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German Pages [240] Year 2012
QUELLEN UND FORSCHUNGEN ZUR HÖCHSTEN GERICHTSBARKEIT IM ALTEN REICH HERAUSGEGEBEN VON ANJA AMEND-TRAUT, FRIEDRICH BATTENBERG, ALBRECHT CORDES, IGNACIO CZEGUHN, peter oestmann und Wolfgang Sellert
Band 62
Ludolf Hugo
Vom Missbrauch der Appellation
Eingeleitet und herausgegeben von Peter Oestmann Übersetzt von Bernd-Lothar von Hugo
2012 BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit Mitteln aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Ludolf Hugo, aus dem Familienbesitz der Familie von Hugo.
© 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20997-1
Vorwort Die Entstehungsgeschichte dieses Buches beruht auf einem günstigen Zufall. Es begann 2010 auf einem sommerlichen Gartenfest bei Albrecht Cordes, einer stimmungsvollen Feier zur Emeritierung von Joachim Rückert. Am Rande des Festes sprach mich Michael Stolleis auf eine Übersetzung an, die er vor kurzem zugeschickt bekommen hatte. Der Absender BerndLothar von Hugo, ein alter Bekannter aus Studientagen, hatte das lateinische Werk eines entfernten Verwandten aus dem 17. Jahrhundert ins Deutsche übertragen. Wegen der inhaltlichen Ausrichtung war es sinnvoll, dass ich mich um den Fortgang der Sache kümmerte. Schnell waren die Bande zu Bernd-Lothar von Hugo geknüpft. Nach seiner aktiven Zeit als Rechtsanwalt im Steuerrecht und im Eigentumsrecht der neuen Bundesländer hatte er sich mit dem Wörterbuch bewaffnet und ein nahezu vergessenes Buch des niedersächsischen Juristen Ludolf Hugo von 1662 zu neuem Leben erweckt. 350 Jahre nach dem Wolfenbütteler Erstdruck entstand so am selben Ort die deutsche Fassung. Die rechtshistorische Überarbeitung der Übersetzung war nicht einfach. In vielen Gesprächen und auch schriftlich tasteten wir uns an die Bedeutung der frühneuzeitlichen Begrifflichkeit heran. Die Zusammenarbeit verlief erfreulich unkompliziert, die Liste der offenen Wortbedeutungen schrumpfte immer weiter zusammen. Wort für Wort ging ich die Übersetzung zweimal durch, die lateinische Fassung auf den Knien, einen Sanddorntee auf dem Schreibtisch und den Sonnenaufgang über Wangerooge vor Augen. Doch blieben zahlreiche Literaturhinweise und Allegationen zu klären. Hier haben Astrid Thomsch und in der Endphase Sandro Wiggerich sowie Jan Philipp Kampmann wertvolle Dienste geleistet. In einer Zeit zurückgehender Lateinkenntnisse halten Übersetzungen den Zugang zur Geschichte offen, der sonst allzu leicht verschüttet zu werden droht. Gerade weil Ludolf Hugo die praktischen Schwierigkeiten des Appellationsprozesses nach dem Jüngsten Reichsabschied aus eigenem Erleben kannte, verdient sein Buch Aufmerksamkeit. In die Einleitung ist ein Vortrag mit eingeflossen, den ich auf einer Tagung des Österreichischen Staatsarchivs und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im September 2011 in Wien hielt. Die Herausgeber der „Grünen Reihe“ stimmten unkompliziert wie immer der Veröffentlichung
VI zu, Dorothee Rheker-Wunsch vom Böhlau-Verlag gewährleistete die verlegerische Betreuung und das zügige Erscheinen. Für die vielseitige Unterstützung danke ich an dieser Stelle gern und herzlich. Das Buch soll zugleich ein Beitrag sein zum Münsteraner „Zentrum für Textedition und Kommentierung“ (ZETEK). Dieser Verbund möchte durch Editionen, Übersetzungen und historisch-kritische Kommentare auf die herausragende Bedeutung von Quellen für die geisteswissenschaftliche Forschung aufmerksam machen. Die Erschließung und Veröffentlichung von Quellen dient nicht nur der Forschungsvorbereitung. Es handelt sich vielmehr um einen Kernbereich geisteswissenschaftlicher Arbeit mit großer Tradition, der auch weiterhin an Universitäten Pflege verdient. Münster, im Juni 2012
Peter Oestmann.
Inhaltsverzeichnis
Peter Oestmann Ludolf Hugo und die gemeinrechtliche Appellation ............................. 1
Ludolf Hugo Wie dem Missbrauch der Appellation abgeholfen und die Entlastung des Reichskammergerichts vom Übermaß an Appellationen erreicht werden kann ...................................................... 45 Vorwort und Erläuterung des Vorhabens ......................................................... 47
Erster Teil: Über die Verbesserung des Appellationsverfahrens ........................................ 56
Kapitel I: Der Kalumnieneid ist kein ausreichendes Mittel, die Leichtfertigkeit der Streitenden zu zügeln. Zugleich werden auch die Fehler der Streitenden, Kalumnien, Unbesonnenheit und Starrköpfigkeit erklärt ................................................................................................................ 56
Kapitel II: Das Appellationsverfahren wird kurz skizziert und seine wichtigste Grundlage, die Berechtigung zur Darlegung des nicht Dargelegten und zum Beweis des nicht Bewiesenen vorgestellt .................................... 71
Kapitel III: Darstellung verschiedener schädlicher Folgen, die aus neuem Vortrag in den Appellationen erwachsen ................................................................... 87
VIII Erste schädliche Folge .................................................................................... 87 Zweite schädliche Folge ................................................................................. 89 Dritte schädliche Folge ................................................................................... 90 Vierte schädliche Folge .................................................................................. 97 Fünfte schädliche Folge und weitere, die sich aus dem Vorstehenden ergeben ..................................................................................104
Kapitel IV: Es werden Überlegungen angestellt, ob die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag abgeschafft werden kann, wenn beiden Parteien vorgeschrieben wird, die entscheidungserheblichen Tatsachen sofort vorzutragen .....................................................................................................105
Kapitel V: Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag steht im Widerspruch zu Sinn und Zweck der Appellation ................................................................110
Kapitel VI: Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag ist das Verderben der Gerichtsverfahren und ein Anreiz für die Leichtfertigkeit der Streitenden ...............................................................................................113
Kapitel VII: Eine neue Verhandlung des Falles ist, nachdem das Gerichtsverfahren zunächst einmal abgeschlossen ist, nicht ohne Unterschied, sondern nur manchmal aus gewichtigen Gründen zuzulassen, aber nicht durch Appellation an das oberste Gericht, sondern durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beim gleichen Untergericht. Dann werden alle in Kapitel III aufgezählten schädlichen Folgen vermieden ..........................................................................................120
Kapitel VIII: Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag ist für die höchsten Reichsgerichte eine Belastung. Für die Reichsstände ist sie wirklich von Nachteil und steht daher unserer Reichsverfassung entgegen ..........................................................................................................138
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Kapitel IX: Der Vorschlag, die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abzuschaffen, wird anhand und am Beispiel etlicher Reichsgesetze untermauert ..........................................................................141
Kapitel X: Es wird auf Einwände eingegangen ...........................................................144 Einwände ........................................................................................................144 Antwort auf die Einwände ...........................................................................148 Zum I. Einwand ......................................................................................148 Zum II. Einwand .....................................................................................151 Zum III. Einwand ...................................................................................153 Zum IV. Einwand ...................................................................................154 Zum V. Einwand .....................................................................................158 Zum VI. Einwand ...................................................................................159 Zum VII. Einwand ..................................................................................159 Zum VIII. Einwand ................................................................................160 Zum IX. Einwand ...................................................................................160 Zum X. Einwand .....................................................................................164
Kapitel XI: Es wird erklärt, aus welchem Grund die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag eingeführt wurde. Zugleich lässt sich anhand der Unterschiede zwischen den Gerichtsverfahren im alten Rom und in unserem Reich zeigen, dass diese Rechtswohltat damals leichter geduldet werden konnte als heute ..............................................................166
Kapitel XII: Zur Verfestigung unserer Auffassung wird die Entstehung der Leuterationen und der Supplikationen erläutert. Außerdem wird untersucht, ob eine erneute Erörterung des Falles überhaupt nur durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder auch durch Supplikation oder Leuteration in den unteren Gerichten vorgesehen werden sollte ..................................................................................................175
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Kapitel XIII: Das Appellationsverfahren, das nach Abschaffung der Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag vorzusehen ist, wird vorgestellt, und es werden einige Ausnahmefälle angefügt, in denen den Appellanten eine erneute Sacherörterung zugestanden werden muss .................................182
Zweiter Teil: Wie sich die Leichtfertigkeit der Appellanten zügeln lässt ...........................187
Kapitel I: Ob es sinnvoll ist, den Kalumnieneid in einzelnen Fällen durch den Advokaten leisten zu lassen .........................................................................187
Kapitel II: Ob die durch Reichsgesetze festgesetzte Strafe für leichtfertige Appellanten schwer genug und zur Einschränkung der Leichtfertigkeit geeignet ist ..............................................................................................196
Kapitel III: Ein geeignetes Mittel, um die Leichtfertigkeit der Appellanten zu zügeln, wird vorgestellt .................................................................................198
Literaturverzeichnis .........................................................................................205 Register ................................................................................................................211
Ludolf Hugo und die gemeinrechtliche Appellation von Peter Oestmann.
1662 erschien in Wolfenbüttel ein kleines Büchlein: „Ludolphi Hugonis de abusu appellationum tollendo et Camera Imperiali immenso earum cumulo levanda, consultatio.“ Auf 175 Seiten ging es um Gebrechen des zeitgenössischen Prozessrechts. Die Gerichtsverfahren dauerten zu lange, insbesondere die Appellationsprozesse vor dem Speyerer Reichskammergericht. Ludolf Hugo, niedersächsischer Jurist und Schüler des großen Hermann Conring in Helmstedt, setzte sich mit Nachdruck für eine Verkürzung des Rechtsmittelverfahrens ein. Neuer Sachvortrag in der Appellationsinstanz schien ihm überflüssig, ja schädlich, und so forderte er, die obergerichtliche Tätigkeit auf die reine Prüfung von Rechtsverletzungen zu beschränken. Hugo war erst 30 Jahre alt, besaß aber jugendlich-wissenschaftlichen Schwung, bevor er sich später für eine Verwaltungs- und Regierungslaufbahn entschied. Nur ein Jahr zuvor hatte er ein verfassungsrechtliches Werk zur Rechtsstellung der deutschen Gebietskörperschaften vorgelegt1, das sich als wegweisend für die Lehre vom Bundesstaat erweisen sollte2. Jetzt ging es also um das Prozessrecht. Das Kameralverfahren im allgemeinen ist seit einigen Jahrzehnten vergleichsweise gut erforscht. Die wesentliche Gerichtsordnung ist modern ediert3, und eine normengeschichtliche Monographie schildert die Gesetzes-
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H e i n r i c h B i n n i u s (Präses)/L u d o l f H u g o (Respondent), De statu regionum Germaniae et regimine principum summae imperii, Diss. jur. Helmstedt 1661; jetzt in der Übersetzung von Yvonne Pfannenschmid: L u d o l f H u g o , Zur Rechtsstellung der Gebietsherrschaften in Deutschland (Geschichte 67), Münster 2005. Umfassend Y v o n n e P f a n n e n s c h m i d , Ludolf Hugo (1632-1704). Früher Bundesstaatstheoretiker und kurhannoverscher Staatsmann (Hannoversches Forum der Rechtswissenschaften 27), Baden-Baden 2005; außerdem M i c h a e l S t o l l e i s , Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Erster Band: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988, S. 238. A d o l f L a u f s (Hrsg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit 3), Köln, Wien 1976.
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Peter Oestmann
lage in der Mitte des 16. Jahrhunderts4. Den Blick auf die Praxis in der Spätzeit des Alten Reiches eröffnet eine weitere Studie5. Berge von Literatur zu Einzelfragen und bestimmten Verfahrensarten treten hinzu. Erstaunlicherweise standen die Rechtsmittel, besonders die Appellation, bisher kaum im Mittelpunkt des Interesses. Die Untersuchung von Jürgen Weitzel fragt zwar nach Appellationsverboten und -behinderungen6, nicht aber nach dem Appellationsprozess an sich. Ein größeres Vorhaben der Österreichischen Akademie der Wissenschaften rückt nun den Appellationprozess vor dem Reichshofrat ins Blickfeld. Eine Tagung im September 2011 in Wien schuf eine erste Bestandsaufnahme im europäischen Vergleich. Angesichts des doch erstaunlich unscharfen Forschungsstandes mag es angebracht sein, das zeitgenössische Werk Ludolf Hugos ein wenig einzuordnen. Das erfolgt hier in drei Schritten. Zunächst geht es überblicksartig um die Entstehung der Rechtsmittel am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit und um ungelöste Fragen rund um die gemeinrechtliche Appellation. Das erleichtert es, Hugos Beitrag im seinerzeitigen Stimmengeflecht richtig zu verorten. Danach fällt der Blick auf Ludolf Hugo selbst. In den vergangenen Jahren hat er bereits einige Beachtung gefunden und ist aus seinem dreihundertjährigen Schattendasein getreten. Dennoch sind einführende rechtshistorische Bemerkungen hilfreich, vor allem zu seiner bisher kaum behandelten Rolle als Kameralautor. Im dritten Abschnitt geht es dann um Hugos Traktat über Appellationen. Der Aufbau seiner Schrift, die wesentlichen Gedanken und Argumente sowie die von ihm benutzten Quellen und Literatur sind knapp skizziert und wollen den Zugang zur Übersetzung erleichtern.
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B e t t i n a D i c k , Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 10), Köln, Wien 1981. H e i n r i c h W i g g e n h o r n , Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches, Diss. jur. Münster 1965. J ü r g e n W e i t z e l , Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 4), Köln, Wien 1976.
Einleitung
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I. Rechtsmittel im gemeinen Recht. Offene Fragen um die Appellation Ein Rechtsmittel ist eine verfahrensrechtliche Möglichkeit, die Entscheidung eines Gerichts prüfen und aufheben zu lassen7. Nach heutigem Verständnis sind Rechtsmittel gekennzeichnet durch Devolutiv- und Suspensiveffekt. Wer sie einlegt, bewirkt einen Instanzensprung. Das Verfahren wandert von einem unteren zu einem oberen Gericht. Der Devolutiveffekt markiert damit verschiedene Ebenen der Gerichtsbarkeit und steht zugleich für die Justizaufsicht eines Obergerichts über das Untergericht. Der Suspensiveffekt dagegen hemmt die Rechtswirkungen der angefochtenen Entscheidung. Während des Rechtsmittelverfahrens darf weder das Untergericht noch ein Dritter die ergangene Entscheidung vollstrecken oder andere Nachteile für den Rechtsmittelführer herbeiführen. Wer vorinstanzlich durch den Prozessverlust beschwert ist, hält damit die Rechtslage in der Schwebe. Formelle Rechtskraft einer Entscheidung tritt also erst dann ein, wenn die weitere Einlegung von Rechtsmitteln ausgeschlossen ist. Die hier bewusst knapp gehaltene Zuspitzung droht zu den Rändern hin unscharf zu werden. Es gibt auch Rechtsbehelfe im weiteren Sinne, Widerspruchsverfahren, in denen Verwaltungsbehörden ihre eigenen Entscheidungen überprüfen, Verfassungsbeschwerden und anderes mehr. Ähnlich sah es in der frühen Neuzeit aus. Mit dem Recursus ad comitia versuchten Parteien, Entscheidungen der obersten Reichsgerichte vor dem Reichstag anzugreifen8. Und mit dem Votum ad Imperatorem wollten Mitglieder des Reichshofrats oder andere Beschwerdeführer unmittelbare Eingriffe des 7
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Hierzu die Definitionen von P e t e r G i l l e s , Rechtsmittel im Zivilprozeß. Berufung, Revision und Beschwerde im Vergleich mit der Wiederaufnahme des Verfahrens, dem Einspruch und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Frankfurt am Main 1972, S. 187; mit rechtstatsächlichem Hintergrund: P e t e r G i l l e s / Kl au s F . R ö h l / P a u l S c h u s t e r / D i e t e r S t r e m p e l (Hrsg.), Rechtsmittel im Zivilprozeß unter besonderer Berücksichtigung der Berufung, Köln 1985; J ü r g e n W e i t z e l , Art. Rechtsmittel, in: A d a l b e r t E r l e r / E k k e h a r d K a u f m a n n (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte IV (1990), Sp. 315-321 (315). W o l f g a n g S e l l e r t , Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N. F. 18), Aalen 1973, S. 398-412; d e r s . , Recursus ad comitia, in: HRG (wie Anm. 7), IV (1990), Sp. 446-449; G e r n o t S y d o w , Recursus ad Comitia. Ein Beitrag zur Justizverfassung des Heiligen Römischen Reiches im 18. Jahrhundert, in: rg. Rechtsgeschichte 2 (2003), S. 104-122.
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Peter Oestmann
Kaisers in vor allem reichshofrätliche Verfahren erreichen9. Ordentliche Instanzenzüge, Kabinettsjustiz und herrscherliche Machtsprüche10 waren nicht immer leicht zu trennen. Mehrfache Aktenversendungen durch dasselbe Gericht durchbrachen die Über- und Unterordnungsverhältnisse ebenso11. Dennoch verläuft der wesentliche Schnitt anderswo. Unabhängig von den einzelnen Ausgestaltungen kannten die meisten gemeinrechtlichen Rechtsmittel die Anfechtung eines bereits ergangenen und verkündeten Urteils. Nimmt man die moderne Definition als Forschungsbegriff, zeigt sich sofort der wesentliche Unterschied zur älteren Zeit. Der mittelalterliche einheimische Rechtsgang vor der Rezeption des gelehrten Rechts kannte keine Rechtsmittel. Das mittelalterliche ungelehrte Gerichtsverfahren war einstufig12. Es gab immer nur ein Urteil. Das lag bei der dinggenossenschaftlichen Rechtsfindung an der Art der Entscheidungssuche. Es ging vor Gericht gerade nicht um Subsumtion, um die Anwendung abstrakt-genereller Rechtsnormen auf spezielle Sachverhalte. In der Zeit der Rechtsgewohnheiten dachte man
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W o l f g a n g S e l l e r t , Richterliche Unabhängigkeit am Reichskammergericht und am Reichshofrat, in: Okko Behrends/Ralf Dreier (Hrsg.), Gerechtigkeit und Geschichte. Beiträge eines Symposions zum 65. Geburtstag von Malte Dießelhorst (Quellen und Forschungen zum Recht und seiner Geschichte 6), Göttingen 1996, S. 118-132 (125129); d e r s . , Prozeßgrundsätze (wie Anm. 8), S. 346-353. Hierzu H o l g e r E r w i n , Machtsprüche. Das herrscherliche Gestaltungsrecht „ex plenitudine potestatis“ in der Frühen Neuzeit (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 25), Köln, Weimar, Wien 2009; Schlaglicht auf den wohl berühmtesten Fall aus der Praxis bei T i l m a n R e p g e n , Der Müller Arnold und die Unabhängigkeit des Richters im friderizianischen Preußen, in: Ulrich Falk/Michele Luminati/Mathias Schmoekkel (Hrsg.), Fälle aus der Rechtsgeschichte, München 2008, S. 223-253. Beispiel aus dem 18. Jahrhundert bei P e t e r O e s t m a n n , Ein Zivilprozeß vor dem Reichskammergericht. Edition einer Gerichtsakte aus dem 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 55), Köln, Weimar, Wien 2009, S. 201-247. Aus den Bergen an Literatur: J u l i u s W i l h e l m P l an c k , Das Deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, 2 Bände, Braunschweig 1878/79; H an s S c h l o s s e r , Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen. Gerichtsverfassung und Rechtsgang (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 8), Köln, Wien 1971; J ü r g e n W e i t z e l , Dinggenossenschaft und Recht (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 15), 2 Bände, Köln, Wien 1985; Überblicke bei K ar i n N e h l s e n -v o n S t r y k , Art. Gerichtsverfahren, in: Albrecht Cordes/Heiner Lück/Dieter Werkmüller (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl. 9. Lieferung 2009, Sp. 178-192 (178-185); P e t e r O e s t m a n n , Der vergessliche Fürsprecher: Fallstudie zur spätmittelalterlichen Gerichtsbarkeit, in: Falk/Luminati/Schmoeckel, Fälle aus der Rechtsgeschichte (wie Anm. 10), S. 147-163 (148-153).
Einleitung
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anders13. Recht konkretisierte sich in der einzelnen Rechtsfindung. In der Entscheidungssituation wurde sich die Gerichtsgemeinde über das im anhängigen Fall gültige Recht einig. Diese Einigung, der Konsens über das Recht als solches, setzte nach mittelalterlicher Vorstellung weithin Einstimmigkeit voraus. Bestand dieser Einmut, stand zugleich das Recht fest. Daran konnte es keinen Zweifel geben, es gab nichts zu rütteln und zu wackeln. Deswegen schied die Überprüfung von Entscheidungen aus. Rechtsmittel im modernen Sinn konnte es also nicht geben. Das einmal gefundene Ergebnis war in der Vorstellungswelt immer richtig. Der Gleichklang schloss jeden Misston aus. Selbstverständlich gab es auch im mittelalterlichen Recht unterschiedliche Vorstellungen, was im einzelnen Fall als Recht anzusehen sei. Das dinggenossenschaftliche Denken musste deswegen Lösungen finden, solche Irrungen mit dem Konsenserfordernis zu verbinden. Das geschah auf vielfache Weisen. Häufig gab es im Vorfeld der Entscheidungsfindung zunächst Entscheidungsvorschläge. Ein Teilnehmer der Gerichtsversammlung, ein Schöffe oder vielleicht auch jemand aus dem Umstand14, schlug vor, welches Urteil er für Recht hielt. Schlossen sich die anderen Dinggenossen an, war das Recht gefunden. Gab es Widerworte, kam es im Regelfall nicht zur Abstimmung. Vielmehr war dann eben kein Recht gefunden. Wie aber ließ sich der Streit der Parteien dann lösen? Einen Ausweg bot die Urteilsschelte15. Derjenige, der mit dem unterbreiteten Urteilsvorschlag nicht einverstanden war, konnte ihn schelten, eventuell in förmlicher Weise. Dann jedenfalls war die Dinggenossenschaft außerstande, Recht zu finden. Deswe13
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Zum Konzept und der daran anknüpfenden Diskussion u. a.: G e r h a r d D i l c h e r / H e i n e r L ü c k / R e i n e r S c h u l z e / E l m ar W ad l e / J ü r g e n W e i t z e l / U d o W o l t e r , Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 6), Berlin 1992; A l b r e c h t C o r d e s / B e r n d Ka n n o w s k i (Hrsg.), Rechtsbegriffe im Mittelalter (Rechtshistorische Reihe 262), Frankfurt am Main 2002; M ar t i n P i l c h , Der Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, Wien, Köln, Weimar 2009; dazu die Beiträge in rg. Rechtsgeschichte 17 (2010), S. 15-90; außerdem G e r d A l t h o f f , Rechtsgewohnheiten und Spielregeln der Politik im Mittelalter, in: Nils Jansen/Peter Oestmann (Hrsg.), Gewohnheit. Gebot. Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart: eine Einführung, Tübingen 2011, S. 27-52. Erläuterung bei J ü r g e n W e i t z e l , Art. Umstand, in: HRG (wie Anm. 7), V (1998), Sp. 437-442. E k k e h a r d K a u f m a n n , Art. Urteilsfindung – Urteilsschelte, in: HRG (wie Anm. 7), V (1998), Sp. 619-622.
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gen überließ sie die Rechtsfindung anderen Personen, denen man mehr und besseres Rechtswissen zutraute. Das waren die Mitglieder von Schöffenstühlen oder Oberhöfen. Sie lösten dann, ebenfalls einstimmig, die ihnen vorgelegten Rechtsfragen, die das Untergericht offenlassen musste. Ihre Antwort, den Schöffenspruch oder das Oberhofurteil sandten sie sodann zum Untergericht zurück. Nun erlangte das Untergericht selbst das bessere Rechtswissen und verkündete das Oberhofurteil als eigene Entscheidung16. Damit war die Einstufigkeit formal gewahrt. Bis zur Verkündung dieses Spruchs am Ende des Verfahrens gab es kein verbindliches Urteil. Im Verfahren der Urteilsschelte ging es also nicht darum, eine Entscheidung des anfragenden Gerichts zu überprüfen, sondern darum, besseres Recht – und das heißt: überhaupt Recht – zu erlangen. Vermutlich war das mittelalterliche Recht farbiger, als die holzschnittartige Zuspitzung glauben macht. So gibt es seit Wilhelm Ebels Zeit Unklarheit, ob der Rechtszug nach Lübeck ein echtes zweistufiges Verfahren war, vielleicht begünstigt durch die großen Entfernungen im Ostseeraum und die damit verbundenen langen Zeiträume17. Außerdem war der Einstimmigkeitsgrundsatz mancherorts abgeschwächt, vor allem am 1235 neu organisierten Reichshofgericht18. Auch konnte der König als oberster Richter überall dort die Gewalt ausüben, wo er im Reiche weilte. Jede Rechtssache durfte er an sich ziehen, Ausfluss des sog. Evokationsrechts19. Ganz anders war die Gerichtsverfassung im kirchlichen Bereich beschaffen. Hier gab es gestraffte Über-Unterordnungsverhältnisse zwischen dem 16
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J ü r g e n W e i t z e l , Über Oberhöfe, Recht und Rechtszug (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte 15), Göttingen 1981; D i e t e r W e r k m ü l l e r , Art. Oberhof, in: HRG (wie Anm. 7), III (1984), Sp. 1134-1146. W i l h e l m E b e l , Lübisches Recht, 1. Band, Lübeck 1971, S. 106; W e i t z e l , Oberhöfe (wie Anm. 16), S. 135-147; P e t e r O e s t m a n n , Lübisches und sächsischmagdeburgisches Recht in der Rechtspraxis des spätmittelalterlichen Reiches, in: Heiner Lück/Matthias Puhle/Andreas Ranft (Hrsg.), Grundlagen für ein neues Europa. Das Magdeburger und Lübecker Recht in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Geschichte Sachsen-Anhalts 6), Köln, Weimar, Wien 2009, S. 183-222 (202); A l b r e c h t C o r d e s , Kaiserliches Recht in Lübeck. Theoretische Ablehnung und praktische Rezeption, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 89 (2009), S. 123-145 (125 Fn. 5). F r i e d r i c h B a t t e n b e r g , Art. Reichshofgericht, in: HRG (wie Anm. 7) IV (1990), Sp. 615-626 (621); speziell zum Mehrheitsprinzip d e r s . , Das Römisch-Deutsche Königtum und die Legitimation mehrheitlicher Entscheidungen im Spätmittelalter, in: ZRG Germ. Abt. 103 (1986), S. 1-41. U l r i c h E i s e n h a r d t , Art. Jus evocandi, in: HRG (wie Anm. 12), 2. Aufl. 14. Lieferung 2011, Sp. 1462-1465.
Einleitung
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Suffraganbischof bzw. seinem Offizial als geistlichem Richter, dem übergeordneten Metropoliten bzw. seinem Offizial bis hin schließlich zur römischen Kurie selbst und ihrem höchsten Gericht, der Rota Romana20. Auch in den Bistümern des Heiligen Römischen Reiches sind rechtsgelehrte Offiziale schon im Mittelalter nachweisbar21. Sie fällten Urteile in streitigen Rechtssachen, ohne auf den Konsens einer Gerichtsgemeinde angewiesen zu sein. Vielmehr schöpften sie ihre Rechtsauffassungen aus der Überlieferung des kanonischen Rechts, nach und nach niedergelegt in großen autoritativen Sammlungen, an denen sie die Sachverhalte messen konnten. Statt Rechtsfindung betrieben sie Rechtsanwendung und kamen zu einem Ergebnis, auch wenn es darüber keine Übereinstimmung zwischen den Beteiligten gab. Der geistliche Richter schloss seinen Fall mit einem Urteil ab22. Im Gegensatz zum ungelehrten Verfahren stand der unterliegenden Partei jetzt aber der Weg zu einem Obergericht offen. Der Offizial des Erzbischofs, später ein Apostolischer Nuntius oder die Rota Romana konnte den Rechtsstreit ebenfalls entscheiden. Entweder bestätigte der Oberrichter das erstinstanzliche Urteil oder er verwarf es und entschied anders. Das war der Kern der gemeinrechtlichen Appellation. Letztlich galt die Erkenntnis des obersten Gerichtsherrn, des Inhabers der Gerichtsgewalt, der iurisdictio. Von ihm leiteten alle unteren Instanzen ihre Zuständigkeit ab. In der gemeinrechtlichen Tenorierung sieht man noch, wie eng die frühen Appellationsprozesse mit der älteren Urteilsschelte verflochten waren. „Dixit male iudicatum esse per dominos iudices“, hieß es im Tenor, seit spätestens dem 14. Jahrhundert auch im italienischen weltlichen Recht23. Die obergerichtliche Entscheidung über den Einzelfall bedeutete zugleich ein Urteil über die Qualität des vorinstanz-
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H a n s - J ü r g e n B e c k e r , Die Sacra Rota Romana in der frühen Neuzeit, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hrsg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 53), Köln, Weimar, Wien 2007, S. 1-18. W i n f r i e d T r u s e n , Art. Offizialat, in: HRG (wie Anm. 7) III (1984), Sp. 1214-1218. Umfassend zum gelehrten Verfahren, aber ohne Ausblick auf die Appellation: K n u t W o l f g a n g N ö r r , Romanisch-kanonisches Prozessrecht. Erkenntnisverfahren erster Instanz in civilibus, Berlin, Heidelberg 2012; W i e s ł aw L i t e w s k i , Der römischkanonische Zivilprozeß nach den älteren ordines iudiciarii, 2 Bände, Krakau 1999. S u s a n n e L e p s i u s , Dixit male iudicatum esse per dominos iudices. Zur Praxis der städtischen Appellationsgerichtsbarkeit im Lucca des 14. Jahrhunderts, in: Franz-Josef Arlinghaus/Ingrod Baumgärtner/Vincenzo Colli/Susanne Lepsius/Thomas Wetzstein (Hrsg.), Praxis der Gerichtsbarkeit in europäischen Städten des Spätmittelalters (Rechtsprechung. Materialien und Studien 23), Frankfurt am Main 2006, S. 189-269 (225).
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Peter Oestmann
lichen Richters. Das ist ein Gedanke, den auch Ludolf Hugo bei seinen Reformüberlegungen mehrfach hin- und herwendete. Im deutschsprachigen Raum setzte sich die Appellation als Rechtsmittel im weltlichen Recht erst deutlich später als in Italien durch. Der lateinische Begriff „appellare“ taucht im 14. Jahrhundert zwar bereits auf, bezeichnet aber wohl kein Rechtsmittel im juristisch-technischen Sinne. So enthält die Goldene Bulle von 1356 eine Vorschrift über Rechtsverweigerung. Die ansonsten von der königlichen Gerichtsgewalt weitgehend befreiten Kurfürstentümer mussten darin ein gewisses Maß an Justizaufsicht des Reiches anerkennen. Bei Rechtsverweigerung sollte es nämlich jedem Rechtssuchenden möglich sein, sich an den kaiserlichen Hof und das Reichshofgericht zu wenden. „Liceat appellare“ heißt es im Wortlaut24. Die Anrufung des Königsgerichts war freilich keine zweitinstanzliche Berufung. Denn wegen der im Raume stehenden Rechtsverweigerung gab es ja noch gar kein erstinstanzliches Urteil, das ein Appellant hätte anfechten können. Wohl ebenfalls untechnisch ist eine Lübecker Urkunde von 1366 zu verstehen. In einem Rechtsstreit vor der Rota Romana rühmte die Hansestadt ihre hervorgehobene Rolle in der Gerichtsverfassung des Reiches. Sie behauptete, „ab ipsis ad alium uel alios nisi ad tribunal domini imperatoris pro tempore existentis appellatur“25. Angeblich sollte es von Lübecker Ratsurteilen die unmittelbare Appellation an den Kaiser bzw. König geben. Doch dieser Instanzenzug war unbekannt26. Vermutlich wollte der Vertreter der Reichsstadt an der päpstlichen Kurie damit lediglich die Reichsunmittelbarkeit Lübecks unterstreichen. Im weltlichen Recht setzte sich die Appellation erst im Laufe des 15. Jahrhunderts als Rechtsmittel durch. Dies veränderte die Gerichtsverfassung
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Goldene Bulle. Nürnberger Gesetzbuch Kap. 11, bei L o r e n z W e i n r i c h , Quellen zur Verfassungsgeschichte des römisch-deutschen Reiches im Spätmittelalter (1250-1500) (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 33), Darmstadt 1983, Nr. 94 a, S. 354-357; P e t e r O e s t m a n n , Rechtsverweigerung im Alten Reich, in: ZRG Germ. Abt. 127 (2010), S. 51-141 (52-53). Codex Diplomaticus Lubecensis. Lübeckisches Urkundenbuch, 1. Abteilung: Urkundenbuch der Stadt Lübeck, Teil 3, Lübeck 1871, Nr. 595 S. 631-640 (633-634); H e i n r i c h R e i n c k e , Kaiser Karl IV. und die deutsche Hanse (Pfingstblätter des Hansischen Geschichtsvereins 22), Lübeck 1931, S. 32. P e t e r O e s t m a n n , Prozesse aus Hansestädten vor dem Königs- und Hofgericht in der Zeit vor 1400, in: ZRG Germ. Abt. 128 (2011), S. 114-168 (117-118); auch W i l h e l m E b e l , Der Rechtszug nach Lübeck, in: Hansische Geschichtsblätter 85 (1967), S. 1-37 (1), bezweifelt den Wahrheitsgehalt der Quelle.
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des Alten Reiches grundlegend27. Im Folgenden interessiert lediglich der Bereich der Zivilgerichtsbarkeit im weitesten Sinne. Die Appellation in Strafsachen war im Gegensatz etwa zu Frankreich im deutschen Bereich seit alters her verboten und scheidet aus der weiteren Betrachtung aus28. Im zivilrechtlichen Bereich kam es nun zunehmend vor, dass Parteien vorinstanzliche Entscheidungen von einem übergeordneten Richter überprüfen ließen. Möglicherweise kam es den Parteien am Anfang darauf an, einer bereits ergangenen untergerichtlichen Entscheidung durch königliche oder königsgerichtliche Bestätigung höheres Ansehen zu verschaffen29. Schon bald ging es aber vornehmlich um die Anfechtung von Urteilen im Bestreben, vom Obergericht eine neue, günstigere Entscheidung zu erlangen. Hierbei verschwammen hergebrachte Oberhofzüge mit der Justizaufsicht landesherrlicher Hofgerichte. In einem Fall von 1476 stritten zwei Parteien vor dem Schöffengericht Sprendlingen und danach vor dem Oberhof Kreuznach. Gegen dessen Entscheidung appellierte die unterlegene Seite an das pfalzgräfliche Hofgericht. Da die Appellation angeblich nichtig war, nahm das Verfahren am Ingelheimer Hadergericht seinen Fortgang30. Solche Ausweitungen bedingten zunehmend ein schriftliches Verfahren. Ohne vorinstanzliche Prozessakte konnte das Appellationsgericht kaum feststellen, wie das Ausgangsgericht den Sachverhalt rechtlich beurteilt hatte. Deswegen setzte sich nach und nach das schriftliche Verfahren durch, mehr oder weniger stark geprägt von der eingängigen Maxime quod non est in actis non est in mundo. Gerade die Neuorganisation des Reichskammergerichts 1495
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Eingehend B e r n h a r d D i e s t e l k am p , Die Durchsetzung des Rechtsmittels der Appellation im weltlichen Prozeßrecht Deutschlands (Akademie der Wissenschaften un der Literatur Mainz, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse 1998/2), Stuttgart 1998. C h r i s t i a n S z i d z e k , Das frühneuzeitliche Verbot der Appellation in Strafsachen. Zum Einfluß von Rezeption und Politik auf die Zuständigkeit insbesondere des Reichskammergerichts (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas. Fallstudien 4), Köln, Weimar, Wien 2002. B e r n h a r d D i e s t e l k a m p , Die Appellation als Katalysator für die Veränderung der Höchstgerichtsbarkeit am deutschen Königshof um die Mitte es 15. Jahrhunderts, Vortrag in Wien, September 2011, gehalten auf der von Leopold Auer und Eva Ortlieb organisierten Tagung „In letzter Instanz. Appellation und Revision im Europa der Frühen Neuzeit“; Tagungsband in Vorbereitung. Quellenbeispiel bei W e r n e r M a r z i (Hrsg.), Das Oberingelheimer Haderbuch 14761485 (Die Ingelheimer Haderbücher. Spätmittelalterliche Gerichtsprotokolle 1), Alzey 2011, fol. 3v.
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beförderte diesen Übergang vom öffentlichen, mündlichen Verfahren zum schriftlich-bürokratischen Prozess31. Das gemeine Prozessrecht kannte nicht nur die Appellation, sondern mehrere andere, teils bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts nur unscharf von einander geschiedene Rechtsbehelfe32. Eng verknüpft war etwa die Nichtigkeitsklage. Damit protestierte der Beschwerdeführer über besonders schwere Verstöße gegen wesentliche Verfahrensvorschriften, aber teils auch gegen andere schwere vorinstanzliche Rechtsfehler33. Im Zivilprozess waren die Nullitäten zweitinstanzlich regelmäßig mit sog. Iniquitäten verbunden. Appellation und Nichtigkeitsklage gingen auf diese Weise ineinander über. Jedenfalls gab es in der Praxis und in der Kameralliteratur Streit, ob diese inzidente Nichtigkeitsklage den Formerfordernissen des Appellationsprozesses entsprechen musste und ob sie auch den Rechtsmittelbeschränkungen der Appellationsprivilegien unterlag. Eine Art Rechtsbehelf waren auch die verschiedenen gemeinrechtlich vorgesehenen Möglichkeiten, bei Rechtsverweigerung (iustitia denegata) und Rechtsverzögerung (iustitia protracta) gegen den untätigen Unterrichter mit Zwangsmitteln vorzugehen. Von Promotorialschreiben zur Prozessbeschleunigung über strafbewehrte Mandate de administranda iustitia bis hin zur Avokation des Rechtsstreits vor das Gerichts des obersten Richters waren hier vielfache Eingriffe in die Gerichtsgewalt des Untergerichts möglich34. Auch eine Revision war im gemeinen Recht bekannt. In den Territorien galt sie oftmals als das „letzte Rechtsmittel“35. Teilweise mag sie mit einem Instanzensprung verbunden ge31
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Regionalhistorische Vertiefung zur Verschriftlichung bei W o l f g a n g P r a n g e , Schleswig Holstein und das Reichskammergericht in dessen ersten fünfzig Jahren (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 22), Wetzlar 1998, S. 38-41. Überblick bei J ü r g e n W e i t z e l , Rechtsmittel zum und am Reichskammergericht, in: Ignacio Czeguhn/José Antonio López Nevot/Antonio Sánchez Aranda/Jürgen Weitzel (Hrsg.), Die Höchstgerichtsbarkeit im Zeitalter Karls V. – Eine vergleichende Betrachtung (Schriftenreihe des Zentrums für rechtswissenschaftliche Grundlagenforschung Würzburg 4), Baden-Baden 2011, S. 9-20 (11-15). W e i t z e l , Kampf (wie Anm. 6), S. 46-41; W o l f g a n g S e l l e r t , Art. Nichtigkeitsklage, Nichtigkeitsbeschwerde, in: HRG (wie Anm. 7), III (1984), Sp. 974-978; P e t e r O e s t m a n n , Hexenprozesse am Reichskammergericht (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 31), Köln, Weimar, Wien 1997, S. 63-73. Umfassend O e s t m a n n , Rechtsverweigerung (wie Anm. 24), S. 51-141; aus der älteren Forschung Ku r t P e r e l s , Die Justizverweigerung im alten Reiche seit 1495, in: ZRG Germ. Abt. 25 (1904), S. 1-51. S a m u e l O b e r l ä n d e r , Lexicon Juridicum Romano-Teutonicum, unveränderter Nachdruck der 4. Aufl. Nürnberg 1753, hrsg. von Rainer Polley, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 623.
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wesen sein, entfaltete also Devolutiveffekt. Oftmals ging es aber lediglich um mehrfache Aktenversendungen an verschiedene Juristenfakultäten36. Derjenige Rechtsbehelf freilich, der sich nach und nach als ordentliche Berufung zur Beförderung der Sache in die zweite Instanz herausschälte, war die Appellation. Auch bei Ludolf Hugo spielten die übrigen gemeinrechtlichen Verfahrensarten kaum eine Rolle. Da Hugo das Kameralverfahren in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte, kann sich die Schilderung des Appellationsprozesses zunächst an den gesetzlichen Grundlagen des kammergerichtlichen Verfahrens orientieren. Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, das umfangreichste und bekannteste Verfahrensgesetz des Gerichts, enthielt im dritten Teil „Vom gerichtlichen Prozeß“ drei Titel zum Appellationsverfahren (Titel XXXIXXXIII)37. Die einzelnen Regelungen waren aufgespalten in das Terminsystem, das äußerst schwerfällige Audienzverfahren mit seinen abgetrennten eigenen Verfahrensschritten. Der letzte Rest an Mündlichkeit, so gab es jedenfalls die Gerichtsordnung vor, war hier auf die Übergabe fest vorgeschriebener Schriftsätze und bestimmter Erklärungen postulationsfähiger Prokuratoren zusammengeschrumpft38. Die Praxis mag freier verfahren sein. Zum einen gab es vielleicht doch mehr Mündlichkeit, als die Gerichtsordnungen erkennen lassen39. Zum anderen entsprach die wirkliche Terminfolge kaum den scheinbar starren Vorgaben des Gesetzes40. Ohnehin ergänzten die reichsgesetzlichen Vorgaben lediglich die gemeinrechtlichen Regeln, die weithin den Appellationsprozess prägten41. Auch die Zuständig-
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P e t e r O e s t m a n n , Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 61, Köln, Weimar, Wien 2012, S. 112-113. Moderne Ausgabe von L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 247253. Zum Terminsystem D i c k , Entwicklung des Kameralprozesses (wie Anm. 4), S. 104108; zur Ordnung innerhalb der einzelnen Termine J u l i a M au r e r , Der „Lahrer Prozeß“ 1773-1806. Ein Untertanenprozeß vor dem Reichkammergericht (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 30), Köln, Weimar, Wien 1996, S. 265-266. B e r n h a r d D i e s t e l k a m p , Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: Peter Oestmann (Hrsg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 56), Köln, Weimar, Wien 2009, S. 105-115. Blick in ein Protokollbuch aus dem 18. Jahrhundert bei O e s t m a n n , Zivilprozeß (wie Anm. 11), S. 22-44. W e i t z e l , Rechtsmittel (wie Anm. 7), S. 12.
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keitsregeln im zweiten Teil der Gerichtsordnung (Titel XXVIII-XXXI)42 verdrängten das gemeine Recht keineswegs. Was waren nun die wesentlichen Schritte im Appellationsverfahren? Am Anfang stand das untergerichtliche Urteil. War die unterlegene Partei damit nicht einverstanden, konnte sie Appellation einlegen, interponieren, wie das gemeine Recht sagte. Die hierbei zu beachtenden Förmlichkeiten hießen denn auch fatalia interponendae appellationis. Die Appellation war entweder stehenden Fußes, stante pede, oder innerhalb von zehn Tagen schriftlich vor dem Untergericht, dem iudex a quo, oder vor einem Notar und Zeugen einzulegen43. In der Praxis war dieser letzte Weg üblich44. Teilweise betont die Literatur, der Gang zum Notar sei nur ein Notbehelf gewesen, falls der Appellant an der gerichtlichen Einlegung gehindert worden sei45. Das aber ist falsch, jedenfalls mindestens seit der Notariatsordnung von 151246. Schon hier bei diesem ersten Schritt bestanden Unklarheiten. Wann begannen eigentlich die maßgeblichen zehn Tage? Nahmen sie von der Urteilsverkündung ihren Ausgangspunkt, oder ging es bei abwesenden Parteien um die Zustellung oder schlichter um sichere Kenntnis vom Prozessausgang47? Auch war nicht jedes Urteil appellabel. Das Rechtsmittel sollte sich gegen instanzbeendende Definitivsentenzen richten, erweitert lediglich um 42 43 44
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Bei L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 204-215. Die einzelnen Schritte bei W e i t z e l , Rechtsmittel (wie Anm. 7), S. 12-13; M au r e r , Lahrer Prozeß (wie Anm. 38), S. 160. Für die pfälzische Untergerichtsordnung nimmt B e r n d -R ü d i g e r K e r n , Die Gerichtsordnungen des Kurpfälzer Landrechts von 1582 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 23), Köln, Wien 1991, S. 139, die mündliche Einlegung der Appellation als Regelfall an. M a u r e r , Lahrer Prozeß (wie Anm. 38), S. 160, mit unzutreffendem Verweis auf G e o r g W i l h e l m W e t z e l l , System des ordentlichen Zivilprozesses, Nachdruck Aalen 1969 der 3. Aufl. Leipzig 1878, „S. 726-727“. Tatsächlich sagt Wetzell ebd. S. 722 das Gegenteil. Kaysers Maximiliani I. Ordnung zu Underrichtung der offen Notarien, wie die ihre Aempter üben sollen, zu Cölln aufgericht Anno 1512, Titel 4: Von AppellationInstrumenten, § 1, bei: J o h an n J a c o b S c h m au ß / H e i n r i c h C h r i s t i an v o n S e n c k e n b e r g (Hrsg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Nachdruck Osnabrück 1967 der Ausgabe Frankfurt am Main 1747, Teil 2, S. 151-166 (165); Neuedition bei H e r b e r t G r z i w o t z , Kaiserliche Notariatsordnung von 1512. Spiegel der Entwicklung des europäischen Notariats, München 1995; zur Quelle auch W e r n e r S c h u b e r t , Geschichte des Notariats und des Notariatsrechts in Deutschland, in: Mathias Schmoeckel/Werner Schubert (Hrsg.), Handbuch zur Geschichte des Notariats in der europäischen Tradition (Rheinische Schriften zur Rechtsgeschichte 12), Baden-Baden 2009, S. 203-239 (205-207). Dazu W e t z e l l , System (wie Anm. 45), S. 722 bei Fn. 10-11.
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Zwischenurteile mit der Kraft eines Endurteils48. Auf die Appellationssumme, die Mindestbeschwer zur Einlegung des Rechtsmittels, sei hier nur kurz verwiesen. In zahlreichen Territorien gab es überdies qualitative und quantitative Appellationsprivilegien, die den Weg an die oberen Gerichte, speziell an die obersten Reichsgerichte, versperrten. Bei den illimitierten Privilegien der mächtigeren Reichsstände war die Appellation an die Reichsgerichte überhaupt nicht möglich49. Der beschwerte Verlierer des Ausgangsstreits oder sein Anwalt ging also zum Notar, um die Appellation einzulegen. Dabei nahm er bereits eine schedula appellationis mit, wörtlich einen Appellationszettel. Er war ausformuliert und enthielt die maßgeblichen Daten des Ausgangsstreits, vor allem den Urteilstenor. Außerdem listete der Appellant, regelmäßig wohl vorformuliert durch den vorinstanzlichen Advokaten oder Prokurator, seine wesentlichen Beschwerdegründe auf. Diese Gravamina sind Teil der Schedula50. Der Notar setzte darüber sein Instrument auf, nach alter Tradition auf Pergament und mit religiöser Einleitungsformel. Die wortgenaue Wiedergabe der Schedula bildete dabei den Kern des Appellationsinstruments. Daraufhin teilte der Notar dem iudex a quo die Einlegung des Rechtsmittels mit. Normengeschichtliche Abhandlungen weisen als nächsten Verfahrensschritt sodann eine Stellungnahme des Unterrichters aus. Er sollte sich in einem Apostelbrief zur Appellation äußern. Diesen Brief sollte der Appellant nach kanonistischer Lehre innerhalb von dreißig Tagen seit Appellationseinlegung beantragen51. Die Feinheiten sind in der Literatur unklar. Julia Maurer geht wohl davon aus, der iudex a quo habe der Appellation selbst abhelfen können. Ein Apostelbrief sei dann ein Zeichen dafür, dass das Untergericht es abgelehnt hatte, der Beschwerde abzuhelfen52. Doch das beruht auf einem Missverständnis. Vielmehr ging es lediglich darum, ob das Untergericht die Appellation annahm oder wegen grober
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RKGO 1555 2, 29, 3, bei L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 208. Übersicht über die gewährten Privilegien bei U l r i c h E i s e n h ar d t , Die kaiserlichen privilegia de non appellando (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 7), Köln, Wien 1980, S. 69-124 und passim. Zum Aufbau eines Appellationsinstruments ein Beispiel bei O e s t m a n n , Zivilprozeß (wie Anm. 11), S. 60-66. F r i e d r i c h M e r z b a c h e r , Art. Apostelbrief, in: HRG (wie Anm. 7), I (1971), Sp. 195196. M a u r e r , Lahrer Prozeß (wie Anm. 38), S. 160; differenziert in diesem Punkt M e r z b a c h e r , Apostelbrief (wie Anm. 51), Sp. 196: apostoli restitutorii.
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Mängel verwarf53. Mehr als eine kursorische Prüfung, ob der Appellant die wesentlichen Formalien gewahrt hatte, fand offenbar nicht statt. War die Appellation ordnungsgemäß eingelegt, erstellte der Unterrichter die apostoli dimissorii, einen sog. Entlassungsbrief54. Bei Fehlern sollte es abweisende apostoli refutatorii geben. Inwieweit solche aus dem kanonischen Recht stammenden Feinheiten im frühneuzeitlichen Kameralprozess beibehalten waren, ist kaum näher erforscht. Einige Repertoriumshinweise in den gedruckten Findbüchern von Reichskammergerichtsakten zeigen immerhin in mehreren Fällen derartige förmliche Apostelbriefe55. In anderen Verfahren mögen bloße Begleitschreiben ausgereicht haben, vielleicht sogar im Zusammenhang mit der Übersendung der vorinstanzlichen Akte, der acta priora. Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 stellte es ins Belieben des Appellanten, ob er die Apostelbriefe beantragte oder nicht56. Jedenfalls war es die Aufgabe des Appellanten, des Beschwerdeführers, auf eigene Kosten eine Abschrift der erstinstanzlichen Akte zu besorgen. Ebenso lag es an ihm, eine Sicherheitsleistung zu erbringen, also den sprichwörtlichen Appellationsgulden zu hinterlegen. Teilweise war der Appellant auch gehalten, einen Appellationseid zu leisten, soweit das nicht in der oberen Instanz geschehen konnte. Das alles hatte zu einer Zeit zu erfolgen, in der das übergeordnete Appellationsgericht mit der Angelegenheit noch gar nicht befasst war. Freilich begann eine weitere Appellationsfrist zu laufen, nämlich eine Sechsmonatsfrist zur Anhängigmachung der Appellation. Die Introduktion, die Einführung oder Anhängigmachung des Appellationsprozesses am Appellationsgericht, sollte binnen sechs Monaten erfolgen57. Diese fatalia introducendae appellationis setzten mehrere Verfahrens53 54 55
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D i c k , Entwicklung (wie Anm. 4), S. 201; W e i t z e l , Rechtsmittel (wie Anm. 7), S. 13. Terminologie auch bei W e i t z e l , Rechtsmittel (wie Anm. 7), S. 13; d e r s . , Art. Appellation, in: HRG (wie Anm. 12), I (2. Aufl. 2008), Sp. 268-271. Beispiele bei C l a u d i a K a u e r t z , Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Hannover. Hochstift Hildesheim und benachbarte Territorien 1495-1806 (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung. Das Niedersächsische Landesarchiv und seine Bestände 1/Inventar der Akten des Reichskammergerichts 30), Hannover 2009, Teil 3, lfd. Nr. 3369 S. 2648, Nr. 3393 S. 2668, Nr. 3394 S. 2669, Nr. 3524 S. 2788; zur Rechtslage in Kurhannover S t e f a n A n d r e a s S t o d o l k o w i t z , Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 59), Köln, Weimar, Wien 2011, S. 158. RKGO 1555 2, 30, 1, bei L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 209. RKGO 1555 2, 30, 1-3, bei L au f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 209-210.
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schritte voraus: Das Appellationsgericht, hier also das Reichskammergericht, erließ die Ladung an den Appellaten, den Gegner im Rechtsmittelprozess. Wie umfassend die Zulässigkeitsprüfung in diesem extrajudizialen Verfahrensstadium58 ausfiel, ist unklar. Die Literatur nimmt teilweise an, vor Erlass einer Ladung habe das Obergericht die Zulässigkeit der Appellation feststellen müssen59. Eine Vielzahl abweisender Prozessurteile60 mahnt freilich zur Vorsicht: Wenn das Kammergericht während des laufenden Rechtsstreits die Appellation als unzulässig verwarf, kann die Prüfung zu Beginn nicht allzu streng gewesen sein. War die Ladung erlassen, verkündete ein Kammerbote, gelegentlich auch ein Notar, die Zitation dem Appellaten und erstellte darüber einen Botenbericht61. Das mit dem Botenbericht versehene Ladungsschreiben reichte der Prokurator des Appellanten sodann in einer kammergerichtlichen Audienz zu den Akten. Mit diesem letzten Punkt, dem Reproduktionstermin, war der Appellationsprozess in der oberen Instanz rechtshängig. Jetzt begannen die weiteren Audienzen mit dem Schriftsatz58
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Zum Extrajudizialstadium des Kameralprozesses R u d o l f S m e n d , Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, Nachdruck Aalen 1965 der Ausgabe Weimar 1911, S. 327-328; D i c k , Entwicklung (wie Anm. 4), S. 85, 148-150; W o l f g a n g P r a n g e , Vom Reichskammergericht in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Urteile in Christian Barths Edition; Kammerboten und Zustellung der Gerichtsbriefe (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 42), Köln, Weimar, Wien 2002, S. 53-56; zum Oberappellationsgericht Celle S t o d o l k o w i t z , Oberappellationsgericht (wie Anm. 55), S. 157-168. Zur Diskussion P e t e r J e s s e n , Der Einfluß von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 27), Aalen 1986, S. 175-176; Ke r n , Gerichtsordnungen (wie Anm. 44), S. 222; O e s t m a n n , Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 36), S. 336. Zur Erkennbarkeit und Tenorierung P e t e r O e s t m a n n , Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 37), Köln, Weimar, Wien 2001, S. 15-54 (42-44). Zur Tätigkeit der Kammerboten W o l f g a n g S e l l e r t , Die Ladung des Beklagten vor das Reichskammergericht. Eine Auswertung von Kammerbotenberichten, in: ZRG Germ. Abt. 84 (1967), S. 202-235; R al f -P e t e r F u c h s , Mit Wissen und Willen der Obrigkeit. Reichsrepräsentation über die Reichskammergerichtsboten in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 46), Köln, Weimar, Wien 2003, S. 249-264; E r i c - O l i v e r M ad e r , Soldateske des Reichskammergerichts. Das kammergerichtliche Botenwesen am Ende des Alten Reiches, ebd. S. 265-290.
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wechsel der Parteien. Freilich war es nicht leicht, alle Fatalien innerhalb der vorgegebenen Zeit einzuhalten und zu erfüllen. Ging hier etwas schief, drohte der Prozessverlust. Die Reichskammergerichtsordnung sprach davon, die Appellation werde „für desert geacht und gehalten“62. Möglicherweise ließ sich die Desertion durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die gemeinrechtliche restitutio in integrum, beseitigen63. Aber falls das nicht möglich war, konnte das vorinstanzliche Urteil in Rechtskraft erwachsen und wurde zur res iudicata, zur abgeurteilten und entschiedenen Sache. Dann begann die Vollstreckung. Nicht nur in der Praxis, auch bereits in den normativen Grundlagen sind zahlreiche Abweichungen und Ergänzungen zum geschilderten Modell nachweisbar. Zum einen bestanden Probleme, wenn der Unterrichter den Suspensiveffekt nicht beachtete und mit der Urteilsvollstreckung begann, obwohl die unterlegene Seite gegen die Entscheidung appelliert hatte. Zum anderen mochten Zweifel bestehen, ob der iudex a quo tatsächlich die Prozessakte in glaubwürdiger Abschrift an den Rechtsmittelführer herausgab. Der Kameralprozess behalf sich damit, die Ladung zum Appellationsprozess mit zwei weiteren Anweisungen abzusichern. Zum einen stärkte eine Inhibition den Suspensiveffekt und untersagte dem Untergericht ausdrücklich zwischenzeitliche Verstöße (Attentate64) während des schwebenden Kameralprozesses. Zum anderen ergingen Compulsoriales an das Untergericht. Das waren Zwangsbriefe zur Aktenherausgabe, wie die Inhibition abgesichert mit einer Geldstrafe für den Fall des Verstoßes65. Normative Quellen, auch die Reichskammergerichtsordnung von 1555, sprachen davon, die Appellation müsse „gradatim“ geschehen66. Der Appellant sollte also keine Zwischeninstanz überspringen. Die Literatur betont teilweise, die frühneuzeitlichen Territorien hätten drei Instanzen einrichten müssen. Als Begründung dient ein Speyerer Deputationsabschied von 160067. Das beruht aber wohl auf einem Missverständnis. Der Deputationsabschied verpflichtete die Territorien lediglich, „die Unter=Ober=und 62 63 64 65 66 67
RKGO 1555 2, 30, 5, bei L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 210. Überblick bei D i e t e r W e r k m ü l l e r , Art. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, in: HRG (wie Anm. 7), V (1998), Sp. 1366-1368. Zeitgenössische Begriffsklärung bei O b e r l än d e r , Lexicon (wie Anm. 35), S. 68-69. Beispiele bei O e s t m a n n , Zivilprozeß (wie Anm. 11), S. 53. RKGO 1555 2, 29, 1, bei L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 207. E r i c h D ö h r i n g , Art. Oberappellationsgericht, in: HRG (wie Anm. 7) III (1984), Sp. 1127-1129 (1127); J e s s e n , Einfluß (wie Anm. 59), S. 34.
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Hoff=Gericht“ mit verständigen Urteilern zu besetzen und eine an die Kammergerichtsordnung angelehnte Gerichtsordnung einzuführen68. Vorgaben zur Zahl der Instanzen innerhalb der Territorien gab es überhaupt nicht. Tatsächlich kannten auch etwa die Reichsstädte oftmals nur eine ordentliche Instanz, ohne dass jemand daran Anstoß nahm. Erst die Deutsche Bundesakte von 1815 schrieb den dreistufigen Gerichtsaufbau verbindlich vor69. Das Appellationsverfahren vor dem Reichskammergericht war mit seinem Terminsystem und den vielen Audienzen in der Kammergerichtsordnung weit an den erstinstanzlichen Zitationsprozess angenähert. Freilich gab es bezeichnende Unterschiede. Typisch für den Appellationsprozess war in der Praxis etwa der Vorwurf des Appellaten, der Rechtsmittelführer habe die Appellation missbräuchlich eingelegt. Eigentlich sollte der Kalumnieneid solchen Tricksereien vorbeugen. Der Appellant musste nämlich schwören, dass er an seine gerechte Sache glaube und seinen Gegner nicht unnötig schädigen wolle70. Aber dieser Eid fiel leicht. Stellvertretung bei der Eidesleistung war erlaubt, und so leisteten die Reichskammergerichtsprokuratoren den Kalumnieneid in die „eigene Seel“ des Mandanten. Dafür gab es sogar Formulare, die der Appellant lediglich zu unterschreiben brauchte71. Trotzdem empörten sich die Gegner oftmals über leichtfertige, frivole oder mutwillige Appellationen. Sie fürchteten, der Appellant wolle den Rechtsstreit „ohnsterblich“ machen und auf diese Weise die Vollstreckung des untergerichtlichen Urteils hintertreiben72. Möglichkeiten dazu bestanden zuhauf. Ständige Anträge auf Fristverlängerungen füllen die kammergerichtlichen Protokollbücher. Oftmals gewährte das Reichskammergericht die zusätzlichen Monate, und so zogen sich die ohnehin zähen Verfahren noch weiter in die Länge. 68 69
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Speyerer Deputationsabschied 1600 § 15, in: S c h m a u ß / S e n c k e n b e r g , Neue und vollständigere Sammlung (wie Anm. 46), Teil 3, S. 471-498 (476). Deutsche Bundesakte 1815 Art. 12, bei: E r n s t R u d o l f H u b e r (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Band 1: Deutsche Verfassungsgeschichte 18031850, 3. Aufl. Stuttgart etc. 1978, S. 88. W o l f g a n g S e l l e r t , Art. Kalumnieneid, in: HRG (wie Anm. 7), II (1978), Sp. 566-570; d e r s . , Art. Kalumnieneid, in: HRG (wie Anm. 12), 2. Aufl. 15. Lieferung 2012, Sp. 1538-1540; ausführlicher d e r s . , Faires Verhalten im gerichtlichen Prozeß und Schikane. Zur Geschichte des Kalumnieneides, in: Martin Avenarius/Rudolf MeierPritzl/Cosima Möller (Hrsg.), Ars Iuris. Festschrift für Okko Behrends zum 70. Geburtstag, Göttingen 2009, S. 485-505. Beispiele bei O e s t m a n n , Zivilprozeß (wie Anm. 11), S. 89-94. O e s t m a n n , Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 36), S. 138 (dort auch das Zitat).
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Ein besonderes Problem und eine nicht unerhebliche Verzögerung des Appellationsprozesses ergab sich dann, wenn der Appellant den Prüfungsumfang über den erstinstanzlichen Sach- und Streitstand hinaus erweiterte. Dann ging es für das Reichskammergericht nicht nur darum, die untergerichtliche Rechtsanwendung auf mögliche Fehler hin zu überprüfen. Vielmehr kam plötzlich neuer Sachvortrag hinzu, ging es um Beweiserhebungen auch in der Appellationsinstanz. Ob die Appellation eine reine Rechtskontrolle war oder eine zusätzliche Tatsacheninstanz darstellte, hing ganz davon ab, wie großzügig die Gerichtsordnung und vor allem die Praxis mit neuem Tatsachenvortrag verfuhr. Genau dieses ungelöste Problem veranlasste Ludolf Hugo dazu, sein Buch über Appellationen zu verfassen. Hier sah er die größte Schwäche des kammergerichtlichen Verfahrens. Vor einer gerafften Darstellung von Hugos Gedankengang sind einige Worte zum Verfasser selbst hilfreich.
II. Ludolf Hugo – Leben und Werk Ludolf Hugo war einer jener gelehrten Räte, wie sie in den frühneuzeitlichen Territorien häufig in Verwaltungs-, Regierungs- und Richterämtern bezeugt sind73. Aus der modernen Rückschau handelt es sich bei dieser Gruppe um eine rechtsgelehrte Führungsschicht, neumodisch Funktionselite genannt. Weniger die Einzelpersonen stoßen auf Interesse, vielmehr ist es das Kollektiv, das für die Bürokratisierung und Professionalisierung der Verwaltung seit dem 16. Jahrhundert steht. Das spricht den einzelnen Rechtsgelehrten ihre Verdienste nicht ab. Doch wenn sie heute nur in Nebensätzen auftauchen und ganz im Schatten berühmterer Zeitgenossen stehen, handelt es sich nicht immer um eine ungerechte Verzerrung. Neben den sprichwörtlichen großen Rechtsdenkern74 gab es auch kleine und mittelgroße Juristen75. Im einschlägigen Lexikon niedersächsischer Juristen muss Hugo sich mit 73 74 75
Überblick bei U w e S c h i r m e r , Art. Gelehrte Räte, in: HRG (wie Anm. 12), 2. Aufl. 9. Lieferung 2009, Sp. 23-27. Dazu der bekannte Buchtitel von E r i k W o l f , Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Tübingen 1963. P e t e r O e s t m a n n , Kleine Juristen, in: rg. Rechtsgeschichte 4 (2004), S. 228-231. Die Überschrift zu dieser Besprechung hat die Redaktion ohne mein Wissen hinzugefügt.
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einem Kurzartikel begnügen76, und das Lehrbuch zur niedersächsischen Rechtsgeschichte nennt Hugo im Vorübergehen als Beispiel für den schleichenden Übergang von bürgerlichen zu adligen Ministern und Kanzlern in der Zeit um 170077. Insofern bezeichnet Georg Schnath das Beispiel Ludolf Hugos als soziologisch interessant78. Das ist ein Bedeutungsmaßstab, der wohlfeil zu kritisieren ist79, aber doch unvermeidlich zu einer Geschichtsschreibung gehört, die den Blick für das Ganze behalten möchte. Erheblich berühmter als Ludolf Hugo sind hannoversche Juristen des 18. Jahrhunderts wie David Georg Strube oder Friedrich Esaias Pufendorf80. Und an das Ansehen oder die Bedeutung von Zeitgenossen wie Hermann Conring oder gar Samuel Stryk81 kommt Hugo nicht im entferntesten heran, ganz zu schweigen von seinem Hannoveraner Briefpartner Gottfried Wilhelm Leibniz82. 76
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81 82
J o a c h i m R ü c k e r t / J ü r g e n V o r t m a n n (Hrsg.), Niedersächsische Juristen. Ein historisches Lexikon mit einer landesgeschichtlichen Einführung und Bibliographie, Göttingen 2003, S. 365; ebenso Kurzartikel bei G e r d Kl e i n h e y e r / J a n S c h r ö d e r (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Aufl. Heidelberg 2008, S. 506. K a r l K r o e s c h e l l , recht unde unrecht der sassen. Rechtsgeschichte Niedersachsens, Göttingen 2005, S. 249. G e o r g S c h n a t h , Art. Hugo, Ludolf, in: Neue Deutsche Biographie 10 (1974), S. 2728 (27). P f a n n e n s c h m i d , Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 19. P e t e r O e s t m a n n , David Georg Strube, in: Rückert/Vortmann, Niedersächsische Juristen (wie Anm. 76), S. 52-58; A n d r é D e p p i n g , Friedrich Esaias Philipp von Pufendorf, ebd. S. 59-63. 1640-1710, zu ihm K l e i n h e y e r / S c h r ö d e r , Juristen (wie Anm. 76), S. 419-423. Hugo als Korrespondent (Korr.) oder erwähnt (e) im Register bei: G o t t f r i e d W i l h e l m L e i b n i z , Sämtliche Schriften und Briefe, 1. Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel, 1. Bd. (Darmstadt 1923, Nachdruck Berlin, Hildesheim 1970): S. 530 (4 e); 2. Bd. (Darmstadt 1927; Nachdruck Berlin, Hildesheim 1970): S. 569 (6 e); 3. Bd. (1938/1970); S. 644 (11 e); 4. Bd. (1950): S. 735 (6 e); 5. Bd. (1954/1970): S. 694 (1 e); 6. Bd. (1957/1970): S. 639 (2 Korr.), 655 (16 e); 7. Bd. (1964): S. 713 (14 Korr.), 729 (9 e); 8. Bd. (1970): S. 625-626 (3 Korr.), 642 (14 e); 9. Bd. (1975): S. 719 (5 Korr.), 742 (13 e); 10. Bd. (1979): S. 709 (9 Korr.), 730 (13 e); 11. Bd. (1982): S. 781 (3 Korr.), 803 (16 e); 12. Bd. (1990): S. 761 (5 Korr.), 780 (23 e); 13. Bd. (1987): S. 731 (8 Korr.), 749 (31 e); 14. Bd. (1993): S. 914 (7 Korr.), 934 (12 e); 15. Bd. (1998): S. 866 (5 Korr.), 887 (13 e); 16. Bd. (2000): S. 815 (12 e); 17. Bd. (2001): S. 742 (4 Korr.), 758 (25 e); 18. Bd. (2005): S. 844 (1 Korr.), 864 (24 e); 19. Bd. (2005): S. 736 (2 Korr.), 751 (14 e); 20. Bd. (2006): S: 870 (5 Korr.), 890 (24 e); 21. Bd. (2012), S. 824 (5 e); 22. Bd. (2011): S. 818 (8 e); 2. Reihe: Philosophischer Briefwechsel, 1. Bd. (1926/1972): S. 570 (1 e); 4. Reihe: Politische Schriften, 2. Bd. (1963): S. 773 (5 e); 3. Bd. (1986): S. 939 ( 8 e); 4. Bd. (2001): S. 854 (25 e); 5. Bd. (2004): S. 699 (5 e); 6. Bd. (2008): S. 812 (5 e); 7. Bd. (2011): S. 916 (10 e).
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Es kann also nicht darum gehen, aus dreihundertfünfzigjähriger Rückschau einen zu Unrecht ins Hintertreffen geratenen großen Juristen zu entdecken. Trotzdem ist Ludolf Hugo alles andere als uninteressant. Die Lektüre seines hier übersetzten Buches macht das schnell klar. Hugos Biographie zeigt zunächst, wie engmaschig sich Nachrichten zum Lebensweg eines frühneuzeitlichen Juristen aus ganz verschiedenen Quellen gewinnen lassen. Das ermöglicht einen Einblick in die territoriale Verwaltungs- und Rechtsgeschichte, der am Einzelfall das Typische und das Untypische beleuchten kann. Dank der Hannoveraner Dissertation von Yvonne Pfannenschmid von 2005 fällt der Zugang leicht. Ludolf Hugo entstammt einer im heutigen Landkreis Nienburg/Weser verwurzelten Beamten- und Pastorenfamilie83. Hugos Vater, der braunschweig-lüneburgische Amtmann Statius Hugo, war zunächst in Rehburg, dann in Stolzenau tätig. In Rehburg wurde Ludolf Hugo geboren, vermutlich im Mai 163284. Im Alter von etwa 17 Jahren begann Hugo 1649 ein Studium in Helmstedt, unter anderem bei Hermann Conring. Nach drei Jahren wechselte er nach Leiden und blieb dort weitere zwei Jahre. Angeblich soll er dann als Praktikant zum Reichskammergericht nach Speyer gegangen sein. Nähere Belege für den Zeitraum bis 1663 fehlen jedoch. Damals trat er in Mirow sein Amt als mecklenburgischer Hofrat an. Gesichert ist zudem die Promotion in Helmstedt 166185. Wann genau Hugo den Kameralprozess kennenlernte und wie lange er in Speyer blieb, lässt sich nicht näher aufhellen86. Sein Werk selbst legt jedenfalls einen Aufenthalt deutlich später als 1654 nahe, was sich an den von Hugo eingearbeiteten Gemeinen Bescheiden zeigt. So kennt Hugo einen Gemeinen Bescheid vom 30. Oktober 1655, den er gleich zweimal zitiert. Das Reichskammergericht verkündete später mehrere Gemeine Bescheide, die den Erlass vom 30. Oktober 1655 näher konkretisierten. Sie stammen aus der Zeit zwischen 83 84
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Umfassend zur Biographie P f an n e n s c h m i d , Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 19-37. S c h n a t h , Hugo (wie Anm. 78), S. 27; für 1632 auch: Nachrichten über die Hannoversche Familie der von Hugo in der Provinz Kalenberg, Celle 1856, S. 5; zu den Schwierigkeiten, das Geburtsdatum zu bestimmen, P f a n n e n s c h m i d t , Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 19-20. – Die Taufmatrikel der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Rehburg beginnen erst 1659 (dazu Übersicht des Kirchenbuchamts Hannover unter http://www.kirche-hannover.de/media/05fa89eed6945dae8888a4167f98536a.pdf, [besucht am 11. Mai 2012], dort S. 134). P f a n n e n s c h m i d , Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 22-24. Zur Datierung P f a n n e n s c h m i d , Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 21, Nachrichten (wie Anm. 84), S. 5: „nach vollendeten akademischen Studien“, und unten bei Anm. 118-120.
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1658 und 165987. In Hugos Buch ist der letzte Bescheid vom 13. Dezember 1659 zweimal zitiert, freilich nur in der Einleitung. Vielleicht also fiel seine Speyerer Zeit damit in das Jahr 1659, vielleicht aber überarbeitete er dann auch nur einen bereits vorliegenden Entwurf aus den Jahren 1656 und 1657. Pfannenschmid hat Hinweise auf Hugos Werk über die Appellationen bereits aus dem Jahr 1661 entdeckt. Möglicherweise gab es also eine frühe Entwurfsfassung, die der gedruckten Erstausgabe vorausging. Dann wäre nicht das Buch zum Bundesstaat, sondern die prozessrechtliche Studie Hugos Gesellenstück gewesen88. Jedenfalls entstand „De abusu appellationum“ deutlich vor Hugos erster Tätigkeit in Mecklenburg und damit auch vor seinem Wechsel in hannoversche Dienste ab 1665. Für das Verständnis der Schrift ist der spätere Lebensweg des Verfassers damit kaum noch erheblich. Immerhin hat Hugo sein Buch nicht mehr neu herausgegeben. Die Gründe dafür sind nicht bekannt. Für Hugos spätere Karriere müssen daher an dieser Stelle wenige Striche genügen. Seit 1677 Vizekanzler und Leiter der Justizkanzlei, blieb Ludolf Hugo diesem Amt treu bis zu seinem Tod im Sommer 1704. An allen wichtigen Fragen der hannoverschen Politik seiner Zeit soll er beteiligt gewesen sein89. So einsichtig das klingt, gibt es doch einen erstaunlichen Negativbefund. In die Erörterungen und Verhandlungen um das Appellationsprivileg war Hugo offenbar nicht eingebunden. Zwischen 1698 und 1701 zogen sich die Diskussionen hin, aber wohl ohne direkte Anteilnahme Hugos90. Vielleicht sind unter diesem Blickwinkel aber auch lediglich die Quellen noch nicht betrachtet worden. Als juristischer Schriftsteller ist Hugo wenn überhaupt, dann vor allem mit seinem Werk zum Bundesstaat in Erinnerung geblieben. Hier erntete er auch Anerkennung von Zeitgenossen91. Zwei weitere Schriften aus der 87
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Gemeine Bescheide vom 2. Mai 1658, 10. Februar 1659, 1. Dezember 1659, 13. Dezember 1659. – Zu den Gemeinen Bescheiden von Reichshofrat und Reichskammergericht bereite ich eine kritische Edition vor. P f a n n e n s c h m i d , Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 22. S c h n a t h , Hugo (wie Anm 78), S. 28. Bei J e s s e n , Einfluß (wie Anm. 59), taucht Hugo überhaupt nicht auf. Nachweise bei S i e g f r i e d B r i e , Der Bundesstaat. Eine historisch-dogmatische Untersuchung. Erste Abtheilung: Geschichte der Lehre vom Bundesstaate, Leipzig 1874, S. 21; weitere Belege bei O t t o G i e r k e , Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik, Breslau 1880 (Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 7), S. 246-247 Anm. 50.
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Hannoveraner Zeit verdienen darüber hinaus noch Erwähnung. Zum einen verfasste er ein Gutachten über die Rechte des hannoverschen Herrscherhauses am Herzogtum Sachsen-Lauenburg. Das Herzogsgeschlecht war erloschen, und in der Tat konnte Hannover das nördliche Territorium erwerben. Erstaunlicherweise gab es um die Drucklegung von Hugos Bericht bis weit ins 18. Jahrhundert hinein Streit92. Zum anderen veröffentlichte Hugo 1691 ein Buch über die Primogenitur in Kurhannover93. Beide in der Ministerzeit entstandenen größeren Werke sind damit in deutscher Sprache verfasst und Problemen der territorialen Verfassung gewidmet. Vielleicht liegt hier die Antwort auf die Frage, warum Ludolf Hugo seine älteren Arbeiten zur Verfassung und Gerichtsbarkeit des Reiches nicht fortsetzte. In seiner Wahrnehmung und täglichen Arbeit spielten die Territorien – besser gesagt: sein Territorium – einfach eine viel größere Rolle als die fernen Organe des Reiches. Das verbindet ihn mit seinen partikularrechtlichen Nachfolgern David Georg Strube und in gewisser Weise auch mit Friedrich Esaias Pufendorf. Wenn Hannover also später für seine blühende Partikularrechtswissenschaft bekannt war94, zeigt Hugo anschaulich, wie sich das wissenschaftliche und politische Interesse eines rechtsgelehrten Fürstendieners vom Reich zum Territorium verschob. Mit der Themenfolge seiner Bücher und auch mit seinem Lebensweg spiegelt Hugo damit geradezu handgreiflich die Verdichtung der Staatlichkeit in den deutschen Ländern nach dem Dreißigjährigen Krieg.
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Umfassend W a l t e r J u n g e , Leibniz und der Sachsen-Lauenburgische Erbfolgestreit (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 65), Hildesheim 1965, S. 34113; auch S c h n a t h , Hugo (wie Anm. 78), S. 28. [L u d o l f H u g o (anonym)] , Von der Succession Nach dem Primogenitur-Recht/ In den Herzogthümern/ und dergleichen Fürstenthümern des Reichs Teutscher Nation. In specie von solchem Successions-Recht Im Hause Braunschweig-Lüneburg Zellischer Linie, Hannover 1691; auch die moderne Verfassungsgeschichte greift auf das Werk zurück, etwa G e r h a r d P f a n n k u c h e , Patrimonium – Feudum – Territorium. Zur Fürstensukzession im Spannungsfeld von Familie, Reich und Ständen am Beispiel welfischer Herrschaft im sächsischen Raum bis zum Jahre 1688 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 83), Berlin 2011, S. 430 Anm. 902, 497 Anm. 1093, 508 Anm. 1127, 518 Anm. 1154, 530-531 Anm. 1191-1194, 535. R o d e r i c h v o n S t i n t z i n g / E r n s t L a n d s b e r g , Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abteilung III/Halbband 1, 2. Neudruck Aalen 1978 der Ausgabe München 1898, S. 260.
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III. Hugos Vorschläge zur Verbesserung des Appellationsrechts Hugos Buch über den Missbrauch der Appellation hat ein klares Anliegen. Der Verfasser fordert die Abschaffung des sog. Novenrechts. Neuer Sachvortrag in der Appellationsinstanz sollte im Interesse der Verfahrensbeschleunigung ausgeschlossen sein. Das obergerichtliche Verfahren sollte sich auf eine bloße Prüfung des vorinstanzlichen Urteils in rechtlicher Hinsicht beschränken. Die Rechtslage bis dahin sah freilich anders aus. Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 kannte praktisch keine Beschränkung des neuen Tatsachenvortrags und verlangte vom Appellanten lediglich, den neuen Sachvortrag im dritten Termin vorzubringen: „Im fall aber, da der appellant oder appellatus etwas neuwes oder weyters, dann in erster instantz einkommen, fürzubringen und zu beweisen hett oder dasjenig, so in voriger instantz fürbracht, noch weiter darthun und beweisen wolt, soll er solchs schriftlich durch articul auf diesen termin einzubringen oder, so der appellant sein klag articulirt hievor fürbracht und nach der kriegßbefestigung anstatt der articul repetirt, der appellatus darauf an diesem termin zu antworten schüldig sein und darauf weiter mit der beweysung und sonst procedirt, gehandelt und volnfaren werden in allermassen, wie oben in erster instanz außgetruckt ist.“95 Von Beschränkungen des Novenrechts war hier keine Rede. Sowohl der Appellant als auch der Appellat konnte nach dieser Vorgabe vor dem Reichskammergericht neuen Sachverhalt vortragen. Wie bis 1654 üblich, hatte er seinen Tatsachenvortrag in einzelne Artikel aufzuspalten96. Bis zu welchem Verfahrensabschnitt Nova zulässigerweise in den Prozess eingeführt werden durften, ist unklar. Die Vorschrift spricht von der Kriegsbefestigung, der am Reichskammergericht üblichen Litiskontestation97. Nach der Gerichtsordnung sollte die Litiskontestation im zweiten Termin erfolgen, genau genommen in der sechsten Audienz98. Die 95 96
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RKGO 1555 3, 33, 3, bei L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 252253. Überblick bei G e r h a r d B u c h d a , Art. Artikelprozeß, in: HRG (wie Anm. 7) I (1971), Sp. 233-235; P e t e r O e s t m a n n , Art. Artikelprozess, in: HRG (wie Anm. 12), I (2. Aufl. 2008), Sp. 313-314. Umfassend S t e f f e n S c h l i n k e r , Litis Contestatio. Eine Untersuchung über die Grundlagen des gelehrten Zivilprozesses in der Zeit vom 12. bis zum 19. Jahrhundert (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 233), Frankfurt am Main 2008; ergänzend P e t e r O e s t m a n n , Art. Einlassung, in: HRG (wie Anm. 12), I (2. Aufl. 2008), Sp. 1300-1301. RKGO 1555 3, 32, 4, bei L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 251.
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Vorschrift zum Novenrecht gehört dagegen zu den Regelungen des dritten Termins. Offenbar war neuer Sachvortrag also auch während des laufenden Appellationsverfahrens nach der Streitbefestigung noch möglich. Beim Blick in die reichskammergerichtlichen Protokollbücher sind solche Unterscheidungen ohnehin kaum zu erkennen. Neue Tatsachen gelangten dann in den Rechtsstreit hinein, wenn jemand sie einführte. Der Jüngste Reichsabschied von 1654 versuchte, das ausufernde Novenrecht in den Griff zu bekommen. Offenbar war eine Beschränkung geplant, zeitgenössisch schwerfällig formuliert und mit ganz vagen Generalklauseln versehen: „Zumalen aber jederzeit, zum Siebenden, das Iuramentum Calumniae de non frivole appellando, wann das Privilegium ein anders in sich nicht begreifft, bey Reproducirung der Process coram Iudice ad quem, im ersten Termino mit Vorzeigung eines Special-Gewalts, sowohl des Advocatens, welcher in der AppellationsSach dienet, als des Principalen selbsten, und zwar sub poena desertionis abgelegt, dabenebens auch beyden, sowohl Principalen als Advocaten, in dem Appellations-Eyd diese versicherte Clausul eingerückt, und der Appellant des Fugs oder Unfugs Rechtens dahin erinnert werden, daß er von seinem neuen Einbringen novorum deducendorum, so ihm bereits bey Ablegung des Eyds vorkommen, oder in Vollführung der Appellation vorkommen möchten, in erster Instanz keine Wissenschaft gehabt, oder dieselbe damalen einzubringen nicht vermöcht, oder für undienlich und unnöthig geachtet, nunmehr aber davor halte, daß die ihm zu Erhaltung Rechtens dienlich seye, auf den Fall auch der Principal-Advocat pendente lite mit Tod abgehen, oder sonsten geändert seyn solte, so solle obig ernannte Appellations-Eyd der substituirte oder surrogirte, auf zuvor aus den Actis genommene gnugsame Information, zu wiederholen schuldig seyn; also solle es auch mit den Successorn der verstorbenen Parthey ebenmässig gehalten werden.“99 Das Novenrecht war damit in die Vorschrift über den Kalumnieneid eingebaut. Das war konsequent, denn hier lag in der Tat eine Einbruchstelle für missbräuchliche Prozessführung. Die Beschränkung neuen Vorbringens war butterweich gehalten. Es brauchte sich nicht um Tatsachen zu handeln, die der Appellant erst nach dem Ende der vorigen Instanz erfahren hatte. Diesen Fall erwähnt der Jüngste Reichsabschied zwar ganz am Anfang, doch folgen dann sofort mehrere Abschwächungen. Auch wenn der Appellant Tatsachenkenntnis hatte, aber sie damals nicht in den Rechtsstreit einbrin99
JRA 1654 § 118, bei A r n o B u s c h m a n n (Hrsg.), Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten. Teil II: Vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Ende des Reiches im Jahre 1806, 2. Aufl. Baden-Baden 1994, S. 231-232.
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gen konnte, war das Novenrecht eröffnet. Hier ging es darum, Hindernisse zu überwinden, die zuvor bestanden hatten. Dann aber uferte die Regelung aus. Neuer Sachvortrag war nämlich auch dann zulässig, wenn der Appellant den Hinweis auf diese Fakten zuvor für undienlich oder unnötig gehalten hatte, jetzt aber die Rechtslage anders einschätzte. Jede veränderte rechtliche Einschätzung rechtfertigte damit den neuen Sachvortrag. Und veränderte rechtliche Einschätzungen waren keine echte Hürde. Da der Appellant die vorige Instanz verloren hatte, lag es auf der Hand, dass sein damaliger Vortrag unzureichend gewesen war. Um die Erfolgsaussichten zu verbessern, war es also geradezu geboten, mit verbessertem Tatsachenvortrag nachzusetzen. Entsprechend nachlässig verfuhr die Praxis. Die vorformulierten Anwaltsvollmachten lehnten sich nach 1654 wörtlich an den Jüngsten Reichsabschied an100. Es reichte also offenbar, genau dieselbe Floskel vorzutragen, wie sie im Gesetz stand. Dann stand dem neuen Sachvortrag nichts im Wege. Ausdrücklich erlaubte die Vorschrift, neue Gesichtspunkte auch im Laufe des Verfahrens nachzuschieben. Durch nachgereichte Tatsachen oder Beweisantritte konnte der Rechtsstreit damit jederzeit eine neue Richtung einschlagen. Diese Gefahr bestand in allen Phasen des Appellationsprozesses. Dieser Befund widerspricht zu einem guten Teil der insgesamt positiven Einschätzung der durch den Jüngsten Reichsabschied bewirkten Prozesskonzentration. In der Tat schaffte das Reformgesetz nicht nur das umständliche Positionalverfahren ab, sondern führte angeblich zugleich die Eventualmaxime in den Kameralprozess ein101. Grundsätzlich sollte der Beklagte alle Verteidigungsmittel auf einmal und zwar bereits im ersten Termin vortragen102. Beim Appellanten verfuhr die Ordnung weit weniger streng. Das ungeschmälerte Novenrecht konnte als Einfallstor für Prozessverschleppungen alle Versuche zur Verfahrensbeschleunigung wieder zunichte machen. Vor diesem Hintergrund schrieb Ludolf Hugo sein Buch. Acht Jahre nach dem Jüngsten Reichsabschied stellte er das Regensburger Reformwerk auf den Prüfstand und verlangte erhebliche Änderungen. Seinen Gedankengang gilt es im folgenden kurz nachzuzeichnen.
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Beispiel bei O e s t m a n n , Zivilprozeß (wie Anm. 11), S. 89. G u n t e r W e s e n e r , Art. Prozeßmaximen, in: HRG (wie Anm. 7), IV (1990), Sp. 55-62 (58); W o l f g a n g S e l l e r t , Art. Prozeß des Reichskammergerichts, in: HRG (wie Anm. 7), IV (1990), Sp. 29-36 (33). JRA 1654 §§ 37, 40, bei B u s c h m an n , Kaiser und Reich II (wie Anm. 99), S. 199-202.
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Hugos Buch ist dreigeteilt. Es beginnt mit einer Einführung in das Thema, dann folgen zwei Hauptteile. Der erste Teil ist dabei erheblich umfangreicher und beschäftigt sich mit Vorschlägen zur Verbesserung des Appellationsverfahrens. Die drei kleinen Kapitel des zweiten Teils sind auf ein Spezialproblem zugespitzt und behandeln nur die Frage, wie sich leichtfertige Appellationen eindämmen lassen. Der Einstieg in die Einleitung wirft den Leser sogleich ins kalte Wasser. Kein Problem der Reichsverfassung sei so dringend und ungelöst wie das Gerichtsverfahren, beginnt Hugo sein Buch. Unmittelbar danach kommt zum erstenmal der Jüngste Reichsabschied von 1654 ins Spiel. Bereits nach diesen wenigen Zeilen hat Ludolf damit einen Pflock eingeschlagen, an den auch in späteren Abschnitten vieles angebunden ist. Die Reformbemühungen des Jüngsten Reichsabschieds haben für ihn nichts gebracht, das steht von Anfang an fest. Sonst nämlich bräuchte er über die Gebrechen der Justiz nicht so laut zu klagen. Um starke Worte ist Hugo dabei nicht verlegen. In den Gerichtsverfahren entdeckt er Geschwüre, die nach der Hand des Arztes verlangen. Mehrfach gelingen ihm ganz farbige Bilder in einem auf den ersten Blick so trockenen Gebiet wie den äußeren Regeln eines Gerichtsverfahrens. An anderer Stelle spricht Hugo von einer inneren Krankheit, gegen die äußerlich angewandte Medizin nichts ausrichte. Vermutlich geht man kaum fehl, hier den Einfluss Hermann Conrings anzunehmen. Conring jedenfalls war als sprichwörtlicher Polyhistor auch in der Medizin bewandert103 und mag Hugo die Freude an derartigen Bildern und Vergleichen nahegebracht haben. Um welche Geschwüre es geht, wird schnell deutlich. Nichts bereite vor Gericht mehr Schwierigkeiten als das Appellationsverfahren. Sofort, wenn auch zunächst nur ganz knapp, blitzt der Grund für all die Langatmigkeiten auf. Durch die Appellation gerate der Rechtsstreit rückwirkend erneut in die Zeit der Litiskontestation, der gemeinrechtlichen Streitbefestigung. Ein Dreh- und Angelpunkt, der in Hugos Werk häufig auftaucht, gerät schon auf der zweiten Seite ins Gesichtsfeld. Es handelt sich um die lex per hanc aus dem Codextitel de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum, nach moderner Zählweise um Cod. 7, 63, 4104. Diese Konsti103 104
Gute Zusammenstellung bei M i c h a e l S t o l l e i s (Hrsg.), Hermann Conring (16061681). Beiträge zu Leben und Werk (Historische Forschungen 23), Berlin 1983. „Idem [= Imperator Justinus] A. Tatiano magistro officiorum. Per hanc divinam sanctionem decernimus, ut licentia quidem pateat in exercendis consultationibus tam appellatori quam adversae parti novis etiam adsertionibus utendi vel exceptionibus, quae non ad novum capitulum pertinent, sed ex illis oriuntur et illis coniunctae sunt, quae apud anteriorem iudicem noscuntur propositae. 1. Sed et si
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tution ist ein Kaisergesetz des oströmischen Kaisers Justinus von 520 n. Chr105. In deutscher Übersetzung lautet es: „Wir verordnen durch gegenwärtiges Gesetz Unserer Majestät, dass bei Gelegenheit von Anfragen um Entscheidung, zwar dem Appellanten sowohl als dem Gegentheil freistehen soll, neue Anführungen zu machen, oder Einreden aufzustellen, die nicht einen neuen Punct angehen, sondern aus denjenigen entspringen, und mit ihnen verbunden sind, die bereits bei dem vorigen Richter vorgeschützt worden sind. Allein auch wenn etwa ein Anführen als bereits vorgebracht nachgewiesen wird, oder eine Urkunde als bereits vorgelegt, jedoch zu jener Zeit die Beweise gefehlt haben, aber vor Unsern Räthen ohne Aufschub geführt werden können, so sollen sie Dasjenige beibringen dürfen, wodurch das bisher bereits Verhandelte mit hellerem Lichte der Wahrheit beleuchtet wird.“106 Es kann hier nicht darum gehen, die antike Bedeutung dieser Regelung darzulegen. Zur Zeit Hugos jedenfalls diente die Konstitution als Blankoscheck für alle Arten von neuem Sachvortrag und wiederholter und besserer Beweisantritte. Für irgendwelche Einschränkungen gab die Vorschrift nach frühneuzeitlicher Sichtweise nichts her. Die starke Rückbindung an das römische Zivilprozessrecht an dieser Stelle überrascht. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gab es einheimische deutsche Verfahrensordnungen bereits in großer Zahl, darunter nicht weniger als 30 Reichskammergerichtsordnungen bzw. Reichsabschiede zum Prozessrecht107. Mit seinem selbstverständlichen Ausgangspunkt im antiken Recht erstreckte Ludolf Hugo die sattsam bekannte fundata intentio scheinbar bis in das Prozessrecht. Die Geltungsvermutung und der Anwendungsvorrang des römisch-kanonischen Rechts bezogen sich üblicherweise eher auf das materielle Zivilrecht108. Hier gab es einheimische Gesetzgebung
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qua dicta quidem adlegatio monstrabitur vel instrumentum prolatum aliquod, probationes tamen illo quidem defuerunt tempore, verum apud sacros cognitores sine procrastinatione praeberi poterunt, id quoque eos admittere, quo exercitatis iam negotiis pleniore subveniatur veritatis lumine“; bei P au l Kr ü g e r (Hrsg.), Corpus Iuris Civilis, vol. II: Codex Iustinianus, 15. Aufl. Dublin, Zürich 1970, S. 352. Kurze Hinweise bei M a x K as e r / Ka r l H ac k l , Das römische Zivilprozeßrecht, 2. Aufl. München 1996, S. 584-585, 620, 622. Cod. 7, 63, 4, übersetzt von C ar l E d u ar d O t t o / B r u n o S c h i l l i n g / C ar l F r i e d r i c h F e r d i n a n d S i n t e n i s , Das Corpus Juris Civilis in’s Deutsche übersetzt, 6. Band, Leipzig 1832, S. 134. Überblick bei J o h a n n C h r i s t o p h S c h w a r t z , Vierhundert Jahre deutscher Zivilprozeß-Gesetzgebung. Darstellungen und Studien zur deutschen Rechtsgeschichte, Nachdruck Aalen 1986 der Ausgabe Berlin 1898, S. 792-793. W o l f g a n g W i e g a n d , Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit (Münchener Universitätsschriften – Juristische Fakultät. Abhandlungen zur rechtswissen-
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auch kaum in größerem Maße, schon gar nicht auf Reichsebene109. Im Prozessrecht sah das ganz anders aus. Engmaschig war der Kameralprozess geregelt, und genau dazu gab es Kommentare und Entscheidungsliteratur in großer Zahl. Dennoch greift Hugo in seinem Buch oftmals auf immer dieselbe Stelle aus dem Codex Iustinianus zurück. Erst in einem späteren Kapitel wird sein Ziel klar. Er zeigt nämlich, wie sich die verfassungsrechtliche Stellung des antiken römischen Kaisers vom verfassungsrechtlichen Gefüge des Alten Reiches im 17. Jahrhundert unterschied. Der römische Imperator konnte durch seine umfassende richterlich-ermittelnde Tätigkeit die unteren Richter zugleich kontrollieren und die Macht an der Staatsspitze bündeln. Im frühneuzeitlichen Reich war es genau umgekehrt. Der Kaiser konnte nicht die Gerichtsgewalt der Landesherren untergraben und deren territoriale Obergerichte aushebeln. Der historische Vergleich führt Hugo deshalb zu der Forderung, das antike Novenrecht als unpassend für die Neuzeit abzuschaffen. Die aufwendige Argumentation in diesem Punkt veranschaulicht exemplarisch, wie schwer es selbst in der Zeit nach Hermann Conrings wichtigem Buch von 1643 noch war, den Geltungsanspruch einzelner antiker römischer Gesetze zu bestreiten. Im Kern steckt das bei Hugo alles schon in der Einleitung. Zahlreiche weitere Gesichtspunkte treten hinzu. Die überwiegende Zahl der Appellationen, da ist er sich sicher, werde von den Gerichten als unbegründet verworfen. Deswegen wittert er Missbrauch und Leichtfertigkeit im Umgang mit den Rechtsmitteln. Wenn die Justiz leide, dann leide der Staat, betont Hugo, und deswegen macht er sich daran, die Gerichte zu entlasten und die Prozesse zu verkürzen. Erneut gerät der Jüngste Reichsabschied von 1654 in den Blick. Wie oben schon dargestellt, erstreckte sich die Vorschrift über den Kalumnieneid nun ausdrücklich auch auf neuen Sachvortrag und neue Beweismittel. An den Erfolg dieser Reform glaubt Hugo aber nicht. Der Grund dafür ist bezeichnend. Ludolf Hugo bedauert nämlich die erschlaf-
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schaftlichen Grundlagenforschung 27), Ebelsbach 1977; P e t e r O e s t m a n n , Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Rechtsprechung. Materialien und Studien 18), Frankfurt am Main 2002. G e r h a r d W e s e n b e r g , Die Privatrechtsgesetzgebung des Heiligen Römischen Reiches von den Authenticae bis zum Jüngsten Reichsabschied und das römische Recht, in: L’Europa e il diritto romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker, vol. I, Mailand 1954, S. 187-210; ergänzend H e i n r i c h G e h r k e , Deutsches Reich, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 2. Band: Neuere Zeit (1500-1800), 2. Teilband: Gesetzgebung und Rechtsprechung, München 1976, S. 309-321.
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fenden Glaubenskräfte im Volk und sieht deshalb die Angst vor Meineid und ewiger Verdammnis schwinden. Wenn aber der Einzelne keine Furcht vor der Höllenpein empfindet, auch wenn sie in der Formel des Kalumnieneides wortgewaltig ausgemalt ist, verliert der sog. Gefährdeeid jede abschreckende Wirkung. Mehrfach kommt Hugo auf diesen Gedanken zurück. In seiner Wahrnehmung ist der Staat also gut beraten, auf solche Säkularisierungsbewegungen zu reagieren und andere als religiöse Strafen zur Disziplinierung der Parteien und ihrer Anwälte einzuführen. Drei seiner Trümpfe hat Hugo damit ausgespielt: die Rückbindung an das antike römische Recht auch im Prozessrecht, die Vergleiche mit der Medizin und die Glaubensschwäche seiner Zeit. Ein vierter Punkt gesellt sich erst im Hauptteil hinzu, dann aber mit geradezu aufdringlichen Wiederholungen. Immer wieder nämlich fußt seine Darstellung für allgemeine Fragen des Rechts auf den Lehren von Aristoteles. Für einen Juristen seiner Zeit war das alles andere als selbstverständlich. Gemeinhin nimmt man nämlich an, der deutsche Usus modernus pandectarum, die herrschende Methode der Rechtsgelehrsamkeit habe sich durch eine Vermischung römischen Rechts mit einheimischen Gewohnheiten und Statuten ausgezeichnet. Die humanistische Jurisprudenz und die holländische elegante Schule seien es dagegen gewesen, die auch antike Schriftsteller als Wegmarken benutzt hätten110. Das Schubladendenken aber verwischt die Übergänge. Vor einiger Zeit hat bereits Ulrich Falk angenommen, der Humanismus habe eine praktisch erheblich größere Bedeutung gehabt als früher vermutet111. Wie dem auch sei, Ludolf Hugo war alles andere als der typische Rechtspraktiker des Usus modernus. Falls es methodisch möglich ist, den Autor durch sein Werk zu erkennen, hat man es mit einem originellen Einzelgänger zu tun. Antike Philosophie, römisches Recht, Gesetze und Rechtsliteratur seiner Zeit, Klage über Glaubensverfall und Seitenblicke auf die Medizin verbinden sich bei Ludolf Hugo zu sehr eigenständigen Gedankengängen abseits der üblichen plattgetrampelten Pfade. Am Reichskammergericht selbst freilich konnte 110
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A n n a M . M . C a n o y - O l t h o f f / P au l L u c i e n N è v e , Holländische Eleganz gegenüber deutschem Usus modernum pandectarum? (Rechtshistorische Reeks van het Gerard Noodt Instituut 17), Nijmegen 1990; Überblicke bei H an s S c h l o s s e r , Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 10. Aufl. Heidelberg 2005, S. 68-83, und F r a n z W i e a c k e r , Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 204-215. U l r i c h F a l k , Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten im der frühen Neuzeit (Rechtsprechung. Materialien und Studien 22), Frankfurt am Main 2006, S. 412-417, freilich mit zeitlich früheren Beispielen.
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Hugo mit seiner Schrift kaum Rosen ernten. Im Rückblick des späten 18. Jahrhunderts nahm der Wetzlarer Assessor Egid Joseph Karl von Fahnenberg Hugos Schrift zwar in seine Zusammenstellung der bisherigen Literatur zum Reichskammergericht auf112. Der Hinweis befindet sich jedoch in einer Zusammenschau eher unbedeutender Dissertationen und kleinerer Schriften. Im Gegensatz zu den von ihm geschätzten Werken würdigte Fahnenberg Ludolf Hugo nicht einmal mit einer einzigen Erläuterung. Er war eben Nummer 307 in der Zusammenstellung, mehr nicht. Immerhin allerdings hatte der namhafte Nikolaus Hert, Professor an der Universität Gießen113, das Buch noch 1706 nach Hugos Tod herausgegeben. Der erste Hauptteil beginnt dann geradezu klassisch für Werke des Usus modernus. Hugo zieht sich gleich im ersten Kapitel hinter Autoritäten zurück114, die genau wie er Zweifel an der Wirkmächtigkeit des Kalumnieneides geäußert haben. Das reicht bis zu Baldus de Ubaldis im 14. Jahrhundert. Auch andere wichtige Namen weiß er auf seiner Seite, etwa Andreas Gail, den berühmten Kameralautor115, oder den oft zitierten Roberto Maranta116. Erst nach einem Seitenblick auf Befürworter des Kalumnieneides definiert Ludolf Hugo, worum es genau geht. Ihn stört der Missbrauch der Justiz durch böswillige Prozessführung. Genau dagegen ist der Kalumnieneid gerichtet. Aber in der Praxis sieht Hugo nicht nur die böswilligen Appellanten, sondern viel häufiger auch unbesonnene, leichtfer112 113
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E g i d J o s e p h K a r l v o n F a h n e n b e r g , Litteratur des Kaiserlichen Reichskammergerichts, Wetzlar 1792, S. 280 Nr. 307. Zu Hert: S t i n t z i n g / L a n d s b e r g , Geschichte III/1 (wie Anm. 94), S. 62-63, Noten S. 38-39, J a k o b F r a n c k , Art. Hertius, Johann Nikolaus, in: Allgemeine deutsche Biographie 12 (1880), S. 239-241; G ü n t e r H e r r m an n , Johann Nikolaus Hert und die deutsche Statutentheorie (Neue kölner rechtswissenschaftliche Abhandlungen 25), Berlin 1963. Zur insoweit typischen Argumentationsweise T h o m a s D u v e , Mit der Autorität gegen die Autoritäten? Überlegungen zur heuristischen Kraft des Autoritätsbegriffs für die Neuere Privatrechtsgeschichte, in: Wulf Oesterreicher/Gerhard Regn/Winfried Schulze (Hrsg.), Autorität der Form – Autorisierung – Institutionelle Autorität (Pluralisierung & Autorität 1), Münster 2003, S. 239-256. Zu Gail: K a r l v o n Ke m p i s , Andreas Gaill (1526-1587). Zum Leben und Werk eines Juristen der frühen Neuzeit (Rechtshistorische Reihe 65), Frankfurt am Main 1988; K a r i n N e h l s e n - v o n S t r y k , Andreas Gaill, in: Dieter Laum (Hrsg.), Rheinische Justiz. 175 Jahre Oberlandesgericht Köln, Köln 1994, S. 701-715. Italienischer Jurist aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhunderts, nachgewiesen bei C h r i s t i an G o t t l i e b J ö c h e r , Allgemeines Gelehrten-Lexicon, Nachdruck Hildesheim 1961 der Ausgabe Leipzig 1750-1897, Bd. III (1751), Sp. 131; J o h a n n H e i n r i c h Z e d l e r , Großes vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 19 (1739), Sp. 1169.
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tige und oberflächliche Beschwerdeführer. Nicht aus bösem Vorsatz, aber mit grob fehlerhaften Rechtsansichten überzögen sie die Gerichte mit unsinnigen Klagen und Rechtsmitteln. Da aber der Kalumnieneid nur vorsätzliche Handlungen verhindern soll, könne er die praktisch bedeutsamen Unbedachtheiten überhaupt nicht verhindern. Genau genommen, so Hugo, leisten solche leichtfertigen Parteien nicht einmal einen Meineid, wenn sie den Gefährdeschwur ablegen. Sie glauben nämlich an ihre gute Sache, wenn auch ersichtlich ohne jede Berechtigung. Vom Aufbau seines Buches geht Hugo hier sehr geschickt vor und hält den Spannungsbogen aufrecht. Die ganzen Probleme des Kalumneineides liegen jetzt auf dem Tisch, ohne dass der Hauptpunkt, das Novenrecht, eine größere Rolle spielt. Dann aber erfolgt die Engführung. Hugo spitzt seine Beobachtungen zu. Das zweite Kapitel widmet sich dem Ablauf des Appellationsverfahrens und seinen verschiedenen Förmlichkeiten, den sog. Fatalien. Die Formalien handelt er mit zeitgenössischer Umständlichkeit ab. Der Sache nach kreisen seine Gedanken zunächst um Fragen des Suspensiveffekts. Er beklagt die vielfachen Attentate, also Vollstreckungshandlungen des Untergerichts trotz des anhängigen Appellationsverfahrens. Und genau mit dieser Erwägung kommt er zu seinem Hauptpunkt. Die Attentate sind nämlich für Hugo eine nahezu unvermeidliche Folge der ausufernden Verfahrenslänge. Gerade weil das Ende des Rechtsstreits in unabsehbarer Ferne liege, versuchten die Parteien, wenigstens vorläufig ihre Besitzstände zu sichern. Dass aber das Verfahren so lang ist, beruht für Hugo nahezu ausschließlich auf dem Novenrecht. Hier weist er auf Unterschiede zwischen der Appellation gegen Zwischenurteile und gegen Endurteile hin, die heute kaum noch bekannt sind. Der neue Sachvortrag in der Appellationsinstanz bei Berufungen gegen Endurteile ist bei Hugo zunächst am Wortlaut des römischen Rechts aufgehängt. Doch dann folgt eine Vertiefung anhand des Jüngsten Reichsabschieds sowie eines Gemeinen Bescheids. An verschiedenen Stellen seines Buches zieht Hugo solche Gemeinen Bescheide heran, um seine Auffassungen abzusichern. Es handelt sich um abstrakt-generelle Anordnungen des Reichskammergerichts, um Einzelfragen des Prozessrechts zu klären. Die Reichsgesetzgebung war schwerfällig, Visitationen des Gerichts fanden selten statt, und so behalf sich das Kameralkollegium mit solchen selbst erlassenen Regelungen117. Mit seinen 117
B e r n h a r d D i e s t e l k a m p , Die Gemeinen Bescheide des Reichskammergerichts. Unausgewertete Quellen zum Verfahrensalltag, in: Liber Amicorum Kjell Å. Modéer,
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Hinweisen auf die Gemeinen Bescheide zeigt Ludolf Hugo, wie eng er mit den Feinheiten und ganz aktuellen Gebräuchen des Kameralprozesses vertraut ist. Ferdinand Frensdorff nahm 1881 eine „längere Beschäftigung am Reichskammergericht zu Speyer“ an118. Ernst Landsberg datiert diesen Aufenthalt wohl auf 1661119, Pfannenschmid auf 1654120. Hugos Buch spricht deutlich für den späteren Zeitraum. Hugo kennt nämlich Gemeine Bescheide auch aus den Jahren nach 1654. Und vor allem dreht sich sein gesamtes Werk um die Wirkungslosigkeit der 1654 eingeführten Reformen. Wäre Hugo bereits 1654 in Speyer gewesen, hätte er die reichsgerichtliche Praxis nach dem Jüngsten Reichsabschied nur aus Erzählungen kennen können. Aber die Entschiedenheit und der große Schwung, mit dem er seine Reformvorstellungen ausbreitet, spricht für eine stärkere Motivation. Vermutlich erlebte Hugo die Gebrechen des reformierten Kameralprozesse hautnah und schrieb genau unter diesem Eindruck sein Buch. Das könnte zugleich zwanglos erklären, woher er die Gemeinen Bescheide aus der Zeit nach 1654 so genau kannte. Die Grenzen des Novenrechts sieht Hugo dort erreicht, wo es in der höheren Instanz um einen völlig anderen Streitgegenstand geht. Ein drastisches Beispiel von Maranta zeigt, worum es geht: Wer zunächst eine Kuh herausverlangt, kann im Appellationsverfahren nicht behaupten, in Wahrheit gehe es um ein Pferd. Aber unterhalb solcher Extremfälle stand das Feld weit offen. Dennoch führen für Hugo auch kleine Verschiebungen des Streitgegenstandes zu einem völlig neuen Verfahren in der Appellationsinstanz. In vielfacher Hinsicht kommt Hugo auf diesen Punkt zurück. Zunächst jedoch gelangt er am Ende dieses zweiten Kapitels zu seiner Hauptthese: Die Berechtigung zu neuem Sachvortrag gehört abgeschafft. Scheinbar ist die Regel in ihrem Anwendungsbereich begrenzt, denn sie soll nur für Untertanen der Reichsstände gelten. Das aber zeigt vielmehr, wie genau Hugo den Kameralprozess verstanden hat. Reichsstände selbst hatten nämlich erstinstanzlichen Zugang zum Reichskammergericht und waren daher in die üblichen Appellationsverfahren gar nicht eingebunden. Teilweise konnten sie gegen vorgeschaltete Austrägal-
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Lund 2007, S. 143-148; d e r s . , Beobachtungen zur Schriftlichkeit (wie Anm. 39), S. 107109; zu den Gemeinen Bescheiden bereite ich eine Edition vor. F e r d i n a n d F r e n s d o r f f , Hugo, Ludolf, in: Allgemeine Deutsche Biographie 13 (1881), S. 329. S t i n t z i n g / L a n d s b e r g , Geschichte III/1 (wie Anm. 94), Noten S. 20. P f a n n e n s c h m i d , Ludolf Hugo (wie Anm. 2), S. 21.
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entscheidungen in Speyer, später Wetzlar vorgehen121. Aber ob diese Art zweitinstanzlicher Verhandlungen am Reichskammergericht klassische Appellationsverfahren waren, erscheint reichlich unsicher. Hugo beweist Fingerspitzengefühl, wenn er das Novenproblem auf Prozesse zwischen Untertanen zuspitzt. Die Austräge spricht er an anderer Stelle ab und zu an, ist also auch hier bestens informiert. Fünf schädliche Folgen des Novenrechts stellt Hugo danach zusammen. Sie bilden, klar gegliedert, das dritte Kapitel seines Buches. Am Anfang steht das Verständnis der Appellation als Beschwerde über den vorinstanzlichen Richter. Doch genau diese Kritik an der falschen Rechtsanwendung wird dann unglaubwürdig, wenn der Appellant später neue Tatsachen nachschiebt, die der Judex a quo gar nicht kennen konnte. Denn wenn der Appellationsrichter auf anderer Tatsachengrundlage den Fall entscheidet, geht es nur noch sehr eingeschränkt darum, die vorige Instanz zu kontrollieren. Falls die zunächst unterlegene Seite neue Tatsachen vorbringen wolle, müsse das, wenn überhaupt, vor dem Untergericht geschehen. Damit deutet Hugo bereits einen Punkt an, der im Verlaufe des Buches immer stärker in den Vordergrund tritt. Die Aufspaltung des Sachvortrags auf mehrere Instanzen lässt den Rechtsstreit für Hugo jedenfalls „unsterblich“ werden. Das ist ein Argument, das in verschiedenen deutschen und lateinischen Wendungen immer wieder im gemeinen Recht auftauchte, um missbräuchliche Prozessführung zu brandmarken122. Die dritte schädliche Folge knüpft an die Vervielfachung der Tatsacheninstanzen an. Hugo sieht hier eine Instanzverschwendung mit der großen Gefahr von Prozessverschleppungen. Die Möglichkeit zu neuem Vortrag soll geradezu Kalumnien herausfordern, denn die Verschleppungsabsicht ist für ihn die wesentliche Ursache für Kalumnien. Die 1654 neu formulierte Eidesleistung schütze dagegen nicht. Ganz subtil unterscheidet er an dieser Stelle den Malitieneid vom Kalumnieneid. Diese Differenzierung geht auf das mittelalterliche gelehrte Recht zurück. Neben dem allgemeinen Kalumnieneid am Beginn eines 121
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Zur Austrägalgerichtsbarkeit N i l s M e u r e r , Die Entwicklung der Austrägalgerichtsbarkeit bis zur Reichskammergerichtsordnung von 1495, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hrsg.), Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 50), Köln, Weimar, Wien 2005, S. 17-52; W e i t z e l , Kampf (wie Anm. 6), u. a. S. 95-97, 232-235. Beispiele bei O e s t m a n n , Geistliche und weltliche Gerichte (wie Anm. 36), S. 138, 172, 505.
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Rechtsstreits, der sich auf das gesamte Verfahren bezog, kannte das kanonische Recht einen speziellen Eid für einzelne Prozesshandlungen. Dieser Malitieneid konnte im Laufe des Verfahrens also mehrfach geleistet werden. Im Laufe der frühen Neuzeit verengte sich sein Anwendungsbereich. Der Eid sollte nur noch beim „Verdacht der Chicane“ erfolgen123. Durch genauen Blick auf die Eidesformel des Jüngsten Reichsabschieds gelangt Hugo zu dem Schluss, selbst eigenes Verschulden der Partei sei noch lange keine Kalumnie im Sinne des Kalumnieneides. Weder Nachlässigkeiten der Advokaten und Prokuratoren noch Fahrlässigkeiten der Parteien in welcher Instanz auch immer seien verboten. Insoweit verpuffte die Eidesleistung bzw. hielt sie niemanden zu besonnener Prozessführung an. Auch der vierte Punkt hatte es in sich: Oftmals sei der neue Sachvortrag in der Appellationsinstanz nämlich belanglos oder bestehe im Wesentlichen aus Wiederholungen. Die Prüfung freilich, ob die Nova zuzulassen seien, nehme fast genauso viel Zeit in Anspruch wie die Vorbereitung eines Endurteils. Hugo mustert einige Reformbemühungen des Reichskammergerichts seit dem späten 16. Jahrhundert. Aber selbst die Verpflichtung, durch Randglossen in den Schriftsätzen auf die Nova besonders hinzuweisen, habe das Verfahren nicht ernsthaft vereinfacht. Im Verlaufe der weiteren Überlegungen zeigt sich Hugo immer deutlicher als Verfechter der Eventualmaxime. Wenn jede Partei alle erheblichen Tatsachen und Beweismittel sofort vortragen müsste, wäre das für den Ablauf des Verfahrens am besten. Dafür hält Hugo allerdings eine Gesetzesänderung für erforderlich, denn der Wortlaut des Jüngsten Reichsabschieds ist ihm zu unklar. Das Novenrecht lässt sich für Hugo de lege lata kaum leugnen, stand es doch festgemeißelt im Codex Iustinianus. Der Zweck der Appellation spricht für ihn eindeutig gegen weiteren Sachvortrag, denn die Rechtsaufsicht über die Vorinstanz setze geradezu voraus, dass ausschließlich die Acta priora die Grundlage für das Appellationsurteil bilden. Einige Argumente wiederholen sich nach und nach, doch wird die Abhandlung nicht langweilig. In immer anderen Formulierungen bekämpft Hugo die Nachlässigkeit der Parteien, die durch ungeschickte Gesetze geradezu herbeigeredet werde. Im siebenten Kapitel breitet Hugo dann seinen Gegenvorschlag gegen das ausfransende Appellationsverfahren aus. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die gemeinrechtliche restitutio in integrum, erlaube es den Parteien, schuldlose Verspätungen in der Ausgangsinstanz zu heilen und auf diese 123
W e t z e l l , System (wie Anm. 45), S. 315.
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Weise auch neue Tatsachen vorzutragen. Nach gemeinrechtlicher Lehre war hierfür der Judex a quo zuständig, und Hugo sieht gerade hierin Vorteile. Das Ausgangsgericht kenne nämlich den Sachverhalt bereits, brauche sich nicht neu einzuarbeiten und könne auch sofort beurteilen, ob das angebliche Novum wirklich neu sei oder nicht. Im Rahmen seiner Abgrenzungen wirft Hugo einen kurzen Blick auf andere Rechtsmittel. Er verweist auf die Syndikatsklage bei schwerwiegenden Rechtsverletzungen durch den Richter124, außerdem auf die Revision sowie Leuteration. Die Leuteration bzw. Läuterung entstammte dem sächsischen Recht und war ein Rechtsmittel ohne Devolutiveffekt, das teilweise einer Appellation noch vorgeschaltet war125. Im weiteren Verlauf des Buches zeigt Hugo hier eine gewisse Gelassenheit. Wo die Läuterung gebräuchlich sei, müsse man sie nicht abschaffen. Das wesentliche Ziel Hugos ist es nämlich, das Reichskammergericht zu entlasten, und genau hierfür waren die territorialen Rechtsmittel bedeutungslos. Deswegen passt es ins Bild, wenn das achte Kapitel des Buches sich dann speziell dem Speyerer Reichsgericht zuwendet. Hugo richtet seine Angriffe auf das Novenrecht vor allem gegen die vielfältigen Mängel des Kameralprozesses. Von zwei Seiten nähert er sich dem Problem an. Zum einen sieht er durch zweitinstanzliche Sachverhandlungen das Ansehen der partikularen Gerichte geschwächt. Das hält er für eine verfassungsrechtliche Schieflage, weil das Reich stärker in die Gerichtsgewalt der Territorien hineinregiere, als es notwendig und sinnvoll sei. Zum anderen belaste das Novenrecht auch das Kammergericht selbst, da es mit Arbeit geradezu überschwemmt werde. Hier bringt Hugo einen Gedanken, der ansonsten in der Literatur nicht auftaucht. Er spannt nämlich die Brücke vom Novenrecht zu den privilegia de non appellando. Die umfangreichen Appellationsprivilegien sieht er als Gegenreaktion der Landesherren gegen das unbegrenzte Novenrecht an. Im Ergebnis schadeten diese Privilegien dem Reich, da ist er sich sicher. Hugo unterstellt den territorialen Gerichtsherren, sie seien zwar bereit, die Rechtmäßigkeit ihrer Gerichtsurteile über124
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Dazu W o l d e m a r E n g e l m an n , Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien durch die wissenschaftliche Lehre, Leipzig 1938, S. 467-585; S u s an n e L e p s i u s , Kontrolle von Amtsträgern durch Schrift. Luccheser Notare und Richter im Syndikatsprozeß, in: dies./Thomas Wetzstein (Hrsg.), Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter (Rechtsprechung. Materialien und Studien 27). Frankfurt am Main 2008, S. 389-475; die neuzeitlichen Zusammenhänge sind weitgehend unbekannt, wenige Hinweise bei W e t z e l l , System (wie Anm. 45), S. 421 Anm. 14. G e r h a r d B u c h d a , Art. Läuterung, in: HRG (wie Anm. 7) II (1978), Sp. 1648-1652.
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prüfen zu lassen. Doch würde sie die Zuständigkeit zur Sachverhaltsermittlung unbedingt behalten wollen. Ob diese Aufspaltung aus der Sicht der Territorien ernsthaft eine Rolle bei den Bemühungen um Appellationsprivilegien spielte, braucht hier nicht zu interessieren. Für Hugo schließt sich der Kreis, ja ein wahrer Teufelskreis ist perfekt: Das Novenrecht schwächt die Territorien und überfordert zugleich das Speyerer Reichsgericht. Doch die privilegia de non appellando lassen schließlich die gesamte Verfassung des Reiches aus den Fugen geraten. Nur die Zerschlagung des Gordischen Knotens verheißt Besserung. Deswegen fordert Hugo, die Geltung des römischen Novenrechts in diesem Punkt aufzuheben. In Anlehnung an das bekannte Jesuswort möchte er dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, dem Reich, was des Reiches ist, und den Ständen ebenso, was ihnen gebührt. Im Aufbau konsequent folgen sodann Beispiele über bisherige Reformbemühungen und Rechtsbereiche, die ohnehin auf das Novenrecht verzichteten. Doch dann führt Hugo in einem umfangreichen zehnten Kapitel zehn mögliche Einwände gegen seine Reformvorschläge an, die er in zehn Entgegnungen allesamt abfertigt. Inwieweit er hier eine Scheindiskussion führt, bleibt unklar. Literaturbelege für die einzelnen Standpunkte bietet Hugo kaum. Freilich kämpft ja sein Buch gegen eine gefestigte herrschende Praxis an. Die zehn Einwände sind im Ergebnis daher die Argumente, warum sich trotz der erkennbaren praktischen Schwierigkeiten am Prozessrecht nichts ändert. Von eher unklaren Schlagwörtern wie Billigkeit und Menschenfreundlichkeit über logische Schlüsse bis hin zu praktischen Hinweisen reichen diese Gesichtspunkte. Jeweils für sich sind sie durchaus plausibel, gerade auch in der sachlichen Weise, wie Hugo sie auflistet: Wo leicht Fehler passieren, benötigt man auch leicht Abhilfe, heißt es etwa. Vor allem unerfahrene Parteien sähen sich bei leichter Nachlässigkeit schwer gestraft, wenn schon leicht unvollständige Sachverhaltserzählungen zum Prozessverlust führen könnten. Überdies treffe das Verschulden an solchen Fehlern häufig die Advokaten und Prokuratoren, den Schaden in Form des verlorenen Prozesses aber hätten die Parteien zu tragen. Von besonderem Gewicht erscheint der fünfte Einwand. Dort überlegt Hugo, ob nicht die Eventualmaxime bzw. die Obliegenheit, den gesamten Streitstoff in der ersten Instanz vorzutragen, scheitern muss. Zwar weiß sich Hugo sogar mit Andreas Gail einig, doch meint er, Gesetze und Reformvorschläge könnten die Menschen nun einmal nicht bessern. Unüberlegtheiten und nachlässige
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Prozessführung gehörten vielmehr zu den Sitten und Gebräuchen der Menschen. Der naheliegenden Forderung, das Recht müsse den Gewohnheiten der Leute folgen, erteilt Hugo aber doch eine Absage. Recht sei für die Wachsamen gemacht, heißt es scharf und kompromisslos. Mehrfach kommt er auf diesen Punkt zurück und unterscheidet sich damit erheblich von der zeittypischen wohlfahrtsstaatlichen Bevormundung. Nein, Hugo geht von der wachsamen, eigenverantwortlichen Prozesspartei aus, mündig genug, ihre Rechte selbst wahrzunehmen. Die Strafe für Leichtfertigkeit ist für Hugo deshalb nicht unbillig, sondern zwingend und gerecht. Für Härtefälle verweist er auf die Anwaltshaftung. Notfalls könne man eben seinen Anwalt verklagen, wenn durch dessen Verschulden der erstinstanzliche Rechtsstreit unrettbar verloren sei. Doch könnten einige Parteien gar nicht beurteilen, ob sie ihren Prozess aus eigenem Verschulden verloren haben oder wegen ihres Advokaten. Das gesteht Hugo durchaus zu. An solchen Stellen ist immer zu bedenken, dass die Parteien die Entscheidungsgründe der Gerichte ja nicht erfuhren. Sie konnten damit tatsächlich unsicher sein, warum das Gericht ein bestimmtes Urteil gefällt hatte. Dennoch bleibt Hugo unnachgiebig. Alle Unklarheiten der Verliererseite führt er immer wieder auf Leichtfertigkeit und Nachlässigkeit zurück und ist nicht bereit, das Novenrecht aus diesen Gründen auszudehnen. Im folgenden Kapitel vergleicht Hugo das antike römische Novenrecht mit der Gerichtsverfassung seiner Zeit. Modern gesprochen besitzt er ein waches Gespür dafür, dass man Ungleiches nicht gleich behandeln darf. Genau darauf läuft nämlich seine Überlegung hinaus. Sowohl die römische Kaiserzeit als auch seine eigene Gegenwart sieht er durch dasselbe Novenrecht gekennzeichnet, sogar jeweils gegründet auf dieselbe Vorschrift des Codex Iustinianus. Aber gerade der meilenweite Unterschied zwischen der Macht der römischen Kaiser und der Verfassung des Alten Reiches spricht für ihn zwingend gegen die Gleichmacherei. Danach geht es, wie oben kurz erwähnt, um Leuterationen und Supplikationen. Hier hat Hugo ersichtlich nicht das Bedürfnis nach großen Auseinandersetzungen. Wo es hergebracht sei, sollten diese Rechtsbehelfe weiterhin in Kraft bleiben, solange sie das Reichskammergericht nicht zusätzlich belasteten. Damit gelangt Ludolf Hugo zum Schlusskapitel des ersten Hauptteils. Darin stellt er gerafft das Appellationsverfahren vor, wie er es sich für die Zukunft überlegt hat. Das gesamte Appellationsverfahren besteht für ihn nur noch in einer genauen Durchsicht der vorinstanzlichen Akten. Die Par-
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teien könnten zwar Schriftsätze verfassen, ohne darin aber neuen Sachvortrag zu bringen. Und auch für diese zurückgenommene Appellation soll die Eventualmaxime gelten. Der Appellat müsse nämlich sofort seine Einwendungen und Erwiderungen vorlegen, sobald die Förmlichkeiten der Appellationseinlegung erfüllt seien. Es handelt sich also um ein stark verkürztes Verfahren der reinen Rechtskontrolle, in der neueren Terminologie eher um eine Revision als um eine Berufung. Aber gerade, wenn der Blick auf das heute geltende Recht fällt, zeigt sich die Modernität von Hugos Überlegungen. Die Zurückdrängung des Novenrechts in der Berufung ist ein Thema, das die Reform des Zivilprozesses bis in die jüngste Zeit beherrscht. Die deutliche Annäherung der Berufung an die Revision126 markiert zugleich einen späten Sieg für Hugo. Gerade am Ende seiner Überlegungen zeigt sich Hugo allerdings abgewogen und wenig radikal. Er gesteht nämlich drei Ausnahmen zu, für die er das Novenrecht weiterhin als unabdingbar ansieht. Erstens soll zusätzliches Sachvorbringen möglich bleiben, wenn der unvollständige Vortrag am vorinstanzlichen Richter lag. Das passt ins Bild, denn zur Rechtskontrolle gehört dann auch die Frage, ob der Richter den Sachverhalt ordnungsgemäß erhoben und den Parteien die Möglichkeit zu umfassendem Vortrag eingeräumt hat. Eng verwandt damit ist der zweite Punkt. Auch wenn der vorinstanzliche Richter redlich gehandelt hat, mag es offene Tatsachenfragen geben, die der Appellationsrichter für entscheidungserheblich ansieht. Dann darf der Oberrichter die Parteien zu weiterem Sachvortrag anhalten. An einem Zwischenurteil des Reichskammergerichts zeigt Hugo, wie genau dies der bisherigen Praxis ohnehin schon entspricht. Die dritte Möglichkeit, weiterhin Nova vorzutragen, möchte Hugo für Nichtigkeiten vorbehalten, also für Fehler des untergerichtlichen Richters, die über die beiden vorigen Punkte noch erheblich hinausgehen. Damit steht sein Reformvorschlag fest. Weshalb Hugo jetzt noch einen zweiten Hauptteil nachschiebt, ist unklar. Auf einigen wenigen Seiten folgen drei Kapitel, in denen Hugo noch einmal auf die Leichtfertigkeit der Appellanten zurückkommt. Zunächst verwirft er zum wiederholten Male den Kalumnieneid. Doch jetzt tritt eine originelle Variation hinzu. Gerade wegen der Stellvertretung bei der Eides126
Zur Reform des Berufungsrechts im Überblick u. a. Ku r t S c h e l l h am m e r , Zivilprozessreform und Berufung, in: Monatsschrift für Deutsches Recht (MDR) 55 (2001), S. 1141-1147; M a r k u s G e h r l e i n , Erste Erfahrungen mit der reformierten ZPO. Erstinstanzliche Verfahren und Berufung, in: MDR 57 (2003), S. 421-430.
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leistung, befürchtet Hugo, könnten sich redliche Anwälte vor dem Kalumnieneid hüten. Draufgänger dagegen, denen alles egal sei, scheuten sich davor nicht, und beeideten bedenkenlos alles Mögliche. An dieser Stelle taucht in den Belegen abermals sehr häufig Aristoteles auf. Jedenfalls meint Hugo, das geltende Recht rund um den Kalumnieneid begünstige in der Praxis ganz erheblich den Qualitätsverfall bei der anwaltlichen Beratung und Prozessführung. Zum Ausgleich schlägt er vor, einen Amtseid einzuführen, den jeder Advokat nur einmal und allgemein für die Zukunft leisten solle, losgelöst vom einzelnen Mandat. Hier bleibt unklar, was Hugo sich genau vorstellt. Einen Amtseid der Prokuratoren und Advokaten, unabhängig vom Kalumnieneid, gab es nämlich bereits in der Reichskammergerichtsordnung von 1555127. Diese Vorschriften blieben auch nach dem Jüngsten Reichsabschied 1654 in Kraft. Warum der überkommene Amtseid nicht ausreiche, sagt Hugo nicht. Aber vielleicht hatte er solche allgemeinen Amtseide bei seinem Aufenthalt in Speyer einfach nicht erlebt, weil zu dieser Zeit gerade kein neuer Prokurator seine Tätigkeit aufnahm128. Das lässt sich aber nicht klären. In einem zweiten Kapitel betont Ludolf Hugo, auch die angedrohten Geldstrafen für frevelmütige Appellationen verpufften weithin wirkungslos. In der Praxis jedenfalls brauche kaum jemand diese Strafen zu fürchten, so selten würden sie verhängt. Des Rätsels Lösung sieht Hugo in einer doppelten finanziellen Sanktion. Zum einen befürwortet er deutlich die Akzessorietät von Prozesserfolg und Kostentragung129. Die unbegründete Appellation sollte also nicht mit einer Kostenteilung enden130, sondern dem Verlierer alles aufbürden. Zusätzlich fordert Hugo eine Missbrauchsgebühr. Der unterlegene Appellant sollte also nicht nur die Verfahrenskosten zahlen, sondern darüber hinaus eine offenbar pauschalierte Geldstrafe. Angelehnt 127 128
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RKGO 1555 1, 53-54, bei L a u f s , Reichskammergerichtsordnung (wie Anm. 3), S. 154156. Die Amtszeiten der kammergerichtlichen Prokuratoren und Advokaten der Speyerer Zeit sind schwer zu ermitteln. Annäherungen bei G ü n t h e r G r o h , Das Personal des Reichskammergerichts in Speyer, I. Teil: Familienverhältnisse, in: Pfälzische Familienund Wappenkunde II (1955/57), S. 101-111, 129-141, 150-194. Zu diesem Problem W o l f g a n g S e l l e r t , Zur Akzessorietät von Kostentragung und Prozeßerfolg. Ein historisches Problem von aktueller Bedeutung, in: Hans-Jürgen Bekker/Gerhard Dilcher/Gunter Gudian/Ekkehard Kaufmann/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, S. 509-537. Zeittypisches Beispiel bei O e s t m an n , Zivilprozeß (wie Anm. 11), S. 577.
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an Beispiele aus dem alten Rom und Athen sieht Hugo hier die einzige Möglichkeit, die Parteien wirklich abzuschrecken. Die Strafe selbst ist für ihn nichts weniger als ein Ersatz für die Verfahrensverzögerungen durch unbegründete Rechtsmittel. Nur bei sehr gewichtigen Gründen ist Hugo bereit, von der harten und einschneidenden Geldstrafe Abstriche zu machen. Damit endet sein Buch. Die barocke Demutsformel am Ende, mit der Hugo auf einen gnädigen Leser hofft, sollte sich nur teilweise erfüllen. Auf fruchtbaren Boden fiel sein Werk immerhin bei Johannes Gröning. Dieser heute unbekannte Hamburger Rechtsgelehrte legte 1701 eine vierzigseitige „Epistolica Dissertatio“ vor, die sich in ihrem Titel als Fortspinnung des Hugo’sches Buches versteht131. „De Naevis Corporis Juris Romani“ handelt das Büchlein in seinem Haupttitel, also von den Mängeln des römischen Rechts. Die Schrift ist Ludolf Hugo gewidmet, in den Belegen tauchen auch mehrfach Kameralautoren auf. Eine zweite Auflage veranstaltete freilich erst 1706 der bereits erwähnte Johann Nikolaus Hert. Da war Hugo bereits seit zwei Jahren verstorben. Eine weitere Ausgabe datiert von 1708. Friedrich August Hackemann132 gab in einem Sammelwerk sowohl Hugos Buch zur Reichsverfassung als auch über die Appellationen gemeinsam heraus. Spätere Nachdrucke sind nicht bekannt. Zumindest für das Kurfürstentum Hannover braucht das auch nicht zu verwundern. Mit dem illimitierten Appellationsprivileg von 1716133 fanden die Appellationen an das Reichskammergericht ihr Ende. Zumindest in Hannover hatte sich Hugos Anliegen damit erledigt. Am Oberappellationsgericht Celle war das Novenrecht zwar ebenfalls gebräuchlich134. Doch war gerade dieses Gericht gut organisiert und nach seiner Gründung kaum reformbedürftig. Sieht man nur auf die Zahl der Nachdrucke, entfaltete Hugos Buch zum Bundesstaat mit sie-
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J o h a n n e s G r ö n i n g , De Naevis Corporis Juris Romani. Epistolica Dissertatio Ad Virum Illustrem & Excellentissimum Ludolffum Hugonem Vice-Cancellarium Hannoveranum. Qua Inter alia de abusu Fori seu Causidicina, & de remediis abbreviandarum litium disseritur, Hamburg 1701. Zu dem weithin unbekannten Herausgeber: J . F r a n c k , Art. Hackmann, in: Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879), S. 297-298. Nachweis bei E i s e n h a r d t , privilegia (wie Anm. 49), S. 78; zu den Verhandlungen J e s s e n , Einfluß (wie Anm. 59), S. 33-123. Zum Beweisrecht S t o d o l k o w i t z , Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 55), S. 176-177.
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ben Ausgaben135 also deutlich größere Wirkung als seine Abhandlung über die Appellation.
IV. Zur Übersetzung Vorlage der Übersetzung ist die erste Ausgabe von Hugos Buch von 1662. Diese Erstausgabe ist inzwischen im Volltext digitalisiert. Über die Internetseite der Bayerischen Staatsbibliothek München ist sie leicht zugänglich (http://gateway-bayern.de/BV001495841). Die deutsche Fassung stammt von Bernd-Lothar von Hugo. Sie ist von Peter Oestmann und Astrid Thomsch, vor allem, was die gemeinrechtliche Terminologie angeht, überarbeitet worden. Die hier vorgelegte Fassung lehnt sich so eng wie möglich an die lateinische Vorlage an. Die Schwerfälligkeit des frühneuzeitlichen Barockstils bleibt damit teilweise erhalten136. Das hat einen einfachen Grund: Sprache und Argumentationsstil der Juristen des 17. Jahrhunderts sind heutigen Lesern fremd, und daran ändert auch eine deutsche Übersetzung nichts. Yvonne Pfannenschmid hat sich bei ihrer Übersetzung von Hugos Schrift über die deutschen Gebietsherrschaften vom entgegengesetzten Gesichtspunkt leiten lassen137. Ihre freiere und stärker auf den heutigen Leser ausgerichtete Fassung bietet damit einen guten Gegenpol zur hier vorgelegten Eindeutschung. Gelegentlich zitiert Hugo Stellen aus dem gelehrten Recht und sogar aus der klassischen Literatur, die bereits in deutschen Übersetzungen vorliegen. Hier bot es sich an, auf diese Vorschläge zurückzugreifen. Gemeinrechtliche Termini rund um das Appellationsrecht sind dann nicht übersetzt, wenn sie in der rechtshistorischen Literatur noch gebräuchlich sind. Insbesondere ist die appellatio nie als Berufung wiedergegeben, um nicht Modernität vorzuspiegeln, wo Abstand zur Quelle geboten ist. Inwieweit sich die späteren Auflagen des Werkes vom Wolfenbütteler Erstdruck unterscheiden, ist un135 136
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Nachweise bei Y v o n n e P f a n n e n s c h m i d , Nachwort, in: Hugo, Rechtsstellung (wie Anm. 1), S. 179-182 (179). Ganz ähnliche Überlegungen von M i c h a e l S t o l l e i s , Zur Übersetzung, in: Hermann Conring, Der Ursprung des deutschen Rechts (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 3), Frankfurt am Main, Leipzig 1994, S. 250. P f a n n e n s c h m i d , Nachwort (wie Anm. 135), S. 179-182 (180).
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klar und nicht Gegenstand der Übersetzung. Wer sich derart in die Feinheiten des Buches vertiefen möchte, wird ohnehin die lateinischen Fassungen verwenden. Einige lateinische Umschreibungen zeitgenössischer deutscher Begriffe lassen sich nicht mit völliger Sicherheit rückübersetzen. Das betrifft gelegentlich verschiedene Gremien im Geflecht von Reichsebene, Reichskreisen und Territorien. Die jeweiligen Deputationen, Kommissionen und Versammlungen kann man nicht ohne größeren Aufwand immer genau zuweisen. Teilweise bleibt nichts anderes üblich, als mit Hugos pauschalem Hinweis auf „Magistrate“ Vorlieb zu nehmen. Die von Ludolf Hugo allegierten Rechtsquellen sind, soweit möglich, in der heute üblichen numerischen Zitierweise wiedergegeben. Auch hier hat sich Pfannenschmid bei ihrer Übersetzung anders entschieden. Aber gerade der Zugang zu den Quellen ist schwierig und für die Einordnung von Hugos Werk und Gedanken wichtig. An einigen Stellen ließen sich die Belegstellen allerdings nicht genau festmachen. In diesem Fall verbleibt es bei den nicht aufgelösten Abkürzungen von Hugo. Gelehrte Literatur hat Hugo, auch hierin zeittypisch, teilweise recht ungenau zitiert. Soweit zweifelsfrei feststeht, worauf er sich bezieht, sind die Fundorte in der Übersetzung so genau wie möglich angegeben. Oftmals weist das Literaturverzeichnis deshalb zwei verschiedene Ausgaben der zitierten Werke nach. Es beginnt mit einem Hinweis auf die erste Auflage des entsprechenden Werkes. Danach folgt diejenige Ausgabe, die so dicht wie möglich am Entstehungszeitpunkt von Hugos Buch liegt. Ob Hugo nach modernem Verständnis richtig zitiert, ist üblicherweise nicht nachgewiesen. An einigen Stellen freilich unterlaufen Hugo ersichtlich Ungenauigkeiten. Einmal vertauscht er zwei Belegstellen und ordnet sie kreuzweise falschen Fußnoten zu. An einer anderen Stelle verwechselt er den römischen Juristen Ulpian mit dem eher unbekannten Claudius Saturninus138. Zur Klarstellung finden sich bei derartigen Ausführungen kleine erläuternde Anmerkungen in den Fußnoten. Doch sind sie auf das unbedingt nötige Maß beschränkt. Auf umfassende Sacherläuterungen über die in der Einleitung gegebene Zusammenfassung haben wir ebenso verzichtet wie auf den Nachweis der überreichen neueren Forschungsliteratur. Die deutsche Ausgabe von Ludolf Hugos Werk kann und soll eine umfassende Untersuchung über den kammergerichtlichen Appellationsprozess nicht ersetzen. Wie dringend das De138
Zu ihm W o l f g a n g Ku n k e l , Die Römischen Juristen. Herkunft und soziale Stellung, Nachdruck Köln, Weimar, Wien 2001 der 2. Aufl. Graz u. a. 1967, Nr. 46 S. 184-185.
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siderat ist, führt gerade Hugos Buch besonders lebhaft vor Augen. Wenn partikulare Juristen nur kurz nach dem Jüngsten Reichsabschied grundlegende Reformen des Kameralverfahrens forderten, zeigt das schlaglichtartig, wie lebhaft die Zeitgenossen über das Appellationsrecht diskutierten. Und falls Ludolf Hugos Werk nach 350 Jahren noch die Kraft entfaltet, die Forschung zu weiterführenden Fragen anzuregen, hätten die Übersetzung und die Edition ihre bescheidenen Ziele erreicht.
Wie dem Missbrauch der Appellation abgeholfen und die Entlastung des Reichskammergerichts vom Übermaß an Appellationen erreicht werden kann von Ludolf Hugo
Wolfenbüttel 1662
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Vorwort und Erläuterung des Vorhabens
Weil unser Staat bis zum heutigen Tage unter keinem Problem mehr gelitten hat als unter den Mängeln des gerichtlichen Verfahrens, ist schon seit der Zeit, zu der das Reichskammergericht eingerichtet wurde, im Reichstag keine Überlegung häufiger angestellt worden als die zur Behebung dieser Missstände. Denn einige Male ist die Gerichtsordnung ebendieses höchsten Gerichts abgeändert worden, um anderen den Weg zu weisen und ein Beispiel zu geben. Die Angelegenheit veranlasste auch manchen Rechtsgelehrten, darüber aus eigenem Antrieb Abhandlungen zu verfassen; und einzelne erwarben sich auf die eine oder andere Weise nicht unbeträchtlichen Verdienst1. Im Reichstag ist so auch eine Verbesserung der gerichtlichen Verfahren erreicht worden, wenn gleichwohl für die Zukunft noch immer etwas zu tun bleibt. Letzte Hand wurde in der Tat beim Reichstag in Regensburg angelegt, der im Jahre 54 dieses Jahrhunderts stattfand. Das wird aus dem außerordentlich bemerkenswerten Gemeinen Bescheid ersichtlich, den das Reichskammergericht am 13. Dezember 1659 verkündet hat. Doch wenn wir bedenken, dass Parteien wie Richter immer noch mit den unterschiedlichen Erschwernissen zu kämpfen haben, die Prozesse immer noch in die Länge gezogen, aber nicht in der gewünschten Kürze abgeschlossen werden, müssen wir befürchten, dass sich doch in einigen Teilen des Verfahrens bis heute manche Geschwüre befinden, die nach der Hand des Mediziners verlangen. Noch nicht darf man also von den Bemühungen ablassen, die bisher für die Verbesserung der gerichtlichen Verfahren unternommen wurden; sondern es ist mit allem Eifer auf ihre Fortführung hinzuwirken, solange wir bemerken, dass etwas an dem so nützlichen und notwendigen Werk fehlt. Wenn nun jemand die Gründe für die Vielzahl und die Dauer der Rechtsstreitigkeiten untersucht, findet er sofort, dass nichts mehr Schwierigkeiten bereitet als die Appellationen. Nachdem nämlich mit viel Mühe und hohen Kosten das Verfahren soweit gebracht ist, dass der Richter ein Urteil fällt, scheint der Sieger schon im sicheren Hafen und aller Schwierigkeiten ledig; sogleich aber sagt der Gegner „appello (ich gehe in die Appellation)“. Mit diesem einzigen Wort entreißt er ihm fast den ganzen Erfolg des voran1
Vgl. bei We h ne r , Observationes, Stichwort: Justiciwesen.
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gegangenen Verfahrens. In der Tat werden die Streitenden, die schon am Ende angekommen schienen, dann an den Anfang des Streits zurückgeworfen. Denn der Anfang des Prozesses ist die Litiskontestation2. Die Appellation wird aber so verstanden, dass sie den Stand des Verfahrens auf die Zeit der Litiskontestation zurückführt3. Wieder wird also die Klageschrift vorgelegt, erfolgt die Litiskontestation, wird die Klageerwiderung eingereicht, repliziert, dupliziert und die Beweisartikel vorgelegt, Kommissare eingesetzt, Zeugen benannt und andere Arten von Beweismitteln vorgebracht: Kurz, es findet in der Appellation das gleiche Verfahren statt, das wir in der ersten Instanz benutzen4. Was ist also in dem vorangegangenen Verfahren geschehen, wenn ganz vom ursprünglichen Rechtszustand ausgegangen wird? Nicht viel; da man den Gerichtsprozess mit dem Krieg zu vergleichen pflegt, wird gesagt, dass die erste Instanz die Gestalt eines Geplänkels hat, die zweite aber schließlich die der Entscheidungsschlacht. So verhält sich die Sache ohne Zweifel oft. Das Appellationsverfahren ist nämlich weit streitträchtiger als die erste Instanz. Denn nicht nur das, was im vorigen Rechtsstreit oft und bis zum Überdruss in einem fort gesagt worden ist, wird von neuem vorgetragen (wenn das auch eigentlich untersagt ist, kann das Verbot dennoch bis heute nicht durchgesetzt werden, wie wir unten zeigen werden), sondern auch neuer, vorher vernachlässigter Vortrag oder Vortrag, von dem der gleiche Streitbeteiligte selbst nach Abwägung glaubte, dass er sich zu wenig auf den gegenwärtigen Streit beziehe5, wird nun hinzugefügt. Darum beginnen die Appellationsgravamina bei den Formalien (solennia) mit der Einleitung, dass der Appellant den Prozess beginne, weil er von der Rechtswohltat der l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) Gebrauch mache: Ich werde das nicht Dargelegte darlegen. Ich werde das nicht Bewiesene beweisen. Er spricht gleichsam: Auf diese Weise hatte es keinen Erfolg; wir werden es auf einem anderen Weg versuchen. Jedermann sieht, wie viel Zeit durch das auf diese Weise zwei-, drei- oder mehrfach wiederholte Verfahren vergeudet wird, welche Menge Schriftstükke aufgehäuft und auf welche Weise der Gegner und der Richter ermüdet werden. 2 3 4 5
Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 79. Cod. 2, 12, 13; und dazu auch die Gelehrten; G ail , Observationes, lib. 1, obs. 144, n. 1; K le sl , Tractatus, c. 6, n. 19. RKGO 1555, 3, 31-33. JRA 1654, § 118.
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Wenn also jemand Böses (Kalumnien) im Schilde führt, den Gegner quälen und den Prozess in die Länge ziehen will, welche Gelegenheit zur Durchführung seines Beschlusses hat er nicht unter dem Vorwand der Appellation! Ganz sicher gibt es nichts, was häufiger geschieht. Schwer klagen darüber die Kammergerichtsordnung und andere Reichsgesetze. Es klagen darüber auch Rechtsgelehrte6. Nicht unverständig ist, was Cletzelius schreibt: „Unglaublich zu sagen, welches Gewebe von Missbrauch aus dieser Menge von Prozessen entsteht.“ 7 Zeuge ist die Erfahrung des Reichskammergerichts. In Appellationsprozessen nämlich werden bei weitem mehr Urteile bestätigt als abgeändert; wobei ich nicht über die Verfahren spreche, die nicht entschieden werden, da sie nicht fortgeführt oder aufgegeben werden. Wenn also mehr Appellationen als nicht begründet denn als begründet beurteilt werden, ist der Missbrauch größer als der Nutzen. Daher ist es wirklich notwendig, sowohl in öffentlichen wie auch in privaten Verfahren so viel Schaden wie möglich zu vermeiden, insbesondere, weil das Reichskammergericht von der Masse der Appellationen so überschüttet wird, dass es nicht alle ihm übertragenen Fälle erledigen kann. Wie sehr doch hört man überall klagende Stimmen derer, die sich beschweren, dass ihnen kein Recht geschieht. Was aber ist der Grund? Im Falle des Reichskammergerichts gibt es sicher keinen anderen, als dass es durch die Last der Geschäftsvorfälle so erdrückt wird, dass es nicht alle in angemessener Zeit erledigen kann. Die Hauptmasse der Vorgänge aber besteht aus Appellationen. Wenn es denn wahr ist, was der Regensburger Reichsabschied aus dem Jahre 1654 festhält, dass fast kein Urteilsspruch in den Gerichten der Stände des Reichs gefällt wird, auf den keine Appellation eingelegt wird8, auf welche Weise kann dann das Reichskammergericht all diese Fälle, die bei ihm zusammenkommen, erledigen? Wenn aber das Gerichtswesen in diesem Maße leidet, in welchem Maße leidet dann unser Staat! Wenn wirklich das höchste Gericht des Reiches für den Staat ein Schutz ist, ein Zufluchtsort für die Unterdrückten, ein Zaum für Ungerechtigkeiten – welches Loblied zu Recht dem Kammergericht gesungen wird; was hält einen jeden nach Gebühr in Schranken, leistet den Bedrängten Hilfe, bezwingt die Ungerechtigkeit, wenn dieses Gericht seine Aufgabe nicht erfüllen kann? Deswegen muss ein irgendwie gearteter Weg ersonnen und ge6 7 8
Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 128, n. 2. Kle s l , Tractatus, cap. 1, n. 23. JRA 1654, § 120.
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funden werden, der zu beschreiten ist, damit das Gericht von dieser zu großen Menge von Prozessen entlastet und ihm so ermöglicht wird, den Rechtsuchenden in angemessener Zeit Hilfe zu gewähren. Dem steht aber vor allem das entgegen, was die meiste Arbeit macht. Da nun die Appellationen insbesondere das Reichskammergericht überfluten, ist zu überlegen, ob nicht irgendein Weg gefunden werden kann, wie diese Masse zu verringern ist, wie diesem Irrweg des Verfahrens abgeholfen und wie das Reichskammergericht von jener immensen Arbeitsbelastung befreit werden kann, sodass seine heilsame Justiz Platz greifen kann. Aber das wird keinesfalls leicht sein. Denn was ist nicht bis heute versucht worden? Welches Hilfsmittel ist nicht angewendet worden? Kein Teil des Rechtswesens wurde nämlich mehr von Mauern umgeben als die Appellation. Nachdem der Gesetzgeber begann, den ungeheuren Missbrauch mit der Rechtswohltat der Appellation zu erkennen, glaubte er die Nachsicht, die er gegen die Streitenden geübt hatte, etwas verringern und die Möglichkeit zu appellieren, wie auch immer geartet, beschränken zu sollen. Was er auch versuchte, was auch immer er festlegte, er konnte die Appellanten nicht zügeln. Ich rede nicht von jenen verschiedenartigen wirklich kleinlichen Formalien, welche die Appellation erfolglos werden lassen, wenn man im Geringsten gegen sie verstößt (wie leicht aber und wie oft das geschieht, zeigt die Erfahrung). Ich rede nicht über die Hindernisse, die das römische Recht der Leichtfertigkeit der Appellierenden entgegenstellt. Die Reichstage haben sich nicht weniger des Problems angenommen und billigten die Rechtsmittel des römischen Rechts teilweise (obwohl sie nicht alle bei uns einführen konnten), teilweise fügten sie das eine oder andere hinzu9. Wie oft ist nicht die Höhe der Appellationssummen angehoben worden! Aber was soll man zu der vom Gesetz festgesetzten Summe sagen? Wie unterschiedliche und wie weite Privilegierungen sind nicht in den Reichsordnungen gewährt, mit denen entweder die Appellation ganz ausgeschlossen oder auf eine gewisse, ausreichend hohe Geldsumme beschränkt wird, unterhalb derer die Appellation nicht erlaubt ist! Um die Wahrheit zu gestehen, ist zuzugeben, dass manches von dem zu einer erheblichen Verschlechterung der Gerichtsgewalt des Reiches führt. Aber welche anderen Hilfsmittel sind vorhanden, um die Gerichte des Reichs zu entlasten? Nach so vielen nachsichtigen Ausnahmen von den Bestimmungen ist die große Menge der Ap9
JRA 1654, § 108.
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pellationen für die Gerichte des Reiches bis heute eine Last. Außerdem ist die Strafe für leichtfertige Appellationen, die nach der Reichskammergerichtsordnung ins Ermessen des Gerichts gestellt war, nach dem Visitationsmemorial aus dem Jahre 1574 in Silbermark festgesetzt worden, bald darauf aber dem Visitationsabschied zu Speyer aus dem Jahre 1600 zufolge in Goldmark10, sodass die Strafe mindestens eine, höchstens zehn Mark in Gold betrug. Sie ist heute auf das Doppelte erhöht worden. Denn die geringste Strafe einer leichtfertigen Appellation wurde auf eine, die höchste auf 20 Goldmark festgesetzt. Darüber hinaus ist dem Reichskammergericht für den Fall, dass einmal eine höhere Bestrafung nötig sein sollte, die Macht eingeräumt, denjenigen körperlich zu strafen11, der die Appellation besonders dreist eingelegt hat. Aber es ist die Ansicht vertreten worden, dass selbst diese Bestrafung nicht ausreichend sei. Und deshalb wurde es als notwendig angesehen, schwerwiegendere Strafen zur Anwendung gelangen zu lassen und die Mitwisserschaft der streitenden Partei wie auch der Advokaten zu untersuchen. Aus diesem Grunde wurde durch den Reichsabschied des Regensburger Reichstags im Jahre 1654 jener feierliche Kalumnieneid eingeführt, den der Appellant wie auch sein Advokat sofort bei Beginn des Prozesses leisten muss. Weil das alte römische Recht schon damals den Kalumnieneid kannte12, meinte man, er solle auch in der Appellationsinstanz13 Anwendung finden14, wenn das auch aus manchen wenig geeigneten Gründen in Zweifel gezogen wurde15: Als Gerichtsgewohnheit galt daher, dass der Eid dann zu leisten sei, wenn einer der Prozessbeteiligten oder auch der Richter es verlangte. Sonst wurde er als stillschweigend erlassen angesehen.16 Der Eid ist aber eher selten beantragt worden. Doch der Regensburger Reichsabschied glaubte, dass das, was vorher im Ermessen des Richters bzw. der Streitenden lag, für Appellationen durch ein beständiges Gesetz festzuschreiben sei.17 Indessen ist schon vorher in Statuten oder Privilegien nicht weniger 10 11 12 13 14 15 16 17
Deputationsabschied von Speyer 1600, § 17. JRA 1654, § 120. Cod. 2, 58, 2. RKGO 1555, 3, 32, 6. VI. 2, 4, 2; Se t ze r , Tractatus, lib. 3, cap. 4, n. 27. Vgl. Vul te ju s , Tractatus, lib. 3, cap. 2. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 85. JRA 1654, § 118; Gemeiner Bescheid des Reichskammergerichts vom 13. Dezember 1659, § 3.
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Reichsstände geregelt worden, dass niemandem, der nicht zuvor den Kalumnieneid geschworen hatte, erlaubt sein solle, eine Appellation zu verfolgen. Völlig in Vergessenheit (desuetudo) geraten ist indes jenes Gesetz Justinians, welches vorschrieb, dass die Sachwalter in einzelnen Fällen, deren Prozessführung sie übernommen hatten, durch den Eid gebunden werden sollten.18 Nun aber ist das durch den Regensburger Reichsabschied in der Appellationsinstanz wieder als Gebrauch eingeführt worden. Aus diesem Grunde wurde eine besondere Formel einer Spezialvollmacht geschaffen für den Eid, den der Prokurator oder Advokat in die Seele der Streitpartei schwört, eingekleidet mit unheilvollen Verwünschungen, damit sie wenigstens durch die Furcht vor dem göttlichen Willen und durch die Angst vor der ewigen Verdammnis abgeschreckt würden, von der Rechtswohltat der Appellation leichtfertigen (frivolen) Gebrauch zu machen, was man aus keinem anderen Grunde sonst erreichen kann. Wenn in der Tat auch eine ungeheuer große Hoffnung auf den Eid gesetzt wurde (wer fürchtet denn auch etwas Böses von dem, dessen Gewissen von einem solch starken Band gefesselt wird?), ist die Wirkung doch weit unterhalb der Erwartung geblieben. Die Erfahrung lehrte nämlich, dass die Appellationen in gleicher Weise wie vorher in großer Menge und aus leichtfertigen Gründen das Reichskammergericht überfluteten. Es ist wirklich erstaunlich, dass die Appellanten weder durch den Eid noch durch die Bedrohung mit so schweren Strafen abgeschreckt werden. Was ist von anderen Mitteln zu hoffen, wenn diese so harten so wenig genutzt haben? Du wirst Dir sagen, dass die Leichtfertigkeit derjenigen hindern zu wollen, die eine Appellation einlegen, eine aussichtslose Angelegenheit ist. Es ist dennoch alles ins Werk zu setzen, damit die Appellationen so ausgestaltet sind, dass sie die Gerechtigkeit nicht mehr unterdrücken, als dass sie sie stützen. Sonst wäre es weitaus besser, sie völlig abzuschaffen. Aber da wir ja nicht auf ein so nötiges und zu begrüßendes Rechtsmittel verzichten können und Vermögen und Glück nicht der Willkür eines Richters preisgeben wollen, soll der Nutzen nicht wegen des Missbrauchs verringert werden. Vielmehr ist der Missbrauch zu verringern, damit der Nutzen bleibt. Das ist es, worüber von uns Überlegungen unternommen wurden. Wir glauben nämlich, dass im Appellationsverfahren selbst irgendein sehr großer Mangel steckt, durch den Fehler und der allergrößte Missbrauch hineingetragen 18
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werden. Das ist in der Tat so weitgehend der Fall, dass, wenn wir Ziel und Zweck der Appellationen, wie sie sein sollten, betrachten, unser Gerichtsgebrauch sich sehr weit von der ursprünglichen Appellation entfernt zu haben scheint. Das musste zu großem Schaden führen. Auch jene verschiedenen Hilfsmittel, die man der Leichtfertigkeit der Appellanten entgegenzustellen hoffte, mussten später wirkungslos werden. Denn auf die im Körper selbst steckende Krankheit werden vergeblich von außen Heilmittel angewendet. Vor allem ist also derjenige Fehler des Appellationsverfahrens abzustellen, der besonders schwerwiegend erscheint. Als Versuch, etwas mit der Kralle aus einer Wunde zu reißen, waren die schon gefundenen Mittel und Wege gegen die Leichtfertigkeit der Appellanten durchaus wirksamer. Und wenn noch weitere erforderlich sind, werden sie weitaus leichter gefunden. Wir werden also zwei Teile unserer Überlegungen haben: den ersten über die Verbesserung des Appellationsverfahrens, den zweiten über die Bekämpfung der Leichtfertigkeit derer, die verantwortungslos eine Appellation einlegen. Auch der Regensburger Reichsabschied aus dem Jahre 1654 behandelt beides in gesonderten Kapiteln.19 Vielleicht erscheint es erstaunlich, dass uns die Frage des Verfahrens bewegt. Denn das Verfahren der Appellation ist fast immer dasselbe wie in der ersten Instanz. Wenn das Verfahren der ersten Instanz ordnungsgemäß ist, muss man dann nicht sagen, dass auch das Appellationsverfahren nicht zu beanstanden ist? Oder aber, wenn irgendein Punkt noch zu verbessern bleibt, wäre dann nicht eher eine Untersuchung des Verfahrens erster Instanz zu veranstalten, als über das der Appellation? Es ist jedoch zuzugestehen, dass das Verfahren erster Instanz, welches das Reichskammergericht heute anwendet, so kurz und knapp ist, dass nicht zu erkennen ist, wie es noch mehr verkürzt werden könnte. Weil wir in den Appellationsprozessen die gleiche Methode der Entscheidungsfindung und das gleiche Verfahren anwenden, werden wir nun untersuchen, ob dies in Ordnung ist. Obwohl das, was wir sagen werden, zum großen Teil zu allen Gerichtsverfahren zu passen scheint, wollen wir uns dennoch insbesondere dem Verfahren vor dem Reichskammergericht zuwenden. Denn der Missbrauch der Appellationen plagt vor allem dieses Gericht. Es bedarf also vor anderen der Abhilfe. Das geschieht nicht ohne Überlegung. Wie nämlich Fehler und Tugenden der Menschen bei großen Herren auffälliger sind und mehr an 19
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Schaden und Nutzen verursachen als bei gewöhnlichen Personen, so ist auch das, was gut ist und das, was fehlerhaft am Prozess ist, vor hohen Gerichten sichtbarer und bewirkt mehr an Gutem und Schlechtem als in untergeordneten Instanzen. Aus diesem Grunde richten die Reichsgesetze all ihr Bemühen auf die Verbesserung der Gerichtsverfahren am Reichskammergericht. Und sie wollen, dass dieses Verfahren für die unteren Gerichte eine Richtschnur sein soll, soweit das möglich ist20. Diesem Beispiel werden wir folgen. Da ja aber, wie wir vorher gesagt haben, weder der Kalumnieneid über die nicht böswillige Einlegung der Appellation, noch die Bestrafung wegen grundloser Appellationseinlegung die Streitenden stark genug davon zurückgehalten hat, die Möglichkeit der Appellationseinlegung zu missbrauchen, scheint es berechtigt, dass wir nach dem Grund dafür suchen. Wenn wir nämlich den Grund verstanden haben, brauchen wir an der Berechtigung des Anliegens nicht weiter zu zweifeln. Dann wird deutlich sein, wie notwendig es ist, andere Wege zu suchen; zugleich wird auch der Weg gezeigt werden, sie zu finden. Es scheint nämlich, dass der Kalumnieneid und die Bestrafung der leichtfertig Appellierenden das Ziel eines möglichst hohen vermögensmäßigen Nachteils für die Streitenden nicht erreichen. Nachdem also dieser Hauptgrund der Krankheit gefunden ist, wird es nicht mehr unklar sein, welche Heilmittel zu suchen sind. Aber über eine Bestrafung der leichtfertig Appellierenden werden wir im zweiten Teil der Erörterung reden, dort wird sie nämlich abgehandelt. Das Gesetz bzgl. des Kalumnieneides über die nicht böswillige Appellationseinlegung wollte indes nicht nur der Willkür der leichtfertigen Appellanten Zügel anlegen, sondern auch der fehlerhaften Prozessführung einen Riegel vorschieben. Damit man nicht glaubt, dass nicht weiter Schlimmes zu befürchten sei, nachdem der Eid eingeführt wurde und genug Vorsorge gegen die Nachteile der Prozessführung, wenn es sie denn gibt, getroffen sei, werden wir vor allem zeigen, welch schwache Sicherheit der Kalumnieneid in den Gerichtsverfahren darstellt. Danach können wir der Reihe nach umso freier in der Darlegung unserer Argumente fortschreiten. Auf die gleiche Weise sind die Fehler der Streitenden, denen der Kalumnieneid entgegenzustehen scheint, zu erklären. Wie beschaffen sind Kalumnien, Unbesonnenheit und Starrköpfigkeit? Da sie es ja sind, über deren Einschränkung demjenigen Vorschläge zu machen 20
JRA 1654, § 137.
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sind, der über ordnungsgemäß zu gestaltende Gerichtsverfahren Überlegungen anstellt, beginnen wir mit ihrer Erläuterung.
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Erster Teil: Über die Verbesserung des Appellationsverfahrens
Kapitel I: Der Kalumnieneid ist kein ausreichendes Mittel, die Leichtfertigkeit der Streitenden zu zügeln. Zugleich werden auch die Fehler der Streitenden, Kalumnien, Unbesonnenheit und Starrköpfigkeit erklärt In der Tat erschiene es erstaunlich, dass die Streitenden durch den Kalumnieneid nicht von leichtfertigen Appellationen abgehalten werden, wenn nicht längst schon Rechtsgelehrte mit großem Namen aus langer Erfahrung über die geringe Ehrfurcht der Streitenden vor dem Eid geklagt hätten. So bezeugt Soccini, dass die Streitenden in unserer Zeit lieber den Eid leisten, um eine böswillige Klage zu erheben, als sie zu meiden21. Auch Baldus beobachtete, dass der Kalumnieneid so angesehen werde, als ob er nicht einen Obulus wert sei, weil, wie er sagte, wir zu Verächtern Gottes und der Religion geworden sind22. Ihnen tritt Gail bei, ein Sachkundiger in gerichtlichen Angelegenheiten, wenn er als weiterer Kenner der Materie bezeugt, mit welch großer Leichtigkeit und mit welchem Leichtsinn dieser Eid vor Gericht überall geleistet wird, wobei die Religion völlig missachtet werde23. Dasselbe meint Johannes Oldendorp: „Wir haben“, sagt er, „nun einen Kalumnieneid, mit dem es mehr zu Meineiden kommt, als dass Kalumnien ausgeschlossen werden.“24 Noch wesentlich weiter geht Maranta, der ebenfalls keine Zweifel hegt, dass das Justinianische Gesetz über den Kalumnieneid völlig veraltet ist25. So schreibt er: „Ich glaube, dass die vor Gericht Streitenden unserer Zeit lieber schwören, um böswillig eine Klage zu erheben, als sie zu vermeiden; und deshalb wäre es besser, dass jener Eid aus dem gesamten Verfahren herausgenommen würde, um es nicht zu so vielen Meineiden kommen zu lassen, nicht geachtet des Umstandes, dass dieser Eid zum allgemeinen Nutzen eingeführt wurde, damit die Wahrheit nicht 21 22 23 24 25
Soc c in i , Consilia, pars secunda, consilium 59. Bald u s, Kommentierung von Cod. 8, 44, 24, n. 1. Vgl. bei Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 85, n. 4. Old e nd or p , Progymnasmata, class. 1, act. 7, am Ende. Mara n ta , Speculum Aureum, p. 6, tit. de juramento, n. 11.
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verborgen bleibe. Dennoch kümmert das die Schwörenden wenig, wie der Dichter Aquinas es ausgedrückt hat : Was ist der Ruf wert, wenn es ums Geld geht.“ Und auch dieser Grund war es, der laut Glossierung zum Sächsischen Recht die Sachsen nach stillschweigender Rechtsgewohnheit (tacita consuetudine) veranlasste, den allgemeinen Kalumnieneid nicht mehr anzuwenden26, ausgenommen freilich den speziellen Kalumnieneid. Dennoch sind die meisten anderen Rechtsgelehrten anderer Auffassung. Viele schätzen nämlich den Kalumnieneid so ein, dass er nicht durch Gewohnheitsrecht aufgegeben werden könne27. Und deshalb missbilligen manche Kommentatoren28 jenes sächsischen Rechts die sächsische Gewohnheit so sehr, dass Henning Goeden sich dahin verstieg, die von uns erwähnte Glosse diabolisch zu nennen29. Während nun diese Rechtsgelehrten der Autorität des Gesetzes folgen wollen und jene die eigene Erfahrung zum Zeugen aufrufen, denke ich, dass das Gewicht letzterer überwiegt. Denn es kommt vor, dass der Gesetzgeber, angespornt von der Hoffnung auf großen Nutzen, etwas festlegt, das Ergebnis aber nicht den Hoffnungen entspricht. Damit dürften diejenigen Gelehrten, welche auf die Amtserfahrung mit dem Kalumnieneid abheben, mehr Vertrauen verdienen, als jene, die allein von der Autorität des Gesetzes bewegt werden. Aber wir wollen gegen die Autorität des Gesetzes nicht kämpfen. Wir wollen nach den Hintergründen fragen. Was der Kalumnieneid ist und welche Bedeutung ihm zukommt, verstehen wir dann, wenn wir vorher untersucht haben, was Kalumnien sind, die wir durch diesen Eid ausschließen möchten. Kalumnien sind sicher eine besondere Art des Unrechts, das durch Missbrauch der Justiz oder durch böswillige Prozessführung begangen wird. Aber jedenfalls nicht jeder, der einen ungerechten Rechtsstreit führt, ist ein Kalumniant. Geschieht es doch häufig genug, dass derjenige, der einen ungerechten Fall verfolgt, dennoch nicht ungerecht streitet. Dazu führt ein Rechtsgelehrter30 aus, dass derjenige, 26 27 28 29 30
Jo ha n n v o n Buc h , Glosse zum Sachsenspiegel, Lehnrecht, cap. 88, vorletzte Spalte; K ö n ig/ S c h ul te s , Practica, cap. 67, n. 2. X. 2, 7, 5; und dazu P an or mi ta nu s , Commentaria Decretalium, tom. 3, super secundi decr., de iuramento calumniae, cap. Caeterum, n. 3. Co le r , Decisiones, decis. 117, n. 11. Göd e n , Processus, tit. de litis contestatione, n. 11-12. Dig. 50, 17, 63; Dig. 41, 3, 21 und 23.
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der ohne eine böse Absicht das Gericht anruft, eine Verzögerung nicht verursacht, da ja niemand gehalten ist, sein Recht ohne Verteidigung aufzugeben31. So wie jemand berechtigter Besitzer ist, der guten Glaubens und mit einem guten Titel an einer Sache Besitz hat, wenn er auch kein Eigentümer ist; so ist derjenige kein ungerechter Prozessführender, der guten Glaubens den Streit beginnt, wenn er einen berechtigten Grund auch nicht haben sollte. Das geht auch hinreichend aus der Formel des Kalumnieneids hervor, die der Kaiser vorschreibt32. Denn der Kläger schwört, „dass er glaubt, einen guten Fall zu haben“, der Beklagte aber, „dass er glaubt, über gute Aussichten zu verfügen, sich zu widersetzen“. Das Gesetz lässt also die Rechtsauffassung ausreichend sein. Der Grund ist offensichtlich. Denn aus demselben Grund sind Gerichte eingerichtet worden, weil ja niemand so leicht Dinge, die sich auf ihn selbst beziehen, richtig einschätzt. Die Eigenliebe, welche die Natur selbst uns gegeben hat, verfälscht unser Urteil, so dass wir besser über uns und unsere Angelegenheiten denken, als wir sollten. Von daher entstehen zwischen Menschen, die Schwierigkeiten miteinander haben, notwendigerweise unterschiedliche Meinungen. Deshalb stellt der Richter, der ja von persönlicher Betroffenheit frei ist, die das Urteil der Streitenden beeinträchtigt, fest, welche Ansicht die richtige ist, nachdem er von der Rechtsauffassung eines jeden Kenntnis genommen hat und auch die Gründe beider Parteien durchschaut. Deshalb sind Gerichte in der bürgerlichen Gesellschaft eingerichtet worden. Wenn jemand sein Recht geltend macht, ist also klar nicht erforderlich, dass er dazu eine gerechte Sache vertritt oder dass er sicher weiß, dass er einen gerechte Sache hat, sondern es genügt, dass er von der Berechtigung seines Anliegens eine gute Meinung hat. Ob diese Auffassung aber zutrifft oder nicht, darüber befindet der Richter. Wer selbst weiß, dass er kein gerechtes Anliegen hat und deshalb keine gute Meinung darüber hat, sie aber zu haben vortäuscht und einen Rechtsstreit beginnt, nicht der Wahrheit wegen und um Gerechtigkeit zu erhalten, sondern um Profit zu machen und den Gegner zu quälen, der ist der Kalumniator. Um Kalumnien handelt es sich nach der Definition des Azo, wenn jemand aus sicherem Wissen heraus und in böser Absicht zu Unrecht klagt oder sich verteidigt33. Zutreffend ist auch die Definition der Rechtsgelehrten, dass Kalumniant sei,
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Dig. 5, 3, 40 (am Ende des Principiums). Cod. 2, 58, 2 (Principium). A z o, in der Summaria zu Kommentierung von Cod. 2, 58.
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„wer mit Hinterlist und Täuschung andere mit Prozessen quält“34. Denn wer in böser Absicht einen Prozess beginnt, soll nicht hoffen können, dass er von dem gesetzlich vorgesehenen Verfahren Gebrauch machen kann. Um einen bösen Prozessausgang zu erreichen, bedarf es entsprechender böser Mittel. Denn der Kalumniant streitet nicht im offenen Kampf mit seinem Gegner, sondern er kommt gewunden daher: Er versucht, den Richter zu bestechen, er sucht das Hinauszögern und Ausflüchte und flicht anderes ein. Mit diesen Künsten will er als Sieger hervorgehen. Damit ein solcher Betrug von den Gerichten ferngehalten wird, wurde der Kalumnieneid eingeführt. Denn die Kalumnien sind ein verdecktes Delikt und finden im Herzen statt. Was aber im Innern geschieht, wird durch keinen Beweis besser als durch einen Eid zum Vorschein gebracht35. Mit Recht scheint man deshalb annehmen zu können, dass Prozessführende bei Prozessbeginn unter Eid ihre Meinung offen legen sollten und dass sie sich zugleich wechselseitig versprechen, den Prozess nach Treu und Glauben zu Ende zu bringen. Weil die Dinge so sind, mag es erstaunlich erscheinen, dass dennoch manche Rechtsgelehrte bestätigen, dass leichtfertige Prozessführende, selbst wenn sie erfahren sind, sich um den Kalumnieneid wenig kümmern, und dass wir gesagt haben, dass die Übung auch unserer Zeit sie bestätigt. Was ist der Grund dafür? Die Rechtsgelehrten meinen ja, der Grund sei die Missachtung der Religion, die in unserem Jahrhundert so sehr verbreitet ist. Und diese Begründung scheint keineswegs gering zu schätzen zu sein. Diejenigen, die Kalumnien begehen, sind nämlich schlechte Menschen, verschlagene, die in Gut und Böse (fas et nefas) keinen Unterschied sehen und die durch Winkelzüge bewirken, dass das Urteil, das ein Bollwerk der Rechtschaffenheit sein soll, für sie zu einer Bemäntelung ihrer Nichtsnützigkeit und für den Gegner zu einer Anhäufung von Unrecht wird. Aber kümmert sich diese Art von Menschen wirklich um die Religion? Wenn es um die Gerechtigkeit geht, geben sie gewöhnlich die Frömmigkeit auf. Ähnlich ist das, was der Apostel sagt: „Wer nicht seinen Nächsten liebt, den er sieht, wie kann der Gott lieben, den er nicht sieht?“36 Und es ist in der Tat nicht anzunehmen, dass schlechte Menschen von der Furcht vor göttlicher Strafe
34 35 36
Dig. 50, 16, 233. Gai l , Observationes, lib. 2, obs. 48, n. 84. 1. Joh 4, 20.
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stark bewegt werden. Denn Gott bestraft die Menschen nicht ἔϖ ἀυτοφόρω (ep’ autophorō, unmittelbar), sondern verschiebt, um Zeit zur Einsichtsgewinnung zu gewähren, die Strafe meistens bis ins andere Leben, wo die Zeitverzögerung durch die Schwere der Strafe ausgeglichen wird. Schlechte Menschen aber fürchten diese Strafe, die von hier so fern scheint, wenig. Nach Aristoteles „ängstigt die Menschen das, was in weiter Ferne liegt, nicht. Sie wissen zwar“ (aus der Erfahrung) „alle, dass sie sterben müssen. Aber weil sie glauben, dass das nicht nahe sei, machen sie sich keine Sorgen.“37 Deshalb zählt er die Aufschiebung der Strafe unter die Anreize zur Begehung von Vergehen38. Von daher stammt auch die Hoffnung auf Straflosigkeit, mit der sich jene schmeicheln, die Gott beleidigen. Sie glauben, dass sie genug Zeit hätten, Reue zu zeigen und Gott, der gnädig sei und sich leicht durch Bitten erweichen lasse, zu besänftigen. Und deshalb sind sie auf gegenwärtigen Gewinn oder auf Vergnügungen aus, sind nach allem gierig und wenig besorgt um Künftiges. Die aber so gesinnt sind, werden vom Schwören eines Eides wenig beeindruckt. Gerade Kalumnien sind eine Todsünde, das heißt ein Verbrechen, für das die ewige Verdammnis vorgesehen ist. Wen also die Gefahr der ewigen Verdammnis nicht veranlasst, von dem Kalumnieneid Abstand zu nehmen, den wird die gleiche Gefahr schwerlich veranlassen, nicht falsch zu schwören. Für einen klareren Hintergrund haben wir dies ausführlicher dargestellt, als es die von uns oben angeführten, in dieser Sache hocherfahrenen Rechtsgelehrten glaubten tun zu müssen. Wenn dennoch aber etwas zuzugestehen ist: Dieser Hintergrund beseitigt noch nicht jeden Zweifel. Denn kaum jemandem erscheint es wahrscheinlich, dass Menschen, die aus leichtfertigen und ungerechtfertigten Gründen den Kalumnieneid leisten, in so großer Zahl falsch schwören und mit diesem abscheulichen Vergehen (oder kann irgendetwas als schwerwiegender angesehen werden als das?) ihren Kopf riskieren. Es scheint hart zu sagen, dass bei uns die Religion so sehr missachtet wird. Für die christliche Religion wäre gewiss beträchtlich Besseres zu erhoffen. Deshalb wäre, wenn kein anderer Grund sichtbar wäre, an der Wahrheit der Sache zu zweifeln. Wir sehen jedoch, dass mit Sicherheit ein anderer Grund nicht gefunden werden kann. Es geht auch um die Frage, wie die Unbesonnenheit, die Leichtfertigkeit 37 38
Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, lib. 2, cap. 5, n. 3. Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, lib. 1, cap. 7.
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der Streitenden, zu zügeln ist. Der Kalumnieneid ist gegen die Kalumnien, die böswillige Klagerhebung, eingeführt worden. Was nun also? Sind Kalumnien und Unbesonnenheit der Streitenden ein und dasselbe? Zuzugeben ist, dass sie nicht nur in der Umgangssprache, sondern auch von Rechtsgelehrten, ja sogar manchmal in Gesetzen vermengt werden39, während man sie anderswo unterscheidet. Diese Vermischung, die vielleicht zu dem Irrtum führte, soll uns nicht hindern, den Unterschied zwischen Kalumnien und Leichtfertigkeit der Streitparteien herauszufinden. Wie Aristoteles lehrt, ist die Übertragung von Worten häufig, sei es vom speziellen zum speziellen Begriff, oder vom speziellen zum generellen und vom generellen Begriff wieder zurück zum speziellen40. Wenn also Unbesonnenheit als der den Kalumnien gegenüberstehende Begriff einmal für die Kalumnien verwandt wird, oder auch, wenn der Begriff Unbesonnenheit für beide Vergehen verwendet wird, weil die Gattung sozusagen von Kalumnien und Unbesonnenheit als deren spezielle Begriffe die gleiche ist, muss das keine Verwunderung erregen. Die Begriffe sind aber verschieden; und auch in unserem Recht, in dem die Rechtsgelehrten sich präziser ausdrücken, werden sie auseinandergehalten. Hören wir die Worte von Marcianus, aus denen jener Unterschied sichtbar wird. Er sagt, „keinesfalls wird derjenige, der nicht beweist, was er behauptet, als Kalumniant angesehen. Denn die Untersuchung dieser Frage wird dem Ermessen des Richters überlassen, der, nachdem der Beklagte freigesprochen ist, danach zu forschen beginnt, mit welcher Gesinnung der Kläger die Klageerhebung unternahm. Und gewiss wird er ihn freisprechen, wenn er einen zu rechtfertigenden Irrtum bei ihm feststellt; wenn er aber auf erwiesene Kalumnien trifft, legt er ihm die durch das Gesetz bestimmte Strafe auf. Was von beiden zutrifft, geht aus dem Wortlaut des Urteils selbst hervor. Denn wenn er verkündet ,ich habe es nicht nachgewiesen‘, hat er freigesprochen; wenn er aber verkündet, ‚Du bist ein Kalumniant’, hat er ihn verurteilt.“41 Und ein wenig danach folgt: „Es fragt sich, wenn folgendes Zwischenurteil ergeht, ob Lucius Titius unbesonnen Klage erhoben zu haben scheint, oder ob er als Kalumniant verurteilt werde. Und Papinian hat geantwortet: Verwegenheit erhalte die Begnadigung wegen Leichtsinns, und unüberlegte Hitze treffe nicht der Vorwurf der Kalumnie, und deswegen brauche er keine Strafe zu erleiden.“42 Es ist wirklich offensichtlich, dass auf diese Weise die Begriffe non probare (nicht beweisen), was von denjenigen 39 40 41 42
Inst. 4, 16 [pr.]; Dig. 40, 12, 39, 1. Ari s t ote le s , De Poetica, cap. 21. Dig. 48, 16, 1, 3. Dig. 48, 16, 1, 5.
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angenommen wird, die von einem gerechtfertigten Irrtum geleitet werden, calumniari (böswillig klagen), temere accusare (leichtfertig klagen) unterschieden werden sollten. Kalumniant ist demnach, wer wissentlich und in böser Absicht, leichtfertig Streitender aber ist, der unbedacht und mit einer gewissen Oberflächlichkeit einen Fall unberechtigt vor Gericht bringt. Der Unterschied dürfte sich aus den Grundanlagen der Menschen erklären43. Es ist kein Wunder, dass sich die Sache so verhält. Derjenige, der einen Fall, der ihm berechtigt erscheint, nach Überlegung und Abwägung vor Gericht trägt, um Recht zu finden, der prozessiert zu Recht. Demgegenüber aber ist, wer seinen Fall, von dem er weiß, dass er unberechtigt ist, nach Überlegung und Abwägung vor Gericht trägt, um einen anderen zu schädigen, ein Kalumniant. Hier haben wir zwei Extreme, den guten Vorsatz des rechtmäßig Streitenden und den schlechten Vorsatz des Kalumnianten. Zwischen diesen aber liegt etwas, welches klar ohne Vorsatz geschieht. Und das ist die Unbesonnenheit. Denn es heißt, dass leichtfertig geschieht, was die Menschen ohne Verstand und Überlegung machen. Deutlich wird das aus jenem Satz des Cicero: „Das Hauswesen, das mit Verstand geleitet wird, ist in allen Dingen besser ausgestaltet und besser eingerichtet, als das, welches unbedacht und ohne Überlegung verwaltet wird.“44 Leichtfertig zu handeln und ohne Überlegung zu handeln, ist aber dasselbe. Noch deutlicher drücken das die griechischen Worte aus, welche in der Sache den lateinischen entsprechen: παραλόγως (paralógōs, unvernünftig) entspricht nämlich temere und αβουλία (aboulía, Unbesonnenheit) entspricht temeritas und Entsprechendem. Tatsächlich stellen wir in allen menschlichen Angelegenheiten fest, dass es vorkommt, dass die einen überlegt und nach reiflicher Abwägung, die anderen aber leichtfertig und ohne oder mit wenig Überlegung an die Dinge herangehen und sie ausführen. Denn die Masse wird gewöhnlich mehr von Begierden als von der Vernunft regiert. Deshalb reißen viele, wenn irgendetwas die Begierde in ihnen geweckt hat, das sofort an sich, zu wenig bedenkend, ob es vernünftig ist oder nicht. Anderen erscheint es zu beschwerlich, für Angelegenheiten, die sie verfolgen, irgendwelche Mühe aufzuwenden. Zu wenig bedenken sie deshalb, was sie tun. Unbesonnenheit geht also aus einem Affekt oder aus Nachlässigkeit oder Sorglosigkeit der Menschen hervor. Obwohl wir doch von der Streitpartei nichts mehr erhoffen, als dass sie 43 44
Dazu Ar i st o te le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 3, cap. 1 et seqq., lib. 5, cap. 10, lib. 2, cap. 6 et seqq. Cic e r o, De Inventione, lib. 1.
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glaubt, eine gerechte Sache zu haben; so genügt dafür doch nicht jede Rechtsauffassung, auf welche Weise auch immer sie zustande gekommen ist. Mancher hat nämlich eine törichte und leichtfertige Meinung. Aufgabe der Menschen aber ist es, von der Vernunft den richtigen Gebrauch zu machen. Die Streitparteien vor Gericht müssen die Sache überlegen. Sie müssen, bevor sie vor Gericht gehen, eine Abwägung treffen, wenn auch nicht die beste und genaueste, wie jene von Aristoteles beschriebene ευβουλία(euboulía, Klugheit) verstanden werden kann, so doch wenigstens eine normale, wie es die meisten Menschen können45. Wenn eine solche Abwägung getroffen ist, auch wenn die Betreffenden schwer irren, und der Richter den Fall, den sie selbst für berechtigt halten, für unberechtigt befindet, kann ihnen das dennoch nicht als Vergehen ausgelegt werden. Denn in eigenen Angelegenheiten, in denen das Urteil der Menschen aufgrund einer gewissen natürlichen Schwäche trügerisch ist, sind sie hin und her gerissen. Ein Irrtum dieser Art ist gerechtfertigt, wie es der kurz zuvor angeführte Marcianus ausgedrückt hat, oder wie wir korrekter sagen sollten, hat nichts Unberechtigtes. Denn die Grundursache ist nicht der Irrtum, sondern die Natur, welche sie mit starker Eigenliebe versehen hat, weshalb sie in eigenen Angelegenheiten leicht das Zweifelhafte für wahr erachten. Wenn allerdings jemand nach Erhebung einer Klage keine oder eine sehr oberflächliche Abwägung vornimmt, sondern nachdem ihn ein Einfall zu der Auffassung brachte, dass ihm von einem anderen etwas geschuldet werde, oder dass er einem anderen, der etwas von ihm fordert, nichts schulde, diesen Einfall sofort aufgreift und vor Gericht verwendet, auch wenn er keinen vernünftigen Grund nennen kann: Der streitet leichtfertig. Er hat gewiss eine Rechtsmeinung über die Berechtigung des Falls, aber eine leichtfertige, aufgebaut auf einer Begründung, die für einen Erwachsenen oder durchschnittlich klugen Abwägenden nicht ausreichend ist. Dessen Irrtum ist also kein Rechtfertigungsgrund, da die Ursache des Irrtums auf ihm selbst beruht; oder wie ich mit den Scholastikern sagen möchte, da er zu seinem Irrtum zu leicht gelangt ist. Wer nämlich in einer Sache, die er nicht richtig abgewogen hat, irrt, trägt für den Irrtum die Verantwortung. Denn hätte er, wie es seine Pflicht wäre, Sorgfalt angewendet, hätte er nicht geirrt. Gewiss ist allen Menschen die Eigenliebe vorgegeben, die auch das Urteil mancher Gutwilliger verdirbt, so dass sie über Dinge, die sich auf sie selbst 45
[Zu der Fußnote gibt es keinen Text.]
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beziehen, wohlwollender denken, als sie sollten; dennoch gibt es in dieser Sache eine eindeutige Grenze, welche diejenigen nicht einhalten, die ihren Gefühlen zu sehr nachgeben und gegenüber unbezweifelbaren Tatsachen blind sind. Ein solcher Irrtum verdient keine Nachsicht. Deshalb werden leichtfertig Streitende zu den Kosten verurteilt46. Wer aber leichtfertig ist, ergibt sich, wenn kein hinreichend schwerwiegender Grund ersichtlich ist, der zur Klage hätte veranlassen können. Wenn allerdings jemand seinen Rechtsstreit verliert, obwohl billigenswerte Gründe zur Prozessführung erkennbar sind, werden die Kosten ausgeglichen, da er ja nicht zu Unrecht vor Gericht gegangen ist. Wie wir bereits sagten, unterscheiden sich diejenigen, die rechtschaffen sind, und die leichtfertig Streitenden. Auch der Unterschied zwischen der leichtfertigen Partei und dem böswilligen Kalumnianten ist klar. Jeder von beiden sündigt und streitet zu Unrecht, nur der eine mehr, der andere weniger. „Denn ein Vergehen wird“, wie ein Rechtsgelehrter sagt, „entweder mit Vorsatz oder aus Zufall begangen“.47 Der Kalumniant begeht das Vergehen also mit Vorsatz, indem er in böser Absicht einen ungerechtfertigten Prozess beginnt. Der leichtfertig Streitende aber beginnt einen ungerechtfertigten Rechtsstreit entweder fortgerissen durch einen Anfall von Leidenschaft oder weil er aus Sorglosigkeit keine Abwägung trifft. Ebenso wie in Vertragsangelegenheiten ja Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschieden werden, so unterscheiden sich auch im Gerichtsverfahren, das in gewisser Weise wie eine Vertragsverhandlung angesehen wird, Unbesonnenheit und Kalumnien48. Oder wenn man es vorzieht, Kalumnien als Vergehen zu betrachten, weil sie normalerweise auch zu den Vergehen gezählt werden49: Hier kommt es bei fast allen Delikten vor, dass ihnen ein Vergehen geringeren Grades entspricht. Mord ist zum Beispiel dadurch gekennzeichnet, dass er mit Vorsatz begangen wird. Es gibt aber auch etwas anderes, das aus Fahrlässigkeit begangen wird, sei es in der Erregung des durch den Gegner verursachten Zorns, sei es in ähnlicher Gemütsverwirrung, weswegen in den Strafen abweichend verfahren wird. Entsprechend unterscheiden sich Kalumnien und Unbesonnenheit. Der Unbesonnenheit ist in der Regel auch die Starrköpfigkeit zuzuordnen. Denn diejenigen, die in der Bildung ihrer Meinung leichtfertig sind, 46 47 48 49
Cod. 7, 51, 3. Dig. 48, 19, 11, 2. „l. 3 § 11 ff. de poenis“ [Anm.: Dig. 48, 19, 3, 11 gibt es nicht.] Dig. 4, 4, 37; Dig. 3, 6, 9.
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sind auch leichtfertig im Festhalten an einer Sache und im Kampf dafür. Hier scheint jener Vergleich des Aristoteles nicht ungeeignet, mit dem er die Eigensinnigen mit den Wollüstigen vergleicht50. Denn ebenso wie der Wollüstige, vollständig von der Begehrlichkeit der Lust erfasst, nicht die Schlechtigkeit der Handlung bedenkt, welche er unternimmt, so lassen die Starrsinnigen auf ihre voreingenommene Meinung nichts zu, was ihr entgegensteht. Was auch immer gesagt wird, sie bleiben dabei. Denn sie glauben sich ihrer Sache vollkommen sicher. Das ist der Grund, warum sie in ihrem Urteil so unbeweglich sind. Und schließlich ist darüber hinaus zu beobachten, dass die Unbesonnenheit weitaus häufiger bei den Streitenden anzutreffen ist als die Kalumnien. Denn in der Tat werden manchmal vorsätzlich falsche Klagen erhoben; die meisten streiten aber leichtfertig. Zunächst lehrt das die Erfahrung. Es kann aber auch begründet werden. Denn die Kalumnianten handeln ja vorsätzlich, die mit Unbesonnenheit Streitenden aus Fahrlässigkeit. Weitaus häufiger aber vergehen sich Menschen fahrlässig als mit Vorsatz. Darüber hinaus wird gesagt, dass die leichtfertig Streitenden sich in gewisser Weise zwischen den Kalumnianten befinden, die eindeutig unredlich sind, und denen, die zu Recht streiten. Ebenso also wie die meisten Menschen weder völlig schlecht sind, noch völlig gut, sondern von beidem etwas sind, so sind auch die meisten Streitenden gewöhnlich in der Mitte zwischen schlechten Prozessführenden, also denjenigen, die Kalumnien begehen, und denjenigen, die zu Recht streiten. So beschaffen in der Tat sind die Leichtfertigen. Dies vorausgeschickt, dürfte es nicht weiter schwer sein, die uns vorgelegte Frage zu entscheiden, welche Macht der Kalumnieneid denn im Gerichtsverfahren auf die Streitenden hat, im Rahmen dessen zu bleiben, was ihre Pflicht ist. Denn die Bezeichnung des Eids selbst zeigt an, dass er eingeführt wurde, um die Kalumnien zu verhindern. Wenn wir nun glauben, dass durch ihn auch die Unbesonnenheit ausgeschlossen wird, täuschen wir uns sicherlich. Denn Kalumnien und Unbesonnenheit sind unterschiedlicher Natur. Deshalb erfasst der Kalumnieneid die Unbesonnenheit nicht. Die Eidesleistung ist vielmehr zwingendes Recht und kann auf anderes nicht erweitert werden51. Die Sache wird bei Licht besehen noch klarer, wenn wir nur dem Wortlaut des Kalumnieneids vertrauen. Die Streitenden schwören nämlich nichts anderes, als dass sie glauben, einen gerechten Fall zu haben 50 51
Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 7, cap. 10. X. 2, 24, 25.
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und dass sie ihn guten Glaubens betreiben wollen52. Deshalb wird allgemein gesagt, dass der Kalumnieneid sehr viel mit Leichtgläubigkeit zu tun habe. Aber die leichtfertig Streitenden glauben eben, dass sie einen gerechten Fall haben. Deshalb haben sie keine Bedenken, sich dem Eid zu unterziehen. Wenn deren Meinung auch frivol und leichtfertig ist, kommt es dennoch immer noch auf sie an. Allerdings pflegen leichtfertige Menschen weitaus dickköpfiger zu sein, als sorgfältig abwägende Männer, wie wir dargelegt haben. Denn diese wenden deshalb Sorgfalt an, weil sie ja wissen, wie trügerisch das Urteil der Menschen ist. Jene aber glauben mit so großer Sicherheit, alles vollkommen verstanden zu haben, dass nichts der Überlegung bedarf. Sie handeln deshalb unüberlegt, mit blindem Eifer. Mit dieser Einstellung schrecken sie keineswegs vor dem Kalumnieneid zurück. Glauben wir denn, dass jene, die unüberlegt etwas annehmen, dann ihre Meinung ändern werden, wenn sie gezwungen sind, zu beschwören, was sie auf diese Weise glauben? Da sie ja sicher sind, dass sie nichts anderes annehmen können, werden sie es tausendmal durch einen Eid bestätigen. Hinzuzufügen ist auch, dass der Kalumnieneid nichts anderes verhindern soll, als vorsätzliches Tun, was aus der deutschen Bezeichnung deutlich wird. Er wird nämlich Ayd für Gefährde genannt. Gefährde aber ist Vorsatz. In der Tat wird vom Eid überhaupt nur der Vorsatz, nicht aber fahrlässiges Tun erfasst, weil ja der Meineid ausschließlich mit bösem Vorsatz begangen wird53. Leichtfertig aber handeln die Streitparteien – sehr oft fahrlässig, nicht jedoch vorsätzlich. Denn jeder beliebige Entschuldigungsgrund, selbst der unberechtigte und einfältige, schließt den Vorsatz aus54. Nach Auffassung von Rechtsgelehrten entschuldigen sogar ganz unvernünftige und einfältige Gründe, wobei ich nicht wage, mit den Gelehrten von viehischen und eselhaften zu sprechen. Sie führen zur Leichtfertigkeit, schließen aber den Vorsatz aus, und folglich hält man so etwas nicht für einen Meineid. Das aber, worüber ein Meineid nicht geschworen wird, wird durch den Eid nicht verhindert. Diejenigen, die schwören, werden also von der Furcht vor dem Meineid geleitet. Deshalb lässt sich die Leichtfertigkeit, die gerade keinen Meineid bewirkt, durch den Eid nicht ausschließen. Es ist schon gesagt worden, dass die Streitenden sich meistens aus Leichtfertigkeit vergehen. Folglich werden die meisten, die zu Unrecht streiten, durch den Kalumnieneid nicht zurückgehalten. Und das ist 52 53 54
Cod. 2, 58, 2; RKGO 1555, 1, 65. Dig. 12, 2, 26 [pr.]. Dig. 40, 12, 12.
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der Grund, warum Streitende so darauf aus sind, in welchen Fällen auch immer den Eid zu leisten. Weil die Dinge so sind, wundert man sich, was denn diejenigen bewegt, die glauben, dass jegliche Leichtfertigkeit durch den Kalumnieneid aus den Gerichtsverfahren ferngehalten werde. Man hat in der Tat gesagt, es scheine, dass Kaiser Justinian selbst dieser Meinung gewesen sei55. Der Grund ist ohne Zweifel, dass die Leichtfertigen außerordentlich schwer von denen zu unterscheiden sind, die vorsätzlich falsch schwören. Mag auch der Unterschied, von dem wir gesagt haben, dass er bestehe, nicht verborgen sein, wenn er allgemein betrachtet wird: Wenn wir aber ins Einzelne gehen, ist es nicht leicht, leichtfertige von böswilligen Parteien zu unterscheiden. Denn beide tun das Gleiche. Der Leichtfertige trägt einen offenbar unberechtigten Fall vor Gericht, nutzt frivol Argumente und beharrt in einem fort rücksichtslos auf seinem Standpunkt, was auch immer ihm vorgehalten wird. Was anderes macht der Kalumniant, der böswillig eine Klage erhebt? Sie unterscheiden sich so gesehen nicht. Sie unterscheiden sich nur in der Gesinnung. Der eine vergeht sich mit, der andere ohne Überlegung. Den Vorsatz zu erkennen, ist schwer. Denn wir sehen allein Handlungen, die nach außen dringen. In Vorstellungen und Überlegungen können wir aber nicht hineinschauen. Die gleiche Schwierigkeit zeigt sich bei vielen anderen menschlichen Handlungen, die zu unterscheiden sind, aus welcher Geisteshaltung oder aus welchem Gefühl sie auch hervorgegangen sein mögen. Wir wollen uns insoweit mit den Worten des Aristoteles begnügen, mit welchen er die Ähnlichkeit oder Unterschiedlichkeit von Zügellosigkeit und Eigennutz zum Ausdruck bringt56. Sie verdeutlichen nämlich gut, was wir dargelegt haben. Er sagt: „Es ist klar, dass der Eigennutz nicht Zügellosigkeit ist, es sei denn, ein besonderer Fall liegt vor. Dieser nämlich ist die abwägende Überlegung fremd, bei jenem ist sie gegeben. In Handlungen stellen sie sich jedoch ähnlich dar - in welcher Weise, besagt der Satz des Demoducus über die Mileter: Die Mileter sind bestimmt nicht diejenigen, die töricht sind. Dennoch tun sie Dinge wie Törichte. So sind Ehrgeizige gewiss nicht. Ungerecht handeln aber auch sie.“ In gleicher Weise müssen wir sagen: Leichtfertig Streitende sind gewiss keine Kalumnianten, dennoch handeln sie wie diese. Und deshalb glauben die Menschen, dass diejenigen, die gleich handeln, auch die gleiche Gesinnung haben. Denn wir beurteilen die Einstellung meistens nach den Taten. Das also ist der 55 56
Inst. 4, 16 [pr.]. Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 7, cap. 9.
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Grund, warum viele Kalumnien und Unbesonnenheit verwechseln; und deshalb meinen sie, dass der Kalumnieneid auch gegenüber der anders gelagerten Unbesonnenheit Wirkung zeige. Die Rechtsgelehrten jedoch, die wir zu Anfang dieses Kapitels erwähnten, weil sie der gleichen Meinung sind, sehen aber, mit welcher Dreistigkeit leichtfertige Parteien sich dem Kalumnieneid unterziehen, und haben sogar gemeint, dass diese Parteien die Religion verachten und deshalb einen Meineid begehen. Aber gewiss kann ihnen ein so schweres Vergehen nicht angelastet werden, wenn der Vorsatz fehlt. Sie dürfen dennoch nicht vollständig entschuldigt werden, denn sie schwören leichtfertig. Wenn in der Tat auch das leichtfertige Schwören eine weitaus weniger schwerwiegende Sünde ist als der Meineid, ist es dennoch immer noch verwerflich genug. Denn auch, wer leichtfertig schwört, handelt in gewisser Weise verächtlich gegen Gott57. Wie nämlich kann man Gott genehm sein, wenn man ihn als Zeugen einer frivolen und leichtfertigen Auffassung heranzieht? Denn mit dem, was man auf diese Weise, die ja leichtfertig und ungerecht ist, vertritt, damit beleidigt man Gott. Wenn du also willst, dass Gott deine so ungerechte Angelegenheit durch sein Zeugnis unterstützt (adstipulari), häufst du Sünde auf Sünde. Derjenige, der einen Eid leistet, stellt sich dem Gericht Gottes selbst. Die Menschen müssten folglich eine solche Sache zurückhaltend, vorsichtig, umsichtig, nach Anwendung wohlbegründeter Abwägung und mit Sorgfalt behandeln. Und das hofften gewiss die Gesetzgeber, die den Kalumnieneid eingeführt haben58. Aber die Erfahrung und, wie wir gesagt haben, die Vernunft lehren uns anderes. Wenn nun der Kalumnieneid die streitenden Parteien nicht hindert, leichtfertig zu appellieren, um so viel weniger hindert er sie, leichtfertig einen Prozess durchzuführen. Denn nichts ist der Leichtfertigkeit der Menschen ähnlich ausgesetzt wie das gerichtliche Verfahren, weil jeder Streitende sich seinen Gegner gleichsam als jemanden vorstellt, der nicht Recht hat. Deshalb nimmt er sich vor, ihn zu besiegen. Mit welcher Begründung das geschieht, hält er für gleichgültig. Denn es wird gemeinhin geglaubt, dass man im Prozess nicht so leicht strauchle (peccari), wenn nur die Begründung gut ist. Diejenige Begründung ist aber für die Parteien gut, welche sie selbst so einschätzen. Auch wenn der Beklagte Vertagung erwirkt und mit vielen Verzögerungen das Verfahren aufhält, auch wenn der Kläger deshalb Scha57 58
Vgl. Se t ze r , Tractatus, lib. 1, cap. 17, n. 6 und ff. Cod. 2, 58, 2, 8.
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den erleidet: Der Beklagte vergeht sich seiner Auffassung nach in keiner Weise. Er denkt nämlich, der andere sei derjenige, der Unrecht hat. Wenn er Schaden erleide, müsse er das sich selbst und seiner unberechtigten Klage zuschreiben. Dem Beklagten könne das wirklich nicht als Fehler angelastet werden, weil es insoweit offensichtlich sei, dass gegen einen gegen ihn zu Unrecht angestrengten Prozess, ungeachtet der übrigen Umstände eine vorübergehende Verzögerung erlaubt sei. Dagegen denkt der Kläger, dass er nichts als das seine verlange, dass er nur zufällig nicht ganz eindeutige Beweise habe oder dass der Beklagte durch irgendwelche unbilligen Verteidigungsmittel seinen Antrag verzögere. Er nutze deshalb zu Recht Ausflüchte, weil er sein Anliegen im offenen Kampf nicht verfolgen könne. Mit solchen Menschen hat sich der Richter im Prozess auseinanderzusetzen. Denn vor Gericht wie im Kriege glaubt man, nichts an Schuld auf sich zu laden. Ich will mir nicht jenen Satz der Rechtsgelehrten59 zu Eigen machen, mit dem sie die Ansicht vertreten, dass der Advokat in einem gerechten Fall Täuschung (dolo bono) zu seinem Vorteil nutzen dürfe, wenn sie etwa sagen: Täuschung oder Tugend, was ist gegen den Feind erforderlich? Da ja fast jeder glaubt, einen berechtigten Anspruch zu haben, warum soll dann nicht jeder glauben, ihm sei im Prozess alles erlaubt? In einer so sehr der Leichtfertigkeit der Menschen unterworfenen Sache ist die Sicherheit eines Eids äußerst gebrechlich; nicht so sehr, weil Meineide zu befürchten wären, sondern vielmehr, weil derjenige, der sich mit einem Eid verpflichtet, Richter über seine eigenen Handlungen wird. Bei der Frage, ob eine Klage zu erheben ist, ist die Beurteilung der Streitenden oft wirklich allzu leichtfertig. So verspricht beispielsweise, wer den Kalumnieneid schwört, dass er nur die notwendige Beweisführung oder einen notwendigen Aufschub erbitten werde. Aber wie notwendig ist denn der Aufschub oder der Beweis? Wie beschaffen das ist, das hat er selbst beurteilt. Wie sicher ist es denn für den Gegner? Er selbst nämlich wird dasjenige für notwendig halten, was ihm von Vorteil ist. Auf welche Weise erreicht werden kann, dass von der Einschätzung der Parteien, obgleich beschworen, möglichst wenig abhängt, ist zusammenzutragen. Und der Prozess ist durch das Gesetz so zu gestalten, dass die Parteien gezwungen sind, ihren Verpflichtungen nachzukommen, wenn es auch ungern und widerstrebend geschieht. Ob das in den Appellationsverfahren geschehen kann, ist nun zu untersuchen. 59
My ns i nge r , Observationes, cent. 3, obs. 4.
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Aus dem, was wir bisher gesagt haben, erhellt deutlich, dass die Gerichtsgewohnheit nicht ohne Grund das Justinianische Gesetz, welches vorgeschrieben hatte, dass der Kalumnieneid zu Beginn aller Rechtsfälle abgeleistet werde, in der geschilderten Weise abgeschwächt hat. Schließlich mussten die Parteien den Eid mehrfach ein ums andere Mal leisten. Denn es ist ohne Zweifel einzusehen, welch geringe Kraft der Eid gegenüber der Leichtfertigkeit der Parteien hat. Ob es aber irgendwo einen Verdacht auf Kalumnien gibt (in diesem Falle nämlich kann der Kalumnieneid einen Sinn haben), so etwas für die Parteien im Einzelfall einzuschätzen, bleibt dem erfahrenen Blick selbst überlassen. Aber der Regensburger Reichstag aus dem Jahre 1654 war der Auffassung, jenes Justinianische Gesetz für Appellationen müsse erneuert und wieder eingesetzt werden, während es für die erste Instanz bei der überkommenen Gewohnheit bleiben sollte. Dafür wurde angeführt, die Appellationsverfahren seien Kalumnien und Leichtfertigkeiten stärker ausgeliefert als erstinstanzliche Verfahren. Sonst wäre es nämlich besser gewesen, in der ersten Instanz den Eid zu fordern. Allerdings hat man angenommen, dass die in der ersten Instanz sonst verwendete Formel nicht ausreichend sei. Denn dem Kalumnieneid über die nicht böswillige Appellationseinlegung ist eine zusätzliche Klausel bezüglich derjenigen neuen Behauptungen und Beweismittel beigefügt worden, von denen die Appellanten Gebrauch machen60. Aber wozu das? Musste die Gefahr in diesen Dingen ausgerechnet durch einen Eid abgesichert werden? Das müssen wir sicher bezweifeln. Aber fast das ganze Appellationsverfahren wird von diesen neu vorgetragenen Argumenten des Falles beherrscht. Hier scheint uns das Verfahren, welches auf so zerbrechlichen Grundlagen beruht, zweifelhaft. Aber bevor wir zu diesen Fragen kommen, werden wir das Appellationsverfahren skizzieren und quasi in groben Zügen darstellen.
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JRA 1654, §§ 73, 118.
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Kapitel II: Das Appellationsverfahren wird kurz skizziert und seine wichtigste Grundlage, die Berechtigung zur Darlegung des nicht Dargelegten und zum Beweis des nicht Bewiesenen, vorgestellt Im Appellationsverfahren gibt es drei unterschiedliche Verfahrensschritte in festgelegter Zeitabfolge, die fatalia genannt werden. Die ersten sind die fatalia interponendae, die Förmlichkeiten zur Einlegung der Appellation, die zweiten die fatalia introducendae, die Einführung der Appellation, die dritten die fatalia prosequendae, die weiteren Ausführungen zur Appellation. Aber über die Einlegung und Einführung der Appellation ist es nicht nötig, etwas zu sagen. Sie sind nämlich gewissermaßen das Vorspiel des Verfahrens. Nichts geschieht in diesen Abschnitten, das eine Rüge verdiente. Hier ist keinerlei Platz für einen Tadel gegeben. Die Versäumung nur eines Tages lässt den ganzen Fall verlieren. Aber was rede ich über einen Tag? Bei den fatalia interponendae zählen auch Stunden. Das Decendium, die zehntägige Appellationsfrist, wird laut Mynsinger61 und Gail62 punktgenau von Uhrzeit zu Uhrzeit berechnet. „Deswegen“, sagt Gail, „ist dafür Sorge zu tragen, dass der Notar in das Appellationsinstrument nicht nur den Tag der Appellationseinlegung, sondern auch die Stunde dieses Tages einträgt. Das geschieht, damit zutreffend ermittelt werden kann, ob das Decendium verstrichen ist. Denn als erster Tag der Appellation wird nicht der ganze Tag zu Grunde gelegt, sondern die Stunde der Appellationseinlegung. Von ihr aus wird die entsprechende Stunde des zehnten Tages berechnet. Deshalb kann es geschehen, dass der zehnte Tag als elfter zählt.“ Aus diesem Grunde prüft das Reichskammergericht, wenn die Appellation am letzten Tage des Decendiums eingelegt wird, bevor es den Prozess eröffnet, nicht nur die Stunde der Appellationseinlegung, sondern auch die Stunde der Urteilsverkündung: „Wofern der Supplicant die Stunde des angefochtenen Urteils der Gebühr anzeigen wird/sol darauff ergehen/was recht ist.“ Zu loben ist gewiss die Sorgfalt, welche die Gesetze hierin verlangen. Aber es ist zu befürchten, dass wir den Nutzen der so strikten Sparsamkeit durch die große Verschwendung in der Folgezeit zugrunde richten. Und obgleich wir nicht wollen, dass wir zu Anfang eine Stunde verlieren, lassen wir unmittelbar darauf viele Jahre nutzlos verstreichen. 61 62
My ns i nge r , Observationes, cent. 3, obs. 11. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 139, n. 5.
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Wir wollen uns deshalb die Einzelheiten zur Fortführung der Appellation ansehen. Das ist in hohem Maße ein gerichtlicher Kampf. Es wird teilweise um die Hauptsache gekämpft, teilweise aber und zwar häufig genug um zahllose Fragen, um inzidente Punkte, um Inhibitionen, Attentate und Kompulsorialbriefe. Denn häufig sperrt sich der Richter des ersten Verfahrens gegen die Appellation. Er will die Akten nicht herausgeben und begünstigt den Appellationsgegner. Und da er ja weiß, dass das Appellationsverfahren nicht so schnell enden wird, erlässt er, damit es nicht zu einer Verzögerung kommt, die Vollstreckungsanordnung zu dem von ihm erlassenen Urteil. Von daher erwachsen in der Tat schwerwiegende Querelen und Streitereien. Und wenn denn die Attentate innerhalb der Zehntagesfrist begangen worden sind, ergeht durch Mandatsbefehl die Anordnung, sie zu unterlassen. Wenn sie [die Attentate] aber später erfolgten, werden sie ebenso auf dem Mandatswege aufgehoben, wenn die Sachlage eindeutig ist63; meistens aber wird die Behandlung der Attentate ins Erkenntnisverfahren verwiesen. Und so pflegte man früher über die Attentate zu streiten, bevor man auf die Hauptsache überging. Aber weil man einsah, dass damit das Hauptverfahren verzögert wurde, legte man fest, dass die Untersuchung der Attentate gemeinsam mit dem Hauptverfahren erfolgen soll64. Von daher wird deutlich, dass das Appellationsverfahren weitaus mehr an Schwierigkeiten beinhaltet und weitaus mehr an Streitstoff als der Prozess erster Instanz. Denn in diesem haben wir nicht so viele Vorfragen und meistens verhandeln die Streitenden nur über die Hauptsache. Im Appellationsverfahren jedoch entsteht auch zwischen dem Oberrichter und dem Unterrichter häufig Streit. Wie viel Arbeit die Attentate im Appellationsverfahren meistens machen, lehrt sowohl die Erfahrung, wie es auch die Kammergerichtsordnung selbst deutlich zu erkennen gibt65. Wenn also der Richter nicht sofort über die Attentate entscheidet, bevor er über die Hauptsache befindet (das aber geschieht oft), ist die ganze diesbezügliche Anstrengung vergeblich. Deswegen nämlich hat der Appellant den Streit über die Attentate begonnen, weil er hofft, dass vor der Erörterung der Hauptsache die Attentate zurückgenommen werden. Wenn aber diese Hoffnung vergeblich war, hat er sich umsonst um die Sache bemüht. Ist nämlich der Fall in der Hauptsa63 64 65
RKGO 1555, 3, 31, 12; JRA 1654, § 59. RKGO 1555, 3, 31, 14; G ail , Observationes, lib. 1, obs. 164, n. 2. RKGO 1555, 3, 31, 14.
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che entschieden, unterliegen die Attentate fast keinem weiteren Zweifel mehr. Manchmal aber hebt der Richter die Attentate durch Urteil auf, während die Hauptsache noch rechtshängig ist. Es bereitet jedoch sehr große Schwierigkeiten, wenn man befiehlt, der Unterrichter müsse die von ihm vorgenommene Vollstreckung widerrufen, bevor nicht die Hauptsache entschieden ist. Nur mühsam also wird angehalten, Folge zu leisten. Auf diese Weise kann der Appellant, auch wenn er es möchte, in der Hauptsache gewiss überhaupt nicht vorankommen. Aber vielleicht hätte er lieber jene Regelung angewendet, von der Gail berichtet, dass der Kläger die Rücknahme der Attentate verlangt, nachdem die Hauptsache zwischenzeitlich ausgesetzt wurde66. Thomas Michael bestätigt das in seiner Relation für das Assessorat: Die Kammergerichtsordnung wollte, dass beide Streitpunkte gemeinsam behandelt werden. Doch nach einigen Urteilen des Reichskammergerichts steht die Gerichtsordnung nicht entgegen, wenn es bei der Entscheidung über die Attentate durch Urteil verbleibt.67 Angewendet wurde diese Regelung in der Tat vor nicht allzu langer Zeit in dem sehr schwierigen Fall W. gegen H. Aber sie ist, wie wir gleich darlegen werden, für den Erfolg nicht hinreichend geeignet. Denn was geschieht, wenn der vorinstanzliche Richter irgendein mächtiger Fürst ist, der ein Urteil des Reichskammergerichts nicht akzeptieren will, das die Attentate aufgehoben hat? Es wird die Exekution durch die Fürsten angeordnet, welche seinem Reichskreis vorstehen, oder auch, wenn die Sache es erfordert, durch Fürsten der benachbarten Kreise. Was aber geschieht, wenn auch diese vor der Exekution zurückschrecken? Hier kommt man nicht weiter. Es ist bekannt, welche Schwierigkeiten eine Urteilsvollstreckung in unserem Reich hat. Aus diesem Grunde geschah es, dass in dem von uns erwähnten Fall auch die Hauptsache in der Schwebe blieb, weil die Attentate nicht abgestellt werden konnten. Hier stoßen wir gleich zu Anfang auf schwierige Probleme. Auf welche Weise sie zu lösen sind, ist kaum ersichtlich. Man muss wohl sagen, dass wenn hier etwas fehlerhaft ist, dann ist es nicht so sehr der Prozess, als vielmehr die Verfassung unseres Staates. Die Unterrichter müssten nämlich, wenn eine Appellation eingelegt ist und ihnen angezeigt wurde, von Attentaten absehen, oder sie hätten, wenn Attentate begangen sind, der Widerrufsanordnung des Reichskammergerichts Folge zu leisten. Oder wenn das nicht geschieht, dann muss die Vollstreckung gegen die Halsstarrigen möglich sein. Was also ist hier das 66 67
Gai l , Observationes, lib. 1 obs 146. n. 6. Kl oc k , Liber singularis, rel. 1, n. 66.
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richtige Mittel? Denn es ist schon schwer, jene, die sich dem Staat widersetzen, durch das Wort zu korrigieren, ganz zu schweigen von Taten. Unterdessen gibt es jedoch, wenn wir es richtig beurteilen, fast nichts, was uns im Zusammenhang mit den Attentaten so große Schwierigkeiten bereitet, wie dieses lange und ewig dauernde Appellationsverfahren. Denn da die Parteien ja wissen, dass in der Appellation die Hauptsache nicht so schnell entschieden wird, trachten beide gierig nach dem Nutzen des Besitzes. Das ist es, was den Appellaten veranlasst, sich um die Attentate zu bemühen, den Appellanten aber mehr, die Aufhebung der Attentate zu verfolgen als die Hauptsache. Wenn nämlich ein Urteil in der Hauptsache in Kürze zu erwarten wäre und damit in der Kürze der Zeit weder ein Verlust noch ein großer Gewinn, würden alle jene Winkelzüge, alle jene Intrigen entweder aufhören oder nicht so gravierend sein, oder, wenn mit ihnen begonnen wäre, könnten sie im Keim erstickt werden. Wenn nämlich die Hauptsache entschieden ist, ist zugleich die Frage der Attentate entschieden. Denn ist das vorige Urteil bestätigt, bleibt schwerlich eine Frage. Wenn aber das Urteil abgeändert wird, bereitet die Durchsetzung der Aufhebung der Attentate nicht so viele Schwierigkeiten, wie wenn sie vor der Entscheidung über die Hauptsache geschieht. Dann nämlich kann sich der Richter erster Instanz mit keiner weiteren Beschönigung herausreden, warum er die Attentate nicht widerruft. Auch wenn an die Kreishauptleute (qui Circulis praesunt) herangetreten werden muss, werden diese eher bereit sein, die Vollstreckung durchzuführen als wenn die Hauptsache noch nicht entschieden ist. Denn steht die Entscheidung in der Hauptsache noch aus, wird die Exekution ihnen schwierig erscheinen. Sie befürchten, dass das Urteil des ersten Richters deutlich bestätigt wird, in welchem Falle anschließend die entgegengesetzte Exekution zu machen wäre. Wenn deshalb das Appellationsverfahren so gestaltet werden könnte, dass der Appellationsrichter sofort ohne oder mit geringem Verzug zur Hauptsache schritte: Eine derartige Überlegung könnte auch förderlich für jene – zu beseitigenden – Schwierigkeiten sein, die aus den Attentaten erwachsen. Kommen wir nun also zum Verfahren in der Hauptsache. Das Hauptsachenverfahren hat zwei Teile, die Prüfung der Zulässigkeit (so wird sie allgemein bezeichnet) und der Begründetheit oder der Besonderheiten des Falles. Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung wird von der Gegenseite die Einrede der nicht ordnungsgemäß erhobenen oder fallengelassenen, deserten Appellation erhoben. Aber da wir ja schon vorher gesagt
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haben, dass die Formalien der Appellation nicht zu beanstanden sind, ist es nicht nötig, hierzu etwas auszuführen. Mit den Besonderheiten des Falles jedoch wollen wir uns befassen. Bei ihnen liegt nämlich das Herzstück der Sache. Das übrige sind Vorfragen, oder es handelt sich um Teilfragen. Der Weg, die Besonderheiten des Rechtsstreits im Appellationsverfahren zu behandeln, ist zweifacher Natur. Das Verfahren bei Appellation gegen ein Zwischenurteil läuft nämlich anders ab die Appellation gegen ein Endurteil. Denn die Appellation gegen ein Interlokut (das einfache natürlich, aber dennoch appellationsfähige) kann nur mit alten Tatsachen aus den vorinstanzlichen Akten begründet werden. Es wird also kein neuer Appellationslibell zugelassen. Vielmehr werden sofort, wenn das Appellationsinstrument an Stelle des Gravaminalibells vorgetragen ist, die erstinstanzlichen Akten der Entscheidung des Richters unterbreitet68. Dieser Weg ist gewiss kurz und gut. Aber die Appellation gegen das Endurteil kann nicht nur aus den erstinstanzlichen Akten, sondern auch mit neuen Tatsachen begründet werden. Dann wird also ein neuer Schriftsatz (libellus) vorgelegt und ein neuer Prozess begonnen. Gewiss können Appellanten, wenn es so beabsichtigt sein sollte, das Verfahren bei Appellation gegen ein Interlokut auch bei der Appellation gegen das Endurteil nutzen, sodass sie sich unmittelbar auf die erstinstanzlichen Akten beziehen können und sich so gänzlich eine neue Verhandlung ersparen69. So werden viele Schwierigkeiten, Kosten, Umschweife und Verzögerungen vermieden. Aber soviel an Einsparung gefällt den Appellanten nicht sehr. Denn da sie ja in der ersten Instanz unterlagen, der Gegner aber als Sieger hervorging, meinen sie, ihn mit etwas angreifen zu müssen, womit sie ihm den Sieg entreißen können. Denn sie befürchten, dass der Appellationsrichter durch das alleinige Durchlesen der vorinstanzlichen Akten nicht veranlasst wird, das Urteil des ersten Richters abzuändern. Wenn sie aber den Fall erneut vortragen, hoffen sie, dass sie ihn dadurch überreden werden. Denn da ja die Acta priora nicht ausreichten, den früheren Richter auf ihre Seite zu ziehen, befürchten sie, dass ebendiese Akten beim höheren Richter noch mehr Gewicht haben werden. Deshalb suchen sie nach neuen Begründungen, neuen Argumenten. Auch das, was schon vorher gesagt wurde, wollen sie bedeutend umfassender darlegen, damit sie mehr Gewicht erlangen. Während sie jetzt, gequält vom Schmerz über den Verlust des Prozesses, den Fall beträchtlich sorgfäl68 69
RKGO 1555, 3, 31, 6; JRA 1654, § 58. RKGO 1555, 3, 32, 5.
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tiger von jeder Seite abwägen, fällt ihnen etwas ein, von dem sie glauben, dass sie damit, wenn sie es vorher vorgetragen hätten, den Prozess hätten gewinnen können. Aber da die Möglichkeit zur Darlegung in der ersten Instanz ja vertan ist, haben sie die Hoffnung, dass mithilfe der zweiten oder letzten Instanz die Sache dann geheilt werde, wenn jener neue Einfall den früheren Tatsachen hinzugefügt wird. Es ist sicher deutlich, dass mit den Streitenden geschieht, was das Sprichwort sagt: Spät werden die Phrygier klug. Dennoch, die Gesetze haben geglaubt, ihnen in dieser Situation helfen zu müssen, und sie haben erlaubt, wie ich es mit den Worten des Ulpian ausdrücken möchte, die Appellation auf welche Weise auch immer zu verfolgen70. Sie haben also den Appellanten jene bis zum Überdruss wiederholbare Rechtswohltat des Darlegens des nicht Dargelegten und des Beweisens des nicht Bewiesenen gegeben. Sie wird auch beneficium l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) genannt. Die Rechtswohltat beruht nämlich maßgeblich auf diesem Gesetz. Nachdem also der Appellant, was häufig geschieht, sich auf dieses Beneficium berufen hat, bekämpfen sich die Parteien aufs Neue in der gleichen Art und Weise, auf die sie sich in der ersten Instanz gestritten haben, nämlich mit der Einreichung des Libells, mit der Litiskontestation, mit den Exzeptionen, der Replik, der Duplik, mit Beweisantritten und weiteren Prozesshandlungen. Es erscheint gewiss erstaunlich, dass alle Handlungen des Prozesses im gleichen Prozess zweimal, dreimal und weitaus häufiger aufs Neue getätigt werden, aber so ist das geschriebene Recht (lex scripta). Dennoch ist die reine Wiederholung der vorinstanzlichen Akten nicht immer gestattet. Vielmehr werden die Appellanten nur dann erneut gehört, wenn sie glauben, etwas Neues zu haben, oder wenn sie eine Begründung umfangreicher darlegen wollen, die in der ersten Instanz nicht hinreichend genug ausgeführt wurde. Dann ist es erlaubt, das nicht Dargelegte darzulegen und das nicht Bewiesene zu beweisen. Wenn aber nichts Neues nachzutragen ist, wird die nochmalige Darlegung des Falls nicht zugelassen. Dann ist vielmehr die Sache auf Grundlage der Acta priora für beschlossen anzunehmen71. Daraus wird das allein maßgebliche Fundament deutlich, auf dem der ganze Appellationsprozess beruht, das gewiss die Grundfesten des Hauptverfahrens selbst berührt. Dessen, sage ich, allein maßgebliche Grundlage ist die Rechtswohltat l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu 70 71
Dig. 49, 1, 3 [fin.]. RKGO 1555, 3, 33, 1 und 2; JRA 1654, § 71.
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consultationum (Cod. 7, 63, 4). Von daher kommt es, dass regelmäßig im Appellationslibell diese feierliche Beteuerung zu hören ist: „Ich werde darlegen das nicht Dargelegte, ich werde beweisen das nicht Bewiesene.“ Wenn sich die Appellanten auf diese Rechtswohltat nicht berufen können, sind sie verpflichtet, sich unmittelbar auf die Akten des Vorprozesses zu beziehen und die Sache zu beschließen, so wie es bei der Appellation gegen ein Zwischenurteil geschieht, in der jene Rechtswohltat nicht Platz greift. Dann haben wir im Appellationsverfahren keinen neuen Prozess. Jetzt aber ist zum Darlegen des nicht Dargelegten und zum Beweisen des nicht Bewiesenen ein neues Gerichtsverfahren oft über viele Jahre erforderlich. Die ganze Rechtswohltat mit so weitreichenden Folgen müsste also sehr eingehend überdacht werden, damit die Beschaffenheit des neuen Verfahrens, das in Appellationssachen beginnt, deutlich wird. Die Sache bereitet nämlich nicht nur Rechtsgelehrten Schwierigkeiten, sondern auch der kammergerichtlichen Praxis. Im Allgemeinen gibt es drei unterschiedliche Punkte, über die im Appellationsverfahren diskutiert wird, welche deshalb besonders der Appellant in der Appellationsschrift prüfen muss; nämlich, wie ich es mit den Worten des Regensburger Reichsabschieds aus dem Jahre 1654 wiedergeben möchte „1. worin er sich beschwert/ 2. was er besser zu beweisen/ oder 3. von newen vorzubringen gedencke“.72 Diese Punkte sind auch hinreichend deutlich zu unterscheiden durch den Gemeinen Bescheid vom 30. Oktober des Jahres 165573, mit welchem dem Anwalt der Appellanten aufgegeben wird, dass er die einzelnen Punkte am Seitenrand des Appellationslibells vermerkt, ob nämlich das, was vorgetragen wird, die Beschwer darstellt oder einen neuen Vortrag oder einen neuen Beweis. Da das aber erst kürzlich eingeführt wurde, sind die Anwälte der Verfahren nicht damit vertraut, und deshalb ist es ihnen nicht so klar, dass die drei Hauptpunkte genau zu unterscheiden sind und jeder mit einzelnen Hinweisen gekennzeichnet werden muss. Deshalb wird die Tatsache, wie die Appellationsschrift richtig abzufassen ist, vom Reichskammergericht heute für schwierig erachtet. Den Grund, warum das so festzulegen war, werden wir später darlegen. Jetzt aber ist deshalb von uns darzustellen, auf welche Weise sich jene drei unterscheiden, weil von daher klar wird, was die Berechtigung, Neues darzulegen, umfasst und welche Möglichkeiten sie zur Betreibung eines neuen Prozesses im Appellationsverfahren verschafft. 72 73
JRA 1654, § 64. Gemeiner Bescheid vom 30. Oktober 1655, § 7.
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Nach römischem Recht soll der Appellant, wenn er vor dem Appellationsgericht verhandelt, die Appellationsgründe wiedergeben74. Heutzutage werden die Appellationsgründe Beschwerungen (gravamina) genannt75. Aber es gibt zweierlei Beschwerungen, alte und neue. Alte Beschwerungen nenne ich die, welche im Einklang mit den vorinstanzlichen Akten geltend gemacht werden, und diese werden vorzugsweise und speziell Gravamina genannt. Nova, also neue Beschwerungen, sind die, derer in den früheren Akten keine Erwähnung getan ist. Man kann es so sehen, dass eine bestimmte Art von Beschwerungen zwischen diesen liegt, wenn nämlich den Appellanten erlaubt wird, schon vorher Vorgetragenes besser zu erklären und darzulegen76. „Wofern auch die eine oder andere Partei in deme, was in der ersten Instanz allbereits einkommen/ die Wahrheit und die Umstände der Sache besser erläuteren/ und ein mehrers außführen/ oder beweisen wolte/ soll es ihnen gleichfalls ohnverwehrt seyn.“ Aber es erscheint leicht möglich, dass sich das auch auf neue Beschwerungen erstreckt. Wir wollen also die einzelnen Beschwerungen gesondert betrachten. Beschwerungen, die schon aus der vorinstanzlichen Akte ersichtlich sind, macht der Appellant geltend, wenn er die Gründe darlegt, welche seiner Meinung nach den vorigen Richter hätten veranlassen müssen, den Fall nicht für den Gegner, sondern zu seinen Gunsten zu entscheiden. Ich habe aber schon vorher gewarnt, das nicht dahin zu verstehen, als ob es erlaubt sei, früheren Vortrag wörtlich zu wiederholen. Das brächte keinen Vorteil. Ja, es würde außer Zeitverschwendung, Kosten und Arbeit nichts als Widerwillen verursachen. Auf welche Weise die Appellationsgründe wiederzugeben sind, kann man diesen Worten Justinians entnehmen: „Sowohl die Parteien wie die Schriftsatzverfasser sollten sich hüten, weitschweifige Ausführungen zu machen und das, was schon vollständig dargelegt wurde, erneut vorzutragen. Vielmehr obliegt es ihnen, alles das aufzuschreiben, womit sie in kurzer Darstellung die Gründe für die Einlegung des Rechtsmittels erklären können.“77 Nichts anderes also als eine kurze Darstellung ist erlaubt. Das übrige kann den Akten der Vorinstanz, welche deshalb herausgegeben zu werden pflegen, vom Richter selbst entnommen werden. Dem entspricht, was der Kaiser an derselben Stelle an74 75 76 77
Dig. 49, 1, 3, 3; Dig. 49, 1, 4, 1; Dig. 49, 1, 18; Dig. 49, 1, 28, 2; Dig. 49, 9; Bri s so n , De Formulis. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 123, n. 4. JRA 1654, § 74. Cod. 7, 62, 39, 1.
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fügt. „Weil die beigebrachten Schriften der Anwälte und die Verzeichnisse der ehrenwerten und vertrauenswürdigen Schreinsherren ausreichen, alles ganz deutlich zu veranschaulichen.“ Ob aber die Appellanten sich heute an diese Grenzen halten, werden wir unten sehen. Jetzt kommen wir zu den Nova, den neuen Beschwerungen. Es ist gestattet, nicht nur kurz über sie zu berichten, sondern sie umfassend abzuhandeln. Die neuen Beschwerungen gliedern sich in die neu darzulegenden und die neu zu beweisenden. Die Rechtswohltat hat nämlich zwei Ausgestaltungen: non deducta deducam und non probata probabo. Wir wollen uns zunächst die Berechtigung, Neues darzulegen, ansehen. Neues trägt entweder der Kläger oder der Beklagte vor. Jedem von ihnen steht diese Möglichkeit offen. Auf welche Weise aber der Kläger Neues vortragen kann, ist durchaus nicht klar. Denn warum der Kaiser sagte, dass es erlaubt sei, solche neuen Behauptungen vorzubringen, „welche sich nicht auf neue Verhältnisse beziehen, sondern aus dem hervorgehen und damit verbunden sind, was, als dem vorigen Richter vorgetragen, bekannt ist,“ 78 das ist nicht hinreichend deutlich. Hartmann Pistoris, der von allen dieses Thema am sorgfältigsten behandelt haben dürfte, legt die Meinung einiger Gelehrter dar und setzt sich mit ihnen auseinander79. Dass aber diese Problematik aufgekommen ist, muss nicht Wunder nehmen. Denn die Appellation wird dahin verstanden, dass sie den Status des Streits auf den Zeitpunkt der Litiskontestation zurückführt. Und deshalb wird das, was nach der Streitbefestigung in der ersten Instanz erlaubt war, auch im Appellationsverfahren als erlaubt angesehen. Darüber hinaus ist hinreichend bekannt, wie kontrovers diese Frage von Rechtsgelehrten gesehen wird, ob und inwieweit es erlaubt ist, nach der Litiskontestation die Klageschrift abzuändern oder nachzubessern.80 Und deshalb stellt Hartmann Pistoris fest, soweit es nach der Litiskontestation in der ersten Instanz erlaubt ist, irgendetwas bezüglich der Klage neu vorzutragen oder ihr hinzuzufügen – vorbehaltlich der Änderung des Wesensgehalts –, soweit ist es auch im Appellationsverfahren erlaubt81. Und deshalb hängt die Möglichkeit zu neuem Sachvortrag von der Einschätzung des Klägers ab. Es ist also nicht gestattet, etwas anderes zu verlangen, noch eine völlig andere Klage zu erheben als die, welche in der ersten Instanz erhoben wurde. Es darf jedoch 78 79 80 81
Cod. 7, 63, 4. Pis t ori s, Quaestiones, lib. 4, quaest. 23, n. 19. Vgl. Vul te ju s , Tractatus, lib. 2, cap. 4, n. 19. Pis t ori s, Quaestiones, lib 4, quaest. 23, n. 21.
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eine neue Rechtsgrundlage (causa) vorgetragen werden, welche, auch wenn sie in der ersten Instanz nicht so vorgetragen (allegata) wurde, aber dennoch unter eine in der Vorinstanz eingereichte Klage fällt. Die Sache wird aus den Worten des Maranta deutlich, denen wir zustimmen. „Wenn ich im ersten Prozess ein Rind verlangt habe, kann ich in der Appellationssache kein Pferd verlangen und Beweise über das Pferd vorlegen. Gleichermaßen kann ich, wenn ich eine Klage verloren habe und unterlegen bin, im Appellationsverfahren den gleichen Anspruch nicht mit einer anderen Klageart (alia actione) verfolgen, weil es ein neuer Vorgang ist. Anders ist es, wenn in der Appellation die Rechtsgrundlage (causa) verändert wird, sofern sie generell vom ersten Klaglibell abgedeckt ist; sodass ich, wenn ich eine Sache unter dem Gesichtspunkt des Eigentumsrechts herausverlangt habe – nicht beschränkt auf irgendeine spezielle Rechtsgrundlage – und daraufhin im ersten Prozess nach Kaufrecht geklagt habe und unterlegen bin, ich in der Appellation die Sache wegen eines Vermächtnisses oder auf anderer Grundlage verfolgen darf, durch die das Eigentum erlangt werden kann, weil diese neue Rechtsgrundlage unter die erste Klage, die allgemein von Eigentum sprach, fällt.“82 Dieses Beispiel wird häufiger von Rechtsgelehrten verwandt. Hartmann Pistoris fügt folgendes hinzu: „Wenn Du mir zuerst deine Sache als Pfand versprochen hast und darauf dieselbe Sache dem Titius verpfändest und drittens wieder an mich und ich gegen Titius allgemein geklagt und mich bei der Verfolgung der Klage auf die spätere Verpflichtung gestützt habe und ihm, der vor der späteren Verpflichtung die Sache als Pfand entgegengenommen hat, unterlegen bin, dann kann ich im Appellationsverfahren nichts desto weniger die erste Verpflichtung vortragen und gegen Titius durchsetzen.“ Es können in der Tat unendlich viele andere Beispiele angeführt werden und das für fast alle Arten von Klagen. Denn ein und dieselbe Klage kann auf verschiedenen Rechtsgründen basieren. Es verlangt zum Beispiel jemand Zinsen aus Vertrag, die nach Treu und Glauben in der Vereinbarung vorgesehen seien. Er setzt sie nicht durch. Im Appellationsverfahren verlangt er sie aus Verzug. Das kann mit einer im Kern nicht abgeänderten Klage erfolgen. Oder der Kläger klagt nach dem Untergang der an ihn verkauften, aber noch nicht übergebenen Sache auf Entschädigung. Er sagt, dass der Verkäufer die Gefahr übernommen habe. Da er damit nicht durchdringt, trägt er in der Appellation vor, die Sache sei durch Verschulden des Verkäufers untergegangen. Welch weiten Spielraum Kläger haben, Neues vorzutragen, wird daraus sattsam deutlich. Auch der Beklagte kann eine neue Verteidigung wählen oder eine neue 82
Mara n ta , Speculum Aureum, p. 6, tit. de appellatione et eius partibus, n. 163.
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Einrede. Zum Beispiel verneint derjenige, von dem als angeblich illegitimem Kind in der ersten Instanz eine Erbschaft herausverlangt wird, dass er unehelich geboren sei. Weil er unterlegen ist, sagt er in der Appellation, er sei legitimiert worden. Oder wer in der ersten Instanz gesagt hat, dass eine Schuld getilgt sei, kann in der Appellation einwenden, sie sei verjährt. Entsprechend kann der Kläger eine neue Replik erheben. Ein weiteres Beispiel: Jemand beansprucht ein Lehen. Als ihm entgegengehalten wird, dass er vom ersten Nehmer nicht abstamme, ist er nach langem Streit über die Angelegenheit unterlegen. In der Appellation repliziert er, das Lehen sei erblich und es sei deshalb ausreichend, dass er der Nächstfolgende nach dem verstorbenen Lehnsnehmer sei. Über diese Frage beginnen die Parteien nun also den Streit aufs Neue. Der Beklagte kann dagegen eine neue Duplik vortragen. Aber wir haben über das, was neu dargelegt werden darf, nun genug gesagt. Neue Beweismittel sind so viele erlaubt, wie es gibt. Es können neue Rechtsvermutungen vorgetragen werden, neue notarielle Urkunden (instrumenta) dürfen vorgelegt werden, es kann ein Eid angeboten werden, es kann Augenscheineinnahme verlangt werden. Das geht solange, bis die Sache frei von Zweifeln ist. Fraglich ist die Behandlung von Zeugen. Zwar ist sicher, dass neue Beweisartikel (die aus neuem Vortrag hervorgehen) durch Zeugen in der Appellation bewiesen werden können. Aber bezüglich der Beibringung von Zeugen über in der Vorinstanz vorgelegten Beweisartikel ist der Streit zwischen Rechtsgelehrten so unversöhnlich, dass es nach dem Urteil etlicher einer kaiserlichen Entscheidung bedarf83. Denn da es dem römischen Recht zufolge ja verboten ist, nach Offenlegung und Kenntnisnahme von Zeugenaussagen entweder zu direkt gegenteiligen Beweisartikeln neue Zeugen zu benennen oder dieselben zu wiederholen – aus Furcht vor einer Verleitung zur Falschaussage84 - wird gefragt, ob sich das auch auf die Appellationsinstanz erstreckt. Die Ausleger weichen in beide Richtungen so weit voneinander ab, dass schwer zu sagen ist, welche Seite stärker rezipiert ist85. Die einen sagen, dass jenes Gesetz, welches neue Zeugen verbietet, nachdem Zeugenaussagen bekannt gegeben sind, auf eben diese eine Instanz beschränkt sei. Im übrigen gebe es mit dem Appellationsgericht eine 83 84 85
Ro la nd o a Va lle , Consilia, cons. 45, vol. 2. Cod. 4, 19; Nov. 90, 4; Authentica „atqui semel“ zu Cod. de probationibus (Cod. 4, 19). Kle s l , Tractatus, cap. 6, n. 30.
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völlig neue Instanz, in der es erlaubt sei, das nicht Dargelegte darzulegen und das nicht Bewiesene zu beweisen. Deshalb werde von der allgemeinen Zulassung neuer Beweismittel auch die Benennung von Zeugen sowohl zu alten wie zu neuen Beweisartikeln erfasst. Andere aber vertreten eine davon abweichende Meinung mit ernst zu nehmender Begründung. Wo Sinn und Zweck der gleiche sei, da müsse das gleiche Recht Anwendung finden. In der Tat sei der Grund für jenes Gesetz die Furcht vor der Verleitung zu einer falschen Aussage. Denn wenn jemand, nachdem er die Aussagen der Zeugen kennt und feststellt, dass sie seinem Vortrag nicht entsprechen, neue Zeugen benennt oder die alten nochmals benennt: Was anderes können wir argwöhnen, als dass er diese neuen Zeugen verleitet und instruiert hat, damit sie den Beweismangel (defectum), den er bei den früheren Zeugen feststellt, ausgleichen (suppleant)! Weil er also auch im Falle der Appellation von diesem Argwohn nicht befreit werde, könne er deswegen in der zweiten Instanz nicht mehr als in der ersten Instanz mit seinen neuen Zeugen gehört werden. Ich verschweige die übrigen Argumente. Und diese letztgenannte Meinung ist deutlich durch das kanonische Recht bestätigt worden86. Dass sie sachgemäß ist und weitgehend übernommen wurde, erkennt Mynsinger an87, und Gail88 billigt sie in vollem Umfang. Dennoch ist inzwischen die erstgenannte Auffassung, die für die Parteien günstiger zu sein scheint89, bei uns und vor allem am Reichskammergericht übernommen worden (usu recepta est). Mynsinger90 und andere91 bringen Beispiele dafür. Ja sogar auch das Reichsgesetz, veröffentlicht in der alten Kammergerichtsordnung aus dem Jahre 1507, zeigt ausdrücklich, wie diese Auffassung gebilligt wird92. Es wird also auch dadurch deutlich, in welchem Umfang neue Beweismittel im Appellationsverfahren möglich sind. Damit aber das, was bisher gesagt wurde, noch klarer wird und auch der Grund deutlich wird, warum diese Rechtswohltat der Appellanten jene zwei Hauptpunkte beinhaltet, nämlich erneut etwas darzulegen und zu beweisen, ist hervorzuheben, wie sehr in jedem Streit zweierlei berücksichtigt werden 86 87 88 89 90 91 92
X. 2, 20, 17; Clem. 2, 8, 2. My ns i nge r , Observationes, cent. 1, obs. 41 in fin. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 48, n. 2. Bre d e r od e , Tractatus, p. 2, t. 35, § probatio quemadmodum fiat. My ns i nge r , Observationes, cent. 1, obs. 41. Gy l ma n n , Symphorema III, Stichwort: Testes; Ru la nt, Tractatus, lib. 7, de public. et quae eam sec., cap. 2, n. 13. RKGO 1507, tit. 39.
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muss: die Rechtsfrage und die Argumente der beweisenden oder widersprechenden Partei93. Deshalb ist in Gerichtsverhandlungen für die Parteien und deren Anwälte wie auch für die Richter zweierlei besonders zu beachten: in erster Linie die Hauptfrage, welche sich im Streit befindet, dann der Beweis durch die Partei, die beweisbelastet ist (cui hoc onus incumbit). Die Hauptfrage ist diejenige, worum die Parteien vor allem streiten und von deren Entscheidung der Sieg des ganzen Falles abhängt. Und deswegen nennen die Rhetoriker dies den status causae, den Streitgegenstand, auch τό κρινόμενον (to krinómenon). Der Streitgegenstand besteht nicht aus dem, was der Kläger begehrt und was der Beklagte zurückweist, sondern vielmehr im Rechtsgrund des Anspruchs oder dessen Zurückweisung. Wenn nämlich der Beklagte den Rechtsgrund des Anspruchs, den der Kläger behauptet, verneint; oder wenn der Kläger den Rechtsgrund für die Ablehnung, den der Beklagte behauptet, verneint, dann kommt man zu der Frage, um welche sie sich vor allem bemühen. Von deren Entscheidung hängt nämlich der Sieg ab. Der Streitgegenstand ist also die von der einen Seite behauptete, von der anderen Seite aber bestrittene Voraussetzung, welche den Grund oder die Grundlage der zwischen ihnen bestehenden Meinungsverschiedenheit darstellt. Von daher wird klar, auf welche Weise der Streitgegenstand zu ermitteln ist. Wenn nämlich der Beklagte eine von zwei Voraussetzungen einer Schlussfolgerung bestritten hat, mit welcher der Kläger seine Klage in der Klagschrift begründet, dann liegt in dieser der Streitgegenstand. Und wenn eine vorgeordnete Voraussetzung bestritten wird, geht es um eine Rechtsfrage, wenn eine nachgeordnete bestritten wird, um eine Tatsachenfrage. Wenn aber der Beklagte keine Voraussetzung schlicht bestreitet, sondern sich gegen die vorgeordnete Voraussetzung wendet, mag es επί τό πλεῖστον (epì tò pleĩston, meistens) erlaubt sein, dennoch das eine oder das andere als Einwendung zuzulassen. Wenn aber der zugrunde liegende Sachverhalt offensichtlich in der Einrede enthalten ist, dann ist der Streitgegenstand nicht der Klage, sondern der Einrede zu entnehmen. Wenn nämlich der Kläger eine Voraussetzung jener Schlussfolgerung bestritten hat, mit welcher der Beklagte seine Einrede vorträgt, dann liegt darin der Streitgegenstand. Wenn aber der Kläger irgendeine Voraussetzung der vorgetragenen Einrede nicht direkt bestreitet, sondern eine Replik vorbringt, dann ist der Streitgegenstand der Replik zu entnehmen. Entsprechend verhält es sich im Falle der 93
Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, lib. 3, cap. 14, n. 4.
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Duplik. Es wird erlaubt sein, das anhand eines einfachen Beispiels zu erklären. Jemand verlangt 100. Der andere bestreitet, dass er irgendetwas schulde. Hier ist der Streitgegenstand nicht, ob 100 geschuldet werden, sondern man muss weiter gehen und den Grund des Streits suchen. Hören wir zunächst den Kläger. Seine Klageschrift lautet so: Wem 100 leihweise gegeben sind, der muss genau das zurückgeben. Dem Titius sind 100 gegeben worden. Also muss er ebensoviel zurückgeben. Wenn Titius eine Voraussetzung bestritten hat, zum Beispiel eine tatsächliche, haben wir den Streitgegenstand, ob an Titius genau 100 gezahlt worden sind. Aber vielleicht verneint er keine Voraussetzung direkt, sondern er erhebt eine Einwendung. Der Streitgegenstand ist also noch nicht klar. Kommen wir deshalb zur Einwendung. Sie lautet: Ein Mündel schuldet aus vertraglicher Haftung ohne Zustimmung seines Vormunds nichts. Als mir 100 gezahlt wurden, war ich noch Mündel. Also schulde ich nichts. Hat wiederum der Kläger eine Voraussetzung bestritten, liegt der Streitgegenstand dort. Aber vielleicht bestreitet er nicht einfach eine Voraussetzung, sondern verwendet die folgende Replik: Das Mündel schuldet doch etwas, soweit es bereichert ist. Du bist durch die dir gezahlten 100 bereichert worden. Also schuldest Du. Der Beklagte wird heftig die faktischen Voraussetzungen in Abrede nehmen. Hier haben wir schließlich den Streitgegenstand, ob Titius die an ihn gezahlten 100 so nutzbringend angelegt hat, dass er als bereichert angesehen werden könnte. Ihr werdet sehen, wie die Parteien darauf aus sind und wie erbittert sie darum streiten. Deshalb trägt der Kläger also alle seine Argumente, Rechtsvermutungen, Zeugen, Urkunden und sonstiges dieser Art vor, damit er beweisen kann, dass Titius die ihm gezahlten 100 nutzbringend vereinnahmt hat und so bereichert wurde. Nachdem das bewiesen ist, hat es, was der Kläger beabsichtigt, zur Folge, dass Titius zahlen muss. Wird das aber nicht bewiesen, bleibt es dabei, was der Beklagte will, dass er gar nichts schuldet. Manchmal aber liegt nicht einer, sondern es liegen mehrere Streitgegenstände vor. Wie hoch es andererseits zu veranschlagen ist, den Streitgegenstand richtig ermittelt zu haben und welch schwere Fehler dabei gemacht worden sind und bis heute gemacht werden, ist vorzüglich von Nicolaus Vigelius dargestellt worden. Es ist nicht unsere Aufgabe, das nun weiter zu vertiefen. Es reicht uns, darauf hingewiesen zu haben, dass der Streitgegenstand entweder der Klage oder der Einrede, der Replik oder Duplik zu entnehmen ist. Daraus folgt, dass neu vorzutragen nichts anderes ist als ein neuer Streitgegenstand. Von daher ist klar, weshalb die Rechtswohltat des
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Gesetzes l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) jene zwei Hauptpunkte beinhaltet: die Berechtigung, Neues vorzutragen, und die, erneut Beweis anzutreten. Der gesamte Zweck des Prozessierens und des Urteilens besteht ja vor allem in diesen beiden Dingen, zuerst in der Herausarbeitung des Streitgegenstands, dann in der Beweisführung und Beweisaufnahme (in probationibus inveniendis et examinendis et examinandis). Von daher kommt es, dass die Appellanten, weil es ihnen erlaubt ist, vor dem Appellationsgericht erneut zu prozessieren, die doppelte Möglichkeit haben, sowohl Neues vorzutragen, das heißt einen neuen Streitgegenstand zu begründen, als auch neu zu beweisen. Es erhellt nämlich, wie viel mit dieser Rechtswohltat den Appellanten eingeräumt worden ist. Denn der Streitgegenstand ist quasi die Basis und das Fundament des gerichtlichen Verfahrens. Nachdem er erneuert wurde, ist es notwendig, alles übrige zu erneuern und von Anfang an zu behandeln. Das ist der Grund, warum ein völlig neues Verfahren vor dem Appellationsgericht eingeführt wurde. Für jenes neue Verfahren müssen wir noch bedenken, dass es nicht für jeden Fall gut geeignet sein könnte, und auch, ob es nicht zum Teil Schwierigkeiten bereitet. Sogleich beschleicht uns in der Tat ein sehr starker Zweifel bezüglich der Grundlage des Verfahrens, der Rechtswohltat gemäß l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4). Deswegen ist das ganze Verfahren, das in der Appellationsinstanz von neuem beginnt, zweifelhaft. Zunächst erregt schon die Bezeichnung beneficium (Rechtswohltat) einen nicht geringen Argwohn in uns. Jenes Wort scheint nämlich darauf hinzudeuten, dass die Vergünstigung nicht so sehr aus einer Notwendigkeit heraus, sondern den Appellanten vielmehr als eine gewisse Wohltat gewährt wurde. Aber die Wiederherstellung des ganzen Verfahrens und aller seiner Teile zu gewähren oder wenigstens einiger stellvertretender Teile - von welchem Wert ist eine derartige Vergünstigung? Oft schon habe ich gesagt, dass die Gesetzgeber eine viel zu große Nachsicht geübt haben, indem sie den streitenden Parteien eine so weitreichende Möglichkeit einräumten, den Prozess in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen. Aber das wird bisher vielleicht noch als nicht so gewichtig angesehen. Wenn wir uns nun aber den gesamten Rechtsstreit (processum causarum), der in den verschiedenen Instanzen verhandelt wird, vor Augen führen, finden wir ganz überwiegend Missbrauch, absichtliche Verzögerung, Mängel
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und Unannehmlichkeiten. Sie können durch nichts vermieden werden. Eine so große Möglichkeit zu Unbesonnenheit und Kalumnien bietet jene Rechtswohltat. Schon damals, als er das Gesetz l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) erläutern sollte, welches als Kernstück jener Rechtswohltat anzusehen ist, sagte Cynus einmal, dass es einem wie eine Lilie zwischen Dornensträuchern vorkomme; welches so bemerkenswerte Wort von mehreren anderen Autoren widergegeben wird94. Wenn wir aber deutlich näher herantreten, schwindet die Gestalt jener Lilie, oder besser deren Schattenbild, vollständig aus den Augen. Wir finden statt ihrer weitaus mehr Dornensträucher als die, welche Cynus gestochen haben. Deswegen werden wir eine umfassende Untersuchung über jene Rechtswohltat anstellen. Das aber, so scheint es, wird eine schwierige Untersuchung sein. Es gilt nämlich den gesamten Appellationsprozess, der sicher auch die Anspruchsgrundlagen (merita causae) umfasst, zu überprüfen. Wir werden über das Verfahren reden, soweit es um die streitenden Parteien geht. Denn dass der Richter in der Appellation neu entscheidet, das ist nicht zu beanstanden. Aber wir bezweifeln, ob man den Parteien einräumen muss, neu zu prozessieren, vor allem, ob die Untertanen der Reichsstände, die sich an die höchsten Reichsgerichte wenden, dort Neues vortragen und beweisen dürfen. Da dies ja eine Frage von großer Bedeutung ist, muss sie auch angemessen und sorgfältig behandelt werden. Wir werden mit dem beginnen, was sich als erstes von allen anbietet und was uns am meisten von allem ins Auge springt. Zunächst werden wir also einige schwerwiegende (ich weiß nicht, ob ich sagen darf, absurde) Konsequenzen darstellen, welche aus der Rechtswohltat, Neues vorzutragen, erwachsen. Wir werden auch aufzählen, wie viel Schädliches und wie viel an Unannehmlichkeiten sie für uns hervorgebracht hat. Wo sich diese aber zeigen werden, zwingt uns die Notwendigkeit, nach Abhilfe zu suchen. Für die Suche nach Abhilfe müssen Gründe und Ursachen der Missstände erforscht werden.
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Ma sc ard i , Conclusiones, 119, n. 1; Pi s tor i s , Quaestiones, lib. 4, quaest. 23, n. 1.
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Kapitel III: Darstellung verschiedener schädlicher Folgen, die aus neuem Vortrag in den Appellationen erwachsen
Erste schädliche Folge Wenn wir sehen, mit welchen Vorwänden Appellanten einen Fall vom unteren Gericht zum höheren bringen, stellen wir fest, dass sie sich über keine andere Sache so beklagen, wie über die Ungerechtigkeit des Richters. Sie sagen, dass er (vorbehaltlich der Ehre dessen, über den sie klagen) schlecht entschieden habe. Deshalb seien sie gezwungen, die Hilfe eines Höheren zu erbitten, damit der ihnen bessere Gerechtigkeit verschaffe. Bekannt ist das auch aus Appellationsformeln. Nichtsdestoweniger gehen sie dennoch unverzüglich zum Appellationsgericht und wollen das nicht Vorgetragene vortragen und das nicht Bewiesene beweisen. Es ist wirklich erstaunlich, dass sie sich über den Richter beklagen und nun dennoch den Fall mit neuen, dem vorigen Richter nicht dargelegten Gründen gewinnen wollen. Sie scheinen nämlich zu zweifeln, ob sie in der ersten Instanz genug an Argumentation vorgetragen haben, um Vertrauen für sich zu erwecken. Denn wenn sie das nicht befürchteten, hätten sie es nicht für notwendig erachtet, in der zweiten Instanz neue Tatsachen vorzulegen. Nun hat also offenbar nicht so sehr der Richter schlecht entschieden, vielmehr haben sie selbst einen Fehler gemacht, indem sie das ausließen, was sie nun vor dem Appellationsgericht vortragen wollen. Über ihre eigene Nachlässigkeit oder auch ihr Unglück beklagen sie sich, nicht über den Richter. Mit welcher Stirn beschuldigt der, der selbst gefehlt hat, den Richter der Ungerechtigkeit? Schwerwiegender noch ist, dass auch der höhere Richter, obwohl er auf neuer Tatsachengrundlage (ex novis causis) das Urteil abändert und es den Anschein hat, dass das vorige Urteil auf Grundlage der erstinstanzlichen Akten richtig abgefasst sei, nichtsdestoweniger ausspricht, dass der vorige Richter falsch entschieden habe. „Das von Richtern voriger instantz übel geurtheilt/wol davon appelliert“, wie die gebräuchliche Formel lautet. Aber geschieht dem vorigen Richter nicht Unrecht, wenn behauptet wird, er habe schlecht geurteilt, auch wenn er in Übereinstimmung mit dem, was ihm vorgetragen worden ist, gut entschieden hat? Es fordert zum Beispiel je-
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mand 1.000. Er bringt Zeugen bei. Diese verneinen teilweise beim Verhör durch den Richter, dass sie irgendetwas über die Schuld wüssten, zum Teil antworten sie unterschiedlich. Alles in allem beweisen sie nichts. Der Richter entscheidet in Übereinstimmung mit dem Gesetz, das vorsieht, den Beklagten loszusprechen (absolvi), wenn der Kläger den Beweis nicht geführt hat. Nachdem dieses Urteil ergangen ist, legt der Kläger sofort Appellation ein. Unschwer erkennt der Kläger aber, dass nun neue Argumente notwendig sind. Als er diese sucht, findet er sie überzeugend in irgendeiner Urkunde. Die Sache ist gerettet. Nachdem er das Beweismittel in die Appellation eingeführt hat, beklagt er sich laut über den Richter der ersten Instanz, wie ungerecht er urteilte, als er den Beklagten freisprach. Warum? Sieh nur die Urkunde! Ob er das nun dem Richter der ersten Instanz vorgelegt hatte? Nein, keineswegs! Er beschwört sogar auch, dass er in der vorigen Instanz nicht bedacht habe, dass ihm diese Urkunde zu Gebote stehe. Er habe sie nun endlich ausfindig gemacht, nachdem er begonnen habe, in seinen Dingen Nachforschungen anzustellen. Dennoch entscheidet der Appellationsrichter, dass der Richter der vorigen Instanz übel geurteilt hat, und ändert die Entscheidung ab. Geschieht hier nicht dem Richter der unteren Instanz, dem ein unrichtiges Urteil vorgehalten wird, Unrecht? Gewiss doch hat er, wenn er den Beklagten nicht verurteilt hat, nachdem der Kläger den Beweis nicht führen konnte, richtig entschieden, da er ja in Übereinstimmung mit dem Gesetz urteilte. Außerdem ist es Aufgabe des Richters, nach Schriftsätzen und Beweisergebnissen zu entscheiden95. Ihm kann also nicht angelastet werden, dass er nicht unter Berücksichtigung eines Schriftsatzes entschieden hat, welcher in der ersten Instanz nicht eingereicht wurde. Denn gewiss ist der Richter von Rechts wegen gehalten, das Recht zu ergänzen (supplere), nicht aber Tatsachen. Lang wird über die schlechte Rechtsanwendung des Vorrichters geklagt, wenn ein völlig neuer Streitstand im Appellationsverfahren geschaffen wurde. Wenn zum Beispiel derjenige, welcher im vorangegangenen Rechtsstreit gesagt hatte, dass eine Schuld verjährt sei, das aber nicht beweisen konnte, in der Appellation nachweist, dass die Verpflichtung erfüllt ist, was hat denn dann der Richter verschuldet, der eine ihm nicht vorgetragene Tilgung nicht beachtet hat? Ist dem Richter, obwohl er seine Pflicht erfüllt hat, dennoch eine Schuld anzulasten? Es muss für die Untertanen ausreichend sein, dass sie die Hilfe eines Höheren anrufen kön95
Dig. 1, 18, 6, 1.
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nen, wenn sie Unrecht vom Richter oder von der Herrschaft (Magistratu) erleiden. Ich weiß aber nicht, warum es gestattet ist, dass der höhere Richter nichtsdestoweniger den Klagen derer Gehör schenkt, denen durch die Landesherrschaft kein Unrecht geschehen ist. Sie sagen, unsere Reichsstände (denn in deren Namen urteilen die Gerichte, gegen deren Entscheidungen Appellation zu den höchsten Gerichten des Reichs eingelegt wird) hätten schlecht geurteilt, auch wenn sie richtig entschieden haben. Auf welche Weise man das aber vermeiden kann, nachdem den Appellanten das Recht, Neues vorzutragen, eingeräumt wurde, weiß auch ich nicht.
Zweite schädliche Folge Weiter, wenn es einmal vorkommt, das Neues nach Beendigung der Instanz bekannt wird, das während des Verfahrens nicht vorgetragen werden konnte, muss man dann unmittelbar an das höhere Gericht herantreten und sind die Nova dort zu behandeln? Warum wird nicht besser im gleichen erstinstanzlichen Verfahren neu (ex integro) vorgetragen und es ergeht erneut ein Urteil? Ersteres ist sicher vernünftig, wenn die Partei glaubt, dass sie den Fall dem Richter hinreichend dargestellt und soviel an Argumenten wie zum Obsiegen erforderlich zusammengetragen hat, nichtsdestoweniger aber annimmt, der Richter habe mit Absicht oder irrtümlich falsch entschieden. Dann muss notgedrungen der höhere Richter angerufen werden, damit er das unrichtige Urteil der vorherigen Instanz korrigiert. Aber wenn die Partei den verlorenen Prozess mit neuen Gründen, die sie dem Richter vorher nicht darlegen konnte, gewinnen will, dann ist es nicht sinnvoll, dass sie sich scheut, wieder zum gleichen Richter zu gehen und die Aufhebung des Urteils zu betreiben. Durch neue Gründe nämlich könnte der Richter, wenn sie von Bedeutung sind, veranlasst werden, von dem Urteil Abstand zu nehmen, das er zuvor gefällt hat. Und vor demselben Gericht lässt sich neuer Vortrag weitaus einfacher und mit weniger Aufwand abhandeln als vor dem höheren. Denn man muss viele Mühen auf sich nehmen, wenn ein Fall in ein völlig neues, zumal langwieriges Gerichtsverfahren kommt, in dem der Richter gehalten ist, den Fall von Anfang an wieder aufzurollen. Der Fall wird also gewissermaßen zerstückelt und bröckchenweise behandelt, indem im niederen Verfahren das eine und im übergeordneten etwas anderes abgehandelt wird. Welchen Grund gibt es hier, nicht diese Rechtsregel zur An-
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wendung kommen zu lassen: Wo der Anfang des Verfahrens ist, dort ist es auch zu beenden96. Der Zusammenhang eines Falles darf nicht geteilt werden97. Dieser Rechtsregel steht es im Ergebnis entgegen, wenn entscheidungserhebliche Punkte ein und desselben Falles zur einen Hälfte im niederen und zur anderen Hälfte im höheren Gerichtsverfahren vorgetragen werden. Vielleicht gibt es sogar noch etwas, das einer dritten und vierten Instanz vorbehalten wäre. Wenn also Verfahren so geteilt und auseinandergezogen werden können, nimmt es dann Wunder, dass sie unsterblich sind?
Dritte schädliche Folge Bisher haben wir dargelegt, welche Nachteile sich nicht vermeiden lassen, auch wenn man den Streitparteien, die das in der ersten Instanz Unterlassene vor dem Appellationsgericht vortragen wollen, kein Verschulden vorwerfen kann. Wir können schon sehen, wie viel Gelegenheit zum Missbrauch durch Unbesonnenheit und Kalumnien hier besteht. Und die Missbrauchsmöglichkeiten sind nicht gering. Ganze Instanzen gehen verloren. Entweder nämlich wird die erste Instanz vertan, oder die zweite (unter der zweiten darf man auch weitere verstehen) wird nutzlos vergeudet. Meistens werden wir finden, dass eines von beiden erfolgt. Gleich was geschieht, es ist schwerwiegend genug. Denn wenn ein Teil des Prozesses verloren geht oder ein Gerichtstag (terminus), mag das hinnehmbar sein. Aber wenn ganze Instanzen verschwendet werden, ist es zu viel. Wir werden also zunächst darlegen, wie das Vertrauen darauf, Neues vortragen zu können, bewirkt, dass die Parteien mit der ersten Instanz entweder ihr Spiel treiben oder sie vernachlässigen; und sodann, auch wenn sie in der ersten Instanz nichts missachtet haben, wie sie dennoch in der Appellationsinstanz den Prozess frivol wiederholen. Wir werden auch berichten, wie Gesetze und Richter beider Instanzen versucht haben, sich vor diesen Methoden zu schützen, wenn auch mit wenig Erfolg. Was die erste Instanz angeht, ist bekannt, dass die Parteien oft bestrebt sind, der Untersuchung des zuständigen Richters zu entgehen, um aus der Ferne kämpfen zu können und aus der Ferne beurteilt zu werden. Wenn 96 97
Dig. 5, 1, 30. Dig. 11, 2.
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man nun vor einem derartigen Versuch nicht die Augen verschließen darf (worauf die Gesetze nämlich ziemlich achten, damit die erste Instanz genauestens beachtet wird), ist dann nicht doch auf einem Umweg gestattet, was auf dem korrekten Weg versagt ist, wenn das in der ersten Instanz Weggelassene schließlich vorgetragen werden darf? Ferner tragen diejenigen, welche die erste Instanz umgehen möchten, der Form halber irgendetwas vor. Das Übrige, vielleicht besonders entscheidungserhebliche Punkte, lassen sie weg und verschieben es auf das Appellationsverfahren. Aber das geschieht vielleicht seltener. Es ist jedoch keineswegs selten, dass die Parteien, insbesondere die Beklagten, nach einer günstigen Gelegenheit suchen, den Prozess hinauszuzögern und den Gegner zu ermüden. Was kann ihnen Wünschenswerteres geschehen als ein neues Appellationsverfahren? Die Kammergerichtsordnung beklagt (ich verwende ihre eigenen Worte) „dass je zu zeiten die Parteien mehr aus Muhtwillen/ und zu auffenthaltung und Hinderung der Execution gesprochener Urtheil/ und damit sie etwa ihre Gegentheil zu endtlichem Verderben/ und Verlassung der Sachen/ oder zu ungebührlichen Verdrägen dringen/ oder desto länger in Niessung der Güter sitzen bleiben/ dann aus Notthurfft appellieren.“98 Diese Klage mit fast gleichen Worten lesen wir bei Gail99. Er geht aber weiter und führt den Grund an, warum Besitzer von Sachen der gegnerischen Partei die Appellation missbrauchen, um den Streit in die Länge zu ziehen und den Gegner zu quälen: „Weil“, sagt er, „sie schändlicher Weise wissen, dass die fatalia prosequendae appellationis nicht auf ein oder zwei Jahre beschränkt sind.“ Gail glaubt, dass der langandauernde Prozess genau das ist, was unter dem Vorwand der Appellation Gelegenheit zu Kalumnien bietet. Was aber ist der Grund dafür, dass das Appellationsverfahren so langwierig und ewig dauernd ist? Nichts anderes als die Rechtswohltat, Neues vortragen zu dürfen. Ohne sie gäbe es nämlich kaum irgendeinen Appellationsprozess. Wie das Verfahren, das wir hätten, auch beschaffen wäre, es wäre jedenfalls sehr kurz. Die Rechtswohltat zu neuem Vortrag verschafft also den Streitenden in besonderem Maße die Gelegenheit zu Kalumnien. Denn wenn der höhere Richter sofort den Fall prüfen und das Urteil verkünden könnte, hätte man keine oder eine äußerst geringe Hoffnung, unter dem Vorwand der Appellation den Prozess in die Länge zu ziehen. Was nun? Muss auch denen die Möglichkeit zu neuem Vortrag offen stehen, die in böser Absicht dasjenige verschwiegen haben, was sie nun vor 98 99
RKGO 1555, 2, 28, 3. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 128, n. 2.
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dem Appellationsgericht vortragen? Das zu sagen, erscheint gewiss absurd. Dennoch hatte diese Auffassung einige Verteidiger unter den Rechtsgelehrten100. Wer auch immer Begründer der Auffassung gewesen ist, sie ist nicht zu akzeptieren und bedarf gewiss keiner Widerlegung. Vielmehr ist danach zu suchen, wie verhindert werden kann, dass diejenigen, die missbräuchlich neue Darlegungen oder Beweise in das Appellationsverfahren hineingebracht haben, zu dieser Rechtswohltat zugelassen werden. Zufällig geschieht es einmal, dass direkt aus den Akten die Täuschung hervorgeht, was im Rechtsstreit Wolden gegen Wolden der Fall war101. Aber das ist äußerst selten. Denn leicht verbirgt sich der Betrug. Er kann nicht verhindert werden, wenn sich nicht vielleicht aus einem Eid ein Verdacht ergibt. An dieser Stelle wird also deutlich, warum der Kalumnieneid über die nicht böswillige Einlegung der Appellation so unumgänglich erschienen ist. Deutlich wird auch der Grund, warum man die Formel des gewöhnlichen Kalumnieneides nicht für ausreichend angesehen hat, sondern eine Klausel über neuen Vortrag eingefügt wurde102: „Daß er von seinem newen einbringen/ so ihm bereits bey ablegung des Ayds vorkommen/ oder in Vollführung der appellation vorkommen möchten/ in erster instantz keine Wissenschafft gehabt/ oder dieselbe damahln einzubringen nicht vermocht/ oder für undienlich und unnötig geachtet/ nunmehr aber dafür halte/daß es ihm zu erhaltung Rechtens dienlich sey.“ Ohne Zweifel ermöglicht die neue Erörterung des Falles durch die Appellierenden Boshaftigkeit und Kalumnien in besonderem Maße. Dem musste folglich mit dem Kalumnieneid entgegengetreten werden. Daher kommt es, dass auch die Appellaten, obwohl sonst von dem Kalumnieneid frei, dennoch gezwungen sind, den Eid zu leisten, wenn sie die Rechtswohltat, Neues vorzutragen, in Anspruch nehmen wollen103. Denn da sie die Appellation nicht eingelegt haben, sondern gezwungenermaßen dem Gegner dahin folgen, hat der Verdacht der schikanösen Einlegung der Appellation gegen sie keinen Platz. Aber wenn sie meinen, dass sie aus eigenem Interesse das nicht Dargelegte darlegen und das nicht Bewiesene beweisen sollten, ist sowohl für sie wie für den Appellanten zu befürchten, dass sie das in betrügerischer Absicht tun. Daraus folgt, dass die günstige Gelegenheit, den Prozess hinauszuzögern, welche die Berechtigung zu neuem Vortrag verschafft, eine Hauptursache 100 101 102 103
Vgl. bei P is t or i s , Quaestiones, lib. 4, quaest. 23. n. 45. Votum bei K l oc k , Liber singularis, rel. 27, n. 1. JRA 1654, § 118. JRA 1654, § 73 [fin.].
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für Kalumnien darstellt. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, jenen Eid einzuführen. Deshalb ist schon seinerzeit durch die Kammergerichtsordnung sichergestellt worden, dass der Appellant gegen Austräge, wenn er das nicht Dargelegte darlegen und das nicht Bewiesene beweisen will, nicht gehört wird, soweit er nicht den entsprechenden Eid geleistet hat104. Sicherlich würde es sonst geschehen, dass die ersten Instanzen der Reichsstände umgangen würden. Aber jener anonyme Autor, wiedergegeben von Wehner in den „Observationes practicae“105, der unter anderem über die Verbesserung der Gerichtsverfahren in deutscher Sprache geschrieben hat, nimmt von fast allen Appellanten an, dass sie bewusst arglistig den Eid leisten, wenn sie eine neue Sacherörterung einführen wollen. Welcher Art man sich den Eid vorzustellen hat, kann obiger Klausel über neues Vorbringen entnommen werden. Wenn er nämlich ohne diese Klausel zur Anwendung käme, wäre er ein Malitieneid. Doch der Kaiser und die Reichsstände hielten es beim Regensburger Reichstag von 1654 für besser, diese Klausel in den allgemeinen Kalumnieneid über die nicht böswillige Appellationseinlegung einzufügen. Nun also müsste untersucht werden, ob der Kalumnieneid ausreichend sicherstellt, dass die Rechtswohltat zu neuem Vortrag nicht weiter von den Appellanten missbraucht wird. Aber diese Frage kann wirklich keine weiteren Schwierigkeiten bereiten, da ja oben im ersten Kapitel sehr ausführlich dargelegt worden ist, welch geringe Wirkung der Kalumnieneid hat. Dort wurde gezeigt, dass nur Vorsatz und Kalumnien, nicht aber Unbesonnenheit von ihm verhindert werden. Es wird also zugelassen, dass man, nachdem der Kalumnieneid dem nicht entgegensteht, sich nicht so sehr um die erste Instanz bemüht und die Angelegenheit erst in der Appellationsinstanz mit angemessener Sorgfalt in Angriff nimmt. Und dort verbessert man das in der ersten Instanz Vernachlässigte, indem man das nicht Vorgetragene vortragen und das nicht Bewiesene beweisen will. So also wird die erste Instanz noch mehr umgangen. Unüberlegt wird das Appellationsverfahren mit Schwierigkeiten belastet, der Prozess in die Länge gezogen. Das wird noch klarer, wenn wir die Hauptpunkte der Klausel über die Einbringung von neu Vorgetragenem, die dem Kalumnieneid über das nicht böswillige Appellieren eingefügt ist, im Einzelnen betrachten. Diese Klausel hat drei Hauptpunkte. Der Appellant schwört nämlich, dass er entweder das, was er nun neu vorträgt, in der ersten Instanz nicht 104 105
RKGO 1555, 2, 6. We h ne r , Observationes, Stichwort: Justiz-Wesen.
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gekannt hat oder nicht vortragen konnte oder nicht geglaubt hat, dass es dem Fall dienlich sei. Zunächst, ich wiederhole es, schwört er, das Neue nicht gekannt zu haben. Was aber ist, wenn diese Unkenntnis auf Bedenkenlosigkeit und Nachlässigkeit beruhte? Wenn er das nicht zur Kenntnis genommen hat, was er eigentlich hätte wissen müssen oder dem er hätte nachgehen müssen oder das er, wäre er sorgfältig vorgegangen, leicht hätte wissen können? Ob auch das Entschuldigung verdient? Niemand wird das sagen. Die Rechte besagen nämlich anderes106. Aber wie auch immer. Wer die Vernunft außer Acht lässt, der leistet einen Eid bedenkenlos. Zweitens schwört der Appellant, er habe die Nova in der ersten Instanz nicht vortragen können. Aber was stand dem entgegen? Wie andere Hindernisse rechtfertigt Unwissenheit manchmal, manchmal aber nicht. Ein schönes Beispiel haben wir in dem Gleichnis unseres Erlösers, in dem er das himmlische Leben mit einem großen Gastmahl vergleicht, zu dem diejenigen, die eingeladen waren, als Grund dafür, am Gastmahl nicht teilnehmen zu können, häusliche Arbeiten vorschützten, die ihnen wichtiger waren107. Sie glaubten nämlich, mit diesem Hinderungsgrund ausreichend entschuldigt zu sein. Es ist zu befürchten, dass damit die Gründe der Parteien zu vergleichen sind, durch die sie gehindert werden, sich sorgfältig um das gerichtliche Verfahren zu bemühen. Besonders diejenigen, die keine so großen Hoffnungen bezüglich des Ergebnisses des Prozesses hegen oder denen das Ergebnis unsicher scheint, macht eine häusliche Angelegenheit, die sich ereignet hat, oder anderes, sei es auch nicht von großer Bedeutung, soviel Mühe, dass sie sich hinreichend dafür entschuldigt fühlen, sich nicht rechtzeitig um den Prozess zu bemühen. Sie denken auch, es sei genug, sich eines Advokaten oder eines Prokuratoren zu bedienen. Sie würden schon alles ordnungsgemäß erledigen. Diese Rechtsbeistände aber, wenn sie sich um etwas nicht kümmern, haben auch sofort eine Entschuldigung zur Hand: Natürlich haben sie viele Fälle. Sie können ihre ganze Zeit nicht für einen aufwenden. Auch hätte der Mandant sie wiederholt auffordern (sollicitare) und sie ermahnen müssen, dass sie ihrer Aufgabe eingedenk seien. So schiebt einer die Schuld auf den anderen. Und siehe dann den Mandant und den Advokaten, wie sie heilig schwören, dass sie diesen neuen Vortrag in die erste Instanz nicht einbringen konnten. 106 107
Dig. 22, 6 und 9; Cod. 9, 24, 1. We se n beck , Paratitla, Digest. Lib. XXII, de juris es facti ignorantia, Tit. VI, c. I. 18. Lk 14, 16.
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Noch problematischer ist der dritte Hauptpunkt der Klausel, wonach auch diejenigen zugelassen werden, die den neuen Vortrag, den sie in die Appellationsinstanz eingeführt haben, zwar gekannt haben und vortragen konnten, aber nicht glaubten, dass er für den Fall erheblich sei. Wer nämlich das zugibt, kann sich kaum von dem Verdacht der Unbesonnenheit befreien. Denn wenn er zuvor die Umstände seines Falles nicht richtig verstanden hat und dennoch vor Gericht gezogen ist, dann scheint man sagen zu müssen, dass er leichtfertig und verantwortungslos geklagt hat. Wer das in der ersten Instanz getan hat, was ist jetzt von ihm zu hoffen? „Ich habe nicht geglaubt“, sagt er, „dass das dem Fall nützlich sein werde.“ Alle Leichtfertigen rufen dann aus: „Ich habe es nicht geglaubt.“ Wen denn gibt es, der das nicht zu seiner Entschuldigung verwenden würde, wenn er eine Fahrlässigkeit begangen hat. Wer etwa ein Feuer unbewacht gelassen hat, weshalb ein Brand entstanden ist: Entweder ist er leichtfertig mit der Absicherung des Feuers umgegangen und hat deshalb einen Menschen getötet, oder er ließ die Tür offen und verschaffte Vorbeigehenden Gelegenheit zum Diebstahl. Offensichtlich ist die Entschuldigung: Ich habe nicht geglaubt, das werde geschehen. Wenn wir solchen Entschuldigungen Gehör schenken, wird jede menschliche Handlung der Leichtfertigkeit ausgeliefert. Aber diese Entschuldigung, wie auch immer sie sein mag, mag in der Person der Streitpartei hinzunehmen sein. Dass aber der Advokat sich mit derselben Ausrede entschuldigen will, erscheint doch als zuviel. Er schwört nämlich, selbst nicht geglaubt zu haben, das neue Vorbringen sei von solcher Bedeutung. Welchen Wert misst aber der Advokat dieser Aussage zu? Denn deswegen, weil der Mandant seiner eigenen Ansicht nicht vertraute, hat er den Advokaten in Anspruch genommen, damit der zu einem besseren Urteil gelangt. Nun hat er selbst nicht daran geglaubt. Was aber ist der Grund dafür, dass er jetzt das glaubt, was er vorher nicht glaubte? Natürlich bemerkt er nun endlich, nachdem er den Fall verloren hat, auf welche Weise er hätte vorgehen müssen. Aber das ist die Weisheit des Törichten, schließlich klug geworden zu sein, nachdem die Sache verloren ist. Ist er nicht derjenige, der sich öffentlich als jemand anbietet, von dem alle seine Mitbürger (omnes sui cives) Rechtsrat erwarten? „Im Zweifel über ihr Geschick: doch meine Kunst führt sie vom Zweifel zur Gewissheit
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und entlässt sie wissend, dass ihr Weg nicht in die Irre führt.“108 Ich fürchte, dass der Klient ihm zu Recht sagen kann: „Das ist die Aufgabe des Advokaten selbst, den ich als meinen Vertreter gewinne.“ Dennoch wollen wir das nicht so verstanden wissen, als ob kein Irrtum, kein Hinderungsgrund gerechterweise so gewichtig sein könne, als dass deswegen die Parteien nach Abschluss der ersten Instanz nicht von neuem gehört werden dürfen. Es kann schon geschehen, dass das erforderlich ist. Leichtfertige und nachlässige Parteien irren nun einmal, doch sie irren aus eigenem Verschulden. Und sie kennen nun einmal die notwendigen Fakten des Falles nicht, aber aus Ignoranz, Trägheit und Nachlässigkeit. Und es kann nun einmal vorkommen, dass sie gehindert werden, aber aus lächerlichen und unberechtigten Gründen. Deswegen wird zu ergründen sein, auf welche Weise sie von entschuldbar Irrenden und berechtigt Verhinderten unterschieden werden können, damit diesen geholfen werden kann und keinesfalls den anderen (welche in der Mehrheit sind). Wenn das nämlich nicht geschieht, werden die ersten Instanzen leichtfertig missachtet, und die Appellation zum Reichskammergericht wird der Zufluchtsort der Nachlässigen und Leichtfertigen. Aber ist es nicht unwürdig, das zu ertragen? Es dürfte der Bewunderung wert sein, wenn jemand das zu sagen wagte. Tatsächlich verhält es sich aber so, dass es nicht als verwunderlich angesehen werden muss, wenn unverfroren versichert wird, dass es der Übung entspreche oder, wie manche wollen, es auch in Übereinstimmung mit den Gesetzen stehe, dass Streitparteien, die in der ersten Instanz den Fall vernachlässigt und zugrunde gerichtet haben, im Appellationsverfahren durch die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag schadlos gehalten werden. Dahin neigt in der Tat die Auffassung vieler Rechtsinterpreten. Ihr widersprechen indes andere. Sie stellen fest, dass nachlässige Parteien, die durch eigene Schuld in der ersten Instanz irgendetwas nicht vorgetragen haben, im Appellationsverfahren in keinem Falle gehört werden dürfen109. Aber auf welche Weise verhütet werden kann, dass die Säumigen mit ihren neuen Allegationen den Appellationsrichter überfallen, das lehren sie nicht. So jedoch kann der Dissens leicht erklärt werden: 108 109
Cic e r o, De Oratore, lib. 1 [hier in der Übersetzung von Harald Merklin, 5. Aufl. Stuttgart 2006]. Glosse zu c. ad audientiam. de rescriptis [unklar : X 1, 3, 11 oder X 1, 3, 31]; Bald u s, Commentaria, zu Cod. 2, 12, 13 n. 2; Ma scard i , Conclusiones, conclus. 113, n. 55.
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Diese nämlich lehren, dass eine gerechte Regelung geschaffen werden müsste. Jene sagen, wie die Handhabung ist, und dass sie nach den Gesetzen heute nicht vermieden werden kann. Diese Problematik behandelt klar Hartmann Pistoris, den wir oben zustimmend erwähnt haben110. Auch er tritt der Meinung derer entgegen, die konstatieren, den nachlässigen Parteien könne die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag wegen eigenen schuldhaften Verhaltens nicht versagt werden. Die Argumente, die er verwendet, beurteilt Thomas Merckelbach in seiner Relation für das Assessorat als vertretbar111. Wenn nun also diejenigen, die es in den Gerichten der Reichsstände aus Nachlässigkeit oder absichtlich unterlassen haben, etwas vorzutragen, mit ihrem neuen Vortrag beim Kammergericht Zuflucht nehmen, was können wir anderes sagen, als dass unsere Gerichtsverfahren voller Leichtfertigkeit sind?
Vierte schädliche Folge Wir haben bisher dargelegt, auf welche Weise versucht wird, die erste Instanz zu umgehen. Die Folge ist, dass wir sehen, wie die zweite Instanz unter dem Vorwand der Rechtswohltat nach dem Gesetz l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) erfolglos vertan wird, selbst wenn in der ersten Instanz nichts vernachlässigt wurde. Zwar erscheint es richtig, dass Appellanten, die alles vorgetragen haben, davon absehen sollten, Neues zu dem Fall vorzubringen. Wenn sie eine Appellation einführen, halten sie nichtsdestoweniger fest, sie würden das nicht Dargelegte darlegen und das nicht Bewiesene beweisen. Sie erheben dann die Stimme und Gegner und Richter erwarten gewiss Großes und Unerhörtes. Aber was geschieht? Es kreißen die Berge, und geboren wird eine lächerliche Maus. Die Erfahrung lehrt nämlich, dass die Appellanten in der Appellationsschrift (in libellis gravaminum) die erstinstanzliche Akte nur schön verpacken oder nur Belangloses oder Unerhebliches oder ἀλλότρια (allótria, fremdartiges) neu hinzufügen oder auch alles vermengen. Das alles ist gewiss durch die Gesetze verboten. Denn was ist vor Gericht weniger hinzu110 111
Pis t ori s , Quaestiones, lib. 4, quaest. 23, n. 41 und ff. Kl oc k , Liber singularis, rel. 2, n. 145.
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nehmen, als dass nur leeres Stroh gedroschen wird? Aber wird darüber nachgedacht, wie das von den Appellanten zu erreichen ist? „Es wird am berechtigten Unwillen der gesamten Justiz“, sagt Kaiser Justinian, „gegen die Schriftsatzverfasser nicht fehlen, die den Vortrag der vorigen Instanz umfänglich wiederholen.“112 Aber die Schriftsatzverfasser sind heutzutage nicht so furchtsam, als dass sie von dem drohenden Unwillen allein sehr erschreckt würden. Es ist deswegen ja auch durch die Kammergerichtsordnung untersagt.113 Das aber kümmert sie in keiner Weise. Was gibt es also an Abhilfe? Genau diese Frage rief beim Reichskammergericht Unsicherheit hervor und bereitete ihm für eine lange Zeit größte Schwierigkeiten. Das werden wir nun erläutern, damit nicht etwa in Frage gestellt wird, was wir gesagt haben. Manchmal nämlich tragen Appellant und Appellat mit Sicherheit bisher nicht Vorgetragenes vor und beweisen das noch nicht Bewiesene, und sie bekämpfen sich immer wieder auf das Äußerste. Manchmal aber wehrt sich einer von beiden, insbesondere der Appellat, gegen den Rechtsstreit. Er sagt, dass die vorgetragene Beschwer allein eine Wiederholung früheren Vortrags sei, oder eine Halsstarrigkeit, die man nicht zulassen könne. Dann also muss der Richter den Fall prüfen und über die Zulassung der Beschwer entscheiden. Er muss indes auch von Amts wegen Beschwerungen, wenn er sie für unerheblich erachtet, zurückweisen. Von daher ist diese Entscheidungsformel beim Reichskammergericht häufig: „In sachen N. N. seynd die eingebrachte gravamina als unerheblich (oder überflüssig) nicht/ sondern die Sach von Amptswegen vor beschlossen angenommen.“ Wenn aber die Beschwerungen als erheblich angesehen werden oder auch, wenn der Richter im Zweifel ist (das geschieht häufig, da er ja nicht voraussehen kann, was der Appellant vortragen wird), dann sind die Beschwerungen zur Beweisführung und vollständiger Erörterung zuzulassen. Infolgedessen findet man unter früher veröffentlichten Kammergerichtsurteilen eine Tenorierung dieser Art: „In sachen N. N. seynd die gravamina den N. Tag einkommen/ beschehener Einrede unverhindert / vorbehaltlich, dass sie ungehörig und nicht zuzulassen sind (salvo jure impertinentium & non admittendorum), zu beweisen hiermit zuzulassen.“ Von daher wird deutlich, welche Aufgabe dem Gericht auferlegt wird. Denn ob der Appellant tatsächlich etwas Neues vorgetragen hat oder alles aus den alten Akten wiederholt, ob neue Beweisgründe für den Fall bedeut112 113
Cod. 7, 62, 39, 1. RKGO 1555, 3, 33, 6.
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sam werden oder nicht, ist nicht leicht richtig zu beurteilen, wenn man nicht den ganzen Fall aus den früheren Akten kennt. Von daher kommt es notwendigerweise oft vor, dass es fast gleichermaßen schwierig ist, die Frage nach der Zulässigkeit der Gravamina zu entscheiden wie über die Hauptsache zu befinden. Es gibt zum Thema Gravamina einige sogenannte kammergerichtliche Relationen, aus denen deutlich die damit verbundene Arbeit hervorgeht114. Auch die Proberelation (relatio ... pro Assessoratu) von Thomas Merckelbach, die wir kurz zuvor erwähnt haben (allegavimus), befasst sich mit den Gravamina (denn damit war er beauftragt worden). Das ist der Beweis dafür, dass jene Frage manche Schwierigkeit mit sich bringt. Denn die Akten, die komplizierte Rechtsfragen enthalten, werden gewöhnlich an die Kandidaten für das Assessorat ausgegeben, um eine Proberelation anzufertigen. Wenn also zunächst der ganze Fall abzuhandeln ist, damit über die Zulassung der Beschwerdegründe befunden werden kann, und wenn dann, sofern entweder alle oder einige Gravamina zugelassen sind, wiederum der ganze Fall erörtert wird, damit das abschließende Urteil gefällt werden kann: Wieviel Arbeit wird dem Gericht nicht bereitet! Man hat deshalb im Reichskammergericht begonnen zu überlegen, ob nicht über die Zulassung der Beschwerdegründe durch ein kürzeres Verfahren als durch jene mühselige Untersuchung des ganzen Falles entschieden werden kann. Schon im Jahre 85 des vorigen Jahrhunderts haben die Dubia Cameralia, die offenen Rechtsfragen, diese Angelegenheit erwähnt. Die Assessoren glaubten, dass dem Appellaten die Aufgabe zukommen müsse, die Beschwerdegründe des Appellanten sorgfältig zu prüfen, und wenn er feststellen sollte, dass sie die Wiederholung früheren Vortrags enthalten oder sonst Unerhebliches, dass er dem nicht allgemein widersprechen, sondern speziell zu den einzelnen Punkten Stellung beziehen und ihre Untauglichkeit aufzeigen solle. Da es ja wahrscheinlich war, dass der Appellat mit allem Eifer versuchen würde, die Gravamina als falsch nachzuweisen, bestand so nämlich die Hoffnung, dass der Richter von einer großen Last befreit werde und weitaus leichter werde beurteilen können, ob die Beschwerdegründe zuzulassen sind. Dem stand aber entgegen, dass diese Arbeit offensichtlich den Advokaten der Appellaten zu schwierig schien, insbesondere aber, dass sie nicht viel Zutrauen zu der Sache hatten und dass deshalb für den Richter nicht viel an Unterstützung zu erhoffen stand. Aus 114
Vgl. Gy lm a nn , Symphorema, tom. 4, p. 1, vot. 17 und vot. 40, und tom. 1, p. 1, tit. 6, vot. 3.
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diesem Grunde haben die Visitatoren des Kammergerichts zur damaligen Zeit diesem Vorschlag nicht zugestimmt. Da man aber sah, dass irgendwie Abhilfe gefunden werden musste, begann man danach zu überlegen, ob man nicht besser vom Appellanten etwas fordern solle, weil von dem Appellaten dabei nichts zu erhoffen war. Ihm sollte nämlich auferlegt werden, neben seiner Appellationsschrift (juxta libellum gravaminum) gesondert schriftlich anzugeben, in welchen Punkten er sich beschwert fühle, was er an Neuem vorbringen werde und auf welche Weise das bewiesen werden solle. Die Autoren dieses Vorschlags sagten, dass der Richter, nachdem er diesen Schriftsatz geprüft habe, sofort sehen könne, ob die Beschwerdegründe, die vorgetragen werden sollten, zuzulassen waren oder nicht. Und wenn die Sache nach einer noch wesentlich tieferen Untersuchung verlange, könne er sich daran orientieren. Auf der anderen Seite vertraten andere die Auffassung, dieser Vorschlag bringe nicht mehr an Nutzen als vorher jener, der den Appellationsbeklagten im Blick hatte. Denn auch dem Kläger könne man in dieser Sache nicht sicher vertrauen, und es fehle zuviel, als dass damit sofort über die Zulassung der Gravamina entschieden werden könne. Außerdem werde es mit großen Schwierigkeiten verbunden sein, hier gegen die bisherige Regelung etwas Neues einzuführen. Das werde nicht so ohne weiteres von den Advokaten beachtet. So wird das Für und Wider bei Gylmann, Band II Teil II, am Ende unter den Dubia Cameralia Nr. 63 abgehandelt. Damit die Sache, welche der Abhilfe nicht länger entbehren konnte, dennoch wenigstens in irgendeiner Weise gefördert werde, gab man der vorigen Auffassung den Vorzug. Danach ist im Reichskammergericht im Jahre 1593 am 13. Dezember ein Gemeiner Bescheid mit diesem Wortlaut ergangen: „Bey den Appellationsgravamina sol jederzeit in Schriften eigentlich vermeldet werden/ womit und in welchen Puncten der Appellant sich beschwert befinde/ auch sonderlich und in specie, was er ferner/ als zuvor geschehen/ und welcher Gestalt von newen zu beweisen begehre/ sonsten die Gravamina nicht zugelassen.“ Ein Muster einer derartigen Schrift ist bei Schwanmann abgedruckt115. Eingefügt wurde es danach unter jene Dubia Cameralia, welche dem Kaiser und den Reichsständen im Jahre 1594 beim Regensburger Reichstag vom Reichskammergericht vorgelegt wurden116, damit dieses kammergerichtliche Dekret durch Reichsgesetz bestätigt oder 115 116
Sc h wa n ma n n , De processibus, lib. 2, cap. 12, tit. specificatio sive deductio gravaminum. RA von Regensburg 1594, § 98.
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irgendeine bessere Lösung gefunden werde. Wir verweisen auf den Wortlaut der Dubia Cameralia, welche auf Deutsch bei Gylmann, Band I Teil III, vorhanden sind, da sie das, was wir bisher gesagt haben, noch breiter erklären und zeigen, wie verwickelt und wie schwierig die Frage nach der Zulassung der Gravamina ist, welche uns die Rechtswohltat nach dem Gesetz l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 3, 4) brachte. Die Bestimmung des Dubium Nr. 97 hat folgenden Wortlaut: „In den gravaminibus appellationum fält offtermals grosser Zweiffel und obscuritet für/ daß man sich nicht wol resolviren möge/ ob dieselbe ferner zu beweisen zuzulassen oder nicht. Dann gemeinlich darin generaliter hindurchgangen/ und fast allein prior libellus de verbo ad verbum repetirt wird/ damit also die Judices mit überflüßiger besichtigung der acten contra Ordinationem p. 3. tit. 32. §. in. fin. beschwert: wie es dann auch nicht citra controversiam, ob planè priores articuli ohn allen Unterscheid/ wann dieselbe nur allein relevantes, zuzulassen seyn zu beweisen/ sonderlich allermassen auf Weg und weise/ wie zu anfang/ fortè etiam per eosdem testes. Derowegen ob wol etliche erachtet/ dass solches schwerlich ins Werck zu richten/ und dem stylo nicht fast gemäß/ auch zuvor Anno LXXXV in dubiis movirt, aber doch Visitatorum approbatione unterlassen/ zudem der Richter auf solche deduction der Advocaten sich nicht zu verlassen/ und in Besichtigung der acten und Handelungen/ so diesfalls hinc inde fürkommen/ mehr bemühet und beschwert werden möchte. So ist doch per maiora geschlossen/ dass hinfüro die Appellanten jederzeit bey und neben ihren gravaminibus in specie vermelden sollen/ alles dasjenig/ was sie neues fürzubringen/ auch welcher gestalt/ und auf was wege sie solches in secunda instantiâ ferner zubeweisen gedencken/ und dann auch worin/ und warumb sie per Judices priores beschwert zu seyn vermeinen/ und also in solchem allem nicht also in incerto vagiren/wie dann solches auch aus ebenmäßiger Uhrsachen in der Ordnung p. I. tit. 41. §. 2 von den armen Parteyen ausdrücklich statuirt. Dieweilen es aber allein penes judicem stehet/ so ist auf solche special deduction gravaminum nicht weitleufftiger special gegenhandelung ex parte appellati vonnöten. Dann die gravamima und acta ohn das auf diese weise gnügsamb declarirt werden und der Judex viel leichter/ als sonst daraus zu schliessen haben würde/ ob und was er ad probandum zulassen solt/ oder nicht/ de quo unico in puncto gravaminum agitur. Was aber zuvor Anno LXXXV proponirt, das hat den appellaten belangt/ das derselb die gravamina in specie hätt impugniren sollen/ welches ihm nicht wol müglich.“ Es gibt bei Rosencorb eine Ausarbeitung in deutscher Sprache, in
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der die Beschlüsse des Kammergerichts einer Prüfung unterzogen werden117. Insbesondere bekämpft der Autor jene Entschließung schärfstens, die wir gerade zitiert haben, und das in diesem Urteil (in eam sententiam) enthaltene Dekret. Nachdem jenes Dubium den Reichsgesandten im Jahre 1595 in Speyer vorgelegt war, verkündete man verschiedene Entscheidungen, welche auch bei Rosencorb an der zuvor erwähnten Stelle vorhanden sind. Jedenfalls stellte sich der Kurfürstenrat (Senatus Electorum) auf den Standpunkt, dass das Gesetz l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) durch den Bescheid des Kammergerichts zu sehr eingeengt werde. Jene gesonderte Anzeige der Gravamina, der neu vorzutragenden Tatsachen und Beweismittel könne nur dann hingenommen werden, dass es dennoch den Appellanten unbenommen sei, wenn sie irgendetwas Neues im gleichen Prozess zufällig noch entdeckten, auch das noch vorzutragen und auch von einer anderen Beweismöglichkeit gegebenenfalls Gebrauch zu machen. Die Fürstenbank (Senatus verò Principium) meinte aber, dass der Bescheid des Kammergerichts vollständig aufgehoben werden müsse. Dem haben die Kaiserlichen Kommissare zugestimmt. Aus diesem Grunde ist im Speyerer Deputationsabschied im Jahre 1600 nach Aufhebung des Bescheids des Kammergerichts die alte Gewohnheit wieder hergestellt worden118. Und das wurde durch den Reichstag in Regensburg 1654 erneut bestätigt119. Als das Reichskammergericht dennoch Tag für Tag die erheblichen Belastungen erleben musste, welche die Appellanten mit ihren Gravamina verursachten, dachte es wiederum über Abhilfe nach. Es erließ am 30. Oktober 1655 einen Gemeinen Bescheid, der von dem Bescheid vom 13. Dezember 1593 nicht wesentlich abweicht. Es hat folgenden Wortlaut: „Dann sollen zum siebenden die Advocaten und Procuratores, die in mehr berührtem Jüngstern ReichsAbschied specificirte drey Puncten/ nemblichen: worinnen der Appellant sich beschwert befindet: 2. Was er besser zu beweisen: Und 3. Von neuem einzubringen gedencke/ in gravaminibus, oder libellis allzeit bey straff nach ermäßigung in margine beysetzen.“ Hier ordnete man erneut an, dass fast die gleichen Punkte als Randbemerkungen angebracht werden sollten, über die der Gemeine Bescheid aus dem Jahre 1593 angeordnet hatte, sie in einem gesonderten Schriftstück zusammenzufassen. Der Zweck beider Gemeiner Bescheide ist 117 118 119
Ro se nc or b , Syntagma, am Ende. Deputationsabschied von Speyer 1600, § 114. JRA 1654, § 73.
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ein- und derselbe. Beide zielen nämlich darauf ab, dass der Richter so leichter beurteilen kann, ob die Gravamina erheblich sind oder nicht. Aber wenn auch die Nützlichkeit dieser Neuerung nicht zu verachten ist, steht dennoch zu befürchten, dass das eintritt, was jene, die sich früher gegen den Gemeinen Bescheid von 1593 gewendet haben, befürchteten: Dass nämlich die Appellanten und ihre Advokaten mit der Kenntlichmachung dessen, was sie neu vortragen und besser beweisen wollen, so umgehen, dass der Richter darauf nicht viel Vertrauen setzen kann. Denn ohne Unterschied und ohne Überlegung schleudern sie dem Richter jene Worte des novum deducendum und melius probandum entgegen, offensichtlich, damit sie irgendetwas geschrieben haben. Da sie blindlings das nicht Vorgetragene vortragen und das nicht Bewiesene beweisen wollen, auch wenn sie wirklich nichts Neues sich auf den Fall Beziehendes darlegen, ist es nicht verwunderlich, dass sie auch diese Randbemerkungen leichtfertig und ohne Überlegung vornehmen. Sie begreifen auch schnell, dass die Beifügung der Randbemerkungen mehr gegen als zugunsten der Appellanten wirkt. Deswegen sind ja jene Anmerkungen zu machen, damit der Richter schneller erkennen kann, ob die Beschwerdegründe erheblich sind oder nicht. Aber den Appellanten scheint es für ihre Sache nicht gut, wenn der Richter über ihre Angelegenheit sofort entscheidet. Ihr Interesse liegt eher darin, den Richter im Ungewissen zu halten. Im Zweifel nämlich muss er die Beschwerdegründe zulassen. Sie selbst aber hoffen, was sie nun vortragen, im Weiteren so erklären zu können, dass es weitaus mehr Gewicht erhält. Sie hoffen auch darauf, im Fortgang des Prozesses selbst Neues ausfindig zu machen. Deshalb bereitet es ihnen jedenfalls gefühlsmäßig Unbehagen, alles genau und deutlich im Appellationslibell darzustellen und quasi mit dem Finger darauf zu zeigen, womit sie sich beschwert fühlen, was sie an Neuem vortragen und was sie erneut beweisen werden. Denn sie werden fürchten, dass aus diesem Grunde der Weg zu neuem Vortrag allzu schnell verschlossen wird (praecludatur). Daher rühren die bereits vorstehend erwähnten Vorbehalte, den Gravaminalibell schon gleich vollständig abzufassen. Hinzu kommt, dass Advokaten, die außerhalb des Sitzes des Kammergerichts hier und dort im Reich leben, den kammergerichtlichen Gerichtsgebrauch (styli Cameralis) nicht kennen und oft den Kammergerichtsprokuratoren die Anbringung der Randbemerkungen im Appellationslibell übertragen. Was aber können diejenigen, die mit dem Fall nicht vertraut sind, hinzufügen? Vielleicht ist
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schon aus diesem Grunde bisher nicht genügend Abhilfe geschaffen worden. Es ist damit deutlich (deshalb haben wir es geprüft), wie lange schon, auf welch verschiedenen Wegen und mit welch geringem Erfolg Abhilfen gegen die Leichtfertigkeit der Appellierenden gesucht wurden, womit diese unter dem Vorwand, Neues vorzutragen, Richter und Gegner auf so unwürdige Weise zermürbt haben. Also entweder ist es den Appellanten zu erlauben, Neues mit aufdringlicher Beharrlichkeit zu behaupten und zu beweisen oder früheren Vortrag zu wiederholen, oder es bleibt nur, sich davor mit größter Mühe in Acht zu nehmen. Selbst dann, wenn jede Sorgfalt angewendet wurde, täuschen Appellanten noch oft genug den Richter, der im Zweifel gezwungen ist, die Gravamina zuzulassen. Wiederholt nämlich sagen sie, dass sie neue Beweise haben, und anschließend stellt sich heraus, dass sie wertlos sind. Bisher ist also gezeigt worden, dass die Appellanten entweder Neues vorbringen, welches in der ersten Instanz, wo es hätte vorgetragen werden müssen, vernachlässigt wurde oder dass sie in der Appellationsinstanz nichts, außer Bedeutungslosem oder Unerheblichem auftischen und so in beiden Instanzen pflichtwidrig verfahren.
Fünfte schädliche Folge und weitere, die sich aus dem Vorstehenden ergeben Aus diesem so gravierenden Missbrauch folgen notwendigerweise weitere Missstände, welche aber später deutlicher werden, wenn wir erklären, auf welche Weise die neuen Prozesse, welche die Appellanten anstrengen, das Reichskammergericht erdrücken. Denn in dieser Anhäufung von Fällen, welche auf dem Kammergericht lastet, nehmen die Darlegungen der Nova in den Appellationen einen herausragenden Platz ein. Vor allem für dieses Gericht, bei dem die große Mehrzahl der Appellationen eingeht, sind die neuen Sachvorträge eine schwere Last. Bei den niederen Gerichten mögen diese Nachteile vielleicht nicht gleichermaßen empfunden werden. Wir werden weiter unten auch aufzeigen, wie sehr es für die Reichsstände ein Präjudiz bedeutet, wenn ihre Untertanen, die zu den höchsten Gerichten Appellation einlegen, dort neuen Sachvortrag anbringen dürfen. Es kann nicht bestritten werden, dass die neuen Erörterungen in den Appellationen die herausragende Ursache für die endlose Dauer der Prozesse sind. Denn in den Appellationsverfahren erleiden die Streitigkeiten die allergrößte Verzögerung. Wenn nämlich ein neues Verfahren nicht stattfän-
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de, sondern nur anhand der vorinstanzlichen Akten über die Appellation entschieden würde, hätte das Appellationsgericht nicht so große Schwierigkeiten. Infolgedessen würde sie nicht so lange verzögert. Vielmehr wären die Appellation und andere Verfahrensarten, die wir nachfolgend darstellen, klarer. Da ja nun so große und so viele Fehler und Nachteile aufgezählt sind, die aus der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag entspringen, müssen wir nach Abhilfe suchen.
Kapitel IV: Es werden Überlegungen angestellt, ob die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag abgeschafft werden kann, wenn beiden Parteien vorgeschrieben wird, die entscheidungserheblichen Tatsachen sofort vorzutragen Den Anfang möchte ich mit einem Vorschlag Gails machen, wie sich die Streitparteien vor der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag bewahren können. Nach Ciceros Meinung sollte ein Rechtsgelehrter sowohl zur Erteilung von Rechtsrat wie auch zur Prozessführung wie auch zur Verteidigung einer Sache fähig sein120, und deswegen droht in der Tat denen, die einen Fall vor Gericht haben und ihn mit einem gerechten Urteil möglichst schnell zu beenden wünschen, kein schwerwiegenderes Hindernis als von den Appellationen mit neuem Tatsachenvortrag: Aus diesem Grunde ist es Aufgabe des Rechtsgelehrten, dieser Gefahr rechtzeitig entgegenzutreten und, soweit er kann, davor zu bewahren. Diesen Ratschlag also geben wir, das wird hier genügen, mit den Worten Gails wieder. Nachdem er dargestellt hat, wie betrügerisch (calumniosè) die meisten den Appellationsprozess missbrauchen, fährt er fort: „Deswegen ist es für Parteien, die einen gerechten Fall verfolgen, ein beträchtlicher Schutz, wenn sie den Fall vor dem Richter der ersten Instanz sorgfältig betreiben und vollständig ihre Rechte darlegen. Wenn danach eine der Parteien gegen das gefällte Urteil Appellation einlegt und anschließend bei den Gravamina (welche der unmittelbare Grund der Appellation sind) vor dem Appellationsrichter alles frühere, schon vollständig in der ersten Instanz Vorgetragene wiederholt und artikelweise abhandelt, dann ist es der Mühe wert, dass der Appellat sofort nach der Litiskontestation und wenn noch 120
Cic e r o, De Oratore, lib. 1.
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de, sondern nur anhand der vorinstanzlichen Akten über die Appellation entschieden würde, hätte das Appellationsgericht nicht so große Schwierigkeiten. Infolgedessen würde sie nicht so lange verzögert. Vielmehr wären die Appellation und andere Verfahrensarten, die wir nachfolgend darstellen, klarer. Da ja nun so große und so viele Fehler und Nachteile aufgezählt sind, die aus der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag entspringen, müssen wir nach Abhilfe suchen.
Kapitel IV: Es werden Überlegungen angestellt, ob die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag abgeschafft werden kann, wenn beiden Parteien vorgeschrieben wird, die entscheidungserheblichen Tatsachen sofort vorzutragen Den Anfang möchte ich mit einem Vorschlag Gails machen, wie sich die Streitparteien vor der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag bewahren können. Nach Ciceros Meinung sollte ein Rechtsgelehrter sowohl zur Erteilung von Rechtsrat wie auch zur Prozessführung wie auch zur Verteidigung einer Sache fähig sein120, und deswegen droht in der Tat denen, die einen Fall vor Gericht haben und ihn mit einem gerechten Urteil möglichst schnell zu beenden wünschen, kein schwerwiegenderes Hindernis als von den Appellationen mit neuem Tatsachenvortrag: Aus diesem Grunde ist es Aufgabe des Rechtsgelehrten, dieser Gefahr rechtzeitig entgegenzutreten und, soweit er kann, davor zu bewahren. Diesen Ratschlag also geben wir, das wird hier genügen, mit den Worten Gails wieder. Nachdem er dargestellt hat, wie betrügerisch (calumniosè) die meisten den Appellationsprozess missbrauchen, fährt er fort: „Deswegen ist es für Parteien, die einen gerechten Fall verfolgen, ein beträchtlicher Schutz, wenn sie den Fall vor dem Richter der ersten Instanz sorgfältig betreiben und vollständig ihre Rechte darlegen. Wenn danach eine der Parteien gegen das gefällte Urteil Appellation einlegt und anschließend bei den Gravamina (welche der unmittelbare Grund der Appellation sind) vor dem Appellationsrichter alles frühere, schon vollständig in der ersten Instanz Vorgetragene wiederholt und artikelweise abhandelt, dann ist es der Mühe wert, dass der Appellat sofort nach der Litiskontestation und wenn noch 120
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keine Erwiderung erfolgt ist, pauschal die Nichtzulassung der Appellationsgravamina beantragt, weil sie Neues nicht enthalten, und sich auf die Akten bezieht, welche über das zwischen den Parteien Vorgetragene bekanntermaßen (notorium) Aufschluss geben. Denn dann muss der Richter, nachdem er den Fall untersucht hat, die so beschaffenen Gravamina weder zur Beantwortung noch zum Beweis zulassen, sondern den Fall von Amts wegen für beschlossen ansehen und durch Endurteil entscheiden, was rechtens ist.“ 121 Soweit Gail. Es scheint, dass dieser Rat sich insbesondere an den Appellaten richtet. Aber noch mehr ist er für den Appellanten selbst von Nutzen. Und so wollte Gail den Rat deshalb den Appellaten zukommen lassen, weil es ja scheint, dass die Schwierigkeiten mehr auf dessen Seite liegen. Auf der anderen Seite gibt es keinen Zweifel, dass es auf Dauer immer am nützlichsten ist, den Fall vollständig beim ersten Gericht vorgetragen zu haben, sei es, dass du appellieren musst, sei es, dass dein Gegner Appellation einlegt; damit du, wenn du selbst zur Einlegung der Appellation gezwungen bist, sofort im ersten Termin deine Ausführungen schließen und statt der Gravamina die Akten der Vorinstanz dem Appellationsrichter zur Kenntnis unterbreiten kannst. Das ist gewiss ein sehr persönlicher Rat. Dennoch dürfte nichts mehr zu wünschen sein, als dass überhaupt alle Parteien ihn annehmen. Auf welch anderer Grundlage kann das erreicht werden, als wenn es durch öffentliches Reichsgesetz beschlossen würde? Denn wenn etwas für Streitparteien, die eine gerechte Sache verfolgen, vorteilhaft ist (das ist nach Gail sicher), dann ist es auch gerecht und muss demzufolge durch das Gesetz geregelt werden. Aus dem Umkehrschluss folgt in der Tat, dass dasjenige, was den Parteien, die eine gute Sache betreiben und die wegen ihres Anliegens gequält werden, entgegensteht wie besonders die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag übel und äußerst schädlich und deshalb ungerechtfertigt ist und durch Gesetz verboten werden muss. In der Tat scheint die Gesetzgebung des Regensburger Reichstags aus dem Jahre 1654 fast darauf ausgerichtet zu sein. Das Gesetz gibt nämlich selbst den Parteien den Rat, dass sie sich in der Appellation vor der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag hüten sollen. Die Ausführungen lauten: „Es sollen und mögen auch die Parteyen vor dem Judice à quo ihre streitige Sachen dergestalt insinuiren und außführen lassen/ damit/ wann dieselbige vermittelst der appellation an unser und des heiligen Reichs Cammergericht gelangen/ sie alsdann die voriger instantz acta zu abkürtzung des prozess, loco gravaminum und der 121
Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 128, n. 4.
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Haupssachlichen [sic!] Handlung utinque wiederholen/ und darauff alsbald in der Hauptsach submittiren können.“ Gewiss wollte das Gesetz dennoch die Parteien nicht zwangsweise verpflichten. Und deshalb ist der Sprachgebrauch etwas zweifelhaft. Einerseits scheint nämlich („sollen“) eine Verpflichtung auferlegt zu werden; andererseits aber („mögen“) bleibt etwas dem Ermessen der Parteien überlassen. Ich frage also, ob das ein Ratschlag ist oder eine Anordnung. Nur ein Ratschlag, wirst du sagen. Aber es ist doch nicht Aufgabe des Gesetzes, Ratschläge zu geben. Was es glaubt, raten zu sollen, ist es verpflichtet anzuordnen. Können wir also sagen, dass jene Worte eine Anordnung darstellen? Aber was ist es, das die Parteien zwingt, dem zu gehorchen? Wenn es also noch im Ermessen der Parteien liegt, ob sie gehorchen wollen oder nicht, kann man nicht von einer Anordnung sprechen. Da vielmehr die neuen Sachdarlegungen im Appellationsverfahren bisher erlaubt sind, bleibt es allein den Parteien überlassen, ob sie das befolgen wollen oder nicht, sei es eine Anordnung, sei es ein Ratschlag. Es ist also wirkungslos, wenn die Hoffnung auf neuen Sachvortrag nicht beseitigt wird. Dann nämlich zwänge eine Verpflichtung die Parteien, in der ersten Instanz wachsam zu sein. Hier nun scheint quasi ein neues Licht aufzugehen und sein enormer Nutzen könnte Hoffnung aufkeimen lassen, dass die Parteien den gesamten Streitstoff des Falles in der ersten Instanz vortragen und sich im Appellationsverfahren in der Tat sofort auf die vorinstanzlichen Akten beziehen. Und nachdem für so viele Umwege soviel an Abkürzung zustande gebracht ist, was kann dann mehr gewünscht werden? Denn dann könnte der Richter sofort die Akten der ersten Instanz prüfen und ihnen die Rechtsauffassung des vorherigen Richters entnehmen. Kürzer kann das Appellationsverfahren sicher nicht sein. Verschwinden werden auch alle die Fehler und Nachteile, welche, wie wir im vorigen Kapitel dargestellt haben, aus der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag entsprungen sind. Ist das nicht wirklich hervorragend, von welch großer Last das Reichskammergericht befreit wird? Aber vielleicht haben wir diese große Hoffnung allzu schnell ausgesprochen. Denn die Möglichkeit, den erneuten Sachvortrag im Appellationsverfahren auszuschließen und die so große Rechtswohltat den Appellanten zu nehmen, ist ein Vorschlag, dem vielleicht niemand so schnell zustimmen wird. Denn in jedem Recht ist diese Rechtswohltat den Klägern gewährt
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und bestätigt worden, im römischen Recht122, im kanonischen Recht123, durch die Kammergerichtsordnung,124 durch allgemeine Gerichtsgewohnheit (fori consuetudine universali), und sie ist überall im Ausland rezipiert. Ja sogar der Reichsabschied des Regensburger Reichstags aus dem Jahre 1654, wenn er auch bemüht war, mit aller Anstrengung die Appellanten zu zügeln, hat ihnen dennoch die Rechtswohltat belassen und ganz ausdrücklich bestätigt125. Die Rechtsgelehrten schätzen diese Rechtswohltat hoch ein und halten sie für anerkennenswert126. Von allen, die über die Verbesserung der Prozesse geschrieben haben, wagte keiner, sich für die Abschaffung der Rechtswohltat einzusetzen. Langlebig wird sie sein, wie es scheint. Allerdings geschieht es oft, dass etwas abgeschafft wird, das von großer Bedeutung war. Und auch deshalb wird ein Fall, der in der ersten Instanz verloren wurde, vor dem Appellationsgericht durch den Vortrag des nicht Vorgetragenen und den Beweis des nicht Bewiesenen wieder hergestellt. Wenn nun die Parteien mit dieser Rechtswohltat betrogen werden, werden viele gerechte Fälle zugrunde gerichtet. Das wäre wirklich ungerecht. Deswegen muss man wohl sagen, wenn nichts anderes gefunden werden kann, dann muss ein Hilfsmittel vorgeschlagen werden, das nicht so einschneidend, nicht so weit von der allgemeinen Meinung und der Gerichtsgewohnheit entfernt ist. Im Übrigen sind die Dinge nicht dergestalt, dass sie uns davon abhalten sollten, gründlich nach dem Kern der Sache zu suchen. Bestimmt dürfte hier etwas verborgen sein wie eine Schlange im Grase. Denn weil ja die neuen Erörterungen in den Appellationsverfahren so viele und so große Nachteile mit sich bringen, kommt da nicht leicht der Verdacht auf, diese Nachteile seien aus einem falschen Grundsatz entstanden? Es muss also untersucht werden, was für eine so drängende Notwendigkeit es ist, die bewirkt, dass wir auf die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag trotz so vieler Nachteile nicht verzichten können. Denn vielleicht können die Schwierigkeiten, welche auf den ersten Eindruck hin bestehen, überwunden werden, wenn wir uns ein wenig anstrengen. Wenn es recht und billig ist, dass, nachdem ein Fall verloren wurde, eine nicht vorgetragene Allegation von neuem gehört wird, war es denn dann überhaupt notwendig, die Rechtswohltat zu 122 123 124 125 126
Cod. 7, 63, 4; Cod. 7, 62, 6, 1; Cod. 7, 62, 39; Cod. 7, 50, 2; Cod. 2, 12, 13. X. 2, 20, 17 ; X. 2, 22, 10. RKGO 1555, 3, 33, 3. JRA 1654, § 73. Gy l ma n n , Symphorema, p. 3, vot. 16, n. 1.
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neuem Sachvortrag allen Appellanten zuzugestehen? Deswegen muss gründlich abgewogen werden, ob es sich hier wirklich wie behauptet um eine Maßnahme der Billigkeit (aequitas) handelt. Werden wir vielleicht durch deren Scheinbild in die Irre geleitet? Abzuwägen ist, was als überflüssig auszuschließen ist und wie viel hier tatsächlich die Billigkeit erfordert und wie viel den Parteien zuzugestehen ist. Zu fragen ist auch, ob nicht auf andere Weise für die Billigkeit Sorge getragen werden kann als durch diese weitgehende Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag vor dem Appellationsgericht. Wenn das herausgefunden werden kann, bereitet das dem Gesetz keine großen Schwierigkeiten. Denn oft lehrt die Erfahrung, dass in dem, was durch die Gesetze bestimmt worden ist, sich nach langer Zeit etwas als fehlerhaft herausstellt. Aus diesem Grunde werden sie dann geändert. Es geschieht auch mitunter, dass irgendeine Gelegenheit oder eine Zeitströmung den Gesetzgeber bewegt, etwas festzusetzen, was dann zu anderen Zeiten nicht mehr von Nutzen ist. Was nun, wenn das für die Rechtswohltat auf erneuten Sachvortrag aufgezeigt werden könnte? Deshalb ist sowohl der Zustand jener Zeit zu betrachten, in der die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag erstmalig eingeführt wurde, wie auch die Zeit, zu der die Berechtigung die Kraft erlangte, die sie heute hat. Daraus wird gewiss klar, dass gegenüber damals der Hintergrund unserer Zeit ein völlig anderer ist und dass deshalb jetzt für uns eine andere Gesetzegbung zu erfolgen hat als damals für die Verhältnisse jener Zeit. Was schließlich die Rechtsgelehrten angeht, welche die Rechtswohltat l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod 7, 63 4) mit ihrer Auslegung unterstützen und glauben, dass sie ihre Begünstigung verdient, das muss man ihnen nicht als Fehler anlasten. Sie folgen nämlich der Autorität der Gesetze. Dennoch, wie auch immer sie der Rechtswohltat gewogen sind, sie rügen die Nachteile, mit denen sie verbunden ist. So beurteilte Cynus diese Spitzfindigkeiten und nach ihm andere, wie wir oben dargelegt haben. Auf welche Weise auch Gail die Parteien ermahnt, dass sie sich mit aller Macht hüten sollten, nicht in die gefährlichen Klippen jener Rechtswohltat zu geraten, haben wir eben gehört. Deshalb dürften wir gravierende Gründe genug haben zu untersuchen, ob das Gerichtsverfahren nicht von dem Schaden, den die Rechtswohltat auf erneuten Sachvortrag zufügt, vollständig befreit werden kann. Lasst uns also, die Auffassung für ein Weilchen hintangestellt, welche die heutige Gerichtsgewohnheit uns vorgibt, und auch die Autorität der Gesetze zwischendurch
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beiseite gelassen, untersuchen, was an Stelle der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag, wenn wir darüber keine Gesetze hätten, richtiger Weise zu verordnen wäre. Wenn wir das dargelegt haben, wird für die Autorität der Gesetze und ihre Billigkeit, auf die sich das Recht auf neuen Vortrag angeblich stützt, noch mehr als genug geschehen.
Kapitel V: Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag steht im Widerspruch zu Sinn und Zweck der Appellation Damit wir auf gesicherter Grundlage voranschreiten können, ist vor allem zu untersuchen, was die Appellation ist, zu welchem Zweck und aus welchem Grunde sie eingeführt wurde. Hat man nämlich die Entstehung und, wenn man das so sagen darf, die Natur der Appellation vollständig verstanden, wird schnell klar, was zu ihr passt und was ihr auf der anderen Seite fremd ist. Aus welchem Grunde Appellationen also geschaffen wurden, hat uns vielleicht niemand zutreffender als Ulpian gelehrt. Denn obwohl wir uns vorgenommen haben, gegen eine Regelung des römischen Rechts vorzugehen, durch die die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag gesichert wurde, entnehmen wir die Grundgedanken dennoch selbigem römischen Recht. Ulpian also beginnt den Digestentitel über die Appellationen mit diesen Worten: „Es gibt niemanden, der nicht wüsste, wie häufig die Appellation stattfindet und wie notwendig sie ist, weil sie ja die Ungerechtigkeit der Urteiler und deren Unerfahrenheit berichtigt.“127 Ebenso sehen es die Worte der Kaiser: „Wenn die Umstände es empfehlen, wende ich mich nicht gegen den Umfang einer Appellationseinlegung, damit sorgfältig geprüft werden kann, wo die Gerechtigkeit durch Irrtum oder Ungunst eines Urteilers zu Lasten des Wohls eines Menschen unterdrückt zu sein scheint.“128 Deshalb werden die Worte des Baldus lobend erwähnt, dass die Appellation ein Heilmittel gegen den Gifttrank des Richters sei129. Auch sagt ein Rechtsgelehrter zu Recht, die Appellation sei nichts anderes als die Beschwerde
127 128 129
Dig. 49, 1, 1 [pr.]. Cod. 7, 62, 29. Bald u s, Commentaria, zu Cod. 7, 69, 1.
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beiseite gelassen, untersuchen, was an Stelle der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag, wenn wir darüber keine Gesetze hätten, richtiger Weise zu verordnen wäre. Wenn wir das dargelegt haben, wird für die Autorität der Gesetze und ihre Billigkeit, auf die sich das Recht auf neuen Vortrag angeblich stützt, noch mehr als genug geschehen.
Kapitel V: Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag steht im Widerspruch zu Sinn und Zweck der Appellation Damit wir auf gesicherter Grundlage voranschreiten können, ist vor allem zu untersuchen, was die Appellation ist, zu welchem Zweck und aus welchem Grunde sie eingeführt wurde. Hat man nämlich die Entstehung und, wenn man das so sagen darf, die Natur der Appellation vollständig verstanden, wird schnell klar, was zu ihr passt und was ihr auf der anderen Seite fremd ist. Aus welchem Grunde Appellationen also geschaffen wurden, hat uns vielleicht niemand zutreffender als Ulpian gelehrt. Denn obwohl wir uns vorgenommen haben, gegen eine Regelung des römischen Rechts vorzugehen, durch die die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag gesichert wurde, entnehmen wir die Grundgedanken dennoch selbigem römischen Recht. Ulpian also beginnt den Digestentitel über die Appellationen mit diesen Worten: „Es gibt niemanden, der nicht wüsste, wie häufig die Appellation stattfindet und wie notwendig sie ist, weil sie ja die Ungerechtigkeit der Urteiler und deren Unerfahrenheit berichtigt.“127 Ebenso sehen es die Worte der Kaiser: „Wenn die Umstände es empfehlen, wende ich mich nicht gegen den Umfang einer Appellationseinlegung, damit sorgfältig geprüft werden kann, wo die Gerechtigkeit durch Irrtum oder Ungunst eines Urteilers zu Lasten des Wohls eines Menschen unterdrückt zu sein scheint.“128 Deshalb werden die Worte des Baldus lobend erwähnt, dass die Appellation ein Heilmittel gegen den Gifttrank des Richters sei129. Auch sagt ein Rechtsgelehrter zu Recht, die Appellation sei nichts anderes als die Beschwerde
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über die Rechtswidrigkeit des Urteils (iniquitatis sententiae)130. Besser kann sie indes definiert werden als Beschwerde einer Partei, die sich vom Richter beschwert fühlt und die Sache dem höheren Richter vorlegt, damit dieser das Urteil, nachdem es durch seine Befugnis und Autorität in der Schwebe gehalten wird, prüft und, was er als rechtswidrig erachtet, berichtigt. So beschaffen ist durchaus, was die Appellation ausmacht. Ob sie eine Einrichtung des Naturrechts ist oder des römischen Rechts, ist eine Frage zwischen Rechtsgelehrten131, mit der wir uns nicht beschäftigen müssen. Es ist deutlich genug, dass diese Einrichtung äußerst nützlich ist und für den Staat auch notwendig. Nichts nämlich ist für den Staat von größerer Bedeutung, als die Gerichtsbarkeit (Judicia) ordnungsgemäß zu handhaben132. Keine andere öffentliche Aufgabe ist, was Vergehen und Fehler angeht, schwieriger als das Richteramt. Denn Aristoteles zufolge ist das Recht nichts anderes, als gewissermaßen die Mitte zwischen mehr und weniger, nämlich zwischen Nutzen und Schaden133. Diese Mitte ist der Richter gehalten zu erkennen und muss sie den Parteien, die sich über die Ungleichheit äußerer Güter beschweren, zuweisen. Wie derselbe in der Tat schon anderswo gesagt hat: „Eine schwierige Aufgabe ist es, in jeder Sache die Mitte zu verfolgen.“134 Wenn der Richter also nicht ein sehr kluger Mann ist, wenn er auch keine große Sorgfalt walten lässt, wird er nur zu leicht irren. Es kommt hinzu, dass er sich der Gefühle enthalten und, was den Malern gefallen dürfte, blind sein sollte. Für Menschen, die mehr von Gefühlen als vom Verstand geleitet werden, ist es in der Tat nicht leicht, alle Gefühle beiseite zu lassen. Sobald ein Richter etwas seinen Gefühlen überlässt, urteilt er sofort schlecht. Wenn also diejenigen, welche τὸκύριον(tò kýrion, die Amtsgewalt) innehaben, selbst ein Urteil sprechen, so besteht, auch wenn sie sich in einer Angelegenheit irren sollten, keine Verteidigungsmöglichkeit gegen sie, es sei denn, man erreicht, dass sie den Fehler anerkennen. Aber die Handlungen der unteren Gerichte und Amtsträger unterliegen der Aufsicht und der Korrektur durch eine höhere Stelle. Die übrigen Amtshandlungen, welche die Angelegenheiten des ganzen Staates betreffen, führt die Obrigkeit von Amts wegen selbst aus. Bei Streitigkeiten der Privatleute hin130 131 132 133 134
Dig. 4, 4, 17. Kle s l , Tractatus, cap. 1. n. 16. Ari s t ote le s , Politicorum Libri, lib. 4, cap. ult., lib. 6. cap. ult. Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 5, cap. 7. Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 2, cap. ult.
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gegen nimmt der Richter seine Tätigkeit nur auf, wenn er angerufen wird135. Wenn also eine von beiden Parteien über den Richter Klage führt, dann überprüft ein Höherer den Vorderrichter und hebt die Fehler und Irrtümer des Vorderrichters, wenn sie festgestellt werden, durch die Verkündung eines neuen Urteils auf. Ist das nicht der Fall, bestätigt er das vorige Urteil. Von Nutzen ist dies auch, um Richter im Rahmen ihrer Amtsbefugnis zu halten. ἄνυϖεύθυνοι (ànypeúthynoi, unumschränkt herrschende) Amtsträger missbrauchen nämlich leicht ihre Macht. Aber diejenigen, die wissen, dass sie der Aufsicht und der Beobachtung eines Höheren unterliegen, nehmen sich in Acht, damit sie nicht getadelt werden. Die Unbilligkeit der Richter, zu welcher sie nun einmal neigen, ist also der Grund für die Einführung von Appellationen. Sonst würde ja das erste Urteil ausreichen, und der Oberrichter müsste nicht wegen einer solchen Belastung angerufen werden. Deshalb ist das Appellationsverfahren nichts anderes als die Beaufsichtigung und die Überprüfung des vorinstanzlichen Richters, welche der höhere Richter, veranlasst durch die Klage über die Ungerechtigkeit des unteren Richters, durchführt. So ist nun deutlich, wie weit sich unsere Appellationen von ihrem Ursprung entfernt haben, nachdem den Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zugebilligt worden ist. Wenn nämlich das Appellationsverfahren Aufsicht und Prüfung des vorherigen Verfahrens ist, muss der Appellationsrichter nichts anderes untersuchen, als ob der Unterrichter sein Amt gut oder schlecht ausgeübt hat, sodass er, wenn letzterer sich richtig verhalten hat, sein Urteil bestätigt und es andernfalls abändert. Das aber kann nur den Akten entnommen werden, die dem Vorderrichter zur Urteilsfindung vorlagen. Wird jedoch aufgrund eines neuen Sachverhalts entschieden, findet keine Überprüfung des vorigen Verfahrens statt, sondern ein völlig neues Verfahren. Wenn zum Beispiel jemand einen Titel aus Kaufvertrag verfolgt hat, nachdem ein allgemeiner Herausgabeanspruch auf eine Sache geltend gemacht wurde, dann im Appellationsverfahren sich auf ein Vermächtnis beruft, werden es im Appellationsverfahren ganz andere Fragen sein, die verhandelt werden, als sie es in der ersten Instanz waren. In der ersten Instanz wurde vielleicht untersucht, ob Einvernehmen über Ware und Preis bestanden habe, ob der Preis bezahlt wurde oder ob Einvernehmen über ihn bestanden habe, ob frei zugänglicher Besitz übertragen wurde. 135
Dig. 39, 2, 4, 8.
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Im Appellationsverfahren wird indes vielleicht die Auslegung des Vermächtnisses in Frage stehen, ob das Testament richtig abgefasst wurde, ob der Erblasser testierfähig gewesen ist. Es scheint, dass es vorher um Knoblauch gegangen sei, dass es jetzt aber um die Zwiebel geht. Eindeutig also weicht der Appellationsrichter von dem Ziel, welches ihm hätte aufgezeigt werden müssen, ab und von der Aufgabe seines Amtes, indem er über die neue Frage, das heißt über den neuen Streitgegenstand, auch mit neuen Beweisen entscheidet und nicht das untersucht, was er müsste: Ob der Vorderrichter sein Amt richtig oder falsch ausgeübt hat. Dies ist aber nichts weiter als ein Missbrauch der Appellation. Denn der Zweck der Appellation ist, Fehler des Richters zu berichtigen. Dass jedoch den Parteien auf dem gleichen Wege mit Hilfe des Darlegens des nicht Dargelegten und des Beweisens des nicht Bewiesenen auch gestattet wird, die eigenen Fehler zu korrigieren, ist ein Missbrauch. Auf den ersten Blick mag das vielleicht nicht von großer Bedeutung sein. Doch genau das ist es, was uns die unentwirrbaren Irrwege brachte, welche wir im dritten Kapitel dargestellt haben. Denn in Wahrheit ist die den Appellanten zugestandene Rechtswohltat auf den Vortrag von Neuem gewissermaßen nichts anderes als eine Förderung der Leichtfertigkeit der Parteien. Das wird aus dem Folgenden deutlich werden.
Kapitel VI: Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag ist das Verderben der Gerichtsverfahren und ein Anreiz für die Leichtfertigkeit der Streitenden Über die Dauer und das vielfach wechselnde Glück unserer Gerichtsverfahren klagen alle, die sich an diesem gelehrten Gespräch beteiligen. Was ist in Wahrheit der Grund, dass sich die Streitenden solange am Streit erbauen? Warum bringen sie es nicht schneller zustande, sich von der Last der Prozesse zu befreien? Doch diese Frage bedarf keiner weiteren Untersuchung, weil wir ja schon oben dargelegt haben, wie sehr das Gerichtsverfahren der Leichtfertigkeit unterliegen würde, wenn es dem Belieben der Parteien überlassen bliebe. Denn manche überlegen zwar, was für sie günstiger ist. Doch den Beklagten, die im Besitz der streitigen Sache sind,
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Im Appellationsverfahren wird indes vielleicht die Auslegung des Vermächtnisses in Frage stehen, ob das Testament richtig abgefasst wurde, ob der Erblasser testierfähig gewesen ist. Es scheint, dass es vorher um Knoblauch gegangen sei, dass es jetzt aber um die Zwiebel geht. Eindeutig also weicht der Appellationsrichter von dem Ziel, welches ihm hätte aufgezeigt werden müssen, ab und von der Aufgabe seines Amtes, indem er über die neue Frage, das heißt über den neuen Streitgegenstand, auch mit neuen Beweisen entscheidet und nicht das untersucht, was er müsste: Ob der Vorderrichter sein Amt richtig oder falsch ausgeübt hat. Dies ist aber nichts weiter als ein Missbrauch der Appellation. Denn der Zweck der Appellation ist, Fehler des Richters zu berichtigen. Dass jedoch den Parteien auf dem gleichen Wege mit Hilfe des Darlegens des nicht Dargelegten und des Beweisens des nicht Bewiesenen auch gestattet wird, die eigenen Fehler zu korrigieren, ist ein Missbrauch. Auf den ersten Blick mag das vielleicht nicht von großer Bedeutung sein. Doch genau das ist es, was uns die unentwirrbaren Irrwege brachte, welche wir im dritten Kapitel dargestellt haben. Denn in Wahrheit ist die den Appellanten zugestandene Rechtswohltat auf den Vortrag von Neuem gewissermaßen nichts anderes als eine Förderung der Leichtfertigkeit der Parteien. Das wird aus dem Folgenden deutlich werden.
Kapitel VI: Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag ist das Verderben der Gerichtsverfahren und ein Anreiz für die Leichtfertigkeit der Streitenden Über die Dauer und das vielfach wechselnde Glück unserer Gerichtsverfahren klagen alle, die sich an diesem gelehrten Gespräch beteiligen. Was ist in Wahrheit der Grund, dass sich die Streitenden solange am Streit erbauen? Warum bringen sie es nicht schneller zustande, sich von der Last der Prozesse zu befreien? Doch diese Frage bedarf keiner weiteren Untersuchung, weil wir ja schon oben dargelegt haben, wie sehr das Gerichtsverfahren der Leichtfertigkeit unterliegen würde, wenn es dem Belieben der Parteien überlassen bliebe. Denn manche überlegen zwar, was für sie günstiger ist. Doch den Beklagten, die im Besitz der streitigen Sache sind,
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mag es genehmer sein, wenn ein Prozess überhaupt nicht stattfindet. Sie sind infolgedessen gegen ein gerichtliches Verfahren und entfliehen ihm, wenn sie können oder wenigstens, soweit sie können. Das heißt, sie ersinnen Verzögerungen, suchen den Aufschub und halten, wenn möglich, die für Verfahrenshandlungen festgesetzten Termine nicht ein. Aus diesem Grunde erwarben sie sich bei den Griechen die herabsetzende Bezeichnung φεύγοντες (feúgontes, Flüchtlinge). Obwohl mit dieser Unsitte die Beklagten besonders vertraut sein mögen, finden wir sie nicht selten auch bei Klägern. Denn häufig sind Menschen so eingestellt, dass sie ein Ziel, das sie sich gesteckt haben, zwar begierig herbeiwünschen. Wenn sie aber selbst Arbeit aufwenden müssen, damit sie das Ziel erreichen, dann sind sie weniger entflammt. Deshalb beginnen Kläger einen Prozess mit großem Eifer, aber in dessen Fortgang beeilen sie sich häufig ziemlich wenig. Unter anderem hielt das besonders Antonius Faber in seiner Abhandlung über die Verbesserung des Gerichtsverfahrens fest, die er in seinen Codex aufnahm: Unter den Gründen für die lange Dauer der Prozesse, sagt er, sei dieser wohl der herausragende, „dass diejenigen, die streiten – sei es, sie wollen die Angelegenheit vorantreiben, sei es, sie wollen sich einigen – den Prozess im Allgemeinen so führen, als ob er sich in keiner Weise auf sie beziehe. Sie wollen nicht dulden, dass er sie in ihren übrigen Angelegenheiten behindert. Sie glauben, dass sie sich dem Prozess schnell genug zuwenden werden, wenn sie – nachdem sie sich zwischenzeitlich anderen Geschäften gewidmet haben – schließlich nach drei Monaten das machen, was sie, wenn sie gewollt hätten, am gleichen Tage hätten verrichten können und müssen. Weil doch ein Herold wie einst bei den Römern bei den öffentlichen Supplikationen auf dem Forum immer und überall bei meinem Prozess dabei sein müsste, der beständig ausruft: Voran, tu etwas! Denn was ist törichter als derjenige, der so lebt, als habe er keinen anderen Lebenszweck, als zu prozessieren, der aber seinen Prozess so führt, als erwarte er keinen anderen als einen posthumen Urteilsspruch und dass sein Leben kürzer sein werde als der Prozess.“136 Ein wenig danach fährt er fort: „Wegen der Fristverlängerungen, welche überflüssiger Weise den Streitenden allerorten gewährt werden, muss das alles hingenommen werden. Deren Zeitdauer und Abstände werden, je länger sie sind, um so mehr außer Acht gelassen. Man kümmert sich nicht eher um sie, bevor die Zeit drängt. Wenn ihr Ende dann näher rückt, erregen sie die Aufmerksamkeit der Parteien auch schneller.“ Auf welche Weise diesem Gebrechen der Parteien begegnet werden kann, erfahren wir ebenfalls von Faber. „Das nämlich wäre festzulegen“, sagt er, „dass, wer auch immer einen 136
Favre , Codex Fabrianus, lib. 9. tit. ut intra cert. temp. crim. quaest. term.
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Prozess führen will, die ihm durch den Prozess aufgebürdete Notwendigkeit anerkennt – und das würde sofort den Prozess beschleunigen – und sich gleichsam ausschließlich mit der äußerst ernsten und lästigen Angelegenheit zu befassen hat. Auf diese Weise müsste eines von beiden herauskommen: Entweder würde man aus Furcht den Plan zur Prozessführung nicht so schnell und seltener fassen, oder die Durchführung des schon als schlecht, aber dennoch als irgendwie notwendig erachteten Entschlusses könnte rascher erfolgen.“ Wie weit sind wir aber von dieser Auffassung entfernt, nachdem den Appellanten die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag eingeräumt worden ist! Denn wenn die Parteien so leicht bereit sind, den Prozess aufzuschieben und nachlässig zu behandlen, dass sie nicht eher als unbedingt notwendig das Erforderliche tun, ist wirklich nicht zu hoffen, dass sie sich also mit dieser gleichsam äußerst ernsten und lästigen Sache befassen werden – und das würde den Streit in der ersten Instanz sofort beschleunigen. Denn sie wissen, dass sie im Appellationsverfahren die Rechtswohltat genießen, Neues vorzutragen. In der ersten Instanz also werden sie ihrer Veranlagung frönen und sich um den Prozess nicht eher bemühen, als die Notwendigkeit sie zwingt, nämlich wenn man in das Appellationsverfahren gekommen ist. Es ist also alle Mühe vergeblich, welche Gesetze oder Richter haben walten lassen, um den Prozess der ersten Instanz frühzeitig zu Ende zu bringen. Und in der Tat ist, um den Prozess zu verkürzen, in vielen Prozessordnungen der Reichsgerichte, beispielsweise in der des Reichskammergerichts, festgelegt, der Beklagte müsse sämtliche Verteidigungsmittel und Einreden zu Beginn gleichzeitig sofort vortragen137. Für Beweisführungen und andere Prozesshandlungen sind Fristgewährungen und festgesetzte Fristen, überhaupt die meisten Fristen, präklusiv (praejudiciales), das heißt sie sind peremtorisch und haben Ausschlusscharakter138. Ein Verstoß gegen die Frist lässt die Handlung wirkungslos werden, die innerhalb der Frist hätte vorgenommen werden müssen. Dennoch ist es erlaubt, mit Hilfe der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag das ganze Verfahren vor dem Appellationsgericht wieder aufzurollen. So wird nach einem Verstoß gegen eine Frist nicht weiter gehört, wer sie vernachlässigt hat. Aber in einer neuen Instanz ist ihm der Vortrag erneut gestattet. Denn Rechtsgelehrte vertreten die Auffassung (obwohl es auch aus dem Gerichtsgebrauch hinreichend bekannt ist), dass auch, wenn jemand in der ersten Instanz an einer Ausschlussfrist gescheitert 137 138
RKGO 1555, 3, 24. RA zu Regensburg 1594, § 51; Deputationsabschied zu Speyer 1600, § 85; JRA 1654, § 97.
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ist, er im Appellationsverfahren aufgrund der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag noch das darlegen kann, was er in der ersten Instanz hätte darlegen müssen139. Es gibt gewiss einige, die rügen, was daraus an Unzuträglichkeiten folgt. Und so haben sie versucht, bei einem Verstoß gegen eine von einem Richter bestimmte Frist manches zu mäßigen und einzuschränken: Wer nämlich über eine durch Gesetz oder Statut vorgegebene Frist strauchelt, sagen sie, der ist vor dem Appellationsgericht nicht mehr zu hören140. Aber dieser Unterscheidung steht die Gerichtsgewohnheit entgegen, die die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag nicht weniger denen, die an einer Rechtsfrist scheitern, zugesteht wie denen, die über eine richterliche Frist straucheln. Das ist etwas, was wir schon nach dem Grundgedanken unserer Gesetze leicht zurückweisen könnten, wenn wir in diese Erörterung eintreten wollten. Es ist nach allem sicher, dass, wenn eine Appellation eingelegt ist, ein Verstoß gegen eine sogenannte bereinigte Frist (termini ... purificati) der ersten Instanz nicht weiter präjudizierlich ist. Ist das nicht in der Tat wie Mücken ausspeien, aber Kamele herunterschlucken? Wenn es nötig ist, einzelne Fristgewährungen als präjudizierlich anzusehen, dann wäre es sicher weitaus sinnvoller, wenn die ganze Instanz präjudizierlich und peremtorisch wäre. Oder aber Ausschlussfristen der ersten Instanz sind in der Tat nutzlos. Vergeblich wäre auch ein Richter der ersten Instanz streng oder sorgfältig mit der Verkürzung von Fristen, wenn das, was in der ersten Instanz vernachlässigt wurde, in der zweiten noch nachgeholt werden kann. Die Parteien vergehen sich aber noch aus einem anderen Grunde, der dem vorigen in gewisser Weise entgegenläuft. Sind sie auch nachlässig, so sind sie zugleich dennoch hartnäckig, das heißt, sie wollen vor allem gewinnen. Es gibt deshalb kein böswilliges Vorgehen und keine Art des Streitens, die sie nicht kennen. Ja, es geschieht, wie man sagt, dass Gegensätze, die zusammenstoßen, solange kämpfen, bis der eine den anderen besiegt und herausgedrängt hat. So geschieht es auch bei Streitenden, die gegensätzliche Auffassungen haben. Sie glauben, kämpfen und streiten zu müssen, bis der andere aufgegeben hat. Keiner aber will weichen. Nicht nur Überlegung, sondern auch Gefühle, Zorn und Hass tragen sie in den Streit hinein. Diese Gefühle kennen wirklich keine Mäßigung. So werden also diejenigen, die in Streit geraten sind, wie auch diejenigen, die vor Gericht einen Streit haben, nicht leicht dazu gebracht, endlich von der Auseinandersetzung abzustehen 139 140
Ma sc ard i , Conclusiones, conclus. 118, n. 29. Pis t ori s, Quaestiones, lib. 4, quaest. 23, n. 49.
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und den Rechtsstreit der Entscheidung des Richters zu überlassen. Wenn es ihnen gestattet wird, werden sie bis ins Unendliche streiten oder wenigstens, solange es ihnen erlaubt ist. Es ist nicht zu hoffen, dass ihnen der Prozessstoff endlich ausgeht. Denn sie werden häufig das Gleiche wiederholen oder Neues beimischen. Damit also diesem Übel auch abgeholfen wird, ist den Streitenden nicht zu gestatten, zu streiten, solange sie wollen. Vielmehr muss ihnen zur Erörterung soviel Zeit gegeben werden, dass sie genügt, um den Fall hinreichend aufzubereiten. Wenn ihnen mehr eingeräumt wird, wird es sofort von ihnen missbraucht. Denn da sie ja über alle Maßen streiten wollen, tun sie es, sofern es ihnen erlaubt wird. So wie offensichtlich eine angemessene Nahrungsmenge für den Körper ausreicht und ein Zuviel Verderben bringt, so fördert Maßhalten im Vortrag den Prozess. Der Rest ist die Quelle von Leichtfertigkeit und Verbohrtheit. Eine geringe Abschweifung vom Thema wird vielleicht wenig hinderlich sein. Wenn sie aber erheblich ist, wird sie auch erheblichen Schaden anrichten. Insoweit ist also den Parteien die Möglichkeit des Erwiderns, des Replizierens, der Beweisführung und des Bestreitens einzuräumen, soweit es zur Förderung des Prozesses notwendig ist. Das ist der für den Rechtsstreit angemessene Umfang. Dieser Umfang muss aber in der ersten Instanz selbst gegeben sein. Denn das Ziel des Rechtsstreits ist die Entscheidung. Was an Erörterungen für dieses Ziel erforderlich ist, das muss der ersten Instanz zugewiesen werden. Daraus folgt, dass es den angemessenen Umfang überschreitet und reinen Missbrauch darstellt, wenn es gestattet ist, noch über die erste Instanz hinaus zu streiten. Was aber das rechte Maß überschreitet, ist ein Missbrauch. Was können wir also anderes schlussfolgern, als dass die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag, die nach der ersten Instanz die Streitigkeiten wiederbelebt, das rechte Maß überschreitet und die Ursache für den Missbrauch darstellt? Hier sehen wir nun den Grund, warum Appellanten, auch wenn sie wirklich nichts Neues darlegen können, dennoch nicht von der Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag Abstand nehmen wollen, sondern, weil sie anderes nicht haben, entweder früher Vorgetragenes wiederholen oder anderes auf den Fall nicht Bezogenes unterbreiten. Das ist das, was wir unter Missständen, die wir im dritten Kapitel abgehandelt haben, an vierter Stelle darlegten. Denn es lässt sich schon in der ersten Instanz nur sehr schwer erreichen, dass die Parteien ihrem Streit schließlich ein Ende bereiten und den Fall zur Entscheidung des Richters stellen. Doch wie begierig nehmen sie den Streit,
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den sie in der ersten Instanz auf so ärgerliche Weise beendeten, in der zweiten Instanz wieder auf. Hierzu passt wirklich der Satz des Aristoteles: „Sie sind wie im Kriege so gewiss in diesen Dingen von gleicher Wesensart, dass sie immerzu kämpfen wollen.“141 Auch in anderen Dingen geschieht es, dass Menschen, wenn irgendetwas weniger glücklich vonstatten gegangen ist, glauben, dass sie es auch besser machen können. Wenn sie denn können, versuchen sie immer etwas erneut in Angriff zu nehmen. Darum ist es kein Wunder, dass Parteien, die mit einem Fall unterlegen sind, versuchen, Neues vorzutragen, auch wenn sie nichts Neues haben. Sie hoffen nämlich, derselbe Streit werde vieles zu Tage bringen, was jetzt noch nicht sichtbar sei, wenn er erst einmal wieder aufgenommen werde. Das verheimlicht in der Tat der Autor jener in deutscher Sprache verfassten, bei Rosencorb widergegebenen Abhandlung nicht, der, wie wir vorstehend dargelegt haben, den Gemeinen Bescheid vom 13. Dezember 1593 bekämpft. Unter anderem trägt er auch diesen Grund vor: „Zu dem beschicht vielmals/ daß pendente appellatione in Camerâ die Stände und andere Parteyen allererst gründlichen bericht/ & modos probandi, in ihren großwichtigen Sachen/ von ihren Advocaten und Procuratorn, und anderen in erfahrung bringen.“ Denn natürlich wird es schließlich in der Appellationsinstanz Zeit, den Sachstand zu klären und die Beweismittel ausfindig zu machen. Das scheint jedoch die Formulierung des Kalumnieneids zu berücksichtigen, wodurch in der Tat nicht allein für neue Behauptungen, welche man schon früher kannte, Vorsorge getroffen wird, sondern auch für solche, von denen man hofft, dass sie sich später im Prozess zeigen werden, „so ihme“ (dem Appellanten) „bereits bey Ablegung des Ayds vorkommen/ oder in Vollführung der appellation vorkommen möchten.“ Da ja, wie gesagt, Platz für diese leichtfertige Hoffnung ist, muss es nicht Wunder nehmen, dass die Appellanten sich dadurch selbst so oft wie den Richter täuschen und mit dem großen Unterfangen, das nicht Vorgetragene vorzutragen und das nicht Bewiesene zu beweisen, nichts als die vorinstanzlichen Akten wiederholen. Noch weniger dürften sie Erfolg haben, wenn sie Unerhebliches oder Ungehöriges vortragen. Denn sie selbst schwören (wie aus der Formel des Kalumnieneids hervorgeht), dass sie vorher nicht geglaubt hätten, die Tatsachen, die sie nun vortragen, seien nötig. Warum aber ist anzunehmen, dass ihre Meinung jetzt zutreffender ist als vorher? Vielmehr ist es wahrscheinli141
Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, , lib. 1, c. 12, n. 21.
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cher, dass sie in der ersten Instanz die Eignung oder Nichteignung der Beweismittel besser beurteilen konnten als nun im Appellationsverfahren. Wenn nämlich ein Fall vor dem Appellationsgericht, zumal dem höchsten, vorgetragen ist, dann dürfte, wie das Sprichwort es sagt, die Sache bei den Triariern angekommen sein. In der höchsten Not weisen die Menschen auch die Hilfstruppen von Zweifel und Hoffnung nicht zurück. Wie also Feldherrn, nachdem ihr Heer vernichtet ist, hektisch Ersatztruppen zusammenraffen und mit dem kriegsuntauglichen Haufen ihr Glück versuchen, so ersinnen auch Appellanten, die in der vorigen Instanz unterlegen sind, alles Mögliche, suchen von überall her neue Beweise und verwenden in ihrem Übereifer auch Abseitiges und Ungeeignetes. Das sind die Früchte der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag. Jene Hoffnung, die sich beim neuen Vortrag zeigt, vergrößert auch die Zahl der Appellationen nicht wenig. Denn das Vertrauen auf diese Rechtswohltat bewirkt, dass die Parteien die erste Instanz leichtfertig, nachlässig und überstürzt behandeln. Wenn aber etwas vernachlässigt wurde, zwingt sie die Notwendigkeit zur Appellation, damit sie das nicht Vorgetragene vortragen und das nicht Bewiesene beweisen können. Wenn sie diese Rechtswohltat nicht hätten, wären sie gezwungen, in der ersten Instanz wachsam zu sein. Dann würde gewiss niemand in die Appellation hineinstürmen. Weil die Rechtswohltat auf erneuten Sachvortrag dem Rechtsmittel der Appellation vollständig entgegensteht, zerstört sie auch seine Zielsetzung. Und weil sie die erste Instanz der Nachlässigkeit der Parteien, die zweite deren Verbohrtheit und den Prozess allgemein der Leichtfertigkeit aussetzt, scheint man sagen zu müssen, dass der Ursprung so vieler und so großer Übel abzuschaffen und aus unserem Gerichtsverfahren zu entfernen ist.
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Kapitel VII: Eine neue Verhandlung des Falles ist, nachdem das Gerichtsverfahren zunächst einmal abgeschlossen ist, nicht ohne Unterschied, sondern nur manchmal aus gewichtigen Gründen zuzulassen, aber nicht durch Appellation an das oberste Gericht, sondern durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beim gleichen Untergericht. Dann werden alle in Kapitel III aufgezählten schädlichen Folgen vermieden Die Gerichtsverfahren sind ebenso wie andere menschliche Betätigungen verschiedenen Zufällen unterworfen. Deshalb kann es vorkommen, dass jemand, durch Irrtum oder einen anderen gewichtigen Grund gehindert, einen Gesichtspunkt, der von großer Bedeutung war, auslässt. Also muss untersucht werden, welche sonstige Möglichkeit ihm gegeben werden muss, wenn ihm durch eine Appellation nicht geholfen werden kann. Man darf nicht annehmen, dass wir glaubten, in keinem Fall dürften die Parteien von neuem gehört werden, nachdem ein Gerichtsverfahren abgeschlossen ist. Aber dass alle ohne Ausnahme gehört werden, wenn sie nur gesagt haben: „Ich werde das nicht Vorgetragene vortragen und das nicht Bewiesene beweisen“, sei es, dass sie irgendetwas durch ihre Leichtfertigkeit in der ersten Instanz vernachlässigt haben, sei es, dass sie aus einem berechtigten Grund gehindert wurden; und dass sie, nachdem die Appellation eingelegt ist, den Fall und ihr eigenes Verschulden dem Richter anlasten, als ob ihnen durch kein anderes Mittel geholfen werden könne als durch die fälschliche Behauptung der Ungerechtigkeit des Richters; und schließlich, dass aus diesem Grunde ohne Notwendigkeit mit größten Nachteilen und Beschwerlichkeiten Prozesse von den unteren Gerichten zu den oberen gebracht werden und dort dann das nicht Vorgetragene vorgetragen und das nicht Bewiesene bewiesen werden soll: Das ist es, was der Änderung bedarf. Es ist nun zu untersuchen, auf welche Weise denen geholfen werden kann, die zu Recht einen Entschuldigungsgrund dafür anführen, dass sie im ersten gerichtlichen Verfahren die Beweismittel nicht vollständig vorlegten, damit die dargestellten Nachteile und Ungereimtheiten vermieden werden können. Herausfinden werden wir das zweifellos, wenn wir die übrigen im Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen Verstöße im Gerichtsverfahren und ihre Unterschiede betrachten. Denn da ein Verstoß aus unterschiedlichen Gründen erfolgen
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kann, sind auch unterschiedliche Rechtsbehelfe geschaffen worden. Den Rechtsbehelf nun, der für diesen Fall geeignet ist, den werden wir verwenden. Im römischen Recht sind den Streitparteien drei Rechtsmittel gegen ein Gerichtsurteil gegeben: Die Nichtigkeitsklage, die Appellation und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Es gibt außerdem die Supplikationen sowie die Leuterationen. Aber diese Rechtsbehelfe sind nicht bei allen Gerichten üblich. Deshalb ist es angebrachter, zu einem späteren Zeitpunkt über sie zu sprechen. Gleichermaßen greift hier auch die Syndikatsklage nicht ein, da sie sich mehr auf das bezieht, was den Schaden der betroffenen Partei angeht oder die Strafe des Richters als auf die Berichtigung des Urteils. Deshalb möchten wir nur die Unterschiede jener drei Rechtsmittel betrachten, der Nichtigkeitsklage, der Appellation und der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, damit wir zugleich die Gründe erklären können, auf welche Weise diese drei in Bezug auf das richterliche Urteil in besonderem Maße vergleichbar sind. Das nämlich wird unsere Meinung vollen Umfangs bestätigen. Im Gerichtsverfahren sind zwei Arten von Hauptpersonen tätig: Die Parteien, versteht sich, und der Richter. Außerdem gibt es im Gerichtsverfahren noch quasi den Geist (Mens), der alles in seinem Reich beherrscht und den Einzelnen ihre Aufgabe vorschreibt. Als dieser so beschaffene Geist, der umso wirksamer ist, je weniger er sichtbar wird, ist das Gesetz anzusehen. Dieser Geist wird seit Aristoteles ausnahmslos so verstanden142. Unter den Angesehensten hat Cicero es in seiner Rede für Aulus Cluentius wirklich ausgezeichnet ausgedrückt. „Wie unser Körper“, sagt er, „seine Bestandteile, die Nerven, das Blut und die Glieder nicht ohne den Geist zu nutzen vermag, so wenig vermag es auch das Gemeinwesen ohne das Gesetz.“ Nachdem er dann alle Beteiligten des gerichtlichen Verfahrens aufgezählt und untersucht hat, warum sie sich so und nicht anders verhalten, fügt er hinzu: „Ich meine, das alles geschieht durch das Gesetz, und das ganze gerichtliche Verfahren wird gleichsam durch eine Art von Geist regiert und gelenkt.“ Damit also das gerichtliche Verfahren ganz und gar richtig abläuft und das gewünschte Ziel erreicht wird, ist es notwendig, sowohl die Vorschriften des Gesetzes, des gleichsam obersten Herrschers, sorgfältig zu beachten, wie dass der Richter sein Amt gut verrichtet. Schließlich müssen sich auch die Parteien, um deren Sache es zuvor142
Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 10, cap. ult.; A ri s to te les , Politicorum Libri, lib. 3, cap. 16.
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derst geht, dem Gesetz in jeder Hinsicht unterwerfen. Wenn etwas davon nicht beachtet wird, wird das sicher für jede Partei von Nachteil sein. Nun also wird untersucht, ob die Fehler, die vor Gericht begangen worden sind, auf irgendeine Weise behoben werden können und der Schaden, der dadurch entsteht, zu verhindern ist. Zunächst ist ein gerichtliches Verfahren fehlerhaft, wenn ein Teil des Verfahrens, den das Gesetz regelt, schlecht durchgeführt ist. Das Gesetz schreibt in der Tat nicht nur dem Richter, sondern auch den Parteien die Grenzen ihrer Tätigkeit, Sinn und Zweck ihres Handelns vor. Von daher wurden einst die Klagen (actiones) Klagen nach dem Gesetz (legis actiones) genannt143. Es legt nicht nur den Ablauf des Prozesses fest, sondern auch die Stellung und die Befugnisse der Beteiligten. Wenn also alles dem Gesetz entspricht, ist das Verfahren dank der Macht und des Ansehens des Gesetzes gültig. Wenn es aber in irgendeinem Teil vom Gesetz abweicht, dann gibt das Gesetz dem so beschaffenen Verfahren keine Kraft. Denn das Gesetz gewährt seine Autorität nicht dem, was gegen das Gesetz geschieht144. Dieser Mangel wird als Nichtigkeit bezeichnet und das Urteil selbst als Nichturteil (Nullum), weil gleichsam das nicht dem Gesetz Entsprechende nicht wirklich Urteil sein kann. Darum unterscheiden die Griechen wie wir zwischen dem nichtigen ϖαράνομον (paránomon, gesetzeswidrig) und dem ungerechten ἄδικον (ádikon, ungerecht) Urteil. Zu Recht also sagt Vantius, dass die Nichtigkeit ein Fehler oder Mangel sei, der aus einer Rechtsverletzung (ob Legis transgressionem) entsteht145. Auf diesen Fall findet die Nichtigkeitsklage Anwendung. Wir wollen uns nun dem falsch ausgeübten Richteramt zuwenden. Die Macht des Gesetzes kann sich nicht zeigen, wenn es sich nicht auf die Durchführung von Menschen stützen kann. Es kommt deshalb vieles auf den Richter zu, was durch das Gesetz nicht vorgeschrieben ist. Denn das Gesetz drückt sich allgemein aus, das Urteil aber regelt den Einzelfall. Deshalb ist es die Aufgabe des Richters, die Untersuchung von Tatsachen, welche im Gerichtsverfahren von Bedeutung sind, anzuordnen und das Recht auf die Tatsachen richtig anzuwenden. Es kann also vorkommen, dass der Richter, wenn das Urteil auch nach Vorschrift der Gesetze ergangen ist, 143 144 145
Dig. 1, 2, 6. Cod. 1, 14, 5. Va nt iu s, Tractatus, tit. 1 am Anfang.
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dasjenige, was auf seiner eigenen Befugnis entspringt, weniger richtig anwendet. Dann also ist das Urteil unrichtig, wenn es auch mit dem Gesetz selbst, wie im erwähnten Fall, nicht unvereinbar wäre. Denn nicht alles, was dem Richteramt überlassen ist, kann durch das Gesetz vorbestimmt werden. Das Gesetz schafft deshalb für diejenigen Fragen, auf die es selbst nicht angewendet werden kann, weil es dem Richter Vertrauen schenkt, ein rechtskräftiges Urteil, mag es vielleicht auch nicht sachkundig sein oder nachlässig verfasst. Deshalb sagt man, der Prätor spricht Recht, auch wenn er unbillig entscheidet146. Da wir nun durch das Gesetz selbst nicht geschützt sind, ist die Hilfe des Menschen zu erbitten. Deshalb wird die Möglichkeit gewährt, eine höhere Stelle anzurufen und durch eine bei ihr eingereichte Beschwerde zu erreichen, dass sie durch ihre Redlichkeit, Tatkraft und Weisheit korrigiert, was der vorige Richter entweder aus Böswilligkeit und Nachlässigkeit oder aus Unerfahrenheit falsch gemacht hat. Zu diesem Zweck ist die Appellation eingeführt worden. Es bleibt zu untersuchen, was rechtens ist, wenn die Parteien selbst nachlässig waren: Ob ihnen dann gleichermaßen geholfen werden muss, wie wenn der Richter gefehlt hat. Heute erachtet man die Fehler der Richter und die der Parteien für rechtlich fast gleichgewichtig und glaubt, für die Behebung von beidem sei die Appellation geschaffen worden. Wie groß aber hier der Missbrauch und die Verirrung ist, ist schon hinreichend gezeigt worden. Zwischen dem Verschulden eines Richters und dem der Parteien besteht nämlich ein großer Unterschied. Denn die Parteien verfolgen ihre eigenen Interessen. Der Richter aber ist im Auftrage eines Dritten tätig. Wenn der Richter gefehlt hat, dürfen die Parteien darunter nicht leiden. Denn ein Schaden darf einem Anderen nicht zugefügt werden147. Zu Recht wird hier infolgedessen die Appellation zugelassen. Aber wenn die Parteien selbst versäumen, etwas zu tun, ist nichts gerechter, als sie für ihre Säumnis zu bestrafen. Denn in allen Verträgen und Beziehungen zwischen Menschen nehmen wir zu Recht an, jeder habe die Folgen der eigenen Schuld zu tragen148. Und Schaden, den jemand aufgrund eigener Schuld erleidet, wird zu Recht erlitten149. Sonst nämlich können Beziehungen zwischen Menschen keinen Bestand haben. Wenn es aber einmal geschieht, dass die Parteien vor 146 147 148 149
Dig. 1, 1, 11. Dig. 50, 17, 74. Dig. 50, 17, 155. Dig. 50, 17, 203.
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Gericht etwas unterlassen haben und aus einem gewissermaßen berechtigten Grund entschuldigt sind, dann allerdings muss ihnen geholfen werden. Und dann ist Platz für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Denn mit diesem Rechtsmittel hilft der Prätor denen, die in einer vertraglichen Beziehung, in einem gerichtlichen Verfahren oder in einem anderen vergleichbaren Verhältnis ohne eigene Schuld Schaden erlitten haben. Dann brauchen Parteien, die durch ein Versehen oder Ähnliches gestrauchelt sind, nicht in die Appellation zu gehen und mit der zweifelhaften Beschimpfung des Richters zu versuchen, die Rechtswohltat auf Darlegung des nicht Dargelegten und den Beweis des nicht Bewiesenen zu erlangen. Warum denn sollten sie nicht vielmehr sagen, wie es ist, dass sie, entweder durch ein Versehen oder aus einem anderen schwerwiegenden Grund gehindert, einen Nachteil in einem Gerichtsverfahren erlitten haben und deshalb ein Rechtsmittel beantragen, das für diesen Fall im Recht vorgesehen ist? Denn der Unterschied zwischen Appellation und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht vor allem darin, dass die Appellation für die Ungerechtigkeit der Richter und die Wiedereinsetzung bei Versehen, Hindernissen und anderen Fällen vorgesehen ist, welche den Parteien ohne deren Verschulden widerfahren sind. Vorzüglich, wenn auch in kurzen Worten, drückt ein Rechtsgelehrter150 diesen Unterschied aus: „Die überprüfende Appellation erfasst gewiss die Beschwerde über die Ungerechtigkeit des Urteils, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aber den Antrag auf Nachsichtgewährung für eigenes Versehen oder den Antrag auf Berichtigung wegen einer Täuschung durch den Gegner.“ Diese Unterscheidung wird allgemein anerkannt151. Wenn nun ein durch die Appellation zu behebender Fehler des Gerichtsverfahrens vorliegt, verursacht nicht durch die Parteien, sondern durch den Richter, sind zur Behebung dieses Fehlers nicht die Pflichten der Parteien, sondern die des Richters von Anfang an neu zu verhandeln. Die Aufgabe der Parteien aber besteht in der Erörterung des Sachverhalts, die des Richters in der Entscheidung. Deshalb ist keine neue Verhandlung für die Parteien vorzusehen, sondern eine neue Entscheidung des höheren Richters. Und deshalb ist die bisherige Handhabung, dass die Appellation den Stand des Verfahrens auf die Zeit der Litiskontestation zurückführt152, besser so auszugestalten, dass sie den Fall auf den Stand bringt, in welchem er sich zum Zeitpunkt des 150 151 152
Dig. 4, 4, 17. Od d i, Tractatus, p. 1, quaest. 1, art. 6. Vgl. soeben [Od d i] im Vorwort.
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Verfahrensabschlusses befand. Denn nach der Streitbefestigung obliegt es vor allem den Parteien am meisten, die Sache unter sich zu verhandeln, während der Richter schweigt. Wenn dagegen das Verfahren abgeschlossen ist, ist es vor allem Aufgabe des Richters, während die Parteien schweigen, über das Urteil zu entscheiden. Da ja nun in der Appellationsinstanz nicht die Rolle der Parteien, sondern das Amt des Richters zu stärken ist, folgt daraus, dass die Appellation nicht auf den Zeitpunkt der Litiskontestation, sondern besser auf die Zeit des Verfahrensabschlusses bezogen werden sollte. Wenn demgegenüber den Parteien, denen die Verhandlungsführung obliegt, ein Fehler unterlief, hat zur Behebung eine neue Sacherörterung hinsichtlich dessen stattzufinden, was vorher vorzutragen unterlassen wurde. Und das ist der Grund, warum wegen neuer Tatsachen ausschließlich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zugelassen werden sollte153. Folglich darf die Möglichkeit zu neuem Sachvortrag nicht durch Appellation, sondern nur durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorgesehen werden. Ausgenommen sind allerdings wenige Spezialfälle, die wir weiter unten behandeln werden. Es ist deutlich, was sich aus dieser, wie ich sie nennen möchte, speziellen und wichtigen, von römischen Juristen selbst überlieferten Unterscheidung von Appellation und Wiedereinsetzung ergibt: Es ist sehr verwunderlich, was die römischen Kaiser dazu veranlasste, die Rechtswohltat, Neues vorzutragen, auf die Appellation zu übertragen, der dieses Recht sehr fremd ist. Denn zuerst konnte es nur bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und nur, wie gleich ausgeführt wird, auf Antrag vom Vorderrichter selbst erlangt werden. Aber davon werden wir weiter unten hören, wo wir Grund und Hintergrund des Vorgangs erklären werden. Jetzt wollen wir betrachten, welchen Nutzen diese Unterscheidung haben wird, damit man nicht vielleicht glaubt, was wir vorschlagen, seien reine Gedankengebäude. Wir werden also zeigen, dass alle diese großen in Kapitel III abgehandelten schädlichen Folgen, welche aus der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag in der Appellation erwachsen sind, vermieden werden können, wenn diese Unterscheidung eingehalten wird. Die erste schädliche Folge ist, dass der Oberrichter entscheidet, der Unterrichter habe schlecht geurteilt, auch wenn es scheint, dass er nach Lage der Akten und Beweise richtig geurteilt hat. Das aber entsteht daraus, dass 153
RKGO 1555, 3, 52.
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heutzutage im Appellationsverfahren die beiden Fragen vermischt werden, ob der Richter oder aber eine Partei ihre Pflicht nicht erfüllt hat. Aus einer derartigen Vermengung verschiedener Fragen mussten Irrtümer und verwirrende Schwierigkeiten entstehen. Bekannt ist seit der Abhandlung des Aristoteles über Sophistici elenchi154, dass unter sophistische Trugschlüsse auch die Täuschung über mehrere Schlussfolgerungen gezählt wird, dann nämlich, wenn mehrere Fragen unerkannt als eine verstanden werden. Willst du dich nämlich bei einer nicht bemerkten Unterschiedlichkeit von Fragen mit einer einzelnen Antwort zufrieden geben, dann unterliegst du notwendigerweise einem Trugschluss. Wenn wir recht abwägen, sind wir gezwungen zuzugestehen, dass die Appellanten, die Neues vortragen, mit einer derartigen Täuschung den Richter hintergehen. Mit der Einlegung der Appellation nämlich beklagen sie sich, dass der Richter „übel geurteilt“ habe. Mit dem neuen Vortrag aber sagen sie, dass auch sie etwas vorzutragen unterlassen haben. Es kommen also zwei unterschiedliche Fragen auf: Erstens, ob der Richter unrichtig entschieden hat, zweitens, ob der Appellant etwas ausgelassen hat, mit dem er, wenn er es vorgetragen hätte, in dem Falle hätte obsiegen müssen. Diese beiden Fragen vermischen die Appellanten und tragen sie als eine vor. Der Appellationsrichter, der das Urteil nach der neu vorgetragenen Begründung abändert, entscheidet in Wahrheit die zweite Frage, er beantwortet aber die erste, da ja das Urteil sich zur Klageschrift verhält, wie die Antwort zur Frage155. Von daher also kommt die Ungereimtheit, dass er ausspricht, der Richter voriger Instanz habe übel geurteilt, selbst wenn sich nach Lage der Akten und der Beweise zeigt, dass er richtig entschied. Diese Ungereimtheit kann aber durchaus vermieden werden, wenn die unterschiedlichen Fragen gesondert behandelt werden und im Appellationsverfahren allein nach den Akten der Vorinstanz über einen Rechtsverstoß des Richters entschieden wird. Ausgelassene Allegationen aber und Beweismittel sind, wenn der Fall so beschaffen ist, in genau derselben ersten Instanz zu behandeln, nachdem Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt wurde. Zugleich entfällt auch ein weiterer Missstand. Er besteht darin, dass, seitdem den Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zugestanden ist, die Prozesse ohne Notwendigkeit in mehrere, vor allem lange, aneinandergereihte Verfahren auseinander gezogen werden. Denn die neuen 154 155
Ari s t ote le s , De Sophisticis Elenchis, lib. 1, cap. 5, lib. 2, cap. 30. Va nt iu s, Tractatus, tit. quot et quibus mod. null., n. 108.
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Erörterungen, welche sinnvollerweise im ersten Verfahren hätten behandelt werden sollen, werden zum höheren Gericht gezogen. Wenn neuer Sachvortrag nicht erlaubt ist außer bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in der Vorinstanz, wird folglich alles, was hier von Schaden ist, vermieden. Dem scheint jedoch entgegenzustehen, dass nach allgemeiner Auffassung die Wiedereinsetzung gegen ein rechtskräftiges Urteil nicht bei dem Richter beantragt werden kann, der das Urteil gefällt hat, sondern auch beim höheren Richter156. Was also nutzt es, den Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag genommen zu haben, wenn sie diese auch mittels Wiedereinsetzung verfolgen können und genau diese Wiedereinsetzung beim höheren Richter beantragen dürfen? So nämlich sitzen wir in der gleichen Tinte. Und dann leiden die höheren Gerichte vielleicht noch mehr unter den Wiedereinsetzungen in den vorigen Stand als heute unter den Appellationen. Aber da es verschiedene Arten von Wiedereinsetzungen gibt, braucht vielleicht dasjenige nicht verallgemeinert zu werden, was für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gilt, die beim oberen Richter beantragt wird. Sondern vielleicht darf man das auf eine bestimmte Art von Wiedereinsetzungen beschränken. Denn man muss wissen, dass der Unterschied zwischen der Wiedereinsetzung derer, die älter sind als 25 Jahre und derer, die jünger sind, sehr groß ist. Letztere erlangen nämlich weitaus leichter die Wiedereinsetzung als erstere. So können, wie die Rechtsgelehrten sagen, Jüngere (minores) allein wegen eines Rechtsverstoßes des Richters die Wiedereinsetzung beantragen, auch wenn sie selbst nichts unterlassen oder im Verfahren fehlerhaft betrieben haben157. Obwohl andererseits dieser Auffassung die Unterscheidung entgegenzustehen scheint, die wir kurz zuvor zwischen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Appellation getroffen haben, dass nämlich die Appellation die Klage über den Rechtsverstoß des Richters erfasst, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aber den Antrag auf Nachsichtgewährung für eigenes Versehen oder die Behauptung einer Täuschung durch den Gegner. Diese Auffassung kann dennoch aus zwei Erwägungen aufrecht erhalten werden. Zunächst ist sicher, dass der alleinige Grund für die Wiedereinsetzung der Jüngeren die Unerfahrenheit dieser Menschen ist, die, so ein Rechtsgelehrter, vielen Trugschlüssen unterlegen, 156
157
Dura n ti s , Speculum iuris, lib. II, particula III, cap. de restitutione in integrum § 5 (videndum) n. 4; F e r r ar iu s M on ta nu s , Commentarius, cap. 7. § interim eorum faciemus mentionem; B end er , Conclusiones, concl. 1, n. 13. Od d i, Tractatus, p. 2, quaest. 72, art. 1, n. 6 et 8.
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der Tücke Vieler ausgeliefert sind158. Folglich könnte auch ein Richter unter Missachtung der Unbedarftheit der Jugend die Gelegenheit ergriffen haben, durch sein Urteil Jüngeren Schaden zuzufügen. Denn je unbedarfter und auch je sorgloser jemand ist, umso anfälliger ist er für Unrecht der Menschen, folglich auch durch einen Richter159. Da es bei Jüngeren, die in Ausnutzung ihres Alters durch ein Urteil eines Richters Schaden erlitten haben, vorkommen kann, dass sie das Unrecht akzeptiert haben, dürfte es nicht abwegig sein, ihnen in diesem Falle die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Sie kann aber noch aus einem anderen Grund zugestanden werden, welcher vielleicht gewichtiger erscheint. Denn es ist sicher, dass Ältere (majores) hinsichtlich eines Urteils nicht wiedereingesetzt werden, es sei denn aufgrund neuen Vortrags. Klagen sie aber nur wegen einer Rechtsverletzung des Richters, müssen sie Appellation einlegen. Wenn sie die Appellationsfrist versäumt haben, haben sie es sich selbst zuzuschreiben. Hat ihnen aber vielleicht ein Hinderungsgrund entgegengestanden, dürfen sie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gegen das rechtskräftige Urteil, sondern nur wegen der versäumten Appellationsfatalien beantragen. Dann in der Tat wird die Unterschiedlichkeit dieses doppelseitigen Rechtsmittels deutlich, welches Kommentatoren (Interpretes) als aufhebend und fortführend bezeichnen. Denn zunächst verlangen die Parteien, die eine Appellation einlegen wollen, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Das ist das aufhebende Rechtsmittel. Danach, wenn die Wiedereinsetzung erlangt ist, betreiben sie die Appellation. Dieses Verfahren ist fortführend. Aber bei der Wiedereinsetzung von Jüngeren geschieht es häufig, dass die beiden Rechtsbehelfe, das aufhebende und das fortführende, verbunden werden160. Die Jüngeren können also auch, verletzt durch ein Urteil, gegen das sie keine Appellation eingelegt haben, die Wiedereinsetzung wegen der nicht rechtzeitig eingelegten Appellation verlangen161, wenn sie das wollen. Und danach betreiben sie die Appellation als gleichsam fortführendes Verfahren. Kürzer ist es dennoch, direkt bezüglich des rechtskräftigen Urteils wieder eingesetzt zu werden und den Umweg über das aufhebende und fortführende Rechtsmittel zu vermeiden. Es wird damit deutlich, dass die so beschaffene Wiedereinsetzung an die Stelle der Appellation tritt. Es ist also 158 159 160 161
Dig. 4, 4, 1 [pr.]. Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, lib. 1, c. 12, n. 30. Dig. 4, 4, 13, 1. Dig. 4, 4, 42.
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kein Wunder, dass sie die Bedeutung und die Wirksamkeit einer Appellation hat. Deshalb sagt Ulpian: „Was nämlich den Volljährigen durch die Appellation gewährt wird, erreichen die Minderjährigen durch die Rechtswohltat des Minderjährigenschutzes.“162 Von daher kommt es auch, dass die so beschaffene Wiedereinsetzung gegen das Urteil des Kaisers und des Prätorianerpräfekten ebenso häufig stattfindet wie die Appellation163. Wenn indes die Wiedereinsetzung wegen eines unterlassenen Sachvortrags (ob allegationem omissam) verlangt werden kann, kann das auch gegen ein Urteil des Kaisers und des Prätorianerpräfekten verlangt werden164. Jüngere werden also auch bei rechtskräftigem Urteil sowohl wegen Rechtsverletzung durch den Richter als auch wegen unterlassenen Vortags wie schließlich wegen nicht vorgetragener Beweismittel wiedereingesetzt. In erster Linie findet die Wiedereinsetzung an Stelle der Appellation statt. Es gibt aber auch die reine Wiedereinsetzung, welche sich von der Appellation vollständig unterscheidet. Von daher wird deutlich, warum es Jüngeren unbenommen bleibt, die Wiedereinsetzung entweder beim höheren Richter oder bei der Vorinstanz selbst zu beantragen. Denn wenn sie wegen unterlassenen Vortrags beantragen, wiedereingesetzt zu werden, dann wenden sie sich zu Recht erneut an den Vorderrichter. Aber wenn sie über die Rechtsverletzung des Richters klagen, wäre es töricht, bei der Vorinstanz diese Beschwerde zu erheben und ihn zum Richter über die eigene Rechtsverletzung zu machen. Dieser Grund kommt jedoch bei der Wiedereinsetzung Älterer nicht zum Tragen. Sie nämlich können die Wiedereinsetzung gegen ein Urteil nicht verlangen, es sei denn wegen des unterlassenen Vortrags oder eines nicht vorgelegten Beweismittels, vielleicht noch wegen Arglist des Gegners oder mit der allgemeinen Formulierung wegen eigenen Irrtums oder eigener Behinderung. Diese Wiedereinsetzung aber beim höheren Richter zu beantragen, erfordert weder die Vernunft noch die Notwendigkeit. Vielmehr legt der Sachzusammenhang nahe, von dem früheren Richter, vor dem der Fall verhandelt wurde, zu beantragen, dass er der ordentliche Richter sei. Das scheint die Unterscheidung der Rechtsgelehrten zu berücksichtigen, mit der sie sagen, dass die Wiedereinsetzung auch bei der Vorinstanz beantragt werden müsse, wenn sie wegen eines Fehlers in der ersten Instanz erfolgt. Wenn aber die Wiedereinsetzung wegen eines Fehlers oder einer Säumnis in der 162 163 164
Dig. 4, 4, 42 [Übersetzung nach Behrends, Knütel, Kupisch, Seiler]. Dig. 4, 4, 18, 1; Dig. 1, 11, 1, 2. Dig. 4, 4, 18, 1; Dig. 4, 4, 17.
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zweiten Instanz begehrt werde, dann ist die Wiedereinsetzung beim höheren Richter zu beantragen165. Die Unterscheidung erfolgt so, dass die allermeisten die Meinung vertreten, auch die Restitution wegen versäumter Appellationseinlegung sei nicht beim höheren Gericht, sondern beim unteren zu beantragen166; deswegen, weil die Einlegung der Appellation nach ihrer Meinung doch mehr zum unteren als zum höheren Gericht gehöre. Das ist indessen nicht ganz begründet, weil ja die Einlegung der Appellation als Prozesshandlung zwischen der ersten und der zweiten Instanz mehr Bezug zur zweiten als zur ersten Instanz haben dürfte. Deshalb ist es weitaus sicherer, die Wiedereinsetzung wegen eines schweren Formfehlers bei der Appellationseinlegung beim höheren Gericht zu beantragen167. Das aber bleibt unverändert, dass die Wiedereinsetzung vom erstinstanzlichen Richter selbst begehrt werden muss, wenn sie wegen einer auf irgendeine Weise unrichtigen Handlung verlangt wird oder wegen eines Versäumnisses (und das ist es, worüber wir jetzt reden). Auch die Worte von Gabriel Mudäus verdienen Beachtung: „Aber wenn jemand die Wiedereinsetzung wegen eines eigenen Fehlers beantragt, ist es gewiss einleuchtend, dass er bei keinem anderen für seinen Fehler um Nachsicht bittet, als bei dem, bei dem er angeblich geirrt hat und der in Kenntnis der Einzelheiten des Falles sehr leicht erkennen kann, ob ein Versehen vorliegt.“168 Wir müssen uns wirklich vollen Umfangs davon leiten lassen, dass es bei dem Richter zu beantragen ist, der das Urteil erlassen hat und nicht beim höheren Richter, wenn die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in allgemeiner Formulierung (ex generali clausulâ) wegen unterlassenen Vortrags oder unterlassener Beweisführung begehrt wird. Ausdrücklich sagt das auch Mynsinger in Decade XV, Responsio III Nummer XI. So wird der Nachteil vermieden, der aus dem Auseinanderziehen des Falles entsteht, dass die Parteien in unterschiedlichen Verfahren verhandeln und die Instanzen ohne Notwendigkeit vermehrt werden. Denn eine neue Erörterung wird, wenn sie denn nötig ist, nach Beantragung der Wiedereinsetzung im ersten Verfahren für Richter und Gegner nicht so beschwerlich sein, wie wenn im Appellationsverfahren das nicht Dargelegte dargelegt und das nicht Bewie165 166 167
168
Od d i, Tractatus, p. 1, quaest. 32, art. 16, n. 126-127. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 143, n. 1. Maur it iu s , Definitio restitutionis in integrum, cap. 239 [fin.]; My n si n ger , Observationes, cent. 4, obs. 17; Rod i ng , Pandectae, lib. 3, tit. 4 in der Anmerkung auf S. 494. Mud äu s, Commentarii, in l. 2, C. ubi et ap. quem.
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sene bewiesen wird. Aber das wird aus dem Folgenden noch deutlicher werden. Das Vorstehende haben wir so ausführlich ausbreiten müssen, damit nicht der Eindruck aufkommt, die Auffassung der Rechtsgelehrten über das für die Restitution zuständige Gericht stehe uns entgegen. Wir werden uns nun mit den Missständen IV und V befassen, welche die schwerwiegendsten von allen sind. Denn wir haben in den Kapiteln III und VI dargestellt, wie die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag bewirkt, dass die Parteien mit der ersten Instanz entweder vorsätzlich, bestimmt aber mit Leichtfertigkeit und Nachlässigkeit ihr Spiel treiben. Oder sie wiederholen, selbst wenn in der ersten Instanz nichts versäumt wurde, in der Appellationsinstanz unter dem Vorwand neuen Sachvortrags entweder alte Tatsachen oder tragen neue Beschwerdegründe vor, die untauglich sind oder ohne Bezug zur Sache. Denn wenn die Appellation eingelegt ist und die Formalien in Ordnung sind, gilt der Stand des Prozesses als auf die Litiskontestation zurückgeführt. Daher wird alles, was während des erstinstanzlichen Rechtsstreits hatte geschehen dürfen, schon von Rechts wegen in der Appellationsinstanz für zulässig erachtet. So ist es denn kein Wunder, dass die meisten die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag missbrauchen. Aber die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erreichen, ist nicht so einfach. Denn niemand wird ohne Prüfung des Grundes in den vorigen Stand wiedereingesetzt169. Obwohl die Untersuchung für die verschiedenen Wiedereinsetzungen unterschiedlich verläuft, muss dennoch zweierlei besonders geprüft werden, was derjenige, der wiedereingesetzt werden will, zu beweisen hat. Erstens nämlich muss er die Schädigung darlegen und beweisen170, dann den für den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geeigneten Grund171. Wenn sich zum Beispiel jemand beklagt, er habe in irgendeinem Gerichtsverfahren einen Schaden erlitten, einen Tatsachenvortrag oder die Beweisführung versäumt und er hätte den Prozess gewonnen, wenn er das vorgetragen hätte, und müsse deshalb zur Behebung des Schadens wiedereingesetzt werden und beantrage, mit seinen neuen Argumenten endlich gehört zu werden: der wird nicht restituiert, bevor nicht deutlich geworden ist, dass er wirklich einen Schaden erlitten hat. Das heißt, dass das Versäumte so beschaffen ist, dass es für das Obsiegen in dem Fall geeignet war, und dass er einen so beschaffenen Grund für die Schädigung nach169 170 171
My ns i nge r , Observationes, cent. 1, obs. 49, cent. 4, obs. 21. Od d i, Tractatus, p. 1, quaest. 36. Od d i, Tractatus, quaest. 37 und ff.
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weist, dass er Hilfe verdient. Hat er aber aufgrund eigenen Verschuldens einen Schaden erlitten, kann er nicht restituiert werden172. „Denn nicht den Nachlässigen wird geholfen, sondern den durch die Notwendigkeit Gehinderten.“173 Deshalb „werden alle Wiedereinsetzungen in den vorigen Stand dem Prätor zur Prüfung vorgelegt, natürlich, damit er die Berechtigung der Begründungen daraufhin untersucht, ob sie es wert sind, dass er in einzelnen Fällen mit seinem Namen hilft.“174 Es handelt sich dabei um Fälle, wie jugendliches Alter, Arglist und ähnliches mehr, die durch besondere Edikte geregelt sind. Oder aber sie werden unter einem allgemeinen Begriff zusammen gefasst, anhand dessen der Prätor, wenn ihm ein Fall berechtigt erscheint, die Wiedereinsetzung gewährt. Es ist also deutlich, dass niemand, wenn allein der Weg der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die erneute Erörterung des Falles zulässt, diese Rechtswohltat verfolgen wird, wenn er das nicht aus einem berechtigten Grund verlangen kann. Wenige werden also diesen Weg beschreiten. Im Appellationsverfahren aber, wo die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag allgemein gegeben und von Rechts wegen zugelassen ist, können leichtfertige Wiederaufnahmen der Prozesse und die übrigen Fälle von schwerem Missbrauch nicht vermieden werden. Du wirst sagen, dass auch in Appellationsverfahren eine Überprüfung stattfindet, nämlich wenn die Zulassung der Beschwerdegründe untersucht wird. Aber bereits früher im Kapitel III ist deutlich genug aufgezeigt worden, welche Schwierigkeiten die Untersuchung bereiten kann, wie oft die Richter dabei scheitern, weil sie im Zweifel gezwungen sind, die Gravamina zuzulassen. Aber an demselben Gericht, vor dem der Fall verhandelt wurde, kann leicht entschieden werden, ob die Gründe erheblich sind oder nicht, wenn die Wiedereinsetzung aus irgendwelchen neuen Gründen verlangt wird. Der Richter, der dem vorausgegangenen Verfahren vorstand, wird weitaus schneller über die Sache entscheiden als der höhere Richter. Der nämlich muss sich zuerst den Streitstand aus den Akten des vorigen Prozesses erarbeiten. Aber dem Richter der ersten Instanz ist das schon bekannt. Er kann also sofort unterscheiden, wenn Neues vorgetragen wird, ob es wirklich neu, ob es eine reine Wiederholung von Früherem, desgleichen ob es von irgendeiner Bedeutung ist oder leichtfertig vorgetragen wurde. Ein Beweis dafür ist, was am Reichskammergericht geschieht. Da ja diejenigen, 172 173 174
Dig. 4, 1, 7, 1. Dig. 4, 6, 16. Dig. 4, 1, 3.
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welche dort unterlegen sind, nicht die Rechtswohltat haben, einem höheren Gericht das bisher nicht Vorgetragene vorzutragen und das nicht Bewiesene zu beweisen, beantragen sie oft, nachdem das Urteil ergangen ist, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Und nichts geschieht häufiger, als dass dies sofort abgewiesen wird. Denn weil der Fall genau dort verhandelt wurde, ist schnell klar, ob der Antrag aus berechtigtem Grund oder, was weitaus häufiger der Fall ist, leichtfertig gestellt wird. Ferner muss man auch wissen, dass die Prüfung, ob die Gravamina zuzulassen sind, keineswegs ausreichend wäre. Denn es muss nicht nur untersucht werden, ob neue Behauptungen und Beweisantritte erheblich waren, sondern auch, aus welchem Grunde sie in der Vorinstanz nicht vorgetragen wurden. Das wird aber in der Appellationsinstanz mit Stillschweigen übergangen. Deshalb nehmen diejenigen, die in der ersten Instanz den Prozess vernachlässigten oder leichtfertig behandelten, die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag nicht weniger als die in Anspruch, welche sich in einer Zwangslage befanden oder für die ein unvermeidbarer Hinderungsgrund bestand. So aber wird die Appellation notwendigerweise zu einer Bemäntelung von Leichtfertigkeit und Nachlässigkeit. Damit also diesem Übel abgeholfen werden kann, darf keiner nach Abschluss des Prozesses mit neuem Vortrag zugelassen werden, es sei denn, er hat einen berechtigten Grund nachgewiesen, der ihn hinderte, die neuen Tatsachen rechtzeitig vorzutragen. Das aber wird geschehen, sofern Parteien, die neue Beweise haben, auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verwiesen sind, wenn ihnen die Rechtswohltat, Neues vorzutragen, genommen ist. Du wirst vielleicht sagen, dass in der Sache mit dem Kalumnieneid genug Vorsorge getroffen sei, besonders nachdem ihm die Klausel über neuen Sachvortrag beigefügt wurde. Obwohl wir schon oben gezeigt haben, dass dieser Eid nicht ausreicht, soll dennoch auf den Einwand eingegangen werden. In der Klausel über den neuen Sachvortrag, welche in den Kalumnieneid eingefügt wurde, werden drei Gründe aufgeführt, von denen die Appellanten beschwören, dass sie gehindert gewesen seien, die neuen Tatsachen in der ersten Instanz vorzutragen, nämlich sie hätten entweder die Tatsachen nicht gekannt oder sie nicht vortragen können oder sie hätten nicht geglaubt, sie würden für den Fall von Bedeutung sein. Die drei sind also Nichtwissen, Behinderung und Irrtum. Sie werden gewöhnlich von Parteien, die etwas versäumt haben, angeführt. Deshalb werden sie auch meistens beim Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behaup-
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tet. Weil aber der Beweis hier schwierig ist, kommt es häufig zur Eidesleistung. Zum Nachweis der Behinderung und insbesondere des Nichtwissens lassen die Kommentatoren (Interpretes Juris) den Eid im Allgemeinen zu175. Wenn also wegen neu vorzutragender Beweise die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begehrt wird und die Gründe, welche verhinderten, dass sie in der ersten Instanz vorgetragen wurden, durch Eid bewiesen werden, läuft die Sache gewöhnlich auf das Gleiche hinaus, wie wenn im Appellationsverfahren nach Ableistung des Kalumnieneids Neues vorgetragen wird. Obwohl im Übrigen wahr sein mag, dass diese drei Gründe praktisch die gewöhnlichen Entschuldigungen der Parteien sind, die etwas versäumt haben, obwohl auch wahr sein mag, dass es vorkommen kann, dass zum Nachweis insoweit ein Eid geleistet wird: dennoch ist das nicht allzu unreflektiert und allgemeingültig zu verstehen. Es reicht nämlich nicht aus zu sagen: „Ich war verhindert.“ Auch wenn jemand einen Rausch ausschläft, ist er verhindert. Aber diese Verhinderung entschuldigt nicht. Eine Verhinderung ist also nicht allgemein zu behaupten und durch Eid zu beweisen, sondern sie ist konkret darzulegen, damit der Richter beurteilen kann, ob sie berechtigt oder unberechtigt erscheint. Und wenn sie berechtigt erscheint, dann muss die Partei beweisen, dass das wahr ist. Denn die Untersuchung hier ist doppelter Natur: Einerseits befasst sie sich mit den Tatsachen, andererseits mit dem Recht. Bei der Untersuchung des Tatsächlichen mag, wenn eine behauptete Behinderung nicht unwahrscheinlich ist, diese nicht leicht zu beweisen sein. Dann könnte vielleicht ein Eid zugelassen werden, was der Richter nach den verschiedenen Umständen beurteilen wird176. Allerdings wird es gewiss nicht ausreichen, eine Verhinderung behauptet und bewiesen zu haben. Vielleicht nämlich hätte ein Hindernis, wenn man sich darum bemüht hätte, aus dem Weg geräumt werden können. Dann aber ist der Beweis der Verhinderung durch einen Eid nicht ohne weiteres zu erbringen177. Wer also die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand begehrt, muss außer der Verhinderung auch darlegen, dass er die erforderliche Sorgfalt anwandte, aber die mit der Behinderung verbundenen Schwierigkeiten nicht überwinden konnte178. 175 176 177 178
Ma sc ard i , Conclusiones, conclus. 881, 884. Me n oc h i o , De arbitrariis, cas. 118. Me n oc h i o , am angegebenen Ort, n. 6. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 143, n. 3.
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Gleichermaßen reicht es nicht aus, zu sagen: „Ich habe es nicht gewusst, ich habe es nicht geglaubt.“ Denn nachlässige Menschen pflegen das nicht zu wissen, was tatkräftige und regsame wissen. Und leichtfertige Menschen nehmen das nicht an, was vorsichtige und umsichtige sich vorstellen. Es ist also nicht für jeden beliebigen Irrtum Hilfe zu gewähren, sondern nur für den entschuldbaren (iusto)179. Entschuldbar aber ist der Irrtum, dem ein umsichtiger Mann unterliegen kann. Gleich wie die Besorgnis, die zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand führt, so beschaffen sein muss, dass sie einen standhaften Mann befallen würde180. Das aber ist nach den Gegebenheiten zu entscheiden und nicht dem Eid zu überlassen. Hier trifft zu, was Menochio schreibt: „Der Richter entscheidet, ein Eid reiche nicht aus, weil es nicht nur um den Beweis seiner Unkenntnis geht, sondern auch um den Beweis, ob die Unkenntnis gerechtfertigt ist.“181 Auf dieser Grundlage können wir auch die andere Frage noch entscheiden, die uns ein schlechtes Gewissen bereiten könnte, wenn wir sie nicht erörtern würden. Von Rechtsgelehrten wird die Frage aufgeworfen, ob ein Urteil, das rechtskräftig geworden ist, wegen neu aufgefundener Beweisstükke (instrumenta) aufgehoben werden kann. Es gibt nämlich kein Gesetz, das es verbietet, eine rechtskräftige Sache wegen der Behauptung neuer Beweisstücke erneut zu verhandeln182. Muss nicht bei viel geringerem Anlass wegen anderer Beweismittel neu verhandelt werden? Der Hintergrund ist klar. Welche Bedeutung verbliebe denn der Rechtskraft, wenn sie aufgehoben würde – und zwar ohne weiteres – sobald irgendetwas vielleicht zufällig aufgetrieben wurde? Warum kämpfen wir dann darum, dass neue Behauptungen und Beweise nicht durch eine Appellation, sondern durch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorgetragen werden müssen? Aus dem, was vorher dargelegt wurde, ergibt sich die Antwort schnell. Es trifft vollständig zu, dass allein, weil neue Beweise gefunden sind, die Wiedereinsetzung einer rechtskräftig entschiedenen Sache nicht zuzulassen ist. Denn zweierlei ist bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beweisen, eine Schädigung und ein für die Wiedereinsetzung geeigneter Grund der Schädigung. Nachdem neue Beweise vorgelegt worden sind, wird vielleicht eine Schädigung deutlich, wenn nämlich durch die unterlassene 179 180 181 182
Dig. 4, 1, 2. Dig. 4, 2, 6. Vgl. bei Me n oc hi o , De arbitrariis, cas. 186, n. 15. Dig. 42, 1, 35; Dig. 44, 2, 27; Cod. 7, 52, 4.
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Vorlage der Prozess verloren wurde. Es wird jedoch nach dem Grunde gesucht, warum man sie nicht rechtzeitig vorgelegt hat. Hier geht es meistens nicht weiter. Denn die Parteien glauben, es genüge, dass der Richter diese Beweise nicht gekannt hat und dass er anders entschieden hätte, wenn er sie gekannt hätte. Oder wenn sie überhaupt irgendeine Entschuldigung vorbringen, sagen sie, sie hätten die Beweise nicht gekannt oder nicht geglaubt, man hätte sie vorlegen müssen. Aber das sind inhaltsleere oder zumindest zu allgemeine Entschuldigungen. Zu Recht also werden dann die zu spät vorgelegten Beweisstücke zurückgewiesen. Wenn aber jemand einen gewichtigen Grund vorträgt und beweist, der dazu führte, dass er diese Beweise im anhängigen Verfahren nicht vorlegen konnte (etwa wenn sie durch Wegelagerer geraubt wurden), dann wäre es sicher äußerst unbillig, die Wiedereinsetzung zu verweigern, wenn die Beweise wiedererlangt sind. Gleichermaßen verhält sich die Sache, wenn jemand nicht nur sagt, er habe sich geirrt oder das, was er jetzt vortrage, nicht gewusst, sondern wenn er auch den Grund des Irrtums oder des Nichtwissens darlegt oder dem Richter durch die Erklärung der Umstände deutlich macht, sein Irrtum sei dergestalt gewesen, dass er ihn in keinem Falle vermeiden konnte. Dann nämlich verdient er Nachsicht und liefert einen berechtigten Grund für die Erlangung der Wiedereinsetzung. Und dass diese Auffassung allgemein akzeptiert ist, macht infolge seines Ansehens bei vielen Sforza di Oddi glaubhaft183. Da er sich ja bekanntermaßen mit dieser Materie befasst, reicht es, ihn für viele angeführt zu haben. Er erweitert das aber noch auf Zeugen, die nach dem Urteil gefunden worden sind. Von ihnen sagt er, sie seien aus den gleichen Gründen für eine Wiedereinsetzung hilfreich184. Da aber die Parteien, die meistens ein Verschulden trifft, selten einen Grund dafür benennen können, warum sie Urkunden und andere Beweismittel nicht rechtzeitig beigebracht haben, werden in der Regel neue Beweise nach dem Urteil nicht mehr zugelassen. Und deshalb ist es zu verstehen, warum Gesetze empfehlen, rechtskräftige Urteile sollten aufgrund neu vorgelegter Beweisstücke nicht aufgehoben werden. Ein hervorragendes Beispiel haben wir im Fall Haupitz gegen Brandenburg Ansbach, wo man nach der Vorlage neuer Beweisstücke die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangte. Sie wurde jedoch verweigert185. Denn der hochvornehme Beklagte konnte keinen Grund angeben, 183 184 185
Od d i, Tractatus, p. 2, quaest. 37, art. 3. Od d i, wie soeben, p. 2, quaest. 76, art. 3. Kl oc k , Liber singularis, rel. 30, n. 185.
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warum die Beweisstücke nicht rechtzeitig vor dem Urteil beigebracht wurden. Das geht aus dem Votum hervor, das Denaisius in diesem Fall abgab. Die Ausführungen lauten so: „Es reicht in diesem Falle nicht das einfache Versäumnis, sei es aus Nachlässigkeit (l. non enim 16 ff. ex. quib. caus. mai. [= Dig. 4, 6, 16]) oder aus welchem Grund auch immer, sondern es ist ein berechtigter Hinderungsgrund (l. 1.2.3 de in intrgr. rest. [= Dig. 4, 1, 1-3] l.16. §: item inquit. ff. ex. quib. caus. mai. [= Dig. 4, 6, 26, 9]) für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erforderlich. Und was anderes ist es hier als reine Nachlässigkeit, daß jetz beygelegte Copeyen allererst aufgesucht und gefunden/ durch die Advokaten zuvor nicht angeregt. Zu Recht sind ihm deshalb die Worte (d.l.15 [im genannten Gesetz Dig. 4, 6, 16 (!)]) entgegenzuhalten: nicht für die Nachlässigen, sondern für diejenigen, welche durch die Umstände gehindert waren. Und deshalb ist nicht einzusehen, dass einen Schaden nicht tragen soll, wer ihn aus eigenem Verschulden erleidet.“ Soweit Denaisius. An diesem Beispiel wird deutlich, auf welche Weise die Parteien häufig neu Gefundenes, das ihnen nach Abschluss des Verfahrens nützen soll, vortragen. Wenn in einem solchen Fall eine Appellation stattgefunden hätte, wäre ohne Zweifel die Darlegung des nicht Dargelegten und der Beweis des nicht Bewiesenen erlaubt gewesen. Mit dem vorstehend Dargestellten also wird die Leichtfertigkeit von dem gerichtlichen Verfahren ferngehalten und den Parteien die Pflicht auferlegt, die Prozesse sorgfältig zu führen. Neue Erörterungen sind im Appellationsverfahren nicht zuzulassen. Vielmehr ist festzuhalten, dass diejenigen, die einen Fall verloren haben, abwägen müssen, ob der Richter schlecht entschieden hat oder ob sie glauben, selbst etwas versäumt zu haben. Im ersteren Fall rufen sie das höhere Gericht an, im zweiten, wenn sie denn einen berechtigten Grund haben, beantragen sie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beim unteren Gericht.
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Kapitel VIII: Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag ist für die höchsten Reichsgerichte eine Belastung. Für die Reichsstände ist sie wirklich von Nachteil und steht daher unserer Reichsverfassung entgegen Die Überlegungen, die wir bisher vorgetragen haben, betreffen größtenteils alle Gerichte gemeinsam. Wenn wir nun zum Kammergericht kommen, treffen wir auf noch weitaus gewichtigere Gründe. Sie lassen es angeraten sein, die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag, wie es sonst häufig geduldet wird, wenigstens bei diesem Gericht abzuschaffen. Sie ist nämlich mit der Verfassung unseres Staates vollständig unvereinbar. Die einzelnen Reichsstände haben nämlich eigene Gerichte, in denen sie über Bürger und Untertanen Recht sprechen. Die Gerichtsgewalt (Jurisdictio) des Reichs befasst sich aber mit Fällen, welche das Wohl des ganzen Reichs betreffen. Das sind Fiskalangelegenheiten, Landfriedensbruch, Bruch von Exemtionen und Ähnliches oder Auseinandersetzungen der Reichsstände, die sie untereinander haben, weil weder alle Reichsstände Austrägalgerichte haben, noch alle zwischen ihnen stattfindenden Auseinandersetzungen durch Austräge richtig entschieden werden können. Außer diesen beiden Aufgaben gibt es aber noch eine bestimmte andere Art von Reichsgerichtsbarkeit, welche nichts anderes als Überprüfung der Verfahren bietet, die in die Zuständigkeit (in officio) der Reichsstände gehören. Genau darum gibt es Appellationen. Aber diese Überprüfung sollte so gestaltet sein, dass sie der Gerichtsgewalt der Stände nichts wegnimmt. Denn die erste Instanz muss von Anfang an ungeschmälert bei ihnen bleiben. Aber die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag entzieht der ersten Instanz außerordentlich viel. Denn indem an den Reichsgerichten das nicht Vorgetragene vorgetragen und das nicht Bewiesene bewiesen wird, wird dort vorgetragen, was in der unteren Instanz hätte dargelegt werden müssen und worüber die Reichsstände selbst zu entscheiden gehabt hätten. Zum Beispiel hatte jemand vor einem Gericht eines Reichsfürsten die Einrede vorgetragen, Geld sei nicht gezahlt worden oder es liege ein Scheinvertrag vor. Weil er es nicht beweisen konnte, unterlag er. Nun appelliert er an das Kammergericht und erhebt dort die Einrede der Tilgung, der Abtretung oder der Verjährung. Oder ein Kläger wollte sein Vorbringen durch Zeugen beweisen. Nachdem er verloren hat, legt er mit der Appellation zum Kammergericht Urkunden vor. Sicherlich wird nie-
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mand behaupten, das Gericht des Fürsten habe den Fall vollständig gekannt. Denn es hat nichts von dem maßgeblichen Streitpunkt des Falles gewusst. Es wird also ein großer Teil der Sachverhaltserforschung (litis cognitioni) den Reichsständen entzogen und auf die Reichsgerichte übertragen. So kommt es, dass die Gerichtsgewalt (autoritas Jurisdictionis) der Reichsstände vermindert, die Reichsgerichte aber zu Recht mehr belastet werden. Die große Masse der Geschäftsvorfälle erdrückt sie so, dass es ihnen bis heute unmöglich gewesen ist, sich davon zu befreien. Denn sie sind kaum dem Geschäftsanfall gewachsen, für den sie in eigener Sache zuständig sind. Um wie viel weniger sind sie es, wenn ihnen auch fremde Aufgaben aufgedrängt werden, die von den Gerichten der Reichsstände hätten behandelt werden sollen. Sicher die meisten Fälle, die vor dem Kammergericht verhandelt werden, werden ihm durch Appellationen vorgelegt. Es gibt aber äußerst wenige Appellanten, die soviel Vertrauen in die Behandlung der Fälle in der ersten Instanz haben, dass sie sich auf die Akten der Vorinstanz beziehen. Die meisten glauben, es sei noch irgendeine Erörterung nötig oder es sei bestimmt klüger, diese zu nutzen. Es ist wirklich erstaunlich, wie so etwas das Verfahren verzögert und wie es das Reichskammergericht beschäftigt. Zu beobachten ist, dass in fast keiner Sache die Gerichtssitzungen (audientias) mehr Mühe machen als in den Appellationsprozessen. Deshalb wird es nicht nur umso schwieriger, das abschließende Urteil zu fällen, je mehr von den Klägern zusammengetragen wird. Sondern die Anhörung, die neue Erörterung des Falles, die Beratung über die Zulassung der Beschwerdegründe, die Prozessleitung und die Zwischenurteile benötigen auch ein sehr hohes Maß an Zeit und Arbeit. Wie viel bliebe erspart, wenn der höhere Richter, da die Erörterung des Falles in der ersten Instanz vorliegt, nichts anderes täte, als lediglich nach Durchsicht und Prüfung der Akten der vorigen Instanz zu untersuchen, ob der Richter „wohl“ oder „übel“ geurteilt habe! Den Beweis vermag das zu liefern, was über Schiedsvereinbarungen (compromissis) festgelegt ist186. Denn es ist Bürgern, die gar keine Reichsuntertanen sind, und anderen, die ihren erstinstanzlichen Gerichtsstand vor dem Reichskammergericht haben, erlaubt, einen Schiedsspruch des Reichskammergerichts zu vereinbaren, nicht um dort einen Rechtsstreit zu beginnen (das würde aus verschiedenen Gründen eine Verzögerung bewirken), sondern, um die Akten nach Abschluss einer umfassenden Erörterung des Fal186
RA zu Regensburg 1594, § 65; De nai s ius , Ius camerale, Stichwort: Compromissa.
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les vor einem von beiden Parteien gewählten Vermittler (Auditore) an das Kammergericht zu senden und sich dessen Entscheidung zu unterwerfen. Denn man glaubte nicht zu Unrecht, die Entscheidung des Falles werde weniger Mühe bereiten, wenn nur das Kammergericht nicht durch den Prozess belastet werde. Aus dem gleichen Grunde wird das Kammergericht von den weitaus meisten Beschwerlichkeiten befreit, wenn im Appellationsverfahren der erneute Sachvortrag erspart bleibt. Von daher wird sich noch ein anderer Vorteil deutlich zeigen. Denn es ist bekannt, wie viel der Gerichtsgewalt des Reiches durch verschiedene Appellationsprivilegien entzogen worden ist und mehr und mehr noch entzogen wird, was auch der Regensburger Reichsabschied aus dem Jahre 1654 beklagt187. Denn abstoßend, so sah man es, seien die Anrufungen der Reichsgerichte, um Entscheidungswildwuchs zu erreichen, und andere schwere Missstände. Und deshalb gingen die Reichsstände daran, die Gerichtsgewalt des Reichs durch verschiedene Ausnahmen zu schmälern, indem sie sich bemühten, den Nachteilen, die sich aus den Appellationen ergaben, zu entgehen. Das scheint zur Unterstützung der Reichsgerichte auch notwendig gewesen zu sein. Wenn aber eine Appellation eine richtige Appellation gewesen wäre, das heißt eine Überprüfung des unteren Gerichts und keine erneute Verhandlung, dann wären so viele und weitgehende und für das Reich so schädliche Privilegien nicht nötig gewesen. Und die Reichsstände hätten sich nicht genötigt gesehen, ihre Gerichte widerwillig der Aufsicht des Kaisers und der Reichsgerichte zu unterwerfen. Aber die Appellation hat stark an Ansehen verloren, nachdem sie in erneutes Gezänk ausgeartet ist. Daher kann man es den Ständen nicht als Fehler anlasten, dass sie, da sie ja bemerkten, wie nachteilig das für ihre eigene Gerichtsgewalt war, versucht haben, gegen dieses Unheil Mauern aus Privilegien zu errichten. Es erscheint dennoch verwunderlich, dass niemand unter so vielen Privilegien nicht auch angestrebt hat, bei Appellationen, welche von seinen Gerichten kamen, neuen Sachvortrag nicht zu erlauben. Denn gewiss wäre das für den, der es erlangt hätte, von großem Nutzen gewesen, hätte für das Reich aber keinen Schaden bedeutet. Da das aber vielleicht nicht erkannt worden ist, wurden andere Wege gesucht. Sicher wäre es aber weitaus besser, die Fehler des Appellationsverfahrens abzustellen, als ganz auf die Appellationen zu verzichten. Warum wird es stattdessen künftig nicht so gehal187
JRA 1654 § 116.
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ten, dass wenigstens das, was von der Gerichtsgewalt des Reiches übrig ist, unverändert bewahrt bleibt, man schließlich zur Kenntnis nimmt, wie sehr das Gesetz l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) im öffentlichen und im privaten Bereich Schaden angerichtet hat. Es sollte abgeschafft werden. Und so gebe man dem Kaiser, was des Kaisers ist, dem Reich, was des Reiches ist und den Ständen das ihrige.
Kapitel IX: Der Vorschlag, die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abzuschaffen, wird anhand und am Beispiel etlicher Reichsgesetze untermauert Da ja das Autoritätsargument oft weiter hilft als die theoretische Begründung, untermauern wir unsere Auffassung mit diesem oder jenem Beispiel von Reichsgesetzen, welche anscheinend das erste Eis gebrochen und der Abschaffung der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag den Weg gewiesen haben. Das erste Beispiel haben wir in den Appellationen gegen die Kreishauptleute, welche zunächst an das Reichskammergericht188, später aber an den Reichstag erlaubt worden sind189. Denn weil es notwendig wurde, die Bearbeitung dieser Fälle zu beschleunigen, ist man auf die Maßnahme gekommen, insbesondere jenen enormen Umfang der Appellationen zu beschneiden, den die Rechtswohltat auf erneuten Sachvortrag hervorbrachte. Es wurde also, indem jeder neue Tatsachenvortrag untersagt war, nur zugelassen, die Appellationsgründe in einem Schriftstück vorzutragen „ohn einig newer beschwerden Einführung über die/ so zuvor den Moderatoribus fürbracht“, wie die Worte des Reichsabschieds lauten190. Hinzugefügt wird: „und sollen Cammer-Richter und Beysitzere über solche gravamina und erfolgte Erkundigung/ wie die von den Moderatoribus beschlossen hinterlegt/ sampt einer summarischen petition ferners nichts anzunehmen schuldig seyn.“ Und als Begründung wird hinzugefügt: „Dann so der Appellant in Fürbringung seiner gravaminum (als Beschwer188 189 190
RA zu Augsburg 1548, § 115. RA zu Speyer 1570, § 117; RA zu Regensburg 1594, § 115. RA zu Augsburg 1566, § 142.
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ten, dass wenigstens das, was von der Gerichtsgewalt des Reiches übrig ist, unverändert bewahrt bleibt, man schließlich zur Kenntnis nimmt, wie sehr das Gesetz l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) im öffentlichen und im privaten Bereich Schaden angerichtet hat. Es sollte abgeschafft werden. Und so gebe man dem Kaiser, was des Kaisers ist, dem Reich, was des Reiches ist und den Ständen das ihrige.
Kapitel IX: Der Vorschlag, die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abzuschaffen, wird anhand und am Beispiel etlicher Reichsgesetze untermauert Da ja das Autoritätsargument oft weiter hilft als die theoretische Begründung, untermauern wir unsere Auffassung mit diesem oder jenem Beispiel von Reichsgesetzen, welche anscheinend das erste Eis gebrochen und der Abschaffung der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag den Weg gewiesen haben. Das erste Beispiel haben wir in den Appellationen gegen die Kreishauptleute, welche zunächst an das Reichskammergericht188, später aber an den Reichstag erlaubt worden sind189. Denn weil es notwendig wurde, die Bearbeitung dieser Fälle zu beschleunigen, ist man auf die Maßnahme gekommen, insbesondere jenen enormen Umfang der Appellationen zu beschneiden, den die Rechtswohltat auf erneuten Sachvortrag hervorbrachte. Es wurde also, indem jeder neue Tatsachenvortrag untersagt war, nur zugelassen, die Appellationsgründe in einem Schriftstück vorzutragen „ohn einig newer beschwerden Einführung über die/ so zuvor den Moderatoribus fürbracht“, wie die Worte des Reichsabschieds lauten190. Hinzugefügt wird: „und sollen Cammer-Richter und Beysitzere über solche gravamina und erfolgte Erkundigung/ wie die von den Moderatoribus beschlossen hinterlegt/ sampt einer summarischen petition ferners nichts anzunehmen schuldig seyn.“ Und als Begründung wird hinzugefügt: „Dann so der Appellant in Fürbringung seiner gravaminum (als Beschwer188 189 190
RA zu Augsburg 1548, § 115. RA zu Speyer 1570, § 117; RA zu Regensburg 1594, § 115. RA zu Augsburg 1566, § 142.
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degründe (gravamina) werden hier die vorgetragenen Gründe des Antrags an das Gericht der ersten Instanz verstanden) und darauff angestelter Erkundigung etwas versäumpt oder übersehen/ solches hat er ihm selbst zuzumessen.“ Wenn diese Begründung hinreichend ist, hier die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zu versagen, warum wird dieses Gesetz nicht generell auf alle Appellationen ausgedehnt, weil die Begründung für alle Appellationen gleichermaßen gilt? Denn man kann nicht sagen, dass mit höherer Berechtigung denen, von denen das Gesetz spricht, als generell allen Appellanten angelastet werden kann, dass sie im Appellationsverfahren etwas vorgetragen haben, was sie in der ersten Instanz hätten vortragen müssen. Wenn nun aber die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag in einer Angelegenheit von solcher Bedeutung nicht erforderlich ist (denn der Kreishauptmann (Moderatio) betrifft die Aufgaben einer ganzen Region (provinciae)), aus welchem Grund ist sie dann in privaten Prozessen notwendig? Unzweifelhafte Unterstützung gewährt uns auch das Beispiel der Revision beim Reichskammergericht. Bei diesem Rechtsmittel schließen nämlich die Kaiser und die Reichsstände die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag vollständig aus, auch wenn sie im Zivilrecht in gleicher Weise sowohl bei Supplikationen wie auch bei Appellationen Platz greift191. Denn es ist nur erlaubt, in einer einzigen Schrift die Revisionsbegründung zu erläutern und das nur aus den vorliegenden Akten. Wenn aber jemand glaubt, dass mit neuen Begründungen ein Urteil aufgehoben werden könne, dann obliegt es ihm, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beim Reichskammergericht selbst zu beantragen192. Wenn wir nun nach dem Hintergrund der Sache forschen, wird deutlich, dass nicht ersichtlich ist, warum dasselbe nicht in den Appellationsverfahren eingeführt werden sollte. Die Revision beim Reichskammergericht ist deshalb eingeführt worden (wir gebrauchen die Worte der Kammergerichtsordnung) „damit Cammer-Richter und Beysitzer desto fleißiger seyn/ so sie besorgen müssen/ dass die acta folgendes nachgesprochener Urtheil auch besichtiget/ und niemand an dem Cammer-Gericht unrecht geschehe“.193 Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag ist weit entfernt davon, dieses Ziel unterstützen zu können. Vielmehr behindert sie es mehr und richtet es zugrunde. Denn es wird nicht darüber geurteilt, ob der Richter sein Amt gut oder schlecht ausgeübt hat, wenn aufgrund neuer Tatsachen entschieden 191 192 193
Me n oc h i o , De arbitrariis, lib. 1, cas. 72, n. 20; RA zu Speyer 1600, § 16. Be nd e r , Conclusiones, conclus. 1, n. 12 ff. RKGO 1555, 3, 53 [pr.].
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wird. Vergeblich also wird das Revisionsverfahren, das mit so großer Schwierigkeit beladen ist, in Anspruch genommen, um neue Behauptungen (novis allegationibus) zu Gehör zu bringen. Es kann nämlich nicht ein Rechtsmittel gegen die Nachlässigkeit derer sein, die in der kammergerichtlichen Instanz die notwendigen Darlegungen versäumt haben, sondern gegen den Rechtsverstoß des Richters, über den sich diejenigen beklagen, welche die Revision verfolgen. Außerdem würde die Zulassung neuen Vortrags im Revisionsverfahren das Ansehen des Reichskammergerichts, das mit aller Kraft zu wahren ist, gewiss herabsetzen194. Was können wir nun über die Appellationen von Gerichten der Reichsstände zum Reichskammergericht sagen? Greifen bei ihnen nicht die gleichen Gründe Platz? Aus welch anderem Grund werden Appellationen zugelassen, als dass die Rechtsverletzung von Untergerichten, worüber sich die Appellanten beschweren, beseitigt werden kann? Wenn in der Tat der höhere Richter aufgrund neuen Vortrags und neuer Beweise das vom unteren Richter gesprochene Urteil abändert, unterstützt er gewiss die Nachlässigkeit der Kläger. Aber dass der untere Richter fehlerhaft gehandelt habe, das kann man nicht sagen. Warum wird das sonst mehr als genug beschäftigte Reichskammergericht nicht dadurch geschont, dass man festlegt, nicht die Nachlässigkeit derer, die in den unteren Gerichtsverfahren etwas versäumt haben, zu schützen, sondern, dass das Kammergericht Fehler der unteren Gerichte behebt? Warum wird das Ansehen der Gerichte der Reichsstände nicht gewahrt? Sicher ist zuzugestehen, dass das Reichskammergericht mehr Ansehen genießen sollte und dass mehr Anstrengung darauf zu verwenden ist, das Ansehen dieses Gerichts zu schützen. Dennoch muss auch das eigene Ansehen der Gerichte der Reichsstände erhalten bleiben. Weil nun nichts mehr die Autorität des Gerichts verringert als die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag im höheren Gerichtszug, darf sie in den Appellationen von den Gerichten der Stände an das Kammergericht nicht mehr geduldet werden als in den kammergerichtlichen Revisionen. Denn so wie das Kammergericht zu den Revisionsverfahren steht, so stehen die Verfahren der Reichsstände zum Reichskammergericht. Es ist also durchaus zu begrüßen, einen im Kammergericht entschiedenen Fall der Überprüfung durch eine höhere Stelle – aber ohne neuen Vortrag – zu unterwerfen, nämlich wenn die Wiedereinsetzung beim Kammergericht selbst beantragt wird. Ebenso ist es zu 194
Bemerkung bei Be nd e r , Conclusiones, conclus. 16, n. 9 ff.
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begrüßen, dass ein von den Gerichten der Reichsstände entschiedener Fall einer höheren Überprüfung unterworfen wird, jedoch ebenso ohne neuen Sachvortrag. Ist neuer Vortrag erforderlich, wäre er bei den Gerichten der Stände selbst anzubringen. Du kannst dich der Überzeugungskraft dieses Arguments nicht entziehen, was immer du ihm auch entgegenhältst. Denn wie viele und wie gewichtige Fälle werden am Reichskammergericht in der ersten Instanz verhandelt? Hier wird also Sorgfalt darauf verwandt, in der ersten Instanz alles vorzutragen und danach keine neue Erörterung zuzulassen. Was hindert uns dann, nicht die gleiche Sorgfalt in Fällen zu fordern, welche in Gerichten der Stände ihre erste Instanz haben? Denn man kann nicht sagen, diese seien von größerer Bedeutung als jene und deshalb mehr zu begünstigen. Was hier gerecht und billig ist, kann dort nicht als unbillig angesehen werden.
Kapitel X: Es wird auf Einwände eingegangen Nachdem wir unsere Auffassung mit genug Argumenten untermauert haben, ist es folgerichtig, dass wir die Einwendungen, die dem entgegen zu stehen scheinen, aus dem Wege räumen möchten. Zunächst werden wir, wenn auch kurz, nacheinander die Einwände skizzieren und dann die Antworten unterbreiten. Die einzelnen Hauptpunkte werden wir mit Zahlen versehen, damit sie dadurch deutlicher sind.
Einwände I. Zunächst sollten wir nicht verkennen, dass tief in den Herzen der Menschen diese Art von Billigkeitsdenken und Menschenfreundlichkeit steckt, die offensichtlich die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag haben möchte. II. Insbesondere müssen wir bedenken, dass die wichtigen Punkte eines Falles häufig erst in der Appellationsinstanz vorgetragen werden. Wenn die Appellanten dieser Rechtswohltat beraubt werden, dann werden viele berechtigte Fälle Schaden nehmen. Das scheint in der Tat die Kaiser bewegt
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begrüßen, dass ein von den Gerichten der Reichsstände entschiedener Fall einer höheren Überprüfung unterworfen wird, jedoch ebenso ohne neuen Sachvortrag. Ist neuer Vortrag erforderlich, wäre er bei den Gerichten der Stände selbst anzubringen. Du kannst dich der Überzeugungskraft dieses Arguments nicht entziehen, was immer du ihm auch entgegenhältst. Denn wie viele und wie gewichtige Fälle werden am Reichskammergericht in der ersten Instanz verhandelt? Hier wird also Sorgfalt darauf verwandt, in der ersten Instanz alles vorzutragen und danach keine neue Erörterung zuzulassen. Was hindert uns dann, nicht die gleiche Sorgfalt in Fällen zu fordern, welche in Gerichten der Stände ihre erste Instanz haben? Denn man kann nicht sagen, diese seien von größerer Bedeutung als jene und deshalb mehr zu begünstigen. Was hier gerecht und billig ist, kann dort nicht als unbillig angesehen werden.
Kapitel X: Es wird auf Einwände eingegangen Nachdem wir unsere Auffassung mit genug Argumenten untermauert haben, ist es folgerichtig, dass wir die Einwendungen, die dem entgegen zu stehen scheinen, aus dem Wege räumen möchten. Zunächst werden wir, wenn auch kurz, nacheinander die Einwände skizzieren und dann die Antworten unterbreiten. Die einzelnen Hauptpunkte werden wir mit Zahlen versehen, damit sie dadurch deutlicher sind.
Einwände I. Zunächst sollten wir nicht verkennen, dass tief in den Herzen der Menschen diese Art von Billigkeitsdenken und Menschenfreundlichkeit steckt, die offensichtlich die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag haben möchte. II. Insbesondere müssen wir bedenken, dass die wichtigen Punkte eines Falles häufig erst in der Appellationsinstanz vorgetragen werden. Wenn die Appellanten dieser Rechtswohltat beraubt werden, dann werden viele berechtigte Fälle Schaden nehmen. Das scheint in der Tat die Kaiser bewegt
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zu haben, da sie sagen: „Wenn aber eine Partei zugestanden hat, im Prozess pflichtgemäß vorgetragen zu haben, was im vergangenen Gerichtsverfahren versäumt wurde, folgt für den, der im Appellationsverfahren die Entscheidung trifft: weil nach dem Votum unserer Räte im Prozess nichts anderes als Gerechtigkeit Platz haben darf, darf eine zufälligerweise bekannt gewordene gewichtige Tatsache nicht ausgeschlossen werden.“195 III. Wie leicht kann es geschehen, dass in der ersten Instanz etwas versäumt wird, von dem entweder der Gewinn des ganzen Prozesses abhängt oder was wenigstens eine große Hilfe dafür darstellt. Wo sich also ein Fehler leicht ereignet, muss auch Abhilfe zur Hand sein wie die Rechtswohltat zur Appellation und damit zusammen zu neuem Sachvortrag. IV. Wenn wir nach Gründen suchen, warum in der ersten Instanz so leicht etwas unbeachtet bleibt, ist gewiss zuzugestehen, dass oft diejenigen Parteien sich etwas zuschulden kommen lassen, die entweder aus Nachlässigkeit oder aus Übereilung notwendigen Vortrag und Beweisantritt (argumenta) übergehen. Dennoch ist dieses Verschulden nicht ein so großes Vergehen, dass deswegen der ganze Fall verloren gehen müsste. Denn wenn denen, die in der ersten Instanz etwas versäumt haben, nicht gestattet würde, den insoweit erlittenen Schaden durch neuen Vortrag zu beheben, verlieren sie vielleicht den ganzen Fall. Das würde gewiss eine zu hohe Strafe sein. Der Vorschlag, die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abzuschaffen, scheint also in keiner Weise billigenswert, da er ja eine harte Strafe für ein leichtes Vergehen darstellt. Die Strafe darf aber nicht schwerer sein als das Delikt. V. Natürlich wäre es wünschenswert, dass sich die Parteien nach dem in Kapitel IV dargestellten Rat von Gail bemühen, alles in der ersten Instanz vorzutragen. Aber es ist zu fragen, ob das bei der Verhaltensweise der Leute (hominum moribus) erreicht werden kann. Denn nicht immer kann das durchgesetzt werden, was das Erstrebenswerteste und Wünschenswerteste ist. Vielmehr sind die Gesetze häufig an den Zeitgeist und die Sitten und Gebräuche der Menschen anzugleichen. Wir sehen aber tagtäglich, mit welcher Nachlässigkeit und Unüberlegtheit Menschen in den Prozessen auftreten. Da das nun offensichtlich nicht gebessert werden kann, muss eine zweite Möglichkeit zur Verfügung stehen und die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag gewährt werden, um ihnen wenigstens auf diese Weise zu helfen. VI. Weiter kann doch nicht allen Verschulden vorgeworfen werden. 195
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Denn nicht alle Parteien sind so umsichtig, dass sie im ersten Streit sofort merken, auf welche Weise sie den Sieg in dem Fall erstreiten können. Auch den Erfahrenen kann der Sieg gestohlen werden. Häufig auch macht sie zu großes Vertrauen in ihre Sache so sicher, dass sie nicht alles ausreichend abwägen. Sie glauben, dass dem Richter die Gerechtigkeit in dem Fall gleichermaßen deutlich sei wie ihnen selbst. Aber nachdem sie den Fall verloren haben, sehen sie endlich ein, in welch großem Irrtum sie gefangen waren. Und deshalb haben die Gesetzgeber den Appellanten aus Mitleid für mögliche Unerfahrenheit die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag gewährt. VII. Es kommt vor, dass die Parteien, sicher die meisten, nicht die Eignung haben, ihren Fall selbst zu vertreten, sondern gehalten sind, sich Advokaten und Prokuratoren anzuvertrauen. Diese aber versäumen leicht etwas, weil sie ja nicht immer alle Umstände des Falles genau kennen. Damit also das Verschulden der Advokaten und Prokuratoren den Parteien nicht allzu großen Schaden bereitet, ist die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag eingeführt worden. VIII. Einen weiteren Grund benennt Kaiser Justinian, wenn er sagt, dass den Appellanten deshalb eine neue Erörterung erlaubt werde, „damit das bereits Verhandelte mit dem helleren Licht der Wahrheit beleuchtet werde“196. Denn oft ist der Fall zweifelhaft. Der Richter zögert und weiß nicht, welcher Seite er sich zuneigen soll. Wenn aber neue Beweise beigebracht werden und der Fall ausführlicher erörtert wird, beginnt auch die Wahrheit heller zu leuchten. Und so wird in der Appellationsinstanz durch neue Beweise oft klar, was vorher zweifelhaft war. IX. Obwohl wir wirklich die Rigorosität des Vorschlages, die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abzuschaffen, nur mildern wollten, indem wir anstelle der den Appellanten zugestandenen Rechtswohltat den erstinstanzlichen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gesetzt haben, obwohl wir auch einige Schwierigkeiten, welche dem entgegenzustehen schienen, schon vorher in Kapitel VII erklärt haben; so bleiben dennoch einige nicht leicht zu nehmende Einwände. Denn es scheint eine Überforderung zu sein, von den Parteien, die einen Fall verloren haben, zu verlangen, mit sich zu Rate zu gehen und für sich festzulegen, ob sie den Prozess wegen einer falschen Entscheidung des Richters oder wegen der Versäumung eines Beweisantritts verloren haben. Im ersten Fall sollen sie Appellation 196
Cod. 7, 63, 4 [Übersetzung angelehnt an Otto/Schilling/Sintenis].
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einlegen, im zweiten beim früheren Richter, wenn sie denn einen berechtigten Grund haben, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen. Ich meine, das dürfte sehr hart sein und es wird vielleicht nicht leicht geschehen. Denn oft zweifeln die Parteien, aus welchem Grund sie den Prozess verloren haben, ob infolge einer Rechtsverletzung des Richters oder wegen eigener Unerfahrenheit. Sie können also diese beiden Fragen nicht auseinander halten. Diese Last ist nicht so auf die Parteien abzuladen, dass sie einen von beiden Wegen auswählen müssen. Vielmehr muss ihnen die Möglichkeit offen stehen, beides zu verbinden, damit sie völlig sicher sein können. Es muss also erlaubt sein, dass diejenigen, die einen Prozess verloren haben, über die Ungerechtigkeit des Richters klagen. Es muss aber auch erlaubt sein, dass sie sicherheitshalber zugleich Neues vortragen, wenn etwa der Richter nicht an ihnen gefehlt hat, sondern sie an sich selbst fehlten. Es reicht, dass sie aus einem von beiden Gründen den Prozess gewinnen; aus welchem Grund, darüber wird der Richter befinden. Die Parteien selbst können das nicht so leicht entscheiden. X. Schließlich kann der Weg, Neues vorzutragen, im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand länger und beschwerlicher sein als bei der Appellation. Denn bei der Wiedereinsetzung findet jene mühevolle Prüfung des Grundes statt. Wenn also die Parteien die Wiedereinsetzung beantragen, verfolgen sie dasjenige mit beträchtlich größerem Aufwand, was sie im Appellationsverfahren auf kürzerem Wege hätten erreichen können. Wenn sie aber die Wiedereinsetzung nicht erhalten, werden sie vielleicht die Appellation einlegen. Denn es ist gestattet, nach einer versagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die Appellation zu gehen. So können sie über verschiedene Umwege dennoch zum Appellationsverfahren kommen. Warum sollte also nicht gestattet werden, sofort direkt das nicht Vorgetragene vorzutragen und das nicht Bewiesene zu beweisen? Das dürften die wesentlichen Argumente sein, welche unserer Auffassung entgegengehalten werden können. Andere nicht ernst zu nehmende wollen wir nicht wiedergeben, damit kein Widerwille aufkommt. Darauf wollen wir wenigstens noch hinweisen, dass wir weiter unten besondere Fälle, gleichsam Ausnahmen von der Regel, darlegen. Deshalb ist es nicht nötig, hier die Ausnahmen abzuhandeln, welche in diesen besonderen Fällen gemacht werden können. Weiter unten nämlich werden sie an passender Stelle erläutert. Dort wird gesagt: Wenn infolge eines eigenen Verschuldens des Richters der Sachverhalt nicht vollständig geklärt ist, dann ist dem Ap-
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pellanten ausnahmsweise die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zuzugestehen. Nachdem also vorerst diese Ausnahmen außen vor gelassen werden, kommen wir zu dem, was wir nur zusammengefasst wiedergegeben haben. Denn wir wollen keineswegs dem ausweichen, was die heutige Gewohnheit (hodiernam consuetudinem), im Appellationsverfahren Neues vorzutragen, unterstützt. Ja, wir sind sogar im Bemühen, in dieser Sache die Gegebenheiten vollständig herauszufinden, auf die Suche nach vorhandenem Schrifttum gegangen, soweit es möglich war, das zu erlangen, was wir zusammentragen wollten. Diese Äußerungen sind aber weit entfernt davon, in irgendeiner Weise unserer Auffassung Abbruch zu tun. Vielmehr bestätigen sie uns eher, da sie offensichtlich ohne Gewicht sind. Offenbar hat die Wahrheit die Kraft, umso heller zu glänzen, je heftiger sie bekämpft wird.
Antwort auf die Einwände Zum I. Einwand Betrachten wir zunächst die so stark betonte Nachsicht respektive Billigkeit, welche für die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag vorgeschoben wird. Es wird deutlich werden, wie viel Ungerechtigkeit hinter dieser Larve verborgen ist. Die Billigkeit ist nach der Lehre des Aristoteles nichts anderes als die Änderung des strengen Rechtes (correctio juris legitimi)197. Denn das Wesen menschlichen Tuns, das ja so unterschiedlich ist, nimmt nicht hin, dass Rechte unter dem Vorwand ewiger Wahrheit überliefert werden. Gesetze bestimmen nämlich das, was ἐὶὸϖῖ (epì tò pleĩron, meistens) gerecht ist. Von daher kommt es, dass sie nicht in allen Fällen angewendet werden können, die vorkommen. In diesen besonderen Fällen hat die Billigkeit ihren Platz. Allgemein bekannt ist das Beispiel des göttlichen Gesetzes: Wer Blut vergießt, dessen Blut wird wiederum vergossen. Das ist ἐὶὸϖῖ (epì tò pleĩron, meistens) gerecht. Es kommt aber vor, dass jemand nicht planmäßig gehandelt hat, sondern dass er einen anderen zufällig tötet. Es leuchtet ein, dass hier das Gesetz nicht angewendet werden 197
Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 5, cap. 14.
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kann. Billig ist es, dass der Täter verschont wird. Wie können wir das auf die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag anwenden? Wann also ist es billig, dass neuer Vortrag von Parteien Gehör findet, die in der ersten Instanz unterlegen sind? Manchmal, in besonderen Fällen, könnte es billig sein. Weil es aber demgegenüber klar ist, dass nach Abschluss des Gerichtsverfahrens Tatsachenvorträge und Beweisantritte der Parteien nicht mehr zulässig sind, wird dies das ordentliche Recht sein, das gewöhnlich gelten muss. Der Billigkeit aber ist in jenen besonderen Fällen durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinreichend Genüge getan. Denn die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist ein Ausfluss der aequitas, mit der der Prätor sicherstellt, dass keiner bei Geschäften, die nach römischem Recht zulässig sind, Schaden erleidet198. So oft, wie die Billigkeit es also erfordert, so oft wird denen, die Schaden erlitten haben, mit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geholfen. Hören wir einen Rechtsgelehrten: „Ferner, sagt der Prätor, werde ich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren, wenn es mir aus irgendeinem Grund gerechtfertigt erscheint. Diese Klausel ist aus zwingenden Gründen in das Edikt eingefügt worden. Denn viele Fälle können vorkommen, in denen die Hilfe der Wiedereinsetzung angebracht ist, die aber nicht einzeln genannt werden können, so dass man immer dann, wenn die Billigkeit eine Wiedereinsetzung verlangt, auf diese Klausel zurückgreifen muss.“ Daraus ergibt sich: Wenn es zulässig ist, im Wege der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Neues vorzutragen, dann besteht kein Bedarf für eine Billigkeitsentscheidung. Dies ist auch ein Beweis dafür, dass die den Appellanten zugestandene Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag die Grenzen der Billigkeit weit übersteigt. Wem auch immer billigerweise neue Ausführungen erlaubt werden können, dem wird durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geholfen. Aber wie vielen wird in der Appellation die Möglichkeit zu neuem Vortag gegeben, denen durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht geholfen werden kann! Das sind nämlich diejenigen, die keinen berechtigten Grund dafür benennen können, warum sie den Vortrag in der ersten Instanz versäumt haben. Daraus folgt also, dass es in der Appellation sehr vielen gestattet ist, Neues vorzutragen, obwohl es nicht der Billigkeit entspricht. Vor allem muss bedacht werden, dass ein Streit im gerichtlichen Verfahren zwischen zwei Parteien stattfindet, die Unterschiedliches wollen. Meistens nämlich geschieht es, dass der eine nicht von der Sache ablässt und mit 198
Dig. 4, 1, 7; Dig. 4, 4, 1 [hier angelehnt an die Übersetzung von Behrends/ Knütel/Kupisch/Sailer].
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aller Macht das Ende des Verfahrens sucht. Denn er hofft zu erreichen, was ihm zusteht. Der andere aber weicht lieber aus, zögert und zieht den Streit in die Länge. Denn er sieht die Gefahr, dass ihm irgendetwas entgeht. Wenn nun aber der Richter oder der Gesetzgeber sich ihnen gegenüber eher wohlwollend und nachsichtig zeigt und die Möglichkeit einräumt, den Prozess mehrfach wiederaufzugreifen, erweist er bestimmt dem Ausweichenden und Zögernden einen Gefallen. Dem anderen aber, der nichts anderes als das Ende des Prozesses sucht, der alle Argumente in der ersten Instanz vorgetragen hat, damit in der zweiten Instanz nicht ein neuer Prozess vonnöten wird, dem, sage ich, wird übel mitgespielt. Er wird daran gehindert, die Früchte des Prozesses zur rechten Zeit zu ernten. Das ist nun wirklich keine Billigkeit, wenn man dem einen etwas zukommen lässt und dem anderen etwas fortnimmt. Wenn dem Gericht eine Sache mit nur einem Beteiligten vorläge, dann könnte es vielleicht gestattet sein, ihm gegenüber Nachsicht zu üben. Nun aber, da es ja um einen Streit zwischen zweien geht, ist nicht Wohlwollen angebracht, indem dem einen oder dem anderen ein Gefallen getan wird, sondern vielmehr Gerechtigkeit, die festlegt, was für beide Parteien gut und richtig ist. Es darf also nur so viel Raum zur Prozessführung zugestanden werden, wie zur Verdeutlichung des Falles erforderlich. Dann nämlich wird beiden Seiten Genüge getan. Aber gewiss ist nicht all das zuzulassen, was jede Partei wünscht. Denn die Parteien stürzen sich wechselseitig ins Unglück, wenn sie kein Ende des Streitens wollen. Gegenüber dieser Leichtfertigkeit die Augen zu schließen, ist ein Wohlwollen ähnlich der unangebrachten Nachsicht von Eltern, die befürchten, ihrem Kind weh zu tun, wenn sie ihm das Messer wegnehmen und nicht bedenken, welch übergroße Gefahr für das Kind selbst damit verbunden ist. Gewiss ist nichts so sehr der Feind der Gerechtigkeit wie jenes elende Mitleid für Prozessparteien. Man glaubt, ihnen nie genug Raum zum Prozessieren gewähren zu können und niemals genug an Nachsicht für diejenigen übrig zu haben, die etwas versäumt haben. Hören wir darüber das gewichtige Urteil des Antonius Faber: „Der Fehler fast aller Richter ist, dass sie gleichsam Mitleid für die Streitenden haben, die sie eigentlich durch ihre Abneigung gegen Prozesse abschrecken sollten. Sie lassen zu, dass durch großen Aufwand etwas geschieht, was gewiss nicht gleich nachlässig, aber dennoch um vieles besser und zweckmäßiger, wie auch sorgfältiger durch weniger Mühe geschehen könnte. Grausam ist Mitleid, das durch
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die Begünstigung der Parteien Prozesse begünstigt.“199 Wenn überhaupt etwas in Bezug auf die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag wahr ist, dann wird durch die Begünstigung der Parteien ihre Leichtfertigkeit befördert. Denn diejenigen, die so nachsichtig behandelt worden sind, müssen notwendiger Weise sorglos werden. Entweder muss also diese Leichtfertigkeit und Sorglosigkeit der Appellanten geduldet werden, oder die Nachsicht ist durch die Abschaffung der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag in Gerechtigkeit umzuwandeln. Bisher haben wir über die Billigkeit der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag im Allgemeinen gesprochen. Nunmehr betrachten wir die einzelnen Begründungen, auf welche sich das zu stützen scheint.
Zum II. Einwand Zunächst scheint man zu befürchten, dass viele gerechte Sachen verloren gehen, wenn den Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag genommen wird. Aber welche denn sind es, die berechtigte Rechtsfälle verlieren? Etwa diejenigen, die dem Gerichtsverfahren die notwendige Aufmerksamkeit und Sorgfalt zukommen lassen? Keineswegs. Denn sie geben sich Mühe, in der ersten Instanz den Streitfall vollständig auszubreiten, so dass sie die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag nicht benötigen. Oder sind es dann diejenigen, denen ein gewichtiger Hinderungsgrund oder ein unvermeidbarer Irrtum entgegenstand, so dass sie nicht alle Angriffs- und Verteidigungsmittel (causae argumenta) in der ersten Instanz vortragen konnten? Nein, sie gewiss nicht. Denn ihnen steht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Verfügung. Welche denn sind es? Diejenigen sind es, die aus Nachlässigkeit oder Übereilung während der ersten Instanz Angriffsund Verteidigungsmittel übergehen. Allerdings vielleicht auch diejenigen, die im Vertrauen auf jene Rechtswohltat sorglos schliefen oder sich leichtfertig überstürzten und auch dann noch Schläfrigkeit und Leichtfertigkeit an den Tag legen, wenn die Rechtswohltat aufgehoben ist. Aber dem stimmen wir zu, dass nachlässige und leichtfertige Parteien (darunter verstehen wir diejenigen, die sich im Prozess leichtfertig verhalten) irgendwann auch berechtigte Rechtsfälle verlieren werden. Nun sollten wir also bedenken, dass die Prozesse, solange die Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag 199
Favre , Codex Fabrianus, tit. ut intra cert. temp. crim.: quaest. term.
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haben werden, unsterblich sein und Fälle, auch die gerechtesten, ungeheuerlich in die Länge gezogen werden; und dass auf der anderen Seite, wenn die Rechtswohltat aufgehoben ist, nachlässige Parteien auch einmal gerechte Prozesse verlieren werden. Es fragt sich, was von beidem vorzuziehen ist. Muss dem Nachlässigen mit einem Rechtsmittel geholfen werden, das viele Bemühte und Regsame daran hindert, einen Fall in angemessener Zeit zu Ende zu bringen? Wer will das unterstützen? Denn das ist gewiss ungerecht, dass die Bemühten wegen der Nachlässigen und Leichtfertigen Verzögerungen hinnehmen müssen. Aber ungerecht ist keineswegs, dass die Nachlässigen den Schaden für ihr Verschulden tragen. Denn worüber können sie sich beklagen als über ihre eigene Schuld? Sie haben genug Zeit – und müssen sie auch haben –, in der ersten Instanz den Fall mit vollständigen Beweisantritten zu versehen. Wenn sie einen berechtigten Fall haben, sollen sie ihn auch richtig führen. Sie müssen zur rechten Zeit wachsam sein. Denn das Recht ist für Wachsame gemacht200. Wer aber glaubt, das gerichtliche Verfahren nicht mit Sorgfalt und Aufmerksamkeit führen zu müssen, erleidet keine Ungerechtigkeit, wenn er den Prozess verliert. Denn es ist kein Wunder, wenn eine gute Sache durch schlechte Prozessführung verloren geht. Nichts ist hier ungerecht, nichts ist unbillig. Aber es ist unbillig, dass die Streitereien kein Ende finden und die Prozesse keinen Abschluss. Das indes ist nicht zu vermeiden, solange die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag erhalten bleibt. Nun aber fällt die Antwort auf das, was das Kaisergesetz besagt, leicht: „Im Gerichtsverfahren soll nichts anderes als die Gerechtigkeit Platz haben.“ Das ist gewiss wahr, aber Gerechtigkeit besteht nicht allein in einer gerechten Sache, sondern auch in der Prozessführung. Sonst kann nach hundert Jahren noch gesagt werden, es gehe um nichts anderes als um Gerechtigkeit. Der Richter hat die Aufgabe, nicht nur ein Urteil zu fällen, das gerecht ist, sondern das auch in angemessener Zeit ergeht. Das kann aber nicht geschehen, wenn den Parteien nach langer Zeit erlaubt wird, was sie rechtzeitig hätten tun können.
200
Dig. 42, 8, 24 [fin.].
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Zum III. Einwand Du wirfst ein, es könne leicht geschehen, dass in der ersten Instanz etwas nicht vorgetragen werde. Wo also ein Fehler leicht unterlaufe, müsse auch ein Rechtsmittel möglich sein. Aber wenn der Richter der ersten Instanz nur ganz am Anfang und nur einmal die Parteien gehört und das Urteil gesprochen hätte, dann vielleicht könnte man sagen, es habe leicht geschehen können, dass die Parteien etwas versäumen. Nun ist aber die Eile in der ersten Instanz nicht so groß, und sie muss es auch nicht sein, wenn es nämlich um einen Fall von irgendwelcher Bedeutung geht. Der Kläger hat gewiss genug Zeit abzuwägen, bevor er einen Prozess anstrengt. Dem Beklagten ist aber Gelegenheit zum Überlegen gegeben. Der Kläger also erhebt die Klage, der Beklagte erwidert. Nach einiger Zeit repliziert der eine, der andere dupliziert, es werden Beweisantritte eingebracht; es wird über deren Erheblichkeit gestritten, das Urteil wird ausgefertigt. Ob es danach jemanden, dem die Sache am Herzen liegt, nach so vielen im Prozess wiederholten Entgegnungen immer noch leicht passieren kann, dass er etwas nicht vorträgt? Denn wenn er nach den ersten Entgegnungen etwas unerwähnt gelassen hat, kann er es unmittelbar danach nachtragen. Wer aber nach so vielen wechselseitigen Handlungen immer noch etwas nicht vorgetragen hat, für den bleibt kaum etwas, womit er seine Nachlässigkeit entschuldigen kann. Aber auch das gestehen wir zu, dass auch Bemühte etwas leicht übersehen können. Dennoch muss man wissen, wie leichtfertig auch die Parteien die Gelegenheit ergreifen, den Prozess hinauszuzögern. Deshalb müssen die Gesetze einem möglichen menschlichen Fehler so anhelfen, dass sie gleichwohl niemandem Gelegenheit zu Leichtfertigkeit und Betrug bieten. „Es scheint“, haben die Kaiser gesagt, „dass eine zufällig bekannt gewordene gewichtige Tatsache nicht ausgeschlossen werden darf“. Aber was verstehen wir unter zufällig bekannt geworden? Denn immer sagen die Appellanten, das, was sie neu vortragen, sei zufällig bekannt geworden. Vielleicht aber haben sie es in betrügerischer Absicht, vielleicht leichtfertig, vielleicht ohne sich Gedanken zu machen, unbeachtet gelassen. Vielleicht hat das, was angeblich bekannt wurde, keinerlei Bezug zu dem Fall. Vielleicht hätten sie es in der ersten Instanz vorgetragen, wenn sie nicht gewusst hätten, dass sie Zeit genug haben, die vorinstanzliche Nachlässigkeit mit der Appellation zu beheben. Die regelmäßige und gleichsam gewöhnliche Ausrede von leichtfertigen Personen ist: Aus welchem Grund auch immer etwas geschehen sei, es sei
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zufällig geschehen. Wenn das als Entschuldigung zugelassen wird, darf man nicht unwillig werden, wenn die Appellanten diese Rechtswohltat vielleicht missbrauchen, ebenso wie sie eine gewichtige Tatsache vorher zufälligerweise übersehen haben. Deshalb ist nicht jeder Beliebige ohne Unterschied zu neuem Vortrag zuzulassen, sondern nur diejenigen, die das aus berechtigtem Grund beantragen, anders als diejenigen, die leichtfertig sind. Und die einen sind zuzulassen, die anderen nicht. Das kann mit der Begründung geschehen, die wir vorgetragen haben. Wenn den Appellanten die in Rede stehende Rechtswohltat verwehrt ist, wird nur der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erlaubt.
Zum IV. Einwand Aber es steht auch keineswegs außer Streit, ob Parteien so streng zu behandeln sind, dass ihnen, wenn sie etwas aus eigenem Verschulden unterlassen haben, deshalb die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zu versagen ist. Denn das scheint im Gegensatz zur allgemein gebilligten Meinung der Menschen zu stehen. Man glaubt nämlich, mehrere sich ergänzende Instanzen seien hilfreich, damit, wenn etwa in der ersten Instanz etwas vernachlässigt wurde, in der zweiten und den danach folgenden das Versehen durch die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag behoben werden kann. Wir haben oben im Kapitel III gehört, dass diese Meinung unter den Rechtsgelehrten auch Anhänger von nicht geringem Ansehen hat. Aber keine Autorität ist so groß, als dass sie uns überzeugen könnte. Und es ist nicht zu hoffen, dass in den Gerichtsverfahren eine Besserung eintritt, solange diese Auffassung vorherrscht. Man kennt die allseits bekannten Rechtsregeln: Das ist Recht für die Wachsamen gemacht201. Man hat den aus eigenem Verschulden erlittenen Schaden selbst zu tragen202. Das Recht hilft nicht den Nachlässigen, sondern den durch unabwendbare Umstände Behinderten203. Diese Rechtsregeln gelten in den übrigen menschlichen Angelegenheiten, nicht aber vor Gericht? Was ist der Grund für eine so gewichtige Unterscheidung? Deshalb ist diese Auffassung zu verwerfen. Denn sie selbst ist es, welche alle so oft unternommenen Versuche, die Prozesse zu verbessern, unwirksam gemacht 201 202 203
Dig. 42, 8, 24 [fin.]. Dig. 50, 17, 203. Dig. 4, 6, 16.
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hat. Wir wollen dennoch untersuchen, ob das, was dem sonst entgegengehalten wird, eine irgendwie billigenswerte Gestalt hat. Die Vertreter dieser Meinung glauben, die Strafe sei schwerer als das Vergehen, wenn derjenige, der aus Nachlässigkeit etwas unterlassen hat, den ganzen Rechtsstreit verliert, weil man ihn der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag beraubt204. Dieser Einwand scheint vielleicht von einer gewissen Bedeutung zu sein. Er muss also um einiges genauer betrachtet werden. Wir wollen uns indes nicht in der zwischen Rechtsgelehrten und Philosophen intensiv erörterten Frage nach der Verhältnismäßigkeit von Strafen verlieren. Es ist jedoch sicher, dass, um die Strafe zutreffend an das Vergehen anzupassen, nicht nur die Tat als solche, sondern vielmehr alle Umstände des Falles zu berücksichtigen sind205. Insbesondere ist aber bei den Strafen auch das öffentliche Wohl zu beachten. Denn häufig ist es nötig, wenn viele Straftaten geschehen, ein Exempel zu statuieren – so Ulpian206. Nun mag vielleicht der Missbrauch der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag nicht als so großes Verbrechen erscheinen. Dennoch ist er wegen der verderblichen Folgen ein äußerst schlechtes Vorbild. Denn der Missbrauch dieser Rechtswohltat hat zur Unsterblichkeit der Prozesse in den Appellationsverfahren geführt. Deshalb scheint hier die Statuierung eines Exempels nötig. Auch wenn für ein Vergehen mit schwerwiegenden Folgen eine noch schwerere Strafe bestimmt wird, darf das nicht als hartherzig angesehen werden. Aber diese Erörterung, sage ich, muss jetzt nicht geführt werden. Man muss nun wissen, dass es einerseits die Strafe per se (an sich), andererseits eine Strafe per accidens (als Folgewirkung) gibt. Als Strafe per se bezeichne ich, was kein anderes Ziel hat als die Bestrafung oder eine Zwangsmaßnahme. So beschaffen sind viele Strafen für Straftaten, ebenso Geldbußen und Zivilstrafen, etwa das Duplum, Triplum und Quadruplum. Die Strafe per accidens aber ist eine, die zuvörderst ein anderes Ziel im Auge hat als Vergeltung oder eine Zwangsmaßnahme. Es kommt jedoch vor, dass zugleich ein Vergehen oder ein Verschulden durch sie bestraft wird. Anhand von Beispielen wird die Sache klar. Die Ersitzungen zum Beispiel wurden
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Pis t ori s, Quaestiones, lib. 4, quaest, 23, n. 46. Dig. 48, 19, 16. Dig. 48, 19, 16 [fin.] [Anmerkung: Die Stelle stammt von Claudius Saturninus, nicht von Ulpian].
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eingeführt, damit Eigentumsrechte an Sachen nicht ungeklärt sind207. Das ist der Hauptgrund. Zugleich wird aber die Nachlässigkeit derer, die ihren Angelegenheiten nicht nachgehen, gezügelt, weil sie ja das Eigentum an ihrer Sache verlieren208. Das also ist die Strafe ex accidenti. Ein noch viel besseres Beispiel ist im Versäumnisurteil (in eremodicio) zu sehen. Wenn jemand sich nämlich nach der Litiskontestation hartnäckig nicht erklärt, wird ein Versäumnisurteil herbeigeführt und der Fall aufgrund des Vorbringens einer Partei entschieden, auch wenn der Säumige nicht anwesend ist209. Das Säumnisurteil ist also eine Strafe für Halsstarrigkeit, aber per accidens. Manchmal nämlich gewinnt der Halsstarrige durch Versäumnisurteil selbst den Rechtsstreit. Dann erleidet er in der Hauptsache keine Nachteile. Somit ist die Erkenntnis, die auf dem Vorbringen einer Partei beruht, in diesem Fall keine Strafe. Doch ist sein Vorgehen sehr riskant. Und meistens verliert der Säumige, wenn er für seinen Teil nichts vorgetragen hat, gegen einen Gegner, der sich bemüht. Daher wird er meistens auch in der Hauptsache bestraft. Aber so ist die Strafe ex accidenti. Das wichtigste Ziel des Säumnisurteils ist jedoch, dass der Prozess ein Ende findet. Ein anderes Beispiel haben wir in denjenigen Klagen, welche die Rechtsgelehrten aus der Sicht des Klägers als gerichtliche Verfolgung des Beklagten bezeichnen und aus der Sicht des Beklagten als Bestrafung210. Denn ihrer Natur nach sind sie gerichtliche Belangung des Beklagten, ex accidenti erscheinen sie aber in gewisser Weise als Strafen, was hier nicht weiter erörtert werden soll. Im Allgemeinen nähert sich in der Tat der Schaden, den jemand infolge seines Verschuldens hinnehmen musste, einer Bestrafung, aber ex accidenti. Denn er erleidet einen Schaden nicht zu dem Zweck, dadurch sein Verschulden zu bestrafen. Vielmehr tritt der Schaden zu seinem Verschulden hinzu. Damit folgt die Bestrafung ex accidenti der Schuld. Nun verlangt die Vernunft nicht, dass eine Verhältnismäßigkeit zwischen einer so gestalteten Strafe und einem Vergehen besteht. Mag auch die Strafe durch Zufall sehr hoch sein, im eigentlichen Sinne und grundsätzlich ist es keine Strafe. Folglich ist sie in ihrer Natur nicht als Strafe anzusehen. Denn erleidet jemand irgendeinen Schaden durch eigene Nachlässigkeit, kann es 207 208 209 210
Dig. 41, 3, 1. We se n be c k , Paratitla, tit. de ursurp. et usuc., n. 13. Cod. 3, 1, 13, 2-4. Glossa ordinaria zu Inst. 4, 6, 16; Sc hne id e wi n , Commentarii, Lib. 3, Tit. 4 § poenales quoque actiones.
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sein, dass der Schaden groß ist, die Schuld aber nur gering. Umgekehrt kommt es vor, dass die Schuld schwer, der Schaden aber klein ist, weil in einem derartigen Fall Schaden und Strafe auf Zufall beruhen. Zufälle aber sind unterschiedlicher Gestalt. Deutlich wird das am Beispiel von Ausschlussfristen. Wer zum Beispiel innerhalb der Zehntagesfrist keine Appellation einlegt, verliert einen Rechtsstreit. Er wird also für seine Nachlässigkeit bestraft. Aber das ist eine zufällige Strafe (ex accidenti). Denn sie ist nicht deshalb festgelegt worden, um die Nachlässigkeit der Appellanten zu bestrafen. Sondern es ist deshalb eine so kurze Zeit bestimmt worden, damit die Bestandskraft eines rechtskräftigen Urteils nicht länger in der Schwebe bleibt. Dass aber zugleich die Nachlässigkeit derjenigen, welche die Frist nicht beachten, bestraft wird, ist eine Strafe ex accidenti. Wenn also jemand hingenommen hat, dass die Zehntagesfrist ohne Appellationseinlegung verstreicht, verliert er den Prozess. Wie beschaffen ist hier das Verhältnis zwischen Schuld und Strafe? Denn innerhalb der Zehntagesfrist die Appellation nicht eingelegt zu haben, stellt keine so große Schuld dar. Der Verlust des Rechtsstreits bedeutet aber oft einen sehr schweren Schaden. Deshalb ist das, was hart erscheinen könnte, tatsächlich aber nicht zu hart. Denn es ist nicht nötig, dass zwischen Verschulden und verschuldet erlittenem Schaden Gleichgewicht besteht. Jetzt ist also nicht mehr unklar, was von der Einwendung zu halten ist, es bestehe keine Verhältnismäßigkeit zwischen Strafe und Schuld mehr, wenn wegen einer Nachlässigkeit die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag verwehrt ist. Hier geht es nämlich nicht um die Strafe im eigentlichen Sinn, sondern um durch Verschulden erlittenen Schaden. Denn wenn die Möglichkeit zu neuem Vortrag im Appellationsverfahren ausgeschlossen ist, sind die Parteien gehalten, alle Angriffs- und Verteidigungsmittel (omnia causae argumenta) in der ersten Instanz vorzutragen. Und das Ziel einer derartigen Regelung wäre, Prozesse in angemessener Zeit zu beenden. Auf diese Weise kann es jedoch geschehen, dass Säumige einen Schaden und dann auch eine Bestrafung hinnehmen müssen. Bei einer so beschaffenen Strafe hat die Frage nach der Verhältnismäßigkeit aber nichts zu suchen. Der nachlässige Prozessbeteiligte muss sich also nicht über das Gesetz oder den Richter beklagen, sondern über sich selbst. Wenn er schweren Schaden erleidet, ist er selbst es, der sich das zugefügt hat. Er hätte es vermeiden können, wenn er Sorgfalt hätte walten lassen. Wir haben nun gezeigt, dass die wesentliche Grundlage derer, welche die
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Auffassung vertreten, die Nachlässigkeit der Parteien müsse doch mit Nachsicht behandelt werden, nicht tragfähig ist. Ihre übrigen Argumente sind nicht von großer Bedeutung. Denn sie berufen sich auf die Gesetze. Da sie die Argumente unterschiedlich ansetzen – während der eine sie als uneingeschränkt gültig verstehen will, bemüht sich der andere, sie einschränkend auszulegen – wollen wir uns zunächst nicht in diese Erörterung begeben. Denn wir haben schon früher aufgezeigt, dass an diesen Gesetzen etwas fehlerhaft ist. Das wird aber weiter unten deutlich werden, wo gesagt wird, aus welchem Grunde das römische Recht hier den Parteien mehr zugestanden hat, als nötig gewesen wäre.
Zum V. Einwand Aber dennoch könnte jemand vielleicht diese Gesetze vor allem damit entschuldigen, sie würden sich offensichtlich der Denkweise der Menschen anpassen. Also werden die Parteien wenigstens durch die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag vor Schaden bewahrt. Denn es ist ja ohnehin nicht zu erreichen, dass sie die Verfahren mit angemessener Sorgfalt betreiben. Sind aber Gesetze wirklich so den Gebräuchen der Menschen anzupassen, dass auch fehlerhaftes Verhalten begünstigt wird? Die Gesetze gehen mit schlechten Gebräuchen der Menschen richtig um, wenn sie gegen diese Gebräuche angehen. Wenn aber Fehler durch Rechtswohltaten begünstigt werden, handeln Menschen notwendigerweise falsch. Es ist also kein Wunder, dass sich niemand groß um die erste Instanz kümmert. Denn man weiß ja: Auch wenn in der ersten Instanz irgendetwas nicht vorgetragen wird, kann das im Appellationsverfahren durch die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag behoben werden. Wenn nämlich Menschen ungestraft sündigen können, dann tun sie es. Aber wenn sie wissen, dass irgendetwas Unangenehmes auf sie zukommen wird, dann sehen sie sich vor. Sollte also die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag, dieses Heilmittel für Leichtfertigkeit, abgeschafft werden, werden wir feststellen, dass die Gerichtsverfahren ein deutlich anderes Gesicht zeigen. Dann nämlich werden alle bedenken, dass sie mit den Argumenten, die sie nun vortragen, entweder gewinnen oder verlieren werden, und wissen, dass man in der ersten Instanz für sich Sorge tragen muss. Sie werden also die Gelegenheit, wenn sie sich ergibt, nutzen, sofern sie wissen, dass sie nicht wiederkehren wird, sobald sie einmal ver-
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säumt ist. So wird wahr, was allgemein gesagt wird: Das Recht ist für die Wachsamen gemacht. Wer das nicht bedenkt, wird für seine unbesonnene Leichtfertigkeit bestraft.
Zum VI. Einwand Nun haben wir uns hinreichend mit den Gründen beschäftigt, welche nahezulegen scheinen, auch denen, die in irgendeiner Weise nachlässig sind, die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zu gewähren. Daher ist es jetzt folgerichtig zu sehen, ob wir denen, die ohne Schuld sind, irgendetwas genommen haben. Freilich sind vielleicht nicht alle so klug, sofort zu begreifen, was dem Fall förderlich ist. Selbst Vorsichtige können leicht einmal irren. Das eigene Vertrauen in den Fall macht die Parteien oft allzu sicher. Aber wenn sie in der ersten Instanz einfältig und unerfahren sind, aus welchem Grunde sind sie so schnell weise geworden? Nachdem sie die Sache verloren haben, erwägen sie nun alles sorgfältiger? Hätten sie nur in der ersten Instanz dieselbe Sorgfalt aufgewendet, wären sie genauso weise gewesen wie jetzt im Appellationsverfahren. Sind also deshalb Appellationen erfunden worden, damit man, nachdem sich in der ersten Instanz die Prozessgefahr (periculo litis) verwirklicht hat, in dem nächsten Prozess und den darauf folgenden, durch die Erfahrung klüger geworden, die Sache umso besser macht? Wie billigenswert ist diese Äußerung? Es genügt an dieser Stelle die allgemeine Antwort. Entweder tragen diejenigen, die in der ersten Instanz etwas unterlassen haben, einen berechtigten Irrtum oder einen anderen berechtigten Grund vor und es wird ihnen ausreichend durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geholfen, oder sie können einen berechtigten Grund nicht benennen. Und dann ist es nicht gerecht, ihnen durch die Appellation mehr zu helfen als durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Zum VII. Einwand Was zu den Advokaten und Prokuratoren vorgetragen wurde, das stellt gewiss in keiner Weise eine Hürde dar. Wenn der Rechtsbeistand etwas
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versäumt hat, kann gegen ihn eine Klage erhoben werden211. Wenn das aber zu keiner Lösung führt, ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand möglich212. Das ist bekannes Recht. Hier besteht keine Notwendigkeit zu einer Appellation.
Zum VIII. Einwand Aber den Appellanten ist doch deshalb die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag gegeben, „damit das bereits Verhandelte vom helleren Licht der Wahrheit beleuchtet werde“. In der Tat ist es den Parteien erlaubt, den Fall vollständig darzulegen. Aber das ist nicht unbegrenzt gestattet. Es gibt ein Maß in den Dingen, und es gibt gewiss letztlich Grenzen. Sonst nämlich wollen die Parteien immer mehr zum Licht der Wahrheit vordringen. Man muss ihnen also auferlegen, zur rechten Zeit so viel zum Licht der Wahrheit vorzutragen wie erforderlich. Wenn aber jemand diesen Zeitpunkt leichtfertig verstreichen lässt oder vernachlässigt, was sollte den Richter bewegen, ihn erneut zu hören? In der ersten Instanz ist es Zeit, zum vollen Licht der Wahrheit vorzutragen, damit der Geist des Richters erleuchtet wird und er der Wahrheit Beifall spendet. Dann bedarf es der vollen Erleuchtung im Appellationsverfahren nicht. Wenn aber das volle Licht der Wahrheit im vorigen Gerichtsverfahren nicht dargeboten wurde, beklagt sich der Appellant unbegründet und seine Appellation ist unberechtigt.
Zum IX. Einwand Wir kommen nun zu den Einwendungen, welche sich insbesondere mit der von uns vorgeschlagenen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand befassen. Ob nämlich den Parteien, die in der ersten Instanz unterlegen sind, gesetzlich auferlegt werden kann, Appellation einzulegen, wenn sie glauben, der Richter habe übel geurteilt; wenn sie aber glauben, es unterlassen zu haben, etwas vorzutragen, dann die Wiedereinsetzung in der vorigen Stand beantra-
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„Spec. t. de voc. § ult. n. 17 et 18“ [unklar, vielleicht Duran t is , Speculum, De procuratoribus, dort aber andere Randnummern]. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 45.
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gen zu müssen; darüber kann man deshalb im Zweifel sein, weil die Parteien oft nicht sicher sind, ob sie den Rechtsstreit durch die Schuld des Richters oder aus eigenem Unverstand verloren haben. Es kann schon sein, dass dieser Einwand bedenklich macht. Aber wenn wir nur das erwägen, was wir schon vorher behandelt haben, wird die Sache keine große Schwierigkeit bereiten. Wir stimmen dem gewiss zu, dass die Parteien heutzutage, wenn sie einen Prozess verloren haben, oft im Zweifel sind. Und das scheint nicht verwunderlich, wenn wir bedenken, dass sich heute niemand nachdrücklich um die erste Instanz kümmert. Die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag macht die Parteien der ersten Instanz nämlich sicher. Sie gibt Sicherheit für die Nachlässigen und Leichtfertigen. Nun aber sind Menschen, die ihre Angelegenheiten leichtfertig behandeln, wenn der Ausgang einer Sache ihrem Wunsch nicht entspricht, geistig so geschwächt, dass sie sich selbst als unbeteiligt am eigenen Verschulden ansehen und die Schuld lieber einem anderen zuschreiben. Dennoch sind sie sich zugleich ihrer Schuld bewusst. Sie glauben also, die Sache wäre vielleicht besser abgelaufen, wenn sie dies und jenes getan hätten. Das gleiche geschieht im Gerichtsverfahren. Nachdem jemand einen Rechtsstreit verloren hat, glaubt er, der Richter habe übel geurteilt. Zugleich denkt er dennoch, wenn er dieses und jenes noch hinzugefügt hätte, wenn er den Fall um einiges vollständiger erklärt hätte, dann wäre die Berechtigung seines Falles sehr viel deutlich geworden. Das ist einzuräumen: Wenn er nun unversehens vor die Wahl gestellt ist, die Abänderung des Urteils entweder mit neuer Begründung oder anhand der vorinstanzlichen Akte zu beantragen, dann befindet er sich zweifelsohne in großer Verlegenheit. Es ist aber klar, dass diese Zögerlichkeit auf der Leichtfertigkeit der Parteien beruht. Leichtfertige zögern nämlich, wenn ihnen Unvorhergesehenes geschieht. Sie wissen nicht, welchen Weg sie beschreiten sollen. Aber die Umsichtigen und Vorsichtigen sind für alle Fälle vorbereitet. Da nun die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag bisher die Sorglosigkeit und Leichtfertigkeit besonders begünstigt hat, wird den Parteien, wenn dieses Recht abgeschafft ist, die Notwendigkeit auferlegt, die erste Instanz mit angemessener Sorgfalt zu betreiben. Wenn sie nämlich wissen, dass es nach Abschluss der ersten Instanz nicht gestattet ist, Neues vorzutagen, werden sie sich bemühen, alles in der ersten Instanz darzulegen. Wer aber sich darum bemüht hat und, wenn er trotzdem den Rechtsstreit verlor, glaubt, zu Unrecht unterlegen zu sein, was anderes kann er sagen, als dass der Richter falsch entschieden habe? Er kann also nicht bezweifeln,
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dass er Appellation einlegen und die vorinstanzliche Akte dem höheren Gericht unterbreiten sollte. Wenn er aber einmal aus Unkenntnis etwas ausgelassen hat, was er vorher nicht vortragen konnte, während die Sache doch von großer Bedeutung schien und den Richter zu einer anderen Urteilsfindung bewegen könnte, dann kann ihm nicht unklar sein, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragen zu müssen. Wenn also zwischen Appellation und Wiedereinsetzung zu entscheiden ist, wird es nicht vorkommen, dass die Parteien, denen die Sache am Herzen liegt, stark zweifeln, welches Rechtsmittel zu wählen ist. Der heute anzutreffende Zweifel, der ja auf Leichtfertigkeit und Sorglosigkeit der Parteien zurückzuführen ist, erfordert keine weitere Nachsicht. Wer zu Anfang des Prozesses unsicher ist, kann vielleicht noch zu entschuldigen sein. Aber wer, nachdem der ganze Fall schon einmal verhandelt wurde, noch zweifelt, ist kaum jemand, der sich von dem Verdacht der Leichtfertigkeit freimachen könnte. Selbst derjenige, der in der ersten Instanz irgendetwas ausgelassen hat und vollständig sicher ist, dass er durch die Darlegung des nicht Dargelegten und den Beweis des nicht Bewiesenen den Sieg in der Sache erringen könnte, selbst der darf nicht gehört werden. Er ist vielmehr seinem selbstverschuldeten Schaden zu überlassen. Ist nicht einer umso weniger zu hören, wenn er nur zweifelt, ob neue Argumente irgendetwas nutzen können? Er beklagt sich darüber, dass das gegen ihn erlassene Urteil ungerecht sei, dennoch kann er keinen eindeutigen Grund benennen, warum es ungerecht ist, ob es die Schuld des früheren Richters ist oder irgendein Fehler in der Prozessführung. Wie will er den Richter überzeugen, das Urteil aufzuheben, wenn er selbst keine Begründung hat? Der Appellant klagt in erster Linie über den Richter der Vorinstanz. Aber dieser Begründung vertraut er nicht sehr. Deshalb ist er bestrebt, Neues vorzutragen. Aber er beschreitet hier keinen sicheren Weg. Was also macht er? Sicher ist es notwendig, dass er entweder das vorher Gesagte wiederholt oder dass er allgemein etwas vorträgt und im Ungewissen bleibt. Andererseits klagt das Reichskammergericht über die allgemein gehaltene und weitschweifige Abfassung der Appellationsbegründungen in seinen Dubia an oben angeführter Stelle, wo wir auch den Wortlaut wiedergegeben haben213. Daraus wird deutlich, wie viel Schaden diese leichtfertige Unentschlossenheit der Appellanten bereitet hat. Denn unklare, allgemein gehaltene und alternativ begründete Klagschriften sind auch in der ersten 213
Kapitel 3.
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Instanz verboten. Müssten sie nicht umso mehr in der zweiten untersagt sein? Aber wenn es den Appellanten vom Schicksal (fas) bestimmt ist, unsicher zu sein und unentschlossen hin und her zu schwanken, dann werden sie notwendigerweise auch in ihren Klagschriften im Ungewissen bleiben. Bedenken wir, wie bedeutsam die Appellation ist, werden wir schnell erkennen, ob sie auch dem zuzugestehen ist, der zweifelt, ob ihm selbst oder dem Richter der Grund für den Verlust des Prozesses zuzuschreiben ist. Denn derjenige, der Appellation einlegt, stellt entweder die Redlichkeit oder die Weisheit oder den Fleiß des Richters in Frage. Das aber leichtfertig zu tun, halten wir das für ein leichtes Vergehen? Es muss ausreichen, die Möglichkeit der Appellation denjenigen Parteien zu gewähren, die fest überzeugt sind, der Richter habe falsch entschieden. Wird das aber auch denen zugestanden, die selbst nicht klar vortragen wollen, wie soll dann das Ansehen der Gerichte aufrechterhalten werden? Denn deswegen sind die Gerichte geschaffen worden, damit der Richter die Rechtslage, die zwischen den Parteien strittig ist, durch sein Urteil sicher macht. Die Aufgabe der Parteien ist es, im Zweifel der Autorität des Richters zu folgen. Sie dürfen aber nicht im Zweifel Appellation einlegen, sich über den Richter beklagen und letztendlich unbestimmt bleiben. Sicher berechtigterweise sagen wir nämlich hier, was ein Rechtsgelehrter in anderem Zusammenhang so ausdrückte: „Man darf nicht herumlavieren bei der Beurteilung des guten Rufes eines Anderen.“214 Deshalb ist hinreichend deutlich, dass die Unentschlossenheit der Appellanten kein Grund ist, ihnen die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zu belassen. Jegliche Bedenken nimmt uns aber das oben erläuterte Beispiel der kammergerichtlichen Revision. Denn nichts steht dem entgegen, dasselbe Argument zur Widerlegung der Einwendungen zu gebrauchen, das wir zur Bestätigung unseres Vorschlags genutzt haben. Wenn also die Zögerlichkeit der Parteien Grund genug dafür wäre, den Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zu belassen, wäre es nötig gewesen, das Recht auch denen zuzugestehen, welche die Revision beantragen. Denn in gleicher Weise können diejenigen, die vor dem Kammergericht unterlegen sind, zweifeln, ob sie den Streitstand ausreichend dargelegt haben, wie diejenigen zweifeln, die vor Gerichten der Reichsstände unterliegen. Aber der Zweifel jener Leute ist nicht so hoch eingeschätzt worden, dass er verhindert hätte, ihnen die Verpflichtung zur Auswahl einer der beiden Wege aufzuerlegen: nämlich 214
Dig. 47, 10, 7 [pr.].
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entweder Einlegung der Beschwerde beim höheren Gericht, das heißt beim Revisionsgericht, wegen der Rechtsverletzung des Richters oder Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beim früheren Richter, nämlich beim Reichskammergericht. Der Zweifel der Parteien, die vor den Gerichten der Reichsstände unterlegen sind, steht also nicht entgegen, ihnen die gleiche Verpflichtung aufzuerlegen.
Zum X. Einwand Es bleibt zu überprüfen, ob der Weg, über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand Neues darzulegen, beschwerlicher und mühsamer wäre als über die Appellation. Aber wir haben schon oben hinreichend gezeigt, dass die Entlastung in den Appellationsverfahren sehr umfangreich sein wird. Die Verhandlung dieser Sache vor den unteren Gerichten wird aber soviel Schwierigkeiten nicht bereiten. Die Parteien allerdings, das ist zuzugestehen, werden keinen besonders leichten Weg mehr zu neuem Vortag haben. Aber es ist nicht gerecht oder nutzbringend, dass diese Möglichkeit, Neues vorzutragen, so einfach ist und bisher war. Denn die Leichtigkeit, mit der die Parteien die Gesetze in dieser Angelegenheit genutzt haben, hat sie leichtfertig gemacht und das Gerichtswesen verdorben. Berechtigte menschliche Anliegen müssen aber gewissenhaft behandelt werden. Insbesondere in den Gerichtsverfahren benötigt man Aufmerksamkeit und Sorgfalt, nicht nur vom Richter, sondern auch von den Parteien. Du wendest ein: Nach zurückgewiesener Wiedereinsetzung in den vorigen Stand legen die Parteien vielleicht die Appellation ein. So kommen sie trotzdem zum Appellationsverfahren und bringen ihren neuen Sachvortrag an. Auch wenn das zu befürchten ist, werde ich indessen nicht zustimmen. Es darf nämlich aus dem Verfahren der ersten Instanz nicht das herausgezogen werden, was dort hingehört. Denn aus dem gleichen Grund könnte gefolgert werden, die erste Instanz sollte vollständig übergangen und der Fall sofort in das Appellationsverfahren hinüber geleitet werden. Das wäre nämlich kürzer. Aber ich werde diese Antwort nicht geben. Soviel sage ich jedoch, dass die Befürchtung gegenstandslos ist. Gewiss kann derjenige appellieren, dem in der unteren Instanz die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verweigert wurde. Dann aber wird es nicht erlaubt sein, wie es heutzutage im Appellationsverfahren geschieht, das nicht Vorgetragene vorzutra-
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gen, das nicht Bewiesene zu beweisen, Neues mit Altem zu vermischen und aus diesem oder jenem Grund die Aufhebung des Urteils zu beantragen. Vielmehr bezieht er sich auf die Akten und belegt aus ihnen, dem früheren Richter nicht nur neue und hinreichend gewichtige Tatsachen vorgetragen zu haben, sondern auch einen berechtigten Grund, der ihn hinderte, diese Tatsache vor Absetzung des Urteils zu beweisen. Deshalb beantrage er die Wiedereinsetzung, die er von dem vorigen Richter nicht erlangen konnte, vom höheren Richter. Aber wie wenige gibt es, die das zustande bringen! Wenn das Wenige können, werden es folglich auch Wenige wagen. Denn so leicht wagt niemand etwas, wenn er nicht hofft, es erreichen zu können. Es ist kein Wunder, dass Appellanten im Hinblick auf die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag leichtfertig in die Appellation gehen. Weil ihnen das heutzutage vom Gesetz selbst zugestanden ist, gibt es nichts, was entgegenstände, dieses Recht zu missbrauchen. Aber bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verhindert die Sachkenntnis die Leichtfertigkeit. Wiederum hilft uns hier das Beispiel des Reichskammergerichts. Denn obwohl nach einem von ihm abgesetzten Urteil kein neuer Vortrag oder Beweisantritt zugelassen ist, es sei denn im Fall der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, ist es dennoch erlaubt, nach Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Revision zu beantragen. Denn im Revisionsverfahren ist die Beschwerde über die Rechtsverletzung des Richters vorgesehen. Dennoch geschieht das nicht so häufig, als dass befürchtet werden müsste, auf diesem Umwege würden neue Erörterungen in das Revisionsverfahren hineingebracht. Deshalb ist auch nicht zu befürchten, dass durch Appellationen gegen eine von den Gerichten der Stände abgelehnte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand neue Tatsachenerörterungen quasi durch die Hintertür in das Reichskammergericht eingeführt werden.
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Kapitel XI: Es wird erklärt, aus welchem Grund die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag eingeführt wurde. Zugleich lässt sich anhand der Unterschiede zwischen den Gerichtsverfahren im alten Rom und in unserem Reich zeigen, dass diese Rechtswohltat damals leichter geduldet werden konnte als heute Die meisten Einwendungen, denen durchaus eine gewisse Bedeutung zukommen mag, sehen wir als erledigt an. Es bleibt jedoch die allergrößte und schwierigste. Natürlich ist die Autorität der Gesetze, welche den Parteien die Rechtswohltat zu neuem Vortrag entweder zugestanden oder bestätigt haben, ein gewichtiges Argument, ihnen ebendiese Rechtswohltat zu belassen. Die wesentlichen Quellen stammen hier in der Tat aus dem römischen Recht. Denn obwohl die Rechtswohltat zu neuem Vortrag auch vom kanonischen Recht, der Kammergerichtsordnung und von der allgemeinen Gerichtsgewohnheit übernommen ist, liegt ihr Ursprung im römischen Recht. Seiner Regelung folgten sowohl das kanonische Recht als auch die Gesetze unseres Reiches. Gegen die Übereinstimmung so vieler Gesetze anzugehen, nachdem sie solange bestehen und fortlaufend angewendet werden: Was anderes ist es, als „klüger sein zu wollen denn die Gesetze“, weil genau dies nach Aristoteles „durch Gesetze verboten ist, welche sich der höchsten Wertschätzung erfreuen“.215 In der Tat darf man insbesondere das Ansehen des römischen Rechts nicht leichtfertig verwerfen. Denn wir müssen diesen Schatz der menschlichen Weisheit gewiss hochhalten und als unantastbar schützen. An seiner Ansammlung haben die ausgesuchtesten Geister des römischen Volkes, das den kultivierten Teil des Erdkreises durch Gesetze regiert hat, in so vielen Jahrhunderten mitgewirkt. Deshalb dürfen wir eine Vorschrift dieses Rechts nicht ändern, es sei denn, wir werden durch schwerwiegende Gründe dazu veranlasst. Wir haben bisher verschiedene Nachteile, die aus neuen im Appellationsverfahren zugelassenen Tatsachenerörterungen entstehen, dargestellt. Wir haben auch aufgezeigt, wie fremd sie Sinn und Zweck der Appellation als Verfahrensart sind. Das alles scheint jedoch noch nicht auszureichen. Was nun? Sagen wir etwa, diese Verfahrensweise sei für das Appellationsverfahren irrtümlich aus dem römischen Recht rezipiert wor215
Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, lib. c. 15, n. 15.
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den? Das wäre gewiss stark, den Gesetzgeber in einer Angelegenheit dieser Bedeutung des Irrtums zu bezichtigen. Man könnte vielleicht meinen, in alten ungeschriebenen römischen Verfahrensvorschriften sei die Vorgehensweise, die wir heute haben, nicht so in Gebrauch gewesen. Denn sowohl in den ersten Instanzen wie auch in den Appellationsverfahren seien die Fälle mündlich verhandelt worden und es nicht einfach gewesen, alte und neue Argumente zu unterscheiden. In der Tat mag es vielleicht manchmal für die Appellanten nicht schwer gewesen sein, versteckt Neues einzuflechten. Aber das meiste und gewöhnlich wichtige wie zum Beispiel Zeugen, Urkunden, ja sogar eine andere gerichtliche Beweisaufnahme, ein anderer Stand der Verhandlung – all das, sage ich, ist so allgemein sichtbar, dass Neues insoweit nicht lange verborgen bleiben konnte. Und deshalb muss ein anderer Grund dahinter stecken. Die römischen Gesetze selbst geben zwar gewisse Gründe vor, die wir im vorangehenden Kapitel untersucht haben. Daraus geht aber ihre Haltlosigkeit hervor. Deshalb können wir nicht glauben, dass diese Gründe die römischen Gesetzgeber stark bewegten, die doch als erste die Rechtswohltat zu neuem Vortrag in der Form ausgestalteten, die sie heute hat. Ferner scheint es umso fraglicher, aus welchem Grund die Berechtigung zu neuem Vortrag durch das römische Recht für die Appellationen eingeführt wurde. Denn die Gründe, mit denen wir das bekämpft haben, sind doch demselben römischen Recht entnommen. Damit wir nun den wahren Grund herausfinden, sind der Ursprung und die Entwicklung der Appellation selbst zu betrachten. Denn es gibt ja nichts, was die Appellationen mehr erweitert als die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag. Und daher ist es sehr wahrscheinlich, dass uns die Auffassung der damaligen Zeit, in der die Appellationen häufiger zu werden begannen, auch die Ursache und den Ursprung der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag verdeutlichen werden. Appellationen waren gewiss schon in der Republik üblich. Appellationen gegen den Prätor wurden nämlich bei den Volkstribunen eingelegt216. Ob in bürgerlichen und privaten Streitigkeiten noch eine andere Art von Appellation in Gebrauch war, ist schwer zu sagen. Spuren der alten Zeit existieren kaum. Es gibt auch einige voneinander abweichende Berichte. Ebenso war die Anrufung der Tribunen gegen eine Entscheidung des Prätors selten und erfolgte nur bei großem Unrecht und in schwierigen Fällen. Wie groß die 216
Sig o ni o , De antiquo iure civium Romanorum, lib. 1, cap. 26.
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Würde des Amtes war,217 das der römische Prätor in der Republik ausübte, lehren uns die Geschichte jener Zeit und die alten Schriftsteller. Sie zeigen uns gleichsam die Überreste seiner Macht, welche hier und dort in unserem heutigen römischen Recht verstreut sind. Mit der Würde dieses so wichtigen Amtes wäre es nicht vereinbar gewesen, wenn die Ungebundenheit und Häufigkeit der Appellationen, welche sich bald danach entwickelte, schon damals üblich gewesen wäre. Aber nachdem die Republik von den Kaisern vereinnahmt war, begannen die Appellationen mehr und mehr Platz zu greifen. Die Kaiser glaubten nämlich, es liege in ihrem Interesse, die Zügel für die Appellanten zu lockern. Aber weil wir hier in Herrschaftsgeheimnisse des alten Imperiums eindringen, ist das näher zu erläutern. In der ersten Zeit wagten die römischen Imperatoren es nicht, sich als Staatsherrscher zu bekennen. Nicht unmittelbar von Beginn des Kaiserreiches hörte man die später häufigen Ausrufe: Der Kaiser ist der Herrscher des Erdkreises218, alles untersteht dem Kaiser219. So glanzvoll zu sprechen, war zu dieser Zeit nicht üblich. Denn während es nach Aristoteles zwei Arten gibt, die Macht zu ergreifen und zu bewahren, die gewalttätige und, wie ich sie nenne, die schlaue, ausgeklügelte, bestehend aus Betrug, Heuchelei und verschlagener Lüge220, verbanden die alten römischen Kaiser beide Arten (Aristoteles beobachtete, dass auch das geschehen kann221) und festigten teils mit Gewalt, teils mit List, so wie es die Gegebenheiten erforderten, ihre Herrschaft. Gewissermaßen durch Verstellung zogen sie das höchste Amt an sich und bewirkten damit auf erstaunliche Weise, dass der Staat, den sie zur Beherrschung erobert hatten, dennoch in der früheren Verfassung zu verbleiben schien. Die Annalen des Tacitus sind voll dieser Kunstgriffe222. Befragt wurde auch der Senat noch, aber nur der Form halber. Nichts nämlich wagte er zu beschließen, wenn es dem Kaiser nicht gefiel. Die Macht der Amtsträger wurde beschränkt. Dennoch blieben die Titel, Amtsbezeichnungen und das großartige Erscheinungsbild in der Gestalt erhalten, die sie in der freien Republik hatten. So vergossen sie Blut, ohne Schmerz zuzufü217 218 219 220 221 222
Dig. 1, 1, 11. Dig. 14, 2, 9. [Wohl] Cod. 7, 37, 3, 4. [Die von Hugo zitierte Stelle Cod. 7, 37, 4 existiert nicht.] Ari s t ote le s , Politicorum Libri, lib. 5, cap. 11. Ari s t ote le s , Politicorum Libri, lib. 5, cap.4 am Ende. Tac i tu s, Annales, lib. 1, cap. 2, 7, lib. 3, cap. 60, lib.4, cap. 19.
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gen. Nicht anders konnte das Schicksal der Gerichtsbarkeit sein. Mit allen Mitteln, wenn sie auch angeblich die Ehre bewahrten, wurde die Autorität der Amtsträger, die für die Rechtsprechung zuständig waren, beschränkt. Was dabei den Amtsträgern entzogen wurde, wuchs dem Kaiser zu. Das ist es, was Tacitus über Tiberius berichtet: „Er begnügte sich nicht damit, an den Untersuchungen im Senat teilzunehmen, sondern pflegte auch bei den ordentlichen Gerichtsverhandlungen dabeizusitzen, und zwar in einer Ecke des Tribunals, um den Prätor nicht von seinem kurulischen Sessel zu verdrängen; viele Beschlüsse wurden in seiner Gegenwart gegen Amtserschleichung und Einflussnahme mächtiger Männer gefasst.“223 In seiner Art kommt der Geschichtsschreiber kurz und bündig zu seinem Urteil: „Aber während man sich um die Wahrheitsfindung sorgte, wurde die Freiheit zugrunde gerichtet.“ Auf weitere Zitate verzichte ich. Auf das gleiche Ziel hin wurden folgerichtig die Appellationsverfahren ausgerichtet. Denn als die Kaiser sich gleichsam als Verteidiger des Volkes Namen und Amt der Volkstribunen anmaßten, übernahmen sie auch das Recht, Appellationen entgegenzunehmen, das vorher bei den Tribunen gelegen hatte. Das war ein wirklich einfacher Weg, die Gerichtsgewalt der Beamten zu beschneiden. Denn Appellationen sind gewiss auch in einem guten Staat nötig, um Richter in ihrer Amtsführung im Zaum zu halten. Sie müssen jedoch gemäßigt sein und innerhalb rechtlicher Grenzen, damit das Ansehen der Gerichte nicht zerstört wird. Denn es gibt nichts, das den Ruf der Gerichte sträker untergräbt als unbestimmte und regellose Appellationsverfahren. Dennoch wird aus Gründen der Staatsraison die Macht bestimmter Gerichte verdeckt beschränkt. Das ist es, was wir gerade zu den Zuständen bei den Imperatoren gesagt haben. Denn sie konnten die Rechtsprechungsorgane (Magistratus Jurisdictioni praefectos) deshalb nicht gänzlich beseitigen, weil ja bestimmte Formen der alten Republik erhalten bleiben sollten. Ungeachtet dessen war es leicht, ihre Amtsgewalt und Macht durch ein besonderes Verteidigungsmittel zu beschneiden, das die Appellationen beförderte. Je großzügiger die Appellationsmöglichkeiten, desto größer erscheint die Verteidigungsmöglichkeit. So gewinnt der Höhergestellte an Einfluss, und der Unterstellte verliert an Macht. Deshalb war nicht der maßvolle, sondern der großzügige Gebrauch von Appellationen im Interesse der Kaiser. Auf welche Weise hätte in der Tat die Zügel für die Appellanten mehr gelockert werden können, als zu erlauben, das nicht Vorgetragene vorzutragen und das nicht Be223
Tac i tu s, Annales, lib. 1, cap. 75. [Übersetzung von Erich Heller, München 1982/1991].
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wiesene zu beweisen? Das bedeutet nämlich, wie es ein Rechtsgelehrter in knapper Form zum Ausdruck bringt, dass es erlaubt ist, auf welche Weise auch immer man es kann, die Beschwerde zu verfolgen224. Denn so wurde die eigentliche juristische Erörterung zu einem großen, vielleicht dem größten Teil vor das Gericht des Kaisers gezogen. Keinesfalls für nebensächlich sollte man die Worte des Kaisers halten: „Wir erlauben, dass die Parteien auch neuen Sachvortrag in das Erkenntnisverfahren vor dem Richter oder den Richtern in unserem heiligen Palast einführen dürfen.“225 Diesen Worten kann man klar entnehmen, dass die Gewohnheit des neuen Sachvortrags im heiligen Palast ihren Anfang nahm und sich nach diesem Beispiel auf die übrigen Gerichte ausgebreitet. Der Vorwand aber war beschönigend genug: Natürlich müsse den Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Vortrag gegeben werden, „damit der vollen Amtsführung durch das helle Licht der Wahrheit geholfen werde“226, und nichts anderes könne in den Gerichtsverfahren einen Platz haben als die Gerechtigkeit, und deshalb dürfe eine vielleicht zufällig aufgetauchte gewichtige Tatsache nicht ausgeschlossen werden227. Aber vielleicht könnte darauf erwidert werden, was Tacitus in einem nicht unähnlichen Fall so beurteilte: „Indem man zuviel Sorgfalt auf die Wahrheitsfindung verwandte, wurde die Freiheit“ oder besser die Macht der Amtsträger und der unteren Gerichte „zugrunde gerichtet“. Obwohl aber in späteren Zeiten, nachdem das Prinzipat durch seine lange Dauer schon gefestigt war, solche Kunstgriffe, wie sie die ersten Kaiser gebraucht hatten, nicht mehr nötig waren, ist es dennoch kein Wunder, dass die einmal eingeführte Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag beibehalten wurde. Denn vom Staatszweck her konnte sie nicht als Fremdkörper, sondern eher als dem Staat nützlich angesehen werden. Insbesondere dürfte man sie so verstanden haben, dass sie eine Art von Wohltätigkeit darstelle. Dennoch begann man andererseits, die mangelnde Regulierung der Appellationen, damit sie nicht zu schädlich wurde, wieder zu beschränken. Es wurde verboten, in ein und derselben Sache an ein drittes Gericht zu appellieren228, und für die Durchführung der Appellation wurde ein Jahr vorgege-
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Dig. 49, 1, 3. Cod. 7, 62, 37. Cod. 7, 63, 4. Cod. 7, 62, 6, 1. Cod. 7, 70, 1.
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ben, in Ausnahmefällen zwei229. Indem so die Unbestimmtheit der Appellationsverfahren, welche die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag eingeführt hatte, wieder strenger geregelt wurde, empfand man die Nachteile, die sonst daraus entstehen konnten, nur wenig. So mögen die Dinge sich verhalten. Aber wenn sich im römischen Recht, auch wenn wir es zu Recht verehren, etwas zeigt, das allein an die Gegebenheiten des alten Kaiserreiches angepasst war (gewiss wird niemand bestreiten, wie wertvoll manches davon gewesen ist), muss das nicht auf unseren Staat, der sich von der Verfassung des alten Imperiums beträchtlich unterscheidet, übertragen werden. Denn nicht alles ist für jede Form von Staat geeignet. In manchen Dingen ist das deutlich genug. Und deshalb ist bei uns nicht weniges anders festgelegt worden, als im römischen Recht vorgeschrieben. In anderen Dingen ist das aber schwer zu erkennen. Aristoteles lehrt, es sei sehr zu überlegen, woraus sich in Gesetzen eine Regelung ableitet230. Deshalb darf es nicht verwundern, wenn die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag, welche durch den Staatszweck des alten Imperiums bedingt war, auch in unser Gerichtswesen übernommen wurde. Vielleicht hat man geglaubt, die Appellation sei nicht von so großer Bedeutung, als dass die Verschiedenheit in der Verfassung für sie einen großen Unterschied bewirke. In Wirklichkeit verhält sich die Sache aber anders. Die Appellationsgerichte haben nämlich eine herausragende Bedeutung. Und die Gerichte sind ein wesentlicher Teil des Staates231. Eine unterschiedliche Staatsform gibt auch für einen Teil des Staates eine unterschiedliche Ausgestaltung vor. Von daher ist zu erklären, dass Aristoteles für die Oligarchie ein vollständig anderes Rechtsmittelrecht (legem provocationem) vorgezeichnet hat als eines, das für Stadtstaaten geeignet ist232. Es ist also kein Wunder, dass die im alten römischen Reich im Sinne der zeitgenössischen Verfassung angestellte Erwägung für die Ausgestaltung des Appellationsverfahrens für uns heute passt. Für das alte Imperium war das nützlich, was das höchste Kaisergericht ins Unermessliche emporhob, die Macht der unteren Gerichte aber unterdrückte. Das jedoch bewirkten unter anderem weitgefasste Appellationsregelungen. Die Laschheit dieser Regelungen umfasste auch die Rechtswohl229 230 231 232
Cod. 7, 63, 5; Nov. 49 [pr.]. Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 10, letztes Kapitel. Ari s t ote le s , Politicorum Libri, lib. 4, cap. 14 und letztes Kapitel. Ebenda cap. 14.
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tat zu neuem Sachvortrag. In unserem Reich stellt sich der Staat jedoch völlig anders dar. Man ist nämlich nicht der absoluten Herrschaft eines Einzelnen unterworfen. Die Herrschaft ist vielmehr aus verschiedenen Gründen abgeschwächt. Das also ist der Herrschaft förderlich, was diese Mäßigung bewahrt. Deshalb sind die höchsten Gerichte des Reichs nicht übermäßig zu belasten, noch darf den Gerichten der Stände zu viel entzogen werden. Für unserem Staat passen also weitgefasste Appellationsregelungen nicht. Infolgedessen ist für ihn die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag nicht geeignet. Denn zunächst ist sie deshalb für die Gerichte der Stände schädlich, weil sie ihnen ja, wie oben gesagt, einen großen Teil der Untersuchung entzieht. Die Amtsträger im alten Imperium, die die Gerichtsgewalt ausübten, konnten sich nicht beklagen, obschon ihnen etwas entzogen wurde, weil sie ja nicht kraft eigener Gerichtsgewalt arbeiteten, sondern dem Kaiser dienten. Aber in unserem Reich nehmen es die Stände zu Recht übel, wenn ihnen etwas beschnitten wird. Schließlich stärkte die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag im alten römischen Reich die Macht der höchsten Gerichte. Aber für die Gerichte unseres Reichs stellt die Rechtswohltat eher eine Belastung dar. Sie ist so weit entfernt davon, deren Ansehen zu vergrößern. Vielmehr vermindert sie es eher. Denn die Folge war, wie oben dargestellt, dass man sich genötigt sah, sich um verschiedene Privilegien de non appellando zu bemühen. Gewiss würden auch die Reichsgerichte größeres Ansehen gewinnen, wenn sie allen, die sich hilfesuchend an sie wenden, auch in angemessener Zeit Hilfe angedeihen lassen könnten. Da aber die Menge der Fälle das verhindert und weil die höchsten Gerichte von den vielen Geschäften erdrückt werden, tut das ihrem Ansehen Abbruch. Dabei nehmen die neuen Erörterungen in den Appellationen wirklich viel Raum ein, was bewirkt, dass das Reichskammergericht oft gezwungen ist, Fälle größerer Bedeutung unbearbeitet zu lassen oder aufzuschieben. Im alten Imperium kam das nicht vor, es war auch nicht zu befürchten. Denn alles lag in der Hand eines Einzelnen: Er konnte bei den Gerichten leicht so viele Männer einsetzen, wie für die Erledigung der Fälle notwendig waren. Mit welchen Schwierigkeiten sind aber die Verzögerungen bei unserem Reichskammergericht verbunden? An wie vielem fehlt es, dass die Verhältnisse dort so sind, wie sie sein müssten? Es müssten gewiss mehr Anstrengungen unternommen werden, das Gericht gut auszustatten, von dem zu einem großen Teil das Wohl des Staates abhängt. Aber vielleicht lassen die gewiss schwierigen
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Zeiten unseres Staates das nicht zu. Wie immer es auch sein mag. Der Unterschied zwischen unseren höchsten Gerichten und denen des alten Imperiums ist gewiss beträchtlich. Denn die Gerichte des alten Imperiums konnten leicht so ausgestattet werden, dass sie jedem Geschäftsanfall gewachsen waren. Für unsere Gerichte war das aber bisher nicht der Fall. Für jene musste man also nicht Vorsorge wegen der Menge der Fälle tragen, für unsere aber schon. Und aus dem gleichen Grunde kam es, dass die durch mehrere Instanzen wiederholten Erörterungen im alten Imperium nicht so belastend waren, bei uns aber schon. Vor dem Richter nämlich gab es nicht so große Verzögerungen. Der Prozess hatte nicht so viele Haken und Ösen und die Instanzen dauerten nicht so lange. Über die erste Instanz wurde in drei Jahren, über die zweite in einem Jahr entschieden, in Ausnahmen in zwei Jahren. Diese Verzögerung war hinnehmbar. Bei uns hat aber eine Instanz oft einige Jahrzehnte gedauert, insbesondere, wenn man zu den höchsten Gerichten gelangt war. Deshalb, sagt Gail, dass vor allem dieser Umstand die Gelegenheit verschafft, die Rechtswohltat zur Appellation zu missbrauchen. Die Appellanten wissen nämlich, dass die fatalia prosequendae appellationis nicht, wie es im alten Imperium üblich war, auf ein oder zwei Jahre beschränkt sind233. Der Prozess war zudem im alten Imperium weitaus leichter zu handhaben, als er es heute ist. Auch kam es nicht zu Fragen der Attentate – oder sie störten weniger –, welche, wie wir in Kapitel II erwähnten, uns so oft Schwierigkeiten bereiten. Das Unterordnungsverhältnis war nämlich weitaus strikter. Die unteren Richter wagten es nach der Appellationseinlegung nicht so leicht, neue Verfügungen zu treffen, um nicht den Anschein zu erwecken, die Autorität des höheren Richters zu missachten. Und deshalb verschaffte sich dieser einzige juristische Satz „während der anhängigen Appellation darf nichts mehr geändert werden“ mehr Autorität als alle unsere Inhibitionen, Mandate und Paritionsurteile. Schließlich war es nicht erlaubt, in ein und demselben Fall mehr als zweimal Rechtsmittel einzulegen. Bei uns konnte das nicht erreicht werden. Denn das Reichskammergericht nimmt auch dritte und vierte Appellationen an234. Im alten Imperium wurde es als nahezu unschädlich angesehen, dass die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag an die Zeitumstände angepasst und gegenüber anderweitigen Rechtsmitteln abgemildert war. Sicher hat man die Nachteile 233 234
Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 128. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 72, n. 3; Myn s in ger , Observationes, cent. 1, obs. 15.
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weniger empfunden. Bei uns aber, die wir keine anderen Rechtsmittel haben, hat dieser Virus sich vehement ausgebreitet und jene Pest, die endlose Dauer der Prozesse, mit sich gebracht. Es wird also deutlich, dass das römische Recht für die Gewohnheit, in den Appellationsverfahren Neues vorzutragen, kein Vorbild hätte sein dürfen. Vielmehr hätten die Unterschiede zwischen unserer Zeit und der Zeit des alten Imperiums uns veranlassen sollen, von dieser Regelung Abstand zu nehmen. Obwohl so viel davon abhängt, sind die Nachteile nicht so deutlich, dass sie sofort ins Auge springen, insbesondere, weil ja schön klingende Vorwände vorgeschoben wurden. Von daher hat sich unwidersprochen die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag in unsere Gerichtsverfahren eingeschlichen, von denen man sie hätte fernhalten müssen. Sodann stellte sich jene hochmütige Sicherheit der Appellanten ein, hervorgegangen aus Zuversicht und dem Vertrauen auf genau diese Rechtswohltat. Wenn man nämlich weiß, dass es leicht ist, den Verlust der ersten Instanz im Appellationsverfahren wieder gutzumachen, dass man dort das nicht Vorgetragene vortragen und das nicht Bewiesene beweisen kann, dann kümmert sich niemand groß um die erste Instanz oder hält es für wichtig, sich besonders zu bemühen. Und so gewann die Meinung Oberhand, dass wir ohne Schaden für Wahrheit und Gerechtigkeit auf die Rechtswohltat, durch die Appellation Neues vorzutragen, nicht verzichten könnten. Denn oft werde andernfalls ein gerechter Fall verloren gehen. Weil man täglich die Leichtfertigkeit und Sorglosigkeit der Parteien erlebte, glaubte man, es sei bei ihnen nicht leicht zu erreichen, dass sie gleich in der ersten Instanz alles vortragen, was für den Fall notwendig ist. Den Grund aber für diese Leichtfertigkeit und Sorglosigkeit, womit sie die erste Instanz vernachlässigt, gilt es zu untersuchen. Der Grund ist nämlich kein anderer als das Vertrauen, welches die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag bewirkt. Und deshalb trifft folgendes zu: Solange die Appellanten diese Möglichkeit haben, lässt sich nicht erreichen, dass die Parteien der ersten Instanz Aufmerksamkeit zukommen lassen. Aber, nachdem die Rechtswohltat weggefallen ist, wird die gefährdete Lage, in der sie sich befinden, ihnen die Schläfrigkeit austreiben. Sie werden bedenken, dass das, was nun ausgelassen wurde, in starkem Maße für sie schädlich sein wird und mit der Gefahr des Verlustes des Prozesses verbunden ist. Aber obwohl das ein etwas grobes Bild ist: Unsere Gesetze wollen lieber kranke Parteien in ihrer Krankheit belassen als ihnen ein etwas stärkeres Heilmittel zu verschreiben. Und sie sind gezwungen, ihnen
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ein Pflaster für Leichtfertigkeit und Nachlässigkeit, als was die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zu verstehen ist, zu belassen. Sie fürchten sich ja, den Prozessbeteiligten den Zwang zu einer überlegten und sorgfältigen Prozessführung in der ersten Instanz aufzuerlegen. Wir können also fast das sagen, was ein römischer Historiker schreibt, dass wir in eine Lage geraten sind, „in der wir weder die Fehler noch die Abhilfen ertragen können“235. Als nun das Übel, welches entstanden ist, schwer auf unser Gerichtswesen hereinstürzte, begann man einzusehen, dass die Neuerung der Gerichtsverfahren, welche bei den Appellationen erfolgte, weitaus mehr an Nachteilen und Lästigkeiten für uns hat, als sie im alten römischen Reich mit sich brachte. Deshalb dachte man über bestimmte Rechtsbehelfe nach, durch die Wiederholungen von Rechtsstreitigkeiten mehr in den Verfahren der ersten Instanz als im Appellationsverfahren erfolgen könnten. Auf dieses Ziel scheinen in der Tat die Leuterationen und Supplikationen hinzudeuten, welche in einigen deutschen Gerichten gegen die Maßgabe des römischen Rechts eingeführt worden sind. Über diese Einrichtung ist deshalb etwas zu sagen.
Kapitel XII: Zur Verfestigung unserer Auffassung wird die Entstehung der Leuterationen und der Supplikationen erläutert. Außerdem wird untersucht, ob eine erneute Erörterung des Falles überhaupt nur durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder auch durch Supplikation oder Leuteration in den unteren Gerichten vorgesehen werden sollte Aus dem römischen Recht ist eine bestimmte Art von Rechtsmittel vom prätorischen Präfekten an den Kaiser überliefert, die supplicatio genannt wird. Sie erwuchs aus der Staatsräson im alten römischen Reich. Als nämlich die Kaiser den prätorischen Präfekten zu einer solchen Höhe erhoben, dass sie diesen sich fast gleichstellten, war eine Appellation gegen den prätorischen
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ein Pflaster für Leichtfertigkeit und Nachlässigkeit, als was die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zu verstehen ist, zu belassen. Sie fürchten sich ja, den Prozessbeteiligten den Zwang zu einer überlegten und sorgfältigen Prozessführung in der ersten Instanz aufzuerlegen. Wir können also fast das sagen, was ein römischer Historiker schreibt, dass wir in eine Lage geraten sind, „in der wir weder die Fehler noch die Abhilfen ertragen können“235. Als nun das Übel, welches entstanden ist, schwer auf unser Gerichtswesen hereinstürzte, begann man einzusehen, dass die Neuerung der Gerichtsverfahren, welche bei den Appellationen erfolgte, weitaus mehr an Nachteilen und Lästigkeiten für uns hat, als sie im alten römischen Reich mit sich brachte. Deshalb dachte man über bestimmte Rechtsbehelfe nach, durch die Wiederholungen von Rechtsstreitigkeiten mehr in den Verfahren der ersten Instanz als im Appellationsverfahren erfolgen könnten. Auf dieses Ziel scheinen in der Tat die Leuterationen und Supplikationen hinzudeuten, welche in einigen deutschen Gerichten gegen die Maßgabe des römischen Rechts eingeführt worden sind. Über diese Einrichtung ist deshalb etwas zu sagen.
Kapitel XII: Zur Verfestigung unserer Auffassung wird die Entstehung der Leuterationen und der Supplikationen erläutert. Außerdem wird untersucht, ob eine erneute Erörterung des Falles überhaupt nur durch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder auch durch Supplikation oder Leuteration in den unteren Gerichten vorgesehen werden sollte Aus dem römischen Recht ist eine bestimmte Art von Rechtsmittel vom prätorischen Präfekten an den Kaiser überliefert, die supplicatio genannt wird. Sie erwuchs aus der Staatsräson im alten römischen Reich. Als nämlich die Kaiser den prätorischen Präfekten zu einer solchen Höhe erhoben, dass sie diesen sich fast gleichstellten, war eine Appellation gegen den prätorischen
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Präfekten ebenso wie gegen den Kaiser untersagt236. Weil die späteren Kaiser jedoch diese Macht der Präfektur, die sie beargwöhnen mussten, allmählich durch unterschiedliche Maßnahmen beschnitten237, verminderten sie auch die freie, unbeschränkte und ἄνυϖεύθυνον (anupeúthynon, unumschränkte) Gerichtsgewalt. Sie unterwarfen sie wieder ihrer Aufsicht, indem die Parteien die Möglichkeit erhielten, anstelle der Appellation gegen den Urteilsspruch des prätorischen Präfekten den Kaiser anzurufen238. Die Supplikation ist also nichts anderes als gewissermaßen eine andere und durch eine schwächere Formulierung abgemilderte Beschwerde. Dennoch bestehen zwischen der Appellation und der Supplikation bestimmte Unterschiede. Darunter ist nicht derjenige am geringsten, dass durch die Appellation die Vollstreckung ausgesetzt wird, durch die Supplikation aber nicht. Justinian wollte indessen den Parteien auch hier helfen. Er legte fest, dass, wenn der Antrag beim Präfekten binnen zehn Tagen gestellt war, es nicht erlaubt sei, das Urteil vollstrecken zu lassen, es sei denn, der Obsiegende leistete Sicherheit dafür, das Urteil wiederherzustellen, wenn es gegebenenfalls im Supplikationsverfahren bestätigt wurde239. Ob das so zu verstehen ist, dass der Prätorianerpräfekt den Fall selbst erneut entscheiden musste, oder ob er, nachdem der Antrag bei ihm eingegangen war, für nichts anderes als für die Kautionsleistung Sorge zu tragen hatte, während das Supplikationsverfahren nichtsdestoweniger vor dem Kaiser stattfand, ist nicht eindeutig geklärt. Allerdings scheint letztere Auffassung in der Tat wahrscheinlicher und besser zum Selbstverständnis des Kaisers zu passen. Und einige Kommentatoren scheinen dem zuzustimmen. Sie betonen, die erneute Verhandlung des Urteils könne infolge der Supplikation nur vor dem Kaiser erfolgen240. Irnerius jedoch dürfte in der Authentica „Quae supplicatio“ zu Cod. 1, 19, 5 ersterer Auffassung zuneigen. Ihm folgen im allgemeinen auch die Rechtsgelehrten. Sie stellen fest, bei der Supplikation könne nicht nur der höhere, sondern auch der gleiche Richter erneut angerufen werden241.
236 237 238 239 240 241
Dig. 1, 11, 1, 1. Panc ir ol i , Notitia, cap. 5. Cod. 1, 19, 5. Nov. 119, 5. Vgl. bei Be nd e r , Conclusiones, conclus. 1, n. 3. Authentica quae supplicatio zu Cod. 1, 19, 5; Dura n ti s , Speculum iuris, lib. II, particula III, cap. de supplicatione § 1 (supplicari), n. 2; Re b uffi , De supplica-
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Sonst finden sich im römischen Recht keine Spuren irgendeiner anderen Supplikation als der, welche aus den von uns dargelegten Gründen gegen ein Urteil des prätorischen Präfekten erfolgte. Einige Rechtsgelehrte erweiterten sie erstaunlicherweise jedoch durch Auslegung. Sie vertreten nämlich die Auffassung, die Supplikation sei ein hilfsweise zur Anwendung gelangendes Rechtsmittel, das in den Fällen gegeben sei, in denen die Appellation nicht zugelassen ist242. Dennoch wollen sie die Supplikation nicht in allen Fällen angewendet wissen, in denen die Appellation nicht erlaubt ist, sondern lediglich dann, wenn die Appellation wegen der herausragenden Stellung des Richters untersagt ist243. Manche bekunden jedoch, diese Einschränkung werde in der Praxis (usu) nicht allzu genau beachtet244. Andere wollen das lieber so verstehen: Dann, wenn die Appellation aus einem besonderen Grunde ohne Verschulden der Partei versagt ist, kommt das Recht zur Supplikation zum Tragen245. Anders verhalte es sich in einem Fall, in dem die Appellation gemeinrechtlich verboten ist. Wer also infolge des Richterprivilegs an der Appellation gehindert ist, soll vom Rechtsmittel der Supplikation nicht ausgeschlossen sein. Ob dasselbe gilt, wenn die Appellation durch ein höchstes allgemeines Gesetz, das die Appellation verbietet, ausgeschlossen ist, war früher streitig246. Heute ist es aber durch Reichsgesetze entschieden. Denn es ist festgelegt, dass es erlaubt ist, bei dem gleichen Richter im Wege der Supplikation Beschwerdegründe vorzutragen und die Abänderung des Urteils zu verlangen, wenn das Urteil nicht die festgesetzte Berufungssumme erreicht247. Aber die Gesetze und Rechtsgewohnheiten einiger Territorien in Deutschland (locorum Germaniae) sind noch beträchtlich weiter gegangen. Sie haben die Supplikation beim gleichen Richter auch in den Fällen zugelassen, in denen die Appellation erlaubt war. Es zeigt sich, dass beispielsweise die Sachsen die Leuterung eingeführt haben, durch wel-
242 243 244 245 246 247
tionibus, quaest. 11, differ. 3; Mar a n ta , Speculum Aureum, p. 6, Titel de appellatione, n. 12. My ns i nge r , Observationes, cent. 6, obs. 15; Re buf fi , De supplicationibus, quaest. 2 am Ende. Jas o n in der Authentica quae supplicatio C. de precib. Imp. offer.; M ara nt a , Speculum Aureum, Titel de appellatione et eius partibus, n. 14. Fe rrariu s M o nt a nus , Commentarius, cap 4 § etenim non admittitur; Re buff i , De supplicationibus, quaest. 9, cas. 4. De c i o, Consilia, cons. 533, n. 2. Be nd e r , Conclusiones, conclus. 27. Deputationsabschied zu Speyer 1600, § 16; JRA 1654, § 113.
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che der unterlegenen Partei gestattet ist, beim gleichen Richter erneut nachzusetzen. Aber es ist leicht zu verstehen, dass dies alles entgegen den Vorgaben des römischen Rechts eingeführt wurde. Denn diesem Recht zufolge kann ein Richter ein einmal ergangenes Urteil, das es selbst erlassen hat, nicht ändern oder berichtigen248. Außerdem ist es es keiner Partei gestattet, aus dem gleichen Grunde denselben Richter erneut anzurufen, es sei denn, es wird die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangt. Denn einmal nur, sagt man, übt der Richter sein Amt aus, sei es gut oder schlecht249. Es scheint also schwer verständlich, aus welcher Überlegung heraus Leuterungen und die modernen Supplikationen zum selben Richter, welche bei den Gerichten bestimmter Reichsstände gebräuchlich sind, gegen die Vorgaben des römischen Rechts eingeführt worden sind. Aber die Dinge stellen sich so dar: Nach römischem Recht dienen Appellationen nicht nur der Berichtigung von Vergehen und Fehlern der Richter, sondern befördern auch Nachlässigkeit und Leichtfertigkeit von Parteien, die etwa den Streitstand in der ersten Instanz nicht vollständig vorgetragen haben. Dennoch sind wir diesen Vorgaben der Sache nach gefolgt. Aber man begann allmählich zu bemerken, wie viele und wie große Nachteile aus dieser Veränderung des Verfahrens erwachsen sind, die nach römischem Recht für Appellationen vorgesehen ist. Es erscheint als geradezu unwürdig, dass derjenige, dem von der Vorinstanz keinerlei Unrecht geschehen ist, sich sofort an den höheren Richter wendet. So gehen sehr viele in die Appellation, nicht weil sie Grund hätten, über den Richter zu klagen, sondern weil sie glauben, nach einer erneuten Verhandlung, wenn der Fall umfassender erörtert wird, den Sieg zurückzuerlangen. Auch wenn das nun hauptsächlich den Parteien zuliebe erlaubt sein sollte, nahm man dennoch zurecht an, dass vor demselben Gericht, vor dem der Fall verhandelt wurde, sowohl zur besseren Rechtsanwendung als auch zur Verringerung der Schwierigkeiten eine neue ergiebigere Verhandlung des Falles eingeführt werden könnte. So nämlich könnte künftig erreicht werden, dass die vielen Winkelzüge, welche die Appellationen machen, und auch die hohen Kosten vermieden werden. Außerdem ließe sich so das Ansehen der Gerichte verbessern, was wichtig ist250. Zwar ist es auch im römischen Recht, wenn die Wiedereinsetzung in den vorigen 248 249 250
Dig. 42, 1, 14 und 42. Dig. 42, 1, 55. Gil ha use n , Arbor Iudiciaria, cap. 8, Teil 7.
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Stand beantragt ist, erlaubt, vor demselben Gericht neue Tatsachen vorzutragen. Aber die Wiedereinsetzung ist wegen der Kenntnis des Sachverhalts schwer durchzusetzen. Die Parteien haben wirklich meistens keinen Grund, mit dem sie die Wiedereinsetzung beantragen können. Niemand also, dem die Appellation zum höheren Richter offen steht, dürfte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangen. Deshalb musste für diejenigen Parteien, die vor demselben Gericht bleiben, ein Rechtsmittel gegeben sein, das so leicht und bequem ist wie die Appellation. Ein so beschaffenes Rechtsmittel haben nun die Sachsen eingeführt. Sie nennen das die Leuteration. Man könnte zur besseren Verdeutlichung der Sache sagen: Es geht nicht um die Erläuterung eines unklaren Urteils (zu Recht weist das Carpzov zurück)251, was das römische Recht freilich zulässt. Vielmehr wollen die Parteien selbst den Sach- und Streitstand näher ausführen. Als man den Nutzen dieser Verfahrensart erkannt hatte, wurde anderswo Ähnliches festgelegt. Damit sie jedoch mehr an das römische Recht angelehnt schienen, wurden diese Rechtsmittel nicht Leuterationen, sondern Supplikationen genannt. In Wirklichkeit kommen diese Supplikationen aber nicht aus dem römischen Recht. Vielmehr sind Rechtsmittel nach Art der Leuterationen durch Gesetz oder Gewohnheitsrecht deswegen eingeführt worden: Ausführlichere Verhandlungen der bereits einmal durch Urteil entschiedenen Streitigkeiten, von denen man meinte, sie den Parteien erneut zugestehen zu sollen, wurden vom Appellationsgericht an denselben Richter der ersten Instanz zurückverwiesen. Wenn nun also die Leuteranten oder Supplikanten neue und hinreichend gewichtige Argumente vorgetragen haben, können sie nicht zweifeln, ob sie den neu aufbereiteten Sachverhalt erneut dem Urteil desselben Richters unterwerfen sollten. Da sie sich dennoch oft nicht so sehr auf neue, sondern mehr auf alte Argumente stützen – in welchem Fall der frühere Richter argwöhnisch werden kann – ist die Übertragung der Verhandlungen auf Collegia Juridica, das heißt rechtsprechende Kollegien, ersonnen worden. Damit kann auch in diesem Fall geholfen werden. Es fehlt sogar nichts oder wenig daran, dass die Leuteration oder Supplikation ein gleichartiges Rechtsmittel ist wie die Appellation: So wurde das durch Reichsgesetz für die Fälle bestimmt, in denen eine Appellation an das Reichskammergericht nicht möglich ist252. Findet aber die Verweisung der Verhandlung gar
251 252
Carp z o v , Processus Iuris, t. 17, n. 13. JRA 1654, § 113.
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nicht statt, entscheidet doch derselbe Richter den Fall erneut253. Im alten römischen Reich lief ja alles auf den höheren Richter zu. Deswegen hat das römische Recht die Parteien offenbar zum Obergericht hingelenkt, als es den Appellanten die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag gewährte. Uns aber scheint es, dass auch die Autorität der unteren Gerichte zu bewahren ist. Daher unternehmen wir es, uns auf das Gegenteil zu besinnen. Wir versuchen, die Parteien vor demselben Untergericht zu halten, wo ihnen durch die Leuteration oder die Supplikation die Rechtswohltat auf neuen Vortrag gewährt ist. Diese Rechtsmittel stützen also die Auffassung, die wir vorgetragen haben. Es bleibt nur, die unterschiedlichen Fragen, ob der Richter falsch entschieden hat und ob die Parteien etwas versäumt haben, welche in den Appellationen, den Supplikationen und den Leuterationen vermengt werden, auseinanderzuhalten und die eine dem höheren und die andere dem unteren Richter zuzuweisen. Dann verhält sich alles richtig. Es ist also zu fragen, ob eine erneute Erörterung vor dem Untergericht, wenn den Appellanten die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag genommen ist, ausschließlich durch den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vorzunehmen ist oder ob nicht vielmehr Leuterationen und Supplikationen hierfür verwendet werden sollten, soweit diese Rechtsmittel in Gebrauch sind. Gewiss mag sich ein Gewohnheitsrecht gebildet haben und auch dort die Auffassung der Menschen entstanden sein, aufgrund derer sie der Ansicht sind, dass ein Fall nicht hinreichend in einer Instanz behandelt werden kann, sondern dass die Erörterung mehrmals wiederholt werden müsse, damit alles vollständig dargelegt wird. Wenn, sage ich, einer derartigen Auffassung irgendetwas zuzugestehen sein sollte, dann ist einzuräumen, dass Wiederaufnahmen von Prozessen erträglicher sind, welche am selben Gericht durch Supplikationen oder Leuterationen erfolgen, als dass so etwas durch die Appellation zum höheren Gericht geschieht. Aber was von dieser Auffassung zu halten ist, ist oben zu Genüge dargelegt worden. Wenn nämlich ein Prozess einmal ordnungsgemäß abgeschlossen ist, darf eine erneute Erörterung den Parteien nicht zugestanden werden, außer wegen einer Verhinderung oder aus einem anderen schwerwiegenden Grund, der zu beweisen und zu überprüfen ist. Deshalb ist die Rechtswohltat zu neuem Vortrag offensichtlich nur bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zuzugestehen oder wenn sie – vor allem bei der Supplikation oder der Leuterati253
Carp z o v , Processus Iuris, t. 17, n. 24; Vul tej us , Tractatus, lib. 3, cap. 10.
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on – gestattet ist, dann nicht ohne Prüfung des Grundes, wie es gewöhnlich bei der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gehandhabt wird. Die Rechtsregel des römischen Rechts, wonach der Richter immer nur einmal sein Amt ausübt, sei es gut oder sei es schlecht, hat nämlich ihren guten Grund. Denn bevor er das Urteil fällt, muss er alles erwägen und untersuchen. Aber wenn er das Urteil gesprochen hat, dann muss er dabei bleiben. Überlegt werden muss sicherlich lange, was einmal zu entscheiden ist. Nachdem aber einmal alles entschieden ist, muss es gültig und unumstößlich sein. Zu Recht also sagt man, dass der Richter ein einziges Mal sein Amt ausübt, entweder richtig oder falsch. Noch weitaus wichtiger aber ist, dass die Parteien auch nur einmal ihre Pflicht erfüllen, sei es gut oder schlecht. Denn kein Unheil sucht unser Gerichtswesen mehr heim als jene wetterwendische Leichtfertigkeit, mit der die Prozesse in der ersten Instanz behandelt und in der zweiten wieder aufgenommen werden. Aber wir wollen darüber nicht weiter streiten. Vor allem lag uns daran, darauf hinzuweisen, dass für Appellationsverfahren vor dem Reichskammergericht die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abgeschafft werden muss. Die erneuten Verhandlungen, wenn sie denn nach dem schon verkündeten Urteil notwendig werden, müssen vor denselben Gerichten der Reichsstände stattfinden, sei es, dass das nach Abschluss des Falles durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfolgt, was das beste wäre, sei es, dass man der heutigen Gewohnheit gegenüber nachsichtig genug ist und durch Leuteration und Supplikation, wo diese Rechtsmittel in Gebrauch sind, zuzulässt, dass Neues vorgetragen wird. Nur das Reichskammergericht sollte von dieser Last freigehalten werden. Der Lohn, den man empfängt, wird groß genug sein.
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Kapitel XIII: Das Appellationsverfahren, das nach Abschaffung der Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag vorzusehen ist, wird vorgestellt, und es werden einige Ausnahmefälle angefügt, in denen den Appellanten eine erneute Sacherörterung zugestanden werden muss Wenn die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abgeschafft ist, muss untersucht werden, wie nun das Prozessrecht im Appellationsverfahren zu gestalten ist. Aber diese Untersuchung bereitet keine große Schwierigkeit. Denn es ist jetzt schon festgelegt, dass Appellanten, wenn sie keinen neuen Sachvortrag oder neue Beweismittel haben, sich unmittelbar auf die Akten des vorigen Prozesses beziehen müssen254. So geschieht es auch bei Appellationen gegen Zwischenurteile, in denen die Rechtswohltat l. per hanc C. de temporibus et reparationibus appellationum seu consultationum (Cod. 7, 63, 4) keinen Platz hat255. Wenn nun also die Rechtswohltat zu neuem Vortrag nicht mehr gegeben ist, folgt hieraus als Grundlage des Appellationsverfahrens, dass von beiden Seiten sofort auf die vorinstanzlichen Akten Bezug genommen wird. Für den Beweis der Formalien, die Einreden der nicht ordnungsgemäß eingelegten oder aufgegebenen Appellation (exceptiones non devolutae, vel desertae appellationis) und die sonstigen Fragen dieser Art, wenn sie vorkommen, verbleibt es bei der herkömmlichen Übung. Denn dafür ist ausreichend Vorsorge getroffen. Wir haben ja das Beispiel der kammergerichtlichen Revision zur Festigung unserer Auffassung verwandt. Deswegen würde es doch wohl sinnvoll sein, ein Appellationsverfahren nach dem Vorbild des Revisionsverfahrens256 einzuführen. Dann wäre für jede Partei nur ein Schriftsatz, aber ohne neuen Sachvortrag zugelassen. Dann nämlich könnte es nicht zur Verschleppung kommen. Allerdings müsste der Kläger dafür sorgen, dass die Appellationsschrift dem Beklagten gleichzeitig mit den prozesseröffnenden Erkenntnissen (cum processibus appellationis) zugestellt wird257. Jetzt sofort im ersten Termin hätte der Beklagte nach der Reproduktion die Erwiderungen 254 255 256 257
JRA 1654, § 71. RKGO 1555, 3, 31, 10. RKGO 1555, 3, 53, 3. JRA 1654, § 64.
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vorzutragen258. Dann aber beginnt die Arbeit des Richters, da den Parteien ja in der Hauptsache keine weitere Erörterung gestattet ist. Es dürfte dem Richter jedoch bei der Entscheidung des Falles eine Hilfe sein, wenn er die Begründungen jeder Partei, nachdem er sie zur Kenntnis genommen hat, mit den Entscheidungsgründen vergleicht, die der Vorderrichter heutzutage gemeinsam mit den Akten der ersten Instanz herausgeben muss. Außer der kammergerichtlichen Revision könnte uns auch dasjenige helfen, was für die Appellationen gegen die Kreishauptleute festgelegt ist. Hierbei neuer Vortrag nicht erlaubt ist und lediglich gestattet, in einem einzigen Schriftsatz die Beschwerdegründe vorzutragen259. Hinzu kommt die Regelung des römischen Rechts. Auch wenn Neues nicht vorgetragen wird, gesteht es dennoch zu, die Gründe der Appellation darzustellen und die Fehlerhaftigkeit der Entscheidung des Richters in kurzer Form zu erläutern260. Entweder ist also nichts anderes zuzulassen als das Appellationsinstrument und dasjenige, was sich auf die Beurteilung der Formalien bezieht, oder ein einziger Schriftsatz der jeweiligen Parteien – dasselbe, was auch in einem Schiedsverfahren der Parteien (arbitrium ligatorum) ausgetauscht werden könnte. Da nun aber keine Regelung so eindeutig ist, dass sie nicht eine Ausnahme zulässt, bleibt zu fragen, ob die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag den Parteien nicht in bestimmten Fällen zugestanden werden muss. Wir werden die Ausnahmen jedoch aus den gleichen Grundsätzen ableiten, mit denen wir die Regel aufgebaut haben. Denn die Appellation ist die Klage über die Rechtsverletzung des Richters, sei es, dass sie absichtlich, infolge eines Fehlers, aus Nachlässigkeit oder aus Unerfahrenheit begangen wurde. Die Aufgabe des Richters besteht zwar vor allem darin, ein Endurteil zu erlassen. Es obliegt ihm aber noch als weitere Aufgabe die Prozessführung. Erstere ist indes die herausragende, die andere hat eine dienende Funktion. Der Richter fügt infolgedessen auch vor allem durch das abschließende Urteil den Parteien Schaden zu. Das wird dadurch belegt, dass die Parteien häufig, auch wenn sie einen Prozess vor dem zuständigen Richter begonnen haben, ihm dennoch nicht die Entscheidung in der Hauptsache anvertrauen wollen, sondern die Verweisung der Verhandlungen beantragen. Da eine Appellation in erster Linie darauf ausgerichtet ist, die Rechtsfehler eines Endurteils zu korrigieren, ist im römischen Recht in der Regel die Appellati258 259 260
JRA 1654, § 70. Vgl. oben, Kapitel 9. Cod. 7, 62, 39, 1.
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on vor dem Endurteil nicht erlaubt261. Damit aber die von einem Richter mit einem Urteil begangene Rechtsverletzung korrigiert werden kann, ist wenigstens die Überprüfung durch einen höheren Richter vorgesehen. Es kommt jedoch vor, dass der Richter auch in der Prozessleitung rechtswidrig gehandelt und die Parteien behindert hat, sodass sie die für den Fall erforderlichen Beweise nicht beibringen konnten – wenn er den Fall zum Beispiel unvorbereitet und Hals über Kopf entschieden hat, wenn er einen aus berechtigten Gründen beantragten Fristaufschub abgelehnt oder zu kurzfristig bemessen hat, oder wenn er ein Verteidigungsmittel oder einen Beweisantritt nicht zugelassen hat. In diesen Fällen also, in denen es auf dem Richter selbst beruht, dass in der ersten Instanz nicht alles vorgetragen wurde, ist im Appellationsverfahren die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag zu gestatten, damit man dadurch die Rechtsverletzungen des Richters korrigieren kann. Denn auch wer gegen ein Zwischenurteil appelliert, kann vor dem Appellationsrichter neue Tatsachen vortragen, wenn er von der Vorinstanz zu diesem Vortrag nicht zugelassen wurde262. Aber das darf nicht erfolgen, wenn die Sache nicht gründlich untersucht ist. Denn wer aus den erwähnten Gründen Neues vortragen will, muss beweisen, dass seine Behinderung auf den Richter der Vorinstanz zurückzuführen ist. Der Beweis kann aber unschwer aus den Akten geführt werden. Schließlich gilt das auch, wenn der Appellant sich nicht darüber beschwert. Wenn dem Appellationsrichter irgendetwas in dem Fall zweifelhaft geblieben ist, ist er berechtigt, durch Verkündung eines Beschlusses jeder Partei aufzuerlegen, jeden gewichtigen Punkt, zu dem Bedenken bestehen, vollständig zu erklären oder zu beweisen. Der Grund ist, dass dann aus den Akten selbst hervorgeht, dass der Vorderrichter den Fall nicht hinreichend genau untersucht hat. Denn es ist die Aufgabe des Richters, alles zu erforschen263. Er hätte also einen Beschluss ergehen lassen müssen, um den Sachverhalt, der nicht klar ist, zu erforschen264. Weil er das unterlassen hat, hat es noch durch den Appellationsrichter zu erfolgen. Denn wie wir oben gezeigt haben, muss die Appellation den Verfahrensstand zeitlich auf den
261 262 263 264
Cod. 3, 1, 16; Cod. 7, 65, 7; RKGO 1555, 2, 28, 6 und 2, 29, 4; Ga il , Observationes, lib. 1, obs. 129. [Zu dem Fußnotenzeichen fehlt bei Hugo der Fußnotentext.] Mara n ta , Speculum Aureum, p. 6, t. de appellatione et eius partibus, n. 166. C. 30 qu. 5, c. 11.
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Endpunkt der erstinstanzlichen Verhandlungen zurückführen265. Was auch immer dem Richter der ersten Instanz nach dem Beschluss der Sache erlaubt gewesen wäre, das ist auch dem Appellationsrichter noch gestattet. Und auch das kommt heutzutage manchmal vor, dass das Reichskammergericht, obwohl sich Appellant und Appellat auf die Akten der Vorinstanz bezogen haben, zu einem weiteren Punkt des Sachverhalts weitere Darlegungen auferlegt. Deutlich wird das aus der Formulierung eines Urteils, das wir vorlegen wollen: „In Sachen N. N. ist von Ambtswegen die ad acta priora beschehne conclusion hiermit rescindirt/ Und D. N. was sich uff die in priori instantiâ einkommene replicas. §. Anlangend zu Zweiten/ Und darin sub lit[era] H. angezogenen Beylagen/ in specie zu handeln gebührt/ wie auch die in selbiger Beylag verzeichnete exempla gleichmässiger assignation orginaliter oder sonsten in formâ probanti zu produciren/ zeit zwey Monat pro T[ermino] & P[rorogatione] V[on] A[mbts wegen] hiermit angesetzet/ mit dem Anhang/ wo er solchem also nicht nachkommen wird/ daß alsdann die Sach vorbeschlossen hiermit angenommen seyn/ und ferner ergehen solle/ was recht ist.“ Um so mehr ist eine neue Verhandlung des Falles im Appellationsverfahren anzusetzen, wenn der Prozess der Vorinstanz an unheilbarer, wie es genannt wird, Nichtigkeit leidet, wenn alles verworren ist, das Verfahren ungeordnet, die Akten lückenhaft sind. Dann nämlich muss der Prozess für nichtig erklärt und den Parteien auferlegt werden, im Appellationsverfahren neu zu beginnen266. Manchmal wird auch in einem derartigen Fall dem unteren Richter eine Strafe auferlegt. Darüber hinaus darf man auch nicht daran vorbeigehen, dass es vor dem abschließenden Urteil in der Regel nicht gestattet ist zu appellieren. Wenn jedoch ein Zwischenurteil in einem entscheidungserheblichen Punkt eine Vorentscheidung der Hauptsache bedeutet oder zu einer nicht behebbaren Schädigung führt, dann darf man auch gegen ein Interlokut appellieren. Es ist anerkannt, dass bei dieser Appellation nach heutigem Recht die Rechtswohltat auf neuen Sachvortrag keinen Platz hat. Wenn nun aber der Richter das vorige Urteil bestätigt, wird der ganze Fall zum Unterrichter zurückgegeben, so dass er von ihm fortgeführt wird. Ändert er aber das vorangegange Urteil ab, verbleibt der Fall beim höheren Gericht und der
265 266
Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 107. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 42, n. 6; Myn s in ger , Observationes, cent. 1, obs. 20, cent. 2, obs. 16; Gy lm an n, Symphorema, tom. 4, p. 1, vot. 75, n. 112.
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Prozess wird dann dort fortgesetzt267. Dieses Verfahren stellt jedoch, wie hinreichend deutlich, keine Ausnahme von der Regel dar, dass nämlich, wie wir gesagt haben, die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abzuschaffen ist. Die Vorgehensweise stützt sich nämlich auf einen ganz anderen Grund als die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag. Denn da der Prozess durch die Appellation unterbrochen wurde, ist er im höheren Gericht weiter zu behandeln, nachdem die Appellation für berechtigt erklärt wurde. Denn auf denjenigen, der schon einmal Anlass zu Beschwerden geboten hat, darf der Fall nicht zurückübertragen werden, weil vermutet wird, er werde damit auch in Zukunft fortfahren268. Gleichermaßen müssen unter den Ausnahmen nicht die Extrajudizialappellationen abgehandelt werden, obwohl bei ihnen ein neues Verfahren eingeleitet wird. Es handelt sich nämlich um Appellationen ad causam269. Da nun diese Art von Appellation völlig ungeregelt ist, muss sie nach dem ordentlichen Recht für Appellationen nicht bewertet werden. Aber nun haben wir über den Grund, warum der Appellationsprozess zu verbessern ist, genug gesagt. Jetzt müssen wir zum anderen Teil unserer Betrachtung übergehen und müssen sehen, wie die Leichtfertigkeit derjenigen Appellanten zu begrenzen ist, die ohne Grund oder unbesonnen in die Appellation gehen.
267 268 269
Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 131. Gai l , am angegebenen Ort (wie soeben), n. 1. RA zu Regensburg 1594, § 94; Kle s l , Tractatus, cap. 3, n. 4.
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Zweiter Teil: Wie sich die Leichtfertigkeit der Appellanten zügeln lässt Kapitel I: Ob es sinnvoll ist, den Kalumnieneid in einzelnen Fällen durch den Advokaten leisten zu lassen Der erste Teil unserer Abhandlung befasst sich vor allem mit der Verbesserung des Gerichtsverfahrens. Gleichwohl behandelt er auch in nicht geringem Umfang die Maßnahmen, mit denen wir danach suchen, wie der unbesonnenen Leichtfertigkeit der Appellanten zu begegnen ist. Denn wir haben gezeigt, dass die Nachlässigkeit und Übereiltheit der Parteien sie oft zwingt, Appellation beim höheren Gericht einzulegen, um ihr Verschulden in der ersten Instanz durch die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag auszugleichen. Wenn diese Rechtswohltat entfallen ist, sind die Parteien also genötigt, entweder in der ersten Instanz aufmerksam zu sein oder für ihre Nachlässigkeit eine Strafe hinzunehmen. Dann reizt niemanden mehr die Hoffnung auf die Appellation, die sich aus der Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag aufzutun scheint. Und damit dürfte sich auch die Anzahl der Appellationen verringern. Da das aber nicht auszureichen scheint, muss noch nach weiteren Mitteln gesucht werden. Das Hilfsmittel jedoch, welches unsere Gesetze der Leichtfertigkeit der Appellanten entgegengestellt haben, ist zunächst der Kalumnieneid. Sowohl die Hauptparteien als auch die Advokaten leisten ihn. Dazu kommt die Bestrafung der leichtfertigen Appellanten. Wir haben in Aussicht gestellt, die Gründe darzulegen, warum das keine größere Wirkung entfalten kann als diejenige, welche die Erfahrung gezeigt hat. Allerdings wollen wir nicht so erscheinen, als ob wir blindlings nach anderen Hilfsmitteln suchen, wenn diese hier vielleicht ausreichend sind. Sodann möchten wir durch die Untersuchung verstehen, was leichtfertigen Appellanten fehlt, zugleich auf welche Weise der Fehler zu beheben ist. Und wir möchten auf diesem Wege geeignete Maßnahmen finden, die Leichtfertigkeit der Appellanten zu zügeln. Aber wir haben schon zu Beginn des ersten Teils über den Kalumnieneid der Hauptparteien gesprochen. Nun müssen wir herauszufinden suchen, ob durch den Eid der Advokaten mehr Abhilfe geschaffen werden kann. Denn die Vorwürfe sind bekannt, mit denen man gegen die Betrügereien und die
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Verschlagenheit der Rechtsbeistände poltert270. Man sagt, dass man sich umso mehr vor ihnen hüten muss, je mehr sie von Kalumnien verstehen271. In der Tat hat Kaiser Justinian, schon bevor er das Gesetz über den von Kläger und Beklagtem zu leistenden Kalumnieneid erließ272, ein Gesetz verkündet, mit dem in einzelnen Fällen der Eid des Prozessvertreters angeordnet wurde273. Es ist also nicht ungewiss, was er für besonders notwendig erachtet hat. Dennoch fehlen nicht diejenigen, die glauben, dass vom Eid der Advokaten noch weniger zu erwarten ist als von dem Eid der Hauptparteien. Sie sagen, der Kalumnieneid, der in einigen Fällen von den Advokaten abgelegt werde, sei mehr schädlich als nützlich. Zunächst lässt sich sicher nicht verneinen, dass die Masse der Rechtsbeistände mit der gleichen Unbekümmertheit wie die Hauptkläger sowohl klagen wie auch Appellation einlegen als auch den Kalumnieneid leisten. Denn da sie mehr die Erwartung eines Vorteils zur Erlangung des Sieges antreibt als die Gerechtigkeitsliebe zur Gewinnung der Wahrheit, sind sie, fortgerissen von dieser Begierde, dem gleichen Fehler ausgeliefert, dem die Hauptkläger unterliegen. Wenn also der Kalumnieneid die Hauptkläger nicht im Zaume halten kann, wird es auch bei den Prozessvertretern nicht anders sein. Deshalb sagt Henning Göden, dass ihnen der Eid nicht mehr Sorgen bereite als dem baufälligen Haus das Feuer274. Denkwürdig ist, was Mindanus über einen im Sterben liegenden Prokuratoren berichtet, dessen letzte Worte waren: „Oh, du Kalumnieneid!“275 Aber so sah das die Plebs der Rechtsbeistände, wie ich sie nenne. Es gibt aber auch gewissenhafte und honorige Männer, die ihre Aufgabe nicht nur anständig und uneigennützig, sondern auch besonnen und mit angemessener Sorgfalt ausüben. Ihnen gegenüber ist der Eid gewiss nicht nötig, da von ihnen Betrug und Rechtsverdrehung nicht zu befürchten ist. Indes hat man schon erlebt, dass sie den Kalumnieneid unter Anrufung von Hund und Schlange abzuwehren und ihm, mit welcher Begründung auch immer, zu entfliehen suchen. So verheimlichte der Appellant im Falle E. 270 271 272 273 274 275
Riva , Tractatus Iuridicus, cap. 5, n. 218. Se t ze r , Tractatus, lib. 3, cap. 3, n. 82. Cod. 2, 58, 2. Cod. 3, 1, 14. Göd e n , Consilia, , cons. 10, n. 28. Frid e r Mi nd a nu s , De processibus, in der Widmung.
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gegen S. (als Beispiel führe ich ihn an) den Namen seines Advokaten, um ihn von dem Kalumnieneid fernzuhalten. Er sagte, er habe keinen Anwalt. Die Appellationsschrift sei für ihn von einem Freund verfasst worden. Aber schon gleich darauf wurde durch Interlokut angeordnet, den Namen dieses Freundes bekanntzugeben: „Daß er den angezogenen guten Freund/ so dem appellanten die ad introducendam appellationem erforderte Nohturfft verfasst/ benambsen/ wie auch von selbigem einen spezial Gewalt ad praestandum juramentum calumniae de non frivolè appellando einbringen/ oder denselben gebührend citiren lassen sollte.“ Daraus ist ersichtlich, auf welche Weise sich die Advokaten dem Kalumnieneid zu entziehen trachten. Nur ganz wenige gehorchen, wie es sich geziemt, dem Gesetz und erklären durch den Eid die Reinheit ihres Gewissens. Und dieselben jammern und beklagen sich, welche Last ihnen auferlegt werde und wünschen nichts mehr, als dass sie davon verschont bleiben. Manche wiederum (und nicht wenige), insbesondere diejenigen, welche beruflich angesehen sind, halten sich vollständig fern von Fällen, die durch Appellation zum Reichskammergericht getragen werden; aus keinem anderen Grund, als dass sie nicht mit jenem schwergewichtigen juramentum calumniae de non frivole appellando belastet werden wollen. Ich will die Fälle derer nicht einzeln vortragen, die einen Rechtsstreit aufgegeben und vorgezogen haben, eine Geldbuße zu zahlen, um von dem Kalumnieneid verschont zu werden. Andere schließlich lassen sich beauftragen, damit sie die Prozessführung eines Rechtsstreits übernehmen können. Dennoch wollen sie nicht, dass der Name des Advokaten preisgegeben wird, damit sie sich dem Kalumnieneid entziehen können. Stattdessen sorgen sie für irgendeine Ersatzperson, die willkürlich ausgesucht und durch eine Entlohnung angeworben wird. Derjenige betritt, nachdem die Maske aufgesetzt ist, als berühmter Advokat die Bühne und schwört den Kalumnieneid ohne jegliche Gewissensbisse. Inzwischen wirken selbst echte Advokaten, die an allen in einem Gerichtsverfahren erforderlichen Schritten mitwirken, im Hintergrund oder sie wollen nur als Ratgeber auftreten, damit sie nicht verbergen müssen, zu dem Fall eine Verbindung zu haben. So wird das Gesetz, sobald es etwas geregelt hat, umgangen. Und das ist heutzutage mehr als häufig so. Ob das gut ist oder schlecht, will ich jetzt nicht erörtern. Eines jedoch ist hinreichend klar: Die Konstitution über die Ableistung des Kalumnieneids durch Advokaten wird entweder umgangen, oder aber es ist zu befürchten, dass ehrenhafte gottesfürchtige Männer, denen es so viel nicht bedeutet, was für die Vertretung vor Gericht gezahlt wird, dass sie nur
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deshalb einen Eid schwören wollten, dass diese Männer also durch die Konstitution von der Übernahme von Appellationsfällen abgeschreckt werden und ihnen minderwertige und Hunger leidende Kollegen folgen. Das scheint schon früher Matthäus Wesenbeck vorausgesehen zu haben. Er stellt der Auffassung derer, die meinen, dass man auf den Kalumnieneid der Advokaten nicht einmal durch Gewohnheitsrecht verzichten könne, diese Worte entgegen: „Im Gegenteil ist es gebräuchlich (usu receptum est), dass die Gottesfürchtigeren nicht von der Advokatur abgehalten werden. Denn es liegt im öffentlichen Interesse, dass sie vor anderen auf diese Sache Mühe verwenden, l. 24. §. ult C. de Jud. [= wohl Cod. 3, 1, 14 (!), 4]; l. servum. 3. §. 2. ff. de procur [= Dig. 3, 3, 33, 2]. Und ich erinnere daran, dass manche Advokaten unbeschadeter Glaubwürdigkeit gesagt haben, dass sie sich lieber vom Gericht fernhalten, als sich in so viele religiöse Bedenklichkeiten eines Eides verwickeln zu lassen – was nicht davor bewahrt, dass den Besseren Schlechtere ohne Gewissen folgen.“276 Soweit das Urteil des Wesenbeck, welches durch die Erfahrungen unserer Zeit hinreichend bestätigt wird. Es könnte aber jemand sagen, es sei eine völlig falsche Vorstellung, dass Männer, die sich keiner verwerflichen Tat bewusst sind, den Kalumnieneid so sehr scheuen. Denn entweder ist der Fall, den sie vertreten, schlecht, und dann kann ihn auch ein ehrenhafter Mann nicht erfolgreich betreiben, auch ohne Eidesleistung nicht. Oder aber der Fall ist gut. Dann gibt es keinen Grund, warum man den Kalumnieneid fürchten müsste. Denn die Eidesformel enthält die Verehrung und die Anrufung des göttlichen Namens. Als Beweis kann dienen, dass der Eid durch das göttliche Gesetz selbst mit dem Dienst an Gott verbunden ist: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, fürchten“ (so lauten die Worte) „und ihm dienen und bei seinem Namen schwören.“277 Welcher Art ist diese heilige Scheu, dass Prozessvertreter, honorige Männer, so sehr vor dem Kalumnieneid zurückschrecken? Wenn wir die Sache richtig abwägen, wird doch deutlich, dass die Advokaten nicht ohne Grund die Eidesleistung meiden, auch wenn sie ein reines Gewissen haben. Denn was bedeutet es, einen Eid zu leisten? Mit dem Eid werden doch die göttliche Gnade und das ewige Heil als Pfand eingesetzt. Aber derartig Erhabenes aus geringem Anlass zu verpfänden, ist leichtfertig. Wer nun ohne weiteres leichthin schwört, was anderes bringt es zum Ausdruck, als dass Gott und das ewige Heil ihn wenig kümmern? Ehrenwerte 276 277
We se n be c k , Paratitla, zu Cod. Lib. II, de jurejurando propter calumniam dando, Tit. LIX, n. 6 am Ende. Dtn. 6, 13 [revidierter Luthertext 1984].
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und gottesfürchtige Männer meiden also den Eid, solange sie können. Dorthin zielt auch, was Epiktet sagt: Entfliehe dem Eid, wenn Du kannst. Kannst Du es aber nicht, dann ist es erlaubt. Ich spreche nicht von den allseits bekannten Stellen der Heiligen Schrift278, die in die gleiche Richtung weisen. Wie auch in anderen Dingen, so geschieht es auch hier: Die Einen sündigen durch Übermaß, die Anderen durch ein Zuwenig. Ich möchte das mit den Worten des Ulpian so wiedergeben: „Schnell sind manche Menschen beim Schwören aus Verachtung der Religion, andere, überaus furchtsame, haben beständig Angst aus Ehrfurcht vor dem heiligen Namen.“279 Es gibt aber zwischen diesen einen Mittelweg, wo gewöhnlich die Tugend zu finden ist. Als diese Mitte wird Aristoteles zufolge je nach den unterschiedlichen Gegebenheiten das Urteil der Klugheit angesehen280. Wir werden also die Umstände betrachten, welche für unsere Untersuchung irgendeine Bedeutung haben könnten. Zunächst wollen wir uns den Hintergrund der Beweggründe ansehen. Ohne Zweifel ist es weitaus ehrenhafter, auf Aufforderung eines Amtsträgers einen Eid zu leisten, als sich unaufgefordert zum Eid anzubieten. Das passt zu dem Urteil des Quintilian: „Ein ernsthafter Mann sollte nicht schwören, es sei denn, es ist unumgänglich.“281 Zwingt also irgendjemand den Advokaten, den Kalumnieneid zu schwören? Niemand, gezwungen wird er allenfalls als Folge eines Ereignisses. Denn diejenigen, die einen Prozess führen wollen, schwören, weil sie müssen. Beginnen sie indes aus eigenem Antrieb einen Rechtsstreit, schwören sie auch aus eigenem Antrieb. Von daher wird sofort deutlich, dass der Eid des Advokaten manche Schwierigkeit bereitet. Ist es nicht oft schwer zu erreichen, dass ein Zeuge einen Eid schwört? Oder ist es denn wahrscheinlich, dass Advokaten ohne weiteres leichthin zur Eidesleistung gebracht werden? Weitaus leichter und sicherer ist es, einen Zeugeneid abzulegen, als den Kalumnieneid zu schwören. Denn wer Zeugnis gibt, beschwört das, was er gesehen oder auf andere Weise mit seinen Sinnen wahrgenommen hat. Wer jedoch den Kalumnieneid schwört, beschwört das, was er denkt. Es ist aber oft schwer, sich über einen streitigen Sachverhalt eine sichere Meinung zu bilden. Denn mit vielen Zweifeln und auch Schwierigkeiten scheint verbunden zu sein, was mit Mühe nach langen Streitigkeiten zu Ende gebracht 278 279 280 281
Mt. 5, 33; Jakobusbrief 5, 12; Sir 33, 7. Dig. 28, 7, 8 [pr.]. Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 2, cap. 5. Qui n til ia nu s , Institutiones, lib. 9.
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wird. Wie oft zögern nicht selbst Richter, weil sie uneins sind – gewiss auch beim Abschluss eines Verfahrens, wenn der Sachverhalt schon vollständig geklärt ist? Was bleibt einem Advokaten zu Anfang oder in der Mitte des Verfahrens, wenn noch nicht alles vorgetragen oder erörtert ist? „Denn nicht allein“, sagt Aristoteles, „nach den Beweisen muss geurteilt werden, sondern auch nach der Wahrscheinlichkeit. Auch das nämlich bedeutet nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden.“282 Aus der Wahrscheinlichkeit entsteht in der Tat keine gefestigte, starke und unbezweifelbare Erkenntnis, sondern nur eine Meinung. Und diese ist bei klugen Menschen, die alles mit richtigem Urteil einschätzen, mit Gewissheit verbunden, und bei schwankenden Menschen oft, wie auch die Philosophen sagen, mit der Befürchtung, das Gegenteil könne wahr sein. Wie schwierig ist es, bei einer so beschaffenen Gegebenheit einen Eid zu leisten? Man muss auch zugestehen, dass es kein betrügerisches Verhalten des Advokaten ist, wenn er im Bewusstsein, nur eine Auffassung zu haben, wie sie nach Lage der Dinge die Gesetze fordern, den Kalumnieneid schwört. Sicher muss in einer solch schwierigen Lage ein religiöser Mensch sein Gewissen befragen. Denn wenn nun eine Frage nach Recht und Unrecht zweifelhaft ist, sodass man ihr nach Lage der Dinge nur mit Vorbehalten beipflichten kann, ist die Folge, dass man in der Angelegenheit auch unter Vorbehalten schwört. Wenn jemand unter Vorbehalten schwört und Gewissensbisse hat, sollte der nicht besser den Eid meiden, als einen Batzen Geld für die Vertretung entgegen zu nehmen? Und wenn Du auch sagen solltest, diese Skrupel seien unbedeutend: Sie sind dennoch gewichtig genug, um in Dingen, die Gott und die Religion betreffen, aus grundloser Furcht aufzuscheinen und die Seele gegen die Eidesleistung zu erheben. Ich gebe gern zu, dass das, was wir hier über die Zweideutigkeit der Sachverhalte gesagt haben, mehr die erste als die zweite Instanz betrifft. Denn niemand darf einfach eine Appellation einlegen, wenn er nicht fest davon überzeugt ist, dass ihm Unrecht zugefügt wurde. Im Zweifel aber muss er der Autorität des Richters folgen. Dennoch, solange es erlaubt sein wird, Neues vorzutragen, besteht kein großer Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Instanz. Denn das Appellationsverfahren verläuft hinsichtlich des Vortrags von neuem wie die erste Instanz. Im Appellationsverfahren wird nämlich das Neue als Erstes vorgetragen. Aber wir wollen diese Problematik nicht überbetonen, weil noch gravierendere Gründe erkennbar sind, welche die 282
Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, lib. 2, c. 25, n. 18.
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Advokaten veranlassen könnten, den Kalumnieneid zu verweigern. Wir sollten nämlich überlegen, weswegen sie den Eid wohl leisten. Ohne Zweifel schwören sie deshalb einen Kalumnieneid, weil sie den Fall vertreten wollen. Sie schwören, damit sie dadurch zur Prozessführung vom Gericht zugelassen werden. Was ist es nun, wodurch sie veranlasst werden, den Fall zu vertreten? Doch wohl das Geld, das sie von ihren armen Klienten für die Vertretung erhoffen. Wenn es das ist, weswegen sie einen Fall übernehmen, kann es nicht verwundern, dass sie vor dem Kalumnieneid zurückschrecken. Denn sie scheinen gleichsam einen bezahlten Eid abzulegen. Das aber ist eines freien Mannes unwürdig. „Schimpflich nämlich ist es, für Geld zu schwören,“ wie es bei Aristoteles heißt283. Das ist sicher zutreffend über diejenigen gesagt, die damit etwas verdienen wollen. Denn wer sonst in eigener Sache, sei es auch in Geldangelegenheiten, einen notwendigen gerichtlichen Eid von irgendwelcher Bedeutung schwört, handelt keineswegs schimpflich. Er erstrebt nämlich keinen Gewinn, sondern er verteidigt sich, weil es unklüger wäre, etwa dem Gegner unberechtigter Weise den Besitz zu überlassen284. Aber wer in fremden Angelegenheiten schwört, damit irgendeine Vergütung gezahlt wird, von dem kann offenbar gesagt werden: „Es ist schimpflich für Geld zu schwören.“ Außerdem, wer verfolgt schon mit Aufwand und Mühe ein eher wertloses Ziel? Andererseits ist gewiss der Gewinn, den ein Advokat aus einem Fall zieht, meistens nicht so groß. Wenn der Advokat zu schwören gezwungen ist, entspricht der Gewinn nicht den Kosten und Mühen. Daraus folgt, dass viele von denjenigen Streitsachen, von denen sie wissen, dass der Kalumnieneid zu schwören ist, Abstand nehmen. Sie befürchten, den Anschein erwecken zu können, entweder den Eid für unwichtig oder das Salär für die gerichtliche Vertretung für wichtig zu erachten. Es ist aber keineswegs etwa so über die Rechtsvertreter zu urteilen, als ob sie bezahlte Arbeit leisteten. Denn sie erhalten ein Honorar, das als Anerkennung gegeben wird, nicht eine Bezahlung. „Die Weisheit ist nämlich etwas Hochheiliges für die Bürger, das nicht in Geld zu messen noch zu verunglimpfen ist.“285 Das Hauptziel wird folglich für die Advokaten die Gerechtigkeit sein und der Anstand. Sie möchten nämlich ihre Bemühungen für die Allgemeinheit erbringen, den Armen und Leidenden helfen, die Unschuldigen 283 284 285
Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, lib. 1, cap. 15. Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 5, cap. ult. Dig. 50, 13, 1, 5.
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verteidigen. Deshalb pflegt man sie mit den Soldaten zu vergleichen286. Unterstützung für ihren Lebensunterhalt, welche sie sich gleichzeitig verschaffen, muss gleichsam als nachgeordnetes Ziel verstanden werden. So sollte es in der Tat sein. Gleichwohl reicht es, dass keiner ausschließlich kostenlose Arbeit leistet. Deshalb wird der Eid nicht als vollständig unentgeltlich angesehen. Es kann auch nicht das erwartet werden, was im Amt des Advokaten das allerbeste wäre, sondern, was nach den Gegebenheiten unserer Zeit geduldet ist. Sonst nämlich könnte die Annahme eines Honorars wohl nicht gestattet werden. In der alten römischen Republik allerdings war es den Rechtsbeiständen durch die Lex Cincia untersagt, für die Übernahme einer Prozessvertretung (ob causam orandam) Geld oder Geschenke zu verlangen; weshalb bei Tacitus beide Fälle unterschieden sind287. Aber dieses Gesetz ist, obwohl hochberühmt, dennoch nicht für alle Staatsordnungen geeignet. Denn es darf keine Anwendung finden, außer wenn ein Staat es so bestimmt hat, „damit die Besten dazu die Muße haben mit großer Würde oder zumindest ohne schimpfliche und unehrenhafte Art und Weise; und das nicht nur die, welche im öffentlichen Leben eine Rolle spielen und die, welche ein Amt ausüben, sondern auch diejenigen, die ein privates Leben pflegen“.288 Nun aber, da wir unsere öffentlichen Verhältnisse nicht so gestalten konnten, kann den Advokaten nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie vor Gericht arbeiten, um sich über Wasser zu halten oder ihr Vermögen zu vermehren. Das ist nach Aristoteles das Schicksal fast aller, die einem freien Berufe nachgehen289. Es dürfte also nach dem Stand der Dinge hart erscheinen, einen Advokaten nur dann zuzulassen, wenn er vorher den Kalumnieneid geleistet hat. Auch wenn er sich seiner guten Sache hinreichend sicher sein sollte, schämt er sich vielleicht dennoch, wenn er bedenkt, dass er von anderen als jemand angesehen wird, der durch den Eid verdient. Denn das Schamgefühl ist eine Gemütsregung, die nicht so sehr aus Gewissensbissen wegen einer verabscheuenswürdigen Tat hervorgeht, als vielmehr daraus, dass diese bei anderen unser Ansehen beschädigen könnte290. Schließlich dürfte auch der Schaden, der aus einer Vielzahl von Eidesleistungen entsteht, mit dem Gesetz nicht vereinbar sein, welches den 286 287 288 289 290
Cod. 2, 7, 14. Tac i tu s, Annales, lib. 9, cap. 6, 7. Ari s t ote le s , Politicorum Libri, lib. 2, cap. 11. Ari s t ote le s , Politicorum Libri, lib. 1, cap. 9. Ari s t ote le s , De Arte Rhetorica, lib. 2, cap. 6.
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Kalumnieneid in einzelnen Fällen verlangt. Insbesondere diese Überlegung haben diejenigen angestellt, von denen Wesenbeck berichtet, dass sie gesagt haben, sie würden lieber ihre Tätigkeit vor Gericht aufgeben als in so viele religiöse Bezüge des Eids verwickelt zu werden. Denn höchst unerfreulich sind die Umstände für den, der seinen Beruf nicht ausüben kann, ohne gleich einen Eid zu leisten. Wer möchte denn unter einem so harten Gesetz leben? Deshalb dürfte Wesenbeck zuzustimmen sein. Er sagte, dass durch dieses Gesetz, durch das in einzelnen Fällen der Kalumnieneid des Advokaten angeordnet wird, die guten und ehrenwerten Männer von ihren anwaltlichen Bemühungen (forensibus studiis) abgeschreckt würden, die von schlechten Anwälten an deren Stelle übernommen werden. Wenn wir also wollen, dass das Gesetz für Appellationen gilt, ist zu befürchten, dass wir das zumindest in dieser Art von Fällen nicht erreichen. Wir dürften sicher nicht zu Unrecht vermuten, dass das Gesetz des Kaisers Justinian bei uns entweder niemals angewendet (in usum) wurde oder längst wieder aus außer Gebrauch (in desuetudinem) gekommen ist. Denn oft ist die Gewohnheit (consuetudo) klüger als der Gesetzgeber. Deshalb kann Gewohnheitsrecht die Fehler der Gesetze korrigieren, wenn der Zeitablauf (usu temporum) Besseres lehrt. Anstelle der wieder und wieder und an vielen Orten zu leistenden Eide wäre es sinnvoll einzuführen, dass derjenige, welcher in die Reihen der ordentlichen Advokaten aufgenommen wird, durch einen einmaligen allgemeinen Eid versichert, Fälle, die er für unberechtigt erachtet, nicht zu übernehmen und in keiner Weise böswillig zu verfahren. Denn wenn das für andere Ämter genügt, warum behandeln wir die Advokaten dann strenger? Oder glauben wir etwa, derjenige, der an einen einmal abgelegten Eid nicht mehr denkt, werde dann gottesfürchtiger sein, wenn er immer wieder neu schwört? Zuzugestehen ist, dass es dennoch irgendwann vorkommen kann, dass die Zuverlässigkeit eines Advokaten zweifelhaft ist. Dann nun kann ihm die Leistung des Kalumnieneids auferlegt werden. Und eventuell ist aus dem gleichen Grunde auch der Revisionseid, den die Advokaten vor dem Reichskammergericht bei der Einlegung der Revision ablegen291, nicht zu missbilligen. Gegenüber demjenigen, der das Vertrauen des ganzen Gerichts und seine Bemühungen in Zweifel gezogen hat, dürfte das nicht als zu gravierend angesehen werden. Ob es aber angeraten ist, unterschiedslos jeden 291
JRA 1654, § 125.
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in jeglichem Falle oder zumindest in allen Appellationsfällen die Eidesleistung aufzuerlegen – über die Empfehlungen anderer und über die Erfahrung hinaus – das zu bezweifeln, zwingen uns die Gründe, die wir dargelegt haben. Die Folge ist, dass wir über eine Strafe für diejenigen nachdenken wollen, die leichtfertig eine Appellation einlegen.
Kapitel II: Ob die durch Reichsgesetze festgesetzte Strafe für leichtfertige Appellanten schwer genug und zur Einschränkung der Leichtfertigkeit geeignet ist Allgemein muss man wohl sagen, dass das beste Mittel gegen leichtfertige Appellanten eine Bestrafung ist. Denn eine Strafe ist das normale Mittel, mit dem die Vergehen der Menschen im Zaum gehalten werden292. Vergehen insoweit sind aber nicht nur die Kalumnien, sondern auch die Unbesonnenheit und die Starrköpfigkeit. Aus diesem Grunde befürwortet Aristoteles auch kein anders Mittel gegen sie als die Bestrafung293. „Überdies“, sagt er, „ist es erforderlich, dafür Sorge zu tragen, dass öffentliche Gerichtsverhandlungen immer möglichst selten stattfinden und sehr hohe Strafen für diejenigen festgesetzt werden, die einen anderen in betrügerischer Absicht oder leichtfertig anklagen.“ Gewiss spricht Aristoteles über öffentliche Gerichtsverhandlungen. Es hindert uns aber nichts daran, das auf Appellationen zu erstrecken. In der Tat ist anzustreben, dass Appellationen möglichst selten werden. Da aber die Strafen, die unsere Gesetze für leichtfertige Appellanten androhen, schwer genug erscheinen (wir sprachen darüber oben in der Einleitung), fragt sich zu Recht, warum niemand von ihnen abgeschreckt wird. Der Grund liegt auf der Hand. Denn es reicht nicht aus, dass hohe Strafen angedroht werden. Vielmehr müssen die Leute sicher sein, dass die Strafen auch vollstreckt werden, sobald sie gegen das Strafgesetz verstoßen (si delinquerint). Denn wenn viele ungestraft entkommen, zieht die Hoffnung auf Straffreiheit auch die anderen an. Nun ist es sehr häufig, dass Appellanten aus irgendeinem Grunde Verfehlungen begehen. Dass sie aber bestraft wer292 293
Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 10, letztes Kapitel. Ari s t ote le s , Politicorum Libri, lib. 6, cap. 5.
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in jeglichem Falle oder zumindest in allen Appellationsfällen die Eidesleistung aufzuerlegen – über die Empfehlungen anderer und über die Erfahrung hinaus – das zu bezweifeln, zwingen uns die Gründe, die wir dargelegt haben. Die Folge ist, dass wir über eine Strafe für diejenigen nachdenken wollen, die leichtfertig eine Appellation einlegen.
Kapitel II: Ob die durch Reichsgesetze festgesetzte Strafe für leichtfertige Appellanten schwer genug und zur Einschränkung der Leichtfertigkeit geeignet ist Allgemein muss man wohl sagen, dass das beste Mittel gegen leichtfertige Appellanten eine Bestrafung ist. Denn eine Strafe ist das normale Mittel, mit dem die Vergehen der Menschen im Zaum gehalten werden292. Vergehen insoweit sind aber nicht nur die Kalumnien, sondern auch die Unbesonnenheit und die Starrköpfigkeit. Aus diesem Grunde befürwortet Aristoteles auch kein anders Mittel gegen sie als die Bestrafung293. „Überdies“, sagt er, „ist es erforderlich, dafür Sorge zu tragen, dass öffentliche Gerichtsverhandlungen immer möglichst selten stattfinden und sehr hohe Strafen für diejenigen festgesetzt werden, die einen anderen in betrügerischer Absicht oder leichtfertig anklagen.“ Gewiss spricht Aristoteles über öffentliche Gerichtsverhandlungen. Es hindert uns aber nichts daran, das auf Appellationen zu erstrecken. In der Tat ist anzustreben, dass Appellationen möglichst selten werden. Da aber die Strafen, die unsere Gesetze für leichtfertige Appellanten androhen, schwer genug erscheinen (wir sprachen darüber oben in der Einleitung), fragt sich zu Recht, warum niemand von ihnen abgeschreckt wird. Der Grund liegt auf der Hand. Denn es reicht nicht aus, dass hohe Strafen angedroht werden. Vielmehr müssen die Leute sicher sein, dass die Strafen auch vollstreckt werden, sobald sie gegen das Strafgesetz verstoßen (si delinquerint). Denn wenn viele ungestraft entkommen, zieht die Hoffnung auf Straffreiheit auch die anderen an. Nun ist es sehr häufig, dass Appellanten aus irgendeinem Grunde Verfehlungen begehen. Dass sie aber bestraft wer292 293
Ari s t ote le s , Ethikōn Nikomacheiōn, lib. 10, letztes Kapitel. Ari s t ote le s , Politicorum Libri, lib. 6, cap. 5.
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den, ist äußerst selten. Auch Gail beklagt, leichtfertigen Appellanten werde seltener, als es sein sollte, eine Strafe auferlegt294. Er sagt: „Wenn das doch häufig geschähe, dass Kalumnianten aus Furcht vor solchen Strafen von leichtfertigen Appellationen Abstand nähmen!“ Aber der Grund dafür, dass die Bestrafung nicht ernsthaft genug durchgesetzt wird, liegt nicht beim Richter, sondern im Gesetz selbst. Denn man kann zwar sagen, dass eine Strafe für leichtfertige Appellanten festgelegt ist. Wenn wir jedoch die Formulierungen der Kammergerichtsordnung und anderer Reichsgesetze sowie die Gerichtsgewohnheit (consuetudinem) des Reichskammergerichts betrachten, wird deutlich, dass sie nicht jede Leichtfertigkeit erfassen, sondern nur die schweren Fälle und die, welche so eindeutig sind, dass Kalumnien zu vermuten sind. Denn nach dem Wortlaut des Reichsgesetzes ist die Strafe „Zu vorkommung der freventlichen muthwilligen appellationen“295 festgesetzt worden. Das Gleiche kann der Formel entnommen werden, mit der das Reichskammergericht eine Strafe zu verhängen pflegt. Dem Urteil, mit dem eine Appellation abgewiesen wird, fügt man in diesem Fall folgende Klausel hinzu: „Gedachten Appellanten in die Gerichts Kosten in diesem Kayserlichen CammerGericht auffgelauffen/ ihm dem Appellaten nach rechtlicher Ermäßigung/ wie auch wegen seines frevelmüthigen appellirens/ die Straffe zweyer Marck löthiges Goldes dem Kayserlichen fisco ohnnachlässig zu bezahlen und zu entrichten fällig ertheilend.“ Schon die Worte „frevelmüthig/ freventlich/ muthwillig“ bezeichnen bewiesenen oder vermuteten Vorsatz. Aber selten geht eine so große Leichtfertigkeit aus den Akten hervor. Infolgedessen wird kaum einmal eine Strafe für frevelmütige Appellationseinlegung verhängt. Denn es kommt selten vor, dass ein Sachverhalt vorliegt, der die Vermutung von Vorsatz begründet. Von Vorsatz sprechen nämlich auch unerhebliche und unberechtigte Gründe frei, wie oben ausgeführt296. Die Unbesonnenheit im eigentlichen Sinne bedeutet, dass sich eine Partei aus oberflächlichen und nichtigen Gründen so versteift hat, nichts anderes, als die Absicht zu siegen, gelten lassen will und weder die Unsinnigkeit ihrer Meinung einsieht noch das Gewicht der vorgetragenen Gegengründe. Eine solche Unbesonnenheit ist nach meiner Auffassung straflos. Der Beweis ist, dass Appellanten, die genau wie in den vorinstanzlichen Verhandlungen auch im Appellationsverfahren unterlegen sind297, im 294 295 296 297
Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 152 am Ende. Deputationsabschied zu Speyer 1600, § 17. Teil 1, Kapitel 1. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 128 am Ende, obs. 152, n. 4.
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Allgemeinen zu den Kosten, nicht jedoch zu einer Strafe für die leichtfertige Appellation verurteilt werden. Die Prozesskosten werden aber keineswegs nur leichtfertigen Parteien auferlegt298. Wenn also die Appellanten, die einen Rechtsstreit verlieren, in der Regel mit den Kosten belegt werden, nicht aber mit einer Geldbuße, kommen die leichtfertigen Appellanten meistens ungestraft davon. Daraus ergibt sich, dass die Bestrafung der leichtfertigen Appellanten am gleichen Mangel leidet wie der Kalumnieneid de non frivole appellando. Denn die Strafe ist nur ein Mittel gegen die Kalumnie, nicht aber gegen die Unbesonnenheit im engeren Sinne, welche die Parteien jedoch am häufigsten begehen. Sehr ähnlich ist das, was das römische Recht für Privatkläger (de accusatoribus) bestimmt hat. Denn wenn sie bei augenscheinlich vorsätzlichem Handeln ertappt worden sind, werden sie von der Lex Remmia erfasst. Wenn sie aber jemanden nur leichtfertig verklagt haben, bleiben sie von einer Bestrafung durch dieses Gesetz verschont. Das ist es, was hierzu ein Rechtsgelehrter sagt: „Die Unbesonnenheit ermöglicht die Verzeihung der Leichtfertigkeit und ist nicht mit dem unbedachten Eifer der Kalumnie verbunden. Und deshalb braucht man keine Strafe zu verhängen.“299
Kapitel III: Ein geeignetes Mittel, um die Leichtfertigkeit der Appellanten zu zügeln, wird vorgestellt Nachdem gezeigt wurde, dass die Hilfsmittel, welche unsere Reichsgesetze vorgesehen haben, nicht ausreichen, müssen wir anschließend prüfen, was an Möglichkeiten geblieben ist. Leicht wird aus demjenigen, was im vorigen Kapitel gesagt wurde, deutlich, dass kaum von etwas anderem Abhilfe zu hoffen ist als von einer Strafe. Denn auf andere Weise kann diese Gier der Zügellosen zu appellieren, nicht gebändigt werden. Wir müssen also prüfen, ob die Schwäche der Strafe, die wir schon aufgezeigt haben, beseitigt und eine andere Methode gefunden werden kann, mit welcher sich nicht nur die Kalumnien, sondern auch die Unbesonnenheit in die Schranken weisen lassen. 298 299
Inst. 4, 16 [pr.]. Dig. 48, 16, 1 [fin.].
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Allgemeinen zu den Kosten, nicht jedoch zu einer Strafe für die leichtfertige Appellation verurteilt werden. Die Prozesskosten werden aber keineswegs nur leichtfertigen Parteien auferlegt298. Wenn also die Appellanten, die einen Rechtsstreit verlieren, in der Regel mit den Kosten belegt werden, nicht aber mit einer Geldbuße, kommen die leichtfertigen Appellanten meistens ungestraft davon. Daraus ergibt sich, dass die Bestrafung der leichtfertigen Appellanten am gleichen Mangel leidet wie der Kalumnieneid de non frivole appellando. Denn die Strafe ist nur ein Mittel gegen die Kalumnie, nicht aber gegen die Unbesonnenheit im engeren Sinne, welche die Parteien jedoch am häufigsten begehen. Sehr ähnlich ist das, was das römische Recht für Privatkläger (de accusatoribus) bestimmt hat. Denn wenn sie bei augenscheinlich vorsätzlichem Handeln ertappt worden sind, werden sie von der Lex Remmia erfasst. Wenn sie aber jemanden nur leichtfertig verklagt haben, bleiben sie von einer Bestrafung durch dieses Gesetz verschont. Das ist es, was hierzu ein Rechtsgelehrter sagt: „Die Unbesonnenheit ermöglicht die Verzeihung der Leichtfertigkeit und ist nicht mit dem unbedachten Eifer der Kalumnie verbunden. Und deshalb braucht man keine Strafe zu verhängen.“299
Kapitel III: Ein geeignetes Mittel, um die Leichtfertigkeit der Appellanten zu zügeln, wird vorgestellt Nachdem gezeigt wurde, dass die Hilfsmittel, welche unsere Reichsgesetze vorgesehen haben, nicht ausreichen, müssen wir anschließend prüfen, was an Möglichkeiten geblieben ist. Leicht wird aus demjenigen, was im vorigen Kapitel gesagt wurde, deutlich, dass kaum von etwas anderem Abhilfe zu hoffen ist als von einer Strafe. Denn auf andere Weise kann diese Gier der Zügellosen zu appellieren, nicht gebändigt werden. Wir müssen also prüfen, ob die Schwäche der Strafe, die wir schon aufgezeigt haben, beseitigt und eine andere Methode gefunden werden kann, mit welcher sich nicht nur die Kalumnien, sondern auch die Unbesonnenheit in die Schranken weisen lassen. 298 299
Inst. 4, 16 [pr.]. Dig. 48, 16, 1 [fin.].
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Zunächst ist festzuhalten, dass die Leichtfertigkeit in der ersten Instanz in gewisser Weise entschuldigt werden kann. Denn wer leichtfertig ein Gericht anruft, will, auch wenn er seinen Fall falsch einschätzt, nichts weiter, als dass ihm Recht gegeben wird. Gerichtliche Verfahren sind in der Tat so gestaltet, dass sie die Leichtfertigkeit der Leute durch den Richterspruch auf das rechte Maß begrenzen. Für die Leichtfertigkeit der ersten Instanz ist also, außer der Verurteilung zu den Kosten, keinerlei Strafe vorgesehen. Aus demselben Grunde wird nun geglaubt, dass auch die Leichtfertigkeit im Appellationsverfahren straflos sein müsse, wenn sie nicht so erheblich ist, dass eher von vorsätzlichem Handeln als von Leichtfertigkeit zu reden wäre. Denn wenn die Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag haben, scheint kein großer Unterschied zwischen der Leichtfertigkeit der ersten Instanz und der Leichtfertigkeit der Appellationsinstanz zu bestehen. Die Erörterung neuer Beweismittel, welche erstmals im Appellationsverfahren vorgetragen werden, erfolgt nämlich nach Art der ersten Instanz. Wenn also die Leichtfertigkeit in der ersten Instanz straflos ist, warum sollte dann die Leichtfertigkeit der Appellation bestraft werden? Ja, eben diese Rechtswohltat bewirkt sogar, dass die Appellanten nicht einmal wesentlich häufiger, in die Prozesskosten verurteilt werden können, wie es aber eigentlich geschehen müsste. Denn wenn sie nach der Aktenlage der ersten Instanz unterliegen, werden sie zu den Kosten verurteilt. Aber wenn sie etwas Neues vortragen, das irgendeine Bedeutung zu haben scheint, werden die Kosten üblicherweise gegeneinander aufgehoben300. Was aber ist von der Auferlegung einer Strafe zu erwarten, wenn nicht einmal eine Verurteilung zu den Kosten stattfindet? Solange also die Appellanten die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag haben, wird es nicht einfach sein, ein Hilfsmittel gegen ihre Leichtfertigkeit anzuwenden. Aus diesem Grunde ist vor allem dieses Hindernis aus dem Wege zu räumen. Denn wenn die Rechtswohltat zu neuem Sachvortrag abgeschafft ist, wird die Appellation nicht weiter die Gestalt der ersten Instanz haben, sondern sie wird eine echte Appellation sein. Wenn dann also die Appellanten unterlegen sind, kann mit berechtigter Strenge die Verurteilung zu den Kosten erfolgen, weil sie ja nach derselben Aktenlage verloren haben. Dann kann man es auch nicht mehr als zu hart ansehen, dass die Unbesonnenheit im eigentlichen Sinne, welche nicht unter das Vergehen der Kalumnie fällt, 300
Gy l ma n n , Symphorema, tom. 1, p. 3, vot. 2 am Ende.
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bestraft wird. Denn derjenige, der Appellation einlegt, hat nicht nur mit dem Gegner, sondern auch mit dem Richter der ersten Instanz eine Auseinandersetzung. Die Autorität eines Richters aber ohne gewichtigen Grund in Zweifel zu ziehen, kann nicht als leichtes Vergehen erachtet werden. Denn es ist die Pflicht des Untertanen, von den Amtsträgern eine gute Meinung zu haben, nichts als Ehrenvolles über sie zu empfinden und ihr Urteil, wenn er nicht etwa gewichtige Gründe hat, zu akzeptieren. Wenn es nun also straflos ist, leichtfertig die Autorität eines Richters zu missachten, wer wird ein von ihm gesprochenes Urteil wertschätzen? Denn wenn du nämlich appellierst, gewinnst du mit Gewissheit Zeit, wenn nicht noch mehr. Auch wenn du tatsächlich unterliegst, hast du dennoch keinen Schaden. Wer möchte also nicht lieber appellieren, als sich mit dem Urteil abzufinden? So kann nichts anderes dabei herauskommen als das, was unsere Gesetze beklagen, dass nämlich fast kein Urteil ergeht, gegen das keine Appellation eingelegt wird301. Aber wenn für Leichtfertigkeit ein Risiko drohte, wenn die Appellanten wüssten, dass sie mit Sicherheit mit einer Strafe zu rechnen haben, sofern sie den Sachverhalt dem Richter nicht beweisen, dann würden sie beträchtlich vorsichtiger vorgehen und sich nur nach Anwendung reiflicher Überlegung in die Appellation flüchten. Doch wir wollen sehen, ob hier nicht einer der alten Gesetzgeber vorangegangen ist, in dessen Fußstapfen wir treten können. Es trifft nämlich zu, wie Kaiser Justinian berichtet, dass er sich sehr um diejenigen bemüht hat, die Rechte geltend machen, damit die Leute nicht leichthin zum Rechtsstreit schreiten302. Im alten römischen Gerichtsverfahren war es nämlich üblich, dass Kläger und Beklagter sich gegenseitig feierlich versprachen, dass derjenige, der unterliegen würde, dem anderen über das hinaus, was sich im Streit befand, eine bestimmte Geldsumme zahlen werde303. Wer aber die Vereinbarung verweigerte, hatte den Prozess verloren. Diese Einrichtung war nützlich, um die Leichtfertigkeit der Parteien zu begrenzen. Die Furcht nämlich, das Geld zu verlieren, das gemäß der Vereinbarung zu zahlen war, hielt die Menschen davon zurück, leichtfertig einen Prozess zu beginnen. Das gleiche Ziel unterstützen Gesetze, die diejenigen Parteien, die einen Fall verloren, mit einer bestimmten Geldsumme 301 302 303
JRA 1654, § 120. Inst. 4, 16 [pr.]. Sig o ni o , De antiquo iure civium Romanorum, lib. 1, cap. 21; Br i ss o n , De Formulis, lib. 5, pag. 369.
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bestraften. In Athen wurden öffentliche Ankläger mit einer Strafe von 1000 Drachmen belegt, wenn sie nicht einen fünften Teil der Stimmen erhielten304. Noch härter wurde mit den Parteien im Heliastischen Gericht umgegangen. Denn jede von ihnen wurde gezwungen, beim Amtsträger, der ein Verfahren eröffnete, eine Geldsumme zu hinterlegen, welche ϖρυτανεία(prytaneía, Sukkumbenzgeld) genannt wurde, die der Unterlegene für sich und den Gegner an die Richter zahlte305. Dem kommt fast gleich, was im Revisionsverfahren unseres Reichskammergerichts gilt. Damit Parteien nicht leichtfertig in die Revision gegen Reichskammergerichtsurteile gehen, ist zu ihrer Abschreckung festgelegt, dass derjenige, welcher die Revision einlegt, eine bestimmte Geldsumme bei Gericht zu hinterlegen hat. Sie wird von den Revisionsrichtern je nach Art des Falles festgesetzt, und er erhält sie zurück, wenn er obsiegt. Falls er aber unterliegt, ist er gehalten, sie den Revisionsrichtern als Bezahlung (sportularum nomine) zu überlassen306. So wird nicht nur die Leichtfertigkeit derer bestraft, die ohne einen berechtigten Grund die Revision beantragen, sondern zugleich auch für den Unterhalt der Revisionsrichter gesorgt. Was also hindert uns, entsprechende Schutzvorkehrungen bei den Appellationen zu gebrauchen? Freilich, gleich zu Beginn wie im Revisionsverfahren das Geld zu deponieren, würde vielleicht eine zu große Belastung sein. Denn es wäre genauso für denjenigen ungünstig, der zu Recht appelliert, wie auch für den, der leichtfertig appelliert. Nichts hindert aber daran, dass der unterlegene Appellant (denn dann wird vermutet, dass er leichtfertig gehandelt hat)307 außer zu den Kosten auch zu einer bestimmten Geldstrafe verurteilt wird. Sicher wird die Leichtfertigkeit entweder gar nicht oder nur aus diesem Grunde bekämpft. Freilich hat nicht zu Unrecht die Einziehung der Gerichtsgefälle (sportularum exactio) beim Reichskammergericht immer Missfallen erregt308. Aber diese Zahlung kann nicht in jeder Hinsicht mit den Gebühren verglichen werden, welche bei anderen Gerichtsverfahren gezahlt werden. Denn die Zahlung ist als Strafe vom unterlegenen Appellanten zu entrichten. Und die Geldstrafe ist ebenso gerecht 304 305 306 307 308
Sig o ni o , De antiquo iure civium Romanorum, lib. 3, cap. 1. Sig o ni o , De antiquo iure civium Romanorum, lib. 3, cap. 4; Em mi us , Graecorum res publicae. RKGO 1555, 3, 53, 2; JRA 1654, § 126. Me n oc h i o , De Praesumptionibus, lib. 2, praesumpt. 87. Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 151, n. 7.
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wie die Verurteilung zu den Kosten. Denn die Verurteilung zu den Kosten berücksichtigt, dass der Gegner nicht verloren hat. Aber auch der Öffentlichkeit ist ein Schaden zugefügt worden, wenn jemand vor dem höchsten Gericht des Staates leichtfertig verhandelt hat. Das also ist durch die Begleichung von Geld wiedergutzumachen. Denn am Reichskammergericht erscheint die Rücksichtslosigkeit derer äußerst schwerwiegend, die seine Schwerfälligkeit mit begünstigen. Wenn das festgelegt würde, legte nur noch derjenige mutwillig Appellation ein, der es zu seinem Vergnügen tut. Denn er weiß, dass er auf seine eigene Kosten leichtfertig ist. Ohne Zweifel werden aber diejenigen, die das bedenken, den Schritt eine Zeit lang zurückhalten und den ganzen Fall mit aller Sorgfalt erwägen, bevor sie appellieren. Die Leichtfertigkeit der Appellanten würde also dadurch entweder zurückgedrängt oder so eingeschränkt, dass sie weniger Schaden anrichtet. Wenn dieser Vorschlag jedoch etwas zu hart erscheint, kann vielleicht folgendes hinzugefügt werden: Wenn gewichtige Fälle vorkommen sollten, welche eine Partei wohl zur Einlegung der Appellation veranlassen könnten, dann müsste die Strafe erlassen werden, auch wenn sie unterliegen sollte. Denn in diesem Falle pflegen die Kosten gegeneinander aufgehoben zu werden309. Wenn nämlich keine Leichtfertigkeit vorliegt, muss auch eine Strafe für Leichtfertigkeit nicht verhängt werden. Aber es soll ein gewichtiger Grund sein, welcher den Appellanten von Leichtfertigkeit freispricht. In der ersten Instanz allerdings pflegen nach der heutigen Übung (ob gut oder schlecht, will ich nicht diskutieren) die Kosten schnell gegeneinander aufgerechnet zu werden. Aber im Appellationsverfahren darf die Kostenaufhebung und der Erlass der Strafe nur selten und aus sehr schwerwiegenden Gründen gewährt werden. Dies ist unsere Meinung zur Verringerung der großen Zahl von Appellationen, unter der die Justiz ächzt. Wir wagen sie der Öffentlichkeit zu unterbreiten und dem Urteil der Gelehrten zu unterwerfen. Wenn wir die wahren Gründe des Übels, von dem wir niedergedrückt werden, wenn wir auch die geeigneten Hilfsmittel vorgetragen haben, wird sich die Mühe vielleicht gelohnt haben. Freilich wird es schwierig sein, die Gewohnheit zur Fortsetzung der Rechtsstreitigkeiten durch verschiedene Instanzen nicht nur aus den Gerichtsverfahren zu entfernen, sondern auch aus den Köpfen der Menschen (es pflegen nämlich die durch Gewohnheit tief verwurzelten 309
Gai l , Observationes, lib. 1, obs. 128 am Ende; Gy lma n n , Symphorema, p. 1, vot. 1., n. 60 et seqq., vot. 4, n. 39 et seqq.
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Fehler als angenehm, die Abhilfe dagegen aber als beschwerlich angesehen zu werden). Dennoch versteht man wenigstens die Gründe für die Dauer und die Häufigkeit der Rechtsstreitigkeiten. Aber vielleicht wird es auch so angesehen, dass es nichts wert ist, was wir vorgeschlagen haben. Dennoch weiß ich nicht, ob auch die Begründungen, die wir gegeben haben, völlig wertlos zu halten sind. Aber wenn man bei schwierigen Aufgaben nicht alles vollständig erreicht haben sollte, reicht es doch, dass man eine auf gewichtige Gründe gestützte Auffassung dargelegt hat. Aus diesem Grunde vertrauen wir darauf, dass in Rechtsangelegenheiten erfahrene Männer unsere Abhandlung entweder billigen oder aber nachsichtig behandeln werden.
ENDE.
Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis enthält sämtliche von Ludolf Hugo in den Fußnoten nachgewiesenen Rechtsquellen und Literatur. Auch die lediglich im Text genannten Autoren sind nachgewiesen, soweit die von Hugo gemeinten Werke klar bestimmbar sind. Welche Auflagen Hugo benutzte, ist unbekannt. Fast immer nennt er lediglich Kurztitel. Soweit diese Bücher mehrere Auflagen erlebten, ist jeweils der Erstdruck angegegeben sowie diejenige Auflage, die möglichst nah an der Entstehungszeit von Hugos Werk liegt.
Rechtsquellen Deuteronomium (5. Buch Mose) Sirach Matthäusevangelium Lukasevangelium 1. Brief des Johannes Jakobusbrief Institutionen Digesten Codex Iustinianus Novellen Authentiken Decretum Gratiani Dekretalen/Liber Extra Liber Sextus Clementinen Reichskammergerichtsordnung von 1507 Reichsabschied von Augsburg 1548 Reichskammergerichtsordnung 1555 Reichsabschied von Augsburg 1566 Reichsabschied von Speyer 1570
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Visitationsmemorial 1574 Gemeiner Bescheid des Reichskammergerichts vom 13. Dezember 1593 Reichsabschied von Regensburg 1594 Deputationsabschied von Speyer 1600 Reichsabschied von Speyer 1600 [gemeint ist wohl der Deputationsabschied] Jüngster Reichsabschied 1654 Gemeiner Bescheid des Reichskammergerichts vom 30. Oktober 1655 Gemeiner Bescheid des Reichskammergerichts vom 13. Dezember 1659
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Register Die von Ludof Hugo zitierten Autoren sind im Register vollständig nachgewiesen. In der Einleitung erwähnte Literatur ist dagegen nur aufgeführt, soweit es sich nicht um reine Belegstellen handelt.
Abschrift 14, 16 Absolutismus 172 Abtretung 138 Abwägung 48, 62-64, 66, 68, 109, 126, 153 Acta priora 14, 16, 34, 75-76, 78, 98, 101, 105-107, 112, 125-126, 132, 139, 142, 161-162, 165, 182-185 Advokat 13, 24, 34, 36-37, 51-52, 69, 94-96, 99-103, 118, 137, 146, 159, 187-196 - Amtseid 39, 195 - Aufgaben 105 - Bezahlung 193-194 Aequitas s. Billigkeit Aktenherausgabe 183 Aktenversendung 4, 11 Allegation 96, 108, 126, 129, 143 Amtmann 20 Amtseid 39 Amtsträger 111-112, 168, 191, 200 Angriffs- und Verteidigungsmittel s. Verteidigungsmittel Anwalt s. Advokat, Prokurator Anwaltshaftung 37 Anwaltsvollmacht s. Gewalt Apostelbrief 13-14 Apostolischer Nuntius 7 Appellation 7-18 sonst nicht aufgenommen
- Einlegung 12, 71, 97, 106, 126, 157, 189 - Strafsachen 9 - Zweck 53, 110-113, 140 Appellationseid 14, 24 s. a. Kalumnieneid Appellationsfrist 12, 14, 71, 128, 157 s. fatalia Appellationsgericht 15, 85, 87, 107108, 113, 116, 119, 125, 129-130, 139, 143, 178, 180, 183-184 Appellationsgründe s. Gravamina Appellationsgulden 14 Appellationsinstrument 13, 71, 75, 183 Appellationslibell 75, 77, 97, 100, 102, 182 Appellationsprivilegien 13, 21, 35-36, 40, 50-51, 140, 172 Appellationsschrift s. Appellationslibell Appellationssumme 13, 50, 177 Appellationsverbot 2 Appellationszettel s. schedula appellationis Äquitas s. Billigkeit Arbitrium s. Schiedsgericht Arglist 93, 129, 132
212 Aristoteles 29, 39, 60-61, 63, 65, 67, 83, 111, 118, 121, 126, 128, 148, 166, 168, 171, 191-194, 196 Artikelprozess s. Positionalverfahren Assessor 97, 99 Athen 40, 201 Attentate 16, 31, 72-74, 173 Audienz 11, 15, 17, 23, 139 Auditor 140 Augenschein 81 Aulus Cluentius 121 Austrägalgerichte 32-33, 93, 138 Authentica 176-177 Autorität der Amtsträger 169 Autorität der Gelehrten 30, 154 Autorität der Gerichte 143, 163, 169, 172-173, 180, 192, 200 Autorität des Gesetzes 57, 109-110, 122, 141, 166 Avokation 10 Azo 58 Bad Kreuznach s. Kreuznach Baldus de Ubaldis 30, 56, 96, 110 Begründetheit 74 Bender, Johannes Ludwig 127, 142143, 177 Beneficium s. Rechtswohltat Bereicherungsrecht 84 Berufung 38, 41 Beschwerdegründe s. Gravamina Besitz 58, 113, 193 Bestechung 59 Bestreiten 117 s. a. Einrede Betrug 59, 92, 105, 108, 153, 168, 187, 196 Beweis 23, 25, 27, 59, 61, 69, 76-79, 85, 88, 92-93, 97-98, 101-104, 106, 108, 113, 117-118, 120, 124125, 131, 134-136, 143, 145, 149, 162, 165, 184, 190, 192
Register
Beweisartikel 48, 81-82, 105 Beweisaufnahme 18, 115, 167 Beweislast 83, 138 Beweismangel 82 Beweismittel 28, 34, 48, 82, 102, 119, 126, 129, 133, 135-137, 146, 152153, 182, 185, 199 Bibel 141, 190-191 Billigkeit 36, 108-110, 112, 123, 144145, 148-152 Binnius, Heinrich 1 Brandenburg-Ansbach 136 Braunschweig-Lüneburg 20 s. a. Hannover Brederode, Pieter Cornelius van 82 Brisson, Barnabé 78, 200 Bundesstaat 1, 21, 40-41 Bürger 138-139 Carpzov, Benedikt 179-180 causa 186 Celle, Oberappellationsgericht 15, 40 Cicero, Marcus Tullius 62, 96, 105, 121 Citatio s. Ladung Claudius Saturninus 42, 155 Cletzelius s. Klesl Codex Justinianus 26, 28, 34, 37, 48, 51-52, 58, 64, 66, 68, 76-79, 81, 85-86, 97-98, 101-102, 108-110, 122, 135, 141, 145-146, 156, 168, 170-171, 176-177, 182-184, 188, 190, 194 s. römisches Recht Coler, Matthias 57 Collegia Juridica 179 Compulsoriales 16, 72 Conring, Hermann 1, 19-20, 26, 28 Cynus da Pistoia 86, 109 Decio, Filippo 177 Demoducus 67
Register
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Denaisius, Petrus 137, 139 Deputationsabschied Speyer 1600 16, 51, 102, 115, 177, 197 Desertion 16, 24 Desuetudo 52, 195 Deutsche Bundesakte 1815 17 deutsche Sprache 22 Devolutiveffekt 3, 11, 35 Digesten 57-59, 61, 64, 66, 76, 78, 88, 90, 94, 110-112, 122-124, 128-129, 132, 135, 137, 149, 152, 154-156, 163, 168, 170, 176, 178, 190-191, 193, 198 s. römisches Recht Dinggenossenschaft 4-5 Dispositionsmaxime 112 Dreißigjähriger Krieg 22 Dubia Cameralia 99-102, 162 Duplik 48, 76, 81, 84, 153 Durantis, Giulelmus 127, 160, 176
Entschuldigungsgründe 66, 94-96, 120, 124, 134-136, 149, 154, 162, 199 Epiktet 191 Erbschaft 81, 113 Eremodizialverfahren 156 Erfahrung 109, 190 Erfüllung 81, 138 Erheblichkeit 103, 153 Ermessen 51, 61, 107 Ersitzung 155-156 Erzbischof 7 Eventualmaxime 25, 34, 36, 38, 107, 115 Evokation 6 Exekution s. Urteilsvollstreckung Exemtion 138 Extrajudizialappellation 186 Extrajudizialverfahren 15 Exzeptionen s. Einreden
Ebel, Wilhelm 6 Edikt 149 Ehre 87, 190, 193, 195 Eid 17, 34, 38-39, 52, 81, 92, 134135, 191 s. Kalumnieneid Eigennutz 67 Eigentum 58, 80, 156 Einreden 27, 76, 81, 83-84, 98, 115, 117, 182 Einstimmigkeit 5-6 Einstufigkeit 6 Einwendung 38 s. Einreden elegante Jurisprudenz 29 Emmius, Ubbo 201 Endurteil 31, 106 s. Urteil Entlassungsbrief s. Apostelbrief Entscheidungsgründe s. Urteilsbegründung
Faber s. Favre Fahnenberg, Egid Joseph Karl von 30 Fahrlässigkeit 34, 64-66 Falk, Ulrich 29 Falschaussage 81-82 s. a. Meineid Fatalien 16, 31, 71, 128 - fatalia interponendae appellationis 12, 71 - fatalia introducendae appellationis 14-15, 71 - fatalia prosequendae appellationis 91, 173 Favre, Antoine 114, 150-151 Fehlurteil 89 Ferrarius Montanus, Johannes 127, 177 Fiskal 138, 197 Formalien 14, 38, 48, 50, 75, 131, 182-183 s. Fatalien
214 Formfehler 130 Frankreich 9 Freiheit 169 Frensdorff, Ferdinand 32 Frevel 39, 197 Frider Mindanus, Peter 188 Fristen 17, 114, 116, 157, 184-185 s. fatalia - peremtorische 115 - präklusive 115, 157 Frivolität 17, 52, 66-67 fundata intentio 27 Fürsten s. Reichsstände Gail, Andreas 30, 36, 48-49, 51, 56, 59, 71-73, 78, 82, 91, 105-106, 109, 130, 134, 145, 160, 173, 184186, 197, 201-202 Gebietskörperschaften 1, 41 Gefährdeeid 29, 66 s. Kalumnieneid Geist des Gerichtsverfahrens 121 geistliche Gerichte 6-7 Geldforderung 138 Geldgier 192-193 Geldstrafe 16, 39-40, 155, 189, 198, 201-202 gelehrte Räte 18-19, 22 Gemeine Bescheide 20-21, 31-32, 47, 51, 77, 100, 102-103, 118 Generalklausel 130 gerechte Sache 58 Gerechtigkeit 52, 152 Gerichtsgebrauch 53, 101, 103, 115 Gerichtsgewalt 8, 28, 35, 50, 111, 169, 176 s. Iurisdictio Gerichtsgewohnheit 51, 70, 108-109, 116, 166, 197 Gerichtskosten 64, 197, 199, 201-202 s. a. Prozesskosten Gerichtsstand 139 s. a. Reichsstände Gerichtstag s. Terminsystem
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Gerichtsverfahren, Mittelalter 4-9 Gerichtsverfassung 37 - Kirche 6-7 - Mittelalter 4-9 Geschäftsanfall 35, 49-50, 139, 173 geschriebenes Recht 76 Gesetz 158 s. a. Autorität - göttliches 148 Gesetzgebung 31, 34, 50, 57, 68, 85, 100, 106-107, 109, 150, 179, 195, 197, 200 Gewalt (Anwaltsvollmacht) 24-25, 189 Gewohnheit 29, 37, 57, 102, 148, 170, 174, 179, 181, 190, 195, 202 Gießen 30 Gilhausen, Ludwig 178 Glossa ordinaria 156 Glosse zu den Dekretalen 96 Glosse zum Sachsenspiegel 57 Göden, Henning 57, 188 Goldene Bulle 8 gradatim (Appellation) 16 Gravamina 13, 48, 78, 98-99, 101103, 106, 131-133, 139, 141-142, 162, 177 Gravaminalibell 75, 100, 105-106, 183 Griechen 114 Gröning, Johannes 40 Gutgläubigkeit 58, 66 Gylmann, Adrian 82, 99-101, 108, 185, 199, 202 Hackemann, Friedrich August 40 Haderbücher 9 Hamburg 40 Hannover 14, 19-22, 40 Hanse 8 Haupitz 136
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Hauptsacheverfahren 72, 74, 76, 83, 107, 156, 183 Heliastisches Gericht 201 Helmstedt 1, 20 Herausgabe 112 s. a. Aktenherausgabe Hert, Johann Nikolaus 30, 40 Hinderungsgrund 120, 124, 128, 132134, 137, 151, 154, 180 Hinterlegung 201 Hofgericht 9 Holland 29 Hugo, Bernd-Lothar von 41 - Ludolf nicht aufgenommen - Statius 20 Humanismus 29 Ingelheim 9 Inhibition 16, 72, 173 Iniquitäten 10, 87, 111-112, 120, 124, 129, 143, 147, 162, 183-184 Instanzensprung 3, 16 Instenzenvermehrung 33, 130 Instanzenverschwendung 90 Instanzenzahl 170, 173 Instanzenzug 4, 8, 16-17 Instanzumgehung 91, 93, 97, 164 Institutionen 61, 67, 156, 198, 200 Interlokut s. Zwischenurteil Irrtum 61-64, 96, 110, 112, 120, 126, 129-130, 133, 135-136, 146, 151, 159, 167 Italien 7-8 Iudex a quo 7-8, 12-13, 16, 33, 35, 38, 72-73, 87, 101, 105-106, 112113, 125, 129-130, 132, 153, 165, 173, 184 Iurisdictio 7, 138-141, 176 Jason da Mayno 177 Johann von Buch 57
215 Johannes (Apostel) 59 Jüngster Reichsabschied 1654 24-26, 28, 31-32, 34, 39, 47-53, 70, 72, 75-78, 92-93, 102, 106, 108, 115, 140, 177, 179, 182-183, 195, 200201 Jüngstes Gericht 29, 52, 59, 68 Juristenfakultäten 11 Justizaufsicht 3, 8-9, 112 Justizkanzlei 21 Kabinettsjustiz 4 Kaiser 4, 8, 28, 36-37, 58, 93, 110, 125, 129, 140-142, 144, 152-153, 168, 170-172, 175-176 - Justinian 52, 56, 67, 70, 78, 98, 146, 188, 195, 200 - Justinus 27 - Maximilian I. 12 - Tiberius 169 Kalumnien 33-34, 49, 54, 56-57, 59, 61-62, 64-65, 67-68, 70, 86, 93, 105, 188, 196-199 Kalumnieneid 17, 24, 30-31, 33, 3839, 51-52, 54, 56-70, 92-94, 133134, 187-196, 198 - Formel 17, 34, 52, 58, 65-66, 70, 92-93, 95, 118, 133 - für Geld 192-194 Kameralverfahren nicht aufgenommen Kammerbote 15 Kampf 59, 69, 72, 118 s. Krieg kanonisches Recht 7, 13-14, 34, 108, 166 - Clementinen 82 - Decretum Gratiani 184 - Dekretalen 57, 65, 82, 96, 108 - Liber Sextus 51 Kaufvertrag 80, 112 Kaution s. Sicherheitsleistung Kern, Bernd-Rüdiger 12
216 Klage 122, 153, 160 Klageänderung 112-113 Klageerwiderung 48, 106, 117, 153 Klageschrift 48, 79, 83-84, 126, 162163 Klesl, Melchior 48-49, 81, 111, 186 Klock, Caspar 73, 92, 97, 136 Kommissare 48, 102 Kompulsorialbrief s. Compulsoriales König, Kilian 57 Könige 6, 8-9 Konsens 5, 7 Konstitution 26-27 s. römisches Recht Kreishauptleute 74, 141-142, 183 s. Reichskreise Kreuznach 9 Krieg 48, 69, 118-119 Kriegsbefestigung s. Litiskontestation Kurfürsten 8 Kurfürstenrat 102 Kurhannover s. Hannover Kurpfalz 12 Ladung 15-16 Landesherren 28, 35, 89 Landfriedensbruch 138 Landsberg, Ernst 32 Läuterung s. Leuteration Lebensalter 127, 129 Legisaktionen 122 Lehensrecht 81 Leibniz, Gottfried Wilhelm 19 Leichtfertigkeit 26, 28, 30-31, 37-38, 50-54, 56, 59-70, 95-97, 103-104, 113-119, 131-133, 135, 137, 150154, 158-163, 165-166, 174-175, 178, 181, 186-187, 196-202 Leichtgläubigkeit 17, 66 Leiden 20
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Leuteration 35, 37, 121, 175-181 Libell s. Schriftsatz Licht der Wahrheit 160, 170 Litiskontestation 23-24, 26, 48, 76, 79, 105, 124-125, 156 Litispendenz 24 Livius, Titus 175 Logik 36 Lübeck 6, 8 Lukas (Evangelist) 94 Machtsprüche 4 Malitieneid 33-34, 93 Mandat 72, 173 Mandatum de administranda iustitia 10 Maranta, Roberto 30, 56, 80, 177, 184 Marcianus 61, 63 Mascardi, Giuseppe 86, 96, 116, 134 Maurer, Julia 13 Mauritius, Johannes 130 Mecklenburg 20-21 Medizin 26, 29, 47, 53-54, 121, 174 Meineid 29, 31, 56, 66-69 Menochio, Giacomo 134-135, 142, 201 Menschenfreundlichkeit 36, 144 Merckelbach, Thomas 97, 99 Merzbacher, Friedrich 13 Metropolit 7 Michael, Thomas 73 Mileter 67 Mindanus s. Frider Mindanus Minderjährigkeit 127-129, 132 Mirow 20 Missbrauch 17, 24, 28, 30, 33, 39, 49, 52-54, 57, 85, 92, 113, 117, 131132, 154-155, 165 Mitleid 150 Mord 64
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Mudäus, Gabriel 130 München 41 Mündlichkeit 10-11, 167 Mutwilligkeit 17, 91, 197, 202 Mynsinger, Joachim 69, 71, 82, 130131, 173, 177, 185 Nachlässigkeit 34, 36-37, 87, 94, 9697, 104, 115-116, 119, 123, 131133, 135, 137, 143, 145, 150-159, 161, 175, 178, 183, 187 s. Leichtfertigkeit Naturrecht 111 Nichtigkeit 9, 38, 122, 185 Nichtigkeitsklage 10, 121-122 Nichturteil 122 Nichtwissen 133-135 Nicolaus de Tudeschis s. Panormitanus Nienburg/Weser 20 Notar 12-13, 15, 71, 81 Notariatsordnung 1512 12 Notorietät 106 Novellen 176 Novenrecht 23-41 sonst nicht aufgenommen Nullität s. Nichtigkeitsklage Oberhof 6, 9 Obliegenheit 36 Obrigkeit 89 Oddi, Sforza degli 124, 127, 130-131, 136 Öffentlichkeit 10, 196 Offizial 7 Offizialmaxime 98, 106, 111, 185 Oldendorp, Johann 56 Ostseeraum 6 Panciroli, Guido 176 Panormitanus 57
217 Papinian 61 Paritionsurteil 173 Partikularrechtler 22, 43 Pergament 13 Pfalzgraf 9 Pfand 80 Pfannenschmid, Yvonne 20-21, 32, 41-42 Philosophen 29, 155, 192 Phrygier 76 Pistoris, Hartmann 79-80, 86, 92, 97, 116, 155 Positionalverfahren 23, 25 Postulationsfähigkeit 11 Präjudiz 104, 116 Präklusion 103, 115-116, 157 Prätor 123-124, 132, 149, 167-169 Prätorianerpräfekt 129, 175-177 Primogenitur 22 Prinzipal 24 Prinzipat 168, 170 Privatkläger 198 privilegia de non appellando s. Appellationsprivilegien Proberelation 73, 97, 99 Prokurator 11, 13, 15, 34, 36, 39, 52, 94, 102, 118, 146, 159 Promotorialschreiben 10 Protokollbuch 17, 24 Prozessakte 9, 16 s. a. Acta priora Prozessbeschleunigung 23, 25, 53, 115 Prozessdauer 53, 74, 104, 113, 117, 153, 173-174, 203 Prozessgefahr 159 Prozesskosten 39, 47, 75, 78, 178, 197-199, 201-202 - Aufhebung 199, 202 Prozessurteil 15 s. a. Urteil Prozessverschleppung 25, 33, 47, 68, 114, 117, 150, 182
218 Pufendorf, Friedrich Esaias 19, 22 Quintilianus, Marcus Fabius 191 Randbemerkungen 100-102 Raub 136 Rebuffi, Pierre 176-177 Rechtsanwendung 7, 18, 33, 178 Rechtsbehelf 3, 120, 175 Rechtsfindung 4-6 Rechtsfrage 83, 183 Rechtsgewohnheiten 4, 57, 177 s. Gewohnheit, Gerichtsgewohnheit Rechtshängigkeit s. Litispendenz Rechtskraft 3, 16, 123, 127-129, 135136, 157 Rechtsmittel 3, 8, 120-121 sonst nicht aufgenommen Rechtsnachfolge 24 Rechtsverletzung des Richters s. Iniquität Rechtsverweigerung 8, 10 Rechtsverzögerung 10 Rechtswidrigkeit s. Iniquität Rechtswissen 6 Rechtswohltat 48, 50, 52, 76-77, 79, 82, 84-86, 91-93, 96-97, 101, 105119, 124-125, 127, 129, 131-133, 138-146, 148-149, 151-152, 154155, 157-161, 163, 165-175, 180187, 199 Rechtszug 5-6, 8 Recursus ad comitia 3 Rehburg 20 Reichsabschied 27 - Augsburg 1548 141 - Augsburg 1566 141 - Speyer 1570 141 - Regensburg 1594 100, 115, 139, 141, 186
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- Speyer 1600 142 (wohl Deputationsabschied) Reichsgesetze 49, 54, 106, 197 - Verbindlichkeit 107 Reichshofgericht 6, 8 Reichshofrat 2-4 Reichskammergericht nicht aufgenommen Reichskammergerichtsordnung 1507 82 - 1555 1, 11-18, 23, 39, 47-49, 51, 66, 72-73, 75-76, 91, 93, 98, 101, 108, 115, 125, 142, 166, 182, 184, 197, 201 Reichskreise 42, 73-74, 141, 183 Reichsstadt 17 Reichsstände 13, 32, 49, 52, 86, 89, 93, 97, 100, 102, 104, 118, 138140, 142-144, 163, 172, 178, 181 Reichstag 3, 47, 100, 141 - Regensburg s. Jüngster Reichsabschied Reichsunmittelbarkeit 8 Reichsverfassung 1, 26, 35-37, 40, 49, 73, 138, 171-172 s. Bundesstaat Relation 97, 99 Religion 13, 29, 52, 56, 59-60, 68, 94, 189-192, 195 Replik 48, 76, 81, 83-84, 117, 153, 185 Reproduktion 15, 24, 182 res iudicata s. Rechtskraft restitutio in integrum s. Wiedereinsetzung Revision 10-11, 35, 38, 142-143, 163165, 182-183, 195, 201 Rezeption 4, 166 Rhetorik 83 Richter 111, 121, 163, 178, 183 s. Iudex a quo
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- Amtspflicht 86, 111, 113, 121-123, 183-184 - Aufsicht 111-112, 140, 176 - ordentlicher 90, 129, 183 - Unerfahrenheit 123, 183 - Untergerichte s. dort Riva di San Nazarro, Gianfrancesco 188 Roding, Wilhelm 130 Rolando a Valle 81 römisches Recht 26-27, 29, 31, 37, 50-51, 78, 81, 108, 110-111, 121, 125, 149, 158, 166-168, 171, 174175, 177-181, 183, 194, 198, 200 Römisches Reich (Antike) 28, 37, 40, 114, 166-172, 175, 180, 194 Rosencorb, Hermann Esaias 101102, 118 Rota Romana 7-8 Rulant, Rutger 82 Sachsen-Lauenburg 22 sächsisches Recht 35, 57, 177, 179 Sachverhalt s. Streitgegenstand Sachverhaltserforschung 36, 38, 124, 132, 134, 139, 184-185, 192 Sachvortrag 1, 18, 33 sonst nicht aufgenommen Säkularisierung 29 Säumnis 71, 96, 129-131, 133-134, 137, 142, 145-146, 156-157, 180 Schaden 68-69, 109, 111, 121-124, 127-128, 131-132, 135, 137, 141, 144, 146, 149, 152, 154, 156-157, 183, 185, 194, 200, 202 schedula appellationis 13 Schiedsgericht 139, 183 Schnath, Georg 19 Schneidewin, Johann 156 Schöffe 5, 9 Schöffenstuhl 6
219 Scholastiker 63 Schriftlichkeit 9-10 Schriftsatz 11, 15-16, 34, 38, 48, 7576, 78, 88, 98, 182 s. Appellationslibell, Gravaminalibell Schultes, Jacob s. König, Kilian Schwanmann, Christoph 100 Senat (Rom) 168-169 Setzer, Jeremias 68, 188 Sicherheitsleistung 14, 176, 201 Sigonio, Carolo 167, 200-201 Sitte 37, 145, 158 Soccini, Mariano 56 Soldaten 194 s. a. Krieg Solennien 48 s. Formalien Sophisten 126 Sorgfalt 63, 66, 104-105, 111, 151, 157-159, 161, 164, 170, 175, 187188, 202 Speyer 20, 32-33, 39 Spezialvollmacht s. Gewalt Sporteln 201 Sprendlingen 9 Staatswerdung 22 stante pede 12 Starrköpfigkeit 54, 56, 64-65, 196 Statutarrecht 29, 51 Stellvertretung 17, 38, 52 Stolzenau 20 Strafen 39, 51-52, 61, 64, 145, 155157, 185, 187, 196-200, 202 s. Geldstrafe - göttliche 29, 52, 59-60, 68 - Vollstreckung 196-197 Strafprozess 155 Streitbefestigung s. Litiskontestation Streitgegenstand 32, 79-80, 83-85, 113 Strube, David Georg 19, 22 Stryk, Samuel 19
220 Stylus s. Gerichtsgebrauch Subsumtion 4 Suffragan 7 Sukkumbenzgeld 201 summarische Petition 141 Sünde 60, 64, 68, 158 Suppletion 88 Supplikation 37, 114, 121, 142, 175181 Suspensiveffekt 3, 16, 31, 111, 173, 176 Syndikatsklage 35, 121 Tacitus 168-170, 194 Tatsachenfrage 83, 122, 134 Täuschung 59, 69, 104, 118, 124, 126-127 Tenor 7, 13, 87-88, 98, 125-126, 197 Terminsystem 11, 17, 23, 182 Testament 113 Thomsch, Astrid 41 Todsünde 60 Torheit 67 Treu und Glauben 59, 80 Triarier 119 Tribunal 169 Übereilung 151, 187 Übersetzung 41 Ulpian 42, 76, 110, 129, 155, 191 Umstand 5 Unbesonnenheit 30, 54, 56, 60-62, 64-65, 68, 86, 93, 95, 196-198 Unerfahrenheit 36, 127, 147 Unerheblichkeit 97-99, 104, 118 Ungerechtigkeit des Richters 49, 110 s. Iniquität Unsterblichkeit des Rechtsstreits 17, 33, 90, 152, 155
Register
Untergerichte 31, 33, 104, 115, 144, 164, 171, 173, 178, 180, 184 s. Iudex a quo Untertanen 32-33, 86, 88, 104, 138139, 200 Urkunden 27, 81, 84, 136-138, 167 Urteil 7-8, 12, 16, 59, 73, 85, 88-89, 98-99, 102, 114, 123, 125-127, 129, 135-137, 153, 157, 163, 165, 176-177, 179, 181, 185, 197, 200 - Abänderung 7, 49, 74-75, 111, 121, 143, 161, 178, 185 - Aufhebung 112, 142, 165, 178 - Bestätigung 7, 49, 74, 112, 185 - Endurteil 75, 139, 183-184 - Tenor s. dort - Verkündung s. dort - Zurückverweisung 179, 183 - Zwischenurteil s. dort Urteilsbegründung 37, 183 Urteilsschelte 5-6 Urteilsvollstreckung 16-17, 31, 72-74, 91, 176 Urteilsvorschlag 5 Usus modernus pandectarum 29-30 Vantius, Sebastian 122, 126 Verfahrensende 125, 149-150, 156157, 180, 185 Verfassung 22, 168, 171 s. a. Reichsverfassung Verfassungsbeschwerde 3 Verjährung 81, 138 Verkündung 6, 12, 112 Vermächtnis 80, 112-113 Vermittler 140 Vermutung 81, 84 Versäumnisurteil 156 Verschulden 34, 36-37, 80, 90, 96-97, 120, 123-124, 132, 136-137, 145-
Register
147, 152, 154-157, 159, 161-162, 177, 187 Verspätung 34 Verteidigungsmittel 25, 69, 80, 115, 151, 157, 169, 184 Verzögerung 18, 40, 58, 68, 72, 85, 104-105, 114, 172 s. Prozessverschleppung Verzug 80 Vigelius, Nicolaus 84 Visitation 31, 100-102 Visitationsabschied Speyer 1600 102 Visitationsmemorial 1574 51 Vizekanzler 21 Volkstribun 167, 169 Volljährigkeit 128-129 Vollstreckung s. Urteilsvollstreckung Vormundschaft 84 Vorsatz 31, 62, 64-66, 68, 131, 197199 Votum 137 Votum ad Imperatorem 3 Vultejus, Hermann 51, 180 Wachsamkeit 37, 152, 154, 159 Wehner, Paul Matthias 47, 93 Weitschweifigkeit 162 Weitzel, Jürgen 2 Wesenbeck, Matthäus 94, 156, 190, 195 Wetzell, Georg Wilhelm 12 Wetzlar 33 Widerspruch 3 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 16, 34, 120-137, 143, 146147, 149, 151, 154, 159-160, 162, 164-165, 175-181 Wien 2 Wolden (Rechtsstreit) 92 Wolfenbüttel 1, 41 Wollust 65
221 Zeitgeist 145 Zeugen 12, 68, 81-82, 84, 88, 101, 136, 138, 167, 191 Zinsen 80 Zitationsprozess 17 s. a. Ladung Zufall 64, 153, 155-157 Zügellosigkeit 67 Zulässigkeit 15, 74 Zuständigkeit 7, 11-12, 183 Zustellung 12, 182 Zwangsmaßnahmen 155 s. Strafen Zwischenurteil 13, 31, 38, 61, 75, 77, 182, 184-185, 189 s. Urteil
Quellen und Forschungen zur höchsten gerichtsbarkeit im alten reich Herausgegeben von anja amend-TrauT, FriedricH baT Tenberg, albrecHT cordes, ignacio czeguHn, PeTer oesTmann, WolFgang sellerT eine ausWaHl
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