Vollendern einer bauenden Geschichtslehre Turgot der erste von vollkommenem Können ist. Er ist, gemessen an Voltaire, Montesquieu und selbst an Vico, weiter vorgedrungen im Ausbau entwickelnder Geschichtsforschung als sie alle. Er mag für unser Fühlen etwa zu sehr Romane, Franzose gewesen sein in dem oft allzu schnellen Hindrängen zu letzten Ergebnissen ohne gründende Fundamente; aber er hat mehr durchdringenden Scharfsinn, mehr forscherliche Einbildungskraft entfaltet als irgendein Geschichtsdenker seines Jahrhunderts.

Fünftes Hauptstück. Condorcet. Erstes Stück. Der O p t i m i s m u s

Condorcets.

Condorcet, durch sein Geburtsjahr 1743 ungefähr in die Mitte zwischen Voltaire und Turgot gestellt, ist dadurch, daß ihn die Gestaltung seines Lebens so ungemein spät erst zu forscherlicher Betätigung, wenigstens im Bezirk der Geschichtslehre, kommen ließ, erst an den Schluß der Reihe der französischen Geschichtsdenker gekommen, während er doch seiner Stellung in der Wissenschaftsgeschichte nach

Zeitliche Stellung, Entwicklungsgang Condorcets.

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schnell nach dem Bekanntwerden Turgots in das wissenschaftliche Geschehen hätte eingreifen können, also etwa um 1773 und nicht, wie es wirklich geschah, erst nach seinem 1794 erfolgten Tode. Doch ist gewiß diese Verspätung für Tempo und Verlauf der Entfaltung der Geschichtslehre nicht von irgendwelcher Wirkung gewesen. Denn in diesen Jahrzehnten war noch lange nicht die Stunde gekommen, in der diese Wissenschaft hätte als eine gereifte auftreten können; sie war ja noch kaum erwacht. Immerhin hat es nichts Geringes zu besagen, daß so schnell, nachdem von Turgot zum erstenmal ein ausgebildetes, wenn auch keineswegs zum System ausgebautes Werk geschaffen worden war, in Condorcets Schrift ein zweiter Versuch von ganz ähnlicher Art gewagt wurde. An sich, ganz wie Turgots Buch, nur ein Versuch, nicht eigentlich ein Werk, sondern, wie schon der Name sagt, eine Skizze. Esquisse d'un Tablc.au Historique des Progres de VEsprit Humain, so hat Condorcet sein Werklein genannt, kurz von Umfang, schwerlich größer als Turgots Schrift, die ja nur eine etwas ausführliche Abhandlung war, erster Entwurf für ein Gemälde also, nicht ein Gemälde. Nicht viel anders als Turgots Reden durchaus als vorläufig gekennzeichnet. Doch was von Turgots Schrift zu sagen ist, gilt auch von der Condorcets. Namentlich dann, wenn es sich um denkhafte Werke handelt, kann auch in einer völlig verkürzten Form, schließlich selbst in einem Inhaltsverzeichnis, der Gehalt eines ganzen Wissenschaftsgebildes dargeboten werden. Dies trifft in höchstem Maße auf Condorcets Abhandlung zu: sie ist noch über die Kürze ihres Umfanges hinaus nach dem Grundsatz äußerster Zusammendrängung aufgebaut, weit knapper noch als Turgots Schrift, auch wesentlich schärfer durchdacht, folgerichtiger ausgeführt. Der geistige Entwicklungsgang Condorcets war besonders geeignet, eine solche Begrifflichkeit in ihm vorzubereiten. Eine einseitige theologische Erziehung hat ihn nach dem Gesetz des Widerstandes zu einer schlechthin entgegenge-

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

setzten Weltanschauung, zu einer bis zur Glaubensfeindlichkeit gesteigerten Glaubenskälte getrieben. In den Wissenschaften aber, denen er sich zuwandte, hat er sich bei weitem am stärksten zur Mathematik hingezogen gefühlt: gewiß ein Zeichen eigens begriffsstarker Veranlagung. Die Gunst, die ihm Turgot zuwandte, und die ihn zum Schüler dieses Meisters machte, hat doch schlechthin geisteswissenschaftliche Neigungen in ihm groß werden lassen: seine ersten Betätigungen an wissenschaftlicher Schriftstellern sind einer Anzahl von Lebensbeschreibungen gewidmet worden; seine Tätigkeit als Regierungs- und Staatsmann mußte ihn in der gleichen Richtung bewirken. Wenn er dann nach Ausbruch der Revolution als Mitglied der Nationalversammlung in die werktätige Staatskunst eingriff, so geschah es weder mit Erfolg noch mit Dauer. Er hat frühzeitig Robespierres Mißfallen erregt — höchst bezeichnenderweise durch seinen Atheismus, den der große Demagog als aristokratisch verwarf. Condorcet war zu sehr Geist- und zu wenig Tatmensch, um sich in den wilden Strudeln dieses aufgeregten Parteilebens behaupten zu können. Er war weder der Rechten noch der Linken wohlgefällig, schwankte zwischen einer grundsätzlichen Verwerfung der Todesstrafe und der Verurteilung des Königs zum Tode und ist zuletzt im Gefängnis gestorben. Aber noch unter den Schatten des Todes hat er die Abhandlung über die Fortschritte des Geistes der Menschheit niedergeschrieben, die seinen Namen unsterblich machen sollte. Die Aufschrift, die er seinem Werk gab, ist selbst ein Programm. Den Fortschritt der Menschheit als Prinzip ihrer Geschichte zu erweisen, das war recht eigentlich Ziel und innerster Gehalt seines Forschens. Diesen Fortschritt zu umschreiben und ihn als den Antrieb aller Geschichte nachzuweisen, das war recht eigentlich der Beweggrund alles seines wissenschaftlichen Trachtens. Man kann, das sei doch hier zu allem Anfang bekundet, über diese Losung sehr verschiedener Meinung sein, und der

Portschritt als Prinzip der Geschichte; nötige Zerlegungen.

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hier schreibt, möchte bekennen, daß er, seit er zu seinen Jahren kam, den Plan hegte, in der Stätte seines Lehrens eine Tafel zu befestigen, die eine Inschrift des Wortlauts tragen sollte: »Es ist verboten, vom Fortschritt der Menschheit zu reden.« Wie unversöhnliche Gegensätze nehmen sich die beiden Losungen aus. Doch wird man in aller Ruhe den Ernst beider vertreten und den Sinn der einen gegen den der anderen abwägen können. Condorcets Formelgebung für den Inhalt des Geschichtsverlaufs — an sich ein geistiges Unternehmen höchsten Ranges — ist gedacht als das Ergebnis einer Sicht über alle Geschichte, die an sich eine Unifizierung, eine nicht ganz gewaltlose Vereinheitlichung der Geschichte bedeutet. Es ist gewiß ganz in Condorcets Sinn — wenngleich gewiß nicht in seiner Ausdrucksweise —, wenn man von der Gestalt der Geschichte als einem Bündel von Geschehensreihen ausgeht; aber ebenso gewiß war seine Sehweise eine solche, daß er dieses Eündel auf eine einzige Reihe reduzierte, die an Stelle der Gesamtheit aller treten sollte. Es war die Geschichte des Geistes der Menschheit, die er im Auge hatte, und es war — nicht immer, aber wohl am öftesten — eine mittlere Reihe, die ihm als vereinigende für alle anderen galt. Wer sich gegen eine solche Vereinheitlichung sträubt und sie wie eine Vergewaltigung empfindet und ablehnt, wird — wie der Schreiber dieser Zeilen —• dazu kommen müssen, das Insgesamt des Einzelmenschen und deshalb auch die Ganzheit der Menschheitsgeschichte zu zerlegen in eine Anzahl, eben ein Bündel, von Seelenkräften, in die der Mensch, und von Geschichten dieser Seelenkräfte, in die das Ganze der Menschheitsgeschichte aufgelöst werden muß. Von diesen Einzelgeschichten, die als große Reihen aufgefaßt werden können, wird man sagen können, daß sie, wie Condorcets Betrachtungsweise ist, sich im Aufstieg und Abstieg bewegen; aber dieses ihr Auf- und Absteigen kann immer nur an den Einzelreihen erschaut werden; es geht auch in ihnen nicht geradlinig — wie doch Condorcets Fortschritts-

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

gedanke eigentlich will — vorwärts, sondern zwischen Verstärkung und Abschwächung wechselnd. Vor allem aber wechselt im Nebeneinander der Seelenkräfte — Verstand, Einbildungskraft, Wille, Gefühl — die Vorherrschaft. Und wenn eine Lehrmeinung, wie die auf diesen Blättern vertretene, von dem Wunsche nach sachlicher Abwägung zwischen diesen Seelenkräften getrieben, ruhevoll — und liebend — das Gleichgewicht in den einzelnen Stufenalterwechseln verteilt sieht, so wird sie unmöglich auf den Gedanken geraten können, alle diese beständig wechselnden Einzellinien auf einen Generalnenner zu bringen und ihn also zum Gesamtexponenten des ganzen Bündels von Einzelreihen zu erheben. Sie wird davor bewahrt bleiben, nicht allein aus der wissenschaftlichen, also verstandesmäßigen Erwägung heraus, daß jede dieser Entwicklungsreihen gewiß Recht hat, nein auch aus dem tieferen Grunde, daß Geschichte nicht allein aus dem Verstand, sondern auch aus dem Herzen geschrieben werden muß, und daß eine liebende Geschichtsforschung gar nicht anders fühlen kann, als allen Formen menschheitlichen Lebens ihr Verstehen und ihre Neigung zu schenken. Nach dem alten, zuletzt doch immer bewährten Parallelismus zwischen den Lebensaltern der Einzelmenschen und der Völker, der Menschheit, würde es ebenso weise, d. h. in Wahrheit sinnlos sein, den Wert des Greises über den des Mannes, des Mannes über den des Jünglings, des Jünglings über den des Kindes zu setzen, wie wenn man den Wert der neuesten Zeit über den der neueren, den Wert des Mittelalters über den der Altertumsstufe oder den von dieser über den der Urzeit setzen wollte. Es gäbe genug Gründe, für die sehr vieles spricht, eine schlechthin umgekehrte Wertund Rangordnung zu verfechten. In Wahrheit war ja auch der tiefere Grund für Condorcets einseitige Sehweise, daß er, wie sein Zeitalter so gern, sich zum Maß aller Dinge machte, die eigene Weise für wertvoller und richtiger als die aller früheren Zeiten hielt und so zu dem Gedanken des vom Beginn der Menschheit im Gang

Inhalt und Grenzen des Fortschritts; Burckhardts Kritik.

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befindlichen Fortschritts gelangte. Und man wird verstehen, wenn ich sage, daß gerade diese Zeitbedingtheit und Zeitbestimmtheit für mich bestimmend ist, auch Condorcets Lehre nicht zu verdammen, sondern nur zu verstehen. Schon die ersten Bemerkungen, mit denen Condorcet seine Schrift eröffnet, sind sehr aufschlußreich für seine Denkweise. Vom Fortschritt des Menschengeschlechts, dessen Verfolgung er für den vornehmsten, ja den einzigen Gegenstand der Geschichtsforschung ansieht, sagt er als die sein Wesen bestimmenden Eigenschaften aus, daß sein Tempo ein verschiedenes, ein schnelles oder ein weniger schnelles sein kann, aber daß er nie seine Richtung in eine rückläufige verwandeln kann. Der Inhalt dieses Fortschrittes ist die beständige Vervollkommnung der Eigenschaften des menschlichen Geschlechts. Der Fortschritt dieser Vervollkommnung ist an sich schrankenlos ; die einzige Grenze, auf die er stößt, ist die Lebensdauer unseres Sterns. Die Vervollkommnung des Menschengeschlechts, die Condorcet zum Gegenstand seines Werkes macht, ist nicht etwa nur in einem Quantitätssinne gemeint, sondern noch mehr in einem Qualitätssinne: la 'perfectibilité est réellement indéfinie1. Und noch die Zukunft zieht Condorcet in das Insgesamt seines Bildes: von der Beobachtung des gewesenen und des noch in Gang befindlichen Fortschritts erhofft er sich, daß sie dazu führen werde, den Fortgang dieses segensreichen Prozesses zu sichern und in der Zukunft noch zu beschleunigen. Es ist ein schlechthin grenzenloser Optimismus, der aus dieser Geschichtsauffassung spricht, der doch eine Lebensgesinnung zugrunde liegt. Der Mensch t r i t t bei Condorcet auf als ein Besitzer aller Reichtümer der Zukunft und zugleich auch als belehnt mit dem herrlichsten Gute, das uns das Leben zu schenken hat, mit der Aussicht beständigen Strebens und beglückenden Schaffens. Man weiß, wie anders Jacob Burkhardt urteilt, wenn er mit schlecht verhehltem Condorcet, Progrès de l'Esprit Humain (L'An III de la République) 4.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

Groll Hegel zum Vorwurf macht, daß sich bei ihm auch »die behutsam eingesetzte Lehre von der Perfektibilität finde, d. h. dem bekannten sogenannten Fortschritt«. Burckhardt, durch dessen Worte man doch den dumpfen Groll gegen dieses Erbe des vorangegangenen Zeitalters wohl durchhört, mäßigt sich für sein Temperament noch recht sehr, wenn er erklärt, »wir sind aber nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht«. Was natürlich nur ironisch gemeint ist, da er doch seinerseits an diese ewige Weisheit weder glaubt, noch sich irgendwie mit ihr auseinanderzusetzen gedenkt. »Dieses kecke Antizipieren eines Weltplanes,« so fährt Burckhardt nunmehr ohne alle Verdeckung fort, »führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Prämissen ausgeht.« Burckhardt, den in aller Ausführlichkeit an dieser Stelle zu Wort kommen zu lassen, sich kein Fühlender wird versagen mögen, erklärt dann, nach rechts und links köstliche Hiebe austeilend: »Es ist aber überhaupt die Gefahr aller chronologisch angeordneten Geschichtsphilosophien, daß sie im günstigen Fall in Weltkulturgeschichten ausarten, sonst aber einen Weltplan zu verfolgen prätendieren und dabei, keiner Voraussetzungslosigkeit fähig, von Ideen gefärbt sind, welche die Philosophen seit dem dritten oder vierten Lebensjahr eingesogen haben.« Nun wird man Condorcet gewiß gegen den Vorwurf gefeit halten, daß er einen Weltplan entworfen habe; er hat ja eine ausgesprochene Abneigung gegen alle metaphysischen Anwandlungen. Aber allzu weit entfernt ist er von solchen Neigungen doch nicht, da ja der von ihm verkündete Weltoptimismus an sich planartig genug ist. Und der von Burckhardt mit so wenig verhüllter Ironie bedachte Vervollkommnungsgedanke hat recht eigentlich Condorcet zum Vater. Dem Optimismus Condorcets aber setzt sich Burckhardt schlechthin entgegen, wenn er erklärt, daß das einzig bleibende, allein für ihn mögliche Zentrum seiner Geschichtsbetrachtung der duldende, strebende und handelnde Mensch sein könne, wie er ist, immer war und sein wird. Seine Be-

Vervollkommnung;

e n t g e g e n g e s e t z t e Sicht, Völkertode.

III

trachtung also werde gewissermaßen pathologisch sein müssen1. Man möge aber nicht glauben, daß die hier von Burckhardt entliehenen Meinungen schon ein Äußerstes von einer gegen Condorcet auszuspielenden Geschichtsauffassung darstellen. Man wird vielmehr sehr wohl eine Sicht über das Insgesamt der Geschichte eröffnen können, die in eben solchem Maße vom Pessimismus beherrscht ist wie Condorcets Sicht vom Optimismus. Wer zählt denn die Zahl der Völkertode, ja der Völkermorde, angefangen von den Sumerern, einem der edelsten und im Geiste reichsten Völker, die je die Erde getragen hat, das schon zu Ausgang des dritten Jahrtausends vor Jesus Christus das Ende einer unerhört fruchtbaren und erfolgreichen Laufbahn erlebte, und das von da ab vom asiatischen Boden verschwunden ist, ohne daß auch nur sein Name erhalten geblieben wäre. Man wußte von da ab nicht einmal von dem Dasein dieses Volkes und erst nach fast vier Jahrtausenden hat die Sorgfalt heutiger Wissenschaft die Spuren seines Wirkens wieder aufgefunden und dann freilich festgestellt, daß die Sumerer eine der höchsten und tiefsten Kulturen, eine der umfassendsten und zugleich in ihrer Himmelskunde gesichertsten Weltsichten geschaffen haben. Große Völker wie die Babylonier und Assyrer, die Hethiter und Meder sind völlig zugrunde gegangen; in Nordamerika sind die edelsten Urzeitvölker fast ganz aufgesogen worden; Altmexikaner, Altperuaner, Maja sind als selbständige Völker dahingestorben, die unersättliche Raubgier — oder ebenso unstillbarer Kultivierungseifer — haben Hunderte von Kindervölkern vernichtet; die fähigsten Völker des alteuropäischen Kulturkreises sind auf lange Jahrhundertereihen, die Griechen für ein volles Jahrtausend um ihre geistige und politische Selbständigkeit gebracht worden; im neuen Europa sind die Iberer ganz, von dem edlen Völkerstamm der Kelten sind viele Zweige entweder ganz oder 1 ) Weltgeschichtliche Betrachtungen (o. J. nach der ersten Auflage [1905]) 7.

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Entstehung: D i e ersten Vollender: Condorcet.

überwiegend aufgesogen worden; einige, wie die Iren und die Walliser, die Leute von Cornwallis, Hochschottland, sind mit Mühe der Herrsch- und Mordgier ihrer benachbarten Rasse vettern entgangen; Asien und Afrika, Amerika und Australien weisen eine Unzahl von halb oder ganz vernichteten Volkspersönlichkeiten auf. Und wer könnte die Zahl der Kriege berechnen, deren verlorene Schlachten mit Hunderttausenden von zu Unrecht hingeschlachteten Opfern auf der Wahlstatt gebüßt worden sind. Dabei war noch nicht aller der zahllosen Verunrechtungen gedacht, die die Völker einander zugefügt haben, indem die Starken den Schwachen ihren überlegenen Willen aufgedrungen haben und ihnen die Eigentümlichkeiten ihrer Gesittung, ihrer geistigen Bildung ganz oder halb genommen und ihnen dafür eine ihnen ganz fremde Kultur aufgezwungen haben. Von den Assyrern, die die Babylonier, von den Römern, die die Griechen beherrschten, bis zu den Bretonen, die von den Franzosen, zu den Wallisern, die von den Engländern, zu den Sudetendeutschen, die von den Tschechen, zu den Koreanern, die von den Japanern, zu den Abessiniern, die von den Italienern bedrängt worden sind, reicht eine Reihe, die verzehn-, ja verhundertfacht werden könnte, wenn man der zahllosen Urzeitstämme gedenken wollte, denen in diesem Kultursinne Gewalt angetan wurde. Ranke hat einmal angesichts des römischen Imperiums den Seufzer ausgestoßen: »wie ward doch die Erde so öde von freien Völkern«. Aber sollte dieser Seufzer nicht noch heute wiederholt werden: angesichts des britischen, des russischen, des nordamerikanischen, des französisch-afrikanischen Weltreiches. Zuletzt aber wird man selbst der Überwältigungen gedenken müssen, die ganz ohne Waffengewalt, nur durch Kulturüberlegenheit ausgeübt worden sind und doch den Überwundenen schweren Schaden an Geist und Seele zugefügt haben. So wenn die keltischen Gallier nacheinander von Römern und von Franken geistig unterworfen worden sind, so wenn die Römer noch nach ihrem Absterben durch

Überwältigungen; Grenzen der Geschichtslehre.

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die römische Kirche die deutsche Kultur für ein Vierteljahrtausend latinisiert, die Franzosen bei Lebzeiten diese selbe Kultur für mehr als ein Jahrhundert französisiert, wenn die Engländer den keltischen Schotten und Iren ihre Sprache geraubt haben. Man wird nicht leugnen dürfen, daß ein Bild der Geschichte, das alle diese Völkertode und Staatenmorde, alle diese Vergewaltigungen, sei es auf den Schlachtfeldern des Schwertes, sei es auf denen des Geistes, allein in den Vordergrund rücken wollte, ebensowenig eine Verfälschung genannt werden dürfen wie Condorcets einseitig optimistische Sicht. Der Forscher, dem nichts an Färbungen, nichts auch an Zielsetzungen gelegen ist, der vielmehr beiden nach Möglichkeit aus dem Wege zu gehen trachtet, wird sich angesichts dieser zwei Deutungsmöglichkeiten am ehesten dahin entscheiden mögen, daß sachliche Gründe für beide Sehweisen genug und übergenug vorhanden sind, er wird aber aus dieser Doppelseitigkeit des gelebten Lebens der Menschheit und aus der Zwiespältigkeit ihrer Deutbarkeiten nur den einen Schluß ziehen können, daß beides — beste und schlimmste Möglichkeiten — aus dem Schicksalsbuch der Menschheit herauszulesen sind. Da aber alles Große und Herrliche, das unser Geschlecht in Geist und Tat vollbracht hat, sich allen Widrigkeiten zum Trotz durchgesetzt hat, so muß bei weitem das Übergewicht auf der Wagschale des Errungenen und Geleisteten, nicht aber auf der des Erlittenen und Mißlungenen zu suchen sein.

Zweites Stück. Der Begriffsbau

Condorcets.

Gemäß der ihn auszeichnenden Begriffsstärke hat Condorcet zunächst eine scharfe Grenze gezogen um das, was wir Heutigen Geschichtslehre nennen möchten, was er zwar an sich zu weitgreifend und insofern mißbräuchlich B r e y s i g , Meister der G e s c h i c h t s f o r s c h u n g .

g

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

Metaphysik nannte, worunter er aber ganz richtig eine theoretische Geschichtswissenschaft begriff, von jeder anderen abzutrennen 1 . Er verstand unter ihr eine Wissenschaft von den allgemeinen Tatsachen und den beständigen Gesetzen, die die Entwicklung — er selbst sagt développement — der allen Einzelnen im Menschengeschlecht gemeinsamen Fähigkeiten darbietet. Er trennt aber von ihr, und hierin liegt recht eigentlich das zweite Verdienst seiner Einteilung, eine zweite Form von Geschichtslehre. Er sagt von ihr: »Wenn man aber die gleiche Entwicklung in ihren Ergebnissen betrachtet, bezogen auf die Masse der Einzelnen — der individus — die in derselben Zeit auf dem gleichen gegebenen Raum miteinander leben — coexistent — und wenn man diese Entwicklung von Generation zu Generation verfolgt, dann ergibt sich ein Gemälde der Fortschritte des menschlichen Geistes.« Man bemerke wohl, daß Condorcet zwar für diese zweite, an sich konkretere Form seiner Geschichtslehre mehrmals einen Ausdruck wie Geschichte oder Universalgeschichte braucht, auch sicher nicht unter ihr eine Art wenn auch noch so allgemeiner Geschichtswissenschaft verstanden wissen will, sondern immer noch — nach der auf diesen Blättern angewandten Ausdrucksweise — Geschichtslehre, sie nur nicht in der höheren, rein begrifflichen Form, sondern in einer wirklichkeitsnäheren, konkreteren Schicht auffaßt. Auch sie sollte nach seiner Sehweise noch immer weit über der Ebene einer schildernden Universalgeschichte, weil immerfort nach Zusammenfassung und begrifflicher Durchordnung strebend, aufgebaut werden, aber sie war nicht wie jene von ihm Metaphysik genannte und nicht im mindesten geliebte Wissenschaft oberster Ebene von dem festen Boden der schlechthin erfahrbaren Wirklichkeit allzu weit getrennt. Und niemals versäumte Condorcet, neben dieser im wesentlichen Längsschnittzwecke verfolgenden Sehweise an die Notwendigkeit der Zuhilfenahme von Querschnittsichten zu erinnern. Progrès de l'Esprit Humain (L'An III de la République) 2t

Abwendung von der Philosophie.

Denn wenn er die Behauptung aufstellt, daß das Entwicklungsergebnis, das sich in einem beliebigen Augenblick darstelle, abhängig sei von dem der vorhergehenden Augenblicke und Einfluß ausübend auf das Ergebnis der nachfolgenden 1 , so schließen sich offensichtlich beide Sehweisen, die des Längsschnittes und die des Querschnittes, so zu einer Einheit zusammen, wie es die auf diesen Blättern beständig geforderte Forschungsart erfordert. Die für Condorcet und sein Zeitalter wichtigste Entscheidung war sicher die mit der schroffsten Entschlossenheit vollzogene Abwendung von der Philosophie. »Das Bild des Weges und der Fortschritte des menschlichen Geistes ist Geschichte geworden. Die Philosophie hat nichts mehr zu erraten, keine hypothetischen Verbindungen mehr zu machen. Man braucht nur noch die Tatsachen zu sammeln, zu ordnen und die nützlichen Wahrheiten aufzuzeigen, die sich aus ihrer Verkettung und aus ihrem Ganzen ergeben« 2 . Noch entschiedener konnte sich eine Forschung nicht für die reine Empirie, die vollkommene Erfahrungswissenschaft aussprechen. Nur die weitere Aufgabe aller Wissenschaft sollte darüber nicht vergessen werden, die, dem Leben zu dienen. Denn sie sollte nicht nur der Wahrheit dienen, d. h. also ihrem eigentlichen Selbstzweck, sondern auch dem Glück der Menschheit. Das zu vernachlässigen, soweit konnte sich dies Jahrhundert der Aufklärung und der möglichsten Glückseligkeit nicht vergessen. Wenn sich Condorcet anschickt, das von ihm erstrebte Gemälde des Fortschritts in einzelnen Zügen zu entwerfen, wird, wie nicht Wunder nehmen kann, die Grundlage alles dessen, was er ausführen möchte, wesentlich weniger fest. Gar nicht wenige seiner Angaben über die früheste Zeit, mit der er beginnt, sind haltbar, andere ebenso zweifelhaft oder falsch; für seine Fähigkeit zum geschichtlichen Sehen eigens bezeichnend, und zwar in einem überwiegend lobens') Progrès de l'Esprit Humain 3. ) Ebenda 14.

2

8*

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

werten Sinne, sein sehr scharfsinniges Erkennen der allerfrühesten Entstehung der Sprache. Tatsächlich gibt es ja in der Geschichte kein größeres Wunder als die Geburt und früheste Ausbildung der Sprachen. Condorcet scheint hier zwar den geschichtlichen Tatbestand bei weitem nicht in vollem Umfange erkannt zu haben. Wenn er meint, die Sprachen der Urzeitvölker hätten nur über einen Wortschatz verfügt, der lediglich ihre Lebensnotwendigkeit und einige moralische Begriffe umfaßte, so ist er offenbar hierüber nur mangelhaft unterrichtet. Sonst müßte er davon sprechen, daß die Sprachen auch ganz bescheiden organisierter Urzeitvölker einen schlechthin erstaunlichen Grad von grammatischer und Formenausbildung aufzuweisen haben. Das Eskimo ist die Sprache eines gesellschaftlich, namentlich politisch denkbar unentwickelten Volkes, eines Volkes, das auch in Dingen von Kunst und Handwerk kaum über die schlichtesten Anforderungen hinausgediehen ist, dessen Glauben sehr schlicht, dessen Wissen sehr geringfügig ist, und doch ist eine Grammatik des Eskimo umfänglicher als eine griechische, ihr Formenreichtum sehr viel größer als etwa der des Deutschen. Dazu aber kommt, daß diese Sprache sehr sicherer Vermutung nach eintausend Jahre alt ist, und wie lange Zeit mag vergangen sein, ehe bis zum Jahr 900 eine so reichgegliederte Sprache durchgebildet sein mag. Ganz ähnliches ist vom Tlinkit zu sagen, und vollends das Irokesische mag eine noch weit reichere Sprache sein als das Eskimo. Man wird zugeben müssen, daß es auch für heutiges Erkennen, selbst unter Zuhilfenahme jeder erlaubten forscherlichen Einbildungskraft, nicht möglich ist, so weit in der Urgeschichte vorzudringen, daß man mit dem geringsten Anspruch auf Wahrscheinlichkeit eine haltbare Begründung dafür finden könnte, warum die Entstehung der Urzeitsprachen so weit in die Tiefe der Zeiten zurückreicht, und wie man sich allenfalls den Weg ihrer späteren Entfaltung zu denken haben würde. Um so weniger wird man sich

Entstehung der Sprache; Wahl einer vereinigenden Linie.

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verwundern dürfen, daß Condorcet hier im einzelnen unsicher wird, da er doch die Hauptsache, die sehr frühe Festlegung der Urzeitsprachen, richtig erkannt hat. Condorcet ist, nach dem Vorgang Turgots 1 , der Ansicht, daß auf der frühesten Stufe der Fortschritt eigens langsam sich vollziehe — eine vortreffliche Beobachtung angesichts des für unsere Ubersicht sehr leicht, für Condorcets Zeit freilich sehr viel schwieriger zu ermittelnden Tatbestandes, daß die bei weitem größte Mehrzahl unter den Völkern der Erde ja gar nicht über die erste Stufe der geschichtlichen Entwicklung hinausgedrungen ist. Nicht glücklich ist die Teilung, die Condorcet an dem Insgesamt des geschichtlichen Verlaufs vornimmt; schon die Zwischengrenze, die er bei der Erfindung des Buchstabenalphabets ansetzt, ist deswegen mißgriffen, weil bei Ägyptern, Babyloniern, Juden, Griechen und anderen Völkern dieses Ereignis jedesmal auf einen anderen Zeitpunkt — im Sinne entwicklungsgeschichtlicher Zeitrechnung — fällt. An diesem Beispiel schon wird ersichtlich, wie unmöglich der allgemeine Gesichtspunkt ist, den Condorcet wählt, um einen Generalnenner für die an sich so schwer zu vereinigenden Volksgeschichten zu finden. Er sieht ganz wohl ein, daß die Linien der einzelnen Volksgeschichten an sich weit auseinanderklaffen; aber der Gedanke, für sie alle nun eine Zentrale, eine Mittellinie zu schaffen, die ihre Richtungen in sich vereinigt und für sie alle als Repräsentant eintreten könne, ist unhaltbar. Weder der Weg der Ermittlung noch ihr Ergebnis ist irgendwie zu rechtfertigen. Der einzige Nutzen, den die Wissenschaftsgeschichte aus diesem mißlungenen Versuch ziehen kann, ist die Erkenntnis, wie schwer auch einem Forscher von so hohen Graden wie Condorcet ein Hindringen zu Endergebnissen seines Mühens ist. Condorcet Progrès 8, cf. Turgot (Discours 2 Oeuvres I 303) bei dem es heißt: ainsi la marche des nations s'accélérait; doch erst von der späteren Zeit.

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EntstehuDff: Die ersten Vollender: Condorcet.

Condorcets Optimismus geht nicht so weit zu verkennen, daß die Menschheit immer wieder in Irrtümer, sogar in ganz allgemeine, von ganzen Zeitaltern geteilte, verfallen ist; aber er ist andererseits so stark, daß er wahrhaft wundervolle Erklärungen und Trostgründe für diese an sich mißliche Eigenschaft des Menschengeschlechts gibt. Vor allem findet er, daß die Menschheit durch ihren Tätigkeitstrieb selbst zu ihren Irrtümern geführt werde, daß deshalb das Eintreten dieser Irrtümer notwendig sei, daß ihr Erscheinen mit zu dem Gesamtbild der Geschichte gehöre. Von den etwas allzu zahlreichen Epochen, in die Condorcet das Insgesamt der Geschichte teilt, läßt die erste, die Epoche der Völkerschaften, zumindest an einem wesentlichen Punkt einen argen Mißgriff erkennen. Es handelt sich — wen sollte es im Zeitalter der Aufklärung wundern — um die Anfänge des Priestertums, um Seher und Zaubererärzte also, deren Entstehung als Klasse Condorcet umschreibt. Wohl geht er nicht so weit zu verkennen, daß dieser neue Stand nicht nur die Geheimdienste und Zeremonien geschaffen habe, sondern auch Wissenschaften und Künste; aber er bezeichnet den Inhalt ihrer Lehre als die Praktiken des Aberglaubens. Es hört sich nicht ganz voreingenommen an, wenn er sagt, die Völker hätten sich nur in zwei Teile gespalten, einen, dem das Lehren und einen, dem das Glauben zugefallen sei. Aber schon wenn er fortfährt, der eine habe sich über die Vernunft erhoben, der andere habe darauf verzichtet, die seinige geltend zu machen, verspürt man das in seiner Zeit ausgebildete Vorurteil, und wenn er damit schließt, daß man an den Priestern die ungeheuerliche Geschicklichkeit der ersten Betrüger habe erkennen können, so offenbart sich die vollkommene Überhebung eines Zeitalters, das sich zum Richter über die Irrtümer aller anderen Zeiten machte und selbst den gröblichsten Vorurteilen unterlag. Wenn Condorcet die zweite Epoche den Völkern zuweist, die vom Geschichtsstande der Viehzüchter zu dem der Acker-

Irrtümer der Menschheit; Hirten und Ackerbauer.

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bauer übergegangen seien 1 , so irrt er hier insofern recht gröblich, als er, ganz so wie sein falsches Generalprinzip es wollte, e i n e Entwicklungsbahn annimmt, wo er ein Nebeneinander von mehreren Entwicklungswegen hätte annehmen sollen. Nicht sind alle Hirtenvölker zum Ackerbau übergegangen, und es haben gar nicht wenige Völker von der untersten Stufe der Sammel- und Jägerwirtschaft ihren weiteren Weg zum Ackerbau eingeschlagen ohne jeden Umweg über die Viehzucht. Man könnte einwenden, daß dies ein Irrtum geringeren Grades sei. Und doch ist dem nicht so; noch einmal wird hier von Condorcet der schon zweimal beobachtete Grundfehler begangen, daß er eine Einbahnentwicklung annimmt, wo zumindest zwei mögliche Verlaufsbahnen ins Auge gefaßt werden müssen. Und jeder, der sich mit diesen Ordnungsaufgaben ähnlich wie Condorcet herumgeschlagen hat, wird durchaus nicht zu dem Gedanken gelangen, daß es ein kleines Versehen bedeute, wenn die Entscheidung nach rechts fällt, da sie doch aus mehreren sehr gewichtigen Gründen nach links gewählt werden sollte. Ich darf aus eigener Erfahrung hierzu beitragen, daß man an sich sehr geneigt sein wird zu vermuten, daß die beiden Hauptäste, in die sich die Entwicklung der Bluts- und Heiratsverbände spaltet, zum mindesten in der mittleren Urzeit als Entwicklungsstadien aufeinander gefolgt sind. Und doch ergibt sich dann, wenn man tiefer in die Zusammenhänge eindringt, daß es ganz unmöglich ist anzunehmen, daß je der Geschlechterstaat aus der reinen Sonderfamilienordnung hervorgewachsen sein könne. Es muß vielmehr als notwendig angenommen werden, daß beide Entwicklungen hier aus der Horde, d. h. dem ganz oder fast ganz regellosen Zusammenleben hervorgegangen sind, daß die Horde also als die kennzeichnende Ordnung der Ur urzeit angesehen werden muß, und daß die mittlere Urzeit schon zur Rechten die reine Sonderfamilien-Siedlerschaft und zur Linken den

*) Progrès de l'Esprit Humain 30ff.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

reinen Geschlechterstaat sich hat trennen lassen, und zwar schon in dem Augenblick, in dem sie beide aus der Horde hervorwuchsen. Wenn nun aber einem heutigen Forscher eine solche Unklarheit widerfahren konnte — daß er nämlich jahrelang annahm, daß diese beiden Zustände der Urzeit auseinander hervorgehen konnten, während er selbst dann einsah, daß dies eine Unmöglichkeit sei —, darf nicht wundernehmen, daß Condorcet bei einem so unvergleichlich viel geringeren Vorrat an positiven Kenntnissen und einem so übermächtigen Drang nach einer aprioristischen, allzu unbedingt von oben her bauenden Forschungsweise diesen Fehler begehen konnte. Um so vortrefflicher ist dann wieder die scharfsichtige Erkenntnis für das Stehenbleiben der Völker der beiden untersten Stufen auf diesem ihrem frühen Stande und das Eindringen in die seelischen Gründe eines solchen Verharrens 1 . Die dritte Entwicklungsschicht, die die Fortschritte der Ackerbauervölker in ihren Kulturwerken bis zur Erfindung der Buchstabenschrift umfassen soll, gibt zu mehr als einem Anstoß Anlaß. An sich richtig ist die neue Klassenteilung, von der Condorcet hier spricht: es sind die Menschen, die in mittlerer Stellung die Tätigkeiten des Handels und des Handwerks wahrnehmen: große Umschichtungen in der babylonischen und ägyptischen, auch wohl in der chinesischen und japanischen Wirtschaftsgeschichte entsprechen dieser von Condorcet doch mehr theoretisch vertretenen Annahme. Wie großen Bedenken dagegen die Ansetzung eines Stufenabschnittes bei der Erfindung der Buchstabenschrift unterliegt, davon ist schon kurz die Rede gewesen. Der Einwand, der gegen diese Teilung als eine allgemeine zu erheben ist, bezieht sich, wie schon kurz dargelegt, auf die außerordentliche Verschiedenheit der entwicklungschronologischen Lagerung des Zeitpunktes dieser Erfindung. Dazu kommt noch 1

) Progrès de l'Esprit Humain 38.

Kulturfortschritte der A c k e r b a u v ö l k e r ; Königsherrschaft.

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die Schwierigkeit, daß der Übergang von der Bilder- zur Satz-, von der Satz- zur Wortschrift und endlich von der Wort- zur Buchstabenschrift an sehr verschiedenen Zeitpunkten — wiederum im Sinne entwicklungsgeschichtlicher Zeitrechnung — eingetreten ist. Zur Geschichte der Klassenbildung hat Condorcet beigetragen durch den Hinweis auf die so häufig eingetretene Schicksalsfügung, die aus einem besiegten Volk eine Klasse — die unterworfene — macht. Und er verfällt dabei nicht in den Fehler von heutigen Forschern, wie Gumplowicz und Oppenheimer, die dieses Zusammentreffen zu einem ein für allemal gültigen Schema stempeln wollten. Sehr auffällig ist, daß Condorcet in diesem dritten Entwicklungsabschnitt, der nach der auf diesen Blättern verfolgten Einteilung der Altertumsstufe entsprechen mag, so wenig von dem Trieb nach Macht spricht. Wohl wird der Übergang zur Einzelherrschaft, zum Königtum kurz berührt, aber ihm wird nicht im mindesten die Epoche machende — das Wort im eigentlichen Sinne verstanden — Bedeutung beigemessen, die ihm gebührt. Auch wird das starke und überstarke Königtum behandelt wie eine oft schnell vorübergehende Episode. Man hat den Eindruck, als habe Condorcet den Despotismus des vorderen Orients ebenso wie den des fernen Ostens gar nicht dem ihm innewohnenden geschichtlichen Gewicht nach ins Auge gefaßt. Um so erstaunlicher ist, daß er die Entstehung des Feudalwesens, damit also des Adels, sehr viel weiter in den Vordergrund rückt, ohne im übrigen auf die in Wahrheit dreigespaltene Wurzel aller Adelsbildung einzugehen 1 . Ein sehr kluges Hinübergreifen in rein seelengeschichtliche Vorgänge unterbricht die Fülle aller dieser staatlich-gesellschaftlichen Beobachtungen: eine Feststellung über die Rolle, die die Genußmittel in der Geschichte spielen. Condorcet geht davon aus, daß die Begierde nach Neuem einen der stärksten Antriebe 1

) P r o g r è s d e l ' E s p r i t H u m a i n 55.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

für den geistigen und gesellschaftlichen Fortschritt darstelle. Dieser Antrieb sei aber schwer geschädigt worden dadurch, daß die Menschen ihn durch die Erfindung neuer Genußmittel gestillt hätten, durch gegorene oder auch nur heiße Getränke, durch Tabak, Bethel, Opium. Denn diese Genüsse, die man zu jeder Stunde erneuern könne, die immer die gleichen blieben, hätten verhindert, daß die Menschen dieser Zeiten — die übrigens nicht erst in Condorcets dritte, sondern schon in seine erste Epoche zu zählen sein würden — ihren an sich vortrefflichen Neuerungstrieb den wertvollen Gegenständen neuer Kultur, statt jenen höchst überflüssigen Genüssen zugewandt hätten. Am Schluß dieses Stufenalters ist bezeichnend, wie Condorcet die Fortschritte der Sternkunde vortrefflich, weil sachlich, schildert, wie er aber auf die Geschichte von Glauben und Priestertum nichts als Schimpf und Schande häuft, weil er in ihrem Tun nichts anderes als Betrug und plumpe Täuschung sieht.

Drittes Stück. Die v i e r t e b i s a c h t e

Epoche.

Mit einer entschlossenen Wendung läßt Condorcet nach Abschluß der dritten Epoche — d. h. ungefähr des auf diesen Blättern als Altertumsstufe bezeichneten Entwicklungsabschnittes — alle außereuropäischen Geschichtsvorgänge fahren und geht vom Anfang der vierten Epoche an zu einem Trakt rein europäischer Geschichte über. Condorcet macht darüber keine Worte; aber indem er schweigend so verfährt, kommt er doch auch mit seinem stummen Handeln zu einem Fortschritt des Wies der Forschung, der von der höchsten Bedeutung ist. Er geht an dieser Grenzscheide zwischen außereuropäischer und europäischer Geschichte durchaus nicht nur zu einem neuen geographischen Abschnitt über, sondern auch zu einem neuen Stufenalter, ja man kann sagen einer neuen Gruppe von Stufenaltern. Und

Europäische Völker; Einheitlichkeit der griechischen Kultur.

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wenn er auch diesen sachlich sehr tiefen Einschnitt nicht in seiner Disposition hervortreten läßt, so tritt er in der Behandlung des Gegenstandes um so stärker hervor: schon die Behandlung des ersten in Angriff genommenen europäischen Entwicklungsabschnittes, der Geschichte der Griechen, weist eine vollkommene Umwandlung der Sehweise auf. Es ist nicht nur e i n Volk, das nunmehr an Stelle einer ganzen Phalanx von Völkern den Mittelpunkt der geschichtlichen Bühne einnimmt, sondern sein Schicksal in Tat und Geist wird auch mit einem ganz anderen Nachdruck geschildert, als er bisher den außereuropäischen Völkern zugebilligt worden war. Die erste Eigenschaft von Gewicht, die Condorcet dem Griechentum zugesprochen sehen will, ist der Zusammenschluß, die Vereinheitlichung ihrer Kulturäußerungen. Er rühmt ihnen nach, daß sie in die Natur der Menschen und der Götter eindringen, und daß sie den Ursprung der Welt und des Menschengeschlechts hätten erkunden wollen. Sie hätten das Insgesamt der Natur auf e i n Prinzip und die Erscheinungen der Welt auf e i n Gesetz zurückleiten wollen, so wie sie auch die Vorschriften der Moral, alle Pflichten und das Geheimnis des wahren Glückes auf eine einzige Verhaltensregel zurückführen wollten. Condorcet dringt nicht zu der Beobachtung vor, daß die Griechen — von einer sehr vorübergehenden indischen Ausnahme abgesehen — die ersten Menschen auf dem Erdenrund waren, die ohne jede Anlehnung an irgendeine Metaphysik des Glaubens eine weltliche Daseinslehre geschaffen haben 1 . Man sieht hier wieder, wie schwierig doch noch für die scharfsinnigsten Forscher oftmals die Erkenntnis von Tatbeständen ist, die sich auch dem suchenden Auge durch die Altgewohnheit ihres Anblicks entziehen. Condorcet lehnt alle diese Daseinslehren als allzu deduktiv und aprioristisch ab. Er will nur die wenigen Empirien gelten lassen, denen 1

) Vgl. meinen Hinweis in: Der Werdegang der Menschheit vom Naturgeschehen zum Geistgeschehen (1935) 258 f.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

er in der frühen Zeit griechischer Wissenschaft begegnet; denn, wie er es recht bitter ausdrückt, es sei dahin gekommen, daß die Griechen Systeme gebaut hätten, statt Wahrheiten zu finden. Für Condorcets Geistigkeit ist dieser Satz denkbar bezeichnend. Alle Metaphysiker und Aprioristen von Gesinnung werden ihn um dieser seiner Gesinnung willen auf das höchste tadeln, alle heutigen Neupia toniker werden keine Hölle heiß genug finden, um ihn darin zu sieden und zu braten, der Unbefangene aber wird ihn, gleichviel ob er seine Meinung billigt oder nicht, um des Mutes seiner Kritik willen hoch rühmen müssen. Hätten unsere Gelehrten alle die letzten Jahrzehnte hindurch etwas mehr von diesem zupackenden Mut gehabt, unsere Philosophiegeschichte hätte nicht so viel zärtlich schonsame Deskription und etwas mehr siebende und sichtende Richterkraft besessen. Es würde überflüssig sein, den Gang von Condorcets Gedanken gegenüber den einzelnen Schritten der Philosophie zu verfolgen, die er mehr verehrt, als man nach den früheren Verwerfungen erwarten sollte; so sagt er von Piaton, daß das, was in seiner Philosophie Träumerei sei, durch die Schönheit seiner Gedanken ausgeglichen werde. Condorcets Bemerkungen über den Staat der Griechen sind nicht eben gewichtig: nur von der Sklaverei und von der Möglichkeit, daß sich alle Bürger einer Stadt auf einem Platz versammeln konnten, sagt er Bemerkenswertes. Wenn Condorcet dann zu einer fünften Epoche übergeht, die vom Eintritt des Jahrhunderts, das von Alexander dem Großen seinen Namen trägt, bis zur Spaltung der Wissenschaften reicht, so ist denkwürdig, daß er von einem großen Wissenschaftsereignis ausgeht, wie er denn von politischen Ereignissen ganz augenfällig wenig spricht. Wie von den Perserkriegen, so ist auch von Alexander dem Großen nichts Wesentliches ausgesagt; das Zeitalter, das nun eingetreten ißt, nennt er das des Aristoteles und des Archimedes, und er verfolgt mit Aufmerksamkeit die Fortschritte der Mathematik und der Einzelwissenschaften und weit kürzer die der

Griechische Forschung; Entstehung' des Christentums.

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reinen Philosophie. Ganz oberflächlich werden die Römer abgefertigt : es ist, als wären sie nur in den Zeiten der letzten Republik und des Kaisertums von Bedeutung gewesen, und es wird auch für diese Zeiten wenig Rühmliches von ihnen berichtet. Vom Staat der Römer wird zunächst nur gesagt, daß sie vom Senat und den Konsuln regiert worden seien, denen sie sich für Brot und Spiele verkauft hätten. Die Priester hätten, so rühmt er von ihnen, keinerlei Macht besessen. In den oberen Schichten habe ein unbestimmter Deismus geherrscht, in den unteren Klassen hätten sich zahlreiche Sekten gebildet. Diese Dekadenzreligion sei mit dem dekadenten Staat weiter gesunken, und in dieser Region sei eine Sehnsucht nach Erlösung, nach der Errettung durch einen Messias aufgekommen. Als eine von den vielen Sekten sei die palästinensische des Messias Jesus erstanden, und sie habe über alle anderen den Sieg davongetragen. Die Führer drängten sich zum Martyrium. Aber mit Konstantin gelangte das nunmehr ganz siegreiche Christentum zu völliger Macht. »Von dieser Geißel der Völker« — diesen Ausdruck gebraucht Condorcet vom Christentum — »die Welt zu befreien, macht der edle Julianus Apostata einen vergeblichen Versuch und geht darüber zugrunde.« Dann reißt dieser übermächtige Strom alles mit sich fort. Die Abneigung, ja der Haß gegen das Christentum ist selbst in diesem Zeitalter des radikalsten Neuheidentums kaum je wieder zu so ausschweifendem Ausdruck gekommen. Die Verachtung aller Wissenschaft sei im Gefolge des Christentums einhergeschritten ; sein Sieg habe das Signal für den Zusammenbruch aller Philosophie gegeben. Zuerst sei bei den Römern in Nachahmung der Griechen einige Kultur des Geistes durch Tacitus und Virgil aufgekommen, darauf aber ein tiefer Niedergang gefolgt 1 . In der sechsten Epoche faßt Condorcet die Zeit vom Zusammenbruch des Geistes bis zu seiner Wiederherstellung zur Zeit der Kreuzzüge zusammen. An der Einteilung, die er hier Progrès de l'Esprit Humain 133 ff.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

eintreten läßt, ist bemerkenswert, daß ihm der Übergang vom alteuropäischen in das neueuropäische Weltalter nicht im mindesten wie ein Einschnitt erscheint, geschweige denn als die tiefste Teilung, die in aller Geschichte je Zeiten und Völkerkreise auseinandergerissen hat. Es ist, als ob er die tiefe Kluft, die die alteuropäische, d. h. römisch-griechische Geschichte, von der neueuropäischen, d. h. germanischromanischen Geschichte trennt, gar nicht empfindet. Er geht über diese Zeiten- und Kulturenschicht fort, als sei sie ein Nichts. Die Germanen treten nicht als die Träger eines neuen Weltalters auf, sondern als die in das römische Reich einbrechenden Barbaren; sie werden Christen, aber sie behalten ihre Sprache bei, gleich als sei das schon ein Bruch des an sich ruhig fortgehenden Kulturganges, und der Untergang der lateinischen Schriftsprache wird von Condorcet als Dekadenz empfunden, der nur später eine Restauration folgte. Auch sonst ist Condorcets Urteil über das Mittelalter das denkbar ungünstigste. Ein Unterschied zwischen zwei Klassen bildet sich heraus, zwischen einer herrschenden und einer unterdrückten Klasse. Die herrschende gebietet kraft roher Gewalt und der besseren Waffen, über die sie verfügt; die beherrschte unterwirft sich, weil ihr gemäß ihrer Armut keine Mittel zum Widerstand zur Verfügung stehen. Der ursprünglich den Beherrschten aufgezwungene Unterschied wird später wie ein natürlich gewachsener empfunden. Die Gesetzgebung des Mittelalters scheint Condorcet unausgebildet, ja barbarisch. Die Kirche wächst, indem sie sich Macht anmaßt, zur Rivalin des Staates und seines Despotismus. Sie wird selbst despotisch. Sie hält Heere, bestehend aus Mönchen, ihre Waffen sind Bann und Fluch. Die niedrigsten Verbrechen werden im Namen Gottes geheiligt. Eine gänzlich verschrobene Moral gilt: Bußgelder und Gottesurteile gehen im Schwang, ein Augenblick der Reue genügt, um ein Leben von wüsten Greueltaten wieder gutzumachen. Man glaubt an Fegefeuer und Hölle, Ab-

Das Mittelalter; entwickelnde Geschichtsforschung?

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solution wird verkauft, Wunder aller Art werden verehrt, Ketzer werden verbrannt. Plätze im Himmel werden für Land auf der Erde verkauft. Die gröbsten Täuschungen sind an der Tagesordnung. Dem allen gegenüber werden Byzanz und Islam gewürdigt, ja geradezu hoch gewertet; vom Orient aber wird ein langsamer, aber dauernder Verfall vermerkt 1 . Warum werden alle diese Angaben aus dem Wortlaut von Condorcets Schrift hierher übernommen ? Trifft für sie alle die Eigenschaft entwickelnder Geschichtsforschung zu ? Ich denke doch, und zwar um deswillen, weil immer mit ihnen lang hinwallende Ströme geschichtlichen Geschehens gekennzeichnet werden, weil Spaltungen zwischen diesen Strömen beobachtet werden, und weil Tempo Veränderungen, namentlich Verlangsamungen, verzeichnet werden. Wenn dabei auch eine Fülle von quidditates, von Washeiten, wie die Scholastik dies ausdrückt, in das Bild aufgenommen werden, so dient auch dies mittelbar dem Entwicklungsgedanken insofern, als alle Veränderungen an diesen Geschichtsgehalten Formen, Äußerungen von Entwicklung darstellen. Zugleich aber wird durch die Verzeichnung der methodischen Veränderungen ein Einblick in die seltsamen Wandlungen des Geschichtsbildes gegeben: der Stoffe, deren Aufzeichnung als wesentlich empfunden wird, und zugleich des Urteils, mit dem man die einzelnen Zeitalter und ihre wesentlichen Kulturrichtungen abwertet. Immer wieder sind auch die Auslassungen Condorcets für ihn charakteristisch. Wie erstaunlich ist doch, daß er zwar von der Erneuerung und Verstärkung der geistigen Tätigkeit zur Zeit der Kreuzzüge im allgemeinen spricht, daß er aber den in Frankreich wie in Deutschland gleich bedeutenden Aufschwung der Dichtung völlig unerwähnt läßt, daß er dieses Wiederaufleben der Volkssprachen gegen das Lateinische namentlich in Deutschland, im Anfange aber auch in Italien 1

) Progrès de l'Esprit Humain 155ff.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

mit Stillschweigen übergeht, da er doch zuvor das Zurückgehen des Lateinischen klagend erwähnt hatte. An der siebenten Epoche, die Condorcet von dem ersten neuen Aufleben der geistigen Bewegung um die Mitte des Zeitalters der Kreuzzüge bis zur Erfindung der Buchdruckerkunst reichen läßt, ist ganz besonders bemerkenswert die Datierung des Endpunktes; während der Anfang noch mit einem großen geistigen Umschwung zusammenfällt, wird dieser Endpunkt einem technischen Geschehen zugeordnet, das zwar auch ein geistiges Gewicht hat, dessen technische Bedeutung aber für Condorcet den Ausschlag gab. Man wird deshalb — mit einigem Schmerz — feststellen müssen, daß von hier ab dies Übergewicht der Technik über den Geist für Condorcets innere Wertung unwiderleglich sichtbar wird. Zu Anfang dieses Abschnittes tritt allerdings in der Darstellung Condorcets ein geistiges, ja wie man mit einiger Verwunderung bemerkt, ein glaubensgeschichtliches Geschehen in den Vordergrund. Er entschließt sich sogar, worüber man sich noch mehr erstaunt, eine religiöse Bewegung mit seinem Lobe zu bedenken. Wohl sind es die auch-kirchlichen Rebellionen der Albigenser und verwandter Sekten, in Condorcets Sprache ein Kampf zwischen Mensch und Priester, zwischen Vernunft und Superstition. Auch Könige und Fürsten werden gelobt, weil sich bei ihnen nationalkirchliche Regungen gegen die Hierarchie geltend machen. Den Kreuzzügen rühmt Condorcet nach, daß sie, für den Aberglauben unternommen, dazu beitragen, diesen zu zerstören, indem sie durch starke geistige Einströme vom Orient her dem Geist Hilfe, dem Christentum Schaden bringen. Condorcet nimmt sogar vorurteilsloserweise die Scholastik in Schutz, weil ihre Metaphysik der Theologie Aufklärung gebracht habe, so sehr sie auch die Naturwissenschaften gehemmt habe. Condorcet läßt hier eine ganze Phalanx von ihm genehmen Bewegungen entstehen, ihm genehm, weil sie alle der Sache

Erfindung 1 der Buchdruckerkunst als epochebildend.

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der großen Freiheit dienen. So rühmt er das Wiederaufleben der römischen Rechtswissenschaft, weil es die Gesetzgebung sicher gemacht habe. Er greift hier sogar, was sonst sehr selten geschieht, in das Gebiet des staatlichen Lebens über und spricht von den Regungen, die eine Konstitution heraufführten und das Volk zu Wort kommen ließen. Er ist hier so weitsichtig, an den großen Unterschied zwischen alt- und neueuropäischen Staaten zu erinnern und die Verhinderung des Emporkommens freierer Staatszustände bei den Alten auf das Bestehen der Sklaverei zurückzuführen. Bei weitem das größte Gewicht aber mißt Condorcet den sehr großen Fortschritten zu, die in diesem Zeitalter die Technik gemacht habe. Er preist den Kompaß als Förderer der Schiffahrt, das Pulver, das die Kriegsführung verbessert und milder gemacht habe, am höchsten aber die Erfindung der Buchdruckerkunst. Sie wird von Condorcet so hoch gestellt, daß er von ihr ab eine neue Epoche datiert, eine Epoche, die er mit dem Auftreten Descartes' enden läßt. Ob die Wertschätzung, die er der Buchdruckerkunst zuteil werden läßt, im Sinne höherer Kultur verdient ist, sei dahingestellt. Sie ist sehr demokratisch, und bei Condorcet entsteht ein Bild, als sei durch diese Demokratisierung des Geistes der Himmel auf Erden geschaffen worden. Nur wird die Frage sich aufdrängen, ob nicht ein freier und in seiner Freiheit geschützter Gelehrtenstand der Kultur noch bessere Dienste leisten könnte als die allverbreitete Dutzendgeschultheit unseres Zustandes. Doch soll diese Frage, für deren gegenteilige Entscheidung sich mancherlei Gründe ins Feld führen lassen würden, hier nicht mehr erörtert werden. Zwei Ereignisse, die auch nach der Weisheit der Elementarbücher Epoche machen, werden von Condorcet in die vorderste Reihe des geschichtlichen Geschehens gestellt; es ist die Eroberung von Konstantinopel durch die Türken und die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien und Amerika. B r e y s i g , Meister der G e s c h i c h t s f o r s c h u n g .

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

Die große geistige Umwälzung dieser Zeit, die Reformation, wird von Condorcet seltsam günstig beurteilt: die viel stärkere Aufrechterhaltung des christlichen Glaubens nach dieser Umwälzung durch Luther, an der er von seinem bisherigen Standpunkt hätte Anstoß nehmen sollen, berücksichtigt er gar nicht. »Es war eine Fackel, die er in die Welt warf, ein Brand, den niemand mehr ignorieren konnte. Befreiung vom Joche Roms war die Losung.« Man sieht, der Rebell findet an dem Rebellen eine so herzhafte Freude, daß er darüber alles, was ihn im Grunde von dieser Form des Christentums noch tiefer als von dem alten Bekenntnis trennen sollte, übersieht. Condorcet klagt über die Greuel der Religionskriege, er klagt darüber, daß die Volksbildung noch in den Händen der Kirche liege. Aber er rühmt die Fortschritte der Naturwissenschaften, der bildenden Künste, der Dichtung, deren Höhe die Ebene der Antike, wie er meint, überschritten habe. Die Wissenschaft sieht er durch Bacon, Galilei, Descartes einem Gipfel entgegengeführt. »Der menschliche Geist,« so schließt er diesen vorletzten Zeitabschnitt seiner Zeitalterreihe, »der menschliche Geist ist am Schlüsse dieser Epoche noch nicht frei; aber er weiß, daß er zur Freiheit bestimmt ist. Die Autorität ist nicht mehr unantastbar, sondern muß sich rechtfertigen, und da sie dies nicht kann, so ist vorauszusehen, daß sie stürzen wird1.«

Viertes Stück. Von D e s c a r t e s bis zur

Revolution.

Indem sich Condorcet der neunten Epoche zuwendet, verschmilzt er die Schilderung des geistigen mit der des politischen Fortschrittes. Er sieht drei Stufen des Fortschrittes der Erkenntnis. Die Errungenschaften der Philosophie beProgrès de l'Esprit Humain 231 f.

Philosophie und Staatsverfassung.

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einflussen die öffentliche Meinung; diese aber zieht die widerstrebenden Regierungen hinter sich her. Diese sehr langsamen Prozesse würden, so weissagt Condorcet, zu Revolutionen führen, und diese würden auslaufen in eine allgemeine Menschheitsrevolution. Er sieht als Ziel eine Erklärung der Menschenrechte. Er wünscht als Prinzip der Staatsverfassung eine Herrschaft der Mehrheit. Von ihrer Vortrefflichkeit ist er tief durchdrungen; als ihren besten Vorzug sieht er die Möglichkeit zu einer jederzeit anzuordnenden Verfassungsänderung. eine Möglichkeit, die es bisher nie gegeben habe. Die Gesetze, nach denen der Reichtum sich bildet und sich verteilt, die Gesetze des Gleichgewichts zwischen Bedarf und Hilfsquellen, die Gesetze vor allem, die in dieser ganzen verwirrenden Vielfältigkeit von Arbeit und Erzeugnissen, von Bedürfnissen und Hilfsquellen die Existenz und das Wohlergehen des Einzelnen mit dem der Gesamtheit vei binden, sodaß nach einem allgemeingültigen Sittlichkeitsgesetz die Anstrengungen jedes Einzelnen für sich selbst dem Wohl Aller dienen müssen und das allgemeine Interesse fordert, daß jeder sein eigenes Interesse wahrnimmt: sie sucht Condorcet nicht zu ergründen, er wirft nur die Frage nach ihnen auf 1 . An sich ist Condor ce ts Gesinnung die eines politischen, aber auch wirtschaftlichen Liberalismus: jeder soll seine Kräfte nach Möglichkeit anspannen; schon aber regen eich auch sozialistische Gedanken: der Staat soll den Überfluß, den der Einzelne über seinen notwendigen Bedarf hinaus erwirbt, an sich ziehen und ihn für die Allgemeinheit verwenden. Vorkehrungen gegen Naturkatastrophen, wie sie bisher dem Zufall überlassen waren, soll der Staat übernehmen 2 . Condorcet verfolgt in diesem Zeitalter seit Descartes die Fortschritte der Philosophie; er ehrt Locke und Leibniz; er gedenkt der Anfänge der Volkswirtschaftslehre, insbesondere Adam Smiths. Er freut sich, daß nunmehr die klaffende l a

) Progrès de l'Esprit Humain 245. ) Ebenda 2±7f. 9*

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

Lücke zwischen den Wissenden und den Unwissenden ausgefüllt ist, und daß eine Stufenleiter von der Dummheit zu dem Genie hinaufführe. Condorcet liebt, wie unter seinen Richtungsgenossen so viele, die Vereinheitlichung. Er wünscht für Alle das gleiche Recht auf Aufklärung, und er leitet die Menschenrechte, in denen er den rechten Zustand der Gesellschaft gipfeln läßt, von einer einzigen Wahrheit ab, der wiederum dreigeteilten nämlich, daß der Mensch ein empfindendes Wesen sei — un être sensible —, daß er fähig sei, Folgerungen — raisonnements — zu bilden und moralische Vorstellungen zu gewinnen — des idées moralesÄußeren Rechten des Staates, die auf Gleichmachung von Maß, Gewicht, Währung hinauslaufen, setzt er das Recht des Einzelnen auf wirtschaftliche Freiheit entgegen. Ein Grundbegriff seiner Geschichtslehre — hier einmal im wirklichen Umfang des Sinnes dieses Wortes, denn hier ist zur seltenen Ausnahme eine Setzung ausgesprochen, die das Insgesamt des geschichtlichen Geschehens angeht und nicht irgendein, wenn auch noch so weitreichendes Gebiet der geschehenen Geschichte — ist die Perfektibilität, also die Fähigkeit des Menschengeschlechts zur Vervollkommnung. Dieser Eigenschaft — es handelt sich um ein Erbstück von Turgot, nebenbei auch Priestley — mißt Condorcet ein schlechthin grenzenloses Ausmaß von Geltung zu. Er sagt von ihr, sie sei unbeschränkt in ihrem Wirken: eine Behauptving, die gleichmäßig Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfaßt, und die vor allem in Hinsicht auf die Zukunft eine schlechthin grenzenlose Sicht auf die Ausbildung immer neuer Fähigkeiten des Menschengeschlechts eröffnet. Indem Condorcet zur nächsten Zukunft übergeht, ändert er völlig seine Art und Weise und spricht mit ganz anderer Bestimmtheit, aber auch mit besonders starker Sicherheit der Prophezeiung. Er ist der Ansicht, daß eine ]

) Progrès de l'Esprit Humain 240, 243f.

Perfektibilität; Naturgesetze auch in Politik und Moral.

]33

große Revolution sich Europa nähert, wie schon in der jüngsten Vergangenheit Frankreich. Zwei mögliche Formen der Revolution sieht er kommen: eine freiwillige von oben oder eine gewaltsame von unten. Er spricht dann vom Aufstand der amerikanischen Kolonien: zuerst mit Hohn von der englischen Regierung, die den Glauben hege, daß Gott Amerika wie Asien nur zum Vergnügen der Einwohner von London geschaffen habe, dann mit dem Ausdruck wahrer Lobeserhebung für die Amerikaner 1 . In ihnen findet er das erste große Volk, das sich selbständig macht und sich seine eigene Verfassung erbaut. Er sieht in der französischen Revolution eine Folgeerscheinung der amerikanischen, geht dann aber zu einer sehr scharfsichtigen Beleuchtung der zwischen beiden obwaltenden Unterschiede über. Sehr schnell aber zieht sich seine Darstellung, nachdem sie so die handhaften Greifbarkeiten gegenwärtiger Politik und Geschichte behandelt hat, zurück in den Bezirk der Allgemeinheiten, an denen ihm doch als Forscher bei weitem das meiste gelegen war. So führt ihn schon die Annäherung der Zeitgrenze, mit der für ihn die Zukunft beginnt, zu Überlegungen über die Möglichkeit, diese zu berechnen. Er stellt Erwägungen an über die Natur des Zufalles und gelangt zu der an sich vortrefflichen Umgrenzung für den Begriff Zufall: jene notwendige unbekannte Ursache für ein Geschehen, die man Zufall nennt; eine Umgrenzung, die vielen grundverkehrten — insbesondere auf die Freiheit des Willens zurückgeführten — Deutungen den Lebensfaden abschneidet. Immer gibt sich Condorcet als Bekenner rechnerisch sicherer Herleitung auch der wichtigsten politischen Entscheidungen zu erkennen. Seine Vorliebe für die Anwendung der Entscheidung durch Abstimmung und Mehrheit hat hier ihre Wurzel; er übersieht dabei, daß, wie alle Demokratie, so auch der Grundsatz der Mehrheitsabstimmungen seiner inneren Wirkung nach gar nicht logischerweise auf die Zahl l

) Progrès de l'Esprit H u m a i n 272.

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Entstehung: Die ersten Vollender: Condorcet.

zurückgeführt werden kann, sondern nur auf die Voraussetzung der gleichen Bewertung aller Staatsbürger, die den mannigfachsten Bemängelungen ausgesetzt ist. Zuletzt aber erhebt er sich zu einer Setzung von viel höherer Ebene, die deswegen auch viel unantastbarer ist: es ist die Behauptung, daß alle Irrtümer in der Politik und Moral auf der Unkenntnis der Naturgesetze beruhten 1 . Für Condorcets Geschichtslehre ist wichtig, daß er für den Unterschied aller bisherigen von aller zukünftigen Geschichte einen Gegensatz zwischen Individual- und Kollektivgeschichte aufstellt, der in seiner Begrenzung auf einem vollkommenen Irrtum beruht, in seiner Allgemeinheit aber immerhin eine Erkenntnis geschichtlicher Dinge durchschimmern läßt, die man Condorcet wird hoch anrechnen müssen. Denn er hätte dann, wenn er diesen Satz für alle Zeiten ausgesprochen haben würde, eine unumstößliche Wahrheit aufgestellt. Nun er ihn aber ausspricht als einen nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die Zukunft gültigen, so läuft er von vornherein auf einen Mißgriff hinaus. Ihm entzieht sich somit die Einsicht in eine ganz allgemeine Eigenschaft von aller je gewesenen Geschichte; und er nimmt zu Unrecht an, daß den auf seine Gegenwart noch folgenden Zeiten diese Eigenschaft nicht zuerkannt werden könne. Eher begreiflich ist der andere Irrtum, dem er auch verfällt, die Vorstellung nämlich, daß das Geschehen der zukünftigen Zeiten vorzüglich ein kollektives sein, daß Zeitalter des Massengeschehens folgen würden. Wohl hat schon die allernächste Zukunft, die der zwei von Napoleon überragten Jahrzehnte, diese Voraussage gründlich widerlegt; daß aber zu diesem Zeitpunkt an der Schwelle des Zeitalters für alle Demokratien und Sozialismen eine solche Weissagung nicht als völlig verkehrt angesehen werden kann, erscheint geradezu selbstverständlich. Die sicher falsche Bewertung aller Vergangenheit als wesentlich individualistisch, vom 1

) Progrès de l'Esprit Humain 309.

Einzel- und Massengeschichte, Sachbericht und Beobachtung. 135

Einzelnen beherrscht, wird man sich so erklären müssen, daß Condorcet in der großen Revolution seiner Tage einen so ungeheuren Umbruch sah, daß er um des neuen der, wie er meinte, zum ersten Male siegreichen Massenherrschaft willen in aller bis dahin verlaufenen früheren Zeit ein Zeitalter der Gegenkraft, ein Zeitalter des Einzelnen und seiner Übermacht sah. Durchaus fein und wenigstens zu einem Teil unanfechtbar ist eine weitere Folgerung, die er aus seiner ersten Behauptimg zieht. Er meint, für die Geschichte der Einzelnen, wie sie bisher ausgereicht hätte, hätte ein Tatsachenbericht genügt, für die Massengeschichte aber müßten Beobachtungen die Grundlage bilden. Bildet man diese Feststellungen noch des weiteren fort, so erweist sich, daß Condorcets Forschung, in die Sprache dieser Blätter übertragen, den wesentlichsten Unterschied aller Geschichtsforschung, den zwischen Individual- und Kollektivgeschichte, der zugleich auch ein Unterschied zwischen beschreibender und entwickelnder, zwischen deskriptiver und evolutionistischer Geschichtsschreibung ist, immerhin ahnt, wenn auch gewiß noch nicht scharf sieht. Zunächst hört es sich etwas verwunderlich an, wenn Condorcet die Pflichten der Geschichtsforschung, die er die Massengeschichte nennt, so abgrenzt, daß er ihr zuschreibt, sie müsse zuerst die wesentlichen Züge herausfinden, und dies könne nur so geschehen, daß die Geschichte durch Lichter erhellt werde. Es bedürfe hierzu aber fast ebenso vieler Philosophie, wie um diese Lichter recht anzuwenden 1 . Es ist wohl nicht eben der tiefste Begriff von Philosophie, der Condorcet hier vorschwebt; denn kurz zuvor bezeichnet *) »Für die Geschichte des Einzelnen genügt es, Tatsachen zu sammeln, aber die einer Masse kann sich nur auf Beobachtungen stützen. Um diese auszuwählen, um die wesentlichsten Züge zu erfassen, bedarf es schon einer Aufklärung — des lumières — und fast ebenso vieler Philosophie wie dazu, sie gut anzuwenden.« Progrès de l'Esprit Humain 323.

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Entstehung: D i e ersten Vollender: Condorcet.

er als den wahren Zweck der Philosophie, zu ermitteln, wie die Ereignisse auf die Massen wirkten. Denn alle Zwischenwirkungen könnten nur als Mittel angesehen werden, um zuletzt auf die Masse zu wirken. Alle Dinge der Vergangenheit, das ist Condorcets letzter Schluß, sollen auf die Gegenwart bezogen werden. So allein könne ermessen werden, welche Rechtstitel auf wahren Ruhm die Menschheit habe, und mit einigem Vergnügen festgestellt werden, welche Fortschritte die Vernunft gemacht und inwiefern das Menschengeschlecht sich vervollkommnet habe. Mit einer seltsamen Verbindung zwischen Sach- und Menschenkultur schließt Condorcet diese Schilderungen der neuesten und letzten Epoche seiner Universalgeschichte ; zuerst gedenkt er der materiellen Kultur, deren Fleiß dem Menschen die Nahrungsmittel verschaffe, deren er zunächst bedürfe, um mit einigem Uberfluß zu leben, und die er der Verbindung mit den Erleuchtungen der Wissenschaft verdanke. Aber, so fährt er mit großem Recht fort, die Güter dieser Kultur verdanke er doch nur dem Gewinn des Sieges in der Seeschlacht von Salamis, ohne den sich die Finsternis des orientalischen Despotismus über die ganze Erde gelegt haben würde. Der Matrose, dem eine genaue Beobachtung der astronomischen Länge und Breite im Schiffbruch das Leben rettet, verdankt es durch eine lange Kette von wissenschaftlichen Überlieferungen den Entdeckungen zwar nicht der Schule Piatons — wie Condorcet in rührender Verwechslung der Tatsachen meint -•-, wohl aber der griechischen Wissenschaft. Der Schlußabschnitt, in dem Condorcet sein Werk gipfeln läßt, spricht von drei Hoffnungen, die er an die Zukunft des Menschengeschlechts k n ü p f t : auf die Abschaffung der Ungleichheit zwischen den Völkern, auf die Vermehrung der Gleichheit zwischen den Menschen eines Volkes und schließlich auf die wirkliche Vervollkommnung des Menschen. Bis hierher vertritt Condorcet nichts anderes als die Forderungen des Pazifismus und der Demokratie. Aber er

Menschen- und Sachkultur; drei Hoffnungen.

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geht weiter und übertrifft damit nicht nur die alten Verkündigungen, sondern auch bei weitem die tatsächliche Praxis, die die europäischen Völker in den letztverflossenen fünfviertel Jahrhunderten angewandt haben, wenn er das Verlangen ausspricht, daß die Europäer zu Pflegern und Erziehern der außereuropäischen Völker werden sollen statt zu ihren Unterdrückern. Von der Gleichheit zwischen den Bürgern eines Staates meint Condorcet, daß die Ungleichheiten des Besitzes, der Bildung des Volkes zwar bekämpft werden müßten, daß man ihre Beseitigung aber nicht erreichen würde. Man sieht, die Tendenzen, denen Condorcet mit seiner praktischen Staatskunst dienen will, sind die eines gemäßigten Demokratismus. Und ähnlich wird man auch seine geschichtswissenschaftlichen Absichten kennzeichnen dürfen: er hat den Entwicklungsgedanken in sehr weitgehendem Maße gefördert. Es sind immer die großen Sichten, die weiten Entwicklungslinien, deren Erkenntnis er erstrebt. Doch wird man gewiß nicht behaupten dürfen, daß er den leitenden Gedanken, die den Zielen wirklicher Entwicklungsgeschichte in vollem Umfange dienen müßten, gerecht geworden wäre. Wollte er doch auch nur eine Skizze, also die weichen und leisen Vorumrisse einer universalen Entwicklungsgeschichte geben.

ZWEITES BUCH. DIE GROSSEN GESCHICHTSWERKE DER DEUTSCHEN DES ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERTS, Erster Abschnitt. Winckelmanns Geschichte der Kunst des Altertums. Erstes Stück. Winckelmanns Kunstwissenschaft. Es ist schwerlich von ungefähr geschehen, daß der französischen Geschichtswissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts, so große Werke sie auch hervorgebracht hat, doch eine deutsche an die Seite getreten ist, die ihr überlegen gewesen ist. Von der denkenden, also wenn man so will philosophischen Geschichtslehre wird man dies zwar nicht behaupten dürfen: in diesem Stück sind Turgot und Condorcet vielleicht die Überlegenen. Sicher aber wird die werktätige Geschichtsforschung, insoweit sie dem Entwicklungsgedanken dient — auch die von Voltaire — übertroffen. Und daß den Deutschen dies gelang, erscheint darum begreiflich, weil hier zwei Fähigkeiten des deutschen Geistes zusammentrafen, die wie bestimmt erschienen eine Geschichtsforschung entstehen zu lassen, die mit der Möglichkeit dem Geschichtsgedanken zu dienen die Neigung zu einer auch der Wirklichkeit hingegebenen Geschichtstreue verband. Und es sind Werke zustande gekommen, die ihrer werktätigen Leistung nach Tat gewordene Geschichtsschreibung mit einem Fortschritt des Geschichte denkenden Wollens verbanden und in beiden Stücken Voltaires Wirken um Vieles hinter sich ließen. Winckelmanns Geschichte der Kunst des

Beitrag des deutschen Geistes: Begriffskraft, Wissensfülle.

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Altertums hat im Jahre 1764 den Reigen der großen Werke eröffnet, durch die der deutsche Geist seinen Beitrag zu der entwickelnden Geschichtsforschung des achtzehnten Jahrhunderts leistete. In Winckelmann verschmolz sich der lehrhafte Geist des Zeitalters, sein Zug zur Theorie mit einer unendlichen Freude an Wirklichkeit und damit an Geschichte, am Einzelnen. Nähert man sich seinem Werk von der Sphäre dessen her, was Liebe, aber auch Lehre seines Geistes war, so erwartet man ein Überwiegen des begrifflichen Elements; man hält ihn so sehr für einen Sohn seines, des achtzehnten Jahrhunderts, daß man glaubt, die aufmerksame und eingängige Betrachtung des Einzelnen sei bei ihm völlig zu kurz gekommen. Und der fanatische Anhänger des neunzehnten Jahrhunderts und seiner Mikroskopien rüstet sich, ihm mit allem Hochmut der Uberhebung seiner Exaktheit und seiner Genauigkeit entgegenzutreten. Macht er sich aber mit Winckelmanns Werk selbst bekannt, so wird er sehr schnell zu anderer Meinung bekehrt und, falls er Fanatiker ist, sehr enttäuscht werden. Winckelmann war so erfüllt von dem umfassenden Wissen, das er sich von seinem Gegenstand erworben hatte, daß er gar nicht daran denken konnte, sich in bloße Allgemeinheiten zu verlieren. Von der ersten Seite seiner Darstellung an überschüttet er den Leser mit der Fülle seines überlegenen Wissens. Wohl hat er schon bei Beginn der Vorrede seines weit umfassenden Werkes sich zu sehr allgemeinen Absichten bekannt. Aber die Ausführung dieses Programms zeigt weit mehr, als man nach diesen Ankündigungen denken sollte, den Grundzug einer ganz gründlichen, auf dem genauesten Einzelwissen sich aufbauenden Forschungsweise. Wie einen lauten Fanfarenstoß, mit dem zu Ruhm und Preis der in Wahrheit ganz neuen Weise der Geschichtsforschung deren besondere, von aller bisherigen Geschichtsschreibung weit abweichende Ziele verkündet werden, empfindet man die ersten Sätze, mit denen Winckelmanns Vorrede vor den

1 4 0 Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Kunstwissenschaft.

Leser t r i t t . Die Geschichte der K u n s t des Altertums, die er zu schreiben unternehme, so erklärt er, sei keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in derselben, sondern er nehme das W o r t Geschichte in der weiteren Bedeutung, welche dasselbe in der griechischen Sprache hat —• er mag an Herodots iorogiai, also Forschungen denken — und seine Absicht ist, den Versuch eines Lehrgebäudes zu liefern. Zwei Angriffspunkte sind es, gegen die sich diese Aufgabenbestimmung richtet. Der erste ist der Leitgedanke einer lediglich chronologischen Anordnung; von ihr will Winckelmann am wenigsten wissen u n d offenbart sich schon mit diesem ersten Satze als ein erregter Gegner jedes Descriptivismus, aller üblichen beschreibenden Geschichtsbehandlung, von der er keinen Augenblick verhehlt, daß er sie gründlich verachtet. Und mit dem zweiten Satz stellt er auch sogleich die positive Aufgabe, das J a seiner Ziele hin, die ihn erfüllen. E r will, so sagt er, ein Lehrgebäude errichten. Ist das W o r t auch durchaus nicht so klar, so präzisiert, wie man wünschen möchte, so k a n n sein allgemeinster Sinn doch durchaus nicht verkannt werden. Es ist Winckelmann um ein System zu tun, wie die heutige Schulsprache es ausdrückt, d. h. er will die Ordnung, die er seinem Werk zu geben gedenkt, einem Begriffsbau entlehnen. Nun ist nicht ohne weiteres klar, von welcher Art dieser Begriffsbau sein soll. Man ist einen Augenblick in Versuchung, anzunehmen, daß es der Begriffsbau einer allgemeinen Ästhetik, genauer gesagt einer allgemeinen Kunstwissenschaft sei, an den hier Winckelmann denkt. Doch ist dies ganz gewiß nicht der Fall. Seiner tiefsten Gesinnung würde ganz sicherlich ein solcher Aufbau entsprechen, davon wird noch des genaueren die Rede sein müssen; daß es aber diese Absicht nicht ist, die ihn leitet, geht nicht allein aus der Ausführung des ganzen Werkes hervor, sondern mit eigenem Nachdruck aus dem Umstand, daß Winckelmann

Keine allgemeine Ästhetik; exakte empirische Grundlagen.

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in einem Abschnitt, übrigens keineswegs zu Anfang seiner Darstellung, sondern erst im zweiten Kapitel des vierten Buchs, von dem Wesentlichen der Kunst handelt. Und wenn überhaupt ein Abschnitt seines Werkes das Gepräge eines Beitrages zur allgemeinen Kunstwissenschaft trägt, so ist es dieser. Abgesehen aber von diesem Einschub kunstwissenschaftlicher Theorie ist die Grundhaltung des Werkes eine der äußersten Akribie und Exaktheit: die empirische Grundlage ist bis in das letzte hinein gesichert Zu fünfundneunzig Hundertsteln besteht die Darstellung aus Einzelangaben über Einzelwerke, und eine fast ähnlich überwiegende Fülle von kritischen und bibliographischen Anmerkungen bestätigt des weiteren den im strengsten Zunftsinne höchsten Grad des Fleißes, der Genauigkeit, der Gelehrsamkeit des Verfassers. Doch dies ist nur die eine Seite seines forscherlichen Tuns; das Schöpferische seines Wirkens liegt, wie selbstverständlich ist, durchaus bei der denkerischen Durchdringung seines Stoffes, und diese dient in jedem Betracht dem Entwicklungsgedanken. Wenn bei einer Musterung der forscherlichen Mittel, die Winckelmann in diesem Dienst angewandt hat, von dem begrifflichsten auszugehen ist, so ist an die erste Stelle auch jener kunstwissenschaftliche Einschub zu rücken, von dem noch eben im Vorübergehen die Rede war. Und man wird sich nicht wundern dürfen, daß Winckelmann an diesem Ort seiner Lehre als Apriorist und, wenn man will, als Metaphysiker von reinstem Wasser auftritt. Er türmt eine Setzung-im-Voraus auf die andere, und schon die erste, die er ausspricht, ist eine solche Setzung, die, geistig von höchstem Range, sich doch erfahrungswissenschaftlich als von der letzten Unsicherheit bedroht darstellt. »Die höchste Schönheit« — so lauten die Worte — »ist in Gott, und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen, je gemäßer und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten Wesen kann gedacht werden.« Gott sei von der Materie, so begründet er diesen Satz, durch den Begriff der Einheit

1 4 2 Deutsche Geschichts werke: Winckelmann: Kunstwissenschaft.

und Unteilbarkeit geschieden. »Der Begriff der Schönheit,« so fährt er weiter fort, »ist wie ein aus der Materie durchs Feuer gezogener Geist, welcher sich suchet ein Geschöpf zu zeugen nach dem Ebenbilde der in dem Verstand der Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Creatur1.« Alle diese Begriffe, nicht nur die Gottheit selbst, nein auch ihr Verstand und wiederum die von diesem Verstand entworfene erste vernünftige Creatur sind lediglich aus dem Geist schöpferischer Phantasie entstandene Setzungen dieser Art. Es sind die von Winckelmann als dem echten Sohn seines Jahrhunderts als notwendig empfundenen Voraussetzungen, die er auch seinen obersten kunstwissenschaftlichen Setzungen als angeblich sie stützende Unterlagen zu geben wünscht. Und man beachte neben den Gehalten dieser voraufgeschickten Setzungen einer als wahr hingenommenen Daseinslehre, auf die des näheren einzugehen keine Nötigung vorliegt, doch auch die Form dieser Beweisführung. Sie läßt eine Setzung-im-Voraus auf die andere folgen: an die Gottheit wird ihr Verstand und an diesen wieder wird die von ihm geschaffene Creatur gereiht, und dies alles geschieht aus der Gesinnung einer vollkommen harmlosen, auch nicht von der leisesten metaphysischen Verpflichtung in Zaum gehaltenen, frei phantasierenden Verkettung von immer neuen unbewiesenen Behauptungen. Sie als persönlichen Irrtum Winckelmanns zu tadeln, wäre um so unbilliger, als die geistige Luft dieses Zeitalters von ihnen erfüllt war und sie im Gegenteil als die bewiesensten von allen erdenklichen Vorstellungen vom Wesen der Welt ansah. Weit wichtiger, weil weit näher an das forscherliche Wesen Winckelmanns heranführend, sind die Gedankengänge, durch die er sich den Weg zur Umgrenzung seines eigentlichen Gegenstandes bahnt, durch die er dazu gelangt, seine Meinung vom Wesen der höchsten Kunst zu begründen. In sehr Geschichte der Kunst des Altertums, Buch IV, Kap. 2 (Sämtliche Werke IV [1825]) 60.

Umgrenzung des Begriffs der Schönheit.

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augenfälligem Unterschied von heutigen Aesthetikern, denen auch bei Abfassung von umfänglichen Handbüchern der Kunstwissenschaft nicht im mindesten der Gedanke kommt, eine Begriffsum grenzung für das Wesen der Schönheit zu geben, befaßt sich Winckelmann mit einer solchen auf das ernsthafteste. Einheit und Einfalt sind die beiden Eigenschaften, die er — wohl ausgehend von dem Bedürfnis der Malerei, doch nicht bei ihr stehen bleibend und allenfalls auch den Anforderungen der Baukunst genügend — als Gewährleistungen der Erhabenheit in der Schönheit ansieht. »Das, was in sich groß ist,« so erklärt er, »wird, mit Einfalt ausgeführet, erhaben. Es wird nicht enger eingeschränket oder verlieret von seiner Größe, wenn es unser Geist wie mit einem Blicke übersehen und messen und in einem einzigen Begriffe einschließen und fassen kann: sondern eben durch diese Begreiflichkeit stellet es uns sich in seiner völligen Größe vor und unser Geist wird durch die Fassung desselben erweitert und zugleich mit erhoben.« Und er schließt diese Umschreibung mit den durchschlagenden Worten: »Diejenige Harmonie, die unseren Geist entzücket, bestehet nicht in unendlich gebrochenen, gekettelten und geschleifeten Tönen, sondern in einfachen, lang anhaltenden Zügen. Aus diesem Grunde erscheinet ein großer Palast klein, wenn derselbe mit Zierraten überladen ist, und ein Haus groß, wenn es schön und einfältig aufgeführet worden 1 .« So viel man mit dem besten Recht an der diesen Worten dicht vora.ufgehenden Begriffsumgrenzung wird auszusetzen haben, so wenig wird man verkennen dürfen, daß in den hier aufgerufenen Worten ein Meisterstück geleistet ist. Dort Metaphysik von ungestützter, geringer Ausfertigung, hier eine Begrifflichkeit, die wahrlich von unten her, vom Boden der Erfahrung her aufgebaut, wahren und echten Empirismus verkörpert. Es ist hier eine Begriffsumgrenzung gegeben, die nicht eigentlich aus dem Begriff, sondern aus Geschichte der K u n s t IV 60f.

1 4 4 Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Kunstwissenschaft.

der Anschauung geboren ist. Und damit erst der volle Ruhm dieser geistigen Leistung verkündet werde: Winckelmann hat diese Worte, die nicht eigentlich eine Leistung begrifflicher Wissenschaft, sondern weit mehr noch die Verkündung der höchsten Aufgaben einer lebendigen Kunst waren, ausgesprochen zu einer Zeit, in der die Kunst des sinkenden Zeitalters, des Rokoko, noch bei weitem nicht abgeblüht war, und in der der Klassizismus, auch der frühe, erst eben in seinem leisesten Ansteigen begriffen war. Seine ersten Vorboten für Deutschland, Rafael Mengs und Angelika Kaufmann, lebten in Rom in nächster persönlicher Nähe von Winckelmann, Rafael Mengs von 1754 ab, Angelika Kaufmann von 1763 ab; und wenn auch die Atmosphäre, die um sie war und die sie erzeugt haben, auf Winckelmann eingewirkt haben mag, so ist nicht minder anzunehmen, daß die Strahlen, die von Winckelmanns Geistigkeit ausgingen, sie getroffen und bewirkt haben mögen. Von Angelika Kaufmann, die 1764 erst 23 J a h r e alt war, ist nicht zu vermuten, daß ihre Persönlichkeit um diese Zeit schon stark genug war, um entscheidende Einflüsse auszuüben, obwohl sie im selben J a h r schon ihr größtes Werk, eben Winckelmanns Bildnis, vollendet hat. Doch hat man von ihr bemerkt, daß an ihr schon damals die griechische Kunst ihre Lichtepur hinterlassen habe 1 . Zu den ersten Anforderungen, die Winckelmann an die Schönheit stellt, t r i t t eine weitere, der er einen höchst eigentümlichen Namen gegeben hat, der, zuerst dunkel, nach seiner Erklärung doch durchaus klar und höchst wertvoll erscheint. Die hohe Schönheit soll durch Unbezeichnung gekennzeichnet werden, d. h. ihre Formen können weder durch Punkte noch durch Linien bezeichnet werden, als die allein die Schönheit bilden. Darunter versteht er aber, die Schönheit soll eine Gestalt haben, die nicht dieser oder jener bestimmten Person eigen ist, und die auch keinen be1

) Vgl. Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen III (1898) 64.

Forderung1 der Unbezeichnung; Bewirkung von Kunst und Leben. 146

stimmten Zustand des Gemüts oder eine Empfindung der Leidenschaft ausdrückt. Denn, so begründet er diese Forderung, durch solche Zusätze könnten fremde Züge in das reine Bild der Schönheit gemischt werden und dessen Einheit unterbrochen werden. In die Sprache heutiger Wissenschaft übersetzt, wird man die Reinigung, die hier vom Künstler verlangt wird, Entkonkretisierung nennen können; man würde auch von Typisierung, von Entpersönlichung reden dürfen. Denn es soll ja keinerlei Personalität, keine persönliche Bestimmtheit, keine Erinnerung an einen nur dies eine Mal vorkommenden Einzelmenschen geduldet werden. Außerdem aber soll, wenn man so sagen darf, eine Entleidenschaftlichung am Menschen vorgenommen werden. Winckelmann ist voll von den Vorzügen seiner Verkündung: er erklärt von seinem Schönheitsbegriff, daß nach ihm die Schönheit sein solle wie das vollkommenste Wasser, »aus dem Schöße der Quelle geschöpft, welches je weniger Geschmack es hat, desto gesunder geachtet wird«. »Die Idee der Schönheit erscheinet am einfältigsten und am leichtesten, und es ist zu derselben keine philosophische Kenntnis des Menschen, keine Untersuchung der Leidenschaften der Seele und deren Ausdruck nötig«. Man wird die Meisterschaft dieser Maiüfestation seiner Kunstgesinnung nicht genug bewundern können, vorzüglich darum, weil es in Winckelmanns Vermögen lag, zu einer Leistung höchster Wissenschaft eine Auswirkung von Leben und Kunst gestaltender K r a f t zu fügen, die auf mehr als ein halbes Jahrhundert zunächst der deutschen, in etwas doch auch der europäischen Kunst entscheidende Richtweisungen gegeben hat. Denn prüft man die Sätze von Winckelmanns künstlerisch-kunstwissenschaftlichem Manifest, so findet sich, daß sie Wort für Wort in der Kunst der nächsten Jahrzehnte ihre Erfüllung gefunden haben. Noch nicht vielleicht in Winckelmanns Zeitgenossen, wohl aber bei allen den Meistern, deren Reihe durch den Größten von ihnen, durch Carstens, eröffnet wird; bis zu den schwäbischen ß r e y s i g , Meister der Geschichtsforschung.

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146 Deutsohe Geschichtswerke: Winckelmann: Kunstwissenschaft.

Klassizisten, bis zu Schick und Wächter und Leybold nehmen sich alle ihre Werke aus, wie nach dem Diktat von Winckelmanns Worten entstanden. Ein sehr unparteiisch wägendes Urteil wird keineswegs immer diese Einwirkung als eine zu Glück und Erfolg führende ansehen können. Geht man aus von einem Künstler, der wie Schick nur ein mittleres Maß von Wollen und Können in sich darzustellen vermochte, so wird man, ohne weder ihm noch Winckelmann wehe zu tun, sagen dürfen, daß er die Tugenden wie die Untugenden der Kunst aufweist, die den Weisungen dieser Lehre folgten. Es ist vor allem das Vermögen des Fortlassens von überflüssigen und kleinen Einzelheiten, das Schick auszeichnet: auf dem Bild, das David zeigt, wie er vor König Saul die Harfe spielt, sind Glieder wie Gewänder der Handlungsträger von allem unnützen Beiwerk befreit, und die drei mächtigen dorischen Säulen des architektonischen Hintergrundes teilen den Raum mit hoher Würde. Die guten Geister edler Geometrien walten über der Verteilung der wenigen Gestalten. Aber schon die Regeln der Unbezeichnung, der Entpersönlichung sind in einem Maße befolgt, das hier den Vorwurf der Dünnheit und blasser Leere nicht ersparen hilft. Es war die ganze Größe von Carstens nötig, um Werke entstehen zu lassen, die solchen Einschränkungen entgingen, und wo es geschah, wird man sagen dürfen, daß sie ihre Stärken nicht der Befolgung, sondern weit eher dem Bruch der Winckelmannschen Regeln verdanken. Es war doch eben die leidenschaftliche Parteinahme von Winckelmann für eine bestimmte Form künstlerischen Tuns, die ebensowohl die Stärken wie die Schwächen der von ihm abhängigen Kunstrichtung bestimmt h a t : jener Drang zu Höhe, Würde, Allgemeinheit, aber auch jene Anfälligkeit gegen Blässe, Dünnheit, Leere können allenfalls auf die Winckelmannschen Bewirkungen zurückgeführt werden. Winckelmann, das muß auch von den Verehrern seiner Geistigkeit eingeräumt werden, war der Wortführer einer

Nachwirkungen der Lehre; Kunstpartei; Wert des Klassizismus. 147

Kunstpartei, der des Klassizismus, die man immer als historisierend wird angreifen müssen. Doch gibt es zwei Erwägungen, die für ihn einnehmen, auch wenn diese Eigenschaft ohne Vorbehalt in seinem Bild zugegeben wird. Einmal muß jede Stellungnahme, auch die schroffste und einseitigste, nicht nur von dem Standpunkt des Zeitalters, das zu bewirken sie bestimmt ist, angesehen werden, sondern auch im Längsschnitt der voraufgehenden und der nachfolgenden Zeitalter. Es war erwünscht, daß nach der Unrast und Forraenüberfiille des Rokoko nunmehr auch höchste Einfachheit und eindrückliche Formensparsamkeit zu Worte kamen. Und aus der Folgezeit würde manche Leistung der Romantik undenkbar, wäre ihr nicht die Würde und Formenschlichtheit des Klassizismus vorangegangen. Zum zweiten aber sei daran erinnert, daß Winckelmann zwar gewiß gemäß der Neigung seines Zeitalters wie auch seiner persönlichen Geistigkeit zum Absolutismus eine überzeitliche und — wenn man will — ewig gültige Kunstgesinnung verkünden wie zugleich begrifflich beweisen wollte, daß er aber auch keinen Augenblick den Gegenstand seines Werks, die Antike, aus den Augen verlor und, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, seine Kunstanschauungen und Kunstüberzeugungen der Kunstpraxis der Griechen, wie er sie sah, anpaßte und unterordnete. Das Bild der Antike aber, wie es Winckelmann vorschwebte, war ein nach mehr als einer Seite beschränktes. Gemessen an der Wirklichkeit der Kunst der Alten wies es die schwersten Abzüge auf. Es bestand zu dem bei weitem überwiegenden Teil aus den römischen Copien und der auf italienischem Boden erwachsenen Epigonenkunst, unter deren Denkmälern die Werke der Kleinkunst, die Kameen und Münzen überwogen. Schon für das Kunstempfinden des mittleren neunzehnten Jahrhunderts war das Gesamtbild der Antike, wie es Winckelmann vorgeschwebt hatte, ein unerträglich verglättetes und versüßtes. Und sehr viele von den Vereinfachungen, den Unbezeichnungen, die Winckel10*

148 Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Kunstwissenschaft.

mann als so wünschenswert erschienen, sind in der Richtung auf diese Süßigkeit gegangen. Von 1816 ab, dem Jahre, in dem die Abtretung des Großteils der Parthenonfriese an Lord Elgin vollzogen wurde, dem Jahre, das Epoche gemacht hat für das neue Sehen unserer Völker auf die griechische Kunst, hat ein wesentlich anderes Urteil eingesetzt, das viel strengere Maßstäbe anlegte. Für das Sehen heutiger Menschen, die ihr Auge an der Kunst der drei ersten Säle des Museion Ethnikon und des Akropolismuseums geschult haben, denen schon von Phidias ab die griechische Kunst auf dem Abstieg von der Höhe und der edlen Rauheit des sechsten, des einzigen großen Jahrhunderts begriffen erscheint, denen wohl Skopas, nicht aber Praxiteles groß ist, und denen schon die Säle des fünften Jahrhunderts im großen Nationalmuseum von einer allzu weichen Kunst erfüllt und die Werke von Polyklet wie Verzichte auf die alte Größe erscheinen, ist jene Sehweise, die Winckelmann als die selbstverständliche erschien, eine unerträgliche, mit der kein Paktieren möglich ist. Aber kein geschichtlich Denkender wird aus dieser Zeitbedingtheit und Zeitbeschränktheit, die Goethe selbst im höchsten Maß geteilt hat, Winckelmann einen Vorwurf machen oder nur die Stärke seines Kunstsehens in Zweifel ziehen wollen. Kein Sterblicher, und sei er noch so groß, kann sich dem tiefsten Streben seines Zeitalters entziehen, am wenigsten, wenn er selbst es ist, der dieses Streben zum großen Teil geschaffen hat. Es bleibt als sein ungemindertes Teil die herrliche Leidenschaft seines Kunsturteilens und mehr noch seines Kunstwillens, mit dem er die lebendige Kunst eines halben Jahrhunderts vermutlich mehr beeinflußt hat, als irgendeiner der wirkenden Künstler seines Zeitalters.

Recht auf Zeitbeschränktheit; Ägypten, Allgemeines, Kunst. 149

Zweites Stück. Winckelmanns entwicklungsgeschichtliche F o r s c h u n g s weise. Die Darstellung aber eilt, nach diesem an sich unvermeidlichen Exkurs zu der Kunstgesinnung Winckelmanns zu ihrem eigentlichen Gegenstand, zu seiner Forschungsweise, zurückzukehren. Sie ist von Anbeginn entwicklungsgeschichtlich. Winekelmann hat bei aller seiner mehr als leidenschaftlichen Voreingenommenheit für die Antike doch nicht eine solche Verengung seines Blickes erlitten, daß ihm alles außergriechische Kunstgeschehen wie nicht vorhanden verdeckt gewesen wäre. Er empfindet es im Gegenteil als notwendig, daß seine Darstellung, noch ehe sie zu den Griechen gelangt, von denjenigen Völkern der alten Welt, von denen sein Zeitalter überhaupt einiges verlohnendes Wissen besaß, einen allgemeinen Bericht abstattet. Es sind die Ägypter, denen er sich zuerst und auch am ausführlichsten zuwendet. Und schon hier verfährt er insofern entwicklungsgeschichtlich und zugleich entsprechend der Ankündigung seiner ersten Sätze, die ein Lehrgebäude aufzurichten verheißt, als er unter Vermeidung jeder Aneinanderreihung von Werken oder Meistern in chronologischer Folge von vornherein ein System im Querschnitt aufbaut. Es handelt nacheinander von der Leibesbeschaffenheit, von der Gemüts- und Denkungsart, von dem Gottesdienst, von Künstlertum und Wissenschaft der Ägypter — namentlich in Hinsicht auf die letzten beiden Gegenstände nur in flüchtig streifender Schilderung 1 . Sehr viel gründlicher geht Winekelmann sodann, zur eigentlichen Kunstgeschichte übergehend, zuerst auf den älteren Stil ein und bewährt da schon mit den ersten Sätzen, 1

) Winekelmann, Geschichte der Kunst des Altertums 1 (Sämtliche Werke III [1825] 144ff., 149ff., 152ff., 159ff.).

150 Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Forschungsweise.

die er ihm widmet, die Feinheit seines Kunstempfindens und die in die Tiefe dringende Schärfe seines Kunst und Kunstgesinnung wägenden Blickes. Er lenkt sein Augenmerk sogleich auf die in Wahrheit wichtigste Eigenschaft der ägyptischen Kunst: »die Umschreibung der Figur in geraden und wenig ausschweifenden Linien, welche Eigenschaft auch ihrer Baukunst und ihren Verzierungen eigen ist 1 .« Er sieht die Unbeweglichkeit der ägyptischen Gestalten, und er erkennt sogleich das seelengeschichtlich eigentlich Entscheidende an dieser Eigentümlichkeit unter Vermeidung des hier am nächsten liegenden Irrtums, indem er erklärt, »diese Unbeweglichkeit derselben ist ein Beweis nicht von der Ungeschicklichkeit der Künstler, sondern von einer in Statuen festgesetzten und angenommenen Regel, nach welcher sie wie nach einem und eben demselben Muster gearbeitet haben.« Winckelmann macht aufmerksam auf besondere Einzeleigentümlichkeiten der ägyptischen Künstler bei Behandlung des nackten Körpers: vornehmlich die geringe Berücksichtigung von Knochen und Muskeln, die völlige Übergehung von Nerven und Adern in der anatomischen Behandlung der Körperoberfläche. Und er bemerkt, daß diese Regel eine sehr denkwürdige Ausnahme erleidet, insofern die Tiere mit einem sehr viel höheren Maß von anatomischer Darstellung bedacht sind. Die Behandlung der Augen und Hände ist mit Liebe beobachtet. Daß ihm die Einwirkung der Griechen auf die spätere Kunst der Ägypter nicht entgeht, erscheint nach diesen Vorgängen selbstverständlich. Der Mechanik, wir würden heute sagen der Technik, der ägyptischen Bildnerei wie Malerei sind eigene Abschnitte gewidmet. Phönizier und Perser schließen in sehr viel kürzerer, Etrurier in längerer Behandlung diese Reihe. Man kann nicht sagen, daß die darstellerische Technik dieser einleitenden Abschnitte schon den Gipfel dessen erreicht, was Winckelmann vorschwebte. Weiter holt er aus, 1

) Geschichte der Kunst des Altertums I (S. W. III) 164ff.

Gründe des Vorrangs der griechischen Kunst.

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wenn er von den Gründen handelt, aus denen die griechische Kunst ihren Vorrang unter den Künsten der anderen Völker behauptet habe. Er geht hier auf die Seelenbeschaffenheit der Griechen ein, vergleicht sie im einzelnen mit der der Römer —• nicht eben zum Vorteil dieser; er erinnert an die Einwirkung der Götter Verehrung, an die schöne Sitte, die Erinnerung an die Sieger in den Wettkämpfen durch Aufstellung ihrer Standbilder festzuhalten, und macht geistreich auf die so viel geringere Rolle aufmerksam, die der Malerei neben der Bildnerei zugefallen sei. Gerade an diesem Ort seiner Darstellung hält Winckelmann es für geboten, jene Erörterung der allgemeinsten Grundsätze seiner Kunstwissenschaft, von der schon die Rede war, einzuschieben. Man wird inne, wie breit ausladend selbst diese Vorbereitungen der eigentlichen Darstellung angelegt sind. Wie Winckelmann zu Werke gehen will, wenn er sich in aller Fülle über seinen Gegenstand ergießen will, wird schon da offenbar, wo er sich anschickt, die ersten Darlegungen über die Werke griechischer Kunst zu geben. Es ist wirklich nicht eine gelehrte Darstellung, in deren Gestalt sich seine Forschungen zeigen, obwohl er wahrlich den Fleiß und die Hingabe eines ganzen Lebens an sie gesetzt hat. Er verwandelt sich hier vielmehr, schon da er nur die Schwelle zum Tempel der griechischen Kunst überschreitet, in einen Hohenpriester der Schönheit, jener Schönheit, die er wie ein Geschenk der Götter an unser sterbliches Geschlecht verehrt. Vom Kult der Götter geht er denn auch aus und handelt von der Jugend und der jugendlichen Schönheit der Götter und demnächst, als ihren nahe verwandten Mitbewerbern, von der Schönheit der Helden 1 . Im gleichen Sinn hat Winckelmann die weiteren Abschnitte über die Behandlung der bekleideten Körper und über die *) »Der begreifliche Beweis von der vorzüglichsten Form der Griechen ist, daß sich gar keine gepletschete Nasen unter ihnen finden, welche die größte Verunstaltung des Gesichts sind« (S. W. III) 131.

152 Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Forschungsweise.

Mechanik — wir sagen heute die Technik •— der griechischen Bildhauer angefügt 1 . Nicht nur zu einem neuen Weg seines kunstwissenschaftlichen Sehens, sondern zu einer weiteren Ausbildung seiner entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise gelangt er in dem Abschnitt, der dem Wachstum und dem Fall der griechischen Kunst gewidmet ist. Ja man könnte meinen, Winckelmann ist erst von diesem Abschnitt an zu einer entwicklungsgeschichtlichen Darstellung im engeren Sinn des Wortes übergegangen. Denn wenn er den bisherigen Darlegungen Querschnitte der begrifflichen Ordnung zugrunde gelegt hatte, so bedeutete dies mehr eine Vorbereitung auf die eigentlichen Aufgaben der Entwicklungsgeschichte, als ihre Inangriffnahme selbst. Denn erst jetzt kommt er zu Längsschnittbeobachtungen. Winckelmann schreitet zum Aufbauen von Stufen der Kunstgeschichte, die er, wie von ihm kaum anders zu erwarten ist, aus inneren Merkmalen ableitet. In vier Stile will er die griechische Kunstgeschichte zerlegt sehen: den ältesten Stil läßt er bis zu Phidias dauern, d. h. so wie es allenfalls auch heute geschehen würde, nur freilich in einem denkbar entgegengesetzten Sinne. Bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein hat man, gewiß immer noch unter dem Einfluß des Zeitalters von Winckelmann und Goethe, mit Phidias den Beginn der großen griechischen Kunst angesetzt. Die strengere Auffassung, die seitdem Platz gegriffen hat, hat die älteste Kunst am höchsten geschätzt und die nachphidiasische Kunst mit dem Stigma der Weichheit abgestempelt. Einer strengsten Sehweise aber — und es ist die, der der Schreiber dieser Zeilen anhängen möchte —• rückte die Grenze der hohen Kunst noch weiter zurück, und sie bemerkt schon an Phidias' eigener Kunst Merkmale des Abstiegs zu Süße und Glätte. Seit Winckelmanns Tagen hat sich mithin eine völlige Umdrehung des Urteils vollzogen. Jene älteste Zeit hat 1

) Geschichte der Kunst des Altertums III (S. W. V) 5 ff.

VierStile; Urteilswandel; Übergang vom hohen zum schönen Stil.

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Winckelmann zwar nirgends getadelt, ja sie kaum als unvollkommen gekennzeichnet. Aber er hat sie nicht gerühmt. Und wenn er Phidias als den Heraufführer des zweiten Stiles preist und dieses zweite Entwicklungsalter den großen Stil nennt, so wird jener ältere Stil einigermaßen in den Schatten gerückt, und er wird mit dem Begriff eines Weges zur Vollkommenheit abgefunden 1 . Doch wird man Winckelmanns Beurteilung für diese früheste Zeit noch weniger als für alle späteren Stufenalter ihm voll zurechnen dürfen: denn die ihm zur Verfügung stehenden Werke aus diesem Zeitalter sind so unvergleichlich viel geringer an Zahl als die heut in den athenischen Museen aufbewahrten, daß man schließlich die auf Grund so verschiedener Unterlagen gewonnenen Urteile gerechterweise nicht miteinander vergleichen kann. Es macht doch einen schmerzlichen Eindruck, wenn Winckelmann schon in den Anfängen der Darstellung dieses frühesten Kunstalters der Griechen dazu übergeht, von den Münzen als artvertretenden Werken dieser Zeit zu sprechen. So ist nicht verwunderlich, daß Winckelmanns Darstellung dort, wo er zu den Marmorwerken kommt, nur allzu schmal ausfällt 2 . Von entscheidender Bedeutung für die entwicklungsgeschichtliche Sehweise bei Winckelmann ist der Übergang, den sich seine Darstellung von dem älteren zu dem zweiten Stil schafft. Jenen, den älteren Stil, nennt er einen Stil, der auf ein System gebaut war, das aus Regeln bestand, die zwar von der Natur genommen waren, die sich aber nachher von ihr entfernt hatten und »idealisch« geworden waren 3 . Der Scharfblick Winckelmanns ist hier bewunderungswürdig: die Neigung zu Geometrie und Stilisierung der ältesten Kunst der Griechen, von der doch Winckelmann nur so wenig gesehen hatte, hätte nicht besser gekennzeichnet werden können. Wenn Winckelmann dann des 1

) Geschichte der Kunst des Altertums III (S. W. V) 171. ) Geschichte der Kunst des Altertums III (S. W. V) 175, 189ff. 3 ) Geschichte der Kunst des Altertums III (S. W. V) 206. 2

1 5 4 Deutsche Geschichtswerke: Winokelmann: Forschungsweise.

weiteren den Übergang zum zweiten, zu dem von Phidias heraufgeführten Stil vorbereitet, so ist an sich wichtig, daß er Phidias zur Grenzgestalt macht — wohlgemerkt, ohne daß er die Reliefs des Parthenon auf der Akropolis kannte, d. h. die Werke, die uns heute als die Träger von Phidias' Ruhm gelten. Die Kennzeichnung des zweiten als des großen Stiles läßt erkennen, daß er ihn als erst von Phidias geschaffen ansieht, während die um 1920 geltende Schätzung mit Phidias den Abschluß des voraufgehenden, d. h. des nunmehr als wertvollstes angesehenen Kunstalters herbeigeführt sehen wollte. Daß er als die zweite Hauptgestalt dieses großen Kunstalters Polyklet gelten läßt, ist nicht verwunderlich; wir Heutigen werden ihn wesentlich geringer einschätzen. Die inneren Merkmale des Wandels von Kunst und Kunstgesinnung, die mit dem Übergang vom älteren zum großen Stil verbunden sind, sind nach Winckelmanns Urteil die folgenden. Im Gegensatz zu den »idealischen«, d. h. absichtsvollen Grundsätzen des älteren Stiles, der sich eine »eigene« Natur neben der wirklichen gebildet hatte, über dies angenommene Systema, erhoben sich nun die Verbesserer der Kunst und näherten sich wieder der Natur. »Diese», so fährt Winckelmann fort, «lehrete aus der Härte und von hervorspringenden und jäh abgeschnittenen Teilen der Figur in flüssige Umrisse zu gehen, die gewaltsamen Stellungen und Handlungen gesitteter und weiser zu machen.« Hier ist für heutiges Sehen besonders augenfällig, wie völlig das eigens kennzeichnende Wort, durch das Winckelmann die Mängel des älteren Stiles kennzeichnen will, als Gegensatz dem anderen entspricht, das heutige Kunstgesinnung anwendet, um die Fehler der ihr unerfreulichen Gegenkunst mit einem Wort zu verurteilen: Winckelmann spricht von der Härte des älteren Stiles, die Heutigen aber, wenn sie sich ihrer eigenen Stärke rühmen wollen, nennen die Kunstweise ihrer Gegner weich. Denkwürdig ist, daß Winckelmann noch einige von ihm gerühmte Meister des großen

Merkmale des Gesinnungswandels vom älteren zum großen Stil.

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Stils gegen den im übrigen von ihm zugegebenen Vorwurf in Schutz nimmt, daß ihre Zeichnung Härte gehabt habe. Gar nicht wird man sich freilich in Winckelmanns Urteilsweise zurechtfinden können, wenn er einen zweiten Gegensatz zwischen dem großen und dem älteren Stil so kennzeichnet, daß er diesen gelehrt, jenen aber schön, erhaben und groß nennt. J a er ist der Ansicht, daß außer der Schönheit die vornehmste Absicht der Künstler des zweiten Stils die Großheit gewesen ist 1 . Unser Urteil wird eher das umgekehrte sein, und wir finden bei den Meistern der archaischen Zeiten sehr viel mehr Größe als bei Polyklet, Myron und Alkameon und ihren Zeitgenossen; von diesen werden wir nur den einzigen Skopas von dieser geringeren Schätzung ausschließen mögen. Die Darstellung fließt dann von dem großen in den schönen Stil hinüber. Rein von Empfindlichkeit, so rühmt Winckelmann, seien die Köpfe der Gestalten des hohen, des zweiten Stils, der Götter und Helden gewesen; den Werken des dritten, des schönen Stils, rühmt er vornehmlich die Grazie nach, insbesondere die gefällige. Dessen Werke verfolgt er noch bis über die Zeit Alexanders des Großen. Aber der Zeitraum, den er diesem dritten Stil zuweist, reicht von Praxiteles bis auf Lysippus und Apelles 2 . Ein gewisses Herabsteigen des künstlerischen Vermögens läßt Winckelmann schon bei den Nachahmern einsetzen. Eigens bezeichnend aber ist, wie er den erklärten Verfall der Kunst, liier wieder zu dem alten Gesichtspunkt zurückkehrend, kennzeichnet als das Streben alle Härte zu vermeiden, sodaß hier zum ersten Male Härte fast wie eine künstlerische Tugend erscheint. Alle Härte, so schildert er diesen Niedergang, sollte vermieden und alles weich und sanft gemacht werden. »Die Teile«, so fährt er in dieser Schilderung fort, »die von den vorigen Künstlern mächtig M Geschichte der Kunst des Altertums I I I (S. W. V) 208ff. 2 ) Ebenda 206, 215ff., 235, 173.

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Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Gesamtleistung.

angedeutet waren, sollten nun runder aber stumpf, lieblicher aber unbedeutender werden, wodurch die Kunst selbst stumpfer wurde 1 .« Als einzelne Beweise f ü r diesen Verfall weist Winckelmann darauf hin, daß die Künstler nicht lange vor und unter den Kaisern anfingen, frei hängende Haarlocken zu meißeln oder die Augenbrauen anzudeuten. Schon indem man sich dem Abschnitt, der dem Verfall der griechischen Kunst gewidmet ist, zuwendet, ist man gespannt, zu erfahren, wie diese Aufgabe gelöst werden wird. Denn Niedergang ist nicht nur nicht Entwicklung, sondern bis zu einem gewissen Grade Gegensatz zur Entwicklung. Doch hat Winckelmann, wenn hier seinem Werk eine eigens schwierige Aufgabe gestellt war, sie nicht gelöst. Man erwartet von ihm etwa eine Untersuchung der Erscheinungen des allgemeinen Kräfteverfalls der Griechen, um aus ihnen Ursachen für den Niedergang der Kunst zu gewinnen, doch kommt es dazu nicht; er läßt es bei den Beobachtungen bewenden, die er in Hinsicht auf das technische Herabsteigen der Kunst anstellt. Und auch das Kapitel, das von den äußeren Umständen der Zeit handeln soll, die für die griechische Kunst bestimmend gewesen sind, bietet hierfür keinen Ersatz. Wer von ihm, wozu die Aufschrift hinleitet, eine Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen staatlicher und künstlerischer Entwicklung erhofft, mag enttäuscht sein.

Drittes Stück. Die G e s a m t l e i s t u n g

von W i n c k e l m a n n s

W T erk.

Sucht man das Insgesamt der Darstellung des großen Werkes, das Winckelmann nicht allein der Kunstgeschichte seines Volkes, sondern ebensosehr allem europäischen geschichtlichen Verstehen geschenkt hat, zu umfassen, so >) Geschichte der Kunst des Altertums III (S. W. V) 238.

Verfall; Begrifflichkeit; keine Lehre der Kunstwissenschaft.

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leuchtet die eine Erkenntnis über alle anderen hervor, daß hier in aller Geschichtsschreibung zum erstenmal ein umfassendes Werk wahrhaft entwicklungsgeschichtlicher Richtung und zugleich von ernsthafter Wissenschaftlichkeit geschaffen worden ist. Hier war wirklich, und zwar zum erstenmal in aller europäischen Geschichtsschreibung, so wie es Winckelmann in den ersten Sätzen seines Werkes angekündigt hatte, keine bloße Erzählung der Zeitfolge und der Veränderungen in ihr gegeben. Oder um es noch schärfer gegen alle bisherige Übung abzugrenzen, es war nicht eine Aufzählung der Einzelereignisse oder allenfalls der einzelnen Künstler gegeben, sondern das strömende Fließen von Handlungsweisen, das recht eigentlich das kennzeichnende Merkmal aller entwickelnden Geschichtsforschung ist. Winckelmann hatte, als er für sein Werk die Losung fand, in einem Punkt noch ein Mehr von Aufgaben sich auferlegt, wenn man von dem Amtsbereich der Entwicklungsgeschichte ausgeht. Oder, um es ganz genau auszudrücken, die Forderung, die er an sich stellt, geht etwas über das Mindestmaß von Aufgaben hinaus, die der Entwicklungsgeschichte gestellt sind. Wenn er nämlich von einem Lehrgebäude spricht, das er errichten wolle, so deckt sich das wohl mit dem Begriffsnetz, das im Querschnitt jeder Entwicklung, die doch einen Längsschnitt darstellt, als Voraussetzung gegeben werden muß; aber der Ausdruck Lehrgebäude könnte leicht dazu verführen, unter solch einem Querschnitt den vollen Lehrbau einer Kunstwissenschaft zu verstehen, der dann freilich über das unmittelbare Bedürfnis auch einer systematisch begründeten Entwicklungsgeschichte hinausgehen würde. Zieht man aber die Ausführung in Betracht, die Winckelmann jener Ankündigung gegeben hat, so stellt sich heraus, daß sie durchaus nicht über die Begriffsteilung hinausreicht, die nicht nur als Querschnitt durch jede Entwicklung um ihrer selbst willen notwendig, sondern die als Voraussetzung f ü r jeden wohlgeordneten Längsschnitt un-

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Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Gesamtleistung.

entbehrlich ist. Denn die einzelnen Reihen, in die das Insgesamt des Geschehens, schon um sich seiner bemächtigen zu können, geteilt werden muß, können nur durch eine vorauf gehende Querschnittordnung gewonnen werden. Jede wohl zu durchdringende Entwicklung muß durch ein Bündel von Längsschnittreihen dargestellt werden. Und das Nebeneinander dieser Reihen kann wiederum nur durch eine gründliche Querschnittordnung geschaffen werden. Eben mehr als solche Querschnittteilung ist nicht geschaffen worden. Schon den Plan zu einer solchen Querschnittordnung zu entwerfen, war eine Tat von höchstem wissenschaftsgeschichtlichem Rang. Denn wenn es — und das war die höchste Absicht des Entwicklungsgedankens —• darauf ankam, das Chaos des bisher herrschenden Descriptivismus und seiner lediglich von der Chronologie geordneten Summierung von Einzelgeschehnissen zu überwinden, so war dies der erste und notwendigste Schritt. Daß der erste, damals und hier gemachte Versuch einer solchen Ordnung nicht ein endgültiger und also wenn man will der letzte sein konnte, war eine Selbstverständlichkeit. Es war vor allem nötig, daß die ersten hier geschaffenen Ordnungen etwa in fortschreitender Ausgliederung, nach Art eines sich fort und fort verzweigenden Baumstammes, sich weiter verästelten. Aber solch Fortschritt konnte späteren Zeiten überlassen bleiben, und wenn er sich vollzog, so hatte er die stärksten Antriebe seinen Anfängen zu verdanken, die nicht nur die erste Ausbildung des Gedankenstammbaumes, sondern ebensosehr noch Saft und K r a f t für alles spätere Wachstum gespendet hatten. Die Entscheidung für die Ausformung des Entwicklungsgedankens mußte freilich in der anderen Hälfte dieses großen Geschehens fallen. Denn wie schon die Bevorzugung dieses Teilbegriffs in dem Gesamtbegriff erweist, auf eine Längsschnittbewegung und demgemäß auf eine Längsschnittordnung kam es an, wenn Entwicklung erkannt werden sollte. Winckelmann aber ist auch in diesem Stück vom ersten Schritt an mit durchdringendem, das Ziel nie aus den Augen

Ordnungen; Kollektivum und Einzelner als Entwicklungsträger.

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verlierendem Scharfsinn und mit beständiger, unerschütterlich sich gleich bleibender Folgerichtigkeit vorgegangen. Der Gegenstand, das Objekt des Entwicklungsgedankens, oder soll man lieber sagen, das Subjekt der Entwicklung, kann nur ein Kollektivum, der Massenträger eines sich vorwärts bewegenden Geschehens sein. Gerade hierin konnte es für Winckelmann keinen Zweifel geben. Denn da ihn seine Abwendung vom Einzelgeschehnis als Träger der Geschichte und zugleich seine Hinneigung zum Geist, d. h. zu einer Körperschaft von Geistträgern, gleichmäßig zu einer Kollektivauffassung drängte, so mußte es recht eigentlich die Handlungsweise, die Tätigkeitsform sein, die ihm als Träger der Geschichte galt. Andererseits aber mußte es ihm als Beobachter der Kunst, d. h. also einer denkbar individuellen Tätigkeit, sehr nahe liegen, in dem Ausführer alles Kunstschaffens den Einzelnen zu sehen und zu achten. Wenn mithin Handlungsweisen von Körperschaften Einzelner den eigentlichen Gegenstand der Kunstgeschichte bildeten, so war damit von vornherein die glücklichste Verbindung von Kollektiv- und von Einzelgeschehen gegeben. Und vielleicht hat ebenso sehr Winckelmann die Größe seines besonderen Erfolges, wie die Kunstgeschichte den völlig einzigartigen Vorsprung in dem Wettbewerb aller Einzelgattungen der Geschichtsforschung um den obersten Rang dieser Verbindung scheinbar entgegengesetzter Eigenschaften zu verdanken. Sucht man nach der Technik, die Winkelmann in der Ausführung dieses großen Programms zur Anwendung gebracht hat, so ergibt sich, daß er die einfachsten Wege eingeschlagen hat, die aber nur dem Genie so offen vor Augen liegen konnten. Er zerteilt die Längseinheit der griechischen Kunstgeschichte in vier Zeiträume; er kennzeichnet diese Zeitabschnitte mit großen, ihr Wesen kurz überblickenden Überschriften und geht nun zu summierenden Umschreibungen des Wesens dieser Zeitabschnitte, indem er sie im Längsschnitt nach

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Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Gesamtleistung.

j

Entwicklungsreihen zerspaltet, denen er die einzelnen Gegen- i stände und Behandlungsweisen des Kunstschaffens einfügt. Innerhalb dieser Entwicklungsreihen aber wendet er das eigentliche und Ausschlag gebende Kunstmittel aller entwickelnden Darstellung an: den Vergleich, den er nie müde wird in immer neuen Wendungen und Formen durchzuführen. Das besondere Geheimnis der Bewältigung der Hauptschwierigkeit ist die Festhaltung des kollektiven Prinzips, d. h. die Darstellung von Handlungsweisen, in die er aber doch beständig die einzelnen Meister und die einzelnen Werke, die sein zugleich ausgedehntes und eindringendes Wissen beherrscht, einordnet. Das übergewaltige Maß der hier von dem einen Mann vollbrachten Leistung wird dann mit einem Blick erkannt, wenn man sich davon Rechenschaft ablegt, daß diese Leistung im Grunde mit einem Schlage den Weg zurücklegte, für dessen Bewältigung die Wissenschaft ganzer Forschungszweige mehr als anderthalb Jahrhunderte gebraucht hat, ohne die Wegleistung dieses Zeitraums bis auf den heutigen Tag mit voller Klarheit erledigt zu haben. Ein sehr nahe liegender Vergleich läßt diesen Sachverhalt mit einem Blick in so greller Beleuchtung wie durch einen elektrischen Scheinwerfer erkennen. Die Schrifttumsgeschichte ist mit der schwersten ihrer Schwierigkeiten, mit der Notwendigkeit, große Kollektiverscheinungen, die Handlungsweisen, d. h. die Techniken, die Fühl-, Seh-, Denkweisen ganzer Zeit- und Schulrichtungen mit der Bewältigung höchst zahlreicher Einzelwerke und Einzelmeister zu verbinden, in die nächste Nähe der Kunstgeschichte gerückt; man kann sagen, daß für beide Formen des geistigen Schaffens buchstäblich die gleichen Voraussetzungen gegeben sind. Und nun vergleiche man die methodische Leistung auf beiden Feldern. Dort, im Gebiet der Kunstgeschichte, gelingt dem einen, an geistiger Gewalt freilich übergroßen Forscher die grundsätzlich vollständige Bewältigung des vollen Insgesamt der forscherlichen Aufgaben; hier im Gebiet der

Maß der Leistung; Vergleich mit der Schrifttumsgeschichte.

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Schrifttumsgeschichte ist in Wahrheit noch bis auf den heutigen Tag dieses Insgesamt nicht voll bezwungen. Man vergleiche doch, um einige der am meisten in die Augen fallenden Namen zu nennen, Scherers Deutsche Literaturgeschichte, die 119 Jahre nach Winckelmanns Werk erschien, mit dessen methodischer Leistung. Scherer hat wohl gelegentlich Bemerkungen gemacht, die die Dichtungsform als solche angehen; aber ihm ist nie der Gedanke gekommen, so wie es für Winckelmann selbstverständlich war, grundsätzlich und systematisch die Fortschritte oder, objektiver zu sprechen, die Veränderungen der Dichtweise zu verfolgen. Für das ganze Gebiet des dichterischen Tuns Begriffsnetze im Querschnitt zu bereiten oder gar dieses Tun im Längsschnitt langer Entwicklungsreihen zu verfolgen, davon war er denkbar weit entfernt. Er reiht, so wie es eine im Grunde mehr auf wohltuende Abwechslung und vergnügliche Unterhaltung als auf strenge Ordnung bedachte Weise will, persönliches und sachliches Geschehen an leise hingesponnenen Fäden auf und wird so, wenn man den methodischen Begriff in aller seiner Strenge faßt, zum Descriptivisten, zwar nicht des alten, rein chronologischen Stils, wohl aber einer neuen bunten Lockerheit. Ganz ebenso wie in den breiten Darstellungen ganzer Volksgeschichten oder ganzer Zeitalter stellt sich der Sachverhalt für den engeren Bereich der Lebensbeschreibungen. Man würde lächeln müssen, wollte man Erich Schmidts Lessing an den Winckelmann-Maßstäben entwicklungsgeschichtlicher Strenge messen. Es ist doch im Grunde nur die behaglich-lässige Description, die sein Buch beherrscht. Die Durchsetzung des entwicklungsgeschichtlichen Gedankens bei Winckelmann wird man nicht in dem Sinne verstehen dürfen, daß nicht auch nach ihm ganz außerordentliche Fortschritte möglich gewesen wären. Um nur einen Autor erlauchten Ranges, eine Reihe von Werken höchster Leistung zu nennen: Heinrich Wölfflin hat die entwicklungsB r e y s i g , Meister der QeschiohtBforschnng.

H

162 Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Gesamtleistung'.

geschichtliche Forschungsweise durch die Konzentration seines Sehens so weit in die Tiefe gesteigert, daß nicht zu verkennen ist, wie hier vielleicht zum erstenmal seit Winckelmanns Tagen ein gewaltiges Gebiet neu eroberten Wissenslandes zum Reich der Forschung geschlagen worden ist. — Zu all den Einzelsiegen, die Winckelmanns Genius errungen hat, wird es nötig sein, auch der großen geistigen Zusammenhänge zu gedenken, die sein doch nicht nur in die Tiefe, nein auch in die Weite vordringender Blick erkannt hat. Vom Standpunkt heutiger vergleichender Universalgeschichte, aber auch von der vonVico bereits erreichten Ebene geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis gesehen, mag es nicht eben verwunderlich erscheinen, daß Winckelmann zu dem Gedanken gelangte, seine im Längs- wie im Querschnitt vergleichende Forschungsweise auch auf eine Nebeneinanderstellung alt- und neueuropäischer Entwicklungen zu erstrecken. Doch von jener, die erst ein Ergebnis des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts werden sollte, trennte Winckelmann noch eine weite Spanne chronologischer und mehr noch entwicklungschronologischer Entfernung; an Vico — dessen Neue Wissenschaft damals nur vierzig Jahre alt war — und an seine Gedankengänge findet sich an dieser Stelle nicht der leiseste Anklang; so wird es einen neuen Ruhmestitel für Winckelmann bedeuten, daß ihm auch dieses Sehen in eine für ihn völlig neue Weite gelang. Es war nicht eigentlich von dem Gesichtspunkt allgemeiner Geschichte, daß er sich diese Sicht eröffnete, sondern es war, kennzeichnend genug für seine konzentrierte Weise, der Kunstgeschichtsforscher, der diese Erkenntnis fand. Nicht wie um dieses Vergleichs selber willen, sondern an mehrfach verstreuten Stellen seiner Darstellungen und mehr wie gelegentlich kommt Winckelmann dazu, griechische und italienische Kunst in mehreren Zeitaltern zu vergleichen. Sein Zweck dabei ist von vornherein echt entwicklungsgeschichtlich; er will, wie er sich ausdrückt, die Stufen der

Alt- und neueuropäische Vergleiche; Griechen und Italiener.

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neueren Kunst mit denen vergleichen, die sich in der Kunst der Alten entdecken lassen. Das Endziel ist dann, dem eigenen, dem neueuropäischen Weltalter zu dienen und deutlichere Begriffe von dem Wege zur Vollkommenheit zu erlangen 1 . Das Verhältnis zwischen vor- und nachphidiasischer mit dem zwischen vor- und nachrafaelischer Kunst miteinander zu vergleichen, hat es ihn, wie vielleicht am wenigsten Wunder nehmen kann, eigens oft verlockt. Das Urteil, zu dem Winckelmann über die frühen Italiener gelangt, ist strenger, als man von ihm nach Analogie seiner Meinung über die frühen Griechen annehmen sollte. Er urteilt, der Stil sei trocken und steif bis auf Michel Angelo und Rafael gewesen. Und noch ungünstiger ist sein Urteil über die späteren Zeiten. Diese beiden Großen werden ausgenommen, und zugleich werden sie in die nächste Nähe zu den Griechen gerückt. Auf ihnen beiden bestehet, so drückt Winckelmann sich aus, die Höhe der Kunst, und dieser Gipfel der italienischen Entwicklung wird zugleich ihre Wiederherstellung genannt, wobei das Wort sicherlich im Sinne von Renaissance Wiederherstellung der Antike und ihrer hohen Kunst bedeuten soll. Noch weit ungünstiger als von den frühen ist Winckelmanns Meinung von den späteren Italienern. Die nachrafaelische Kunst der Italiener habe sich nicht, wie die nachphidiasische der Griechen, in langsamem Abstieg zum Niedergang geneigt, sondern in jähem Sturze ihren Verfall erlebt. Von der Zeit dicht nach den beiden Großen habe der üble Geschmack regiert, ein Tadel, von dem selbst Meyer in einer Anmerkung zu dem Text Winckelmanns unter Hinweis auf Giulio Romano und andere vorzügliche Schüler Rafaels, auf Sebastiano del Piombo und Daniele di Volterra und andere Folger Michel Angelos bemerkt, daß er nicht gerechtfertigt sei. Auch dem Stil der Nachahmer, die Winckelmann von den Caracci bis zu dem

Geschichte der Kunst des Altertums I I I (S. W. V) 171. 11*

1 6 4 Deutsche Geschichtswerke: Winckelmann: Gesamtleistung.

Römer Carlo Maratta, einem Schüler des Albani reichen läßt 1 , ist er offenbar nicht günstig gesonnen. Auf Recht oder Unrecht von Winckelmanns Urteilen zur neuitalienischen Kunst kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Ausschlaggebend aber ist ohnehin, daß Winckelmann von der großen Parallele zwischen alt- und neueuropäischer Kulturentwicklung doch, wenigstens was die Kunst und was Griechenland und Italien angeht, die vollkommen richtige und bisher nur von Vico gesehene universalgeschichtliche Vorstellung gewonnen hat. Und, denkwürdig genug für Winckelmanns Geistigkeit, reicht sein Vorwegnehmen zukünftiger Einsichten noch weiter, überschreitet noch die Grenze letzter universalgeschichtlicher Umfassungen, und ihm können die tiefsten Fragen, die das Insgesamt alles Wissens und beide seiner Reiche, Geist und Natur angehen, nicht fremd geblieben sein. Nicht zwar hat er irgendwelche Beziehungen zwischen der Materie der Naturwissenschaften hier und der Geisteswissenschaften dort hergestellt; aber die jahrelange Beschäftigung mit einem großen Naturforscher, die sich in seinem Leben zwischen alle seine sonst doch wahrlich spezialisierten Arbeiten geschoben hat, macht wahrscheinlich, daß das Wie und der Weg dieses Großen der Naturforschung ihn nicht nur interessiert, sondern stark beeinflußt haben, und zwar in jenem Kern der Geistigkeit, von dem sehr viele Wirkungen auf das methodische Verhalten eines Forschers ausstrahlen. In zwei Jahren, die in die Zeit des fruchtbarsten Wachstums und der Vorbereitung auf sein großes Werk fallen, 1750 und 1754, hat sich Winckelmann, wie umfangreiche Auszüge, die sich in seinem Nachlaß gefunden haben, beweisen, mit Buffon beschäftigt. Von dessen großem Lebenswerk lagen damals, seit 1749, die drei Bände seiner großen !) 1625—1713 (Burckhardt, Der Cicerone Winckelmann, Kunst des Altertums V 260 f.

III

( 10 1910)

973,

Bewirkung durch die Naturforschung; Buffon; Urteil Goethes.

165

Einleitung vor, einer Übersicht, in die er weite Felder der Naturwissenschaften zusammengedrängt hatte: eine Theorie der Erdwissenschaft, ein System der Planeten und eine allgemeine Naturgeschichte der Tiere und der Menschen. Bis 1754 waren auch schon die ersten Teile der ganz umfassenden Zoologie erschienen. Die Absicht des Gesamtwerkes, das als eine allgemeine und spezielle Naturgeschichte das Insgesamt aller Naturwissenschaften umfassen sollte, und dessen Umfang von seinem Verfasser auf 36 Bände gebracht worden ist, war, als Winckelmann von ihm beeinflußt wurde, schon vollauf zu erkennen: es war eine Encyklopädie der Naturwissenschaften, wie sie Buffon zum erstenmal unternommen hat, und wie sie nach ihm nur Alexander Humboldt zu entwerfen gewagt hat. So weit die Gegenstände beider Werke, des von Buffon und des von Winckelmann, auch auseinander liegen, eine Brücke führt über die zwischen ihnen klaffende K l u f t : es ist der encyklopädische Geist. Man wird vermuten dürfen, daß dem deutschen Kunstgeschichtsforscher Mut und Antrieb für sein großes Gesamtwerk, das auch ein Chaos descriptiver Wissenschaft zur forscherlichen Einheit zusammenzuschmieden unternahm, von dem französischen Naturforscher, der einen noch größeren Bereich wissenschaftlicher Einzelkenntnisse vereinheitlicht hatte, gekommen ist. In den schönen Worten, mit denen Goethe in der Schrift, die er dem von ihm so sehr geliebten Winckelmann gewidmet hat, das Zeit- und Schrittmaß seines Lebens und Schaffens gekennzeichnet hat, rühmt er ihm nach, daß alles, was er uns hinterlassen, ein Lebendiges für die Lebendigen, nicht aber ein Totes für die Toten geschrieben sei. »Seine Werke«, so fährt er fort, «verbunden mit seinen Briefen sind eine Lebensdarstellung. Sie sehen nur einer Vorbereitung, nicht einem Werke gleich. Sie veranlassen zu Hoffnungen, zu Wünschen, zu Ahnungen; wie man daran bessern will, so sieht man, daß man sich selbst zu bessern hätte; wie man sie tadeln will, so sieht man, daß man demselbigen Tadel, viel-

166 Deutsohe Geschichtswerke: Moser: Zeitalter der Gemeinfreien.

leicht auf einer höheren Stufe der Erkenntnis, selbst ausgesetzt sein möchte; denn Beschränkung ist überall unser Los.« Die Grenzen jeder, auch der höchsten Begabung hätten nicht gütiger angedeutet werden können, als es Goethe hier getan hat. Aber zugleich ist eine innere Eigenschaft von Winckelmanns Geistigkeit hier mit tief dringendem Sinn angezeigt: das stete Strömen und Fließen seines Schaffens. In ihr aber mag die höchste Eigenschaft von Winckelmanns eigenem Leben ihr Bild und Gleichnis gefunden haben: Winckelmanns Schaffen entdeckt in der Geschichte die Entwicklung, sein Leben aber war selbst Entwicklung. Den Kern von Winckelmanns Werken aber hat Goethe in die Worte gefaßt: »Es war ihm möglich, sich zu dem zu erheben, was die Blume aller geschichtlichen Forschung ist, zu den großen und allgemeinen Ansichten des Ganzen und zu der tiefsinnig aufgefaßten Unterscheidung des Fortgangs in der Kunst und der verschiedenen Stile, worüber ihm nur dürftige Wahrnehmungen anderer Beobachter vorangegangen waren1.« Zweiter A b s c h n i t t . Justus Mosers Osnabrückische Geschichte. Erstes Stück. Die Z e i t a l t e r der Gemeinfreien und des H e e r b a n n s in der d e u t s c h e n Geschichte. Der ganze Reichtum des deutschen Geistes, wie er sich in dem ersten großen Zeitalter seiner Wissenschaft entfaltete, wird durch kein Zueinander so deutlich gemacht, wie durch das Zusammentreffen zweier so verschiedener Ingenien wie Johann Winckelmann und Justus Möser. Daß sie im Tiefsten verbunden sind durch ihren gemeinsamen Dienst M Goethe: Winckelmann (Werke X L V I [1891] 5 2 f „ 97).

Reichtum deutscher Forschung; Mosers Querschnitteilungen.

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am Entwicklungsgedanken, soll auf diesen Blättern erwiesen werden. Daß aber die Wege, auf denen sie diesem Ziele zustrebten, denkbar verschieden waren, läßt ihrer beider Wirken im Großen wie in hundert Einzelheiten erkennen. Winckelmanns Werk galt dem Geschehen eines ganzen großen Kulturkreises; Möser hat ein nicht allzu großes unter den deutschen Fürstentümern zum Gegenstand einer Schrift gemacht, an deren Abfassung er doch manches Jahr seines Lebens gesetzt hat. Winckelmann wollte nur von dem einen Kreisausschnitt aus dem Gesamtrund des Lebens Kunde geben. Möser aber wollte allerdings auch nur die eine Hälfte alles geschichtlichen Daseins umfassen, in ihr aber alle Einzelbezirke zu einer Verbundenheit zusammenschmieden und so doch ein vielgestaltiges Nebeneinander zu einem Ganzen verschmelzen. Tiefer aber noch läßt ein Mannigfaches im Unterscheiden, im Urteilen und Fühlen in die Wesensart der beiden Menschen blicken und läßt an ihnen eine Kontrapunktik ihres inneren Aufbaus erkennen, die an sich schon die ganze Fülle deutscher Geistigkeit ahnen läßt. In Winckelmann war diejenige Eigenart des deutschen Wesens lebendig, die sich selbst universal und weltbürgerlich nach allen Seiten hin ausstreckte, um das Universum eines ganzen Völkerkreises zu umfassen; Justus Möser aber, ganz und nur Deutscher und vornehmlich Niedersachse, konnte die Schranken seiner nationalen und Stammesgeschlossenheit gar nicht hoch und ausschließlich genug ziehen. Aber wie diese beiden Seiten des deutschen Wesens erst sein volles Kreisrund ausmachen, so hat der Entwicklungsgedanke in dieser kontrapunktischen Ergänzung erst seine ganze Fülle erreicht. Das grundsätzlich Wichtige eben in diesem Zusammenwirken wird erst durch die Beobachtung der besonderen Abweichungen bei der Ausführung des nur im Ganzen gemeinsamen Grundplanes von entwicklungsgeschichtlicher Forschungsweise klar. Was den Querschnitt begrifflicher Teilung angeht, so lag

168 Deutsche Geschichtswerke: Moser: Zeitalter der Gemeinfreien.

er Justus Möser an sich nahe: die Einleitung, die er seinem ersten Zeitraum vorausgeschickt hat, läßt dies in der Übersicht erkennen, die er auf dem Grund der gegenwärtigen Zustände von der mittelalterlichen Staats- und Gesellschaftsverfassung seines Fürstentums entworfen hat, sowie an der Zusammenfassung, zu der er die älteste Geschichte des Landes zusammengedrängt hat. Hier zerlegt er das Bild, das er gibt, nach den Bezirken des öffentlichen Lebens, in die er es teilt, in scharf voneinander abgegrenzte Einzelbilder. Er spricht von den staatlichen Einrichtungen und mehr noch von den gesellschaftlichen Schichtungen mit genau der gleichen Neigung zu einer begriffsscharfen Einteilung, wie er getan haben würde, wenn er einen Begriffsbau des Staatsrechts hätte errichten wollen. Der Beruf eines Rechtskundigen und Sachwalters, dem er die meiste Zeit seines Lebens über obgelegen hat, mochte ihn von vornherein in diese Richtung weisen. Es war das erstemal, daß sich in Deutschland für einen Geschichtsforscher die Verbindung seines Amts mit dem älteren eines Rechtsgelehrten in diesem Sinn fruchtbar erwiesen hat, so wie es bis zu Gneists Tagen noch öfter geschehen sollte. Eigens kennzeichnend für diese Neigung ist, daß Möser am Schluß der Übersicht über die gesellschaftliche Schichtung des Stammes der Niedersachsen — wie wir heut sagen würden, der Cherusker, Bructer und Angrivarier, doch zuletzt auch schon der Sassen, wie Möser den Namen für jene Zeit wählte — eine Tabelle aufstellt, damit er edle und gemeine Wehren, Freie und Hörige, samt ihren Unterteilungen dem Leser deutlich einprägen könne 1 . Ganz ähnlich begriffsmäßig verfährt Möser in dem zweiten einleitenden Abschnitt, in dem er von der natürlichen Beschaffenheit des Landes handelt. Doch darf, wenn diese Querschnittbildungen auch auf die ganz besonderen staats- und gesellschaftsgeschichtlichen *) Möser, Osnabruckische Geschichte I (Sämtliche Werke V I [ 2 1858] 72).

Breite der Fühlungnahme; Längsschnittordnungen.

169

Zwecke konzentriert sind, Mosers geschichtlicher Blick nicht als auf dieses engere Gebiet eingeschränkt vermutet werden. War es ihm auch nicht verstattet, allgemeine Geschichte im weiten Sinne des Wortes zu schreiben, so war er doch ganz davon erfüllt, daß das Amt der Geschichte selbst nur dann in vollem Umfang geübt werden könne, wenn sie sich nicht auf die Geschichte des handelnden Lebens oder gar die Staatsgeschichte allein beschränke, sondern ein allumfassendes Bild aller Bezirke des Volksdaseins zwar nicht selbst gebe, aber doch kenne und zu benutzen wisse. »Das Costume der Zeiten«, so fordert er, »der Stil jeder Verfassung, jedes Gesetzes, und ich möchte sagen jedes antiken Wortes, muß den Kunstliebenden vergnügen. Die Geschichte der Religion, der Rechtsgelehrsamkeit, der Philosophie, der Künste und schönen Wissenschaften ist auf sichere Weise von der Staatsgeschichte unzertrennbar. . . . Der Stil aller Künste, ja selbst der Depeschen und Liebesbriefe eines Herzogs von Richelieu steht gegeneinander in einigem Verhältnis. Jeder Krieg hat seinen eigenen Ton und die Staatshandlungen haben ihr Kolorit, ihr Costume und ihre Manier in Verbindung mit der Religion und den Wissenschaften. . . . Das französische eilfertige Genie zeigt sich in Staatshandlungen wie im Roman. . . . Der Geschichtsschreiber wird dieses fühlen und allemal soviel von der Geschichte der Künste und Wissenschaften mitnehmen, als er gebraucht, von den Veränderungen der Staatsmoden Rechenschaft zu geben«1. Man sieht, Moser wollte dies Insgesamt allen Lebens nicht dem Bereich seiner eigenen Forschung unterwerfen, aber er wollte mit allen seinen Bezirken Fühlung nehmen, und man wird ihm vielleicht am höchsten anrechnen, mit wie feinem Fingerspitzengefühl er alle diese Dinge anfaßt. Nicht mit der gleichen Ausführlichkeit, wohl aber mit der gleichen grundsätzlichen Entschiedenheit tritt auch die 1

) Osnabrückische S. X X I f.

Geschichte

I

(Sämtliche

Werke

VI',

1 7 0 Deutsche Geschichtswerke: Moser: Zeitalter der Gemeinfreien.

Längsschnittordnung in diesen ersten Abschnitten der Osnabrückischen Geschichte als leitendes Motiv zutage. Hierin selbst der Folgerichtigkeit von Winckelmann nahe kommend, läßt Möser bei Beginn seiner Darstellung nicht gar viele Seiten vergehen, bis er — das beste Zeugnis für seinen Drang zu großen Längsschnittzusammenfassungen — das Insgesamt der sassischen, doch auch das der deutschen Geschichte in der Folge der Zeiten in vier Hauptabschnitte zerlegt. Und noch ehe er sie seinem Leser vorlegt, schreitet er zu dem noch umfassenderen obersten Leitgedanken vor, durch den er wiederum nicht nur die Geschichte seiner osnabrükkischen Sassen, sondern die des deutschen Gesamtvolkes selbst in ihrer vollen Ausdehnung von des Tacitus bis zu seinen eigenen Tagen zu einer Einheit zusammenschließt. Es geschieht mit jenen Worten, durch die Möser den Ruhm seines Namens mit unvergänglichen Lettern in das Denkmal der deutschen Geschichtsforschung eingemeißelt hat. »Die Geschichte von Deutschland«, so lauten diese stolzen und bewußten und doch auch wieder sachlich bescheidenen Sätze, »hat meines Ermessens eine ganz neue Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigentümer als die wahren Bestandteile der Nation durch alle ihre Veränderungen verfolgen, aus ihnen den Körper bilden und die großen und kleinen Bedienten als böse oder gute Zufälle des Körpers betrachten.« Mit dem leidenschaftlichen Ungestüm, das so oft große Menschen, auch große Forscher, vorwärts treibt, und das auch an diesem kühlen Niederdeutschen durchaus nicht vorbeigegangen ist, hat Möser in diesen Sätzen noch außer dem Zielgedanken seiner Forschung eine ganz lebensmäßige Meinung aussprechen wollen, durch die er für das Volk als den eigentlichen Träger seines Schicksals und gegen den Staat oder vielmehr seine Beamten mit einer schlechthin bekenntnismäßigen Gefühlsstärke und einem schlecht verhehlten Zorn Partei nehmen wollte. Denn wenn er die »Bedienten« eines Volkes, wie er die Beamten nannte, als »böse oder gute Zufälle« des Volks-

Deutsche Geschichte als Geschichte des Landeigentümers.

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körpers ansah, ist diesem Satz leicht abzufühlen, daß er die Beamten weit eher zu den bösen als den guten Zufällen rechnete. Und wenn er der Territorialhoheit und dem Despotismus die Stelle einer glücklichen oder unglücklichen Auflösung zuweist, so denkt er gewiß mehr an die ungünstige als an die günstige Möglichkeit. Und selbst der Ausdruck »eine glückliche Auflösung« läßt weit eher unfreundliche als freundliche Deutungen zu. Aber man vergesse darüber nicht den ersten Teil der hier geäußerten Lehrmeinung, der in der Geschichte des Entwicklungsgedankens eine schicksalschaffende Wendung bedeutete, und der an sich lediglich forscherliche Zwecke verfolgt. Was in diesem kurzen Satze ausgesprochen ist, ist auch zwar ein Bekenntnis und insofern eine Lebensäußerung, denn es spricht eine Parteinahme für den Bauernstand aus, die wärmste wohl, die von einem Mann des Bürgertums in deutschen Landen bis zu den heutigen—bis zu Darrös — Tagen geäußert worden ist, außerdem aber eine ebensowenig je gehörte Formulierung der Überzeugung, daß ein Volk durch zwei Jahrtausende seiner Geschichte ein und derselbe Geschichtskörper bleibt. Damit aber war dem Gedanken der Längsschnitt-Einheit in der Geschichte ein denkbar folgerichtiger Ausdruck gegeben, der folgerichtigste, der für die Geschichte dieses einen Volkes überhaupt zu ersinnen war. Die beiden Gesinnungsproklamationen, die sich in diesen kurzen Sätzen zusammendrängen, haben, so verschiedene Bezirke des Lebens sie auch angehen mögen, sonder Zweifel den innigsten seelischen Zusammenhang: so gewichtig für einen so großen Forschergedanken, wie den hier von Möser ausgesprochenen, die begrifflichen, die vom Verstände erzeugten Gründe sein mögen, aus dem Gemüte steigen die triebkräftigen Anstöße. Es wäre nicht das erstemal, daß, so wie es hier geschah, ein großer Gedanke aus einer großen Liebe geboren worden ist. Es war die Vorstellung vom ewigen Deutschen nicht nur, nein, noch früher die vom ewigen Bauern, die in Justus Möser mächtig geworden ist.

172 Deutsche Geschichtswerke: Möser: Zeitalter der Gemeinfreien.

Und nun ist denkwürdig, zu verfolgen, wie auch die weiteren Folgerungen, die Möser für seinen Längsschnittgedanken aus dem obersten seiner Leitgedanken zieht, von der gleichen Gemütsbewirkung, von seiner leidenschaftlichen Vorliebe für den Bauernstand, erzeugt worden sind. »Diese Geschichte« — die des gemeinen Landeigentümers und damit die deutsche Geschichte nämlich, so sind Mösers Worte, und sie sind viel zu schön, als daß sie hier nicht in ihrem vollen Umfange wiedergegeben werden' müßten — »würde vier Hauptperioden haben. In der ersten und güldenen war noch mehrenteils jeder deutsche Ackerhof mit einem Eigentümer oder Wehren besetzt; kein Knecht oder Leut auf dem Heerbannsgute gefestet — d. h. dergestalt eingesetzt, daß er überall als ein vollmächtiger Wirt in Reihe und Gliedern erscheinen konnte; alle Freiheit — d. h. Befreiung — als eine schimpfliche Ausnahme von der gemeinen Verteidigung verhaßt; nichts als hohe und gemeine Ehre in der Nation bekannt; niemand außer dem Leut oder Knechte einem Herren zu folgen verbunden; und der gemeine Vorsteher ein erwählter Richter, welcher bloß die Urteile bestätigte, so ihm von seinen Rechtsgenossen zugewiesen wurden. Diese güldene Zeit dauerte noch guten Teils, wiewohl mit einer auf den Hauptzweck schärfer anziehenden Einrichtung, unter Karl dem Großen. Karl aber war auch der einzige Kopf zu diesem antiken Rumpf1.« Deutlicher als sonst wird aus diesen Worten, die die alte Legende vom goldenen Zeitalter zu erneuern scheinen, offenbar, daß in Justus Möser ein tiefer Drang zu Höhung und Steigerung lebendig war. Nicht Blut, nicht Zeit ließen zu, daß er Romantiker wurde; aber so stark auch sein Drang zu nüchterner Sachlichkeit war — er war wahrlich zum Amt des Geschichtsforschers geboren —, so war er doch Ideologe. Denn es war die Idee einer höchsten Verklärung seines Volkes, die in ihm mächtig war. Und — wie etwa in 1

) Osnabrückische Geschichte I S. X f .

Bild der Ganzheit der deutschen Geschichte; zweiter Zeitraum. 173

einem ganz anderen Sinne Rousseau getan hat — er übertrug diese Verklärung auf die Urzeit. Nicht als ob er bewußt dieses Urzeitbild über die ihm bekannte Überlieferung hinaus hätte auf höhen wollen; aber in der tief innen in seiner Seele brennenden Begeisterung, wie sie den nur nach außen hin kühl erscheinenden Niederdeutschen eigen ist, war ihm der Deutsche der Urzeit als der noch von keinen Minderungen der Kultur betroffene wie selbstverständlich der geliebteste und deshalb der herrlichste. Denn wenn Justus Moser auch gewiß kein Romantiker war, ein Dichter seiner innersten Gesinnung nach war er sicherlich: auch die Sehweise, mit der er die große Längsschnitteinheit als die Ganzheit der deutschen Geschichte sah, läßt dies besonders deutlich erkennen. »Wir können«, so sagt er in der Vorrede zu seinem Hauptwerk, »dieser Geschichte nicht allein die Einheit, den Gang und die Macht der Epopöe geben . . ., sondern auch den Ursprung, den Fortgang und das unterschiedliche Verhältnis des Nationalcharakters unter allen Veränderungen mit weit mehrer Ordnung und Deutlichkeit entwickeln, als wenn wir bloß das Leben und die Bemühungen der Ärzte beschreiben — unter den Ärzten versteht Moser also bezeichnenderweise die Beamten und die Fürsten —, ohne des kranken Körpers zu gedenken.« Das eine Wort Epopöe läßt Mosers Dichtertum begreifen, und doch hat er nirgends schärfer und forscherlicher den echt entwicklungsgeschichtlichen Gedanken der Längsschnitteinheit entwickelt 1 . In der Kennzeichnung des zweiten Zeitraums der deutschen Geschichte, den er unter Karls Sohn Ludwig, den er den Frommen und Schwachen nannte, seinen Anfang nehmen und —wie es scheint —• bis zum Interregnum reichen läßt, geht Möser von der Geschichte des Reichsregiments und seiner Geltendmachung vornehmlich im Heerwesen aus. Er macht diesem Kaiser den Vorwurf, daß er aus Einfalt, Andacht, Not und falscher Politik den Geistlichen, Bedienten und Reichs*) Osnabrückische Geschichte I S. X.

174 Deutsche Geschichtswerke: Moser: Zeitalter der Gemeinfreien.

j

Vögten seine Gemeinen, d.h.also jene Gemeinfreien,aufopferte, in denen Möser den Kern des deutschen Volkes, gebildet aus dem Bauerntum, sah. Er klagt darüber, daß die Bischöfe, die ehedem nur zwei, und die Grafen, die vier Heermänner ad latus behalten durften, nunmehr mit dem Reichsgut nach Gefallen zu schalten und zu walten begannen, daß sie die freigewordenen mansi mit Knechten und unfreien Leuten besetzten und die freien Wehren genötigt hätten, sich ihnen zu den gleichen untertänigen Bedingungen zu ergeben wie jene. Noch Heinrich der Vogler habe das Reiehseigentum wieder in seine Gewalt zu bringen und den Heerbann wieder herzustellen getrachtet; aber Otto der Große, dies vermerkt Möser mit Betrübnis, habe die entgegengesetzte Politik eingeschlagen und das Reichsgut denen preisgegeben, die ihm einige glänzende und wohlgeübte Dienstleute zugeführt hätten. Ihm sei ein Ritter, der mit ihm über die Alpen zog, lieber gewesen als tausend freie Wehren, die keine Auflagen bezahlten und keine andere Dienstpflicht als die der Landesverteidigung wahrzunehmen hatten. In der Macht und dem Glanz seiner Stellung habe er geglaubt, daß das Reich nie wieder eines Heerbanns bedürfen würde. E s sind die beiden ersten Zeiträume, die sich in der von Möser aufgestellten Reihe übersehen lassen, und an ihnen zuerst wird das von ihm befolgte Wie seines Vergleichens sichtbar, eines Vergleichens, für das er nicht erst die Summenstriche zieht, das er aber für den Leser so greifbar vorbereitet, daß die Absicht seines Vorgehens auch ohne so ausdrücklich zur Geltung gebrachte Ergebnisse auf das deutlichste erkennbar wird. Wie wichtig aber die Erkenntnisse sind, die solchergestalt vermittelt werden, ist leicht einzusehen. E s ist ein einheitliches großes Thema, das hier zum Gegenstand der deutschen Geschichte gemacht wird: das Verhältnis zwischen der Reichsgewalt und dem Bauerntum ist es, das hier als Kern alles Geschehens betrachtet wird. Wie sehr dies im Sinne des Ent-

Kaisertum und Bauerntum; Mosers entwickelnde Forschung.

175

wicklungsgedankens gedacht ist, wird dann am besten ersichtlich, wenn man das Verfahren Mösers mit dem der damals und auf Jahrhunderte auf und ab so ganz im Übergewicht befindlichen rein beschreibenden Geschichtsdarstellung vergleicht. Das Erscheinungsjahr von Mösers Osnabrückischer Geschichte, 1768, liegt geraume Zeit vor der Mitte des Abstandes zwischen 1707, dem ungefähren Jahr des Beginnens der Abfassung von Leibniz' Annales imperii occidentis und 1855, dem Jahre des ersten Erscheinens von Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit, zwei Werke, die man als Anfangs- und Endpunkt eines Zeitraums von anderthalb Jahrhunderten descriptiver Historie betrachten muß. Sie umfassen in der zwischen 1707 und 1855 verflossenen Zeit hunderte von Werken zur deutschen Geschichte, die von gleichem Sinne rein beschreibender Geschichtsforschung beherrscht gewesen sind, demselben Sinn, der noch bis auf den heutigen Tag in dem Schrifttum der politischen Geschichte überwogen hat. Soweit nun nach Wert und forscherlicher Gesinnung diese beiden Werke voneinander geschieden sein mögen, dies eine haben sie doch gemeinsam, daß sie im wesentlichen nach der reinen Zeitfolge die Einzelereignisse der deutschen Geschichte aneinander aufreihen. Justus Möser aber ist es — schon in der Übersicht, die er seiner eigentlichen Darstellung vorangeschickt hat — d e r den Gang der deutschen Geschichte in Zeitalter teilt, die er nicht nach irgend welchen Einschnitten äußerlich gewichtiger Ereignisse, noch auch nach den Herrschergeschlechtern der Kaiser abgrenzt, sondern aus der Beschaffenheit ihres inneren Wachstums ableitet. Wie er dabei verfährt, dafür zeugt schon die Behandlung der beiden ersten Zeiträume, in die er die deutsche Geschichte teilt. Wie wenig seiner Gesinnung alle Teilungen jener äußerlichen Art entsprachen, darüber hat er sich in dem Aufsatze Die Geschichte in der Gestalt einer Epopöe mit abweisender Entschiedenheit ausgesprochen. »Eine Periode«, so sagt er

176 Deutsche Geschichtswerke: Mö6er: Zeitalter der Gemeinfreien.

da, »sollte nicht das Leben einer gewissen königlichen Familie, sondern eine ganze Reichsänderung enthalten. Das Leben eines Königs ist gewissermaßen das Leben eines Privatmannes, und der Geschichtsschreiber sollte sich dieser Abmessungen nicht weiter bedienen, als um dem Gedächtnisse zu Hilfe zu kommen«. Er selbst ist in dem Hauptwerk seines Lebens völlig anders verfahren. Er ist von einer ganz tiefen Reichsänderung ausgegangen: von der Umwälzung des Verhältnisses zwischen der Reichsgewalt und dem Bauernstand, in dem er als dem Stand der Gemeinfreien den eigentlichen Kern des deutschen Volkes sah. Bis zu Karl dem Großen hatte, so ist Mosers Bild von dem Hergang, das Königtum diesen Kern unangetastet gelassen, ja ihn als den Träger des Heerbanns und damit der Wehrkraft des Reiches behütet und gepflegt. Jetzt aber, seit den Tagen Ludwigs des Frommen, hatte es dem Umsichgreifen des Beamtentums und des geistlichen und weltlichen Adels zugesehen, hatte sich um den Stand der Gemeinfreien, der auf die mannigfachste Weise zu einem Teil seine Selbständigkeit an die neuen Herrschenden verloren hatte, wenig gekümmert, ja ihn, da der Heerbann von der Reichsgewalt aufgegeben worden war, als einen Träger der Wehrkraft völlig ausgeschaltet. Denn nunmehr stützte sich das Königtum auf den adligen Ritterstand, mit dem es seine Feldzüge bestritt. Man wird nicht in Abrede stellen dürfen, daß diese »Reichsänderung« von denkbar tiefgreifender Wirkung war. Und es ist ja nicht allein der Nachdruck der Staatsumwälzung, um die es sich hier handelt. Denkwürdig ist doch, daß es nicht etwa eine Vermehrung — oder Verminderung — der Reichsgewalt ist, die von Möser bemerkt wurde, sondern ein sehr viel komplexeres Geschehen. Wohl wird eine schlechthin politische Veränderung hier von der Geschichtsforschung gebucht; aber ihr liegt eine an sich viel schwerer zu durchdringende gesellschafts- und standesgeschichtliche Umwälzung zugrunde: daß der alte Normalstand der Gemeinfreien vom Reichsbeamtentum und vom Adel ganz wesentlich

Standesgeschichtliche Deutung 1 der Umwälzungen; Nitzsch.

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herabgedrückt, zum Teil seiner Freiheit beraubt wird, und daß die beiden gewinnenden Stände an gesellschaftlicher und wirtschaftlicher, am wenigsten vielleicht an politischer Macht zunehmen, während die Reichsgewalt, die über allen diesen Verschiebungen thront, ihre Machtmittel, vor allem ihre militärischen, wohl ändert, aber nicht übermäßig an Macht gewinnt. Man wird den Blick bis zu den Tagen und den Leistungen von Karl Wilhelm Nitzsch schweifen lassen müssen, um zu einer Geschichtsforschung vorzudringen, die so tief gelagerte gesellschaftliche Verhältnisse aufgedeckt hätte — Nitzsch freilich dann in weitem Hinausgelangen über den von Moser erreichten Standpunkt. Doch ist, was im Sinn umfassender Wissenschaftsgeschichte mit allem Nachdruck angemerkt zu werden verdient, trotzdem eine so weite Zeitstrecke sich zwischen Moser und Nitzsch dehnt, die Einwirkung, die der Ältere auf den Jüngeren ausgeübt hat, sehr hoch anzuschlagen. Es gibt keinen unter den Vorgängern von Nitzsch in der deutschen Verfassungs- und Ständegeschichte, von dem er hätte reichere und förderlichere Lehren empfangen können als von Moser. Und die seelische Grundhaltung, aus der Nitzsch die außerordentlichste Bereicherung durch Moser hat schöpfen können, bleibt die gleiche, wie sie Moser selbst dem Geschehen entgegengebracht hat. Es war die Liebe zu dem alten Kernbestand des deutschen Volkes und zugleich die Überzeugung davon, daß es in der Geschichte eines Volkes noch weit mehr auf die tiefen Umgestaltungen des gesellschaftlichen Kerns dieses Volkes als auf die Ereignisse der politischen, insonderheit der außenpolitischen Oberfläche ankomme. Und noch das Tun von Nitzschs Geschichtsforschung selbst muß von Mosers Vorgang die fruchtbarsten Bewirkungen erfahren haben.

Kreysig, Meister der Geaobichtsforsohuug.

12

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Deutsche Geschichtsw erke: Moser: Untergang der Gemeinfreien.

Zweites Stück. D e r U n t e r g a n g v o n E i g e n t u m und Ehre der Gem e i n f r e i e n in der neueren Zeit. Der dritte Zeitraum, den Mösers große Einteilung der deutschen Geschichte unterscheidet, und der bis gegen den Ausgang des Mittelalters reichen mag — seine ungenauen Angaben lassen eher an das Ende des vierzehnten und den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts als an das wirkliche Ende des Mittelalters denken — ist, wie es für sein Sehen nicht anders sein kann, in seiner Wertung schon ein Zeitalter wenn nicht des Niedergangs, so doch der schmerzlichsten Verluste an dem ererbten Seelengut der Väter. Hatte Möser schon die Grundrichtung der geschichtlichen Bewegung im frühen Mittelalter mit der tiefsten Unlust verzeichnet, so bricht über der Fortsetzung dieser Bewegung in den nun folgenden Jahrhunderten der weheste Schmerz aus dem Widerhall, den seine Seele auf sie gab. Mit Kummer vermerkt er die Zurückdrängungen der bisherigen Alleinherrschaft des Urstandes der Gemeinfreien: »Alle noch übrigen Gesetze aus der güldnen Zeit, worin die Eeichsmansi mit Eigentümern besetzt waren, verschwanden in dieser Periode gänzlich. Dazu hatten«, so fährt er fort, »die Städte, diese anomalischen Körper, welche die Sachsen so lange nicht hatten dulden wollen, nicht wenig beigetragen, indem sie die Begriffe von Ehre und Eigentum, worauf sich die sächsische Gesetzgebung ehedem gegründet hatte, verwirreten und verdunkelten«. Der heutige Leser, der insbesondere, der als Geschichtsforscher zu strenger Unbefangenheit verpflichtet, als Geschichte Liebender wenigstens zu ihr geneigt ist, scheut hier zurück, weil er den Eindruck erhält, als ob bei dem alten Verteidiger des gemeinfreien Bauernstandes die Vorliebe sich zu blinder Parteilichkeit gesteigert habe. Doch findet sich im weiteren Fortgang seiner Darlegung, daß er, ohne seine

Verluste an Ehre und Freiheit; möglicher Weg des Bürgertums.

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alte Liebe aufzugeben, sich doch nicht in engstirniger Befangenheit verliert. Zuerst freilich dauern seine Klagen noch an. Er klagt: »Die Ehre verlor sogleich ihren äußerlichen Wert, sobald der Geldreichtum das Landeigentum überwog, und wie die Handlung der Städter unsichtbare heimliche Reichtümer einführte, konnte die Wehrung der Menschen nicht mehr nach Gelde geschehen. Es mußten also Leib- und Lebensstrafen eingeführt und der obrigkeitlichen Willkür verschiedene Fälle zu ahnden überlassen werden, worauf sich die alten Rechte nicht mehr anwenden und bei einem unsichtbaren Verhältnis keine neuen mehr finden lassen wollten.« »Die Freiheit litt dadurch ungemein und der ganze Staat arbeitete einer neuen Verfassung entgegen, worin allmählich jeder Mensch, eben wie unter den späteren römischen Kaisern, zum Bürger oder Rechtsgenossen aufgenommen und seine Verbindlichkeit und Pflicht auf der bloßen Eigenschaft von Untertanen gegründet werden sollte.« Soweit diese Worte reichen, die hier um der Markigkeit und Unnachahmlichkeit ihrer Sprachform willen wie manche früheren unverkürzt wiedergegeben wurden, bleibt Moser noch ein Tadler dieses Zeitalters, und man mag gegen ihn daran erinnern, daß auch die von ihm so sehr geschätzten Engländer, an denen er das verwandte Blut liebte, mit ihrem Worte subjects doch auch die Ganzheit ihres Volks haben decken wollen. Aber er ist doch auch nicht so sehr ein voreingenommener Parteigänger des Bauernstandes gewesen, daß er die Möglichkeiten, die in der wirtschaftlichen Entwicklung des Bürgertums von jener Zeit ab lagen, ganz verkannt hätte. Im Gegenteil: ihm schwebte für den weiteren Fortgang der gesamtdeutschen Entwicklung auch der Weg einer eigens starken Entfaltung des Bürgertums vor. Aber er hätte, das ist so ungemein bezeichnend für sein unbändig starkes und stolzes Unabhängigkeitsbewußtsein, er hätte, wenn das deutsche Volk, vertreten durch sein Bürgertum, diesen Weg eingeschlagen haben würde, von ihm ein größeres Maß von 12*

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Deutsche Geschichts werke: Moser: Untergang1 der Gemeinfreien.

Volksfreiheit verlangt. Er hält durchaus für möglich, daß Deutschland auch seine Größe auf den Handel und die städtische Wirtschaft hätte gründen können. Er meint, dann hätte es den Handel zu seinem Hauptinteresse machen sollen und hätte dem persönlichen Fleiß und dem Gelderwerb in bestimmten —• d. h. den bürgerlichen — Verhältnissen die gleiche Ehre wie dem Landeigentum geben müssen. Ehre aber heißt in Mösers Munde Standesansehen und aus ihm erfließend politische Macht, und er malt dementsprechend einen Entwicklungsweg aus, wie er ihm vorschwebt und für den ihm, dies leuchtet deutlich aus seinen Worten hervor, allenfalls das Beispiel Englands als das allein nachahmenswerte erschienen sein mochte. Die Städte, so wünscht er, hätten sich zu einem politisch mächtigen Stande zusammenschließen müssen, hätten Schiffe und Steuern bewilligt und auf diese Weise auf dem Reichstage das Nationalinteresse, so drückt er sich aus, mehrenteils allein entschieden. Den großen politischen Vorteil, den er sich für das Volksund Reichsganze versprochen haben würde, sieht er darin, daß ein so stark vertretenes Bürgertum die Zerreißung des Reichsbodens in so zahlreiche kleine Gebiete, von denen jedes seinen Sondervorteil suchte, verhindert haben würde1. Nicht die Parteinahme für das Bürgertum ist an diesem Urteil auffällig — der Neigung Mösers und seiner Vorliebe für den Urständ der Gemeinfreien mag es näher gestanden haben als der Hochadel —; wohl aber ist verwunderlich, daß ihm die Hansa und der Körper der freien Reichsstädte, welche beide er an dieser Stelle nicht erwähnt, nicht genug getan haben. Diese Aussagen Mösers sind für das Bild, das sich in unserer Seele von diesem seltenen Manne spiegelt, insofern von außerordentlicher Bedeutung, weil hier einmal zutage tritt, daß Beine Neigung — auf die es ja mehr ankommt als auf seine verstandesmäßigen Überlegungen — wohl zuerst und zuletzt Osnabrückische Geschichte I (Sämtl. Werke VI) S. X V f .

Politische Gedanken; innerer Nationalismus.

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dem Bauerntum gehörte, das ihm den eigentlich normalen und zugleich den Urständ bedeutete, — daß ihn aber auch politische Gedanken bewegten. Auch an der Stärke und Größe des Reichsgedankens, an der Geschlossenheit und Einheit des deutschen Staats war ihm sehr viel gelegen. Und gerade hieran wird ersichtlich, wie Hohes und Großes an Wirkung von der geistigen Gewalt dieses Mannes in der Geschichte des deutschen Staatsgedankens ausgegangen ist. Für die Geschichte des Nationalismus in der neuesten Zeit - und zwar nicht nur des deutschen, sondern auch des europäischen — ist über alles wichtig, daß er nicht früher als gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts Macht in der Seele unserer Völker gewonnen hat. Und es sind bezeichnenderweise die Reaktionen des Nationalgefühls auf schwere Verletzungen und Vergewaltigungen, die an diesen Seelen bewegungen den stärksten Anteil gehabt haben: gegen die Gewaltherrschaft des englischen Königtums haben sich die angelsächsischen Siedlungen in Nordostamerika zu einem Aufruhr zusammengeschlossen, aus dem die Geburt einer neuen Nation hervorging; das polnische Volk ist zum Bewußtsein seines Eigendaseins erwacht, nachdem es von den Nachbarmächten zertrümmert, zerrissen und unterjocht worden war; im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts haben unter dem harten Druck von Napoleons Kriegerfaust sich das spanische, das tiroler und das preußische Volk zu dem Gedanken völkischer Wesenheit hingefunden. Daß aber die Idee des Nationalismus auch im Geist geboren werden konnte, dafür legt für Europa Rousseau und die Denkschrift Zeugnis ab, in der er dem polnischen Volk, dessen Wortführer sich, ihn um R a t angehend, an ihn gewandt hatten, die Mittel und Wege angab, die es zu einem starken und gegen die Außenwelt sich höchst schroff verschließenden Nationalismus führen konnten. Für Deutschland aber ist sicherlich Justus Moser der erste von den Verkündern eines Nationalismus, der sich in keiner Zuspitzung gegen irgendwelche äußeren Gegner wandte, der aber von einer so leidenschaftlichen Begeisterung

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Deutsche Geschichts werke: Moser: Untergang der Gemeinfreien.

für die Wesenheit, zugleich aber auch für die staatliche Macht und Einheit des eigenen Volkes getragen war, daß man ihn als einen inneren Nationalismus wird bezeichnen dürfen. Gleichwohl bleibt in der Übersicht über die deutsche Geschichte, die Moser seinem Werk vorangeschickt hat, das Verhältnis des alten Urstandes der Gemeinfreien zur Ganzheit des Volkes und zu den staatlichen Gewalten der leitende Faden für die durchgehende Betrachtung bis zum Ende, also bis zum vierten Zeitraum. Nur wird man in dem Abschnitt, der diesem Zeitalter gewidmet ist, mehr als bis dahin zwischen den Zeilen zu lesen haben. Moser stand dem staatlichen Leben seiner Gegenwart, über das er doch auch jetzt noch als Richter sein Verdikt abgeben sollte, nicht wie ein anderer Forscher nur wie ein von außen her Urteilender gegenüber, sondern er gehörte diesem Lebenskreise mit seinem ganzen Sein an, konnte sich nicht als von ihm losgelöst betrachten, konnte auch über ihn nicht mit voller Unbefangenheit öffentlich reden. Und so zeigen sich, wenn er seine Meinung über diesen vierten und letzten Zeitraum in einem Urteil ausspricht, das er noch kürzer als alle bisherigen zusammenfaßt, die ersten Worte, mit denen er dies Urteil einleitet: daß wir dem vierten Zeitalter die glückliche Landeshoheit oder vielmehr ihre Vollkommenheit zu verdanken hätten, wohl nicht ohne Absicht als zweifach deutbar: das lobende Wort »glücklich« wird durch den Zusatz »oder vielmehr ihre Vollkommenheit« einigermaßen wieder zurückgenommen. Denn nach allem, was Moser sonst und schon in den zunächst folgenden Sätzen über die hohen Reichsbeamten bis zu den Grafen herab urteilt, ist seine Stimmung ihnen wenig günstig. Dort wo er vier Entwicklungswege erwägt, die alle für die deutsche Verfassung als Möglichkeiten gegeben waren, spricht er sich selbst über die ursprünglichste, die den Schöpfungen Karls des Großen am nächsten stehende, alles andere als freundlich aus. Weder von der Regierung per missos noch von den festen Reichsstatthaltern wäre Gutes zu erwarten

Stellung zur Gegenwart; die Landeshoheit der Fürsten.

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gewesen. Die erste Einrichtung hätte uns reisende und plündernde Paschas zugezogen, die zweite würde schließlich wie in Frankreich die Provinzen zum Opfer von räuberischen Generalpächtern gemacht haben. Auch die dritte Möglichkeit, die eines Reichsunterhauses, hätte, so meint Moser, nicht zu einem guten Ausgang führen können, es sei denn, die in Ober- und Niederdeutschland zu einer Einheit zusammengeschlossenen Städte wären imstande gewesen, den Handel durch die ganze Welt zu behaupten und sich des ganzen Reichs-, Kriegs- und Steuerwesens zu bemächtigen. Und so sei, so schließt er, die vierte Möglichkeit, die Wirklichkeit wurde, die Landeshoheit des Fürsten, noch die beste gewesen, der zwar die ihm anvertrauten Reichsgemeinen beherrscht, aber sein Glück in dem ihrigen findet und »wenigstens seinem Hause zu Gefallen« nicht alles auf einmal verzehrt. Man sieht, es ist ein überaus gedämpftes Lob, das den Fürsten gespendet wird, und ihm stehen die alten Klagen gegenüber: daß die Landeigentümer in jedem kleinen Strich Städte und Festungen unter sich dulden, geldreiche Leute an der Gesetzgebung Teil nehmen lassen müssen, und daß sie nicht mehr die Befugnis haben sollen, selbst Recht zu sprechen und sich selbst Richter zu setzen. Und so bleibt auch für das Insgesamt des gesellschaftlichen Zustandes die alte große Verlustrechnung bei dem Vergleich mit der Urzeit. Der alte Begriff des Eigentums ist völlig verloren gegangen: man fühlte es kaum mehr, daß einer Rechtsgenoß sein müsse, um ein echtes Eigentum zu besitzen. Den gleichen Gang ist die Ehre gegangen: die hohe Ehre hat sich in Freiherrlichkeit, d. h. in Adel verwandelt; die gemeine, d. h. die jedem Volksgenossen zustehende Ehre, der honor quiritarius, besteht kaum noch aus Vermutungen, während sie doch — das ist die alte und für kein Zeitalter der deutschen Geschichte aufgegebene Meinung Mosers — der Geist der deutschen Verfassung gewesen ist und ewig hätte bleiben sollen. Eine Verwerfung des Adels, der doch den breitesten Einbruch in den Grundsatz der uralten Gemein-

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Deutsche Geschichtswerke: Moser: Untergang der Gemeinfreien.

freiheit bedeutet, findet sich bei Möser in diesem Zusammenhang nicht ausgesprochen; doch ist schwerlich anzunehmen, daß er für ihn eine Ausnahme gemacht hätte. Man sieht, Möser ist sich in dieser seiner Grundauffassung stets getreu geblieben. Und geht man von dem Schicksal der Germanen — also nicht nur der Deutschen — aus, so hat noch in unseren Tagen die Entwicklung der Skandinavier, zuletzt und am augenfälligsten die der Norweger, sie bestätigt. Für sie, die wie alle Nordgermanen in mehr als einer Entwicklungsreihe um ein halbes Jahrtausend hinter den Südgermarien zurückgeblieben waren, schien noch am spätesten die Möglichkeit offenzustehen, daß sie im Urzeitstande reinen Bauerntums und damit, um mit Justus Möser zu reden, des Gemeinfreien verharrt blieben. Und eine vergleichende europäische Geschichte, die schon um 1896 diesen Entwicklungsgang in Erwägung zog, mußte, ohne von Möser zu wissen, auf den Gedanken geraten, daß ein Verlauf ohne Adel und ohne Bürgertum sehr köstliche Güter aus dem Urzeiterbe hätte bewahren können. Von einer noch höheren Warte geschichtlichen Urteils ausgehend mußte eine Geschichtsforschung aber schon damals zu dem Ergebnis kommen, daß eine rein bäuerliche Entwicklung dieser Richtung gewiß hohe Werte der seelischen, ja auch der geistigen Bildung hätte hervorbringen können, nach sehr vielen andren Seiten aber, vornehmlich in Sachen des Geistes, eine beträchtliche Verarmung dargestellt hätte. Ohne Adel wäre die hohe Dichtung und Baukunst des Mittelalters, ohne Bürgertum seine Malerei und Wissenschaft nicht zu denken gewesen; und wer möchte wohl alle die Verfeinerung der Lebensform aus der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Gesittung vermissen, die nur diesen beiden höheren Ständen zu danken war. Die gleichen Erwägungen aber, die zu solcher Beurteilung nordgermanischer Möglichkeiten führen, sind auch auf die Ergebnisse von Mosers Geschichtsideologie anzuwenden. Niemand, der ein Empfinden hat für die lautere Gesinnung und die urdeutsche, urgermanische Geistigkeit, die in Möser

Geschichtsurteile und Geschichtsträume; neue Umwälzungen.

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lebendig war, wird die Echtheit und Schönheit seines Urteilens verkennen, und niemand, der das Wesen tieferen geschichtlichen Sehens recht beurteilt, wird ihn darüber tadeln dürfen, daß er sich als Geschichtsforscher das Recht beimaß, auch die Möglichkeiten von weit von der Wirklichkeit abweichenden Entwicklungsbahnen in Erwägung zu ziehen und drei große Möglichkeiten, zu denen wenigstens der Weg auf eine lange Strecke hin eingeschlagen war, unter sich und mit der von der geschichtlichen Wirklichkeit endgültig gewählten Richtung zu vergleichen Denn Wert und Wesen des wirklich Gewordenen kann durch nichts so klar erkannt werden als durch so kühn gesehene Möglichkeiten, wenn sie, wie durch Moser immer geschehen ist, sich nicht auf frei erfundene Willkürlichkeiten, sondern auf solche gchon begonnene Entwicklungsbahnen gründen, die von der seschichtlichen Wirklichkeit zwar nicht zu Ende gelaufen rind, wohl aber untrüglich die geschichtlichen Entwicklungssichtungen erkennen lassen. Justus Moser war vornehmlich um des Bauerntums oder vielmehr um des Urstandes der Gemeinfreien willen dem Fürstentum gram, doch nicht deshalb allein. Das tritt da zutage, wo er die Stellungsverluste der höheren Stände vermerkt und verzeichnet, daß auch Geistliche, Edelleute und Bürger Macht an die Fürsten verloren hätten, die sie doch im Mittelalter wohl erworben und verdient hatten. Und bei aller Lebensvorsicht gegen das Fürstentum geht er in seinem Tadel doch so weit, in Erinnerung an den geliebten alten Heerbann grollend zu urteilen, daß den Fürstenstand Ehrgeiz, Eifersucht und Phantasie dazu verführt hätten, stehende Heere zu errichten. Die Reichsgewalt habe diese Neuerung zuerst — aus Gründen der Verstärkung der Reichsmacht nach außen — nicht hindern wollen, später aber nicht hindern können. Doch Mosers Abneigung gegen die neuzeitlichen Zustände beschränkt sich nicht auf die politischen Angelegenheiten ; ihm ist auch die geistige Entwicklung nicht genehm. Er vermerkt grollend, daß Religion und Wissenschaften

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Deutsche Geschichtswerke: Möser: Untergang der Gemeinfreien.

immer mehr den Menschen über den Bürger gehoben hätten. Und dies bedeutet in seinem Munde, daß der geistige Mensch sich über den politischen Menschen erhoben hätte, auf den es nach seinem Urteil so viel mehr ankommt. Und er schilt sogar auf die bequeme Philosophie, die nun aufgekommen sei und die Folgerungen aus allgemeinen Grundsätzen besser unterstützt habe als diejenigen, die nicht ohne Gelehrsamkeit und Einsicht gemacht werden können. Gegen allen Apriorismus hört man hier den Verteidiger aller echten und berufstreuen Erfahrungswissenschaft dumpf grollen. Am kennzeichnendsten für die, man kann wohl sagen, höchst einseitige Leidenschaft des politischen Menschen in Möser ist seine Stellungnahme zur Reformation, wenn er meint, daß ebenso die evangelischen wie die katholischen Landesfürsten hätten von Glück sagen können, daß der Kaiser die Reformation für die Zwecke der Reichsgewalt nicht so ausgenutzt habe, wie es wohl möglich gewesen wäre. Luthers Lehre, so meint er, sei der ganzen Freiheit günstig gewesen; sie hätte zur Herstellung der vollkommensten Monarchie ausgenutzt werden können. Der Kaiser hätte, wenn er den Sturm der ersten Bewegung ausgenutzt hätte, hundert Thomas für sich aufstehen lassen, hätte alles Lehn-, Zins- und Pachtwesen aufheben, das Landeigentum der Bauern wiederherstellen und sich »ihres wohlgemeinten Wahnes gegen ihre Landes-, Gerichts- und Gutsherren« bedienen können. Wie wenig in dieser Vorstellung Mösers der Glauben selbst eine Rolle spielte, sieht man deutlich; aber auch, zu wie leidenschaftlicher Größe sich in ihm seine sozialen und politischen Träume steigern konnten. E s ist eine großartige Phantasmagorie, die in ihm aufsteigt, für die ihm der Glaube gewiß nur das Werkzeug, für die ihm aber sein alter Urzeittraum vom gemeinfreien Bauern das leuchtende Zielbild ist. Bis hierher ist die Darlegung von Mösers Anteil an der Geschichte des Entwicklungsgedankens in der deutschen Geschichtsforschung jenen einleitenden Abschnitten gefolgt, in

Möglichkeiten der Revolution; Mosers Geschichtsabsichten.

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denen er seiner Osnabrückischen Geschichte die — vorweggenommene — Krönung eines Überblicks über die gesamtdeutsche Geschichte gegeben hat. Es war sicherlich im tiefsten begründet in Mosers geistiger Wesenheit, daß er das geschichtliche Hauptwerk seines Lebens nicht, wie es manchem starken Drang in seinem Geist entsprochen haben würde, als eine gesamtdeutsche Geschichte aufgebaut hat, sondern daß er es auf das Geschichtsbild seiner engsten Heimat und damit eines kleinen deutschen Territorialstaats beschränkt hat. Er wollte mit festen Füßen auf dem festen Boden eines Gebietes stehen, das er aus seiner eigenen nächsten Lebenskenntnis heraus ganz und bis zur kleinsten Lebenseinheit umfaßte. Wenn er jede Abtei und jedes Dorf kannte, von deren Schicksal auf den Blättern seines Werkes die Rede sein sollte, dann allein war ihm wohl. Aber zugleich war in ihm der stärkste Antrieb, sein Volk zu umfassen, er fühlte sieh wohl als Sachsen, vielleicht auch etwas als Osnabrücker, d. h. als Angehörigen seines Fürstbistums, am meisten aber als Deutschen. Und da ja gar kein Denken daran war, daß er mit seinem Anspruch an die Sicherheit und Genauigkeit seines Forschens eine gesamtdeutsche Geschichte hätte aufbauen können, so war die Form, die er nun gewählt hat, die einzig mögliche, die beiden Weisen seines forscher- und zugleich seines lebensmäßigen Strebens und Begehrens Genüge tat. Denn nur wenn er nach unten auch noch den Bodenformationen, der Art von Haiden, Mooren und Wäldern nachging, wenn er nach oben Wesen und Schicksal des Gesamtvolkes in den Bereich seines Werkes zog, war das ganze Rund seines forscherlichen Ehrgeizes erfüllt. Und so wurde durch die Grunddisposition seines Werkes das Tiefste und Eigentümlichste seiner persönlichen Forschungsweise sichergestellt: nur wer so gut Bescheid wußte um den Grund und Boden und um das Schicksal jeder Dorfschaft, konnte auf den Gedanken kommen, seine deutsche Geschichte vom Schicksal des Bauern oder, wie Moser so viel schöner sagt, des deutschen Gemeinfreien her

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Deutsche Geschichtswerke: Moser: Untergang derGemeinfreien.

aufzubauen. Wie so oft dem echtesten und besten Schaffen des Geistes widerfahren ist, sind seine feinsten und farbigsten Bauten aus der erdhaftesten Wurzelschicht seines Ursprungsbodens entsprossen. Und, auch dies ein Kennzeichen gerade des erlesensten Geschehens, dies Zusammenkommen von zwei so verschiedenen Ursprüngen war ein ganz aus dem Unbewußten Entstandenes, das kein noch so scharfsinniges Ersinnen hätte ersetzen können. Immerhin hat doch auch aus denselben Gründen dem Werke mancherlei Brüchigkeit anhaften müssen. Zuerst, daß es ein Torso blieb. Moser selbst hat nur zwei Teile fertigstellen können; aus seinem Nachlaß ist noch ein dritter zugefügt worden. Zum zweiten aber, und das ist für die hier verfolgten Gedankengänge wichtiger: aus dem zwiespältigen Antrieb, der den Verfasser zu seinem Werk führte, ist doch auch eine Zwiespältigkeit seiner inneren Beschaffenheit entstanden. Denn alle die Neigungen und Gerichtetheiten seines forscherlichen Geistes, die ihn zum Aufsuchen des Allgemeinen und damit auch beider Formen der entwicklungsgeschichtlichen Forschungsweise drängen konnten, mußten sich am stärksten dem allgemeinen und an sich entwicklungsgeschichtlich angelegten Teil seines Unternehmens, eben seiner krönenden Gesamtübersicht zuwenden, während die notwendig zu Einzelheit und Beschreibung sich wendenden Abschnitte, die den mittleren und späteren Zeitaltern gewidmet sind, den auch in Moser mächtigen Zug zur reinen Erzählung hervortreten ließen. So ist die entwicklungsgeschichtliche Weise in jenen einleitenden Abschnitten zu einem Grade der höchsten Vollkommenheit gesteigert worden, wie er vor Moser von der politischen und allgemeinen Geschichtsschreibung noch nie auch nur annähernd erreicht worden ist, während die Darstellung der späteren Zeitalter, vom Schluß der karolingischen Zeiten ab, in langsam zunehmendem Maße in die Form der beschreibenden Geschichte übergegangen ist. Auf weite Strecken ist in dieser späteren Darstellung diese andere und wenn

Entwickelnde und beschreibende Abschnitte; Sachsenkriege.

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man will entgegengesetzte Art der Forschung mit derselben Grundsätzlichkeit und Folgerichtigkeit durchgeführt, wie in den Anfängen des Werkes die entwickelnde. Wohl sind in den Zeitaltern von 918 bis 1366 immer wieder in das Massiv der Darstellung Abschnitte eingesprengt, etwa zur Verfassungsoder zur Ständegeschichte, die rein entwickelnde sind, d. h. eine Kette von Zustandsbildern, die nach festgehaltenen begrifflichen Teilungen geordnet, ein folgerichtiges Fließen vor dem Auge des Lesers entstehen lassen. In der Hauptsache aber ist in der schlichten Erzählungsform beschreibender Geschichte eine im wesentlichen chronologisch geordnete Schilderung der Regierungen der einzelnen auf einander folgenden Bischöfe des Landes und der wichtigen Einzelbegebenheiten aus dem Erleben des osnabrückischen Gebietes gegeben. So kommt es, daß auch sehr gewichtige Einzelereignisse nur eingeflochten in das Gespinnst der unablässig fortlaufenden Darstellung auftreten. So wenn er das schlimme Blutbad an der Aller von 782, in dem Karl der Große 4500 Sachsen hinrichten ließ, doch nur in wenigen Zeilen behandelt, es übrigens in einem weit mehr Karl als den aufständischen Sachsen günstigen Sinne beurteilend. Bemerkenswert ist, daß die Tatsache, die für Moser hätte von eigens starkem Interesse sein sollen, ihm noch völlig entging: daß nämlich die 4500 Aufständischen nicht eigentlich in einem Aufruhr gegen die auswärtige, die fränkische Oberherrschaft unterlegen waren, sondern in einem innersächsischen Kampf, im Streit, den sie, die Frilinge, die gemeinfreien Bauern, gegen die Edelinge, gegen den mit den Franken verbündeten Adel führten. So daß denn auch die furchtbar harte Strafe, die an ihnen an der Aller vollzogen wurde, eher das Ereignis eines sächsischen Bürgerkrieges, als das eines fränkischen Rachefeldzuges war 1 . ' ) Lintzel, Die Sachsenkriege ( H a m p e u. a., K a r l der oder C h a r l e m a g n e ? [1935] 5 8 f . ) .

Große

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Deu tsche Geschieh ts werke: Moser: Untergang derGemeinfreien.

Desgleichen ist Widukind, der uns heute teils mit Recht, teils mit Unrecht als die geschichtlich wichtigste Gestalt in aller Sachsengeschichte gilt, von Moser nicht allzu nachdrücklich in den Vordergrund gerückt. Er erhält vielmehr in geruhiger Darstellung die ihm zukommende Stellung, als die eines Helden, der einige Jahre der Führer der Sachsen in ihren Abwehrbewegungen gegen die vordringende Übermacht der Franken war, der dann aber seinen Frieden mit König und Christentum schloß und auf seine alten Tage der Schutzherr der Kirche wurde, und der seinen Platz in der Geschichte ebenso sehr als frommer, fast heiliger Förderer des Glaubens und als Ahnherr deutscher Kaisergeschlechter behauptet wie als der Feind des fränkischen Königtums 1 . Weniger aus den Gründen, die heutiger Prüfung als Anzeichen von Bruchstückhaftigkeit und Zwiespältigkeit erscheinen mögen, als aus bescheidenem Erkennen der Grenzen, die seinen eigenen Arbeitsmöglichkeiten an der deutschen Geschichte gesteckt waren, hat Möser seine Forschungen auf die Geschichte seines kleinen Landes beschränkt. Er hat an einer Stelle in der Einleitung zur Osnabrückischen Geschichte dies sehr deutlich zu erkennen gegeben. Er vergleicht dort die Arbeit des Forschers an der Geschichte seines eigenen Einzellandes mit der Teilnahme an dem Schicksal seiner Familie; aber erst aus der Zusammenfügung vieler solcher Familiengeschichten werde ein zukünftiger deutscher Livius eine deutsche Geschichte, wie sie seinem Anspruch genügen würde, schaffen können 2 . Immer aber bleibt in Hinsicht auf die Gründung eines solchen Gesamtwerkes die Forderung Mösers bestehen, daß es alle die Veränderungen, welche den Reichsboden und seine Eigentümer betroffen haben, umfassen müsse. Um den Höchsten unter den von ihm geschätzten Geschichtsforschern zu nennen, Osnabrückische Geschichte 173ff., 265f. 2 ) Ebenda S. X X I V , X X f.

I

(Sämtliche Werke VI)

169,

Widukind; Goethe über Moser, Moser über sich selbst.

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ruft er den Namen Gatterers auf, von dem er meint, daß auch er noch vieles von dem Geschichtsschreiber würde fordern wollen, der eine solche Höhe würde besteigen und das ganze Feld in vollkommenstem Lichte würde übersehen können 1 . Möser hat schon auf die Genossen seiner Zeit eine sehr starke Wirkung ausgeübt; der Größte unter ihnen bezeugt es: Goethe schrieb 1823 von einer Äußerung Mosers als von dem Hauche eines himmlischen Geistes 2 , und bei einem anderen Anlaß, Möser habe ihm »ein Gefühl gegeben, das in ihm gewaltig überhand genommen habe und sich nicht wundersam genug habe äußern können: die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins«. Mit diesem Wort offenbart Goethe eines der Geheimnisse von Mosers Forscherkraft und zugleich eines der stärksten Motive für die Ausbildung des Entwicklungsgedankens. Die cffcnbarendsten Worte über sich hat gewiß Möser selbst gefunden, wenn er, freilich nicht auf sein eigenes Tun bezogen —• dazu war er viel zu bescheiden — von dem Wirken bedeutender Geschichtsschreiber sagt, daß sie auf das Handeln der Staatsmänner, auf Krieg und Frieden ihres Volkes Einfluß gehabt haben; daß das Vertrauen der Fürsten auf ihnen beruhe, und daß ihr Name wohl mit dem Namen der größten Feldherren genannt werden möge 3 . Eine Aussage, die zwar nur allgemein Geltung haben sollte, für den, der sie aussprach, aber wie eine Weissagung wirkt. Zum Heil Deutschlands noch bis auf den heutigen Tag wirksam, aber, wie wir hoffen, noch für viele Zukunft gültig. *) Die bedeutenden Bemerkungen von Meinecke über Möser sind hier nicht berücksichtigt worden; um so notwendiger ist es, darauf hinzuweisen. Meinecke, Über Justus Mosers Geschichtsauffassung (Sitzungsbericht d. Preuß. Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. Klasse [1932] lff.). 2 ) Goethe, Justus Möser. Über Kunst und Altertum IV 2 (1823) 129ff. (Werke XLI [1903] 52). 3 ) Möser, Osnabrück i sc he Geschichte I (Sämtliche Werke VI) S. X X I I f.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Gott, Vorsehung, Natur.

Dritter Abschnitt. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Erstes Stück. Gott,

Vorsehung,

Natur, Organische

Kräfte.

Der Zeitfolge ihrer Werke nach ist von dem Dreigestirn der großen Förderer des Entwicklungsgedankens in Deutsch land Herder als der Letzte aufgetreten; der Breite seines Wollens und doch vielleicht auch der Tiefe seines Wirkens nach war er der Erste. Denn vor Winckelmann sowohl wie vor Justus Moser zeichnet ihn die kaum ermeßliche Fülle des von seinem Denken umspannten Stoffes aus. Doch wird, wenn von Herders Wesenheit gesprochen werden soll, zuerst nicht von seinem Geist, so weitumspannend er war, sondern von seinem Gemüt die Rede sein müssen. I n Herder ist mehr als in irgendeinem anderen unter unseren Großen die deutsche Seele zum Worte gekommen. Daß er die Stimmen der Völker sammelte, um in ihrem Gedicht den Klang ihrer Seele zum Tönen zu bringen und durch die große und doch wieder leise und feine Biegsamkeit seiner hundertfältigen Ubersetzerkunst sie uns wie zum eigenen Besitz zu machen — wie ganz entstammte doch ein solcher Plan einem unsäglich reichen Gemüt, dem freilich ein ebenso reicher Geist dienstbar sein mußte. Der Harfe unserer Dichtung wurden so immer neue Saiten eingefügt: die deutsche Seele erweiterte sich zur Weltseele. Es war ein ganz einzigartiges Geschehen: in keinem anderen Volke wäre damals ein so weltbürgerliches, menschheitliches Tun möglich gewesen. Es war ein Unternehmen ganz aus liebendem Gemüte geboren und gerade darum ganz deutsch, obwohl es dem Gegenstande seines Liebens nach sich weit über Europa und in einigen sehnsüchtig sich ausstreckenden Ausläufern über die Erde fortreckte. Ganz kleine Völker wie Esthen und Letten. Litauer und Morlacken umfaßt er mit gleicher Liebe wie Eng-

Historischer Sinn; Volkslieder; Verhältnis zu Volk und Menschheit 1 9 3

länder und Italiener, Griechen und Römer; aber sein allumfassendes Sehnen greift auch nach Lappen und Grönländern und zuletzt selbst zu Kamtschadalen, Madagassen und Peruanern 1 . Und in vorauseilenden Skizzen hat Herder eine noch viel weiter reichende Erdkarte der Dichtungen entworfen, die er umfassen wollte. Sie schließt auch Sineser, Japaner, Inder, Perser, Araber und Türken, ja noch Amerikaner bis zu den Eskimos ein 2 . In Wahrheit also wollte er das Insgesamt der Menschheit umfassen. Und menschheitlich war das Fühlen, das ihn leitete; zugleich aber ganz deutsch, um der seelischen Fähigkeit willen, so fremde und so mannigfaltige Volkstümer so nahe an sich zu ziehen. Höchst bezeichnend, wie sich das Verhältnis zu Volk und Menschheit zwischen den drei großen Forschern verteilt. Winckelmann umfaßt einen großen Kulturkreis, den der alten Völker, immerhin von einem menschhcitlichen Standpunkt ausgehend, sich hingebend auch von dem eigenen Volk an zwei fremde, in Hinsicht auf den gewählten Lebensbezirk sich begrenzend: auf die Kunst. Moser sich wie mit entschlossenem Trotz einschränkend auf das eigene Volk, den Lebensbezirk der Darstellung aber erweiternd zur vollen Hälfte einer Volksgeschichte, zur Geschichte des handelnden Lebens. Herder erstlich sich ins Weiteste verströmend, den geschilderten Menschenkreis vom Volk zur Ganzheit des Menschengeschlechtes erweiternd und sodann sich auf keinen Einzelbezirk als Gegenstand der Darstellung beschränkend sondern alle Fülle der Lebensformen umfassend. Die Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Herders Beitrag zu dem Werke des großen geschichtlichen Denkens der Deutschen in diesem Zeitalter, sind auf dem gleichen Seelengrunde erwachsen, dem ein Jahrzehnt früher Vgl. die Übersicht Volkslieder nach Nationen geordnet (Volkslieder I [1774] Sämtl. Werke X X V [1885] 646ff.). 2 ) Skizze Herders, von Karohne Herder abgeschrieben (Volkslieder, Sämtl. Werke X X V , S. Xf.). B r e y s i g , Meister der Geschichtsforschung.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Gott, Vorsehung, Natur.

die Volkslieder entsprossen. Doch ist der Anteil des ordnenden Gedankens hier unvergleichlich viel größer. Zwischen den Stimmen der Völker, wie nach Heiders Tode das Werk genannt worden ist 1 , und den Ideen steht die dem Umfang nach sehr kurze, dem umfaßten Gegenstand nach sehr weit ausgreifende Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« von 1774. Der geistigen Haltung nach weit mehr ein Ausdruck glühender Rhetorik als wissenschaftlicher Überlegung, eine Laien predigt, mehr noch von glühender Menschenliebe als von wissenschaftlicher Arbeit zeugend, ist dies Werklein durchblitzt von einer Fülle von Gedanken zu einzelnen Taten, einzelnen Tätern der Geschichte; es gehört auch durchaus in die Reihe der großen Äußerungen zur Ganzheit der Menschheitsgeschichte, aber es wäre nicht wohlgetan, es um seiner selbst willen und für sich zu behandeln, da es ja im Zuge der Geschichte des herderischen Denkens nur die Vor- und Keimstufe der Ideen darstellt. Nur aus einem Grunde muß dieser Vorbotenschrift gedacht werden: sie war in der Empfängnis des Hauptgedankens schon der erste und wenn man will der entscheidende Sieg auf der Bahn von Herders geschichtlichem Denken: sie faßt in aller Bewußtheit die geistige Notwendigkeit einer einheitlichen Gesamtsicht über die Geschichte des Menschengeschlechts ins Auge. Herder hat, und dies war bei seinem Unternehmen von vornherein ein Fehler, durch den Zusatz Philosophie der Geschichte sein Werk in einen falschen oder wenigstens in einen schiefen Blickwinkel gerückt. Denn in Wahrheit waren alle leitenden Gedanken, die ihn bei seinem Werk bestimmten, gerade nicht philosophische, sondern von Grund aus erdgewachsene, aus dem fruchtbaren Mutterboden lebendiger Wirklichkeit entsprossene, und so war es von vornherein zum mindesten eine Irreleitung des Lesers, ') Doch immerhin auf dem Grund einer Herderischen Benennung. Vgl. Kühnemann, Herders Leben (1895) 401.

Die Ganzheit der Geschichte als Absicht der Ideen; Kant.

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der Aufschrift des Werkes diesen Zusatz zu geben. Und wie denn auch im Reich der Gedanken keine Wirkung ohne Gegenwirkung bleibt, so nimmt sich die übermäßig harte Kritik, die der heimliche Herrscher im Reich der Philosophie an Herders Werk übte, wie eine Rache für diesen Mißgriff aus. In der Rezension, die Kant, ohne dazu einen eigenen Anlaß zu haben, in der Allgemeinen Literaturzeitung 1785 erscheinen ließ, kritisiert er in der scheinhöflichen Form, die an sich nicht weniger verletzt als der offene Angriff, Herders Ideen um deswillen, weil der Ausdruck Philosophie nicht etwa eine logische Pünktlichkeit in Anwendung der Begriffe oder eine sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze in sich schließe; er mißt ihm vielmehr nur die Fähigkeit zu, für seinen Gegenstand, den er immer nur in dunkler Ferne halte, durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen, und er fügt mit offenbarem Spott hinzu, daß diese Winke von dem Gehalt der von ihnen angedeuteten Gedanken mehr vermuten ließen, als kalte Beuiteilung in ihnen antreffen würde. Kant läßt es an Bemängelungen im einzelnen nicht fehlen, und er schließt mit einer Mahnung an den Verfasser, voll von hochmütigen, von oben nach unten gerichteten Richtweisungen und Ratschlägen für die Zukunft. Dem zweiten Teil der Ideen hat K a n t eine kaum freundlichere Anzeige zuteil werden lassen. Sie schließt, hautaine genug, mit der Ermahnung, Herder möge in seinem Werke ein Muster der echten Art zu philosophieren geben, da ihm alles, was man bisher für Philosophie ausgegeben habe, so mißfällig gewesen sei. Man wird nicht leugnen dürfen, daß gerade die grundsätzlichsten unter den Bemängelungen, die Kant in diesen Anzeigen ausgesprochen hat, zu Recht bestehen; aber ebenso gewiß ist, daß der hochmütig schulmeisternde Ton, in dem Kant seine Kritik vorbringt, ebensowenig der Würde des großen, 1

) Rezensionen von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Kants gesammelte Schriften V I I I [1912] 46, 54f., 65f.). 13*

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Gott, Vorsehung, Natur.

in seiner Wesenheit von dem Angreifer gar nicht verstandenen Gegners entsprach, wie der Haltung, die Kant sich selbst hier auferlegen sollte. Es ist doch nur die Mißachtung eines zwar großen, aber gänzlich dürren Verstandes, die sich gegen ein Ingenium des tiefsten Gemütes, der reichsten Phantasie und eines sehr ausgebreiteten Wissens wandte und ihm das schwerste Unrecht t a t . Herder aber hätte alle diese Kränkung, wie manches objektivere Mißverständnis vermeiden können, hätte er auf die Vermengung seines wahrlich rein erfahrungswissenschaftlichen Unternehmens mit einer Wissenschaft verzichtet, deren Ansprüchen an Begrifflichkeit er seiner Geistigkeit nach nie hätte genügen können und auf deren Verständnis, selbst von einem so durchdringenden Geist wie Kant, nicht zu rechnen war. Zuletzt hat sich Herder mit dem hier allerdings zu Unrecht gewählten Ausdruck Philosophie nur der nicht sehr ernsten und allzu lässigen Sprechweise angepaßt, die dieses Zeitalter liebte. Er mochte mit ihm nur betonen wollen, daß sein Werk mehr noch dem Denken über Geschichte als einer Darstellung von Geschichte gewidmet sein sollte. Hätte er sein Buch schlicht Ideen zur Geschichte der Menschheit genannt, so wäre auch so sein Zweck erreicht worden, und er hätte sich etwas nachdrücklicher zur Fahne der Erfahrungswissenschaft bekannt, der er doch in Wahrheit zugeschworen war. Doch gleichviel ob diese Namengebung zu Recht oder zu Unrecht gewählt war, sie erhebt für Herders Werk von vornherein den Anspruch, für seinen Gegenstand, der an sich doch nur Geschichte und also Erfahrung bedeuten sollte, Leitgedanken aus einer höheren Ebene als der reiner Erfahrung zu entleihen, Ordnungsgedanken, die dem geschichtlichen Stoffe selbst nicht zu entnehmen waren. Es sind hohe, Welt und Menschheit lenkende Gewalten, die Herder über aller Geschichte mächtig wirkend sieht. Wie aber könnte unter diesen Gewalten Gott fehlen, ja nicht selbst die regierende sein. Herder war von Haus aus Gottesgelehrter, er verwaltete ein hohes Priesteramt der Kirche.

Lenkende Gewalten; der persönliche Gott; wechselnde Lehren. 197

Es war unmöglich, daß er diesen Gott, zu dem er betete, nicht auch in seinem Werk hätte bekennen sollen. Nicht an vielen, aber an sehr starken und keineswegs versteckten Stellen ruft Herder den Gott an, den er als eine personenhafte Gestalt verehrt. »Großer Vater der Menschen, welche leichte und schwere Lektion gabst du deinem Geschlecht auf Erden zu seinem ganzen Tagewerk auf« 1 . Herder spricht von Gott als einem die Menschheit beständig leitenden Erzieher: die Seele wird ihm von dem Allgütigen wie ein Kind gegängelt. Und Gott ist am Werke, sie zur Fülle des wachsenden Genusses, im Wahn eigen erworbener Kräfte und Sinne allmählich zu bereiten 2 . Zu einem tief in das geschichtliche Erleben der Menschheit eingreifenden Lehrer und Erzieher des Menschengeschlechts wird ihm Gott an bestimmten bedeutenden Stellen des Entwicklungsganges der Menschheit : dort wo es sich um den Ursprung der Sprache, der Religion und den Unterricht der ersten Menschen handelt. Gott selbst, sagt er insbesondere von dem Glauben, aber auch von der Sittlichkeit, muß dem Menschen Religion und Humanität eingegeben haben 3 . Selbst wer nur in so wenigen Worten, wie es hier geschehen, von der Stellung Herders zu einem persönlichen Gott zu berichten gedenkt, wird inne, daß er auch in dieser ihn am tiefsten berührenden Sonderfrage nach den Gewalten der Weltlenkung nicht eine einheitliche oder entschiedene Lehrmeinung ausgebildet hat. Es sind, wie immer wieder in dem geistigen Geschehen Herders, seelische Stimmungen und Erregungen, die ihn bei der Festsetzung seiner Auffassungen und Lehren bestimmen und ihn so oft den Gesichtswinkel seiner Welt- und also auch Gottanschauung wechseln lassen. Herder ist ein erklärter Verfechter des Allgottesglaubens geworden, er will Gott, von dem er an sich annimmt, daß er im Weltgeschehen dasei und lebe, doch in ihm Ideen I I I (Sämtl. Werke X I V ) 233. ) Ideen I ( S ä m t l . Weike X I I I ) 199. :! ) Ideen I I (Sämtl. Werke X I I I ) 394.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Gott, Vorsehung, Natur.

nicht ganz aufgehen lassen. Dem Dasein Gottes wird eine Transzendenz beigemessen, auf die Herder nie verzichten will. Aber zugleich ist in ihm eine Scheu lebendig, die ihn davon abhält, dem persönlichen Gott eine allzu weit hervortretende Stellung in seinem Lehrgebäude zu geben. »Ich wollte«, so drückt er es aus, »diesen hochheiligen Namen, den kein erkenntliches Geschöpf ohne die tiefste Ehrfurcht nennen sollte, durch einen öfteren Gebrauch, bei dem ich ihm nicht immer Heiligkeit verschaffen konnte, wenigstens nicht mißbrauchen. Bei der eigentümlichen Geistigkeit Herders war aber ein Verhalten zu Namen und Begriff des persönlichen Gottes in keine Wege entscheidend für seine Stellungnahme gegenüber dem Gedanken der Weltlenkung. Im Gegenteil, die Begriffe, die, wie man es mit Glück ausgedrückt hat, in seiner Lehre eine vikariierende Funktion neben dem Gottesbegriff ausübten, waren nicht nur mehrere an der Zahl, sondern sie wurden in Herders Darlegungen offensichtlich gegenüber dem Gottesbegriff bevorzugt. Und es ist höchst bezeichnend für die weiche und schwankende Weise, mit der er seine Begriffswahl selbst in so grundsätzlichen und entscheidenden Punkten wie dem Umfang der Gewalt und der Beschaffenheit des Wesens des die Welt lenkenden Gottes einrichtete, daß von dem persönlichen Gott abwärts eine ganze Stufenleiter von sehr verschiedenen Namen bis zu den organischen Kräften, d. h. der unpersönlichsten Formel in dieser Reihe leitet. Die erste Staffel auf dieser Leiter ist mit dem Begriff Vorsehung erreicht —• ein Name, der freilich selbst wieder nicht ganz klar ist. Er kann nämlich eine Betätigung Gottes bedeuten und ist dann durchaus mit dem Begriff eines persönlichen Gottes zu vereinigen; er kann aber auch als »vikariierende«, als stellvertretende Bezeichnung der göttlichen Gewalt selbst auftreten und ist dann sonder Zweifel als das Erzeugnis einer ersten Versachlichung und damit einer M Ideen I (Samt!. Werke X I I I ) 10.

Der Begriff der Vorsehung; doppelte Bedeutung.

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den Begriff Gottes als einer Gestalt erweichenden, ja sie geradezu entpersönlichenden Umbildung anzusehen. Bei Herder finden sich nun als Bedeutungen, die er dem Begriff Vorsehung leiht, nach beiden Seiten hin ausschlagende Pendelschwingungen. Wenn er von einer Vorsehung redet, die auf die Völker wirken wollte, und wenn er in Hinsicht auf ein Einzelereignis der Geschichte von einem Eingriff der Vorsehung spricht, so kann, ja muß beide Male der Begriff Vorsehung als mit dem Walten eines persönlichen Gottes durchaus vereinbar angesehen werden. Wenn bei der zweiten Gelegenheit Herder die Vorsehung dafür preist, daß sie durch die Zerstörung Jerusalems der Abschließung ein Ende gemacht habe, durch die das Volk Israel, dies sogenannte einzige Volk Gottes, sich mit unausweichlicher Härte von allen Völkern der Erde abgeschieden habe, so kann eine solche geschichtliche Einzelhandlung durchaus nur einem persönlichen Gott beigemessen werden 1 . Wenn er aber von der Vorsehung aussagt, daß sie sich in der Welt, d. h. in ihrem gesamten Geschehen offenbare, so ist dies im Grunde schon ein Übergang zum Allgottesgedanken, zum Pantheismus, und man erkennt, wie für Herder der Begriff Vorsehung geradezu zur Brücke für eine vollzogene Entpersönlichung der Gottesgestalt geworden ist. Und wenn er vollends an einem anderen Ort seines Lehrgebäudes sagt, daß das Werk der Vorsehung in seinem ewigen Gange nach allgemeinen Gesetzen fortgehe 2 , so kann hier auch nicht mit dem leisesten Gedanken mehr die Vorstellung eines persönlichen Gottes festgehalten werden; der Übergang zu einem pantheistischen oder allenfalls panentheistischen Deismus ist vollzogen. Der Name Vorsehung ist also keineswegs eine Schutzwehr gegen einen impersönlichen Gottesgedanken, sondern weit eher eine Maske für ihn. Doch Herder ist auf dieser Staffel nicht stehen geblieben. l s

) Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 294. ) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 203.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Gott, Vorsehung, Natur.

Er war ja auch ein Genosse seiner Zeit und ihren Regungen gänzlich offen, den lebendigsten, und das will doch auch besagen ihren neuerungslustigsten, ja ihren revolutionärsten, am meisten. Und so kam er dazu, den Begriff Natur einzusetzen, wo ihm jede auch noch so sehr maskierte Gottesvorstellung nicht mehr zureichte, um der anderen in ihm wirksamen Geistesrichtung ein Genüge zu tun. Denn Natur war ihm das Bild und Zeichen für alle die sehr welthaften Vorstellungen, die ihn durchaus nicht bei einer im christlichen Sinne überlieferungstreuen Denkweise verharren ließen. Herder wäre freilich nicht Herder, wollte er sich nicht auch diesen, den weltmäßigsten Begriff in eine nahe Beziehung zum Gottesbegriff setzen. Es ist in diesem Sinne, wenn er schon in der Vorrede zu seinen Ideen, einem Zeugnis seiner gesteigertsten Gedanken und seiner höchsten Sprachkraft, es rechtfertigt, daß er den Begriff Natur personifiziert gebrauche. Er will damit einmal zwar sich entschuldigen, daß er diesen Begriff in so große Nähe zum Gottesgedanken bringe, aber er will andererseits doch auch fortrücken von dem für sein neues Empfinden allzu menschennah verpersönlichten Gottesbegriff. Diese Synthese — ein wässeriges Modewort, dem man in diesem Fall aber kaum entgehen kann — ist recht nach seinem Sinn: wenn ihm sein Bestreben dies eingibt, liebt er es über alles, noch die polaren Gegensätze zu einer Einheit zusammenzuschweißen, obwohl diese Einheit mehr dem Gefühlsdrang seines liebenden Gemütes als begrifflichen Haltbarkeiten entspricht. So wendet er sich in den entscheidenden Sätzen seiner Vorrede zuerst nicht gegen den allzu sehr vermenschlichten Gottesgedanken, wie man allenfalls vermuten könnte, sondern gegen den allzu verpersönlichten Naturbegriff, den man ihm unterschieben könnte. Er erklärt, die Natur sei kein selbständiges Wesen, sondern Gott sei Alles in seinen Werken. Wem der Name Natur durch manche Schriften seines Zeitalters sinnlos und niedrig geworden sei, der denke sich statt dessen jene allmächtige Kraft, Güte und Weisheit und

Versachlichung, nicht Symbolik des Naturbegriffs.

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nenne in seiner Seele das unsichtbare Wesen, das keine Erdensprache zu nennen vermag 1 . Hätte Herder sich wirklich ganz auf die Seite des persönlichen Gottes gestellt, so könnte man ruhig die Frage aufwerfen, weshalb er überhaupt den so weit nach der anderen Seite hinüber neigenden Begriff der Natur gebraucht hat. Aber auch an mehr als einer Stelle der Darstellung findet jenes allgemeine Programm eine Ausführung, die dem ihm zugrunde liegenden Leitgedanken wenig entsprach. So wenn er von den Absichten der Natur bei allen Bedürfnissen der Menschen sprach 2 ; wenn er erklärte, es würde den Zwecken der Natur widersprechen, wenn der Affe bei halber Vernunft mit der Sprache ausgestattet worden wäre 3 , oder wenn der Mensch von seinem hohen Standpunkt in der Natur zurücksinken und wieder Pflanze werden sollte 4 . Er rühmt von der Natur, daß sie alle ihre Menschenformen auf der Erde erschöpft habe, damit sie für jede von ihnen in ihrer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuß hätte, mit dem sie den Sterblichen durchs Leben hindurch täuschte 5 . Am persönlichsten und schlechthin menschennächsten ist die Beobachtung gehalten, in der er von der Natur sagt, sie hätte den Zweck und Charakter ihrer Geschöpfe am besten kennen müssen. Die offenbare Absicht der Natur, heißt es an anderem Ort, war es, daß alles auf der Erde gedeihe, was auf ihr gedeihen kann. Es heißt sogar von der Natur, daß sie ein unfehlbares Mittel sei, der Humanität aufzuhelfen 6 . Und ein so spezialisiertes Geschehen wie die Erfindung der Buchdruckerkunst wird unter den gleichen Gesichtswinkel gestellt. An einer weiteren Stelle taucht der Plan der gesamten Natur auf, und es ist die 2

) 3 ) 4 ) 5 ) 6 )

Ideen I (Sämtl. Werke X I I I ) 10. Ideen I (Sämtl. Werke X I I I ) 191. Ebenda 140f. Ebenda 181. Ideen I I (Sämtl. Werke X I I I ) 342. Ideen I I I (Sämtl. Werke X I V ) 242.

Sf02

Deutsche Geschichtswerke: Herder: Gott, Vorsehung, Natur.

Rede von Verstand und Rechtschaffenheit, auf welchen der Zweck und das Schicksal unseres Geschlechtes ruhe 1 . Die Naturordnung wird auch als eine die Vorsehung beherrschende, ihr gleichsam vorgesetzte Instanz geschildert und gerade bei diesem Anlaß von dem wundersam langsamen Gang der Vorsehung gesprochen 2 . Ein Anwalt Herders mag hier allenfalls geltend machen, daß, wenn er dergestalt von einem Walten der Natur wie von dem Handeln einer persönlichen Gewalt rede, dies in einem bild- und gleichnishaften Sinne geschehe. Dennoch wird hier auch eine billig denkende Beurteilung soviel bestehen lassen müssen, daß es Herder nie hätte in den Sinn kommen können, hier bei so persönlichem, menschennahem Auftreten der höchsten Weltgewalt nicht von göttlichem Eingreifen oder wenigstens von einem Auftreten der Vorsehung zu sprechen, hätte er, unbeirrt von allen zu dieser Zeit modernen, die überlieferte Weise einhalten wollen. Daß er in solchen Zusammenhängen von der Natur spricht, macht zur Genüge deutlich, daß ihm daran lag, doch immerhin auch von einer nicht göttlich bestimmten Form des Weltund Menschheitsgeschehens zu sprechen. Es ist Herders Geschick gewesen, seinem ganz auf Stimmung und auf das Nachgeben gegen sehr verschiedene Einwirkungen gestellten Wesen so weit zu erliegen, daß Folgerichtigkeit am wenigsten zu seinen Fähigkeiten zählte, und daß er seltsam oft — und zwar innerhalb der gleichen Buchteile — seine Meinung in entscheidenden Punkten wechselte. Er hat sich schon in der Vorrede zu seinen Ideen, an einer Stelle also, an der er die für sein Werk leitenden Gesichtspunkte vor den Augen des Lesers auftreten lassen wollte, ziemlich absprechend über die Einmengung der Metaphysik in die Forschungen, denen er oblag und die ihm als rein empirische erscheinen mochten, geäußert. »Wer bloß metaphysische !) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 252. ) Ebenda 23.

2

Verhältnis zur Metaphysik; teleologische Deutungen.

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Spekulationen will, hat sie auf kürzerem« —• als dem von ihm gewählten —• »Wege; ich glaube aber, daß sie abgetrennt von Erfahrungen und Analogie der Natur eine Luftfahrt sind, die selten zum Ziele führet.« Man wird nicht annehmen können, daß Herder sich je mit aller wünschenswerten Klarheit darüber hat Rechenschaft geben können, wo die Grenze zwischen metaphysischer und empirischer, zwischen Daseinsund Erfahrungswissenschaft zu ziehen ist. Es hätte ihm sonst bewußt bleiben müssen, daß gerade die von seiner Weltsicht am meisten geliebten Begriffe — Gott und Vorsehung — Erzeugnisse metaphysischer Spekulation sind. Aber auch da, wo er nicht mit solchen Grenzbegriffen umgeht, sondern Begriffe von unbedingt metaphysischer Beschaffenheit handhabt, überschreitet er diese Grenze wie ohne sein Wissen und Wollen. Am augenfälligsten macht sich diese Unsicherheit geltend, wo es ihn treibt, seinem Weltbild teleologische Deutungen einzuverleiben. Nun steht es, um hier sogleich mit Entschiedenheit die eigene Meinung zu vertreten, mit dieser wie mit allen anderen Teleologien so, daß eine folgerichtige Erfahrungswissenschaft sie allesamt und zwar grundsätzlich abzulehnen hat. Am wenigsten sollte geschichtliche Wissenschaft sich auf das Wagnis irgendeiner Ziellehre einlassen. So wenig irgendein allumfassender Kausalismus, jede nicht auf das sorglichste eingeschränkte Verursachtheitslehre ihren unangefochtenen Platz innerhalb irgendeiner Vergangenheitsbetrachtung beanspruchen kann, so wenig sollte diese eine Lehre über Zielstrebigkeiten aufstellen. Herder aber war gerade von solcher Vorsicht weit entfernt. Nicht als ob er die Notwendigkeit dieser Vorsicht völlig verkannt hätte; im Gegenteil, er ist von ihr und von der Gefahr aller Zwecklehren völlig durchdrungen. Er hat zuweilen gegen sie die grundsätzlichsten Ablehnungen ausgesprochen. So wenn er erklärt: die Philosophie der Endzwecke hat der Naturgeschichte keinen Vorteil gebracht, sondern ihre Liebhaber vielmehr statt der Untersuchung mit scheinbarem

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Deutsche Geschiehtswerke: Herder: Gott, Vorsehung, Natur.

Wahn befriedigt; wieviel mehr die tausendzweckige, ineinander greifende Menschengeschichte 1 . Er hat in den schönen Gesprächen, die er Gott genannt hat, in denen er ihrer ganzen Haltung nach noch weniger wie sonst sich der Strenge rein wissenschaftlicher Folgerichtigkeit unterwirft, eifervoll genug gegen die Absichtendichter in aller Weltweisheit gesprochen 2 . Nun aber war Herders Schicksal, daß er, wenn er in den höchsten Fragen einmal eine sehr entschiedene Meinung aussprach, kein Hemmnis in seiner Seele fand, das ihn verhindert hätte, das Gegenteil auszusprechen, falls ihn nur auch nach dieser Seite eine Verlockung zog. Das aber war in dieser Frage im höchsten Maße der Fall: er selbst gesellte sich den Absichtendichtem zu, auf die er noch eben so hart gescholten hatte. Er beginnt damit, von Zwecken Gottes zu sprechen und es bedeutet ihm gleich viel, ob er von solchen Zwecken im allgemeinsten, diesmal also durchaus metaphysischen, rein daseinswissenschaftlichen Sinn redet oder in ganz besonderer Anwendung auf nunmehr naturwissenschaftliche Gegenstände. Von jenen allgemeinen Zwecken Gottes sagt er, sie würden überall erfüllt; einen Fall dieser besonderen Zwecke Gottes stellt in seiner Lehre die unregelmäßige Gestalt der Erde dar 3 . Doch bleibt Herder nicht stehen bei den Zwecken Gottes, von denen ja erkenntniswissenschaftlich zu sagen wäre, daß sie dem Begriff des Zweckes, insofern er als menschlich aufgefaßt würde, am nächsten stehen würden. Er schreitet vielmehr auch zu unpersönlichen, also rein sachlichen Zwecken des Weltgeschehens vor, die er offensichtlich als ihm immanent, ihm einbehörig auffaßt. Wir müssen, so fordert er, den Zweck kennen, nach dem »so mancherlei in diesem großen Garten der Natur sprossen mußte 4 «. J a er verlangt vom *) ) 3 ) 4 ) 2

Ideen III ( Sämtl. Werke X I V ) 202. Herder, Gott, 1787 (Sämtl. Werke X V I [1887] 487). Ideen I (Sämtl. Werke X I I I ) 69, 181, 42; II 318. Ebenda 148.

Absichtendichtung; Abwandlungen der Zwecke.

205

Menschen, daß er den Zweck seiner Bestimmung kennen müsse, dessen wir so sicher sein müßten, als Gottes und unseres Daseins. Dieses Sachgepräge von unpersönlichen Zwecken tritt da am deutlichsten hervor, wo er von der Natur als der Inhaberin dieser Zwecke spricht. Er redet von Absichten der Natur, die auf den Fortschritt hinweisen, was unter genaue Beleuchtung gestellt schon fast peinlich anthropozentrisch wirkt 1 . Dann wieder wird ihm die Natur unter seinen stets wandlungslustigen Händen zur Trägerin schlechthin metaphysischer Fähigkeiten; so wenn er sagt, die Natur müsse entweder allenthalben ihren Zweck erreicht haben oder sie erreiche ihn nirgend 2 . Dies ein Satz, von dem auch ein Verehrer Herders wird zugeben müssen, daß man sich bei strengem Folgern unter ihm schlechthin nichts Weiterführendes vorstellen kann; Zwecke sind an sich, wenn nicht als Synonym von Absichten auf Einzelhandlungen von Menschen oder von Menschengemeinschaften bezogen, das überflüssigste Denk gebilde von der Welt. In der Setzung Herders ist höchstens die zweite Hälfte der Überlegung wert. Es ist auch nicht an dem, daß Herder, der 1787 in der schönen Schrift Gott als ein eifriger Gegner der Absichtendichtung aufgetreten war, in den späteren Büchern der Ideen — von 1787 bis 1791 —• sich von der Zweckauffassung abgewandt hätte 3 ; er spricht immer von neuem vom Zweck des Schöpfers, vom Plan der Natur und in ähnlichem Sinne. Er blieb also auch in dieser an sich großen Angelegenheit zwiespältig in seinen Vorstellungen, die wirklich immer mehr Erzeugnisse eines Glaubens, und zwar eines vielfach wandelbaren Glaubens, als einer wissenschaftlich fest begründete Lehre waren. M Ideen I (Sämtl. Werke X I I I ) 189, 181. Ideen I I ( S ä m t l . W e r k e X I I I ) 3 1 8 . 3 ) Wie Waentig (Comte und seine Bedeutung für die Entwicklung der Sozialwissenschaft [1894] 34) b e h a u p t e t ; dagegen Posadzy (Der entwicklungsgeschichtliehe Gedanke bei Herder [1906] 42). 2)

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Gott, Vorsehung, Natur.

Und Herder, gleich als könne er sich nicht ersättigen, gelangt schließlich auch noch zur Aufstellung eines fünften Denkgebildes, dem er die beständige Beeinflussung und Lenkung des Menschheitsgeschehens beimißt. Es sind die organischen Kräfte, die in etwas wohl, wie wir unter einem solchen Begriff vermuten möchten, in eine biologische Weltsicht hinübergreifen, die aber auf diesen Bezirk, der ihrem Ursprung entsprechen mag, nicht eingeschränkt bleiben. Unklar und doppeldeutig zwar ist auch die Verwendung des Begriffs der allgemeinen Kräfte von Anbeginn. Wir sind geneigt, sie mehr noch als andere Begriffe Herders als vollkommen entpersönlichte, als sachliche Denkgebilde aufzufassen. Dennoch treten sie bei ihm auf als Funktionen Gottes: sie sind das Bindeglied zwischen Gott und der Welt. Sie strömen aus Gott, aber indem sie sich der Welt einverleiben, geben sie ihr und ihren Teilen Leben und Kraft. »Die Materie unseres Körpers — das ist das stärkste Beispiel dieses Vorganges •— war da, aber gestalt- und leblos, ehe sie die organischen Kräfte bildeten und belebten 1 «. Man wundert sich bei dieser supranaturalistischen, in Wahrheit übernatürlichen Lehre nicht, daß man das Pneuma der Stoiker, wie es ihm durch Shaftesbury übermittelt war, zur geschichtlichen Erklärung herangezogen hat. Völlig abwegig erscheint nur, daß man auch die platonischen Ideen hat in diesen Gedankenkreis einbeziehen wollen. Man ist hierzu wohl nur deswegen verleitet worden, weil Herder selbst, um seinen Begriff Organische Kräfte zu stützen, den Namen der Ideen benutzt hat. »Jede Kraft«, so erläutert er seine Gedanken einmal, »wirkt ihrem Organ harmonisch; denn sie hat sich dasselbe zur Offenbarung ihres Wesens nur zugebildet. Sie assimilierte die Teile, die der Allmächtige ihr zuführte und in deren Hülle er sie gleichsam einwies.« »Sie wirkte als ein Organ der göttlichen Macht, als eine tätig gewordene Idee seines ewig dauernden Entwurfs der Schöpfung, und so mußten sich !) Ideen I (Sämtl. Werke XIII) 174.

Organische Kräfte; Schwäche und Stärke Herderscher Deutung 1 .

207

wirkend ihre Kräfte mehren 1 «. Von der unsichtbaren Kraft nimmt er an, daß sie nicht willkürlich bildet, sondern daß sie sich ihrer inneren Natur nach gleichsam nur offenbart. »Sie wird«, so fährt er fort, »in einer ihr zugehörigen Masse — fast nur wie vXrj erscheint dieser Begriff —• sichtbar und muß, wie und woher es auch sei, den Typus ihrer Erscheinung in ihr selbst haben. Das neue Geschöpf ist nichts als eine wirklich gewordene Idee der schaffenden Natur, die immer nur tätig denkt.« Kein Zweifel, es tauchen hier Vorstellungen auf, die auch nach den heutigen Deutungen des Naturgeschehens bis zu den abschließenden Auffassungen Drieschs sich zwar gewiß nicht ungeändert hinnehmen, wohl aber begreifen lassen: der Typus der Wirklichkeit gewordenen Erscheinungen hat die nächste Verwandtschaft mit Drieschs Entelechien. An dem Insgesamt dieser Weltdeutung wird man den mannigfachsten Anstoß nehmen können. Die organischen Kräfte, die hier zu guter oder vielmehr schlimmer Letzt auf die Bühne dieses von hemmungsloser metaphysischer Phantastik beherrschten Weltbildes treten, sind im Sinn von reiner Erfahrungswissenschaft alles andere als eine Bereicherung. Daß sie nicht als qualitates occultae zugegeben werden, wie unter Wiederaufnahme des alten Streites zwischen Descartes und Newtons Anhängern behauptet wird, damit ist wenig gewonnen 2 . Wenn irgendeine behauptete Eigenschaft des Naturgeschehens diese tadelnde Kennzeichnung verdient, so ist es diese. Herders Anschauungen aber behalten trotz aller dieser Mängel und Brüchigkeiten als seelisch-geistiges Gebilde ihren höchsten Wert; eben dies Ausgreifen nach allen, auch den verschiedensten Seiten läßt, so anfechtbar es begrifflich ist, die eine für Herders Geistigkeit entscheidende Eigenschaft erkennen: die nach allen Seiten hin offene Empfänglichkeit seiner Seele. 2

Ideen I (Sämtl. Werke XIII) 174, 177. ) Ideen I (Sämtl. Werke XIII) 10.

208

Deutsche Geschichtswerke: Herder: Entwicklungsgeschichte.

Zweites Stück. Entwicklungsgeschichte

als

Tat.

Eine Übersicht über die teils daseins-, teils erkenntniswissenschaftlichen Grundlagen, die Herder seinen Ideen gegeben hat, ist unentbehrlich, und sie hat in der Form, wie sie hier gegeben wurde, einen Vorzug, den keine wohlgeordnete Übersicht über den Werdegang des entwicklungsgeschichtlichen Gedankens wird missen wollen: sie gibt ein Bild von ihnen, das nach den seinem Gedankengehalt selbst innewohnenden Teilungen und Verbindungen eingerichtet ist. Aber insofern wird auf diese Weise dem von Herders Geistigkeit wachgerufenen Bild ein Unrecht getan, als dann zwar dem Insgesamt seiner Welt- und Geschichtsanschauungen eine zutreffende Wiedergabe zuteil wird, als aber das Auf und Ab seiner Meinungen und die mannigfachen Widersprüche nicht durch die gleichzeitige Darlegung seiner dem Gegenstand selbst gewidmeten Gedankengänge begründet und gemildert werden. Doch mag der Vorteil größer als der Nachteil sein. Auch kommt es ja sicherlich mehr auf die werktätige Ausführung an, die Herder seinen Leitgedanken gegeben hat, als auf diese selbst. Und kein Zweifel, von den ersten Blättern an, die Herder seinem Unternehmen widmet, wird der dankbar Empfangende von Bewunderung für die Gabe und den Geber erfüllt. Schon auf diesen ersten Blättern wird ja die umfassende Kraft offenbar, mit der Herder seinem Werk die Grenzen und die Aufgaben setzt. Er erweist sich schon auf ihnen als der universale Geist, der nicht eher rastet, als bis er beidem, den Grenzen und den Aufgaben seines Unternehmens, die denkbar weiteste Ausdehnung gibt. Indem er sich anschickt, die Entwicklung der Menschheit zu umschreiben, durchdringt ihn die Überzeugung, daß weder nach Raum noch Zeit dieser Gegenstand seine Grenzen früher haben kann, als wo das Weltgeschehen selbst, als

Übersicht über Herders Grundlagen; Absichten des Werkes. 2 0 9

dessen einbehörigen Teil er nach seiner Sehweise ihn ansehen muß, sein Ende findet. Die Entscheidung über diese Stoffwahl fällt schon in dem ersten Abschnitt des ersten von den zwanzig Büchern, in die das Gesamtwerk zerfällt. Herder erhebt, geistreich genug, Einspruch gegen die Auffassung des Sterns, den unser Geschlecht bewohnt, als eines unendlich kleinen Bestandteils von dem Ganzen des Weltalls. Und er begründet sein Bedenken mit der Darlegung, daß es gar nicht auf die Größe oder Kleinheit dieses Erdenstaubes ankomme, sondern auf die unsichtbaren Gesetze, die den Erdenstaub regieren. Die Kraft, so folgert er weiter, die in mir denkt und wirkt, ist ihrer Natur nach die gleiche ewige Kraft, wie jene, die Sonnen und Sterne zusammenhält oder wie jene, die, wie Herders unsterblich schöne Verse lauten, es bewirke . . . Daß Sterne sonder Zahl Mit immer gleichem Schritt und ewig heilem Strahl Durch ein verdeckt Gesetz vermischt und nicht verwirret In eignen Kreisen gehn und nie ihr Lauf verirret 1 ). »Denn alles Dasein«, so fährt er fort, »ist sich gleich, ein unteilbarer Begriff; im Größesten sowohl als im Kleinsten auf einerlei Gesetze gegründet. Der Bau des Weltgebäudes sichert also den Kern meines Daseins, mein inneres Leben auf Ewigkeiten hin. Wo und wer ich sein werde, werde ich sein, der ich jetzt bin, eine Kraft im System der Kräfte, ein Wesen in der unabsehlichen Harmonie einer Welt Gottes.« Metaphysische Gedanken sind wohl eingesprengt, der Grundton aber, der hier angeschlagen ist, ist der einer reinen Erfahrungswissenschaft. Doch ihm wird die Reichweite einer unendlichen Ausdehnung in Raum und Zeit gegeben. Herder geht von diesem Standpunkt sogleich zu einer summarischen Übersicht unserer Kenntnisse von der astronomischen, geologischen und geognostischen Beschaffenheit unseres Sterns über. Wie weit diese Mitteilungen von aller x)

Gott (Sämtl. Werke X V I ) 490.

B r e y s i g , Meister der Geschichtsforschung.

14

210 Deutsche Geschichtswerke: Herder: Entwicklungsgeschichte.

damaligen oder gar unserer heutigen Kenntnis von diesen Dingen abweichen oder mit ihr übereinstimmen, kann kein Gegenstand der hier gegebenen Darlegungen sein. Wichtig für sie aber ist wohl, wenn er etwa Voltaire, mit seinem merkwürdig kurz gedachten »Geschrei« gegen Gott bei Gelegenheit des Erdbebens von Lissabon, in seine Schranken zurückweist; oder wenn er mit allem Recht dartut, daß auch die Rückziehung der Erde in die Sonne und ihren brennenden Schoß nicht an den ewigen Gesetzen der Weisheit und Ordnung irre machen könne; oder wenn er zu dem tiefen Schluß kommt, daß, wenn in einer Natur voll veränderlicher Dinge Gang sei, auch Untergang sein müsse 1 . Die einzelnen Naturgeschichten, die Herder nun in den folgenden Abschnitten entfaltet, sollen hier nicht — und sei es auch nur in den weitesten Umrissen —-wiedergegeben werden. Für den hier verfolgten Gedankengang aber ist wichtig, daß er von Anfang an und mit bewunderungswürdiger Folgerichtigkeit Entwicklungen verfolgt, wie eine der ersten Abschnitt - Überschriften mit hinlänglicher Deutlichkeit zu erkennen gibt, wenn sie lautet: Unsre Erde ist vielerlei Revolutionen durchgegangen, bis sie das, was sie jetzt ist, worden. Und dabei sind nicht etwa nur die einzelnen Wandlungen nacheinander aufgezeichnet, sondern immer wieder lenken sich Herders Gedanken auf die Tatsache des Werdeganges als solchen, und er dringt vor zur Aufstellung von noch allgemeineren Regeln: Gesetzen für das Wesen des Werdens. So wenn er nach einem kurzen Überblick über die Erdgeschichte — die Geogonie wie er sie nennt und von der er sehr deutlich erkennt, wie geringfügig die Anfänge sind, die sie bisher erst hinter sich gebracht hat — erklärt: »Wie dem auch sei, so ist wohl unleugbar, daß die Natur auch hier ihren großen Schritt gehalten und die größeste Mannigfaltigkeit aus einer ins Unendliche fortgehenden Simplizität gewähret habe.« Oder wenn er den Fortschritt, was seine innere BeIdeen I (Sämtl. Werke XIII) 24.

Werdegänge; Regeln des Werdens; Schranken der Wissenschaft. 2 1 1

schaffenheit angeht, so kennzeichnet: »Es wäre schön, wenn hiermit« — mit dem Vorwärtsdringen der Geogonie — »manche als qualitates occultae bisher angenommene Naturkräfte auf erwiesene physische Wesen reduziert werden könnten«1. Es ist für Herder selbstverständlich, die Luft, das Feuer, das Wasser, die Erde nach einander entstehen zu lassen, so wie er die Tierbildung erst der Pflanzenorganisation folgen läßt, wie er Insekten, Vögel, Wasser- und Nachttiere den gebildeteren Tieren der Erde und des Tages voraufgehen läßt, bis endlich nach allem die Krone der Organisation unserer Erde auftrat: Mikrokosmus! »Er,« so fährt er fort, »der Sohn aller Elemente und Wesen, ihr erlesenster Inbegriff und gleichsam die Blüte aller Erdenschöpfung konnte nichts anders als das letzte Schoßkind der Natur sein, zu dessen Bildung und Empfang viele Entwicklungen und Revolutionen vorhergegangen sein mußten2.« An den allgemeinen Beobachtungen, mit denen Herder so oft den Hauptzug seiner Darstellung unterbricht, ist denkwürdig, daß er an ihnen doch auch ihre Grenzen und Schranken hervorhebt und sich dadurch von den Einzelforschern der Naturwissenschaften zu seinem Vorteil unterscheidet, die es bis auf den heutigen Tag so oft daran ermangeln lassen, daß sie die Grenzen ihres Wissens recht deutlich hervortreten lassen, obwohl an ihrer Erkenntnis oft fast ebensoviel gelegen ist wie an dem Besitz der bisher sicher erworbenen Kenntnisse. So wird man es Herder hoch anrechnen müssen, daß er findet, wir könnten zwar an den uns umgebenden Dingen bis in das Kleinste und Roheste ein sehr bestimmtes Dasein wahrnehmen, eine Gestaltung und Bildung nach ewigen Gesetzen, die keine Willkür der Menschen verändert. Wir bemerken, so fährt er fort, diese Gesetze und Formen; ihre inneren Kräfte aber kennen wir nicht, und was man in einigen allgemeinen Worten, z. B. Zusammenhang, Aus>) Ideen I (Sämtl. Werke X I I I ) 22. Ebenda 23.

2)

14*

2 1 2 Deutsche Geschichtswerke: Herder: Entwicklungsgeschichte.

dehnung, Affinität, Schwere dabei bezeichnet, soll uns nur mit äußeren Verhältnissen bekannt machen, ohne uns dem inneren Wesen im mindesten näher zu führen 1 . Ingleichen weit über die in der Regel von dem wissenschaftlichen Zunftbetrieb eingehaltenen Grenzen führt eine andere Neigung und zugleich Fähigkeit Herders: es ist seine Liebe zum Vergleich, die ihn so oft, sei es im Rückblick, sei es seinem eigenen Vorwärtsdrängen noch weit vorauseilend, treibt, über ganze Zwischengebiete fort Fäden zu schlingen, die das scheinbar Entfernteste in die nächste Verbindung und in ein Zusammenwirken zweier Erkeimtnisformen bringt, die sich sonst fremd und fern gegenüberstanden. So hat Herder noch kaum die ersten Schritte in das Pflanzenreich getan, so schlägt er schon die Brücke von dem Geschlechtsleben der Pflanzen zu dem des Menschen2. Dann wieder drängt sich ihm auf, daß Pflanzenreich und Menschengeschlecht die Formen des Wachstums und auch die des Untergangs miteinander gemein haben 3 . Die Darstellung der Ideen handelt mit liebevollem Eingehen von den Analogien und Parallelen, den Entsprechungen und Gleichläufigkeiten, die zuerst das Pflanzen-, demnächst das Tierreich mit dem Menschentum verbinden. Sobald er zum eigentlichen Wesen des Menschen gelangt, ist er bemüht, die Brücken aufzuzeigen, die von seinem Körperbau zu seinem gesellschaftlichen, seinem seelischen Leben führen. Seine allzu teleologischen Vorstellungen treiben ihn an überall Zielstrebigkeiten nachzuweisen, wo reine Erfahrungswissenschaft durchaus nichts anderes als Tatsächlichkeiten festzustellen hat, die sich als gegenwärtige Gegebenheiten und nur vermutungsweise als Gewordenheiten darstellen. Jedes erfahrungsmäßig geschulte Denken versagt ihm hier alle Folge. Was soll man mit Setzungen wie diesen beginnen: der Mensch ist zur Kunst und zur Sprache organisiert, oder: Ideen I (Sämtl. Werke X I I I ) 47. ) Ebenda 53f. 3 ) Ebenda 52.

2

Vergleiche; Verbindungen; soziologische Vorahnungen.

213

er ist zur Humanität und Religion gebildet oder gar: er ist zur Hoffnung der Unsterblichkeit gebildet. Die Voraussetzung für die Behauptungen ist dabei immer, daß Körperbau und Körperbildung die Grundlage und mithin auch den Antrieb für die hier angeblich aufgedeckten Zielsetzungen abgeben sollen. Gleichwohl haben diese an sich zwecklosen Zweckbestimmungen doch einen, wenn auch nach allen Seiten hin eingeschränkten Wert: sie machen aufmerksam auf die Überleitungen, die zwischen den körperlichen und den seelischen Wesen stattfinden und leihen so vornehmlich der seelenkundlichen Gesellschaftslehre manche Unterstützung im Streit gegen jene seltsam weit in die Irre gehenden Lehrmeinungen, die in der Gesellschaftslehre und schließlich auch in den gesellschaftlichen Ordnungen ein reines Geisteserzeugnis sehen wollen. Daß diese Ordnungen aus dem tiefsten Sein des Menschen als eines Gesellschaftswesens hervorgehen 1 , wird von dieser Sehweise völlig übersehen, noch mehr, daß über den Menschen zurück diese Ordnungen ihre Seitenstücke und vermutlich auch ihre Ahnengebilde im Tier- und selbst noch im Pflanzenreich haben. Wenn Herder in den Kapiteln, die er den Wesensähnlichkeiten zwischen Pflanze und Mensch und zwischen Tier und Mensch widmet, diesen Zwecken der Gesellschaftslehre dient, so ebenso in den noch eben besprochenen Abschnitten, die die Zusammenhänge zwischen dem Bau des Leibes und der Organisation der menschlichen Seele, aber auch der der menschlichen Gesellschaft beleuchten. Hier treten überall, auch da, wo nicht der Grundzug zur Zielstrebigkeit sich geltend macht, Hinweise auf Ähnlichkeiten auf, die im selben Sinn einer erfahrungswissenschaftlich eingestellten Gesellschaftslehre als Stütze und Bestätigung dienen können. Vieles, was etwa über das Geschlechtsleben des Tieres und des Menschen ge*) Ich muß hier auf den leider immer noch unveröffentlichten I. Teil meiner Gesellschaftslehre verweisen.

2 1 4 Deutsche Geschiohts werke: Herder: Entwicklungsgeschichte.

sagt ist, läßt solche Werte erkennen: so wenn die Wirkung der Freuden des Gattungstriebes auf das gesellschaftliche Verhältnis der Geschlechter umschrieben wird 1 . Am meisten entfernt sich Herder vom festen Boden erfahrungswissenschaftlicher Tatsachen, wo er dem Fluge seiner stets nach Glut und Begeisterung dürstenden Seele folgt: man mag gern hinnehmen, wenn er das Insgesamt der vom Menschen zu überblickenden Umwelt, das außermenschliche und das menschliche Geschehen, als eine Reihe aufsteigender Formen und Kräfte sieht; aber er tritt schon in ein Reich schöner Träume ein, wenn er in der gegenwärtigen Humanität nur Vorübung, nur die Knospe zu einer zukünftigen Blume und gar in dem jetzigen Zustand der Menschen das wahrscheinlich verbindende Mittelglied zweier Welten sieht 2 . Es entspricht ganz der vorsichtig Schicht auf Schicht häufenden Arbeitsweise Herders an diesem Werk, daß er, noch ehe er zur eigentlichen Geschichte der Menschheit gelangt, einen anthropogeographischen, Erd- und Menschenkunde paarenden Unterbau aufrichtet, durch den er aus der Beschaffenheit von Land und Klima die Voraussetzungen für das Erdenschicksal der Menschheit und ihrer Teile ableiten will. Es ist eine Ubersicht über Körperbau und Hautbeschaffenheit der einzelnen Glieder am Stammbaum der Menschheit, angelehnt an die Voraussetzungen von Boden und Himmel, die ihre Wohnsitze schaffen, und übergehend zu der Körperbeschaffenheit der einzelnen Völker; ein Werkteil von denkbar zweckmäßiger Einordnung in den Gesamtbau des Unternehmens, von Grund aus entwicklungsgeschichtlich im Leitgedanken. Gleichwohl sehnt sich Herder so sehr nach den ganz allgemeinen Beobachtungen, die anzustellen er nun einmal am meisten liebt, daß er schon jetzt, noch ehe er die Ge») Ideen I (Sämtl. Werke XIII) 79, Anra. 1. 2 ) Ideen I (Sämtl. Werke XIII) 189ff., 194ff.

Einfluß der materiellen, höherer der geistigen Bedingungen. 215

schichte auch nur eines Volkes in Angriff genommen hat, Betrachtungen anstellt, die im Grunde nur aus dem Insgesamt der Menschheitsgeschichte abzuleiten wären, an die heranzutreten er bis dahin noch gar nicht gewagt hatte. Kein Zweifel, er kommt auch da zu sehr denkwürdigen Ergebnissen: so wenn er erwägt, daß der praktische Verstand des Menschen wohl durch die Besonderheiten seiner Lebensweise herangebildet werde, daß darüber hinaus aber andere und insbesondere geistige Fähigkeiten und Tätigkeiten seine weitere Ausbildung bestimmen. Es verrät einen tief dringenden Scharfblick, wenn er erkennt, daß die materiellen Bedürfnisse nicht ausreichen, dem Gang einer Kultur die entscheidende Richtung zu geben, daß etwa sehr fruchtbare Länder durchaus nicht Gewähr dafür leisten, daß die Völker, die sie bewohnen, rasche Fortschritte in ihrer Gesittung machen 1 . Es ist erstaunlich, zu wieviel richtigeren Ergebnissen Herders Sicht in dieser Sache, die doch von wahrlich universalgeschichtlicher Bedeutung ist, gelangt als wenige Jahrzehnte später Marx oder gar seine Schule. Herder entscheidet sich hier mit wenigen schlagenden Worten für die Ansicht, daß ganz andere, nicht materielle Gründe den Völkern ihre Wege weisen. Er macht darauf aufmerksam, wie weit die Anwohner der Südsee zurückgeblieben sind, bei an sich keineswegs ungünstigen Bedingungen. Er findet ganz richtig, daß auch die Trägheit, die sich mit der Befriedigung der wenigen nächsten Bedürfnisse begnügt, bestimmend für die Entwicklung eines Volkes werden kann. Marx wären sehr viele und sehr weit in die Irre führende Mißgriffe erspart geblieben, wäre ihm diese Einsicht nicht völlig entgangen. Und noch tiefer war ihm die Erkenntnis verschlossen, über die Herder so völlig verfügte, daß der Glaube die älteste und gewichtigste Tradition der Menschheit begründet hat 2 .

2

Ideen II (Sämtl. Werke XIII) 310ff. ) Ebenda 387ff.

216 Deutsche Geschiohts werke: Herder: Entwicklungsgeschichte.

Und wie selbstverständlich gelangt Herder zu Erträgen der Gesellschaftslehre, die ihm als eine eigene Wissenschaft zu pflegen noch gar nicht in den Sinn kommen konnte. So wenn er Gabriel Tardes großen Fund, seine Lehre von Nachahmung, Überlieferung und Gewohnheit vorwegnehmend, die kaum zu ermessende Einwirkung dieser Handlungsformen des Menschengeschlechts übersieht 1 . Herder hat, was den besonderen Anlagen seines Geistes recht eigentlich entsprach, in diesen am weitesten gespannten Forschungen die größten Erfolge. Seine Mühsal wird größer, sein Glück geringer, wo er sich mit altbefestigten Urteilen und Vorurteilen der Wissenschaft herumschlagen muß, insbesondere dann, wenn diese eich auf Behauptungen des Glaubens stützen können. So mißlingt es ihm völlig, der Genesis oder, wie er sie nennt, der ältesten Schrifttradition von dem Ursprung und den Anfängen der Menschengeschichte ihren rechten Ort anzuweisen. Wie hätte er auch den Berg von Jahrtausende alten Glaubenssätzen, der sich ihm hier entgegentürmte, mit einem Schlage forträumen können. Er unterwirft sich der Überlieferung der Genesis, insofern er an einer göttlichen Belehrung und Umwandlung des Menschengeschlechts in seinen Anfängen festhält; aber wenn er für die Überlieferung von diesem Eingriff der Gottheit in die Geschichte der Menschheit die Formel findet, daß sie hinter dem Schleier einer Fabelerzählung mehr menschliche Wahrheit verberge als große Lehrgebäude vom Naturzustande der Autochthonen 2 , so mag man sich mit dieser Formelgebung als dem Kompromiß zwischen der Kirchenlehre eines großen Glaubenslehrers und den ersten Erkenntnissen einer erst sich zum Licht ringenden Wissenschaft zufrieden geben. Herder sprach hier wohl nur so, wie er an dem Ort, an dem er stand, sprechen mußte. M Ideen II (Sämtl. Werlte XIII) 333ff., 369f. 2 ) Ebenda 435.

Erträge der Gesellschaftslehre; keine Stufenalter.

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Drittes Stück. Asiatische Kulturen. Der Leser, der den Gang von Herders Ideen als ein treulich empfangender Folger zu begleiten sich entschließt, wird mit äußerster Spannung sich dem Teil seiner Darstellung hingeben, in dem dieser Meister der Entwicklungsgeschichte nun wirklich zu der Werk gewordenen Tat sich anschickt und die Geschichte der Menschheit zu erzählen beginnt Aber er wird auch dann, wenn er mit der besonderen Geistigkeit Herders vertraut zu sein glaubt, mit einem Übermaß von Überraschung sich abzufinden haben, wenn er den Anfang und zugleich mit ihm den Stil dieses Werkes kennenzulernen und zu würdigen hat. Und es bleibt doch erstaunlich, daß was ihm auffällt, mindestens ebenso sehr das ist, was diese erste Darstellung, die Herder Sina genannt hat, nicht enthält, wie das, was sie darbietet. Was dem Leser, der sich mit den Fragestellungen heutiger Universalgeschichte diesem Teil von Herders Ideen nähert, zunächst auffallen mag, ist vielleicht, daß Herder, indem er das zwar älteste, zugleich aber von den Anfängen seiner überlieferten Geschichte gereifteste der großen Kulturvölker an den Beginn seiner Schilderung stellte, das Geheiß des englischen Sprichwortes to begin with the beginning am allerwenigsten befolgt hat. Daß er an die Schwelle der Geschichte der Menschheit ein Volk stellt, daß eine lange Jahrhundertereihe seiner Geschichte schon an dem Zeitpunkt zurückgelegt haben muß, an dem es in die Halle von Herders Geschichtstempel eintritt, nimmt doch Wunder. Nicht Ibn Chaldun, noch Vico sind von den großen Vorfahren von Herder so verfahren, und unter seinen Nachfolgern, soweit sie ihm noch einigermaßen geistesgeschichtlich nahe sind, ebenso wenig Comte, Hegel und Marx. Und weil diese stützenden Helfer fehlen, wird man auch dann, wenn man die Maßstäbe der seit 1896 einsetzenden, nach Stufenaltern geordneten

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Deutsche Geschieh ts werke: Herder: Asiatische Eultaren.

Universalgeschichte völlig außer acht läßt, auf diese Lücke aufmerksam machen dürfen. Daß Herder sich so wenig um diese Lücke gekümmert hat, die doch auch für seine Sehweise einen Mangel der Disposition bedeutete, läßt deutlich erkennen, wie wenig er sich um seine Vorläufer, wenigstens um Vico, Sorgen gemacht hat; aber auch dies, daß er außer einer notdürftig zeitrechnungsmäßigen Reihenfolge keinen Ordnungsgrundsatz für das Insgesamt seines Aufbaues in Obacht genommen hat. Ein Abweichen von der sonst als Richtlinie benutzten Zeitfolge bedeutet allerdings die Vorwegnahme der hinterund mittelasiatischen Völker. Doch mag ihn für China das weite Zurückreichen in die Tiefe der Zeiten im selben Sinn beeinflußt haben. Herder hat, das ist denkwürdig, ungefähr die gleiche Teilung wie Hegel gewählt: er hätte ebenso wie dieser die Gruppe außereuropäischer Völker, die er abtrennt, als orientalischen Völkerkreis bezeichnen können. Doch ist das innere Verfahren, das Herder innerhalb der einzelnen Volksgeschichten einschlägt, um seiner Eigentümlichkeit willen ebenso denkwürdig wie die Gesamtanordnung. Die Sehweise, in der er schon im ersten Abschnitt China erscheinen läßt, ist erstaunlich bis zur Unbegreiflichkeit. Es ist, als habe er sich zum Grundsatz gemacht Kulturgeschichte, aber auch nach Möglichkeit nur Kulturgeschichte vor seinen Lesern abrollen zu lassen: es ist, als habe er Staat und staatliches Geschehen so weit als ihm nur immer möglich in den Hintergrund drängen wollen. Ihm kommt es gar nicht in den Sinn, eine auch nur in den leisesten Umrissen angedeutete Geschichte des äußeren Schicksals von China zu geben. Daß zuletzt doch auch das Verhalten eines Volkes im Krieg und gegen andere Völker, seine Fähigkeit sich äußerer Angriffe zu erwehren, seine Kraft Eroberungen zu machen einen Bestandteil seiner Kulturgeschichte ausmacht, diese Erwägung scheint ihn in diesem Teil seines Werkes — im Unterschiede zu späteren — nicht beeinflußt zu haben. Ja,

Chronologische Ordnung; China.

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nicht einmal die Verfassung dieses Staatswesens beschäftigt ihn ernstlich; er findet sie mit wenigen Worten ab. Herder hat, was er nun wirklich zum Gegenstand seiner Darstellung machen will, nicht eigentlich ausgesprochen oder durch eine grenzsetzende Bezeichnung kundgetan. Er braucht noch nicht den Namen Kultur- oder Sittengeschichte, obwohl diese beiden allenfalls seiner Absicht, soweit er sie verwirklicht hat, am nächsten kommen. Seine Geschichte geht namenlos in die Welt. Dabei deckt sich selbst ein so weit gespannter Begriff wie der der Kulturgeschichte nicht mit der Ausführung. Am meisten mag verwundern, daß Herder dem Glauben der Chinesen nicht die mindeste Rücksicht schenkt; auch ihre Kunst, ihre Wissenschaft werden mit den dürftigsten Worten abgefunden. Der Geist der Chinesen wird ganz einseitig durch eine nicht eben weitsichtige Kennzeichnung ihrer Sprache, ihrer Schrift dargestellt. Die VerSchnörkelang der Schrift, die Seltsamkeit des Sprachbaus werden hervorgehoben. Der Familiensinn, die starke Betonung der kindlichen Pietät gegen die Eltern steht im Mittelpunkt des Interesses; selbst die Verfassung wird durch sie erklärt. Es kann nicht ausbleiben, daß Herder bei so kurzem Verfahren mancherlei Mißgeschick zustößt: so wenn er behauptet, der Geist des chinesischen Volkes sei weder kriegerisch noch denkend, und dies gesagt von einem Volk, das auf Jahrtausende hin das gewaltigste Reich der Erde erobert und ebenso lange festgehalten hat, und das seiner Grundanlage nach eines der rationalsten der Menschheit war 1 . Nur zuweilen machen sich Gedanken geltend, die Herder auf der Spur zu wahrhaft universalgeschichtlichen Entdeckungen zeigen: so wenn er sieht, daß China eine LehensVerfassung hervorgebracht hat, wenn er die Vorliebe der Chinesen für Geschichtsschreibung sieht, wenn er die Ähnlichkeiten zwischen China und Ägypten beobachtet 2 . ») Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 12, 16. 2 ) Ebenda III 7, 14, 77.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Asiatische Kulturen.

Nur als Anhängsel des chinesischen Gesittungskreises werden Cochinchina, Tonking, Laos, Korea angesehen. Und selbst Japan wird nicht eigentlich einer eigenen Geschichte würdig befunden. Ihm wird nur der Rang eines abhängigen Nebenbildes zuerkannt. Ein leiser Beweis für die Unmöglichkeit geschichtlicher Weissagungen ist die Voraussage, daß die Japaner ebenso wie die Chinesen nie zu einer höheren Stufe von Geist und Wissenschaft gelangen würden 1 . Wenn Herder, die Reihe der subchinesischen Kulturen verfolgend, sich Tibet zuwendet, kommt er zum erstenmal zu einer Einzelschilderung, die dem inneren Bestreben einer Kulturgeschichtsschreibung Genüge tut. Es ist zwar nicht eigentlich begreiflich, warum er, von den wesentlich roheren Glaubensformen zu einer unvergleichlich viel höheren, weit gereifteren Religion wie dem Buddhismus übergehend, nicht diesen in die Mitte seiner Betrachtungen stellt, warum er nicht, was ein noch schmerzlicherer Mißgriff seiner Disposition ist, zuerst Indien und den von ihm empfangenen und gezeugten Glauben — das Brahminentum und den aus ihm entstandenen Buddhismus — vor den Augen seines Lesers erstehen läßt; wohl aber gelingt es dem Forscher hier und hier zum erstenmal, das Gesamtbild eines Volkes um die Mitte seiner Geistigkeit und zwar seines wertvollsten Erzeugnisses, seines Glaubens entstehen zu lassen. Herder erkennt mit echt universalgeschichtlichem Blick die Einzigartigkeit des tibetanischen Caesaropapismus, den er ganz treffend ein geistliches Kaisertum nennt. Er schildert Zusammenhang und Gegensatz zwischen dem mongolischen Volk und der Priesterherrschaft der Lamas und ihres Oberhirten, des Dalailama. Er erkennt hier mit mehr geistiger Freiheit und. größerer Gerechtigkeit die inneren Werte des Buddhaglaubens an und beobachtet die außerordentliche Wandlungsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit dieses Glaubens in den Ländern, die er missioniert hat 8 . >) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 18f. 2 ) Ebenda III 20ff.

Tibet, Buddhismus; vorderer Orient.

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Bis zu einem gewissen Grade bereitet der Abschnitt Indien dem Leser der Ideen neue Enttäuschungen: weder ist der Glaube der Brahminen, noch der Buddhas mit Eindringlichkeit geschildert und gewertet; auch leitet, was zur politischen Würdigung des an sich in die Mitte gestellten Vier-Kastenbaus gesagt ist, nicht zu der staatlichen Verfassung oder gar zu der — wie immer völlig vernachlässigten —• äußeren Geschichte. Indem Herder von den hinter- und mittelasiatischen Reichen zu denen des vorderen Orients übergeht, macht er eine entwicklungschronologische Bemerkung von höchstem Wert: er stellt fest, daß jene Völkergeschichten sich auszeichnen durch die über Jahrtausende fortreichende Beständigkeit ihrer Reiche, diese durch die Kurzlebigkeit ihrer staatlichen Bildungen 1 . Er bringt diese in Zusammenhang mit dem von Asien her sich ergießenden Völkereinfalle: er nennt den vorderen Orient einen Garten der Verwüstung. Diese Beobachtung ist von um so größerem Gewicht, als Herder mit ihr —• und zwar hier zum erstenmal — von der Stufe vergleichender Universalgeschichte zu der höheren Ebene der Geschichtslehre, d. i. einer theoretischen Zusammendrängung von den Ergebnissen jener, aufsteigt. Gewiß noch ohne sich dessen bewußt zu werden, daß er hierin Hand an eine neue Wissenschaft legte, in diesem Betracht also hinter seinem großen Vorgänger Vico zurückbleibend. Und noch weiter in ähnlicher Richtung vordringend, macht Herder die gleich hoch zu wertende Beobachtung, daß im vorderen Orient, zu dem er, ohne das Wort zu gebrauchen, völlig richtig die westasiatischen Kulturländer und das nordostafrikanische Ägypten rechnet und so einen eng zusammengehörigen Kulturkreis als geschichtliche Einheit sieht, eine solche Fülle technischer Erfindungen, von Errungenschaften des Geistes vornehmlich in den Naturwissenschaften her1 ) Wieviel von diesen Beobachtungen einzugrenzen ist und wieviel doch auch ihrer Tragweite nach hinausreicht über die Feststellungen heutiger Geschichtsforschung, dazu vgl. Vom geschichtlichen Werden III (Der Weg der Menschheit 1928) 327ff., 320f.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Asiatische Kulturen.

vorgebracht worden ist, wie nirgends außer in Griechenland lind Rom für unsere — die neueuropäische •— Kultur vorgearbeitet worden ist. Doch ist Herder nicht das chronologische Glück zuteil geworden, daß er die Kulturleistung der Babylonier und Assyrer auch nur zum kleinsten Teile in ihren Überresten hätte würdigen können; der Tag der Forschung war für diesen Teil der Menschheitsgeschichte noch nicht angebrochen. Herder hat aber den geistigen Rang der Babylonier mit gutem Blick sehr hoch gewertet. In Hinsicht auf die Perser entschließt er sich gewissermaßen wider Willen und gegen seine Neigimg, einmal das oberste Grundgesetz seiner Forschung zu vernachlässigen und von ihren staatlichen und kriegerischen Taten weit mehr als von ihren geistigen Leistungen zu berichten. Es geschieht höchst bezeichnenderweise in der Gestalt lauter Klagen, in die dieser Verkünder friedevoller Geistigkeit ausbricht, um die törichte Grausamkeit und die nur sich selbst verderbende Zerstörungslust der Könige und der ihnen folgenden Völker zu geißeln, die ihr Tun in der Eroberung und Beherrschung von Ländern erschöpfen. Als einzige Kulturtat der Perser muß ihm so der Glaube Zoroasters gelten. Wer um Herders Seele weiß, den beschleicht dann, wenn er im Zuge des Ganges seiner Ideen sich dem Abschnitt Hebräer nähert, die Ahnung, daß er hier einen der höchsten Gipfel in dem Gebirge des Werkes besteigen werde. Und in der Tat hat Herder hier dem Scharfblick seines Sehens, aber auch dem vollen Klang seiner Sprache nach eine der höchsten seiner Leistungen vollbracht. Man wird nicht leicht ein Ende finden, unternimmt man es, die Stärken seines menschheitsgeschichtlichen Sehens, aber auch die Tiefen seines gläubigen Fühlens zu ermessen, die hier erkennbar werden. Schon die ersten Reihen, mit denen er diese Erzählung des Schicksals der Juden eröffnet, die man mit Recht mit einen Wort Justus Mösers eine Epopöe nennen könnte, bedeuten ein Gewaltiges an geschichtlichem Tiefblick.

Babylonier, Perser; jüdischer Glauben; Moses.

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Herder beginnt mit einer denkbar begeisterten und denkbar gerechten Lobpreisung von Moses, den er als großen Mann, ja als den größten Mann seines Volkes rühmt. Er sagt von ihm, daß er seinen Stamm von einer Nomadenhorde zu einem kultivierten Volk erhoben, daß er ihm eine Verfassung gegeben, daß er die Regeln seines Glaubens zu einem Gesetz zusammengefaßt habe, das sich vom Größesten bis zum Kleinsten erstreckt, das sich des Geistes dieses Volkes in allen Verhältnissen des Lebens bemächtigt habe, auf daß es ihm ein ewiges Gesetz werde. Man kennt den Hochmut, mit dem später und nicht nur in unseren Tagen zünftige Gelehrsamkeit auf den Historiker Herder herabgeblickt hat. Aber nun vergleiche man doch, was aus dem Bild eines großen Menschen, das Herder auch nur in einigen wenigen Umrissen andeutet, unter den Händen späterer Gelehrtengenerationen geworden ist. Das gewaltige Standbild eines Mannes, der Gottformer, Gesetzgeber und Heerführer in einer Person war, ist in Trümmer geschlagen, und es ist von ihm nur einen Haufen kärglicher Notizen übrig geblieben. Einer der gerühmtesten Führer dieses Gelehrtengeschlechts hat folgendes Bild von Moses entworfen: er habe nichts Positives hinterlassen, kein Gesetz, keine Verfassung für alle Zukunft gegeben. Aber »er habe die Anforderungen der Gegenwart in einer Weise befriedigt, daß die Gegenwart eine Zukunft haben konnte«. Geschichtlich sei an seiner Gestalt nur ihre Verbindung mit der Bundeslade. Der nächste unter den Großen dieser Forschergeneration hat es dann über sich gewonnen, in einer Schilderung der jüdischen Geschichte dieses Zeitalters den Namen von Moses als den einer geschichtlichen Gestalt gänzlich verschwinden zu lassen: er geht nun ganz in Rauch und Nebel auf und ist ein Mann, von dem man nur durch ein ungewisses Hörensagen weiß 1 . Nie') Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte (6 1904) 30; Meyer, Geschichte des Altertums I (1884) 377f., Herder, Ideen III (Sämtl. Werke X I V [1787] 59f.).

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mand wird behaupten können, daß die Veränderung des überlieferten Bildes einen Fortschritt bedeute. Daß ein Mann, von dem die Geschichte vom Sinai berichtet werden konnte, in Nichts aufgelöst werden soll, bedeutet ein Höchstmaß von falscher Geschichtsschreibung. Wenn das gewaltigste Glaubenserlebnis eines Volkes und seines Führers in leeren Dunst aufgehen kann, so müßte man verzweifeln an dem Wert des dann noch verbleibenden Überlieferungsbildes von solchem Vorgang. Denn gegen alle diese gelehrte Narrheit der neueren Theologen erhebt sich doch die ungeheure Gestalt des Mannes vom Sinai, der es wagte, dem Gotte, dessen Führung er sein Volk anvertrauen wollte, entgegenzutreten und mit ihm in seiner Vision Rede zu tauschen. Und welch einen Abgrund von geschichtlichem Verkennen bedeutet die Vorstellung, irgendwelche späte Priestergenerationen wären imstande gewesen, sich diese Szene auszudenken, die in ihrer Erhabenheit einen der höchsten Gipfel der Geschichte der Menschheit darstellt. Die Urheber dieser Meinung müssen von einem Glaubensbildner, dessen Kraft wahrlich nur mit der Buddhas und Muhammeds annähernd gleichgesetzt werden kann, die Vorstellung gehabt haben, als sei er ein Mensch von ihrer eigenen Zwergengröße gewesen. Daß Herder den Glaubensbildner besser verstand als die liberalen Theologen und Historiker vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts, mag von dem Verfasser des Geistes der hebräischen Poesie und des geschichtlichen Hymnus Gott nicht verwunderlich sein; eigens rühmenswert ist in diesem Kapitel der Scharfblick, mit dem Herder weit über seine sonst meist festgehaltene Weise hinaus die politische Geschichte der Juden begreift und deutet. Er sieht, daß es das politische Unvermögen dieses Volkes war, das ihm sein Verderben bereitete. Er stellt fest, daß ein Land bei so schlechter Verfassung von innen und außen —• und so außerordentlich ausgesetzter geographischer Lage, möchten wir

Geist, Wirtschaft, politische Tragödie der Jaden.

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hinzufügen —• sich an diesem Ort der Welt unmöglich halten konnte, und er erzählt den Untergang des Königreichs Israel mit den Worten, daß der König der Assyrer gekommen sei und dieses kleine Reich wie ein gefundenes Vogelnest geraubt habe. Und nie habe sich seit den Tagen von Moses in diesem Volk wieder ein großer Gesetzgeber erhoben Auch die Geistigkeit der Juden außerhalb ihres Glaubens beurteilt er mit sachlicher Kühle. Wohl sieht er — was später so oft und bis auf den heutigen Tag übersehen wird — die Bedeutung der jüdischen Geschichtsschreibung; aber er macht ebenso unbefangen darauf aufmerksam, daß die Juden ebensowenig sich in der Kunst und den — anderen — Wissenschaften ausgezeichnet hätten wie im Staat 2 . Und immer wieder kehrt Herder zu dem politischen Unvermögen dieses Volkes zurück. Wie die Ägypter, so sagt er, fürchteten sie das Meer; sie wohnten von jeher lieber unter anderen Völkern, ein Charakterzug, den schon Moses an ihnen bekämpft habe. Ein Urteil, das harte Worte in sich schließt, die eigentliche Tragödie des Judentums aber so scharfblickend kennzeichnet, wie viel politischer geschulte Geschichtsschreiber nicht vermocht haben. Die Phönizier werden von Herder umsichtig genug als Seefahrer gewürdigt, dabei wird zugleich die Rolle des mittelländischen Meeres mit wahrhaft entwicklungsgeschichtlichem Weitblick gewertet. Den Karthagern macht Herder nach seiner Weise ihre rücksichtslose Eroberungslust als für die Geschichte der Menschheit unfruchtbar zum Vorwurf; und aus ähnlichen Gründen völkischer Sittlichkeit tadelt Herder die gefühlsrohe Politik dieser Kaufmannsrepublik. Die Würdigung, die Ägypten in der Reihe von Herders Geschichtsbetrachtungen erfährt, wird dadurch gemindert, daß er dicht vor der ersten Aufhellung dieser Geschichte schrieb. !) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 61 f. ) Ideen III (Sämtl. Werke X I V ) 58, 63, 66. Breysig, Meister der G-eschiohtsforachung.

2

15

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Die Alten.

Seine Deutungen beschränken sich auf geopolitische Erwägungen 1 . Die Einbeziehung Ägyptens in den Zug der Menschengeschichte — so, nicht Menschheitsgeschichte liebt Herder zu sagen — erleidet wie die von Babylon notgedrungen dadurch die empfindlichsten Einschränkungen, daß neun Zehntel unserer heutigen Kenntnisse damals der europäischen Wissenschaft noch nicht zugeflossen waren. Herder aber ist hier einmal zur Ausnahme auch für die Tatbestände, die ihm schon offenstanden, nicht so frei empfänglich wie anderen Kulturen gegenüber. Er mäkelt im Grunde nur etwas launisch an der großen Schätzung, die dem Glauben und der »Weisheit« der Ägypter zuteil geworden seien; und wenn er, kleinbürgerlich-demokratisch genug, an den Pyramiden nur die hingeopferte Arbeit der Zebntausende beobachtet, durch deren Zwangsdienst allein ihre Erbauung möglich wurde, oder wenn er über die Hieroglyphen, deren Erfindung eine der erstaunlichsten Taten des menschlichen Geistes war, nur Herabwürdigendes sagt, so läßt er es an der Weisheit und der Güte ermangeln, d . h. an den beiden Eigenschaften seines geschichtlichen Sehens, die ihn sonst auszeichneten 2 . Zu wahrhaft entwicklungsgeschichtlichen Gedanken dringt Herder in den Zusammenfassungen vor, in denen er die Reihe der Völkergeschichten des vorderen Orients zu einem Überblick vereinigt. Wenn er für die Gestaltung der Menschheitsgeschichte in den einzelnen Völkern eine dreifache Wurzel zu erkennen sucht: Lage und Bedürfnis des Ortes, Umstände und Gelegenheiten der Zeit und endlich der angeborene oder sich erzeugende Charakter der Völker, so erscheint uns Heutigen dies alles wie eine Selbstverständlichkeit und war es doch zu derZeit in dieser ruhig abwägenden und scheidenden Sachlichkeit nicht im mindesten, konnte vielmehr nur das Ergebnis tiefen und umfassenden geschichtlichen Sehens sein. ') Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 69f., 72ff., 76ff. ) Ebenda 79, 81, 82.

2

Geohistorische Zusammenhänge; Sprache der Griechen, Mythos.

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Nicht zum mindesten auch um des Schlusses willen, den er diesen drei Feststellungen als Hauptgesetz abgewinnt: daß allenthalben auf unserer Erde werde, was auf ihr werden kann. Denn dieser Satz bedeutet doch nicht mehr und nicht weniger als die Folgerung einer geohistorischen Zwangsläufigkeit, einer letzten, innigsten Verknüpfung von Erdbeschaffenheit und Geschichtsgeschehen, eine Setzimg von höchstem entwicklungsgeschichtlichen Rang. Oder wie es Herder in seiner schönen starken Sprache ausdrückt 1 : Setzet lebendige Menschenkräfte in bestimmte Verhältnisse ihres Ortes und Zeitmaßes auf der Erde und es ereignen sich alle Veränderungen der Menschengeschichte.

Viertes Stück. Die

Alten.

Daß Herder, indem er sich der alteuropäischen, und zwar zuerst der griechischen Kultur zuwendet, zuerst von Sprache, Mythos und Dichtkunst redet, kann nicht Wunder nehmen, wohl aber manche Wendung, die er diesem Unternehmen gibt. Daß das Griechische höher als jede andere Erdensprache gepriesen wird, würde uns aus dem Munde eines Mannes der klassischen Philologie und als Ausdruck der liebenswürdigen und allenfalls auch begreiflichen, aber nichts weniger als unparteiischen Vorurteile eines solchen weniger überraschen als von einem Erforscher der Menschheit und ihrer hundertfältigen Schönheiten. Man sollte denken, daß auch bei sehr schneller Übersicht von der Besonderheit einer hohen Kultursprache mehr auszusagen wäre, als hier geschieht 2 . So ist auch der Mythos ohne alle Einbettung in die Geschichte des Glaubens geblieben, nicht zu seinem Vorteil. Das !) Ideen III (Sämtl. Werke X I V ) 83. 2 ) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 99. 15*

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Die Alten.

Bild der griechischen Dichtung zieht sich für Herder zu der Gestalt Homers zusammen, der, recht einfach gezeichnet, vor allem, und insofern ganz im Dienst entwicklungsgeschichtlicher Auffassung, als der Urquell der Gehalte der späteren griechischen Dichtungen aufgefaßt wird. Doch wird man es Herder Dank wissen, daß er der Musik eine so bedeutende Rolle in der Geschichte der griechischen Dichtung zuweist, noch mehr dafür, daß er den Griechen nachrühmt, daß sie das Wesen der guten Bildung in die feine Sinnlichkeit gesetzt haben. Wie viel stroherne Moral hat dies Bild nicht im Laufe der Jahre zu seinen Ungunsten verschoben1. Seltsam einseitig ist die Behandlung, die Herder den bildenden Künsten der Griechen zuteil werden läßt. Er spricht sehr viel, sicher etwas allzuviel von dem Einfluß, den die Dichtung und die Heldensage auf die bildenden Künste gehabt habe, doch läßt er wie billig dem Glauben den Vorrang ; er spricht auch von dem Staat und seinen Verfassungen als Schutzherren und Pflegern der Künste. Doch ist bei diesem Geistesverwandten und Zeitgenossen Winckelmanns auffällig, wie wenig er der Formensprache der bildenden, der Technik der redenden Kunst Raum gegönnt hat. Von den Sitten und von der Staatsweisheit als seelischen und geistigen Quellen des griechischen Volkstums sagt Herder an einigen Stellen Denkwürdiges aus: so wenn er von der sittlichen, der erzieherischen Wirkung der Orakel und ihrer Sprüche redet, oder wenn er von der Zurückdrängung der Liebe zwischen Männern und Frauen durch die Freundschaft und Liebe zwischen Männern und Jünglingen, deren erzieherischen Wert und deren Unverhehltheit er besonders hoch schätzt, von dem hohen Rang, der den Leibesübungen im Gesamtbereich der Menschenbildung eingeräumt ist, handelt 2 . Wo er auf die Staats- und Staatenbildung zu sprechen kommt, erscheint eigens bedeutend, daß er sich hier so 1 2

) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 100f., 102f., 105. ) Ebenda 110f., 115, 116.

Künste, Sitten, Staatenbildung; Vorzug1 der Republiken.

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wenig wie sonst auf den Herdenweg der herkömmlichen Geschichtsschreibung einläßt, sondern einige allgemeine Wesenszüge der staatlichen Entwicklung herausstellt: so die Besonderheit der griechischen Staatsgeschichte, daß die griechischen Gemeinwesen nur »durch die leichtesten Bande einer gemeinschaftlichen Sprache und Religion, der Orakel, der Spiele, des Gerichts der Amphiktyonen oder durch Abstammung und Kolonien, endlich durch das Andenken alter gemeinschaftlicher Taten, durch Poesie und Nationalruhm miteinander verbunden« waren. An dieser Beobachtimg ist merkwürdig, daß sie nicht, wie es wohl landesüblichem Geschichtsurteil nahe gelegen hätte, tadelnd hervorhebt, was der politische Fehler dieser Entwicklung gewesen sei, d. h. doch nur, wodurch sie sich von dem uns seit Jahrhunderten geläufigen Schema der Verfassungsgeschichte unterschieden habe, und was der langweiligen Selbstverständlichkeiten mehr sind, sondern daß hier als das Ja und der Ruhm der geschichtlichen Leistung behandelt wird, was für die Alltagssicht nur Mangel und Irrtum war1). Nicht ganz so weit abweichend von herkömmlichem geschichtlichem Sehen, aber immerhin bedeutend genug ist die Feststellung, wie viel freier und leichter, von wie viel größerem Schwung die politische Bildung der Griechen durch das endliche Umsichgreifen und die lang dauernde Vorherrschaft der republikanischen Staatsform geworden sei. »Jedes Volk«, so fährt Herder fort, »sähe sich als einen einzelnen Staatskörper an, der gleich seinen wandernden Vorfahren sich politisch einrichten dürfe; unter den Willen einer erblichen Königsreihe sei keiner der griechischen Stämme verkauft.« »Eine Revolution«, so urteilt Herder, »die allerdings eine der merkwürdigsten ist in aller Menschengeschichte. Nirgends als in Griechenland war sie möglich, wo eine Menge einzelner Völker das Andenken ihres Ursprungs und Stammes sich auch unter seinen Königen zu erhalten gewußt hatte2.« 1 2

) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 117. ) Ebenda 118.

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Deutsche Geschichts werke: Herder: Die Alten.

An der Aufhellung dieses Sachverhaltes ist nicht so sehr die eigentümliche Wertung der republikanischen Staatsform und ihrer Wirkungen beträchtlich — sie ist im liberal-demokratischen Zeitalter häufig genug vertreten worden —, viel mehr Gewicht an entwicklungsgeschichtlichem Urteil hat die Aufdeckung des Zusammenhangs der späteren griechischen Freistaaten mit der Staatsbildung der Urzeit, ein Gedanke, auf den kein Geschichtsschreiber späterer Zeiten bis auf den heutigen Tag gekommen sein mag. Und Herder hält nicht inne bei dem hier erreichten Standpunkt; er vermerkt mit einiger Abneigung, daß die nun um sich greifende Adelsherrschaft einen harten Druck ausgeübt habe, sodaß diese Herrschaftsform unleidlich wurde; dadurch aber, so findet er sich zu tröstlichem — demokratischem — Optimismus zurück, seien die Menschen aus der Unmündigkeit erwacht und dazu gelangt, über ihre Verfassung nachzudenken. Abschließend aber meint Herder, sei so das Zeitalter der griechischen Republiken der erste Schritt geworden zur Mündigkeit des menschlichen Geistes in der wichtigen Angelegenheit, wie Menschen von Menschen zu regieren wären. Als Ziel dieses Volkes nicht nur, nein der Menschheit, schimmert das demokratische Zeitalter durch, von dem aus zurückblickend Herder allen früheren Regierungsformen Griechenlands ihre Ausschweifungen und Fehltritte als Versuche der Jugend vergeben sehen will, da sie ja doch nur durch Schaden klug zu werden verstehe 1 . Herder ist nicht dazu durchgedrungen, die Betrachtungen, die er in Hinsicht auf die Weisen, die Führer der Völker angestellt hat, als Geschichte der Persönlichkeit oder des Führermenschen anzusehen oder zu bezeichnen; aber er hat diese Betrachtungen doch in diesem Sinne unternommen. Und es muß wiederum als ein Sieg des entwicklungsgeschichtlichen Gedankens in einem höheren Sinne — dem des Querschnitts durch die Rangstufen der Menschen eines Zeitalters —gelten, Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 118.

Die großen Staatsführer; Patriotismus und Aufklärung.

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wenn Herder von den Männern dieser höchsten Stufen nicht im Sinne lässiger Description bei Gelegenheit ihrer einzelnen Taten spricht, sondern als von einer Menschenklasse, die auf den Rang eines herrschenden Faktors im Insgesamt der Volksgeschichte Anspruch hat. Aber es ist bezeichnend für die Auffassung der Geschichte als einer Geschichte der Seele, daß er sogleich dazu übergeht, darauf hinzuweisen, daß die eigene Stimme dieser großen Gesetzgeber, in denen sie die Summe der Erfahrungen ihres Lebens niederlegen, einen traurigen Ton habe. »Sie sahen«, so erklärt Herder in seinen schönen Worten diese erschütternde Erscheinung, »das wandelbare Schicksal und Glück der Menschen durch Gesetze der Natur eng beschränkt, durch ihr eigenes Verhalten schnöde verwirrt und klagten 1 .« Im inneren Kreise des Staatslebens erhebt sich Herder zu einer Beobachtimg, die ebenso seinen großen Siegen im Dienst des Entwicklungsgedankens wird zugerechnet werden müssen. Es ist, wo er zuerst auf Athen und demnächst auf Sparta zu sprechen kommt. Von Athen meint er, es sei, wenn die Aufklärung des Volkes in Sachen, die zunächst vor dasselbe gehören, der Gegenstand einer politischen Einrichtung sein dürfe, ohnstreitig die aufgeklärteste Stadt in unserer bekannten Welt gewesen, und weder Paris noch London, weder Rom noch Babylon, noch weniger Memphis, Jerusalem, Peking und Benares würden ihr diesen Rang streitig machen können. Uns wird der Ausdruck »aufgeklärt« in diesem Zusammenhang etwas allzu zeitbedingt erscheinen; aber da er ja dasselbe bedeuten soll, was wir als kulturerfüllt an seine Stelle setzen möchten, so wird man gegen ihn nichts einwenden können. Und ebensowenig, wenn dann Patriotismus und Aufklärung als die beiden Pole genannt werden, um welche sich alle Sittenkultur der Menschheit bewege, und wiederum Sparta und Athen als die beiden großen Gedächtnisplätze, auf welchen die StaatsIdeen III (Sämtl. Werke XIV) 120.

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kunst der Menschen sich an diesen zuerst jugendlich froh geübt habe. Die beste Einsicht in das Tiefenleben der Geschichte offenbaren die Sätze, in denen Herder das eigentliche Gewicht dieses lokalen Geschehens erkennen läßt. Für die Philosophie der Geschichte kommt es, so verkündet hier Herder als ein Lehrer der Weisheit für Geschichtsschreiber — die damaligen und freilich auch, wie mich dünkt, noch immer die heutigen — freilich nicht darauf an, was auf diesen beiden Erdpunkten in dem kleinen Zeitraum, da sie wirkten, von schwachen Menschen wirklich getan sei, als vielmehr, was aus den Prinzipien ihrer Einrichtung für die gesamte Menschheit gefolgt ist. Trotz aller Fehler, so behauptet Herder, werden die Namen von Solon, Miltiades und Themistokles, Aristides, Cimon und ihresgleichen immer mit ewigem Ruhme gepriesen werden, dagegen die ebenso großen Männer Alcibiades, Conon, Pausanias, Lysander als Zerstörer des griechischen Gemeingeistes oder als Verräter ihres Vaterlandes mit Tadel genannt werden. »In Absicht der bürgerlichen Aufklärung« — wir würden sagen der politischen Kultur — »sind wir dem einzigen Athen das Meiste und Schönste aller Zeiten schuldig1.« Immer von neuem aber der geistigen Kultur und ihren Zusammenhängen mit dem Staat zugewandt, hebt Herder die tiefe Einwirkimg hervor, die von der Beredsamkeit als einer Kunst und des weiteren vom Schauspiel als einem Faktor des öffentlichen Lebens ausging. Und man wird ihm, obwohl er damit dem Geist seines eigenen Zeitalters dient, zum Guten anrechnen, daß er doch auch des Volkes gedenkt, das als Teilhaber an allen diesen Gütern ihr Verwalter im werktätigen Staatslebens wurde. Er rühmt von ihm — und schwerlich mit Unrecht —, daß es in jeder öffentlichen Sache, die vorgetragen wurde, Kenntnisse hatte oder wenigstens empfangen konnte, und faßt sein universalgeschichtliches Urteil, sicher mit Recht, dahin zusammen, daß, aller Parteien !) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 122.

Beredsamkeit, Theater; Versagen gegenüber der Forschung.

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ohngeachtet, das Atheniensische Volk hierin das einzige unserer Geschichte bleibe, an welches auch das römische Volk schwerlich reiche. Wie unparteiisch Herder hier urteilt, beweisen die folgenden Sätze: »Feldherren zu wählen oder zu verdammen, über Krieg und Frieden, über Leben und Tod und jedes öffentliche Geschäft des Staates zu sprechen, war gewiß nicht die Sache eines unruhigen Haufens. Durch den Vortrag dieser Geschäfte aber und durch alle Kunst, die man darauf wandte, ward selbst dem wilden Haufen das Ohr geöffnet und ihm jener aufgeklärte politische Schwätzergeist gegeben, von dem keines der Völker Asiens wußte. Die Beredsamkeit vor den Ohren des Volkes hob sich damit zu einer Höhe, die sie außer Griechenland und Rom niemals gehabt hat.« Man wird zugeben, daß Stärke und Schwäche der Herrschaft des Demos nicht wohl unbefangener gewürdigt werden, noch auch in ihrer universalgeschichtlichen Bedeutung eindrucksvoller zur Darstellung gebracht werden konnten 1 . Nicht immer vermag Herder zu leisten, was man von ihm am ehesten erwarten sollte; so wenn er, zur Geschichte der griechischen Wissenschaft übergehend, nicht auf die Beobachtung kommt, die doch einer vergleichenden Entwicklungsgeschichte der menschlichen Forschung am nächsten liegen möchte, daß nämlich bei den Griechen die Philosophie und wenn man will auch alle bewußt ausgeübte Wissenschaft zuerst in aller Menschheit entstanden ist. Wenn Herder dagegen, an sich erwünscht genug, die metaphysischen Wurzeln des Weltdenkens in die Geschichte des Glaubens zurückverfolgt, so ist wohl nur den theologischen Bedingtheiten seines Denkens zuzuschreiben, daß er bestaunt, daß die frühe griechische Philosophie nicht zu der Vorstellung von Gott als einem außerweltlichen Wesen, einer metaphysischen Monade gekommen sei, sondern bei dem Begriff einer Weltseele stehengeblieben sei. In Wahrheit war gerade dieser !) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 122f.

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Begriff der kühnste und allem frühen Denken gemäßeste Weg zu einem Gottesbegriff, und Herder verkennt hier — wunderbar genug für einen Theologen —, daß ein Volk nur auf dem Wege des Götterglaubens zu der Gipfelvorstellung eines Eingottes gelangen konnte. Keine Idee, wie sie das frühe Philosophieren allein erzeugen konnte, hatte Fleisch und Blut genug, um einen persönlichen Gott zu gebären. Auch die Vorstellungen Herders von der frühen Geschichte sind irrtümlich genug: das ganze Zeitalter des der Natur zugewandten Philosophierens ist nicht recht erkannt und das auf Staat und Sittlichkeit gerichtete Denken zu Unrecht in den Vordergrund gestellt. Eigentümlich falsch gesehen ist aber auch die Geschichte des späteren Philosophierens, insofern nach Sokrates, dem sich die Neigung dieses moralisierenden Zeitalters mit einer nicht völlig gerechtfertigten Vorliebe zuwendet, Xenophon und Piaton als ein mehr als unmögliches Brüderpaar auftreten und in ganz unzulässiger Weise der Gestalt des Sokrates untergeordnet werden. Daß Herder so wenig Begriff von dem Geist Piatons gewinnt, ist höchst denkwürdig, um so mehr, als man von ihm, seiner von so viel dichterischem Vermögen beschwingten Geistigkeit nach, eher das Gegenteil erwarten sollte. Vielleicht hat ihn doch die unklare Mischung von Dichtung und Forschersinn in Piaton von diesem abgewandt. Um so mehr ist der Verteidiger erfahrungswissenscbaftlichen Weltsehens erfreut, in Herder einen starken Wirklichkeitssinn triumphieren zu sehen, wenn er zu einem völlig gerechten Würdiger und Lobredner von des Aristoteles überragender Größe wird 1 . Ganz bezeichnenderweise steht in der Reihe der Schilderungen des Griechentums ein Bild von seinen staatlichen Wandlungen an der letzten Stelle; doch ist bemerkenswert, daß, in schroffem Unterschiede zu manchem anderen Volksschicksal, die politische Geschichte doch wenigstens ihren Platz behauptet. Doch zeigt sich Herders geringe Neigung zu Ideen III (Sämtl. Werke X I V ) 125, 127ff.

Die griechische Geschichte in der Ganzheit ihres Laufes.

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Staat und staatlichen Dingen auch diesmal: wohl wünscht er seine Entwicklungsgedanken auch hier zur Geltung zu bringen, doch geschieht es mit Glück nur in den allgemeinsten Sätzen. So wenn er von Sparta und Athen erklärt, daß sie mit allem, was sie hervorgebracht haben, so natürliche Erzeugnisse ihrer Lage und Zeit, Einrichtung und Umstände gewesen seien, als es nur je eine Naturerzeugung sein mochte. Auch die geschichtliche Beobachtung, daß so viel Freistaaten, durch gemeinsame Interessen, am meisten aber durch Kriegesund Ruhmeshebe auf eine Rennbahn gestellt, Ursachen genug zu Zwistigkeiten fanden, ist glücklich. Die Übersicht aber über die griechischen Gesamtgesetze, mit der Herder dies Buch seiner Ideen beschließt, ist wohl eine kecke Skizze, aber nicht mehr. Wenn es da heißt: »Sei Babel oder Pella die Residenz Alexanders; nur wenn das Menschenkind seinen Entwurf ausführen will, so sei es mäßig und trinke sich nicht zu Tode. Alexander starb und sein Reich war hin. Kein Wunder, daß er sich selbst erwürgte; vielmehr war es beinahe ein Wunder, daß Er, der sein Glück längst nicht mehr hatte ertragen können, so lange lebte.« Sätze von großer Farbenfrische und tieferer Seelenkunde, als es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte —• auch über diese Fähigkeit nicht der Theorie, sondern der Anschauung verfügte Herder —•; aber der Beitrag zur Universalgeschichte ist nicht von gleicher Wertigkeit 1 . Von um so größerer Bedeutung ist, was sich von Herders Geist ergießt bei einer letzten Überschau über die Ganzheit der griechischen Geschichte. Er beginnt sie mit dem universalgeschichtlich wertvollsten seiner Gedanken über Griechenland •— es ist eine der kostbarsten Gaben, die wir überhaupt seinem Geist verdanken —, er sieht die griechische Geschichte als die einzig vollkommene, als die einzig voll ausgelebte unter den Völkergeschichten der Erde. Er behauptet von den Griechen, daß sie in allen ihren Perioden von den ersten Anfän») Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 135.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Die Alten.

gen ihrer Bildung an ihre Laufbahn so vollständig durchschritten wie kein anderes Volk. Er findet, daß die Völker des festen Landes •— er meint die Asiaten — entweder bei den Anfängen ihrer Kultur stehen geblieben seien und sie damit in Gesetzen und Gebräuchen unnatürlich verewigt haben; oder, ehe sie sich ausgelebt, die Beute von Eroberern wurden: »die Blume ward abgemähet, ehe sie zum Flor kam. Dagegen genoß Griechenland ganz seiner Zeiten.« Herder sieht zuerst die Wichtigkeit der erdkundlichen Voraussetzungen dieser Geschichte, ihre geohistorischen Vorbedingungen. Auf dem festen Lande wären Darius und Xerxes Herr über Griechenland geworden, oder wenn ein Selbstherrscher über dies Volk Macht gewonnen hätte, so wäre er selbst ein Eroberer geworden. Herder wiederholt aus dieser Ursache den obersten der Grundsätze, mit dem er schon die asiatische Überschau beschlossen hatte: »was im Reich der Menschheit nach dem Umfang gegebener National-, Zeit- und Ortsumstände geschehen kann, geschiehet in ihm wirklich1.« Und man wird gegen die erste seiner besonderen Folgerungen — daß die griechische Geschichte ihren vollen Lauf vollendet habe — nur einen Einwand zu erheben haben, den Einwand, daß hier ein Apriori, eine Setzung-im-Voraus gegeben sei, die mit erfahrungswissenschaftlichen Mitteln auf keine Weise erweislich zu machen ist: die nämlich, daß der Lauf der griechischen Geschichte ein vollendeter gewesen ist. Heutige Deutung könnte durchaus auch zu dem Ergebnis kommen, daß diese Entwicklung einmal etwa durch die Mazedonier, etwa auch durch die Römer oder gar durch die Türken einen Bruch erlitten habe, der ihrem natürlichen Lebenslauf ein gewaltsames Ende gesetzt habe. Findet man sich aber mit einer doppelten oder dreifachen Möglichkeit dieses Laufbahnendes ab, dann bedeutet nach mehr als einer Seite hin die Feststellung Herders einen Ertrag der universalen Entwicklungsgeschichte vom höchsten Range. Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 83. 144.

Natürliches oder gewaltsames Ende; Wachstum, Blüte, Verfall. 237

Nach der Seite der nur scheinbar zählebigen vorderorientalischen Volksgeschichten hin wird ermittelt, daß Griechenland keinen vorzeitigen Abbruch seiner Entwicklung erlebt hat, der über alle jene vom Schicksal verhängt worden ist. Von innen her gesehen aber wird die griechische Entwicklung als ein bis zum endlichen Zerfall führendes Wachstum gedeutet und damit dann freilich dieselbe Grundbehauptung für die Gesamtauffassung der griechischen — wie der römischen — Entwicklung aufgestellt, die der heute vertretenen Lehre vom Stufenbau der außer-, der alt- und der neueuropäischen Volksgeschichten zugrunde liegt, die Behauptung eines vollen Wachstums, wenn die von Griechenland — wie Rom — zurückgelegten Stufenalter durchlebt sind. Herder erweitert die Ein-Volk-Sicht auf die Verbindung von mehreren Völkern und er sagt: sie stehen zusammen, wie Zeit und Ort sie band; sie wirken auf einander, wie der Zusammenhang lebendiger Kräfte es bewirkte 1 . Vollkommenen Widerspruch muß dagegen eine Setzung erwecken, die Herder als die dritte in der Reihe der großen Grundsätze ausspricht. Er stellt die Behauptung auf, daß die Kultur eines Volkes seine Blüte, das Wort im pflanzenkundlichen Sinn verstanden, darstelle, in der es sich zwar angenehm, aber hinfällig offenbare 2 . Gegen diese Setzung ist der eine, sie aber völlig niederschlagende Einwand zu erheben, daß der von ihr behauptete Tatbestand zwar gewiß auf den Ablauf der griechischen Geschichte zutrifft — wenigstens wenn er mit Herder als allein in sich geschlossener aufgefaßt werden soll —•, daß sie nicht im mindesten aber als allgemeine Regel der Universalgeschichte aufgestellt werden darf. Der Vergleich zwischen alt- und neueuropäischer Geschichte, auf den Herder nicht gekommen ist, erweist dies bis zur Unwiderlegbarkeit. Die Jahrtausende der Menschheitsgeschichte, die noch vor uns M Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 146. ) Ebenda 147.

2

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Die Alten.

liegen, wie sollten sie nicht zu dem gleichen Ergebnis führen. Daß Herder aber im Angesicht der griechischen Geschichte zu dieser — im Grundton doch tragischen — Auffassung von allem Menschenschicksal kam, wird nicht so sehr verwundern. Es war der Dichter, der hier das Erleben dieses zum Höchsten strebenden, zuletzt doch unaufhaltsam sinkenden Volkes mit ihm erlebte und mit ihm erlitt. Ihm mochte wie eine Notwendigkeit erscheinen, daß diese Tragik ein allgemeines, immer sich wiederholendes Menschenschicksal sei. Wenn Herder in seinen Ideen eine ganze und vollständige Reihe aller Völkerbildnisse aufstellen wollte, so wird nicht wundernehmen können, daß dieser Porträtist, der die beste K r a f t seines ohnehin noch mehr künstlerischen als forscherlichen Könnens aus der Leidenschaft seines Mitempfindens sog, einmal auf eine Volkspersönlichkeit stieß, die ihm gänzlich entgegen war, und deren Wesen ihm fast nichts als Widerspruch einflößte. Sonst war wahrlich die Losung, die ihm seine Seele eingab: nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da. Den Römern gegenüber aber versagte ihm die Möglichkeit des Liebens und damit die Fähigkeit des Verstehens. Für Herder, den niemals müden Verkünder der Humanität, waren die Römer das Volk der unaufhörlichen Angriffsund Eroberungskriege, das Volk, das sein Schwert in das Blut aller in seinem Bereich erlangbaren Völker getaucht hatte, das Volk, das ein Weltreich gegründet hatte, aber die Hälfte eines Erdkreises in Unglück und Sklaverei gestürzt hatte. Ihm konnte er nicht gerecht werden. In einem seltsamen Gegensatz zu der sehr kritischen Absicht, die ihn zu den Römern führte, hat er das ihnen gewidmete Buch seiner Ideen mit einem Idyll eröffnet. Es ist den Etruskern geweiht, in denen er ein Volk aller Künste des Friedens und zugleich eine Blume unter den Völkern sah. Er konnte sie nur erst so sehen. Seine Zeit war noch gar nicht imstande, ein irgend zureichendes Bild von der voretruskischen Kultur zu entwerfen. »Also müssen wir sie«, so

Etrusker; Kriegergeist der Römer als Großmut und Insolenz.

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sagt er von ihnen in seiner schönen Sprache, »wie eine früh gereifte Frucht betrachten, die in einer Ecke des Gartens nicht ganz zur Süßigkeit ihrer Mitschwestern, die sich des milderen Glanzes der Sonnenwärme erfreuen, gelangen konnte. Das Schicksal hatte den Ufern des Arno eine spätere Zeit vorbehalten, in der sie reifere und schönere Früchte brächten 1 .« In der nahen Zusammendrängung mit den Etruskern als dem Volke der Buchstabenschrift und so vieler Werke des Friedens wirkt nun das Römertum als der Träger des tatenund blutdürstigsten Kriegertums der Menschheitsgeschichte in um so schrofferem Gegensatz. «Der römische Senat wie das römische Volk waren von frühen Zeiten an Krieger; Rom von seinem höchsten bis im Notfall zum niedrigsten Gliede war ein Kriegsstaat«, mit diesen Worten beginnt Herder die Aufreihung der Hauptmomente der Römischen Verfassung. »Der wohlhabende Bürger von seinem siebzehnten bis zum sechsundvierzigsten oder gar fünfzigsten Jahre mußte zu Felde dienen.« »Wer nicht zehn Kriegszüge getan hatte, war keiner obrigkeitlichen Stelle würdig.« Eine rein organisatorische Einrichtung der römischen Verfassung wird Herder zu einem neuen Beweis für Kriegslust und Kriegsglück der Römer: der nur einjährige Turnus ihres Konsuln und damit auch ihres Feldherrnamtes habe, so meint er, die Inhaber dieser Würde auf das äußerste angetrieben, ihre Feldzüge so stark wie möglich zu betreiben, Kriege so oft als möglich zu führen. Die Erziehung der jungen Männer, vornehmlich derer in den alten Familien des Patriziats, habe das gleiche Ziel gehabt; die Religion sei dem Kriegsdienst dienstbar gemacht gewesen. Daß die großen Feldherrn der Römer über ihre Kriegsführung wie eine Kunst nachgedacht hätten; daß die gemeinen Krieger an Entbehrungen und Gefahren aller Art gewöhnt worden seien, dazu an die Führung des kurzen Römerschwertes, mit dem sie die Welt erobert haben; daß endlich die Grundsätze einer eisernen und unerM Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 157f.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Die Alten.

sättlichen Kriegsführung die Herrschaft in der Politik der Römer errangen, darin sieht Herder die Gründe für das Kriegsglück der Römer. »Nie nachzulassen, bis der Feind im Staube lag«, so findet er die Formeln für diese Grundsätze, »und daher immer nur mit Einem Feinde schlagen, nie Frieden anzunehmen im Unglück, wenn auch der Friede mehr als der Sieg brächte, sondern festzustehen und desto trotziger zu sein gegen den glücklichen Sieger.« Felsenfeste Großmut nennt er diese Sätze, aber auch — und diese Meinung überwiegt sicher in Herders Seele — Maximen römischer Insolenz 1 . Noch weniger hold ist der Freund der Humanität den Wirkungen und Folgen, die die Ausübung dieser Maximen gehabt hat: die Unterwerfung Italiens, die zu furchtbarer Unterdrückung und immer neuer Zerstörung alter Selbständigkeit und schöner Kulturen geführt habe, eröffnet ihm die Reihe dieser Folgen. Die Bekämpfung, die Niederwerfung und die schließliche Ausrottung von Karthago ist ihm eine Kette von Greueln und eines der jammervollsten Trauerspiele, die die Menschheit erlebt habe. Der Weise, in der sie sich abgespielt haben, müsse sich, so urteilt Herder, auch der entschlossenste Römerfreund schämen. Und er, der voll ist von der Erkenntnis aller der Fehler und Laster, von denen Karthago befleckt war, er steigert sich zu einem Ausbruch höchster Begeisterung für diese Feinde Roms und wilden Hasses auf die Römer. »Warum«, so ruft er aus, »war es dir versagt, du einziger großer Hannibal, dem Ruin deines Vaterlandes zuvorzukommen und nach dem Siege bei Cannae geradezu auf die Wolfshöhle deines Erbfeindes zu eilen.« Nach der Niederwerfung und Zerstörung Karthagos sieht Herder nichts als neue Abscheulichkeiten der römischen Staatskunst und ihrer Nachwirkungen: der Handel im Mittelländischen Meere vernichtet, Afrika eine Stätte der Trauer und Verwüstung 2 . 2

Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 162ff., 169. ) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 172f.

Auswirkungen des Römergeistes; menschheitliche Sichten.

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Herders Sehweise im Hinblick auf Rom und Karthago ist eine spezifisch menschheitliche: er sieht in dem Gegensatz zwischen beiden Staaten nicht den Gegenstand eines gewöhnlichen Völkerzwists, wie es die Sehweise der hergebrachten Geschichtsschreibung mit sich bringen würde, sondern eine Schädigung des menschheitlichen, an sich also beiden Staaten gemeinsamen Interesses. Nebenbei gesagt eine in aller Geschichte historisch - politischen Urteils einzig dastehende Stellungnahme, die weder vorher noch nachher ihr Seitenstück findet. Dieser Gesichtswinkel aber ist der für die Bewertung Roms und seiner staatlichen Sittlichkeit von Herder durchweg und auf sein Handeln gegen alle Völker festgehaltene. Er redet mit unverhohlenem Hohn davon, wie wenig die Römer dazu getan haben, den Namen der Befreier Griechenlands, den sie sich beigelegt und auf den Isthmischen Spielen großsprecherisch verkündet haben, sich wirklich zu verdienen; er verdammt sie als die Plünderer und Knechter von Epirus und Mazedonien, als die Verwüster von Korinth, Athen und Delphi. Zürnend —-und zugleich sehr ungerecht —ruft er aus: »0 Griechenland, welchen Ausgang gewähret dir deine Beschützerin, deine Schülerin, die Welterzieherin Roma. Was uns von dir übrig geblieben ist, sind Trümmer, welche die Barbaren als Beute des Triumphs mit sich führten, damit auf ihrem eigenen Aschenhaufen einst alles unterginge, was je die Menschheit Künstliches erfunden.« Die Nachwirkungen der römischen Herrschaft im ganzen Umkreis des vorderen Orients sieht er in ähnlich trübem Lichte: sie treten überall als Räuber und Zerstörer auf, geben selbst nichts an Kultur; »sie machen allenthalben zuerst verwüstende Nacht, Schätze von Golde und Kunstwerken werden erpreßt; Weltteile und Aeonen alter Gedanken sinken in den Abgrund; die Charaktere der Völker stehen ausgelöscht da und die Provinzen unter einer Reihe der abscheulichsten Kaiser werden ausgesogen, beraubt, gemißhandelt1.« x

) Ideen I I I ( S ä m t l . W e r k e X I V )

B r e y e i g , Meister der Geschichtsforschung

174f. 16

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Die Alten.

Noch herber beurteilt Herder das Schicksal, das die Römer den westeuropäischen Ländern bereiteten. Spanien •wurde unter ihrer Herrschaft »ein Ort zum Raube«, eine Stätte der Verwüstung. Klagend, anklagend stellt er fest, daß die Länder des vorderen Orients meist schon verblühte Blüten waren, in Westeuropa aber seien Knospen in ihrem vollen Jugendwuchse so beschädigt, daß von manchen kaum noch ihre Stammesart und Gattung erkennbar geblieben sind. In Spanien suchten sie Gold und Silber und trachteten es zu dem zu machen, was in der neuen Zeit Amerika den Spaniern wurde. Wie das Verhalten der Römer in Spanien war, beweist der unmenschliche Haß, mit dem die Spanier es beantworteten. Von den keltischen Galliern klagt er, daß von ihnen Religion, Kultur und Sprache vertilgt sei, und von Rom als Räuberhöhle und von dem Mörderhandwerk der Römer ist auch in diesem Zusammenhang die Rede. Und den Scipionen und Caesar ruft er zu: »Wie unrein mußte euch eure Ehre, wie blutig euer Lorbeer, wie niedrig und menschenfeindlich eure Würgekunst dünken.« Fluch und Verderben hätten sich, so hätte sich selbst bei Lebzeiten Roms jeder edle Römer sagen müssen, mit allen diesen ungeheuren ehrsüchtigen Siegen auf sein Vaterland gehäuft1. Als die Ursachen aller dieser üblen Eigenschaften der römischen äußeren Staatskunst sieht Herder nicht wenige Zusammenhänge ihrer Verfassung an: die Teilung der Stände; die Konzentration eines wachsenden, demnächst immer weiter ausgedehnten und zuletzt ungeheuren Reiches in einer Stadt; das daraus folgende Übergewicht städtischer Volkshaufen in den Versammlungen und Abstimmungen ; die große Zahl des Sklavenstandes; und zuletzt den Luxus, der die Bezwinger der Welt durch ihre eigene Üppigkeit an ihnen selbst gerächt hat. Als letzten, aber stärksten Grund für Roms Verfall führt Herder — unbegreiflich genug — den Kriegsgeist der Römer ins Feld, der sein Schwert Ideen III (Samt'. Werke XIV) 177.

Verwüstungen in Westeuropa; Lehren; Ruhm der Römer.

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zuletzt gegen sich selbst wenden, sich selbst verderben und »das Schwert in seine Eingeweide kehren mußte, das er so oft auf unschuldige Städte und Nationen gezückt hatte 1 «. Mit sehr nachdenklichen Worten zieht Herder den Summenstrich unter die Schilderung der römischen Geschichte. E r stellt die Größe und die Festigkeit des römischen Kriegsstaates und die Furchtbarkeit ihres Reichsendes einander gegenüber und schließt daraus, wie jede Eroberungswut, jeder despotische Soldatengeist nach gerechten Naturgesetzen enden müssen. Und er fragt, ob nun dies die Lehre der römischen Geschichte sein solle, daß es nach Pompejus und Caesar keine Eroberer und unter kultivierten Völkern kein Soldatenregiment mehr geben solle. Nur ein Mal, so prophezeit er, standen die Römer auf der Schaubühne der Geschichte und spielten das fürchterlich-große Spiel, dessen Wiederholung wir der Menschheit nie wünschen mögen 2 . Herder ist so gerecht, an diesem Charakter bilde, das — nach unserem Sehen — fast mehr noch ungerechte und unrichtige Züge enthält als gerechte und richtige, nachträgliche Verbesserungen vorzunehmen zugunsten einer nicht ganz kurzen Reihe einzelner Großer und Makelfreier. Er rühmt aber auch einige allgemeine Eigenschaften und Leistungen der Römer als allgemeine ihres Volkes: er preist ihre Geschichtsschreibung in starkem Gegensatz zu den Überheblichkeiten französischer Urteiler als der neueuropäischen weit überlegen. Er preist als Schwestern der Geschichtsschreibung die Beredsamkeit, die Gesetzgebung und die Lehre der Kriegskunst; er unterschätzt in etwas die römische Dichtung, überschätzt in seltsamem Maß ihre Philosophie. Und so unbefangen er die Größe der römischen Baukunst bewertet, verdirbt er sich und den Empfangenden von neuem das Bild, wenn er in höchst überflüssige Klagen über die Arbeit der Werker ausbricht, die diese Bauten zu errichten halfen, oder gar

2)

Ideen I I I (Sämtl. Werke X I V ) 178ff., 180ff., 185. Ebenda 186. 16*

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Deutsche Geschichtswerke : Herder: Die Alten.

— noch weit schlimmer — über die Gelder, die sie gekostet hätten 1 . So ist denn nicht zu verwundern, daß der Anwalt von Menschheit und Menschlichkeit den Römern als ein Glied in der Kette der Menschenvölker auch nicht das geringste Lob zuerkennen will. Er verwirft sehr nachdrücklich den für seine Gedankengänge immerhin einzubeziehenden Trost, als hätte die Menschheit durch die von den Römern geretteten oder geschaffenen Kulturgüter für die von ihnen angerichteten Übel entschädigt werden können. Und er will in der Richtung solcher angeblicher Ausgleiche selbst das Verdienst der Römer um die Erhaltung des Christentums nicht gelten lassen: er findet, daß der christliche Glaube wie das römische Reich, beide durch eigene Kraft, jedes für sich erwachsen sei. Wenn sie zuletzt sich gatteten, so hätten beide nichts gewonnen. Ein römisch-christlicher Bastard, so ist sein sehr hartes Urteil, entsprang, von welchem manche wünschen, daß er nie entstanden wäre. Er verwirft auch hier jede Philosophie der Endzwecke 2 . Zerstörer, das ist sein letzter Schluß, sind keine Erhalter der Welt. Und Herder greift, um sich über diesen auch in seinem Sinn trostlosen Sachverhalt zu trösten, sehr löblicherweise auf seine alte Lehre zurück: die Römer waren und wurden, was sie werden konnten, alles ging uDter und erhielt sich an ihnen, was untergehen und sich erhalten mochte. Die Zeiten rollen fort und mit ihnen das Kind der Zeiten, die vielgestaltige Menschheit. Mit diesen allgemeinsten Folgerungen, die Herder dem Lauf der Geschichte als ihren letzten Ertrag abgewinnen will, wird für die auf diesen Blättern angestellten Untersuchungen zum mindesten das eine Ergebnis gesichert: daß auch dieses, das Römerbuch der Ideen im Dienst des Entwicklungsgedankens steht. Wohl ist es so voll von leidenschaftlichen

2

Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 190, 193f., 196f. ) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 202.

Verurteilung der Römer; Ganzheit der Geschichte; Zwecke.

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Urteilen und Vorurteilen, daß es oft den Anschein erweckt, als wolle es mehr der erzieherisch-moralischen Doktrin als der berichtenden und weiter der entwickelnden Geschichtsüberlieferung dienen. Geht man aber den Verkettungen nach, die überall die Einzelschilderungen und so auch die Einzelurteile verbinden, so leuchtet unwiderleglich ein, daß das letzte Ziel dieses Geschichtsschreibers der Menschheit auch hier die Herstellung einer Ganzheit und also einer Entwicklung in der Menschheitsgeschichte ist.

Fünftes Stück. Zweck der Geschichte: H u m a n i t ä t ,

Vernunft.

Herders Geistigkeit war dem Gedanken viel zu sehr zugewandt, als daß er hätte ertragen können, so viel Tatbestände, wie er sie in den vier ersten Büchern geschilderter Menschheitsgeschichte zusammengestellt hatte, allein und in ihrer nackten Tatsächlichkeit dastehen zu lassen. Wohl war jedes Buch, ja fast schon jeder Abschnitt mit kürzeren oder längeren allgemeinen Betrachtungen durchbrochen; nun aber treibt es ihn, eine längere Reihe ganz allgemeiner Gedankengänge einzuschieben, um mit seinen Lesern sich den letzten Zielen seiner Menschheitsgeschichte zuzuwenden. Herders Sache ist Folgerichtigkeit am allerwenigsten. Wie oft kehrt eine Warnung, die er sich selbst erteilt, in seinen Darlegungen wieder: keine Ziellehre oder — wie er es nennt — keine Absichtenjagd soll der Geschichtsdenker treiben; Herdet bekennt sich mit Schärfe zu einem ganz entschiedenen Antiteleologismus. Oft genug hat er schon im einzelnen dieses von ihm selbst gegebene Gesetz durchbrochen oder doch umgangen. Dennoch sind wir erstaunt, das fünfzehnte Buch, mit dem er die Reihe der außer- und alteuropäischen Volksgeschichten beschließen und ihr ein Zwischenspiel reiner Geschichtsgedanken als Zusatz geben will, durch

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Zweck der Geschichte.

einen Abschnitt eingeleitet zu finden, dem er die Überschrift gibt: Humanität ist der Zweck der Menschennatur, und Gott hat unserem Geschlecht mit diesem Zweck sein eigenes Schicksal in die Hände gegeben. Ohne sich aber an diesen Widerspruch zu kehren, verfolgt Herder nun unbekümmert diesen neuen, in Wahrheit seiner Lehre entgegengesetzten Gedankengang. Mit einer ganz knappen Übersicht über den Gang der Menschheitsgeschichte wünscht er zunächst sehr kurz die Richtigkeit dieses seines Satzes zu erhärten. Es ist, ohne daß Begriff und Name benutzt werden, ungefähr die Vorstellung, die einen der vornehmlich in Frankreich herrschenden Gedankenkreise beseelt: von dem Fortschritt des Menschengeschlechts in einer Folge von Fortbewegungen zum Ziel der Zivilisation. Schon aus ihr sei der Zweck des Menschengeschlechts auf Erden durch seine Natur und Geschichte wie durch die hellste Demonstration gegeben1. Wie alle Teleologien führt auch diese von der ersten ihrer Setzungen-im-Voraus zu immer neuen. Jeder Gegner des Apriorismus wird hier eine Kette von Irrtümern finden. So wenig erfahrungswissenschaftliche Geschichtslehre die Setzung eines Zweckes der Menschheit wird zugeben können, so wenig wird sie als das Ziel dieses vorbestimmten Entwicklungsweges zugeben können, was Herder die Humanität des Menschengeschlechts nennt. Humanität ist ein durchaus diesem, eben Herders Zeitalter gemäßes, von ihm geborenes Denkgebilde: ein Gemisch von Vorstellungen der Friedfertigkeit, der Sanftmut, der Seelenhaftigkeit, aber auch der Geistigkeit, die alle, zu einer an sich etwas unklaren Gesamtvorstellung verschmolzen, als ein Erzeugnis vor allem von optimistischem und friedvollem Beglückungswillen anzusehen sind. Gemäß der besonderen seelischen Veranlagung dieses Zeitalters wird die Wurzel dieser Anschauungswelt rationa») Ideen I I I (Sämtl. Werke XIV) 209.

Humanität; Vernunft; Wertung von Tradition und Despotismus. 247

listisch genug in der Vernunft, d. h. in einer unbedingten Anwendung von Verstandesregeln, gesehen. Der Mensch, so erklärt Herder kurzab, konnte nicht leben und sich erhalten, wenn er nicht Vernunft brauchen lernte. Niemand aber war doch wahrlich berufener als Herder zu erkennen, daß der Verstand keineswegs als leitende, alles beherrschende Seelenkraft anzuerkennen ist, ja daß schon, was Herder im selben Atemzug verlangt, die Ausbildung der Humanität durchaus nicht auf dem Wege einer reinen Verstandesherrschaft zu erzielen ist. Und wenn dann die weitere Folgerung angeschlossen wird, daß der Mensch seine Irrtümer und Fehlversuche erkennen werde und dann um so rüstiger sie verbessern werde, so ist auch hierauf zu sagen: welche Handlungsweisen sind denn Fehler und wieso wird der Mensch sie abzustellen trachten. Das eine ist so unsicher wie das andere Wie ungewiß derlei Festsetzungen sind, beweist schon der Wortlaut von Herders Gedankengang noch am Schluß des gleichen Absatzes: die Natur habe der Menschheit weder Despoten noch Traditionen zum Ziel gesetzt, sondern die beste Form der Humanität. Hier werden nun gar die Zielbilder für Staat und Gesellschaft aus ganz anderen Zeiten — nicht mehr nur eines der eigenen Zeit wie die Humanität — herangezogen, Anschauungen, die Despotismus und Tradition verwerfen. Es wird also keineswegs ein Hehl daraus gemacht, daß in das allgemeine Zielbild auch Bilder und Gegenbilder ganz fremder Zeitalter aufgenommen werden. Daß dabei auch Tradition auftaucht, kann nur als augenblicklicher, an sich aber sehr schwerer Fehler angesehen werden: welches Geschichtsbild ist ohne Tradition denkbar ? Und selbst Despotismus ? Sind nicht in der Altertumsstufe, die doch auch Herder, wenn auch unter anderer Bezeichnung, wird anerkennen müssen, gewisse Entwicklungsgänge gar nicht denkbar ohne eine zeitweilige Annahme dieser Staatsform? Ja selbst die Losung der Humanität, die Herder doch als !) Ideen I I I (Sämtl. Werke X I V ) 210.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Zweck der Geschichte.

eine für alle Zeiten und Völker gültige Zielsetzung verstanden wissen will, wird in diesem Sinn nicht anerkannt werden dürfen. Keine stuf ermäßige Anschauung wird verkennen, daß das Ziel der Humanität, selbst wenn es für das Jahr 1787 als gültig anerkannt werden sollte, für eine Reihe von Zeitaltern unmöglich erreichbar gewesen ist. Sie wäre noch für das der Gegenwart von Herder voraufgehende Zeitalter des Absolutismus nicht denkbar gewesen, geschweige denn für das späte Mittelalter. Herder war ein Autor, der in hohem Maße von seinen Stimmungen abhängig war. Das fünfzehnte Buch der Ideen ist für das geistige Bild des Verfassers dieses sachlich wahrlich großen Werkes von eigenem Wert, insofern Herder hier nicht, wie er sonst gern tat, zu Anfang einer Reihe von Darstellungen eine andere Reihe allgemeiner Erwägungen aufstellte, sondern eine solche in die Mitte der zwei Hauptteile gefügt hat, in die er die eigentliche Geschichte der Menschheit geschieden hat, der außer- und alteuropäischen Völkergeschichten und der neueuropäischen Geschichten. Die durchaus allgemeine Geschichtsbetrachtung, die er hier versuchte, gibt sich schon durch diese Stellung wie ein Gipfel des Gesamtwerkes zu erkennen. Von ihm aus war möglich, das Insgesamt seiner Universalgeschichte zu übersehen, und er machte sich die Stellung dieses Buches nicht in einem äußeren, sondern ganz in einem inneren Sinn zunutze. Er wollte nicht noch einmal Zusammenfassungen so vieler einzelner Volksgeschichten geben, sondern noch einmal dem Sinn der Weltgeschichte nachforschen. Doch ehe er diesen Gipfel erstieg, hat er noch einen ganz schnellen Anlauf genommen, um zu einer ähnlichen, aber ganz kurzen Übersicht zu kommen. Und seltsam, so nahe auch diese beiden Niederschriften im Wortlaut des vollendeten Werkes aneinander gerückt sind, so verschieden, ja einander entgegengesetzt sind sie ihrer Grundstimmung nach. Sie verhalten sich zueinander wie Weiß und Schwarz, wie Tag und Nacht. Die eine von diesen Eklogen der Mensch-

Übersichten; Pessimismus und Optimismus Herders.

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heitsgeschichte ist wie ein Trauer-, ja fast wie ein Zorngesang. Die Aufschrift des Tempels der Geschichte ist Nichtigkeit und Verwesung. Die Natur des Menschen bleibt immer dieselbe. Im zweiten J a h r des Lebens der Menschheit wird der Mensch mit Leidenschaften geboren, denselben, mit denen er im zehntausendsten J a h r des gleichen Lebenslaufes geboren wird. »Der Mensch durchläuft den Gang seiner Torheiten zu einer späten, unvollkommenen, nutzlosen Weisheit. Wir gehen in einem Labyrinth umher, in welchem unser Leben nur eine Spanne abschneidet; daher es uns fast gleichgültig sein kann, ob der Irrweg Entwurf und Ausgang habe. Trauriges Schicksal des Menschengeschlechts, das mit allen seinen Bemühungen an Ixions Rad, an Sisyphus' Stein gefesselt und zu einem Tantalischen Sehnen verdammt ist«. Herder läßt dann die Schicksale der Völker Revue passieren; er vergleicht das Geschick der besten mit dem der schlechtesten Herrscher und überall, wohin auch seine Blicke fallen, sieht er das Schlechte obsiegen, das Gute unterliegen. Auf Erden siegen, das ist dieser Trauerrede Schluß, wilde Macht und ihre Schwester, die boshafte List 1 . Aber dann, wenn sich Herder daran begibt, den weiteren Uberblick über das Geschick der Menschheit zu spannen, wendet sich seine Stimmung und mit ihr sein Urteil. Sobald er seine Lehre vom Zweck der Geschichte und von der Humanität als ihrem Ziel aufstellt, tritt dieser Umschlag ein. Und wie es Herders Art ist, er führt auch diesen Sachverhalt auf die Wurzelschicht eines tieferen Sachverhalts zurück. Das muß nun hier ein Naturgeschehen sein, wenngleich ') Inwiefern dieser Exkurs über die Menschheitsgeschichte als eine Ansammlung von Mißgeschick und Widrigkeiten innerhalb des Korpus der Ideen für sich dasteht, läßt sich bei der jetzt vorliegenden Gestaltung des Textes nicht entscheiden. Suphan (Sämtl. Werke X I V 608ff., 499, 534) läßt den Benutzer seines sonst so einläßlichen Anhangs i m Stich. Nur die Anführungszeichen, die den Anfang und das Ende dieses Exkurses (ebenda 204, 206) kennzeichnen, lassen seine Herkunft von einem früheren Textteil vermuten.

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Deutsche Geschiohtswerke: Herder: Zweck der Geschichte.

innerhalb des Bezirks der Menschheit. Eine gütige Naturordnung, so behauptet er, wolle, daß weit weniger Zerstörer als Erhalter in ihr geboren würden. Die Verantwortung für diese Behauptung wird man Herder überlassen müssen: am ehesten mag sie zutreffen für die Welt des Tierreichs 1 ). Es bleibt denkwürdig, zu wie verschiedenen Auffassungen Herder in den beiden Sichten gelangte, die er über das Menschheitsgeschehen eröffnete. Und man wird ihm nicht Unrecht tun, wenn man ihm hier keinen anderen Grund für so entgegengesetzte Entscheidungen zuschiebt, als den sehr wechselnder Stimmungen. Daß er ihnen unterlag, ist vielleicht nicht so verwunderlich, als daß er, wenn sie ihm etwa bei einer Druckdurchsicht so weit auseinander klaffend vor Augen lagen, nicht nachträglich von ihnen Notiz nahm und den Leser auf sie aufmerksam machte. Jedenfalls wird man auf diesen Fall von stimmungsmäßiger Entscheidung dann hinweisen dürfen, wenn es sich bei einer Gesamtkennzeichnung von Herders Geistigkeit darum handelt zu beweisen, wie wenig verstandesmäßig und zugleich wie wenig folgerichtig — also auch nicht willensmäßig — sein geistiges Tun ausfiel, selbst wenn es sich um wichtige und grundsätzliche Entscheidungen handelte. Nur eins bleibt im Sinne einer zu seinen Gunsten ausfallenden Beobachtung auch bei diesem wie eine Entgleisung anmutenden Tun bestehen, das ist auch in diesem Falle der wie unaufhaltsam wirkende Drang, im Dienst des Entwicklungsgedankens zu verfahren: er gelangt, gleichviel ob seine Entscheidung pessimistisch oder optimistisch ausfällt, dazu, das menschliche Geschehen, das Herder wie eines der Oberfläche auffaßt, auf eine tiefer gelagerte Wurzelschicht, hier ein Naturgeschehen zurückzuführen. Und es bedarf nicht langen Suchens, wenn man eine eigens glückliche, ja man kann sagen phänomenal erfolgreiche Entdeckung in diesem selben Gedankengang nachweisen will. M Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 215.

Ordnungsgesetz der Naturreiche; Aufstieg der Geschichte.

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Es ist die Beobachtung, die Herder macht, um zu erhärten, daß das oberste Gesetz der Ordnung, er sagt: der harmonischen Ordnung, alle irdischen Verhältnisse im anorganischen wie im organisch-biischen wie endlich im menschheitlichen, im Und da leiblichen wie im seelischen Reich beherrscht. gilt es ihm wie eine selbstverständliche Voraussetzung, daß die unterste und damit dann freilich auch entscheidende Schicht im Geschehen der Gestirne zu suchen ist. Auch im Sinne heutiger Sternkunde sind hier die Gedankengänge Herders, die sich freilich schon an Kants Himmelskunde anlehnen konnten, völlig richtige. Und völlig anstoßfrei ist der Aufbau der Ordnungen, die er schichtenweise auf dieser untersten Grundlage errichtet. Er krönt diesen Bau mit dem Satze: »Wie \ und im menschlichen Leben sollte nicht eben dies Gesetz walten, das inneren Naturkräften gemäß aus dem Chaos Ordnung schafft und Regelmäßigkeit bringt in die Verwirrung der Menschen 1 «. Und hier knüpft nun im Dienste desselben Optimismus, in dem der Aufbau von Welt und Menschheit im außer- und vorgeschichtlichen Sinn in der Darstellung der Ideen bis zu diesem Punkte gedacht ist, eine Lehre vom Verlauf der Geschichte in aszendierender, in aufsteigender Richtung an. Herder sieht den eigentlichen Verlauf der Geschichte als ein Wachstum wahrer Humanität und zugleich als eine Abnahme der zerstörenden Dämonen. Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 215. Es sei erlaubt darauf aufmerksam zu machen, daß die zwar seit Jahren in der Handschrift vorliegende, jedoch noch nicht gedruckte erste Hälfte von Bd. I meiner Gesellschaftslehre (in Buch IV) den hier in wenigen Zeilen von Herder vertretenen Gedanken der Ordnung zum Leitgedanken eines ganzen Teiles in diesem Band erhebt. Bekannt war mir aber, als ich diesen Teil (1923) niederschrieb, dieser Gedankengang Herders nicht, auch nicht, als ich in einem kurzen Aufsatz Ordnung und Willkür im Leben der Gesellschaft (Kölner Vierteljahrshefte f. Soziologie, herausgeg. von L. v. Wiese X I I [1934] 230f.) eine Vorankündigung dieses Gedankens veröffentlichte. Ich habe erst 1935 diesen Gedanken von Herder kennengelernt.

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Deutsche Geschichtswerke: Herder: Zweck der Geschichte.

Gewiß wird man bestimmte Bedenken, vor allem gegen das Nein und den Tadel dieses Satzes, nicht unterdrücken können; im ganzen aber wird man alle die Veränderungen, die das achtzehnte Jahrhundert unter dem Namen des Fortschrittes der Menschheit, das neunzehnte als Fortschritt der Zivilisation zusammenzufassen pflegte, in ihrer groben Tatsächlichkeit nicht bestreiten können, so wenig man sie auch nach meinem Urteil als Fortschritt der Menschheit wird bezeichnen dürfen. Ich glaube, die Auffassung, die ich seit Jahren vertreten habe: es ist verboten vom Fortschritt der Menschheit zu sprechen, ist die richtigere, aus dem sehr einfachen Grund, weil die Seele des Menschen sich aus verschiedenen Kräften zusammensetzt; so kann auch im Querschnitt eines einmaligen Bestandes ihr Zusammenwirken ein sehr verschiedenartiges sein, ebenso wie im Längsschnitt ihrer Entwicklung die Abfolge des Stärker- oder Schwächerwerdens der einzelnen Kraftreihen ein mannigfach wechselndes sein kann. Da es sich hierbei nur um die sich steigernde Auswirkung des Verstandes und seiner Organisation handelt, wird man gegen den dritten der Grundsätze, die Herder für seine Behauptung anführt, nichts einzuwenden haben. Er lautet: der Fortgang der Künste und Erfindungen selbst gibt dem Menschengeschlecht wachsende Mittel in die Hand, das einzuschränken oder unschädlich zu machen, was die Natur nicht auszutilgen vermochte. Es liegt ja hier einer der Vorgänge vor, die von Driesch so glücklich als kumulative Entwicklung bezeichnet worden sind, als häufendes Fortschreiten: die Mittel der Zivilisation haben sich durch Ansammlung gesteigert. Und glücklicherweise wird Herder hier durch den Fortschritt seiner Gedanken dazu geführt, einen der Irrtümer wieder zurückzunehmen, die ihm, wie noch eben dargetan, in seiner voraufgehenden Darlegung unterlaufen waren: er wird gewahr, daß sogar die Form von Seelenkräften, die nicht einmal den an sich fördernden, sondern eher den störenden zugerechnet werden müssen, auch

Verkettung1 der Zeiten und ihre kumulative Wirkung.

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dem Fortschritt in seinem Sinne dienen muß. Er findet, daß die Leidenschaften des Menschen, die in seinem Innern die Rolle der Stürme auf dem Meer, des verwüstenden Feuerelementes spielen, selbst vorwärtstreibende Kräfte darstellen. Durch sie und an ihnen, so meint er jetzt, habe unser Geschlecht seine Vernunft geschärft und tausend Mittel, Regeln und Künste erfunden, die wütenden Leidenschaften selbst einzuschränken, ja sie zum Besten zu lenken. Ein leidenschaftsloses Menschengeschlecht hätte auch seine Vernunft nie ausgebildet, es läge noch in einer Troglodytenhöhle Man kann diese Worte Herders nicht ohne Verwunderung vernehmen; denn was gibt es wohl Vernunftloseres auf der Welt als die Leidenschaften, auch in der Sprache Herders gesprochen ? Und nun werden sie zum Quell der Vernunft gestempelt. Die wesentlich optimistische Grundauffassung Herders gipfelt recht eigentlich in der Behauptung, daß die Humanität in einem beständigen Fortschreiten begriffen sei. Die Ursache hierfür sieht Herder zunächst in dem, was er sehr klug die Verkettimg der Zeiten nennt. Er versteht darunter den stets den Besitz mehrenden Erbgang der Zeiten. Und die häufende oder — um mit Driesch zu reden — die kumulative Wirkung dieses Erbganges wird von ihm keineswegs auf die Aufstapelung von immer neuen Kulturgütern bezogen, sondern ebenso auf das Wachstum der Kräfte. Herder geht allerdings nicht so weit, daß er die K r a f t seiner Gegenwart als der des klassischen Griechentums überlegen einschätzt. Er sagt: »Man erfinde, man singe jetzt eine Iliade, man schreibe wie Aeschylus, Sophokles und Plato; es ist unmöglich. Der einfache Kindersinn, die unbefangene Art die Welt anzusehen, kurz, die griechische Jugendzeit ist vorüber 2 .« Zieht man in Betracht, daß diese Worte in den Tagen der beginnenden Blüte des Neuhumanismus gesprochen

2

Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 220, 221. ) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 237.

254

Deutsche Geschichtswerke: Herder: Zweck der Geschichte.

wurden, so erregen sie kein Erstaunen. Immerhin sei erinnert an die einschränkende Beobachtung, in der es heißt: »Keinem Volk der Erde tut man sein Recht an, wenn man ihm ein fremdes Ideal der Wissenschaft aufdringt . . . Man hat die Griechen oft mit Lob und Tadel unbillig überhäuft . . . Der menschliche Geist hat sich in Griechenland wie überall seinen Raum erkämpfen müssen; den er sich aber doch zuletzt wirklich erkämpfte1«. Hier läßt sich deutlich erkennen, daß Herders Humanität doch nicht identisch mit dem neuen Humanismus ist, sondern Lob und Bedingnis mit all der spitzfingerigen Feinheit gegen einander abgrenzt, die seine unnachahmliche Weise war, sehr im Gegensatz zu den Vermengungen, die manche Kulturkonfusionarien unserer Zeit vornehmen wollen. Die beständige Erweiterung des bewohnten Sitzes der Menschheit auf der Erde wird von Herder hoch eingeschätzt und kann gewiß nicht bezweifelt werden. Als etwas bedenklicher mag die These Herders angesehen werden, daß alle bisherige Tätigkeit des menschlichen Geistes kraft ihrer inneren Natur auf nichts anderes als auf Mittel ausgegangen sei, die Humanität und Kultur unseres Geschlechts tiefer zu gründen und weiter zu verbreiten. Auch hier macht sich Herders gütige und im Grunde tief heitere Natur geltend. Er müßte sonst zum wenigsten der unterbrechenden und oft wohl auch rückläufigen Gegenbewegungen gedenken. Und wenn er dann schließt: es waltet eine weise Güte im Schicksal der Menschen, daher es keine schönere Würde, kein dauerhafteres und reineres Glück gibt, als im Rat derselben zu wirken, so mag in seiner zarten und sanften Seele, gleichviel ob bewußt oder unbewußt, der Gedanke gewohnt haben, er, der einer der großen Wegeweiser der Menschheit wurde, gehöre zu denen, die im Rat des Schicksals dieser Menschheit sitzen2. !) Ideen III (Sämtl. Werke XIV) 124. ) Ebenda 238, 244.

2

Kulturerweiterungen; die deutschen Völker.

255

Sechstes Stück. Neueuropäische Wachstümer. Es sind hauptsächlich geohistorische, erdkundlichgeschichtliche Zusammenhänge, an die Herder anknüpft, indem er sich zu dem neueuropäischen Weltalter hinwendet. Es ist im wesentlichen nicht eigentlich ein anderes Weltalter, nicht die seit der Völkerwanderung verflossenen Jahrhundertereihen gesamteuropäischer Geschichte, an die er, wie wir Heutigen tun, vorzüglich denkt, sondern der nordeuropäische Völkerkreis, der ihm als der Träger dieser neuen Reihe von Schilderungen vorschwebt; es ist bezeichnend, daß er, wenn er sich seinem neuen Gegenstand zuwendet, die Grenze für ihn bei den Alpen zieht. Erst wo er von der römischen Kirche zu sprechen beginnt, zieht er auch Südeuropa mit in den Kreis seiner neuen Geschichtsbetrachtung. Dieser Kreis umfaßt Basken, Galen, Kymren, Finnen, Slaven; die Germanen bilden seinen Kern. Auffällig, wie objektiv er von diesem Kernvolk spricht; er weiß die kriegerischen Tugenden der Germanen zu schätzen, aber er macht darauf aufmerksam, daß es ihnen an anderen Tugenden gefehlt habe, die sie ihrem Hauptbedürfnis, dem Kriege, nicht ungern geopfert hätten. Er rühmt ihnen nach, daß sie sich im Kampf gegen die Römer zum Kriege tüchtig gemacht, zugleich aber auch Europa gegen die Barbaren des Ostens geschützt hätten. Er hebt des weiteren hervor, daß die deutschen Völker dieselbe Treue, die sie ihren Königen und ihrem Adel bewahrt haben, auch dem Christentum zugewandt hätten. Ihr Verhältnis zu Europa umschreibt er in dem Sinn, daß ihre kriegerische Stärke die Grundveste für die Kultur, Freiheit und Sicherheit Europas geworden sei 1 . Das Christentum faßt Herder auf als die Hervorbringung des einen Menschen, von dem es seinen Namen führt. Den Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 274, 276, 277.

256 Deutsche Geschichtswerke: Herder: Neueuropäische Wachstümer.

Sinn der von Jesus begründeten Glaubensgemeinschaft erblickt er, für unser Begreifen einigermaßen einseitig, in der Humanität, deren Lehre in den wenigen Reden enthalten sei, die von ihm aufbewahrt seien. Diese Humanität habe Jesus, so lehrt Herder, im Leben bewiesen, durch seinen Tod bekräftigt. Daß er sich selbst am liebsten den Menschensohn genannt habe, sei ebenso zu deuten. Daß er unter den Armen und Bedrängten seine Anhänger fand, daß er von denen, die das Volk scheinheilig bedrückten, bald aus dem Wege geräumt sei, sei die natürliche Folge der Situation gewesen, in der er sich befand. Seine Absicht war, so deutet Herder sein Tun, Menschen Gottes zu bilden, Menschen, die aus reinen Grundsätzen das Wohl anderer förderten und selbst duldend im Reich der Wahrheit und Güte als Könige herrschten. Der Mensch könne, so lehrt Herder, kein anderes Ideal der Vollkommenheit und Glückseligkeit auf Erden haben, als diese allgemein-wirkende reine Humanität 1 . Jesus' Lehre, das ist das von Herder überlieferte Bild, bezieht sich so auf die von ihm verkündete Sittlichkeit. Völliger Ablehnung bei Herder begegnet dagegen die Religion, die nicht diesem lebendigen Entwurf zum Wohl der Menschen, sondern dem Glauben an Jesus, d. h. der gedankenlosen Anbetung seiner Person und seines Kreuzes gilt 2 . Kein Zweifel, nicht nur dem gläubigen Christen, nein auch dem um reine Überlieferung des Tatbestandes besorgten Geschichtsforscher werden mancherlei Bedenken kommen angesichts dieses herderischen Christusbildes: Beiden wird viel zu wenig Gottesgläubigkeit und auch viel zu wenig Christusgläubigkeit in ihm enthalten sein. Für die Geschichtsauffassung, die Herder in sich gebildet hatte und die freilich in etwas auch die seiner Zeit war, ist bezeichnend die eigentümlich den Glaubensgehalt versachlichende und — wenn man !) Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 290f. 2 ) Ebenda 291 f.

Jesus' L e h r e ; K r i t i k des Christentums.

257

will — ihn zugleich entpersönlichende Grundrichtung. Auch dies ist eine Sehweise, die sich mit damaligen Richtungen der Wissenschaft und insbesondere der Geschichte deckt. Und man ist erstaunt, Herder sich ihr anschließen zu sehen. Man würde viel eher erwarten, daß dieser Geist der stärksten Gefühlsmäßigkeit und der lebendigsten Einbildungskraft sich weit sicherer von der Partei der Sache hätte abwenden und der der Person zuwenden wollen, denn das war doch die Partei von Glut, Feuer und Leben. Die vollkommene Sachlichkeit Herders brachte dann freilich auch an sich erfreuliche Wirkungen hervor. Wie er über die Ausbildung und die weitere Entfaltung des christlichen Glaubens spricht, das ist ein Muster von recht eigentlich wissenschaftlicher Denkweise, einer Weise, die eben darum nicht wohl rechtgläubiger oder auch nur gläubiger Art sein konnte. Herder vermerkt mit Kühle, daß aus dem Bruderschaftssinn und dem Gemeinschaftsgefühl, wie es unter Jesus' eigener Hand in der frühesten Christenheit emporwuchs, neben vielem Segen doch auch eine Überschätzung von Almosen und Wohltun genährt wurde, in der er, hierin vielleicht allzusehr Protestant, eine schicksalschwere Voraussetzung erblickt. Aus dem Grundsatz, der für die christliche Gemeinde eine Verfassung forderte, die ohne weltlichen Arm von Vorstehern und Lehrern geleitet werden sollte, sieht er Mißbräuche der Verweltlichung und Simonie ohne Zahl hervorwachsen. Die denkbar einfachsten Bekenntnisformeln werden die Anlässe zu den bittersten Zwistigkeiten, zu Verrätereien und Greueltaten. Das Schrifttum, das die Christenheit entstehen läßt, wird eine Quelle der parteiischsten Mißdeutungen, ja der betrügerischsten Entstellungen, so sehr, daß man statt von punischer Treue von christlicher Glaubwürdigkeit hätte reden können. An Stelle der ausgezeichneten Geschichtsschreibung, wie sie die Griechen gepflegt, ist, so meint Herder, eine Bischofs-, Kirchen- und Klosterchronik von sehr geringen Graden getreten. Die ursprüngliche Enthaltung von unnützem Zeremoniendienst, die Beschränkung B r e y s i g , Meister der Geschichtsforschung.

17

2 6 8 Deutsche Geschichtswerke: Herder: Neueuropäische Wachstümer.

auf zwei höchst einfache Festbräuche weicht, die Taufe der Unschuldigen wird zur Teufelsbeschwörung, das Gedächtnismahl eines scheidenden Freundes zur Schaffung eines Gottes, zum unblutigen Opfer, zum Sünden vergebenden Mirakel, zum Reisegeld in die andere Welt. Durch eine Vermählung dieser Gebräuche mit einer Kunst von üblem Geschmack entsteht dann ein Gebilde, das dem menschlichen Geist eine unglaublich schiefe Form gibt. Die pisciculi Christiani, so schließt er, schwammen Jahrhunderte lang in einem trüben Elemente 1 . In allen diesen Urteilen offenbart Herder eine Unbefangenheit, ja auch eine Schärfe der Kritik gegenüber dem mittelalterlichen Christentum, die im Munde eines hohen und leitenden Geistlichen der Kirche doch Wunder nehmen muß. Ja man wird nicht leugnen dürfen, daß eine wohl im wesentlichen antikatholische Abneigung hier Herder in eine Strömung von überscharfem Urteil und ganz unbegründeter Tadelsucht hat geraten lassen. Man begreift nicht, wie Herder die Wunder von Schönheit und Adel der mittelalterlichen Kultur und der ihr dienenden Kunst so hat verkeimen können, wie es hier geschieht. Die Psychologie dieses Mißurteils ist schwierig zu durchdringen; war es nichts als bis zur Torheit gesteigertes protestantisches Vorurteil, oder war es eine Hineinsteigerung in eine einmal gefaßte Parteinahme, wie sie auch ganz geistigen Menschen widerfahren kann? Vielleicht beides. Niemals gelangt in diesen Darlegungen Herder zu der wohlwollenden Einstellung, die wir sonst so sehr an ihm lieben. Aus der Stille, in der Jesus ehelos lebte, seine Mutter als Jungfrau lebte, erwächst ihm das Klosterwesen und mit ihm Unrat und Laster aller Art. Und an die Stelle des Reiches der Himmel, das Jesus auf der Erde gründen wollte, tritt die prophetische Schwärmerei der Chiliasten und Wiedertäufer. Ein lächerlicher Zufall, ein augenscheinlicher Betrug Ideen IV (Sämtl. Werke X I V ) 297, 301 f.

Beurteilung des Mittelalters; F o r m u n g e n des Christentums.

259

setzt ganze Länder in Aufruhr; das geglaubte Ende der Welt jagt ganz Europa nach Asien. Nur zuweilen richtet reinerer christlicher Enthusiasmus das Gute aus 1 . Man könnte finden, daß in allen diesen Feststellungen die Beschreibung überwiegt. Dennoch ist kein Zweifel, daß entwicklungsgeschichtliche Gedanken mitwirken. Alle diese Tatbestände im christlichen Geschehen sind Glieder in der Kette des Werdegangs des Ein-Gottes-Glaubens; aus ihnen allen setzt sich erst die volle Breite des Glaubensbekenntnisses im Querschnitt des Geschehens zusammen. Am wenigsten wird die eine Gestalt des Gründers oder recht gesagt des steten Erneuerers dieser Glaubensform aus dem Bannkreis des Entwicklungsgedankens entfernt gedacht werden können. Sie beherrscht in immer neuen Umformungen alle Zeitalter der christlichen Glaubensgeschichte; sie bildet den Urkern dieser sich wandelnden Gestalten. Im selben Sinn sind die Geschichten der Nebenformen des jüdischen Christentums im Morgenland, in den griechischen, in den lateinischen Ländern des antiken Kulturkreises Entwicklungen wie sie. Selber Ströme, fließen sie in das Hauptgewässer des west- und mitteleuropäischen, wir würden sagen: des neueuropäischen Glaubensgeschehens ein, mancher von ihnen selbst noch in viel späteren Zeiten Spuren zurücklassend. So wenig es hier nötig ist, von diesen lang hingehenden Geschichtsverläufen Akt zu nehmen, so wenig bedürfen es auch die Einzelgeschichten der Germanen, insbesondere der deutschen Stämme. Man wird auch in ihnen entwicklungsmäßige Verkettungen finden; zumeist aber werden in ihnen soviel Einzelereignisse mitgeteilt, daß die Darstellung sich teilweise in beschreibende Geschichte verwandelt 2 . In den Schilderungen, die dem Werdegang des römischkatholischen Kirchentums gelten, überwiegen wieder langhin sich streckende Entwicklungen: so etwa, wenn das Umsich>) Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 302f., 305. Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 343ff.

2)

17*

2 6 0 Deutsche Geschichtswerke: Herder: Neueuropäische Wachstümer.

greifen des römischen Bistums oder wenn die Einwirkungen der römischen Hierarchie auf Europa verfolgt werden. Immer von neuem setzt sich Herders Bestreben, die Fülle der Einzelverläufe zu straff zusammengefaßten Gesamtentwicklungen zu verknüpfen, auf das erfolgreichste durch. Wenn d'e Ausstrahlungen weltlicher und geistiger Macht, die von der römischen Kirche ausgingen, verfolgt werden, so sind es immer in sich durch die Zeiten hingehende Werdegänge, durch die mannigfachsten Verkettungen zusammengehalten. Die alte Kritik am Katholizismus wird festgehalten, wenn auch in verminderter Schärfe1. Eigens wertvoll erscheint dieses kritische Verhalten dort, wo es durch die zugänglichen Schichten des sichtbaren Geschehens zu den minder leicht erkennbaren Tiefen der Kulturzusammenhänge vordringt. So wenn die in Wahrheit kaum zu ermessende Verwüstung umrissen wird, die die Vorherrschaft der lateinischen Kirchen- und Urkundensprache in der Geistigkeit der einzelnen Völker angerichtet hat — wir pflegen nicht ganz richtig immer nur an Deutschland zu denken2, die anderen Volkstümer, selbst die romanischen, sind aber auch beteiligt. Es wird Herder zu einem seiner größten Verdienste angerechnet werden müssen, daß er auf diesen — meines Wissens noch bis auf den heutigen Tag nicht im mindesten nach Gebühr gewerteten — Hergang von Kulturzerrüttung aufmerksam gemacht hat. Und es wird ihm eigens hoch angerechnet werden müssen, daß er hier nicht, wozu doch bei seinem leidenschaftlichen Temperament die Versuchung sehr nahe lag, sich zu übertriebenen Anschuldigungen hinreißen ließ, sondern im Gegenteil die Klagen und Anklagen, die er vorbrachte, höchst umsichtig eingrenzte. !) Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 402ff., 410ff. 2 ) An diese Schranke war selbst mein seit langem öffentlich angemeldeter Protest gebunden. (Vgl. Kulturgeschichte der Neuzeit II 2 [1901] 709—712, ferner: Vom deutschen Geist und seiner Wesensart [1932] 250ff.)

Verwüstungen an den Volkssprachen; Kulturverluste.

261

Er spricht von den Akten sämtlicher Nationen Europas, ihren Gesetzen, Schlüssen, Vermächtnissen, Kauf- und Lehnsinstrumenten, die alle in der fremden Sprache abgefaßt wurden. Aber er redet doch wenigstens nur von der Rohheit, in der die Sprachen dadurch gelassen wurden, und er macht geltend, daß ein Volk sich nur durch die Kultur der vaterländischen Sprache aus der Barbarei heben könne. Er geht auch so weit, zu sagen, daß die Mönchssprache den Völkern die Reste ihrer Denkmale nahm und ihnen so auf lange Zeit einen vaterländischen Kodex ihrer Gesetze, eine eigentümliche Verfassung, eine nationale Geschichte ganz unmöglich machte. Nur eine wichtige, man möchte denken, die wichtigste Klage vermißt man, auf die man doch am wenigsten gern verzichten möchte: es ist die — zum mindesten in Deutschland einer furchtbaren Verwundung gleiche — Ersetzung auch der eigenen Dichtung durch eine Fremdsprache. Gerade von dieser schlimmsten Verletzung des Stammes unserer Kultur schweigt Herder, obwohl durch sie aus dem ungestörten Wachstum mehr als das volle Drittel eines Jahrtausends wie durch eine greuliche Amputation des Geistes herausgeschnitten wurde, und obwohl auch damit der unserem Volksgeist zugefügte Verlust nicht erschöpft ist. Denn wer vermag zu sagen, wie viel der Kraft des Werdens und des Wachsens in der Geschichte diesem unserem Volksgeiste geraubt worden ist durch die zwischen 800 und 1150 klaffende Lücke in unserer völkischen Sprach- und Geistesentwicklung. Wie furchtbar dieser Verlust war, mag man sich dadurch deutlich machen, daß man sich — in einer nicht ganz unmöglichen Parallele — vorstellt, die Verdrängung der deutschen durch die französische Verkehrs- und Literatursprache zwischen 1650 und 1750 habe sich nicht auf ein, sondern auf drei Jahrhunderte erstreckt. Wenn Herder diese Lücke in seiner Darlegung offen ließ, so hat er einen anderen Hinweis an ihre Stelle treten lassen: er macht darauf aufmerksam, daß die einzige russische Geschichte auf Denkmale der Landessprache gebaut sei.

262 Deutsche Geschichtswerke: Herder: Neueuropäische Wachstümer.

eben weil der russische Staat wie die russische Kirche sich der Übermacht der römischen Hierarchie entzogen1. In allen anderen Ländern Europas hat die Mönchssprache verdrängt, was sie hat verdrängen mögen. Wenn Herder als einen Ersatz für so vielen von ihm gehäuften Tadel das Lob ausspricht, die römische Kirchensprache habe als eine Notsprache, ein schmaler Übergang, eine Notbrücke gedient, auf der sich die Literatur des Altertums für eine bessere Zeit retten konnte, so mag auch diese Bemerkung mehr unter dem Einfluß neuhumanistischer Zeitströmungen entstanden sein. Der Gedanke, daß die Forterhaltung der beiden alteuropäischen Sprachen wirklich hätte in Frage gestellt werden können, kann ja ohnehin ernstlich nicht in Erwägung kommen. In auffällig kurzer Umbiegung hat gegen den Schluß seiner Darstellung hin Herder sich den Arabern zugewandt. Die Behandlung ihrer Geschichte ist zumeist beschreibend; doch dienen auch einzelne allgemeine Beobachtungen dem Entwicklungsgedanken. So wenn er meint, da die Macht des arabischen Reiches aus den Tugenden des Enthusiasmus entsprungen sei, so habe sie auch nur durch die gleichen Tugenden erhalten werden können2. Von hohem Wert ist die Vergleichung und Zusammenfügung der an sich ganz verschiedenen Wirkungen, die einmal vom handelnden Leben der Araber, von ihrer politischen Macht und von ihrem so weit ausgebreiteten Handel ausgegangen sind, demnächst aber noch von der hohen geistigen Gewalt der Araber, von ihrem Glauben, ihrer Philosophie, ihren Wissenschaften, ihrer Sprache und ihrer Dichtkunst, insonderheit hierbei von ihren Märchen. Auch daß er auf einen augenfälligen Mangel aufmerksam gemacht hat, auf ihre entweder nur dürr beschreibende oder am unrechten Ort phantastisch dichterische Geschichtsschreibung, ist von Wert. Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 415. ) Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 435.

2

Die Araber; die Kreuzzüge und ihre geistigen Mängel.

263

Wenn eine Lücke in Herders Darstellung — die Nichtberücksichtigung der bildenden Kunst der Araber — vorhanden ist, so ist um so rühmlicher, daß er auf einen Grenzbezirk eingeht, in dem sich Macht und Geist einander decken: auf ihren Rittergeist 1 . Zwei Quellen der Kreuzzüge, oder richtiger gesprochen des Kreuzzugsgeistes sind es, von denen Herder mit eigenem Nachdruck handelt: der Handelsgeist und der Rittergeist. Wie er den letzteren als aus arabischen und normannischen Einflüssen zusammengeströmt schildert, ist ein Meisterstück entwickelnder Geschichtsschreibung. Von ganz eigentümlichem Reiz und zugleich von hochgradiger Selbständigkeit des geschichtlichen Urteils zeugt die Beurteilung der Kreuzzüge selbst. Herder sagt von ihnen, noch ehe er sich auf ihre Schilderung im einzelnen einläßt: sie waren nichts als eine tolle Begebenheit, die Kuropa einige Millionen Menschen kostete und in den Zurückkehrenden größtenteils nicht aufgeklärte, sondern losgebundene, freche und üppige Menschen zurückbrachte 2 . Und wo er das Geschehen selbst im einzelnen zu schildern beginnt, da sagt er nicht viel wohlwollender: eine unglaubliche Anzahl andächtiger, wilder, leichtsinniger, unruhiger, ausschweifender, schwärmender und betrogener Menschen aus allen Ständen und Klassen, sogar beider Geschlechter, versammelten sich, die Heere wurden gemustert und Peter der Einsiedler zog barfuß und mit einer langen Kapuze geziert einer Schar von 300000 Menschen voraus 3 . Es bedarf langen Nachsinnens, will man zu den seelischen Gründen vordringen, die Herder bewogen haben mögen, eine solche Fülle in die Irre gehender Unterstellungen für ein so wichtiges, so tiefgreifendes geschichtliches Geschehen zusammenzubringen. Es ist, als hätte dieser Geist, der doch selbst fort und fort von seelischen Erregungen und Bewe!) Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 437ff. 2 ) Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 448. 3 ) Ideen IV (Sämtl. Werke XIV) 466.

2 6 4 Deutsche Geschichtswerke: Herder: Neueuropäische Wachstümer.

gungen durchbebt war. derlei Geschehen gar nicht begriffen, •wenn es eine seinem eigenen Zeitgefühl fremde oder gar entgegengesetzte Richtung einschlug. Man wird nicht sagen dürfen, daß er den Kreuzfahrern Unrecht getan hat, wenn er auch ausschweifende und betrogene Menschen unter ihnen fand; aber warum er die aus den Tiefen des Gemütes aufsteigende Gläubigkeit und den wilden Enthusiasmus religiöser Erregimg bei ihnen nicht entdeckt, den er doch den Arabern ohne alles Bedenken zubilligt, ist nicht zu verstehen. Selbst wenn er von ihrer Gesinnung als einer heiligen Narrheit spricht, ist dies doch weit gefehlt. Am ehesten ist der Grund seines Irrens noch in dem dem Zeitalter angehörenden, doch darum noch keineswegs geheiligten Gedankenkreis der Aufklärung zu suchen, der, allzu rationalistisch wie er war, gegen alle Dinge des Glaubens eigens verständnislos war. Eine in dieser Richtung nur noch spezialisierte Abneigung gegen den Katholizismus kommt hinzu. Weder weise noch eigentlich menschheitlich ist dies alles gedacht, und ein heutiger Verehrer Herders wird dem Gedanken nicht wehren können, daß es Herder wohl angestanden haben würde, wenn er beide Irrtümer vermieden hätte. Vor allem ist erstaunlich, daß Herder nicht gewahr wurde, daß in dem Gedanken der Aufklärung und der mit ihr verbundenen Selbstverherrlichung und Selbstüberschätzung ein Anzeichen von nicht eben klugem Dünkel lag, auf den dieses Zeitalter am wenigsten hätte stolz sein sollen. Man wird nicht genug beklagen können, daß Herder, nachdem er diesen unzureichenden Würdigungen des Mittelalters noch einige Nachrichten über Mystik und Scholastik, über Städtewesen und Technik beigefügt hatte, das große Hauptwerk seines Lebens abgebrochen hat und es dergestalt als einen Torso hat liegen lassen. Nur die eine Betrachtung darf uns trösten, daß die großen Grundgedanken seines Geschichtswerkes in ihrer inneren Vollständigkeit uns auch in den erhaltenen neun Zehnteln des Ganzen bewahrt sind.

Die Ideen nicht vollendet; der Dichter Herder.

265

Schluß. Die T r a g ö d i e

eines großen

Menschen.

Daß Herder sein großes Geschichtswerk nicht vollendet hat, bedeutet einen schweren Verlust für unsere Wissenschaft. Trauriger ist, daß dies Geschehen doch in etwas Bild und Zeichen einer Lebensbahn gewesen ist, die allzu früh, allzu steil sich senkte und zuletzt dann gar dem Abgrund völligen Versagens entgegeneilte. Von dem härtesten Schicksal, das Herder betroffen hat, ist am wenigsten, ja im Grunde fast gar nicht gesprochen worden. Es ist ein Geschehen, das sich an ihm vollzog, ohne daß es je zu einem Zusammenbruch der Kräfte, zu einem völligen Knick in seiner Lebenslinie geführt hätte, und das doch den schwersten Verlust an Hervorbringung, an Leistung, ja selbst an K r a f t in seinem Leben bedeutete. Es ist, daß er nicht in dem Sinne Dichter geworden ist, wie die überreichen Anlagen seines Wesens es ihm erlaubt, ja von ihm gefordert hätten. Herder hat an einem der großen Wendepunkte der Geschichte der deutschen Dichtung gestanden. Das Zeitalter Rousseaus, das in Deutschland schon einige Zeit vor Rousseau beginnt, war durch Klopstocks Oden und seinen Messias eröffnet worden, hatte aber auch durch Bürger und den Göttinger Hain nicht die Breite einer neuen Bewegung annehmen können. Da hat Herder, ein Jahrzehnt vor Goethes Götz, dramatische Werke geschaffen, die zwar nur einem ganz begrenzten Leserkreise zugänglich wurden, die aber doch eine Gipfelhöhe dichterischer Leistung erreichten, die — auch nur zwei Jahrzehnte eingehalten — das Bild unserer Dichtung gewaltig erhöht und gesteigert hätte. Es ist Der Fremdling auf Golgatha von 1763, einzelne Zeilenreihen aus dem Brutus desselben Jahres, aus dem Altargesang der Opferer von 1765 und aus dem Oratorium von 1773 Die Kindheit Jesu. Simeons Pro-

266

Deutsche Geschichtswerke: Herder: Schluß.

phetengesang soll hier aufgerufen werden als ein Beispiel dieser höchsten Kunst 1 : Mich reget Geist Ich seh! ich seh! Er wird ein Licht den Völkern sein und seinem Volke Trost und Ruhm! und vielen Heil! und vielen Fall! und allen Kampf! — ich seh, ich seh ein Licht der Welt! — Dir aber, Mutter, wird er sein ein Schwert ins Herz! Gewiß, auch in diesen Werken ist nicht alles Vollendung, aber sie enthalten Vollendetes. Das Wesentliche an ihnen aber ist, daß sie noch geraume Zeit vor der Zeitschicht in Goethes Entwicklung, die ihnen entspricht, die Klangfarbe erreichten, für die er seinem Saitenspiel hundert Lieder und ganze Dramen entlockt und die er noch für die Werke seiner höchsten Prosa, für den Preisgesang auf Erwin von Steinbachs Münster und die »Rede zum Schäkespeara Tag« bewahrt hat. Goethe selbst hat, was nie auszuklagen ist, diese Reihe nicht vollenden können; mit dem ewig großen Bruchstück Prometheus von 1773 bricht sie ab. Die Iphigenien- und Tasso-Zeit mit allen ihren Klassizismen, Verdünnungen und Verglättungen hat den starken Atemzug des Zeitalters großer Jugend nicht beibehalten können; Herder aber hat wohl Kraft genug behalten, mit der All-Liebe seiner Übersetzerkunst den Erdball zu umspannen, aber zu eigenem Dichtwerk von starken Maßen ist er nie wieder emporgestiegen: der halbstarke posthume Cid von 1803 und mehr noch der schwache Entfesselte Prometheus von 1802 erweisen es zur Genüge. Zu so großen Spannungen hat die klafternde Macht seiner Arme nun nicht mehr ausgereicht. Trauriger als alles aber war doch das völlige Herabgleiten seines Menschentums; daß er in den Adrasteaschriften seiner Die Kindheit Jesu (Sämtl. Werke X X V I I I [1884] 32).

Zeitlage der deutschen Dichtung; Herders Gesamtleistung.

267

letzten J a h r e es über sich gewann, Goethe und Schüler auf das gehässigste, wenngleich versteckt, anzugreifen, ist nicht zu entschuldigen, so kühl und hart Goethes Verhalten zu ihm gewesen sein mag. Aber zuletzt siegt doch auch im Leben der Großen nicht die Stunde, nicht das Jahr, noch kaum das Jahrzehnt, sondern der lange Atemzug eines ganzen Lebens. Und vielleicht ist auch der wahre Grund aller dieser Mängel und Schwächen von Herders Tun und Leisten in seinem letzten Jahrzehnt, daß ihm dieser Atemzug wenn nicht ausgegangen, so doch sehr viel schwächer geworden war und sich dem Vergehen näherte. Diese spätesten Leistungen könnten ohne Schaden aus dem Gesamtbild von Herders Schaffen fortgedacht werden. Und wollte man das Bild der Gewichteverteilung in seinem Leben bis zur letzten Summe ausdeuten, so dürfte man sagen: die Entwicklungsgeschichte hat in ihm den Sieg davongetragen über das Einzelgeschehen. Der Zug seiner großen Werke durch seine Jahre hat über Wert und Rang seines Lebenswerkes entschieden. Und wenn seine Kraft nicht immer, am wenigsten zuletzt, den großen Aufgaben standhielt, die er ihr stellte, so ist die Summe dessen, was ihm gelang, doch übergroß. Wer die Stimmen der Völker gesammelt und gar wer die Ideen zur Geschichte der Menschheit gedacht hat — jedes dieser zwei Werke war genug für eine Unsterblichkeit.

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