Briefwechsel 1929–1956: Eingeleitet und herausgegeben von Astrid Thome 9783495995495, 9783495995488


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Table of contents :
Cover
Einführung
Personen
Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages
Der Beginn des Briefwechsels
Klages’ Einstellung Rothschild gegenüber
Klages’ Einfluss auf Rothschild
Die Geistesfeindschaft Klages’ und die speziellen Erwiderungen Rothschilds
Geist und Leben und die damalige Moderne
»Der Geist« bei Klages und Rothschilds »Selbstbehauptung«
Der Pupillendialog
Abschließendes zum Pupillendialog
Zur Herausgabe der »Symbolik des Hirnbaus« im Jahre 1935
Rothschilds Positionen in der Neurologie
Rothschilds Position zur Zentren- und Reflexlehre
Von der Plastizität des Nervensystems
Kortikozentrismus
Rothschilds Vorgehensweise an Einzelthemen erläutert
Faserkreuzung
Faltungen der Großhirnrinde
Richtung der Flächenentwicklung
Das Kleinhirn der Mormyriden (Nilhechte) und der Forellen
Die Insula
Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung
Zu den Phänomenologien der Wahrnehmung
Das klassische Wahrnehmungsverständnis
Vom Baum, den ich sehe
Die Entwicklung des Wahrnehmungsverständnisses bei Klages
Rothschild: Wahrnehmung und Erlebnisvorgang
Virtuelle Bewegung
Die Physiologie der virtuellen Bewegung
Rothschild und die virtuelle Bewegung
Emigration Rothschilds
Klages’ Antisemitismus
Klages und die Kosmische Runde
Anlässe für antisemitische Ressentiments
Schuler-Einführung und Erwiderung(en)
Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956
Editorische Hinweise
Rechtschreibung
Zur Briefkennzeichnung verwendete Abkürzungen und Siglen
Der Briefwechsel
1 Rothschild an Klages
2 Klages an Rothschild
3 Rothschild an Klages
4 Klages an Rothschild
4a Anhang
5 Rothschild an Klages
6 Klages an Rothschild
7 Rothschild an Klages
8 Klages an Rothschild
9 Rothschild an Klages
10 Klages an Rothschild
11 Rothschild an Klages
12 Rothschild an Klages
13 Rothschild an Klages
13a Anhang
14 Rothschild an Klages
15 Klages an Rothschild
16 Rothschild an Klages
17 Klages an Rothschild
18 Rothschild an Klages
18a Anhang
19 Klages an Rothschild
19a Anhang
20 Rothschild an Klages
21 Rothschild an Klages
22 Klages an Rothschild
23 Rothschild an Klages
24 Klages an Rothschild
25 Klages an Rothschild
26 Rothschild an Klages
27 Klages an Rothschild
28 Klages an Rothschild
29 Rothschild an Klages
30 Klages an Rothschild
31 Rothschild an Klages
32 Rothschild an Klages
33 Klages an Rothschild
34 Rothschild an Klages
35 Rothschild an Klages
36 Klages an Rothschild
37 Rothschild an Klages
38 Klages an Rothschild
39 Rothschild an Klages
40 Rothschild an Klages
41 Klages an Rothschild
42 Rothschild an Klages
43 Klages an Rothschild
44 Rothschild an Klages
45 Rothschild an Klages
46 Klages an Rothschild
47 Rothschild an Klages
48 Klages an Rothschild
49 Rothschild an Klages
50 Rothschild an Klages
51 Klages an Rothschild
52 Klages an Rothschild
52a Anhang
53 Rothschild an Klages
54 Klages an Rothschild
54a Anhang
55 Rothschild an Klages
56 Rothschild an Klages
57 Rothschild an Klages
58 Rothschild an Klages
59 Klages an Rothschild
60 Rothschild an Klages
61 Rothschild an Klages
62 Klages an Rothschild
62a Anhang
63 Rothschild an Klages
64 Klages an Rothschild
65 Rothschild an Klages
66 Rothschild an Klages
67 Klages an Rothschild
68 Rothschild an Klages
69 Klages an Rothschild
70 Rothschild an Klages
71 Rothschild an Klages
72 Klages an Rotschild
73 Klages an Rothschild
73a Anhang
74 Rothschild an Klages
75 Klages an Rothschild
76 Rothschid an Klages
77 Rothschild an Klages
78 Klages an Rothschild
79 Rothschild an Klages
80 Rothschild an Klages
81 Klages an Rothschild
81a Anhang
82 Rothschild an Klages
83 Klages an Rothschild
84 Rothschild an Klages
85 Klages an Rothschild
86 Rothschild an Klages
86a Anhang
87 Klages an Rothschild
87a Anhang
88 Rothschild an Klages
89 Klages an Rothschild
90 Rothschild an Klages
91 Rothschild an Klages
92 Klages an Rothschild
93 Rothschild an Klages
94 Rothschild an Klages
95 Rothschild an Klages
96 Klages an Rothschild
97 Rothschild an Klages
98 Rothschild an Klages
99 Klages an Rothschild
100 Klages an Rothschild
101 Rothschild an Klages
102 Rothschild an Klages
103 Klages an Rothschild
104 Rothschild an Klages
105 Rothschild an Klages
106 Klages an Rothschild
107 Rothschild an Klages
108 Rothschild an Klages
109 Klages an Rothschild
110 Rothschild an Klages
111 Klages an Rothschild
112 Rothschild an Klages
113 Rothschild an Klages
114 Klages an Rothschild
115 Klages an Rothschild
116 Rothschild an Klages
117 Rothschild an Klages
118 Rothschild an Klages
119 Klages an Rothschild
120 Rothschild an Klages
121 Klages an Rothschild
122 Rothschild an Klages
123 Rothschild an Klages
124 Rothschild an Klages
125 Klages an Rothschild
126 Klages an Rothschild
127 Rothschild an Klages
128 Rothschild an Klages
129 Klages an Rothschild
130 Rothschild an Klages
131 Klages an Rothschild
132 Rothschild an Klages
133 Rothschild an Klages
134 Klages an Rothschild
135 Rothschild an Klages
136 Rothschild an Klages
137 Rothschild an Klages
138 Klages an Rothschild
139 Rothschild an Klages
140 Klages an Rothschild
141 Rothschild an Klages
142 Klages an Rothschild
143 Rothschild an Klages
144 Klages an Rothschild
145 Rothschild an Klages
146 Klages an Rothschild
147 Rothschild an Klages
Literatur
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Briefwechsel 1929–1956: Eingeleitet und herausgegeben von Astrid Thome
 9783495995495, 9783495995488

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Klages | Rothschild

Briefwechsel 1929–1956 Eingeleitet und herausgegeben von Astrid Thome

https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Ludwig Klages | Friedrich Salomon Rothschild

Briefwechsel 1929–1956 Eingeleitet und herausgegeben von Astrid Thome

https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99548-8 (Print) ISBN 978-3-495-99549-5 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Inhaltsverzeichnis

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages . . . . .

25

Der Beginn des Briefwechsels . . . . . . . . . . . . . . . .

28

Klages’ Einstellung Rothschild gegenüber . . . . . . . . . .

29

Klages’ Einfluss auf Rothschild . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Die Geistesfeindschaft Klages’ und die speziellen Erwiderungen Rothschilds . . . . . . . . . . . . . . . .

41

Geist und Leben und die damalige Moderne . . . . . . . . .

41

»Der Geist« bei Klages und Rothschilds »Selbstbehauptung«

42

Der Pupillendialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Abschließendes zum Pupillendialog . . . . . . . . . . . . .

53

Zur Herausgabe der »Symbolik des Hirnbaus« im Jahre 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

55

Rothschilds Positionen in der Neurologie . . . . . . . . . .

69

Rothschilds Position zur Zentren- und Reflexlehre . . . . . .

70

Von der Plastizität des Nervensystems . . . . . . . . . . . .

72

Kortikozentrismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76

Rothschilds Vorgehensweise an Einzelthemen erläutert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Faserkreuzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Faltungen der Großhirnrinde . . . . . . . . . . . . . . . . .

82

5 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Inhaltsverzeichnis

Richtung der Flächenentwicklung . . . . . . . . . . . . . .

83

Das Kleinhirn der Mormyriden (Nilhechte) und der Forellen

85

Die Insula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

91

Zu den Phänomenologien der Wahrnehmung . . . . . . . .

91

Das klassische Wahrnehmungsverständnis . . . . . . . . . .

92

Vom Baum, den ich sehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

Die Entwicklung des Wahrnehmungsverständnisses bei Klages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96

Rothschild: Wahrnehmung und Erlebnisvorgang . . . . . . .

104

Virtuelle Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

109

Die Physiologie der virtuellen Bewegung . . . . . . . . . .

115

Rothschild und die virtuelle Bewegung . . . . . . . . . . . .

119

Emigration Rothschilds . . . . . . . . . . . . . . . . . .

125

Klages’ Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131

Klages und die Kosmische Runde . . . . . . . . . . . . . . .

131

Anlässe für antisemitische Ressentiments . . . . . . . . . .

134

Schuler-Einführung und Erwiderung(en) . . . . . . . . . . .

137

Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956 . . . . . . . . . . . . . .

147

Editorische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

147

Rechtschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

Zur Briefkennzeichnung verwendete Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

Der Briefwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419

6 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Einführung

Der hier veröffentlichte Schriftwechsel ist mit seinen 147 Briefen und Postkarten und 11 Briefanhängen sehr umfangreich und führt – was die Erörterung psychophysiologischer und philosophischer Fragen betrifft – in die Entstehungsgeschichte umfassender Theoriegebilde, und er lässt zugleich spüren, wie abhängig diese Theorien von den Vorannahmen, der Offenheit oder Perseveranz der Diskurspartner sind. Der Briefwechsel zeugt von ihren Anstrengungen, die übli­ chen Wege des Denkens und der Wissensgenerierung zu verlassen, genauer: in Frontstellung zum Üblichen der Methoden Fragen nach­ zugehen wie dem Verhältnis zwischen der Umgebung des Menschen und seiner innerorganismischen Verfassung, der Wahrnehmung, der Existenz des Außen im Inneren, der Notwendigkeit von Selbstbe­ hauptung und Hingabe. Gleichzeitig kommt er bis fast zuletzt nicht an die Spannung heran, die sich auftun müsste zwischen einem antisemitischen Philo­ sophen und einem jüdischen Wissenschaftler während des National­ sozialismus. Der Brief- und Gedankenaustausch geschah zwischen dem Phä­ nomenologen, Lebensphilosophen und Graphologen Ludwig Klages (1872 Hannover – 1956 Kilchberg bei Zürich) und dem Psychoanaly­ tiker und Neurologen Friedrich Salomon Rothschild (1899 Gießen – 1995 Jerusalem), wobei in dieser Korrespondenz und ihrem besonde­ ren geistesgeschichtlichen Umfeld der Graphologie von Klages fast gar keine Bedeutung und der Psychoanalyse Rothschilds nur wenig Bedeutung zukommt. Es geht eher um das Aufeinandertreffen eines besonderen Welt- und Menschenverständnisses der Ausdrucks- und Erscheinungslehre Klages’ und seiner Rezeption durch einen 27 Jahre jüngeren, einen sich positivistischer Erkenntnisse zwar bedienender, aber eine andere Sichtweise auf die scheinbar objektiv gegebenen Naturdinge entwickelnden Neurologen. Beiden kommt heute wenig Aufmerksamkeit zu. Klages trifft auf zwiespältiges Interesse: Als Denker, der sich außerhalb des Wis­

7 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Einführung

senschaftsbetriebs etabliert hatte, setzt sich seine Außenseiterposi­ tion fort (Behnke 1999). Der pauschal und grob gefällte Vorwurf des antiaufklärerischen und antirationalistischen Denkens hat einer differenzierteren Sicht seines Werks Platz gemacht.1 Gleichzeitig wird sein Antisemitismus offener sichtbar, der nicht mehr der von Klages und seinem ersten Nachlassverwalter Hans Eggert Schröder induzierten Lesart folgt und als Antijudaismus beschönigt, sondern mehr und mehr in seiner extrem-rassistischen Qualität erkannt wird (Faber 1994; Pauen 1996; Kotowski 2001; Lebovic 2006, 2011, 2013; Leo 2013). Rothschild wird dessen vollends erst durch seinen Nachbarn in Jerusalem, Gerschom Scholem, gewahr. Als Rothschild Klages in einem deutlich und beharrlich formulierten Brief (15.05.1951 [130 R]) damit konfrontiert, erhält er die übliche abwiegelnde Antwort. Es kommt zwar zu keinem Abbruch der Beziehung, aber der Briefkontakt wird seltener. Ein Kapitel des den Briefen vorangestellten erläutern­ den Essays befasst sich mit Klages’ Antisemitismus. Friedrich Salomon Rothschild wird weitaus weniger Aufmerk­ samkeit zuteil als seinem zwiespältigen Briefpartner. Da er heute nahezu unbekannt ist und die Veröffentlichung des Briefwechsels zuerst auf seinen Nachlass zurückgeht, wird seine Person und sein frühes Werk, das sich in den Briefen spiegelt, eingehender erörtert: Wissenschaftshistorisch hat sich allmählich der Umstand Geltung verschafft, dass er einen ersten Ansatz der Biosemiotik Anfang der 1960er-Jahre entwickelt hat. Dies wird auch anerkannt von den heutigen Biosemiotikern, die ihr Fach wie der spätere Rothschild als transdisziplinär verstehen, von ihrer wissenschaftlichen Provenienz her u.a. Biologen, Biochemiker, Interaktionsforscher, Anthropologen, Psychologen und Philosophen sind und sich auf eine jüngere Tradition beziehen (Kull 1999, Anderson 2003, Favareau 2010). Das zentrale Nervensystem und das Gehirn in Aufbau und Funktion als sinnhaften Ausdruck des Verwobenseins von Mensch und Umwelt auszulegen, war der erste Schritt einer biosemioti­ schen Deutungsarbeit, die Rothschild zunehmend dazu veranlasste, die Kommunikation in lebendigen Systemen als das die Evolution bestimmende Prinzip anzunehmen, auch auf mikroorganismischer 1 An herausragender Stelle stehen hier der Phänomenologe Hermann Schmitz, der Philosoph Gernot Böhme und sein Bruder, der Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme (s. Behnke 1999), Michael Pauen (1994, 2007), Michael Großheim (1994) und Thomas Behnke (1999).

8 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Einführung

und -zellulärer Ebene. Die Allgegenwart von Kommunikation und die Deutung von symbolisch und ikonisch komprimierter Information bilden auch das Fundament der heutigen Biosemiotiker. Kehren wir zur Widerständigkeit zurück, dem derjenige, der sich mit Rothschilds Arbeit befassen will, begegnet. Einer umfangreiche­ ren Rezeption seines Werkes steht mehreres entgegen: eine sich dem einzelnen rezipierenden Wissenschaftler entziehende Weite und Fülle des Befundmaterials, eine besondere Methodik, mit der Rothschild naturwissenschaftlich-medizinisch erhobene Daten und Befundver­ knüpfungen als sinnhaften Ausdruck der Beziehung zwischen dem Menschen bzw. Wirbeltierindividuum und seiner Umgebung deutet und die wenig Ähnlichkeiten mit anderen Diskursen aufweist, und eine Sperrigkeit der Sprache – oftmals von ihm selbst bemängelt –, die u.a. dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass seine Ausführungen in sprachlich schwerlich und ohne die übliche Anschaulichkeit erfassbare Gebiete der Körper-Geist-Relation vordringen, wie es vor ihm keiner getan hat. Als nicht völlig einschätzbar störend erweist sich sicherlich auch seine Nähe zu Ludwig Klages2, die sich in Rothschilds Denken in wesentlichen Kernpunkten weitaus weniger als vermutet realisiert. Inwieweit und in welchen Details er sich von Klages hat anregen las­ sen, wird im vorliegenden Buch erörtert, u.a. im Kapitel »Klages’ Ein­ fluss auf Rothschild« (S. 33ff.). In die Zeit des Briefwechsels fällt die Abfassung zweier Werke Rothschilds: »Die Symbolik des Hirnbaus« (1935) und »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« (1950). Beide Male war Klages zentral in die Verlagssuche einbezo­ gen, beide Bücher haben eine hervorgehobene Position im Schrift­ wechsel, die Diskussion der ›Symbolik‹ bestimmt einen Großteil des ersten Teils des Schriftwechsels, der ca. ein Jahr nach der Emigration Rothschilds nach Palästina, 1936, endete. Ähnliches wiederholt sich im zweiten Teil des Briefwechsels (1947 bis zu Klages’ Tod 1956) in Bezug auf die ›Regulation‹. Im Begleittext dieser Briefe wird der Versuch unternommen, die Denkweise und Argumentation Rothschilds, wie sie in der »Symbolik des Hirnbaus« ihre Exposition findet, ansatzweise und in knappen Beispielen nachzuvollziehen. So würdigt Donald Favareau Rothschild umfassend, meint jedoch, er habe Klages’ grundlegende Polarisierung zwischen dem Leben und dem seelezersetzenden Geist akzeptiert und beibehalten (Favareau 2010, S. 448ff.), was zu keinem Zeitpunkt in Rothschilds Arbeit der Fall war. 2

9 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Einführung

Es findet sich ein kleiner Fundus an Briefen von an der Arbeit Rothschilds interessierten Personen im Nachlass Rothschilds, dank dessen die besonderen Mühen und das farbenreiche Zusammenwir­ ken einer kulturell heterogenen Gruppe dokumentiert werden konnte, die dafür eintrat, für die »Symbolik des Hirnbaus« im Jahr 1934 und zu Beginn des Jahres 1935 einen Verlag zu finden. Kommen wir nochmals zu den Gründen zurück, deretwegen sich Rothschilds Werk einer zügigen und breiten Rezeption verweigert hat. Er macht sich des Weiteren in der nicht ungenormten Wissen­ schaftswelt einiger Tabubrüche schuldig: Als eine Konsequenz seiner Denk- und Forschungsarbeit entwickelt der spätere Rothschild3 eine Art theistischer Metaphysik, die sich an den Husserlʼschen Begriff der ›Transzendentalen Subjektivität‹ anlehnt. Hat zu Beginn seiner psychophysiologischen und philosophischen Arbeit noch die säkula­ risierte Mystik der Klagesʼschen Lebensphilosophie eine besondere Anziehung auf Rothschild ausgeübt, so geht er später aus dieser Mystik hinaus in ein expliziteres Gottesverständnis. Verglichen mit anderen philosophischen Positionen gibt sich Rothschild weder mit agnostischen Abspaltungen und Ausklammerungen zufrieden, noch vertritt er eine pantheistische Gottesvorstellung.4 Ebenfalls dürfte sich angesichts seiner Hinwendung zur Parapsy­ chologie oder besser seines Versuchs, auch parapsychologische Phä­ nomene in seine Konzeption des polarisierten Erlebens zu integrieren, skeptische Distanz eingestellt haben vor allem bei jenen, die nicht oder nur wenig mit den Inhalten seines Denkens vertraut waren. Angesichts dieser Widerstände ist die Rezeptionsgeschichte Rothschilds schnell erzählt: Seit Beginn seiner Veröffentlichungen finden sich prominente Rezensenten seiner Arbeit. Am Anfang steht eine ausgesprochen ausführliche Besprechung seines ersten umfang­

3 Vom ›späteren‹ Rothschild ist die Rede, wenn es um sein Werk ab 1960 geht, das außerhalb des von den Briefen betroffenen Zeitraums liegt. 4 Gabriele von Bülow und Irma Schindler sprechen in ihrer Monographie zu Roth­ schild von einer »Dialektik von Transzendenz und Immanenz«: »Gott ist transzendent in seinem jenseits der Schöpfung liegenden Urgrund; er wird weltimmanent im aus­ gesprochenen Schöpfungswort, im Logos. Rothschild selbst bezeichnet sich als Panen­ theisten: alles ist in Gott, Gott ist in allem [...]. Wir treffen hier wieder auf die Denk­ figur [...] Einheit in der Verschiedenheit. Gott ist in der Schöpfung und ist doch nicht einfach identisch mit ihr, geht nicht in ihr auf, wie im Pantheismus« (Bülow & Schind­ ler 1993, S. 115).

10 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Einführung

reicheren Textes »Über Links und Rechts« durch Hans Kunz (1930b).5 Zur 1935 erschienenen »Symbolik des Hirnbaus« äußerten sich eine lange Reihe namhafter Neurologen, zum 1950 erschienenen Werk »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« finden sich Besprechungen wiederum namhafter psychoanalytischer Theoreti­ ker. In den späten 1970er-Jahren ergibt sich ein bis zu Rothschilds Tod 1995 anhaltender Kontakt zu Günter Ammon und seinen Mitar­ beitern. Die eigenständig andere psychoanalytische Nosologie Roth­ schilds und das geteilte Interesse an aus dem Mainstream heraustre­ tenden Körper und Seele, Physiologie/Neurophysiologie und Psyche integrierenden Ansätzen dürfte diese Allianz genährt und befruch­ tet haben. Gabriele von Bülow und Irma Schindler (1993), Mitarbeiter von Günter Ammon, haben dann als einzige den Versuch einer Gesamtwürdigung des Werks von Rothschild unternommen. Die Arbeit bezieht sich in erster Linie auf den späten Rothschild und beleuchtet die epistemologischen und ethischen Konsequenzen, die sich aus seinem besonderen Forschungsunternehmen ergaben. Es findet sich eine Zuordnung zur positivismuskritischen bis antiposi­ tivistischen Erkenntnis- und Wissenschaftsphilosophie, wie sie ab den 1980er-Jahren des letzten Jahrhunderts immer vehementer von einzelnen Natur- und Geisteswissenschaftlern vertreten wurde. Auch ziehen sie damals neuere Erkenntnisse der Neurologie, Biologie und Psychologie hinzu, um die Aktualität Rothschilds zu dokumentieren. Dieser Arbeit ist es zu verdanken, dass der estische Zoologe und Biosemiotiker Kalevi Kull Rothschild für die heutige Biosemiotik ent­ deckte, die sich auf den amerikanischen Philosophen Thomas Sebeok (1920–2001) als ihren Ausgangspunkt bezieht (Kull 1999). Kalevi Kulls Mühe und Anregungen ist es wiederum mitzuverdanken, dass Rothschilds »Laws of symbolic mediation in the dynamics of self and personality« von 1962, die Grundlegung seiner Biosemiotik, in den Bestand grundlegender Texte der Biosemiotik durch Don Favareau aufgenommen wurden (Favareau 2010). Die Anthropologin Myrdene Anderson schließt diesen kurzen Reigen in ähnlicher Weise ab, wie er mit Kunz begonnen hat: mit einer enthusiastischen, gedankenreichen Hans Kunz (1891–1980) war ein Basler Philosoph, Psychologe und Botaniker. Er gründete mit Mitscherlich und Schottlaender 1947 die psychoanalytische Zeitschrift »Psyche« (Kunz 1971). 5

11 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Einführung

Rezension der englischen Übersetzung von Rothschilds letzter Arbeit der »Kommunikation als Anpassung an Gott« – englisch: »Creation and Evolution: an Biosemiotic Approach« (1994).6 Kommen beiden Briefpartnern Außenseiterpositionen im Wis­ senschaftsfeld zu, so nehmen beide heute als neu anmutende Erkennt­ nisse und Auseinandersetzungen vorweg. Unabhängig von ihnen hat das, was zwischen beiden verhandelt wird, in der Philosophie Eingang gefunden, in Unterdisziplinen wie einer ›Neuen Phänomenologie‹ (Schmitz 1998) – diese beruft sich zu einem großen Anteil auf Klages – und der Kognitionsphilosophie. Und es berührt neuere Positionen in der Neurologie. Blickt man zurück und betrachtet die Denkrichtungen und Wissenschaftspositionen, auf die sich Rothschild in seiner Arbeit stützt, so stößt man auf unterschiedlichen Ebenen der vernetzten Wis­ senschaftswelt auf abgerissene Kontinuitäten, zersprengte Innovation und im Keim zerstörten ethischen Wandel. Die Ignoranz, die beispielsweise die Neurologie ihrer eigenen Geschichte und ihren Protagonisten gegenüber an den Tag legt, lässt wissenschaftsintern ethische Haltungen außen vor. So wird nicht des Physiologen Albrecht Bethe als dem ersten Wissenschaftler gedacht, der die Plastizität des menschlichen Gehirns und des ZNS behauptet und zu belegen versucht hat (Bethe 1925). Kurt Goldstein mag als origineller Denker und humanitärer Neuropraktiker aufgeführt werden, aber nicht in seiner besonderen, von der Gestalttheorie ausgehenden Neurologie und der möglicherweise ihr inhärenten Aussagegültigkeiten –, auch wenn Oliver Sacks Goldsteins auf der Flucht vor den Nationalsozialisten geschriebenes Werk »Der Aufbau des Organismus« (1934) 1995 auf Englisch herausgab. Einige dieser durch den Nationalsozialismus abgebrochenen und nicht wieder aufgegriffenen und diskutierten Pfade des Denkens gehören in das Umfeld des Briefwechsels und werden in Teilen im vorangestellten Essay erörtert. Es sind jedoch nicht ›nur‹ die nationalsozialistischen Zerspren­ gungen, die einige oder viele Konzeptansätze in den Humanwis­ senschaften vernichtet haben, Rothschild und andere sind auch im Überhandnehmen des Positivismus und seiner Datenexzesse unter­ 6 Sie schreibt: »If a future semiotics can digest Rothschild’s physical-cum-metaphys­ ical turn – wherein signs also thrive in inorganic realms and where the paranormal is normalized – that putatively possible post-everything, punctuatedly-transformed semiotics might point back to Rothschild as a protosemiotician, if not its protosemi­ otician« (Anderson 2003, S. 302).

12 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Einführung

gegangen. Kaum ein Physiologielehrbuch, kaum ein Neurologielehr­ buch, kaum eines der seltenen Handbücher zur Neurologiegeschichte, kaum ein Psychologiebuch und kaum eine Medizingeschichte, die etwas des damals Neuen jenseits der positivistischen Denk- und Forschungsformen aufgegriffen hätte. Untergegangen ist im Wesentlichen auch das Werk des unga­ rischen Mathematikers und Philosophen Melchior Palágyi, dessen Konzept der ›virtuellen Bewegung‹ im vorliegenden Schriftwechsel prononciert Erwähnung findet. Da die ›virtuelle Bewegung‹ als Vor­ läufertheorie der heutigen sog. Spiegelneurone7 gelten kann, wird sie in ihrer knappen Rezeptionsgeschichte und ihrer detaillierteren Aus­ arbeitung durch Rothschild dargelegt. Da sie die sog. klassische Wahr­ nehmungstheorie in Frage stellt, wird sie in den wahrnehmungspsychophysiologischen und -philosophischen Kontext gestellt, wie er von den Protagonisten und anderen ihrer Zeitgenossen zur Sprache gebracht wurde.

7 Siehe u.a. Bauer 2005, der auch in Zusammenarbeit mit Vittorio Gallese, dem Mit­ entdecker dieser Neurone, die Empathiefähigkeit des Menschen/der Säuger in diesen und anderen neuentdeckten Neuronen und ihren Funktionsweisen repräsentiert sieht.

13 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

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Personen

Friedrich Salomon Rothschild (1899 Gießen – 1995 Jerusalem) Friedrich Salomon Rothschild wurde am 17.12.1899 als ältestes Kind seiner Eltern Berta (geb. Stein) und Hesekiel (Hugo) Rothschild geboren. Er wurde als Sally Rothschild ins Melderegister der Stadt Gießen eingetragen. Sally kommt von Salomon und war in kleinbür­ gerlich-jüdischen Kreisen ein häufiger Vorname. Der Vater war als Kaufmann in einem Konfektionsgeschäft beschäftigt und hat oftmals die Dörfer der Umgebung bereist, um Waren zu verkaufen (Ammon 1989). Rothschild hatte noch einen jüngeren Bruder und zwei jün­ gere Schwestern. Er wollte während seiner Volksschulzeit wie sein Vater Kaufmann werden, und erst ein Lehrer in der zweiten Klasse erwirkte, dass er ab der dritten Klasse ein Realgymnasium besuchen konnte, das er als zweitbester Schüler 1918 mit dem Abitur abschloss (Ammon 1989). Mit seiner Immatrikulation an der Medizinischen Fakultät der Universität Gießen begann Sally Rothschild ein Studium, das Juden in deutschen Städten seit Ende des 17. Jahrhunderts möglich war. Direkt nach der Immatrikulation wurde er jedoch für das letzte Drei­ vierteljahr des Ersten Weltkriegs in die Armee eingezogen. Er gehörte der sog. Frontgeneration an, jener Gruppe von jungen Männern, die sich sehr jung (unter 20 Jahre) am Krieg beteiligen mussten. Dieses Schicksal teilte er mit vielen seiner in etwa gleichaltrigen Zeitgenos­ sen, mit seinem späteren Freund S. H. Fuchs (Foulkes), Leo Löwen­ thal, Ernst Simon, Norbert Elias, Gerschom Scholem und Friedrich Salomon Perls. Da er als Medizinstudent galt, wurde er alsbald abge­ zogen und zur Arbeit in einem pathologischen Institut verpflichtet, um die »Ursache einer tödlichen fieberhaften Erkrankung, die die ganze Armee befallen hatte, zu erforschen« (Ammon 1989, S. 186). Rothschild war später weder von der Religion noch dem Zio­ nismus beeindruckt oder affizierbar. Für seine Jugend und seine geistige und emotionale Entwicklung billigt er jedoch dem Blau-Weiß,

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dem sog. jüdischen Wandervogel, einen entscheidenden Einfluss zu.8 Auch das Engagement im Blau-Weiß teilte er mit einigen seiner Zeitgenossen wie Ernst Simon, Leo Löwenthal und Erich Fromm (Frankfurt), seinem zukünftigen Lehranalytiker, und Norbert Elias (Breslau) (Hackeschmidt 1997). Regulär studierte er in Gießen zwischen 1919 und 1923 Medizin, entschied sich dafür, Psychiater zu werden, verbrachte auch zumindest ein Semester bei Kraepelin in München. Nach dem Studium absolvierte er ein praktisches Jahr in den psychiatrischen Kliniken in Gießen und Berlin-Herzberge. In Berlin kam er wahrscheinlich mit der adlerianischen und der freudianischen Psychoanalyse in Kontakt. Er befand sich alsbald in der besonderen Situation, mit drei unterschiedlich innovativ tätigen Ärzten zu arbei­ ten: Er volontierte bei August Homburger, der eine kinderpsychia­ trische Abteilung an der Heidelberger Universitätsklinik einrichtete und begann, auch die Eltern der Kinder miteinzubeziehen. Zwischen 1925 und bis zu seiner Schließung im Jahre 1928 arbeitete Rothschild als einziger weiterer Arzt im psychoanalytischen Sanatorium von Frieda Fromm-Reichmann in Heidelberg. Dort absolvierte er seine Lehranalyse bei Erich Fromm. Von 1928 bis 1930 konnte er bei dem Neurologen Kurt Goldstein in Frankfurt lernen und im Volontariat tätig sein. In Frankfurt nahm er am Salon-Leben der Stadt mit seinen Kränzchen und Diskussionsgruppen teil. In diese Zeit fällt die Aufnahme des Kontakts mit Ludwig Klages und der Beginn seiner eigenen konzeptionellen neurologischen Arbeit. Der zehn Jahre jüngere Bruder Rothschilds emigrierte sofort nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten über die Schweiz nach Palästina, denn er war zuvor in Schlägereien mit Nazis verwi­ ckelt. Ebenfalls 1933 floh die in Elberfeld lebende Schwester zusam­ men mit ihrem Ehemann über Antwerpen nach Palästina. Der in Berlin lebenden Schwester gelang die Flucht nach London erst kurz »Wenn ich meine geistige Entwicklung überblicke, möchte ich einem Faktor eine besondere Bedeutung beilegen, der Sie vielleicht erstaunen wird. Es war meine Zuge­ hörigkeit zu der zionistischen Jugendbewegung des Blau-Weiß und meine Beteiligung an den in solchen Gruppen üblichen Wanderungen. Mit neunzehn Jahren war ich in das KJV (Kartell Jüdischer Verbindungen) eingetreten und dort erhielt ich den Auftrag, in meiner Heimatstadt Gießen, wo ich auch Medizin studierte, eine Blau-WeißGruppe zu organisieren. Durch die mit dieser Gruppe gemachten Wanderungen ent­ wickelte sich bei mir eine tiefe Liebe zur Natur. Ich spürte die Schönheit der Landschaft, das Leben des Waldes, die Stimmungen des Wetters in einer Weise, dass ich anfing, Gedichte zu schreiben.« (Rothschild 1989b, S. 191). 8

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vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Rothschild emigrierte in etwa zeitgleich wie seine Eltern, im Herbst, nachdem seine »Symbolik des Hirnbaus« im Mai 1935 bei S. Karger erschienen war. Er heiratete 1936 Margot Hellmuth, eine Ärztin, die bereits 1933 nach Frankreich geflohen war, dort illegal lebte und 1935 nach Palästina ausreisen konnte. Nach einer gewissen Zeit der Orientierung entschieden sich Rothschild und seine Frau dafür, in Jerusalem zu leben. Ihre unmittel­ baren Nachbarn waren Gerschom Scholem und Hugo Bergmann mit ihren Familien. Rothschild arbeitete vorwiegend als Psychoanalytiker, ab 1948 zusätzlich als Hochschullehrer an der neu gegründeten Jeru­ salemer Universität, die ihn 1955 zum »Clinical Associate Professor of Psychiatry« ernannte. Die evolutionäre Entwicklung des ZNS als Zeichensystem ist mit der ersten größeren Arbeit über »Links und Rechts« (1930) das for­ scherische Programm Rothschilds. Es kommt zu immer wieder neuen Rekapitulationen früherer Konzepte, zu geringfügigen Abwandlun­ gen und zu klareren Neuformulierungen, als deren entscheidendste man die Herausbildung der Biosemiotik, deren programmatischer Anfang im Jahr 1961 liegt, verstehen kann. »Kommunikation […] als die Grundrelation in den Naturprozessen« tritt als übergeordnete Denkfigur an die Stelle der Kausalität (Rothschild 1986, S. 7). Die harten Fakten, die Daten des in den Naturwissenschaften vorherr­ schenden Denkens und Analysierens sind in diesem Denken die End­ produkte von zwischen Außen- und Innensystemen vermittelnden Prozessen, die in ihrem Werden und ihrem Zeichencharakter ver­ standen werden sollen. Rothschild schreibt: »Die im Geiste von Descartes entwickelten Wissenschaften der Neuzeit nehmen als ihre Grundlage die gegebe­ nen Tatsachen und suchen nach den Ursachen, die diese Tatsachen verändern. Die Biosemiotik geht von einer anderen Einstellung aus. Sie fragt von den Tatsachen nach ihrem Ursprung, von dem Entstan­ denen nach der Entstehung, von dem Gewordenen nach dem Werden und von dem Gegebenen nach dem Geben. Sie läßt sich dabei von der Logik der Zeichenprozesse führen. [...] Äußerung von Sinn und das Verstehen dieses Geäußerten beruhen auf Ausdruck und Mitteilung als einer Ursprungsrelation, die von der Kausalrelation grundsätzlich verschieden ist. Die Logik der Relationen in einem Zeichenprozeß ist triadisch und in einem Dialog tetradisch, nicht aber dyadisch wie die Kausalrelation von der Ursache zu ihrer Wirkung« (a.a.O., S. 19).

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Ludwig Klages (1872 Hannover – 1956 Kilchberg/Zürich) Ursprünglich Chemiker, hat Ludwig Klages nie in seinem ange­ stammten Berufsfeld gearbeitet. Geprägt hat ihn seine Teilhabe am Denk-, Geistes-, Liebes-, Kunst- und Rivalitätsgemisch der Schwa­ binger Bohème des Fin du Siècle und des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts. Einander bedingend entwickelte er damals seine Gra­ phologie und Ausdruckslehre. Die Ausformung seines rassistischen Antisemitismus, dessen Ausmaß nur wenigen seiner zeitgenössi­ schen Anhänger bekannt wurde, lag in dieser Zeit. Als vehementer Pazifist und Kritiker der Umweltzerstörung und des Technologieen­ thusiasmus seiner Zeit – Wald, Wale, Jagd nach Elfenbein, Fellen usw.9 – und mit seinem bewusstseinsphilosophischen Denken übte er insbesondere eine starke Anziehungskraft auf junge Intellektuelle aus, wie solche, die das Zustandekommen des Ersten Weltkriegs in die Verzweiflung trieb.10 Ludwig Klages, der sich explizit antimodern ver­ stand, wurde in seiner Ausdrucks- und Erscheinungswissenschaft für Rothschild wie für viele andere zum Ausweg aus den positivistischen Spiegelungen. Klages verstand sich in der Tradition der romantischen Denker und teilte mit ihnen die Vorstellung der wesensmäßigen Verwobenheit der Dinge und Lebewesen. In allem wiederholt sich mikrokosmisch kosmisches Geschehen. Als Grund für seine Umsiedlung nach Kilchberg bei Zürich gilt der Erste Weltkrieg. Von dort unterhielt er ein kleines graphologi­ sches Unternehmen – mit Auftragszuweisungen an andere, von ihm ausgebildete Graphologen – und arbeitete seine Phänomenologie, Charakterkunde und Metaphysik weiter aus. Er pflegte ausführliche wissenschaftliche Kontakte, was sich u.a. in einem übergroßen Brief­ aufkommen dokumentiert (ca. 75.000 Briefe). Der große, alles andere zuzudecken scheinende Schwerpunkt im Denken Klages’ ist die Geist-Seele-Dichotomie, die Behauptung, der Geist, der Begriff, mit dem er letzten Endes das Judentum gleichsetzte, zerstöre als lebensfeindliches Element das ursprünglich friedvolle, rezeptive, ›pathische‹ Leben des Menschen. Tatsächlich erscheint 9 Z.B. im Beitrag »Mensch und Erde«, den er für die Zusammenkunft, den die ›Freideutsche Jugend‹ im Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner organisierte, bei der Klages persönlich nicht in Erscheinung trat, verfasst hatte. Der Aufsatz findet sich jedoch in dem bei Eugen Diederich erschienenen Tagungsband. 10 Werner Fuld (1981) geht z.B. dem Einfluss nach, den Klages über beides – Pazifismus und Bewusstseinspsychologie – auf Walter Benjamin hatte.

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Georg Lukács’ Zuschreibung im berühmten, wegen seiner Einseitig­ keit kritisierten Werk »Die Zerstörung der Vernunft« völlig berech­ tigt, wonach »(d)ie ganze Philosophie von Klages [...] nur eine Varia­ tion dieses einen primitiven Gedankens« und vor Klages »die Vernunft [...] noch nie so offen und radikal bekämpft worden« sei (Lukács 1954, S. 458). Der von Klages und seinen Epigonen als Anti­ judaismus apostrophierte rassistische Antisemitismus dürfte biogra­ phische Grundlagen haben und eine Verschiebung seiner vernichten­ den Erlebnisse mit überwältigenden und Ohnmacht erzeugenden Personen und Ereignisse der frühen Kindheit und Jugend auf seine ihm nächsten jüdischen Freunde Theodor Lessing und Karl Wolfskehl aus der Schwabinger Zeit sein, die dann zu einer in die Universalge­ schichte des Denkens transponierte Täter-Opfer-Dynamik wird. Diese nicht ernst genommene Kausalität in Klages’ Weltan­ schauung bzw. der von Klages selbst geleugnete, jedoch vorhandene Antisemitismus in seiner rassistischen Komponente haben dafür gesorgt, dass Klages als Philosoph in der Schulphilosophie kaum rezi­ piert und wahrgenommen wird. Unbeachtet blieben so auch durchaus bemerkenswerte Seiten seines Denkens wie »die Wirklichkeit der Bil­ der« (s. S. 37ff.), seine Auffassung von der Vorgängigkeit der Fremd­ wahrnehmung gegenüber der Eigenwahrnehmung in der menschli­ chen Ontogenese (s. S. 98ff.), die deutlich stärkere Betonung der zwischenmenschlichen Bedingtheit psychischen Geschehens gegen­ über dem Intrapsychischen und die Rezeption und Verbreitung der Schriften Palágyis. Diese Aufzählung ist kursorisch und dürfte um einiges anderes ergänzbar sein. Es gibt in Klages’ Denken eine Zwei­ teilung: eine klare, zumeist auch zwanghaft genaue Denkweise und eine sich von antisemitischem Ressentiment nährende Polemik. Da der Graphologie Klages’ in den hier veröffentlichten Briefen keine Relevanz zukommt, wird darauf nicht eingegangen. Eine knappe Erörterung finden an geeigneten Stellen »die Wirklichkeit der Bilder«, Melchior Palágyi, einige metapsychologische Erwägungen und das, was das Werk als Hauptstrang durchzieht, der Kampf gegen den Geist.

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Melchior (Menyhért) Palágyi (1859 Paks/Ungarn – 1924 Darmstadt) Die Konzepte Palágyis, als dessen Provenienz Mathematik, Physik und Philosophie gelten, finden heute, selbst in wissenschaftshistori­ schen Zusammenhängen kaum Erwähnung. Als jemand, der Ein­ wände gegen die Spezielle Relativitätstheorie Einsteins vorbrachte und diese aber missverstanden haben soll, wird er zuweilen genannt. Der Kulturtheoretiker Stefan Rieger verortet ihn hingegen im Vorfeld der Systemtheorie und erachtet ihn als »figura cryptica einer episte­ mischen Latenz« (Rieger 2003, S. 111). Palágyi bezichtigt die zeitgenössische Psychologie des Verhaf­ tetseins mit dem englischen Empirismus, der in seiner extremen Ausformung in George Berkeleys »esse est percipi aut percipere« die Möglichkeit, Wirkliches zu erkennen, auf den Gegenstand der Wahrnehmung reduziert. Er schreibt: »[...] die ganze sinnliche Erscheinungswelt wandert mit Haut und Haaren in das Bewußtsein hinein und wird zu einem bloßen Bewußtseinsprodukt, so daß die Existenz einer außerhalb des Bewußtseins bestehenden materiellen Welt geleugnet werden kann« (Palágyi 1907, S. 6). Das moderne Denken, insbesondere die Psycho­ logie – »zum großen Teile Empfindungsscholastik, Assoziationsscho­ lastik, Apperzeptionsscholastik« – unterscheide den ›anorganischen Naturvorgang‹, den ›Lebensprozess‹ und die ›psychische Tätigkeit‹ begrifflich nicht genügend voneinander und gebrauche »gewisse Kunststücke [...] um uns die Fragen zu verdunkeln, mit welchen wir uns eigentlich befassen sollten«, das seien u.a. die realen physiologi­ schen Vorgänge von Leistungen, die dem immateriell gedachten Bewusstsein zugesprochen werden (a.a.O., S. 174f.). Nach Palágyi wird dem Empfinden im englischen Empirismus die Körperlichkeit entzogen, »die sensorischen Prozesse werden ihres vitalen Charakters beraubt, um zu psychischen Prozessen gestempelt zu werden«, weswegen in der Folge kein Zusammenhang zwischen Empfindung und »lebendiger Bewegung« hergestellt würde (Palágyi 1925, S. 40). Eines seiner wichtigsten Konzepte ist das der ›eingebildeten‹ oder ›virtuellen‹ Bewegung. Es zeigt eine Verbindung auf zwischen aktiver Bewegung, Gefühlen der Selbstbewegung, Empfindung und Wahrnehmung. Da es vor allem über Klages Rothschild affizierte und er es in seine Neurologie hinübernahm, wird es später eingehend erör­ tert. Vermutlich bildet die ›eingebildete‹ oder ›virtuelle Bewegung‹

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Palágyis den mehr und mehr vergessenen Anlass und Hintergrund dafür, wenn die Vorgänge des Wahrnehmens und der Bewegung in ihrer reziproken Bedingtheit verstanden bzw. in eins gesetzt werden wie bei Viktor von Weizsäcker oder Jean Piaget. Klages lernte Palágyi beim Philosophenkongress 1908 in Heidel­ berg kennen. 1924 besuchte Palágyi Klages in Kilchberg. Sie zogen es in Erwägung, ein gemeinsames Lehrinstitut »bei voller Wahrung auseinandergehender Anschauungen« zu gründen, so Klages im Brief vom 11.2.1949 an Rothschild. Bevor es zu einem Gegenbesuch Klages’ hätte kommen können, verstarb Palágyi plötzlich an einem Schlaganfall. Klages sah in Palágyi einen Geistesverwandten. Es dürfte der von ihm am meisten geachtete und geschätzte Zeitgenosse gewesen sein. Er schreibt über ihn: »Tief­ baukenner haben oft von dem zugleich spannenden und beglückenden Gefühl erzählt, das die Tunnelarbeiter ergreift, wenn sie in der Unter­ welt des Berges zum erstenmal die Arbeitsgeräusche der Genossen des Gegenstollens vernehmen. Dem mag ein wenig das Gefühl des Forschers ähneln, der das neue Weistum, das er erbohrt zu haben glaubt, plötzlich auf einem ihm unbekannten Wege erschlossen sieht durch einen zweiten Forscher! So nun erging es dem Verfasser mit mehreren Ergebnissen Melchior Palágyis. An verschiedenen Stellen hat dieser große Denker die atomistische Wahrnehmungstheorie ins Wanken gebraucht, durch nichts aber folgenschwerer als mit seiner Lehre von der eingebildeten oder ›virtuellen‹ oder vitalen Bewegung« (Klages 1936, S. 110). Ludwig Klages war an der Verbreitung des Palágyi’schen Den­ kens maßgeblich beteiligt, indem er dessen Schriften herausgab und ihm in den eigenen ausführliche Besprechungen zukommen ließ. Da auch Palágyi Jude war, berief sich Klages in seinen Erwiderungen auf den ihm entgegengebrachten Vorwurf des Antisemitismus auch auf diese Beziehung.

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Kurt Goldstein (1878 Kattowitz – 1965 New York) Er formulierte eine systemoffene, einem ganzheitlichen Denken ver­ pflichtete Neurologie. Man könnte auch von einer Gestaltneurologie sprechen, denn er nahm wichtige Impulse der Gestaltpsychologen Adhémar Gelb, Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka auf. 1914 übernahm er die Leitung der neuropathologischen Abtei­ lung am Senckenbergischen Neurologischen Institut in Frankfurt am Main – eine Stiftung Ludwig Edingers. Unter seiner und Adhémar Gelbs Leitung wurde von hier aus während des Ersten Weltkriegs das »Lazarett für Hirnverletzte« geschaffen, in das Soldaten mit Hirnver­ letzungen aufgenommen wurden. Es verfügte über 100 Betten und war anders konzipiert als andere, ähnlichen Zwecken dienende Ein­ richtungen, denn es wurden neben der ärztlichen Behandlung auch »psychologische, pädagogische und berufliche Maßnahmen« zur Ver­ fügung gestellt (Goldstein 1919, S. 2 zit. n. Laier 1996, S. 238). Die menschenfreundliche, die staatlichen Zwecken nicht ange­ passte Arbeit in diesem Lazarett und das besonders sorgfältige Bemü­ hen um den Verletzten, sowohl was die Wahrnehmung der Person, die Diagnostik und das therapeutische Bemühen betrifft, beschreibt Michael Hagner (Hagner 2000, 2006). Das diesem ab 1926 folgende Hirnverletztenheim mit 43 Betten, in welchem Rothschild 1928 ein Volontariat erhielt, setzte diese Arbeit fort. Rothschild leitete das Heim in seiner Eigenschaft als »stellvertretender Direktor« auch zeitweise allein (Rothschild 1989b). Er wohnte dort und hatte das Recht, private Patienten psychoanaly­ tisch zu behandeln. In den 1920er-Jahren waren außer Rothschild zeitversetzt bei Goldstein im Volontariat: Frieda Reichmann, Fritz Perls und Sigmund Heinrich Fuchs (Foulkes). Goldstein erhielt 1930 keine Bettenabtei­ lung am Neurologischen Institut der Universität Frankfurt, weswegen er die Leitung der neu eingerichteten neurologischen Abteilung im Krankenhaus Berlin-Moabit übernahm. Direkt nach der Machtergrei­ fung Hitlers wurde er von der SA in Berlin gefangen genommen und zur Flucht aus Deutschland gezwungen. Mit dem ungewissen Ausgang seiner Flucht konfrontiert, legte er sein neurologisches Konzept in sehr kurzer Zeit schriftlich nieder. Es erschien 1934 unter dem Titel »Der Aufbau des Organismus«.

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Zwischenhändler Wo, wenn nicht hier sollte ausdrücklich hingewiesen werden auf diejenigen, die als Zwischenhändler am Zustandekommen und in der Weitervermittlung von Errungenschaften geistiger Leistungen unermüdlich tätig waren und zumeist im Hintergrund blieben. Ein solcher Mensch war in der Geschichte Rothschilds sicherlich Hans Prinzhorn, der unentwegt Menschen, Gedanken und Denkrichtungen miteinander und auch im internationalen Raum vernetzte. Erwähnt werden sollte auch Christoph Bernoulli, der als Basler Kunsthändler heute nur mehr für die Provenienzforschung im Bereich der Kunst von Interesse zu sein scheint. Und sicherlich gehört auch Kalevi Kull hierher, der Rothschild der biosemiotischen Forschergemeinde nahe­ brachte.

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Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

Zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme mit Klages 1929 war Friedrich Salomon Rothschild bereits Psychoanalytiker, hatte zusammen mit Frieda Fromm-Reichmann (1989–1957) in ihrem psychoanalytisch ausgerichteten Sanatorium gearbeitet und seine Lehranalyse bei Erich Fromm absolviert. Im Rückblick auf diese Zeit assoziiert Frieda Fromm-Reichmann ihren einzigen damaligen Assistenten so eng mit Klages, dass sie ihn Klages nennt: »Then I got one associate, Klages« (Fromm-Reichmann 1989, S. 480).11 Da es in diesem milieuthera­ peutisch organisierten Sanatorium üblich war, abends gemeinsam zu lesen und zu diskutieren12, erscheint es wahrscheinlich, dass Roth­ schild schon hier in Heidelberg Ludwig Klages so intensiv in die gemeinsamen Gespräche einbrachte, dass sie sehr viel später ihrer beider Namen verwechselte. Rothschild blieb über sporadische brief­ liche Kontaktaufnahmen mit Frieda Fromm-Reichmann verbunden, er übersandte ihr seine Veröffentlichungen, aus denen seine weitere intensive Klagesrezeption hervorgeht. Auffällig ist, dass Rothschild, obwohl er in einem der wenigen Modellversuche einer psychoanaly­ tisch durchkonzipierten Klinik als einziger ärztlicher Mitarbeiter neben Fromm-Reichmann arbeitete, in den entsprechenden Histo­ riographien nicht erwähnt wird.13 11 Das Zitat ist einem längeren auf Tonband aufgenommenen Interview entnommen. Die informellen Interviews fanden 1956 in Stanford an mehreren Abenden statt. Sie wurden von Fromm-Reichmanns dortigen Gastgebern Irwin Kasle und Edna Cailie Sott und deren Freundin Jane Weinberg durchgeführt. Ann-Louise Silver veröffentlichte die Transkripte 1989. 12 Man geht davon aus, dass vor allem zionistische und religiöse Texte gelesen wurden (u.a. Siebenhüner 2005, S. 50f.). Notizen von Rothschild (Nachlass Rothschild) ist zu entnehmen, dass an einem Abend »Die Zwölf«, ein Revolutionsgedicht des symbo­ listischen russischen Dichters Alexander Blok, von Erich Fromm vorgelesen und darüber gesprochen wurde. Zwischen Rothschild und Frieda Fromm-Reichmann blieb ein sporadischer, aber beständiger brieflicher Kontakt bestehen (Korrespondenz zwi­ schen Rothschild und Fromm-Reichmann, Nachlass Rothschild). 13 Eine Ausnahme stellt der Beitrag Ursula Engels »Vom ›Thorapeutikum‹ nach Chestnut Lodge. Frieda Fromm-Reichmann (1889–1957)« in der Anthologie »Psy­

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Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

Gerade ist eine Edition der Briefe in Vorbereitung, die sich Lea und Hans Grundig in ihrem, von den Verfolgungs-, Vernichtungsund Kriegsereignissen der Nazizeit zersprengten Leben geschrieben haben. Kurz nachdem sich beide kennengelernt hatten, hielt sich Lea (damals: Langer) zwischen Ende November 1926 und Ende März 1927 im Sanatorium von Frieda Fromm-Reichmann auf. Die Briefe der sich gerade in die Volljährigkeit begebenden Lea aus dieser Zeit zeichnen ein buntes Bild des Lebens im Therapeutikum und ihrer Psychoana­ lyse bei dem ebenfalls noch sehr jungen Friedrich Rothschild (Funk 2022). In den Vorberichten zur Edition wird betont, dass mit den Briefen wohl das bisher wichtigste zeitgenössische Dokument zum Sanatorium in Heidelberg vorliegt (Krenzlin 2022, Funk 2022, S. 92). Nachdem die Klinik von Frieda Fromm-Reichmann 1928 u.a. aus finanziellen Gründen geschlossen wurde, begann Rothschild auf ihre Vermittlung hin als Psychiater und Neurologe mit dem Status eines Volontärs im Hirnverletztenheim zu arbeiten, das der in Frankfurt lehrende Neurologe Kurt Goldstein aufgebaut und betreut hatte. Daneben hatte er privat einige Einzelpatienten in psychoanalytischer Behandlung, wovon er seinen Lebensunterhalt bestritt. Der Kontakt zwischen Rothschild und Klages kam über Kurt Goldstein und den Psychiater und Psychotherapeuten Hans Prinz­ horn zustande. Dieser vernetzte in der deutschsprachigen intellek­ tuellen Welt – teilweise auch international – Gelehrte, Forscher, Künstler und Mäzene miteinander. Allein der Schriftwechsel, den er mit Klages unterhielt, gibt beredt darüber Auskunft.14 Ihm, dem heute wie damals über sein Fachgebiet hinausreichende Publizität als dem Sammler und Kommentator der »Bildnerei der Geisteskranken« (1922) zukommt, war daran gelegen, die Psychoanalyse Freuds mit der Lebensphilosophie und Ausdruckskunde Klages’ zusammenzu­ bringen.15 Klages lebte damals schon seit 1915 in Kilchberg bei Zürich in der Schweiz, unterhielt von dort aus eine kleine graphologische choanalyse in Frankfurt am Main« (1996) dar, in dem Rothschild als Zeitzeuge zitiert wird (Engel 1996, S. 147). 14 Schriftwechsel zwischen Ludwig Klages und Hans Prinzhorn 1920–1933, DLA Marbach. 15 S. u.a. Prinzhorn (1926), »Gespräch über Psychoanalyse zwischen Frau, Dichter und Arzt«. Ähnliches hatte wohl auch Rothschild im Sinn. Seinen letzten Eintrag 1934 – erst 3 ½ Jahre später folgt der nächste Eintrag – beendet er mit der Notiz: »Impuls u. Entwurf zu: Freud und Klages. Ein Beitrag zum Verhältnis zwischen Leib u. Seele« (Tagebuch Handschrift Rothschild, S. 91).

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Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

Zentrale und setzte seine charakterkundlichen und philosophischen Arbeiten fort. Mit Anfragen für Schriftgutachten wandten sich Perso­ nen aus den deutschsprachigen europäischen Ländern an ihn: wegen Fragen der Partnerwahl, für Personalentscheidungen und aus Selbst­ erfahrungsgründen. Es waren dies mittelständische Unternehmer, Industrielle, Offiziere, Kulturschaffende und Geisteswissenschaftler. Es fanden sich auch Psychoanalytiker darunter, die in ihrer eigenen Analyse nicht weiterkamen und sich von einer Deutung ihrer Schrift neue Einblicke in ihr Unbewusstes erhofften. Die meisten langen Schriftwechsel, die sich zwischen Klages und anderen Wissenschaft­ lern entwickelten, gingen von Anfragen zur graphologischen Begut­ achtung aus. Bei kursorischer Durchsicht der in Frage kommenden Korrespondenzen im Nachlass kann man einige Ausnahmen sichten: Dazu gehören Walter Benjamin, Friedrich Salomon Rothschild, Hans Prinzhorn und Hans Eggert Schröder16. Wegen seiner Ausdruckskunde und der darin eingebundenen Graphologie waren Psychoanalytiker überhaupt an Klages interes­ siert, was ihn zu zumindest einem gemeinsamen Seminar mit Hein­ rich Meng17 und zu einer Lesung bei der »Psychologischen MittwochGesellschaft« am 25. Oktober 191118 im Hause Freuds führte. Der Umworbene stand jedoch ablehnend und feindselig der Psychoana­ lyse gegenüber, manchmal offen polemisierend19, häufig sich bedeckt haltend. Prinzhorn unternahm einige Versuche, Klages ansatzweise für die Psychoanalyse zu gewinnen. Diese Versuche wie auch die Vor­ stöße, ihn der Gestaltpsychologie und Kurt Goldstein näherzubrin­ gen, scheiterten. Eine sich zunehmend als deutsch im Gegensatz zu einer jüdi­ schen Psychologie definierende Seelenkunde mit Protagonisten wie Carl Haeberlin, Fritz Künkel, Walter Cimbal fing an, Klages als deut­

Hans Eggert Schröder stand nach Julius Deussen (s. auch Anm. zu Brief 34 R) dem »Arbeitskreis für biozentrische Forschung« in Berlin vor, mit dem die Klagesʼsche Psychologie dem nationalsozialistischen Denken eingewoben werden sollte. Nach dem Tod Klages’ wurde er sein Nachlassverwalter und Biograph. 17 Im letzten der drei sich im Nachlass Klages’ befindlichen Briefe Heinrich Mengs erwähnt dieser einen gemeinsamen Kurs an der »Stuttgarter Werk-Schule« im Jahre 1927. DLA Marbach, Klages’ Nachlass. 61.10993/3. 18 S. Martynkewicz (2006). Offenbar stieß Klages mit seiner Ablehnung der Sexualä­ tiologie Freuds eine erregte Diskussion an. 19 S. Klages, Die Grundlagen der Charakterkunde, 4. Aufl. 1926, Anm. S. 220–224. 16

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Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

schen Gegenpol zu Freud zu installieren.20 Bei diesen Bemühungen blieb Klages selbst stets im Hintergrund, er ließ sich die Zuwendung gefallen und assistierte dabei den anderen. Weder hiervon noch vom Ausmaß der Klagesʼschen Psychoanalysefeindschaft wusste Rothschild, und erst 1951 [s. 130 R] wurde er sich, von Gershom Scholem aufmerksam gemacht, des rassistischen Antisemitismus Klages’ bewusst, auch wenn ihm nicht das volle Ausmaß erschließbar war. Aus anderen Quellen wissen wir, dass Rothschild sich frühzeitig klar darüber war, dass Klages ein wichtiger Teilhaber und Beförderer der »neuen romantischen Bewegung, die Deutschland erfasst hat und für uns Juden so verhängnisvoll wurde«, war, auch wenn er nicht mit den politischen Erscheinungen dieser Bewegung einverstanden sei, so Rothschild an Frieda Fromm-Reichmann am 6.11.1935.21

Der Beginn des Briefwechsels Kurt Goldstein, bei dem Rothschild als Volontärarzt arbeitete, wollte sich vergewissern, ob die lebensphilosophische Einbettung der empi­ rischen Forschungsarbeit, die Rothschild im Hirnverletztenheim durchführte, eine reale Möglichkeit der Deutung hirnphysiologischer Gegebenheiten darstellt. Deswegen wandte er sich direkt an Klages. Den Kontakt hatte ihm Prinzhorn vermittelt. Mit Schreiben vom 11. Mai 1929 bittet er Klages, das in der Anlage mitgeschickte Manu­ skript »über die verschiedene Bedeutung der rechten und der linken Seite des Menschen«22 zu lesen und zu beurteilen, was er selbst nicht könne, da sich der Verfasser auf Klages »allgemeine Anschauungen« stütze.23 Rothschild nimmt erstmalig, zeitnah zu Goldsteins Schrei­ ben, mit dem Brief vom 14.5. Kontakt zu Klages auf [1 R]. Dieser 20 s. Schriftwechsel zwischen Ludwig Klages und Carl Haeberlin im Klages-Archiv, Marbach und Regine Lockot (2002): Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Gießen: Psychoso­ zial-Verlag (Erstausgabe 1985: Fischer). 21 Brief Rothschild an Frieda Fromm-Reichmann vom 06.11.1935, Nachlass Erich Fromm, Erich-Fromm-Archiv, Tübingen. 22 Unter dem Titel »Über Links und Rechts« erschien diese Arbeit Rothschilds 1930 in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Bd. 124, S. 451–511. 23 Wörtlich schreibt Goldstein: »Die Arbeit scheint mir sehr viel Interessantes und vielleicht Wesentliches zu enthalten, doch bin ich persönlich nicht in der Lage sie auf ihren Wert zu beurteilen, da mir die ganze Betrachtungsweise ferner liegt. Ich wäre Ihnen zu ganz ausserordentlichem Danke verpflichtet, wenn Sie die Freundlichkeit

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Klages’ Einstellung Rothschild gegenüber

bestätigt ihm den Empfang des Schreibens am 16.5. und geht schon auf die Arbeit selbst ein: Er könne zum »Reinphysiologischen« nichts sagen, weil er sich hierin nicht auskenne, beschwichtigt ihn jedoch: »[…] der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ist methodisch zulässig und, wie ich nicht bezweifeln möchte, auch erfolgversprechend« [2 K]. Klages bestellt daraufhin bei seinem Hamburger Freund und Buchhändler Kurt Saucke einiges an hirnphysiologischer Literatur, die dieser ihm am 4.7.29 zusendet.24 In diesen kurzen Auszügen vermittelt sich bereits die Problema­ tik des wissenschaftlichen Werks Rothschilds: Es weckt Interesse, die Rezipienten kommen ihm gegenüber aber zu einer nur wenig fundier­ ten Beurteilung, dem Neurologen ist das Klagesʼsche Denken fern, dem Philosophen fehlen die Einblicke in die neurologischen Daten. Und das Rothschildʼsche Unternehmen geht über weltanschauliche Gräben hinweg und scheint Extreme miteinander kompatibel und füreinander fruchtbar werden zu lassen.

Klages’ Einstellung Rothschild gegenüber Zu einem ähnlich umfangreichen und intensiven geistigen Austausch wie mit Rothschild ist es mit keinem anderen der mit Klages in längerem Kontakt gestandenen Medizinern, Philosophen, Human­ wissenschaftlern und Philologen gekommen.25 Dieser Schriftwechsel teilt mit anderen Klagesʼschen Korrespondenzen das Vorwiegen von Zweckgebundenheit, einzigartig ist der über mehrere Jahrzehnte hinweg beibehaltene sachliche Gesprächsduktus und seine relative Unpersönlichkeit, einzigartig auch die Phasen zäher, kleinteiliger haben würden, die Arbeit durchzulesen und mir Ihr Urteil mitzuteilen; ich glaube, dass Sie für den jungen Mann damit ein sehr gutes Werk täten. Es scheint mir für ihn ausserordentlich wichtig, ein sachkundiges Urteil über seine ganze Arbeitsweise zu erhalten, damit er in der Zukunft den richtigen Weg geht und nicht evtl. sich auf einem Irrwege festfährt.« (DLA Marbach, Brief Kurt Goldstein an Ludwig Klages vom 11. Mai 1929, Nachlass Klages 61.9441). 24 Sauckes Brief an Klages vom 4.7.29. 16 Titel einschlägiger Werke enthält das anliegende Verzeichnis der bestellten Separata und Bücher (Briefe Kurt Sauckes an Ludwig Klages, DLA Marbach 61. 11998/19). 25 Die Briefwechsel mit Hans Prinzhorn, Christoph Bernoulli, Kurt Saucke und dem Literaturwissenschaftler Emil Steiger – um nur einige zu nennen – haben teilweise privateren Charakter, sind pragmatischer und weitaus weniger auf derart detaillierte Themen konzentriert.

29 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

Diskussionsabschnitte, wie sie in dem »Pupillendialog« Mitte 1935 vorkommen. Auch Rothschild unterhielt Zeit seines produktiven wissenschaftlichen Lebens viele intensive Briefkontakte. Aber sie waren lange nicht so themenreich wie der Austausch mit Klages und sie umfassten kürzere Zeiträume. Zu kontinuierlichen Korrespondenzen kam es u.a. mit Herbert Binswanger (1900–1975), der von Klages gebeten worden war, Rothschilds Manuskript der ›Regulation‹26 durchzusehen und auf seine wissenschaftliche Dignität hin zu überprüfen, mit dem in die USA emigrierten deutsch-jüdischen Arzt und Psychosomatiker Gott­ hard Booth (1899–1975) und dem ungarisch-britischen Naturwissen­ schaftler, Philosophen und Soziologen Michael Polanyi (1891–1976). Klages pflegte einen diplomatischen Umgang mit Rothschild. Die Vorbereitung, die er dem Arzt Carl Haeberlin in Bezug auf die für ihn vorgesehene Aufgabe angedeihen lässt, Rothschilds Ansichten und Thesen im Buchmanuskript zur »Symbolik des Hirnbaus« auf medizinisch-naturwissenschaftliche Haltbarkeit durchzusehen, kann man noch als sorgfältiges Vorgehen verstehen.27 Klages empfiehlt dem später zur Begutachtung von Rothschilds »Das Ich und die Regu­ lationen des Erlebnisvorganges« (1950) herangezogenen Psychiater Herbert Binswanger bestimmte Formulierungen.28 Man kann sagen, er benutzte Binswanger, um Rothschild das zu raten, was er ihm 26 Das 1950 bei S. Karger in Basel erschienene Werk Rothschilds »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« – im Text jeweils nur als ›Regulation‹ angege­ ben. 27 Eine solche Vorbereitung wird z.B. durch den Brief Klages’ an Haeberlin vom 12.10.1934 (DLA Marbach, Nachlass Klages 61.5116/26) ausgewiesen, in dem er ihm seine Fragestellung bezüglich der »Symbolik des Hirnbaus« erläutert und seine Einschätzung, eingedenk ihrer Begrenztheit wiedergibt. 28 Brief und Beilage Klages an Binswanger vom 18.02.1949, DLA Marbach, Nachlass Klages’ 61.4173/30. Folgender Passus findet sich hier als Formulierungsvorschlag für Binswanger: »Von den Psychotherapeuten werden nur die orthodoxen Freudianer (alten Schlages) das Metapsychologische, soweit es auf den Meister zurückgeht, mitmachen, dage­ gen die im strengeren Sinn erscheinungswissenschaftlichen Teile überhaupt nicht verstehen. Die Neopsychoanalytiker könnten grade für diese Teile gewonnen werden, wenn dieselben nicht mit der Freudʼschen Metapsychologie vermengt wären. Solchen Begriffen wie des Eros, Thanatos, des Nirwanaprinzips usw. werden sie mit Einwänden begegnen, die auch ich teilen müsste und welche, wie ich glaube schwer zu entkräften sind. Die Kritik würde sich dann weniger gegen Sie richten etc.« Man kann diese Stelle als Versuch Klages’ verstehen, sich über Binswanger Rothschilds zu bedienen, um möglicherweise doch noch Anklang bei den (Neo-) Psychoanalytikern zu finden.

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Klages’ Einstellung Rothschild gegenüber

selbst mitteilen wollte und um seine Ansichten zum Manuskript zu verstärken. Im diplomatischen Umgang mit Rothschild scheint sich Unterschiedliches zu vermengen: Klages wollte mit Sicherheit den Juden Rothschild auf Abstand halten. Andererseits verlangte ihm der umfassend angelegte Versuch, seine Phänomenologie für das Verständnis des Zentralnervensystems und seiner evolutions­ geschichtlichen Entwicklung nutzbar zu machen bzw. sogar zum Hauptreferenzpunkt des Funktionsverständnisses werden zu lassen, Respekt ab. So schreibt er schon 1931 an Hans Prinzhorn: »Inzwischen fallen mir so stückweise diese und jene Personen ein, in denen ich ein, wenn auch zaghaftes, Wirken meines Werkes anerkennen würde. Dahin gehört z.B. der Rothschild mit seinen Arbeiten über Links und Rechts [...] Diese Leute denken wenigstens ein jeder auf seine Weise nach und schwätzen nicht bloß Jargon.«29 Man muss sich vielleicht vergegenwärtigen, dass sich Klages außerhalb des universitären Wis­ sensbetriebs etabliert hat, sehr viele Zuhörer und Leser und engere Schüler hatte. Bei seinen Anhängern traf er jedoch auf wenig, ihm adäquate Resonanz. Herbert Binswanger kündigt er Rothschilds Manuskript von »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« im Februar 1947 als Werk an, »das der Tendenz nach vorderhand einsam auf weiter Flur stehen dürfte«.30 Klages ließ sich auf Rothschilds Denken ein, bereitwillig und freigiebig diskutiert er mit ihm – schriftlich und ab März 1930 bei gemeinsamen Treffen – am intensivsten »Die Symbolik des Hirnbaus« (1935) von ihren frühen Stadien an bis zu ihrer Veröffentlichung, die er und seine Freunde und Schüler bewerk­ stelligten.31 In den späten 1940er-Jahren lassen Klages und seine Freunde inhaltlich und organisatorisch ähnliche Sorgfalt Rothschilds Manu­ In seiner eigenen langen Einlassung [115 K] beschränkt sich Klages auf eine begriffs­ geschichtliche Kritik von »Eros«, »Thanatos« und »Nirwanaprinzip«. Binswanger übernimmt nicht wie gewünscht die Klagesʼschen Vorschläge vollständig (Brief Herbert Binswanger an Rothschild vom 20.03.1949, Nachlass Rothschild). Er sendet ihm Harald Schultz-Henckes »Der gehemmte Mensch« (1940) zu – einer der theore­ tischen Hauptbezugspunkte der deutschen Neopsychoanalyse. 29 Klages’ Brief an Prinzhorn vom 27.1.1931, DLA Marbach, Nachlass Kla­ ges 61.6587/2. 30 Klages’ Brief an Binswanger vom 18.2.1949, DLA Marbach, Nachlass Kla­ ges 61.4173/30. 31 Christoph Bernoulli, ein Schüler und Freund Klages’, stellt eine regelrechte Unter­ stützergruppe für Rothschild zusammen (s.u. S. 58ff.).

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Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

skript der ›Regulation‹ (1950) zuteil werden. Kaum dürfte sich dieser Aufwand interesselosem Wohlgefallen verdankt haben. Ob sich Kla­ ges über die ungewöhnliche, in die Naturwissenschaften reichende Verarbeitung seines Denkens bei Rothschild Ansehen innerhalb von Wissenschaftskreisen erhofft hat, die ihm verschlossen geblieben waren, von Neurologen und Psychiatern, die philosophischem und metapsychologischem Denken gegenüber offen waren, kann man ver­ muten. Nach 1945 hat er sich möglicherweise diese Anerkennung von Anhängern einer neopsychoanalytisch gewandelten Psychotherapie erhofft und der Psychoanalytiker Rothschild mit einer sich u.a. auf ihn berufenden gewandelten Krankheitslehre sollte den Weg dahin bahnen. Die eigenen Karrierewünsche haben sich zwischen der ersten (1929–1936) und der zweiten Briefperiode (1947–1956) wahrschein­ lich geändert, hatte es doch Klages mit seiner Charakterkunde und Phänomenologie nicht, wie von Haeberlin und Prinzhorn damals vorangetrieben, zu einer Mitwirkung an oder gar maßgeblichen Gestaltung einer »deutschen Psychotherapie« gebracht. Es fand eine nationalsozialistische Eingemeindung der Psycho­ analyse und Individualpsychologie statt, in denen ihre Begründer Freud und Adler und einige ihrer zentralen Konzeptionen eliminiert und einer Begriffs- und Einstellungsgleichschaltung zum Opfer fielen. Unabhängig davon, ob man die gleichzeitige Entwicklung einer Neopsychoanalyse in Deutschland, deren Protagonist Harald SchultzHencke war, als zur Arisierung der Psychotherapie gehörend ansehen kann oder nicht, dürfte Klages an einer Neopsychoanalyse aus seinen eigenen Theorieerwägungen heraus interessiert gewesen sein, da u.a. die dort erfolgte Ablehnung der Konzeption eines Todestriebs seinem eigenen Denken entsprach [s. 115 K]. Diese mögliche sachliche Abwägung steht sicherlich im Schatten der Rivalität Klages’ mit Freud. Sowohl in seinem ersten als auch in seinem zweiten Werk bezieht sich Rothschild auf zentrale Aspekte des Klagesʼschen Den­ kens. Auch später, als sich seine Grundhaltung Klages gegenüber geändert hatte32, unterließ er es nie, auf ihn als seinen wichtigsten Mentor zu verweisen. Skepsis, wenn nicht sogar große Befürchtungen hegte Klages Rothschild gegenüber wegen dessen bejahender Haltung gegenüber dem Geist, dem Rothschild Selbstbehauptung und Willen subsummiert – Phänomene, die Klages für die lebensfeindlichen Aspekte der menschlichen Zivilisation verantwortlich macht. Dass 32

S.u. S. 384ff.

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Klages’ Einfluss auf Rothschild

es der Geist ist, der aller Naturausbeutung, den Phänomenen Uti­ litarismus, Reifizierung, Spaltung, Krieg und der Zerstörung der Seele unterliegt, dient die große Argumentation seines dreibändigen philosophischen Hauptwerks »Der Geist als Widersacher der Seele«, dessen Erscheinen zwischen 1929 und 1932 in die frühe Zeit der Beziehung zwischen Klages und Rothschild fällt. Genau von dieser großen Hauptlinie weicht Rothschild entscheidend ab. Im Briefwech­ sel wird diese Divergenz im »Pupillendialog« deutlich, der sich im Frühjahr/Sommer 1935 entfaltet. Hierauf und auf andere nachdrückliche Indizien der Roth­ schildʼschen Devianz wird weiter unten eingegangen.

Klages’ Einfluss auf Rothschild Der Einfluss, den Klages auf Rothschild hatte, wurde in der kargen Rezeptionsgeschichte des Rothschildʼschen Werks stärker und ent­ scheidender vermutet, als er wirklich war, was wegen des vielfältigen Misskredits und der Ressentiments, in die Klages und sein Werk aus unterschiedlichen Gründen gerieten, neben anderen Gründen (detaillierte Verknüpfung div. Disziplinen, sperrige Sprache ...) die Wirkungsgeschichte Rothschilds blockierte.33 Der Briefwechsel zwischen beiden macht die Differenzen an unterschiedlichen Stellen deutlich. Das große Thema des Geistes als dem Leben zerstörerisch gegenüberstehendem Antipoden vollzog Rothschild, wie wir sehen werden, partiell, aber nicht in seiner apore­ tischen Totalität nach. Was konnte nun einen jungen Psychiater und Psychoanalytiker dazu bringen, sich Klages anzunähern, zumal er sich schon in einem konzeptionell weiter als das beargwöhnte mecha­ nistische Weltbild gesteckten, wissenschaftlichen Rahmen bei Kurt Goldstein, mit dem er zusammenarbeitete, bewegte? Die Neurologie Der Interaktionswissenschaftler und Biosemiotiker Donald Favareau führt dies in seiner Einleitung zur Wiederveröffentlichung des zentralen Beitrags Rothschilds »Laws of Symbolic Mediation in the Dynamics of Self and Personality« in der von ihm (D. F.) 2010 herausgegebenen Anthologie zur Biosemiotik aus (Favareau 2010, bes. S. 448–451). In derselben Einleitung würdigt er einige der Vorwegnahmen Roth­ schilds, Vorwegnahmen in den Erkenntnissen zum ZNS und Vorwegnahmen von Denkgebilden, die später andere schufen. Hier erwähnt er z.B. Michael Polanyi, der sich in Kenntnis des Rothschildʼschen Werkes auf dieses beziehen konnte (a.a.O., S. 445–448). 33

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Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

weist von Beginn an Körper und Seele integrierende Ansätze auf (Breidbach 1999), und Kurt Goldstein gehört mit seinem Vorgänger am Neurologielehrstuhl der Frankfurter Universität, Ludwig Edinger, in diese Reihe. Diese Neurologie war mit Fragen befasst, die über die reine Feststellung der Fakten hinausgingen, sich auf die Bezie­ hung Mensch bzw. Gehirn und Umwelt bezogen, auf die Funktionen des ZNS in ihrer Vermittlung zwischen körperlicher Innenwelt und außerkörperlicher Realität. Goldstein setzt den Organismus als Mitt­ ler zwischen Innen und Außen an und Symptome als Verschiebung der regulativen organismischen Möglichkeiten. Als Primäraffekt sieht Goldstein die Angst und das Bestreben, diese zu verkleinern, als zentrale Motivation der Kulturleistung, die er aber als Ganzes wiederum nicht epigenetisch der Angst untergeordnet sieht, sondern als Ergebnis menschlicher Verwirklichungstendenz.34 In Rothschilds Neurologie geht vieles auf Goldstein zurück. Dies herauszuarbeiten kann hier nicht geleistet werden. An geeigneten Stellen wird auf solche Zusammenhänge verwiesen, was aber nur rudimentären Charakter hat. Der Neurologe und spätere Nobelpreisträger (1949) Walter Rudolf Hess (1881–1973) beschäftigte sich ebenfalls mit integrativen Konzepten zum autonomen Nervensystem, mit den Regulationen im Inneren des Organismus und zwischen dem Innen des Organismus und der ihn umgebenden Umwelt. Er teilt die regulativen Vorgänge in diejenigen auf, die auf die Beziehung des Individuums mit seiner Umwelt bezogen sind, und solche, deren »Funktionsziel« im Inneren des Individuums zu suchen ist (Hess 1924/25, S. 261). Auch auf ihn bezieht sich Rothschild in seiner ersten großen Arbeit »Über Links und Rechts. Eine erscheinungswissenschaftliche Untersuchung« im Jahre 1930, und diese seine Einteilung klingt nach in Rothschilds Hypothesen zum Erlebnisvorgang in seinem zweiten großen Werk »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges«, »Man wird aber nicht sagen dürfen, diese geordnete Welt [...] sei das Produkt der Angst, etwa wie FREUD die Kultur als Ausfluss der verdrängten Triebe auffaßt. Das würde die produktive Seite menschlichen Tuns ebenso völlig verkennen wie es völlig unverständlich ließe, warum gerade diese bestimmten Formen der Weltgestaltung geschaffen werden, warum gerade diese geeignet sind, Ordnung und Ruhe zu bringen. Das ist nur verständlich, wenn man sie als Ausdruck der schöpferischen Kraft des Menschen betrachtet, als den Ausfluß der Verwirklichung seines Wesens. Nur wenn die Welt adäquat seinem Wesen ist, tritt ja das ein, was wir Ruhe nennen. Diese Ver­ wirklichungstendenz ist das Primäre [...]« (Goldstein 1934, S. 196f.). 34

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Klages’ Einfluss auf Rothschild

das 1950 wie die ›Symbolik‹ 1935 bei Simon Karger erscheint. An solchen Sichtweisen beanstandet Rothschild aber, dass die Fragen immer von dem »primär in sich geschlossen gesehenen Individuum aus aufgerollt« würden, wobei »das Individuumsein« im naturwis­ senschaftlichen Denken dominiere gegenüber dem Verhältnis zur Welt, die als Beziehung zur Umwelt eine untergeordnete Funktion erhielte, gleichsam an das geschlossen gedachte Individuum ange­ hängt würde (Rothschild 1930, 463f.). Mit anderen Worten: Das Pri­ märe sei immer das Individuum, das lediglich sekundär in seinem Umweltbezug gesehen würde. Er beschreibt und kritisiert diese Sicht­ weise weiter wie folgt: Das Außen, »die Umwelt hat die Funktion zu reizen, anzuregen, das eigentlich wirkende Leben liegt aber diesseits der Oberfläche, ist ausschließlich um einen Pol innerhalb des Orga­ nismus zentriert. Die Umwelt stellt mit mechanistisch-energetisch gedachten Mitteln einen Kontakt her und ruft dadurch eine Reaktion hervor. Diese Reaktion hat aber wie jede andere Aktion ihr wirkendes Zentrum einzig und allein in dem betreffenden Organismus« (a.a.O., S. 464). Und den dieser Sicht zuordenbaren, metaphysischen Bezugs­ rahmen kritisiert er als lediglich nach der »zweckmäßigen Einrichtung des Lebens« fragend (ebd.). Eine prägnante Formulierung seines forscherischen Ausgangs­ punktes findet sich in der 1934 in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie veröffentlichten Arbeit »Von der Überein­ stimmung im Aufbau des Zentralnervensystems und des Systems der Hormone«: »Alles Seelenleben ist wesentlich ein Erleben und setzt daher die Pola­ rität von erlebendem Individuum und erlebtem Kosmos voraus. Mit dieser Ausgangsstellung sind wir nicht nur dagegen gefeit, irgend einen vitalen Vorgang innerhalb des Organismus für sich isoliert zu sehen und das sog. Ganze des Individuums aus den Augen zu verlieren – die bekannte Formel der Auflehnung gegen die atomisierende Mechanistik – sondern auch diesen Begriff der Ganzheit, der immer noch den Organismus als Individuum isoliert für sich betrachtet, lassen wir zurück, um stets nur Individuum und Welt als ein polar zusam­ menhängendes Wirkungssystem zur Grundlage zu nehmen. Es gibt kei­ nen vitalen Vorgang, und mag er sich im tiefsten Innern des Leibes vollziehen, in dem nicht auch unmittelbar wirkend oder auslösend das außerindividuelle kosmische Prinzip im Spiele wäre; die Seele und damit auch der Organismus ist ein Mikrokosmos!« (Rothschild 1934, S. 66).

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Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

Der Artikel, aus dem dieses Zitat stammt, findet auch Erwähnung in den Briefen Rothschilds an Klages [s. 58 R, 60 R und 66 R]. Rothschild opponierte damals schon gegen etwas, das bis heute aus Fachrichtungen der Humanwissenschaften – insbesondere der analytischen Gruppenpsychotherapie und der relationalen Psycho­ analyse – bemängelt wird: die selbstverständlich anmutende und naturwissenschaftlich übliche Vorstellung vom Individuum als pri­ märe Gegebenheit. Nachgeordnet erscheint immer die Umgebung, die mitmenschliche Umwelt und das Soziale, auch wenn Rothschild den Kosmos und (noch) nicht die soziale Reziprozität der Einwirkun­ gen im Blick hatte.35 Mit Klages verweigert sich Rothschild den zeitgenössischen Versuchen, Seele und Körper in einen einfach ver­ stehbaren Begriffszusammenhang zu stellen. Umfangreich, kenntnisreich, detailliert und komplex wurde in Partialbereichen der damaligen Hirnforschung versucht zu zeigen, wie die psychische Befindlichkeit und ihre Störungen aus den spezifischen physiologischen Funktions­ zusammenhängen des zentralen und des vegetativen Nervensystems und seinen möglichen Dysfunktionen zustande kommen. Rothschild stimmt weder einem »psychophysischen Materialismus« zu, noch der Annahme einer Wechselwirkung zwischen Psyche und Physis, noch einem psychophysischen Parallelismus, wie ihn Wundt vorschlug, wonach Körper und Seele zwei Seiten, zwei Betrachtungsweisen desselben Geschehens seien (Rothschild 1935, S. 5ff.). Rothschild anerkennt die auf Carl Gustav Carus zurückgehende Vorstellung des Leib-Seele-Verhältnisses Klages’: »Der Leib ist die Erscheinung der Seele, die Seele aber Sinn des lebendigen Leibes«. Rothschild schreibt weiter: »Indem wir von der in der getrennten Auffassung liegenden Verfälschung absehen, erkennen wir, daß alles Leben polarisiert in Leib und Seele gegeben ist, eine Polarität, die in ihrem Wesen metaphysisches Geheimnis ist, die aber für jede Erfor­ schung des Lebens zur Grundlage genommen werden muß. Betrachtet man die Glieder isoliert, wie die Physiologie auf der einen, die Psy­ chologie auf der anderen Seite, dann kann man dem Lebensphänomen selbst nie mehr begegnen, weil man dem elementarsten Zug seiner Erscheinung, der in sich polarisierten Einheit von Leib und Seele, nicht Rechnung getragen hat.« (a.a.O., S. 19) Dies wurde etwas später ausdrücklich und bis heute gültig von Rothschilds Freund der Heidelberger und Frankfurter Zeit, Sigmund Heinrich Fuchs (seit 1938 Foulkes), in seinem Gruppenkonzept ausgearbeitet.

35

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Klages’ Einfluss auf Rothschild

Rothschild hatte kein besonderes Interesse an der Graphologie Klages’, bedient sich aber bei der Beschreibung des ZNS physiogno­ mischer Betrachtungsweisen: Er sucht nach Ähnlichkeiten36 in den morphologischen Strukturen, den anatomischen Formen, den Funk­ tionen, den Nachbarschaften eines anatomischen Gebietes und deutet solche physiognomischen Korrespondenzen und Gegenüberstellun­ gen als sinnfällige Gegebenheiten. Einer solchen Betrachtungsweise unterzieht er auch die Lage des organismischen Teils im ganzen Körper, befindet es sich in seiner Lage oben oder unten, vorne oder hinten und in seiner Funktionsausrichtung nach innen oder außen, nach oben oder unten, nach vorne oder hinten gerichtet. Er bezieht sich des Weiteren auf die Klagesʼsche Formel von der »Wirklichkeit der Bilder«: der Mensch als Teil des Kosmos ist durch­ drungen von den Bildern, wobei das Bild komplex zu verstehen ist als visueller, akustischer, energetischer, taktiler, atmosphärischer und intentionaler Einwirkungsprozess von Außen ins Innere. Die »Wirk­ lichkeit der Bilder« zeigt die nicht-konstruktivistische epistemologi­ sche Position Klages’ an: Die Welt wird nicht erst im menschlichen Bewusstsein konstruiert, sie scheint in ihrer Realität durch das schau­ bare Bild hindurch. So behauptet Klages die »Wirklichkeit der ichun­ abhängigen Bilder« (Klages 1922, S. 82). Der Mensch in seiner Ganzheit wird bei Klages noch vor seinen speziellen Beziehungen zur Umwelt als Durchdringung von Subjekt und Objekt bestimmt.37 Rothschild schreibt: »Für uns dagegen wirkt die Umwelt als eine Welt der Bilder, die wirkenden Mächte äußern sich in Erscheinung und Form, und sie entfalten sich im erlebenden Zur besonderen epistemischen Bedeutung der Relation »Ähnlichkeit« s. u.a. Kla­ ges 1929a, S. 342–367. 37 »Im Gegensatz zur mechanistischen Weltauffassung haben wir als Kennzeichen allen Geschehens die Durchdringung erkannt und demgemäß als Kennzeichen allen Erlebens die Teilhabe. Teilhabe aber, soll dem Namen überhaupt ein Sinn zukommen, besteht in Gegenseitigkeit. Anschauungen insbesondere setzen unter anderem Schauen voraus, und die vollkommene Schau bedeutet in Ansehung des Lebensvor­ ganges die Phase der Einswerdung seiner mit dem Geschehen, dann aber auch in Ansehung des Geschehens eine Phase der Einswerdung mit dem Erleben. Wäre das Geschehen schlechthin seelefremd, es fänden keine Schauungen, folglich auch keine Anschauungen statt und, was immer geschähe, es käme nimmermehr zur Erschei­ nung! Demgemäß ist die Lebendigkeit des Geschehens nicht etwa ›Hypothese‹, son­ dern nicht minder über jeden Zweifel gewiß wie das Dasein anschauungsfähiger See­ len, und nur das will gefragt und entschieden sein, inwiefern das elementare Leben vom Eigenleben abweiche, inwiefern es ihm ähnele und wie der Wechselverkehr zwi­ schen beiden gefasst werden müsse.« (Klages 1932, S. 1121). 36

37 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

Organismus auf Grund eines geheimnisvollen Abgestimmtseins der Wesen aufeinander. Das empfangende Wesen verwandelt sich ent­ sprechend dem Bilde des wirkenden Wesens« (Rothschild 1930, S. 484). Rothschild arbeitet daran, ein – modern gesprochen – ›fusio­ nistisches Wahrnehmungsmodell‹ anatomisch und physiologisch zu begründen.38 Vertreter dieses Modells verstünden die Wahrneh­ mung als vor jeder Subjekt-Objekt-Spaltung liegend und es würde keine Unterscheidung von Organismus und Objekt der Umwelt im Wahrnehmen vorgenommen, so kennzeichnet Toepfer die zentralen Bestandteile dieses Wahrnehmungsverständnisses (Toepfer 2017). Für Rothschild könnte man nun genauer sagen, dass er beide Pole, den der Fusion und den der Subjekt-Objekt-Trennung im Wahrneh­ mungsakt organismisch gegeben sieht. Als passagere körperliche Verschmelzung mit dem empfangenden Bild, die er in bestimmten anatomischen Besonderheiten angezeigt sieht39, versteht Rothschild den ersten Teil des Wahrnehmungsvorgangs, der in eine Trennung, eine Gegenüberstellung durch u.a. das die Statik versichernde Klein­ hirn einmündet. Letzteres bezeichnet er auch als ›eigene Stellung­ nahme‹40, die die Entfremdung ausführt. An der Entfremdung ist die Großhirnrinde über die Faserkreuzung als Organ der Gegenüberstel­ lung, der Objektwerdung des Eindrucks für das empfangende Subjekt, beteiligt, das Kleinhirn in seinem gleichseitigen Faserverlauf gilt ihm physiologisch als Begründung der Selbstbehauptung. – Diese Begriffe werden unten genauer erörtert. An diesem Punkt kommt es bereits zur Abweichung von Klages’ Geistespositionen: So heißt es bereits in der ersten, mit Klages durch­ gesprochenen Arbeit Rothschilds »Über Links und Rechts« (1930), 38 Zur Gegenüberstellung des ›dissoziativen‹ und des ›fusionistischen‹ Wahrneh­ mungsmodells auf einer wissenschaftshistorischen, begrifflichen und phänomenolo­ gischen Ebene siehe die systematische Erörterung von Georg Toepfer »Biologie und Anthropologie der Wahrnehmung. Kopplung und Entkopplung von Organismus und Umwelt« (2017), in: G. Hartung, M. Herrgen (Hrsg.), Interdisziplinäre Anthropolo­ gie. Jahrbuch 2016/4, S. 3–51. 39 Rothschild (1935), Kapitel IX: »Über statische Innervation« mit dem Untertitel »Ein Beitrag zur Physiologie des Labyrinths und des roten Kerns«, S. 213–226. Auf den Bruch mit dem traditionellen Wahrnehmungsverständnis und die Besonderheiten der Unterschiede zwischen Klages und Rothschild in ihrem jeweiligen Wahrneh­ mungsverständnis wird unten ausführlich eingegangen. 40 (Eigene) Stellungnahme, Zug (der Bilder, der Körper) sind Rothschilds Begriffe, die hier nicht »übersetzt« werden, da dies das Gemeinte eher verfälschen würde.

38 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Klages’ Einfluss auf Rothschild

das Kleinhirn gäbe in seiner Betonung des Hier- und Jetztseins »die Grundlage für die durch den Geist bedingte Ichbildung« ab (Roth­ schild 1930, S. 491). Weit ausführlicher werden diese Zusammenhänge im zweiten, mit Klages durchgesprochenen Werk, der »Symbolik des Hirnbaus« (1935), insbesondere im Kapitel zur »Statischen Innervation« darge­ legt. Klages sah wahrscheinlich seine Herleitung und Begründung der lebenszerstörerischen Funktion des Geistes durch Rothschilds Beste­ hen auf einer physiologischen Begründung der Selbstbehauptung gefährdet. Denn der Wille, das Ich und die Selbstbehauptung – das waren für Klages Ausformungen der zerstörerischen Wirkung des Geistes und keine Naturgegebenheiten. Die Durchdringung von Lebewesen und Welt und die allgegenwärtige Bewegung als Deter­ minanten des Lebens wurden Klages nun als durch Hemmung, Widerstandserlebnis, das Beharren, die Dauer und die Statik des Kör­ pers eingeschränkte Mächte vorgeführt. Um diese Fragen dürfte es bei den Treffen in Berlin im Winter 1933/34 gegangen sein. Die vermut­ liche Missbilligung Klages’ und die Beunruhigung Rothschilds finden ein Echo im Brief vom 16.12.1933 [47 R], aus dem hervorgeht, dass Rothschild sich nicht mehr der Unterstützung Klages’ bei seinem Ver­ öffentlichungsvorhaben gewiss war. Klages versicherte jedoch, sich weiterhin für die Arbeit einzusetzen [48 K]. Eine klare Position bezieht Rothschild dann vor allem im Brief vom 11. Januar 1934 [50 R]. Nicht nur der »Zug« der Bilder (s. Anm. 40) wirke in den Orga­ nismus des Wirbeltiers hinein, sondern auch der »Zug« der begeg­ nenden Körper, schreibt Rothschild in einem Brief an Klages, in dem er ausführlich die eigene Sicht darstellt. Dem Empfinden des begeg­ nenden Körpers, nicht nur des einfallenden Bildes gelten die Erläute­ rungen Rothschilds. Verschmelzung und Entfremdung werden kom­ plexer als zuvor zusammengedacht. »Erst indem das Tier seine eigene Antriebskraft der fremdkörperlichen Wirkung gegenüber zu behaup­ ten und durchzusetzen sucht, scheidet sich der eigene von dem frem­ den Körper im Widerstandserlebnis, das daher seinem Wesenskern nach aus dem Gegeneinanderkämpfen zweier sich behauptender materieller Wirkungszentren hervorgeht. Aber nicht, dass er mit fremden Körpern in Widerstreit treten kann – das können nichtorga­ nismische Körper auch – sondern dass er mit ihnen trotz seiner Fähig­ keit zur Gegenbewegung verschmelzen kann, schafft die Möglichkeit zur Entfremdung dieser Wirkung in der Empfindung.« [50 R]

39 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Die Beziehung zwischen Rothschild und Klages

Man mag hier auf der Ebene des Wahrnehmungsvorgangs und seines Erlebnischarakters bereits die späteren ersten beiden biosemio­ tischen Gesetze von Rothschilds »Laws of symbolic mediation in the dynamics of self and personality« von 1962 vorformuliert sehen. Die Evolution bedurfte und bedarf der Selbstbehauptung der Individuen und der Verschmelzung des Individuums mit dem Fremden. Die biologische Zwangsläufigkeit der Selbstbehauptung stellt Rothschild der allgemeinen Geistesfeindschaft Klages’ gegenüber und entzieht dem Denken Klages’ seine ontologisch-biologische Begrün­ dung – auch wenn dieser an unterschiedlichen Stellen behauptet, dieser nicht zu bedürfen.

40 https://doi.org/10.5771/9783495995495 .

Die Geistesfeindschaft Klages’ und die speziellen Erwiderungen Rothschilds

Geist und Leben und die damalige Moderne Im Fin de Siècle durchzieht die Skepsis einer einseitigen Verstandes­ kultur gegenüber alle möglichen Kreise des kulturellen und wissen­ schaftlichen Lebens Europas. Das von einem anderen zeitweisen Schwabinger, dem Literaten O. A. H. Schmitz immer wieder vorge­ tragene Leiden an der »Cerebralität« (Schmitz 2006, S. 102) und die Hoffnung auf Heilung ist ein gutes Beispiel, zeigt sich doch in diesem Wort auch schon der Einfluss der Naturwissenschaften auf die Sprach­ gepflogenheiten. Man spricht nicht mehr von Kopflastigkeit. Die Cerebralität als an die Anatomie anknüpfende Metapher für Vergeis­ tigung entfernt den Menschen vom Leben. Nach Martynkewicz wird die Cerebralisierung zu einem zentralen Begriff der kulturkritischen Diskussion um 1900, sie wird als das Hauptübel der Modernen dia­ gnostiziert und befehdet (Martynkewicz in Schmitz 2006, S. 411). Der Begriff des Lebens findet pathetische Überhöhung, und sein Feh­ len in den als mechanistisch und atomistisch gewordenen Naturwis­ senschaften wird beklagt. Die Entwicklung von Lebensphilosophien wie die von Wilhelm Dilthey und Henri Bergson im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kann man wahrscheinlich als Reaktion auf den Pragmatismus, die Technikbegeisterung und das ungeahnte Wirt­ schaftswachstum der Gründerzeit verstehen. Auch eine Neuausrich­ tung der Biologie auf das bios, das Leben, wird von Wissenschaftlern wie dem Naturphilosophen Melchior Palágyi und dem Biologen Hans Driesch für die Biologie reklamiert. »Das Leben« bleibt nicht nur konservativen Denkern wie Ludwig Klages vorbehalten, unter den neueren Lebensphilosophen findet sich auch der Sozialist Theodor Lessing, der Jugendfreund Klages’. Wahrscheinlich hatten die nach­ dröhnenden Zerstörungen durch den Ersten Weltkrieg nicht nur eine ›Neue Sachlichkeit‹, sondern auch eine abermalige Erhöhung des Lebensbegriffs zur Folge. Neben Klages, der sich hier auf Nietzsche

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Die Geistesfeindschaft Klages’ und die speziellen Erwiderungen Rothschilds

beruft, und Rothschild, der sich auf Klages bezieht, stellten auch andere Personen unseres Arbeitsfeldes »das Leben« und die Ver­ dienste ihrer Lehrer um »das Leben« heraus. So schreibt Kurt Gold­ stein 1918 in einem Nachruf auf seinen verstorbenen Lehrer Ludwig Edinger (1855–1918), man könne ein großes Thema aus der Vielfalt der Einzelprobleme »entsprechend der Vielgestaltigkeit der Naturge­ gebenheiten« im Werk Edingers ausmachen: »(d)as Problem des Lebens, wie es sich in der Entwicklung des Geistigen in seiner Bezie­ hung zum Materiellen darstellt« (zit. bei Kreft 2005, S. 22). Der Goldstein-Schüler S. H. Fuchs (der 1938 im britischen Exil den Namen Foulkes annahm) schreibt in seiner Rezension zu Gold­ steins Buch »Aufbau des Organismus«, das 1934 in einem niederlän­ dischen Exilverlag erschien: »Die Konzeption ist eindeutig, entschie­ den, radikal und ohne Kompromisse durchgehalten. Hier wird mit der Ganzheitsauffassung durch und durch Ernst gemacht, niemals han­ delt es sich um bloße Phrasen. [...] stets bleibt im Mittelpunkt der konkrete Mensch in seiner konkreten Welt [...]« (Fuchs 1936, S. 211). Und er beendet seine Rezension damit, den Lesern die Lektüre des Werkes anzuempfehlen mit den Worten: »Denn was hier ruft, ist die Stimme des Lebens, was hier färbt, ist die Farbe der Liebe!«41 (a.a.O, S. 241).

»Der Geist« bei Klages und Rothschilds »Selbstbehauptung« Klages macht das Unbehagen an der Cerebralität zu einem seine ganze Philosophie durchziehenden Leitthema. Er versteht sich hierin in der Nachfolge von Nietzsche, der nach Klages als Erster das intellektuelle Phänomen »ohne Voreingenommenheit und Wohlwollen mit den Augen der Geistesfeindschaft« geprüft und »wider die Logik Partei« ergriffen habe – »man tut das letztere, sofern man auf Seiten des Lebens steht, als welches ungeistig und alogisch ist« (Klages 1924, S. 191). 41 Ähnlich begeistert äußerte sich Margarete Freudenthal, eine Studentin Karl Mann­ heims, retrospektiv über ihren Lehrer: »Daß sich die Soziologie, wie sie Professor Mannheim vertrat, als Forschung vom Leben leiten ließ und nicht umgekehrt, machte sie mir so ungeheuer reizvoll« (Honegger 1990, S. 90).

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»Der Geist« bei Klages und Rothschilds »Selbstbehauptung«

Klages subsummiert gleichzeitig und in der Folge immer persis­ tierender unterschiedliche Phänomene unter den Begriff der Geistig­ keit: u.a. fremd- und selbstdestruktives Verhalten, eruptive Gewalt, Unsinnlichkeit, Einengung auf Zweckrationalität, »den entsinnlichten Vernunftglauben an die Wirklichkeit der Begriffsinhalte«42 und die Degradierung der außermenschlichen Natur, des außermenschlichen Lebens43 in der behaupteten und gelebten Superiorität des Menschen den anderen Wirbeltieren, den wirbellosen Tieren und der Pflanzen­ welt gegenüber. Die lebenszerstörende Macht des Geistes sieht er bereits in der Ausbildung des Willens, des Ichs und der Selbstbe­ hauptung am Werk. Das seien Phänomene, die den Menschen aus seinem selbstverständlichen Aufgehobensein im Leben herausnöti­ gen. Als konkretes mutmaßliches Vorbild oder als Zustandsbeschrei­ bung, als Paradigma einer die individuelle Sterblichkeit transzendie­ renden Seinsgewissheit (Pauen 1994) – die Klagesforschung hat hierfür unterschiedliche Ansätze – führt Klages das mythische, prä­ historische Volk der Pelasger an, die sich in einem solchen idealen kosmosverbundenen Zustand befunden haben sollen, bevor die Menschheit seelenzerstörerischen Kräften anheimgefallen war. Als Agenten der Zerstörung, die gleichgesetzt wird mit der als außerkos­ misch verstandenen Gewalt des Geistes, werden die abendländische Philosophie, das Christentum, das diesem vorhergehende Judentum u.a. ausgemacht (Norton 2002, S. 288ff.). Eine komprimierte Fassung von Klages’ Philosophie findet sich im 1922 erschienenen »Kosmo­

42 »So ungewohnt es klinge: altmexikanischer Kannibalismus und kinderbratender Molochdienst auf der einen Seite, eine dem Platonismus zustrebende Orphik auf der anderen sind von derselben Verzwistung der Lebenspole nur verschieden gerichtete Aeußerungen. Dieser – der unblutig-promethische – Irrweg mündet in den entsinn­ lichten Vernunftglauben an die Wirklichkeit der Begriffsinhalte, jener – der blutigherakleische – führt zur Bevorrechtung der Zwecke vor den Gründen und wird nach grausigen Schlächtereien mit völliger Atomisierung enden; wie denn an Zahl der ihr dargebrachten Menschenopfer die Willensreligion des Christentums noch bei weitem übertrifft die aztekische Menschenfresserei!« (Klages 1922, S. 147). 43 »Erwägen wir ferner, daß der, wenn nicht Stifter, so doch Veranlasser des Chris­ tentums im bestimmtesten Gegensatz zu jedem heidnischen Dämon oder Heroen nach dem Zeugnis der Evangelien sich selber ›des Menschen Sohn‹ zu nennen pflegte und dadurch im gleichen Maße den Menschen vergottete, als er den ›Vater im Himmel‹ vermenschte, so erkennen wir für den Kern der paulinischen ›Gottesliebe‹ (= Liebe zu Gott) die Heiligsprechung des Menschen als des Trägers der bloßen Personhaftigkeit, im Verhältnis zu dem die gesamte Natur nurmehr den Rang eines Beutestücks oder den eines Werkzeugs seines ›Willens zur Macht‹ zu beanspruchen hat« (a.a.O., S. 3).

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gonischen Eros«, vorgetragen mit der für Klages typischen leiden­ schaftlichen Emphase und Sprachgewalt: »Die Geschichte der Menschheit nun zeigt uns im Menschen und nur im Menschen den Kampf ›bis aufs Messer‹ zwischen dem allverbrei­ teten Leben und einer außer-raumzeitlichen Macht, welche die Pole entzweien und dadurch vernichten, den Leib entseelen, die Seele ent­ leiben will: man nennt sie den Geist (Logo, Pneuma, Nus). Gemäß der Zweiseitennatur auch unseres Wesens gibt er sich kund: durch unter­ scheidende Besinnung (Noesis) und durch bezweckenden Willen (Buläsis). Der gemeinsame Haltepunkt ihrer beider, der in uns zur exzentrischen Mitte des Lebens wurde, heißt: Ich oder Selbst. Als Trä­ ger des Lebens sind wir gleich allen Lebensträgern Individuen (d.i. unteilbare Eigenwesen), als Träger des Geistes sind wir überdies noch Iche und Selbste. ›Person‹, von personare = hindurchtönen kommend und ursprünglich die Maske des Mimen bezeichnet, durch welche ein Dämon redet, ist längst zum geistvergewaltigten Leben geworden, zum Leben im Dienste der Rolle, die ihm befohlen wird von der Maske des Geistes! Nur im Denkenmüssen und Wollenmüssen leben wir noch; nur durch das Ichgefühl hindurch vernehmen wir noch die Stimmen des Alls, von dem wir abgetrennt wurden, und diese Maske ist uns ins Fleisch gewachsen und wächst uns mit jedem Jahrhundert fester hin­ ein.« (Klages 1922, S. 44)

Ein dem gegenüber nicht geringeres Pathos und nicht verminderter ethischer Impetus zeigen sich auch bei Rothschild in den einleitenden Kapiteln der »Symbolik des Hirnbaus«: »Klages stellte sich auf die Seite des Lebens und der Seele. Die ganze Intensität seines Forschens und Denkens setzte er an die Aufgabe, mit der isolierenden, trennenden Kraft des Geistes, den Geist selber in all seinen Wirkungen im Lebensvorgang aufzusuchen, Geist und Seele einander gegenüber zu stellen. Ein Umschwung von kaum auszumes­ sender Tragweite wurde damit vollzogen. An die Stelle der bisherigen ›logozentrischen‹ Wissenschaften, die stets die Wirklichkeit des Lebens im Interesse des Geistes verfälschen, trat eine rein ›biozentri­ sche‹ Forschung, auf deren Weg das Leben immer reiner, immer tiefer, immer wunderbarer sichtbar wurde.« (Rothschild 1935, S. 2)

Später fallen Rothschilds Erörterungen dessen, was an der menschli­ chen Entwicklung als krisenhaft und als den Menschen gefährdend angesehen werden kann, evolutionsimmanent aus: in der Evolution des Lebens ergeben sich fortlaufend neue Außensysteme der Orga­ nismen, die in der Vermittlung zwischen Umwelt und Innenwelt ste­

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»Der Geist« bei Klages und Rothschilds »Selbstbehauptung«

hen. Die vorhergehenden Außensysteme werden jeweils nach innen genommen. In der Embryonalentwicklung des Menschen bildet sich, obwohl etwas Neues, das noetische System, angelegt wird, kein neues Außensystem aus. In seiner Geistigkeit kann der Mensch sich aus seiner animalen Grundverfassung in den geistigen Akten herauslö­ sen. Dieser Anlage ist die Isolierung immanent: »Primär ist die Iso­ lierung aller von den geistigen Akten intendierten Inhalte aus den ursprünglichen intentionalen Zusammenhängen des Lebens und Erlebens« (Rothschild 1986, S. 117). Der Mensch ist in seiner ursprünglichen evolutionär-biologi­ schen Ausstattung schon beides, einer, der sich seinem Erleben über­ lassen kann, und einer, der »sich als Ich seinem Erleben gegen­ über(..)stellen« kann (a.a.O., S. 118). Das heißt also, dieser Mensch konnte nie dem pelasgischen Urideal der rückwärtsgewandten Utopie Klages’ entsprechen. Seit der 1950 erschienenen ›Regulation‹ bezieht sich Rothschild auf Freuds Triebdualismus von Eros und Thanatos, ohne die dazugehörigen Psychodynamiken zu übernehmen. Verein­ facht beschrieben setzt Rothschild den Eros Offenheit, Verschmel­ zung, Kommunikation und Sinnstiftung gleich, dem Begriffsbereich des Thanatos gehört die Singularität an, das Fertige, Feste, die End­ gestalt der Kommunikation, der Thanatos erfordere die Einheit (Roth­ schild 1986). Die Freiheit der geistigen Akte rechnet er dem Eros als dem Träger der Kommunikation zu. Klages’ Geistfeindschaft bezieht er auf das, was am Geist »aus dem Thanatos stammt« (Rothschild 1950, S. 73). Solchermaßen wendet Rothschild in der ›Regulation‹ von 1950 Klages’ Sicht auf den Geist von der Zerstörung weg hin zu einer bio­ logischen regulativen Funktion in der Vermittlung zwischen außeror­ ganismischer und innerorganismischer Realität. In aller Deutlichkeit ist dies aber bereits in der Abfassung der »Symbolik des Hirnbaus« von 1935 vorbereitet. Das ganze letzte Kapitel dieses Buches befasst sich mit der Physiologie des Bewusst­ seins und des Willens. Rothschild nimmt für das Kleinhirn die Bezogenheit auf die eigene Körperlichkeit an. Anders als die sich kreuzenden Nervenfasern, die von den Großhirnhälften ausgehen, ist der Verlauf der Nervenfasern, die vom Kleinhirn ausgehen, gleich­ seitig. Darin sieht er u.a. das Indiz dafür, dass das Kleinhirn nicht direkt mit der Gegenständlichkeit des Außen zu tun hat, sondern die Stellung des Körpers gegenüber der Außenwelt behauptet. Dem Kleinhirn kommt ein auf das Materielle und die Dauerhaftigkeit

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verweisender Charakter zu, und es wird in diesen Funktionen als Trä­ ger des Willens, der »Behauptungsneigung und Behauptungskraft« verstanden.44 Hierfür wie für alle anderen Schlussfolgerungen Roth­ schilds, die er aus seiner Art der vergleichenden Hirnanatomie in Bezug auf phänomenal-mentale und psychische Gegebenheiten trifft, wird ein reiches Material an positivem hirnphysiologischen Wissen ausgewertet und aufbereitet. An späterer Stelle soll exemplarisch darauf eingegangen werden. Im Brief vom 5. Februar 1934 [53 R] bezieht sich Rothschild implizit auf die Gespräche, die er und Klages miteinander in Berlin geführt hatten und kündigt an, »den Abschnitt ›zur Metaphysik des Geistes‹ ganz weg(zu)lassen«. Schlussendlich enthält die Arbeit dann doch diesen Passus und zwar am Ende des letzten Kapitels des Buches. Sehr direkt setzt er sich dort mit Klages’ Denken auseinander: Die Leidenschaft, die in dem Hass läge, mit der Klages den Geist verfolge, würde – so Rothschild sinngemäß – verhindern, diese Sicht relati­ vierenden und differenzierenden Aspekte sehen zu können. »Wir sind der Meinung, daß Klages in seinem Kampf gegen die vom Geist gesetzte fiktive Dauer der Dinge das Dauer bewirkende Wesen der Materie nicht beachtet hat und daß es ihm aus seiner Verurteilung der sich behauptenden Iche mit der Behauptungsneigung in der Seele ebenso erging. Jedenfalls erfordern Morphologie und Physiologie des ZNS, der kosmischen Wirklichkeit eine verborgen wirkende Behaup­ tung zuzuschreiben und sie so mit Eigenschaften zu beleihen, die Kla­ ges ganz auf die Seite des Geistes gestellt hat.« (Rothschild 1935, S. 349)

Aus autobiographischen Dokumenten Rothschilds ergibt sich ein besonderes Bild. Schon unter dem 6. August 1930 äußert er in seinem Tagebuch Skepsis Klages gegenüber: Bei einem frühmorgendlichen Dauerlauf in Frankfurt sei »die gedankliche Spannung Klages gegen­ über [...] auf dem ganzen Weg [...] vorhanden und immer unter der ›Liebe zum Gegenwärtigen und nicht nur Liebe zum Vergangenen, Liebe zum Tag und nicht nur Liebe zur Nacht‹. Klages’ Haltung schien mir wie ein stetes Wachsenwollen, ein stetes sich Weiterbilden und Entfalten durch immer neue Assimilation von Bildern. Aber man müsse auch Frucht werden können und ein Kreis könne nicht mehr wachsen, ihm steht die Welt entfremdet gegenüber ohne neue Ver­ 44

Zum gekreuzten Nervenfasernverlauf versus einseitigem Verlauf siehe u. S. 81ff.

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Der Pupillendialog

schmelzungen [...]«45 Im Brief vom 6.11.1935 (Nachlass Rothschild) an Frieda Fromm-Reichmann verweist er dezidiert auf seine Kritik an Klages, wie er sie in der ›Symbolik‹ formuliert hat und dieser sein Ansatz erweise sich »als treffender und fruchtbarer [...] als das, was man bisher gegen die Klagessche Geistesauffassung geäussert hat, weil sie an den positiven Ergebnissen des Klagesschen Denkens nicht vorbeisieht«. Ungefähr 20 Jahre später, nach seiner Lektüre der fast nur aus antisemitischen Schmähungen bestehenden, von Klages geschriebenen Schuler-Einleitung46, nach seiner Auseinandersetzung mit Klages darüber und nach Klages’ Tod zieht Rothschild die sich daraus ergebenden Schlüsse: Hinter Klages’ Geistesfeindschaft ver­ birgt sich Klages’ (rassistischer und Erlösungs-) Antisemitismus. Und er erkennt auch, wie sehr das Denken vom Geist als der Zerstörungsinstanz psychopathologische Wurzeln hat: »Es mag sein, dass ihn sein extremer Standpunkt aus innerer Konsequenz unter besonderen Umständen zu Äusserungen verführt hat, die bei einem Geist vom Range von Klages als psychopathologisch zu bewerten sind.«47

Der Pupillendialog An der Weitung der Pupille bei Schreck wird im Frühjahr/Sommer des Jahres 1935 die Position zur Selbstbehauptung, eine der Ingre­ dienzien des von Klages als zerstörerisch behaupteten Prinzips des Geistes, und ihrem biologischen Ausdruck verhandelt. Oder besser gesagt, Klages verhandelt mit Rothschild, der seinerseits immer neues ›Tatsachenmaterial‹ heranzieht, immer wieder ein neues Detail in das Gesamtbild einbaut und abwägend seine Schlüsse zieht. Ist die Weitung der Pupille beim Erschrecken auf eine Lähmung des parasympathischen Nervus oculomotorius zurückzuführen, die eine Tätigkeit des Musculus sphincter iridis verhindert, oder das Ergebnis einer gesteigerten Aktivität des vom Sympathikus innervierten Mus­ culus dilatator pupillae? Das ist die Frage, an deren Beantwortung sich paradigmatisch erschließen soll, ob und an welcher Stelle des Tagebuch Rothschild, Nachlass Rothschild. Klages’ Einleitung zu Alfred Schuler, Fragmente und Vorträge aus dem Nachlass (hrsg. v. L. Klages). Leipzig: Johann Ambrosius Barth, 1940. 47 Brief Rothschild an Ernst Frauchiger vom 20.10.1960: Eine Briefkopie befindet sich im Nachlass Rothschilds, das Original befindet sich nicht im Nachlass Frauchigers, Zentralbibliothek Zürich. 45

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Wirbeltierorganismus aktive Selbstbehauptung als naturgegebene Bestimmtheit eintritt oder das Erschrecken auslösende Eindringen von Welt als einziges Preisgegebensein des Menschen an die Welt zu verstehen ist, von der sich abzuwenden die genuine Reaktion darstellt. Der Anlass erscheint marginal, geht es Klages doch lediglich darum, Rothschild als Referenz in eine Anmerkung für seine erschei­ nungswissenschaftlich-physiologische Herleitung der Pupillenwei­ tung bei Schreck aus der Lähmung des zum Teil parasympathischen Nervus oculomotorius aufnehmen zu können.48 In Analogie zur Ver­ engung der Pupillen u.a. bei »vermehrtem Lichteinfall« und gegen­ läufig zur Erweiterung der Pupille u.a. »beim Übergang vom Hellen ins Dunkle und beim Blicken, zumal dem träumerischen Blicken ins Ferne« müsse man beim Schreck »erscheinungswissenschaftlich Verengung der Pupillen erwarten«. Denn wegen seiner Gewaltsamkeit sei der Schreck »eher einem stechenden Strahl als der Dunkelheit zu vergleichen«. Die Entscheidung zwischen den beiden physiologischanatomischen Möglichkeiten der Pupillenweitung müsste folglich zugunsten der Lähmung des parasympathischen Oculomotorius aus­ fallen, die Möglichkeit der gesteigerten Erregung des Sympathicus, der den Musculus dilatator iridis innerviert, müsse verworfen werden. Die Sympathikusaktivierung »wäre eine Leistung«, die Lähmung des Oculomotorius »ein Erleidnis des Organismus«. Und für die Überlegenheit der Ausdruckskunde, mit der solchermaßen »nebenher eine Frage entschieden« wird, »die im Rahmen des nur physiologi­ schen Denkens – vorderhand wenigstens – offen bleibt« [81 K], möchte er Rothschild anbringen. Hintergrund hierfür bilden die phä­ nomenalen Konstruktionen Rothschilds, wonach der Sympathikus den »Weltpol«, der Parasympathikus den »individuellen Pol« (auch »Eigenpol«) im Organismus vertrete, der Sympathikus nach außen, der Parasympathikus nach innen gerichtet sei.49 Rothschild erkennt in seinem Antwortschreiben vom 23. Mai 1935 [82 R] eine Einflussmöglichkeit durch Lähmung des Oculomo­ torius an. Als bedeutenderen Anteil müsse wohl aber die Aktivierung des Sympathikus gelten, er spricht hier sogar von einem »Sehen mit 48 Der Passus stellt eine Ergänzung in der überarbeiteten Fassung von ›Ausdrucksbe­ wegung und Gestaltungskraft‹ dar, eine Arbeit von Klages, die 1913 zum ersten Mal veröffentlicht wurde und 1936 in der 5. Auflage unter dem Titel ›Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck‹ bei Barth/Leipzig erschien. 49 Rothschild 1934 und Briefe Rothschilds an Klages vom 3. März 1935 [79 R], 29. Mai 1935 [84 R] und 7. Juni 1935, Anmerkung zur Textstelle in Anlage [86 R].

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Der Pupillendialog

Übermaß«. In seinen Erörterungen versucht er sich der Deutung Kla­ ges’ anzunähern, indem er zu bedenken gibt, dass auch wenn die unmittelbare Reaktion angesichts großer Angst und Schrecken sym­ pathikoton bestimmt ist und »nicht als Ausdruck der Abkehr oder Lähmung des Bewegungspoles der Seele« verstanden werden kann, ihr unmittelbar darauf parasympathisch bestimmte Reaktionen folg­ ten wie die Erweiterung der Splanchnicusgefäße, die dann der erwar­ tungsgemäßen Abkehr und Wegbewegung entsprächen. Schließlich macht er den Phänomenologen auf ein übergeordnetes Phänomen in der Schreckensreaktion aufmerksam, nämlich die Tendenz zur Des­ integration des Gesamtorganismus unter Sympathikusbetonung. Und er besteht darauf, dass die »Mitwirkung einer gesteigerten Erre­ gung des S« bei der Pupillenerweiterung im Schreck »hier zu gewiss« sei (ebd.). Nun setzen sich die Divergenzen am Verständnis der unmittel­ baren Sympathikus-Reaktion auf den Schrecken fort. Müsse man sie hier nicht umgekehrt zur bisherigen, generellen Annahme, wonach sie eine Hinwendung zur Welt repräsentiere, als Abwendung von ihr verstehen?, setzt Klages im nächsten Brief [83 K] vom 26. Mai 1935 nach. Was Rothschild als Körperreaktionen nach außen sichtbar wer­ den lassen will, biegt Klages nun nach innen um: die SympathikusErregung stünde doch hier »im Dienste der Richtung nach innen.« Der Drang nach innen bzw. von außen weg sei den Zuständen Verdros­ senheit, Unmut, Sorge, Trauer, Pein, Kummer, Gram, Furcht, Angst, Schreck, Entsetzen gemeinsam. Die Erregungssteigerung des Sym­ pathikus, die zur Kontraktion der Hautblutgefässe führt, käme damit überein, aber »nicht die Erregung des S, die zur Erweiterung der Pupillen führt; denn diese wäre ja der Ausdruck nicht eines Wegwen­ dedranges, sondern eines Zuwendedranges.« Im Gefolge dieser Deu­ tung kommt es zudem noch zu einer Abänderung der Reihenfolge. Klages schließt sich der anderen »Vermutung« eines »Oberarztes des Kantonsspitals« an, wonach nicht die Sympathikus-Erregung dem Rückzug ins Leibesinnere vorausgehe, sondern »die Zusammenzie­ hung der Kapillaren erst eine Folge der Erweiterung der Bauchblut­ gefäße (via Splanchnicus) sei, dass also – wenigstens bei Furcht, Angst, Schreck, Entsetzen – in jenen Symptomen die Anfangssym­ ptome von Kollaps zu erblicken seien«. Demzufolge ginge die Par­ asympathikusreaktion der Sympathikusreaktion voraus. Er fragt, ob »das Stürzen des Blutes ins Leibesinnere« erscheinungswissenschaft­ lich ähnlich der »gesteigerten Peristaltik des Darmes (Durchfall aus

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Die Geistesfeindschaft Klages’ und die speziellen Erwiderungen Rothschilds

Angst)« sei. Dann erläutert er das, was Rothschild als körperliche Leistung ansieht, das parasympathisch unterstützte Ausstoßen des Fremden (Rothschild 1930, S. 472) unter Bedingungen von Furcht und Schrecken, ohne darauf expressis verbis Bezug zu nehmen, als »Verlust aller ichabhängigen Steuerungen (= Hemmungen)« und betont die Passivität, die Überwältigung des Individuums bei starkem Stuhldrang. Er schließt dann diese im Brief [83 K] vorgetragene Erörterung mit der neu bekundeten Skepsis gegenüber einer »Erregungssteige­ rung« des Sympathikus bei der Pupillenerweiterung im Zustand des Erschreckens, auch wenn beide Möglichkeiten verständlich wären. Im Antwortschreiben vom 29. Mai 1935 [84 R] entwickelt Roth­ schild nochmals das Thema von Grund auf. Er bezieht sich auf die ihm bekannte Literatur, auf die damals neue Hormonforschung, versucht nun das alles »erscheinungswissenschaftlich« sinnfällig zu deuten. Die Angst/Schrecken-Parasympathikus-Verschränkung Klages’ reißt er auf, indem er zu bedenken gibt, dass nicht alle Angst- und Schreckensreaktionen in eine Parasympathikus-Aktivierung einmün­ den, sondern es stattdessen auch bei der verengenden Wirkung des sympathiko-adrenalen Systems – eine Formulierung Cannons – auf die Blutgefäße bleiben kann (Cannon 1928). Er verweist zudem auf eine Arbeit des Psychiaters Abraham Weinberg, die für verschiedene psychische Einwirkungen die zeitliche Reihung einer anfänglichen Sympathikus-Erregung, dann einer Parasympathikus-Erregung und einer daran anschließenden Sympathikus-Erregung belegt (Weinberg 1928, Anm. 84 R). Die anfängliche Sympathikus-Erregung sei von prinzipieller Bedeutung, da sie als dem Weltpol zugehörig vor der Eigenpol-Reaktion erfolgen müsse. Wegen der Unzulänglichkeit, »vegetative Ausdruckserscheinungen« nur nach ihrer sympathischen und parasympathischen Zusammensetzung zu analysieren, müssten die erscheinungswissenschaftlichen Zusammenhänge auch unter den Blickwinkel der Hormonforschung gestellt werden, die aber »noch zu sehr im Fluss« sei, als dass dies hinreichend gelingen könne [84 R]. Es folgt dann eine größere Erörterung des Themas unter etwas anderen Gesichtspunkten, in der er von der hier verhandelten Gegensätzlichkeit zwischen Sympathikus und Parasympathikus, von den alleinig dichotomen Bestimmungen für körperliche Vorgänge abkommt und zum Weltpol und individuellen Pol als ein Drittes das Prinzip »der eigenen Körperlichkeit« als den seelischen Zustand mit­ bestimmend einführt. Er beanstandet die Vorstellung von der Seele

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Der Pupillendialog

als etwas Fertigem und Einheitlichem. Seine Untersuchungen hätten ihn gelehrt, dass »der Zustand der Seele das Ergebnis von Moment zu Moment wechselnden Zusammenspiels zweier oder genauer sogar dreier Ursprünge ist, eines individuellen oder Antriebspoles, eines Welt- oder Bilderpoles und des Prinzips der eigenen Körperlichkeit oder der Materie« [84 R]. Der Verfasser entwickelt dann eine nähere Bestimmung von »Weltpol« und »individuellem Pol« in ihrer jeweiligen Wirkung auf die Motorik und ordnet dem »Weltpol« einen gestaltverändernden Zug, dem »individuellen Pol« einen ortsverändernden Zug, der als Zu- oder Abwendung in Erscheinung tritt, zu. Den gestaltverändern­ den Aspekt des »Weltpols«, dem der Sympathikus zugeordnet wird, sieht er in »Weitung und Dehnung durch Erfülltwerden oder Verengung und Schrumpfung durch Leerwerden«. Diese Charakterisierungen arbeitet er in eine Art von Affektlogik ein, indem er die möglichen motoraktiven Verhältnisse zwischen diesen Zugwirkungen in den »harmonischen« und »disharmonischen« Affekten zu erfassen ver­ sucht [84 R]. Als harmonisch wird demnach ein Ausdruck bzw. eine Aus­ drucksbewegung erlebt, wenn sich die motorischen Wirkungen ent­ sprechen, wenn z.B. Erfülltwerden mit Hinwendung koinzidiert. In disharmonischen Affekten wie Angst, Schrecken und Entsetzen begegnet das Erfülltwerden dem Wegwendedrang des Eigenpols. In dieser gesamten Zusammenstellung betont Rothschild die Aspekte der Zwiespältigkeit, der Uneinheitlichkeit und der möglichen Desin­ tegration körperlicher Funktionen, das, was Klages als Übertreibung im vorherigen Brief abgetan hat. An die Besonderheiten, die dishar­ monische Affekte an die Bewegungsgestaltungen stellen, knüpft er wieder die vermutlich durch das Kleinhirn vermittelte Behauptung der eigenen Körperstellung an. Zeichen einer Schwächung dieser Funktion schlüge sich bei Angst und Erschrecken in »Zittern, Fahrig­ keit ...Verkrampfungen, lähmungsartige(n) Erschlaffungen« nieder [84 R].50 Apostrophiert Rothschild hier zum ersten Mal in diesem 50 Er fügt hier dann doch eine neue, vegetativ-hormonelle Herleitung ein, die mitbe­ stimmt wird vom physiognomischen Blick in den Körper: »Die Heranziehung dieses Gesichtspunktes scheint mir aber für das Verständnis dieser Erscheinungen wichtig zu sein, und zwar auch wichtig für die Analyse des vegetativen Ausdrucksbildes, weil auf Grund der Übereinstimmung zwischen animal-motorischem und vegetativem System dem Kleinhirn die Nebennieren entsprechen und deshalb in den vegetativen Erscheinungen bei Angst usw. die Symptome der Anspannung und des Versagens

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Dialog eine körperliche Reaktion als »Symptom des Versagens«, so bringt er abschließend umso deutlicher die Schutz und Wehrhaftigkeit begünstigende Sympathikus-Reaktion wieder zur Geltung. Der über­ proportionalen Gegenwart der Wegwendung bei Klages setzt er die »Behauptungskraft der Nebennieren« entgegen, über die die Bereit­ stellung von Adrenalin erfolgt, die den Organismus vor größerem Schaden bewahrt. Es klingt auch hier wieder eines der späteren »biose­ miotischen Gesetze« Rothschilds an, wonach die Evolution an zweiter Stelle von der Notwendigkeit zur Verschmelzung des Individuums mit dem anderen bestimmt wird, wenn er die oberflächen-erweiternde Hinwendung des Körpers an das Erschreckende als gekoppelt an den Schutz des Eigenen behauptet, oder mit anderen Worten: Dieselbe sympathische, nach außen öffnende Wirkung schließt schützend nach innen.51 Weder diese physiologischen Grundlegungen der Selbstbehaup­ tung, der Wehrhaftigkeit und des Schutzes, gar die Analogie, die zwischen der Reaktion auf das Erschrecken und dem Zorn besteht, entsprechen Klages’ Bedürfnis, in Übereinstimmung mit seiner Geis­ tes-, Willens- und Ich-Feindschaft den Menschen als den an die Umwelt Preisgegebenen auszudeuten. Die »Correspondences« beider Schreibender wollen sich nicht ganz entsprechen. Klages betont im nächsten Brief vom 4. Juni [85 K] die Verschie­ denheiten ihrer Fachgebiete, und lenkt im Brief abschließend ein: »Nimmt man den Sympathicus als ›Weltpol‹ – und vieles scheint in der Tat dafür zu sprechen – so ist Ihre Annahme, dass in Affekten die S-Erregung der P-Erregung vorausgehe (statt allenfalls umgekehrt) zwingend; und ich habe deshalb in meinen Texten diejenigen Stellen gestrichen, die auch nur die Möglichkeit des Gegenteils andeuteten.« Er bezieht dann beides in dem vorgesehenen neuen Abschnitt für die fünfte Auflage der »Grundlegung der Wissenschaft vom Aus­ des Nebenniereneinsatzes eine erhebliche Rolle spielen müssen. Ich verweise hier auf die Adrenalinausschüttung, die Cannon bei diesen Affekten feststellte, als Zeichen der Anspannung und auf die Durchfälle, die kollapsartigen Zustände als Symptome des Versagens, (was bei diesen letzteren voraussetzt, dass die Tendenz zur Abkehr in dem P-System zu stark ist, als dass die bremsende Wirkung der Nebennieren diese Störungserscheinungen hätte verhindern können).« [84 R]. 51 Der Wortlaut im Brief: »Das Erfülltsein von dem Fremden weitet etwa alle aufnehmenden Organe, also Mund, Augen, Pupillen, Haut (Aufrichtung der Haare stellt unter anderem auch eine Vergrößerung der Receptionsflächen dar), aber es verengt im allgemeinen die Gefässe, die ja erfüllt sind von dem Träger der zu dem Fremden polaren ›eigensten‹ Kräfte, dem Blut mit seinen Stoffen« [84 R].

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Abschließendes zum Pupillendialog

druck« (1936) als Möglichkeiten für die Pupillenweitung bei Schreck und Angst ein: die Aktivierung des Musculus dilatator pupillae über den Sympathikus und die Lähmung des Oculomotorius, der den Mus­ culus sphincter iridis innerviert. Als wesentlich sieht er die Abkehr an, die auf Schrecken und Angst, auf Überwältigung, erfolgen muss, die in der Sympathikus-Reaktion liegende Zuwendung des Organismus an den Reiz auch bei Erschrecken und Angst, ähnlich wie bei Wut, zieht er in keiner Weise in Betracht. In seinem Antwortschreiben [86 R] betont Rothschild nun wie­ der die »Lähmungskomponente in der Pupillenerweiterung« – es würden Experimente vorliegen, wonach es auch zur Pupillenerweite­ rung bei »psychischer Erregung« komme, auch wenn der Sympathikus vorher durchschnitten würde.

Abschließendes zum Pupillendialog Nach heutigen neurologisch-medizinischen Kenntnissen gibt es unabhängig vom Erschrecken die Weitung der Pupille als eines der Hauptsymptome bei der Lähmung des Nervus oculomotorius. Die Lähmung des Nervus oculomotorius (auch Oculomotoriusparese genannt) ist eine seltene Erkrankung, die komplexe Auswirkungen auf Augenbeweglichkeit und Wahrnehmung haben kann (Grehl, Reinhardt 2012; Burk et al. 2011). Bei stärkeren Reizen und seelischer Erregung (z.B. Schreck, Lust, Schmerz) kommt es zu einer Pupil­ lenerweiterung (med. Mydriasis), die durch Adrenalinausschüttung bedingt ist und zu einer Kontraktion des Musculus dilatator pupillae führt, der vom Sympathikus innerviert wird (Grehn 2019; Mader, Riedl 2018). Folgt man dem kurzen historischen Abriss der Pupillendehnung allgemein (nicht speziell bei Angst, Erschrecken), der sich im wahr­ scheinlich mit 2250 Seiten umfangreichsten und schwersten Buch zur Pupille, »The Pupil« von Irene E. Loewenfeld52, befindet, so sind unsere Protagonisten nicht die alleinigen Kontrahenten in möglichen Positionen zur Pupillendehnung. In den Naturwissenschaften habe es demnach eine mehr als hundert Jahre – an anderer Stelle heißt es 300 Jahre – währende, endlose Diskussion hierzu gegeben mit durchaus Loewenfeld 1993, S. 349. Das Kapitel trägt den Titel: The Efferent Mechanism: Sympathetic Activation versus Parasympathetic Inhibition.

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Die Geistesfeindschaft Klages’ und die speziellen Erwiderungen Rothschilds

auch absurden Ergebnissen, die zum Teil damit zusammenhängen, dass die Existenz des Musculus dilatator pupillae lange Zeit verleug­ net worden sei. Die Autorin fügt hinzu: »Since these controversies have pervaded the literature until the recent past, it is necessary to be aware of them in order to dismiss them, should they again raise their ugly heads« (Loewenfeld 1993, S. 349). Irene Loewenfeld meint also, es sei für eine Forschung auf diesem Gebiet unerlässlich, sich zuvor der von falschen Voraussetzungen ausgehenden Kontroversen bewusst zu werden, die bis in die Gegenwart hineinwirken. Klages sieht in der Pupillendehnung oder -verengung in sei­ nem Sinne Paradigmatisches zum Leib-Seele-Verhältnis, zur Körper­ lichkeit emotionaler Vorgänge. Die erkennbare affektive Erregung möchte er mit nicht-bewussten körperlichen Aktivierungsvorgängen verknüpft sehen, die Resultat eines passiven Ausgesetztseins wären. Dieser Kausalzusammenhang hätte ihm als ein Beleg für eine natur­ gegebene Begründung seiner Geistesfeindschaft gedient. Rothschild hingegen hat offenbar angesichts des ostenaten Behauptungsduktus Klages’ sein eigenes Denken geschärft und ein anderes Bild vom Menschen entwickelt, in welchem dieser – selbst in der Überwältigung von außen – zu selbstbehauptender Leistung und Schutz fähig ist. Ist die Pupille das Einfallstor zur Seele und Anlass zu erregenden Diskussionen zu allen möglichen besonderen Fragen, hinter denen sich letzte Fragen verbergen oder kundtun, so trägt sie hier zur beson­ deren Beleuchtung »seinsgebundener« und relationaler Aspekte von Theoriebildungen bei. Man könnte auch von der interpersonalen Seinsgebundenheit einer Theorieentwicklung sprechen oder einer Psychodynamik, die einer theoretischen Ausarbeitung unterliegt.

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Zwischen 1930 und 1932 war Rothschild im Waldkrankenhaus Köp­ pern als Psychiater angestellt. Es stand ihm dort frei, mit Patienten, die »an Neurosen und leichteren Formen von psychotischen Störun­ gen erkrankt waren«, analytisch zu arbeiten (Leuchtweis-Gerlach 2001, S. 231). Nachdem die Stelle 1932 aus finanziellen Gründen gestrichen wurde, setzte er die Arbeit als Volontärarzt fort, bis er im Frühjahr 1933 aufgrund des »Arierparagraphen«, des Gesetzes »zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, das am 7. April 1933 erlassen worden war, auch aus diesem Freiwilligendienst entlassen wurde. In der darauf folgenden Zeit lebte er an wechselnden Wohnor­ ten: bei seinen Eltern in Gießen und in der Wohnung von Walter Mannheim in Frankfurt, der mit seiner Familie bereits im Dezember 1933 aus Deutschland nach Palästina ausgewandert war (Leers 1974, S. 54). Längere Zeiträume verbrachte er auch bei seiner Schwester und ihrem Mann in Berlin (Schramm, Pankstraße 48). In dieser Zeit war er fast ausschließlich mit der Abfassung der »Symbolik des Hirnbaus« befasst, über die er am 27. August 1933 [40 R] Klages mitteilt, er schreibe sie in eine Maschinenreinschrift und diese habe er wahr­ scheinlich in »14 Tagen bis 3 Wochen« fertig.53 Im selben Brief bittet er Klages, »sich der Arbeit anzunehmen« in der Hoffnung, seine Für­ sprache würde eine Veröffentlichung bei einem Schweizer Verlag begünstigen, da er annehmen muss, dass sie für einen Juden bei einem deutschen Verlag unmöglich sein würde. Ende des Jahres liest er Kla­ ges in Berlin das letzte Kapitel des Buches vor. Wahrscheinlich kommt es anlässlich dieses Treffens (zwischen dem 13. und 16. Dezember) Schon zwei Jahre zuvor, im Brief vom 11.6.31 berichtet Rothschild Klages von dieser Arbeit, die mit 100–120 Seiten weniger umfangreich konzipiert war und »Vom Sinn im Aufbau des Zentralnervensystems der Wirbeltiere und des Menschen« heißen sollte. Eine Einleitung besteht bereits zu dieser Zeit. [29 R], DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/16. 53

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auch zur Übergabe des getippten Manuskriptes [46 R, 47 R]. Trotz nicht unerheblicher Meinungsverschiedenheiten sagt Klages ihm mit Brief vom 18.12.1933 die Unterstützung zu [48 K]. Am 5. Februar 1934 schreibt Klages an den Verlagsleiter Arthur Meiner vom Barth-Verlag, Klages’ Hausverlag: Er halte die Heraus­ gabe der ›Symbolik‹ »vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus [...] uneingeschränkt für wünschenswert«, unabhängig davon, dass Roth­ schilds Anwendung »wesentlicher Untersuchungsergebnisse von mir auf Nervenphysiologisches wohl ohne Übertreibung epochal genannt werden dürfte«.54 Arthur Meiner zog einen Psychiater zu Rate, der ihm von der Veröffentlichung abriet. Deswegen und »mit Rücksicht darauf, dass der Verfasser Nichtarier ist« kündigt er mit Schreiben vom 24. Februar 1934 Klages an, die Herausgabe des Buches eher abzu­ lehnen.55 Wiederum sehr ausführlich und mit einem Tonfall der Ver­ ärgerung setzt Klages mit Schreiben an Meiner vom 16. März 1934 nochmals nach, versteht die geschäftlichen Vorbehalte des Herausge­ bers, bemängelt die zu große Detailliertheit der ›Symbolik‹ und gibt nochmals zu bedenken, dass schießlich »zum erstenmal der Versuch gemacht wird, erscheinungswissenschaftliche Entdeckungen von Palágyi und mir fruchtbar zu machen für das Verständnis des Zen­ tralnervensystems«. Als Beispiel für die vielen fruchtbaren Erträge dieser Arbeit erläutert er dem Verleger den Versuch Rothschilds, die Faserkreuzung zu verstehen. »Wird jemand rechts am Körper irgendwo gelähmt, so ist, wie jedermann weiss, auf der linken Hirn­ hälfte etwas nicht in Ordnung und vice versa. Warum diese Kreuzung der Bahnen, wo doch sonst die Natur stets für Einfachheit schwärmen soll.«56 Mit Brief vom 10. April 1934 an Klages sagt Meiner endgültig die Herausgabe der ›Symbolik‹ ab. Er habe sich bei »den verschie­ densten Stellen« erkundigt, und man habe ihm zwar nicht den Rat erteilt, »dass man das Buch eines jüdischen Wissenschaftlers nicht mehr verlegen sollte, sondern es wurde mir vielmehr geraten, es bei Klages an Barth-Verlag vom 5.2.34, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.4004/3. Brief Barth-Verlag an Klages vom 24.2.34, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.8094/9. Der Psychiater war über das Sächsische Staatsarchiv, das das stark dezimierte Archiv des Verlags Johann Ambrosius Barth in seinen Beständen hat, nicht zu ermitteln (E-Mail v. 4.10.12 an V.). 56 Brief Klages an den Barth-Verlag 15.3.1934, DLA Marbach, Nachlass 61.4004/6. 54 55

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aller Hochschätzung der Arbeit aus dem Grunde nicht zu tun, damit ich der übel wollenden Konkurrenz – und die ist heute an der Tages­ ordnung – keine Gelegenheit gäbe, mich in irgendeiner Weise anzu­ schwärzen.«57 Rothschild gegenüber wolle er die Absage »mit anderen Bewei­ sen begründen«.58 Rothschild wird mit Brief vom 16. April 1934 [59 K] von Klages über die Ablehnung in Kenntnis gesetzt. Klages selbst gibt die Begründung Meiners – Gehässigkeiten anderer Verlage, die auf »Konjunktur« eingestellt seien, wegen des »Nichtariertums« des Ver­ fassers – an Rothschild als den entscheidenden Grund für die Ableh­ nung weiter und schlägt vor, sich an einen großen Verlag zu wenden, der entweder »nichtarisch« sei oder »nichtarische Teilverlage umfasst«. Julius Springer käme in erster Linie in Frage, in zweiter Linie Walter de Gruyter. Neben seiner eigenen positiven Stellungnahme aus seelenkundlicher und metaphysischer Perspektive schlägt er als naturwissenschaftlich Sachkundigen den Arzt Carl Haeberlin vor, Leiter des Städtischen Krankenhauses in Bad Nauheim. Haeberlin, NSDAP-Mitglied, ein Anhänger Klages’, gehörte mit zu den Psycho­ therapeuten, die nach Hitlers Machtergreifung eine »Arisierung« der Psychotherapie in Deutschland eilfertig betrieben (Lockot u.a. 1985). Er stand mit Klages der Psychoanalyse von Grund auf ablehnend gegenüber, und es war ihm daran gelegen, den deutschen Psychothe­ rapeuten »die psychotherapeutische Linie Klages-Prinzhorn« nahe­ zubringen.59

Brief Meiner/Barth an Klages 10.4.1934, ebd. 61.8094/13. Die Abteilung »Herstellung« des Barth-Verlages schickt das Manuskript an Roth­ schild mit Datum vom 17.4.1934 zurück. Der Schreiber bezieht sich auf mutmaßliche Informationen Rothschilds durch Klages und bedauert, »daß mir keine Möglichkeit der Durchführung dieses Verlagsplanes gegeben ist«. Unterschrieben ist der Brief mit dem Schriftzug »Johann Ambrosius Barth«, obwohl der letzte Firmeninhaber gleichen Namens aus der Familie Barth – Hans Barth – schon 1887 verstorben ist (Nachlass Rothschild). 59 In der programmatischen Aufsatzsammlung »Deutsche Seelenheilkunde«, die Mathias Göring 1934 herausgegeben hat, werden die Positionen einer deutschen See­ lenheilkunde vertreten, die die Psychoanalyse Freuds und die Individualpsychologie Adlers ablehnt oder sie ihrer »jüdischen« Wurzeln entledigt und unter Verwendung anderer Begriffe und Schwerpunkte weiterverwendet. Haeberlin, einer der Autoren der Aufsatzsammlung, versucht, eine Art psychotherapeutische Pragmatik aus der 57

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Nach der Ablehnung durch Meiner schaltet Klages unverzüglich seinen Schüler und Freund Christoph Bernoulli (1897–1981) ein. Der Basler Kunsthändler, Philosoph und Vernetzer von Kulturschaffenden und Intellektuellen vor allem im deutschsprachigen Raum wird in einer unermüdlichen und beharrlichen Weise aktiv und versucht, Personen seines Freundes- und Bekanntenkreises zur Beteiligung an den Druckkosten zu gewinnen.60 Bei welchen Personen er anfragte, entzieht sich bis auf die weni­ gen, die eine Unterstützung zusagten, unserer Kenntnis. Die meisten lehnten eine finanzielle Beteiligung an der Drucklegung des Buches ab. Umso entschiedener erfolgte die Unterstützung durch Erich Engel (1891–1966), einem Theatermann, der maßgeblich das Deutsche Theater in Berlin in den 1920er-Jahren prägte und der Urauffüh­ rungsregisseur von Brechts Dreigroschenoper gewesen war (Köper 2007). Klages hatte Rothschild – beiden ist Engel kein Begriff – schon am 8. Mai 1934 wissen lassen, dass Bernoulli ohne weitere Erklärung angekündigt habe, Erich Engel wolle »gerne Dr. Rothschild kennen lernen, weil er sich für neurologische und biologische Fragen interes­ siert«, und er möge doch eine Manuskriptabschrift an Engel schicken [64 K]. Genauere Angaben macht ihm Bernoulli: »Herrn Engel erreichte ich erst gestern, er war wegen Filmaufnahmen unzugänglich, hat jetzt freie Zeit & brennt darauf, Ihr Buch zu lesen. Er wird mir bei der Finanzierung von wesentlicher Hilfe sein. Er filmt als Regisseur, um Geld zu verdienen, ist aber ein Mensch mit vielseitigen Interessen und ein gelehrter Kopf. Hauptgebiet Biologie & Psychologie. Ich hoffe dass er den Wert Ihres Buches erkennt & so hilft wie ich es mit ihm abgesprochen habe.«61 Bernoulli und Engel werden nun zu den eigent­ lichen Hauptakteuren in dem Publikationsvorhaben und entwickeln unterschiedliche, intensive Eigeninitiativen. Die Briefe und Postkar­ ten zwischen Rothschild, Klages, Bernoulli und Engel kreuzen sich manchmal oder kommen gleichzeitig bei einem Adressaten an. Geschrieben wird von unterwegs, man versucht Treffpunkte zu ver­ Klagesʼschen Ausdrucks- und Charakterkunde und Ansichten Prinzhorns zur Neurose und Psychopathie abzuleiten (Haeberlin 1934a). 60 Auf die spätere Anfrage Rothschilds hin, ob er ihm, Bernoulli, im Vorwort zur ›Symbolik‹ danken darf, schreibt ihm dieser am 10.4.1935 (Poststempel), Klages müsse »im Vorwort genannt werden, er hat mir den Befehl gegeben, das Buch müsse erscheinen & so ist er an allem Schuld«. (Bernoulli an Rothschild, 10.4.35, Nachlass Rothschild). 61 Brief Bernoulli an Rothschild vom 5.7.34, Nachlass Rothschild.

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einbaren, und wenn man selbst am Schreiben gehindert ist, tun dies im Falle von Bernoulli und Engel die Frauen, Alice Bernoulli und Sonja Okun, die Lebensgefährtin von Engel. In diesem Zusammenspiel gibt sich Klages zuversichtlich, Rothschild bleibt sachlich-nüchtern. Offenherzig und energisch vorwärtstreibend verhalten sich Bernoulli und Engel. Die brieflichen Äußerungen Bernoullis werden immer warmherziger, die Engels zeugen von zunehmendem Aktivismus und Enthusiasmus. Selbst Rothschild gibt seine »Hemmung solchen gezwungenen Versuchen gegenüber« auf und sieht sich selbst nach einer »kapital­ mässige(n) Unterstützung« um [63 R]. Er wendet sich deswegen an »einen Bekannten [...], der Beziehungen zu kapitalkräftigen Kreisen hat«, sich aber leider in Palästina befände, was die Verständigung erschwere [65 R]. Es kann sich hier nur um den Freund Walter Mann­ heim handeln, der, sicherlich älter als Rothschild, wie er auch ein frü­ heres Mitglied im jüdischen Wandervogel Blau-Weiß gewesen sein dürfte.62 Mannheim ist der im knappen Tagebuch63 von Rothschild nach Klages am häufigsten genannte Name. Rothschild besuchte ihn und seine Familie häufiger, war bei »Kränzchen« im Hause Mannheim zugegen, machte mit der Familie zusammen Ausflüge. Nach seiner Emigration im Dezember 1933 lebte Walter Mannheim in der im sel­ ben Jahr gegründeten Moshava Ramoth Hashivim, war bald für die finanzielle Situation der Kommune zuständig und sorgte dank der Vermeidung von Krediten dafür, dass es ihr wirtschaftlich gut ging.64 Auf Empfehlung von Sophie Bermann, der Schwägerin von Mann­ heim, wendet sich Rothschild mit Schreiben vom 17. Juni 1934 an Aron Freimann65, der an der Stadtbibliothek in Frankfurt die größte 62 In den Blau-Weiß-Blättern (Führerzeitung) des Jahres 1918 (Heft 4, S. 75–77) fin­ det sich eine kurze Einlassung eines Walther Mannheim zu »Unsere Erziehung«, worin er plädiert, die Führer des Blau-Weiß mögen sich, zumeist selbst noch junge Menschen, um die Jugendlichen und ihre (pubertäts)entwicklungsbedingten Verun­ sicherungen bekümmern und nicht zwangsläufig den Schwerpunkt auf komplexe Fra­ gestellungen des »Judeseins« legen. 63 Neben verstreuten autobiographischen Notizen findet sich im Nachlass Rothschild auch das schmale, handgeschriebene Tagebuch. Seine Eintragungen beziehen sich zum größten Teil auf die Jahre von 1926 bis 1934. In der Transkription umfasst es 25 getippte Seiten (16.225 Wörter). Es werden dort nur ganz wenige Namen genannt. Einmal war Rothschild im Hause Mannheim anlässlich einer Lesung von Fritz Perls zur Gestaltpsychologie zu Gast (Tagebuch Rothschild, Nachlass Rothschild). 64 Zum Wirken Mannheims in Palästina s. Leers 1974, S. 54f. 65 Zu seinem Leben und Werk s. Heuberger 2004.

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Judaica-Sammlung in Europa zusammengestellt hatte, 1933 aus dem Dienst entlassen wurde und 1939 in die Vereinigten Staaten emi­ grierte. Nachdem nach Barth auch Springer die Veröffentlichung abgelehnt hatte, fragt Rothschild bei Freimann an, ob er jüdische Institutionen in Deutschland oder im Ausland oder Privatpersonen wisse, die die Herausgabe der ›Symbolik‹ finanziell unterstützen wür­ den, da er selbst »abgesehen von meinem in der heutigen kulturpo­ litischen Lage sehr problematischen Verhältnis zu Klages keine wei­ teren Beziehungen« habe.66 Offenbar wird er in einem Gespräch in Frankfurt von Freimann an die »Jüdische Beratungsstelle für Wirt­ schaftshilfe« weitervermittelt, die ihn ihrerseits wieder an eine andere Stelle verweist. Es finden sich keinerlei Dokumente, die auf einen Fortgang dieser Bemühungen hinweisen würden. Auch die Vor­ schläge Ernst Simons, sich u.a. an den Schockenverlag in Berlin oder an den Ommanuth-Verlag in Tel Aviv zu wenden, werden von Roth­ schild offenbar nicht weiterverfolgt.67 Der Zionist Ernst Simon war bereits 1928 nach Palästina emigriert und von Mai bis Dezember 1934 nach Deutschland zurückgekehrt, um in der von Martin Buber gegründeten »Mittelstelle für Jüdische Erwachsenenbildung«, die ab 1935 der »Reichsvertretung der Juden in Deutschland« unterstellt war, mitzuarbeiten (Simon 1998). Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten diente die »Mittelstelle« als Auffangorganisation für die ihrer kulturellen Heimatrechte beraubten Juden. Zurück zu den Hauptakteuren des Unternehmens: Engel selbst legt ein außerordentliches Tempo an den Tag. Am 3. Juli 1934 bittet er Rothschild um einen Durchschlag des Manuskripts der Arbeit.68 Rothschild schickt ihm daraufhin am 6. Juli 1934 das Manuskript und 66 Rothschild legt dem Brief die gutachterliche Äußerung Klages’ bei und bekundet selbst, die Arbeit »für umwälzend auf dem Gebiete der Neurologie und medizinischen Psychologie« zu halten (Brief Rothschild an Freimann, 17.6.34, Nachlass Rothschild). 67 Auf Rothschilds Anfrage machte ihm Simon mit Schreiben vom 15.6.34 diese und andere Vorschläge. »Die eigentlich jüdischen Stellen sind heute mit den direkten jüdi­ schen Aufgaben so überlastet, dass sie dergleichen wohl kaum in Angriff nehmen können«, so Simon (Nachlass Rothschild). Rothschild kennt ihn als einen der mit Fromm befreundeten Zionisten, die wie auch Leo Löwenthal im Sanatorium von Frieda Reichmann ein- und ausgingen (s. Funk 1983, S. 49f.). Fromm, Löwenthal und Simon waren Mitglieder des Blau-Weiß in Frankfurt, die Hackeschmidt als durch »eine neue thorabewußte Religiosität, […] Orientierung an Bubers Interpretation eines neuen jüdischen Volkstums« und durch sozialistische Ideale charakterisiert sieht (Hackeschmidt 1997, S. 243). 68 Engel an Rothschild vom 3.7.34, Nachlass Rothschild.

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gibt zu bedenken, dass es »keine leichte Lektüre für Sie sein (wird), da das allgemein Bedeutsame zuerst an Hand der Bearbeitung spezi­ eller Fachprobleme entwickelt wird« und rät ihm, manches aus dem Kapitel zum Kleinhirn beim Lesen zu »überschlagen«.69 Im Schreiben, mit dem Engel ihm den Empfang des Manuskripts bestätigt, erklärt er ihm, in jeder freien Minute darin gelesen zu haben und er »alles, was in meinen Kräften steht, zur Publikation des Werkes beitragen« wird und dies auch schon Bernoulli mitgeteilt habe.70 Bereits am 3. August 1934 (Poststempel) schlägt er Rothschild die Veröffentlichung beim Oldenbourg-Verlag in München vor, dessen Lektor Manfred Schroeter »einer der wenigen wissenschaftlichen Lek­ toren« sei, »der undogmatisch zu denken vermag und der für solche übergreifenden synthetischen Betrachtungsarten Sinn und Interesse hat«.71 Er habe schon mit Schroeter einen Privatzuschuss von 1.500,Reichsmark im Falle der Veröffentlichung ausgehandelt. Er bemän­ gelt, er habe Klages vergeblich versucht zu erreichen und bittet Roth­ schild, diesen zu veranlassen, seine Stellungnahme zur ›Symbolik‹ an den Oldenbourg-Verlag zu schicken, er werde auch Bernoulli bitten, in dieser Weise auf Klages einzuwirken. Der Brief endet dann wie folgt: »Ich habe Ihre Arbeit inzwischen zu Ende gelesen und bin, wie Sie wohl bemerken werden, nach wie vor daran über die Maßen interessiert. Ich würde mich unendlich freuen, wenn die Sache bald zum Klappen kommt. Ich benutze mit Freuden die Gelegenheit, mich für eine Arbeit einzusetzen, die ich für epochal halte und habe dabei die subjektive Befriedigung für mein Teil etwas von dem Unrecht gut zu machen, das meine ›Rassegenossen‹ an der sog. ›jüdischen Geistigkeit‹ gesün­ digt haben.«72 Brief Rothschild an Engel vom 6.7.1934, Film-Archiv Berlin, Nachlass Erich Engel, 182. 70 undatierter Brief Engel an Rothschild, Nachlass Rothschild. 71 Der Oldenbourg-Verlag, einer der größten Verlage in Deutschland, war bei aller Heterogenität in Thematik und Ausrichtung doch vorwiegend nationalkonservativ eingestellt. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme betrieb der Verleger Wilhelm Oldenbourg sog. Konjunkturveröffentlichungen. Jüdische Mitarbeiter wie z.B. die Historikerin Hedwig Hintze, Ehefrau des Sozialhistorikers Otto Hintze, wurden 1933 entlassen. Zur Politik des Verlags und speziell auch zu Manfred Schröter s. Wesolowski 2010. 72 undatierter Brief Engels an Rothschild auf dem Briefpapier des Hotels Alhambra, Kurfüstendamm in Berlin (Poststempel 3.8.34), Nachlass Rothschild. Im Schreiben vom 4.8.34 an Klages legt Rothschild diesem den Sachverhalt dar und bittet ihn, seine 69

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Zwölf Tage später meldet sich Engel mit einer Postkarte aus Cla­ rens bei Montreux, um Rothschild mitzuteilen, dass er Bernoulli »während eines nächtlichen Aufenthalts in Basel« sprechen und ihn bitten konnte, Klages zu veranlassen, beim Oldenbourg-Verlag zu intervenieren. Er macht Alternativvorschläge zu Oldenbourg, versi­ chert Rothschild, weitere Finanzierungsversuche über die von ihm zugesagte Summe nähmen »ihren Gang«, und er sorge dafür, dass Rothschild über seinen Zuschuss verfügen kann, da er sich längere Zeit im Ausland aufhalten werde.73 Mit Postkarte aus Zürich teilt Engel Rothschild vierzehn Tage später mit, dass der Oldenbourg-Ver­ lag die ›Symbolik‹ als bedeutendes Werk anerkenne, aber als nicht in sein Programm passend abgelehnt und vorgeschlagen habe, sich an medizinische Fachverlage zu wenden. Engel werde sich nun längere Zeit in Wien aufhalten und dort selbst mit Fachverlagen sprechen.74 Bereits zuvor, am 18. August 1934, hat Rothschild Engel mitge­ teilt, dass zwar Klages an Oldenbourg geschrieben habe, er selbst sich jedoch wenig Hoffnungen mache. Nüchtern legt er ihm die zwei Gründe dar, die das Buch zu einem Risiko für Verleger werden lasse: weil es von einem Juden verfasst sei und dies »den Anschein erwecken kann, man huldige einer Gesinnung, die dem öffentlichen Kurs ent­ gegengerichtet ist. Zweitens ist es ein auf einem Gebiet revolutionäres Buch, das in den Lagern der Fachwissenschaft zunächst mehr Ableh­ nung und vielleicht auch direkte Angriffe als Zustimmung auslösen dürfte«. Gegen Ende des Schreibens lässt er Engel wissen, er freue sich zutiefst über »die lebendige Anteilnahme, die die Lektüre des Manu­ skriptes bei Ihnen geweckt hat […] Ist sie mir doch ein Anzeichen, dass das Buch auch für andere sichtbar machen kann, dass das Leben in seinen Formen von seinem Wesen spricht, und was es ist«.75 Im Herbst 1934 lässt Rothschild von einem Ferienaufenthalt in Badenweiler aus Klages wissen, dass, was den Druck der ›Symbolik‹ angeht, nichts mehr weitergehe und auch die Finanzierung außer des Engelʼschen Beitrags noch nicht feststehe [68 R]. Klages beruhigt Rothschild auch hinsichtlich der Druckkostenzuschüsse, daran dürfte das Unternehmen nicht mehr scheitern [69 K]. Stellungnahme an den Oldenbourg-Verlag zu schicken (66 R, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/11). 73 Postkarte Engel an Rothschild mit Poststempel 15.8.34, Nachlass Rothschild. 74 Postkarte Engel an Rothschild mit Poststempel 29.8.34, Nachlass Rothschild. 75 Rothschild an Engel 18.8.34, Nachlass Rothschild.

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An diesem Punkt der Entwicklung wird Haeberlin von Rothschild aktiv ins Spiel gebracht. Hatte Klages schon am 16. April 1934 Roth­ schild und am 3. Mai 1934 in seinem Empfehlungsschreiben an den Springer-Verlag [Anlage zu 62 K] Carl Haeberlin als Sachverständi­ gen empfohlen, so bekundet Rothschild erst am 9. Oktober sein Inter­ esse an diesem Vorgehen [71 R].76 Am 11. Oktober bringt er das Manuskript zu Haeberlin nach Bad Nauheim, und am nächsten Tag gibt dieser bereits Klages seinen Ein­ druck wieder, Rothschild komme offenbar zu erstaunlichen Erkennt­ nissen in der Anwendung der Klagesʼschen erscheinungswissen­ schaftlichen Methodik und ihren Ergebnissen.77 Mit Schreiben vom 15. Oktober 1934 fragt Bernoulli nach, ob Rothschild schon eine Nachricht von Haeberlin habe. Da sich Erich Engel noch in Wien befindet, rät Bernoulli Rothschild, sich bei Fragen an dessen Frau zu wenden, »die sehr gut orientiert ist [...] sie heisst Okun«.78 Aus dem nächsten erhaltenen Schreiben vom 14. Dezember 193479 geht her­ vor, dass Rothschild sich zwischenzeitlich mit Engel in Berlin getrof­ fen hat, denn Bernoulli fragt, wie ihrer beider Zusammensein gewesen sei. Es geht zudem daraus hervor, dass Verhandlungen mit dem in Berlin ansässigen Karger-Verlag schon vor dem Abschluss stehen und man einem offenbar nicht ganz zufriedenstellenden Vertrag zustim­ men müsse: »stille« bleibe man vor dem Sachverständigen-Gutachten von Klages in der Sache Karger stehen – eine Druckkostenaufstellung, die ausweist, der »geforderte Druckkostenzuschuss von RM. 3500,-bzw. 3800,--« würde die Herstellungskosten nicht decken [s. auch Anlage zu 73 K]. Zu den dort versammelten Einschätzungen kam Klages aufgrund seiner Beratung mit Meiner vom Barth-Verlag, der selbst im April 1934 die Herausgabe abgelehnt hatte.80 Bernoulli teilt nun Rothschild mit, er wolle mit Karger über die Begrenzung des Druckkostenzuschusses auf 3000 Reichsmark verhandeln. Vor Ver­ tragsabschluss kürzt Rothschild das Manuskript, er streicht das Kapi­ tel über die Hormone, er kürzt das Kapitel über das Kleinhirn und er 76 Er schreibt aus Basel. Wahrscheinlich ist er Gast bei Bernoulli und dieser Vor­ schlag geht auf Unterredungen mit diesem zurück (DLA Marbach, Nachlass Kla­ ges 61.11900/14). 77 Haeberlin an Klages 12.10.34, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.9598/26. 78 Brief Bernoulli an Rothschild 15.10.34, Nachlass Rothschild. 79 Brief Bernoulli an Rothschild 14.12.34, Nachlass Rothschild. 80 Brief Meiner/Barth-Verlag an Klages 10.12.1934 DLA Marbach, Nachlass Kla­ ges 61.8094/31.

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reduziert die Anzahl der Abbildungen um elf, was wahrscheinlich zu einer »Verbilligung der Herstellungskosten« führt.81 Aus einem Brief zwei Tage später, mit dem Rothschild an Bernoulli u.a. das schriftliche Einverständnis Kargers weiterleitet, geht hervor, dass es sich insge­ samt um 3000 Reichsmark handelt, die als Druckkostenzuschuss zugesagt wurden, und Rothschild nicht weiß, was er nun dem Verleger wegen der restlichen 1000 Mark mitteilen soll. Er meint, Karger solle »mit den zunächst überweisbaren 1500 bzw. 2000 Mk [...] schon anfangen, etwa die Hälfte des Manuskriptes zu setzen« und schreibt gegen Ende: »Es scheint ja nun endlich mit dem Druck Wirklichkeit zu werden. Ich bin sehr froh darum und danke Ihnen vielmals«.82 Haeberlin ließ sich bedeutend mehr Zeit als Engel, die Arbeit zu lesen, denn am 11. Januar 1935 entschuldigt er sich für die Verzöge­ rung – aus gesundheitlichen und Arbeitsgründen – und erbittet wei­ tere vierzehn Tage, in denen er angibt, das Manuskript »in einem Zug durcharbeiten zu können«.83 Offenbar erfährt er von Rothschild, dass der Vertrag mit Karger kurz vor dem Abschluss steht, denn drei Tage später gratuliert ihm Haeberlin dazu.84 Sonja Okun teilt Rothschild mit Datum vom 18. Januar 1935 mit, der Vertrag mit Karger sei nun soweit fertig und Rothschild brauche nur noch zu unterschreiben85, und mit Datum vom 24. Januar 1935 übersendet sie ihm eine Kopie des Schreibens, mit dem Engel an die »Verlagsbuchhandlung S. Karger« den Scheck über die zugesagten 1500 Mark übersandte.86 Kurz danach hält Haeberlin seine Zusage ein, denn am 27. Januar 1935 zitiert Rothschild in einem Brief an Bernoulli aus dem die Arbeit gut heißenden Brief von Haeberlin und bietet ihm den ganzen Text an für den Fall, dass ihm dies zur Auf­ bringung der letzten 500 Mark von Nutzen sein könnte. Allerdings würden ihm »einige Formulierungen zu gesteigert erscheinen«. Im Rothschild an Bernoulli 6.1.35, Nachlass Rothschild. Rothschild an Bernoulli 8.1.35, Nachlass Rothschild. 83 Haeberlin an Rothschild 11.1.35, Nachlass Rothschild. 84 Haeberlin an Rothschild 14.1.35, Nachlass Rothschild. 85 Brief Okun an Rothschild 18.1.35, Nachlass Rothschild: Sonja Okun bedankt sich für die Übersendung von »Rechts und Links« (gemeint ist Rothschilds Beitrag »Über Links und Rechts« von 1930) und eine andere Broschüre – wahrscheinlich der Sonderdruck der 1934 veröffentlichten Arbeit »Von der Übereinstimmung im Aufbau des Zentralnervensystems und des Systems der Hormone«. »Rechts und Links« habe auch sie verstanden und: »Ich habe ein geradezu körperliches Gefühl dafür, dass mir da ›ein Licht aufgeht‹, das nicht nur erhellt, sondern in gewisser Weise auch wärmt.« 86 Okun an Rothschild 24.1.35, Nachlass Rothschild. 81

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selben Brief erklärt er seine Ungeduld, denn »die ›Symbolik‹ enthält [...] eine ganze Anzahl Bearbeitungen von gleichsam ›aktuellen‹ Pro­ blemen, und für die sind anderthalb Jahre bei dem unaufhaltsamen Produktionstempo der Wissenschaft schon eine lange Zeit«.87 Endgültig fertig und auslieferbar ist die »Symbolik des Hirn­ baus« Ende Mai 1935. »Von einer Reise zurückkehrend vorfinde Ihre Symbolik und freue mich«, schreibt Bernoulli im Juni an Roth­ schild.88 Davor und auch danach versucht Bernoulli »mit Volldampf« weiter Geld zusammenzubringen, wie er auf derselben Postkarte schreibt. Eine kurze Rechnung in einem der undatierten Briefe an Rothschild gibt folgendes Bild: Eine Baronin G. Rothschild hat 500 Mark zugesagt, diese aber zurückgezogen, als der Verleger Karger – »ein ungeschickter Mensch« – sie in irgendeiner Weise am Telefon unter Druck gesetzt hatte. Bernoullis Schwiegermutter steuert 100 Mark bei, »Herr von Mendelssohn« und »ein anderer« ebenfalls jeweils 100 Mark. Bernoulli müsse jetzt noch 200 Mark aufbringen, was ihm wohl auch gelänge.89 Wann welche Summen noch offen sind, erschließt sich nicht mehr. Mit Datum vom 17. April 1936 findet sich ein Originalan­ schreiben von Rothschild, gerichtet an die »Moses Mendelssohn-Stif­ tung zur Förderung der Geisteswissenschaften« nebst maschinen­ schriftlich adressiertem Brief »zu Händen von Herrn Robert v. Mendelssohn« an die Adresse Jägerstr. 49/51 in Berlin, dem Bank­ haus und zeitweiligen Wohnsitz der Mendelssohns. Der angeschrie­ bene Robert von Mendelssohn war der Sohn des im Juni 1935 ver­ storbenen Stiftungsgründers Franz von Mendelssohn. Rothschild bezieht sich in seinem Schreiben auf den Rat von Francesco von Men­ delssohn und bittet die Stiftung, die restlichen 500 Mark »beizusteu­ ern«. Als Referenz sende er das Schreiben von Klages an den SpringerVerlag mit. Ob ein solcher Brief je abgeschickt wurde, ist zweifelhaft, zumindest diese Fassung des fertigen, maschinenschriftlichen und unterschriebenen Briefes wurde nicht abgeschickt.90 Die Mendelssohn-Stiftung wurde 1929 von Franz von Mendels­ sohn, dem Bankier und Onkel von Francesco von Mendelssohn Rothschild an Bernoulli 27.1.35, Nachlass Rothschild. undatierte Postkarte Bernoulli an Rothschild (Poststempel Juni 35/nur teilweise leserlich), Nachlass Rothschild. 89 undatierter Brief Bernoulli an Rothschild, Nachlass Rothschild. 90 Schreiben Rothschild an Mendelssohn-Stiftung 17.4.35, Nachlass Rothschild. 87

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(1901–1972) gegründet. Francesco von Mendelssohn91, von jungen Jahren an mit Christoph Bernoulli befreundet, brachte wie dieser unermüdlich Menschen zusammen, nicht nur Künstler, Schriftsteller und Schauspieler, er lud großmütig auch Stricher, Lastkraftwagenfah­ rer u.a. aus gerade besuchten Kneipen zu seinen legendären Partys im Grunewald und nach seiner Emigration in seinem Haus in New York ein. Robert von Mendelssohn hat Bernoulli einen Zuschuss von 100 Mark zugesichert.92 Nur funktioniere die Mendelssohn-Stiftung schlecht, schreibt Bernoulli Ende August an Rothschild und bemän­ gelt unwirsch, dass Francesco noch kein Exemplar von Karger erhalten habe.93 Wenn sich keine anderen Möglichkeiten ergäben, die restli­ chen 400 Mark zusammenzubringen, würde er »in Berlin [...] mit M. reden«, kündigt er auf derselben Postkarte Rothschild an. Rothschild wanderte kurze Zeit später nach Palästina aus. Der briefliche Kontakt mit Sonja Okun blieb noch einige Zeit bestehen. Aus den von ihr erhalten gebliebenen Schreiben94 geht hervor, dass wohl auch der Kontakt zu Bernoulli vorerst von Bestand ist. Sonja Okun erfährt von Rothschilds Hochzeit mit Margot Hellmuth im April 1936, denn im Mai 1936 gratuliert sie ihm dazu. Der Brief 91 Francesco (ursprünglich Franz) von Mendelssohn (1901–1972), der Cousin von Robert, war der Bruder von Eleonara und der Sohn von Giulietta und dem Bankier Robert von Mendelssohn. Er galt als Dandy und Bürgerschreck und war offen homosexuell. Gebildet und begabt verfolgte er bis 1929 eine Karriere als Solocellist und als Cellist des Kringler-Quartetts. Danach wandte er sich dem Theater zu, assistierte bei seinem Freund Erich Engel und bei Max Reinhardt. War Erich Engel der Uraufführungsregisseur der Dreigroschenoper 1929 am Theater am Schiffbauerdamm in Berlin, so war es Francesco von Mendelssohn, der sie zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten inszenierte. Unter anderem war er eng mit Ruth Landshoff, der Nichte von Samuel Fischer, mit Wladimir Horowitz, dem Tänzer Harald Kreuzberg, den er in seiner Karriere maßgeblich förderte und unterstützte, Gustaf Gründgens und Christoph Bernoulli befreundet (Blubacher 2008). 92 undatierter Brief Bernoulli an Rothschild, Nachlass Rothschild. 93 Bernoulli an Rothschild, Postkarte mit Poststempel 28.8.1935, Nachlass Roth­ schild. Nach Blubacher (2008, S. 227) war Francesco von Mendelssohn von einem Aufenthalt in Venedig im Sommer 1934 nicht mehr nach Berlin zurückgekommen und gab seinen Freunden nach, die ihn insbesondere wegen seiner offen bekundeten Homosexualität geraten hatten, nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren. Sollte Rothschild ihn je kennengelernt haben, dann nicht in Berlin, vielleicht aber in Basel, da er sich 1935 abwechselnd in Venedig, Paris und bei Bernoullis in Basel aufgehalten haben soll (ebd., S. 235). 94 Briefe Okun an Rothschild 15.1.36 und 25.5.36, Nachlass Rothschild.

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vom Januar 1936 zeugt von den hastigen, schnellen Abbrüchen und Umbrüchen, die die politische Situation in Deutschland erzwingt. Auch sie selbst »gondele in der Welt rum« – der Brief entstammt einem mehrmonatigen Aufenthalt bei Freunden in Budapest, der nächste hat eine holländische Adresse –, »um eventuell neue Exis­ tenzmöglichkeiten für E. und mich zu erspähen. Da ein vorzeitiges Bekanntwerden seines Wunsches wegzugehen, ihn dort gefährden könnte, ist das auch nicht allzu einfach. [...] Francesco v. Mendelssohn ist in Amerika – aber das wird ja Bernoulli am besten wissen«. Vorher hat ihr Rothschild wohl – noch in der Moshava Ramoth Hashivim lebend95, in die er seinem Freund Mannheim gefolgt ist – sein Unbehagen am Zionismus eingestanden, denn sie bedauert ihn: »Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere Gespräche über Zionismus auf dem strahlend erleuchteten Kurfürstendamm. Und wenn auch ich positiv dazu stehe, so finde auch ich nach Ihren Ausführungen, dass dort kein Platz für Sie ist.« Von Gershom Scholem, den Rothschild in Jerusalem kennengelernt hat – damals schon sind sie wahrscheinlich Nachbarn in der Redok Road in Rehavia, einem Stadtteil Jerusalems – und von Bernoulli erfährt er von ihrer Kehlkopftuberkulose, denn im Mai 1937 zeigt er sich in einem Schreiben besorgt um ihre Gesundheit. Wir erfahren hier auch, dass er »in Jerusalem wieder begonnen (hat), Analysen zu machen«. Er schreibt: »Ich hoffe, mit der Zeit in etwas engere Berührung mit den hiesigen Analytikern zu kommen, weil meine jetzigen wissenschaftlichen Arbeitspläne engere Berührung mit deren Interessenkreis haben«.96 Sonja Okun hält sich ab Sommer 1936 in einem Sanatorium in der Schweiz auf. Engel finanziert diesen Aufenthalt teilweise mit monatlichen Geldanweisungen. 1938 kehrt sie nach Berlin zurück, sorgt dafür, dass Engels Ehefrau zu ihm zieht – die Söhne sind in einem Internat –, hält sich selbst nicht mehr bei ihm auf, damit er sich nicht durch sie, eine Jüdin, gefährde.97 Sie nimmt ihre Arbeit in der Jugend-Allija, die für so viele jüdische Jugendliche wie möglich die Emigration in andere Länder organisiert, wieder auf. Sie arbeitet eng mit Paul Eppstein (1902–1944) zusammen, einem Vorstands­ 95 Der Brief von Rothschild an Okun vom 22.11.35 ist nicht erhalten. Von den Adress­ angaben im letzten Brief Rothschild an Klages vom 4.11.35 ergibt sich höchstwahr­ scheinlich noch Ramoth Hashivim, s. DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/27. 96 Rothschild an Okun 16.5.1937, Nachlass Rothschild. 97 zu Okun und Engel: Köper 2007, S. 47–77, S. 119–143.

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mitglied der »Reichsvertretung der Deutschen Juden« in Berlin, der wie alle anderen Mitarbeiter die Zyankali-Kapsel in den Kleidern versteckt hat, und wird wie Eppstein und seine Frau Anfang 1943 nach Theresienstadt deportiert. Nach dessen Erschießung im Herbst 1944 fährt sie mit einem der letzten Transporte nach Auschwitz und wird dort ermordet.98 Erich Engel inszeniert weiter Filme für die deutsche Unterhal­ tungsindustrie. Nach 1945 wird er Leiter der Münchner Kammer­ spiele (1945–1947), arbeitet ab 1947 wieder zusammen mit Brecht und seinem Berliner Ensemble am Deutschen Theater in Ost-Berlin und für die DEFA, lebt in West-Berlin und trennt sich wieder vom Deutschen Theater (Köper 2007). Ludwig Klages gibt 1940 Teile des Schuler-Nachlasses heraus und versieht sie mit einer 119-seitigen Einleitung, in der er alle rassistisch-antisemitischen Vorurteile, die im Nationalsozialismus kulminieren, rekapituliert. In diesem Text wird das Ausmaß seines Antisemitismus nach außen hin deutlich. Rothschild wird damit erst 1951 konfrontiert und bezieht in seiner nach 1947 erst wieder kontinuierlich mit Klages aufgenommenen Korrespondenz Stellung dazu (s. Seite 183ff.). Christoph Bernoulli half während des Zweiten Weltkrieges zahl­ reichen Emigranten, Deutschland zu verlassen. Mit seiner Hilfe konn­ ten einige von ihnen ihre Kunstschätze veräußern. Er unterhielt eine Art Depot für aus Deutschland gerettete Kunstwerke. Die antisemiti­ sche Feindseligkeit Klages nimmt er wohl erst in den 1950er-Jahren wahr. Er distanzierte sich deutlich von Klages’ Antisemitismus.99 98 Auf ein Schreiben zu Gershom Scholems 80. Geburtstag antwortet dieser Ber­ noulli am 10.1.1978: »Sie kam nachher nach Theresienstadt und als die ihr am engsten dort verbundene Frau, die Frau von Paul Eppstein, 24 Stunden nach dessen Erschießung mit dem nächsten Transport nach Auschwitz verschickt wurde, meldete sie sich freiwillig – im vollen Wissen, daß dies der Tod war« (Brief Scholem an Bernoulli vom 10.1.1978, Universitätsbibliothek Basel, Handschriftenabteilung, Nachlass Bernoulli A II 40,1). In einem späteren Brief schreibt er ihm: »Zu denken, daß Sie Sonja Okun gekannt haben!! Ein wunderbarer, lebendiger Mensch« (Brief Scholem an Bernoulli, ohne Datum, ebd. A II 40,2). 99 Nach Kasdorff bekundete Bernoulli auf die Nachfrage von Manfred Schlösser hin, der zum 100. Geburtstag von Karl Wolfskehl eine Ausstellung kuratierte: »Bernoulli schließt mit einer persönlichen Erklärung: es heiße, Wolfskehl habe Klages verziehen; er aber könne weder gutheißen noch verzeihen, obwohl er ein Schüler von Klages und ein ihm in vieler Hinsicht sehr verpflichteter Mensch sei« (Kasdorff 1978, S. 501).

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Rothschilds Positionen in der Neurologie

Rothschilds Positionen in der Neurologie Rothschild war als Neurologe weitestgehend ein theoretischer Neu­ rologe. Die Versuchsreihen, mit denen er geschlechtsspezifische Gesetzmäßigkeiten in der Bevorzugung der linken Hand, des linken Armes, der rechten Hand und des rechten Armes beim Falten der Hände, Verschränken der Arme und beim Ineinanderlegen und Umfassen der Hände während seiner Tätigkeit zwischen April 1928 und Sommer 1930100 in Frankfurt herausarbeitete, bilden die Aus­ nahme. Befand er sich in Heidelberg bei Frieda Fromm-Reichmann in einem reichhaltigen, psychotherapeutisch innovativen Umfeld, so traf er erst recht mit Beginn seiner Tätigkeit bei Kurt Goldstein auf ein interdisziplinär vernetztes Wissenschaftsfeld (Kreft 2005). Kurt Goldstein stand den Lehren Freuds offen gegenüber und initiierte eine Vorlesungsreihe zur Psychoanalyse an der Frankfurter Universität.101 Er befand sich im Austausch mit seinem Cousin, dem Philosophen Ernst Cassirer und war von dessen »relationaler Ontologie« beein­ flusst. Ebenfalls war er in die Gestaltpsychologie involviert. Der der Gestalttheorie angehörende Max Wertheimer hatte den psychologi­ schen Lehrstuhl der Universität Frankfurt inne, und mit Goldstein eng zusammen arbeitete der Gestaltpsychologe Adhémar Gelb. Das neue akademisch-neurologische Feld war in besonderer Weise von Gold­ steins Vorgänger Ludwig Edinger vorbereitet. Beide Forscher hatten Interesse an der vergleichenden Neuroanatomie und bemühten sich um ein psychophysiologisch integriertes Verständnis der Funktionen des Kortex (Kreft 2005). Zu Beginn seiner Tätigkeit in Frankfurt arbeitete Goldstein auch mit dem Physiologen Albrecht Bethe zusam­ men, der in tierexperimentellen Versuchsreihen überzeugende Anhaltspunkte für die Plastizität des ZNS herausarbeitete (Stahnisch 2016). Rothschild fand ein gleichzeitig weitgefächertes und um inno­ vative Frage-, Denk- und Forschungsweisen konzentriertes neurolo­ gisches Milieu vor, noch um weitere 14 Jahre weiterentwickelt als das, was der Soziologe Gerald Kreft für die »erste Hirnforschungsstätte 100 Die Probanden entstammten zum überwiegenden Anteil dem Städtischen Kran­ kenhaus Frankfurt, ebenfalls fanden sich die Mitarbeiter des Neurologischen Instituts und des Hirnverletztenheims darunter und eine große Kinderpopulation aus einer Schule in Frankfurt (S. Rothschild 1930, bes. 457–462). 101 Zusammen mit dem Internisten Gustav von Bergmann organisierte er eine Reihe von Kolloquien, die an sechs Abenden von Oktober bis Dezember 1925 stattfanden und von Hans Prinzhorn moderiert wurden (Siefert 1996, S. 190f.; Laier 1996, S. 241).

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Deutschlands« zum Zeitpunkt des Übergangs von Edinger auf Kurt Goldstein im Jahre 1914 beschrieb als »eine einzigartige ›neurowis­ senschaftliche‹ Infrastruktur. Sie umfasste die vergleichende Neuro­ anatomie, Neuropathologie und Tierbeobachtung, neurologische Poliklinik, nervenärztliche Praxis sowie psychologische Diskussions­ abende« (Kreft 2005, S. 242). Rothschild befand sich zusätzlich zum interkollegialen Aus­ tausch zumindest noch in einer anderen Diskussionsrunde, einer, die in der Wohnung des Volkswirts Walter Mannheim stattfand.102 Im Hirnverletzenheim, das er auch stellvertretend leitete, war er mit Ver­ wundeten des Ersten Weltkriegs konfrontiert, auf die er sich sowohl mit seinem neurologischen Wissen als auch mit psychoanalytisch stimulierten Fragestellungen bezog. Eine ganz besondere Faszination übte die vergleichende Wirbeltierhirnsammlung aus, die Ludwig Edinger zusammengestellt hatte.103 Nach seiner Immigration in Palästina 1936 wurde Rothschild Mitglied des Instituts für Psychoanalyse Jerusalem, arbeitete als Psy­ choanalytiker in seiner Praxis und unterzog sich einer Kontrollanalyse durch Max Eitingon. Ab 1949 wurde er als Consultant an der neu gegründeten medizinischen Fakultät der Hebräischen Universität in Jerusalem tätig, hielt dort auch im Bereich Medizinische Psychologie Vorlesungen und wurde 1955 zum Klinischen Professor und kurze Zeit später zum Direktor des Fachbereichs Psychiatrie ernannt, ein Amt, das er bis zu seiner Pensionierung 1966 bekleidete (Lowenthal o. J.).

Rothschilds Position zur Zentren- und Reflexlehre Rothschild nimmt in der zeitgenössischen Neurologie eine besondere Stellung ein, die sich zwischen der sog. Zentren- und Reflexlehre und deren Gegnern befindet. Spätestens seit Paul Brocas Verortung des Sprechvermögens im dritten Ventrikel des Frontalhirnlappens der linken Großhirnhälfte in den 1860er-Jahren werden die Loka­ 102 Tagebuch Rothschild, Nachlass Rothschild. Über Walter Mannheim ist nicht viel bekannt. Näheres s. u. Anm. zu 40 R, 65 R, 94 R. 103 Zur Tätigkeit im Hirnverletztenheim s. Tagebuch Rothschild, Nachlass Rothschild und Rothschild 1989b, zur Sammlung ebd. und Kreft 2014, demzufolge sich in dieser Sammlung, seinerzeit die überhaupt größte dieser Art, 589 Objekte befanden.

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Rothschilds Position zur Zentren- und Reflexlehre

lisationsbemühungen104 zur führenden Wissenschaftspraxis in der neuen Disziplin der akademischen Neurologie. Das heißt, es gelingt zunehmend genauer, bestimmbare anatomische Strukturen spezifi­ schen Funktionen zuzuordnen.105 Zum Anfang des 20. Jahrhunderts führt dies zu den cytoarchitektonischen Kartierungen (1909) des Gehirns bei Korbinian Brodman (1868–1918), dessen Einteilung in einzelne morphologisch und funktional unterscheidbare Strukturen auch heute der Referenzrahmen örtlicher cerebraler Bestimmungen ist. Mit einer solchen Neukartierung, ergänzt um Mikrostrukturen und deren mutmaßliche Funktionen, war zwanzig Jahre später der Psychiater Karl Kleist befasst, der 1930 Kurt Goldstein bei seinen Bemühungen um eine eigene klinische Bettenabteilung abdrängte, weswegen Goldstein Frankfurt verließ und die Leitung der neurolo­ gischen Abteilung des Krankenhauses in Berlin-Moabit übernahm (Kreft 1999, 2005). Als einer der wichtigsten frühen Gegner des Lokalisationismus gilt Marie-Jean-Pierre Flourens (1794–1867), der mit seinem Äquipo­ tentialprinzip die Annahme formuliert, spezifische Reaktionen des Kortex seien von all seinen Orten aus möglich. Es gibt zahlreiche Varianten von Lokalisations- und Antilokalisationstheorien in der Erforschung des Gehirns. In den unterschiedlichen Positionen wurden – zumindest implizit – Fragen verhandelt nach der Berechtigung von den Menschen normierenden Systematiken, Determiniertheit

104 Einen differenzierten Überblick über die Entwicklung der Lokalisationsvorstel­ lungen, ihrer Gegner und ihrer Verschränkung mit der sich entwickelnden Neuro­ nenlehre gibt Stanley Finger in seiner Neurologiegeschichte von 1994 in den Kapiteln »The Era of Cortical Localization« (S. 32–50) und »Holism and the Critics of Cortical Localization« (S. 51–62). In Teilbereichen ausführlicher und die mit den jeweiligen Positionen einhergehenden politischen und ideologischen Implikationen verdeutli­ chend werden Denken und methodisches Vorgehen der einander gegenüberstehenden Wissenschaftlergruppen bei Michael Hagner (1997) herausgearbeitet, insbesondere auch die Widersprüchlichkeiten in den Annahmen von Carl Gustav Carus, der als Gegner der Lokalisation wieder zu normierenden, rassistischen und stigmatisierenden Aussagen in dem von ihm konstruierten psycho-physiognomischen Denkgefüge kommt. Ralph-Axel Müller (1991) veranschaulicht ausführlich die entscheidenden Errungenschaften und Abwege der Lokalisationisten. 105 Es kommen hierbei zumeist sog. Isolierungsexperimente zur Verwendung: Man variiert künstliche Ausschaltungen von Zentren – durch Lähmung der Funktion oder Entfernung eines Teilgebietes –, bis man negativ über den immer spezifischer werdenden Ausfall einer Funktion deren hirnorganischen Ausgangspunkt zu lokali­ sieren vermeint.

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versus Willensfreiheit, Fragen nach den biologischen Korrelaten des Bewusstseins, des Denkens, Fühlens und der Erinnerung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts stellt der englische Neurologe John Hughlings Jackson grundsätzlich die Methode in Frage, von Symptomen auf die Funktion der Zentren zu schließen, deren patho­ logische Deformierung die Symptome, die sich meistens als Ausfall von Funktion zeigen, offenbar zur Folge hat (Finger 1994).

Von der Plastizität des Nervensystems Kurt Goldstein und der Physiologe Albrecht Bethe werden zu den Wortführern einer damals neuen Sicht auf die Lokalisationsbestre­ bungen, indem sie die Erfahrungen des Zusammenwirkens und der Veränderbarkeit von Funktionen entsprechend variierender körperli­ cher bzw. äußerer Umweltvoraussetzungen gegen die Annahme fest gefügter lokalisationistischer Zuordnungen ins Felde führen. Der Physiologe Albrecht Bethe verwendete als Erster den Begriff Plastizität106 zur Kennzeichnung bestimmter Eigenschaften des Ner­ vensystems, die dazu verhelfen, dass sich bei funktionellen oder mor­ phologischen Beschädigungen »der Organismus durch Vermittlung eines Zentralnervensystems äußeren und inneren Veränderungen derart anpaßt, dass von Neuem ein zweckmäßiges Zusammenarbeiten der Einzelorgane zustande kommt« (Bethe, Fischer 1931b, S. 1046). Der Plastizitätshinweis, dem Goldstein nachgeht, bezieht sich auf Wahrnehmungsversuche mit Patienten, deren Calcarina, »die Endstätte der optischen Bahnen in einer Hemisphäre«, zerstört wor­ den war – zumeist infolge von Kriegsverletzungen, insbesondere von Kopfschüssen. Diese Patienten würden eine andere Netzhautstelle ausbilden, über die sie am deutlichsten sehen (Goldstein 1931, S. 1133).

Ramón y Cajal beschrieb bereits früher das Aussprossen von Nervenfasern nach Schnitt und verstand dies als Regenerationsfähigkeit der Nervenfasern. Den komplex­ eren und allgemeineren Zusammenhang von funktionellen und morphologischen Anpassungsleistungen an veränderte organismische Bedingungen beschrieb Bethe (s. Stahnisch 2016). 106

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Von der Plastizität des Nervensystems

Paul Weiss107 belegt nun in seinen Experimenten, bei denen er Amphibien andere Gliedmaße neben das ursprüngliche Gliedmaß transplantiert, z.B. ein Bein neben einen Arm, dass nach einer Erho­ lungszeit von wenigen Wochen die transplantierten Extremitäten »aktive Funktion« zeigen. Unter dem Begriff »aktive Funktion« ver­ steht er: »die durch nervöse Impulse vermittelte koordinierte Muskeltä­ tigkeit innerhalb der Extremität, jene Tätigkeit, die sich nach außen hin in normaler, geordneter (im Gegensatz zu krampfartiger) Bewe­ gung der Extremität kundtut.« Und er fährt fort: »Aktive Funktion in dem hier definierten Sinne wird von jeder normalen Extremität geleis­ tet und in gleichem Ausmaße, das zeigt sich in den Versuchen, von den Transplantaten geleistet« (Weiss 1928, S. 3). Er und auch Bethe verweisen eindringlich darauf, dass diese Plastizitätshinweise nicht auf Lernvorgängen beruhen können.108 Rothschild referiert in der »Symbolik des Hirnbaus« als Plasti­ zitätshinweise u.a. auch die Wiederkehr der Funktion nach experi­ menteller »Vertauschung der normalen nervösen Verbindungen des Zentralorgans mit der Peripherie« (Rothschild 1935, S. 2), wie dies Bethe tat, indem er bei einem Hund die beiden Ischiasnerven mitein­ ander gekreuzt vernäht hat. Mit Bethe, Goldstein, Weiss u.a. sieht Rothschild die starre Zen­ tren- und Reflexhierarchie, die als fest und nicht auflösbar angenom­ mene »Abhängigkeit der Erregungswirkung von ihren Leitungsbah­ nen« als nicht mehr haltbar an, warnt aber vor einer radikalen Aufgabe bisheriger Vorstellungen, zumal Sherrington, Pawlow, Magnus und Rademaker weitere Differenzierungen hätten ausarbeiten können (a.a.O, S. 2f.; 35 R). Rothschild schreibt: »Wenn Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit dem ZNS auch in einem früher für unvorstellbar gehaltenen Maße eigen sein mögen, so besitzt es nicht minder eine fest gefügte Struktur mit einer großen Zahl voneinander abgegrenzter, verschiedenartig gebauter Kerne, Ganglien Paul Weiss (1898–1989): Biologe, Physiologe, emigriert in die Vereinigten Staa­ ten 1930, wird mit Ludwig von Bertalanffy zum Protagonisten der Systemtheorie (General System Theory). 108 In der Diskussion seiner Amphibienexperimente in den 1920er-Jahren wendet er sich einerseits gegen die Vorstellung, die Tiere hätten es »gelernt«, das Transplantat zu gebrauchen, andererseits gegen die Annahme einer sich auswirkenden vorgegebe­ nen anatomischen Spezifität: »Keinerlei funktionelle Spezifität« würde »das Aus­ wachsen der regenerierenden Nervenfasern« leiten (Weiss 1928, S. 22). Ähnlich Bethe 1925, S. 81. 107

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oder ›Zentren‹, und es hieße sich gegen Tatsachen verschließen, wenn man nicht anerkennen würde, daß die Ausgeprägtheit der Sonder­ strukturen ihren Trägern eine besondere Bedeutung zuzusprechen ver­ langt. Jede Funktionstheorie, die nicht aus der klaren Gliederung des ZNS, wie sie uns Anatomie und Entwicklungsgeschichte gezeigt haben, herauswächst, mißachtet die sicherste Unterlage, die uns die Wirklich­ keit auf diesem Gebiet gegeben hat! [...] Der funktionale Sinn der hochorganisierten Struktur des ZNS muß die vornehmste Aufgabe jeder Theorie über dieses Organ bleiben, und nur ergänzend muß sie einbeziehen, wie trotz eines deutlichen Lokalisationsprinzips eine sol­ che Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit möglich sind.« (a.a.O., S. 4)

Wahrscheinlich geht es eher um graduelle Unterschiede der Gewich­ tung und Bewertung, die Rothschild von Goldstein und Bethe tren­ nen. Es wird nicht ganz klar, was Rothschild genau meint, wenn er in einem Brief vom 31. Mai 1932 [35 R] davon spricht, dass die theore­ tische Untermauerung einiger Lokalisationsgegner sich »an die moderne Radiotechnik« anlehne und »geistig gewandtere Neurolo­ gen« Zuflucht zu allgemein-abstrakten Vorstellungen nähmen. Ver­ mutlich sind es Vergleiche, wie sie der von Bethe zitierte Jacques Loeb109 (1859–1924) gebraucht, wenn er schreibt, die Gehirnphysio­ logie müsse wohl »ihre histologisch-corpusculären Vorstellungen durch dynamische Vorstellungen ersetzen«, wie »die corpusculären Vorstellungen durch eine Wellentheorie« in der physikalischen Auf­ fassung des Lichtes haben ersetzt werden müssen (Bethe 1931, S. 1051). Ansonsten nahm Loeb an, nervöse Vorgänge würden durch ein das ZNS durchziehendes Fibrillennetz »hin und her fluten und bald diesen, bald jenen Teil in höherem Maße beeinflussen« (ebd.). Der apodiktischen Formulierung Bethes, wonach es »im Zentralner­ vensystem weder Bezirke mit festgelegter Spezifität [...] noch Lei­ tungswege von unabänderlicher Funktion« gäbe (a.a.O., 1196), hätte Rothschild sicher nicht zustimmen können, stellt sie doch der deter­ ministisch-starren Verdrahtung von Ort und Funktion die starre Offenheit des Systems entgegen. Aus den Briefen erfahren wir jedenfalls, dass Goldstein wenig oder gar nicht Rothschilds Auseinandersetzung mit den Ergebnissen positivistischer Forschung für »eine Untersuchung des Wesens« gel­ ten lassen wollte. So äußert sich Rothschild [3 R] gegenüber Klages, 109

Zu Loeb s. Finger 1994, S. 55f.

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Von der Plastizität des Nervensystems

der anders als Goldstein Rothschilds Vorgehensweise bejaht. Indem er die Ergebnisse der »Tatsachenforschung« für ein umfassender inte­ griertes psychophysiologisches Konzept nutzt, entspricht er am ehes­ ten den Forderungen Palágyis110, der für eine Zusammensicht mecha­ nistischer und vitalistischer Forschungen plädiert, die »nur im innigsten Einvernehmen miteinander die Grundlagen einer rechten Naturerkenntnis herbeischaffen.« Palágyi verdeutlicht: »In alle Wahr­ nehmungen, Beobachtungen, in alle noch so strenge Messungen des mechanistischen Naturforschers mengt sich notwendig auch das vitale Moment, weil wir mechanische Erscheinungen nur vermittels der Lebensvorgänge unseres eigenen Organismus wahrzunehmen vermögen« (Palágyi 1924, S. 1). Rothschild hebt den Gegensatz zwischen Zentrenlehre und ihrer Gegnerschaft auf, indem er die »Plastizität« als Bedingung für die Zentrenbildung erläutert. Dies tut er am Beispiel der Transplantati­ onsversuche Paul Weiss’: Die Tatsache, dass sich nach einiger Refrak­ tärzeit eine andere Extremität, neben ein Froschbein transplantiert, wie das ursprüngliche Bein bewege, verknüpfe Weiss nur mit der motorischen Nerventätigkeit, nicht mit der rezeptorischen.111 Ebenso sei die funktionell richtige »Verwertung« – so Rothschild – unabhän­ gig von einer Spezifität der neu miteinander in Verbindung tretenden Fasern, die »gemeinsame Wirkung« von neu Zusammengefügtem würde auf der »elementaren Ähnlichkeit« der Struktursegmente beru­ hen – eines der Merkmale, die er in Analogie zu Klages’ Ausdrucks­ lehre in den Gegebenheiten des ZNS ausfindig macht.112 Und er schlussfolgert: Es kommt aufgrund der plastizitären Möglichkeiten des ZNS zur Bildung von Zentren – »daß sich also und gerade infolge 110 Melchior Palágyi (1859–1924) war u.a. Mathematiker und Naturphilosoph. Näheres s. S. 20f. und K 115. 111 »Weitere wichtige Schlußfolgerungen ergeben sich, wenn wir vor der Frage stehen, wie sich die aufgenommenen Erregungen aus dem transplantierten Bein in Rücken­ markssegmente einfügen, in denen für sie gar keine Zentren vorgesehen sind. Man vergegenwärtige sich: der Zutritt der Erregungen findet in einem wirren Durchein­ ander statt, neben Wurzelfasern mit Rezeptionen aus dem alten Bein münden solche aus dem neuen, neben Fasern aus dem Fuß solche aus der Hüfte, neben Fasern aus der Haut solche aus Tiefenrezeptoren; ja, es würde den peripheren Aufspaltungen ent­ sprechend möglich sein, daß eine Faser Erregungen aus verschiedenen Gebieten und von verschiedener Art übermittelt, und trotzdem finden reflektorische oder ganz all­ gemein koordinierte Bewegungen statt, die doch eine richtige Verwertung zumindest propriozeptiver Erregungen zur Voraussetzung haben!« (Rothschild 1935, S. 65). 112 Rothschild 1935, S. 65. Zur physiognomischen Methodik Rothschilds s. S. 37.

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Zur Herausgabe der »Symbolik des Hirnbaus« im Jahre 1935

einer Plastizität ›Zentren‹ bilden« und: »vielmehr fordern die Gliede­ rung nach Zentren und die Plastizität sich gegenseitig!« (Rothschild 1935, S. 66). Bestimmten Herangehensweisen des »neuzeitlichen Naturwis­ senschaftlers« steht Rothschild kritisch gegenüber. So beargwöhnt er dessen Tendenz, die Phänomene ausschließlich im »Rahmen des Kau­ salitätsgesetzes [...] erfassen« zu wollen und »alle in der Außenwelt wie der Seele ablaufenden Vorgänge, die von der Tätigkeit des ZNS wesentlich abhängig sind, mögen es nun Reflexe, Handlungen, Gefühle, Wahrnehmungen oder Denkakte sein, als Leistungen dieses Organs« anzusehen (a.a.O., S. 6). Unter der Vorherrschaft des Leistungsbegriffs, der einem Maschinenmodell des ZNS entspräche, sei die Frage nach dem Ver­ hältnis zwischen Körper und Seele unterlaufen worden. So sei der Fehler entstanden, Seele und Seelisches als immaterielle Produkte des Großhirns sowie das »Innesein« ebenso wie dessen »dinglich gut faß­ bares Gegenstück, die motorische Äußerung« als Produkt der Hirn­ tätigkeit anzusehen (a.a.O., S. 7). Wie viele andere äußerte sich auch Rothschild abfällig über die Formulierung des Physiologen Karl Vogt, wonach die Gedanken zum Gehirn im gleichen Verhältnis stünden »wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren« (a.a.O., S. 5).

Kortikozentrismus Rothschild wandte sich gegen den vorherrschenden Kortikozentris­ mus, gegen die Behauptung, der Kortex sei die hauptsächliche regulative Instanz, das, was den Menschen zum Menschen macht, weil nur er das Substrat von Bewusstseinsfunktionen, das Substrat des Mentalen und Psychischen sei – im Gegensatz zu evolutionär früheren, »primitiveren« subkortikalen Zentren des Gehirns. Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner (1999) zeigt für das 19. Jahrhundert und das erste Drittel des 20. Jahrhunderts die Kontinuität und Abhängigkeit vom jeweiligen Zeitgeist auf, in dessen Kontext der hohe Stellenwert erklärbar wird, der dem Kortex zugesprochen wurde. In den Vorstellungen von Paul Flechsig, Theodor Meynert und Hughling Jackson waren der gesellschaftlich-politische Bezug der Dominanz des Kortex die jeweilige Monarchie, ihre Eliten und das der autoritativen Leitung bedürfende Volk. In der Weimarer Republik beginnt ein Wandel: Cécile und Karl Vogt lehnen diese hier­

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Kortikozentrismus

archischen Vorstellungen ab. Dafür kommt es zu Versuchen, Genie, Alkoholismus, Geisteskrankheiten und Neigung zum Verbrechen in der individuellen Physiognomik der Gehirnrinde dingfest zu machen. Ihre Arbeiten führten das Ehepaar Vogt zwar nicht dezidiert zur Legitimierung eugenischer Verbrechen, aber in die Nähe einer das Böse entlarven wollenden Kultur mit anvisierten Selektions- und Züchtungsambitionen, vorerst noch ohne mörderische Handlungsop­ tionen. Dass das Verhältnis des Kortex zu subkortikalen Zentren auch in der heutigen Zeit brisante Implikationen in sich trägt, zeigt die Flut an Kommentaren – u.a. äußern sich Edelmann, Northoff, Panksepp, Watt –, die der Beitrag zur Empfindungsfähigkeit und Lebendigkeit von Menschen ohne Kortex des in Schweden tätigen Neurowissenschaft­ lers Björn Merker in der Zeitschrift Behavioral and Brain Sciences (2007) hervorgerufen hat. Merker stellt hier die Frage neu nach dem, was man Bewusstheit (consciousness) nennt und welche Strukturen des Gehirns in bewusste Gerichtetheit und Gewahrsein/Aufmerk­ samkeit (awareness) einbezogen sind. Rothschild lehnt die Auffassung, wonach psychische Tätigkeit – hier in der Formulierung von Landois und Rosemann – »nur bei Intaktheit des Großhirns möglich« sei und der Organismus »nach Zerstörung des Großhirns [...] auf den Zustand einer komplizierten Maschine« zurücksinke, entschieden ab (Rothschild 1935, S. 8). Empört wehrt er sich gegen die Feststellung, dass Wut und Schmerz beim dekortikalisierten Tier, dem man Schmerzen zufüge, nur Pseudo-Affekte seien. Rothschild nimmt direkt zu den früher ver­ breiteten hierarchischen Vorstellungen Bezug, wenn er schreibt: »Das ZNS besitzt nirgends Teile, auf die das so beliebte Gleichnis einer Befehle erteilenden Werks- oder Staatszentrale zutreffen würde. Als bestimmende Mächte können vielmehr nur die beiden Wirklichkeits­ pole, das erlebende Individuum und die erlebte Welt angesprochen werden, und die Rolle des ZNS ist nur die eines Mittlerorgans, das dazu dient, den Zusammenhang zwischen den beiden Polen zu einem möglichst tiefen und vielfältigen zu machen« (Rothschild 1935, S. 64). Zentral für seine Vorstellung der Arbeitsweise des ZNS ist ähn­ lich wie bei Goldstein dessen Mittlerrolle zwischen der jeweiligen Umwelt und der organismischen Binnenverfassung. Goldstein betont bei der durchgängigen »Erregungsgestaltung« des ZNS entsprechend der Gestaltpsychologie die Ganzheit, bei der in unzähligen Kombi­

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Zur Herausgabe der »Symbolik des Hirnbaus« im Jahre 1935

nationen jeweils einige Teile im Vordergrund und andere im Hinter­ grund stehen (Goldstein 1934, S. 74ff.). Die Aufgaben des Organismus betreffend spricht Goldstein von »Natur« und »Wesen« des Organismus, dementsprechend die Abstimmung mit der Umwelt erfolge (a.a.O., S. 75). Bei Rothschild sind es die beiden »Wirklichkeitspole Individuum und Welt«, in die das ZNS gestaltend eingefügt ist. »Das ZNS beherrscht nicht so sehr das vitale Geschehen, als daß es ihm dient, und nur weil normalerweise schon seine Funktionsordnung abhängig und unselbständig ist, können Änderungen im Einsatz der wirkenden Mächte Änderungen im Funktionsablauf herbeiführen und das Organ sich als plastisch und umgestaltbar in seiner Funktion erwei­ sen. Wenn wir damit den Ursprung der Plastizität aus dem ZNS hin­ ausverlegen in die beiden Wirklichkeitspole, Individuum und Welt, und behaupten, daß sie aus dem Studium des für sich betrachteten Organs niemals ergründet werden kann, so ist das ZNS auf der anderen Seite doch selbst ein Teil, und zwar ein besonders repräsentativer Teil des Individuums und gehört als solcher selbst der einen der Wirkungs­ mächte an.« (Rothschild 1935, S. 64)

Analog zum »Wesen« bei Goldstein spricht Rothschild dann von den »schöpferischen Kräfte(n) der Ganglienzellen«: »Ohne Einsicht in den bestimmenden Einfluß der auf das ZNS wirkenden Mächte und ohne Beachtung der schöpferischen Kräfte der Ganglienzellen wird man sich um das Plastizitätsproblem stets vergeblich bemühen« (ebd.).

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Rothschilds Vorgehensweise an Einzelthemen erläutert

Rothschild legte in seinen Ausarbeitungen, die hier zur Sprache kommen, Wert auf das »Tatsachenmaterial«, insbesondere auf die vergleichende Hirnanatomie, die Neurophysiologie, und das, was man über die Ontogenese der Hirnentwicklung wusste, auch wenn ihm die theoretischen Einbindungen der Ergebnisse zu sehr auf den Darwinismus, die Zweck-Nutzen-Relation und das Kausalitätsprin­ zip eingeengt erschienen. Der besondere Ausgangspunkt für die Vorgehensweise Rothschilds bildete neben der Fremdbeobachtung und -wahrnehmung vor allem die Selbstbeobachtung. Sein Tagebuch, das größtenteils Notizen aus den Jahren zwischen 1926 und 1932113 enthält, gibt darüber beredt Auskunft. Dass ihm »alles an sich selbst zum Objekt wird«, wie Rothschild in einer Ausführung über die Selbstbeobachtung später, im Jahre 1958 schreibt, kann man jenseits überzeitlicher Gültigkeit auch als zeitgemäße forscherische Haltung der sog. »Neuen Sachlichkeit« der Zwischenkriegszeit verstehen (vgl. Lethen 1994, Hackeschmidt 1997). Diese Haltung lässt sich als kul­ turelle Repräsentanz von Strategien verstehen, die das monströse Ausmaß bisher nicht gekannter Gewalt des Ersten Weltkriegs in ihren traumatischen Folgen zu kompensieren suchen. Wie die meisten jungen Männer seiner Umgebung hatte auch Rothschild als Soldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen.

Viele Passagen von Rothschilds Tagebuch (Nachlass Rothschild) beziehen sich auf seine Nachtträume und die seiner Patienten, ebenso wie auf Erlebnisse und die sie begleitenden Affektverläufe, die er zu verstehen versucht: häufig psychoanalytisch, gelegentlich auch auf die Psychologie Klages’ bezogen. An unterschiedlichen Stellen verweist Rothschild auf sein Naturerleben während der Anfangszeit seines Studiums und die Leitung einer Jugendgruppe des Blau-Weiß in Gießen (Rothschild 1989b). Als ihn ein aufjagendes Reh erschreckte, habe er diesen Schreck nur in der linken Körper­ seite wahrgenommen, die rechte Seite blieb in dem sein Erleben zuvor bestimmenden Hochgefühl (Interview Rothschild mit Gabriele von Bülow und Irma Schindler 1991). 113

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Rothschilds Vorgehensweise an Einzelthemen erläutert

Im Rückblick gab Rothschild neben den Hauptreferenzen für seine Arbeit, der Ausdrucks- und Erscheinungswissenschaft von Kla­ ges und der Psychoanalyse Freuds, an, seine entscheidenden Einsich­ ten in psychophysiologische Verhältnisse seien letztlich intuitiv erfolgt.114 Schon in seiner Arbeit zu »Links und Rechts«, mit der der Kontakt zu Klages begann, schreibt er, die Arbeit gehe von »Eindrü­ cken (aus), die die ganze unmittelbare, naive Anschauung erweckt hat, und ihre Absicht ist, auf den Sinn der betrachteten Erscheinungen im ganzen des Organismus hinzuweisen« (Rothschild 1930, S. 462). Für die Reflektion anatomischer Gegebenheiten wird eine Phy­ siognomik entscheidend, die sich an der Klages’ orientiert. Ihr Ziel war das Auffinden von Gleichheiten und Ähnlichkeiten form- und funk­ tionsbezogener neurologisch-anatomischer Formationen. Die Lage eines Areals innerhalb des ganzen Hirns, die Art und Weise seiner Ausdehnung im Raum, die angrenzenden Gebiete, die Verbindungen der Areale untereinander, wie Strukturen in welchem Winkel aufein­ andertreffen bzw. ineinander übergehen oder sich lediglich berühren: Das sind einige der Fragen, denen er nachgeht und anhand derer er das Anschauungsmaterial sortiert. Von diesem Ausgangspunkt, einer weitaus größer als üblich angelegten Beschreibungsebene geht er über die Topographien hinaus, die Ort und Funktion in einen engen Zusammenhang bringen, und kommt zu gleichzeitig bestimmteren und offeneren Aussagen als die zeitgenössische Hirnforschung und bietet systemisch-komplexe Anhaltspunkte der ZNS-Organisation. »Es werden hier keine Ursachenketten konstruiert, um irgendein Phä­ nomen von einem als ursprünglich angesehenen Tatbestand aus zu erklären, wobei sowohl die Ursprünglichkeit als auch die einzelnen Glieder in Frage stehen, sondern ohne jede Hypothese zwischen Erscheinung und Funktion einzelner Abschnitte des ZNS eine Über­ einstimmung aufgezeigt, die auf einen Wesenszusammenhang zwi­ schen ihnen hinweist.« (Rothschild 1935, S. 38) Rothschild 1989b, S. 192: »Eines Tages, als ich über die Seitenkreuzungen der Fasern im Gehirn eines Tieres las, kam mir plötzlich die Idee, daß diese Kreuzungen für das Erleben des Tieres das Verhältnis zu seinen Objekten im Raum symbolisch repräsentieren. Es war für mich eine erschütternde Einsicht. Denn sofort sah ich, daß mit dieser Deutung die verschiedenen Fälle von Kreuzungen der Fasern zwischen den beiden Seiten verständlich wurden. Aber mit dieser Auffassung von Hirnstrukturen als symbolischen Vermittlungen des Erlebens und Verhaltens der Tiere und des Men­ schen konnten auch eine große Zahl von anderen eigenartigen Formen in dem Hirnbau mit ihrer Funktion sinnvoll eingeordnet werden.« 114

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Faserkreuzung

Da die detailreiche Entwicklung von Anschauungen über die Funk­ tion einzelner Hirnareale, ihrer Bezüge zueinander im Gesamt des Organismus und ihrer Vermittlung zwischen Innen- und Außenwelt zu umfangreich und manchmal schwer verständlich erscheint, werde ich im Folgenden an einzelnen Beispielen die Rothschildʼschen Darle­ gungen nachzuvollziehen suchen.

Faserkreuzung Eines der größeren Themen, die Rothschild zu Beginn seiner wissen­ schaftlichen Arbeit beschäftigte, war die Asymmetrie des menschli­ chen Organismus und die Faserkreuzungen im ZNS. In seiner Arbeit »Über Links und Rechts. Eine erscheinungswissenschaftliche Unter­ suchung« (1930) folgt er nicht Ansätzen, die nach Evolutionsbedin­ gungen fragen. Er versucht anatomische Fakten in ihrer Funktionalität zu verstehen, bezogen auf den Organismus in seiner Vermittlungs­ tätigkeit zwischen Innenwelt und Außenwelt. Zentrale Aussagen die­ ser Arbeit sind folgende: Die Unterschiedlichkeit zwischen Rechts und Links beim menschlichen Organismus entspricht der Polarität von Individuum und Welt: »Die linke Seite des Leibes dient mehr als Aufnahme- und Wirkungsstätte des Fremden, die rechte Seite mehr den aus der Individualität herauswachsenden aktiven Lebensäuße­ rungen« (Rothschild 1930, S. 466). Die Organe der linken Seite seien dafür da, Fremdes aufzunehmen und es zu bewahren, »die Organe der rechten, dieses Fremde aktiv zu erfassen, dem Individuum zu assimi­ lieren und als eigenen Kraftstoff zu sammeln und zu verwenden« (a.a.O., S. 467). Entsprechend hierzu extrahiert er aus den neurophy­ siologischen Fakten die Funktionalität des rechts betonten Parasym­ pathikus: Er dient der Entwicklung und der Haltung der Gewebsele­ mente, – und des links betonten Sympathikus: Er ist ausgerichtet auf die Außenwelt, er vertritt das Passive, Aufnehmende und überträgt die »Einwirkung der Fremdwesen« auf den Gesamtorganismus, wohingegen der Parasympathikus die Aktivität des Individuums dem Aufgenommenen gegenüber vertritt. Die Verknüpfung der rechten Hemisphäre mit der linken Körperseite und der linken Hirnhemi­ sphäre mit der rechten Körperhälfte versteht er als direkte Entspre­ chung des räumlichen Verhältnisses des Individuums zu einem Gegenüber. Das Andere wird als Gegenüber wahrgenommen, und somit wird das über die linke Seite Aufgenommene gegenüberliegend

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Rothschilds Vorgehensweise an Einzelthemen erläutert

in die rechte Hemisphäre geleitet. Die die Individualität, den Eigenpol des Menschen vertretende, nach innen hin offene Aktivität wird von der gegenüberliegenden linken Hemisphäre vertreten. »Irgendwie musste diese komplizierte Ordnung der Ordnung des Erlebens ent­ sprechen. Da kam mir eines Tages die Idee, dass die Faserkreuzungen der Sinneserlebnisse im ZNS die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt in den Sinneserlebnissen symbolisch vermitteln, sowie Spra­ che und Schrift geistige und seelische Inhalte und Beziehungen sym­ bolisch repräsentieren« (Rothschild 1986, S. 33).

Faltungen der Großhirnrinde Das unterschiedliche Erscheinungsbild der Großhirnrindenfurchen in der Reihe der Säugetiere hat seit der Antike Anlass zu Vermutungen darüber gegeben, was sie anzeigen. Aber jeder Versuch, eine Syste­ matik darin zu entdecken, ging nicht auf, denn es gab Abweichungen, so z.B. bei Rückführung auf die Relation: Mit wachsender Größe in der Säugetierreihe wächst das Gehirn. Infolge dieses Wachstums ergibt sich ein Mehr an Furchen als eine natürliche Folge der Not­ wendigkeit, auf vergleichsweise wenig Raum mehr Masse unterbrin­ gen zu müssen. Die Rinde, so die Schlussfolgerung, müsse umso mehr Furchungen aufweisen, je größer ein Tier ist. Demzufolge dürfte die Seekuh nicht eine fast glatte Hirnrinde besitzen, und der Kortex des Pinseläffchens müsste ebenfalls zahlreichere Furchungen aufweisen als der des kleineren Wiesels. In der physiognomischen Ordnung, die nach Rothschild den Baugesetzen des ZNS unterliegt, muss die Außenseite der Kortexfurchen etwas mit dem Außen der Umwelt zu tun haben. Und er nimmt an, dass die Zahl der Furchen zunimmt, je größer die Bewegungswelt des Tieres ist. Die Anzahl der Falten steht demzufolge in Zusammenhang mit der Vielheit der »Stellenerleb­ nisse«115. An der Furchenmenge wird nicht etwas Qualitatives, son­ dern ein Maß deutlich, das der Weite des Raums entspricht. Demzu­ folge weist ein Wal, gleichgültig ob er groß oder klein ist, mehr Furchen auf als der Mensch, eine Seekuh insgesamt nur wenige, denn sie bewegt sich wenig, sie durchmisst nur einen kleinen Raum, und Mit dem Begriff Stellenerlebnisse, den Rothschild verwendet, dürften wohl das je eigene Erleben des Ortes, an dem man sich befindet bzw. die Erlebnisse der vielen durchstreiften Orte gemeint sein.

115

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Richtung der Flächenentwicklung

ein Wiesel bewegt sich in einem weiteren Raum als ein Pinseläff­ chen.116 Immer wieder äußert sich Rothschild gegen den Grundtenor vieler Deutungen, der die hirnanatomische Ausprägung in direkten kausalen Zusammenhang mit der Höherentwicklung der Säugetier­ reihe stellt. »Die einstmals weit verbreitete Meinung, Windungs­ reichtum und Entwicklungshöhe der kortikalen Funktionen einander gleichzusetzen, hat sich nicht halten lassen« (Rothschild 1935, S. 146). Da das Kleinhirn – so Rothschild – ein Repräsentant des Körperlichen ist, finden sich dort noch mehr Furchungen (a.a.O., S. 144). »Es ist einzig und allein die Stelle in der Erscheinungswelt wie in den Bewegungsbahnen, die die Zentren veranlaßt, sich flächig aus­ zubreiten; denn Stellenbestimmtheit bedeutet Körperlichkeit und Körperlichkeit macht unfähig zur Verschmelzung, schafft das Gegen­ einander und Auseinander im Erleben wie in der Gliederung des ZNS« (a.a.O., S. 145). Dagegen schreibt er über die subkortikale Tha­ lamusformation: »Ein rezeptives Organ ersten Ranges wie der Tha­ lamus bleibt massig, kuglig vom niedersten Wirbeltier bis zum Men­ schen, weil Stellenwerte bei ihm ganz zurücktreten« (ebd.). Und hiervon setzt er wiederum das »Ganglion geniculatum laterale« ab, ein mit dem Thalamus »an sich verwandtes Zentrum« – eine Forma­ tion, in der Fasern und Neurone des Gesichtsnervs einmünden. Es sei deswegen flächig und später in der Wirbeltierreihe geschichtet, »weil die gestaltmäßige Ausdehnung von Gesichtseindrücken selbst im unanschaulichen Erleben eine lokalisierende Anordnung verlangt« (ebd.).

Richtung der Flächenentwicklung Eine andere Frage hinsichtlich der Flächenzentren, der Rothschild nachgeht, ist die, warum manche Flächen sagittal (in die Tiefe des Kopfes, von vorne nach hinten) und andere transversal (in die Breite 116 »Faltenreichtum hat eben nichts zu tun mit qualitativer Fülle des Erlebens, sondern nur mit dem Stellenreichtum und damit der Ausdehnung der Raumanschauung und der Bewegungsbahnen. Es ist ein Produkt des Körpererlebens, das sich in der Rin­ denausbreitung und Furchenbildung auswirkt, und da dieses seinem Wesen nach monoton und farblos ist, pflegt jeder Reichtum an Furchen, dem nicht die qualitativen Funktionen der Rinde die Waage halten, dem Hirnbild einen monotonen und unle­ bendigen Charakter zu erteilen.« (a.a.O., S. 144).

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Rothschilds Vorgehensweise an Einzelthemen erläutert

des Kopfes, horizontal) auswachsen – mit jeweils senkrecht zur Rich­ tung stehender Faltenbildung: Die vorwiegende Bewegungsrichtung des Wirbeltieres ist sagittal, in den Raum hinein. Auch die »virtuellen Bewegungen« (ein Konzept Palágyis, auf das später noch eingegangen wird), d.h. diejenigen, die man in ihrer besonderen Qualität als »tas­ tend« und »abbildend« verstehen muss, sind sagittal in ihrer Aus­ richtung. Haben die cerebralen Funktionen eines Zentrums etwas mit der Eigenbewegung des Tieres zu tun, dann wachsen sie sagittal und bilden transversale Furchen. Zentren, die mit Außen- und Innenwelt­ abläufen zu tun haben, die das Tier aus seiner hauptsächlichen Bewe­ gungsrichtung herausziehen, bilden ihre Flächen transversal aus und bringen ihre Masse in sagittalen Faltungen unter. (Um sich die sag­ gitale und transversale Ausrichtung zu vergegenwärtigen, empfiehlt sich ein Blick auf entsprechende Abbildungen im Internet.) Die Groß­ hirnrinde bildet die Außengrenze des Gehirns und ist mit ihren außen liegenden Flächen auf die Außenbereiche der Umwelt gerichtet, auf die »der Eigenbewegung fremde Erscheinungswelt«, und entwickelt folglich eine »quere Wachstumsneigung und eine Längsfaltung« (a.a.O., S. 147). Die hauptsächliche Wachstumsrichtung der Klein­ hirnformationen ist sagittal, ebenfalls die in ihnen enthaltenen effek­ torischen Purkinjezellen. Dies und anderes – z.B. Ergebnisse aus Läsionsexperimenten117 – veranlassen Rothschild, das Kleinhirn als Repräsentant der Körperwelt bzw. des eigenen Körpers zu deuten. Es hat die Funktion »der Behauptung des Körpers und seiner Stellung im Raum in allen seelischen und körperlichen Erlebnissen« (a.a.O., S. 191). »Das Kleinhirn ist nicht ein Organ, das in derselben Weise eingereiht werden kann wie etwa das Mittelhirn, das Zwischenhirn oder das End­ hirn, es ist nicht ergänzendes Glied in dem Kreis jener Zentren, die der Seele die Welt eröffnen, sondern es ist ihrer aller Gegenspieler. Es dient dazu, die gewaltige Spannung zwischen Körper und Seele bei den Wir­ beltieren zu überbrücken, indem es in der Seele von Moment zu Moment die Schranken geltend macht, die die Körperlichkeit des Orga­ nismus vorschreiben. Ob es nun die Antriebswucht einer Instinktbe­ wegung dämpft, ob es einer Ausdrucksbewegung Halt gebietet, ob es die Macht des Bildes verringert, das die Seele gefangennimmt oder ob es auch dem Körper hilft, sein Gleichgewicht gegen eine Erschütterung von außen zu erhalten, immer ist es nur darum bemüht, Körper und 117

s. hierzu a.a.O., S. 227ff..

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Das Kleinhirn der Mormyriden (Nilhechte) und der Forellen

Seele aneinander anzupassen, das Prinzip des Körpers der Seele gegen­ über zu behaupten«. (a.a.O., S. 159)

Das Kleinhirn der Mormyriden (Nilhechte) und der Forellen Umfangreich und ausführlich fallen die Beschreibungen der Anato­ mie des Kleinhirns aus und die Hypothesen zu seiner besonderen Wirkweise. Am folgenden Beispiel zweier Knochenfischarten, den Mormyriden (Nilhechten) und den Forellen, veranschaulicht er, wie hirnanatomische Formationen jeweils abgestimmt sind auf die beson­ deren Erfordernisse des Lebensraums, in dem ein Tier lebt und sich bewegt. Die Valvula cerebelli ist eine variable Kleinhirnformation, von der man heute weiß, dass sie zum sog. elektrosensorischen System eines Großteils der im Wasser lebenden Wirbeltiere gehört, das sie befähigt, elektrische Felder wahrzunehmen (Roth 2010). Bei den Knochenfischen ist sie dem Corpus cerebelli (das gesamte Kleinhirn ohne den lobus floccularis) außen vorgelagert und erstreckt sich bis unter das Mittelhirndach.118 Was die Besonderheiten der Wachstumsmöglichkeiten der Valvula cerebelli betrifft, bezieht sich Rothschild auf die Studien des Jenaer Zoomorphologen Victor Franz: Die Valvula kann Transversalfalten entwickeln wie bei den Forellen und Barschen. Und sie kann, die Breite vergrößernd, Seiten­ lobuli mit Sagittalfalten entwickeln, wie dies bei den Nilhechten (Mormyriden) der Fall ist. Bei den Nilhechten erreichen das Kleinhirn und insbesondere der Seitenlobulus der Valvula cerebelli weit über­ dimensionale Größe. Daher verfügen Nilhechte verglichen mit ande­ ren Knochenfischen und »fast allen« Wirbeltieren über ein insgesamt 118 Zur näheren Charakterisierung seiner Funktion schreibt Rothschild: »Während bei den Säugetieren das Vorderhirn der Vermittler des Sinnenraumes und seiner Erscheinungen ist, gehört diese Funktion bei den Knochenfischen ganz und gar dem Tectum opticum und seinen Innenzentren an; was bei den Säugern nur durch eine Vergangenheitszukehr, durch eine Rückwendung gewonnen wird, entsteht den Fischen in dem vorwärtsgerichteten Augenblickserleben des Mittelhirnkreises. Gelangt aber der lenkende und richtende Einfluß einer so erlebten Umwelt zu einer besonders ausgiebigen Verarbeitung im Kleinhirn, so verlangt es das Baugesetz, daß dieses Zen­ trum im Gegensatz zu dem des Vorderhirnes im wesentlichen vorne liegt« (Rothschild 1935, S. 198f.).

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Rothschilds Vorgehensweise an Einzelthemen erläutert

größeres Gehirn.119 Mit anderen Worten: Die hypertrophierte Gestalt einer Teilformation des Kleinhirns sorgt für diese überdimensionale Gehirngröße. Die Faltungen der Kleinhirnrinde und des Seitenlobulus sind hier sagittal ausgebildet. Die sagittale Faltung hat nach Roth­ schild etwas mit der sagittalen Bewegungsausrichtung des Tieres zu tun, und für den Seitenlobulus behauptet er, dass die »Stellensiche­ rung der Umweltkörper im Vordergrund« stehe (Rothschild 1935, S. 200).120 Er folgert aufgrund der hohen Anzahl der Sagittalfalten der gesamten Kleinhirnrinde und des Seitenlobulus der Valvula cere­ belli der Mormyriden (in Abgrenzung zur Kleinhirnformation und ihrer besonderen Form bei den Säugetieren): »Damit wird schon kenntlich gemacht, daß das Mormyrozerebellum [...] dem Eindruck­ serlebnis besonders aufgeschlossen ist, so daß hier das Kleinhirn weniger im Dienste der Behauptung als einer besonders fein diffe­ renzierten Stellenunterscheidung zu stehen scheint« (a.a.O., S. 201). Er setzt diese besonderen anatomischen Verhältnisse beim Nilhecht in Beziehung zur besonderen Lebenswelt dieses Tieres, das in schlam­ migem, undurchsichtigem Wasser lebt. Der Fisch hat nur kleine und tief in der Haut eingebettete Augen, und er bewegt sich geschickt und lebendig, aber nicht schnell und: »Verglichen mit den Schwimmküns­ ten von Fischen, die im offenen, klaren Wasser leben, sind die Bewe­ gungsleistungen der Mormyriden ja nicht bedeutend. [...] Einzigartig ist aber die Sicherheit und die geschickte Anpassung der Bewegungen an das unsichtige, von Widerständen durchsetzte Schlammwasser. Nirgends ist so wie hier die Fähigkeit am Platze, Körpererlebnisse, die der Nervus lateralis schon aus der Ferne vermittelt, durch einen indi­ rekten Empfindungsvorgang in ihrer Richtung auf das feinste zu dif­ ferenzieren und so ihnen auszuweichen, oder wenn es sich um die Suche nach Nahrung handelt, auf sie zuzuschwimmen« (a.a.O., S. 202). Die hypertrophierten Verhältnisse im Kleinhirn der Mormy­ riden stehen demnach in einem unmittelbaren Zusammenhang mit 119 Die Ausführungen zur Valvula cerebelli und ihren besonderen Ausformungen beim Nilhecht erstrecken sich über insgesamt sieben Seiten der ›Symbolik‹ (Roth­ schild 1935, S. 197–204). 120 Rothschild vermutet, dass der Seitenlobulus, die Nervi lateralis, die tertiären Zentren dieser Nerven mit dem Tectum opticum zusammenwirken: »Diese Zentren dürften also in erster Linie die Funktion haben, im Wasser auftauchende Körper oder, allgemein gesagt, Strömungserreger und Änderungen des Wasserdrucks auf das genaueste durch eine indirekte Empfindung in ihrer Wirkungsrichtung festzulegen und damit eine scharfe Lokalisation zu ermöglichen« (ebd.).

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Die Insula

den Notwendigkeiten zur »instinktiven, fast unanschaulichen Loka­ lisation« (ebd.). Die Forelle – Rothschild bezieht sich wohl auf die Bachforelle – lebt in klarem, fließendem Wasser. Sie steht entweder still im stark belebten Wasser oder schießt schnell auf die Beute zu. Das fließende Wasser stellt eine Herausforderung dar für die Behaup­ tung der eigenen Körperstellung. Die Valvula cerebelli ist bei diesen Fischen transversal gefaltet. »Sind die Mormyriden hochbegabt in der Fähigkeit, fremde Körper in ihrer Festigkeit und an ihrer Stelle aus der Ferne zu empfinden, so sind die Forellen Meister in der Behauptung des Ortes sowohl gegenüber der starken äußeren Bewegtheit des sie tragenden Wassers wie gegen den Bewegungszug aus der Anziehung der Ziele« (ebd.).

Die Insula In seinen Ausführungen zur kortikalen Formation der Insel geht Rothschild von ihrem Vorkommen in der Wirbeltierreihe, der Lage im Kortex und von der besonderen morphologischen Beschaffenheit aus. Er berücksichtigt, was er selbst zu den Faltungen entwickelt hat, und er bezieht sich auf das, was andere Hirnphysiologen bis dahin zu ihrer Funktion vermutet haben. So ergibt sich folgendes Bild: 1.

2.

3.

Da die Insel auch bei primitiven Säugern vorkommt, gehört sie »zu den ursprünglichen Anlagen des Neokortex« (a.a.O., S. 149). Wegen dieser Ursprünglichkeit steht zu vermuten, dass sie einen »elementaren Erlebnischarakter« repräsentiert (ebd.). Lassen sich die Funktionsbereiche der anderen vier »Primär­ zentren« aufgrund entsprechender Verbindungen als »primitivmotorisch«, »allgemein sensibel«, »optisch« und »akustisch« qualifizieren, stehen für die Insel keine klaren Anhaltspunkte zur Verfügung, die auf ihre Funktion schließen lassen könnten. Im Laufe der Ontogenese wird die Insel bei einigen Raubtieren, den Huftieren, Walen, Affen und Menschen zunehmend von den umgebenden kortikalen Formationen überlappt, »klappen­ deckelartig überwachsen« (ebd.). Die Insel zeigt eher eine schwache Ausprägung von Falten bzw. relativ wenig Faltenbildung. Generell ist das transversale

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Rothschilds Vorgehensweise an Einzelthemen erläutert

4.

Wachstum vergleichsweise gering, das sagittale etwas stärker. Bei den Walen und Menschen befinden sich »eine ganze Anzahl transversaler Falten« auf der Insel (ebd.). Daraus ergeben sich für Rothschild die Schlussfolgerungen: »Die Insel wäre demnach als ein Zentrum anzusehen, bei dessen Erlebnissen Stellenun­ terscheidungen ganz allgemein nicht sehr ins Gewicht fallen; außerdem weise die Bevorzugung der sagittalen Ausdehnung und transversalen Faltung darauf hin, daß die vorkommenden Stellenerlebnisse vorwiegend solchen Bahnen virtueller Bewe­ gung eingegliedert werden, die den Eigenbewegungen entstam­ men« (ebd.). Als Bestandteil des Kortex gehört sie einem Außensystem an, das mit der Außenseite der Welt in Verbindung steht.

Rothschild stellt die daraus herleitbare Fragestellung zur Insel und ihrer Funktion wie folgt: »Gibt es nun ein elementares Erlebnis von Äußerungen oder Erscheinungen, das sich so von allen übrigen abhebt, bei dem insbesondere die Entfremdung unterscheidbarer Stel­ len eine verhältnismäßig geringe Rolle spielt, daß wir ihm die Insel als vermittelndes Zentrum zusprechen dürfen?« (a.a.O., S. 150) Und er formuliert die Hypothese, dass die Insel vor allem ein selbstrefe­ rentielles System sei. Sie hat etwas zu tun mit dem »Erlebnis der Äußerungen des eigenen Wesens«, der Umweltanteil, den sie ver­ mittelt, ist der der »sinnenzugänglichen Teile des eigenen Körpers« (ebd.). Der eigene Körper wird nicht als geortetes Gegenüber erlebt, sondern seine Aktivität wird »mit-erlebt«. Als anschauliches Beispiel, das seine Hypothese unterstützen soll, verwendet er das Spielverhal­ ten von Walen und Delphinen: »Am wirkungsvollsten dürfen wir die­ sen Einfluß dort vermuten, wo die Bewegungen nicht so sehr den Forderungen der sinnenräumlichen Körperwelt folgen, als einen ziemlich reinen Ausdruck des inneren Bewegungsdranges und der Lust am eigenen Körper und seinen Spielen darzustellen. Die besten Repräsentanten für ein solch ungebundenes, ganz dem inneren Antriebe überlassenes Bewegungsleben sind unter den Säugetieren die Wale, insbesondere die in wirbelnden Spielen sich ergehenden Delphine und Tümmler, und es mag nur zur Stützung unserer Auf­ fassung hier schon angemerkt sein, daß diese Tiere die relativ größte Inselanlage unter den Säugern besitzen« (a.a.O., S. 150f.). Dank heutiger sog. bildgebender Verfahren wird die Beobach­ tung und Vermessung von Parametern möglich, die Rückschlüsse auf die Aktivierung bestimmter Körperareale zulassen. In einer Über­

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Die Insula

sichtsarbeit zu selbstreferentiellen Prozessen und der zu ihnen gehö­ renden Aktivierung von Hirnarealen stellen Georg Northoff und andere u.a. eine Beteiligung der Insula heraus für den Raumkontext des eigenen Körpers, den Selbstbezug beim Erinnern sowie bei emo­ tionalen Prozessen und beim Erkennen des eigenen Gesichts. Beson­ derer Nachdruck wird auf die Feststellung gelegt, dass die Insula umso stärker aktiviert ist, je stärker die Handlung als von eigener Bewegung bestimmt verstanden wird. Das konnte bei einem Versuch zur Wahr­ nehmung körperlicher Selbstwirksamkeit und expliziter Eigenbewe­ gung beobachtet werden. »The stronger the sense of agency, the greater activation was observed in the insula« (Northoff et al. 2006, S. 447). Weit ist der Weg zur Freude am eigenen Tun, zur Spielfreude, von der Rothschild spricht, nicht.

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Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

Paradigmatisch werden im sog. Pupillendialog im Frühjahr und Som­ mer 1935 Einstellungen, Auffassungstendenzen, Annahmen und Thesen zwischen den Briefpartnern verhandelt, die die Themen Wahrnehmung und »Erlebnisvorgang« betreffen (s. auch Seite 17). Der Brief Rothschilds vom 11. Januar 1934 [50 R] nimmt in diesem Kontext eine besondere Stelle ein, denn er verdeutlicht Rothschilds neurophysiologische Präzisierungen. Auch an anderen Stellen der Briefe zentriert sich das Denken immer wieder auf diese Konzepte, so insbesondere in den Erörterungen Klages’ zum Typoskript »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges«, Rothschilds 1950 ver­ öffentlichtes Werk [115 K]. Die »Virtuelle Bewegung« geht auf Mel­ chior Palágyi zurück.121 Die drei Themen sind in ihrer Bezogenheit aufeinander kaum trennbar und einzeln erörterbar. Kursorisch soll hier die Linie dieser Auffassungen nachgezogen werden.

Zu den Phänomenologien der Wahrnehmung Die sich ab dem Fin de siècle ausbreitende neue Beschäftigung mit der Wahrnehmung in der Philosophie geschieht in Abgrenzung zum traditionellen Wahrnehmungsverständnis und seiner Ausgestaltung in der von Gustav Theodor Fechner begründeten Psychophysik, die den Zusammenhang zwischen objektiv einwirkenden Reizen und deren Erlebensgehalt im Individuum mittels einer positivistischen Methodik zu erfassen suchte. Die Psychophysik, deren Geburtsstunde mit dem Jahr 1860 angegeben wird, wurde zu einem der frühes­ ten Forschungsbereiche einer akademischen Psychologie und wirkt, 121 In der »Geistesgeschichtlichen Zugabe« des Anhangs zu seinem Brief an Roth­ schild vom 11. Februar 1949 [115 K] fasst Klages einige Aussagen und Herleitungen von Palágyi zusammen.

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begleitet von jeweils moderneren Methoden bis in unsere Tage als maßgebliche Disziplin. Vor und in der Zeit unserer Briefpartner kommen Einwände gegen die traditionelle und populäre Sicht der Wahrnehmung aus der auf den Wiener Philosophen Christian von Ehrenfels (1859–1932) zurückgehenden Gestalttheorie, aus der Per­ spektive unterschiedlicher Phänomenologen wie Edmund Husserl, Martin Heidegger (im weitesten Sinne), Maurice Merleau-Ponty, der Lebensphilosophen122 wie Henri Bergson und Ludwig Klages und vonseiten der Philosophischen Anthropologie, die sich mit den Namen Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen und Frederik Buytendijk verbindet. Aus unterschiedlichen denkerischen, experi­ mentellen Ansätzen und neurologischen Beobachtungen heraus – denkt man an den uns hier häufig begegnenden Gestaltneurologen Kurt Goldstein – entwickeln sich Gegenargumente und neue Auf­ fassungen, die unterschiedliche Aspekte der Wahrnehmung zum Gegenstand haben, sich gelegentlich einander ähneln und sich in anderer Terminologie bei den heutigen Kritikern des traditionellen Wahrnehmungsverständnisses wiederfinden.

Das klassische Wahrnehmungsverständnis Zum klassischen Wahrnehmungsverständnis gehört die Vorstellung voneinander abgrenzbarer Schritte in der Aufnahme von Reizen, ihrer Transformation in Nervenimpulse und ihrer Weiterleitung, ihrer Ver­ arbeitung in bestimmten Hirnarealen und der Gesamtheit des Wahr­ genommenen (Geruch, Ton, Bild, Berührung). Zur Veranschauli­ chung des traditionellen Wahrnehmungsverständnisses dient der häufig herangezogene Vergleich des Sehvorgangs mit dem Fotogra­ fieren, dem Vergleich Kamera und Auge, wie er beispielsweise in Lehrbüchern für Mediziner oder Psychologen verwendet wird.123 In den in den letzten Jahren aufgekommenen neuen Wahrnehmungs­ 122 Wie für die meisten hier verwendeten Gattungsbegriffe, unter denen Denker versammelt werden, gilt für »die Phänomenologen« und »die Lebensphilosophen«, dass ihre Grundgesamtheit sehr heterogen ist und ihre Protagonisten in den Prozessen ihres Denkens in vielerlei Hinsicht nur schwerlich vergleichbar sind. Klages wird als Lebensphilosoph, Psychologe und Phänomenologe verstanden. 123 Siehe z.B. den bekanntesten Sinnesphysiologen der damaligen und heutigen Zeit (seine Erkenntnisse u.a. zum tiefenräumlichen Sehen gelten heute noch), Hermann von Helmholtz, zum Vergleich Kamera – Auge: »Die neueren Fortschritte des Sehens«

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Das klassische Wahrnehmungsverständnis

diskursen wäre Georg Toepfers Einteilung zufolge dieses Verständnis dem ›dissoziativen Wahrnehmungsmodell‹ zuzuordnen, das die Tren­ nung zwischen dem Subjekt des Erkennens und dem Objekt des Erkennens zugrunde legt und uns die Gegenwart des Außen im Inn­ ermenschlichen als Repräsentation vermittelt. Das Subjekt nimmt eine über das ZNS vonstattengehende, komplexe Transformations­ arbeit am eintreffenden Reiz vor, der dann das entsprechende Moment des Außen ›repräsentiert‹ (vgl. Toepfer 2017, S. 9). Im Zuge des vielfältigen Aufkommens von Wahrnehmungsstö­ rungen infolge von Hirnverletzungen im Ersten Weltkrieg und ihrer Erforschung musste in der europäischen Neurologie zumindest par­ tiell Irritation und Skepsis dem üblichen Wahrnehmungsverständ­ nis gegenüber entstanden sein. So z.B. werden bei bestimmten Hirnschädigungen Reize nicht dort wahrgenommen, wo der Reiz körperlich einwirkt, sondern verschoben empfunden. Forschungen wie die weiter unten und in den Briefen erwähnten Arbeiten u.a. von Goldstein verdanken sich diesem Umstand124 und verlangten nach anderen Erklärungsansätzen, die Wahrnehmung und Bewegung wie die »virtuelle Bewegung« Palágyis in einen erweiterten Zusammen­ hang stellen. Ein Bruch mit dem traditionellen Wahrnehmungsverständnis dürfte sich auch in den Forschungsarbeiten zur Chronaxie [22 K und 23 R] anzeigen, so kommentiert sie jedenfalls Rothschild in sei­ nem Beitrag zum »Empfinden und Schauen« in der Festschrift zu Kla­ ges 60. Geburtstag (Rothschild 1932, S. 192). Der Philosoph Michael Großheim vergleicht Klages’ Denkposi­ tionen mit denen anderer Phänomenologen und apostrophiert das übliche Wahrnehmungsverständnis als »Physiologismus, der schon so in unser Selbstverständnis eingewachsen ist, dass seine Widerle­ gung stets auf hartnäckigen Widerstand stößt« (Großheim 1994, S. 267). Folgt man dem heutigen Psychologen Rainer Mausfeld, so endete die Kritik am traditionellen sinnesphysiologischen Wahrnehmungs­ verständnis in der Psychologie mit dem Durchbruch und der Etablie­ (1868) und »Biologische Psychologie« von Birbaumer & Schmidt, 2010 (7. Auflage), S. 298f. 124 Siehe die erwähnten Arbeiten von Goldstein (1925), u. S. 115ff., Hoff und Plötzl (1934), u. S. 118, Zádor (1930), die nur einen winzig kleinen Ausschnitt der Vielzahl damals neuer experimenteller Studien zur Wahrnehmung darstellen.

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rung des Behaviorismus, »als [...] reduktionistische Positionen zur alles dominierenden Orthodoxie in der Wahrnehmungspsychologie – und der Psychologie allgemein – wurden« (Mausfeld 2012, S. 204). Allerdings bleibt sie in der Kognitionsphilosophie vorhanden. Eine der modernen Kritikerinnen, die US-amerikanische Philosophin Susan Hurley (1954–2007), bringt die traditionelle Vorstellung auf die Formel des »input-output picture of perception and action« (Hur­ ley 1998), worin sich Perzeption und Aktion als periphere Vorgänge finden, zwischen denen sich das Bewusstsein (mind) erstreckt. Hurley und andere, vor allem aber der Philosoph Alva Noë, auf den ich später näher eingehe, legen Wahrnehmungskonzepte dar, nach denen Wahr­ nehmung in einem kontinuierlichen Zusammenhang und nicht in abtrennbaren Einheiten stattfindet. Sie stellen in Abrede, dass bei­ spielsweise das Sehvermögen, auch wenn es der Funktionsfähigkeit des Auges, des Sehnervs und der dazugehörenden Hirnareale bedarf, allein aus diesen erklärbar ist.125 Susan Hurley und Alva Noë gelten als Vertreter des sog. ›Enactivism‹. Dieser widerspricht Vorstellun­ gen, wonach über das Gehirn die Außenwelt repräsentiert würde. Demnach finden keine distinkten Abbildungen der Wirklichkeit im Inneren des Menschen/Wirbeltieres statt, der Einfluss des Außen auf das Innen wird direkt und unmittelbar vermutet. In der heutigen Diskussion hat dieses Wahrnehmungsverständ­ nis das Epitheton ›fusionistisch‹ erhalten (vgl. Toepfer 2017, S. 9ff.).

Vom Baum, den ich sehe Der Satz »Ich sehe einen Baum« wird häufig verwendet, um unter­ schiedliche Wahrnehmungsvorstellungen zu veranschaulichen. Bei Klages stellt der einfache Satz vom Baum, den ich sehe, eine Sim­ plifizierung, Abstraktion, eine Verdinglichung dessen dar, was das gesamtheitliche Erleben der Wahrnehmung eines Baumes ausmacht. 125 Mit Bezugnahme auf ein entsprechendes Statement des Phänomenologen Her­ mann Schmitz schreibt Großheim 1994: »Wohlgemerkt wird hier nicht bestritten, daß so etwas wie die feststellbaren physiologischen Prozesse tatsächlich stattfinden; es wird nur der Graben zwischen diesen Prozessen und unseren Wahrnehmungen nicht kurzerhand verwischt, wie es heute üblich geworden ist. Dieser Graben ist philoso­ phisches wie naturwissenschaftliches Niemandsland [...]« (S. 268).

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Vom Baum, den ich sehe

»Wenn jemand einen Baum wahrnimmt, sei es durch flüchtigstes Erblicken, sei es durch längeres Inaugenscheinnehmen, so empfängt er nicht etwa nur den Eindruck der Baumerscheinung, sondern er hat zugleich das Bewußtsein der Gegenwärtigkeit eines seienden Dinges. Bringt er das in die Form eines Urteils, so erhellt ohne weiteres, daß es sich grade nicht auf die Erscheinung des Baumes bezieht. Diese verändert sich nämlich sogar für denselben Betrachter mit jedem Wechsel der Stellung und kann vollends niemals die gleiche sein für einen neuen Betrachter, wohingegen einer und nur ein einziger ist der existierende Baum. Jedermann unterscheidet denn auch vom seien­ den Baum die ›Ansicht‹ des Baumes und rechnet z.B. ihr und nicht dem Baume zu die Beleuchtungsfarbe. Aber selbst die ›Eigenschaften‹ des Baumes behaupten sich nicht in der ›Ansicht‹ des Baumes.« (Kla­ ges 1929a, S. 18)126 Diese Erörterungen finden sich zu Beginn des zweiten Kapitels der Schrift »Der Geist als Widersacher der Seele«, die 1929 erschien. Klages macht hier kritisch aufmerksam auf die dominanten Traditio­ nen des Wissens, Erkennens und Denkens in ihren reifizierenden Aspekten. Abstrakte Auffassungen der Wirklichkeit, die sich des Lebendigen entledigt haben, werden zum Ausgangspunkt des Ver­ stehens. Die vitale Wahrnehmung ist etwas anderes als das Begreifen. Wörter und sprachliche Wendungen wie das gerade verwendete ›Begreifen‹ können zwar noch ihre Herkunft aus dem direkten Zusam­ menhang des Erlebenden und seiner Umwelt verraten, im denkeri­ schen Unterfangen bleiben diese Zusammenhänge ausgeklammert. Wissen ist immer etwas aus dem Fluss des Erlebens Herausgenom­ menes und Festgestelltes. Klages gibt im philosophischen Kontext die »Wirklichkeit der Sinneseindrücke« wieder zurück in »eine Wirklich­ keit des Geschehens«. Er schreibt: »So erfaßt etwa der Gegenstand, den der Begriff des Waldes meint und selbst eines ganz bestimmten Waldes, nichts von dessen Beleuchtungsfarben. Im Augenblick mei­ nes Schauens flammte aber der Wald in Lichtern der Abendsonne, und dieser Schimmer war von dem Bilde, das ich erlebte, durchaus nicht zu trennen. Ein andermal mag derselbige Wald nebelumhangen im Sturme schwanken und mag ich von neuem sein Urbild zu schauen 126 Auf das hier angeführte Baumbeispiel bezieht sich auch Behnke (1999, S. 95 ff.) in seiner Darlegung des Klagesʼschen Wahrnehmungsverständnisses. Siehe auch Gernot Böhme (1999, S. 26), der Klages in diesem Zusammenhang Gaston Bachelards »rupture epistémologique« zur Seite stellt.

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begnadet sein: alsdann ist dieses jedoch ein anderes, als welches das vorige war« (Klages 1922, S. 88). Was nun geschieht mit dem Baum, den ich sehe, oder was geschieht mit mir, wenn ich einen Baum sehe? Für Palágyi wäre der Baum, den ich sehe, in erster Linie der, den ich mittels der »virtuellen Bewegung« ergreife (siehe hierzu S. 109ff.). Wohingegen Klages eher den Vorgang hervorheben würde, wonach der Baum, den ich sehe, mir widerfährt und ich mit seinem Bild verschmelze, bevor ich ihn unmit­ telbar darauf im Prozess der Entfremdung erst zum wahrgenomme­ nen Objekt mache. Dieses Wahrnehmungsverständnis Klages’ löst Rothschild aus dem rein phänomenalen Prozess heraus und gibt ihm eine ontisch-naturgegebene, eine psychophysiologisch-neurologisch fassbare Dynamik. Einzuschränken ist, dass Klages – berücksichtigt man die Vielseitigkeit seiner Äußerungen zum Wahrnehmungsver­ ständnis und seine komplexe bild- und emotionshafte Sprache – Ver­ schmelzung und Entfremdung nicht unbedingt durchgängig als phä­ nomenale Grundvorgänge der Wahrnehmung verstanden hat und sie teilweise dem Bereich des Schauens vorbehält. Rothschild grenzt den Geltungsbereich klarer ein.

Die Entwicklung des Wahrnehmungsverständnisses bei Klages Klages betrachtet die Wahrnehmung im phänomenalen Umfeld von Gefühlsansteckung, Imitation, Nachahmung, Mitleid und Mitemp­ finden. Er bezieht Ausschilderungen synästhetischer Besonderheiten ein, wie sie sich in sprachlicher Begrifflichkeit und Sprachbildern manifestieren. Auch finden sich genaue Ausführungen über die spe­ zifische Eindruckswandlung, die das Perzept durch die vielfältigen Möglichkeiten der Befindlichkeit, des Zustands und der Umweltbe­ dingungen des Rezipienten erfährt (Klages 1936). Die Hauptlinie des Wahrnehmungsverständnisses entwickelte Klages an der immer wieder verhandelten Frage, wie das Individuum Kenntnis davon erhält, was in einem anderen Individuum emotional vor sich geht. Dabei betont er, wie wichtig es sei, den von außen begegnenden Wahr­ nehmungsgegenstand als Widerfahrnis zu verstehen. Im »Wider­ fahrnis«-Aspekt kann man eine Wiederaufnahme antiker Wahrneh­

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Die Entwicklung des Wahrnehmungsverständnisses bei Klages

mungskonzepte sehen127 und die dezidierte Ablehnung neuzeitlicher. Man kann in ihm auch die Einarbeitung des eigenen Leidens, das insbesondere auf Erfahrungen mit dem jähzornigen Vater beruht, und seine allgemein-psychologische Nutzbarmachung erkennen, die dann in eine Überbetonung des Leidens für das Menschsein schlechthin mündet. Auch wenn eine Vielzahl gradueller Abstufungen im Ver­ hältnis zwischen Mensch und begegnendem Objekt vorgenommen werden, kommt doch hier auch, wie schon am Beispiel des »Pupillen­ dialogs« gezeigt wurde, der Reiz, das Percept vor allem als Erleidnis vor. Der Reizaufnehmende wird vor allen anderen Möglichkeiten als durch Passivität bestimmt angesehen und der Reizgegenstand vor allen anderen Möglichkeiten des Zusammentreffens oder der Begegnung in seinem machtvollen und überwältigenden Aspekt pro­ nonciert. Dazu gehören auch die positiven Konnotationen des Widerfahr­ nischarakters, die unabhängig von den expliziten Qualitäten des Unannehmlichen, der Bedrohung, der Gefährdung und des äußeren Zwangs bestehen. In Widerfahrnis und Erleiden steckt für Klages auch ins Positive oder Neutrale gewendet die pathische Grundverfassung des Menschen, die Kontemplation. Der pathische Mensch ist an die Welt hingegeben und befähigt, sich den Wirkungen der Umgebung zu überlassen. Er gehört dem Es als dem »Träger des Geschehens« an – in Absetzung vom Ich als dem »Träger des Tuns« (Klages 1929a, S. 249).128 Man kann die Herkunft der Grundverfassung des erlei­ denden, passiven und ausgesetzten Menschen in der bedrohlichen Wutwallung des Vaters Klages’ vermuten; sie scheint in vielen Erör­ terungen Klages’ wie u.a. im »Pupillendialog« durch. Im ersten Wider­ sacherband jedoch macht Klages deutlich, dass er alles Erleben als »Erleidnis« versteht (a.a.O., S. 244ff.) und von der Seele Wirkungen ausgehen, deren »Schwerpunkt« im Erleiden liegen (a.a.O., S. 250). Wirken und Erleiden würden dann hier in eins fallen. Aktuell hat der Philosoph Jens Bonnemann Erleiden und Wider­ fahrnis zum Zentrum einer großen Arbeit gemacht, die diesen Aspekt in seiner durch die Zeiten hindurch vernachlässigten Bedeutsamkeit 127 Ähnlichkeiten finden sich bei Aristoteles, bei dem die unmittelbare Einprägung des Äußeren im Inneren vermittelt wird durch »die Empfindung der Veränderung des eigenen Körpers (durch eine äußere Einwirkung)« (Toepfer 2011, S. 718). 128 Siehe auch die reichhaltige Zusammenstellung und Würdigung der Pathik bei Klages in Heinz-Peter Preussers »Pathische Ästhetik« (2015a).

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Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

in sein Recht einsetzen will129, gegen die allgemeine Tendenz, die Wahrnehmung als Aktivität, als komplexe, implizite Konstruktions­ tätigkeit des Individuums anzusehen. Allerdings kommt er völlig ohne Klages aus, obwohl er Hermann Schmitz und Gernot Böhme, die sich in ihren eigenen Theorien zentral auf Klages beziehen, zu wich­ tigen Referenzen seiner Arbeit macht. Da hier der Verdacht sich einer der aktuellen Philosophiepolitik geschuldeten Nichtung des Urhe­ bers einer eigenen Philosophie der Wahrnehmung als Widerfahrnis besteht, sei hinzugefügt, dass der Schöpfer der neuen Widerfahrnis sich auch jeglicher Erwähnung entsprechender Arbeiten, die Klages im Titel haben oder in Hestia130, dem Jahrbuch der Klages-Gesell­ schaft, veröffentlicht wurden, enthält. Von allgemeiner, zeitlich überdauernder Bedeutung erscheint die sich an Nietzsche anlehnende philosophisch-psychologische Hervor­ hebung, die »Fremdicherkenntnis« gehe der »Eigenicherkenntnis« voraus. »Mit der lakonischen Wendung: ›Das Du ist älter als das Ich‹ bringt Nietzsche in schattenwerfendes Licht einen Sachverhalt, des­ sen Gegenteil für ein Axiom zu halten mindestens seit Descartes zum guten Ton gehörte [...]« (Klages 1924, S. 198). Der »sinnliche(n) Akt der Auffassung von Fremdzuständen«, das Wahrnehmen und Begreifen der Ich-Zustände des Gegenübers und den in ihnen enthaltenen Emotionen wird als ontogenetisch primär erachtet und als Bedingung dafür, über die Umkehrung der »natürli­ chen Richtung« der Fremdicherkenntnis zur »Besinnung auf Eigen­ zustände« zu gelangen (a.a.O., S. 197). Spätestens ab seiner ersten größeren ausdruckspsychologischen Arbeit »Die Ausdrucksbewe­ gung und ihre diagnostische Verwertung« von 1912 thematisiert Kla­ ges das »Miterlebnis«, die »Mitleidenschaft« als Partizipation an dem Gefühlserleben des anderen, das wir erst selbstreflexiv als Gefühl dem anderen zuschreiben können.131 In der weiteren Ausarbeitung seiner Ausdruckskunde führt er später das Kind im Ergriffenwerden durch Bonnemann 2012 und vor allem 2016: Das leibliche Widerfahrnis der Wahrneh­ mung. 130 Dies ist bemerkenswert, da Hermann Schmitz und Gernot Böhme regelmäßig Beiträge in Hestia veröffentlicht haben. 131 So legt er u.a. dar: »Wenn jemand sich heftig ärgert, so reicht das bloße Wahr­ nehmen seines Mienenspiels hin, um augenblicklich und ohne daß wir der ›Zeichen‹ als solche innewürden, den Pulsschlag des nämlichen Gefühls in uns selbst zu erwe­ cken, oder [...] uns in ›Mitleidenschaft‹ zu ziehen. Wir werden ›ergriffen‹ von einer Welle des Gefühls, die in ihm seinen Ursprung nimmt und kommen zum Urteil über das fremde Erleben durch Vermittelung der Besinnung auf das Eigene. Würfe hier 129

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den Zorn des Vaters an, das man als eines der phänomenalen Kern­ stücke des Wahrnehmens- bzw. Erlebensvorgangs der Klagesʼschen Psychologie verstehen kann: »Das Kind, das sich noch niemals über die eigenen Stimmungen Rechenschaft gab, sieht doch den Zorn in den Mienen des Vaters und antwortet darauf mit Furcht oder Trotz des Verhaltens. Demgemäß nicht aus dem eigenen Zorn, so lautet der Einwand, gewinnt es die Kenntnis des fremden Zorns, sondern, indem es ihn mit seiner Seele ebenso unmittelbar gewahrt wie mit dem Auge des Leibes das zürnende Antlitz. – Ein solcher Einwurf verwechselt Erlebnis und die Besinnung auf das Erlebte! Das verheerende Dogma von der ›unmittelbaren Selbstgewißheit des Bewußtseins‹ hat es verschuldet, daß man völlig zu unterscheiden verlernte zwischen den Besinnungstaten des Men­ schen und den für sich stets unbewußten Lebensvorgängen, durch wel­ che jene allererst möglich werden. Wer sehend einen Baum wahr­ nimmt, weiß darum noch nicht das mindeste von dem Gesichtseindruck, der ihn dazu ermächtigt hat. So gewiß der Gesichts­ eindruck erlebt werden mußte, damit die Baumwahrnehmung stattha­ ben konnte, so gewiß wird nicht er auch aufgefaßt, wenn man infolge seiner den Baum auffaßt! Das geschieht erst durch einen Akt der Rück­ besinnung, der daher naturnotwendig als schon vollzogen voraussetzt den Akt der Sachbesinnung. Genau ebenso aber wie Selbstbesinnung zu Sachbesinnung verhält sich notwendig die Besinnung auf Eigen­ seelisches zur Besinnung auf Fremdseelisches. Wie das Sachbewußt­ sein schlechthin dem Selbstbewußtsein, so wieder geht die Auffassung des Fremdseelischen notwendig voraus der Auffassung des Eigensee­ lischen. Aber, so wenig wir aufnehmen könnten ohne erlebte Sinnes­ eindrücke, so wenig fänden wir im Wahrzunehmenden ein Seelisches vor ohne erlebte Miterregung. Das Kind sähe eine Gesichtsverzerrung und nicht, was es wirklich sieht, den Ausdruck des Zornes, wenn es durch jene nicht wäre miterregt worden. Was es aber gemäß seiner Miterregtheit erfaßt, ist nicht die eigene Wallung, sondern vermittelst ihrer das Wallung-Erregende.« (Klages 1921, S. 14f.)

Ich versuche nun, diesen Textpassus genügend ausführlich zu erör­ tern. Als Erstes stößt man auf einige der Lese- und Verstehenser­ jemand ein, wir wüßten doch jetzt noch nicht, ob es denn wirklich dieselbe Welle sei, die durch zwei Individuen hindurchrolle und ob nicht vielleicht das eine dieses, das andere jenes fühle, so wäre zu erwidern, daß eine andere als gefühlsmäßige Evidenz für solches Wissen allerdings nicht bestehe, daß es aber kein Mittel gedanklicher Analyse gäbe, um in fremdes Innenleben einzudringen außer auf Grund eben des Glaubens an den Wahrheitsgehalt des Miterlebens« (Klages 1912, S. 68).

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schwernisse, die einem Klages bereitet. Seine Darlegungen weisen unterschiedliche Grade gedanklich durchdringender Anstrengung auf, die sich in zwanghaften Wiederholungen und zergliedernder Detailversessenheit niederschlagen kann, sich aber auch in barocker Weitschweifigkeit und aphoristischer Beiläufigkeit äußert. Systema­ tisch aufbereitete Begriffsbestimmungen und Hintergrundserhellun­ gen findet man so wenig wie durchgehaltene Stringenz in der Ver­ wendung, Einbindung und Rückbezug auf seine Kernkonzepte des Geistes, der Seele, des Wesens, der Wahrnehmung und des Willens. Hierauf macht u.a. der Klages-Interpret Michael Großheim aufmerk­ sam, auch auf Umständlichkeiten, die sich daraus ergeben, dass dem Leser nicht einsichtig wird, ob nun Klages seine Meinung kundtut oder gerade die andere Position referiert (Großheim 1994, S. 284). In diesem Passus setzt sich Klages von der »unmittelbaren Selbstgewißheit des Bewußtseins« als unmittelbarer epistemischer Kompetenz des Menschen ab. Diese Vorstellung geht auf Augustinus zurück, der eine innere selbstevidente Wahrnehmungskapazität annahm (Klages 1971, S. 129; Klages 1955, S. 66). Diese Abgrenzung ist markiert von der besonderen Emphase, die auf der zusätzlichen selbstreflexiven Besinnung liegt, dem Gewahrwerden der eigenen zwangsläufigen Miterregtheit – wofür er später den Begriff der Ent­ fremdung verwendet –, um den spezifischen Gefühlszustand des anderen als diesem zugehörig zu gewärtigen. Zuerst vernommen und gespürt wird aber der Affekt des anderen. Im Begriff der »Wallung«, den Klages statt »Affekt« verwendet, findet sich noch ein direkter Anklang eines physiologischen Geschehens. Mit dieser Annahme oder Behauptung wendet er sich u.a. auch gegen die Annahmen Theo­ dor Lipps, den Klages an der Münchner Universität hörte (Rang 2002, Vetter 2010). Ebenfalls am Beispiel des Zorns behauptet Lipps, man könne sich nur aus dem gekannten eigenen Gefühlszustand in einen anderen hineinversetzen und die möglichen Gefühle des anderen erschließen. Aus der Kenntnis meines Zorns erst kann ich den des anderen ermitteln. Diese Vorstellung Lipps steht im Kontext seiner »Einfühlungstheorie« (Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhun­ derts), die ihrerseits die Abkehr von der »Analogieschlusstheorie« markiert, die herrschende abstrakt-kognitive Vorstellung, man schließe von sich als erlebendem Wesen auf die Existenz anderer Iche. Mit dem durch den Junghegelianer Friedrich Theodor Vischer und seinen Sohn Robert Vischer hervorgebrachten Begriff der »Einfüh­ lung« beginnt eine verzweigte und prominente Auseinandersetzung

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um »die Einfühlung«: Edmund Husserl und seine Schüler stehen hierfür, ebenso die Philosophische Anthropologie. Diese Befragung intersubjektiver Verhältnisse vollzieht mit ähnlichen neuen Frage­ stellungen die Psychoanalyse und die damalige Soziologie. Eine Abwendung von einem Menschenbild, das den Hintergrund für monadologische, atomistische und mechanistische Wissenschafts­ ausrichtungen bildet, findet vor Kontrasten statt wie der Ausbildung positivistischer Besonderheiten, wofür hier auf die »Entwicklungs­ mechanik« verwiesen sei, die durch den Anatomen und Embryologen Wilhelm Roux (1850–1924) angestoßen wurde.132 In diese neue, dem Positivismus abgewandte Entwicklung gehört auch das epochema­ chende Werk des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber »Ich und Du«, mit dem die nicht mehr ableitbare Relationalität des Men­ schen als ontologische und spirituelle Gegebenheit postuliert wird. Der Klagesʼschen Position am nächsten kommt der von Max Scheler behauptete »in Hinsicht auf Ich-Du indifferente(r) Strom der Erleb­ nisse«133. Scheler spricht die mögliche Diffusion von Ich- und NichtIch-Erlebensinhalten unmittelbarer als Klages an und verwirft wie dieser sowohl die »Analogieschlusstheorie« als auch die »Einfüh­ lungstheorie«.134 Beiden gemeinsam, so könnte man es modern for­ mulieren, ist die Behauptung einer physiologisch-emotional wirksa­ men Reziprozität der Individuen, die Behauptung eines gefüllten Zwischenraums, dessen Wallungs/Affekt-Inhalte von zweien bzw. mehreren verspürt werden können bzw. in die Körper diffundieren. Der zwischenmenschliche Raum wird nicht länger als durch die kör­ perlichen Begrenzungen der an ihm teilhabenden Individuen bestimmt angesehen. An anderer Stelle spricht Klages davon, »daß im persönlichen Verkehr der Menschen untereinander die Erlebnisse übertragen werden aufgrund des Ausdrucksgehalts von wahrgenom­ menen Körpervorgängen [...]. Alles Wissen vom fremdseelischen Eigenleben (stützt sich) auf die unmittelbar verstandene Ausdrucks­ bewegung«, die ihrerseits nicht »vermittelt ist durch Beobachtung und Erkundung« (Klages 1921, S. 12). Über den Mittler des Ausdrucks als 132 So nannte sich der Embryologe Wilhelm Roux »Entwicklungsmechaniker« und gab eine Zeitschrift heraus, die den Titel »Archiv der Entwicklungsmechanik der Orga­ nismen« trug. Heute versteht man Roux als Vorläufer einer modernen Mikrobiologie (s. u.a. Nyhart 1995). 133 Scheler (1923) nach Rang 2002, S. 78. Siehe auch Hermann Schmitz 1998, S. 184ff. 134 Klages unterzieht ebendiese Theorien auch seiner Kritik, s. Klages 1921, S. 13f.

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dem Symbol des Affekts wird der Wallung als einem möglicherweise direkten physischen Energiegeschehen wieder die Konkretheit genommen. Aber auch das Aufnehmen des Ausdrucks eines anderen ist nicht kognitiv vermittelt. Der Philosoph Ernst Cassirer, der Klages partiell kritisch, partiell bestätigend rezipierte, befasste sich ebenfalls mit diesem Zwischenbereich und kommt zu ähnlichen, sprachlich etwas anders nuancierten Ergebnissen (Paetzold 1994, S. XIII). Aus den psychoanalytischen, ausdruckskundlichen und affektpsychologi­ schen Untersuchungen Rainer Krauses (2008) wissen wir mittler­ weile, dass die Gefühlsabstimmung zweier einander zugewandter Menschen schneller vonstatten geht, als sie bewusst bemerkt werden könnte, der psychophysiologischen Mikroprozesse des affektiven Austauschs zwischen zwei Menschen würde man nicht gewahr. Dirk Solies, der sich mit Ähnlichem in der Phänomenologie Klages’ befasst und dies am Bedeutungsumfeld der »Miterregung«, des »Miterregtseins« diskutiert, erkennt darin deutlich die Möglich­ keit der Empathie als zwangsläufig dem Individuum Inhärentes und solchermaßen eine Ethik verortet, die konstitutiv für das Menschsein jenseits eines kategorischen Imperativs oder Tugendvorstellungen oder des christlichen Mitgefühls besteht (Solies 2009). Den gleichen phänomenalen Vorgang wie für die Fremd- und Eigenwahrnehmung nimmt Klages auch für das Wahrnehmen von Objekten in Anspruch. Die »Selbstbesinnung« verhalte sich zur »Sachbesinnung« wie »die Besinnung auf Eigenseelisches zur Besin­ nung auf Fremdseelisches« (Klages 1921, S. 14). Seine Anschauungen, Herleitungen und Beweisführungen zur Wahrnehmungspsychologie finden sich an unterschiedlichen Stel­ len und in Abwandlungen, Vertiefungen und Präzisierungen, sie haben eine gewisse Schlüssigkeit und weisen gleichzeitig disparate Ausdeutungen und Varianten auf. Auf jeden Fall besitzen sie nicht die ontologisch-physiologische Stringenz, mit der Rothschild das Segment der Wahrnehmung bedenkt, das er durchgängig als Akt der Verschmelzung und Entfremdung zu verstehen sucht. Klages deutet den Begriff näher an den Phänomenen, näher an einem lebensweltlichen Verständnis aus: Um als Erlebender dem Erlebten gegenübertreten zu können, muss vorher ein besonderer Zusammenhang zwischen Bild und Rezipient bestanden haben. »Würde die Seele das Bild nicht als etwas ihr Fremdes erleben, so könnte sie nicht ein Bild erleben; und hinge sie nicht mit dem Bilde zusammen, so wäre es aus mit ihrem Erleben« (Klages 1929b, S. 583).

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Die Entwicklung des Wahrnehmungsverständnisses bei Klages

Was er hier zurückhaltend als »Zusammenhang« bezeichnet, wird an anderer Stelle zur »Vereinigung«135 oder zur »Verschmel­ zung«: »Wir haben inzwischen das Zusammenhängen genauer als Verschmelzung, nämlich des Schauens mit dem Geschehen, bezeich­ net [...] und wir haben in der gleichsam pausierenden Wende des Schauens, d.i. im Anschauungsvorgang, den Uranstoß zur Entfrem­ dung ermittelt, dank der ein immer sich wandelnder Bilderstrom für die Seele im Spiegel des Sinnenraums zur Erscheinung kommt« (Kla­ ges 1932, S. 951). Wichtig im Wahrnehmungszusammenhang ist es, dass Klages Zusammenhang, Vereinigung, Verschmelzung an vielen Stellen dem Schauen vorbehält, das er der Empfindung gegenüberstellt. Empfin­ dung, zurückgehend auf Palágyis Unterscheidung von Bewusstsein und Empfindung, bildet für Klages andauerndes, nicht bewusstes Erleben. Man könnte auch sagen, die Empfindung ist die an der Widerständigkeit der begegnenden Welt aufkommende Präsenz des Außen im Inneren des Körpers. Mit den Worten Rothschilds werden zwei »wesensverschiedene Erlebnisweisen« mit Empfindung und Schauen bezeichnet: »Nur die eine, die alle Auswirkungen des Körpers im Erleben umfaßt, und der die Findung einer gegenüberstehenden Umwelt zuzuschreiben ist, nennt Klages, dem ursprünglichen Wort­ sinn folgend, das Empfinden, die andere, die den qualitativen, den gestalteten, raumzeitlichen Charakter der Welt erschließt und die die spezifische Lebensform der Seele darstellt, bezeichnet er als das Schauen« (Rothschild 1932, S. 194). Vor allem in seinem Buch »Vom kosmogonischen Eros« (1922) macht Klages die Unterscheidung zwischen einem tagtäglichen Wahr­ nehmen und dem Schauen: Im tagtäglichen Wahrnehmen ist es das »Eindrucksvermögen«, in dem das Bild mit der Seele des Wahrneh­ menden verschmolzen wird. Im Schauen wird der Schauende durch das Bild verwandelt (Klages 1922, S. 125). Schauen ist gleichzusetzen mit Wesensschau, das Bild mit dem Wesen des Erscheinenden. Das 135 »Auch schon die Schauung, obschon weit wurzeltiefer, bedarf der Mitwirkung des Empfindens. Bestimmen wir sie zunächst als das Empfangen von Bildern und mit­ verstehen wir unter dem Bilde dessen Erscheinen, so haben wir dem Empfangenen offenbar eine Eigenschaft beigelegt, welche verhindert, daß es mit dem Empfänger zusammenfalle; welchem gemäß wir am Vorgang der Schauung zwei Phasen sondern: die der Vereinigung mit dem Geschehen und die der Entfremdung, dank der das Geschehen anschaulich wird als Erscheinung eines wirkenden Wesens.« (Klages 1936, S. 66).

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Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

Bild in diesem Sinne kommt im ekstatischen Erleben und im Traum während des Schlafens vor. Hier erhält Wahrnehmen und Schauen eine jeweils prägnante Spezifität. Und für die Schauung gilt, dass sie nur erleidbar ist.136 An anderen Stellen spricht Klages von der »Umstimmung der Seele« durch den Eindruck, modern gesagt durch das Perzept, dem gemäß es zur Wandlung des Rezipienten im Schauen kommt. Diese zeitweilige Wandlung wird von der Entfremdung dieses Geschehens abgelöst (Klages 1936, S. 97ff.), auf deren Bedeutung wir hier schon häufiger eingegangen sind und worin sich die zumindest scheinbare Widersprüchlichkeit ergibt, wonach Widerfahrnis und Erleidnis, die grundlegend der Passivität des Menschen und seines Körpers angehören, einen Aktivitätsaspekt erhalten, der erst das Auf­ genommene zum Gegenüber werden lässt. Ich will hier nochmals betonen, dass es grundsätzlich zu kurz greift, das »Pathische« in dieser Konzeption als passive Haltung der Umwelt und der eigenkörperli­ chen Umwelt gegenüber zu berücksichtigen, ohne zu verstehen, dass diese Passivität wiederum Aktivität in sich birgt.137

Rothschild: Wahrnehmung und Erlebnisvorgang Hermann Schmitz, Gernot Böhme und Hartmut Böhme u.a. nehmen die Wahrnehmungspsychologie Klages’ zum Ausgangspunkt weiter­ führender, feinsinniger Annäherungen und Differenzierungen im Verständnis von Phänomenen im Raum zwischen Menschen und im Verhältnis des Menschen zu seiner Natur und zur außermensch­ lichen Natur. So finden sich bei Hermann Schmitz Ausarbeitungen zum Atmosphärischen, zum Schmerzerleben, zur besonderen Dyade zwischen dem Sadisten und seinem Opfer, zum Traum, zur Abgren­ zungsstörung, zum Anankasmus und zur »leiblichen Kommunika­ tion« (Schmitz 1998). Diese begrenzte Aufzählung mag die weite Auffächerung des Themenfeldes nachvollziehbar machen. Rothschild geht nun anders vor, indem er das Wahrnehmungsverständnis Klages’ konkreter nimmt als dieser dies tut. Dazu gehört, dass der reizauf­ »[...] vom willkürbaren Wahrnehmungsakt, der uns Dinge gibt, verschieden sei die jedenfalls nur erleidbare Schauung sich ereignender ›Bilder‹.« (Klages 1922, S. 77). 137 Siehe auch Solies 2009, S. 49: »Klages’ Begriff der Passivität zielt somit auf eine Form von teilnehmender Empathie ab, die keineswegs im Bereich des Erduldens ver­ bleibt, sondern die in der inneren Teilnahme an der Bewegtheit des Anderen die Vor­ aussetzung für ein empathisches Verstehensverhältnis schafft.« 136

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Rothschild: Wahrnehmung und Erlebnisvorgang

nehmende Vorgang schärfer gezeichnet wird als die Aktivität des Reizanlasses selbst. Wahrnehmen ist kaum oder gar nicht die Leistung des Individu­ ums und auch nicht auf eine additive Konstruktion, etwas zu verneh­ men, zurückzuführen. Die Umstimmung im Körper ist die Wirkung des Lichts oder gar »eine Äußerung der Lichtwirkung selbst«, wie der 29-jährige Rothschild in »Links und Rechts« ausführt: »Statt nun den Vorgang so in eine Kausalkette zu zerlegen, bei der immer aus einer Wirkung die Ursache der nächstfolgenden wird, das Licht die Ursache der Netzhauterregung, die Netzhauterregung die Ursache der Erregung des Centralorgans, diese wieder die Ursache einer Änderung im sympathischen System usw., sagen wir in Anwen­ dung des erscheinungswissenschaftlichen Standpunktes: Das Licht wirkt auf dem Wege über das Auge, das Centralnervensystem und den Sympathicus auf den motorischen Nerven; d.h. so wie der motorische Nerv empfängt der ganze Organismus die Einwirkung des Lichtes, und Auge, Centralnervensystem und Sympathicus sind nur die besonderen Aufnahmeorgane. Die Umstimmung des peripheren Nerven ist nicht eine Reaktion des Organismus auf die Lichteinwirkung, sondern eine Äußerung der Lichteinwirkung selbst.« (Rothschild 1930, S. 470)

Später wählt er meines Wissens nach nicht mehr diese Worte, aber der Passus kennzeichnet die gewisse, nicht immer sichtbar werdende Rebellion Rothschilds gegen den Anthropozentrismus, die über den Biozentrismus seines Lehrmeisters hinaus auch der unbelebten Mate­ rie ein Sichäußern, einen Ausdruck und eine Ausdruckswirkung zuspricht. Im selben Beitrag zu »Links und Rechts« fragt er, ob der Körper nur »Resonator des Fremdwesens« (a.a.O., S. 369) sei oder eigene Aktivität in der Reizaufnahme dahinterstecke. Er beantwortet die Frage nicht vollendet allgemein, aber gelangt über die Beispiele des Chamäleons, das sich im Aussehen seiner Umwelt entsprechend wandelt, und der Speise, die nur gesehen, schon zu den sekretorischen und motorischen Vorgängen führe, die auch mit der Speise im Magen stattfinden, zu der Behauptung: »Der aufnehmende Organismus wan­ delt sich in einer Entsprechung zu dem Wesen der einwirkenden Umwelt, das Fremde erscheint in einer durch die andersartige Organisation bedingten Abwandlung in dem aufnehmenden Individuum« (a.a.O., S. 471). Und er kommt zu folgender Spezifizierung: Die Funktionen, die mit dem aufnehmenden Sympathikus zusammenhängen, haben den Charakter »der ohne Beteiligung der individuellen Aktivität erfol­ genden Wandlung« (ebd.). Für diese transitorische Verschmelzung

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des wahrnehmenden Subjekts mit dem wahrgenommenen Objekt macht er in der »Symbolik des Hirnbaus« verschiedene anatomische und funktionelle Gegebenheiten geltend. Anatomische Entsprechun­ gen oder Zeichen für das Eindringen des Draußen nach Innen findet er u.a. in der besonderen Wandlung der Form der in den Spinalgan­ glien gelegenen Nervenzellen im Laufe der Phylogenese und Onto­ genese. Ab dem Wirbeltier haben sie, so Rothschild, ihre Polaritität aufgegeben und »sich zu dem merkwürdigen Gebilde der pseudouni­ polaren T-Zelle« (Rothschild 1935, S. 54) umgeformt, sodass Den­ driten und Neurit in einem Fortsatz zusammenfallen. Von dieser an den hinteren Fasern des Spinalnerven im Rückenmark gelegenen Zellformation heißt es allgemein, sie leite afferente Signale aus dem peripheren Nervensystem an das ZNS weiter. Da der Neurit hier die Richtung der Dendriten fortsetze, »als wären sie eine Faser«, drücken die Spinalganglien aus, »daß zwischen dem Aufgenommenen und dem Weitergegebenen niemals ein Unterschied entsteht, daß in ihnen die Fremderregung durch Eigenerregungen nicht umgestaltet und neu formiert wird« (ebd.). Auch in den heutigen Lehrbüchern zum Ner­ vensystem heißt es, die Spinalganglien würden Signale aus den Rezeptororganen direkt und ohne Umschaltung an das ZNS weiter­ leiten. Im Brief vom 11. Januar 1934 an Klages [50 R] findet wiederum eine eindringlichere Verwendung der Verschmelzungsvorstellung statt, hier im Versuch, die Empfindung gegenüber der Wahrnehmung zu verstehen. Die Körper, die dem Wirbeltier, dem Menschen begeg­ nen, hemmen die Eigenbewegung und üben einen Zug auf dessen Seele durch ihre Körperlichkeit aus. »Das Primäre auch bei der Empfindung eines Widerstandes, nicht nur beim Schauen von Qualitäten, ist eine Verschmelzung mit dem inneren Wirkungsprinzip des fremden Körpers, und zwar mit Hilfe der Kräfte der Materie des eigenen [...] Erst indem das Tier seine Antriebskraft der fremdkörperlichen Wirkung gegenüber zu behaupten und durch­ zusetzen sucht, scheidet sich der eigene von dem fremden Körper im Widerstandserlebnis, das daher seinem Wesenskern nach aus dem Gegeneinanderkämpfen zweier sich behauptender materieller Wir­ kungszentren hervorgeht. Aber nicht, dass er mit fremden Körpern in Widerstreit treten kann – das können nichtorganismische Körper auch – sondern dass er mit ihnen trotz seiner Fähigkeit zur Gegenbewegung verschmelzen kann, schafft die Möglichkeit zur Entfremdung dieser Wirkung in der Empfindung.« (Brief Rothschild vom 11. Januar 1934)

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Dies ist eines der vielen Beispiele, in denen die Selbstbehauptung, der Klagesʼschen Pathik äußerlich bzw. entgegengesetzt, zu einem zen­ tralen Merkmal des Wirbeltierlebens gemacht wird. Aber nicht der Widerstreit an sich ist der Kern der Selbstbehauptung – mit anderen Worten: der Entfremdung aus der Verschmelzung mit dem anderen Körper –, sondern eine in die Kampfesmetapher gewandete Unter­ scheidungsarbeit zwischen Ich und Du. Sich selbst erfahren ist an die Verschmelzung mit dem anderen gebunden, beide Vorgänge sind dynamisch aufeinander bezogen. In diesen Sätzen nimmt er seine spätere Formulierung der »biosemiotic laws« voraus. Diese besagen: Das Individuum ist in seinem Leben bestrebt, sich selbst zu erhalten und sich zu realisieren. Selbstrealisierung in den frühen phylogene­ tischen Lebensprozessen meint Selbstverdopplung. Dies kann nur geschehen, wenn es mit dem Fremden fusioniert – als Beispiel aus dem phylogenetisch-biologischen Bereich nennt Rothschild das ein­ zelne Virus oder das einzelne Gen. Selbsterhaltung und Verschmel­ zung sind konflikthaft aufeinander bezogene Vorgänge, weswegen die innere Polarisierung notwendig wird, um mit der Umwelt in Kontakt zu treten, zu kommunizieren und gleichzeitig das eigene Selbst zu realisieren. Rothschild schreibt: »This law dominates the arrangement of all communication systems from the cell upward. The manifesta­ tion of this inner polarity includes the differentiation of motor and sensory systems in the sensorimotor foundations of experience and behavior, the bisexual disposition of organisms, the asymmetry between right and left, the differentiation of the vegetative nervous system into a parasympathetic and sympathetic component, and the arrangement of the central nervous system in homolateral and heterolateral centers« (Rothschild 1962, S. 780). In den nächsten großen Werken nach der »Symbolik des Hirn­ baus« von 1935 gebraucht Rothschild das physio-dynamisch entwi­ ckelte Verständnis der Wahrnehmung für den in »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« (1950) zentralen Begriff des Erlebnisses bzw. des Erlebnisvorganges. Hier kommen weitere Pola­ risationen ins Spiel: der Triebdualismus Freuds von Eros und Thana­ tos, Fremd- und Ichpol und die Repräsentanten innerer und äußerer Behauptung u.a. Den Eros versteht er ähnlich wie Freud als verbin­ denden, libidinösen, zusammenfügenden, auf die Verschmelzung hinzielenden und der Ganzheitlichkeit verpflichteten Lebensfaktor, den er aber anders als Freud nicht energetisch im Sinne der antiken Lebenskraft verstanden wissen will. Den Begriff des Thanatos rückt

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er in die Nähe des Klagesʼschen Geistes, denn er ist das Festgestellte, der Körper in seiner Endlichkeit, der abstrahierende Begriff, die Instanz, die isoliert und Ganzes auseinanderfallen lässt. Der Gegen­ satz beider »Urtriebe« würde als Gegensatz zweier Erregungsweisen des ZNS in Erscheinung treten, einer »ganzheitlichen, aber effekto­ risch unvollständigen, und einer isolierten, aber effektorisch abge­ schlossenen« (Rothschild 1950, S. 19). Das Kleinhirn in seiner die Selbstbehauptung sichernden Funktion bringe diesen Gegensatz in einen Ausgleich, der die Einheit des Individuums bewahrt. Davon ausgehend entwirft er eine die Psychoanalyse ergänzende Krank­ heitslehre. Die bei der Schizophrenie, der Epilepsie, den manischdepressiven Störungen und den Neurosen zustande kommenden Dysregulationen werden als den Symptomatiken zugrunde liegende Geschehnisse analysiert. Beiläufig sei vermerkt, dass der Psychoana­ lytiker Rothschild hier schon – im Jahre 1950 – die Störung der Ent­ wicklung als nur ungenügend zur Verfügung stehende psychophy­ siologische Struktur und Funktion bei den psychiatrischen Erkrankungen metapsychologisch begründet. Man könnte hier von einer Vorwegnahme heute relativ neuer Konzepte sprechen, die von der Regulation und Selbstregulation handeln, der Notwendigkeit der Übernahme regulativer Funktionen durch die frühen Bezugspersonen als Bedingung genügend guter selbstregulativer Fähigkeiten in der Ontogenese. Beiläufig sei auch gesagt, dass die Ausarbeitung einer Metapsychologie des Erlebens der Konzeptionalisierung eines proze­ duralen Unbewussten gleichkommt, das Einkörperungen von Erleb­ tem mit fortdauernder Prägung von psychophysiologischen Vorgän­ gen meint. Als eine Einforderung einer solchen Ergänzung des Konzepts des Unbewussten kann man seine Reklamation in der »Symbolik des Hirnbaus« interpretieren: »Welcher Art ist der innere Zustand, den das bewußtseinsfähige Erleben besitzt? Meist sind die modernen Theoretiker des Unbewußten dieser Frage aus dem Wege gegangen« (Rothschild 1935, S. 71). Abschließend sei hier nochmals verwiesen auf die besondere Physiologie des Wahrnehmungsvorgangs, wie sie sich in der »Sym­ bolik des Hirnbaus« von 1935 und seiner Revision »Das Zentralner­ vensystem als Symbol des Erlebens« von 1958 findet: Besondere Bedeutung erhält in der Rothschildʼschen anatomisch-physiognomi­ schen und physiologischen Analyse das Kleinhirn als Gegenpol zur Vereinnahmung durch das Objekt. Das Kleinhirn hat als Repräsentant

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des Eigenpols eine »regulative Funktion für den Erlebnisvorgang im Ganzen« (Rothschild 1958, S. 105). Aus dem skizzierten Blickwinkel der Faserkreuzungen ergibt sich u.a. aufgrund der gleichseitig verlaufenden Fasern des Kleinhirns für den Autor die Evidenz, dass das Kleinhirn für die Statik des Körpers da ist, »gegen den verwandelnden Einfluß der Bilder« das Wahrge­ nommene »an feste Stellen des Raumes, vom Organismus getrennt, zu bannen« und den eigenen Körper in der »bestehende(n) Körper­ haltung festzuhalten« (Rothschild 1930, S. 490). Raumerleben und Subjekt-Objekt-Gegenüberstellung kommen zustande durch die komplementäre Aufgabenverteilung zwischen linker und rechter Kör­ perseite, im vegetativen Nervensystem über die Sympathikus- und Parasympathikus-Aufteilung und in der Gegenüberstellung von Großhirn, das aufgrund seiner Faserkreuzungen als auf das Außen ausgerichtet gedeutet wird, und Kleinhirn, das gleichseitige Verbin­ dungen hat, als die strukturelle und funktionale Bedingung der Selbst­ behauptung. Die körperinternen Vermittlungsabläufe geschehen über virtuelle Bewegungen. Besonderes Augenmerk liegt auf den motoneuronalen Weitergaben.

Virtuelle Bewegung Die »eingebildete« Bewegung (1907), später »virtuelle« Bewegung (1924) genannt, ist Palágyis Beitrag und Stellungnahme zur bis heute seit etwa 300 Jahre anhaltenden Diskussion, die sich in Philosophie, Psychologie und den heutigen Kognitionswissenschaften um die Frage entwickelt hat, inwieweit das Empfinden von Eindrücken allein als sensorischer Prozess zu verstehen ist oder ob nicht die Bewegung, also efferente Prozesse, konstitutiv für die Wahrnehmung sind. Die virtuelle Bewegung zeigt eine Verbindung auf zwischen aktiver Bewegung, Gefühlen der Selbstbewegung, Empfindung und Wahrnehmung. Zum Verständnis dieser Auffassung sei darauf ver­ wiesen, dass hier der Versuch gemacht wird, Vorgänge sprachlich zu erfassen, die den Bewusstseinsakten vorgelagert sind und auch in ihren heutigen – sich nicht auf Palágyi beziehenden – Varianten als kontraintuitiv bezeichnet werden. Die gleichen Koordinaten wie die virtuelle Bewegung Palágyis weist heute u.a. das Konzept des »enactivism« des Kognitionswissenschaftlers Alva Noë (2004) auf. Hier wie dort wird der Tastsinn als den anderen vorgängig und die

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Tiefenwahrnehmung als von ihm abhängig angesehen. Hier wie dort geht es um nicht tatsächlich zur Ausführung gebrachte, nicht bewusste Bewegungen bzw. um efferente Vorgänge, die als wahrnehmungs­ konstitutiv postuliert werden. Als anatomische Ortskoordinaten der virtuellen Bewegung darf man wohl auch die von Rizzolatti und Gallese 1996 entdeckten und publik gemachten sog. Spiegelneurone erachten, Motoneurone, die im prämotorischen Kortex von Makaken entdeckt und im menschlichen Gehirn äußerst wahrscheinlich auch vorhanden sind. Spiegelneurone werden nicht nur bei der Ausführung einer bestimmten Handlung aktiv, sondern auch dann, wenn die Tiere einem anderen bei seinem Tun zusehen. In diesem Forschungskon­ text wurden mittlerweile Motoneurone unterschiedlicher Funktionen ausfindig gemacht, auch solche, die angesichts nicht bewegter Gegen­ stände im peripersonalen Raum aktiv werden (Fogassi 2007). Vor diesem Hintergrund dürfte die wissenschaftsgeschichtliche Einbindung der virtuellen Bewegung, die Rothschild vornimmt, bis heute nichts an Aktualität verloren haben: »Der Abhängigkeit des Bewegungsvermögens von dem Empfindungs­ vermögen hat man in der Physiologie schon lange Rechnung getragen, indem man den Begriff der ›Sensomobilität‹ (Exner) schuf. Daß aber umgekehrt das Empfindungsvermögen von dem Bewegungsvermögen nicht minder abhängig ist, hat als grundsätzliche Erkenntnis in der Physiologie noch kein Heimatrecht erworben, obwohl die seelenkund­ liche Seite des Sachverhaltes schon vor mehr als 20 Jahren durch Palágyi entdeckt worden ist. Ein Wesen, das nur sensibler Prozesse fähig wäre, vermöchte niemals zu entscheiden, ob eine nervöse Erre­ gung aus dem eigenen Leib oder von einem Körper der Umwelt stammte, ja, es vermöchte überhaupt keine Eindruckswirkung von dem bestehenden eigenen Lebenszustand abzuheben, weil jede Wirkung, auch jede von außen kommende, nur eine Wandlung der eigenen Innerlichkeit und nichts weiter bedeuten könnte.« (Rothschild 1935, S. 79f.)

Zurück zu Palágyi: Gewahrwerden und Bewusstsein können nur ent­ stehen, wenn es zu spürende Widerstandserlebnisse gibt und sich das Wahrzunehmende von etwas anderem abhebt. Wahrnehmung sei immer ein »Doppelerlebnis«: »Wir vermögen [...] niemals einen Lebensvorgang für sich, in seiner Abgetrenntheit von anderen Lebensvorgängen wahrzunehmen, sondern ein Lebensvorgang wird immer nur durch die Hilfe eines anderen Lebensvorganges wahr­ nehmbar« (Palágyi 1925, S. 29).

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Virtuelle Bewegung

Für das Doppelerlebnis beim Tastsinn gibt Palágyi das einfache Beispiel des Ergreifens der eigenen Hand: Hier habe man zweierlei Berührungserlebnisse: ein passives im Berührtwerden und ein aktives im Berühren/Ergreifen. Das Doppelerlebnis dieses Beispiels wird paradigmatisch für die grundsätzlich passiv-aktiv qualifizierten Wahrnehmungsprozesse angesehen. Um das passiv anmutende Berührtwerden zu empfinden, muss eine virtuelle Bewegung zum Ort der Berührung erfolgen. Aus dem unaufhörlichen Fluss des Empfin­ dens nehmen erst solche Empfindungen erlebensmäßige Gestalt an, die durch das Medium der virtuellen Bewegung hindurchgehen. Die virtuelle Bewegung repräsentiert den aktiven Anteil der Wahrneh­ mung. Anders formuliert: Erst die »virtuelle Bewegung« konstituiert die Wahrnehmung, muss zum Fluss des ununterschiedenen Empfin­ dens hinzukommen, um davon abgehoben als Lebensvorgang gewär­ tigt zu werden.138 Palágyi verfolgt von vornherein weder die übliche sensomotorische noch eine ideomotorische Begründung des Zusam­ menhangs von Wahrnehmung und Bewegung, folgt man etwa der knappen Gegenüberstellung von sensomotorischen und Motortheo­ rien von Wolfgang Prinz: »In sensorimotor approaches, everything starts with stimulation, and actions come into being as consequences of that stimulation. Actions are considered responses to stimuli that precede them. Conversely, in ideomotor approaches, everything starts with intention, and actions come into being as the means for realizing those intentions. Actions are considered the means for certain ends that follow them« (Prinz 2005, S. 141). Palágyi gilt die virtuelle Bewegung als der eigenständige moto­ rische Anteil von schon als »Kreisprozessen des Nervensystems« ver­ muteten Vorgängen: »[...] man muß das physiologische Vorurteil, als ob bloße zentripetale Nervenprozesse (Empfindungsvorgänge) schon Wahrnehmungsprozesse sein könnten, aufgeben, und man muß end­ lich einsehen lernen, dass nur Kreisprozesse des Nervensystems die

Den allgemeinen Hintergrund bildet Palágyis Konzept der »Punktualität des Bewusstseins«: Das Empfinden des Menschen ist ihm größtenteils nicht bewusst, »alle Empfindung ist nur summarische Empfindung« (Palágyi 1925, S. 11) und in unendli­ che Teile untergliederbar. Nur aus diesem Strom des Empfindens punktuell hervor­ gehend besteht Bewusstheit. »Während nämlich die Empfindung ohne Unterlaß fort­ fließt, rafft sich der menschliche Geist nur stoßweise, von Intervall zu Intervall, zu einem neuen Wahrnehmungsakte auf« (a.a.O, S. 16). 138

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vitale Grundlage einer Wahrnehmungstätigkeit sein können« (Palágyi 1907, S. 186).139 Es ist ein neues Körperverständnis, das sich hier, bei Klages und Rothschild und ähnlich bei dem französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty (1908–1961)140 entwickelt und Gestalt annimmt. Der Körper – oftmals durch den belebteren Begriff des Lei­ bes ersetzt – wird in seinen Aufnahmefunktionen und Empfindungs­ vorgängen in Wahrnehmung und Erkennen einbezogen bzw. als deren Grundlegung verstanden. Es bedarf nicht – wie es traditionelle Wahr­ nehmungskonzepte vorsehen – der »synthetisierende(n) Aktivität des Subjekts«, damit »die Empfindungsmannigfaltigkeit [...] zu einer sinnvollen Einheit sinnlicher Erkenntnis« verbunden wird – mit den Worten Buytendijks in seiner Besprechung der »virtuellen Bewe­ gung« (Buytendijk 1956, S. 154).141 Vielmehr geht es um einen erst die Empfindung im Wahrnehmen realisierenden motorischen, nicht bewussten Vorgang. Bezogen auf die Frage, wie es überhaupt zur Raumwahrnehmung kommt142, wenn im cartesianischen Sinn Räum­ 139 Und Palágyi fährt fort: »Die Physiologie der Sinneswahrnehmung muß zu einer Lehre von den Kreisprozessen des Nervensystems umgestaltet werden. Es wird zu diesem Zwecke eine Revision der ganzen Nervenphysiologie bzw. der Sinnesphysio­ logie und insbesondere der physiologischen Optik nötig sein: Aufgaben freilich, die nur durch eine Generation von Forschern einigermaßen bewältigt werden können« (1907, S. 186). 140 Merleau-Ponty bezieht sich häufig auf Kurt Goldstein und speziell auch auf Johannes Steins Arbeit, in der sich dieser zentral mit Palágyis virtueller Bewegung auseinandersetzt (s. 7 R). Explizit verweist er auf die virtuelle Bewegung Palágyis als einem der Ausgangspunkte seines Denkens. Von der synästhetischen Wahrnehmung ausgehend schreibt er: »[...] und das Problem der Synästhesien beginnt sich zu lösen, wenn wir begreifen, daß jede Erfahrung einer Qualität in Wahrheit Erfahrung einer bestimmten Weise der Bewegung des Verhaltens ist. Mit der Behauptung, ich sehe einen Ton, will ich sagen, daß die Tonschwingung ein Echo in meinem ganzen sinn­ lichen Sein findet, und insbesondere in jenem Ausschnitt meiner selbst, der für Farben empfänglich ist. Das Fundament der Einheit der Sinne ist die Bewegung, nicht die objektive Bewegung und Ortsveränderung, sondern der Bewegungsentwurf oder die ›virtuelle Bewegung‹« (Merleau-Ponty 1933/2003, S. 274). 141 Der niederländische Physiologe und Psychologe F. J. J. Buytendijk (1887–1974), der philosophischen Anthropologie zugehörig, verwendet das Palágyi’sche Konzept (1933, S. 62f.), referiert es und verwirft es als zwar verlockend, aber grundsätzlich unrichtig (1956, S. 154f.). 142 Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde eine für die Blindenpädagogik und Hirntraumatologie folgenreiche Kontroverse von Wahrnehmungspsychologen und Blindenpädagogen darüber geführt, ob dem Tastsinn räumliche Qualitäten zukommen oder nicht, »ob es zu den Leistungen des Tastsinns gehört, einen eigenen Tastraum

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Virtuelle Bewegung

lichkeit nur der Materie, aber nicht dem Bewusstsein zukommt, hat der erste systematische Motortheoretiker Rudolf Hermann Lotze (1817–1881) die Vermutung angestellt, dass dem Bewusstsein das visuelle Empfindungsmaterial zusammen mit den Augenbewegun­ gen als ein Zeichensystem für räumliche Relationen vermittelt wird. Es käme dieser Vorstellung zufolge zu einer »synthetisierenden Akti­ vität des Subjekts«, zu einem abwägenden, messenden und verrech­ nenden Vorgang im Gehirn, der in winzigsten Sekundenbruchteilen ablaufen würde. Dem Bewusstsein selbst wird von Lotze eine räum­ liche Tendenz zugesprochen (vgl. Scheerer 1984, S. 8f.). Anders Palágyi, der die Räumlichkeit der Wahrnehmung im Tastsinn begrün­ det sieht: Der Tastsinn wird dem optischen als vorgängig erachtet, die Bewegung im Tasten gilt als der in der Ontogenese zur physiologi­ schen Ausgestaltung einer virtuellen Bewegung führende Vorgang – wenn ich hier Palágyi richtig verstehe –, dessen Räumlichkeit erst der visuellen Wahrnehmung ihre Räumlichkeit gibt. Argumentativ führt Palágyi einfache Beobachtungen an wie solche am Säugling, die nahe­ legen, dass er insbesondere ab etwa dem vierten Monat damit befasst ist, »Gesichtswahrnehmung mit der Tastwahrnehmung in Konkor­ danz zu bringen« (Palágyi 1907, S. 172f.). Wer einen Baum in irgendeiner Entfernung vor sich sieht, fasst ihn virtuell an, und diesem Ergreifen entspricht ein physiologisches Geschehen. »Ein jedes Wahrnehmen ist ein eingebildetes Ergreifen, d.h. an die Stelle des realen Umfassens eines Dinges tritt bei der bloßen Wahrnehmung ein Umfassen durch eingebildete Bewegung und ein­ gebildete Selbstberührung« (a.a.O., S. 166f.). Der Tastsinn weist mittels der virtuellen Bewegung dem »opti­ schen Originalbild« eines Körpers den Ort im Raum zu, »wo der Kör­ per selbst durch den Tastsinn gefunden wird« (a.a.O., S. 172). Palágyi gebraucht immer wieder Begrifflichkeiten, die Anlass geben, die »eingebildete« oder »virtuelle« Bewegung als dem noeti­ schen Bereich, dem der gedanklichen Vorstellung, zugeordnet zu ver­ muten. So schreibt er: »Nicht die Empfindungen sind es, die uns eine mit taktilen Raumvorstellungen zu konstituieren, mithin räumliche Beziehungen und Verhältnisse in der Umwelt und räumliche Eigenschaften von Gegenständen erkennen zu können, ober ob nur die visuelle Wahrnehmung Zugang zu räumlichen Umwelt­ eigenschaften und die Fähigkeit der kognitiven Repräsentation des Raumes in Form von Raumvorstellungen hat« (Peschke 2004, S. 35). Goldstein und Gelb lehnten die Annahme einer Räumlichkeit konstituierenden Funktion des Tastsinns zunächst ab (1920), was sie aber später revidierten (nach Peschke 2004, S. 36).

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Gestalt kundtun; Empfindungen sind nur da, um unsere Einbildung zu erregen und erst diese Einbildung ist es, die uns die Gestalt erfassen lässt« (Palágyi 1925, S. 79). Wahrscheinlich hat u.a. dies zu ›entma­ terialisierten‹ Übernahmen des Konzepts geführt, so z.B. durch Arnold Gehlen.143 Die »Einbildung« wird bei Palágyi nicht im imaginativen Sinne verstanden, auch wenn sie imaginativem Geschehen als zugrunde liegend gedacht wird. Seine beiden Begriffe der »eingebildeten Bewe­ gung« und des »Bewegungsphantasmas« erachtet Palágyi als unglücklich gewählt, »weil sie es nicht klar zum Ausdruck bringen, dass wir unter denselben vitale Vorgänge und zwar reelle vitale Vor­ gänge, nicht aber Gedanken (Vorstellungen, Begriffe) verstehen. Sie verführen leicht zur Verwechslung des ›Gedankens an die Bewegung‹ (Bewegungsvorstellung) mit dem vitalen Vorgange, der es erst mög­ lich macht, dass wir an eine Bewegung denken« (Palágyi 1907, S. 126). Er beansprucht nachdrücklich für sie »eine eigene Klasse von Lebens­ vorgängen (bzw. Nervenprozessen), die der mechanischen Bewegung korrespondieren, d.h. vermittels welcher wir uns in eine mechanische Bewegung einzuleben vermögen, ohne sie wirklich zu vollziehen« (ebd.).144 Als physiologischen Vorgang der virtuellen Bewegung schlägt Palágyi selbst den »Widerstreit zweier antagonistischer Reflexbewe­ gungen« vor, die in sehr kurzer Zeit aufeinander folgen und sich gegenseitig aufheben würden (Palágyi 1925, S. 104). 143 Tatsächlich koppelt Palágyi die »virtuelle Bewegung« an die Phantasie bzw. stellt ihr als Synonym den Begriff der auf die Gegenwart bezogenen »direkten Phantasie« zur Seite, die sich mit der üblicherweise behandelten »indirekten Phantasie« als auf Zukünftiges oder Vergangenes gerichtet im Wechsel befindet (Palágyi 1925, S. 80). Gehlen betont, mit der »virtuellen Bewegung« sei eine Begründung für das mensch­ liche Mitempfinden gegeben, »(s)ie führt zuerst zu der allgemeinen Definition der Phantasie als eines nicht weiter auflösbaren Urphänomens im Sinne der Fähigkeit, sich resp. sich und die Dinge, mit denen man ein ›kommunikatives System‹ bildet, in andere Lagen zu versetzen, als wir selbst und diese Dinge in Wirklichkeit haben« (Gehlen 1950, S. 198f.). Als anschauliche Beispiele für die Manifestationen der »vir­ tuellen Bewegung« werden dann allerdings solche verwendet, die dem Imaginativen als eines Bewusstseinsgeschehens oder bewusstseinsnahen Geschehens entsprechen. So wird von Gehlen das Palágyi’sche Beispiel des Sprungs über den Graben (Palágyi 1907, S. 169) für die »virtuelle Bewegung« in Ansatz gebracht, die aber von diesem als Anschauungsbeispiel für das Heraustreten des Empfindens aus dem Alltagsleben gebraucht wird (Gehlen 1950, S. 195). 144 Siehe auch: »Eine eingebildete Bewegung beruht ebenso auf einem realen vitalen Vorgang wie eine wirkliche Bewegung« (Palágyi 1907, S. 168).

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Die Physiologie der virtuellen Bewegung

Die Physiologie der virtuellen Bewegung In der Neurologie kommt es zu einer nur knappen direkten Rezeption der virtuellen Bewegung, so durch Kurt Goldstein, Johannes Stein, sich auf diesen beziehend bei Hans Hoff und Otto Pötzl und bei Julius Zádor. Die ausgiebigste wahrnehmungs- und hirnphysiologische Rezeption findet sich bei Friedrich Rothschild. Ausgangspunkt für Kurt Goldsteins Reflektionen zur Bewe­ gungsbedingtheit des Wahrnehmens (1925) sind Beobachtungen und Experimente mit frontalhirn- und kleinhirngeschädigten Patienten. Systematisch nehmen diese einen Reiz verschoben wahr, auf dersel­ ben Körperseite wie das erkrankte oder beschädigte Kleinhirnareal (Fasern kreuzen nicht) oder gekreuzt zur beschädigten Frontalhirn­ seite (Fasern kreuzen).145 Diese Abweichungen – so die Schlussfolgerungen Goldsteins – weisen, da sie weder als Sensibilitätsstörungen verstanden werden können, noch auf veränderte Augenbewegungen zurückgehen, u.a. auf nicht-bewusste, motorische Vorgänge und ihre schädigungsbe­ dingten Veränderungen hin.146 Diese motorischen Vorgänge sind deutlich von Palágyis virtuel­ ler Bewegung angeregt, insofern Goldstein versucht, nicht offenkun­ dige Motoraktivität begrifflich zu fassen.147 Danach entspräche die »unbewusste Bewegung« der Tendenz des Organismus, sich dem Reizobjekt zuzuwenden und es zu »erfassen«, wie sich das Pflanzenblatt der Sonne zuwendet. Bei aller unterschied­ licher »Kompliziertheit der anatomischen Strukturen, die diese Goldstein führt diese systematische Wahrnehmungsverschiebung am Beispiel eines Mannes mit linksseitiger Cerebellumerkrankung aus: Soll dieser mit der rechten Hand auf eine Stelle zeigen, die auf der linken Körperseite gereizt wird, so lokalisiert er den Reiz weiter nach außen links und zwar taktil und optisch. Ähnliche Verschie­ bungen kommen bei gesunden Menschen vor, bei denen eine Halsseite abgekühlt wird (Goldstein 1925, S. 297). 146 Heute würde man dies wahrscheinlich auf eine Verschiebung in den rezeptiven Feldern bestimmter somatosensorischer Neurone zurückführen (vgl. Rizzolatti & Sinigaglia 2008, S. 65ff.). 147 Von Goldsteins sog. Vorläufigen Mitteilungen »Über induzierte Tonusverände­ rungen beim Menschen« (1925) hat die hier referierte den Untertitel: »Über den Ein­ fluß unbewußter Bewegungen resp. Tendenzen zu Bewegungen auf die taktile und optische Raumwahrnehmung«. Goldstein kündigt hier an, an anderer Stelle auf die »Übereinstimmungen mit den mehr spekulativ entwickelten Anschauungen anderer Autoren, so z.B. denen Palágyis« (S. 297) einzugehen, was dann wohl ausblieb. Zumindest ist mir keine entsprechende Arbeit Goldsteins bekannt. 145

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Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

Zuwendung in den verschiedenen Fällen vermitteln, handelt es sich wohl doch immer um den gleichen Vorgang der Tonisierung, der dem Wesen nach auf eine primitive Veränderung der lebendigen Substanz durch den Reiz zurückgeht« (Goldstein 1925, S. 297). An dieser Stelle sei darauf aufmerksam gemacht, dass die Wahrnehmung auch bei Goldstein keine distinkte und graduelle Schrittfolge einhält. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem zwangsläufigen Affiziertsein durch den Reiz, wie dies Klages und Rothschild annehmen, ist hier offenkundig. Die Zuwendung, mit der der Reiz erfasst wird bzw. die Veränderung der lebendigen Substanz durch den Reiz qua »Tonisierung« erfolgt, setzt er als den »erste(n) Akt der Reizverwertung« an, auf den dann erst aufnehmende oder abwehrende weitere Reaktionen erfolgen (ebd.). Das zwangsläufige Erfassen des Reizes ähnelt der KlagesRothschildʼschen Konzeption von der zwangsläufigen Verschmelzung des wahrnehmenden Subjekts mit dem Gegenstand seiner Wahrneh­ mung, auf die hin erst eine Entfremdung des Wahrgenommenen für seine Verortung außerhalb des Organismus sorgt. Was die virtuelle Bewegung angeht, so könnte man in den Aus­ führungen Goldsteins eine vorsichtige empirisch-experimentelle Begründung für die »spekulativ entwickelten Anschauungen«148 Palágyis entdecken. Unter Tonus will Goldstein hier allgemein »unwillkürliche Innervationen« verstanden wissen, »die die Ausfüh­ rung willkürlicher Bewegungen und die Einhaltung willkürlich ein­ genommener Stellungen garantieren«, wobei er ausdrücklich davon absieht, Äußerungen über das Substrat zu machen, »in welchem [...] sich diese Innervationen abspielen« (a.a.O., S. 294). Die in der Toni­ sierung gegebene unwillkürliche Innervation nimmt er als »die Vor­ aussetzung für die sog. Verwertung des Reizes« an. Ein Reiz führt nur dann zum Wahrnehmungserlebnis, »wenn der ›Tonus‹ des Organis­ mus so gerichtet ist, dass er der Reizung entgegenkommt.« Und er formuliert seine Schlussfolgerung zum Verhältnis von Bewegungs­ aktivität und Wahrnehmung wie folgt: »Die Wahrnehmung ist also vom Tonus, von motorischen Vorgängen abhängig« (a.a.O., S. 296).149 So die Formulierung Goldsteins (1925, S. 297). Einander wechselseitig bedingende Variablen sind Goldstein zufolge neben der Reizstärke von der Zuwendungstendenz abhängig, die ihrerseits bestimmt wird von der aktuellen »Gesamtbeschaffenheit des Organismus«, der seinerseits von seiner aktuellen Umgebung und seiner Geschichte beeinflusst wird (Goldstein 1925, S. 296). Eine vom Normalen abweichende Zuwendungstendenz infolge von Erkrankung führt dann u.a. zu den Verschiebungen in der Wahrnehmung der beschriebenen Patienten. 148

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Die Physiologie der virtuellen Bewegung

Versucht man die Geschichte von Palágyis »eingebildeter Bewegung« weiterzuverfolgen, so stößt man auf den an Goldstein orientierten amerikanischen Psychologen D. M. Purdy, der seinerseits experimen­ tell die »motor theory of perception« zu belegen versucht (Purdy 1935).150 Er bezieht sich direkt auf die zuvor referierte Arbeit von Goldstein. Eine zentrale und zugleich abgewandelte Präsenz erfährt die virtuelle Bewegung in der Arbeit von Johannes Stein zu »Pathologien der Wahrnehmung« (1928). Stein steht der behaupteten Vorgängig­ keit des Tastsinns skeptisch gegenüber, bejaht aber die Vorstellung einer virtuellen Bewegung, sinngemäß: weil mit ihr, ähnlich wie dies in der Gestaltpsychologie geschieht, der empfindungssummierende Charakter des Wahrnehmens verneint wird und eine physiologische Funktion eingeführt wird, die den aktiv-gestaltenden Aspekt im Wahrnehmungsgeschehen vertritt und seine Einheitlichkeit gewähr­ leistet (Stein 1928). Er unterstellt sie dann aber den Sinnesfunktionen und benennt sie um in »sensorische Bewegung« – so auch der Titel des ganzen Passus –, das, was Palágyi ausdrücklich nicht im Sinne hatte. Emp­ findung und Bewegung seien gleichzeitig im »normalen Wahrneh­ mungsakt« enthalten und könnten nicht getrennt voneinander »Gegenstand der Betrachtung« werden (Stein 1928, S. 385ff.). Er defi­ niert den Vorgang des Wahrnehmens als »den Akt, der Empfindungen und Bewegungen in einem einheitlichen Erlebnis zusammenschließt« (a.a.O., S. 391). Stein bringt sozusagen die besondere Betonung, die der efferente Anteil der virtuellen Bewegung in Palágyis Ausführungen erhält, ten­ denziell zum Verschwinden. Und der Zusammenhang von Perzeption und Motoraktivität wird sprachlich mit dem Hendiadyoin von der »Einheit von Wahrnehmen und Bewegung«, so die gestaltpsychologi­ sche Formel, die dann Viktor von Weizsäcker (1940)151 verwendet, Purdy grenzt sich wie folgt gegenüber den gängigen Theorien ab: »According to the conventional view, the properties of perceptual experience are determined by those of sensory excitations in the brain; the phenomenal field is, in some sense, a ›copy‹ or ›image‹ of the sensory brain-field. Our theory maintains, on the contrary, that perceptua phenomena have a dynamic or motor basis. Perception depends not upon mere reception but upon action-patterns, or sensori-motor coordinations« (Purdy 1935, S. 399). 151 Viktor von Weizsäcker war der Lehrer von Johannes Stein. Stein wurde im Rahmen seiner Tätigkeit an der Universität Heidelberg zum »Führer« des Nationalsozialisti­ 150

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Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

erklärt. Über diese abgewandelte Konzeption äußert sich Klages Rothschild gegenüber [22 K], Palágyi hätte daran »kaum sonderliche Freude gehabt«. Und Rothschild kommentiert sie in der ›Symbolik‹: »Gerade die unüberbrückbare Verschiedenheit sensorischer und moto­ rischer Prozesse wird Palágyi nicht müde zu betonen, und gerade von dieser Erkenntnis aus verschafft er dem Bewegungsleben die Bedeu­ tung, die ihm bei der Wahrnehmung und bei den Phantasievorgängen zukommt. Wir behaupten daher im Sinne Palágyis mit unmißver­ ständlicher Deutlichkeit: mögen virtuelle Bewegungen sich auch rein innerlich abspielen, so sind sie doch nicht minder von der Funktion motorischer Zentren abhängig als tatsächlich ausgeführte Bewegun­ gen; virtuelle Bewegungen sind vitale Vorgänger motorischer und nicht sensorischer Natur!« (Rothschild 1935, S. 128f.)

Auf Steins Version einer »sensorischen Bewegung« beziehen sich Julius Zádor152 und Hans Hoff und Otto Pötzl.153 Zum Fortleben der virtuellen Bewegung: Motortheorien versus sensomotorische Theorien und Abwandlungen in den Frage- und Frontstellen werden heute wenn nicht zunehmend, so doch weiterdiskutiert. Wenn auch nicht mit ihrem alten Namen, so nimmt sie letztlich doch eine zentrale Stelle in den neueren Fragestellungen im Bereich der Kogni­ tionsphilosophie und der heutigen philosophischen Anthropologie zur Wahrnehmung ein. Aus den Genealogien dieser Diskussion hat Palágyi, auch wenn er der Initiator des Motordiskurses ab Mitte der 1920er-Jahre wurde, schon während der frühen Rezeption ein Fade-out erlitten. So wie er bereits frühzeitig als Konstrukteur der virtuellen Bewegung nicht mehr in Erscheinung tritt, aber latent vertreten bleibt, muss man tatsächlich vermuten, dass seine Konzepte – ausgesprochen ausführliche und immer wiederholte Darlegungen seiner Gedanken – als Kryptokonzepte weiterexistieren, so wie dies schen Lehrerbundes (Eckart et al. 2006, S. 33), seine steile Universitätskarriere ver­ dankte sich seinem nationalsozialistischen Engagement (Bauer 2006, S. 806f.). Weiz­ säcker hat sich Wolfgang U. Eckart zufolge affirmativ zur nationalsozialistischen erbbiologischen Politik und ihren Konsequenzen geäußert (Eckart 2007, 2008). 152 Julius Zádor bespricht das Konzept in seiner Schrift »Meskalinwirkung bei Stö­ rungen des optischen Systems« (1930, S. 32) als »neue(n) sinnesphysiologisch fun­ dierte(n) Auffassung der Wahrnehmung«. 153 Hans Hoff und Otto Pötzl meinen in dem Artikel »Über eine Zeitrafferwirkung bei homonymer linksseitiger Hemianopsie«, die für die beschriebenen »Trugwahr­ nehmungen« angenommenen propriozeptiven Wirkungen gingen auf die »sensori­ sche Bewegung« als einem zentralen Vorgang zurück (Hoff, Plötzl 1934, S. 628).

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Rothschild und die virtuelle Bewegung

auch die Behauptung Stefan Riegers nahelegt, der Palágyi als Krypto­ epistemologen für Diskurse erachtet, die in der Kybernetik stattfinden (Rieger 2003).

Rothschild und die virtuelle Bewegung Die virtuelle Bewegung nimmt im Palágyi’schen Sinn eine Schlüssel­ stellung für die Wahrnehmung des Raumes, für die Lokalisation der Dinge in der Umwelt und die komplexen Funktionen der Imagination und Phantasie ein. Rothschild übernimmt dies, er nimmt besondere Betonungen an diesem Konzept vor und unternimmt einen ausführ­ licheren Versuch als Palágyi und Goldstein, die virtuelle Bewegung als physiologisches Geschehen zu fassen. Sie wird von ihm grundsätzlich an Wahrnehmen und das begriff­ lich allgemeiner gefasste Erleben gekoppelt. Die Wahrnehmung wird, wie schon häufiger hier hervorgehoben, nicht als ein diskreter, stufen­ weise erfolgender Eintrittsvorgang eines Reizes in einen aufnehmen­ den, schrittweise den Reiz verarbeitenden Organismus verstanden, sondern zweiphasig als Verschmelzung von Reiz und Organismus bzw. Individuum, der dann die Entfremdung der Reizwirkung in eine Distanzierung und Gegenüberstellung von Wirkung erzeugendem Äußeren und empfangendem Organismus folgt.154 154 Dieses psychophysiologische Konstrukt wird von Rothschild, geringfügig variiert, beibehalten. In »Über Links und Rechts« (1930) beschreibt er das »hypothetische Schema«: »Der Vorgang des Erlebens beginnt mit der Einwirkung des Bildes und der unmittelbaren Wandlung des Organismus. Es folgt dann, während der Verschmel­ zungsprozeß durch Vermittlung des vegetativen Nervensystems auf die einzelnen Organe übergreift, die Entfremdung durch Wandlung des Großhirns. Auf dem Höhe­ punkt der Verschmelzung mit dem Beginn der Entfremdung, also der Großhirnfunk­ tion, setzt auch die Funktion des Kleinhirns ein, und versucht gegen den verwandeln­ den Einfluß der Bilder die bestehende Körperhaltung festzuhalten und die Bilder selbst an feste Stellen des Raumes, vom Organismus getrennt, zu bannen. [...] Der Vorgang der Entfremdung und das dadurch zustande kommende Anschauen des erlebten Bildes ist angefüllt mit Bewegungen, von denen wir nach Abschluß des Vorganges jedoch nichts mehr merken. Ihre Entdeckung verdanken wir Melchior Palágyi. [...] Wir kön­ nen nun annehmen, daß die Kleinhirnfunktion ebenfalls mit virtuellen Bewegungen einhergeht, die aber einen prinzipiell entgegengesetzten Verlauf besitzen. Während die ersten der Verwandlung in das Fremde dienen, von dem Orte des Körpers weg in den Raum gerichtet sind und seine Gestalt zu verändern suchen, führen die dem Kleinhirn entsprechenden stets zur Ausgangshaltung zurück und wiederholen dabei

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Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

Bei gleichbleibender Funktion der virtuellen Bewegung, nämlich die eigene Stellung gegenüber dem affizierenden Wahrnehmungsge­ genstand zu gewährleisten und dem wahrnehmenden Subjekt die Trennung zwischen Ich und Nicht-Ich und zwischen Innen und Außen zu ermöglichen, fällt die Stellungnahme zur Physiologie zwischen der »Symbolik des Hirnbaus« von 1935 und seiner Revision von 1958 – »Das Zentralnervensystem als Symbol des Erlebens« – unter­ schiedlich aus. Zuerst vermutete Rothschild eine »Eigenerregung der motorischen Zentren«, die aus der hemmenden Wirkung der Reizinduktion hervorgehe. Das Aufeinandertreffen des Individuums in seiner Körperlichkeit mit dem Körper der Außenwelt in seinem Widerstandscharakter für den wahrnehmenden Körper bilden sich im Erlebnisvorgang als zentralnervöse Erregungen ab. Die Hemmung der motorischen Ganglienzelle würde die Eigenerregung der motori­ schen Zentren hervorrufen.155 Diese Eigenerregung führt im Wahrnehmungs- resp. Erlebnis­ vorgang nach der vorherigen Verschmelzung des Reizes zur Entfrem­ dung des Reizes. »Diese reaktiven Eigenerregungen der motorischen Zentren sind es, die die Entfremdung der Eindruckswirkung herbeiführen und die die Voraussetzung dafür bilden, daß dem empfindenden Organismus ein Empfundenes gegenübertreten kann. Überall, wo es im Erleben zu die­ sem Widerstreit zwischen der Wirkung eines Reizes und dem Prinzip der körperlichen Eigenbewegung kommt, vermag der Reiz empfunden zu werden; nicht dessen Qualität ist in diesem Zusammenhang von Belang, sondern einzig und allein seine Fähigkeit, hemmend auf die Motorik zu wirken und einen reaktiven, gerichteten Antrieb auszulö­ sen.« (Rothschild 1935, S. 80) in umgekehrter Richtung und gleichsam schematischer Abkürzung die Bewegung, die zur Umwelt hinführt. Die entfremdeten Bilder werden durch diese Bewegung zu der Festigkeit des eigenen Körpers in Beziehung gesetzt und gewinnen dadurch erst selbst eine feste Stelle im Raum dem eigenen Körper gegenüber. Diese rückwärtige Bewe­ gung ist um so schwerer, je stärker die verwandelnde Gewalt des einwirkenden Bildes ist, d.h. je mehr die Ortsfestigkeit des Körpers entweder durch die virtuellen Bewe­ gungen im Entfremdungsvorgange, oder durch tatsächliche Stellungsänderungen, oder durch hervorgerufene Instinkts- und Ausdrucksbewegungen erschüttert wird« (1930, S. 491f.). 155 In einer seiner Arbeiten zu den bedingten Reflexen verweist Pawlow auf die »Ansicht, die bei den Physiologen immer mehr Gewicht erhält, dass, nämlich die Hemmung beständig den Reiz verfolgt, dass sie gewissermassen als Kehrseite der­ selben erscheint« (1927, S. 191).

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Rothschild und die virtuelle Bewegung

Diese, auch als »gerichtete motorische Stellungnahme« (ebd.) bezeichnete motorische Eigenerregung repräsentiert den dynamischenergetischen Faktor des physiologischen Subjekt-Objekt-Bezugs. Mit ihr gehen Muskeltonusveränderungen, die Reizverörtlichung und das bewusstseinsmäßige Erfassen des Reizes einher. Als weitere ana­ tomische Bedingungen hierfür nimmt Rothschild, wie wir gesehen haben (s. S. 81ff.), u.a. die Faserkreuzung und das Kleinhirn als Zen­ trum der Sicherung des individuellen Pols an. Der Entfremdungsvor­ gang wird von Rothschild als biologischer und von daher den Men­ schen/Wirbeltieren wesensmäßig zugehöriger Selbstbehauptungsvorgang verstanden, was ihn, wie wir gesehen haben, in Opposition zu Klages bringt. Denn Klages geht in seinem Denken von der Deter­ mination durch eine grundsätzlich »pathische« Seinsverfassung aus, die dem Menschen die Welt als ein »Widerfahrnis« und »Erleidnis« gegenüberstellt (s. S. 96ff.). Rothschild begründet die Besonderheit der motorischen Eigen­ erregung anschaulich am Beispiel der gegenüber Schmerzen, selbst bei starker Verletzung, unempfindlich gewordenen Soldaten, deren Aufmerksamkeit auf Lebensbedrohung und Kampf gerichtet ist: »Da nun ›Aufmerksamkeit‹, soweit sie einen leiblich-seelischen Vor­ gang ausmacht, eine Bindung des Antriebs in einer bestimmten Rich­ tung bedeutet, liegt der unmittelbare, vitale Grund für den Ausfall der von der Verletzung hervorgerufenen Empfindungen in dem Mangel der zu ihrer Entfremdung notwendigen Bewegungsimpulse. Ganz ähn­ lich entsteht, wenigstens ihrer letzten vitalen Wurzel nach, die Anal­ gesie der Hysterischen und Hypnotisierten, so verschieden auch im einzelnen der Weg zu dieser Wurzel sein mag. Die veränderte Erleb­ nisweise hat jedes Mal ihren Ursprung im Motorischen, nicht im Sen­ siblen und Sensorischen, und das ist im Grunde nicht schwer ver­ ständlich; denn auf den individuellen Lebenspol, insbesondere auf seine Eigenbewegung hat der Organismus Einfluß, nicht aber auf die Wirkungen der Umwelt, die in ihn eingedrungen sind und in ihn ein­ dringen.« (Rothschild 1935, S. 81)

Den motorischen Vorgang im Empfinden beschreibt der Autor als vorwiegend ohne sichtbare Bewegung, »nur als Behauptung der jeweiligen Haltung, Stellung und Eigenbewegung gegenüber der Hemmungswirkung des Reizes auf dem Wege einer Änderung des statischen Muskeltonus« (ebd.). Weil er für die einfache Beobachtung unzugänglich sei, sei er nicht in das Blickfeld von Physiologen und Neurologen gekommen (ebd.). Zu der mangelnden Beachtung und

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Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

unklaren Kenntnis von der »außerordentliche(n) Bedeutung der motorischen Zentren für die Entwicklung rezeptorischer Erregungen« habe u.a. die »große Ausdehnung des dafür zur Verfügung stehenden motorischen Kerngebietes« geführt (Rothschild 1935, S. 80).156 Über den motorischen Prozess selbst kommt er zu folgenden Aussagen und Annahmen: »Wir wissen, daß schon im Mittelhirnkreis jeder Eindruck zu einem motorischen Prozeß, einem Hemmungsvor­ gang führt, der, selbst wenn er äußerlich nicht weiter in Erscheinung tritt, so doch zum mindesten innerlich als ein passiver Zug erlebt wird. [...] Diese Erregungen, als deren Angriffspunkt die motorischen Zen­ tren des Mittelhirnkreises vom Nucleus motorius tegmenti der Brücke und Oblongata bis zu den motorischen Vorderhornzellen des Rücken­ marks anzusehen sind, geben die Grundlage aller virtuellen Bewe­ gungsphänomene ab. Nicht gerichtete Eigenbewegungen, wie Palágyi meinte, sondern ein stellenmäßig unbestimmtes, passives Bewegtwer­ den bildet demnach die Wurzel aller virtuellen Bewegungen!« (a.a.O., S. 129). Die Entdeckung des vom Hirnstamm ausgehenden retikulären Aktivierungssystems durch Moruzzi und Magoun 1949 veranlasste Rothschild, die speziellen Erregungen im Rezeptiven in seiner Revi­ sion der »Symbolik des Hirnbaus« im 1958 erschienenen Buch »Das Zentralnervensystem als Symbol des Erlebens« wie folgt zu beschrei­ ben: »In ihrer ursprünglichsten Form treten sie als körperlich-räum­ lich nicht festgelegte Bewegungstendenzen auf, denen die autonom entstandenen Erregungen des mesodiencephalen Aktivierungssys­ tems mit ihrer diffusen Ausbreitungsweite entsprechen. Sie beteiligen sich mit Hilfe der Großhirnrinde bei der Gestaltung nicht nur von Bewegungswahrnehmungen, sondern der Wahrnehmungen und Vor­ stellungen ganz allgemein, und sie äußern sich mit Hilfe der primären 156 Rothschild schreibt: »Ohne Einsatz der Motorik, das heißt nur vermittels sensi­ bler, ohne Beteiligung motorischer Zentren, kann daher ein Eindruckserlebnis nicht zustandekommen. [...] Es ist nicht notwendig, daß die motorische Erregung demsel­ ben Segment angehört wie die Reizwirkung, es muß nur irgendwo in den Zentren der Eigenbewegung eine gegengerichtete Reaktion einsetzen, und es ist insbesondere der Nucleus motorius (bei Edinger synonym mit Formatia oder Substantia reticularis) der Haube von Oblongata und Brücke, der hierbei eine wichtige Rolle spielt. Wenn die Physiologie und Neurologie die außerordentliche Bedeutung der motorischen Zentren für die Entwicklung rezeptorischer Erregungen nicht oder nicht klar erkannte, so liegt das zum Teil an der großen Ausdehnung des zur Verfügung stehenden motorischen Kerngebietes« (Rothschild 1935, S. 80/ wiederaufgenommen in 1958, S. 129).

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Rothschild und die virtuelle Bewegung

motorischen Neurone in tatsächlichen Körperbewegungen« (Roth­ schild 1958, S. 39). Rothschild spezifiziert nach der Lage und der hirninternen und sinnesphysiologischen Verbindungen der verschiedenen Zentren ihre zu vermutenden unterschiedlichen Funktionen über zeitliche Bezüge. Die energetische hirninterne Verfassung erhält sozusagen qualitative und zeitliche Ausrichtungen. Beispielsweise nimmt Rothschild den Hypothalamus als den »Vermittler der motorischen Wirkungen der Geruchseindrücke« an. Bisher erstreckt sich nun die »virtuelle Bewegung« im Roth­ schildʼschen Verständnis von der allgemeinen Erregung, die in einer Aufnahme der Körper und außerorganismischen Bewegungen und der eigenen »gerichteten motorischen Stellungnahme« (z.B. Roth­ schild 1958) besteht, über eine trieb/affektuös akzentuierte, den zeit­ lichen Bezug herstellende »Formung« der Energie durch die subkor­ tikalen Zentren. Die eigene Energiegestaltung wird des Weiteren in Verbindung gesetzt mit den kortikalen motorischen Zentren als den »Wirkungszentren der Bilder«. Die vordere Zentralwindung bezeich­ net Rothschild als Ort der Bewegungsbilder. Diese sei den »ausge­ stalteten Erscheinungen der Rinde zugehörig« (Rothschild 1935, S. 137). »Mittelhirnkreis und Hypothalamus sind Wirkungszentren der Triebe, Corpus subthalamicum, Pallidum, Striatum und vordere Zentralwin­ dung Wirkungszentren der Bilder. Der Sinn einer Triebbewegung liegt einzig und allein in dem Transport des eigenen Körpers zum Ziel und ist daher in der sinnenräumlichen Bewegungsbahn vollkommen ent­ halten, den Sinn der bildabhängigen Bewegungen macht dagegen ihr ausdrückendes darstellendes und abbildendes Vermögen aus, und für dieses bedeutet die äußere Bewegungsbahn nur das Mittel der Erschei­ nungen. Mit zunehmender Beteiligung der Vorderhirnzentren steigt daher der Sinngehalt der Bewegungen, gewinnen sie mehr und mehr ein inneres Leben, das allerdings nur durch eine Verinnerlichung der äußeren Erscheinung wiederbelebt werden kann. Die Bewegungen tre­ ten in den Dienst der Verwirklichung eines seelischen Geschehens, statt nur im Verhältnis der Körper zueinander tätig zu sein, und zwar handelt es sich bei jedem der großen motorischen Vorderhirnzentren um eine besondere Art dieses Geschehens.« (Rothschild 1935, S. 134)

An dieser Stelle bespricht der Autor seine »erscheinungswissen­ schaftlichen« Herleitungen jeweils ausführlich am Corpus subthala­ micum, dem Globus pallidus und dem Striatum.

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Wahrnehmung, Erlebnisvorgang, Virtuelle Bewegung

In dem Aufeinanderbezogensein subkortikaler und kortikaler Strukturen und Funktionen in der »virtuellen Bewegung« bezieht er sich auf die subkortikalen motorischen Vorderhirnzentren als psy­ chophysiologisch deutlich wichtigere Formationen als die kortikalen Zentren. Die Hierarchisierung von einfachen/primitiven Funktionen hin zu komplexen/höheren Bewusstseinsprozessen vollzieht er gegen die übliche Hochschätzung des Neokortex. In der Motorakti­ vität der vorderen Zentralwindung, dem Neokortex zugehörig (gyrus praecentralis, worin sich das Areal F4 mit seinen Spiegelneuronen befindet) kann es sich »im Hinblick auf den Ursprung in der rein äußerlichen Erscheinung [...] nur um stellengerichtete oder abbil­ dende Bewegungen handeln, also gerade um solche, wie sie Palágyi bei der Aufstellung seiner Lehre von der Virtuellen Bewegung vor Augen hatte« (a.a.O., S. 137). Die abbildende »virtuelle Bewegung« in der vorderen Zentralwindung bedürfe der subkortikalen Systeme, insbesondere des Striatums. »Eine kortikale Bewegung ist niemals schöpferischer Natur, und wenn auch bei dem willensbeherrschten Menschen durch eine [...] Umstellung die motorische Bedeutung der Rinde die aller anderen Zentren zu überflügeln scheint, so dreht es sich dabei immer nur um die Wiederholung und Ausführung innerlich schon vorgebildeter oder fertiger Bewegungsbilder, nicht um ihre schöpferische Neugestal­ tung.« Und der Autor schließt diesen Passus mit vorausschauenden Mutmaßungen zur zukünftigen Forschung: »Welche Rückschlüsse sich daraus in bezug auf die Abhängigkeit der kortikalen Bewegungs­ leistungen von der Funktion der motorischen Innenzentren ergeben, bedarf noch weiterer Untersuchungen« (ebd.). Es scheint offenkundig zu sein, dass Rothschild von theoreti­ schen Vermutungen und dem damaligen Wissen um die Funktionen bestimmter Hirnareale und ihrer Gestaltbesonderheiten sich gerade­ wegs in die Motoneuronenforschung von heute bewegt hat und die Spiegelneurone vorweggenommen hat – ohne spezifische empirische Forschung, ohne hohen technischen Aufwand.

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Emigration Rothschilds

Nach Veröffentlichung der »Symbolik des Hirnbaus« 1935 entschließt sich Rothschild zur Auswanderung nach Palästina. Das Tagebuch spiegelt Bedrängtheit und Verdüsterung wider, ohne dass etwas von der Tagespolitik direkt aufgenommen, zitiert oder kommentiert würde. Da er besonders darum besorgt ist, nicht mehr wissenschaft­ lich arbeiten zu können, wendet er sich an Klages mit der Bitte, ihm die Verbindung zu dem Neurologen Mieczysław Minkowski157 in Zürich zu ermöglichen, über den er sich die Referenz für ein Stipendium bei einem »englischen oder amerikanischen Institut« wie der Rocke­ feller-Stiftung erhofft [91 R].158 Auch Frieda Fromm-Reichmann schrieb er an und bat sie um eine entsprechende Vermittlung. Wenn er gezwungen wäre, sein wissenschaftliches Arbeiten aufzugeben, würde ein wichtiger Teil von ihm sterben, teilt er seiner ehemaligen Chefin mit.159 Der gebürtige Pole Mieczysław Minkowski (1884–1972) war ein Schüler u.a. von Pawlow, Alzheimer, Ziehen, Mitarbeiter von von Monakow und lehrte an der Züricher Universität. 158 91 R: »Die Frage ist nun, was ich dann anfange. Ich möchte auf jeden Fall versuchen, meine wissenschaftlichen Arbeiten fortzusetzen. Ob es nicht möglich wäre, ein etwa zweijähriges Stipendium von der Rockefeller-Stiftung für Arbeiten an einem englischen oder amerikanischen Institut zu erhalten? Es gibt auch sonst, glaube ich, noch große Fonds, die vielleicht in Betracht kämen. Ich könnte in dieser Zeit Verbindung mit der englischen oder amerikanischen Wissenschaft gewinnen und dann vielleicht von Palästina aus weiterarbeiten. Es wäre nun wohl empfehlenswert, die erforderlichen Anträge mit Unterstützung des Leiters eines wissenschaftlichen Institutes zu stellen, und ich denke dabei an Prof. Minkowski, Zürich. Dieser dürfte Erfahrung in solchen Fragen haben und mich auch praktisch beraten können. Ich denke deshalb besonders an ein Institut in Zürich, weil Sie sich ja schon so oft für mich verwandt haben und es mir dort evtl. erleichtern können, Verbindung mit Prof. Minkowski zu bekommen. Außerdem würde es für mich sehr einfach sein, auf der Reise nach Palästina dort vorzufahren und persönlich Rücksprache zu nehmen« (Brief v. 27.08.1935 an Klages/ DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/26). 159 Brief vom 6.11.1935 an Frieda Fromm-Reichmann, Nachlass Fromm, ErichFromm-Archiv, Tübingen. 157

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Emigration Rothschilds

Im Brief an Klages ist dann die Auswanderung vorerst auch als Begleitung der Eltern deklariert, damit »sie drüben noch einen friedlichen Lebensabend fänden« [91 R]. Der Bruder war zwei Jahre früher ausgewandert, direkt nach der Machtergreifung Hitlers, da er zuvor in handfeste Auseinandersetzungen mit Nationalsozialisten in Gießen verwickelt gewesen war, was wir aus dem Gespräch, das Gabriele von Bülow im August 1991 mit Rothschild in Jerusalem führte, wissen. Auch die ältere Schwester war nach Palästina emigriert und lebte zumindest kurzfristig mit ihrem Mann in Rishon LeZion. Im Brief vom 27.08.1935 [91 R] ist zum ersten Mal in diesem Brief­ wechsel die Rede vom zunehmend bedrohlichere Züge annehmenden Antisemitismus in Deutschland. Bezogen auf die Eltern heißt es: »Deren Lage ist nun hier wenig erfreulich, was in erster Linie mit der Stellung der Juden in Deutschland ganz allgemein zusammenhängt«. Der letzte Brief aus Gießen [93 R] ist auf den 15.9.1935 datiert, der nächste Brief [94 R] an Klages vom 4.11.1935 geht dann von »Ramoth Haschivim, near Tel-Aviv c/o Dr. Walter Mannheim« aus. Von der Hoffnung auf ein Stipendium ist darin nicht mehr die Rede: »Ich befinde mich noch in einer recht ungewissen Situation. Es ist noch nicht einmal sicher, ob es mir gelingen wird, die dauernde Auf­ enthaltserlaubnis im Lande zu bekommen. Zur Zeit lebe ich bei guten Freunden, die sich angesiedelt haben (Gemüse-, Apfelsinenanbau und Hühnerzucht), und helfe in dem Betrieb mit, was mir im übrigen manche Freude bereitet« [94 R]. Ramoth Hashivim ist eine der genos­ senschaftlich organisierten, landwirtschaftlichen Moshavas, eine Gründung aus dem Jahre 1933, wo man, wenn nicht das erste Mal, so doch sehr früh in der landwirtschaftlichen Kultivierung des Landes, Hühneraufzucht in wirtschaftlich profitablem Ausmaß betrieb. Der andere Wirtschaftszweig war der Anbau von Zitrusfrüchten. Walter Mannheim, immigriert im Dezember 1933, kam nach einem Zwi­ schenaufenthalt bei einem Gemüsebauern in Haschawara im Frühjahr 1934 dorthin, erwarb Boden und arbeitete kurze Zeit auf der Zitrus­ plantage, bevor ihm die finanzielle Leitung der Kooperative übertra­ gen wurde. Er wollte weder 1933 Deutschland verlassen, noch sich in der Landwirtschaft betätigen. In beidem setzte sich seine Frau nach »schweren Kämpfen« gegen ihn durch – »eine glühende Zionistin«. »Ich fühlte mich absolut ungeeignet für Landarbeit, Hühner finde ich

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Emigration Rothschilds

schrecklich, Pflanzen nur sehr schön, wenn man wenig Arbeit auf sie verwendet…« (Leers 1974, S. 54f.)160 Von Margot Rothschild (geb. Hellmuth) wissen wir, dass es in ihrer Beziehung auch sie, die Frau war, die ›siedeln‹ wollte. Roth­ schilds lernten sich in Tel Aviv bei einem Rechtsanwalt kennen, den sie beide aufsuchten, weil seit dem 1. Dezember 1935 ein Gesetz in Kraft getreten war, wonach Ärzte nicht mehr automatisch eine Lizenz für ihre Berufstätigkeit erhielten.161 Allein in den Monaten Oktober und November 1935 waren fast 500 Ärzte aus Deutschland in Israel angekommen (Segev 1995, S. 70). Der aus Berlin 1934 emigrierte Psychiater und Neurologe Lip­ man Halpern schildert die geistige Atmosphäre, von der die Fachleute einer ausdifferenzierten und gelegentlich innovativen Medizinkultur in Palästina aufgenommen wurden, als frugal und abweisend: »Es herrschte Einsamkeit und seelische Depression, die sich nicht zuletzt wegen der Gleichgültigkeit jener Stellen verstärkte, deren Aufgabe es gewesen wäre, die geistigen Werte zu würdigen, die unsere Freunde ins Land brachten« (nach Zalashik 2008, S. 68). Offenbar zog Roth­ schild noch im November 1935 zu seiner älteren Schwester, die zusammen mit ihrem Ehemann Ludwig Censer in Rishon LeZion lebte, denn darauf bezieht sich Rothschild in seinem Brief an Frieda Fromm-Reichmann vom 6.11.1935, datiert zwei Tage nach seinem Brief an Klages aus Ramoth Hashivim. Rishon LeZion (auf Deutsch: die Ersten Zions), ein Ort südlich von Tel Aviv ist eine Gründung der ›ersten‹ Zionisten, die mit den Einwanderungswellen des ausgehen­ den 19. Jahrhunderts nach Palästina gekommen waren. In einem von Edmond James de Rothschild finanzierten Anwesen konnten jüdische Flüchtlinge aus Deutschland mit dem Namen Rothschild kostenlos leben.162 Nach Margot Rothschilds Angaben kamen Rothschild und seine Frau auf jeden Fall eine Zeitlang dort unter. Margot Hellmuth, selbst Ärztin, die sich auf Innere Medizin und Röntgen spezialisieren wollte, war von Bonn aus, direkt nach Inkraft­ treten des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 1933, mit dem Juden aus der Beamtenschaft, dem Öffentlichen Dienst 160 Aus dem Buch von Peter Leers zu Ramoth Hashivim geht hervor, dass Mannheim den Siedlern verwehrte, Kredite aufzunehmen, was ihm Antipathie einbrachte, die Kommune jedoch zu einem liquiden und fruchtbaren Wirtschaftsunternehmen wer­ den ließ. 161 Gespräch mit Margot Rothschild am 5.4.1997. 162 Gespräch mit Margot Rothschild am 5.4.1997.

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Emigration Rothschilds

und anderer Berufsausübung herausgedrängt wurden, aus Deutsch­ land über Holland und die Schweiz nach Frankreich geflohen und bereitete sich dort bereits auf die landwirtschaftliche Arbeit in Paläs­ tina vor. Sie fand Beschäftigung auf einem Bauernhof bei Bordeaux und besuchte eine Landwirtschaftsschule in Südfrankreich, bevor sie von Italien aus mit dem Schiff nach Palästina kam. Am 5.4.1936 heirateten sie. Die letzten beiden Briefe vom 23.6. und 3.9.1936 [95 R und 97 R], die Rothschild, bevor der Briefwechsel für 11 Jahre erlosch, an Klages schrieb, wurden von Rishon LeZion aus versandt. Sie sind nur mehr Nachträge zur ersten Rezeption der »Symbolik des Hirnbaus«, die mit Klages’ Hilfe bei Karger im Vorjahr erschienen war. Wohl beidem Rechnung tragend – frisch verheiratet mit einer sich für Landwirtschaft begeisternden Frau und der Ärzteinflation in Palästina –, bekundet er hier, »Neigung zum Siedeln« zu haben, was mit dem »Verzicht auf weitere wissenschaftliche Arbeit« einher­ gehen würde.163 Das weitere Leben von Rothschild entwickelte sich dann anders: Er konnte sich als Nervenarzt und Psychoanalytiker in Jerusalem nie­ derlassen. Die unmittelbaren Nachbarn der Rothschilds in der Redok Road waren der Philosoph Hugo Bergmann164 und der Judaist Ger­ schom Scholem165 mit ihren Familien. Hugo Bergmanns Tagebücher bezeugen einen lebendigen geistigen Austausch beider Männer (Bergmann 1985). Diese Anfangsjahre waren von wirtschaftlicher Armut begleitet. Von den Analysen habe man nicht ausreichend bis kaum Geld zum Leben verdient. Häufig kam es zu direkten Tausch­ geschäften, Analyse gegen Hebräischunterricht, Nähen, Reparieren von Kleidern u.a. So lernte Margot Rothschild bei einem der ersten »Von mir persönlich möchte ich Ihnen noch berichten, dass ich in diesem Frühjahr geheiratet habe. Eine berufliche Eingliederung hier im Lande ist mir bisher noch nicht möglich gewesen und wird auch so schnell noch nicht erreichbar sein. An sich habe ich große Neigung zum Siedeln, aber das würde wahrscheinlich den Verzicht auf weitere wissenschaftliche Arbeit bedeuten und dazu kann ich mich zur Zeit noch nicht entschliessen. Vorläufig lerne ich intensiv Hebräisch und will sehen, ob ich mich nicht in einer der Städte trotz sehr schlechten wirtschaftlichen Aussichten als Nervenart niederlassen kann.« (Brief Rothschild [95 R] vom 23.6.1936 an Klages, DLA Marbach, Nachlass Klages). 164 Hugo Bergmann (1883–1975): aus Prag stammend, Freund Franz Kafkas und Martin Bubers, erster Rektor der Hebräischen Universität Jerusalem, Zionist. 165 Gershom Scholem (1897–1982): einer der bekanntesten Judaisten und ersten Kabbalaforscher, aus Berlin stammend, Freund Walter Benjamins, Zionist. 163

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Patienten ihres Mannes Hebräisch und ließ ihre Kleider von dessen Schwester nähen und ausbessern. Von einem der Söhne dieser Schwester weiß ich, dass Rothschild damals von ihnen »Rothschild Rothschild« genannt wurde, wohl als Zeichen einer humorvollen Achtung.166 Rothschild wurde Mitglied des Jerusalemer Psychoana­ lytischen Instituts, das von Max Eitingon (1881–1943) nach seiner Auswanderung von Berlin nach Jerusalem gegründet worden war. Als Direktor des Berliner Psychoanalytischen Instituts führte er verbind­ liche Richtlinien für die psychoanalytische Ausbildung ein. Unter vie­ len Verdiensten und Funktionen kommt ihm zu, die Kontrollanalyse als obligatorisch für jeden Ausbildungskandidaten konzeptionalisiert und durchgesetzt zu haben: War die Lehranalyse offiziell ab 1922 ver­ bindlich, die von Freud und seinen Mitarbeitern als notwendig erach­ tete Selbsterfahrung des zukünftigen Psychoanalytikers, so wurde die Kontrollanalyse von Ernst Simmel und Max Eitingon 1923 am Berli­ ner Institut eingerichtet (u.a. Schultz-Venrath 2000), um relativ hochfrequent – z.B. nach jeder vierten Sitzung mit einem Patienten – die analytisch-psychotherapeutische Arbeit eines zur Behandlung zugelassenen Kandidaten mit einem Patienten kontinuierlich zu supervidieren. Friedrich Salomon Rothschild, der in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre bei Erich Fromm in Lehranalyse war, unterzog sich dieser Kontrollanalyse nun bei Max Eitingon. Mit »Ger­ shon und Gerda Barag, Aharon Isserlin ... Daniel Dreyfuss und Erich Gumbel« wird er als einer der jungen Psychoanalytiker bei Rolnik aufgeführt, die zum Zeitpunkt ihrer Einwanderung ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen hatten (Rolnik 2013, S. 142). Während des ersten arabisch-israelischen Kriegs zwischen November 1947 und Juli 1949 wurde Rothschild als Wachsoldat an den von Engländern und jüdischen Einwohnern bewachten und bewehrten Zonengrenzen innerhalb der Stadt eingesetzt, für die man Passierscheine/Pässe brauchte. Auch in den Straßen des Stadtteils Rehavia schlugen Bomben ein. Der Briefwechsel mit Klages spiegelt ein wenig von der neuerlichen Not wider [102 R, 107 R, 112 R, 113 R]. Rothschild arbeitete in diesem Zeitraum in einer von dem aus Polen stammenden Neurologen Lipman Halpern für die Hirnverletzten des Krieges eingerichteten Abteilung des Hadassah-Krankenhauses. Halpern war Assistent von Kurt Goldstein in Berlin-Moabit nach dessen Weggang von Frankfurt. 166

Mündliche Mitteilung von Emanuel Rund.

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Fast als ob Rothschild in Palästina bzw. im Jischuw, der jüdische Name des Landes vor der Gründung Israels, sein vorheriges Leben wiederholen musste: abermals mit psychoanalytischer, kaum bezahl­ ter Arbeit, abermals in einem Krieg, ähnlich in relativer Immobilität wie als Sanitätshelfer im Ersten Weltkrieg, wieder in der neurolo­ gischen Versorgung hirnverletzter Soldaten zusammen mit einem Neurologen aus dem Umfeld Goldsteins tätig. Abermals musste er sich einem Bestandteil psychoanalytischer Ausbildung unterziehen. Und abermals befasste er sich mit einem Werk, wegen dessen Ver­ öffentlichung er sich abermals an Ludwig Klages wandte. Diesmal ging es um »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« (1950). Und wieder half Bernoulli, wieder erschien das Buch bei S. Karger in Basel. Wieder hielt sich Rothschild in einem geistigen Umfeld auf, mit dem er als Nicht-Zionist in vielem nicht konform ging, als Psychoanalytiker nicht ganz in der Psychoanalyse aufging, als Neurologe etwas anderes vertrat als die Mainstream-Neurologie und auch die andere Neurologie Goldsteins. Und wieder fand er Gesprächspartner, fand sie nicht zuletzt in seiner Frau, die ihm auch die Manuskripte und Briefe tippte. Nicht lange nach seiner Ankunft im Jischuw, wahrscheinlich noch Ende 1935, schrieb ihm Sonja Okun: »Ich erinnere mich noch sehr gut an unsere Gespräche über Zionismus auf dem strahlend erleuchteten Kurfürstendamm. Und wenn auch ich positiv dazu stehe, so finde auch ich nach Ihren Ausführungen, dass dort kein Platz für Sie ist. Und ich würde doch so gerne helfen, dass Sie arbeiten können, dass wesentliche geistige Dinge der Welt vermittelt werden, jetzt wichtiger denn je.«167

Brief von Sonja Okun an Rothschild, wahrscheinlich Dezember 1935 oder Januar 1936, Nachlass Rothschild.

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Klages’ Antisemitismus

Klages und die Kosmische Runde Es ist viel über den George-Kreis und die »Kosmische Runde« im Schwabing um die Jahrhundertwende geschrieben worden. Das Geschehen innerhalb dieser Gruppen und in deren Umkreis domi­ nierte das Schwabinger Bohème-Leben. Bereits 1925 wurden die Tagebücher und 1929 zum ersten Mal eine Edition von Briefen der Franziska zu Reventlow veröffentlicht, eine der zentralen Frauen­ gestalten des damaligen Schwabings. Im Frühjahr 1904 erschienen die drei Hefte des von ihr zusammen mit Franz Hessel168 anonym verfassten Schwabinger Beobachters – ein als hektographierte Wurf­ sendung verteiltes Blatt –, der das Verhalten und Denken der Kos­ miker satirisch aufbereitete. 1913 erschien ihr bis heute rezipierter, ebenfalls die Kosmiker karikierender Roman »Die Aufzeichnungen des Herrn Dames«.169 Von Klages heißt es, er habe bereits 1914 seinen Nachlass geordnet, woraus das 1944 bei Barth erschienene Werk »Rhythmen und Runen« hervorging. Das in den Rothschild-KlagesBriefen erwähnte Werk Friedrich Wolters’ zu Stefan George (132 R) erschien 1930, und 1935 erschienen die Lebenserinnerungen des von den Nazis 1933 erschossenen Theodor Lessing, dem es ein besonderes Anliegen war, auch über seinen, von ihm geliebten und ihm entfrem­ deten Freund Ludwig Klages zu berichten. Das Denken, das Dichten, die Feste, die homosexuellen und heterosexuellen Liebesabenteuer und großen Leidenschaften, die Rivalitäten und Spaltungen, die Wir­ kungen auf ein bürgerliches Publikum, die intellektuellen Einflüsse und indirekten politischen Folgen dieser Gruppe scheinen eine immer wieder neu ausdeutbare Themenvielfalt in sich zu bergen. In man­ 168 Als Mitverfasser werden auch der Philosoph Paul Stern genannt (Schröder 1978, S. 26) und Roderich Huch für die dritte Nummer. 169 Im selben Jahr erschienen ebenfalls die das Leben in Schwabing thematisierenden Romane Franz Hessels »Der Kramladen des Glücks« und Oskar A. H. Schmitz’»Wenn wir Frauen erwachen«.

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Klages’ Antisemitismus

chem ähneln sich die nachgezeichneten Bilder, häufig werden die von den Protagonisten ideologisch genährten Topoi immer wieder reproduziert, vielfach divergieren die Darstellungen, im Gesamtbild dominiert der Entwurf einer eskapistischen Erneuerung heidnischen Lebens als Erlösung einer in moderner Technik und mechanistischem Denken entfremdeten Menschheit. Differenzierende philosophische Erörterungen finden sich neben solchen, die Differenzen tendenzi­ ell einfrieden.170 1893 lernte der 21-jährige Ludwig Klages Stefan George (1868– 1933) und Karl Wolfskehl (1869–1948) in München kennen. In der vor der Jahrhundertwende verbreiteten antimodernistischen Strö­ mung nimmt der George-Kreis171 eine besondere Stellung ein. Es fanden sich um den Dichter Stefan George junge Intellektuelle, die sich über die besondere Ästhetik, Lebensform und das gesellschaftli­ che Außenseitertum in einem sinngebenden Gefüge neu definieren konnten, das eine klare Distanz zum Liberalismus, Positivismus und Materialismus der Elterngeneration ermöglichte (Franke 2006, Kotowski 2001). Das George’sche Unternehmen war von einer exklusiven Einzig­ artigkeit gekennzeichnet, es verwob seine Mitglieder in einem Denkund Lebensstil, wozu die Überhöhung des Ästhetischen, gemeinsame Zeremonien, freie Liebe und die Huldigung Stefan Georges’ als einem Gottpriester gehörte. Die dem George-Kreis Zugehörigen wähnten sich näher einem echten Leben mit unmittelbarer Ekstase und Kos­ mosverbundenheit. Ihr möglicherweise ernsthaftes Bemühen um ein anderes Leben war von dünkelhafter Superioritätsgewissheit mitbe­ stimmt, das vermutlich dem Kreis von adoleszenten und spätadoles­ zenten Intellektuellen Schutz vor psychischen Gebrechlichkeiten und Minderwertigkeitsgefühlen gewährte. Ludwig Klages war ab Mitte der 1990er-Jahre bis über die Jahrhundertwende hinaus einer der wichtigsten Mitarbeiter Georges, insbesondere was die Herausgabe und Redaktion der Blätter für die Kunst und die neueste Literatur 170 Mir scheint beispielsweise die Emphase, die Georg Dörr in seiner Arbeit »Mut­ termythos und Herrschaftsmythos« (2007) auf die Analogie legt, die zwischen der Klagesʼschen Kulturkritik und der von Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« besteht, übertrieben. 171 Der hier angesprochene Zeitraum bezieht sich auf die Formierung des GeorgeKreises, der sich nach bzw. dank dem skandalösen Ende der »Kosmischen Runde« stabilisiert (Schmitz, Schneider 1999, S. 717) und erst dann seine hierarchische Struk­ tur – Meister und Jünger – erhalten habe (Kauffmann et al. 2012, S. 375).

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Klages und die Kosmische Runde

anging. Klages war in diesem Kreis darauf bedacht, sich unabhängig von George zu bewegen, er nannte ihn zum Beispiel nie Meister und er habe sich nicht blind George unterworfen, so der Kulturhis­ toriker Robert E. Norton in einer der jüngeren Erörterungen des George-Kreises (Norton 2002). Als einer der Hauptprotagonisten des Kreises schuf Klages eine Art missionarisches Programm, einen Gegenentwurf zum als seelenlos und mechanistisch apostrophierten Materialismus des 19. Jahrhunderts172, eine Veränderungsprogrammatik der notwendigen Rückbesinnung, wenn nicht Rückführung des modernen Menschen zum Ursprünglichen und zu einer in der Frühgeschichte der Mensch­ heit vermuteten Einbettung des Individuums in ein transpersonales Verwobensein seiner seelischen Tiefenregionen mit dem Kosmos – ungebrochen von der Wirkung des Geistes, der als lebensfeindlicher, die Unmittelbarkeit physischen und seelischen Seins zerstörender Akteur verstanden wurde. Zwischen 1900 und 1904 kam es zum engeren Zusammen­ schluss von Stefan George, Karl Wolfskehl, Alfred Schuler und Lud­ wig Klages in der »Kosmischen Runde«.173 Auf Karl Wolfskehl geht die (Neu)entdeckung des »Mutterrechts« des Basler Rechtshistorikers und Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen (1861 veröffentlicht) zurück.174 Sexualität und Muttersein sollten nicht mehr länger von­ einander getrennt die Bestimmung der Frau ausmachen. Das patriar­ chalisch deformierte Frauenbild sollte abgelöst werden, Frauen wieder zur matriarchalen Ganzheit zurückfinden, um gleichzeitig Hetäre und Mutter sein zu können.175 Als Vorbild für ein Leben in Ganzheit 172 Diese Kritik, die Nietzsche viel besser formuliert habe, sei um die Jahrhundert­ wende schon ein alter Hut gewesen, so Norton (2002, S. 289). 173 Nach Dörr (2007, S. 186) erhält diese Gruppe erstmals von Wolters (1930) die Bezeichnung »Kosmische Runde«. 174 Nach Wolters (1930, S. 241) habe Karl Wolfskehl die Arbeit Bachofens zum Mut­ terrecht entdeckt, als er an seiner Dissertation zum »Androgynismus in Sage und Mythos« arbeitete. Bachofens Werk zur matriarchalischen Vorzeit des Menschen wurde entscheidend auch von dem Psychoanalytiker Otto Gross (2000) und dem Philosophen Walter Benjamin in das eigene Denken einbezogen. 175 Ironisch kolportiert findet sich dieses neue Prinzip bei Oskar A. H. Schmitz: »Es war dies die Zeit, als der Schrei nach dem Kinde durch ganz Deutschland scholl und dadurch vielen dem Haus entlaufenen jungen Mädchen für ihr haltloses Gebahren gegenüber den Männern eine ethische Begründung gab. Man amüsierte sich darauf­ hin, daß in jedem Weibe der Mutterinstinkt schlafe, und daraus konstruierte man das Recht auf Mutterschaft. Wie es sich in unserem wissenschaftlichen Zeitalter von selbst

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Klages’ Antisemitismus

bemühte Klages als rückwärtsgewandte Utopie damals wie später das mythische Volk der Pelasger, das sich in einem solchen idealen kos­ mosverbundenen Zustand befunden haben soll, bevor die Menschheit seelenzerstörerischen Kräften, die er mehr und mehr mit Moloch, dem Judaismus und dem Christentum identifizierte, anheimgefallen war (Norton 2002). Wie konkret diese Vorstellungen letztendlich genom­ men wurden, wird widersprüchlich diskutiert. Michael Pauen versteht das mythische Bild der Pelasger, des Volkes, das solchermaßen in der Wahrheit gelebt haben soll, als metaphorisches »Gegengewicht zur Übermacht des Bestehenden«, das Klages den Maßstab für seine rigo­ rose Kritik liefert, »die nicht nur das Bürgertum und den Fortschritt, sondern auch die Wissenschaft und den Kapitalismus verwirft« (1994, S. 162f.). Dörr sieht in dieser rückwärtsgewandten utopischen Vor­ stellung eine zumindest kurzfristig wirksame eschatologische Hoff­ nung in einem, eine neue pagane Religiosität erschaffenden Grup­ penunternehmen (2007, S. 33ff.). Über Nietzsche hinausgehend, der als kulturkonstitutiv ein Aufeinanderbezogensein von Affekt- und Verstandesleben in einer Dialektik zwischen dem dionysischen und dem apollinischen Prinzip ansah, versteht Klages als Urform mensch­ lichen Erlebens das Überwiegen einer trancekulturellen Verfassung, in deren Mittelpunkt das Schauen, das pathisch-visionäre Hingege­ bensein des Menschen an Kosmos und unmittelbare, natürliche Umwelt stehen. Die Dichotomien, die das Klagesʼsche Werk bestimmen, finden sich mystisch aufgeladen bereits hier: die molochitisch, judaistischchristlich, das Leben zerspaltende Geistesregentschaft in Gegner­ schaft zur kosmischen, ungebrochenen, androgynen Erlebenskultur prähistorischer Völker.

Anlässe für antisemitische Ressentiments Es scheint ein relativ einfacher und verharmlosender Versuch zu sein, Gründe für Klages’ Antisemitismus zu finden, wenn Rothschild im Gespräch mit Gabriele von Bülow im August 1991176 auf Eifersuchts­ dynamiken verweist. Rothschild meinte, Theodor Lessing sei Klages versteht, fehlte es nicht an biologischen und historisch-ethnologischen Begründun­ gen« (Schmitz 1913, S. 386). 176 In Rothschilds Nachlass findet sich eine Videoaufzeichnung des Gesprächs.

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Anlässe für antisemitische Ressentiments

von Franziska zu Reventlow vorgezogen worden. Es war aber nicht der Jugendfreund Theodor Lessing, mit dem es auch zu einem erbitterten Zerwürfnis kam (Kotowski 2000), sondern Karl Wolfskehl, dem sie sich, direkt nachdem ihre Liebesbeziehung zu Klages zerbrochen war, erotisch-sexuell zuwandte.177 Man kann tatsächlich eine Eifersuchtsund Neid-Überdeterminiertheit für Klages zu dieser Zeit annehmen. So verständlich und komisch die Karikaturen des Schwabinger Beob­ achters und die »Aufzeichnungen des Herrn Dames« – beides hat Franziska zu Reventlow (mit)verfasst – auf das damalige und heu­ tige Publikum wirken mögen, so fatal dürfte es für Klages gewesen sein. Der als starr und unbeholfen im gesellschaftlichen Umgang geltende Klages, der sich in seiner Person am ehesten dem von ihm als ausdrucksgehemmt beschriebenen Typus zugehörig178 fühlte, wird von demjenigen Menschen zum Gespött des intellektuellen Münchens gemacht, dem er sich wahrscheinlich am meisten geöff­ net, am intensivsten psychisch zugewandt hatte. Leidverschärfend dürfte nicht nur die Rivalität, die möglicherweise um Stefan George bestand, gewesen sein, sondern auch der Umstand, dass Roderich Huch (1880–1944), der Neffe von Ricarda Huch (1864–1947), zu dem sich Klages homoerotisch hingezogen fühlte, ihm Putti vorzog, die Tochter von Klages’ Zimmerwirtin (Karlauf 2007, Kubitschek 1998). Auch Roderich Huch soll einer der Mitverfasser des Schwabinger Beobachters (der dritten Nummer) gewesen sein. Also wurde hier nochmals entgegengebrachte Liebe, Leidenschaft und folglich Ver­ letzbarkeit mit Lächerlichmachen beantwortet. Roderich Huch wurde zum Opfer eines Art Racheaktes der Klages-Freunde für dessen Mit­ wirkung am Schwabinger Beobachter: Er wurde auf der »Kosmischen 177 Aus den Briefen von Franziska zu Reventlow an Klages ergibt sich folgendes Bild: Ungefähr zwischen 1900 und Sommer 1902 dürfte eine Liebesbeziehung zwischen beiden bestanden haben. Klages unterstützte sie finanziell und beim Schreiben ihres ersten Romans »Ellen Olestjerne«. Der Beziehung wird die Sexualität gelegentlich abgesprochen (z.B. bei Kubitschek 1998, S. 367f.). Doch sind die Formulierungen in einigen der Reventlowʼschen Briefe diesbezüglich eindeutig (2010, z.B. S. 66f.). An Friedrich Huch hat Klages im Sommer die Sätze geschrieben: »Mein Leben ist ganz anders als früher – damals Elementarergießungen – jetzt menschliche Leidenschaf­ ten« (zit. nach Schröder 1996, S. 286). Weil Franziska zu Reventlow sich nicht ein­ deutig für Klages als alleinigen Partner entscheiden wollte, kam es zu lähmender Zer­ rissenheit, Leid und Qual bei Klages und ab Frühjahr/Sommer 1902 als Konsequenz zur Lockerung und Lösung der Beziehung (Reventlow 2010, S. 114 ff.). 178 Lessing zufolge soll ihm Klages einmal geschrieben haben: »Ja auch ich könnte einen Mord begehn, um ein Erröten zurückzunehmen« (nach Lessing 1935, S. 304).

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Klages’ Antisemitismus

Wiese« von Albert Hentschel (1870–1928), einem Privatgelehrten und Paläontologen, tätlich angegriffen, ein Ereignis, das als »Schlacht am Biederstein« in die Geschichte Schwabings einging. Offiziell heißt es, nach sich zunehmend zuspitzender konkret-antisemitischer Haltungen bei Klages und Schuler habe George nicht dem Wunsch beider entsprochen, sich von Wolfskehl wegen dessen Zustimmung und Begeisterung für den Zionismus zu trennen. Deshalb sei es zum »Schwabinger Krach« gekommen, dem unwiederbringlichen Bruch zwischen George/Wolfskehl und Klages/Schuler. Im selben Zeitraum koinzidierten diese Ereignisse mit den ers­ ten deutlichen antisemitisch-rassistischen Äußerungen von Ludwig Klages, von denen die zu Lebzeiten veröffentlichte Nachlassschrift »Rhythmen und Runen« (1944) mit Gedichten und nach Jahren geordneten Aphorismen und Gedanken zeugen. Ab 1903 kommen Sätze vor wie: »Alles Menschliche ist dem Juden bloß Gebärde, ja, sein menschliches Gesicht selbst ist nur eine Maske. Er ist nicht etwa verlogen, sondern die Lüge selbst. Wir stehen also auf dem Punkte zu entdecken: der Jude ist überhaupt kein Mensch […]. Mittels des Juden heuchelt die transmundane Macht der Vernichtung, daß sie Mensch sei. So fand sie den Weg zum tödlichen Vorstoß ins Leben der Erde«.179

Per Leo macht darauf aufmerksam, es gebe neben der Schuler-Einfüh­ rung nur zwei Werke, in denen sich Klages ausführlich »antijudais­ tisch« äußere. Hiervon fällt die erste in das Jahr 1904, koinzidiert also auch zeitlich mit den Schwabinger Ereignissen: In einem der ersten Kapitel der in den Graphologischen Monatsheften zwischen 1904 und 1908 unter dem Pseudonym Dr. Erwin Axel veröffentlichten »Graphologischen Prinzipienlehre« (1910 integriert in dem Buch »Prinzipienlehre«), in dem es um die ausdruckskundliche Beschrei­ bung der Hysterie geht, findet sich die Konstruktion eines jüdischen Charakters, der mit dem hysterischen Charakter gleichgesetzt wird (Martynkewicz 2006). Die anderen antisemitschen Auslassungen finden sich in der Nietzsche-Arbeit Klages’, die in zwei Teilen (1924 179 Klages 1944, S. 330 (Ähnliches S. 275f.). Dieser Absatz wird von Pauen (1996, S. 263f.) als Argument gegen die in der Klages-Rezeption weit verbreitete Apologetik vom nicht-rassistischen Sinn und Gebrauch des Antijudaismus’ verwendet. Hier würde wie auch in der Schulereinführung deutlich, dass es nicht lediglich um einen »metaphysischen Antisemitismus«, ein lediglich »geschichtsphilosophisches Prinzip« gehe (a.a.O., S. 264).

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Schuler-Einführung und Erwiderung(en)

und 1926) im von Emil Utitz herausgegebenen Jahrbuch der Charak­ terkunde erschienen ist. Unter den Autoren, die sich ausführlich mit Klages befasst haben, ist Per Leo meines Wissens der Einzige, der Aspekte der Rivalitätsund Eifersuchtsdynamik bei Klages schriftlich formuliert hat: »Erst 1903, dem wichtigsten Wendejahr in Klages’ Leben, entspann sich tatsächlich ein Kampf um George. In ihm waren künstlerische, erotische und weltanschauliche Motive untrennbar miteinander ver­ woben. Jahrelang hatte Klages freundschaftlich mit Wolfskehl verkehrt und noch den Silvesterabend 1902 in dessen Haus verbracht. Erst nachdem sich im Januar 1903 abzeichnete, dass Klages’ Liebeswerben um Franziska zu Reventlow endgültig gescheitert war, diese sich statt­ dessen auf eine Affäre mit Wolfskehl einließ, bekam Klages’ Antise­ mitismus die situationsabhängige Unbedingtheit, die so typisch für ihn war« (Leo 2013, S. 531).

Schuler-Einführung und Erwiderung(en) Klages enthält sich irgendwelcher Darstellungen der Zusammen­ hänge im Schwabing der Jahrhundertwende seinen Briefpartnern gegenüber, soweit mir ein Überblick hierüber zu erhalten möglich war.180 Umso drastischer, fast wahnhaft nimmt sich angesichts dieser Abstinenz dann Klages’ Einführung in eine Auswahl nachgelassener Schriften von Alfred Schuler aus, die 1940 im Barth-Verlag erschie­ nen.181 Rothschild wurde auf diese Einführung von seinem Nachbarn in Jerusalem, dem Judaisten Gershom Scholem (1897–1982) auf­ merksam gemacht.182 Was auf den 119 Einführungsseiten nicht der Meine Stichprobe bezieht sich u.a. auf die umfangreichen Korrespondenzen zwischen Klages und Christoph Bernoulli, Werner Deubel, Martin Ninck, Hans Prinzhorn, Kurt Saucke, Hans Eggert Schröder im Deutschen Literaturarchiv Marbach. 181 Neben Gedichten und Dramenfragmenten finden sich die sieben Vorträge über das antike Rom, wie sie Schuler 1922 im Salon von Elsa und Hugo Bruckmann in München gehalten hat (Klages 1940, s. auch Martynkewicz 2009, insbes. S. 307– 323). 182 Die Schuler-Einführung wurde lange Zeit völlig ignoriert. 1972 fand angesichts des 100. Geburtstags Klages’ in Zürich eine Klages-Ausstellung statt. Hans Eggert Schröder stellte in apologetischer Absicht das Material für diese Ausstellung zusam­ men, auch war er für den dazugehörigen Katalog zuständig. Aus seinem Entsetzen heraus schreibt Scholem, der den Katalog irreführend findet, einen Artikel über die Schuler-Einführung, durch den die deutschsprachige Öffentlichkeit wahrscheinlich 180

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Klages’ Antisemitismus

Huldigung Alfred Schulers gilt, ist ausschließlich dem leitenden Gedanken zugedacht, wonach Klages und mit ihm Schuler Opfer einer Verschwörung jüdischer Intellektueller in München geworden seien.183 Im Rahmen einer affirmativen Rekapitulation der meisten jahrhundertelang tradierten und im Nationalsozialismus kulminie­ renden Vorurteile gegenüber Juden184, der jüdischen Religiosität und Gemeinschaft benennt er die Folgen, die der Bruch mit George/ Wolfskehl seiner Ansicht nach ausgelöst habe: »Verwirrung der intel­ lektuellen Judenschaft, Angst, Entsetzen; dann Sammlung und Bera­ tung der Taktik; dann persönliche Intrige, zu niedrig, um hier erörtert zu werden; dann – wurden die Kleingeister losgelassen, um unter sorgfältiger Schonung des nomadisierenden ›Meisters‹ MünchenSchwabing jahrelang zu bewitzeln, wovon die Folgen zwei Jahrzehnte hindurch zu spüren waren« (Klages 1940, S. 76). In einem Brief (15. Juni 1951 [131 K]), in dem Klages auf die Vorwürfe Rothschilds antwortet, führt er das aus, was er program­ matisch als Antwort auf den Vorwurf eines rassistischen Antisemi­ tismus’ immer wieder vorgebracht hat: »Aber Jude ist nicht = Judäer. Viele Juden sind keine Judäer, ausserordentlich viele Christen sind es«. Dieser Satz, häufig von Klages gebraucht, dient als schlüssige Kurzformel für seine Kategorie des Judaismus’, den er charakterolo­ erstmalig deutlich mit der Gewalt des rassischen Antisemitismus’ von Klages kon­ frontiert wird (abgedruckt in Anmerkungen zu Brief 36 in Scholem 1999, S. 286–289). 183 Ulrich Raulff spricht davon, dass hier der Antisemitismus »einer eigenen Orgi­ astik fähig war«. Auch wenn die Einführung eine »paranoide Abstrusität« war, seien »solche Konstruktionen nicht ungefährlich für die Personen des George-Kreises gewe­ sen (2009, S. 93f.). 184 U.a. schreibt Klages in der Schulereinführung: »Geldmacht, die Herrschaft über die Presse, der Mädchenhandel, die Prostitution, planmäßige Blutsverseuchung, Ritu­ almord, teils wurde nicht erkannt, daß ungeachtet der von Juden geflissentlich, von der Mehrzahl der Christen unabsichtlich geübten Verschleierung des Sachverhalts das sog. Christentum jeder Gestalt nur eines der Werkzeuge Judas war und ist« (1940, S. 44). Juden seien die »Drahtzieher des Weltkriegs« und die Geldgeber der russischen Revolution gewesen (a.a.O., S. 46) Später führt er affirmativ auch die »Protokolle der Weisen von Zion« an, eine Fälschung des zaristischen Geheimdienstes, die die jüdi­ sche Verschwörung mit dem Ziel, die Welt zu beherrschen, der europäischen Öffent­ lichkeit nahelegten: »Was es auf sich hat mit ›Humanität‹, ›Weltbürgertum‹, ›Libera­ lismus‹, ›Amerikanismus‹, ›Marxismus‹, ›Internationalismus‹, ›Kommunismus‹, ›Bolschewismus‹ usw. sieht heute nur der nicht, der es nicht sehen will. Aufgedeckt sind die Ziele der Hochgrade des Lügenwesens, aufgedeckt die Völkerversklavungs­ pläne Judas, aufgedeckt nicht minder die verbrecherischen Methoden der ›Macher‹, die ihrer Helfershelfer, aufgedeckt seit dem Bekanntwerden der ›Protokolle‹ sogar die Hinterabsichten des vorgeblich so heimatsüchtigen ›Zionismus‹« (a.a.O., S. 46f.).

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Schuler-Einführung und Erwiderung(en)

gisch, nicht rassebezogen verstanden wissen wollte. Als in diesem Sinne spezifisch »jüdisch« wird der Hysteriker angesehen, der nach der Klagesʼschen Charakterologie, die zu ähnlichen Urteilen wie der Common Sense kommt, Gefühlshaftigkeit berechnend einsetze, Lebendigkeit vorspiele, aber von jeglichem ursprünglichen Empfin­ den und Erleben abgetrennt sei, der Mensch des mechanistischen, einseitig vernunftgesteuerten Denkens. Klages’ Antijudaismus (auch Antijahwismus) in diesem Aspekt ist ähnlich akzentuiert wie der Chamberlains in den »Grundlagen des 19. Jahrhunderts«. »Das ›Jüdische‹ wurde als eine Gefahr stilisiert, die nicht mehr eindeutig zu identifizieren war – man konnte ›Jude sein, [...] ohne Jude zu sein‹. Die klaren Orientierungen waren dahin, vom ›Chaos‹ war die Rede, von einem ›geheimnisvollen Fremden‹, das sich unbe­ merkt und hinterrücks ausbreitete. Der ›Jude‹ wurde zur Projektions­ fläche der Modernisierungsangst schlechthin, eine ungreifbare Eigen­ schaft, die sich überall manifestieren, alles verfremden und depotenzieren konnte« (Martynkewicz 2009, S. 57). In der Schuler-Einführung nun dient er diese ursprünglich als »rasseneutral« deklarierte charakterologische Kategorie des Jüdischen dem (nationalsozialistisch gesonnenen) Leser als rassistisch antise­ mitisch an, indem er eine große Passage aus seinem ersten grapholo­ gischen Werk (1910) geringfügig abgewandelt zitiert.185Ähnliches gilt für das in der Schuler-Einleitung vorkommende Argument Klages’, sein Antijudaismus sei gleich Anti-Christentum bzw. seine Frontstel­ lung gegen das Christliche noch massiver als gegen das Jüdische. Hat er dem Christentum Jahrzehnte zuvor noch eine gewisse Eigenmacht

Ein Ausschnitt sei hier wiedergegeben: »Menschen von ›jüdischem‹ Charakter, wie verschieden sie sein mögen und wie wenig das im einzelnen Falle hervortreten mag, wird man bei ungewöhnlichen Komplikationen des seelischen Verkehrs auf einer sonderbaren Ratlosigkeit ertappen können: so nämlich als ob sie überlegten, wie ihr Gefühl menschlich normaler Weise sich zu verhalten habe: ob es gehässig schäumen oder unterwürfig bitten, ob es tödlich verletzt sein oder sich dankbar geschmeichelt gebärden müsse. Man gewahrt in solchen Augenblicken einen lauernd ausforschenden Zug, worin sich die Begier ausspricht zu erraten, was man selbst in diesem Fall wohl erwarte. Oft blitzschnell verschwindet das Zögern, um der prononciertesten Entschie­ denheit Platz zu machen. [...] Man gewinnt den Eindruck, daß weder dieses noch jenes natürlich war, sondern beides wie ein Kleid nur angetan und gewechselt wurde aus einer uns unbekannten Berechnung. – Was wir oben vom Hysteriker sagten, es ist hier in besonderem Sinne zu wiederholen: kein ›Jude‹ ist jemals völlig ›bei sich‹. Ein Teil von ihm ist stets beim – Zuschauer« (Klages 1940, S. 80). 185

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Klages’ Antisemitismus

zuerkannt, kommt diese in der Schuler-Einleitung abhanden. Das Christentum wird »zum Werkzeug Judas«.186 Es sei daran erinnert, was der Nietzsche-Freund Franz Overbeck für dessen »Anti-Christentum« ausführt, es sei vor allem »antisemi­ tisch begründet« gewesen (Mittmann 2006). In Nietzsches Arbeit »Zur Genealogie der Moral« (1887), die Klages im Brief vom 15. Juni 1951 Rothschild empfiehlt, deutet Nietz­ sche die Werteentwicklung einer Gesellschaft als machtbezogen: Der Gute ist der Herrenmensch, von dem der Schlechte, der schlichte Mensch, die seine Beziehungen zum Herrenmenschen strukturieren­ den Wertvorstellungen zu übernehmen hat. Die Werte des Christen­ tums und die »Sklavenmoral« gehen aus der Revolte der Unterlege­ nen hervor, sie seien aus dem Ressentiment der biblischen Israeliten entstanden, die die dann überlegene Moral der Barmherzigkeit und des Mitleids auf den Weg und zu weltweitem Sieg gebracht hätten. Man kann in der Beschreibung, mit der Nietzsche den Menschen des Ressentiments von dem Vornehmen absetzt, die Vorlage für die Klagesʼsche Kategorie des Jüdischen erkennen: »Während der vor­ nehme Mensch vor sich selbst mir Vertrauen und Offenheit lebt [...], so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selbst ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vor­ läufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen« (Nietzsche 1993, S. 272). Der Superioritätsdünkel, der in der hierarchischen Menschen­ ordnung liegt, die Klages im Brief mit der Gegenüberstellung Exote­ riker-Esoteriker vornimmt [131 K], mit Schuler als dem Esoteriker an der Spitze, sich selbst darunter und unter ihm wiederum Rothschild, dem er die größere Intelligenz zugesteht, findet sich auch bei Nietz­ sche. Nietzsche schreibt: »Eine Rasse solcher Menschen des Ressen­ Siehe S. 5, Anm. 2. Auch: »Muß es noch gesagt werden, wessen Pläne es waren und sind, die die Christenheit, die Zivilisation und zumal deren letzte dreihundert Jahre zu verwirklichen hatten? Für den Deutschen der Gegenwart kaum, insofern wenigstens er dem Machtzentrum zutreffend den Namen Juda gibt« (a.a.O., S. 43). Die »Vertilgung der Manichäer, Donatisten, Albigenser, Stedinger, Templer, die mör­ derischen Kreuzzüge, die ›Pariser Bluthochzeit (!), die Autodafés, die Hexenverbren­ nungen, die Hussitenkriege, den dreißigjährigen Krieg, die teilweise grauenvollen Methoden der ›Bekehrung‹ frommsinniger Heiden usw.« werden nicht mehr als Taten im Namen des Christentums betont, sondern als dem Judentum entstammend (a.a.O., S. 45). 186

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Schuler-Einführung und Erwiderung(en)

timent wird nothwendig endlich klüger sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maße ehren: nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffinement an sich hat: sie ist eben hier lange nicht so wesent­ lich, als die vollkommne Funktions-Sicherheit der regulirenden unbe­ wussten Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit, etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbar­ keit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen wiedererkannt haben« (a.a.O., S. 272f.). Im mehrmals replizierten Katalog der Erwiderungen, wie sie sich nicht nur in dem Brief vom 15. Juni 1951 [131 K] finden, werden des Weiteren die guten Beziehungen genannt, die Klages zu Juden gehabt habe: Hier wird Palágyi namentlich erwähnt. In Briefen an andere Briefpartner finden sich abgewandelte Nennungen. Unter anderen weist Klages seinen Freund Kurt Saucke, einen Hamburger Verleger und Buchhändler im Brief vom 7.8.1953187 in seine apologetischen Argumentationsstränge ein. Es ist die Passage, die von Schröder in seiner Klages-Biographie nur geringfügig verändert übernommen wird.188 Wie er dies schon oft und zu verschiedenen Anlässen tat, diktiert Klages seine Argumentationslinie dem Briefpartner, hier dem beauftragten Saucke, in die Feder. In diesem Fall gilt die Rechtferti­ gung Martin Buber, der anlässlich der Verleihung des Friedenpreises des Deutschen Buchhandels über Saucke um eine Unterredung mit Klages gebeten hat – wegen der Schuler-Einleitung. Diese Unterre­ dung übernahm dann Kurt Saucke, der gegenüber Buber ausführlich auf die von Klages unterstützten Wissenschaftler Palágyi und Fried­ rich Salomon Rothschild hinweist. Im Falle Rothschilds betont er, wie sehr Klages die Herausgabe der »Symbolik des Hirnbaus« gefördert und unterstützt habe, im Falle Palágyis erwähnt er Klages’ Eintreten für den Verkauf dessen Bücher gegen das beabsichtigte Verkaufsver­ bot des Rassenamtes. Mit der Erwiderung auf Buber wird der Eindruck 187 Brief Klages an Saucke 7.8.1953, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6861/15; Schröder 1992, S. 1347–1349. 188 Schröder 1992, S. 1347–1349. Dem Leser der Biographie entgeht dann, dass beide Männer in ihren Briefen und Postkarten von Martin Buber als dem Biedermann geschrieben haben: u.a. Brief Klages an Saucke 7.8.1953, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6861 und Postkarte von Saucke an Klages vom 10.8.53 (DLA Marbach, Nachlass Klages 61.12010/16).

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Klages’ Antisemitismus

erweckt, Klages und seine Schüler seien unter dem Nationalsozialis­ mus stark gefährdet gewesen, wenn nicht gar verfolgt. Es findet eine Art Ummünzung der Ablehnung statt, die Klages und seine Schüler in ihrem Bemühen um nationalsozialistische Gunst durch die sich durchsetzenden Philosophen erfuhren. Ralf Klausnitzer (1999) legt die Widersprüche dar, in die die Klagesʼsche Philosophie wegen ihrer Technik- und Geisteskritik und wegen ihrer Skepsis und Ablehnung gegenüber den Phänomenen des Willens und der Tat zur herrschenden Ideologie geriet. Tobias Schneider (2001) erläutert, es sei eher um reichsinterne Rivalitäten gegangen, die zwischen Alfred Rosenberg (1893–1946), dem Leiter der Abteilung Wissen­ schaft im Amt Rosenberg, dem Philosophen und Pädagogen Alfred Baeumler (1887–1968) auf der einen Seite und Klages’ Fürsprecher in der NSDAP-Elite Baldur von Schirach (1907–1974) u.a. ausgetra­ gen wurden. In der Erwiderung, die Klages Saucke diktiert, führt er ausführ­ lich aus, Rosenberg habe anlässlich seines 70. Geburtstags »abfällige Artikel« über ihn in reichsdeutschen Zeitungen lanciert. Er zitiert aus dem Völkischen Beobachter vom 10.12.1942: »Auch an seinem 70. Geburtstag wollen wir ihn (Kl.) auch dadurch achten, dass wir ihn als unsern Gegner anerkennen. In allen entschei­ denden weltanschaulichen Fragestellungen ist kein Ausgleich zwischen unserer Weltanschauung und dem Weltbild von Klages möglich. Sein Bild der Natur und der Geschichte, sein Bild des Menschen und seiner Zukunft sind prinzipiell unvereinbar mit den Grundthesen des Natio­ nalsozialismus.«189

Tatsächlich hat die Presse kaum auf den Geburtstag reagiert. Der Artikel von Heinrich Härtle, dem das Zitat entnommen ist, findet sich nur noch in der Berliner Ausgabe des Völkischen Beobachters (Schnei­ der 2001), in der Münchner Ausgabe fällt die Geburtstagswürdigung positiver aus.190 189 Brief Klages an Saucke 7.8.1953, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6861/15; Schröder 1992, S. 1347ff. 190 »Er ist der große Antipode aller Philosophie des Abendlandes, indem er sich ihrer Mittel mit der Meisterschaft bedient, die der größten Logiker des Abendlandes würdig ist. Er ist der Antipode des Geistes als des Widersachers der Seele. [...] In seinem Pessimismus sehen wir die Erlebnisfarbe, die das Werk desjenigen tönt, der sein Werk selbst betrachtet und in dieser Betrachtung zu Schlußfolgerungen kommt, die nicht jeder zu ziehen braucht«, schreibt Erwin Bauer in seinem Beitrag »Der Philosoph des Lebens«. Er betont die Wissenschaftlichkeit des Werkes und enthält sich einer Wer­

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Schuler-Einführung und Erwiderung(en)

Klages betrieb eine spezielle Politik, die darin bestand, seinen Antisemitismus nicht öffentlich werden zu lassen. So legte er Wert darauf, dass seine Apologetik, wie er sie für Rothschild und für Buber aufbereitete, als gültig akzeptiert wurde. Über die Briefe des KlagesNachlasses wird deutlich, dass private antisemische Äußerungen abgewägt wurden und je nach Vertrautheit, Nähe und Ferne zu seinem jeweiligen Briefpartner erfolgten (Leo 2013, S. 518). Es muss des Weiteren davon ausgegangen werden, dass wir es mit einem entspre­ chend gesäuberten Nachlass zu tun haben. Darauf verweist u.a. der Brief Klages an seinen Schüler Werner Ninck vom 23. Juli 1951.191 Ninck regte Jahre zuvor Klages an, über sich zu schreiben und ihm diese Aufzeichnungen für eine Biographie zur Verfügung zu stellen, zu der es dann nicht mehr kam, da Ninck verstarb. Auf die enge Beziehung mit dem jüdischen Jugendfreund Theodor Lessing und deren Scheitern angesprochen, erklärt Klages gegenüber Ninck die Dürftigkeit der Aufzeichnungen mit der Peinlichkeit des Aufgezeich­ neten. »Niemals in meinem Leben habe ich mir über dieses irgendetwas aufgeschrieben und verstehe mich daher ganz und garnicht auf Biogra­ phisches. Selbst heute noch wäre ich bereit, die Serie den Unterirdi­ schen zu opfern, wie ich ganze Pakete von Manuskripten, die meine Schiebladen füllten, bereits verbrannt habe. Eigentlich also fallen alle Gedenkblätter aus meinem sonstigen Schaffen heraus und stehen nur auf der Stufe mündlicher Mitteilungen im Wechselgespräch, nicht zu vergleichen mit der durchgestalteten Einleitung zum Schuler-Buch. Ich muß somit im Grunde beide Augen zudrücken, wenn ich an deren Veröffentlichung denke.«192

In dem Brief vom 23. Juli 1951 an Ninck deutet sich an, dass es Klages lieber gewesen wäre, die nachkriegsdeutsche Öffentlichkeit hätte die Schuler-Einführung nicht zur Kenntnis genommen. Auch schreibt er ihm, dass er seinen Nachlass bereits entsprechend sortiert hat.193 Im tung, die er auf spätere Generationen von Wissenschaftlern vertagt sehen will (Bauer 1942, S. 4). 191 Brief Klages an Ninck v. 23.07.1951, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6379/28. 192 ebd. 193 Einen analogen »Säuberungsvorgang« bekundet Klages in einem Brief an seinen späteren Biographen und Nachlassverwalter Hans Eggert Schröder. Der Kröner-Ver­ lag bestand für eine neuerliche Herausgabe des Aufsatzes »Mensch und Erde« auf einer entnazifizierten Fassung: »Auf Wunsch des Verlages muß alles vermieden werden, was auch nur entfernt an den Nazismus erinnern könnte. Diese ganze Periode wurde daher

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Klages’ Antisemitismus

dem Brief an Ninck aus dem Juli 1951 trifft er die folgende Feststel­ lung: »Niemals war ich bereit, einem Nazibonzen zu testieren, daß er einer höheren Rasse angehöre; aber ebenso wenig bin ich bereit, das jüdische Volk für das unter allen übrigen ›auserwählte‹ zu halten. Die Hybris ist im einen Fall dieselbe wie im andern, nur mit dem Unterschied, daß nach dritthalbtausendjährigem Kampfe gegen die Menschheit der Judäer den endgültigen Sieg über alle Völker davongetragen hat. Den heutigen Kotau fast der gesamten Zivilisation vor den Hassern des Menschengeschlechts [...] mache ich natürlich nicht mit und halte ihn außerdem taktisch für falsch.«194

Diese Briefstelle legt nahe, Klages habe den Holocaust als Trumpf und Triumph des Judentums in seinem Kampf um die Behauptung seiner Auserwähltheit interpretiert. Über andere Befunde kommt Richard Faber (1994) zu ähnlichen Schlüssen: In einer Anmerkung seines 1948 erschienenen Buches »Die Sprache als Quell der Seelenkunde« formuliert Klages – ange­ regt durch die Beschreibung eines von einer US-amerikanischen Bombereinheit gestifteten Kirchenfensters in Quidenham Norfolk mit dem Titel »Gott und die Bomber«– eine lange Suada mit Lite­ raturzitaten zum Rachegedanken des Alten Testaments, die er in seine Cluster-Konstruktion Geist-Judentum-Christentum-Kapitalis­ mus-Verwüstung einreiht.195 von mir vernebelt, und ich glaube, nicht ungeschickt. Einige Punkte hätten übrigens sowieso fortfallen müssen. So z.B. dürfte niemals und nirgends erwähnt werden, ich sei Senator der Deutschen Akademie gewesen; denn dieser hatte sich ja völlig zu seinen Zwecken bemächtigt Herr Göbbels« (Brief Klages an Schröder vom 29.6.1956, DLA Marbach, Nachlass Klages 617024/23). Die Deutsche Akademie war 1925 zur Verbreitung deutscher Kultur gegründet und nach der nationalsozialistischen Machtübernahme gleichgeschaltet worden. Sie war die Vorläuferorganisation des Goethe-Instituts. 194 Brief Klages an Ninck v. 23.07.1951, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6379/28. 195 »Mir will allerdings scheinen, daß den Höhepunkt des Klagesschen Antisemitis­ mus’ die versteckte Fußnote im ›Sprach‹-Buch von 1948 darstellt. Sie ist mehr noch als die extensiven und exzessiven Passagen der ›Einführung‹ in die Schuler-Edition von 1940 ein post festum. Im Unterschied zu diesen Passagen wird Klages’ Behauptung vom angelsächsischen Bombenkrieg aus dem Geist des Alten Testaments nach Ausch­ witz publiziert. Spätestens diese These lässt keinen Zweifel, daß Klages auch dann noch auf seinem Antisemitismus beharrte, als der Nationalsozialismus zu einer Politik des Massenmordes übergegangen war« (Faber 1994, S. 71). Es handelt sich um die Fußnote 86 auf den Seiten 374f. in Klages (1948). Sie bezieht sich auf folgende Passage

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Schuler-Einführung und Erwiderung(en)

In Rothschilds Nachlass findet sich eine Abschrift von Passagen eines Briefes des ehemaligen Kammergerichtsrats Hugo Striemer – auch er war nach Palästina emigriert – an einen Dr. Pokorny.196 Striemer begründet seine Überzeugung, die Apologien Klages’ in Bezug auf seinen Antisemitismus seien gänzlich unaufrichtig: »Es ist unmöglich einem Manne wie Klages ein so unvorstellbares Maß von politischer Naivität zuzubilligen, wie nötig wäre, die etwa folgender­ massen lautende Äusserung für aufrichtig zu halten: Rothschild ist dann nach Palestina gegangen. ›Ich habe das nie recht verstehen kön­ nen, es wäre ihm doch nichts passiert! Er hat es wohl nur getan, weil dort ein Bruder von ihm lebte. Wieso sind Sie eigentlich hingegangen? Menschen wie Sie und er hätten doch ruhig in Deutschland bleiben können!‹ Er tat so, als ich ihm natürlich scharf erwiderte, als hätte er von KZ und Vernichtungslagern nie gehört.« Die Frage, inwieweit Klages ein Freund des Nationalsozialismus’ war, dürfte strittig sein. Es mag einiges an Anbiederung vonseiten Klages und mit Sicher­ heit vonseiten des von Hans Eggert Schröder geleiteten »Arbeits­ kreises für Biozentrische Forschung«, der in Berlin zusammenkam, gegeben haben. Mentalitätsgeschichtlich dürfte die Gleichung Klages = Anhänger des Nationalsozialismus’ kaum aufgehen. Eher hat er sich in seinen gegen Juden gerichteten Ressentiments durch die national­ sozialistische Rassenpolitik bestätigt und bestärkt empfunden, viel weiter dürfte der Gleichklang nicht gereicht haben. Bis heute sind einige Unternachlässe des Klagesʼschen Nachlas­ ses in Marbach nicht zugänglich, und es dürfte das letzte Wort hierzu noch längst nicht gesprochen sein.

im Text: »Von den Bedingungen der Lebensknechtung durch den Geist ist die Schlie­ ßung der Pforten der Seele nicht die einzige; doch hat grade sie vornehmlich das Gepräge gegeben der christlichen = kapitalistischen = entherzten (!) ›Zivilisation‹« (Klages 1948, S. 194). 196 Das Typoskript ist betitelt: »Aus einem Brief von Dr. Hugo Striemer, Kammer­ gerichtsrat i. R., Berlin-Wilmersdorf, Bundesallee 31 a, bei Banck an Dr. Pokorny.« Striemer wird bei Kasdorff als Freund Klages’ bezeichnet (Kasdorff 1978, S. 446f.). Am 10.09.1953 habe Striemer Klages in Kilchberg besucht und Notizen über dieses Treffen verfasst. In einer etwas harmloseren Variante gibt Kasdorff das, was sich in dem Dokument von Rothschild befindet, wieder (a.a.O., S. 295).

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Ludwig Klages

Friedrich Salomon Rothschild

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956

Editorische Hinweise Insgesamt wird hier erstmalig die wahrscheinlich fast vollständige Korrespondenz zwischen Ludwig Klages und Friedrich Salomon Rothschild veröffentlicht. Die entsprechenden Originale der Briefe und Briefkopien (im Durchschlag) befinden sich an zwei Orten: im Klages-Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach, hier immer als Nachlass Klages bezeichnet, und im Nachlass Rothschild, den Gabriele von Bülow (Berlin) besitzt. Wenige Objekte des Briefwechsels befinden sich entweder nur in Marbach oder nur in Berlin. Die Briefe liegen zum allergrößten Teil als Typoskripte, also als maschinengeschriebene Manuskripte vor. Sie wurden in einem ein­ einhalbfachen Zeilenabstand getippt. Bei sehr langen Briefen ist der Zeilenabstand einzeilig, bei Luftpostbriefen immer. Die Schriftfarbe in den Briefen von Klages ist blau, die Schrift­ farbe in den Rothschild-Briefen schwarz. Hervorhebungen in den Adressen und im Text erfolgen in den Originalen zum größten Teil in Sperrschrift, gelegentlich finden sich auch Unterstreichungen. Alles Gesperrte wurde in der Edition kursiv gefasst, Unterstreichungen zum Teil beibehalten und zum Teil kursi­ viert. Die Originalbriefe von Klages sind oben links schräg überstempelt mit ›Seminar Ausdruckskunde Kilchberg‹, später, ab Oktober 1934, mit ›Seminar Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich‹. Die Originalbriefe von Rothschild sind ab der Emigration nach Palästina auf Bögen mit gedrucktem Briefkopf geschrieben. Nach seiner 1955 erfolgten

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956

Berufung als Professor an die Medizinische Fakultät der Hebräischen Universität in Jerusalem ändert sich der Briefkopf entsprechend. Da Briefe zwischen der Schweiz und Israel gelegentlich mit großer Verspätung ankamen, wurden Briefe und Postkarten nebst den ent­ sprechenden Beilagen oftmals noch mal versandt, woraus sich eine manchmal verwirrende Ordnung ergibt. Entsprechende Angaben befinden sich immer unter dem jeweiligen Objekt.

Rechtschreibung Ganz selten mussten ältere Wortformen ersetzt werden durch ihre modernen Varianten, z.B. Niveau für Niwo. Klages bediente sich keines ›ß‹, da die entsprechende Type auf seiner schweizerischen Schreibmaschine fehlte. Bei Rothschild änderte sich dies, je nachdem von welcher Schreibmaschine er Gebrauch machte. Die Reiseschreibmaschine sah kein ›ß‹ vor, ab den Briefen aus Palästina/Israel ist kein ›ß‹ mehr vorhanden. Das ›ß‹ wurde wegen dieser Uneinheitlichkeit ganz weggelassen und durch ›ss‹ ersetzt. Fehler in der Rechtschreibung und Kommasetzung wurden, soweit sie bemerkt wurden, stillschweigend verbessert.

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956

Zur Briefkennzeichnung verwendete Abkürzungen und Siglen DLA Marbach

Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar

Ts

Typoskript

Rdn.

Randnotizen

Hs

Handschrift

hschr.

handschriftlich

hschr. korr.

handschriftlich korrigiert

Erg.

Ergänzung

erg.

ergänzt

K

Klages

R

Rothschild

a

Anlage

Der Briefwechsel 1 Rothschild an Klages Frankfurt, 14. V. 29 Neurolog. Institut. Städtisches Krankenhaus Sehr verehrter Herr Klages! Gestern ist eine von mir verfasste Abhandlung über »Links und Rechts« von Herrn Prof. Goldstein, dem Direktor des Neurolog. Institutes der Universität Frankfurt/Main, an Sie mit der Bitte um Beurteilung abgeschickt worden. Diese Bitte ist zutiefst eine eigne. Ich beschäftige mich seit etwa 3–4 Jahren mit erscheinungs- und ausdruckswissenschaftlichen Untersuchungen, die, wie ich glaube, auf den Ergebnissen Ihrer Werke aufgebaut sind. Die Veranlassung zu diesen Darstellungen bildeten abgesehen von mehr persönlichen Interessen und Neigungen Fragen, die sich aus meinem Berufe (ich bin praktisch vorwiegend als Psychotherapeut tätig) ergaben. Ein Teil dieser Untersuchungen hat nun im Laufe der letzten Jahre soweit Gestalt genommen, dass ich ihn unter dem obengenannten Titel

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956

zusammenfasste und niederschrieb. Ich habe darin einmal ernstlich versucht, erscheinungswissenschaftliche Prinzipien auf das riesige Tatsachenmaterial der Anatomie und Physiologie anzuwenden und glaube heute, dass dieser Versuch fruchtbar zu werden verspricht. Das wichtigste Ergebnis ist eine Sinndeutung einiger sich heraushebender Gebilde und Strukturen des Nervensystems wie der Kreuzung der Fasern, des Kleinhirns und des vegetativen Systems, durch die es meines Erachtens ermöglicht wird, eine große Anzahl von naturwis­ senschaftlichen Streitfragen über die Funktion und die Bedeutung dieser Organe zu lösen. Hierbei wird Sie aber besonders interessieren, dass die gefundenen Lösungen wesentliche Stücke der von Ihnen geschaffenen Lebens­ lehre (z.B. die Unterscheidung des Empfindens von dem Schauen) zur Grundlage verlangen und damit rückwirkend die Notwendigkeit dieser Aufstellungen unterstreichen. In der sehr gedrängten Darstel­ lung kann diese Übereinstimmung der sich an die Anatomie und Physiologie anlehnenden Deutungen mit Ihren Resultaten wie auch die besondere Beleuchtung, die diese durch jene erfahren, nicht richtig zum Ausdruck kommen. Ich hatte an sich schon mit großen Schwie­ rigkeiten bei der Darstellung zu ringen; ein näheres Eingehen auf diese Zusammenhänge wie auf viele damit in Verbindung stehende Einzelfragen (z.B. die Entwicklung des Verhältnisses des Kleinhirns zur Körperlichkeit einerseits und zur Entstehung des Ortes im Raume andererseits aus den einzelnen Ergebnissen der Physiologie) hätte aber eine zusammenfassende Niederschrift bei der mir zur Verfügung stehenden Arbeitszeit noch lange hinaus geschoben. Das hielt ich aus den verschiedensten Gründen nicht für ratsam. Einer davon ist, dass ich bis jetzt ganz allein für mich gearbeitet habe und das Bedürfnis empfand, Urteile anderer über meine Art des Vorgehens zu erfahren. Sie werden es verständlich finden, dass ich dabei an Ihr Urteil dachte. Es wäre für mich ein grosses Glück, Ihre Ansicht über meine Untersuchungen zu hören, ein grösseres noch, einzelne Fragen mit Ihnen erörtern zu können. Die Arbeit war schon vor dem Erscheinen Ihres neuen Werkes fertig gestellt. Ich habe es noch nicht gründlich studieren können, aber doch schon soviel daraus ersehen, dass ich manches an meiner Arbeit durchdenken werden müsse. Im Prinzipiellen, glaube ich aber, wird keine Änderung notwendig sein. So erscheint mir jetzt das Wort »Beziehung« für den die Wesen verbindenden Zug schlecht gewählt, und in dieser Art gibt es noch anderes. Aber ich hielt es für unzweck­

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956

mässig, mich schon vor dem Erscheinen des für die meisten der hier angeschnittenen Fragen sicher besonders wichtigen dritten Bandes um diese Einzelheiten zu bemühen. Die Ausführungen über die »Ahnengestalt« mit ihrer silenischen und dämonischen Wesensseite stammen vornehmlich aus den Erfah­ rungen innerhalb meiner psychotherapeutischen Tätigkeit. Hier dürfte wohl noch vieles zu begründen und zu klären sein. Doch sind gerade diese Mitteilungen nur ein Ausschnitt aus meinen Versuchen, mich mit dem Problem der Entwicklung der Seele auseinanderzuset­ zen, eine Aufgabe, die durch die psychotherapeutische Praxis immer wieder gestellt wird und die durch die psychoanalytischen Schulen grösstenteils falsche und irreführende Lösungen erfahren hat. Gestat­ ten Sie mir am Schlusse noch auszusprechen, dass Ihre Werke abgese­ hen von ihrem mehr sachlich-wissenschaftlichen Einfluss eine große Bedeutung für meine persönliche Entwicklung besessen haben und dass ich Ihnen dafür tiefen Dank und Ehrfurcht schulde. Ich bin mit vorzüglicher Hochachtung Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Hs, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/1

Kurt Goldstein: Goldstein (1878 Kattowitz – 1965 New York) formulierte eine systemoffene, einem ganzheitlichen Denken verpflichtete Neurologie. Man könnte auch von einer Gestaltneurologie sprechen, denn er bezog sich auf die Gestaltpsychologen Adhémar Gelb, Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka. 1914 übernahm er die Leitung der neuropatholo­ gischen Abteilung am Senckenbergischen Neurologischen Institut in Frank­ furt am Main – eine Stiftung Ludwig Edingers. Unter seiner und Adhémar Gelbs Leitung ging daraus während des Ersten Weltkriegs das »Lazarett für Hirnverletzte« hervor, in dem Soldaten mit Hirnverletzungen aufgenom­ men wurden. Es verfügte über 100 Betten und war anders konzipiert als andere, ähnlichen Zwecken dienende Einrichtungen. Denn es wurden neben der ärztlichen Behandlung auch »psychologische, pädagogische und beruf­ liche Massnahmen« (Goldstein 1919, S. 2) zur Verfügung gestellt (Laier 1996, S. 238f.). Die menschenfreundliche, staatlichen Zwecken nicht ange­ passte Arbeit in diesem Lazarett und das besonders sorgfältige Bemühen um den Verletzten, sowohl was die Wahrnehmung der Person, die Diagnostik und das therapeutische Bemühen betrifft, beschreibt Michael Hagner (2000, S. 89–91 und 2006, S. 116f.). Das diesem Lazarett ab 1926 folgende Hirnverletztenheim mit 43 Betten, in welchem Rothschild 1928 ein Volon­ tariat erhielt, setzte diese Arbeit fort. Dem Zeugnis zufolge, das Goldstein Rothschild 1930 ausstellte, leitete dieser das Heim in seiner Eigenschaft als

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»stellvertretender Direktor« auch zeitweise alleine (Rothschild 1989b, Zeugnis Goldstein im Nachlass Rothschild). Er wohnte dort und hatte das Recht, private Patienten psychoanalytisch zu behandeln. mit erscheinungs- und ausdruckswissenschaftlichen Untersuchungen: Klages verstand seine Phänomenologie als »Erscheinungs- und Ausdruckswissen­ schaft«. eine Sinndeutung einiger sich heraushebender Gebilde und Strukturen des Nervensystems wie der Kreuzung der Fasern, des Kleinhirns und des vegetati­ ven Systems: Nach zwei kleineren Aufsätzen ist »Über Links und Rechts« (1930) die erste größere Abhandlung Rothschilds. Ausgehend von einem empirischen Teil zu Gewohnheitshaltungen – Falten der Hände, Verschrän­ ken der Arme, »Ineinanderlegen und Umfassen der Hände« (S. 457ff.) bei je 100 Frauen und Männern und 250 Jungen und Mädchen – sucht er, die Asymmetrien des menschlichen Körpers, das Verhältnis von Links und Rechts in Haltung und Bewegung zu deuten. Die Faserkreuzung, das Klein­ hirn und das vegetative Nervensystem, die hier erwähnt werden, gehören zu den später immer wieder neu aufgegriffenen Hauptthemen Rothschilds. Klages nimmt zu dieser Arbeit ausführlich im Anhang zu 4 K Stellung. die Unterscheidung des Empfindens von dem Schauen: Mit Bezug zu Klages’ Unterscheidung versteht Rothschild das Empfinden als »animale« Funktion, die mit den Trieben in unmittelbarer Beziehung steht: Es bildet »eine ele­ mentare Komponente unseres Sinnenlebens, aufgrund deren wir den Undurchdringlichkeitscharakter unserer körperlichen Umwelt wie unseres eigenen Körpers erleben« (Rothschild 1935, S. 22). Das Empfinden hat mit Sinneseindrücken zu tun und ist konkret auf Dinge bezogen, das Schauen wird als Gewahrwerden des »Wesens« verstanden. Klages schreibt in diesem Zusammenhang: »Aufgrund der Empfindung wahrnimmt der beseelte Geis­ testräger beeigenschaftete Dinge, aufgrund seines Schauens erscheinende Seelen. Noch fügen wir bei: Das Schauen kann sich ohne Empfinden ereig­ nen, wie allein schon der Zustand des Träumens beweist; die Empfindung dagegen bedarf des unterstützenden Schauens, damit das Empfundene bemerkt werden könne« (Klages 1921, S. 36). vor dem Erscheinen Ihres neuen Werkes: Der erste Band des dreibändigen Werkes »Der Geist als Widersacher der Seele« mit dem Titel »Leben und Denkvermögen« und der zweite Band mit dem Titel »Die Lehre vom Willen« erschienen 1929 im Verlag Johann Ambrosius Barth in Leipzig. Ahnengestalt: Ein Passus in »Über Links und Rechts« ist mit »Ahnengestalt« übertitelt. Der Begriff hat hier etwas zu tun mit der Klagesʼschen Theorie von der »Wirklichkeit der Bilder« und mit dem Jungschen ArchetypenBegriff. In Werteerlebnissen und ästhetischen Erfahrungen würde sich unmittelbar die Kontaktnahme mit dem »Urbild« des erlebten Phänomens,

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z.B. des gesehenen Baumes, vermitteln. Die Anwendung u.a. des psycho­ analytischen Begriffs der Übertragung würde die Wirklichkeit des Geschau­ ten, Erlebten verwischen, so Rothschild (1930, S. 494). Später greift er den Begriff der Ahnengestalt nicht mehr auf.

2 Klages an Rothschild Kilchberg, den 16. Mai 1929 Seminar für Ausdruckskunde Herrn Dr. Friedrich Rothschild Neurologisches Institut Staufenstr. 31 Frankfurt a. M. Sehr geehrter Herr Doktor, ich bestätige dankend Ihre freundlichen Zeilen vom 14. dieses. Schon am Tage vorher hatte ich Herrn Prof. Goldstein den Empfang des Skriptums bestätigt. Ich erhalte häufiger solche Skripten mit ähnli­ chen Wünschen und will Ihnen bekennen, dass sie oft ein Vierteljahr, ja ein Halbjahr liegen bleiben, bis ich mich zur Durchsicht und zur Antwort entschliesse. In Ihrem Schreiben nur war es ein Satz (Sie sollen ihn später erfahren), der mich stutzig und auf Ihre Arbeit sozusagen neugierig machte. Folge: ich habe sie bereits bis Seite 33 gelesen. Ich werde sie aber studieren und Ihnen dann meine Ansicht darüber eingehend mitteilen. – Ich werde nicht in der Lage sein, über das Reinphysiologische darin zu urteilen, und zwar allein schon aus dem recht banalen Grunde nicht, weil ich auf dem Gebiete zu wenig zu Hause bin. Dagegen kann ich Sie jetzt schon wissen lassen: der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ist methodisch zulässig und, wie ich nicht bezweifeln möchte, auch erfolgversprechend. Indem ich Sie bitte, mich Herrn Prof. Goldstein zu empfehlen, begrüsse ich Sie als Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Briefkopf schräg über Adresse gestempelt: »Seminar für Ausdrucks­ kunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/1

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ein Satz: bezieht sich auf: »So erscheint mir jetzt das Wort ›Beziehung‹ für den die Wesen verbindenden Zug schlecht gewählt« (s. Klages’ Erörterung u. [4 K]).

3 Rothschild an Klages Venedig, 28. V. 29 Sehr verehrter Herr Klages, entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen so verspätet für Ihren freund­ lichen Brief vom 16. ds. und für Ihre Liebenswürdigkeit danke. Ich bin seit etwa 10 Tagen auf einer Ferienreise und habe dadurch Ihr Schreiben erst heute erhalten. Ihre Mitteilung, dass Sie den eingeschlagenen Weg für zulässig erach­ ten, bedeutet für mich die beruhigende Bestätigung einer allerdings nur selten angezweifelten Meinung. Aber gerade über diesen Punkt hatte ich lang dauernde Auseinandersetzungen mit Herrn Prof. Gold­ stein, der die bei dem zerlegenden Denken der Naturwissenschaft oder gar bei Experimenten gewonnenen Tatsachen nicht als Aus­ gangsmaterial für eine Untersuchung des Wesens gelten lassen will. Ich brauche wohl kaum zu betonen, dass es für mich eine große Freude ist, Ihre eingehende Stellungnahme erwarten zu dürfen. Da das Literaturverzeichnis auf den Mediziner zugeschnitten ist, ist es Ihnen vielleicht nicht unerwünscht, wenn ich als zusammenfassende Darstellungen der Physiologie des vegetativen Systems und des Kleinhirns die Arbeiten von Spiegel und von Goldstein in dem X. Bande des neuen von Bethe und Bergmann herausgegebenen Hand­ buches der ges. normalen und pathologischen Physiologie angebe. Ich bin mit hochachtungsvollem Gruss Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild P.S. Meine Adresse ist: Neurolog. Institut., Eschenbachstr., nicht Staufenstr., Frankfurt/Main. Original: Hs, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/2

die Arbeiten von Spiegel und von Goldstein: Spiegel 1927: Die Region der Vierhügel (Tectum, Augenmuskelkerne, zentrales Höhlengrau), Goldstein 1927a: Das Kleinhirn. Goldstein beschreibt hier ausführlich die Morpholo­

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gie, Histologie, die faseranatomischen Verbindungen und die Symptome bei Läsionen und Reizung. Adresse: Auf dem handschriftlichen Briefkopf des ersten Briefs von Roth­ schild ist die Adresse des Hirnverletztenheimes nicht angegeben. Es heißt dort: »Neurologisches Institut. Städtisches Krankenhaus«. Wahrscheinlich hat sich Klages dann der Adresse bedient, die sich auf dem Anschreiben Goldsteins befindet, mit dem dieser ihm das Manuskript »Über Links und Rechts« zugesandt hatte. Diese lautet für das Neurologische Institut der Universität: Frankfurt Staufenstraße 31, s. Brief Goldstein an Klages v. 11.5.1929. DLA Marbach, Nachlass Klages 61.9441.

4 Klages an Rothschild Kilchberg, den 9. Oktober 1929 Herrn Dr. Friedrich Rothschild Neurologisches Institut Eschenbachstrasse Frankfurt a. M. Sehr geehrter Herr Doktor, Erlassen Sie mir eine Aufzählung der mancherlei widrigen Umstände, die es verschuldeten, dass ich erst heute und, wie ich eben mit Schrecken feststelle, nach nahezu fünf Monden zu eingehen­ der Beantwortung Ihrer Sendung gelange. Genug, die Verspätung geschah sehr wider meinen Willen, und ich hoffe nur, dass sie nicht ein Zu spät bedeute! Mehr allerdings befürchte ich, Ihnen mit meinen Begleitbemerkun­ gen wenig oder nichts bieten zu können. Denn ich befinde mich Ihrer Arbeit gegenüber in der wunderlichsten Lage. Soweit ich kompetent bin, pflichte ich Ihnen bei; und soweit ich Bedenken und Zweifel äus­ sere, bin ich – inkompetent! Meine nervenphysiologischen Kennt­ nisse sind die des vollständigen Laien, somit Unkenntnisse! Um doch nicht ganz ins Blaue hineinzureden, habe ich, angeregt durch Ihre Ausführungen, die kleine gemeinverständliche Schrift von Hess – nicht ohne Gewinn – gelesen, habe mir ferner von zwei jüngeren Medizinern (der eine Chirurg, der andre Internist) einen kleinen Vortrag halten lassen über die wichtigen Untersuchungen von Prof. Goldstein. Allein, was will das besagen! Heute kann niemand irgend­ eine Einzelwissenschaft noch fachmännisch beherrschen, es sei denn,

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dass er ihr sein Leben widmet. Das weiss ich als Fachpsychologe und Metaphysiker und wünschte nur, man denke allgemein so: es trüge sehr viel zu gegenseitiger Verständigung bei. – Ich bitte also, bei Lektüre beiliegender Glossen keinen Augenblick zu vergessen: wo ich über Seelenkundliches und im philosophischen Sinne Lebens­ wissenschaftliches spreche, halte ich mich für zuständig; wo über Nervenphysiologisches, für unzuständig. Noch muss ich nachtragen, welcher Satz Ihres Schreibens mich mit großen Erwartungen für Ihre Forschungsweise erfüllte (die auch nicht enttäuscht wurde): es war der Satz, wo Sie »Beziehung« und »Zusammenhang« unterscheiden. Denn daran erkannte ich, dass Sie diejenigen Schriften von mir, die Ihnen bekannt geworden, mit eindringendem Verständnis gelesen hatten. Ich glaube jedoch nicht, dass Sie deswegen in Ihren Ausführungen irgendwo das Wort Beziehung verändern müssten. Einmal kennt die Umgangssprache jene scharfe Scheidung, die ich im Dienste eines bestimmten Gedan­ kensystems vornehme, nicht; sodann haben Sie sich jedes Mal mit solcher Genauigkeit geäußert, dass eine Verkennung der Bedeutung, in der Sie das Wort Beziehung gebrauchen, ausgeschlossen ist. Sie haben eingehend auf meine Schriften Bezug genommen. Da Sie aber in Ihrem Schreiben die Vermutung äusserten, der dritte Band meines Hauptwerkes werde jedenfalls noch Klärendes über die »Wirklichkeit der Bilder« bringen und im Text eine Wendung von Hansen zitieren, erlaube ich mir, auf meine »Grundlagen der Charakterkunde« aufmerksam zu machen. Was nämlich dort im 8. und 9. Kapitel zur Bildertheorie vorgebracht wird, dürfte, wenn ich nicht irre, sowohl für den Charakterforscher wie für den Lebenswis­ senschaftler ausreichend sein. Ich sende dies wunschgemäss an Ihre Adresse, obschon meine Bemerkungen auch für Herrn Prof. Goldstein mitbestimmt sind, bitte aber um Mitteilung, ob ich das Skriptum an Sie oder ihn zurückschicken soll. – Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, dass es mich freuen würde, gelegentlich wieder von Ihren Forschungen zu hören. Mit freundlicher Begrüssung Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/2

Schrift von Hess: ein Sonderdruck, der 1925 bei Orell Füssli (Zürich, Leipzig, Berlin) erschienen war und drei Aufsätze des Schweizer Physiologen Walter

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Rudolf Hess zum vegetativen Nervensystem unter dem Titel »Über die Wechselbeziehungen zwischen psychischen und vegetativen Funktionen« enthielt, die 1924 und 1925 im »Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie« abgedruckt worden waren. Rothschild bezieht sich auf diese Arbeiten in »Über Links und Rechts« (1930, S. 468f.) wegen der dort vor­ genommenen besonderen Qualifizierung der Funktionen des sympathi­ schen und des parasympathischen Systems. von zwei jüngeren Medizinern (der eine Chirurg, der andre Internist): nicht ermittelt. der dritte Band meines Hauptwerkes: Der dritte Band des Werkes »Der Geist als Widersacher der Seele« erschien erst 1932 in zwei Teilen »Die Lehre von der Wirklichkeit der Bilder« und »Das Weltbild des Pelasgertums« im Verlag Ambrosius Barth in Leipzig. Wendung von Hansen: Rothschild zitiert den Internisten, Allergologen und Neurologen Karl Hansen, der das Klagesʼsche Konzept der »Wirklichkeit der Bilder« übernimmt. Hansen wirkte an der von Prinzhorn organisierten Fest­ schrift »Die Wissenschaft am Scheideweg« zu Klages’ 60. Geburtstag im Jahre 1932 mit. Bruchstückhaft zitiert Rothschild aus dem Abschnitt eines Aufsatzes Hansens, der sich mit der Veränderbarkeit von körperlichen Sym­ ptomen unter Hypnose befasst. Titel des Aufsatzes: »Die psychische Beein­ flussung des vegetativen Nervensystems im Lichte der Physiologie und der Klinik« (1928). Hier schreibt Hansen: »Ich vermag hier leider in Kürze nicht auszuführen, warum ich mit Klages das, was an der Vorstellung wie an der Wahrnehmung wirkt, indem es sich uns aufdrängt, das Subjekt-ObjektVerhältnis umkehrt, ja in seinen höchsten Formen zu einer Auflösung dieses Verhältnisses in der Identifikation führt, warum ich dies Wirkende als Bild bezeichne. Eine Auffassung, die die Sprache teilt, wenn sie bestimmte Symp­ tome als ein-gebildet bezeichnet. Nur wenn man diese Lehre von der Wirk­ lichkeit der Bilder begreift, wird man jene auf den ersten Blick so erstaunli­ chen Ausdrucksbewegungen des vegetativen Nervensystems, die sich in der Hypnose durch Suggestion hervorrufen lassen, und die ich nun schildern werde, nicht mehr so rätselhaft finden« (Hansen 1928, S. 933). Rothschild zitiert diese Passagen in »Über Links und Rechts« (1930) mit einigen Aus­ lassungen. meine »Grundlagen der Charakterkunde«: erschienen zum ersten Mal im Barth-Verlag, Leipzig 1926.

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4a Anhang Über Links und Rechts von Friedrich S. Rothschild Bemerkungen dazu von L. Klages 1.) Grundsätzlich zulässig ist die Übertragung der erscheinungswis­ senschaftlichen Betrachtungsweise auf solche Sachverhalte und Funk­ tionen, die nicht zu den »Erscheinungen« im engeren Wortsinn gehören, insofern sie entweder im Inneren des Leibes stattfinden oder nur dem bewaffneten Auge zugänglich sind. – Allein, wenn man schon erscheinungswissenschaftliche Gesichtspunkte in das erscheinungs­ jenseitige Gebiet hineinträgt, so sollte es nur für solche Vorkomm­ nisse geschehen, die ein Mindestmass von Deutung verlangen. 2.) Es ist grundsätzlich zulässig, ja geboten, auch im vegetativen Sys­ tem den erweiterten Begriff der Aktivität und Passivität zu verwenden. Dass dabei niemals von derjenigen Aktivität und Passivität die Rede ist, die im sensorisch-motorischen System obwaltet, geht aus den Darlegungen des Verfassers (V:) unmissverständlich hervor. 3.) Dass ich dem Mikrokosmosgedanken vorbehaltlos beipflichte, brauche ich nicht zu betonen, weil er ja eine Grundlage meines gesamten Forschens bildet. 4.) Abgesehen von der Anwendung auf das Links-Rechtsproblem behandelt die Arbeit zwei Gebiete, die zwar miteinander zusammen­ hängen, doch aber auch ein jedes spezifische Eigenbedeutung haben: a) Das Verhältnis vom vegetativen zum sensorisch-motorischen System und hinwieder innerhalb des ersteren das Verhältnis der sympathischen (s) zur parasympathischen (p) Komponente. b) Die Kreuzung der Nervenfasern. 5.) Ich habe mir erlaubt, ab Seite 21 wiederholt solche Stellen anzu­ streichen, die ich für ganz besonders aufschlussreich halte. Wenn das vorher nicht oder kaum geschah, so ist der Grund folgender. Alles, was aus Anlass der Kreuzung der Nervenfasern dargelegt wird, wirkt auf mich überzeugend. Insonderheit sämtliche Ausführungen über das Verhalten des Kleinhirns zum Großhirn erscheinen mir ebenso neu wie wesentlich. Nicht gleichermassen einleuchtend sind mir dagegen die Darlegungen über das Verhältnis von Sympathikus (S) zum

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Parasympathikus (P). In der Annahme, dass es für den V. Interesse haben könne, die Gedanken eines Lebenswissenschaftlers zu hören, der als Laie der Nervenphysiologie dieser gegenüber gewissermaßen »naiv« urteilt, gönne ich meinen darauf bezüglichen Einwänden etwas breiteren Raum. 6.) Es ist erscheinungswissenschaftlich zwingend, wenn als Beispiel für die Aktivität (nämlich innerhalb des vegetativen Systems) die Erektion angeführt wird. Denn einmal entsteht dadurch der Ityphal­ los, der in der gesamten Symbolik des Altertums den nach aussen gerichteten Stoss versinnbildet; sodann wird dadurch eine Art von vorübergehendem Zusammenhang zwischen zwei Individuen vorbe­ reitet. Dies würde also mit den Anschauungen des V.s über die Rolle von S. und P. zusammenstimmen. – Dagegen mutet es mich bereits wie eine etwas gewagte Konstruktion an, wenn Motilität und Chemis­ mus des Darmkanals aktiv, Motilität der Schliessmuskeln aber passiv genannt wird. Ich glaube, die Argumentation des V.s zu verstehen; aber mir scheint, man könne z.B. gerade umgekehrt argumentieren: weil und sofern die Schliessmuskeln die Abgabe oder Nichtabgabe der Stoffe nach aussen regeln, gehört die bedingende Apparatur auf die aktive und in Beziehung setzende Seite. Wer sich darauf kaprizieren wollte, würde vielleicht ferner noch geltend machen, dass im Normal­ fall zwar die Funktion der Schliessmuskeln, kaum aber die Motilität des Darmes dem Willen unterstehe (obwohl ich es gern zugebe, dass sich auch wieder manches dagegen vorbringen liesse). Noch weniger ist mir aber das Beispiel der Pupillenreaktion ver­ ständlich. Zunächst erscheint mir der Hinweis auf die sog. paradoxe Pupillenreaktion umwegig. Denn, wenn ich recht verstanden habe, wirkt auf die Pupille der P. überhaupt kontrahierend, der S. überhaupt weitend. Das indessen halte ich für erscheinungswissenschaftlich eindeutig: durch die Weitung der Pupille wird der Kontakt mit der Außenwelt hergestellt, die den Lebensträger befähigt, mit ihr sen­ sorisch-motorisch, also aktiv in Verkehr zu treten. Der schlafende Mensch ist im Verhältnis zum wachen Menschen der ungleich passi­ vere Mensch. Darum allein schon würde ich nicht zögern, die passive Rolle derjenigen Komponente des vegetativen Systems zuzuweisen, die im Schlafe das Übergewicht hat, also der p. Komponente. Und hier, wenn ich nicht irre, hat die vom V. vertretene Gegenthese eine Abirrung des Gedankens zur Folge gehabt.

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4a Anhang 4 K vom 9.10.1929 im Original

7.) Auf S. 18 heißt es nämlich: »Die wirklichen Verhältnisse werden viel eher verständlich, wenn wir daran denken, dass im Schlafe die Einwirkung der Umwelt auf das Individuum natürlich ausserordent­ lich herabgesetzt ist etc.« Allein, das wissen wir gar nicht oder richti­ ger, wir wissen einigermassen das Gegenteil. Im dritten Bande meines

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Hauptwerkes, der leider noch lange nicht druckfertig ist, befasst sich ein umfangreiches Kapitel ausschließlich, ein zweites wenigstens zur Hälfte mit dem Verhältnis des Schlafens zum Wachen (freilich ohne die mindeste Bezugnahme auf Nervenphysiologisches) und kommt zu dem Ergebnis, dass der Zusammenhang des Schläfers mit dem Kosmos inniger sei oder doch sein könnte als des Wachenden, wo das sensorisch-motorische System vorherrscht. Das steht mit einer gro­ ßen Anzahl von Phänomenen im Einklang, die vom heilbringenden Tempelschlaf des Altertums bis zum »Lebensmagnetismus« und »Somnambulismus« der Romantik (eingerechnet die sog. Wahr­ träume) reichen. Die gewaltige Literatur der Romantiker darüber ist zwar großenteils überschwänglich, birgt aber doch manches Gold­ korn. Ein wundervoller Ausspruch von Görres lautet: »Im tiefsten Schlafe sind wir an die Substanz verloren, die unendliche Substanz hat sich uns angeeignet«. Das sollen hier keine Gründe und Beweise sein. Ich führe es lediglich an, weil auch der V. der Symbolik hohe Bedeutung beimisst. Doch mache ich beiläufig auf den Umstand auf­ merksam, dass bei klimatopathischen Personen Wetteränderungen sich oft besonders deutlich im Schlaf anzeigen, teils durch aufregende Träume, teils durch gehäufte Störungen (Herzklopfen, unbegründetes Erwachen etc.), in extremen Fällen selbst durch Noktambulie. (Beson­ ders häufig kündigt sich im Schlaf durch Angstträume plötzlicher Schneefall an!) Ich könnte mit Gründen und Tatsachen bodenlang fortfahren. Hier will ich nur sagen: nicht dadurch unterscheidet sich vom Wachzustand der Schlafzustand, dass in diesem der Organismus isolierter wäre, sondern dadurch, dass er mit dem Kosmos jetzt vor­ nehmlich durch das vegetative System verkehrt, während im Wachen vornehmlich durch das sensorisch-motorische. Ich will ferner sagen: der Schlaf ist ein exquisit pathischer Zustand. Soll nun in ihm die p. Apparatur vorherrschen, so wäre in erster Linie sie Träger dessen, was hier unter Passivität verstanden wird. Ich erlaube mir, zum Schluss dieses »kritischen« Teils eine mehr persönliche Bemerkung. Mein – unmassgeblicher – Eindruck der Ausführungen über S. und P. war der: der V. sei da einer hochwichtigen Sache auf der Spur; aber die zweifelsohne wirklich verwertbare Schei­ dung nach Aktivität und Passivität sei möglicherweise funktionell und nicht organisch zu deuten. Vielleicht, so wollte es mir vorkommen, ist sowohl der S. als auch der P. bipolarer Funktionen fähig.

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8.) Mir scheinen also inbetreff der Sinnfindung von S. und P. noch gewisse Schwierigkeiten obzuwalten. Darum nicht minder halte ich den Leitgedanken für ausgezeichnet und für nicht weniger wichtig die Betonung der Asymmetrie des vegetativen Systems. – Der Versuch, für Kleinhirn und Grosshirn Polarität der Aufgaben zu erweisen, scheint mir überaus aufschlussreich. – Gegen das ganze Kapitel von der »Ahnengestalt« wüsste ich grundsätzlich nicht das mindeste ein­ zuwenden. – Die Scheidung der Triebe von den Bildern ist schlechthin richtig. (Dazu darf ich übrigens auf den zweiten Band von »Geist und Seele« verweisen). – Was die Deutung der Gewohnheitshaltun­ gen anbelangt, so liessen sich natürlich die Tatsachen noch immens erweitern (Zuknöpfen der Mäntel, ferner der Stehkragen, Ausweichen auf der Straße, ob nach rechts oder links, Ausweichen der Wagen, Ausweichen der Züge – hier wichtige Verschiedenheiten zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz –, Hand, an der der Ehering getragen wird usw. usw.). 9.) Ganz besonders betone ich, dass V. mit seiner Auffassung der linken Seite wie auch des Matriarchats auf dem rechten Wege ist, und erlaube mir dazu noch folgenden Zusatz. Welche ausserordentliche Schätzung ich für Bachofen hege, brauche ich hier nicht zu wiederholen. Das hindert nicht, dass ich in einigen Stücken von ihm abweiche. Eine »Gynaikokratie«-Herrschaft des Weibes hat es nie gegeben oder denn nur vorübergehend, meist als Rückschlag gegen Übergriffe männlichen Bevormundungswillens; und sie führte dann stets im lebenswissenschaftlichen Sinne zur Entartung. Wohl aber hat es wahrscheinlich mindestens bei den mit­ telländischen Völkern einmal ein allgemeines Matriarchat gegeben, und das wirkte sich in unzähligen Richtungen aus, vornehmlich aber in zweien: in den Rechtsinstitutionen und in den Kulten. Die kultische Seite ist es, die für die Untersuchungen des V.s entscheidend ins Gewicht fällt. In ihr gründet auch die Hochwertung der linken Seite, die ein Wertübergewicht des gebärerischen und magischen Prinzips über das täterische Prinzip bedeutet. Damit steht es durchaus im Einklange, wenn, wie ich beweisen zu können glaube, die Menschheit niemals überwiegend linkshändig war. Das Tun oblag stets der rechten Hand, das »Zaubern« etc. ganz überwiegend der linken Hand.

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Original: Ts, links oben gestempelter Briefkopf: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg«, hschr. korr., Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/2

Mikrokosmosgedanken: Vorstellung, dass sich in den Mikrostrukturen der Lebenswelt die Makrostrukturen spiegeln und dieselben Gesetzmäßigkeiten herrschen. Es gibt Übereinstimmungen und gegenseitige Abhängigkeiten zwischen kosmischen und lebensweltlichen Phänomenen. (Eine besondere Bearbeitung findet sich bei Klages 1932, S. 830f.) Kreuzung der Nervenfasern: Die Arbeit Rothschilds handelt in ihrem theo­ retischen Teil von den zentralen Themen der Asymmetrien des menschli­ chen Körpers und den Seitenkreuzungen und Gleichseitigkeiten im Faser­ verlauf des ZNS. Rothschild nimmt für das Zusammenwirken von Sinneswahrnehmung und Neurophysiologie an, dass die Kreuzung der Ner­ venbahnen im Gehirn in der Vermittlung zwischen wahrgenommenem Gegenstand und wahrnehmendem Organismus für die räumliche Lokali­ sierbarkeit des Wahrgenommenen sorgt. Der Gegenstand, von dem der Sin­ neseindruck ausgeht, befindet sich der wahrnehmenden Person/dem Wir­ beltier gegenüber, und diese Position wird durch die Faserkreuzung auch im Gehirn des Wahrnehmenden konkret wiedergegeben. Diese Deutungen sind eng gekoppelt an ein eigenes, aus dem Denken Klages’ hergeleiteten Verständnis der Wahrnehmung: »Die Erscheinungen der Umwelt sind stets [...] an einen Körper gebunden, der sich dem erlebenden Organismus gegen­ über befindet. Diese allgemeinste Eigenschaft findet nun ihren körperlichen Ausdruck darin, dass die nervösen Organe, die die Entfremdung der körper­ gebundenen Bilder bedingten, ebenfalls gegenüber, d.h. gekreuzt liegen. Hierin sehen wir den Sinn der Kreuzung [...]« (Rothschild 1930, S. 488). Die Ver­ knüpfung der rechten Hirnhemisphäre mit der linken Körperseite und der linken Hirnhemisphäre mit der rechten Körperhälfte versteht er als direkte Entsprechung des räumlichen Verhältnisses des Individuums zu einem Gegenüber. Das Andere wird als Gegenüber wahrgenommen, und somit wird das über die linke Seite Aufgenommene gegenüberliegend in die rechte Hemisphäre geleitet. Die die Individualität, den Eigenpol des Menschen vertretende, nach innen hin offene Aktivität wird von der gegenüberliegen­ den linken Hemisphäre repräsentiert. Auch in seinem letzten großen ver­ öffentlichten Werk geht er auf die Faserkreuzung ein: »Irgendwie musste diese komplizierte Ordnung der Ordnung des Erlebens entsprechen. Da kam mir eines Tages die Idee, dass die Faserkreuzungen der Sinneserlebnisse im ZNS die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt in den Sinneserlebnis­ sen symbolisch vermitteln, sowie Sprache und Schrift geistig und seelisch Inhalt und Beziehungen symbolisch repräsentieren« (Rothschild 1986, S. 33). das Verhalten des Kleinhirns zum Großhirn: Bezogen auf die Wahrnehmung kommt es nach Rothschild zu einer Aufgabenverteilung zwischen Groß- und

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Kleinhirn. Das Kleinhirn vertritt demnach die Statik des Körpers »gegen den verwandelnden Einfluß der Bilder«, es bannt das Wahrgenommene »an feste Stellen des Raumes, vom Organismus getrennt« und hält den eigenen Kör­ per in der »bestehende(n) Körperhaltung fest« (Rothschild 1930, S. 490). Die Funktionen des Großhirns dienen der »Verwandlung (des Aufnehmen­ den; Anm. d. Verf.) in das Fremde« und weisen in ihren virtuellen Bewe­ gungen in den Sinnenraum hinein. Die Bewegungen des Kleinhirns führen zur Ausgangshaltung zurück und »wiederholen dabei in umgekehrter Rich­ tung und gleichsam schematischer Abkürzung die Bewegung, die zur Umwelt hinführt. Die entfremdeten Bilder werden durch diese Bewegung zu der Festigkeit des eigenen Körpers in Beziehung gesetzt und gewinnen dadurch erst selbst eine feste Stelle im Raum dem eigenen Körper gegenüber. Diese rückwärtige Bewegung ist um so schwerer, je stärker die verwandelnde Gewalt des einwirkenden Bildes ist, d.h. je mehr die Ortsfestigkeit des Kör­ pers entweder durch die virtuellen Bewegungen im Entfremdungsvorgange, oder durch tatsächliche Stellungsänderungen, oder durch hervorgerufene Instinkts- und Ausdrucksbewegungen erschüttert wird« (a.a.O., S. 490f.). Das Kleinhirn vermittelt die »Ortsfestigkeit des Körpers« und bindet die »erlebten Bilder an feste Stellen im Raum« (a.a.O., S. 489). In der weiter­ geführten »Sinn- und Funktionserschließung« (Rothschild 1935, S. 79) von Strukturen des Wirbeltier-ZNS, wie sie sich dann insbesondere in der »Sym­ bolik des Hirnbaus« niederschlägt, werden große Passagen der bisherigen Erforschung des Kleinhirns und seiner Störungen gewidmet. Rothschild legt hier nochmals und intensiver dar, inwieweit das Kleinhirn, obwohl seine Funktionen bei seinem Ausfall offenbar bis zur Unmerklichkeit ›kompen­ siert‹ werden können, als »Grundlage für die durch den Geist bedingte Ich­ bildung« anzusehen ist« (Rothschild 1930, S. 491). Nicht gleichermassen einleuchtend sind mir dagegen die Darlegungen über das Verhältnis von Sympathikus (S) zum Parasympathikus (P): Der Funktions­ aufteilung, die W. R. Hess (1925) zwischen dem Sympathikus und dem Par­ asympathikus ermittelt, greift Rothschild auf. »Der durch seinen wichtigsten Nerven, den Nervus vagus, rechtsbetonte Parasympathicus dient der Ent­ wicklung und Erhaltung der Gewebselemente, der linksbetonte Sympathi­ cus der Beziehung zur Außenwelt« (Rothschild 1930, S. 469). Er versieht beide Funktionen dann aber mit den Qualitäten passiv (= weiblich) versus aktiv (= männlich), wobei dem Sympathikus die Passivität zufällt, dem Parasympathikus die Aktivität: »Der sympathische Anteil hat die Funktion, die Einwirkung der Fremdwesen auf den gesamten Organismus zu übertragen, er vertritt das passive, aufnehmende – symbolisch gesprochen – weibliche Prinzip, der Parasympathicus dagegen vermittelt die aktive Beziehung des Individuums zu diesen aufgenommenen Wesen, er vertritt das – symbolisch gesprochen – männliche Prinzip« (ebd.) Diese Zuordnung kann nun Klages nicht nach­ vollziehen.

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5 Rothschild an Klages 16. Oktober 29 Dr. Ludwig Klages Kilchberg Sehr verehrter Herr Klages! Ich habe Ihren Brief und die Bemerkungen erhalten und bin Ihnen sehr, sehr dankbar für Ihr Interesse und Ihr sorgfältiges Eingehen auf meine Arbeit. Auf Grund des kritischen Teiles Ihrer Bemerkungen habe ich mir die Ausführung über das vegetative Nervensystem noch einmal vorge­ nommen und habe nun die Absicht, dieses Kapitel zu ergänzen, da es offenbar an vielen Stellen zu knapp gehalten ist, um klar zu sein, und dadurch zu Missverständnissen Anlass gibt. Ich glaube, dass bei einer eingehenderen Verarbeitung des Materials Ihnen auch die Ansicht über das vegetative Nervensystem einleuchtend geworden wäre. Ihrem wichtigen Einwand jedoch muss ich beipflichten: Der Satz über den Schlaf ist, so wie er dasteht, nicht richtig. Wenn ich mir jetzt klarzumachen versuche, was mich damals zu der Formulierung führte, so war es folgendes: Grundlage für meine Deutungen war die Physiologie des wachen Menschen, und die ist von der des schlafenden sehr verschieden, weil ein außerordentlich bedeutsames Erlebnis für die Schlafenden wegfällt, das Erlebnis des Tages. Wenn der Tag die Menschen und Tiere zu besonderer Aktivität weckt, so liegt dem das Erlebnis »Tag« zugrunde, und dieses Erlebnis mit all den Zügen, die das Licht am Charakter der Erscheinungswelt hervortreten lässt, wird dem Leib durch die sympathische Kompo­ nente des vegetativen Systems vermittelt wie alle anderen Erlebnisse, und bedingt jene besondere funktionelle Inanspruchnahme dieses Systemteiles während des Wachzustandes. An das Wegfallen dieser mächtigen Einwirkung der Umwelt bei dem Schlafenden dachte ich, als ich den von Ihnen kritisierten Satz formulierte. Ich sah den Schlaf nur als Nichtwachsein, die Nacht nur als Nicht-Tag. Die Nacht und der Schlaf schaffen aber eine Verbindung der Wesen von ganz anderem Charakter, so dass es richtiger ist, überhaupt nicht von einem Mehr oder Minder der Einwirkung zu sprechen. Ich glaube deshalb auch sehr wohl, Ihrer Auffassung des Schlafes zustimmen zu können, ohne dass die physiologischen Befunde in dem vegetativen System des Schlafenden eine Änderung meiner

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Ansichten über Sympathikus und Parasympathikus bedingen müs­ sen. Leider ist es mir zeitlich nicht möglich gewesen, und wird es auch vorerst nicht sein, das Gebiet der inneren Sekretion, das für viele Fragen des vegetativen Nervensystems von großer Bedeutung ist, erscheinungswissenschaftlich zu untersuchen. Ich glaube heute zu sehen, dass dadurch vieles klarer und offensichtlicher wird. Zur Charakterisierung der rechten und linken Seite haben sich bei der eingehenderen Beschäftigung mit der asymmetrischen Lagerung der innerleiblichen Organe noch eine ganze Anzahl aufschlussreicher Einblicke ergeben. Ich werde sie Ihnen gelegentlich mitteilen; und möchte an dieser Stelle hinzufügen, dass es für mich eine grosse Freude bedeutet, Ihnen von meinen Arbeiten berichten zu dürfen. Das Skriptum bitte ich Sie, in dem damals beigelegten Umschlag an Herrn Prof. Goldstein zurück zu senden, der mich gebeten hat, Ihnen seinen besten Dank für Ihre Freundlichkeit auszusprechen. Ergebenst grüssend bin ich Ihr Friedrich Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11999/3 Kopie: Nachlass Rothschild

das Gebiet der inneren Sekretion ... erscheinungswissenschaftlich zu unter­ suchen: Dies geschah dann im Nachgang zu seinem Buch »Die Symbolik des Hirnbaus«. Da die Veröffentlichung erschwert war, brachte er seine Studien zu den Hormonen in einer eigenen Arbeit heraus, die dann noch vor der ›Symbolik‹ in der »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« 1934 unter dem Titel »Von der Übereinstimmung im Aufbau des Zentralner­ vensystems und des Systems der Hormone« veröffentlicht wurde.

6 Klages an Rothschild Kilchberg, den 17. Dezember 1929 Sehr geehrter Herr Doktor: Ich glaube mich bestimmt zu entsinnen, dass Sie in Ihrer Arbeit einen Autor zitiert hatten, der Palágyis Theorie

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der eingebildeten Bewegung auf physiologische Tatsachen angewandt habe. Leider habe ich verabsäumt, mir die Angabe zu notieren. Dürfte ich Sie vielleicht um die Freundlichkeit bitten, mir die fragliche Arbeit zu nennen? Auch, ob dieselbe nur in einer Zeitschrift oder selbständig erschienen ist. Mit Dank im Voraus und den besten Empfehlungen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, Nachlass Rothschild

Palágyis Theorie der eingebildeten Bewegung: s. erste Anmerkung zu 7 R.

7 Rothschild an Klages Frankfurt a. M., den 20. XII. 29 Friedrich Rothschild Neurologisches Institut Eschenbachstr. 14 Sehr verehrter Herr Klages! Gerade in diesen Tagen hatte ich die Absicht, Ihnen die neuen und geänderten Abschnitte meiner Arbeit zuzusenden, sodass ich jetzt die Beantwortung Ihrer Anfrage mit der Sendung verbinden kann. Der Titel der von mir zitierten Arbeit lautet: »Über die Veränderung der Sinnesleistungen und die Entstehung der Trugwahrnehmungen. Von Johannes Stein.« Die Abhandlung bildet ein Kapitel des ersten Bandes des Handbuches der Geisteskrankheiten, herausgegeben von Oswald Bumke, Berlin 1928, und ist im Buchhandel nicht einzeln käuflich. Stein ist ein Schüler von Weizsäcker in Heidelberg. Obwohl seine Abhandlung im wesentlichen auf der Anwendung der Gedanken Palágyis beruht, lehnt er die Auffassung Palágyis über die Entstehung der virtuellen Bewegungen auf Grund seines Tatsa­ chenmaterials ab. Ich halte das nicht für richtig und glaube, dass die Theorie Palágyis nur ergänzt werden müsste. Ursprünglich hatte ich vor, einen diesbezüglichen Abschnitt in meiner Arbeit aufzunehmen, habe ihn aber dann weggelassen, weil mir die Gedanken nicht klar genug erschienen und das Thema eine eingehendere Bearbeitung verlangt. Ich lege Ihnen aber den Abschnitt bei, weil ich hoffe, dass er für Sie in seinem Grundgedanken doch verständlich ist, und weil ich

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eine Ergänzung der Palágyischen Lehre in der angedeuteten Richtung für fruchtbar halte. Ausserdem schicke ich Ihnen die neuen Ausführungen über die Asymmetrie der innerleiblichen Organe und den ergänzten Abschnitt über das vegetative Nervensystem. Die Zusammenstel­ lung des Materials über die Asymmetrie der Organe mit seinen mir vorher nicht bekannten Einzelheiten war bei mir begleitet von einem sich immerwährend steigernden Staunen; denn jede einzelne Feststellung sprach so eindeutig und klar im Sinne der alten, in der Arbeit vertretenen Auffassung des Wesens der beiden Seiten, dass für mich oft die Frage entstand, wieso man nicht früher einmal eine solche Zusammenstellung lieferte, da die Tatsachen doch seit Jahrzehnten bekannt sind. Von den Ausführungen über das vegetative System glaube ich, dass sie die Gedanken über die Innervation der Pupillen und die Deutung ihrer Enge im Schlafzustand besonders interessieren werden. Die Arbeit ist von der »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« zur Veröffentlichung angenommen worden. Ich schicke Ihnen aber doch wieder Schreibmaschinendurchschläge, erstens, weil es mir wichtig ist, Ihre evtl. Kritik noch vor der endgültigen Drucklegung zu erfahren, und zweitens, weil bis zu dem Erscheinen der Arbeit wohl ein halbes Jahr und länger vergehen wird. Die Durchschläge sind für mich nicht mehr notwendig und brauchen deshalb nicht zurückgesandt zu werden. Zum Schlusse komme ich noch mit einer Bitte. Ich habe sehr den Wunsch, einige Fragen meines weiteren Arbeitens mit Ihnen persön­ lich zu besprechen, und bitte Sie deshalb um die Ehre, Sie einmal besuchen zu dürfen. Ich werde voraussichtlich im Januar oder Februar des kommenden Jahres in die Schweiz fahren und würde dann sehr gerne bei Ihnen vorsprechen. Ich werde mir erlauben, einige Tage vorher bei Ihnen zu fragen und Sie um die Angabe einer Zeit zu bitten. Sie verehrungsvoll grüssend bin ich Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild

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Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/4 Kopie: Nachlass Rothschild

»Über die Veränderung der Sinnesleistungen und die Entstehung der Trug­ wahrnehmungen. Von Johannes Stein«: eine Arbeit, in der der Verfasser zwar von Palágyis »virtueller Bewegung« ausgeht, aber sie in ein eklektisch zusammengestelltes Umfeld aus anderen Motortheorien stellt, und zusätz­ lich die hypnagogen Einschlafbilder einbezieht, die ursprünglich von dem Psychoanalytiker Heribert Silberer (1909) beschrieben wurden. Er gibt dem Konzept dann einen neuen Namen und nennt es »sensorische Bewegung«. Der Naturphilosoph Melchior Palágyi, den Klages in Deutschland unter­ stützte, versuchte mit seiner Konzeption einer »virtuellen Bewegung« – knapp gesagt – den Anteil, den die Motorik an der Wahrnehmung hat, her­ auszuarbeiten. Der Ausschnitt, den Rothschild als Anlage erwähnt, ist nicht erhalten, er hat aber eine entsprechende Kritik in der ›Symbolik‹ (1935) aufgenommen (S. 128f.). die neuen Ausführungen über die Asymmetrie der innerleiblichen Organe: Rothschild ordnet anatomische Details wiederum um die Polarität zwischen außen und innen »und zwar einer Verschiedenheit, die ein Ausdruck der allerursprünglichsten Lebenstatsache, des Gegenüber, der Zweiheit oder besser der Polarität von Individuum und Welt darstellt. Die linke Seite des Leibes dient mehr als Aufnahme- und Wirkungsstätte des Fremden, die rechte Seite mehr den aus der Individualität herauswachsenden aktiven Lebensäu­ ßerungen. Die Polarität von Individuum und Kosmos hat eine Entsprechung in der Polarität von rechts und links, das ist der Sinn, den wir in der Orga­ nisation des Leibes glauben sehen zu können« (Rothschild 1930, S. 466).

8 Klages an Rothschild Kilchberg, den 23. Dezember 1929 Herrn Dr. Friedrich Rothschild Sehr geehrter Herr Doktor: Verbindlichen Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 20. dieses, für die Literaturangabe und für das Manu­ skript. Letzteres konnte ich wegen massloser Arbeitsüberlastung noch nicht lesen. Hat es Zeit bis zu der von Ihnen in Aussicht gestellten persönlichen Unterredung über gemeinsame Forschungs­ gegenstände, die auch mir erwünscht wäre? Ich bin, so viel ich sehe, im neuen Jahre bis ungefähr 20. Febr. andauernd hier, muss dann vielleicht für zehn bis zwölf Tage verreisen und bin darauf

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wiederum hier. Wenn Sie mir später vier bis fünf Tage zuvor Ihre Reise mitteilen, so könnte ich darnach disponieren, würde Ihnen eine passende Ankunftszeit hier angeben und Sie abholen, da meine Mansarde etwas schwierig zu finden ist. Sicherheitshalber noch meine Telephonnummer: Kilchberg 117. Mit freundlicher Erwiderung Ihrer Grüsse, Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Postkarte, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/3

9 Rothschild an Klages Frankfurt, den 15. II. 30 Sehr verehrter Herr Klages! Sie waren so freundlich, mir eine Besprechung in Aussicht zu stellen und wünschten einige Tage vorher meine Anmeldung. Ich glaubte nun Ihrer Karte entnehmen zu können, dass Ihnen die Zeit nach der Rück­ kehr von Ihrer Reise passender sei, und habe meine Reise in die Schweiz auch ohne Schwierigkeiten entsprechend verschieben kön­ nen. Es wäre mir aber sehr wichtig, wenn ich Sie gleich nach Ihrer Rückkunft besuchen dürfte, also etwa am 4. oder 5. März, und ich frage deshalb heute schon an, weil Sie während Ihrer Abwesenheit von Kilchberg Briefe vielleicht nicht so schnell erreichen. An sich habe ich schon von der Mitte der letzten Februarwoche ab, jederzeit die Möglichkeit wegzufahren und könnte daher auch schon früher nach Kilchberg kommen, wenn es Ihnen angenehm sein sollte. In Erwartung Ihrer Antwort bin ich Sie verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/5

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10 Klages an Rothschild Kilchberg, den 18. Februar 1930 Herrn Dr. Fr. Rothschild Neurologisches Institut Gartenstrasse Frankfurt a. M. Sehr geehrter Herr Doktor, sehr gut, dass Sie frühe genug anfragen! Bei mir haben sich inzwi­ schen die Dispositionen insofern etwas verschoben, als ich meine Arbeitspause nicht vor dem 5. oder 6. März beginnen kann. Unter diesen Umständen empföhle es sich, wenn Sie bereits in der Schluss­ woche des laufenden Monats kämen. Und zwar würde ich mich für Sie freihalten können Donnerstag den 27. Februar und Samstag den 1. März. Nach meinen Erfahrungen pflegt bei wissenschaftlichem Gedankenaustausch eine Unterhaltung meist nicht zu genügen, son­ dern bedarf es deren zwei, weil man gewöhnlich in der ersten grade nur so weit kommt, die zumal besprechungswürdigen Probleme fest­ zustellen. Und zwar könnte ich mich jeweils freimachen von halb vier Uhr nachmittags bis halb acht Uhr abends. Falls Sie zu dem Behuf den Zug benutzen sollten, der 2.50 Uhr nachmittags Zürich Hauptbahnhof abfährt, so würde ich Sie das erste Mal um 3.07 Uhr am Bahnhof in Kilchberg (an der überführenden Brücke stehend) abholen. Bedienen Sie sich dagegen eines Taxis, so genügt es, wenn Sie angeben: Kilchberg, Rigistr. 41. Man ist unter normalen Umständen mit Auto in zwölf bis höchstens fünfzehn Minuten ab Zürich hier. Bisher habe ich leider noch keine Zeit gefunden, Ihr Kapitel in neuer Fassung zu studieren; doch wird es bis zu Ihrer Ankunft geschehen sein. Ebenso werde ich versuchen, bis dahin den ersten Band Bumke zu erhalten, umso mehr als ich die Abhandlung von Stein, ganz abgesehen von Ihren Forschungen, unbedingt lesen muss. Bei den hiesigen Bibliotheksverhältnissen ist es allerdings nicht völlig sicher, ob ich den Band rasch genug bekomme; doch fiele das ja für unser Kolloquium nicht sonderlich ins Gewicht. Indem ich bitte, mir bald Bescheid zu geben, ob meine Vorschläge Ihnen passen würden, bin ich mit den besten Empfehlungen Ihr ergebener: LKlages

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Original: Ts, Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/4

11 Rothschild an Klages Frankfurt, den 20. II. 30 Sehr verehrter Herr Klages! Ihren Vorschlägen komme ich gerne nach, und zwar gedenke ich am Donnerstag den 27.II. mit dem Zug um 3 Uhr 7 Min. in Kilch­ berg anzukommen. Indem ich Ihnen für Ihre Freundlichkeit sehr sehr danke, bin ich Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, Postkarte, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/6

12 Rothschild an Klages 2. III. 1930 Sehr verehrter Herr Klages, gestern vergaß ich, Ihnen mitzuteilen, dass es nach Ansicht von Herrn Prof. Goldstein bei der Ausstellung der Bescheinigung für die Notgemeinschaft wichtig wäre, in ihr darauf hinzuweisen, dass Ihnen die beabsichtigten Untersuchungen nach Plan und Methode aussichtsreich erschienen. Ich benutze die Gelegenheit, Ihnen nochmals für Ihre freundliche Aufmerksamkeit zu danken und bin mit ergebenen Grüssen Ihr Friedrich Rothschild Original: Hs, Briefpapier des Hotels Stadthof-Posthotel in Zürich, DLA Mar­ bach, Nachlass Klages 61.11899/7 Der Brief ist auf Briefpapier des Züricher Hotels Stadthof-Posthotel geschrieben. Offenbar hielt sich Rothschild vom Donnerstag, den 27. Februar (s. 11 R), bis zum Sonntag, den 2. März 1930 in der Schweiz zu Besprechungen mit Klages auf. Kilchberg liegt am Zürichsee und war auch damals schon von Zürich aus mit dem Zug schnell zu erreichen.

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Notgemeinschaft: Um der drohenden Stagnation des Wissenschaftsbetriebs in der Folge des Ersten Weltkriegs, der internationalen Isolation Deutsch­ lands und der Inflation zu begegnen, wurde am 30. Oktober 1920 auf die Initiative von führenden Wissenschaftlern der Preußischen Akademie der Wissenschaften die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft als gemeinnütziger Verein gegründet. Staatlicherseits wurde er bezuschusst, für die ersten beiden Jahre mit 20 Millionen Mark. Ein Großteil der Gelder sollte statutengemäß für die Aufrechterhaltung wissenschaftlicher Zeitschriften und den Druck neuer Monographien verwendet werden (s. Wesolowski 2010, S. 131f.). Karl Heinz Roth zufolge unterstützte die Notgemeinschaft ab 1928 erbbiologische/erbstatistische Projekte (Roth 1984, S. 62). Offenbar war die Beantragung von finanzieller Unterstützung für Rothschild eines der Ergebnisse der Zusammenkunft beider Männer Ende Februar/ Anfang März 1930.

13 Rothschild an Klages Frankfurt, 25. III. 30 Sehr verehrter Herr Klages, beiliegend übersende ich Ihnen einen Durchschlag des beabsichtigten Gesuches an die Notgemeinschaft und bitte Sie um die schriftliche Äusserung, die Sie die Freundlichkeit hatten, mir zu versprechen, damit ich Sie dem Gesuche beifügen kann. – Die Arbeit über »Links und Rechts« ist inzwischen erschienen, Sonderdruck habe ich aber noch nicht erhalten, sonst hätte ich einen mitgeschickt. – Meine Adresse hat sich inzwischen geändert; sie lautet: Frankfurt/Main, Gartenstr. 6 bei Montag. In Verehrung bin ich Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Hs, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/8

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13a Anhang An die Notgemeinschaft der Deutsch. Wissenschaft Berlin C 2 Schloß-Portal 3 Der Wunsch, die Ergebnisse mehrjähriger ausdruckswissenschaft­ licher Untersuchungen zusammenzufassen, auszubauen und zur Veröffentlichung zu bringen, ist die Veranlassung, dass ich mich mit diesem Gesuch an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissen­ schaft wende. Seit meiner Approbation im Jahre 1924 bin ich im psychiatrisch-neu­ rologischen Fachgebiet tätig. Zuerst war ich ¾ Jahre an der Psychiatr. Univers.-Poliklinik in Heidelberg bei Herrn Prof. Homburger, dann etwa 3 Jahre als Assistent an dem Sanatorium Dr. Reichmann in Heidelberg mit vorwiegend praktischer psychotherapeutischer und psychoanalytischer Arbeit. Seit etwa 2 Jahren bin ich am Neurologi­ schen Institut in Frankfurt a. Main bei Herrn Prof. Goldstein, um mich neurologisch auszubilden. Die Abschriften der Zeugnisse über diese Tätigkeit lege ich bei. Seit etwa 4 Jahren beschäftige ich mich aber ausserdem, veranlasst durch Probleme der praktischen psychotherapeutischen Arbeit, mit ausdruckswissenschaftlichen Studien, aus denen, wie ich glaube, eine ganze Anzahl theoretisch wie auch praktisch wichtiger Einsichten hervorgingen. Ein Teil von ihnen ist kürzlich unter dem Titel »Über Links und Rechts« in der Zeitschr. f. d. ges. Psychiatrie und Neuro­ logie erschienen (Bd. 124 ¾ Heft). Einen Sonderdruck der Arbeit füge ich bei. Die Methode dieser Untersuchungen besteht wesentlich darin, das ausdruckswissenschaftliche Tatsachenmaterial, wie es vor allem in den Werken von Ludwig Klages niedergelegt ist, dem naturwissen­ schaftlichen, das heißt in diesem Falle besonders dem nerven- und hirnphysiologischen gegenüber zu stellen und durch eine verglei­ chende Betrachtung die Ergebnisse beider Wissenschaften füreinan­ der fruchtbar zu machen. Bei der Neuartigkeit des Versuches wie bei der ausserordentlichen Weitschichtigkeit der Aufgabe ließ es sich nicht vermeiden, dass die erste Veröffentlichung bisweilen noch einen fragmentarischen Eindruck macht und die letzte Absicht der einzelnen Untersuchungen nicht an jeder Stelle klar ersichtlich ist.

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Jede weitere Veröffentlichung wird hier aber ergänzend wirken und wohl auch demjenigen, der dem Problemkreis ferner steht, den Wert dieser Methode deutlich machen. Schon die abgeschlossene Arbeit, aber vor allen Dingen die nun vorliegenden Aufgaben, verlangen die Kenntnis und Einbeziehung eines Tatsachenmaterials, das nicht nur den verschiedenen medizini­ schen Sachgebieten, sondern auch der Psychologie und Philosophie angehört und dessen Erarbeitung neben einer mit anderen Aufgaben ausgefüllten Berufstätigkeit kaum möglich ist. Außerdem verlangen die beabsichtigten Untersuchungen, dass ich eine zeitlang, etwa ein halbes Jahr an einer Inneren Klinik praktisch arbeite, da manche der vorliegenden Fragen ohne eine eingehendere Kenntnis vegetativer Vorgänge, wie sie nur die Innere Klinik vermitteln kann, nicht sicher zu entscheiden sind. Ich wäre also genötigt, die Berufstätigkeit in meinem Fachgebiet, durch die ich bisher meinen Lebensunterhalt verdiente, für einige Zeit aufzugeben. Das ist aber nur möglich, wenn ich auf einem anderen Wege die zum Leben notwendigen Mittel erhielte. Aus diesem Grunde wende ich mich an die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, mit der Bitte, mir für die Dauer eines Jahres ein Stipendium zu gewähren, mit dessen Hilfe ich meinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Äusserungen über die Aussichten der beabsichtigten Untersuchun­ gen von den Herren Prof. Goldstein und Dr. Klages, denen ich Ausgangsmaterial und Plan zum Teil eingehender vortrug, füge ich dem Gesuche bei. Mit vorzüglicher Hochachtung Durchschlag: Ts, hschr. korr., Datum 24.3.30 durchgestrichen, DLA Marbach Nachlass Klages 61.11899/8

die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft: s. 12 R. Prof. Homburger: Rothschild war von Oktober 1924 bis Ende Juni 1925 Volontär bei August Homburger in Heidelberg. Das geht u.a. aus dem Zeug­ nis Homburgers vom 7.10.1929 hervor, das sich im Nachlass Rothschild befindet. Die Beilage zum Antrag ist nicht erhalten. August Homburger (1873–1930) gilt als einer der frühen Kinderpsychiater und war wohl der Erste, der die Notwendigkeit einsah, mit den Eltern der Kinder zu arbeiten. Ab 1917 leitete er eine heilpädagogische Einheit in der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg, wohin ihn deren Leiter Franz Nissl geholt hatte. Er begegnete seinen Patienten mit einem psychodynamischen Verständnis, das deutlich von der Psychoanalyse geprägt war. Im Nachruf auf ihn im »Zentralblatt für

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Psychotherapie«, dem Mitteilungsorgan der Allgemeinen Ärztlichen Gesell­ schaft für Psychotherapie (1930, S. 25), heißt es, es habe sich in ihm ein »vorsichtiger kritischer Klinizismus und verständnisvolle psychologische Aufgeschlossenheit markant« verbunden. Auch geht aus diesem Nachruf hervor, dass seine psychiatrisch-neurologische Poliklinik für lange Jahre »die einzige psychotherapeutisch-praktische Ausbildungsstätte an einer Universität« (ebd.) war. Unter seinen Volontärärzten befand sich auch Julia Mannheim, die Ehefrau des Soziologen Karl Mannheim und spätere Psy­ choanalytikerin (Winship 2003, S. 43). Bezogen auf Homburger ist die medizinhistorische Forschungssituation dürftig. Sanatorium Dr. Reichmann: Von 1925 bis Anfang 1928 war Rothschild als der einzige psychiatrisch-psychotherapeutische Assistent im Sanatorium von Frieda Reichmann (später Fromm-Reichmann) in Heidelberg in der Mönchhofstraße angestellt.

14 Rothschild an Klages Frankfurt, 5. IV. 30 Sehr verehrter Herr Klages, Heute ist ein Sonderdruck der Arbeit über »links und rechts« an Sie abgegangen. – Verzeihen Sie, wenn ich gleichzeitig damit noch einmal auf die Bescheinigung für das Gesuch an die Notgemeinschaft zurückkomme. Es wäre für mich sehr wichtig, bald Klarheit darüber zu gewinnen, ob ich mit einem Stipendium rechnen kann, da meine wirtschaftlichen Dispositionen für das nächste Jahr weitgehend davon abhängig sind, und deshalb bitte ich Sie bei dieser Gelegenheit nochmals um die baldige Zusendung der Bescheinigung. An sich passt es gar nicht zu der Stellung, die Sie für mich haben, dass ich mit dergleichen persönlichen Anliegen an Sie herantrete. Aber durch den Zwang der Verhältnisse ergab es sich so. Es grüsst Sie ergebend Ihr Friedrich Rothschild Original: Hs, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/9

Sonderdruck der Arbeit über »links und rechts«: die nunmehr in der »Zeit­ schrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« veröffentlichte Arbeit Rothschilds »Über Links und Rechts«, deren Manuskript ein Jahr zuvor den Anlass für den Beginn der Korrespondenz gegeben hat.

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14 R vom 5.4.1930 im Original

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15 Klages an Rothschild Kilchberg, den 7. April 1930 Herrn Dr. Friedrich S. Rothschild Neurologisches Institut Frankfurt a. M. Sehr geehrter Herr Doktor, Verbindlichen Dank für Ihre freundlichen Schreiben vom 25. März und 5. dieses nebst Einlagen sowie für den soeben erhaltenen Son­ derabzug Ihrer Arbeit. Die Verzögerung meiner Antwort erklärt sich folgendermassen. Meine Abwesenheit von Kilchberg ging weit über den anfangs festgesetzten Termin hinaus. Bei Rückkunft sah ich mich genötigt, mindestens eine Woche lang Korrespondenzen zu erledigen, die inzwischen verschoben waren. Endlich hatte ich Besuch von mehre­ ren durchreisenden Bekannten und Freunden. Ich hoffe, dass beiliegende »Erklärung« zum gewünschten Erfolg kräftig mitbeitragen wird! Ihre Arbeit abermals durchzustudieren, fand ich natürlich noch keine Zeit, freue mich aber auf die zusammen­ hängende Lektüre der neuen Fassung. Inzwischen hatte ich Gelegenheit, mit einem ausgezeichneten Ken­ ner neurologischer und psychiatrischer Kliniken im Hinblick auf Ihre Wünsche zu sprechen. Dieser nun erklärte sofort, in einem solchen Falle wäre es unbedingt das Beste, wenn der betreffende Psychiater sich wenden würde an: Herrn Dr. Adolf Meyer, Direktor der Psychopathic Clinic, John Hopkins Hospital, Baltimore (USA). Erstens nämlich gelte für amerikanische Verhältnisse überhaupt, ganz besonders aber für genannte Klinik, dass, wer nur irgendwelche gedanklichen – sozusagen – Novitäten bringe, sofort gänzlich freie Hand und überwältigend viel Musse habe, um der Ausarbeitung seiner Forschungsgesichtspunkte nachzugehen. Zweitens sei der Direktor der Klinik mit meinen Schriften sehr genau vertraut und warte gewissermaßen nur darauf, dass jemand komme, der einen Weg zeige, wie sie auf neurologische Fragen und Verwandtes (einge­ rechnet die übrigens in Amerika übliche Psychologie) Anwendung fänden. – Ich weiss ja nicht, ob Sie geneigt wären, mal einige Zeit in dem – mir unsympathischen – Amerika zu verbringen. Das aber ist gewiss, dass an der genannten Klinik die Verhältnisse für Ihre Zwecke ganz ausserordentlich günstig lägen; denn mein Gewährsmann ist

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zuverlässig. Er fügte auch noch hinzu, dass unlängst dort mit Erfolg Prof. P. Schilder gewesen sei, der sich jetzt in New York befinde. Mit freundlichen Grüssen Ihres sehr ergebenen: LKlages Beilage erwähnt. Original: Ts, Adresse links oben schräg überstempelt: »Seminar für Ausdrucks­ kunde Kilchberg«, hschr. korr., Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/5

Kilchberg, den 7. April 1930 E r k l ä r u n g. -–––––––––––––Hiermit erkläre ich, dass Herr Dr. Friedrich S. Rothschild (Frankfurt a. M.) sich mit der Wissenschaft von den Ausdruckserscheinungen eingehend befasst und zumal die Abhängigkeit der Expressionen vom vegetativen Nervensystem zum Gegenstand seiner Forschungen gemacht hat. Nach seinen bisherigen Leistungsproben zweifle ich nicht daran, dass seine Untersuchungen wesentliche Erfolge verspre­ chen, und könnte daher eine Unterstützung durch die »Notgemein­ schaft deutscher Wissenschaft« nur begrüssen. Original: Ts, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/5

Sonderabdruck: die 1930 in der »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« veröffentlichte Arbeit Rothschilds: »Über Links und Rechts. Eine erscheinungswissenschaftliche Untersuchung«. ausgezeichneten Kenner neurologischer und psychiatrischer Kliniken: nicht eindeutig belegbar. Es kann sich aber nur um Hans Prinzhorn handeln, der sich im Herbst 1929 bei einer Vortragsreise durch die USA auch bei Adolf Meyer in Baltimore aufhielt (Brief Prinzhorn an Klages 10.11.1929, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11620/34). Dr. Adolf Meyer: Adolf Meyer (1866 bei Zürich – 1950 Baltimore) war ein amerikanischer Psychiater Schweizer Herkunft, Schüler des Psychiaters Auguste Forel und des Neuropathologen Constantin von Monakow. Er war offen gegenüber psychodynamischen Verstehensweisen und der Psycho­ analyse, bereitete nach Conci (2000, S. 43–61) der Freudrezeption in Ame­ rika den Boden, beeinflusste u.a. dank einer Vielzahl von Schülern die ame­ rikanische Psychiatrie und vertrat eine therapeutisch optimistische psychotherapeutische Herangehensweise. Er hatte den Patienten in seiner Individualität und der auf ihn einwirkenden sozialen Umwelt im Blick. Die

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Bezeichnung »schizophrene Reaktion« – statt Schizophrenie –, die sich mehrere Dekaden lang in der amerikanischen Psychiatrie hielt, geht auf ihn zurück. Sie steht für eine bedeutend weniger enge und festschreibende Handhabung diagnostischer Vorgehensweisen, als sie in der europäischen, von Kraepelin bestimmten psychiatrischen Nosologie üblich wurden. Unter anderen waren Harry Stack Sullivan und Theodore Lidz stark von Meyer beeinflusst. Er war Professor am Johns Hopkins Hospital in Baltimore und wurde 1913 Direktor der neu eröffneten Henry Phipps Psychiatric Clinic und blieb in dieser Position bis 1940 (s. vor allem Peters 1990). Im Brief an Klages vom 10.11.1929 aus Chicago (a.a.O.) charakterisiert Prinzhorn die Arbeit dort wie folgt: »Meyer kann man nur im eigenen Hause gerecht wer­ den. Was er da pädagogisch-patriarchalisch-pestalozzisch leistet, ist tat­ sächlich ein Unikum an demokratischer Zusammenarbeit. So hätte ich Psychiatrie lernen mögen! Dann hätte ich mich auch im Neurologischen und Hirnpathologischen ganz heimisch gemacht. Überall fand ich Methoden und Anschauungen realisiert, die ich in Heidelberg gesucht, gewünscht, im Burg­ hölzli in unzulänglichen Andeutungen gefunden habe; überall einfacher praktischer Verstand als Basis und darüber elastisches Spiel mit allen Mög­ lichkeiten systematischer Arbeit. Auch die wunderliche Mischung von Weit­ blick und vorsichtig-pedantischer Enge wurde nun verständlich: solch eine Klinik als Forschungsanstalt von Rang zugleich zu führen, verlangt [...] äußerste Konsequenz in einer Hinsicht: jedem so gerecht werden, wie es für dieses Ganze als einen ›sozialen Organismus‹ am besten ist. Und dies sel­ tene Talent hat er«. Im selben Brief berichtet Prinzhorn, Klages’ »Bildnis« hinge »in einem Rahmen mit Stumpf und Mach gleich beim Eingang seines Büros« und Meyer habe fast alles von Klages gelesen, ließe aber »in sehr wohlwollender Weise« die »Hauptsache, den Gegensatz Geist-Leben, als Willkür freundlich nachsichtig« beiseite (a.a.O.). Dr. P. Schilder: Paul Schilder war einer der ersten Psychoanalytiker, die die Psychoanalyse in die Psychiatrie einbrachten. 1925 erschien seine Arbeit »Entwurf zu einer Psychiatrie auf psychoanalytischer Grundlage«. Die Beschäftigung mit der Psychoanalyse brachte Schilder Ablehnung ein, und er verließ die Psychiatrische Klinik in Wien, um 1928 für ein Semester der Einladung Meyers zu folgen, an seiner Klinik zu unterrichten. Er wurde 1930 der Clinical Director der Psychiatric Division des Bellevue Hospitals in New York, entschied sich bald darauf, in Amerika zu bleiben und lehrte an der New York University (s. u. a. Mühlleitner 2005). In seiner ersten Arbeit während seiner Assistenzzeit in der Nervenheilanstalt Berlin-Herzberge, die den Titel »Die primäre Insuffizienz der nervösen Organe« trägt, bezog sich Rothschild auf Schilder.

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16 Rothschild an Klages Frankfurt a. M., den 11. IV. 30 Sehr verehrter Herr Klages! Besten Dank für Ihr freundliches Schreiben und die beigefügte Erklä­ rung. Inzwischen hat es der Zufall ergeben, dass ich für das nächste halbe Jahr vertretungsweise eine Stelle im Hirnverletztenheim in Frankfurt a. M. übernehmen kann, die mich nicht mehr als 2 Stunden täglich beschäftigen wird, mir also die Möglichkeit lässt, mich in der med. Klinik weiter auszubilden und auch wissenschaftlich zu arbeiten, und für meine Bedürfnisse ausreichend bezahlt wird. Ich werde also mein Gesuch an die Notgemeinschaft vorläufig zurückstellen. Insbesondere danke ich Ihnen aber für Ihre Erkundigungen und die Mitteilung über die günstigen Arbeitsbedingungen am John Hopkins Hospital, Baltimore. Wenn mich auch der Gedanke, nach Amerika zu gehen, zunächst sehr befremdet, – ich teile Ihre Antipathie gegen die Amerikaner und hatte nie den Wunsch, Amerika zu sehen – die Vorstellung dort einmal 2 – 3 Jahre ohne Sorgen meinen wissen­ schaftlichen Arbeiten nachgehen zu können, hat etwas außerordent­ lich Verlockendes für mich. Außerdem wurde mir Herr Dr. Adolf Meyer als ein weitsichtiger Mann geschildert. Ich möchte also die Sache ins Auge fassen und mich um eine Stelle dort bewerben. Darf ich dazu noch einmal auf Ihre Empfehlung rechnen? Ich würde Ihnen einen Durchschlag des Bewerbungsschreibens zugehen lassen und Sie bitten, ein paar Zeilen Herrn Dr. Meyer entweder direkt zu senden oder an mich zu schicken, damit ich sie beilegen kann. Hoffentlich brauche ich Sie dann in dergleichen Dingen nicht mehr zu belästigen. Zur Zeit bin ich damit beschäftigt, Ihre Werke im Hinblick auf die von mir beabsichtigten Untersuchungen noch einmal durchzustudieren, alle wichtigen Stellen auszuziehen und sie nach den für mich maßge­ benden Gesichtspunkten zusammenzustellen. Ich wünschte nur, dass der 3. Band vom »Geist als Widersacher der Seele« im Laufe des Jahres erschiene, weil er sicher – das habe ich aus Ihren Mitteilungen in Kilchberg gespürt – manches für den Biologen Wichtige enthalten wird (z.B. wohl eingehendere Darlegungen über die Wesensverschie­ denheit von Pflanze und Tier).

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Ich bin in Verehrung Sie grüssend Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, Briefkopf »Neurologisches Institut der Universität« DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/10 Kopie: Nachlass Rothschild

eine Stelle im Hirnverletztenheim in Frankfurt a. M.: Als Volontärarzt war Rothschild ab April 1928 am Neurologischen Institut der Universität und im Hirnverletztenheim tätig (Zeugnis Goldstein, Nachlass Rothschild). Es wurde durchgängig nur ein Assistent von Goldstein für seine Arbeit bezahlt und das war der Neurologe Walther Riese (1890–1976) (Kreft 2005, S. 231). Die Bemerkung bezieht sich wahrscheinlich darauf, dass er erstmalig eine bezahlte Stelle im Hirnverletztenheim übernehmen konnte. Dr. Adolf Meyer: s. Anmerkung zum Brief 15 K.

17 Klages an Rothschild Kilchberg, den 15. April 1930 Sehr geehrter Herr Doktor: Mit Vergnügen werde ich den von Ihnen gewünschten Begleitbrief schreiben; es ist mir sogar ganz willkom­ men, auf diese Weise wenigstens indirekt – mit Herrn Dr. M. eine Verbindung zu knüpfen. Schicken Sie mir also gelegentlich Ihren Entwurf, damit ich nicht Unnötiges wiederhole; ich sende Ihnen dann meinen Brief als Beilage zu Ihrem Entwurf. – Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer äußerst günstigen Stellung! Leider bin ich augenblick­ lich vom schlimmsten Zahnweh verheert und schließe deshalb mit freundlichen Grüssen als Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Postkarte, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/6

Begleitbrief: im Anhang von Brief 19 K.

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18 Rothschild an Klages Frankfurt a. M., den 22. IV. 30 Sehr verehrter Herr Klages! Vielen Dank für Ihre freundliche Karte mit der zusagenden Antwort. Ich schicke Ihnen den Entwurf des Bewerbungsschreibens schon heute, um über die Möglichkeit in Baltimore bald klar zu sehen. Es grüsst Sie ergebenst Ihr Friedrich Rothschild Original: Ts, hschr. korr. Briefkopf »Neurologisches Institut der Universität«, Kurzbriefformat, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/11

Entwurf des Bewerbungsschreibens: s. Beilage wie folgt.

18a Anhang Herrn Dr. Adolf Meyer Direktor der Psychopathic-Clinic Baltimore John Hopkins Hospital Sehr geehrter Herr Doktor! Ich folge dem Rat eines Kenners neurologischer und psychiatrischer Kliniken, wenn ich mich mit diesem Brief an Sie wende. Bei einem mehrjährigen Studium der Wissenschaft von den Aus­ drucksbewegungen und -erscheinungen glaube ich Wege gefunden zu haben, die Ergebnisse und Methoden dieser Wissenschaft in einer bisher nicht üblichen Weise für die Medizin und Biologie fruchtbar zu machen. Ein Teil der schon durchgeführten Untersuchungen ist kürzlich unter dem Titel »Über Links und Rechts« in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie Band 124 Heft 3/4 veröffentlicht worden. Aus dieser Arbeit wird die Richtung des ein­ geschlagenen Forschungsweges kenntlich, einen richtigen Eindruck von der Bedeutung und Gültigkeit der Resultate kann sie aber noch nicht vermitteln, da dazu eine umfangreichere Mitteilung des Ausgangsmaterials und die Darlegung einer ganzen Anzahl weiterer Ergebnisse notwendig wäre. Schon in dieser Arbeit, noch mehr aber

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in den von mir beabsichtigten Untersuchungen stehen Probleme der Psychiatrie und Neurologie im Vordergrund. Außerdem möchte ich erwähnen, dass die Theorien und Gedankengänge von Ludwig Kla­ ges – was man bei ausdrucks- und erscheinungswissenschaftlichen Forschungen ja nicht weiter begründen braucht – eine maßgebende Bedeutung für die Untersuchungen haben. Ich sehe mich nun nach einer Stellung um, in der diese wissenschaft­ lichen Arbeiten im Vordergrund zu stehen vermöchten, der Kontakt mit der Klinik und der praktischen Arbeit aber trotzdem erhalten bliebe. Die Eigenart der Untersuchungen verlangt nämlich die Kennt­ nis und Einbeziehung eines sehr großen Tatsachenmaterials, das nicht nur verschiedenen medizinischen Fachgebieten, sondern auch der Psychologie und Philosophie angehört, und dessen Erarbeitung neben einer mit ganz anderen Aufgaben ausgefüllten Berufstätigkeit nur schwer möglich ist. Nach den mir zugekommenen Mitteilungen sollen nun die Bedin­ gungen für die Ausarbeitung weitgesteckter Forschungsaufgaben an Ihrer Klinik sehr günstig sein und Sie, sehr geehrter Herr Doktor, außerdem ein besonderes Interesse für die Anwendung ausdrucks­ wissenschaftlicher Prinzipien in der Psychiatrie besitzen. Ich erlaube mir deshalb die Anfrage, ob ich an Ihrer Klinik eine Stellung als Assistenz oder wissenschaftlicher Arbeiter erhalten könnte, in der ich die oben angedeuteten Aufgaben durchzuführen vermöchte. Ich bin 30 Jahre alt, deutscher Staatsangehöriger, habe an der Univer­ sität Giessen und München studiert und 1923 mein Staatsexamen gemacht. Während meines praktischen Jahres war ich ungefähr 1/2 Jahr an der Irrenanstalt Herzberge bei Berlin psychiatrisch tätig und hatte während dieser Zeit die Möglichkeit, mich an dem Berliner Psychoanalytischen Institut eingehend mit der Freud’schen Lehre zu befassen. Nach meiner Approbation im Jahre 1924 war ich 3/4 Jahre bei Herrn Professor Homburger an der Poliklinik der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, dann etwa 3 Jahre als Assistent an dem Sanatorium der Frau Dr. Fromm-Reichmann mit vorwiegend praktisch-psychotherapeutischen, insbesondere psychoanalytischen Arbeiten. In Heidelberg habe ich eine eingehende Lehranalyse nach der Freud’schen Methode von über einem Jahr Dauer durchgemacht. Seit 1928 arbeite ich bei Herrn Professor Goldstein an dem Neurolo­ gischen Institut der Universität Frankfurt a. Main und dem Hinver­ letztenheim Frankfurt a. Main, um mich neurologisch auszubilden. Beglaubigte Abschriften der Zeugnisse meiner Tätigkeit nach der

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Approbation lege ich dem Briefe bei. Einen Sonderdruck der oben erwähnten Arbeit lege ich dem Briefe bei. Ein Sonderdruck der oben erwähnten Arbeit geht mit gleicher Post an Sie ab. Außerdem kann ich Schreiben der Herren Professor Goldstein und L. Klages beifügen, die diese Herren die Freundlichkeit hatten, mir zur Verfügung zu stel­ len. Ich bitte Sie nun, sehr geehrter Herr Doktor, mir mitzuteilen, ob eine Anstellung an Ihrer Klinik möglich ist, und wenn ja, mit welchen Aufgaben sie verknüpft ist, und wie die wirtschaftlichen und sonstigen vertraglichen Bedingungen sind. Als Antrittstermin wäre für mich ein Zeitpunkt im letzten Viertel dieses Jahres, oder im ersten Viertel des nächsten Jahres am geeignetsten. Erwähnen möchte ich noch, dass ich in der englischen Sprache einen mehr­ jährigen Unterricht während meiner Schulzeit durchgemacht habe, den ich sofort wieder aufnehmen und ergänzen würde, wenn mein Hinübergehen feststünde. Indem ich Ihrer gefälligen Antwort entgegensehe, bin ich mit vorzüglicher Hochachtung Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.1189/13

19 Klages an Rothschild Kilchberg, den 28. April 1930 Herrn Dr. Friedrich Rothschild Gartenstr. 6 Frankfurt a. M. Sehr geehrter Herr Doktor, anbei mein Schreiben an Herrn Dr. Meyer zu Ihrer Verwendung. Die Kopie Ihres Briefes an ihn befindet sich noch in meinen Mappen. Sollten Sie das Dokument jedoch brauchen, so bitte ich um eine Zeile, damit ich es Ihnen sofort zurücksende. Ich wünsche Ihnen den besten Erfolg und werde mich freuen, gelegentlich wieder von Ihnen zu hören. Mit freundlicher Begrüssung Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg«, Kurzbriefformat. Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach Nachlass Klages 61.6792/7

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19a Anhang Kilchberg, den 28. April 1930 Herrn Dr. Adolf Meyer Direktor der Psychopathic-Klinik John Hopkins Hospital Baltimore Sehr geehrter Herr Doktor, durch einen befreundeten Neurologen erfuhr ich, dass Sie mit meinen charakterologischen und ausdruckstheoretischen Forschungen ver­ traut sind und einer Anwendung mancher meiner Ermittlungen auf das Gebiet der Seelenheilkunde Interesse entgegenbringen. Unter solchen Umständen ergreife ich doppelt gern die Gelegenheit, mit diesen Zeilen eine, wenn auch vorerst nur mittelbare, Verbindung herzustellen, indem ich die Darlegungen von Herrn Dr. Fr. Rothschild (Frankfurt a. M.) durch Empfehlung desselben unterstütze. Herr Dr. Rothschild hat sich eingehend sowohl mit Nervenphysio­ logie als auch mit Ausdruckswissenschaft befasst und besonders in der noch kaum begangenen Richtung der Erschliessung des Ausdrucksgehalts solcher Erscheinungen, die in erster Linie vom vegetativen Nervensystem abhängen, Schritte getan, die abgesehen von gewissen bereits vorliegenden Ergebnissen weitere und grössere nach meinem Dafürhalten versprechen. Es sollte mich freuen, wenn grade Ihre Klinik es wäre, die ihm die Fortsetzung seiner Studien ermöglichen würde. Mit den besten Empfehlungen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/8

Durch einen befreundeten Neurologen ... Interesse entgegenbringen: S. die Anmerkungen zu 15 K: Klages wusste vom Interesse, das Meyer sei­ nen Arbeiten gegenüber aufbrachte durch Prinzhorn, der sich 1929 bei Meyer aufhielt.

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20 Rothschild an Klages Frankfurt, 1. V. 30 Sehr verehrter Herr Klages, ich habe Ihre freundlichen Zeilen und das für mich so günstige Emp­ fehlungsschreiben erhalten. Vielen Dank! Die Kopie des Briefes an Herrn Dr. M. brauche ich nicht mehr. Sobald sich in der Angelegenheit etwas ergeben hat, werde ich mir erlauben, Ihnen zu berichten. Es grüsst Sie ergeben Ihr Friedrich Rothschild Original: Hs, Postkarte, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/12

21 Rothschild an Klages Frankfurt a. M. den 24. 8. 30 Sehr verehrter Herr Klages, erst jetzt im August habe ich Antwort von Herrn Prof. Meyer auf meine Anfrage erhalten. Prof. Meyer hatte einen Mitarbeiter, der sich gerade in Frankfurt befand, beauftragt, sich mit mir in Verbindung zu setzen und mir mitzuteilen, dass zur Zeit keine offene Stelle bei ihm vorhanden ist, man aber an spätere Pläne denken könne. Diese Verbindung war aber nicht zustande gekommen, und so wartete ich erst sehr lange, bis ich nochmals bei ihm anfragte, und dann obige Mitteilung erhielt. Inzwischen habe ich eine Assistentenstelle an der Frankfurter Ner­ venheilanstalt in Köppern i. Taunus zum 1. Okt. angenommen. Die Erlangung eines Stipendiums wäre bei der jetzigen düsteren wirtschaftlichen Lage in Deutschland doch recht schwierig gewesen, und auch im günstigen Falle hätte ich nach verhältnismäßig kurzer Zeit erneut vor Existenzfragen gestanden. Die Anstalt in Köppern ist eine Art Sanatorium für Kassenpatienten mit recht vielseitigem Krankenmaterial, zum Teil mitten im Walde gelegen. In den Winter­ monaten soll dort nicht allzuviel zu tun sein. Es ist sehr ruhig da und darauf freue ich mich. Es wird sicher Musse zu wissenschaftlicher Arbeit geben.

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Ich sehne mich doppelt danach, da ich in den letzten Monaten viel mehr von Berufsarbeit in Anspruch genommen war, als ich vorausge­ sehen hatte. Ich habe wissenschaftlich nicht viel tun können, doch hat sich einiges ergeben, und neue Fragestellungen sind entstanden. Zur Ergänzung einer Lücke der Links-Rechts-Arbeit möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich den bestimmten Eindruck bekommen habe, dass bei den Wirbellosen prinzipiell die gleiche Charakterverschiedenheit der Seiten besteht wie bei dem Menschen und den Wirbeltieren. Es gibt hier besonders eindringliche Beispiele, besonders bei dem Bau der Schnecken. Die Arbeit hat Zuschriften und persönlichen Bemerkungen nach relativ viel Interesse gefunden. Im Juliheft des Zentralblattes für Psychotherapie ist eine sehr eingehende und verständnisvolle Bespre­ chung erschienen, in der der Referent (Kunz, Basel) unter anderem schreibt, dass die Arbeit von prinzipieller Bedeutung sei »insofern sie eine bestimmte metaphysische Position für die empirische Forschung fruchtbar mache«. Es wird mir eine große Freude sein, Ihnen gelegentlich wieder schrei­ ben zu dürfen. Ich bin Sie verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/13 Kopie: Nachlass Rothschild

Prof. Meyer hatte einen Mitarbeiter... beauftragt: Es ist kein eindeutiger Beleg hierfür vorhanden. Es kann sich abermals jedoch nur um Hans Prinzhorn handeln, der zeitweise in Frankfurt am Main lebte und Meyer im Jahr zuvor aufgesucht hatte. Aus dem einzigen auffindbaren Brief von Prinzhorn an Rothschild – er ist vom 12.08.1930 – geht hervor, dass beide sich vorher bereits kennengelernt hatten. dass bei den Wirbellosen prinzipiell die gleiche Charakterverschiedenheit besteht wie bei dem Menschen und den Wirbeltieren: Rothschild verfasste hierzu eine Arbeit »Von dem Zusammenhang zwischen Bau und Funktion im Nervensystem wirbelloser Tiere«, die er versuchte, 1935 bei einer Fach­ zeitschrift unterzubringen, was von den angeschriebenen Wissenschaftlern abgelehnt wurde. Ein Typoskript befindet sich im Nachlass Rothschild. Kunz (Basel): Hans Kunz (1904–1982) war ein Schweizer Philosoph, Psy­ chologe und Botaniker. Er habilitierte sich 1945 für Psychologie und philo­

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sophische Anthropologie in Basel. Mit Felix Schottlaender und Alexander Mitscherlich gründete er 1947 die Zeitschrift »Psyche«. Unter den über 900 Rezensionen, die er verfasst hat, findet sich auch eine umfangreiche positive Besprechung der Links-Rechts-Arbeit von Rothschild im »Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete« (1930a), in der er vor allem eine eigenständige Kurzwiedergabe des komplizierten Inhalts unternimmt. U.a. befasste sich Kunz mit Klages, ohne ein dezidierter Anhänger gewesen zu sein. Beispielsweise befindet sich im selben Heft des »Zentralblattes für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete« (1930b) auch eine längere Arbeit zu Klages. Näheres zu Kunz s. Singer (2011).

22 Klages an Rothschild Kilchberg, den 29. August 1930 Herrn Dr. Friedrich S. Rothschild Gärtnerweg 50 Frankfurt a. M. Sehr geehrter Herr Doktor, es ist kurios; vorigen Dienstag wollte ich Ihnen schreiben, und am darauffolgenden Tage kommt ein Brief von Ihnen! Bevor ich auf dessen mir sympathischen Inhalt zurückkomme, will ich nun aber doch erst vortragen, weswegen ich Ihnen zu schreiben gedachte. Es handelt sich um eine Bitte, unter der Voraussetzung jedoch, dass Sie mit deren Erfüllung nicht mehr als etwa eine Viertelstunde verlören. Ich hatte seinerzeit durch Güte der Direktion von Burghölzli den I. Band des Handbuchs der Geisteskrankheiten mit dem Aufsatz von Stein für wenige Tage geliehen bekommen. Grade damals erkrankte ich leider, habe dann die Arbeit zwar durchstudiert, aber, um das Buch nicht zu lange zurückzubehalten, einige Notizen unterlassen, die mir wichtig gewesen wären. Vielleicht sind Sie in der Lage, eine Angabe für mich nachzuschlagen, falls nämlich das Werk für Sie griffbereit sein sollte. Es handelt sich um folgendes. Die im allgemeinen für meine Zwecke nicht eben erhebliche Abhandlung Steins (an der auch Palágyi kaum sonderliche Freude gehabt hätte) bringt ein paar interessante Daten. Analog den sog. Chronaxiebestimmungen sollen auch für die Sensi­ bilität mittelst elektrischer Reizung Erregungszeitwerte festgestellt worden sein, wobei sich ergeben habe, dass weitaus am schnells­ ten der Drucksinn erregt werde, beträchtlich langsamer schon der

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Gesichtssinn, noch langsamer andre Sinne. Wenn ich nicht irre, hat der Verfasser selbst solche Untersuchungen angestellt; ausserdem wird (ich glaube wenigstens) Fröhlich genannt. Ich habe nun leider verabsäumt, im sehr umfassenden alphabetischen Literaturverzeich­ nis (am Schluss der nächsten Abhandlung) nachzusehen, wo die betreffende Publikation sei es von Stein selbst, sei es von Fröhlich zu finden ist. Es würde mir schon genügen, sie lediglich durchzublättern, weil es mir nur auf eines ankommt. – Elektrische Reizungen sind inadäquate Reizungen. Ich wüsste nun gern, was anlässlich solcher sehr kurz dauernden Reizungen von den Versuchspersonen eigent­ lich erlebt wurde (z.B. ob klar erkennbare Drucke oder visuell etwa Farbenerscheinungen oder nur subjektive Irritationen usw.). Darum müsste ich von einer der beiden Abhandlungen Kenntnis nehmen. – Bitte, nochmals gesagt, bemühen Sie sich nicht, falls die Sache Schwierigkeiten hat. Ich könnte dann hier schon einige »jüngere Kräfte« mobilisieren, die nochmals im Burghölzli für mich nachschla­ gen. Nun noch zu Ihren Zeilen! Wenn ich es auch bedaure, dass aus Ihren amerikanischen Plänen vorerst nichts geworden ist, so möchte ich doch glauben, dass grade in diesem Falle »aufgeschoben nicht aufgehoben« sei. Dem Links-Rechts-Problem bis in die Welt der Wirbellosen nachzugehen, halte ich für einen äusserst glücklichen Gedanken, den Sie nicht aus dem Auge lassen sollten! – Die Bespre­ chung von Kunz, von dem ich schon wiederholt gehört habe, würde mich interessieren. Ich werde sehen, das betreffende Heft an der hiesigen Zentralbibliothek zur Einsicht zu bekommen. Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/9

Burghölzli: Psychiatrische Universitätsklinik Zürich: sie erhielt unter der Leitung von Eugen Bleuler zwischen 1898 und 1927 eine psychotherapeu­ tische Ausrichtung, die sich aus der Auseinandersetzung Bleulers mit der Psychoanalyse Freuds ergab. C. G. Jung war dort als Psychiater in den Jahren 1900 bis 1909 beschäftigt. Zur Zeit des Anschreibens von Klages war Hans W. Maier der Direktor. Abhandlung Steins : Stein 1928, s. Brief 7 R und entsprechende Anmerkung.

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Chronaxiebestimmungen: definierter Vorgang der Bestimmung der Zeit, die notwendig ist, damit ein applizierter elektrischer Reiz zu einer Erregung führt, m.a.W. ein unterschwelliger Reiz überschwellig wird. Die Methode geht auf den französischen Neurologen Louis Lapicque (1907) zurück, der für die elektrische Reizapplikation die Fortschritte der Elektrophysiologie messmethodisch nutzbar machte. Sie kann ein Maß für die Excitabilität (Erregbarkeit) und ihre Veränderlichkeit liefern und wurde in der sog. Sen­ siblitätsforschung eingesetzt (s. nächsten Brief 23 R). Stein nun referiert zusammenfassend im zweiten Passus der »Pathologie der Wahrnehmung I.« (1928) über die Unterschiede in der Reizmessung für verschiedene Sinnes­ modalitäten. Die niedrigste Zeit wird bei Druckempfindungen gemessen, um ein Vielfaches höher ist der Chronaxiewert des Auges, derjenige des Vestibularapparates ist noch weiter erhöht. Ob man am Auge etwas anderes als Licht, nämlich Stromreizung, wie dies Klages meint, appliziert hat, geht aus der Zusammenstellung nicht hervor. Fröhlich wird von Stein als Aus­ nahme erwähnt, er habe Empfindungszeitmessungen vorgenommen ohne Verwendung der Chronaxie (Stein 1928, S. 359). Die Literaturangaben zu Stein finden sich nach dem zweiten Teil der »Patho­ logie der Wahrnehmung«, im »Handbuch der Geisteskrankheiten«, den W. Mayer-Gross als Autor zeichnete. Dort bezieht sich keine der Angaben auf Fröhlich, etliche auf Chronaxieversuche von Stein, darunter die Arbeit, die Rothschild Klages im nächsten Brief empfiehlt (23 R). Die Besprechung von Kunz: Hans Kunz (1904–1982), Schweizer Philosoph, Psychologe und Botaniker, ab 1951 als Extraordinarius Professur für Theore­ tische Psychologie und Philosophische Anthropologie an der Basler Univer­ sität, befasste sich mit Heidegger, Klages, Husserl, wirkte u.a. auf Gadamer (s. Singer 2011). Er rezensierte sehr ausführlich die Links-Rechts-Arbeit im Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete (1930).

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22 K vom 29.8.1930 im Original

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23 Rothschild an Klages Frankfurt, den 2. September 1930 Dr. Friedrich S. Rothschild Frankfurt a.M. Gärtnerweg 50 Sehr verehrter Herr Klages, es freut mich sehr, Ihnen den gewünschten kleinen Dienst erweisen zu können. Ich habe in der Stein’schen Abhandlung nachgeschlagen, aber die dort angegebenen Arbeiten von Stein selbst – die neueste lautet: Chronaxie der Sensibilität, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 100, S. 221 – enthalten, soweit ich mich in ihnen orientiert habe, keine Angaben in der Sie interessierenden Frage. Dagegen fand ich diesbezügliche Mitteilungen in den Referaten der Arbeiten eines der bekanntesten französischen Forscher auf diesem Gebiet: Bourguignon, Georges: »Chronaxies sensorielles cutanées chez l’homme normal«. C.r. Acad. Sci. Paris 189, S. 305–308 (1929), referiert im Zentralblatt für d. ges. Neurol. u. Psych. Band 55, S. 34, 1930. Aus­ serdem: Bourguignon, Georges Un nouveau chapitre en électrodiag­ nostic: La chronaxie du système optique chez l’homme. Archiv d‘électr. Méd. Jg. 33, Nr. 509, S. 49–50 (1925), referiert im Zen­ trlbl. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 44, S. 174 (1926). Beide Referate enthalten genaue Angaben über die bei der Untersuchung erlebten Qualitäten. Von Fröhlich berichtet Stein nur, dass er Empfindungszeitmessungen vorgenommen habe, nicht, ob bei diesen Versuchen adäquate oder inadäquate Reizmethoden verwandt wurden. Irgendeine Literatur­ angabe über Arbeiten von Fröhlich ist in dem Verzeichnis ausserdem nicht enthalten. Eine für Sie wahrscheinlich leichter erreichbare deutsche Original­ arbeit auf diesem Gebiete ist: H. Altenburger und F.W. Kroll: Die vegetative Beeinflussung des optischen Systems (Zugleich eine Methode zur Bestimmung der Intensitäts- und Zeitschwelle mit adäquaten Lichtreizen). Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 124, 1930, S. 527–537. Diese Arbeit enthält auch Chronaxieversuche mit elektrischen Reizungen des Auges. Der folgende Aufsatz in diesem Band von denselben Autoren: »Über die suggestive Beeinflussung der Sensibilität« hat zwar mit Ihrer Frage nichts zu tun, wird Sie aber wahrscheinlich auch interessieren.

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Nach den Ergebnissen dieser Untersuchungen haben die Versuchs­ personen auch bei diesen ausserordentlich kurzen inadäquaten Rei­ zungen je nach dem Reizort qualitativ verschiedenartige, gut angeb­ bare Erlebnisse. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/14 Kopie: Nachlass Rothschild

H. Altenburger und F.W. Kroll: Die vegetative Beeinflussung...: Über die Methode der Chronaxiebestimmung (hier: das Auge wird Lichtreizen bestimmbarer Intensität und Dauer ausgesetzt) werden Aussagen darüber gemacht, inwieweit sich die »Intensivitäts- und Zeitschwelle« bei der Reiz­ aufnahme unter Hormon-, Pharmaka- und Ionengaben wie u.a. Adrenalin, Cholin verändern, wobei das »sympathicomimetische« Adrenalin und das »parasympathicuslähmende« Atropin zu einer Verlängerung der Zeit­ schwelle führen und es bei der Gabe des »parasympathicusmimetischen« Cholin zu einer Verkürzung der Zeitschwelle kommt. In der nachfolgend im selben Heft abgedruckten Arbeit (Altenburger, Kroll 1930b, S. 538–552) »Über die suggestive Beeinflussung der Sensibilität« untersuchen die Autoren die Beeinflussung der Reizreaktion durch Suggestion, einmal über die Chro­ naxiebestimmung, die hier als »eine sehr exakte Methode [...] zur Prüfung der Erregbarkeitsverhältnisse im afferenten System« (a.a.O., S. 539) bezeichnet wird, bei direkter elektrischer Reizung der Haut und wie zuvor beim durch Licht gereizten optischen System. Auch werden über Hautrei­ zung erfolgte Chronaxiebestimmungen bei Personen mit Sympathikuslä­ sion oder -extirpation vorgenommen, wobei es hier auf die Suggestion zu paradoxen Reaktionen kommt: Reizschwellenverkürzung bei der Sugges­ tion »Sie werden schlechter fühlen«, Reizschwellenverlängerung bei der Suggestion »Sie werden feiner fühlen«. Die Autoren diskutieren die Ergeb­ nisse skrupulös und differenziert.

24 Klages an Rothschild Kilchberg, den 12. September 1930 Sehr geehrter Herr Doktor: Herzlichen Dank für Ihre sehr ausführli­ chen und mir ungemein wertvollen Angaben! Ich zweifle nicht, dass schon die von Ihnen angegebenen Referate für meine Zwecke genug enthalten, werde aber auch noch die Abhandlung von Altenburger und

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956

Kroll zu erhalten suchen. Einstweilen nur dies und die freundlichsten Grüsse Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, Nachlass Rothschild

25 Klages an Rothschild Kilchberg, den 3. Oktober 1930 Herrn Dr. Friedrich S. Rothschild Köppern i. Ts. Frankfurter Nervenheilanstalten Sehr geehrter Herr Doktor: Noch einmal muss ich Sie heute mit einer Nachfrage belästigen. In Ihrem Brief vom 2. September hatten Sie mehrere Hefte des Zentralblatts für d. ges. Neurol. u. Psych. mit ein­ schlägigen Referaten angegeben. Zwei davon habe ich in Band 44 und 55 gefunden. Nun aber sprechen Sie auch noch von einer Arbeit: Altenburger u. Kroll und zitieren: Zeit. f. d. ges. Neurol. u. Psych. Bd. 124, 1930, S. 527–537. Nun gibt es aber gar keinen Band 124 dieser Zeitschrift im Jahre 1930. Auch scheint dieselbe nur Referate zu bringen. Im Band 55 findet sich auf Seite 29 ein Referat über die von Ihnen erwähnte Arbeit; und dort ist zitiert wörtlich: Z. Neur. 121, S. 139–185 (1929). Ich weiß nun nicht, was Z. Neur. heissen soll, vermute aber, dass dieses die von Ihnen gemeinte Originalabhand­ lung ist, neben der sich nach Ihren Angaben dann auch noch eine zweite Abhandlung befinden müsste, die mich interessieren würde. Könnten Sie mir hierüber noch eine Angabe machen? Das Juli-Heft 1930 des Zentralblatts f. Psychotherapie ist hier leider in keiner Bücherei zu haben. Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, Adresse hschr. korr., mit handschriftl. Vermerk »verzo­ gen nach«, die vorherige Adresse durchgestrichen. Nachlass Rothschild

Nun aber sprechen Sie auch noch von einer Arbeit: Altenburger u. Kroll...: Rothschild klärt mit Postkarte vom 05.10.30 [26 R] Klages darüber auf, dass es sich um zwei verschiedene Zeitschriften handelt.

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26 Rothschild an Klages Köppern, 5. X. 30 Herrn Dr. Ludwig Klages in Kilchberg (b. Zürich) Schweiz Sehr verehrter Herr Klages, die Zeitschrift und das Zentralblatt f. d. ges. Neurolog. u. Psych. sind zwei verschiedene Zeitschriften; die Zeitschrift enthält nur Original­ arbeiten, das Zentralblatt nur Referate. Durch den fast gleichen Titel hielten Sie beide für identisch. Es werden in den letzten 15 – 20 Jah­ ren soviel Originalarbeiten aus jedem Einzelgebiet der Medizin ver­ öffentlicht, dass jedes eine ganze Anzahl Zeitschriften mit natürlich sehr ähnlichen Titeln besitzt. Das von Ihnen zitierte Referat über Z. Neur. 121, S. 139–185 bezieht sich offenbar auf eine frischere Arbeit derselben Autoren in der Zeitschrift f. d. g. N. u. Psych. – Das JuliHeft des Zentralblattes f. Psychotherapie besitze ich persönlich, nur habe ich es zur Zeit leider verliehen. Sobald ich es zurückerhalten habe, werde ich es als Drucksache zur Einsichtnahme zusenden. Es grüsst Sie in Verehrung Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Hs, Postkarte, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/15

27 Klages an Rothschild Kilchberg, den 9. Oktober 1930 Sehr geehrter Herr Doktor: Das ist mir auch lange nicht begegnet, dass ich die Zeitschriftenangabe eines Zitates falsch lese! Also ver­ bindlichsten Dank für Ihren Hinweis; ich habe soeben das betreffende Heft der Zeitschrift erhalten. Mit freundlichsten Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, auf Adressseite kein Umzugsvermerk, Nachlass Roth­ schild

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28 Klages an Rothschild Kilchberg, den 21. Oktober 1930 Sehr geehrter Herr Doktor: Verbindlichen Dank für Ihre Literaturan­ gabe, durch die ich aufs beste zu meinem Ziel gekommen bin. Die zweite Arbeit von Kroll etc. über die suggestive Beeinflussung etc. ist seelenkundlich natürlich noch weit interessanter als die erste. Übrigens eine eigenartige Fügung, dass sie im gleichen Heft mit Ihrer Arbeit erschien; denn die Ergebnisse passen, wenn ich nicht irre, zu Ihren Annahmen wahrlich nicht übel! – Anbei als Drucksache mit Dank das Heft des »Zentralblatts für Psychotherapie«. Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, Anschrift hschr. korr., Nachlass Rothschild

Die zweite Arbeit von Kroll etc. über die suggestive Beeinflussung ... : s. 23 R und Anmerkungen. dass sie im gleichen Heft mit Ihrer Arbeit erschien: Beide in 23 R zitierten Arbeiten von Altenburger und Kroll sind im selben Heft der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 1930 erschienen wie die Arbeit Rothschilds »Über Links und Rechts«. denn die Ergebnisse passen, wenn ich nicht irre, zu Ihren Annahmen wahrlich nicht übel!: s. 4 a K und die dortige Anm. zu Sympathikus und Parasympa­ thikus.

29 Rothschild an Klages Köppern im Taunus, den 11. VI. 1931 Dr. med. Fr. S. Rothschild Assistenzarzt der Frankfurter Nervenheilanstalten zu Köppern i. T. Sehr verehrter Herr Klages! Als ich vor einem Jahr die Ehre hatte, Sie besuchen zu dürfen, hatte ich erwähnt, dass aus der von Ihnen entwickelten Seelenkunde heraus sich ganz neue Wege zum Verständnis des Aufbaus des Zentralnervensystems ergäben. Im Laufe des letzten Jahres habe ich nun das Material eingehend studiert und auch schon ungefähr die

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Hälfte der Untersuchungen niedergeschrieben. Der Titel des Ganzen soll lauten: »Vom Sinn im Aufbau des Zentralnervensystems der Wirbeltiere und des Menschen. Eine Erscheinungswissenschaftliche Untersuchung«, der Umfang etwa 100 – 120 Seiten betragen, um noch innerhalb einer Zeitschrift veröffentlicht werden zu können. Die Tendenz der Arbeit geht dahin, von der Physiologie als Mecha­ nismen abgestempelte Vorgänge auf ihre Wurzel im Seelischen zurückzuführen und dabei zu zeigen, dass damit nicht nur ein neues Verständnis der Eigenheiten der Funktion, sondern auch der Einzelheiten und Seltsamkeiten im Aufbau des Organs gewonnen wird. Die Physiologie des Zentralnervensystems ist ja wohl eines der in seinen Unterlagen schwächlichsten und angreifbarsten Kapitel der mechanisierenden Naturwissenschaft, und deshalb scheint mir gerade hier die Erscheinungswissenschaft eine fruchtbare Aufgabe zu haben. Zu der Aufgabe der Untersuchungen wäre noch manches zu sagen, nicht zum wenigsten, dass sie zu der in Ihrer Seelenkunde enthalte­ nen Physiologie die Anatomie lieferten. Aber im Grunde ist es ein tieferes Bedürfnis, das mich zu diesen Forschungen treibt. Ich sehe in den Formen des Zentralnervensystems einen unser heutiges Denken interessierenden und aufschlussreichen Niederschlag der Tiefe und Innigkeit der kosmischen Gebundenheit des Menschen und deshalb liebe ich dieses Thema. Längere Zeit spiele ich nun schon mit dem Gedanken, Sie zu bitten einige Fragen mit Ihnen persönlich besprechen zu dürfen. Ursprüng­ lich hatte ich die Hoffnung, bis zu meinen Ferien so weit zu sein, Ihnen evtl. das Ganze vorlegen zu können. Aber das wird nicht gehen. Ich werde bis zu meinen Ferien (5. bis 26. Juli) keinesfalls fertig wer­ den. Trotzdem würde ich mich sehr freuen, wenn ich Sie etwa am Anfang oder am Ende der Ferien einmal besuchen dürfte. Sollten Ihnen diese Tage nicht passen, so könnte ich es mir auch zu einem anderen Zeitpunkt innerhalb dieser drei Wochen einrichten. Ich will meine Ferien in den Schweizer Bergen verbringen, und von dort ist es ja nicht weit nach Kilchberg. Dem Brief lege ich eine Abschrift der Einleitung zu meiner Abhand­ lung bei, weil aus ihr Ausgangspunkt und Richtung wohl schon zu ersehen sind.

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In Erwartung Ihrer Antwort bin ich mit aufrichtiger Verehrung Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/16 vor einem Jahr: Rothschild hatte mehrere Unterredungen mit Klages zwi­ schen dem 27.2. und dem 3.2.1930 in Kilchberg (s. 11R und 12R). »Vom Sinn im Aufbau des Zentralnervensystems der Wirbeltiere und des Menschen. Eine Erscheinungswissenschaftliche Untersuchung«: Rothschild berichtet hier zum ersten Mal vom Beginn einer umfangreichen Arbeit, die er als Zeitschriftenartikel plant. Um einiges später und um einiges umfang­ reicher als angekündigt wird sie 1934 abgeschlossen und Mitte 1935 in einer Auflage von 400 Exemplaren beim Karger Verlag, Berlin, unter dem Titel »Symbolik des Hirnbaus. Erscheinungswissenschaftliche Untersuchungen über den Bau und die Funktion des Zentralnervensystems« veröffentlicht. Siehe zur Veröffentlichungsgeschichte das Kapitel »Zur Herausgabe der ›Symbolik des Hirnbaus‹ im Jahre 1935« auf den Seiten 55ff. Ich sehe in den Formen des Zentralnervensystems einen unser heutiges Denken interessierenden und aufschlussreichen Niederschlag der Tiefe und Innigkeit der kosmischen Gebundenheit des Menschen und deshalb liebe ich dieses Thema: Das ist ein zentraler Satz in Rothschilds Denken. Die Verbunden­ heit von allem ist einer der Kernpunkte der Klagesʼschen Philosophie, der ihn am meisten faszinierte und sich von den gestaltneurologischen Konzepten abhob. Abschrift der Einleitung zu meiner Abhandlung: Es findet sich ein Typoskript des Vorworts im Rothschild-Nachlass. Dies ist handschriftlich versehen mit der Datierung: »Februar 1935«. Die Fassung im Buch selbst endet mit einem zusätzlichen Passus, der auf den Zeitraum der Abfassung des Werks bezogen ist und Danksagungen enthält (1935, 2. Seite des Vorworts). Der Wortlaut des Vorworts wird hier wiedergegeben: Vorwort Obwohl Biologie und Medizin in den letzten Jahrzehnten nicht unfruchtba­ rer geworden sind in der Erschliessung bisher unbekannter Tatbestände des Naturgeschehens – man denke nur an die Ergebnisse der Vererbungs- und der Hormonforschung – so macht sich doch zunehmend eine Kritik und Ablehnung den Grundansichten gegenüber bemerkbar, von denen diese Wissenschaften beherrscht werden. Teils, wie etwa auf dem Gebiet der Ner­ venphysiologie, hat das unaufhaltsam anwachsende Tatsachenmaterial den alten Rahmen selbst gesprengt, mit dem das Denken der mechanistischen Epoche es um- und unterbaut hatte, teils aber, und das ist wichtiger, hat der Fortschritt in der Herausstellung immer neuer Mechanismen ein in gleichem

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Masse sich vergrösserndes Ungenügen hinterlassen, sobald man von der Kenntnis der Tatsachen zu der Frage nach ihrer Stellung und ihrem Sinn im Ganzen der Lebenserscheinung weiterging. Auf solche theoretischen und dann auch weltanschaulichen Fragen kann der in Mechanismen denkende Physiologe und Biologe keine oder nur oberflächliche Antworten geben, und am offenbarsten wird dieses Unvermögen, wenn man nach der Stellung des Seelenphänomens in dieser Welt der Mechanismen fragt. Die Wirklichkeit der Seele, die unmittelbarste und unbezweifelbare Seite unserer Wirklich­ keit, hat, sieht man genauer hin, in diesem System von Mechanismen keinen Platz, kann keinen Platz haben, weil sie für ein an Physik und Chemie herangewachsenes und geschultes Denken vollkommen unzugänglich ist. Diese Kluft haben auch die bisherigen vitalistischen Theorien nicht zu überbrücken vermocht, obwohl sie ihren Ausgangspunkt auf der anderen Seite, auf Seiten der Seele genommen haben; denn diese Lehren tragen noch nicht der Wesensverschiedenheit Rechnung, die zwischen Seelischem und Geistigem besteht. Hier haben erst die grundlegenden Untersuchungen von Palágyi und Klages über das Verhältnis zwischen seelischen Vorgängen und geistigen Akten ganz neue Ausblicke schaffen und jene von Klages neu begründete Ausdrucks- und Erscheinungswissenschaft entstehen müssen, ehe von der Seele her die Probleme fruchtbar angreifbar wurden. Auf der Grundlage der durch Klages und Palágyi gewonnenen Erkenntnisse setzt die vorliegende Arbeit ein. Sie ist ein Beitrag zur Klärung des Zusam­ menhangs zwischen Leib und Seele. Aber sie bringt keine abstrakte philoso­ phische Diskussion dieses Problems, sondern geht ihren Weg durch viele konkrete Einzeluntersuchungen an Hand der Morphologie und Physiologie des Zentralnervensystems. Sie stellt also die Frage nach dem Verhältnis zwischen Leib und Seele zunächst einmal dort neu, wo sie am brennendsten ist, in dem Verhältnis zwischen Gehirn und Seele, und sie kommt hier auch zu Antworten, wie sie in der scharfen Bestimmtheit ihrer Einzelangaben nicht möglich waren. Dieses Buch geht den Neurologen, Psychologen und Psychiater, aber auch den Physiologen und vergleichenden Anatomen an. Es macht es durch die Fremdheit und Ungewohnheit der Auffassungsweise und der angewandten Begriffe zunächst wohl nicht ganz leicht, von ihm in der richtigen Weise Kenntnis zu nehmen, aber wenn der Leser diese Schwierigkeiten überwindet und die Mühe der Vertiefung in eine anfänglich fremde Begriffswelt nicht scheut, die ihn im übrigen in die grundlegenden Theorien eines Klages und Palágyi einführen wird, dann dürfte er im Laufe der Untersuchungen Einsichten in Zusammenhänge gewinnen, die er mit seinen Methoden bisher vergeblich umworben hat. Der von dem in den Naturwissenschaften Überkommenen und Üblichen ferne Ausgangspunkt ist gerade die Voraus­ setzung, um sich von den Fesseln des mechanistischen und teleologischen Denkens zu befreien und im symbolischen Denken seinen neuen Weg zu finden. Gießen, Februar 1935 Der Verfasser

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30 Klages an Rothschild Kilchberg, den 16. Juni 1931 Herrn Dr. Fr. S. Rothschild Köppern i. Taunus Nervenheilanstalt Sehr geehrter Herr Doktor: Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 11. dieses. Ich werde mich freuen, Sie wiederzusehen, und möchte teils in Rücksicht auf den Beginn Ihrer Ferien, teils auf verschiedene Umstände, wegen deren die Endtage Ihrer Ferien für mich vielleicht weniger günstig lägen, Montag den 6. Juli in Vorschlag bringen. Ich würde Ihnen empfehlen, den Zug zu benutzen, der nachmittags 2.50 Uhr ab Zürich-Hauptbahnhof abfährt und um 3.07 Uhr in Kilchberg ein­ trifft. Wir tränken dann Kaffee zusammen und schlössen, wenn irgend möglich einen Spaziergang an. Vielleicht lassen Sie mich noch mit einer Zeile wissen, ob dieser Vorschlag Ihnen zusagt. Ihr Vorwort habe ich einstweilen noch hier behalten. Sollten Sie es vor Ankunft benötigen, so benachrichtigen Sie mich bitte. Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, vorherige Adresse hschr. korr. »Köppern i. Ts. Nervenheilanstalt«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/10

31 Rothschild an Klages Köppern i. Ts., den 23. Juni 1931 Dr. Friedrich Rothschild Sehr verehrter Herr Klages! Für Ihren freundlichen Brief und vor allem für Ihre liebenswürdige Erfüllung meines Wunsches danke ich Ihnen vielmals. Mit Ihrem Vorschlag bin ich sehr einverstanden. Ich weiß zwar noch nicht, ob ich an diesem Tage von Zürich kommen werde, aber ich werde auf jeden Fall am Montag, den 6. Juli gegen 3 1/4 Uhr bei Ihnen sein. Das Ihnen übersandte Vorwort benötige ich vorläufig nicht.

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Verehrungsvoll grüssend bin ich Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/17 Kopie: Nachlass Rothschild

32 Rothschild an Klages Köppern i. Ts., den 27. Juli 1931 Dr. med. Fr. Rothschild Sehr verehrter Herr Klages! Am Samstag ist von Emmetten aus das entliehene Heft der Blätter für Deutsche Philosophie an Sie zurückgegangen. Das Referat hat mich sehr interessiert, und ich danke Ihnen nochmals für die Überlassung des Heftes. Am Donnerstag der vergangenen Woche hatte ich bei Ihnen tele­ phonisch angerufen – die Nummer hatten Sie mir vor einem Jahr mitgeteilt – mit der Absicht, Sie vor meiner Abreise noch einmal um eine Besprechung zu bitten. Ich hatte mich, z. T. angeregt durch das Referat, darum bemüht, einmal festzustellen, was sich auf Grund erscheinungswissenschaftlicher Untersuchungen am Zentralnerven­ system über die Entstehung des Bewusstseins und die Funktion des Geistes ausmachen ließe. Als Resultat habe ich heute die Meinung, dass mit dieser Methode Material beigebracht werden kann, das für diese Probleme ganz neue Gesichtspunkte bietet. Da ich noch in der Schweiz war, hätte ich Ihnen gern meine Anschauungen vorgetragen, obwohl sie noch nicht im einzelnen ausgearbeitet sind. Leider erfuhr ich, dass Sie verreist seien. Ich gedenke nunmehr dieses Thema an seiner Stelle in der Gesamtbearbeitung des Zentralnervensystems zu behandeln und werde es Ihnen mit dem Ganzen vorlegen. Verehrungsvoll grüssend bin ich Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/18 Kopie: Nachlass Rothschild

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Emmetten: Der Ferienort am Vierwaldstädter See, an dem Rothschild Urlaub machte. Blätter für Deutsche Philosophie: Das ist die »Zeitschrift der Deutschen Phi­ losophischen Gesellschaft«, als dessen Mitarbeiter Klages ab 1928 aufge­ führt wird. 1931 erscheint eine ausführliche Rezension des Werkes »Der Geist als Widersacher der Seele« von Philipp Lersch mit dem Titel »Eine Philosophie des Lebens« (1898–1972), in der Lersch differenziert die Beson­ derheiten der Phänomenologie Klages’ referiert und würdigt und sich gleich­ zeitig kritisch mit den Widersprüchen des Versuchs auseinandersetzt, eine schlüssige Argumentation für den Nachweis zu erbringen, dass sich der Geist als dem Lebendigen entgegengesetzte Instanz einem menschentspre­ chenden, zuträglichen Leben entgegenstellt. Er würdigt Klages als den Lebensphilosophen, der »im Kampf um die Rehabilitierung des LebendigWirklichen am weitesten und am mutigsten bis in die letzten Vorausset­ zungen vorzudringen sucht« (S. 93). Lersch vollzieht eine Art Geistesskep­ sis mit Klages nach, insofern ein Begriffsbereich des beargwöhnten Geistes gemeint ist, der »begriffliche Aufteilung und technische Bewältigung der Wirklichkeit« in dominierender Weise beansprucht. Er sieht aber grund­ sätzlich und gerade in der Entbundenheit des Geistes vom Hier und Jetzt die menschliche Möglichkeit gegeben, »tiefer [...] in das Lebendige zurückzu­ schauen, tiefer als je ein Wesen, das nie aus der Unmittelbarkeit des Lebens herausgetreten ist« (S. 108).

33 Klages an Rothschild Kilchberg, den 14. Sept. 1931 Herrn Dr. Fr. Rothschild Sanatorium Köppern i. T. Sehr geehrter Herr Doktor: Seit wir uns gesehen und gesprochen haben, liegt nun eine äusserst unerfreuliche und an Störungen reiche Zeit hinter mir. Gründe hier zu weitläufig; genug, dass ich viele Wochen arbeitsbehindert war und erst kürzlich wieder in Schwung gekommen bin. Das ist die Ursache, weshalb ich erst heute Ihre freundlichen Zeilen vom 27. Juli bestätige und Ihnen gleichzeitig das Skriptum Ihrer »Einleitung« zurücksende. Ich würde vorschlagen, auf Seite 2 oben den von mir mit welligem Strich angemerkten Satz dahingehend zu ändern, dass er sich aus­ drücklich auf die Denkrichtung innerhalb der Nervenphysiologie bezieht. Denn nur mit Beziehung auf diese und auch eigentlich nur

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innerhalb der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist es richtig, dass die von Ihnen gerügte Betrachtungsweise entschieden vorherrschte. In der Philosophie dagegen und zwar zumal in der sog. Erkenntnis­ theorie sind im Laufe der letzten drei Jahrhunderte sehr verschiedene Denkrichtungen hervorgetreten, darunter auch solche, für welche der Leib und alles Körperliche lediglich eine Funktion des Geistes war. Das logozentrische Lager hat sich ja seit je gespalten in die »Idealis­ ten« und die »Materialisten«. Der Gegensatz des »Logozentrischen« zum »Biozentrischen« aber ist vollständig neu. Indem ich Ihnen für Ihre Arbeit raschen Fortgang wünsche, bin ich mit herzlicher Begrüssung, Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/11

viele Wochen arbeitsbehindert: Klages litt die meiste Zeit seines Lebens unter Schlafstörungen und war häufig krank.

34 Rothschild an Klages Köppern i. Ts., den 24. Sept. 1931 Dr. med. Fr. Rothschild Sehr verehrter Herr Klages! Für Ihren freundlichen Brief vom 14. d. Mts. mit dem rückgesand­ ten Skriptum und Ihren Bemerkungen zu der »Einleitung« danke ich Ihnen vielmals. Was Sie zur Änderung vorschlagen, ist mir durchaus einleuchtend. Ich hatte das Problem in der Diskussion mit der Auffassung entwickelt, wie sie mir praktisch meist gegenüber tritt und auch die gegenwärtige neurologische Literatur beherrscht. Meine Ausführungen waren im Verhältnis zu dieser begrenzten Ausgangsstellung zu allgemein gehalten. In meinen Arbeiten komme ich, wenn auch langsam, voran. Bis zur Ausführung der Ihnen schon angekündigten hirnphysiologischen Behandlung des Bewusstseinsproblems wird wohl noch einige Zeit vergehen, obwohl ich recht begierig bin, an dieses Thema heranzu­ kommen und ich glaube, dass auch Sie an den Ergebnissen Ihre Freude haben werden. Die wesentlichen Züge Ihrer Bewusstseins­

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lehre (Zeitlosigkeit des geistigen Aktes, sein Charakter als Störungs­ vorgang, seine Bedeutung als Ablaufschranke u.a.) werden darin innerhalb einer morphologisch und physiopathologisch gestützten Theorie wiederkehren. Doch ich werde mich gedulden müssen. Wir haben dieses Jahr keinen Urlaubsvertreter, so dass jetzt wegen des Berufes eine anhaltende wissenschaftliche Tätigkeit nicht möglich ist. Dieser Tage besuchte mich Herr Dr. Deussen, den Sie ja kennen. Indem ich Sie mit aufrichtiger Verehrung begrüsse, bin ich Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/19 Kopie: Nachlass Rothschild

Bewusstseinslehre: Das Bewusstsein hebt sich als punktuelles Geschehen aus dem nichtbewussten Strom unaufhörlichen Erlebens ab. Klages bezieht sich hier auf Palágyi, von dem er als dem »Begründer der Lehre vom Gegensatz des zeitlich fließenden Lebens zur Intermittenz zeitlich punktueller Akte des Geistes« spricht (Klages 1929a, S. 461). Er zitiert Palágyi: »Es liegt in der Natur der Sache, dass der vitale Vorgang mit dem geistigen Akt der Wahr­ nehmung in eine konkrete Einheit zusammenfließen muss. Denn, sobald wir uns einer Empfindung bewusst werden, muss schon die Vereinigung des vitalen Empfindungsvorganges mit der Bewusstseinstätigkeit stattgefunden haben, d.h. der nächsten Vergangenheit angehören« (ebd. S. 463). Dr. Deussen: Julius Deussen (1906–1974) war ein Arzt und Psychiater, der eine Zeitlang mit Klages korrespondierte und über ihn promovierte. Klages war mit dessen Darstellungen seiner Philosophie nicht einverstanden, weswegen es u.a. zum Bruch kam. Deussen war an zentraler Stelle für das »Euthanasie«-Programm bei psychisch behinderten Kindern in Heidelberg zuständig, bei dem nachweislich 22 Kinder in der Anstalt Eichberg getötet worden waren, um zu Versuchszwecken an ihre Gehirne zu kommen (Roel­ cke 2008).

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35 Rothschild an Klages Köppern i. Ts., den 31. März 1932 Dr. med. F. S. Rothschild Sehr verehrter Herr Klages! Sie werden sich vielleicht gefragt haben, weshalb ich solange nichts von dem Fortgang meiner Arbeiten berichtet habe. An sich habe ich schon oft schreiben wollen, aber ich glaubte immer vorherzusehen, dass ich in nächster Zeit soweit zu einem Abschluss gelangen würde, Ihnen nicht nur über die Arbeiten berichten, sondern sie selber vorlegen zu können; aber es kam immer anders. Teils waren es äussere, insbesondere berufliche Hindernisse, vor allem aber lag es in der Sache selbst, in dem Probleme, die in der Peripherie des eigentlichen Themas standen, mich nicht mehr losliessen und schon aus eigenem Bedürfnis nach Klärung eine nicht minder gründliche Bearbeitung verlangten als die Hauptaufgabe. Inzwischen habe ich den dritten Band vom »Geist als Widersacher der Seele« erhalten und fühle mich gedrängt, Ihnen auszudrücken, mit welcher Bewunderung und Dankbarkeit ich in diesem Buche lese. Es hat eine Kraft, den Ein­ zelmenschen in das grosse Schicksal der Menschheit hineinzustellen, wie für uns heute kein anderes Werk, und es wird wohl manchem helfen, trotz des allgemeinen Bankerotts sinnvoll im Leben zu stehen. Bis jetzt habe ich nur an diesen und jenen Stellen, die mich wegen des Titels besonders interessierten, gelesen; in einigen Wochen kann ich eine Pause in meinen wissenschaftlichen Arbeiten eintreten lassen, und dann werde ich die beiden Bände in Ruhe studieren. Von meinen Arbeiten kann ich heute mit Bestimmtheit sagen, dass Methode und Material fruchtbar waren. Die Bearbeitung des anato­ mischen Teils ist in dem geplanten Ausmass fast vollständig durch­ geführt; der äussere Umfang ist über die Masse einer Zeitschriften­ abhandlung hinausgewachsen, und ich werde anstreben, das Ganze als Buch erscheinen zu lassen. Nennen möchte ich es: »Symbolik des Hirnbaus der Wirbeltiere und des Menschen«. Mit diesem Buche hoffe ich auf eine Forderung zu antworten, die die gegenwärtige Situation der Nervenphysiologie stellt. Gleichzeitig mit dem Ausbau und der Differenzierung der alten Reflex- und Zentrenlehre durch Forscher wie Pawlow, Sherrington, Magnus, haben andere wie Bethe, Goldstein, Paul Weiss Versuche gesammelt und durchgeführt, die diese Lehre widerlegen oder zum mindesten das ganze Gebäude

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so erschüttern, dass alles unsicher erscheint. Aber jene Kritiker bringen wohl neue Tatsachen, die unvereinbar sind mit den alten Anschauungen, jedoch sie bringen kein neues Verstehen. Was von ihnen an Theorie geliefert wird (meist in Anlehnung an die moderne Radiotechnik) steht auf so hohlen Füssen, dass gewöhnlich nach ganz kurzer Zeit durch neue Experimente ihre Unrichtigkeit bewiesen wird. Um dem zu entgehen, bevorzugen die geistig gewandteren Neurologen ganz unbestimmt und allgemein gehaltene, relativie­ rende Vorstellungen, die sich um den Reichtum der Gestaltung und der Einzelgebilde des Zentralnervensystems nicht kümmern und mit einer qualitäts- und formlosen Masse umspringen. Dem gegenüber kann nun die Erscheinungswissenschaft ein Verstehen geben sowohl für jene Experimente, die die Reflexlehre beweisen wie für die, die sie widerlegen sollen; darüber hinaus zeigt sie aber und das ist das Wichtigste, dass alle die Faltungen und Umhüllungen, die Verbindungen und Kreuzungen des Zentralnervensystems wie die Weisen, nach denen die Zellen sich ordnen und richten, von demselben Erleben geformt wurden, das auch die Ergebnisse der Experimente bewirkte. Die Vielfältigkeit der Erscheinungen, die man vernachlässigen wollte, wird wieder zu ihrem Rechte kommen! Es ist schlecht möglich, in einem Brief auf Einzelnes einzugehen; der Titel sagt Ihnen zur Genüge, von was meine Untersuchungen ausgehen und worauf sie zielen. Ausserdem waren Sie ja freundlicherweise damit einverstanden, dass ich Ihnen meine Arbeiten nach Fertigstel­ lung vorlegen darf. Pläne in Bezug auf das Fertigwerden mache ich, durch meine bishe­ rigen Erfahrungen gewitzigt, nicht mehr. Vorläufig habe ich nur acht Tage meines im Juli fälligen Urlaubs zurückstellen lassen, um im Winter die Möglichkeit zu haben, mit Ihnen persönlich Rücksprache nehmen zu können. Erwähnen möchte ich noch, dass ich zur Zeit mit der erscheinungs­ wissenschaftlichen Bearbeitung der experimentellen Physiologie des Labyrinthes beschäftigt bin. Es ist ein Sonderabschnitt innerhalb eines Kapitels über die »tonische« oder »statische« Innervation, das für Ihre Lehre vom Willen etwas Neues beibringt, indem es aufzeigt, dass die Macht des Willens über die kinetische Innervation sich auf ein Bündnis mit der tonischen stützt. Es hat sich herausge­ stellt, dass jene Spaltbarkeit der Antriebe, auf der die Möglichkeit der Willensherrschaft beruht, vorgebildet ist in einem Gegensatz zwischen Bewegungsinnervation einerseits und Haltungs- und Stel­

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lungsinnervation andererseits. Wenn ein Wirbeltier sich bewegt, wirkt die letztere im Sinne einer Behauptungstendenz, die in dem um Schranken unbekümmerten Zug der Bilder und Drang der Triebe die »Gesetze« des Körpers und seiner körperliche Umwelt vertritt. Das Kleinhirn ist das wichtigste Zentrum für diese Vorgänge. Seine Physiologie werde ich sowohl am klinischen wie experimentellen Material ganz eingehend behandeln, da gerade seine Morphologie sich bis in feine mikroskopische Details erscheinungswissenschaft­ lich klären ließ. Es wird dabei eine Übereinstimmung von Bau und Funktion zutage treten, die vielleicht auch einen Mechanisten zu überzeugen vermag, dass die Erscheinungswissenschaft die letzten Endes für biologische Probleme berufene Wissenschaft ist. Indem ich hoffe und wünsche, dass Sie sich bei gutem Wohl­ sein befinden bin ich Sie in Verehrung grüssend Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/20 Kopie: Nachlass Rothschild

»Symbolik des Hirnbaues der Wirbeltiere und des Menschen«: Die Arbeit, die er zum ersten Mal am 11.6.1931 als Zeitschriftenartikel konzipiert angekündigt hat (s. 29 R). Pawlow: Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936), russischer Arzt und Phy­ siologe, dessen Entdeckung des konditionierten Reflexes die Grundlage des behavioristischen Menschenbildes wurde. Den Literaturangaben der »Symbolik des Hirnbaus« (1935) zufolge bezieht sich Rothschild auf die eingehende Erörterung des Zustandekommens des bedingten Reizes beim Pawlowschen Hund in Graham Browns Beitrag »Die Großhirnhemisphä­ ren« im 10. Band des von Bethe u.a. herausgegebenen »Handbuchs der normalen und pathologischen Physiologie« (1927), wonach ein neutraler Reiz, der an die Futtergabe, den unbedingten Reiz, gekoppelt wird, nach Gewöhnung selbst schon die Reaktion des Speichelflusses auslöst. Sherrington: Charles Scott Sherrington (1857–1952), englischer Neurophy­ siologe, trug zur Ausdifferenzierung der Neuronentheorie bei. Er entdeckte den synaptischen Spalt, und auf ihn geht der Begriff Synapse zurück für den Teil einer Nervenzelle, der mit einer anderen in Kontakt tritt (Finger 1994, S. 47f.). Er nimmt eine zentrale Position in der Entwicklung der Neurolo­ gie ein.

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Magnus: Rudolf Magnus (1873–1927), deutsch-jüdischer Pharmakologe und Physiologe, erhielt den ersten Lehrstuhl für Pharmakologie in Utrecht. Sein zentrales Werk »Körperstellung. Experimentell-physiologische Unter­ suchungen über die einzelnen bei der Körperstellung in Tätigkeit tretenden Reflexe, über ihr Zusammenwirken und ihre Störungen« (1924) ist eine 740 Seiten umfassende Arbeit, die den Stand der damaligen Forschung zur Körperstellung zusammenfasst, diskutiert und die eigenen Forschungen dokumentiert. Die referierten Ergebnisse beruhen größtenteils auf sog. Isolierungsexperimenten, man variiert künstliche Ausschaltungen von Zen­ tren – durch Lähmung der Funktion oder Entfernung eines Teilgebietes – bis man negativ über den immer spezifischer werdenden Ausfall einer Funktion deren hirnorganischen Ausgangspunkt zu lokalisieren vermeint. Spezielle Aussagen werden hier getroffen zu Haltungs- und Stellreflexen, zum Labyrinth und wohl erstmalig umfangreich auch zum Kleinhirn. Pawlow, Sherrington und Magnus stehen für Fortschritte in der herrschen­ den neurologischen Forschungstradition der sog. alten Zentren- und Reflex­ lehre, während die folgenden drei von Rothschild genannten Forscher für andere neuartige Konzeptionen stehen: Bethe: Albrecht Bethe (1872–1954), Physiologe, ab 1915 Direktor des Phy­ siologischen Instituts im Theodor-Stern-Haus an der Universitätsklinik Frankfurt. Er war einer der Herausgeber des »Handbuchs der normalen und pathologischen Physiologie« (1927). Er gebrauchte zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem ZNS den Begriff der Plastizität (Bethe 1925) und bezog sich damit auf die Veränderbarkeit der Strukturen und Funktionen des ZNS (s. auch Bethe 1931b). Goldstein: Der Neurologe Kurt Goldstein (1878 Kattowitz – 1965 New York) begründete eine andere Neurologie mit gestaltpsychologischen Elementen. Er stand der Psychoanalyse nahe. Goldstein war der Lehrer einer Reihe namhafter Wissenschaftler: Max Horkheimer, Frieda Fromm-Reichmann, Siegmund Heinrich Fuchs und Friedrich Perls. Rothschild arbeitete mit ihm als Volontärarzt 1928–1930. Paul Weiss: Weiss (1898–1989) war Biologe und Physiologe. Er floh aus Deutschland in den 1930er-Jahren in die USA und lehrte in New York an der Rockefeller University. Mit von Bertalanffy wird er zum Protagonisten der Systemtheorie. Er leistet mit seinen Amphibienexperimenten einen frü­ hen Beitrag zur Plastizität des ZNS (Ausführlicheres s. Kapitel »Von der Plastizität des Nervensystems«, S. 72ff.).

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36 Klages an Rothschild Kilchberg, den 16. Juni 1932 Herrn Dr. F. S. Rothschild Nervenheilanstalt Köppern im Taunus Sehr geehrter Herr Doktor: Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 31. Mai. Es hat mich gefreut, endlich einmal wieder von Ihnen zu hören; und ganz beson­ ders hat mich gefreut zu vernehmen, dass Sie den so verheissungsvoll begonnenen Weg zu einer Erscheinungswissenschaft des lebenden Leibes folgerichtig weitergehen. Ganz abgesehen davon, dass Sie auf diesem Wege ohne Frage schöne Früchte einheimsen werden, kommt schon der bloßen Tatsache der von Ihnen gewählten Richtung geis­ tesgeschichtliche Bedeutung zu. Denn, wieviel auch derzeit von »Phänomenologie« die Rede sein mag, die eigentliche und wahre Erscheinungsforschung – ich darf wohl sagen im Geiste meiner Grundlegung – muss erst noch kommen! Im hohen Grade interes­ siert mich natürlich, was Sie über die Physiologie des Willens andeu­ ten; und ich hoffe, dass wir später über diese und andere Probleme uns mündlich unterhalten werden. Sie können sich denken, dass die Vollendung des »Widersachers« trotz aller Ungunst der Zeiten für mich eine große Erleichterung bedeutet. Zum richtigen Pausieren bin ich freilich noch nicht gekom­ men; denn zu vieles wurde jahrelang zurückgestellt und muss jetzt erst einmal aufgearbeitet werden. Außerdem muss ich wohl oder übel jetzt meine Unterrichts- und Vortragstätigkeit wieder aufnehmen; was bei den gegenwärtigen Wirtschaftsverhältnissen mit mancherlei Schwierigkeiten verbunden ist. »Ferien«, falls sie mir überhaupt noch blühen, habe ich in Gedanken auf nächstes Jahr angesetzt. Ich werde mich jederzeit freuen, von Ihnen zu hören, und verbleibe mit freundlichen Grüssen Ihr ergebener LKlages Original: Ts, hschr. erg. u. korr., Adresse schräg überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/12

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wieviel auch derzeit von »Phänomenologie« die Rede sein mag, die eigentli­ che und wahre Erscheinungsforschung ... muss erst noch kommen!: Dieser Satz wendet sich insbesondere gegen Edmund Husserl, den Klages als von der wissenschaftlichen Welt begünstigten Rivalen empfand. Dies geht aus autobiographischen Dokumenten hervor, z.B. dem Brief Klages’ an Christoph Bernoulli vom 10.03.1927 (DLA Marbach, Nachlass Klages 61.4143/29), dem Brief an Prinzhorn 16.12.1920 (DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6581/5) und dem Brief an Werner Deubel vom 16.05.1920 (DLA Marbach, 61.4473/10), in welchem er Deubel auf seine Polemiken gegen Husserl im »Geist als Widersacher der Seele« aufmerksam macht.

37 Rothschild an Klages Köppern i. Ts., den 23. Juni 1932 Dr. med. F. S. Rothschild Sehr verehrter Herr Klages! Es war für mich eine grosse Freude, von Ihnen den freundlichen Brief vom 16. ds. Mt. zu erhalten, und ich danke Ihnen vielmals dafür. Wenn ich auch ein sicheres Wissen um den Wirklichkeitsgehalt mei­ ner wissenschaftlichen Forschungen in mir selber trage, so bedeutet es für mich doch ein grosses Glück, von Ihnen auf meinem Wege bestätigt zu werden. Es ist ja manchmal recht mühselige Kleinarbeit von dem Aspekt unmittelbaren Erlebens her gesehen, wenn man die Ergebnisse von Experimenten und mikroskopischen Schnittserien durchforscht, um an diesen von der Welt des Geistes durchsetzten Produkten den ursprünglichen Lebensgehalt aufzuzeigen. Aber die­ ser Weg ist inneres Bedürfnis, sobald man einmal in den Bereich der Wissenschaft hineingezogen worden ist, und er ist es wohl gerade dann, wenn man dem Leben auch unmittelbar begegnete. Ich werde nicht versäumen, Ihnen bei gegebener Gelegenheit von dem weiteren Fortgang meiner Arbeiten zu berichten und bin mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/21 Kopie: Nachlass Rothschild

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38 Klages an Rothschild Kilchberg, den 7. Juli 1932 Herrn Dr. Fr. S. Rothschild Nervenheilanstalt Köppern im Taunus Sehr geehrter Herr Doktor: Ihre freundlichen Zeilen vom 23. Juni brachten mir erst wieder zum Bewusstsein, wie gross eigentlich der Gegensatz Ihrer Forschungs­ richtung zu den Anschauungen Ihrer Kollegen auf dem Gebiete der Nervenphysiologie ist und mit wie lebhaften Widerständen Sie des­ wegen zweifelsohne rechnen müssen. Da nun jede exponierte Stel­ lung, um gehalten zu werden, mehr als gewöhnliche Sicherung erfor­ dert, möchte ich heute nochmals »zur Feder greifen« und ein paar sehr allgemeine Fingerzeige geben, die Ihnen da und dort vielleicht dienlich sein könnten. Erscheinungsforschung bezieht sich zunächst auf das unmittelbar Erscheinende, und das ist an Organismen ihre Außenfläche. Sie kann aber grundsätzlich auch auf das Leibesinnere und also z.B. auf das Nervensystem angewandt werden. Die »Symbolik der menschlichen Gestalt« des C. G. Carus, wie unvollkommen sie im Einzelnen gelungen sein mag, nimmt zwecks Deutung etwa der Schädelformen weitgehend beispielsweise den Hirnbau in Anspruch. Sie tut es in wenig glücklicher Weise, aber das ändert nichts an der prinzipiellen Berechtigung, es zu tun. Es wird jedoch stets gut sein, wenn man sich dabei folgende »Leitmotive« gegenwärtig hält: 1.- Bei aller Anatomierung und insbesondere der Verwertung mikro­ skopischer Tatbestände sollte, soweit möglich, immer wieder Rück­ verknüpfung mit dem unmittelbar Erscheinenden angestrebt werden. 2.- Man sollte sich niemals durch minutiöse Einzelheiten widerstre­ bender Art stören lassen, sondern unbekümmert um sie die »grosse Linie« wahren, die aus Anlass der Gesamterscheinung konzipiert wurde! So gewiss nämlich die Erscheinung überhaupt und also auch bis in ihre Einzelheiten hinein Sinndeutung zulässt, so gewiss dürfen wir nicht erwarten, etwas zu finden, das die starre Gültigkeit eines sog. Naturgesetzes hätte. Ganz im Gegenteil: fänden wir etwas streng Gesetzliches, so dürften wir sicher sein, den Boden der reinen Erscheinungsforschung versehentlich verlassen zu haben. Die »Natur« = die Welt der Erscheinungen kennt »Gesetze« nicht. Des­

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halb werfen feine Abweichungen von der grossen Linie einer Erschei­ nungsdeutung diese keineswegs um, sondern sind nur geeignet, es zu enthüllen, dass Sinnzusammenhänge nicht verwechselt werden dürfen mit »Gesetzen«. Man halte sich also in solchen Fällen nicht mit tiftelnden Umdeutungen auf, sondern lasse die Widersprüche seelenruhig bestehen. Ich weiss nicht, ob Sie mal in jenem Auszug von Goethes mor­ phologischen Schriften geblättert haben, der im Eugen Diederichs Verlage von W. Troll herausgegeben wurde. Wenn nicht, so darf ich es empfehlen. Goethes Methode ist weniger eine Methode als Witterung vonseiten eines ungemein erscheinungsempfänglichen Instinktes; und sie wird grade dadurch lehrreich. Sein anderswo getaner Ausspruch: »Wir würden gar vieles besser kennen, wenn wir es nicht zu genau erkennen wollten« hat mehr als einen Hintersinn. Teils ist er eine verschleierte Selbstrechtfertigung, teils bringt er die wesentliche Wahrheit zum Ausdruck, dass im Masse der Vertiefung in Einzelheiten die Gefahr der Schwächung des Schauens wächst. Daraus habe ich mir abgelesen: man darf sich in die feinsten Einzel­ heiten hinein bohren, sofern man Punkt für Punkt zurückzufinden weiss zur Anschauung des Ganzen. – Nun aber genug. Hoffentlich können Sie mit dem Zeug etwas anfangen! Mit herzlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/13

»Symbolik der menschlichen Gestalt« des C. G. Carus: Klages bezieht sich vielfach auf den Mediziner, Maler, Universalgelehrten Carus. Und Hans Kern und Christoph Bernoulli, Klages’ Anhänger, gaben Carus neu heraus. Stefan Grosche macht in seiner Dissertation zu Carus darauf aufmerksam, dass 1882 bereits Rudolf Steiner Carus mit der Neuherausgabe dreier Auf­ sätze »wiederentdeckt« habe (Grosche 1993, S. 9). Die »Symbolik der menschlichen Gestalt« gehört mit zu den Arbeiten Carus’, in denen er die Physiognomik in eine Art rassediagnostische Richtung entwickelt: »Immer­ hin wollte Carus rassische Zugehörigkeit und Eigenschaften wie ›Anhäng­ lichkeit am Boden‹ und ›Vaterlandsliebe‹ im Gehirn lokalisieren und reihte sich damit in die Gruppe derjenigen ein, die um die Mitte des 19. Jahrhun­ derts begannen, Rassismus und Nationalismus miteinander zu vereinigen« (Hagner 1997, S. 214).

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»Wir würden gar vieles besser kennen, wenn wir es nicht zu genau erkennen wollten«: aus Goethes »Maximen und Reflexionen« (1833, S. 32).

39 Rothschild an Klages Köppern i. Ts., den 26. Juli 1932 Dr. med. F. S. Rothschild Sehr verehrter Herr Klages! Durch Schwierigkeiten der Nachsendung – ich war auf einer Feri­ enwanderung – erreichte mich Ihr freundlicher Brief verspätet, so dass ich erst heute, nach meiner Rückkehr, zu seiner Beantwortung komme. Mit Dankbarkeit empfand ich, mit welcher Aufmerksamkeit, ja Fürsorge Sie meine erscheinungswissenschaftlichen Absichten verfolgen, und ich habe mir Ihre Worte recht zu Herzen genommen. Es ist ungemein schwer innerhalb einer wissenschaftlichen Welt, die in erster Linie tatsachenhungrig ist und in zweiter Linie hofft, mit Hilfe dieser Tatsachen Gesetze aufzustellen, Erscheinung, Leben und Erleben in ihren unmittelbaren Zusammenhängen zur Sprache zu bringen. Wie verlockend wäre es in dieser Lage selbst mit so etwas wie einem »Gesetz« aufwarten zu können; ihm würde sich ja das widerstrebende Denken der Wissenschaftler beugen; dem Bedürfnis, anderen sich mitzuteilen, sie zu überzeugen, verhiesse es Befriedigung, dem Selbstgefühl Erfolg. Aber, wie es in Ihrem Briefe heisst, »die ›Natur‹, die Welt der Erscheinungen kennt Gesetze nicht« und ich habe bei meinen Forschungen auch keine gefunden. Wenn ich in einem früheren Briefe in Verbindung mit dem Kleinhirn von einem »Gesetz« des Körpers schrieb, so sollte das nur die Einförmigkeit und die bindende Kraft zum Ausdruck bringen, mit der das Körperliche in den Lebensvorgängen zur Geltung kommt. Erscheinungswissen­ schaft des Zentralnervensystems ist an sich nur möglich unter der Voraussetzung, dass eine Lehre vom Erleben und eine Einsicht in das Wesen der Organismen aus anderen Quellen vorhanden ist. Unmittelbar gibt die Erscheinung des Zentralnervensystems ihren Sinn nur schwer kund. Hirn und Nerven sind eben keine Organe der Aussenfläche des Organismus und Ihre Funktion verläuft überdies ohne grob fassbare Veränderungen und Bewegungen. So wären sie an sich schlecht dazu geeignet, als Äusserungen des Wesens aufgefasst zu werden. Hat man aber eine Kenntnis des Wesens, der

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Innerlichkeit des Erscheinenden aus anderen unmittelbaren Quellen, dann wird auch der Hirnbau deutbar, der zu dieser Innerlichkeit in einem ausserordentlich engen Verhältnis steht, und die besondere Verborgenheit seines Sinnengehaltes macht er nun durchaus wett durch den Reichtum an fest gestalteten Einzelerscheinungen und die symbolähnliche Vereinfachung, mit der er das Wesentliche kund gibt. Wenn er auch keinem Gesetze folgt, so zeigt er doch treffliche Übereinstimmungen und Entsprechungen zu den Grundseiten des Erlebens und ihrer Entwicklung bei den einzelnen Arten, wie sie eine auf die unmittelbare Erscheinung und das Verhalten der Organismen gestützte Lebenslehre aufweist. Nur durch eine immer wiederholte Rückverknüpfung mit dem unmittelbar Erscheinenden, wie Sie es in Ihrem Briefe fordern, ist demnach die Deutung des Hirnbaues möglich und gerade durch diese Rückverknüpfung entfaltet sie einige ihrer schönsten Ergebnisse. Ich habe bis jetzt zweimal in der Frankfurter Psychiatrisch-Neurolo­ gischen Vereinigung erscheinungswissenschaftlich morphologische Themen behandelt. Das erste Mal sprach ich über Asymmetrien des Zentralnervensystems, das zweite Mal über die Faltenbildung der Hirnrinde; beide Male war man interessiert, der letzte Vortrag wirkte sogar ein bisschen wie eine Sensation. Es wurden natürlich viel Einwände vorgebracht und zwar durchweg aus dem Missverständ­ nis, dass die Mitteilungen dingwissenschaftlich aufgefasst wurden, und ich glaube nicht, dass irgend einer der Zuhörer die Ausfüh­ rungen in ihren prinzipiellen Konsequenzen verstanden hat; aber die Zusammenstellung des Anschauungsmaterials wirkte. Ich hätte diese Vorträge nicht gehalten, wenn die Ärzte unserer Nervenheil­ anstalt nicht »an der Reihe« gewesen wären. Gerade weil es sich nicht um »Gesetze« handelt, die es genügte an einem Beispiel zu entwickeln, um sie in allen Fällen starr anwenden zu können, verlangt das Material eine möglichst umfangreiche Verarbeitung. Man ist bei Darstellungen, die nicht das ganze Gebiet von seinen Grundlagen aus aufrollen, auch immer wieder genötigt, die üblichen inadäquaten Begriffe zu gebrauchen, um überhaupt in einer solchen Vereinigung etwas vortragen zu können, und das bringt Unschärfe und falsche Beleuchtungen mit sich. Ich hoffe, dass das anders wird, wenn ich einmal vom Prinzipiellen her sprechen kann. In Goethes morphologischen Schriften habe ich vor Jahren einmal gelesen, allerdings ohne mich ernstlich zu vertiefen; ich habe die

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Absicht dies einmal gründlicher nachzuholen. Carus‘ »Symbolik der menschlichen Gestalt« kenne ich natürlich¸ sind doch meine Arbeiten Fortsetzungen dieser physiognomischen Forschungen nur auf der Grundlage eines neuen seelenkundlichen Wissens und neuen Tatsa­ chenmaterials. Indem ich nochmals für Ihren Brief danke, bin ich in Verehrung grüs­ send Ihr sehr ergebener Friedrich Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/22 Kopie: Nachlass Rothschild

Wie verlockend wäre es in dieser Lage selbst mit so etwas wie einem »Gesetz« aufwarten zu können: Rothschild veröffentlicht im Jahre 1962 in den Annals der New York Academy of Sciences seine »Laws of symbolic mediation in the dynamics of self and personality«, die 2010 von Don Favareau in einer umfassenden Anthologie biosemiotischer Literatur neu veröffent­ licht wurde. Frankfurter Psychiatrisch-Neurologischen Vereinigung: nicht ermittelt. Asymmetrien des Zentralnervensystems: siehe Anmerkungen zu 1 R und 4 K. Faltenbildung der Hirnrinde: siehe S. 82ff.

40 Rothschild an Klages Frankfurt a. M., d. 27.8.33 Dr. med. F. S. Rothschild Frankfurt a. M. Waidmannstr. 13 p. Sehr verehrter Herr Klages! In etwa 14 Tagen bis 3 Wochen hoffe ich mit der Maschinenreinschrift meiner Arbeit fertig zu werden. Das scheint mir Anlass, Ihnen zu berichten, wie sie sich weiter entwickelt hat und was schliesslich daraus geworden ist. Mit einer ersten Fassung hatte ich schon etwa Ende vorigen Jahres abgeschlossen, aber ich konnte mir bei dem Überblick am Schlusse nicht verhehlen, dass die Komposition des Ganzen und die Darstellung in vieler Hinsicht unzureichend und

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verbesserungsfähig waren. So habe ich denn im Laufe dieses Jahres den grössten Teil noch einmal neu geschrieben und hoffe nun, dass es jetzt wirklich ein in sich geschlossenes und organisch gegliedertes Werk geworden ist. Ich habe Ihnen von meinen Plänen und zum Teil von Ergebnissen schon so oft geschrieben und auch persönlich berichtet, dass ich jetzt nicht auf einzelnes eingehen will. Das Prob­ lem »Gehirn und Seele« hat auf dem Boden Ihrer Forschungen eine Behandlung gefunden, wie sie in der umfassenden Durchdringung des Stoffes und in der Exaktheit der Lösung vieler Einzelfragen vom bisherigen Standpunkt der Wissenschaft vollkommen undenkbar war. Ich lege ein Inhaltsverzeichnis bei, aus dessen Kapitel- und Abschnittstiteln Sie einen Überblick über das Ganze erhalten; sein Umfang dürfte etwa 250 bis 270 einzeilig beschriebene Maschinen­ schriftseiten umfassen. Wie ich Ihnen ebenfalls schon andeutete, ist darin auch eine begründete Theorie der Funktion des Gehirns bei der Geistestätigkeit enthalten, durch die m. E. auch das Problem des Entstehens des Aktvermögens im Menschen seine Lösung erfährt. Vor allem wegen dieser Ergebnisse wäre es mir von höchstem Wert, Ihr Urteil und Ihre Kritik zu erfahren, und deshalb bitte ich, Ihnen die Arbeit zuschicken zu dürfen. Persönlich kann ich Ihnen verständlicher Weise nichts Erfreuliches berichten. Ich habe als Jude schon bald nach dem politischen Umschwung in Deutschland meine Stelle verloren und lebe vorläufig unter äusserlich wie innerlich recht gedrückten Ver­ hältnissen zu Hause bei meinen Eltern. Berufsaussichten in Deutsch­ land scheinen mir nahezu ausgeschlossen; ich werde also wohl oder übel einmal ins Ausland gehen müssen. Vorläufig mache ich aber gar keine Pläne; denn zunächst gilt es die Symbolik des Hirnbaus fertig zu stellen und einen Weg zu ihrer Veröffentlichung zu finden. Ihre Fürsprache dürfte die hier event. vorhandenen Schwierigkeiten beträchtlich erleichtern, und ich bitte Sie daher auch aus diesem Grunde, sich der Arbeit anzunehmen. Wenn eine Veröffentlichung in Deutschland infolge der politischen Verhältnisse unmöglich sein sollte, käme vielleicht das Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie oder dessen Verlag in Betracht. Aber diese Frage wird vermutlich nicht die einzige sein, die noch zu erledigen sein wird, und ich hoffe, dass sich alles weitere schon ergeben wird, wenn Sie von der Arbeit Kenntnis genommen haben werden. Ich bitte Sie daher, mir mitzuteilen, wohin ich Ihnen das Skriptum schicken soll. Meine Heimatadresse ist: Giessen, Bahnhofstr. 66. Für die nächsten 14 Tage

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bin ich allerdings hier in Frankfurt a. M. unter der Adresse: bei Dr. Mannheim, Waidmannstr. 13 p. In Verehrung Sie grüssend, bin ich Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Symbolik des Hirnbaus. Erscheinungswissenschaftliche Untersuchungen über den Bau und die Funktionen des Zentralnervensystems der Wirbeltiere und des Menschen. Erstes Kapitel: Kritische Betrachtung gegenwärtiger hirnphysiologischer Grundanschau­ ungen. Zweites Kapitel: Ludwig Klages und die Neubegründung der Erscheinungsforschung. Drittes Kapitel: Das Ausgangsmaterial für die Erscheinungsforschung am Zentralnerven­ system und das leitende Prinzip. Viertes Kapitel: Über die ventralen und dorsalen Wurzeln der peripheren Nerven. Fünftes Kapitel: Grundzüge einer allgemeinen erscheinungswissenschaftlichen Theorie über die Funktion des Nervensystems. Sechstes Kapitel: Rückenmark, verlängertes Mark und Mittelhirn. Der Sinn der ventralen und dorsalen Anordnung der Zentren und Bahnen. Kritik der Lehre der Neurobiotaxis. Über die Funktion der Spinalganglien und der Rückenmarkszentren bei den Reflexen. Über die Plastizität des Nervensystems, insbesondere der medullären Zen­ tren. Zur Frage der »Rückenmarksseele«. Der Sinn der Rautengrube und des Sinus lumbosakralis der Vögel. Über das Empfinden und seinen Zusammenhang mit der Eigenbewegung. Der Sinn der Faserkreuzung. Von der gekreuzten Lage eines Teiles der Wurzelzellen der Augenmuskel­ nerven. Innen- und Aussensysteme. Die Bedeutung des mesencephalen Trigeminuskerns und anderer innerhalb des ZNS gelegener sensibler Wurzelzellen. Der Mittelhirnkreis. Siebentes Kapitel: Zwischenhirn und Endhirn. Grundzüge des Vorderhirnaufbaus. Der Thalamus als Zentrum der unanschaulichen Vergangenheitsund Wesenserlebnisse.

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Der Richtungswechsel in der Funktion des Vorderhirns und seine Bedeutung für den Bau der Hippocampusformation. Über die Einkörperung körperloser Bilder. Überblick über die wichtigen motorischen Vorderhirnzentren und ihre Funktion. (Ein Beitrag zur Physiologie der »virtuellen« Bewegung.) Die Bedeutung der Faltenbildung und Faltenlage der Flächenzentren des ZNS, insbesondere der Grosshirnrinde. Zur Frage der Bedeutung der Insel. Das Stirnhirn als Zentrum zur Vermittlung von Richtungserlebnissen. Achtes Kapitel: Das Kleinhirn. (Der Bau und seine Bedeutung.) Einleitung. Die Struktur der Kleinhirnrinde als Sinnbild eines »indirekten« Empfin­ dungsvorganges. Der Lobus floccularis. Der Kleinhirnkörper. (Wurm und Hemisphären.) Die Valvula cerebelli der Knochenfische und das Kleinhirn der Mormyriden. Die untere Olive und die Ponskerne. Die Kleinhirnkerne. Neuntes Kapitel: Über statische Innervation. (Ein Beitrag zur Physiologie des roten Kernes.) Zehntes Kapitel: Die experimentelle Physiologie des Kleinhirns vom Standpunkt der Erschei­ nungswissenschaft. Die »unbeherrschten Bewegungen«. Weisen und Wege der Kleinhirntätigkeit. Experimentelle Ergebnisse zur Frage der Lokalisation im Kleinhirn. Elftes Kapitel: Über die Entstehung der Symtome der Kleinhirnschädigung beim Men­ schen. Die Kompensationsfähigkeit bei Ausfall der Kleinhirnfunktion. Atexie, Hypotonie, Katalepsie und andere Störungen der Mototrik. Der Schwindel. Das Vorbeizeigen. Die Automatosen. Zwölftes Kapitel: Zur Physiologie des Bewusstseins und des Willens. Vorbemerkungen über das Wesen der Materie. Über den Ursprung und die zentrale Lokalisation der Geistestätigkeit. Die funktionale Asymmetrie des menschlichen Grosshirns als Produkt der Geistestätigkeit. Zur Metaphysik des Geistes.

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Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/23

Ich habe als Jude schon bald nach dem politischen Umschwung in Deutschland meine Stelle verloren: Rothschild verlor wie die meisten anderen jüdischen Beamten und im öffentlichen Dienst Tätigen seine Volontärarztstelle in Köppern. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«, erlassen am 7.4.1933, sah die Entlassung von Personen vor, die jüdisch, halbjüdisch und solchen, von denen einer der Großeltern jüdisch war. Etwa die Hälfte der jüdischen Beamten konnte bis 1935 im Dienst bleiben, da sie Frontkämpfer im Ersten Weltkrieg waren, die auf Geheiß Hindenburgs von der Regelung ausgenommen werden sollten. Das Gesetz wurde als Vorwand genommen, die meisten der anderweitig beschäftigten Juden aus Verlagen, Anwaltskanzleien, Banken und Industriebetrieben zu entlassen (Wesolowski 2010). das Problem des Entstehens des Aktvermögens: Rothschild versucht – ver­ einfacht ausgedrückt –, die Bedingungen des Bewusstseinsaktes, auch genannt geistiger Akt, in den Funktionen von Hirnstrukturen und ihrem Zusammenwirken zu erschließen. Diese Verörtlichung wird nicht auf den Kortex begrenzt, Rothschild betont die entscheidende Bedeutung des Klein­ hirns und von Mittelhirnfunktionen für das Bewusstsein (Rothschild 1935, insbes. S. 332ff., 336ff.; Rothschild 1958, insbes. S. 46–48). einen Weg zu ihrer Veröffentlichung: siehe hierzu gesondert das Kapitel zur Veröffentlichung der »Symbolik des Hirnbaus« S. 55ff. Walter Mannheim: ein Freund Rothschilds, der mit seiner Familie im Dezember 1933 nach Palästina ausgewandert war (Leers 1974, S. 54). Er war als Ökonom bei einem größeren Unternehmen in Frankfurt angestellt und unterhielt eines der vielen Kränzchen in der Stadt. Walter Mannheim wohnte in der Waidmannstraße 13 und ist bis zum Jahr 1933 im Einwoh­ nerregister der Stadt eingetragen, ab 1934 nicht mehr. Er wurde 1934 Mit­ siedler in der Moshava Ramoth Hashavim (deutsch: Hügel der Zurückge­ kehrten). Weiteres s. S. 126f.

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41 Klages an Rothschild Kilchberg, den 1. September 1933 Herrn Dr. Fr. S. Rothschild bei Dr. Mannheim Waidmannstr. 13, Parterre Frankfurt a. M. Sehr geehrter Herr Doktor: Ich bestätige dankend den Empfang Ihrer gefl. Zuschrift vom 27. August nebst Beilage. Mit Freude entnehme ich daraus, dass Ihre umfassende Arbeit sich dem Abschluss nähert, ja im Wesentlichen bereits fertig, wenn auch noch nicht völlig abgeschrieben ist. So wenig ich mir zutrauen kann, das Nervenphysiologische Ihrer Aus­ führungen zu begutachten (wozu es ja eines Fachmannes bedarf), so gern bin ich bereit, in Ihrer Arbeit diejenigen Stellen aufzusuchen und durchzulesen, wo die Knüpfungen mit seelischen Sachverhalten stattfinden. Allerdings kann ich Sie nicht bitten, die Arbeit noch nach hier zu senden. Vor Mitte des Monats wären Sie selbst dazu nicht imstande. Grade dann aber stehe ich hier inmitten dringender und drängender Vorbereitungen teils für eine Vortragsrunde im Oktober, teils und mehr noch für die Vorlesungen, die ich im Wintersemester an der Berliner Universität zu halten mich verpflichtet habe. (Schon im Sommersemester übrigens habe ich dort eine Gastvorlesung gehalten.) Es wird daher bestimmt das Richtige sein, wenn Sie mir später das Manuskript nach Berlin schicken. Sobald ich dort passend untergebracht bin, teile ich Ihnen meine Anschrift mit. – Mit Bedau­ ern höre ich, dass Sie persönlich manches Unangenehme durchzu­ machen hatten, glaube aber, dass auch dafür wieder Rat werden wird, und zweifle übrigens nicht an der späteren Möglichkeit der Heraus­ gabe Ihres Buches bei einem deutschen Verleger. Für heute mit den besten Wünschen und Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdrucks­ kunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/14

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gefl.: gefällig(en) Vortragsrunde im Oktober: Nach Tobias Schneider (2001) ist Klages einer der beliebtesten und meist gelesenen Philosophen der frühen 1930er-Jahre. Prinzhorn und der Verleger Meiner (Barth-Verlag) bemühten sich, Klages über das Preußische Kultusministerium Gastvorlesungen in Berlin zu ermöglichen. Im Sommersemester hielt er dann an der Friedrich-WilhelmUniversität in Berlin (seit 1946 Humboldt-Universität) Vorlesungen zum Thema »Grundzüge der Charakterkunde« mit einer Frequenz von zwei Dop­ pelstunden pro Woche, im Wintersemester Vorlesungen zu »Geist und Seele«. Im selben Zeitraum wurde er in Berlin von der Kant-Gesellschaft, der Fichte-Gesellschaft, der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und der LessingHochschule zu Vorträgen eingeladen (Schröder 1992, S. 1205ff.).

42 Rothschild an Klages Frankfurt a. M. den 5. 9. 33 Dr. Rothschild Frankfurt a.M. z. Zt. Waidmannstr. 13 p Sehr verehrter Herr Klages! Ihr freundlicher Brief vom 1. 9. und Ihre Bereitwilligkeit, meine Arbeit in ihren seelenkundlichen Zusammenhängen zu begutachten, haben mich froher und zuversichtlicher in Bezug auf ihren weiteren Weg gestimmt. Ich danke Ihnen vielmals dafür! Ich werde sie, sobald Sie es wünschen, nach Berlin schicken und könnte zu jeder Zeit auch selbst dorthin kommen, da ich in Berlin eine Schwester wohnen habe. Eine eingehendere mündliche Erläuterung könnte bei manchen anatomischen und physiologischen Gegebenheiten vielleicht von Wert sein, und vielleicht wäre auch eine mündliche Rücksprache über diese und jene Frage angebracht. Indem ich Ihnen nochmals für Ihre Freundlichkeit danke, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Adresse v. Klages mit Rdn. versehen: »sonst: Giessen. Bahnhofstr. 66, I.«, Nachlass Klages 61.11899/24 Kopie: Nachlass Rothschild

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in Berlin eine Schwester: Rothschilds 2,5 Jahre nach ihm geborene Schwester Siddy, die im Februar 1928 den Berliner Kaufmann Hugo Schramm heiratete und zu ihm zog (Mitteilung des Einwohnermeldeamtes der Stadt Gießen).

43 Klages an Rothschild Kilchberg, den 9. Oktober 1933 Sehr geehrter Herr Doktor: Heute komme ich mit einer Bitte. Vor einem Jahr oder auch vor anderthalb Jahren ist ein dickes rein naturwissenschaftliches Buch über Rechts und Links im Tierreich erschienen. Ich glaube mich zu erinnern, dass der Name des Buches bei meinem Aufenthalt in Frankfurt vorigen Sommer kurz erwähnt wurde. Ich habe den Prospekt verloren und weiss nicht mehr, wie der Autor heisst. Sollten diese Andeutungen Ihnen genügen, so würde ich Sie freundlich um den Titel des Buches bitten. Schon am 15. dieses trete ich meine Vortragsreise an; alle Nachrichten erreichen mich aber bis auf weiteres via Kilchberg. Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, Adresse: bei Herrn H. Schramm, Berlin N20, Pankstrasse 48, Nachlass Rothschild

44 Rothschild an Klages Frankfurt a. M., d. 11. 10. 33 Sehr verehrter Herr Klages! Vorübergehend bin ich wieder in Frankfurt. Da ich eine Notiz über das von Ihnen gefragte Buch zufällig hier besitze, kann ich Ihnen sofort Auskunft geben. Der Titel lautet: Rechts-Links-Problem im Tierreich und beim Menschen, von W. Ludwig, Berlin 1932. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, Postkarte, hschr. korr., Schlussformel hschr., DLA Marbach, Nach­ lass Klages 61.11899/25

Rechts-Links-Problem im Tierreich und beim Menschen. Berlin 1932 von W. Ludwig: Wilhelm Ludwig war Zoologe und Genetiker, als solcher ab 1939

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außerordentlicher Professor in Halle, ab 1948 als ordentlicher Professor an der Universität Heidelberg. Er schrieb Beiträge zur Evolutionsgeschichte und zur Eugenik und befürwortete eine vom Menschen betriebene Selektion über die Sterilisation (s. Junker 2003, S. 205–216). Im erwähnten Buch stellt Ludwig eine integrierte Zusammenschau der Rechts-Links-Befunde in der organischen Natur vor – unter Sichtung aller bis dahin dazu erschienenen Literatur. Beispielsweise versucht er beim Menschen die Prävalenz von Links- oder Rechtshändigkeit durch Prähistorie und Historie hindurch und interethnische Unterschiede zu erfassen. Ludwig geht in dieser Arbeit immer wieder die Frage an, welchem evolu­ tionären Zweck die Rechts-Links-Aufteilungen dienen könnten. In diesem Zusammenhang qualifiziert er Rothschilds Schlussfolgerungen (1930) als selbst »für Vertreter der ›weniger exakten‹ Wissenschaften völlig indisku­ tabel«, und man müsse ihnen wohl »sogar die Eigenschaft des Sinnvollen« absprechen (Ludwig 1932, S. 444f.).

45 Rothschild an Klages Frankfurt, 7. XII. 33 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ich komme am Dienstag,12. XII. nach Berlin und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie in einem der folgenden Tage eine Besprechung wegen meiner Arbeit ermöglichen könnten. Meine Adresse in Berlin ist: bei Hugo Schramm Berlin N20, Pankstr. 48, wo mich auch eine telephonische Nachricht erreichen würde. In Erwartung Ihrer Antwort bin ich mit verehrungsvollen Grüßen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Hs, Postkarte, Adresse: Kilchberg (bei Zürich) Schweiz – durchgestri­ chen und hschr. korr.: Pension Kronprinz, Kronprinzenufer 20, Berlin NW 40, gegenüber dem Adressfeld Vermerk Rothschilds: »Bitte nach Berlin nachsen­ den!« DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/26

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46 Klages an Rothschild Berlin, den 9. Dezember 1933 Sehr geehrter Herr Doktor: Hierdurch nur zur Nachricht, dass ich Ihnen Dienstag (vermutlich zwischen 1 und 2 Uhr) telephonisch über den Zeitpunkt unseres Treffens einen Vorschlag machen werde. Im Augenblick nämlich kann ich noch nicht sicher disponieren. Bis dahin mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, Adresse: bei Herrn H. Schramm, Berlin N20, Pankstrasse 48, Absenderadresse: Kronprinzenufer 20, Berlin NW40, Nachlass Rothschild

47 Rothschild an Klages Berlin N 20, den 16. XII 33 Dr. F. S. Rothschild Berlin N 20 Pankstr. 48 bei Schramm Sehr verehrter Herr Klages! So froh ich darüber bin, Sie persönlich habe sprechen zu können, und so sehr ich Ihnen für Ihr Interesse danke, – bin ich nachher eine Befürchtung nicht losgeworden, die mich veranlasst, Ihnen noch einmal zu schreiben. Ich fürchte nämlich, Ihnen meine Arbeit nicht so nahe gebracht zu haben, wie es erforderlich ist, um für das Besondere und Neue an ihr Verständnis zu finden. Dieses Ver­ ständnis ist aber, abgesehen davon, dass ich es persönlich in hohem Masse wünsche, für die Arbeit ausserordentlich wichtig, weil meines Erachtens nur der Hinweis auf die geistesgeschichtliche Notwendig­ keit und besondere Bedeutung des Buches den Verleger veranlassen kann, den Druck unter den heutigen Umständen zu wagen. Für bedeutsam halte ich die Arbeit aus folgenden Gründen: 1.) An Stelle von Physik und Chemie wird die Seelenkunde zur Grundwissenschaft, von der aus physiologische Probleme bearbeitet und geklärt werden. 2.) Es wird das Prinzip aufgedeckt, das den Bau des Zentralnerven­ systems bestimmt. Dieses Prinzip oder »Gesetz« ist ähnlich wie das Ausdrucksgesetz erscheinungswissenschaftlich fassbar.

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3.) Durch eine eingehende Analyse der Anatomie und Physiologie des Kleinhirns wird Einblick in einen bisher unbekannten, wichtigen Zug des Seelenlebens der Wirbeltiere und des Menschen gewonnen. 4.) Auf Grund dieses letztgenannten Ergebnisses lässt sich eine Theorie entwickeln, die den geistigen Akt hirnphysiologisch einzu­ ordnen vermag und meines Erachtens sowohl den Forderungen der Hirnphysiologie wie auch Ihrer Bewusstseins- und Willenslehre in den entscheidenden Punkten gerecht wird. Aber wie können Sie zu der Überzeugung kommen, dass das, was ich hier von dem Inhalt der Arbeit behaupte, wirklich von ihr geleistet wird? Man wird ja von vornherein in Rechnung setzen müssen, dass die Fremdartigkeit des Materials eine zweifellose und ganz sichere Beurteilung nicht zulassen wird. Aber vielleicht würde eine Lektüre, die von Anfang an dem Aufbau des Ganzen folgte, doch einen Einblick ermöglichen, der zu einer grundsätzlichen Wertung in Bezug auf die oben der Arbeit zugeschriebenen Leistungen genügte? Die Teile des letzten Kapitels, die ich Ihnen vorlas, sind wegen ihrer Verknüpfung mit einer mehr spekulativen Stellungnahme zu gewissen »weltanschaulichen« Fragen, wenig geeignet gewesen, von der wissenschaftlichen Strenge der Untersuchungsmethode, wie sie bei der Bearbeitung der meisten Themen innegehalten wird, ein Beispiel zu geben. Seelenkundlich dürfte besonders das Kapitel über die Entstehung der Symptome der Kleinhirnschädigung beim Menschen interessieren. Als Voraussetzung dieses Kapitels ist weiterhin das über die statische Innervation wichtig, das vor allem aber auch deshalb besonderes Interesse verdient, weil Bewusstsein und Wille eng an die Funktionen der Zentren der Statik gebunden sind. Ich bitte Sie, mir zu verzeihen, wenn ich in dieser Weise an Sie schreibe. Die Gefahr, dass der Druck der Arbeit auf unüberwindbare Schwierigkeiten stösst, scheint mir gar zu gross, und diese Sorge liess mich die Hemmung, die ich diesem Brief gegenüber hatte, überwin­ den. Leider habe ich Ihre Vorlesung gestern nicht besuchen können; ich habe mich wegen eines schweren Katarrhs mit Fieber zu Bett legen müssen, hoffe aber in einigen Tagen wieder auf den Beinen zu sein. In aufrichtiger Verehrung Sie grüssend bin ich Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild

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Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899/27 Kopie: Nachlass Rothschild

Die Teile des letzten Kapitels, die ich Ihnen vorlas, sind wegen ihrer Verknüp­ fungen mit einer mehr spekulativen Stellungnahme ... ein Beispiel zu geben: Der Inhalt des letzten Kapitels, in dem Rothschild die Geistestätigkeit in den Bedingungen der Funktionen des Gehirns begründet, hat in keinem Fall Klages’ Zustimmung gefunden. Rothschild entspricht hier nicht der radika­ len Geistfeindschaft Klages’ (Rothschild 1935, insbes. S. 349ff.).

48 Klages an Rothschild Herrn Dr. F.S. Rothschild bei Schramm Pankstrasse 48 Berlin N 20

Berlin, den 18. Dezember 1933 KRONPRINZENUFER 20 BERLIN NW 40

Sehr geehrter Herr Doktor: Mit Bedauern höre ich von Ihrer Erkrankung und wünsche Ihnen lebhaft baldigste Besserung. Dieses Wetter verlangt allerdings einige »Konstitution«! Über Ihre Arbeit seien Sie unbesorgt. Ich werde mich durchaus dafür einsetzen; gebe aber zu, dass mein Brief an Hofrat Meiner durch Lesung einiger wichtiger Kapitel noch einen frischen Impuls bekommen könnte. Denn es ist natürlich nicht möglich, vom Schlusskapitel den richtigen Eindruck zu gewinnen nach ein­ maligem Hören, umsomehr als darin wiederholt Bezug genommen wird auf physiologische Ausführungen des Voraufgegangenen. Ich habe inzwischen auch schon, ganz am Anfang beginnend, anderthalb Kapitel gelesen und möchte weiterhin die von Ihnen bezeichneten kennenlernen. Es ist aber ungewiss, ob ich in Rücksicht auf meine nahe bevorstehende Abreise noch dazu komme. Nach München möchte ich das grosse und nicht eben leichte Skriptum nicht mitneh­ men, weil mein Koffer ohnehin schon überlastet ist. Ich will nun sehen, was sich vorher noch machen lässt. Wenn nichts, so packe ich das S. ein und schreibe darauf »Unabgeschlossen«; in welchem Falle ich die Lektüre nach Rückkehr, wenn möglich, fortsetzen würde. Gelingt dagegen die Fortsetzung noch vor der Abreise, so schreibe ich darauf »Abgeschlossen«. Sie können es also ab Donnerstag jederzeit abholen oder auch, wenn Sie wollen, hier in der Pension liegenlassen, wo auch von mir zahlreiche Skripten zurückbleiben. Nach späterem

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oder früherem Abschluss schreibe ich dann alsbald an die Firma Barth. Mit den besten Wünschen zur Sonnen- und Jahreswende Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Absenderadresse gestempelt, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/15

Hofrat Meiner: Arthur Meiner, Besitzer und Leiter des Verlags Johann Ambrosius Barth, den er über den Ankauf anderer Verlage erweiterte und dessen Verlagspolitik er 40 Jahre lang bestimmte. Klages veröffentlichte zumeist im Barth-Verlag und versuchte, Meiner dazu zu bewegen, auch Rothschilds »Symbolik des Hirnbaus« zu drucken. Dies lehnte Meiner ab (s. hierzu S. 56), beriet dann später aber noch bezüglich der zu veranschlagen­ den Kosten für die Herausgabe beim Karger Verlag.

49 Rothschild an Klages Berlin, den 29. Dezember 1933 Pankstr. 46 bei Schramm Sehr verehrter Herr Klages! Für Ihren freundlichen Brief vom 18. Dez. und die darin übermittelten Wünsche danke ich Ihnen vielmals. Ihre Versicherung, dass Sie sich durchaus für die Arbeit einsetzen werden, nahm mir ein ganzes Stück von der Sorge wegen des Druckes und erfüllte mich ausserdem mit Stolz. Ich habe inzwischen das Skriptum in der Pension abgeholt, da ich noch einiges daran zu arbeiten beabsichtige, und werde es vor Ihrer Rückkehr wieder dort abgeben. Mit den besten Wünschen für das neue Jahr und verehrungsvollen Grüssen bin ich Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11899.28 Kopie: Nachlass Rothschild

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50 Rothschild an Klages Berlin, den 11. Januar 1934 Pankstr. 48 bei Schramm Sehr verehrter Herr Dr. Klages! Wie Sie inzwischen wohl schon festgestellt haben, habe ich meine Arbeit wieder in Ihrer Pension abgegeben. – Um das Verständnis des Kapitels über die statische Innervation zu erleichtern, erscheint es mir noch ratsam, wenn ich Sie über ein hinführendes Ergebnis vorherge­ hender Untersuchungen kurz unterrichte: Es war verhältnismässig leicht, das Schauen mit all den charakteristischen Zügen, die Sie an dieser Seelenfunktion beschrieben haben, hirnphysiologisch wieder­ zufinden. Dagegen machte es erheblich grössere Schwierigkeiten, den Empfindungsvorgang einzuordnen, so unverkennbar sich seine Abgrenzung als berechtigt erwies. Denn es zeigte sich, dass in der Empfindung als dem Erlebnis eines Widerstandes nicht die gesamte vitale Wirksamkeit der Materie erfasst wird: in ihrer Schwere und Trägheit entfaltet sie physiologische Wirkungen, die so eng mit der Empfindungsfunktion verquickt sind, dass diese ohne die anderen gar nicht zu entwickeln ist. Den Ausgangspunkt zur Behandlung dieser Fragen bildet das nervenphysiologisch wichtige Tatsachenmaterial über »zentrale Hemmungen« der Eigenbewegung. Stösst der animale Körper mit einem fremden zusammen, so erlei­ det er eine Hemmung seiner Eigenbewegung, die als notwendige Voraussetzung zur Empfindung dieses fremden Körpers gilt. Diese periphere oder äusserliche Hemmung verdeckt nun eine zentrale oder innerliche Hemmung der Antriebsfähigkeit, die ebenfalls von dem fremdkörperlichen Eindruck ausgeht, und diese ist es, die den eigentlichen Gegenpol zu der zentralen oder innerlichen Erregung darstellt, die sich in der Eigenbewegung äussert. Zunächst (während der Verschmelzungsphase) wirkt diese Hemmung genau wie ein Zug der Schwere oder Trägheit der Glieder des eignen Körpers entgegen­ gesetzt zur Richtung der eignen Stell- und Bewegungskraft, und erst ein reaktiver Einsatz der eigenen Antriebsfähigkeit entfremdet diese Wirkung als Wirkung eines anderen Körpers. Dieses Ergebnis ist von grosser Bedeutung. Es besagt nämlich, dass nicht nur die Wirkung der »Bilder«, sondern auch die der Körper in die Seele des Tieres als ein Zug eindringt, und des weiteren, dass die Kraft, mit der sich der empfindbare Körper in der Seele anzeigt, eben dieselbe ist, die in der Schwere und Trägheit der eignen Glieder und schliesslich in den

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Gravitations- und Trägheitsvermittlungen des Labyrinthorgans erlebt wird. Das Primäre auch bei der Empfindung eines Widerstandes, nicht nur beim Schauen von Qualitäten ist eine Verschmelzung mit dem inneren Wirkungsprinzip des fremden Körpers, und zwar mit Hilfe der Kräfte der Materie des eignen, d.h. das Leben erweist sich hier wie überall aufgebaut auf der mikroskopischen Natur des Organismus. Erst indem das Tier seine eigene Antriebskraft der fremdkörperlichen Wirkung gegenüber zu behaupten und durchzusetzen sucht, scheidet sich der eigene von dem fremden Körper im Widerstandserlebnis, das daher seinem Wesenskern nach aus dem Gegeneinanderkämpfen zweier sich behauptender materieller Wirkungszentren hervorgeht. Aber nicht, dass er mit fremden Körpern in Widerstreit treten kann – das können nichtorganismische Körper auch – sondern dass er mit ihnen trotz seiner Fähigkeit zur Gegenbewegung verschmelzen kann, schafft die Möglichkeit zur Entfremdung dieser Wirkung in der Empfindung. Zugwirkungen können also ihre Quelle in den »Bildern« wie auch in der Materie haben, sie können sowohl von Erscheinungen des Sinnenraums wie von etwas Vergangenem ausgehen. Zu dem Kapitel über statische Innervation leitet nun am schnellsten über, wenn ich bemerke, dass sich diese an der eingekörperten eigenbeweglichen Seele angreifenden Zugkräfte je nach ihrem Einfluss auf den motori­ schen Apparat unter anderem daraufhin unterscheiden lassen, ob sie einen reaktiven Antrieb auslösen oder nicht. Ist das erstere der Fall, so ist das Erlebnis stets mit unmittelbaren oder indirekten Empfindun­ gen verbunden und bringt eine Einstellung auf den Sinnenraum und auf ein im nächsten Moment oder zukünftig zu erreichendes Ziel mit sich. Lösen sie aber keinen Antrieb aus, und das ist im Wachzustand nur möglich, wenn sie eine ganz gleichmässige, veränderungslose Wirksamkeit entfalten, dann können sie die Motorik zwar auch in der Richtung auf den Sinnenraum binden, aber an etwas Erreichtes und Beständiges in ihm, und diese Art von Zugwirkungen bilden den Ursprung der statischen Innervation. Ich hoffe, dass nach diesen Vorbemerkungen das genannte Kapitel leichter verständlich ist. Im übrigen möchte ich aber noch hinzufügen, dass ich dieses Kapitel, wie auch den Abschnitt über den Schwindel, nicht deshalb empfohlen habe, weil sie mir in der Darstellung beson­ ders gelungen erscheinen, sondern weil sie ein für das physiologische

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Verständnis der Geistestätigkeit wichtiges Tatsachenmaterial behan­ deln. Während meines Besuches hatte ich ein neu erschienenes Buch erwähnt, über das Sie Genaueres in bezug auf den Namen des Verfas­ sers und den Titel zu erfahren wünschten. Diese lauten: Noltenius, Friedrich: Materie, Psyche, Geist. J. A. Barth, Leipzig 1934, 522 S., Preis: 24 Mk. – Das Skriptum werde ich, sobald Sie es wünschen, wieder abholen. In Verehrung und Dankbarkeit bin ich Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/1 Kopie: Nachlass Rothschild das Schauen mit all den charakteristischen Zügen: Das Phänomen des Schau­ ens wird von Rothschild wie folgt gefasst: »Im Schauen verinnerlicht die Seele die Erscheinungen der Welt, schmilzt sie zu Wesenserlebnissen ein, um sie dann in der Phase der Entfremdung, eingebettet in diese Bedeu­ tungserlebnisse, anschaulich sich gegenüber zu sehen. Diese Verwandlung des Äußeren der Welt in ein Inneres ist das eigentliche Kernstück des Schau­ ens« (Rothschild 1935, S. 22f.). Das Primäre auch bei der Empfindung eines Widerstandes ... schafft die Mög­ lichkeit zur Entfremdung dieser Wirkung in der Empfindung: Der ganze Brief ist von zentraler Bedeutung insbesondere für die Wahrnehmung, so wie Rothschild sie versteht. S. Näheres o. S. 105ff.

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51 Klages an Rothschild Berlin, den 22. Januar 1934 Sehr geehrter Herr Doktor: Diese Zeilen sollen Ihnen nur sagen, dass ich Sie und Ihre Arbeit durchaus nicht vergessen habe, vor lauter Berufspflichten aber noch nicht dazu kam, Sie zu einer Zusammen­ kunft zu bitten. Gestern endlich habe ich die ersten drei Kapitel Ihres Buches mit Anteilnahme gelesen und hoffe, im Laufe ungefähr einer Woche die Lektüre einiger mir etwa noch wichtigen Teile abschliessen und mit Ihnen über ein paar Punkte sprechen zu können. Sollten Sie wider Erwarten schon eher abreisen wollen, so würde ich Sie um postale oder »fernmündliche« Benachrichtigung bitten. – Mit Vergnügen habe ich Sie unter den Hörern meiner Vorlesung bemerkt. Sollten Sie etwa ausserdem (was ich nicht weiss) die Vorlesung in der Lessing-Hochschule besuchen, so kann ich in Aussicht stellen, dass die Fegefeuerhitze des vorigen Males sich nicht wiederholen wird. Indem ich noch für Ihr ausführliches Schreiben vom 11. ds. danke, bin ich mit den besten Empfehlungen Ihr erg. LKlages. Original: Ts, hschr. erg., Postkarte, Adresse: bei Schramm, Berlin N20, Pank­ strasse 48, Nachlass Rothschild

meiner Vorlesung: Klages hielt im Sommersemester 1933 und im Winterse­ mester 1933/34 Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelm-Universität und in anderen Einrichtungen Berlins (s. 41 K).

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52 Klages an Rothschild Berlin, den 3. Februar 1934 Herrn Dr. F.S. Rothschild bei Schramm Pankstrasse 48 Berlin N 20 Sehr geehrter Herr Doktor: Heute Vormittag hatte ich mir für Sie eine Nummer des heutigen Lokal-Anzeigers gekauft, weil ich beim Coiffeur darin den beiliegenden Artikel las. Hernach vergass ich, Ihnen das Blatt zu geben, und hole es hiermit nach. Die Redaktion würde ja auf Anfrage höchstwahrscheinlich angeben, wie man sich mit diesem Wundermenschen in Verbindung setzen könnte. Denn, verhält sich das auch nur einigermassen so, wie es hier dargestellt ist, so stände man vor einem nicht ganz leicht zu erklärenden Phänomen. Mit den besten Grüssen Ihres ergebenen: LKlages. Original: Ts, Kurzbriefformat, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, 61.6792/16

eine Nummer des heutigen Lokal-Anzeigers: In der Morgenausgabe, auf der zweiten Seite des 1. Beiblatts des Berliner Lokal-Anzeigers vom Samstag, 3.2.1934, Nr. 57, findet sich der Bericht über einen eine Maschine nachah­ menden Mann im Schaufenster eines Berliner Warenhauses beschrieben. Der Zeitungssausschnitt ist dem Brief beigelegt (s. u.).

52a Anhang Als lebende Maschine durch Europas Schaufenster Der merkwürdige Beruf eines jungen Mannes: »Leblos« hinter Glas Von allen ausgefallenen Berufen hat dieser junge, elegante Mann wirklich den ausgefallensten. Zur Zeit steht im Schaufenster einer Berliner Bekleidungsfirma ein großes Schild, auf dem zu lesen ist: Mensch oder Maschine? Vorführungen täglich von halbzwölf bis eins und vier bis sieben. Dann hebt sich im Schaufenster ein Vorhang und eine Puppe steht da, von der eine Kabelleitung zur Wand führt. Starr und tot ist ihr Blick, wie bei einer elektrisch betriebenen Puppe zuckt ihre Hand,

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hebt sich ruckweise ihr Arm, und fast gespenstisch sieht es aus, wenn diese Puppe, die alle zehn Minuten ein anderes Garderobenstück zeigt, mit leicht zitternder Unterlippe unhörbare Worte zu formen scheint. Die Menschen stauen sich vor diesem Fenster. Ist es nun ein Wunderwerk der feinsten Präzisionsmechanik oder ein Mensch? Klettert man hinter die »Kulissen«, wartet, bis der Vorhang wieder zugezogen wird, bekommt man einen kleinen Schreck: die Puppe wird lebendig, lächelt, drückt einem die Hand, rückt ein bißchen an der Hornbrille und erzählt: »Ich stamme aus Solingen, wo meine Eltern eine Fabrik haben. Als Achtzehnjähriger ging ich als Privatsekretär nach Amerika. Als ich zurückkam – die Inflation war vorbei und meinen Eltern ging es ziemlich schlecht –, hielt es mich auch nicht zu Hause. Ich ging »auf die Walze«, kam in die Schweiz und wurde Hausverwalter bei einer Studentenverbindung am Rigi. Später wurde ich Vertreter und kam nach Paris. Dort sah ich eines Tages in einem Schaufenster eine mechanische Puppe, die immer dieselben Bewegun­ gen ausführte. Nun hatte ich schon immer eine Sehnsucht, um jeden Preis etwas zu machen, was andere nicht können, und so fing ich damals – als es mir wirklich mehr schlecht als recht ging – an, vor dem Spiegel die Bewegungen der mechanischen Puppe nachzuahmen. Eines Tages hatte ich mich so in der Gewalt, daß meine Glieder sich während der Übungen fast in einer Art Starrkrampf befanden. Das Schwierigste war natürlich die völlige Bewegungslosigkeit der Finger und der Pupillen. Aber auch das gelang. Und so bin ich denn als »lebende Maschine« quer durch Europa gereist. Ich habe in den Schaufenstern vieler Länder gestanden, in Frankreich, in der Schweiz, in England, Holland und Italien. Das Unangenehmste war natürlich das Im-Freien-auftreten. Es war außerordentlich schwer, auf manch­ mal wirklich glänzende Witze nicht zu reagieren und sogar, wenn Neugierige versuchten, mich zu kitzeln, völlig reglos und eisern zu bleiben! Ärzte und Wissenschaftler haben mich wie ein interessantes Phänomen untersucht. Fünf Stunden sich sozusagen von dem Menschsein zu lösen und nur noch wie eine Maschine auf imaginäre Strombefehle zu reagieren, ist keine Kleinigkeit! Sie wissen doch, daß nichts schwerer ist, als sich nicht zu bewegen, wenn man es nicht darf – und bestimmt kribbelt es einem doch gerade dann in der Nase, wenn man nicht niesen darf. Ja, es ist schon ein harter Beruf, aber – er macht mir Freude!« Seine Zeit ist gekommen, der Maschinenmensch kann noch einmal lachen und sich auf dem Absatz herumdrehen, dann ist es, als

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ginge wirklich ein elektrischer Strom durch seinen Körper, reglos, statuenhaft, Maschine geworden, steht er wieder in seinem Fenster und verdient sich sein Brot mit einer einzigartigen Nerven- und Willenskonzentration...- er

53 Rothschild an Klages Berlin, den 5. Februar 1934 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Für Ihren freundlichen Brief vom 3. ds. mit dem einliegenden Zei­ tungsabschnitt danke ich Ihnen vielmals. Ich habe mir, interessiert durch den Bericht, die Vorführung dieses »Maschinenmenschen« einmal angesehen. Er tritt in einem Schaufenster der Firma Peeck und Cloppenburg in der Rossstr. auf. Es handelt sich aber keineswegs um eine so erstaunliche Leistung, wie es von dem Reporter dargestellt wird. Jede Vorführung dauert etwa 5 Minuten, doch dass jemand durch diese ganze Zeit hindurch im Zweifel bleiben könnte, ob es sich um einen lebendigen Menschen oder eine Puppe handelt, glaube ich kaum. Das Gesicht ist stark geschminkt und die Neigung zum Lidschlag scheint durch Cocaineinträufelung (den weiten Pupillen nach) verringert zu sein, was es offenbar sehr erleichtert, den puppen­ haft starren Ausdruck des Gesichtes willkürlich festzuhalten. Viel weniger gelingt es dem Manne in den Armbewegungen die mecha­ nische Puppe nachzuahmen. Von irgend einer maschinenmässigen Erregung durch elektrische Ströme ist natürlich keine Rede. Das Ganze stellt wohl eine beachtliche Willensleistung dar, aber nichts, was nicht manchem anderen bei entsprechendem Energieeinsatz auch gelingen würde. Über Ihre Äusserungen zu dem letzten Kapitel meiner Arbeit habe ich noch einmal gründlich nachgedacht und habe Ihnen schliesslich beipflichten müssen, dass die spekulativen Abschnitte darin mit dem wissenschaftlichen Charakter des ganzen übrigen Buches nicht zusammenstimmen. Ich will deshalb den Abschnitt »zur Metaphysik des Geistes« ganz weglassen und den über die Materie dahingehend umarbeiten, dass jede metaphysische Verallgemeinerung draussen bleibt, und nur die Bedeutung der Materie für die statische Innerva­

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tion und für das Erlebnis des stehenden Raumes noch einmal zur Darstellung kommt. Die Behandlung des Funktionswandels im Zen­ tralnervensystem durch die Geistestätigkeit und deren Bedeutung für die funktionelle Asymmetrie des Grosshirns scheint mir aber notwendig zu dem Thema zu gehören und dürfte in der neuen Fassung auch durchaus in den Rahmen passen. Indem ich Ihnen nochmals für Ihre Freundlichkeit und Anteilnahme danke, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild PS. Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen den Durchschlag des Briefes schicke! Wie ich zu meiner Überraschung feststelle, verwischt sich der Druck der Schreibmaschine, die ich benutze, sehr leicht. Kopie: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/2 Kopie: Nachlass Rothschild

»zur Metaphysik des Geistes«: Dieser Passus findet sich dann anders als angekündigt doch am Ende des letzten Kapitels ›Zur Physiologie des Bewußtseins und des Willens‹ und am Ende des Buches (S. 348–356). die Vorführung dieses »Maschinenmenschen«: s. den vorherigen Brief 52 K mit Anlage 52 a K.

54 Klages an Rothschild Berlin, den 5. Februar 1934 Herrn Dr. F.S. Rothschild bei Schramm Pankstrasse 48 Berlin N 20 Sehr geehrter Herr Doktor: Soeben habe ich in Ihrer Sache an den Verlag Barth geschrieben und überreiche Ihnen anbei eine Kopie dieses Briefes zu Ihren Händen (ich selbst habe auch eine Kopie; Rücksendung also nicht nötig!). Ich bin auf die Antwort recht gespannt und wäre recht froh, wenn Sie positiv ausfiele! Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages.

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Original: Ts, Kurzbriefformat, unter Ort und Datum des Briefes: Stempel »Kron­ prinzenufer 20, Berlin NW 40«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/17

54a Anhang Berlin, den 5. Februar 1934 An den Verlag J. A. Barth Salomonstrasse 18 B Leipzig Lieber Herr Doktor: Sie erinnern sich höchstwahrscheinlich noch an unser kurzes Gespräch über Herrn Dr. Rothschild, von dem ich Ihnen sagte, dass er seit Jahren damit beschäftigt sei, gewisse bewusstseins­ theoretische und metaphysische Ergebnisse teils Palágyis, teils mei­ ner eigenen Philosophie nervenphysiologisch fruchtbar zu machen. Das Ergebnis dieser Untersuchungen liegt nunmehr vor. Das Manu­ skript trägt den Haupttitel Symbolik des Nervensystems und den Untertitel »Erscheinungswissenschaftliche Untersuchungen über den Bau und die Funktionen des Zentralnervensystems der Wirbel­ tiere und des Menschen«. Es umfasst schätzungsweise 330 000 Silben und enthält rund 50 Figuren. Obwohl ich es seit fünf bis sechs Wochen in Händen habe, konnte ich bei meiner ausserordentlich grossen Arbeitslast doch nur etwa ein Drittel davon zur Kenntnis nehmen. Aber das Gelesene hat mir zur Bildung eines Urteils genügt, das durchaus im Sinne eines Gutachtens über den wissenschaftlichen Wert der Arbeit aufzufassen ist. Auch wer wie ich den rein nervenphysiologischen Ausführungen gegenüber Laie ist, erkennt doch unschwer, dass der Verfasser das einschlägige Schrifttum vollständig beherrscht und den Stoff ebenso selbständig wie neuartig verarbeitet hat. Was ferner die philosophischen Teile betrifft, so liegt deren Niveau weit über dem mittleren philosophierender Ärzte von heute. Ich sehe davon ab, dass die Anwendung wesentlicher Untersuchungsergebnisse von mir auf Nervenphysiologisches wohl ohne Übertreibung epochal genannt werden dürfte; wie ich ebenso davon absehe, dass ich nicht mit allen Einzelbefunden übereinstimme. Denn solches beträfe weniger die Vorzüge oder Mängel der Arbeit schlechthin als die Beziehung dieser Vorzüge oder Mängel zu meinen eigenen Forschungsresultaten. Und

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ich will damit zum Ausdruck bringen, dass mein Urteil über die all­ gemeinen Wertqualitäten des vom Verfasser Geleisteten nicht anders lauten würde, auch wenn eine ganz andere Philosophie den Aus­ gangspunkt gebildet hätte. Vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus halte ich somit die Herausgabe des Buches uneingeschränkt für wünschenswert. – Fasst man demgegenüber die geschäftliche Seite der Sache ins Auge, so darf freilich nicht verschwiegen werden, dass es ein schwieriges Buch ist; schwierig für Philosophen, weil die nervenphysiologische Grundlage fehlt; mindestens ebenso schwierig für die Nervenphysiologen, weil die üblichen Gedankensysteme, die ihnen etwa vertraut sein könnten, hier völlig versagen. Gemildert wird jedoch die Schwierigkeit durch die vorzügliche Darstellungsart des Verfassers. Damit sind Sie, wenn ich nicht irre, hinreichend orientiert, um entscheiden zu können, ob die Arbeit für Ihren Verlag in Betracht käme oder nicht. Wenn ja, so könnten Sie den Verfasser entweder unmittelbar oder über mich benachrichtigen. Wenn nein, so bäte nur ich um kurze Rückäusserung. Herr Dr. Fr. S. Rothschild ist z. Zt. hier in Berlin und zwar bis nächsten Samstag, den 10. ds. einschliesslich. Seine Anschrift lautet bis dahin: bei Schramm, Pankstraße 48, Berlin N 20. Bei der Gelegenheit überreiche ich Ihnen mit der Bitte um Rückgabe nach Lektüre beiliegendes Schreiben der Prager Studentenlesehalle und überlasse es Ihnen, ob Sie sich mit dem Verwalter etwa zwecks Bezuges des »Widersachers« zu einem ermässigten Preise (denn etwas anderes käme ja nicht in Frage) in Verbindung setzen wollen. Mit herzlichen Grüssen Ihres ergebenen: Original: Ts, Brief Klages an den Barth-Verlag, DLA Marbach 61.4004/3 Kopie: Ts, Nachlass Rothschild

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55 Rothschild an Klages Giessen, 12.II.34 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Seit gestern bin ich nun wieder zu Hause. Verabredungsgemäss teile ich Ihnen die neue Anschrift mit; sie lautet: Dr. F. S. Rothschild Giessen Bahnhofstr. 66 I. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Hs, Postkarte, Adresse: Berlin NW 40, Kronprinzenufer 20, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/3 zu Hause: Rothschild lebt nun wieder bei seinen Eltern in Gießen.

56 Rothschild an Klages Dr. F. S. Rothschild Bahnhofstraße 66

Giessen, den 1. März 1934

Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Grund meines Schreibens ist, Sie auf eine neue und interessante Ent­ deckung eines Wiener Neurologen, Hans Ehrenwald, aufmerksam zu machen, von dem ich annehme, dass sie Ihnen noch nicht bekannt geworden ist. Dieser Forscher, von dem ich früher schon gute Arbei­ ten gelesen habe, hat nachgewiesen, dass die Hautsinnesnerven des Gesichtes und Halses eine Licht- und Farbenempfindlichkeit besit­ zen! Es werden z.B. von der Haut »warme« (rot – gelbe) und »kalte« (grün – blaue) Farben unterschieden und ihre Aufnahme auf einem genauer bestimmbaren nervösen Weg mit gegensätzlichen motori­ schen Vorgängen beantwortet. Ich erinnere mich an eine Bemerkung aus Ihrer Vorlesung, nach der Sie es grundsätzlich nicht für unmög­ lich erklärten, dass jemand mit den Händen Farben zu unterscheiden vermöchte. Hier liegt nun der mit aller Strenge wissenschaftlicher Methodik geführte Beweis vor, dass solch ein Sinnesvorgang nicht nur möglich ist, sondern dass die Anlage zu dieser Fähigkeit sogar bei fast allen Menschen festzustellen ist! Nähere Einzelheiten in die­

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sem Brief anzugeben, würde zu weit führen. Die diesbezüglichen Arbeiten des E., von denen ich zwei gelesen habe, bringen noch man­ ches interessante und in verschiedener Hinsicht wichtige Material. Eine Übersicht über die bisherigen Ergebnisse liegt vor in: H. Ehren­ wald: Über den Strahlensinn des Menschen, Klin. Wochenschrift, 12: Jahrg. Nr. 38, 1933. In demselben Halbjahresband dieser Zeitschrift in Nr. 31 steht: Der Photodermatische Tonusreflex, seine Beziehung zur Sensibilität und zum Vestibularapparat. Ich möchte noch bemer­ ken, dass ich in bezug auf die verschiedene Wirkung der Farben auf die Motorik bei der Reception durch die Augen im Frankfurter Neu­ rologischen Institut selbst früher einmal Versuche angestellt und andere mitbeobachtet habe und mich damals von der Verlässlichkeit der von E. angewandten Methode überzeugt habe. Von Barth habe ich noch keine Antwort. Es ist daher wohl anzuneh­ men, dass er die Arbeit einem Neurologen oder Physiologen zu einer Begutachtung von dieser Seite her übergeben hat. Ob sie dabei auch an einen geeigneten Fachmann gekommen sein wird? Nun, vorläufig bleibt wohl nichts anderes als abzuwarten. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr., Rdn. Klages, DLA Marbach, Nachlass Kla­ ges 61.11900/4 Kopie: Nachlass Rothschild

Hans Ehrenwald: Neurologe und Psychiater, arbeitete zum Zeitpunkt der genannten Veröffentlichung als Assistenzarzt bei Otto Pötzl an der Psychi­ atrisch-Neurologischen Klinik in Wien. Aus Ungarn stammend (Name: Janos Erdely) studierte er in Prag Medizin, er emigrierte über England in die USA und lebte und arbeitete ab 1947 in New York (Name: Jan Ehrenwald). Dort wurde er Psychoanalytiker, befasste sich mit Themen der Parapsycho­ logie, allgemeineren Aspekten der Psychotherapie, schrieb Gedichte und Theaterstücke (z.B. Jan Ehrenwald 2002; Laborde-Nottale 1995, S. 132, 216). Die erwähnten Untersuchungen weisen eine unterschiedliche Reak­ tion des Körpertonus bei der Exposition der Haut mit unterschiedlich farbi­ gem Licht unabhängig von der Temperatur nach. Es eröffne sich hierüber »der Ausblick auf eine neue menschliche Sinnesleistung« (Ehrenwald 1933b) als einem Bindeglied zwischen dem Licht- und Farbensinn der Netz­ haut und dem Tast- und Temperatursinn der Haut. Bemerkenswert ist seine schon 1938 in Bratislava erschienene Abhandlung »Über den sogenannten

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jüdischen Geist.« Hierin bezieht er dezidiert Stellung gegen Klages’ negative Geistesauffassung (Ehrenwald 1938). die verschiedene Wirkung der Farben auf die Motorik bei der Reception durch die Augen im Frankfurter Neurologischen Institut: Gemeint sind wohl Versuche, wie sie von Goldstein und Rosenthal beschrieben werden (1930): Es wurde u.a. die Einwirkung unterschiedlicher Farben auf die Augen im Hinblick auf Veränderungen des Körpertonus untersucht. Hier wie bei Ehrenwald wurden die Veränderungen über die Abweichung der ausge­ streckten Arme aus einer normierten Position bei Reizexposition erfasst. Demnach erfolgt bei rot eine größere Abweichung als bei grün, bei gelb eine größere als bei blau (Goldstein & Rosenthal 1930).

57 Rothschild an Klages Giessen, den 2. März 1934 Bahnhofstrasse 66 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 28.2.! Wie Sie aus mei­ nem gestrigen Brief wohl ersehen haben, hatte ich schon die richtigen Vermutungen. Aber wen soll ich als geeigneten Nervenphysiologen vorschlagen? Bei jedem Namen, der mir einfällt, kommen mir auch gleich Bedenken, und ich tappe daher ziemlich im Dunkeln, wenn ich im folgenden trotzdem einige nenne. F.J.J. Buytendijk, Direktor des Physiologischen Instituts an der Universität Groningen, scheint einen grundsätzlichen Umschwung auf Grund Ihrer Werke vollzogen zu haben, was in diesem Zusammenhang vielleicht das Wichtigste ist. Aber ich kenne ihn garnicht und von seinen Arbeiten habe ich bisher nur zwei kleinere gelesen; sie sind wohl meist in französischer Sprache erschienen. Bethe, Ordinarius für animale Physiologie in Frankfurt, ist ebenfalls Gegner der alten Reflexlehre und hätte evtl. den Vorzug, dass ich mich persönlich mit ihm in Verbindung setzen könnte. Wie Sie sich vielleicht erinnern, gehe ich zum Teil von dem von ihm zusammen­ getragenen Material aus. Praktisch ist er seinen Anschauungen und seinen Arbeitsmethoden nach durchaus Mechanist, aber ich glaube, dass er wenigstens die Probleme sieht. V. Weizsäcker, der Leiter der Nervenklinik in Heidelberg, hätte für sich, dass er als Neurologe einen Teil der Probleme, die ich ausführlicher behandle, genauer kennt; ausserdem ist er philosophisch und psychologisch gebildet;

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aber ob er gerade in diesem Falle aufgeschlossen sein wird? Ganz allgemein muss man eben bedenken, dass diese Autoritäten meist an einem eigenen System bauen oder Ansätze dazu hegen, die durch eine so weitgreifende Theorie wie die der Symbolik des Hirnbaus zum mindesten gestört werden. Eine freudige Anerkennung darf man daher von dieser Seite wohl niemals erwarten. Eine weitere Schwie­ rigkeit ist, dass die Erscheinungswissenschaft des Nervensystems der bisherigen Fachwissenschaft bei allen grundlegenden Feststellungen am fernsten und fremdesten ist, und es eines viel umfangreicheren Buches bedurft hätte, wenn man überall die Brücken hätte sorgfältig ausarbeiten wollen. Vieles muss die Männer der offiziellen Schulen deshalb wie eine für sie ganz müssige Hypothese anmuten, was seine Fähigkeit auch auf ihrem Boden Entscheidungen zu treffen und neue Einsichten zu ermöglichen, erst bei weiterer Erläuterung und Bearbeitung erweisen wird. Ich sehe heute schon eine ganze Anzahl solcher Möglichkeiten sehr deutlich. Aber wer weiss, vielleicht würden auch noch so viel Gründe und Belege für diese Gutachter nichts bedeuten, weil die Arbeit eben einfach den Widerständen begegnet, auf die gewöhnlich das stösst, was ein Anfang ist. Noch eine Möglichkeit erwäge ich. Würde der Verleger sich vielleicht leichter zur Herausgabe entschliessen, wenn Sie ein Geleitwort oder eine Einleitung für das Buch schrieben? Ich kann nicht ermessen, wie Sie zu diesem Gedanken stehen und was es für den Verleger bedeuten würde; ich brauche aber nicht zu betonen, dass ich Ihnen sehr sehr dankbar wäre, wenn Sie der Arbeit auf diese Weise zur Veröffentlichung verhelfen könnten. In Verehrung Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/5 Kopie: Nachlass Rothschild

Ihre freundlichen Zeilen vom 28.2.: Der Brief findet sich weder im Literatur­ archiv Marbach noch im Nachlass Rothschilds. Dort befindet sich nur ein leerer Briefumschlag mit Poststempel vom 1.3.1934. Klages hatte mit Schrei­ ben des Barth-Verlags vom 24.2.1934 erfahren, dass Meiner den Verlag der »Symbolik des Hirnbaus« eher ablehnen wollte (Brief Barth-Verlag an Kla­ ges 24.2.34, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.8094/9. Näheres s. S. 56). Wahrscheinlich teilte ihm Klages diese Absicht des Verlegers mit und ver­ wies auf die abschlägige Empfehlung eines Psychiaters, den Meiner zu Rate

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gezogen hatte. Wahrscheinlich fragte er nun Rothschild nach einem mögli­ chen Gegengutachter. F.J.J. Buytendijk: Buytendijk (1887–1974), ein niederländischer Physiologe und Psychologe mit persönlicher und theoretischer Nähe zu den philosophi­ schen Anthropologen, insbesondere zu Max Scheler und Helmuth Plessner, er bezog sich wie Klages und Rothschild auch auf den Naturphilosophen Melchior Palágyi. Bethe: Albrecht Bethe (1872–1954), Physiologe, ab 1918 Herausgeber der Fachzeitschrift ›Pflügers Archiv‹, gab als Hauptherausgeber das vielbändige ›Handbuch der normalen und pathologischen Physiologie‹ in den Jahren 1925–1932 heraus. Er gebrauchte zum ersten Mal den Begriff der Plastizität für Gehirn und ZNS (s. Stahnisch 2016 und s. S. 72ff.). Weizsäcker: Viktor von Weizsäcker (1886–1957), entwickelte eine sich an gestaltpsychologischen Ansichten und Befunden orientierende Gestaltneu­ rologie, unabhängig und anders als Kurt Goldstein. Er gilt als einer der Pioniere der Psychosomatik in Deutschland.

58 Rothschild an Klages Giessen, den 13. April 1934 Bahnhofstr. 66 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Da ich von dem Verlag Barth noch keinen Bescheid bekommen habe, nehme ich an, dass das Manuskript »Symbolik des Hirnbaus« noch einmal zu einer Beurteilung eingesandt worden ist. Oder ist in der Erledigung der Frage sonstwie eine Verzögerung eingetreten? Ich bin recht in Sorge ob dieser Unklarheit und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir eine Nachricht über den gegenwärtigen Stand der Ange­ legenheit zugehen liessen. Es wäre für mich auch sehr interessant, zu erfahren, welche Einwände evtl. gegen meine Ausführungen gemacht worden sind. Gerade in der letzten Zeit sind einige Befunde mitgeteilt worden, die eine erscheinungswissenschaftlich erschlossene Ansicht der Arbeit – über die Abhängigkeit des Gedächtnisses vom Zwi­ schenhirn – tatsachenmässig belegen. Solche Voraussagen erst später erhobener Feststellungen dürften als Gegenargument gegen den wohl beliebtesten Einwand der mangelhaften Begründung vielleicht nicht ohne Wert sein.

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Es wird Sie interessieren, dass meine Forschungen über den Aufbau und die Funktionsweise des Systems der Drüsen mit innerer Sekre­ tion nach einer etwa halbjährigen Materialsammlung in den letzten Wochen zu wichtigen Ergebnissen geführt haben. Ich sehe heute klar, wo Physiologie und Klinik noch ganz im Dunkel tasten. In dem bei Ihrer Einsicht noch fehlenden Kapitel werden diese Ergebnisse kurz zusammengestellt, was die in der Arbeit entwickelten Anschauungen an einem entscheidenden Punkt fest unterbauen wird. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, Rückseite und linker Rand des Briefes versehen mit der handschr. Fassung von 59 K, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/6 Kopie: Nachlass Rothschild

13. April 1934: Dieser Brief ist datiert vom 13. April 1933, findet sich jedoch auch im Klages-Nachlass in 1934 an dieser Stelle. Er entspricht inhaltlich auch der Reihenfolge in den Herausgabebemühungen in Bezug auf die »Symbolik des Hirnbaus«. eine Verzögerung: Meiner hat bereits am 10.4. im Brief an Klages die Veröffentlichung abgesagt (DLA Marbach, Nachlass Klages 61.8094/13, s. 59 K). meine Forschungen über den Aufbau und die Funktionsweise des Systems der Drüsen mit innerer Sekretion: nicht mehr in die »Symbolik des Hirnbaus« aufgenommen, sondern separat 1934 veröffentlicht in der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie: »Von der Übereinstimmung im Aufbau des Zentralnervensystems und des Systems der Hormone«.

59 Klages an Rothschild Kilchberg, den 16. April 1934 Herrn Dr. F. S. Rothschild Bahnhofstrasse 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Soeben erhalte ich Ihren vom 13. dieses datierten Brief aus Giessen, und eben heute hätte ich Ihnen auch ohne diese Anregung geschrieben und zwar infolge einer gestern erhaltenen Zuschrift von Barth, die einen längeren Briefwechsel zwi­

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schen ihm und mir betreffend den Verlag Ihrer Arbeit in höflichster Form mit endgültiger Ablehnung beschliesst. Genauer geschah das schon in seinem vorletzten Schreiben, während sein gestriges auf meinen Wunsch mich ermächtigt, Ihnen die Ablehnungsgründe nach eigenem Ermessen darzulegen. Vermutlich haben Sie inzwischen von ihm das Skriptum bereits zurück erhalten. – Ich begnüge mich heute mit drei Punkten (gelegentliches Wiedersehen würde eingehendere Darlegung ermöglichen): 1.- Ihr Skriptum wurde ausser von mir (teilweise) noch von einem Psychiater gelesen (den ich zu erraten glaube und dessen Urteil gewisser Absichtlichkeiten nicht entbehren dürfte); nicht aber noch von dritter Seite. 2.- Aus dem psychiatrischen Gutachten teilte mir unterm 24. II. Barth unter anderem folgendes mit: »Er gibt zu, dass die Arbeit ganz auf Ihren Anschauungen fusst und lebenswissenschaftliche Gesichts­ punkte auf die Morphologie des Zentralnervensystems projiziert und von hier aus Lage, Gestalt, äusseren Bau des Zentralnervensystems verständlich zu machen versucht. – Die ganze Theorie erscheint ihm aber etwas gewaltsam durchgeführt. Die damit zu gewinnenden Erkenntnisse seien dem Aufwand an Begriffen und Diskussion nicht entsprechend. Er gibt zu, dass das Buch gedankenreich und lesens­ wert ist, glaubt aber, dass nur eine kleine Auflage in Frage kommen kann«. 3.- Sie bemerken natürlich sofort, dass diese Bewertung einen ent­ scheidenden Ablehnungsgrund nicht bilden kann. Im Einklange damit liess denn auch Barth das Nichtariertum des Verfassers als für ihn erschwerend durchblicken. – Aber noch etwas ist daran für Sie vielleicht nicht uninteressant. Keineswegs offenbar wurde mangel­ hafte Begründung gerügt, dagegen gewissermassen zu grosse Kom­ pliziertheit. Ich darf bei der Gelegenheit nochmals meiner Überzeu­ gung Ausdruck verleihen, dass Sie mit Ihren Nachweisungen um so eher durchzudringen Aussicht haben, als Sie sich auf grosse Grund­ linien beschränken und nicht allzu sehr schon feinste Einzelheiten dem – wie ich bestimmt glaube, prinzipiell Richtigen – gefügig zu machen bestrebt sind. 4.- Meine sehr eingehende Erwiderung an Barth vom 15. III. brachte die Sache völlig zur Klarheit. Ich habe inzwischen durch Rücksprache mit einem andern grossen Verleger jenen Stein des Anstosses

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genauer kennengelernt und bin dabei zu dem Ergebnis gekommen, das Ihnen vorzulegen der Hauptzweck dieser Zeilen ist. Mehrere grosse – darunter auch wissenschaftliche – Verlage haben sich vorderhand, soweit das möglich war, auf »völkische« Arbeiten umgestellt. Die Firma Barth z.B., von der ja die Firma Kabitzsch ein Teil ist, wirbt begreiflicherweise nach Kräften für ihre MannusBibliothek. Keiner ist unter diesen Verlagen, der nicht früher eine grosse Anzahl Bücher nichtarischer Autoren herausgegeben hätte, die er folglich weiterhin vertreiben muss. Fährt er aber eben jetzt in dieser Richtung fort, so sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Gehässig­ keiten vonseiten derjenigen Konkurrenz zu erwarten, die mehr oder minder auf »Konjunktur« eingestellt ist. Ich mache sogleich die Anwendung auf Ihren Fall. Man muss ver­ suchen, Ihr Buch in einem grossen – und möglichst wissenschaftli­ chen – Verlage unterzubringen, der entweder selbst nichtarisch ist oder nichtarische Teilverlage umfasst. Das wäre in erster Linie: Julius Springer, Berlin (oder allenfalls derselbe: Wien). Schlüge auch das fehl, so käme ferner in Frage: Walter de Gruyter & Co., Genthiner Str. 38, Berlin W 10. – Ich bin jederzeit bereit, dem Verlag inbetreff Ihrer seelenkundlichen und metaphysischen Ausführungen ein posi­ tives Gutachten zu unterbreiten. Wird ferner das Gutachten eines Fachmannes über den nervenphysiologischen Teil gewünscht, so empföhle ich unter anderem: Dr. Carl Haeberlin, leitender Arzt des Krankenhauses, Karlstraße, Bad Nauheim. – Ich bin entschlossen, diese Angelegenheit nicht ruhen zu lassen, und werde Ihnen noch weitere Vorschläge machen, wenn wir so nicht zum Ziele kommen sollten. Vorderhand rate ich, mit Springer und zwar baldmöglichst den Anfang zu machen (natürlich ohne Erwähnung Ihrer bisher unternommenen Schritte). Ich bitte Sie endlich, mich dauernd auf dem Laufenden zu halten, damit ich wenn nötig, selbst eingrei­ fen kann. Was Sie von neuen Bestätigungen Ihrer These der Abhängigkeit des Gedächtnisses vom Zwischenhirn sowie über weitere wichtige Ergebnisse betreffend die innersekretorischen Drüsen andeuten, erregt natürlich meine Teilnahme und besonders, fast möchte ich sagen, Neugierde. Ich weiss aber auch, dass es unmöglich ist, derglei­ chen brieflich darzulegen. Hoffen wir, dass unsere Bemühungen um die Veröffentlichung Ihrer Arbeit bald zum guten Ende führen! Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages

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Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/18

einem Psychiater: Dieser war über das Sächsische Staatsarchiv, das das stark dezimierte Archiv des Verlags Johann Ambrosius Barth in seinen Beständen hat, nicht zu ermitteln. das Nichtariertum des Verfassers: gibt damit die Begründung Meiners insgesamt genau wider. S. Brief Meiner/Barth an Klages 10.4.1934 ebd. 61.8094/13. mit einem andern grossen Verleger: nicht ermittelt. Dr. Carl Haeberlin: Haeberlin, NSDAP-Mitglied, ein Anhänger Klages’, gehörte mit zu den Psychotherapeuten, die nach Hitlers Machtergreifung eine »Arisierung« der Psychotherapie in Deutschland betrieben (Lockot 1985, S. 134ff. u. S. 334). Er stand mit Klages der Psychoanalyse von Grund auf ablehnend gegenüber, und es war ihm daran gelegen, den deutschen Psychotherapeuten »die psychotherapeutische Linie Klages-Prinzhorn« nahe zu bringen. U.a. war er an der programmatischen Aufsatzsammlung »Deutsche Seelenheilkunde« (hrsg. v. Matthias H. Göring 1934) beteiligt, in denen die Protagonisten einer deutschen Seelenheilkunde ihre Positionen vertraten. Mannus-Bibliothek: s. 60 R.

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Giessen, den 20. April 1934 Bahnhofstr. 66

Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Für Ihren freundlichen Brief vom 16. dieses, insbesondere aber für die Entschiedenheit, mit der Sie sich für meine Arbeit einge­ setzt haben und weiterhin einzusetzen bereit sind, danke ich Ihnen vielmals. Von Barth habe ich inzwischen das Skriptum mit einem höflichen Brief zurückerhalten. Mit gleicher Post empfing ich einen Prospekt der Mannusbibliothek von Kabitzsch, was ich geneigt bin als Andeutung des ja von Ihnen schon vermuteten entscheidenden Ablehnungsgrundes aufzufassen. Ob allerdings mein Nichtariertum bei Springer weniger ins Gewicht fallen wird, scheint mir sehr zwei­ felhaft; dem öffentlichen Kurs dürfte jeder Verlag Rechnung tragen,

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der jüdische nicht minder als der arische. Aber es ist doch wohl das Gegebene, es dort zu versuchen, und ich dachte in folgender Weise vorzugehen: Ich werde das noch fehlende Kapitel fertigstellen, was noch etwa 10 Tage in Anspruch nehmen wird, und das Manuskript nunmehr vollständig, auch mit dem im Hinblick auf die Berliner Besprechung mit Ihnen umgearbeiteten letzten Kapitel an Springer schicken. Einen orientierenden Bericht über den Inhalt und Aufbau des Ganzen werde ich beigeben und das von Ihnen freundlicherweise versprochene Gutachten ankündigen. Gleichzeitig werde ich einen Durchschlag des neuen Kapitels, das unter anderem die Befunde über die Drüsen mit innerer Sekretion enthält, an Sie senden und die Bitte aussprechen, das Gutachten an den Verlag zu schicken. Schwierig wird wieder die Frage des physiologisch-anatomischen Beurteilers werden, da Springer als bevorzugter Verlag der wissenschaftlichen Schulen sich in dieser Hinsicht an einen Mann aus seinem Kreis wenden dürfte. Zwar glaube ich in dem neuen Kapitel Ergebnisse vorzulegen, die auch Leute dieser Denkrichtung zur Beachtung nöti­ gen werden, aber diese Abhängigkeit von der Verständnisbereitschaft von Wissenschaftlern, die zunächst eine Einstellung gegen die ganze Betrachtungsweise mitbringen, wird man wohl nicht beseitigen kön­ nen. Wenn Sie im Anschluss an das Urteil des Psychiaters noch einmal auf die Gefahr gewaltsamer und gesuchter Deutungen aufmerksam machen, so bin ich mir dieser Gefahr wohl bewusst. Oft ging für mich aber der Weg zum Verständnis auch allgemeinerer Zusammenhänge über die Klärung von Einzelproblemen, und diese Art zu forschen mag das etwas komplizierte Gesamtbild hervorgebracht haben. Dass eine Vertiefung in Einzelheiten wertvoll sein kann, habe ich jetzt gesehen, da ein eindringenderes Verständnis des innersekretorischen Systems nur möglich wurde, weil ich den Aufbau der motorischen Nervenzentren mit all seinen vielfältigen Gliederungen vorher genau auseinandergelegt hatte, und so dürfte es sich wohl noch von mancher Einzeluntersuchung zeigen, dass sie später ihren Wert erweist. Letz­ ten Endes steckt in der Möglichkeit solcher detaillierter Deutungen ein schwerwiegendes metaphysisches Problem, und unter diesem Gesichtspunkt möchte ich Ihnen gern diese Fragen einmal vortragen, wenn sie sich weiter bei mir geklärt haben sollten. In Verehrung bin ich Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild

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Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/7 Kopie: Nachlass Rothschild

Mannusbibliothek von Kabitzsch: Die Würzburger Verlagshandlung Curt Kabitzsch wurde 1916 von Arthur Meiner aufgekauft und behielt eine selb­ ständige Leitung. In ihm erschienen die von Gustaf Kossinna (1898–1931), der als Wegbereiter einer nationalsozialistischen Archäologie und Frühge­ schichte angesehen wird, herausgegebene Zeitschrift Mannas und die Reihe ›Mannus Bibliothek‹. In dieser wurden vor allem ›rassekundliche‹ archäo­ logische, frühgeschichtliche und anthropologische Bücher veröffentlicht (Wiede 2011, S. 55). S. 59 K. auch mit dem im Hinblick auf die Berliner Besprechung mit Ihnen umgearbei­ teten letzten Kapitel: nicht ausreichend genau erschließbar. neuen Kapitels, das unter anderem die Befunde über die Drüsen mit innerer Sekretion enthält: Rothschild veröffentlicht das Kapitel außerhalb der »Sym­ bolik des Hirnbaus« als Aufsatz in der »Zeitschrift für die Gesamte Neuro­ logie und Psychiatrie« 1934 (151, S. 54–88) unter dem Titel »Von der Über­ einstimmung im Aufbau des Zentralnervensystems und des Systems der Hormone«.

61 Rothschild an Klages Giessen, den 27. April 1934 Bahnhofstrasse 66 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Mit gleicher Post sende ich Ihnen einen Durchschlag des jetzt fertigge­ stellten vorletzten Kapitels der Symbolik (etwa 21 Seiten). Wenn ich auch noch keinen rechten Abstand dazu habe, glaube ich doch sagen zu können, dass es das ergebnisreichste und für die weitere Forschung wichtigste Kapitel des ganzen Buches ist. Es hat sich nämlich heraus­ gestellt, dass das besondere effektorische Organ des vegetativen Leibes, das System der Drüsen mit innerer Sekretion, bzw. ihrer Hormone, in seiner Gliederung und seinen Funktionszusammenhängen genau entsprechend der Gliederung und den Funktionszusammenhängen des besonderen effektorischen Organs der Seele, des motorischen Sys­ tems von Gehirn und Rückenmark, aufgebaut ist. Nachdem einmal diese entscheidende Erkenntnis gewonnen war, ordnete sich mir das gerade in den letzten Jahren gewaltig angewachsene Tatsachenmate­ rial mühelos in vollkommener Klarheit; ich erntete gleichsam eine

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Frucht der oft schwierigen und langwierigen Arbeit, die ich in den vorhergehenden Jahren am Zentralnervensystem geleistet hatte. Das Kapitel enthält die Unterlage zu einer Umgestaltung wohl fast der gesamten theoretischen Medizin im Sinne biozentrischer Grundan­ schauungen. Aber auch praktisch dürfte dieses neue Wissen um die ja therapeutisch schon verwandten und verwendbaren Wirkstoffe des Leibes von Wert sein, wenn auch hier wie gewöhnlich die Praxis der Theorie schon weit vorausgeeilt ist, d.h., mit falscher oder ohne Theorie das Richtige gefunden hat. Vom Standpunkt des Erscheinungswissenschaftlers und Metaphysi­ kers verdient das Kapitel ebenfalls Interesse, weil es auf dem dort dargestellten Wege gelingt, die erscheinungswissenschaftliche Methode in die Ebene des Zellebens hineinzutragen. An sich würden Sie ja die Behauptung, dass das Leben jeder einzelnen Zelle des Leibes dieselben kosmisch bestimmten Grundzüge zeigt wie das des Orga­ nismus im Ganzen nicht weiter wundern, und Sie werden sie wohl auch gar nicht neu finden, aber vielleicht werden Sie erstaunt sein, wenn ich behaupte, dass man diese Grundzüge an Hand eines Tatsa­ chenmaterials etwa über den osmotischen Druck und die Ionenwan­ derungen zwischen den Zellen und dem umgebenden Blutplasma oder über den Einfluss der Wasserstoffionenkonzentration und der Lipoidlöslichkeit auf die Permeabilität der Zellgrenzmembranen für kolloidale Stoffe u.a. aufweisen kann, also etwa an Hand solcher Tat­ sachen zu belegen vermag, dass es im Zelleben eine Entsprechung für das Empfinden und Schauen des Organismus mit ihrer elementaren Verschiedenheit gibt! In dem übersandten Kapitel findet man Andeu­ tungen in dieser Beziehung auf S. 269, wozu noch die Darstellung über das Sympathin (S. 259) und die Wirkung des Schilddrüsenhor­ mons (S. 265) zu nehmen wäre. Was dort über das Calciumion bemerkt wird, liesse sich erscheinungswissenschaftlich, abgesehen von zahlreichen Tatsachen der physikalischen Chemie der Zelle, noch durch den Hinweis ergänzen, dass der Kalk die bevorzugte Substanz ist, um die feste Schale oder das feste Gerüst des Körpers der Tiere zu bilden. Wird man aber einmal das Zellgeschehen an Hand der Tatsachen seiner Physik und Chemie im erscheinungswissenschaftlichen Sinn verstehen gelernt haben, dann dürfte sich die Frage auftun, ob nun­ mehr die Erscheinungswissenschaft nicht auch innerhalb der Physik und Chemie selber steht, sodass gleichsam der Forschungsweg, den diese mechanistischen Wissenschaften in die Biologie hineingegraben

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haben, nun in umgekehrter Richtung benutzt würde, um von der Biologie her in jene Gebiete einzudringen. Ob ich persönlich aller­ dings je das Rüstzeug an chemischen und physikalischen Kenntnissen erwerben werde, um solchen Gedanken weiter nachzugehen, scheint mir sehr zweifelhaft. Das Manuskript der »Symbolik« werde ich voraussichtlich am Mon­ tag, den 30. ds. an Julius Springer, Berlin W 9, Linkstr. 23/24 (Psych­ iatrisch-Neurologische Abteilung) schicken. Ich bitte Sie daher, Ihrem freundlichen Anerbieten entsprechend ein Gutachten an den Verlag zu senden, das ich in meinem Begleitschreiben schon ankündigen werde. Hoffentlich wird dieser Versuch Erfolg haben! Indem ich Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Bemühungen wiederum herzlich danke, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/8 Kopie: Nachlass Rothschild

Durchschlag des jetzt fertiggestellten vorletzten Kapitels der Symbolik (etwa 21 Seiten): In der »Symbolik des Hirnbaus« findet sich dieses Kapitel nur stark verkürzt auf fünf Seiten als XII. Kapitel »Über das Verhältnis zwischen dem Zentralnervensystem und dem vegetativen System« (S. 316–320). Rothschild musste wegen der Druckkosten diesen hinzugefügten Text wie­ der herausnehmen [76 R]. das Sympathin: Walter Bradford Cannon (1871–1945), einer der wichtigsten Erforscher des vegetativen Nervensystems, unterschied zwei von den Endi­ gungen sympathischer Nerven freigesetzte Substanzen Sympathin I und Sympathin E, denen Adrenalin und Noradrenalin entsprechen (Cannon & Rosenblueth 1933).

62 Klages an Rothschild Kilchberg, den 3. Mai 1934 Herrn Dr. F.S. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Infolge längeren Krankseins komme ich erst heute zur Beantwortung Ihrer freundlichen Zuschriften vom

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20. und 27. IV. Aus demselben Grunde habe ich noch keine Zeit gefunden, den Text des neu hinzugekommenen Kapitels, das schon beim Durchblättern meine Teilnahme weckte, gründlich zu lesen. Es wird jedoch in den nächsten Tagen geschehen, und ich werde Ihnen dann – wenigstens in Kürze – meinen Eindruck mitteilen. Anbei eine Kopie (zu Ihren Händen) des Briefes, den ich gleichzei­ tig an den Verlag von Julius Springer absende. Sollte der Versuch abermals vergebens sein, so werde ich über weitere Vorschläge nachdenken. Einstweilen ist zu hoffen erlaubt. Mit den besten Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Kurzbriefformat, links oben Adresse überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/19

62a Anhang Kilchberg, den 3. Mai 1934 Kopie An den Verlag Julius Springer Psychiatrisch-Neurologische Abteilung Linkstr. 23 – 24

Berlin W 9

Sehr geehrte Herren: Gemäss Mitteilung des Verfassers an mich hat Ihnen dieser Tage Herr Dr. F. S. Rothschild (Bahnhofstr. 66, Giessen) sein Manuskript »Symbolik des Nervensystems« zur Verlagsübernahme angeboten. Da ich seit Jahren mit den Forschungen von Dr. R. teils aufgrund sei­ ner Arbeiten, teils aus persönlichen Gesprächen hinreichend vertraut bin, um mir ein Urteil darüber erlauben zu können, und insbeson­ dere auch von den seelenkundlichen und philosophischen Teilen der »Symbolik« Kenntnis genommen habe, glaube ich, im Dienste der Deutschen Wissenschaft zu handeln, wenn ich sein Verlagsangebot durch Mitteilung meiner Bewertung des Werkes unterstütze. Nur nebenher erwähne ich, dass Dr. R. wichtige Ergebnisse einerseits der Untersuchungen Palágyis, andererseits meiner eigenen auf die Morphologie des ZNS, wie mir scheint, mit Erfolg angewandt hat. Denn auch davon abgesehen und vollends ohne Rücksicht auf den

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Umstand, dass ich naturgemäß nicht in allen Punkten mit Dr. R. übereinstimme, sehe ich den besonderen Wert seiner Leistung darin, dass sie den Bau des Nervensystems nach erscheinungswissenschaftli­ cher Methode behandelt, womit auf der Grundlage des inzwischen unermesslich erweiterten Wissensmaterial – soviel ich sehe, zum ersten Mal – wieder aufgenommen wird, was vor rund hundert Jahren die bedeutendsten Biologen der Spätromantik anstrebten. Erst die sich anschliessende Kontroverse wird im Laufe der Zeit darüber entscheiden, in welcher Hinsicht Dr. R. das Richtige getroffen hat, in welcher nicht. Das aber möchte ich vorweg unterstreichen, dass er nicht etwa nur Betrachtungen, sondern auch und vor allem Resultate vorlegt; so, um nur ein Beispiel zu geben, die Lösung des Problems der Kreuzung der Nervenfasern, eines Problems, dem die bisherige Nervenphysiologie völlig verständnislos gegenüberstand. – Nicht unerwähnt lassen möchte ich endlich die klare und sehr durchgearbei­ tete Darstellungsform. Vorstehendes Urteil bezieht sich, wie gesagt, auf den mehr philoso­ phischen Teil der Arbeit. Was die nervenphysiologischen Teile betrifft, so habe ich mich lediglich davon überzeugen können, dass Verfasser seinen Stoff durchaus beherrscht; und dies wird auch von Kennern bestätigt. Sollte Ihnen aber in dieser Beziehung das Gutachtens eines Fachmannes erwünscht sein, so glaube ich, dass in erster Linie ein biologisch und nervenphysiologisch durchgebildeter Arzt in Frage käme. (Ich nenne etwa Herrn Dr. C. Haeberlin, Leitender Arzt des Krankenhauses, Karlstr. 31, Bad-Nauheim.) – Ich zweifle nicht, dass der Verlag, der das Werk herausbringt, eine Arbeit von bleibender Bedeutung erworben hätte. Mit vorzüglicher Hochachtung: Kopie: Nachlass Rothschild Kopie: Brief Klages an Springer vom 3.5.1934, DLA Marbach 61.7213/4

Dr. C. Haeberlin: s. 59 K.

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63 Rothschild an Klages Giessen, den 6. Mai 1934 Bahnhofstr. 66 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Mit Bedauern habe ich in Ihrem freundlichen Schreiben vom 3. ds. von Ihrem Kranksein gelesen und hoffe und wünsche nur, dass Sie wieder ganz wohlauf sind. Ausserdem danke ich Ihnen herzlich für das empfehlende Gutachten an Springer! – Der Versuch bei diesem Verlag hat schnell sein Ende gefunden. Schon gestern erhielt ich das Manuskript wieder zurück mit der Begründung, dass der Verlag im Augenblick keine neuen Verbindlichkeiten eingehen möchte. Auf das Eintreffen Ihres Gutachtens hat man nicht gewartet, obwohl ich ausdrücklich darum gebeten hatte, die weitere Bearbeitung der Sache bis dahin zurückzustellen. Heute erhielt ich dann noch einmal eine Mitteilung, dass Ihr Gutachten inzwischen eingegangen sei, dass es aber an seinem (Springers) negativen Entschluss, der sich in erster Linie auf die ungenügende Möglichkeit ausreichenden Absatzes stütze, nichts ändern könne. Er empfiehlt mir, das wesentlich Neue in der Form eines oder mehrerer Zeitschriftenaufsätze zu bringen, für die dann vermutlich Zeitschriften seines Verlages zur Verfügung ständen. Diesem letzteren Vorschlag zu folgen, scheint mir, abgesehen davon, dass es für mich sehr schmerzlich wäre, schwierig, da ich nicht recht sehe, wie ich das Ganze in Teilstücke zerlegen soll. Auch eine ganz neue Darstellung des Stoffes unter Gliederung in zwei oder drei grös­ sere Aufsätze dürfte das Buch nur schlecht ersetzen können; eine brei­ tere Entwicklung des Themas, eine vorbereitende Einführung in die grundlegenden Begriffe aus Ihrer und Palágyis Anschauungswelt vom Standpunkt des Nervenphysiologen aus wären dann aus Raummangel unmöglich, obwohl sie mir für das Verständnis ausserordentlich wichtig erscheinen. Aber andererseits, was soll man noch versuchen? An einen anderen Verlag in Deutschland in derselben Weise heranzu­ treten wie an Springer, scheint mir ziemlich aussichtslos, da dieselbe Antwort erfolgen dürfte. Ob man bei einem Schweizer oder Wiener Verlag eher auf einen Erfolg zu hoffen berechtigt wäre? Ob es Sinn hätte, Herrn Dr. Bernoulli zu bitten, sich nach einer kapitalmäßigen Unterstützung seinem Anerbieten entsprechend umzusehen, um das wirtschaftliche Risiko des Verlegers zu vermindern? Ich habe eine gewisse innere Hemmung solchen gezwungenen Versuchen gegen­ über. Schliesslich wird doch nichts anderes übrig bleiben, als sich

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an eine neue Darstellung zu machen, obwohl es schwer auf mir liegt, wenn ich daran denke. – In Erwartung Ihrer Meinung über die Sachlage und evtl. Vorschläge bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/9 Kopie: Nachlass Rothschild

Dr. Bernoulli: Christoph Bernoulli (1897–1981), Baseler Philosoph, Kunst­ händler, später Direktor der Kunsthalle Basel, Schüler und Vertrauter Klages’, enger Freund der Geschwister Eleonora und Francesco von Men­ delssohn (Blubacher 2008), unermüdlich mit Vernetzungsarbeit zwischen Künstlern, Intellektuellen, möglichen Mäzenen u.a. beschäftigt, setzte ein reges Unternehmen in Gang, die Herausgabe der »Symbolik des Hirnbaus« zu ermöglichen. Ob es Sinn hätte, Herrn Dr. Bernoulli zu bitten, sich nach einer kapitalmäßigen Unterstützung seinem Anerbieten entsprechend umzusehen: Dies tut Bernoulli und gewinnt Erich Engel dafür, einen großen Teil der Druckkosten zu über­ nehmen (s. »Zur Herausgabe der ›Symbolik des Hirnbaus‹«, S. 55ff.).

64 Klages an Rothschild Kilchberg, den 8. Mai 1934 Herrn Dr. F.S. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Vorgestern erhielt ich ein kurzes Schrei­ ben von Herrn Springer, inhaltlich völlig gleichlautend mit dessen zweitem Brief an Sie, gestern Ihre freundliche Zuschrift vom 6. dieses und genau gleichzeitig einen Brief Bernoullis, der sich auf der Durchreise nach Karlsbad, wo er eine Kur gebrauchen muss, einige Tage geschäftlich in Berlin aufhält. In letzterem Briefe befindet sich ohne weitere Erklärung folgender Satz: »Erich Engel möchte gerne Dr. Rothschild kennenlernen, weil er sich für neurologische und biologische Fragen interessiert. Würden Sie der Einfachheit halber direkt an Engel, Sarkow bei Berlin, Villa Lachner, die Adresse von R. senden; dann schreibt ihm Engel direkt und wird ihn aufsuchen.« Bernoulli scheint vorauszusetzen, dass ich den genannten Engel

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kenne. Ich entsinne mich aber des Namens nicht, was jedoch wenig sagen will, da ich selbst bei persönlicher Vorstellung Eigennamen sofort wieder zu vergessen pflege. Ich gebe gleichzeitig Ihre Anschrift an, und es wird sich ja alsbald zeigen, um was es sich dabei han­ delt. – Ich habe Ihnen das mitgeteilt, um sogleich die Bemerkung anzuschliessen, dass wir in Sachen Ihres Werkes durchaus noch nicht die Flinte ins Korn werfen wollen. Nach meiner Kenntnis der gegenwärtigen Lage des Büchermarktes werden augenblicklich vorzugsweise nur noch Bücher vom Verkaufspreis bis zu RM 5,-und besonders natürlich solche konjunkturellen Gepräges abgesetzt. Ihr Buch würde kaum unter RM 20,-- zu verkaufen sein. Das weiss sofort jeder grössere Verleger, und er weiss damit auch, dass er durch Übernahme des Verlages zunächst zusetzen müsste. So läuft unter den obwaltenden Verhältnissen die Angelegenheit schliesslich auf eine Geldfrage hinaus. Wer weiss, ob nicht schon besagter Herr Engel zur Mitbeteiligung gewonnen werden könnte! Wie dem auch sei, ich werde alsbald Bernoulli benachrichtigen und ihn bitten, sich in der angegebenen Richtung zu bemühen. Ehe man weitere Schritte unternimmt, sollte man seine Antwort abwarten. Den Vorschlag, das Buch in eine Reihe von Abhandlungen für eine wissenschaftliche Zeitschrift zu zerstückeln, halte ich für nahezu unausführbar. Ohne Vorerörterung der lebenswissenschaftlichen und seelenkundlichen Grundlagen (im Anschluss an Palágyi einer­ seits, Klages andererseits) würden Ihre Befunde für den Neurologen schlechthin unverständlich! Ausserdem würde selbst bei weitgehen­ den Kürzungen eine ganze Abfolge von Aufsätzen erforderlich sein, um den wesentlichen Inhalt des Buches darzustellen, so dass die Veröffentlichung sich durch eine längere Reihe von Heften hindurch zöge. Das wiederum wäre für die Darbietung sicherlich sehr unvor­ teilhaft. Kurz, ehe man an diesen Notausgang denkt, soll man nichts unversucht lassen, ihn zu vermeiden. Sobald ich mich mit Bernoulli, dessen Karlsbader Anschrift ich noch erwarte, ins Einvernehmen gesetzt habe, werde ich Sie benachrichtigen und bitte Sie daher, bis dahin Geduld zu haben. Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/20

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Erich Engel: Theaterregisseur (u.a. Deutsches Theater Berlin), später Film­ regisseur, unterstützte neben Bernoulli Rothschild bei der Herausgabe der »Symbolik des Hirnbaus« am tatkräftigsten. Er schoss für die Druckkosten 1500 Mark zu (siehe S. 64).

65 Rothschild an Klages Giessen, den 15. Mai 1934 Bahnhofstr. 66 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ihr freundlicher Brief vom 8. ds. hat mir wieder recht viel Hoffnung gemacht, und ich danke Ihnen vielmals dafür. Den Gedanken, die Arbeit in Zeitschriftenaufsätze zu zerlegen, habe ich inzwischen ganz aufgegeben und bin in dieser Einstellung durch Ihre Äusserungen bestärkt worden. Es lässt sich wohl ein Aufsatz schreiben, in dem die wichtigsten Ergebnisse in grossem Zuge dargestellt werden, aber das kann die gründliche Behandlung nicht ersetzen. Wenn es Herrn Dr. Bernoulli gelingen sollte, einen oder mehrere Leute zur geldlichen Beteiligung zu gewinnen, ist die Aussicht, einen geeigneten Verlag zu finden, wohl auch nicht mehr so schlecht. Ich habe mich zu die­ sem Zweck ebenfalls an einen Bekannten gewandt, der Beziehungen zu kapitalkräftigen Kreisen hat und vielleicht auch selbst bereit ist mitzuhelfen. Leider befindet sich der Betreffende jetzt in Palästina, sodass der Briefwechsel über die Angelegenheit sich recht lange hin­ ziehen dürfte. Sobald ich von dort etwas Positives erfahre, werde ich Sie benachrichtigen. Inzwischen wird vielleicht auch schon Klarheit darüber sein, ob und wieweit Herr Dr. Bernoulli bei seinen Versuchen Erfolg gehabt hat. In Verehrung grüsst Sie Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/10 Kopie: Nachlass Rothschild an einen Bekannten: der Freund Walter Mannheim (auch Walther), der schon im Dezember 1933 mit seiner Familie Frankfurt verließ und nach Palästina auswanderte (40 R u. S. 126f.).

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66 Rothschild an Klages Giessen, den 4. August 1934 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Die Bemühungen um einen Verleger für die »Symbolik des Hirnbaus« sind wiederum in ein akuteres Stadium eingetreten. Ich hatte das Manuskript auf Grund der Vermittlung von Herrn Dr. Bernoulli an Herrn Engel, den Sie ja ebenfalls schon in einem Schreiben erwähnten, geschickt, und dieser hat durch die Lektüre ein großes Interesse an der Sache gewonnen. Er schrieb mir, wohl unter dem ersten Eindruck, dass er jede freie Minute darin gelesen habe und dass er fasciniert sei; später, dass er die Arbeit für epochal halte. Er hat sich auch sofort sehr tatkräftig für die Herausgabe eingesetzt, ist nach München gefahren und hat mit dem Verlag Oldenbourg und dessen Lektor, Dr. Manfred Schröter, den er offenbar persönlich kennt, auf der Grundlage eines Privatzuschusses von 1.500,-- Mk. verhandelt und, nachdem er telegraphisch meine Einwilligung eingeholt hatte, dem Verlag das Manuskript zur Prüfung überlassen. Da Barth und wohl auch Springer nicht mehr in Frage kommen, ist mir der Verlag Oldenbourg schon recht, wenn auch seine Tätigkeit vorwiegend auf anderen Gebieten liegt. Ich bitte Sie nun eine gutachtliche Äusserung über die Arbeit an den Verlag Oldenbourg zu senden. Hoffentlich ist es das letzte Mal! Herr Engel hält die möglichst baldige Zusendung eines solchen Schreibens für sehr wichtig. Die Anschrift lautet: Verlag R. Oldenbourg, Mün­ chen I, Glückstr. 8. Es dürfte Sie noch interessieren, dass ich die Ergebnisse über den Aufbau des innersekretorischen Systems, die in dem zweitletzten Kapitel dem Thema »Zentralnervensystem« untergeordnet behandelt werden und dadurch in ihrer Eigenbedeutung etwas zurücktreten, in einem Aufsatz unter dem Titel »Von der Übereinstimmung im Aufbau des Zentralnervensystems und des Systems der Hormone« noch ein­ mal besonders dargestellt habe. Prof. Gaupp in Tübingen hat die Arbeit für die Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiat. angenommen; sobald sie erschienen ist, werde ich Ihnen einen Sonderdruck zuschi­ cken. In Verehrung grüsst Sie Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild

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Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/11 Kopie: Nachlass Rothschild

Dr. Manfred Schröter: Manfred Schröter (1880–1973) promovierte über Schelling, ab 1926 Berater, später Lektor und Cheflektor, bestimmte er jahr­ zehntelang die Verlagspolitik des Oldenbourg-Verlags (Graf 2007, Weso­ lowski 2010), beriet auch den Beck-Verlag, gab u.a. Bachofen heraus, machte sich für Spengler stark (Rebenich 2013, S. 291f.). Prof. Gaupp: Robert Eugen Gaupp (1870–1953), Psychiater, Direktor der Universitätsklinik Tübingen, langjähriger Mitherausgeber der »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie«, befürwortete sog. rassehygie­ nische Maßnahmen (Klee 2001, S. 58).

67 Klages an Rothschild Kilchberg, den 8. August 1934 Sehr geehrter Herr Doktor: Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 4. dieses. Bernoulli schreibt soeben, dass die finanzlichen Aus­ sichten sich noch verbessert hätten. An den Verlag O. habe ich geschrieben, fast gleichlautend mit meinem damaligen Schreiben an Sp. – Sehr freue ich mich, dass Ihre Sonderarbeit über die Bedeutung der Hormone in der Z. f. d. g. Neurol. u. Psychiat. erscheinen wird. Ich freue mich darauf, einen Sonderdruck zu bekommen, und werde die Abhandlung gründlich lesen. Herr Engel scheint sich in jeder Weise für die Sache einzusetzen. Sollte es mit O. nichts werden, so versuchen wir es anderswo. Mit den besten Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, letzter Satz vor Schlussformel (nach »anderswo«): Wort für Wort dicht durchgestrichen, so dass er nicht lesbar ist, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/21

Verlag O.: Oldenbourg-Verlag in München Sp.: Springer-Verlag in Berlin

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68 Rothschild an Klages Badenweiler, 1. Oktober 1934 Pension Längin Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Mit gleicher Post übersende ich Ihnen einen Sonderdruck der Arbeit über das Hormonsystem, die ich Ihnen schon früher angekündigt hatte. Sie enthält im Verhältnis zu der großen Arbeit nichts Neues; vielleicht wird Sie die Einleitung und die Zusammenfassung am Schluss interessieren. Die Angelegenheit des Drucks der »Symbolik des Hirnbaus« ist in den letzten Wochen nicht mehr vorangegangen, nachdem sie eine zeitlang sehr günstig aussah. Der Versuch bei Oldenbourg, für dessen Unterstützung ich Ihnen übrigens noch herzlich danke, ist, wie Sie wohl schon wissen, erfolglos ausgegangen. Auch in der Frage der Finanzierung habe ich abgesehen von der Zusage Engels keine weitere Nachricht mehr erhalten. Da ich nun auf Grund einer Einladung für etwa 14 Tage in Badenweiler bin, hätte ich gern mit Bernoulli Rücksprache genommen, kann ihn aber telephonisch nicht erreichen und habe von ihm auch noch nicht brieflich erfahren, wie die Verhältnisse jetzt liegen. Sollte ihm eine Karte, die ich an die Basler Adresse gesandt habe, vielleicht nicht bzw. sehr verspätet nachgeschickt werden? Ich würde mich sehr freuen, wenn ich Sie von hier aus einmal besuchen könnte, und frage deshalb an, ob Ihnen ein Besuch an einem Nachmittag dieser oder Anfang der nächsten Woche passend wäre. Ich bin nur für diese Zeit noch hier. Es ist sehr wohl möglich, an einem Tag hin und zurück zu fahren, und ich könnte mich dabei ganz nach den von Ihnen gewünschten Zeiten im Verlaufe des Nachmittags richten. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Hs, über der linken Ecke oben findet sich in anderer Handschrift und unterstrichen »Bitte zurück«, vermutlich ein Vermerk von Klages, der die Rücksendung des Sonderdrucks meint. DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/12

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69 Klages an Rothschild Kilchberg, den 2. Oktober 1934 Herr Dr. F. S. Rothschild Pension Längin Badenweiler Sehr geehrter Herr Doktor: Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 1. dieses. Grade war ich kurz mit Herrn Bernoulli zusammen und zwar in Oberhofen, wo er augenblicklich einen Urlaub verbringt. Wenn ich recht verstanden habe, hatte er die Absicht, Sie unmittelbar nach Rückkehr, welche nächsten Sonntag erfolgt, zu sich einzuladen. Unter diesen Umständen dürfte es das richtigste sein, wenn Sie von Basel zu mir herüber kämen. Den Nachmittag wollen wir im Augenblick noch offen lassen, bis ich vernommen habe, wie Bernoulli seine Dispositionen getroffen hat. Ich hatte mit B. auch ausführlich über die Verlagsaussichten für Ihr Skriptum gesprochen. Darnach dürfte die Sache jedenfalls nicht an den Zuschüssen scheitern, die man dem Verleger bieten könnte, wäh­ rend es allerdings einstweilen immer noch Schwierigkeiten macht, einen Verleger zu finden. Augenblicklich wird ein Versuch in Öster­ reich gemacht; ich will aber diese Sache lieber nicht »beschreien«. Warten wir ab! B. wird Ihnen vielleicht schon Näheres mitteilen können. – Herzlichen Dank für Ihre Abhandlung, welche es unter­ nimmt, auch die Hormone zu deuten! Ich hatte bisher noch nicht Zeit, sie zu lesen, und habe nur darin geblättert, werde sie aber bis zu Ihrem Kommen bestimmt durchstudiert haben. Ich meine, man sollte bei Verleger-Verhandlungen unter anderem auch den Sonderabzug dieser Arbeit ins Spiel bringen! Mit den freundlichsten Grüssen Ihres erg.: LKlages Original: Ts, Kurzbriefformat, Adresse überstempelt: »Seminar für Ausdrucks­ kunde Kilchberg bei Zürich«, Schlussformel hschr. hinzugefügt, Nachlass Roth­ schild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/22

Versuch in Österreich: Erich Engel, der sich aus Arbeitsgründen in Wien auf­ hält, wollte mit dortigen medizinischen Verlagen sprechen (S. 62).

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70 Rothschild an Klages Badenweiler, 5. X. 34 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vielen Dank für Ihr freundliches Schreiben.- Von Bernoulli habe ich heute schon eine Karte gehabt, mit der er vorschlägt, dass ich am Montag zu Ihnen nach Zürich fahren solle, um am Montag Abend wieder in Basel zu sein und bei ihm zu übernachten. Dieser Plan würde mir sehr gut passen, und ich bitte Sie daher um eine Nachricht, ob Ihnen der Montag ebenfalls recht ist und falls ja, um welche Zeit ich zu Ihnen kommen soll. Auch bedürfte es einer besonderen Angabe, falls Sie nicht mehr in der alten Wohnung wohnen sollten. Sollten Sie einen anderen Weg wünschen, so ließe sich das zweifellos auch einrichten. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Hs, Postkarte, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/13

71 Rothschild an Klages Basel, 9. X. 34 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Es tat mir nachher noch sehr leid, dass ich mich gestern auf eine so plötzliche Art von Ihnen verabschiedet habe. Verzeihen Sie es bitte! Da der eilige Gang ja gerade das Ziel hatte, die Bahn noch zu erreichen, sprang ich darauf zu. Tatsächlich kam ich auch noch eine Minute vor Abgang am Zuge an. Bei Erwägungen über das weitere Vorgehen in der Buchangelegenheit erschien es mir wünschenswert, Dr. Haeberlin in Nauheim für das Manuskript zu interessieren, um evtl. sein Urteil als das eines Medi­ ziners bei neuen Versuchen zur Unterstützung zu haben. Bernoulli teilte diese Ansicht und schlug vor, Sie um ein empfehlendes Schrei­ ben an Dr. Haeberlin zu bitten. Ich weiß nicht, ob dies notwendig ist, aber ich wäre Ihnen doch sehr dankbar dafür, weil Dr. H. dann mit lebendigerem Interesse an die Sache herangehen dürfte. Ich werde ihm in den nächsten Tagen einen Sonderdruck der letzten Arbeit

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zuschicken und ihm gleichzeitig meinen Wunsch in bezug auf das Manuskript vortragen. Ich danke Ihnen für die Stunden, die Sie meinem Besuch in Kilchberg widmeten und bin mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Hs, DLA Marbach 61.11900/14 Kopie: Nachlass Rothschild

72 Klages an Rotschild Kilchberg, den 12. Oktober 1934 Sehr geehrter Herr Doktor: Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 9. dieses. Selbstverständlich mussten Sie rasch davonlaufen, weil Sie sonst den Zug bestimmt nicht mehr erreicht hätten! – Gleichzeitig teile ich Dr. Haeberlin mit, dass Sie ihm das Skriptum zur Einsichtnahme senden würden, und bitte ihn um ein kleines empfehlendes Gutachten darüber vom Standpunkt des medizinischen Biologen. Er befindet sich übrigens auf Urlaub im Schwarzwald, weshalb der Zeitpunkt für die Lesung des Manuskriptes besonders günstig sein dürfte. – Hoffen wir nun, dass die Angelegenheit bald einen günstigen Fortgang nimmt! Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, hschr. korr., Nachlass Rothschild

Gleichzeitig teile ich Dr. Haeberlin mit: Am selben Tag schreibt Klages an Haeberlin und bringt ihm sein und Rothschilds Anliegen nahe. Dem NSDAP-Mitglied Haeberlin gegenüber schreibt er nichts vom ›Nichtarier­ tum‹ Rothschilds, sondern: »Des Namens wegen kämen jedoch nur jüdische Verleger in Frage...« (Klages an Haeberlin 12.10.1934, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.5116/26).

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73 Klages an Rothschild Kilchberg, den 13. Dezember 1934 Herrn Dr. F. S. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Lieber Herr Doktor: Anbei sende ich Ihnen ein zuverlässiges Sachver­ ständigenurteil über den Vertragsentwurf, den der Verleger hinsicht­ lich Ihres Buches vorgelegt hatte. Wie daraus hervorgeht, wäre der Vertrag als gediegen zu bezeichnen. Auf den 5. Punkt möchte ich bei einem Werke wie dem Ihrigen kein sonderlich grosses Gewicht legen. Denn niemand, der auch nur darin blättert, käme darauf, es für eine kompilatorische Arbeit zu halten. Vielmehr würde ich die Herübernahme der Abbildungen aus anderen Werken mit dem Umstande erklären, dass es sich bei Ihnen um eine ganz vorwiegend theoretische Leistung handelt. Ich sende ein zweites Exemplar gleichzeitig an Bernoulli und bitte ihn, auch seinerseits Ihnen seine Meinung zu schreiben. Sobald Sie diese in Händen haben, steht dem Vertragsabschluss nichts mehr im Wege. Mein »Sachverständiger« hat vergessen, den Vertragsentwurf zurück­ zuschicken. Ich reklamiere ihn; und Sie erhalten ihn dann sofort. Mit den besten Wünschen und Grüssen Ihres ergebenen: LKlages 1 Beilage Original: Ts, Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Kurzbriefformat, hschr. korr., Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/23

Verleger: Samuel Karger (1863–1935), Berlin: Zwischenzeitlich willigte Kar­ ger ein, die ›Symbolik‹ zu veröffentlichen. Der Vertragsentwurf ist nicht erhalten. Das anliegende sog. Sachverständigen-Gutachten ist von Klages verfasst, Arthur Meiner vom Barth-Verlag, der im April des Jahres die Ver­ öffentlichung abgelehnt hatte, beriet ihn hierbei (Klages an Meiner/Barth vom 10.12.1934, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.8094/31). Details zum Hergang der Veröffentlichung finden sich im Kapitel »Zur Herausgabe der ›Symbolik des Hirnbaus‹« (S. 63ff.).

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73a Anhang Sachverständigen Gutachten. ----------------------------------1.- Die Auflagehöhe würde ich ungefähr auf 500 festsetzen, damit die Möglichkeit besteht, das Buch bei Erscheinen an alle in Frage kommenden Sortimenter (ca. 300) zur Ansicht senden zu können. Zur Auslieferung werden dann ja noch einige Exemplare benötigt. 2.- Der geforderte Druckkostenzuschuss von RM. 3500.-- bzw. 3800.-- deckt die Herstellungskosten nicht. Bei dem genannten Umfang von 29 Bogen würden auf den Bogen etwa RM. 125.-- bis RM. 130.-- entfallen. Für diesen Betrag ist es nicht möglich, Satz und Druck eines Bogens im ungefähren Format Ihrer Bücher herzustellen, namentlich, wenn die Beigabe der Abbildungen berücksichtigt werden muss, für die Kunstdruckpapier verwendet wird. 3.- Der in Aussicht genommene Ladenpreis von RM. 24.-- = pro Bogen etwa 80 Pfg. ist angemessen. 4.- Ebenso muss ich alle Bedingungen hinsichtlich des Anspruches des Verlegers auf den Ertrag der ersten 100 Exemplare, ferner über die Honorarabrechnungen als angemessen und üblich bezeichnen. 5.- Auch der Hinweis des Verlegers, dass es sich bei den zu veröf­ fentlichenden Bildern um keine Originale handelt, ist berechtigt. Grade daraus könnte leicht geschlossen werden, dass es sich um eine kompilatorische Arbeit handelt. Wenn hier noch Abhilfe möglich ist, würde ich diese im Interesse des Buches nur empfehlen.

74 Rothschild an Klages Gießen, 17. XII. 34. Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vielen Dank für Ihr freundliches Schreiben vom 13. ds. und die Einholung des Sachverständigenurteils. Auch von Bernoulli erhielt ich gestern einen Brief. Er ist der Meinung, es doch noch einmal mit dem Gegenvorschlag eines Zuschusses von 3000 Mk. zu versuchen,

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und ich halte einen solchen Versuch immerhin für berechtigt. Ich hatte bei den Besprechungen mit dem Verleger den Eindruck, dass er nicht das Äußerste seiner Bedingungen genannt hatte. Hoffentlich wird man sich bald einig werden. Die Rücksendung des Vertragsentwurfes ist nicht nötig, da ich das Originalschreiben noch besitze. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Hs, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/15 Kopie: Nachlass Rothschild

75 Klages an Rothschild Kilchberg, den 8. Januar 1935 Herrn Dr. F. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Anbei endlich den Vertragsentwurf zurück! Darf ich bei der Gelegenheit fragen, ob Sie inzwischen mit dem Verleger zum Abschluss gelangt sind? Alles Gute für 1935 und freundliche Grüsse Ihres ergebenen: LKlages Beilagen. Original: Ts, Kurzbriefformat, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/24

76 Rothschid an Klages Giessen, den 18. Januar 1935 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Besten Dank für die Rücksendung des Vertragsentwurfs. Ich hätte Ihnen schon eher berichtet, wie die Sache mit dem Verleger steht, wenn nicht der zu dem Abschluss notwendige Schriftverkehr sich solange hingezogen hätte. Heute morgen endlich erhielt ich die Post,

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auf Grund deren man annehmen darf, dass alsbald mit dem Satz begonnen werden kann. Der Verleger wird einen Zuschuss von 3000 Mk. erhalten. Da diese Summe geringer ist als seine ursprüngliche Forderung, habe ich das später hinzugekommene Kapitel über die Hormone wieder her­ ausnehmen müssen und auch in dem Abschnitt über das Kleinhirn einiges gestrichen, wodurch gleichzeitig eine Anzahl Abbildungen gespart werden. Der Inhalt des weggefallenen Kapitels ist ja in gedrängter Form in der im Sommer erschienenen Arbeit über das Hormonsystem enthalten, sodass mir diese Kürzung nicht schwer fiel, ja in gewisser Hinsicht sogar nicht unangenehm war, weil in wenigen Jahren der Grundgedanke an Hand des inzwischen sicher vollständiger vorhandenen physiologischen Tatsachenmaterials ein­ gehender und gründlicher zu entwickeln sein dürfte. Der Verleger ist nun einverstanden; er hat sich aber noch vorbehalten, evtl. nur 400 Exemplare herzustellen. Es ist also zu erwarten, dass das Werk bald gedruckt vorliegen wird. Ich werde Ihnen bei Gelegenheit von dem weiteren Fortgang berichten und verbleibe mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/16

Zuschuss von 3000 Mk. Davon hat Erich Engel allein 1500 Mk. bestritten, wie der Restbetrag, der wohl nicht ganz zusammengekommen war, zusam­ menkommen sollte, ist nicht ganz klar (s. S. 63ff.).

77 Rothschild an Klages Giessen, 24. II. 35 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Herr Doktor Haeberlin bittet mich, ein Exemplar der Links-RechtsArbeit an Sie zu senden, so dass es Montag Abend in Ihren Händen sei. Er habe seines im Augenblick nicht auffinden können. Ich wäre Ihnen nun sehr dankbar, wenn Sie mir das Exemplar gelegentlich wieder zusenden würden oder Herr Haeberlin es nach Nauheim mit zurücknähme und von dort aus schickte. Es ist nämlich das einzige, was ich noch zum Versenden besitze, und es ist leider auch schon recht

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ramponiert durch das mehrfach Hin- und Herschicken. Ich bitte es deshalb zu entschuldigen, dass es in diesem Zustand an Sie abgeht. Der Druck des Buches ist jetzt im Gang; ich bekomme laufend die Kor­ rekturbögen, und die Frage der Abbildungen ist auch geregelt. Wenn alles gut geht, wird es wohl in etwa 2 Monaten erscheinen können. Es grüsst Sie in Verehrung Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Hs, Postkarte, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/17

78 Klages an Rothschild Kilchberg, den 28. Februar 1935 Herrn Dr. F. S. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Vielen Dank für rasche Übersendung Ihrer Abhandlung »Über Links und Rechts«, die gestern als ein­ geschriebene Drucksache an Sie zurückging. Es wäre nicht mehr nötig gewesen, weil inzwischen ich selbst beide Arbeiten von einem befreundeten Mediziner, der sie sich ausgeliehen hatte, zurückerhielt. Auch erwies es sich, dass die wenigen Punkte, die daraus anlässlich langer peripatetischer Unterhaltungen mit Dr. Haeberlin zur Sprache kamen, uns beiden völlig geläufig waren. Nicht sicher dagegen war es uns beiden, ob eine bestimmte Stelle Ihrer Abhandlung, auf Seite 475 nämlich, auch in Ihrem Buch vorkommt. Sollte es der Fall sein, so möchte ich Ihnen dringend nahelegen, diese Stelle fortzulassen (inso­ fern es bei der Korrektur noch möglich wäre). Bevor ich Ihnen meinen Wunsch begründe, sollen Sie in Kürze erfahren, wie ich dazu komme, Meinungen zu haben auf dem Gebiete der Nervenphysiologie. Ich schicke voraus: mein nervenphysiologisches Laientum besteht natürlich nach wie vor. Aus Anlass eines umfassenden ausdruckstheo­ retischen Werkes, an dem ich jetzt rund drei Vierteljahre arbeite, hat sich mir herausgestellt, dass mein »Ausdrucksprinzip« ohne Schwierigkeiten auch auf diejenigen äusserlich sichtbaren Ausdrucks­ daten angewandt werden kann, die – nervenphysiologisch gesprochen – vegetativ bedingt sind (wie Erröten und Erblassen, Tränenabson­

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derung, Schweissausbruch, Zittern, Beschleunigung oder Verlangsa­ mung von Puls und Atem, Weitung und Engung der Pupille usw.). Die meisten Zustandsbilder dieser Art kann ich jetzt erscheinungswis­ senschaftlich vollständig ableiten, ohne deshalb die Nervenvorgänge befragen zu müssen. In einigen wenigen Fällen dagegen ergaben sich Schwierigkeiten, die einen Seitenblick auf das vegetative System verlangten. Folge: ich habe einige Arbeiten darüber studiert, darunter auch neue und neueste, und könnte mich deshalb heute mit Ihnen über dergleichen Fragen in einer Weise besprechen, die für Sie wenigstens etwas ertragreicher als früher ausfiele. Ich bin dabei unter anderem zu der – aber durchaus unverbindlichen – Überzeugung gelangt, dass die zwischen Sympathicus (S) und Parasympathicus (P) unzweifelhaft bestehende Polarität nicht nach Passiv und Aktiv, bzw. Weiblich und Männlich (oder wie man es nun fassen will) ausgelegt werden kann, indem vielmehr jedes der beiden Systeme teils männlich, teils weiblich funktioniert. Der Scheidungsgrund muss ein andrer sein. Dies bringe ich, wie sich versteht, nur hier zum Ausdruck und füge nochmals hinzu, dass es für Sie ganz und gar unverbindlich ist. Ich nehme jetzt hypothetisch an, Ihre Auffassung bestände zu Recht. Dann dürfen Sie als Beleg dafür aber nicht anführen die übergewöhnliche Pupillenverengung im Schlaf. Was Sie in der Beziehung auf Seite 475 Ihrer Abhandlung darlegen, würde sofort die schärfste Opposition und vonseiten Übel­ wollender den Vorwurf der »Sophistik« hervorrufen. Erstens nämlich verwechselt Ihre Auslegung die Bilder (im Sinn der Lehre von der »Wirklichkeit der Bilder«) mit den Anschauungsbil­ dern. Die Bilderwelt, von der wir sagen können, sie herrsche im Schlaf, hat ja nicht das mindeste mit Anschauungsbildern zu tun, indem ihre »Herrschaft« genau so gut statthat, wenn der Schläfer nicht träumt, als wenn er träumt. Davon abgesehen sind auch die Phantasmen des Traumes keine Anschauungsbilder. – Aber selbst, wenn man davon absieht, dass den hier gemeinten Bildern die Seele sich überhaupt nicht zuwenden kann, so ist ja auf alle Fälle von der äussersten Zugund Bannkraft der Bilder die Rede und von der denkbar äussersten Pathik der dadurch gefangenen, gefesselten und gezogenen Seele. Einen krasseren Gegensatz zur Aktivität gibt es nicht. Folglich, wenn der P. Träger des aktiven Prinzips sein sollte, so muss sich wenigstens diese Leistung anders erklären. – Mit nochmaligem Dank und den freundlichsten Grüssen Ihres ergebenen: LKlages

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Original: Ts, hschr. korr. u. erg. (teilweise unleserlich), Adresse überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/25

eine bestimmte Stelle Ihrer Abhandlung, auf Seite 475: In Rothschilds LinksRechts-Arbeit von 1930 erhalten die beibehaltenen Entsprechungen Sym­ pathikus = Weltpol, Parasympathikus = Ichpol noch weitere Eigenschaftszu­ ordnungen: dem Sympathikus werden die Attribute rezeptiv und weiblich, dem Parasympathikus die Attribute gestaltend und männlich beigegeben. Die Erweiterung der Pupille bei Schreck, Furcht, Schmerz kann Rothschild noch als über den Sympathikus erfolgende Aktivierung des Musculus dila­ tator iridis erklären. Bei der Verengung der Pupille während des Schlafens, einem parasympathischen Vorgang über den Musculus oculomotorius, geht die Gleichung nicht mehr auf, wird doch der Schlaf als Hingegebensein an den Kosmos, an den Menschen transzendierende Mächte im Klages-Roth­ schildʼschen Sinn verstanden, in das die Aufrechterhaltung des Ichpols nicht recht zu passen scheint. Entsprechend seiner Funktionspolarisierung zwischen Sympthikus = Passivität und Parasympathikus = Aktivität versucht Rothschild hier zu verstehen, wie es zur (wahrscheinlich) parasympathisch unterlegten Pupillenverengung beim Schlafenden kommt. Anlass eines umfassenden ausdruckstheoretischen Werkes: Klages wurde von seinem Verleger Arthur Meiner um die Bereitstellung einer neuen, der fünf­ ten Auflage von »Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft« zu Beginn des Jahres 1933 gebeten. Klages entschied sich für eine umfassende Neufassung unter dem Titel »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck«, die vor allem um physiologisch-vegetative Ausdrucksphänomene ergänzt werden sollte (Schröder 1992, S. 1234ff.). Was Sie in der Beziehung auf Seite 475 Ihrer Abhandlung darlegen, würde sofort die schärfste Opposition und vonseiten Übelwollender den Vorwurf der »Sophistik« hervorrufen: Als sophistisch mutet höchstwahrscheinlich Klages die Konstruktion an, mit der Rothschild die dem Parasympathikus (der für die Pupillenengstellung zuständig ist) unterstellte gestaltende Aktivität im Schlaf mit der Seele begründet, die sich im Traum frei in einer Bilderwelt bewege. Für die Gültigkeit dieser Erklärung nimmt er noch die Pupillenverengung des Morphinisten hinzu, »(g)ewinnt seine Seele durch das Gift ja doch schon im Wachzustand die Fähigkeit, schrankenlos allen Lockungen der Bilderwelt zu folgen und sich ihnen ungebunden im Rausche hinzuge­ ben!« (Rothschild 1930, S. 475). Lehre von der »Wirklichkeit der Bilder«: Der Mensch als Teil des Kosmos ist durchdrungen von den Bildern, wobei das Bild komplex zu verstehen ist als visuelle, akustische, energetische, taktile, atmosphärische, intentionale usw. Repräsentanz des Außen im Innen. Die ›Wirklichkeit der Bilder‹ zeigt die nicht-konstruktivistische epistemologische Position Klages’ an: Die Welt

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wird nicht erst im menschlichen Bewusstsein konstruiert, sie scheint in ihrer Realität durch das schaubare Bild hindurch.

79 Rothschild an Klages Giessen, den 3. März 1935 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vielen Dank für Ihren eingehenden Brief vom 28. II., dessen Kritik der Ausführungen auf S. 475 der Abhandlung »Über Links und Rechts« ich grundsätzlich anerkennen muss. Die damals, vor etwa 6 Jahren, intuitiv gewonnene Einsicht in die polare Struktur des vege­ tativen Nervensystems war noch zu allgemein, als dass sich ohne weiteres aus ihr auch schon die richtige Deutung all der Einzelphä­ nomene ergeben hätte. Inzwischen haben sich meine Anschauungen über das vegetative System, wie ich glaube, beträchtlich entwickelt, und das Verhältnis meiner jetzigen Vorstellungen zu den damaligen möchte ich Ihnen im folgenden kurz darlegen. Beherrschend war damals der Gedanke, dass die Polarität des veg. Systems in der Polarität innerhalb des Erlebnisvorganges, als in der zwischen Erlebendem und Erlebtem bzw. der zwischen Individuum und Welt ihren Ursprung habe. Das vegetative System wurde genau so, wie das zentralnervöse als unmittelbar an der Durchführung des Verhältnisses Individuum – Welt beteiligt angesehen, wobei der Sympathicus (S) dem Weltpol, der Parasympathicus (P) dem Individuum zugeordnet erschien, in einer ganz ähnlichen Verteilung wie das receptorische animale System auf der ersten, das motorische auf der zweiten Seite. Diese Auffassung ist nun in der Arbeit »Von der Übereinstimmung im Aufbau des ZNS und des Systems der Hormone« dahingehend berichtigt worden, dass das vegetative Ner­ vensystem (VNS) nicht in das Verhältnis individuelle Seele – Welt, sondern in das Seele – Leib eingeschaltet ist. Das VNS wird also an der Vermittlung des Erlebnisvorganges primär garnicht beteiligt, sondern erst das, was sich auf Grund dieses Vorganges in der Seele abspielt, wird von ihm auf den Leib übertragen. Halten wir das Verhältnis Seele – Leib für das eines Wesens zu seiner Erscheinung, so wirkt die Seele über das VNS stets als »Bild«, ganz gleich, ob ihr jeweiliger Zustand nun mehr beherrscht wird von dem individuellen oder dem Weltpol, und der Leib ist den aus dem ZNS austretenden vegetativen effektorischen Nerven gegenüber immer passiv, das aufnehmende

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Material einer Umprägung oder Umstimmung. Unsere alte Zuord­ nung des P zu dem individuellen Pol und des S zu dem Weltpol besteht aber, wenigstens im Wachzustand, insofern weiter zu recht als die weltabhängigen Züge der Seele sich des S, die von dem individuellen Pol abhängigen sich des P zu ihrer Wirkung auf den Leib bedienen. Doch ein Problem besteht hier noch, und deshalb fügte ich oben die Einschränkung »wenigstens im Wachzustand« bei. Die Charak­ terisierung der beiden Seelenpole als eines kosmischen und eines individuellen, die für die animale Wachheit als berechtigt und aus­ reichend erscheint, ist dies nicht in gleicher Weise auch für den Schlafzustand der Seele. Im Schlafe löst sich der individuelle Pol der Seele auf in einem umfassenden Seelenleben, das sein Muttergrund ist, und die Polarität zwischen P und S ist auch nunmehr anders zu bezeichnen. Im Schlafzustand wird der S und zwar ausgehend von sei­ nen Hormonen gerade der Vermittler jener Wirkungen auf die Seele, die zur Heraussonderung aus dem Grunde, also zur Individuation, zwingen, während der P von seinen Hormonen aus der Vermittler der Wirkungen dieses Grundes ist, dessen Zug die Individuation auflöst. Die alte Zuordnung bleibt aber auch nach dieser Ergänzung prinzipiell bestehen; denn der Zug jenes dunklen Untergrundes wird im Zustand der Wachheit zum Antrieb, und der individuelle Seelenpol, der in den motorischen Zentren des ZNS seine Repräsentanz hat, ist mit jenem Grunde gleichen Wesens, bzw. zwischen beiden besteht ein Verhältnis wie zwischen Mutter und Kind. Gehen wir bei der Untersuchung der Verbindung zwischen Seele und Leib aus von der Organisation des ZNS und dessen Wirkung auf den Leib, also von dem wachen Sinnen­ leben der Wirbeltiere und des Menschen, dann ist der P der Vertreter des Individuellen, und der S steht wie die receptorischen Zentren auf seiten des anderen Pols, von dem aus die Seele mit der vielfältigen erscheinungsfähigen und entfremdbaren Bilderwelt erfüllt wird und der bei tiefstem Einsatz zur Aufhebung ihrer bisherigen Individualität durch Verwandlung in ein aufgenommenes Bild führt. Gehen wir aber aus von der Organisation des Hormonsystems und seiner Wirkung auf das ZNS, was dem Schlafzustand der Seele entspricht, dann wird der P durch seine Hormone zum Vertreter des einheitlichen, alle Erdenwesen umfassenden Seelengrundes, der bei vollkommener Herrschaft jegliche individuelle Gestalt in sich einschmilzt, während nun umgekehrt die Hormone des S wie Vertreter von Kräften wirken, die die individuelle, leibgebundene Gestalt der Seele zu bewahren und zu stärken suchen. Die metaphysische Zuordnung der zwei Glieder

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des VNS ist also in beiden Zuständen des Organismus die gleiche, ihre Bedeutung für die Individuation der Seele ändert sich aber mit dem Wechsel vom Wach- zum Schlafzustand in das Gegenteil. In meinen bisherigen Arbeiten hat nur der eine, der von dem ZNS beherrschte Seelenzustand eine Behandlung und Darstellung erfahren. Jetzt beschäftige ich mich aber schon seit Monaten damit, von dem Leib und den Hormonen aus die Physiologie des anderen Zustandes erscheinungswissenschaftlich verständlich zu machen. Die Aufgabe ist viel schwieriger als die erste; kommt es doch darauf an, die Eigenart der beiden metaphysischen Pole, die in ihrem Aufeinan­ derwirken die individuelle Seele aus sich hervorgehen lassen, an Hand des Materials der Biologie darzulegen! Ich studiere Morphologie und Physiologie der Zellen, Fortpflanzungs- und Vererbungslehre, ohne allerdings bisher einen wissenschaftlich tragbaren Ansatz gefunden zu haben. In Anbetracht der Unabgeschlossenheit des Themas habe ich übrigens in der »Symbolik des Hirnbaus« das VNS nur ganz kurz behandelt, und zwar unter dem Gesichtspunkt seiner Abhängigkeit vom ZNS; Deutung von Einzelheiten, die zu Fehlauffassungen führen könnten, wie in der ersten Arbeit, sind vermieden. Ich hoffe, dass mit diesen Ausführungen die Entwicklung meiner Anschauungen über das VNS verständlich wird. Nach den Andeu­ tungen, die ich Ihrem Brief entnehme, wäre es übrigens nicht ausge­ schlossen, dass die oben vorgetragenen Gedanken mit Ihren Vorstel­ lungen über das VNS übereinstimmen oder ihnen ähnlich sind. Ich verbleibe mit verehrungsvollen Grüssen und nochmaligem Dank für Ihren Brief Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr. u. erg., Rdn. Klages, DLA Marbach, Nachlass Kla­ ges 61.11900/18 Kopie: Nachlass Rothschild

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80 Rothschild an Klages Giessen, den 20. Mai 1935 Bahnhofstr. 66 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Nun ist das Buch fertig geworden. Ich erlaube mir, Ihnen mit gleicher Post ein Exemplar zu überreichen, und danke Ihnen bei dieser Gele­ genheit noch einmal tief und herzlich für all das, was Sie zur Förderung der Herausgabe der Arbeit getan haben. Eine öffentliche Danksagung in dem Vorwort schien mir gegenwärtig nicht angebracht, und wie ich aus einem Schreiben Bernoullis erfahren habe, sind Sie derselben Ansicht. Ich brauche das also nicht weiter zu begründen. Das Buch hat im Verhältnis zu dem von Ihnen eingesehenen Manu­ skript nur unwesentliche Änderungen erfahren. Nur am letzten Kapi­ tel habe ich nach der Besprechung mit Ihnen im Januar 1934 noch etwas gearbeitet. Dieses Kapitel wegen seiner metaphysischen Pro­ blemstellung ganz herauszulassen, habe ich mich nicht entschliessen können, und von dem Plan einer vollkommenen Umarbeitung, wie ich ihn ursprünglich hatte, bin ich schliesslich auch abgekommen; eine erscheinungswissenschaftliche Physiologie des Kleinhirns und der statischen Zentren und eine der Bewusstseins- und Willenstätigkeit gehören zu eng zusammen. Der Leser, dem die weltanschauliche Haltung des Buches nicht liegt, wird schon vorher Grund genug finden, es abzulehnen, und der, der sich ernstlich hineinliest, wird dann auch im letzten Kapitel den wissenschaftlich gestützten Kern von den spekulativen Anschauungen zu sondern wissen. Der Verleger bittet mich um ein Verzeichnis der Zeitschriften im Inund Ausland, welche nach meiner Ansicht mit einem Rezensionsex­ emplar zu versehen seien, und ich möchte Sie nun fragen, ob Sie mir hier in bezug auf philosophische und psychologische Zeitschriften einen Rat geben können. Ich denke an die bei Barth erscheinende »Zeitschrift für Psychologie« (hrsg. v. Schumann, Jaensch, Kroh und Gildemeister) und an die Blätter für »Deutsche Philosophie«; aber darüber hinaus bin ich zu wenig orientiert, um zweckmässige Vorschläge machen zu können. Der Verleger will übrigens noch einen Prospekt herstellen lassen, in dem eine kurze Analyse des Buches und das Inhaltsverzeichnis aufgenommen werden soll. Ich benutze die Gelegenheit, Ihnen noch kurz von meiner gegenwärti­ gen Arbeit zu berichten. Nicht lange nach meinem letzten Brief an Sie kam ich zu der Überzeugung, dass der geeignetste Weg in den Fragen,

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die mich beschäftigen, greifbar weiterzukommen, eine erscheinungs­ wissenschaftliche Bearbeitung des Nervensystems der wirbellosen Tiere sei. Dieser Gedanke ist ja an sich nach meinen Vorarbeiten ungemein naheliegend, und es ist eigentlich sonderbar, dass ich erst in Verfolgung von Problemen der Physiologie des vegetativen Nerven­ systems und der Hormone zu dieser doch schon äusserlich gegebenen Aufgabe kam. Wie ich nun nach einigen Wochen der Vertiefung in die Materie feststellen kann, ist diese Aufgabe heute für mich unmittelbar bearbeitbar, nicht zuletzt dank des weiteren biologischen Horizontes, den ich durch die Studien in der Zwischenzeit gewonnen habe. Die Ergebnisse dürften zum Teil nicht minder interessant sein als die der Arbeit über die Wirbeltiere, ganz abgesehen davon, dass die neuen Untersuchungen eine geradezu notwendige Ergänzung zu den vorhergehenden bilden. Schnell wird es allerdings auch diesmal nicht gehen, da die Literatur, die ich durcharbeiten muss, außerordentlich umfangreich ist. Aber ich fühle, die Sache trägt mich weiter, und da werde ich auch wieder an ein Ende kommen. In Verehrung Sie grüssend Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/19 Kopie: Nachlass Rothschild

Eine öffentliche Danksagung in dem Vorwort schien mir gegenwärtig nicht angebracht: um Klages und Bernoulli im Vorwort eines jüdischen Verfassers nicht zu kompromittieren. Nur am letzten Kapitel habe ich nach der Besprechung mit Ihnen im Januar 1934 noch etwas gearbeitet: bezieht sich auf das XIII. Kapitel ›Zur Physiologie des Bewußtseins und des Willens‹ in der ›Symbolik‹ 1935. Hier wird jedoch wahrscheinlich der letzte Abschnitt dieses Kapitels ›Zur Metaphysik des Geistes‹ gemeint sein, den Rothschild mit Brief vom 5. Februar 1934 [53 R] ankündigte, ganz wegzulassen. Hier findet sich eine klare Auseinander­ setzung mit der Geistfeindschaft Klages’ (s. auch S. 42ff.).

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81 Klages an Rothschild Kilchberg, den 21. Mai 1935 Herrn Dr. F. S. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Zunächst muss ich um Entschuldigung bitten, dass rund zweieinhalb Monde vergangen sind, bis ich heute endlich zur Beantwortung Ihres inhaltsreichen Schreibens vom 3. März gelange. Ich hatte inzwischen eine unruhige Zeit und, wie man zu sagen pflegt, viel um die Ohren. Auch mein Skriptum wurde davon mitbetroffen und konnte einstweilen noch nicht zum Abschluss gebracht werden. Indem ich Ihnen nun meinen verbindlichen Dank sage, möchte ich gleich zur Hauptsache kommen und knüpfe dabei an folgenden Satz Ihres Briefes an: »Unsre alte Zuordnung des P. zu dem individuellen Pol und des S zu dem Weltpol besteht aber insofern weiter zu recht, als die weltabhängigen Züge der Seele sich des S, die von dem individuellen Pol abhängigen sich des P zu ihrer Wirkung auf den Leib bedienen.« Wie ich Ihnen unterm 28. II. schon mitteilte, habe ich es in meinem Buch unternommen, das Ausdrucksprinzip auf einige vegetative Aus­ druckstatsachen auszudehnen. Unter den wenigen Stellen, wo ich dabei die Nervenphysiologie zu Hilfe nehme, findet sich eine, die Gelegenheit bietet, auf Ihre Publikationen und zwar wohl in erster Linie auf die Abhandlung »Von der Übereinstimmung im Aufbau des ZNS und des Systems der Hormone«, daneben gleich auch auf Ihr Buch zu verweisen. (Bitte, wie heisst doch der Verlag?) Solange mir nun noch vorschwebte: P = Aktivität = männliches Prinzip; S = Passivität = weibliches Prinzip, hatte ich dabei die grössten Schwierigkeiten. Lege ich dagegen zugrunde: P = individueller Pol, S = Weltpol (im groben gesprochen), so löst sich die Schwierigkeit augen­ blicklich. Wie Sie nämlich aus beifolgender Kopie des Hauptstücks der fraglichen Stelle ersehen, würden meine Folgerungen aufs beste mit der Tatsache zusammenstimmen, dass im äussersten Schrecken der individuelle Pol total überwältigt wird. Ich würde also – dem Sinn nach – in der Anmerkung sagen: zu einem noch tieferen Verständnis gelange man, wenn man den P als Träger des individuellen Pols, den S als Träger des Weltpols etc. auffasse: das sei von Ihrer Seite mit weittragenden Konsequenzen etc. geschehen.

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Soeben habe ich Gelegenheit, wieder einmal meinen Aberglauben an Fernwirkungen bestätigt zu sehen; denn in diesem Augenblick erreicht mich Ihr freundlicher Brief vom 20. dieses und zwar gleichzei­ tig mit der zur rechten Zeit erschienenen »Symbolik des Hirnbaus«. Ich danke Ihnen sehr für das Widmungsexemplar und werde, obwohl ich erst einmal mein eigenes Buch fertig schreiben sollte, doch kaum Geduld genug haben, um so lange mit der Lektüre zu warten! Mich selbst fand ich in solcher Lage stets einigermassen einer Mutter zu vergleichen, die das Kind nicht nur geboren, sondern auch noch herangezogen hat (Korrekturen), und es nun halb froh, halb wehmütig davon laufen sieht. Ich will aber nun doch zunächst mit dem unterbro­ chenen Text fortfahren. Ich verhehle mir nicht, dass die kurze Kopie (die ich bis zum Erschei­ nen meines Werkes als vertraulich zu behandeln bitte) für den Laien unverständlich wäre. Mehr noch als in meinen sonstigen Büchern greifen in diesem sämtliche Abschnitte wie Zahnräder ineinander. Da nun dem abgeschriebenen Stück bereits 9 Kapitel (= 121 enggeschrie­ bene Maschinenseiten) vorangehen, so könnte vom »Uneingeweih­ ten« nicht verlangt werden, dass er das, worauf es ankommt, kapiere. Ihnen gegenüber glaube ich aber in der Beziehung auf Erläuterungen verzichten zu dürfen. Mir wurde übrigens von zwei Medizinern – der eine Dr. Haeberlin, der andere Oberarzt am hiesigen Kantonsspital, der physiologisch hochgebildet ist und Ihre beiden Abhandlungen mit starker Teilnahme gelesen hat – bestätigt, dass vom rein physiologi­ schen Standpunkt aus heute mit Sicherheit nicht entschieden werden könne, ob im fraglichen Falle für die Pupillenerweiterung der S oder der P verantwortlich zu machen sei. Sie würden mich nun zu Dank verbinden durch eine Äusserung darüber, ob auch nach Ihrer Auffassung an der von mir bezeichneten Stelle die oben erwähnte Anmerkung am Platze wäre. Sollten Sie ferner an den freilich nur spärlichen physiologischen Bemerkungen, die in der Kopie vorkommen, irgendetwas auszusetzen haben, so bäte ich gleichfalls um Kennzeichnung dessen. – Es ist mir übrigens dabei die vielleicht wunderliche Frage aufgetaucht, ob unter Umständen Kollaps mit Pupillenerweiterung einhergehe. Wissen Sie darüber etwas? Es wäre natürlich nicht etwa erforderlich, könnte jedoch mei­ nem Gedankengange gemäss so sein. Auch mir sind im Augenblick ausser den von Ihnen schon angeführ­ ten Fachzeitschriften kaum sonst welche bekannt, da ich mich um derartige Revuen nie bekümmert und sozusagen nie darin gelesen

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habe. Bei Barth erscheint ausser der »Zeitschrift für Psychologie« unter anderem ein »Zentralblatt für innere Medizin«, das aber wohl nicht sonderlich für Ihr Buch in Frage käme, ferner ein »Journal für Psychologie und Neurologie«, ferner vor allem die »Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde«, herausgegeben von Prof. Dr. O. Klemm, Leipzig und Privatdozent Dr. Philipp Lersch, Dresden. Letztere käme natürlich unbedingt in Betracht. Mit den »Blättern für Deutsche Philosophie« habe ich persönlich bisher sehr schlechte Erfahrungen gemacht, obwohl ich mich seinerzeit breit­ schlagen liess, unter den Mitwirkern zu zeichnen. Ausserdem gibt es ein »Archiv für die gesamte Psychologie«, das immerhin in Betracht kommt (der Verlag ist mir augenblicklich nicht gegenwärtig), obwohl es, wenn ich nicht irre, wenig gelesen wird. Ich werde mich aber nach weiteren Revuen, zumal auch schweizerischen erkundigen und sie Ihnen dann mitteilen. Übrigens, dass wir es nicht vergessen: selbst­ verständlich müssen Sie ein Besprechungsexemplar senden lassen an die »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie«. Auch die »Medizinische Wochenschrift« (so lautet der Titel doch?) und »Der Nervenarzt«, falls der noch existieren sollte, müssten bedacht werden. Für heute mit den freundlichsten Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Beilage erwähnt. P.S.: Eben habe ich gleich im »Vorwort« einen Druckfehler entdeckt! Es steht dort auf der ersten Seite, Zeile 7 von unten »entstehen müs­ sen«, soll aber, wenn ich nicht irre, heissen »entstehen lassen müs­ sen«. Original: Ts, hschr. korr. u. hschr. Postskriptum (nicht eindeutig leserlich), Adresse überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/26

in meinem Buch unternommen, das Ausdrucksprinzip auf einige vegetative Ausdruckstatsachen auszudehnen: bezieht sich auf die Neufassung und Erweiterung von »Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft«, die dann einen neuen Titel erhält: »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck« und 1936 bei Barth/Leipzig erscheint. der andere Oberarzt am hiesigen Kantonsspital: nicht ermittelt.

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erreicht mich Ihr freundlicher Brief vom 20. dieses: der Brief von Rothschild an Klages [80 R] nebst der angekündigten ›Symbolik des Hirnbaus‹, die gerade erschienen war. Eben habe ich gleich im »Vorwort« einen Druckfehler entdeckt! Der betref­ fende Satz im Vorwort der ›Symbolik des Hirnbaus‹: »Hier haben erst die grundlegenden Untersuchungen von Palágyi und Klages über das Verhältnis zwischen seelischen Vorgängen und geistigen Akten ganz neue Ausblicke schaffen und jene von Klages neubegründete Ausdrucks- und Erscheinungs­ wissenschaft entstehen müssen, ehe von der Seele her die Probleme frucht­ bar angreifbar wurden.« Grammatikalisch richtig wäre, ausgehend vom Subjekt des Satzes ›Untersuchungen‹: ›entstehen lassen müssen‹.

81a Anhang Kurzes Textstück der Ausdruckslehre von Klages. -----------------------------------------------------------Haben wir auch im Kummer auf der einen, im Entsetzen auf der andern Seite zwei Arten der Abkehr gefunden, so bleiben es immer doch Arten der Abkehr, und dem entspricht es, dass nicht nur im Gram, sondern auch in den Zuständen der Furcht, des Schreckens, Entsetzens das Blut aus der Haut zurückweicht und die Absonderun­ gen sich mindern, daher das Trockenwerden des Gaumens, das Erblas­ sen und Frösteln (»Gänsehaut«) beiden Gruppen gemein ist. Das Schlagartige und Gewaltsame des Entsetzens spricht sich aber in einer Schnelligkeit der Zusammenziehungen der Blutgefässe aus, die, wenn wir nicht irren, als Folge jener Lähmungswirkung verstanden sein will, von welcher die höchste Steigerungsform der sogenannte Kollaps ist. Damit steht es im Einklang, dass im heftigen Schrecken zunächst der Atem aussetzt, um alsbald beschleunigtem Pulsschlag und keu­ chendem Atmen Platz zu machen. Indem endlich auch noch die häufige Starrheit des Blickes ohne weiteres aus dem Gefesseltsein der Seele an das Grauenerregende folgt, sehen wir im Anfangsabschnitt der Wallung einander verstärken und die zugeordnete Stimmung gemeinsam tragen die motorischen und die viszeralen Vorgänge. Woher aber rührt die von jedem Beobachter bestätigte Erweiterung der Pupillen, die sehr erheblich sein kann und selbst an solchen Personen wahrgenommen wird, die sich gedrungen fühlen, an etwas Grauenvolles zu denken? Wir deuten mit wenigen Worten an, warum der Erscheinungsforscher hier den Physiologen zu Hilfe rufen müsste

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und weshalb der wiederum den Zusammenhang nur mit Hilfe des Erscheinungsforschers aufzudecken vermöchte. Die Pupillen verengen sich bei vermehrtem Lichteinfall und beim Fixieren nahe befindlicher Gegenstände, sie erweitern sich beim Übergang vom Hellen ins Dunkle und beim Blicken, zumal dem träumerischen Blicken ins Ferne. Mag nun der Anlass des Entset­ zens leibhaftig zugegen oder imaginiert sein, er wird als wesenhaft nah erlebt und wäre dank seiner Gewaltsamkeit jedenfalls eher einem stechenden Strahl als der Dunkelheit zu vergleichen, daher wir erscheinungswissenschaftlich Verengung der Pupillen erwarten sollten! Betreten wir nun den Boden der Leibeslehre, so bestehen für Pupillenerweiterung zwei antagonistische Entstehungsmöglich­ keiten: aus gesteigerter Erregung des Sympathicus, von dem der M. dilatator iridis innerviert wird, und aus Lähmung des parasym­ pathischen Oculomotorius, der den M. sphincter iridis innerviert. Jenes wäre eine Leistung, dieses ein Erleidnis des Organismus. Da die Leistung als Entsprechung zum Wegwendedrang im Entsetzen aber grade dem Parasympathicus zufallen müsste und alsdann zur Verengung der Pupillen führen würde, bleibt nur die zweite Mög­ lichkeit offen: wir haben es aus Lähmung des Oculomotorius mit einer Erscheinung zu tun, wie sie von aussen etwa durch Atropin bewirkt werden könnte. Und so hätten wir denn mit den Mitteln der Ausdruckskunde nebenher eine Frage entschieden, die im Rahmen des nur physiologischen Denkens – vorderhand wenigstens – offen bleibt. (Hier käme dann die erwähnte Anmerkung). Original: Ts, hschr. Einschub: Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/26 ohne hschr. Einschub

Kurzes Textstück der Ausdruckslehre von Klages: ist eine Ergänzung in der überarbeiteten Fassung von »Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft«, eine Arbeit von Klages, die 1913 zum ersten Mal veröffentlicht wurde und 1936 in der 5. Auflage unter dem Titel »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck« bei Barth/Leipzig erschien. Zu diesem Passus und seiner letztlichen Fassung s. zurückgesandte Beilage zum Brief Rothschild an Kla­ ges vom 7. Juni 1935 [86 R]. der sogenannte Kollaps ist. Hier findet sich ein handschriftlicher Einschub Klages’: »Genauer: Vaguserregung auf die Splanchnicusgefässe. Aber das darf man doch wohl eine Überwältigung nennen?« – ist nicht eindeutig les­ bar.

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82 Rothschild an Klages Giessen, den 24. Mai 1935 Bahnhofstr. 66 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vielen Dank für das freundliche Schreiben vom 21. ds. und das ehrende Vertrauen, das Sie mir durch Übersendung des Textstückes aus Ihrer Ausdruckslehre entgegenbringen. Ich will gleich auf die damit in Zusammenhang stehenden Fragen eingehen: Mit Ihrer Deutung des vegetativen Zustandes bei starker Furcht, Schrecken und Entsetzen als Erfolg einer Überwältigung des individuellen Poles und damit einer Lähmung des P stimme ich grundsätzlich überein. Es liegt aber eine Lähmung des parasympathischen Prinzips in der Hauptsache nur in Bezug auf diejenigen Organe vor, die unmittelbar oder imaginär das überwältigende Geschehen aufgenommen haben und deshalb gleichsam von ihm erfüllt sind, also die Sinnesober­ flächen des Körpers und die peripheren Tastorgane (Haut, Augen, Mundhöhle, Hände). In bezug auf den Gesamtorganismus ergibt sich dagegen meist eine für den Affekt charakteristische Verteilung der parasympathischen Erregungskräfte, indem sie sich auf die Gebiete des Leibes konzentrieren, die zur Ausstoßung aufgenommenen stö­ renden Fremdmaterials bzw. zu einem ausdrucksmäßigen Vollzug einer solchen Ausstossung zu dienen vermögen, und das sind der Darm und die Harnwege; im Zustand heftigster Angst und wohl auch bei Schrecken und Entsetzen tritt eine Steigerung der P-Erregung in diesen Leibesteilen auf, die zu Durchfall und Urinabgang führen kann. In diesem Zurückziehen der P-Erregung von der Oberfläche und den peripheren Organen in das Innere des Leibes dürfte wohl ebenfalls ein Ausdruck der »Abkehr« stecken, der im äusseren Bewegungsbild so deutlich ist. Es ist also als unzweifelhaft anzunehmen, dass eine Lähmung der Wirkung des P auf das Auge, und damit eine Schwächung der Inner­ vation des M. sphincter iridis für die Pupillenerweiterung bei Angst und Entsetzen mitverantwortlich ist, aber wichtiger noch für diese Erscheinung ist doch die Erregung des Sympathicus (Kontraktion des M. Dilatator iridis). Diese Erregungssteigerung repräsentiert ja die Macht der die Seele überwältigenden Fremdwirkung, von der jene oben betrachtete Lähmung der Eigenkräfte der Seele und »Flucht« in das Gebiet der Ausscheidungsorgane eigentlich nur eine Folge ist. Auch bei dem Blasswerden der Haut (Zusammenziehung ihrer

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Blutgefäße), der »Gänsehaut«, dem Zu-Berge-Stehen der Haare, den hervorquellenden Augen, dem Angstschweiß steht die Steigerung der S-Erregung im Vordergrund und geht der »Abkehr« des Bewegungs­ pols der Seele und dem Rückzug seiner Erregungen in das Innere des Leibes (dadurch auch Erweiterung der Splanchnicusgefäße, die dann allerdings erst ein vollständiges Abfliessen des Blutes aus der Haut ermöglicht) voraus. Obwohl also eine Lähmung der parasym­ pathischen Fasern des Oculomotorius, vergleichbar mit der durch Atropin bei Angst und Entsetzen und vor allem auch beim Kollaps, wie Sie ganz richtig vermuteten, eine Rolle spielt, so scheint mir ihre diesbezügliche Bemerkung doch angreifbar, weil sie nur einen Teil des Vorganges erfasst, in diesem Textausschnitt aber wirkt, als ob sie das Ganze charakterisiere. Es bleibt natürlich die Frage, wie jene Züge im Erscheinungsbild der Angst usw. ausdruckswissenschaftlich zu verstehen sind, die als S-Wirkungen nicht als Ausdruck der Abkehr oder Lähmung des Bewegungspoles der Seele, dessen Repräsentant ja der P ist, gelten können. Dazu gehören die Kontraktion der Blutgefässe der Haut – das Weichen des Blutes ist in der charakteristischen Form nur möglich durch die Erweiterung der Splanchnicusgefäße durch parasympathische Erregung und deshalb auch ein Ausdruck der Abkehr –, die Aufrichtung der Haare (Gänsehaut) (Kontraktion d. Mus. arrectores pilorum), der Schweißausbruch, das Hervortreten der Augen infolge Kontraktion der glatten Orbitalmuskulatur und dann die S-Komponente bei der Erweiterung der Pupillen (Kontraktion des M. dilatator iridis). Die Deutung dieser Erscheinungen, die ich aller­ dings erst durch eine allgemeine Analyse des S-Wirkungen gefunden habe, ist m. E. folgende: Das Eigenartige an diesen Ausdruckszügen besteht darin, dass die einzelnen Organe unverhältnismäßig betont aus der Gesamterscheinung des Organismus heraustreten. So lässt das Auspressen des Blutes durch die Kontraktion der Gefäße die Eigenfarbe der Haut, etwa gelblich, grünlich oder weiß, sichtbar werden, die vorstehenden Augen mit den weiten Pupillen bezeugen ihr Sehen mit Übermaß und auch die einzelnen Haare heben sich unverhältnismässig bei der Gänsehaut ab. Die einzelnen Organe beginnen sich also unter der Übermacht der Einwirkung aus dem Gesamtbild des individuellen Wesens herauszulösen, was umgekehrt natürlich auch darauf hinweist, dass die Kraft des individuellen See­ lenpoles nicht mehr ausreicht, die verschiedenen Organe in einer Ein­ heit zusammenzuhalten. Sie entfremden sich dem Gesamtverbande

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des Organismus, weil sie unter der Wucht der Einwirkung ohne Rücksicht, d.h. ohne Verbindung mit dem individuellen Seelenpol heftig mit ihrem Eigenwesen auf jenen reagieren. Bei niederen Tieren besteht unter solchen starken und gefährlichen Einwirkungen sogar die Möglichkeit, dass der Leib in einzelne Teile auseinanderfällt, z.B. besonders ausgesprochen bei Haarsternen, und auch die Autotomie des Schwanzes bei Eidechsen ist hierher zu rechnen. Die Entsprechung für diese vegetativen Erscheinungen in der Motorik des Menschen bilden das Zittern und Schlottern der Glieder, auch die Blindheit der Bewegungen, die in der Panik etwa die Tiere in das Entsetzen erregende Feuer hineinstürzen lässt, weil der vereinheitlichende See­ lenpol mit seiner lenkenden Abkehrtendenz die Beine nicht mehr beherrschen kann; die Beine stürmen gleichsam von selber los. Ich bin auf diese Verhältnisse so ausführlich eingegangen, weil eine Deutung der Pupillenerweiterung ausschliesslich als Lähmungser­ scheinung den Widerspruch der Physiologen herausfordern würde. Die Mitwirkung einer gesteigerten Erregung des S ist hier zu gewiss, sodass mir die Einfügung einer entsprechenden Bemerkung an der betreffenden Stelle notwendig erscheint. Es empfiehlt sich vielleicht auch noch, statt von dem parasympathischen Oculomotorius, von den parasympathischen Fasern des O. zu sprechen, weil dieser Nerv ja in der Hauptsache animal-motorischen Charakters ist und die parasym­ pathischen Fasern nur einen kleinen Bruchteil seiner ausmachen; das ist aber nicht wesentlich. Ihre Frage wegen der Einfügung der Anmerkung mit dem Hinweis auf meine Arbeiten möchte ich bejahen, da die erscheinungswissen­ schaftliche Analyse der Innervationsverhältnisse für die Deutung der Ausdruckserscheinungen entscheidend sein kann, wie vielleicht auch die obigen Darlegungen beweisen. Aufgrund Ihrer Nachbemerkung über das Vorwort habe ich mir die betreffende Stelle einmal genau angesehen. Der ganze Abschnitt ist mir leider in der Gedankenentwicklung und deshalb auch stilistisch nicht geglückt, aber ich hoffe, dass er nicht missverstanden wird. Ich danke Ihnen noch für Ihre Angaben über die Zeitschriften und verbleibe mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild

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Original: Ts, hschr. korr. u. erg., Rdn. Klages, Anstr. Klages, Unterstr. Klages, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/20 Kopie: Nachlass Rothschild

Aufgrund Ihrer Nachbemerkung: s. 81 K, das handschriftliche Postskriptum.

83 Klages an Rothschild Kilchberg, den 26. Mai 1935 Herrn Dr. F. S. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Sie haben mich mit der raschen und ausführlichen Beantwortung meines Schreibens zu Dank verpflichtet. Dürfte ich nicht glauben, dass Ihnen unsere briefliche Unterhaltung vielleicht die eine oder andere Anregung geben kann, so würde ich nicht wagen, mit diesen Zeilen den Anlass zur Fortsetzung zu geben, da ja schliesslich ich es bin, der in einigen Punkten noch weiterer Klärung bedarf. Jedenfalls bitte ich, die nachstehenden fünf Erwägungen nur in diesem Sinne und nicht etwa als Bestreitung Ihrer Darlegungen auffassen zu wollen. 1.- Sie sagen: die Mitwirkung der Erregung des S bei Pupillener­ weiterung sei zu gewiss, als dass man nur eine Lähmung des P verantwortlich machen dürfe. Sofern Sie sich dabei, wie ich vermute, auf bestimmte Untersuchungen beziehen, ist die Sache damit für mich entschieden. Ich darf aber hinzufügen: meine beiden Gewährs­ männer traten unabhängig voneinander für Unentscheidbarkeit ein. Allerdings sind beides Ärzte und nicht Nervenphysiologen. 2.- Sehr wertvoll ist mir Ihre Bemerkung, dass die Lähmung des P sich zunächst nur auf diejenigen Organe beziehe, durch die das überwältigende Geschehen aufgenommen wird. Ich möchte sogar sagen: sie muss sich auf diese Organe beziehen und allenfalls sogar ausschliesslich. Indem unter ihnen aber – aus Gründen, die ich hier beiseite lasse – das Auge an allererster Stelle steht, muss daraus unter anderem die Lähmung der parasympathischen Fasern des Oculomo­ torius folgen. Dass diese eine beträchtliche Erweiterung der Pupillen mit sich bringen kann, beweist ja das Atropin.

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3.- Auch mir war es natürlich schon aufgefallen, dass im Blasswerden etc., etc., eine starke Erregung des S sichtbar werde. Allein erschei­ nungswissenschaftlich sehe ich die Sache so: die Erregung steht hier im Dienste der Richtung nach innen. Die Richtung nach innen aber ist es, die – obschon unterschiedlichen Grades, unterschiedlicher Ablaufsform und überdies noch mannigfach differenziert – folgenden Zuständen gemein ist: Verdrossenheit, Unmut, Sorge, Trauer, Pein, Kummer, Gram, Furcht, Angst, Schreck, Entsetzen. Sie beherrscht die Motorik der fraglichen Zustände und sie beherrscht ebenso deren vegetative Ausdrucksbilder (zumal durch Zurückziehung des Blutes aus den Kapillaren und durch Verminderung der Absonderungen). Nehme ich als Erscheinungsforscher den Drang nach innen, genauer: von aussen weg (= Zustand der Weltabkehr = Abkehr vom Umraum) als das Massgebende, so muss natürlich die Erregungssteigerung des S eintreten, die zur Kontraktion der Hautblutgefässe führt, während damit nicht vereinbar wäre die Erregung des S, die zur Erweiterung der Pupillen führt; denn diese wäre ja der Ausdruck nicht eines Wegwendedranges, sondern eines Zuwendedranges. 4.- Sie sagen: die Erregung des S, sofern sie jene Zurückziehung etc., etc. bewirke, gehe dem Rückzug der Erregung ins Leibesinnere voraus. Der schon erwähnte Oberarzt des Kantonsspitals, dem ich während einer fünfstündigen Aussprache eine ganze Reihe »vegetativer« Stel­ len meines Skriptums vorgelegt hatte, war es nun, der mich zuerst auf den grade entgegengesetzten Gedanken brachte. Er nämlich sagte: er möchte vermuten (bestimmter freilich drückte er sich nicht aus), dass die Zusammenziehung der Kapillaren erst eine Folge der Erweiterung der Bauchblutgefäße (via Splanchnicus) sei, dass also – wenigstens bei Furcht, Angst, Schreck, Entsetzen – in jenen Symptomen die Anfangssymptome von Kollaps zu erblicken seien. – Hier möchte ich nun noch eine Zweifelsfrage aufwerfen. Es ist mir nicht gewiss, ob das Stürzen des Blutes ins Leibesinnere und die gesteigerte Peristaltik des Darmes (Durchfall aus Angst) erscheinungswissenschaftlich aus dem­ selben Gesichtspunkt gedeutet werden dürfen. Wie ich jene verstehe, habe ich gesagt. Wäre diese dagegen nicht besser aus völligem Verlust aller ichabhängigen Steuerungen (= Hemmungen) auszulegen? Bei heftigem Stuhldrang ist das Individuum als Individuum absolut passiv (man betrachte Redewendungen wie »er hat Not«, und er muss seine »Notdurft« verrichten); das Individuum mit anderen Worten muss

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den Vorgang widerstandslos über sich ergehen lassen. Ich hätte noch so manches anzufügen, doch sei es damit genug. 5.- Halte ich alles zusammen, so frage ich mich, ob Punkto Pupil­ lenerweiterung im Schrecken etc. nicht doch in erster Linie der P herangezogen werden muss. Wenn das »von etwas weg« das Massge­ bende ist (und es ist es bestimmt), so würde sowohl die gesteigerte Erregung des S in Sachen Gefässverengung als auch die verhältnis­ mässige Lähmung des P in Sachen Pupillenerweiterung verständlich. Insbesondere aber würde für den letzteren Fall die Annahme einer Erregungssteigerung des S einen erscheinungswissenschaftlich nicht ganz verständlichen Erfolg nach sich ziehen. Ich werde mich dessenungeachtet jetzt vorsichtiger und vorbehaltli­ cher ausdrücken und bitte übrigens, an meinen Darlegungen unein­ geschränkt Kritik zu üben, falls das eine oder andre Ihnen fachwis­ senschaftlich bedenklich erscheinen sollte. Sie erweisen mir damit einen wertvollen Dienst. Ich werde Ihnen die endgültige Fassung des fraglichen Passus und vielleicht sogar noch einige andre »vegetative« Stellen zu nochmaliger Begutachtung vorlegen. Ich bitte besonders darum, mir Ungenauigkeiten in physiologischer Ausdrucksweise rücksichtslos zu verbessern. So war es mir von grosser Bedeutung, dass Sie mich darauf hinwiesen: es müsse heissen »parasympathische Fasern des O.« statt par. O. In der Wissenschaft gibt es nur zu geringe, niemals zu grosse Genauigkeit! Da ich in der Physiologie nicht zu Hause bin, kann es sogar geschehen, dass ich mich da und dort in einem Terminus gradezu verhaue. Also »nehmen Sie kein Blatt vor den Mund!« (Die auf Ihr Werk bezügliche Anmerkung mache ich erst nach völliger Klärung; Sie erhalten den Text dann zur Durchsicht.) Etwas anders steht es mit dem zweiten Teil Ihres Briefes, hinsichtlich dessen ich teilweise anderer Meinung bin. Das aber brauchen wir nicht unbedingt in unsre »Aussprache« aufzunehmen, weil ich damit schliesslich allein fertig werden muss. – Wohl ist es richtig, dass zahlreiche Symptome, darunter nicht zuletzt viele Koordinationsstö­ rungen, bei Angst, Schrecken, Entsetzen im Sinne einer Lockerung des funktionalen Zusammenhanges der p.p. »Leistungssysteme« gedeutet werden müssen. Allein mit dem Gedanken einer relativen Vereinze­ lung der Organe könnte ich mich nicht befreunden. Ich darf Sie bei der Gelegenheit auf folgendes aufmerksam machen. Dem Ihnen bekannten Passus über Schrecken etc. geht in meiner Arbeit eine rund zehn Engseiten ausfüllende Analyse von Freude und Zorn voraus, die in solcher Ausführlichkeit noch niemals ausgeführt

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wurde. Ich schicke das voraus, weil es gewissermassen anstelle einer Begründung dafür stehen mag, dass ich hier alle Möglichkeiten durchbuchstabiert habe. Ich kenne auch die Arbeiten der Hess-Schule (z.B. Wyss), ferner Cannon, finde sie aber viel zu summarisch. Was hilft es dem Ausdrucksforscher, wenn er von einer »Notfall­ funktion« vernimmt (S + Adrenalinausschüttung ins Blut)? Nichts! In der Beziehung war C. Lange, dem ich in einem Kapitel »Zur Geschichte der Ausdruckskunde« grosse Anerkennung zolle, viel genauer. Sie kennen doch sein »Über Gemütsbewegungen« (1887)? Es ist mein Leib- und Magen-Büchlein seit über dreissig Jahren! Doch zur Hauptsache. – Es hat sich erwiesen, dass – bei übrigens gewaltigen Verschiedenheiten, die ich übergehe – beide Affekte im Zeichen der Richtung nach aussen stehen. Ginge man nun vom Gedanken einer möglichen Organvereinzelung aus, so liesse sich auch hier gelegentlich eine solche herauslesen: so z.B. das »Aus-dem-Kop­ fetreten« der Augen in starker Wut, so ferner der starr fixierende und gleichsam gebannte Blick, so ferner der (tatsächlich beobachtete) Wutschaum vor dem Munde, ferner die »Blindheit« der Bewegungen des Wütenden, ferner das Anschwellen der »Zornesadern« (durch Stauung des Venenblutes); und allerdings liegen auch hier aus leicht ersichtlichen Gründen Störungen funktionaler Zusammenhänge vor. Aber mit einem »Auseinanderfallen« der Organe hat das nichts zu tun. Kurz, hier gehe ich einen andern Weg. Indessen, das betrifft nicht obiges Problem, hinsichtlich dessen ich der Ratsuchende bin, weil ich in jeder Hinsicht zu vorderhand abschliessenden Ergebnissen gekommen zu sein glaube. Sehr gut finde ich es, dass Ihr Verleger einen Prospektzettel versenden will. Ich werde mir erlauben, Ihnen zu diesem Zweck eine Reihe einschlägiger Schweizer Adressen namhaft zu machen. Ich weiss nicht, ob Sie die »Blätter für Deutsche Philosophie« haben. Wenn nicht, so könnte ich Ihnen sämtliche Mitarbeiter aufzählen. Auch in Deutschland weiss ich noch einige mehr abseits vom Wege lie­ gende Anschriften. Es ist gekommen, wie ich mir dachte: ich habe von Ihrem Buch bereits 86 Seiten gelesen. Erst aber, wenn ich es ganz und zwar zweimal gelesen haben werde, sollen Sie hören, was mir dabei aufund eingefallen ist. Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages

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Original: Ts, hschr. korr., Anschrift links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/27

»parasympathische Fasern des O.« statt par. O.: bezieht sich auf den Nervus Oculomotorius, der neben den parasympathischen auch noch motorische Fasern aufweist, was Rothschild im Brief zuvor ausführt. Hess-Schule (z.B. Wyss): Gruppe von Schülern um Walter Rudolf Hess (1881–1973), der als Physiologe seit 1917 als ordentlicher Professor an der Züricher Universität bestallt war (s. 4 K u. 4 a K). Walter Heinrich von Wyss gehörte mit Alfred Fleisch, Konrad Akert u.a. zu seinen Schülern und Mitarbeitern. Cannon: Walter Bradford Cannon (1871–1945), ein US-amerikanischer Physiologe, der als erster darauf aufmerksam wurde, dass eine allgemeine physiologische Erregbarkeit einhergeht mit der Aktivierung des Sympathi­ kussystems. Er untersuchte die Verknüpfung zwischen der Aktivierung sub­ kortikaler Strukturen, Sympathikusreaktionen und Adrenalinausschüttung. Anders als die James-Lange-Theorie (s.u.) geht die Cannon-Bard-Theorie der Emotion davon aus, dass Gefühle Nebenprodukte von vom Thalamus ausgehenden sympathischen, efferenten Entladungen sind. Als Notfallre­ aktion bezeichnete er die über die Ausschüttung von Adrenalin erfolgende Bereitstellung verschiedener, den Organismus für Kampf oder Flucht ein­ stellender physiologischer Phänomene (Finger 1994, S. 284ff.; Städtler 2003, S. 517ff.). Cannon war damals auch in deutschen Übersetzungen erhältlich. Auch wenn Klages ihm vorgeblich nicht viel abgewinnen kann, so zitiert er ihn dann in der fraglichen Anmerkung. Er zitiert in diesem Zusammenhang nicht Rothschild, noch verweist er auf ihn. C. Lange: Carl Georg Lange (1834–1900), dänischer Psychologe, wird von Klages wie auch bis heute in Lehrbüchern als ein Vertreter einer Psycho­ physiologie der Gefühle angesehen, der zufolge Gefühle sekundär aus der Wahrnehmung körperlicher Vorgänge hervorgehen. M.E. geht das aus dem Büchlein »Über Gemuethsbewegungen« nicht bzw. nur eingeschränkt her­ vor. Er ist zusammen mit William James der Namensgeber des entspre­ chenden Emotionskonstrukts der ›James-Lange-Theorie‹ (s. Städtler 2003, S. 517ff.).

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84 Rothschild an Klages Giessen, den 29. Mai 1935 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ihre Briefe mit den Fragestellungen über die Funktionsweise des vegetativen Systems bei den Affekten sind für mich von grossem Wert. Sie helfen mir die Ahnungen klären, die sich mir im Laufe der Zeit meist bei Arbeiten auf anderen, aber verwandten Gebieten über diese Verhältnisse gebildet haben. Ich werde diesmal, da ich Grundsätzliches berühren muss, etwas ausführlicher werden und beginne mit einer Erörterung der physiologischen Tatsachen. Ich kann nicht sagen, ob Untersuchungen vorliegen, die die Erklärung bei Pupillenerweiterung bei Angst, Schrecken und Entsetzen als lediglich durch Sphinkterlähmung bedingt unmittelbar widerlegen, das heisst, geeignete Beobachtungen bei Menschen, bei denen ein Einfluss des P ausgeschaltet ist. Ich kenne die Literatur auf diesem Gebiet nicht so genau. Bei Tieren haben Karplus und Kreidl Pupil­ lenerweiterung bei Schmerzreizen und »psychischer Erregung« auch nach Oculomotorius-Durchschneidung erhalten; doch weiss ich nicht, ob es sich bei dieser psychischen Erregung um Schrecken- oder Angst­ erlebnisse gehandelt hat; der Band mit dieser Arbeit (Pflügers Archiv 143; 1911) ist hier in der Bibliothek zur Zeit gerade ausgeliehen. – Trotzdem erscheint mir aber die Beteiligung einer S-Erregung nicht zweifelhaft, und zwar unter anderem aus folgendem Grunde: Neben der Pupillenerweiterung finden sich bei den genannten Affek­ ten an den Augen Weitung der Lidspalten und Vortreten der Augäpfel, die im wesentlichen auf eine stärkere Kontraktion der glatten Tarsal­ muskeln und des Müllerschen Orbitalmuskels zurückzuführen sind. Die Zusammenziehung dieser Muskeln kann nur Auswirkung einer gesteigerten S-Erregung sein; eine parasympathische Innervation, deren Lähmung einen ähnlichen Effekt hervorrufen könnte, gibt es hier nicht. Da die Aktion dieser glatten Muskeln am gleichen Organ sich abspielen und von gleichem Charakter ist, wie die des Dilatator pupillae und ausserdem vom gleichen Fasergebiet des S innerviert wird, muss die Annahme, dass gerade auf die Pupillenerweiterung die S-Erregung keinen Einfluss haben soll, als physiologisch durchaus unwahrscheinlich erachtet werden. Es ist nicht so, dass Angst und Schrecken immer mit einem kollaps­ ähnlichen Abströmen des Blutes in die Splanchnicusgefässe verbun­ den wären. Sehr oft überwiegt auch in diesem Gebiet der verengende

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Einfluss des S, bzw. des Adrenalins über den erweiternden des P, und es kommt zu erheblichen Blutdrucksteigerungen, weil das Blut nir­ gends hin abströmen kann. Kontraktion der Hautgefässe bei Angst setzt also keineswegs eine parasympathische Darmgefässerweiterung voraus; eher könnte man noch eine Lähmung gefässerweiternder Ner­ ven des P in der Haut an den Anfang des ganzen Vorganges setzen, doch sind diese Nerven anatomisch noch nicht sichergestellt. Im übri­ gen möchte ich in bezug auf die Zeitverhältnisse zwischen S- und PErregung erwähnen, dass Weinberg bei verschiedenen psychischen Einwirkungen immer eine anfängliche S-Erregung, dann eine P- und schließlich anschließend eine langdauernde S-Erregung fand (Z. Neur. 85, S. 543; 1923 und 86, S. 375; 1923). Die anfängliche S-Erre­ gung scheint mir aber von prinzipieller Bedeutung, da sie daraufhin weist, dass die S-Erregung dem Weltpol zugehört, der als einwirken­ der »Reiz« ja vor dem reagierenden individuellen Pol in Aktion treten muss. Damit komme ich aber schon zu den allgemeinen Anschauun­ gen, die m.E. dem erscheinungswissenschaftlichen Verständnis sämt­ licher Vorgänge bei den Affekten einen Weg bereiten. Eine Analyse der vegetativen Ausdruckserscheinungen nach ihrer Zusammensetzung aus S- und P-Wirkungen muss unzulänglich blei­ ben, solange nicht das ganze Hormonsystem bei der Betrachtung herangezogen worden ist. Das ist so, als ob man die animale Moto­ rik nur aus den Wirkungen ableiten wollte, die die Hinter- und Vorderhörner des Rückenmarks für sie besitzen. Gewiss ist der dort am klarsten ausgeprägte Unterschied zwischen den receptorischen und den motorischen Zentren für das Verständnis des Aufbaus aller »übergeordneten« Zentren leitend, und die Funktionstüchtigkeit des Rückenmarks ist die Voraussetzung, dass die Erregungen des Gehirns ihren Weg zum Körper finden; aber es wäre ein Fehler, sämtliche zentralnervösen Vorgänge nur aus der Tätigkeit des Rückenmarks begreifen zu wollen, weil hier die Durchgangsstelle für alle Wir­ kungen liegt. Ganz entsprechend muss für das vegetative System eigentlich gefordert werden, dass für jeden Affektzustand der Grad der Beteiligung von allen Hormonen bestimmt wird, wenn die physiolo­ gische Erklärung der einzelnen vegetativen Ausdruckserscheinungen geliefert werden soll. Nun ist die Physiologie mit ihren Methoden noch lange nicht so weit, eine solche Analyse durchführen zu können. Einen Weg, hier trotzdem weiterzukommen, gibt aber die Theorie von der Übereinstimmung im Aufbau des ZNS und des Hormonsystems, weil die Analyse der Bewegungen auch der Ausdrucksbewegungen

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der Affekte, in bezug auf den Grad der mutmasslichen Beteiligung der einzelnen Zentren viel besser möglich ist und nun Rückschlüsse auf das Mass des Einsatzes der einzelnen Hormone gezogen werden können. Jedoch selbst für eine Untersuchung auf dieser Grundlage scheint es mir heute noch nicht an der Zeit; die Hormonforschung ist noch zu sehr im Fluss. Zu unserem Thema glaube ich aber doch schon folgendes sagen zu können: Es ist m.E. nicht möglich, Ausdrucksbewegungen und -erscheinungen restlos zu verstehen, wenn die Seele als ein fertiges, individuelles Wesen, als etwas Einheitliches, letzter Ausgangspunkt der Deutung ist. Vor allem die Polarität innerhalb des vegetativen Systems und dann weiterhin die Untersuchungen über Bau und Funk­ tion des ZNS haben mich darüber belehrt, dass der Zustand der Seele das Ergebnis von Moment zu Moment wechselnden Zusammenspiels zweier oder genauer sogar dreier Ursprünge ist, eines individuellen oder Antriebspoles, eines Welt- oder Bilderpoles und des Prinzips der eigenen Körperlichkeit oder der Materie. Diesen in meinen Arbeiten gebrauchten Bezeichnungen haften Schwierigkeiten an, auf die ich in dem Brief vom 3. März schon verwiesen habe. Klarer erfassen wir diese Prinzipien, die ja alle, auch das erstgenannte, überindividueller Natur sind, wenn wir zu jedem einzelnen die Bewegungsart oder die Wirkung auf die Motorik stellen, die auf Grund seiner in der Seele entsteht. So gehört zu dem sog. individuellen Pol der ortsverändernde Zug, der in Verbindung mit der Wirkung des eigenen Körpers zum Antrieb wird, und zu dem sog. Weltpol der gestaltverändernde Zug, der in der Verbindung mit der Wirkung der Materie auch als Hemmung des Antriebs auftritt. Zum Verständnis einer Bewegung müsste also eigentlich gefordert werden, dass man ihre Eigenschaften auf die Anteile zurückführe, die diese beiden Pole an ihrer Entstehung haben. Eine Triebbewegung etwa wird rein von dem sog. individuellen Pol getragen, und nur ihr Ende ist Wirkung des Weltpols und eine dar­ stellende Bewegung wird ganz von dem sog. Weltpol bestimmt, und nur der Drang zu ihrem Endpunkt ist Wirkung des individuellen Pols. Bei der Gestaltung der Ausdrucksbewegungen der Gefühle pflegen beide Quellen ziemlich gleichmässig beteiligt zu sein, doch gibt es auch hier Züge, die mehr der einen und solche, die mehr der anderen zuzuschreiben sind, was dann unter Umständen das Ausdrucksbild für den Deutenden als uneinheitlich erscheinen lässt, solange er ver­ sucht es von Gesichtspunkten aus zu verstehen, die nur einem Pol gerecht werden. In meinem Buche (S. 126ff.) habe ich, nur zur Erläu­

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terung des Grundsätzlichen, eine kurze Analyse der Ausdrucksbewe­ gungen des Weinens gebracht, in der ich die beiden Quellen berück­ sichtige. Ortsverändernde Zugwirkungen erscheinen entweder als Zu- oder Abwendung, gestaltverändernde als Weitung und Dehnung durch Erfülltwerden oder Verengung und Schrumpfung durch Leerwerden. Von diesen beiden Gegensatzpaaren müssen nun jeweils die beiden ersten oder die beiden zweiten Partner in dem Erleben zusammen­ treffen, wenn die zugehörigen Gefühlszustände harmonisch sein sol­ len; zu dem Erfülltwerden passt die Zu-, zu dem Leerwerden die Abwendung. Es gibt aber mannigfache Gefühle, bei denen die beiden Pole nicht harmonisch zusammenwirken, und dazu gehören Angst, Schrecken und Entsetzen! Hier tritt zu einem Erfülltwerden von seiten des sog. Weltpols eine Abkehr von seiten des sog. individuellen Pols, im Unterschiede etwa vom Zorn, wo das Erfülltwerden mit einer Zuwendung beantwortet wird. Disharmonie der beiden Pole kann aber bei einiger Heftigkeit des Erlebens eine sinnentsprechende Verwirklichung ihrer Bewegungstendenzen unmöglich machen, es kommt zu »Koordinationsstörungen«, die Zwiespältigkeit der Seele lässt sich in der Einheitlichkeit des Körpers nicht mehr binden. Gerade in solchen Fällen dürfte aber auch eine einheitliche Deutung am wenigsten gelingen, womit ganz allgemein die Schwierigkeiten verständlich würden, die Ihnen bei der Bearbeitung des Ausdrucks der oben genannten Affekte begegneten. Da »disharmonische« Affekte besonders große Anforderungen an die Bewegungsgestaltung stellen und immer die Einheitlichkeit des Körpers zu zerstören drohen, muss man erwarten, dass sie mit starker Anspannung und trotzdem häufigem Versagen der Kleinhirnfunk­ tion einhergehen. Dies ist bei Angst, Schrecken und Entsetzen nun ganz offensichtlich der Fall. Zittern, Fahrigkeit der Bewegungen, Verkrampfungen, lähmungsartige Erschlaffungen, wie sie dabei vor­ kommen, gehören zur Symptomatologie zu schwacher Kleinhirntä­ tigkeit. Die Heranziehung dieses Gesichtspunktes scheint mir aber für das Verständnis dieser Erscheinungen wichtig zu sein, und zwar auch wichtig für die Analyse des vegetativen Ausdrucksbildes, weil auf Grund der Übereinstimmung zwischen animal-motorischem und vegetativem System dem Kleinhirn die Nebennieren entsprechen und deshalb in den vegetativen Erscheinungen bei Angst usw. die Symptome der Anspannung und des Versagens des Nebennierenein­ satzes eine erhebliche Rolle spielen müssen. Ich verweise hier auf die

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Adrenalinausschüttung, die Cannon bei diesen Affekten feststellte, als Zeichen der Anspannung und auf die Durchfälle, die kollapsartigen Zustände als Symptome des Versagens (was bei diesen letzteren voraussetzt, dass die Tendenz zur Abkehr in dem P-System zu stark ist, als dass die bremsende Wirkung der Nebennieren diese Störungs­ erscheinungen hätten verhindern können). Nehmen wir diese verschiedenen Momente zusammen, so ergibt sich für die von Ihnen angeschnittenen Fragen konkret folgendes: An der Gestaltung des vegetativen Ausdrucks sind zwei verschie­ dene effektorische Systeme beteiligt, das S- und das P-System, und entsprechend muss auch die Deutung des Ausdrucks unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen. Die Vorgänge im P-System lassen sich nach Analogie eines Antriebs, etwa der Abwendung oder auch der Richtung »von aussen weg« und damit »nach innen«, ver­ stehen; die im S-System dagegen verlangen zur Deutung Analogien eines gestaltverändernden Zuges, wobei für die einzelnen Organe noch zu beachten ist, dass sie je nach ihrer Natur die Einwirkungen des Weltpoles verschieden beantworten. Das Erfülltsein von dem Fremden weitet etwa alle aufnehmenden Organe, also Mund, Augen, Pupillen, Haut (Aufrichtung der Haare stellt unter anderem auch eine Vergrößerung der Receptionsflächen dar), aber es verengt im allgemeinen die Gefässe, die ja erfüllt sind von dem Träger der zu dem Fremden polaren »eigensten« Kräfte, dem Blut mit seinen Stoffen. Zorn hat etwa die gleiche S-Erregung wie Schrecken und zeigt diese auch, soweit die Erregung des P-Pols sie nicht überdeckt, z.B. im Sträuben der Haare, in der Weitung der Lidspalten, im Vortreten der Augäpfel (durch Blutstauung mitbedingt), ja zuweilen sogar in einer blassen lividen Hautfarbe. Hierzu tritt aber beim Zorn eine Zuwendung des P-Pols, und damit ein Strömen des Blutes in die Peripherie, das den Gegendruck der Gefässwände meistens überwin­ det und sie mit dem Erfolg intensiver Gesichtsröte weitet, während beim Schrecken das Blut vor der verengenden Wirkung des Eindrucks gleichsam zurückweicht und in das Innere zu fliehen sucht. Es käme bei dieser Flucht viel häufiger, als es tatsächlich der Fall ist, zu lebensbedrohlichen Zuständen, wenn sich dem Zurückströmen des Blutes nicht die Behauptungskraft der Nebennieren entgegenstemmte und durch verengende Adrenalinwirkung auf die Splanchnicusgefässe den Kollaps verhütete. Bis zu einem gewissen Grad überlässt also der individuelle Seelenpol das periphere Feld gleichsam dem Fremden, sodass die dortigen Organe, jenem verfallend, eine Funktionsweise

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bieten, die sich mit dem der übrigen, etwa der inneren Organe, nicht mehr zu einem einheitlich funktionierenden Ganzen zusammenbin­ det. Diesen Punkt habe ich in meinem letzten Brief vielleicht etwas zu sehr hervorgehoben. Indem ich ihn heute mit einem Versagen der Kleinhirn- und Nebennierentätigkeit in Verbindung bringe, glaube ich, ihn tiefer zu begründen. Der Brief ist sehr lang geworden, und dabei bin ich noch nicht einmal auf alle Einzelheiten eingegangen, die Sie berühren. Aber es schien mir wichtig und vielleicht auch dem besseren Verständnis meines Buches dienlich, wenn ich einmal den Standpunkt deutlich herausar­ beite, den mir eine erscheinungswissenschaftliche Nervenphysiologie in diesen Fragen zu ergeben scheint. – Für eine Angabe von evtl. Interessenten des Buches, denen man einen Prospektzettel zusenden kann, bin ich Ihnen sehr dankbar. Ich werde Ihnen, sobald der Verleger den Zettel fertiggestellt hat, ein Exemplar zuschicken. – Die Namen der Mitarbeiter an den »Blättern für Deutsche Philosophie« kann ich hier in der Bibliothek einsehen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie aus der Lektüre der »Symbolik« in Verbindung mit diesem Brief einen Gewinn für Ihre Arbeiten hätten, und brauche nicht zu betonen, dass ich jederzeit gern Ihre Anfragen beantworten werde, wie ich auch für jede Kritik sehr dank­ bar sein werde. In Verehrung Sie grüssend Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr. u. erg., Rdn. Klages, Anstr. Klages, Unterstr. Klages, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/21 Kopie: Nachlass Rothschild

Karplus und Kreidl Pupillenerweiterung bei Schmerzreizen und »psychischer Erregung« auch nach Oculomotorius-Durchschneidung: Die Arbeit von Karp­ lus und Kreidl (1911) findet sich innerhalb von einer Reihe von mehreren Veröffentlichungen der Autoren zu dem hier verhandelten Themengebiet. Sie führten Experimente an Katzen und Hasen durch (Läsionen und elek­ trische Reizung), die auf ein Zentrum sympathischer Erregbarkeit im Hypo­ thalamus bzw. Corpus subthalamicum verweisen. In dieser Arbeit sprechen sie sich aufgrund der eigenen Forschungen gegen die über die Pupillenarbeit von Braunstein (1894) in die Lehrbücher Eingang gefundene Behauptung aus, »die Pupillenerweiterung bei elektrischer Reizung der Hirnrinde (sei) ausschließlich auf Oculomotoriushemmung zu beziehen [...], sowie dass die bei Schmerzreizen auftretende Pupillenerweiterung gleichfalls ausschließ­

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lich durch Oculomotoriushemmung zustande kommt«, zumal es bei den eigenen Untersuchungen Braunstein »nicht entgangen« sei, »daß die Pupil­ lenerweiterung z.B bei reflektorischer Reizung sich nach der Sympathicus­ durchschneidung ändert« (Karplus & Kreidl 1911, S. 125f.). Siehe hierzu Braunstein (1894) insbes. S. 95f. Karplus und Kreidl halten dagegen: »Allein wir haben eine sehr große Anzahl von Versuchen durchgeführt, in denen die maximale Pupillenerweiterung, die bei direkter Reizung des Zwischenhirns oder der Hirnrinde aufgetreten war, nach einseitiger Halssympathicus­ durchschneidung auf dieser Seite vollkommen fehlte, wo also die vermeint­ liche Herabsetzung des Oculomotoriustonus gar keinen Anteil an dem Phä­ nomen der Pupillenerweiterung hatte. In anderen Fällen blieb bei direkter oder bei reflektorischer Reizung eine so geringe Pupillenerweiterung nach Sympathicusdurchschneidung zurück, daß auch hier der volle Effekt vor der Durchschneidung nicht ausschliesslich auf Oculomotoriushemmung bezo­ gen werden konnte. Schließlich haben wir im Gegensatz zu Braunstein uns davon überzeugen können, daß es »auch nach Oculomotoriusdurchschnei­ dung sowohl bei direkter Rindenreizung als reflektorisch auf Schmerzreize zu einer Erweiterung der nach der Durchschneidung sehr weit gewordenen Pupille kommen kann« (Karplus & Kreidl 1911, S. 126). Der Braunsteinarbeit aus dem Jahre 1894 kann man entnehmen, dass es bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts strittig war, ob es überhaupt einen M. dilatator pupillae gibt, und dass es unstrittig war, dass über den M. ocu­ lomotorius »pupillenverengende Impulse« zum Auge gelangen (1894, S. 1). Das ganze Buch beinhaltet neben den eigenen Untersuchungen des Verfas­ sers eine Zusammenstellung und Ordnung der widersprüchlichen Literatur zur Frage nach dem M. dilatator pupillae und der Frage seiner Beteiligung bei der Pupillenerweiterung bei umrissener cortikaler und subcortikaler Reizung, bei Reizung des Nervus ischiadicus u.a. Weinberg: Abraham Albert Weinberg (1891–1972), in Hamburg geboren, als Psychiater bis zur Emigration 1939 nach Palästina in Groningen tätig (s. Weinberg o. J.). U.a. stand er einer sozialpsychiatrischen Studie zur Migra­ tion vor, die im Rahmen der Israel Foundation for the Study of Adjustment Problems stattfand (s. Weinberg 1961). Die hier erwähnte Arbeit erschien unter dem Titel »Psyche und unwillkürliches Nervensystem« in zwei auf­ einanderfolgenden Ausgaben der Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 1923: In ihr kommen umfangreiche Erhebungen zur psycho­ physiologischen Reaktion auf Reize mit »psychischer Bedeutung« zur Dar­ stellung. Messungen erfolgen zur Herz-, Atmungsfrequenz und zum psy­ chogalvanischen Hautwiderstand. Zur Schlußfolgerung einer Aufeinanderfolge von einer Reaktionssteigerung des sympathischen, dann des parasympathischen und wiederum des sympathischen Systems bei Reizung s. insbes. Weinberg 1923b, S. 382ff.

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In meinem Buche (S. 126 ff.) habe ich... eine kurze Analyse der Ausdrucksbe­ wegungen des Weinens gebracht: Im angegebenen Text versucht Rothschild, die phänomenale Begründung des Weinens – dem Menschen ist körperlich oder seelisch Schmerz zugefügt worden – mit dem Gesichtsausdruck, der Atmung u.a. in Beziehung zu setzen. Als Beispiel für sein ausdrucksphy­ siologisch-psychologisches Vorgehen sei hier eine Passage wiedergegeben: »Am leichtesten einzusehen sind die Veränderungen der Atmung und die Bewegungen in der Umgebung der Augen. Das schmerzvolle Geschehen ist in besonderem Maße dadurch charakterisiert, daß es unerwünscht und unbegehrt in die Innerlichkeit eindringt; in der Atmung dringt aber ebenfalls ein hauchartiger Umweltkörper, die Luft, immer wieder von neuem in den Organismus ein, und so sind denn die von der Atemluft ausgehenden Ein­ druckserregungen besonders geeignet, mit den Wirkungen des schmerzhaf­ ten Erlebnisses auf die medullären Zentren zu verschmelzen und dieses bei der Einkörperung an sich zu binden. Die eigentlich sich gegen das Eindringen des Schmerzerlebnisses wehrenden Antriebe wenden sich nunmehr gegen das Eindringen der Atemluft; der Weinende versucht, die Einatmung mög­ lichst zu unterbinden und die Ausatmung möglichst lange auszudehnen, die Glottis als wichtigste Eintrittsstelle der Luft ist verengt. Im gleichen Sinn drückt die Zusammenziehung der Ringmuskeln um die Augen die Ableh­ nung der eindringenden optischen Eindrücke aus, wie auch die Tränen dazu dienen sollen, das seelisch eingekörperte, peinigende Fremdwesen wie einen tatsächlich reizenden Fremdkörper wieder zu entfernen« (1935, S. 127).

85 Klages an Rothschild Kilchberg, den 4. Juni 1935 Herrn Dr. F. S. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Ihre dankenswerten und reichhaltigen Ausführungen vom 29. Mai waren und sind mir von grossem Wert. Ich werde die Antwort darauf, soweit eine solche sachlich geboten erscheint, verschieben bis nach gründlichem Studium Ihres Werkes; und wenn ich hier gleichwohl vorweg einige Punkte berühre, so geschieht es lediglich im Hinblick auf meine Anmerkung und zur Begründung der von mir gewählten Fassung. Wenn Ihre Darlegungen, insofern sie die Ausdruckserscheinungen betreffen, auch naturgemäss zu meiner Ausdruckskunde zahlreiche Anknüpfungspunkte bieten, so enthalten sie doch daneben ganz selbständige und mehr oder minder in Ihrer »Symbolik des Hirnbaus«

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verwurzelte Gedanken, die ich meinem System nicht ohne weiteres eingliedern könnte und deren Beziehung zu meinen beiden Haupt­ prinzipien, dem Ausdrucksprinzip und dem Darstellungsprinzip, erst einer genauen Untersuchung bedürfen würde. Ich muss mich deshalb in der Anmerkung auf solche Andeutungen beschränken, die eines­ teils das Verhältnis Ihrer Forschungsweise zur nervenphysiologischen der Gegenwart, andernteils zu der besonderen Frage betreffen, mit der ich die Anmerkung verknüpfe, und das ist eben die Frage nach der Entstehung der Pupillenerweiterung im Zustande der Angst und des Schreckens. Ich lege Ihnen hier zwei Dokumente bei: erstens das umgeformte Stück meines Haupttextes und zweitens den Entwurf der Anmerkung. Wie Sie aus dem Haupttext ersehen, bin ich im wesentlichen bei meiner Deutung geblieben, ohne jedoch die entgegengesetzte Auf­ fassung der Physiologen anzutasten. Kurioserweise bedeutet diese neue Fassung teilweise eine Rückkehr zur allerfrühesten, welche die nervenphysiologische Annahme der Sympathicuserregung stärker betont hatte. Wenn ich nicht irre, dürfte gegen die jetzige Fassung vom rein physiologischen Standpunkte aus kaum noch etwas einzuwenden sein. Sollte Ihnen aber die eine oder andere in der Beziehung unbehol­ fene Wendung noch auffallen, so bitte ich um Angabe. Bei der Anmerkung habe ich breite Ränder gelassen, damit Sie allen­ falls Besserungsvorschläge sowie hinsichtlich meiner Hinweise auf Ihre Anschauungen Desiderate anbringen könnten. Auf Ihre Unter­ scheidung ortsverändernder von gestaltverändernden Erregungssei­ ten konnte ich nicht eingehen, weil dies eine ziemlich umfassende Darlegung erfordert hätte, glaube aber, dass auch ohne Erwähnung dessen die kleine ausdruckstheoretische »Kostprobe« hinreichend appetiterregend ausgefallen ist. Mir scheint übrigens diese Unterscheidung wichtig und weittragend zu sein. Indessen wird in meinem Ausdrucksbuche dargetan, dass auch alle Gestaltverändernden in Wandlungen der Antriebsgestalten wurzeln und vor allem ihre Bedeutungen dem Empfänger nur durch das Mittel von Gestaltwandlungen seiner »virtuellen Bewegung« kundgeben. – Im Anschluss an Ihren Brief habe ich sogleich in Ihrem Buch die Stelle über den Tränenerguss nachgelesen. Hierzu hätte ich nun sehr viel zu sagen, was den Rahmen eines Briefes weit über­ schritte. Interessieren wird es Sie, dass ich in meinem Ausdrucksbuche an zwei Stellen auf das Weinen zu sprechen komme, einmal innerhalb einer scharfen Polemik gegen Darwin, sodann an ganz andrer Stelle

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positiv. Was ich dort biete, ist nur die Lösung oder ein Lösungsversuch für eine Art des Weinens und geht nun freilich nach einer ganz andern Richtung als Ihre Konzeption. Wie nämlich die Interferenz der Symptome, die Sie Ihrem Schreiben aus anderm Gesichtspunkte berühren, vielfach berücksichtigt werden muss, so ist meines Erach­ tens eine einheitliche Erklärung des Weinens unmöglich. Dass wir das trockene Schreiweinen des Säuglings vom echten Weinen des vorgeschrittenen Kleinkindes und des Erwachsenen unterscheiden müssen, braucht keines Wortes; aber auch die Tränenergüsse oder sagen wir die vermehrte Tränenabsonderung des Erwachsenen kann als Teilausdruck ganz ungemein verschiedener Zustände auftreten: es gibt Freudentränen, Zornestränen, Erbitterungstränen, Tränen aus Seelenleid; und es ist von nicht geringer Bedeutung, dass heftiger Körperschmerz (versteht sich, des Erwachsenen und übrigens gleich­ gültig ob Mann oder Weib) sich durch Ächzen, Stöhnen, schliesslich durch heftige Schreie, selten oder nie dagegen durch Tränenerguss zu entladen pflegt. Ferner ist es nur eine bestimmte Art von Seelenleid, die und zwar dann sehr leicht Tränenerguss herbeiführt, während es andererseits tiefen Gram und Kummer geben kann, der nicht weint und es überhaupt nicht vermag. Sie werden darüber später in meinem Buche einiges finden, wovon ich glaube, dass es Ihre Teilnahme erregen wird. – Weiterhin wäre viel zu sagen über die Begriffe: einheitlich – individuell – überindividuell. Doch das und andres verspare ich, wie gesagt, bis nach Lektüre Ihres Buches. Nimmt man den Sympathicus als »Weltpol« – und vieles scheint in der Tat dafür zu sprechen – so ist Ihre Annahme, dass in Affekten die S-Erregung der P-Erregung vorausgehe (statt allenfalls umgekehrt) zwingend; und ich habe deshalb in meinen Texten diejenigen Stellen gestrichen, die auch nur die Möglichkeit des Gegenteils andeuteten. Mit Dank im voraus und herzlicher Begrüssung Ihres ergebenen: LKlages Beilagen erwähnt Original: Ts, hschr. korr. u. erg., links oben Adresse überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/28

dass ich in meinem Ausdrucksbuche an zwei Stellen auf das Weinen zu spre­ chen komme, einmal innerhalb einer scharfen Polemik gegen Darwin, sodann an ganz andrer Stelle positiv: Am Beispiel des Weinens u.a. beschreibt Klages

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die vorherrschende Argumentationsweise Darwins in seiner 1872 erschie­ nen Ausdruckskunde »Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren« und unterzieht sie einer polemisch-ironischen Kritik: Beim schreienden Kind würde der Druck infolge der stärker als sonst gefüllten Blutgefäße des Auges zum Zusammenziehen der Augenmuskeln – zuerst willentlich, dann gewohnheitsmäßig führen, wodurch die Tränen­ drüsen gereizt würden, so Darwin. »[D]ie fort und fort zu gewahrende Wandlung gewollter in automatische Vorgänge« ist dann der zentrale Punkt seiner Kritik (Klages 1936, S. 208–215, zit. 212). In einer Anmerkung findet sich eine längere Erörterung des Weinens, in der es Klages zentral um die Wehmut geht, die sich zumindest als »Spur« in jeder »spezifisch seelischen Träne« befände (ebd., S. 341). Beilagen erwähnt: 86 R – Die Anlagen finden sich dort als Beilagen des Gegenbriefs.

86 Rothschild an Klages Giessen, den 7. Juni 1935 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ihr freundliches Schreiben vom 4. ds. will ich gleich beantworten. Gegen die jetzige Fassung des Textstückes ist m.E. von Seiten des Physiologen nichts mehr einzuwenden. Er dürfte übrigens auch die von Ihnen ausdruckswissenschaftlich erschlossene Lähmungskompo­ nente in der Pupillenerweiterung ohne weiteres gelten lassen, da Experimente vorliegen, die beweisen, dass trotz durchschnittenem Sympathicus Pupillenerweiterung bei psychischen Erregungen noch auftreten kann. Dass beide Systeme, der S mit Erregung, der P mit Lähmung an dieser Erscheinung beteiligt sind, ist auch meine Ansicht, was vielleicht in dem letzten Brief nicht so herauskommt, was aber deutlich wird, wenn man den vorhergehenden dazu nimmt. Ich habe deshalb in der Anmerkung eine diesbezügliche Änderung vorgenom­ men und würde vorschlagen, den Hinweis auf Auffassungsdifferen­ zen an dieser Stelle ganz wegzulassen, weil bei der Vielschichtigkeit des Problems eine ausreichende Behandlung der Frage hier doch nicht erfolgen könnte. Die Fassung, die ich an den Rand geschrieben habe, würde meinem Standpunkt gerecht werden. Dann noch eine Kleinigkeit. Es scheint mir zutreffender, mich als »Neurologen« statt als »Nervenphysiologen« zu bezeichnen, weil

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mein Entwicklungsgang und die starke Betonung der Morphologie in meinen Arbeiten dazu besser passen. Dass meine Ausführungen über das Weinen unvollständig sind, war mir bewusst und hatte ich auch in dem Buche bemerkt, wurde mir aber wieder ganz deutlich durch Ihre wenigen Bemerkungen über den Tränenerguss. Da mich die Frage früher einmal beschäftigt hat, bin ich sehr in Erwartung in bezug auf die Darlegungen in Ihrem neuen Buche. Auch von Ihrer Stellungnahme zu einigen in meinen Briefen gebrauchten Begriffen, die Sie mir nach Lektüre der »Symbolik des Hirnbaus« mitteilen wollen, erhoffe ich mir viel Klärung und Anre­ gung. Ich verbleibe mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Zwei Beilagen zurück. Original: Ts, hschr. erg., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/22 Kopie: Nachlass Rothschild (ohne die Beilagen)

86a Anhang Kurzes Textstück der Ausdruckslehre bei Klages. Haben wir auch im Kummer auf der einen, im Entsetzen auf der ande­ ren Seite zwei Arten der Abkehr gefunden, so bleiben es immer doch Arten der Abkehr, und dem entspricht es, dass nicht nur im Gram, sondern auch in den Zuständen der Furcht, des Schreckens, Entsetzens das Blut aus der Haut zurückweicht und die Absonderungen sich mindern, daher das Trockenwerden des Gaumens, das Erblassen und Frösteln (»Gänsehaut«) beiden Gruppen gemein ist. Das Schlagartige und Gewaltsame des Entsetzens spricht sich aber in der weit grösse­ ren Schnelligkeit der Zusammenziehungen der Blutgefässe aus, und damit geht – infolge Erweiterung der Bauchblutgefässe im Splanchni­ cusgebiet – bisweilen jenes Stürzen des Blutes ins Leibesinnere einher, dessen Steigerungsformen zum sog. Kollaps führen. Es steht damit im Einklang, dass im heftigen Schrecken zunächst der Atem aussetzt, um alsbald beschleunigtem Pulsschlag und keuchendem Atem Platz zu machen. Indem endlich auch noch die häufige Starrheit des Blickes ohne weiteres aus dem Gefesseltsein der Seele an das

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Grauenerregende folgt, sehen wir zunächst einander verstärken und die zugeordnete Stimmung gemeinsam tragen die motorischen und die viszeralen Vorgänge. Woher aber rührt die von jedem Beobachter bestätigte Erweiterung der Pupille, die sehr erheblich sein kann und selbst an solchen Personen wahrgenommen wird, die sich gedrungen fühlen, an etwas Grauenvolles zu denken? Wir deuten mit wenigen Worten an, warum der Erscheinungsforscher hier den Physiologen zu Hilfe rufen müsste und weshalb der wiederum den Zusammenhang nur mit Hilfe des Erscheinungsforschers aufzudecken vermöchte. Die Pupillen verengen sich bei vermehrtem Lichteinfall und beim Fixieren nahe befindlicher Gegenstände, sie erweitern sich beim Übergang vom Hellen ins Dunkle und beim Blicken, zumal dem träumerischen Blicken ins Ferne. Mag nun der Anlass des Entset­ zens leibhaftig zugegen oder imaginiert sein, er wird als wesenhaft nah erlebt und wäre dann seiner Gewaltsamkeit jedenfalls eher einem stechenden Strahl als der Dunkelheit zu vergleichen, daher wir erscheinungswissenschaftlich Verengung der Pupillen erwarten sollten! Betreten wir nun den Boden der Leibeslehre, so bestehen für Pupillenerweiterung zwei antagonistische Bedingungen: aus gestei­ gerter Erregung des Sympathicus, von dem der M. dilatator iridis innerviert wird, und aus Lähmung der parasympathischen Fasern des Oculomotorius, der den M. sphincter iridis innerviert. – Die Physiologen bieten uns gewichtige Gründe für Sympathicuserregung anlässlich jedes Affekts und erklären mit ihr auch die Pupillenerwei­ terung im Schreck und Entsetzen. Allein die nervenphysiologisch unbestrittenen Verdienste zumal des Amerikaners Cannon und seiner Schüler sind für den Ausdrucksforscher nicht ohne weiteres zu ver­ werten. Der Physiologe sieht in der heftigen Wallung naturgemäss eine Vorgangsstörung und sucht und entdeckt die Symptome der Stö­ rung sowie der Gegenmassnahmen des Organismus; der Ausdrucks­ forscher jedoch, dem es obliegt, zur »Sprache« der Seelenzustände, im Gleichnis geredet, Vokabular und Grammatik zu liefern, fahndet nach den Verschiedenheiten der Zustände und ihrer Anzeichen. Er wird es den Physiologen glauben müssen, dass an der Pupillenerweiterung des heftig Erschrockenen Sympathicuserregung beteiligt sei, aber er wird dafür ausserdem die Lähmung des Oculomotorius mitverant­ wortlich machen. Eingefügt dem Zusammenhang, im Hinblick auf den es zutreffend heisst, man sei »vor Schrecken gelähmt« gewesen, ist nämlich sie es, die es unmittelbar verständlich macht, dass trotz stärkstem Wegwendedrang die Pupillen geweitet bleiben, da denn der

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solcherart Überwältigte als vom Bilde des Schreckensanlasses gebannt erscheint (hier Anmerkg.). Kopie: Ts, hschr.erg., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/22

Anmerkung. Über ausdruckstheoretisch wichtige Ergebnisse Cannons unterrichtet man sich am raschesten aus dessen Abhandlung »Die Notfallfunktion des sympathico-adrenalen Systems« in den »Ergebnissen der Physio­ logie« 1928, Bd. 27. Schon der Terminus Notfallfunktion lässt vermu­ ten, in welchem Sinn hier von zwei viszeralen Vorgängen, nämlich der Erregung des Sympathicus und vermehrter Adrenalinausschüttung ins Blut, die Rede ist; und es sind denn in der Tat die allerverschiedens­ ten Gelegenheiten, anlässlich deren beide Reaktionen ins Spiel treten wie: rasche Abkühlung des Körpers, Verletzungen mit Blutverlust, sinkender Blutdruck überhaupt, Atemnot, sinkender Zuckergehalt des Blutes, heftiger Schmerz, Infektionsfieber, starke Anstrengung der gesamten Muskulatur, endlich bei hinreichender Intensität jeder beliebige Affekt. Wenn aber in der Beziehung die vegetativen Bilder etwa heftigen Zornes und heftiger Angst voneinander kaum noch zu unterschieden wären, so brauchen wir ja nur daran zu denken, dass noch niemals jemand aus Wut Durchfall bekommen hat, um sogleich zu bemerken, dass derartige Feststellungen, deren nervenphysiologi­ sche Bedeutung nicht unterschätzt sein soll, ausdruckstheoretisch viel zu summarisch sind. Es fehlt hier, kurz gesagt, das seelenkundliche Rüstzeug, um die physiologischen Tatbestände für die Ausdrucks­ kunde fruchtbar zu machen. Demgegenüber bedeuten nun einen erheblichen Fortschritt gewisse Arbeiten, die aus dem Kreise des Physiologen W.R. Hess hervorge­ gangen sind, auf dessen bahnbrechende Abhandlung »Über Wech­ selbeziehungen zwischen psychischen und vegetativen Funktionen«, Leipzig 1925, nachdrücklich hingewiesen sei. Unter ihnen ist beson­ ders hervorzuheben die Schrift »Körperlich-seelische Zusammen­ hänge in Gesundheit und Krankheit«, Leipzig 1931, von W.H. von Wyss. Der Versuch dieses Autors, die (kurz gesagt) vegetativen Ausdrucksbilder mit den motorischen in Einklang zu bringen, ist – ganz abgesehen vom inzwischen bedeutend vermehrten Erfahrungs­ stoff – jedenfalls glücklicher ausgefallen als weiland derjenige etwa eines Wundt.

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Während diese Männer in erster Linie Sachforscher und nur allenfalls nebenher Erscheinungsforscher sind, gilt das Gegenteil von einem jüngeren Nervenphysiologen, auf dessen vielversprechende Arbeiten wir hier einen Blick werfen müssen. Gestützt auf die Wesenswis­ senschaft teils des Verfassers, teils Melchior Palágyis hat es F.S. Rothschild unternommen, das gesamte Nervensystem erscheinungs­ wissenschaftlich zu deuten. Ausser seinem bisherigen Hauptwerk »Symbolik des Hirnbaus«, Berlin 1935 (Verlag von S. Karger, Karlstr. 39) nennen wir seine Abhandlung »Von der Übereinstimmung im Aufbau des Zentralnervensystems und des Systems der Hormone« in der »Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie« 151. Bd., 1. Heft. – Es wäre unmöglich und würde sowohl den Rahmen einer Ausdruckskunde als auch die Zuständigkeit des Verfassers überschreiten, von den teilweise völlig neuartigen Auffassungen Rothschilds anmerkungsweise einen Begriff zu geben. Wir begnügen uns damit, inbezug auf die Pupillenerweiterung im Zustande der Angst und des Schreckens einen Grundgedanken des Werkes wenig­ stens anzudeuten. Der Leser unsres Buches wird ohne weiteres verstehen, was es besagen will, wenn der Autor der »Symbolik des Hirnbaus« den Sympathicus (S) als Träger des Weltpols im Organismus, den Para­ sympathicus (P) als Träger des individuellen Pols ansieht. Unter dieser Voraussetzung rückt zunächst einmal die Tatsache der S-Erregung aus Anlass jedes stärkeren Affekts in ein neues Licht: spricht doch die Wallung – gleichgültig welcher Art – normalerweise von gesteigerter Wirkung der Aussenwelt auf den Seelenträger und in ihn hinein! Ferner sind es naturgemäss die aufnehmenden Organe, also Mund, Augen, Pupillen, Haut, die sich dem Andrang des Fremden öffnen und infolgedessen erweitert werden. Was aber die Gefässe betrifft, so erscheinen ihre Gestaltänderungen jetzt als Funktionen der Bewegun­ gen des Blutes, das extremsten Grades dem Innenpol zugehört. Die daraus sich ergebende Deutung ihrer Verengung etwa in der Furcht, ihrer Weitung etwa im Zorn läuft, wie man bemerkt, der unsrigen parallel, indem auch hier Abwendung und Zuwendung massgebend bleiben. Die Pupillenerweiterung im Zustande des Entsetzens dage­ gen wird auf S-Erregung zurückgeführt, als Zeichen nämlich einer übermässigen Inanspruchnahme des Weltpols. – Wir treten in eine Auseinandersetzung darüber umso weniger ein, als die fragliche Auffassungsdifferenz unseres Erachtens ohne tiefere Bedeutung ist; denn auch im Rahmen der vorstehend skizzierten Anschauung könnte

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schliesslich gefolgert werden: Pupillenerweiterung im Schrecken aus Lähmung des »individuellen Pols«. – Es soll uns genügen, wenn es uns gelungen ist, an diesem Beispiel gezeigt zu haben, dass und wie mit den Arbeiten Rothschilds in die bisher nur sachwissenschaftlich behandelte Nervenphysiologie die Erscheinungswissenschaft ihren Einzug zu halten begonnen hat. Kopie: Ts, hschr. korr. u. erg., Rdn. Rothschild, Nachlass Klages, DLA Mar­ bach 61.11900/22

Anmerkung zur Beilage ›Anmerkung‹: In dieser Fassung wurde die Anmer­ kung nicht in die »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck«, die 1936 erschien, hereingenommen (s. 94 R). Die obere Hälfte mit Bezugnahmen auf Cannon, Hess und von Wyss findet sich in der Anmerkung 39 zur Seite 187 (Klages 1936, S. 356). Alles, was sich auf Rothschild und die »Symbolik des Hirnbaus« bezieht, fehlt. In der 7. Auflage des Werkes, das 1950 beim Bouvier Verlag in Bonn erschien, wurde dann an der angegebenen Stelle eine Anmerkung aufgenommen, die ausführlicher als die 1935 besprochene aus­ gefallen ist (Klages 1950, Anm. 40 zu S. 188, S. 361f.). Den Wortlaut der Anmerkung s. unter 126 K. Cannons ... Abhandlung »Die Notfallfunktion des sympathico-adrenalen Systems«: erschien 1928 auf Deutsch und ist die oder eine der zentralen zeitgenössischen Arbeiten zum sog. autonomen Nervensystem (vorher: vegetatives Nervensystem). Cannon wertet einen großen Korpus damals veröffentlichter Versuchsreihen inklusive seiner eigenen zu diesem The­ menkomplex aus und kommt u.a. zu folgenden Schlussfolgerungen über das sympathico-adrenale System: Über Sympathikus-Aktivierung wird das Adrenalin der Nebennierenrinde aktiviert, das den Organismus über ein System von Wirkungen auf Gefahren einstellt – Schwitzen, Gänsehaut, Zit­ tern, Anstieg des Blutzuckers und des Herzschlags und Dehnung der Pupille. W.R. Hess ... »Über Wechselbeziehungen zwischen psychischen und vegetati­ ven Funktionen«, Leipzig 1925: Auch der Schweizer Walter Rudolf Hess gehörte u.a. mit den Österreichern Johann Paul Karplus und Alois Kreidl (s. 84 R) zu den international in vorderster Reihe rezipierten Wissenschaftlern, die zum autonomen Nervensystem forschten (s. Finger 1994, S. 284–286). In der o.a. Arbeit versucht er die Bedeutung von parasympathischer Aktivität während des Schlafens zu erläutern, kommt aber zu keinen Aussagen über die Pupillendehnung bei Angst und Schreck. Kreise des Physiologen W.R. Hess: zu Hess s. Anm. zu 4 K und 4 a K. Zu den Schülern von Hess (s. Christian Hess 2008) werden u.a. die Hirnforscher Oskar A.M. von Wyss und Konrad Akert gezählt, die Hess in der Leitung des Physiologischen Instituts der Universität Zürich folgten.

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W.H. von Wyss: Wahrscheinlich hat auch Walter H. von Wyss, einer der frühen Psychosomatiker (Poliklinik Zürich) zu den sog. Kreisen des Physio­ logen Hess gehört. Die hier zitierte Arbeit von Wyss bezieht sich umfassend auf die damals aktuelle psychosomatische und psychophysiologische Litera­ tur. Er setzt sich u.a. mit Goldstein, Klages und Pawlow auseinander. von einem jüngeren Nervenphysiologen: Im 3. Abschnitt der Anmerkung wurde der ›Nervenphysiologe‹ von Rothschild in eine eckige Klammer gesetzt und am Rand findet sich handschriftlich die Korrektur »Neuro­ logen«. Mit dieser Korrektur hat Klages ›Nervenphysiologe‹ in seinem Durchschlag (s. nächste Anmerkung) überschrieben. Die Pupillenerweiterung im Zustand des Entsetzens ... und wie mit den: wurde von Rothschild in eckige Klammern gesetzt, und es findet sich am Blattrand die im Brief erwähnte Fassung Rothschilds handschriftlich: »Für die Pupil­ lenerweiterung im Zustande des Erschreckens wird dagegen neben der Läh­ mung des P auch die S-Erregung als mitverantwortlich angesehen, als Zei­ chen nämlich der übermäßigen Inanspruchnahme des Weltpols. – Dieses Beispiel mag genügen, um darauf hinzuweisen, daß mit den …« Diesen Einschub hat Klages in seinem Durchschlag, der als Anlage dem Brief von Klages an Rothschild vom 4. Juni 1935 archiviert wurde, sinngemäß über­ nommen. Der handschriftliche Einschub ist nicht genau lesbar (DLA Mar­ bach, Nachlass Klages 61.6792/28).

87 Klages an Rothschild Kilchberg, den 14. Juni 1935 Herrn Dr. F. S. Rothschild Bahnhofstr. 66, Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 7. dieses. Die Sache ist nun in bester Ordnung! Anbei sende ich Ihnen eine Reihe von Adressen für den Werbezettel des Verlegers. Wenn es auch nicht von allen absolut sicher ist, ob sie stimmen, so doch von weitaus der Mehrzahl. Es sind insbesondere auch Ärzte dar­ unter, von denen ich gewiss weiss, dass ihnen die Lektüre Ihres Buches wertvoll sein könnte. Von schweizerischen Zeitschriften wüsste ich Ihnen zunächst nur zu nennen die: Schweizerische Medizinische Wochenschrift, Verlag Benno Schwabe, Basel. Doch werde ich wahr­ scheinlich noch weitere in Erfahrung bringen. Ferner sollte man den Prospekt an einige Professoren senden, die jetzt nicht mehr in Deutschland sind, deren Anschriften aber wohl unschwer zu ermitteln

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wären, z.B. an Prof. Dr. William Stern (ehemals Hamburg), jetzt Holland sowie an Prof. Dr. Cassirer, ehemals ebenfalls Hamburg, jetzt soviel ich weiss London. Dies für heute und die freundlichsten Grüsse Ihres ergebenen: LKlages Beilage erwähnt Bitte auch an mich ein paar Werbezettel: ich habe stets ......Verwendg. dafür. Original: Ts, hschr. Erg., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Kurzbriefformat und Beilage, Nach­ lass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/29

Prof. Dr. William Stern: William Stern (1871 Berlin – 1938 Durham, North Carolina), Vertreter der akademischen Psychologie, befasste sich mit Ent­ wicklungs- und differentieller Psychologie. Er trug zu der von Prinzhorn herausgegebenen Festschrift zu Klages’ 60. Geburtstag bei, die unter dem Titel »Die Wissenschaft am Scheideweg« (1932) erschien. Er war einer der Gründer der Hamburger Universität. Neben der Leitung des Psycholo­ gischen Instituts hatte er zusammen mit dem Philosophen Ernst Cassirer auch die Leitung des Philosophischen Instituts inne. Er wurde infolge des Erlasses des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« aus dem Staatsdienst entlassen und emigrierte 1933 in die Niederlande und dann in die USA. Prof. Dr. Cassirer: Der Philosoph Ernst Cassirer (1874 Breslau – 1945 New York), Cousin von Kurt Goldstein, nahm auf die zeitgenössische Philosophie großen Einfluss, setzte sich u.a. kritisch mit Klages auseinander. Emigrierte unverzüglich nach der Machtergreifung 1933 nach England, später nach Schweden und in die USA. Bitte auch an mich ein paar Werbezettel: ich habe stets ...... Verwendg. dafür: handschriftliche Ergänzung, die nicht ganz leserlich ist.

87a Anhang A n s c h r if t e n Prof. Dr. H.-W. Maier, Burghölzli, Z ü r i c h Dr. Binswanger, w. o. Dr. Moor, w. o.

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Dr. Wespi, w. o. Prof. Minkowski, Direktor der Neurologischen Polyklinik, Zürich Prof. Veraguth, Direktor der physikalischen Therapie, Zürich Prof. Löffler, Direktor der medizinischen Polyklinik, Zürich Privatdozent Dr. F. Lüthy, Seefeldstr. 108, Zürich Privatdozent Dr. R. Brun, Zürichbergstr. 88, Zürich Dr. med. Bovet, Haselweg 3, Zürich Dr. med. Jul. Meier, Kreisart der Luna, Zürich Privatdozent Dr. med. Galus, Leiter der psychiatrischen Polykli­ nik, Zürich Dr. med. Stahl, Zollikon bei Zürich Dr. J. Eugster, Schmelzbergstr. 40, Zürich Dr. med. H. Lottig, Rothenbaumchaussee 149, Hamburg 37 Prof. Dr. Schmaltz, Frankfurter Str. 79, Offenbach am Main Dr. Egon von Steiger, Hallerstr. 43, Bern Dr. Rud. Pophal, Badenstr. 15, Stralsund Dr. Carl Haeberlin, Karlstr. 29, Bad Nauheim Prof. Dr. Wilhelm Specht, Max Josefstr. 6, München Dr. Karl Rohr, Schönberggasse 9, Zürich Dr. Willy Raffel, Krankenhaus Münsterlingen am Bodensee Dr. Christoph Bernoulli, Holbeinstr. 69, Basel Dr. med. H. Christoffel, St. Albanvorstadt 42, Basel Dr. Diethelm, The John Hopkins Hospital, North Broadway, Balti­ more M. D. Prof. Dr. von Dürkheim, Düppelstr. 23, K i e l Dr. H. Dulfer, Schuytstraat 203, Den Haag Dr. S. Herbert, 11. Bartow Moor Road, Manchester Dr. Hans Kern, Zühlsdorf, Post Wandlitz (Mark) Dr. William Mackenzie, Piazza Meridiana, Genua Dr. W. Neumann, Ludwig-Wilhelm-Str. 1, Baden-Baden Dr. T. J. A. Niekus, Ootmarsumschestraat 94, Almelo (Holland) Dr. E. von Niederhöffer, Bayreutherstr. 17, Berlin W 30 Prof. Dr. Swoboda, Hochschulstr. 36, Wien 19 Dr. Gerhard Schorsch, Sternwartenstr. 79, Leipzig Prof. Dr. Schröder, Unversitätsnervenklinik, Philipp-Rosenthal Str., Leipzig Hans Eggert Schröder, Am Kupfergraben 4, Berlin N 24 Frau Dr. Roda Wieser, Mommsengasse 3, Wien 4 Dr. Walter H. von Wyss, Freiestr. 41, Zürich

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Anmerkung zu den genannten Personen: Bernoulli, Haeberlin, Kern, Hans Eggert Schröder sind unmittelbare Schüler Klages’ und wie auch Pophal, Prinzhorn, Rothschild, Stern, Jakob von Uex­ küll und Wechs Beiträger zur Festschrift »Die Wissenschaft am Scheideweg« zu Klages’ 60. Geburtstag. Bernoulli ermöglichte durch sein Engagement erst die Herausgabe der »Symbolik des Hirnbaus« (s. S. 58–66). Der Psy­ choanalytiker Herbert übersetzte Klages ins Englische.

88 Rothschild an Klages Gießen, 21. VI. 35 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vielen Dank für Ihr freundliches Schreiben vom 14. ds. und die Angabe der Anschriften für die Prospekte. Ich habe sie an den Verleger weitergegeben und ihn auch gebeten, einige Zettel an Sie zu senden. Vermutlich werden Sie sie schon erhalten haben. Mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Hs, Postkarte, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/23

89 Klages an Rothschild Kilchberg, den 22. Juni 1935 Sehr geehrter Herr Doktor: Ich darf wohl annehmen, dass Sie meine Zeilen vom 14. dieses, denen ein Verzeichnis von 39 Anschriften eventueller Interessenten Ihres Buches beilag, erhalten haben. Ich selbst erhielt inzwischen vom Verleger einige der Prospekte zuge­ sandt. Ein Berner Bekannter von mir, der sich sehr für Ihr Werk inter­ essiert, hat sich die Anschriften sämtlicher Schweizer Neurologen und Psychiater verschafft, an die er persönlich gern Prospekte versenden würde. Vielleicht haben Sie die Güte Ihren Verleger zu veranlassen, er möchte an den genannten Herrn 150 Prospekte senden: Herr Dr. E. von Steiger, Hallerstr. 43, Bern Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, hschr. korr., Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/30

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Dr. E. von Steiger: Emil von Staiger (1881–1962) war ein bekannter Züricher Germanist, der mit Klages in Kontakt stand.

90 Rothschild an Klages Gießen, den 26.VI.35 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ich danke Ihnen vielmals für die Karte vom 22. ds. in der Angelegen­ heit des Prospektes. Ich habe die Sache an den Verleger weitergegeben, und es ist anzunehmen, daß er sie gleich erledigt. Die Karte, in der ich Ihnen für die freundliche Zusendung der Adressen dankte, werden Sie wohl inzwischen erhalten haben. Sie muß sich mit der Ihren gekreuzt haben. Mit verehrungsvollen Grüßen Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Hs, Postkarte, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/24

91 Rothschild an Klages Giessen, den 27. August 1935 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vielleicht erinnern Sie sich einer Bemerkung in einem früheren Brief, dass ich mich daran gemacht habe, das Nervensystem der wirbellosen Tiere vom erscheinungswissenschaftlichen Standpunkt zu untersuchen. Die Arbeiten sind in der Zwischenzeit ganz gut vorangeschritten, und da eine zusammenhängende Darstellung aller Ergebnisse wieder zu umfangreich geworden wäre, habe ich zunächst einmal einen Teil fertig gestellt und zwecks Veröffentlichung an einen der Herausgeber der Zoologischen Jahrbücher, Prof. Hartmann vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem, geschickt, Titel: »Von dem Zusammenhang zwischen Bau und Funktion im Nervensystem wirbelloser Tiere. Eine erscheinungswissenschaftliche Untersuchung über das Bauchmark und die Sehzentren der Arthro­ poden«. Ich halte die Abhandlung für wichtig; sie wird auch dem vorhergegangenen Buch neues Gewicht erteilen, weil mit den dort

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entwickelten Anschauungen hier ein ganz neues Gebiet erschlossen wird. Es zeigen sich als Nebenergebnis auch neue Möglichkeiten für eine vergleichende Tierpsychologie. Ich habe die Arbeit aufs Geradewohl an Prof. Hartmann geschickt, den ich sonst gar nicht kenne. Ob er sie annehmen wird, ist fraglich; auf jeden Fall schien es mir aber richtig, diesen Weg zu versuchen. Jedoch nicht das ist der eigentliche Grund, weswegen ich heute schreibe. Ich komme mit einer persönlichen Angelegenheit. Die Verhältnisse hier, insbesondere die wirtschaftlichen, zwingen mich, mir wegen der Zukunft Gedanken zu machen. Mein Bruder, der vor zwei Jahren nach Palästina ausgewandert ist, hat dort festen Fuss gefasst und wünscht, dass meine Eltern nachkommen. Deren Lage ist nun hier wenig erfreulich, was in erster Linie mit der Stellung der Juden in Deutschland ganz allgemein zusammenhängt, und es wäre zu begrüssen, wenn sie drüben noch einen friedlichen Lebensabend fänden. Ich habe deshalb die Absicht, Anfang Oktober nach Palästina zu fahren und die Frage der Übersiedlung an Ort und Stelle zu besprechen, evtl. schon die ersten notwendigen Schritte einzuleiten. Die Frage ist nun, was ich dann anfange. Ich möchte auf jeden Fall versuchen, meine wissenschaftlichen Arbeiten fortzusetzen. Ob es nicht möglich wäre, ein etwa zweijähriges Stipendium von der Rocke­ feller-Stiftung für Arbeiten an einem englischen oder amerikanischen Institut zu erhalten? Es gibt auch sonst, glaube ich, noch grosse Fonds, die in Betracht kämen. Ich könnte in dieser Zeit Verbindung mit der englischen oder amerikanischen Wissenschaft gewinnen und dann vielleicht von Palästina aus weiterarbeiten. Es wäre nun wohl empfehlenswert, die erforderlichen Anträge mit Unterstützung des Leiters eines wissenschaftlichen Institutes zu stel­ len, und ich denke dabei an Prof. Minkowski, Zürich. Dieser dürfte Erfahrung in solchen Fragen haben und mich auch praktisch beraten können. Ich denke deshalb besonders an ein Institut in Zürich, weil Sie sich ja schon so oft für mich verwandt haben und es mir dort evt. erleichtern können, Verbindung mit Prof. Minkowski zu bekommen. Ausserdem würde es für mich sehr einfach sein, auf der Reise nach Palästina dort vorzufahren und persönlich Rücksprache zu nehmen. Ich könnte Prof. M. vorher mein Buch und einen Durchschlag der neuen Arbeit schicken, um ihn zu orientieren und ihn evtl. zu inter­ essieren. Oder würden Sie mir irgend einen anderen Rat in diesen Fragen erteilen? Wenn ich mich recht erinnere, hat Bernoulli einmal

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davon gesprochen, den Sekretär der Rockefeller-Stiftung in Genf zu kennen. Ich werde deshalb noch heute an ihn schreiben und anfragen. Aber wie diese Sache sich auch entwickeln sollte, auf jeden Fall würde ich mich sehr freuen, wenn ich Sie auf der Durchreise besuchen könnte. Ich würde mir die Reise so einzurichten suchen, dass sich das ermöglichen liesse. Werden Sie Anfang Oktober in Kilchberg sein? Indem ich noch dem Wunsch und der Hoffnung Ausdruck gebe, dass Sie sich bei bestem Wohlsein befinden, verbleibe ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/25 Kopie: Nachlass Rothschild

»Von dem Zusammenhang zwischen Bau und Funktion im Nervensystem wir­ belloser Tiere. Eine erscheinungswissenschaftliche Untersuchung über das Bauchmark und die Sehzentren der Arthropoden«: Die Arbeit wurde am 10. September 1935 von Hartmann abgelehnt (s. Brief Hartmann an Roth­ schild vom 10.9.1935, Nachlass Rothschild). Der zweite Teil der Arbeit »Über die Bedeutung der Faserkreuzungen in dem optischen System der Arthropoden, Cephalopoden und Vertebraten« wurde von Gaupp (Zeit­ schrift f. ges. Neurologie und Psychiatrie), von dem Zoologen Nils Holm­ gren (Stockholm/Acta Zoologica) und dem Neurologen Knud Krabbe (Kopenhagen/Acta Psychiatrica et Neurologica) abgelehnt (s. entspre­ chende Anschreiben im Nachlass Rothschild). Ebenfalls erschien die Arbeit nicht im Schweizer Archiv für Neurologie und Psychiatrie. Rothschild sandte sie Ende 1936 an Minkowski. Prof. Minkowski, Zürich: Mieczyslaw Minkowski (1884 Warschau – 1972 Zürich), Schweizer Neurologe russisch-polnisch-jüdischer Herkunft. Schüler von Pawlow, Alzheimer, Ziehen, ab 1911 Assistent von Constantin von Monakow in Zürich. Dort zwischen 1928 und 1954 Prof. für Neurologie und Direktor der neurologischen Poliklinik und des hirnanatomischen Insti­ tuts der Universität Zürich. Bei einer Tagung der Schweizer Psychiater 1934 sprach er sich als einziger grundsätzlich gegen eugenische Maßnahmen als unvereinbar mit dem medizinischen Berufsethos aus und stellte die Heredi­ tätsforschung überhaupt in Frage (Wecker 2009, S. 28f.). Rothschild wandte sich per Brief am 26. September 1935 an Minkowski. Offenbar kam es auch zu einem Treffen, was aus einem Brief vom 16. Dezember 1936 an Minkowski hervorgeht, der auch darüber Auskunft gibt, dass Rothschild den Plan, sich um ein Stipendium der Rockefeller-Stif­ tung zu kümmern, aufgegeben hat, »da man ihn hier in Bezug auf For­

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schungsarbeit in Jerusalem für aussichtslos erklärte« (Brief Rothschild an Minkowski 16.12.1936, Nachlass Rothschild).

92 Klages an Rothschild Kilchberg, den 11. September 1935 Herrn Dr. Fr. Rothschild Bahnhofstr. 66 Giessen Sehr geehrter Herr Doktor: Einander sich drängende Besuche von Durchreisenden und die fast schon überfälligen Schlusskorrekturen meines Buches haben es verschuldet, dass ich erst heute zur Beant­ wortung Ihrer freundlichen Zeilen vom 27. August gelange. – Ich verstehe Ihren Entschluss, zunächst einmal mit Ihren Eltern nach Palästina gehen zu wollen, und habe in Ihrer Sache mit mehreren Personen gesprochen. Was Monakow anbelangt, so können Sie ihm ohne weiteres Ihr Buch mit ein paar Zeilen schicken und um eine Unterredung bitten. Als wichtiger indessen für Ihre Zwecke wird mir sein Hauptassistent, ein Herr Dr. Katzenstein, bezeichnet, dem übri­ gens Bernoulli Sie avisieren wird. Ein Vetter Bernoullis ist Sekretär der Rockefeller-Stiftung und wird ebenfalls von B. unterrichtet wer­ den. B. selbst, der fast unaufhörlich auf Geschäftsreisen war und gegenwärtig in Venedig ist, hofft bestimmt, Sie Anfang Oktober in Basel sehen und sprechen zu können. Ich selbst freilich werde so gut wie gewiss nicht hier sein, da ich im Begriff stehe, kurze Herbstferien anzutreten und zwar gemeinsam mit meinen Verwandten; doch steht der zu wählende Ort noch nicht fest. – Sollte ich Sie bei Ihrer Durch­ reise tatsächlich nicht mehr sehen, so wünsche ich Ihnen alles Gute, sowohl was den neuen Lebensraum als auch was Ihre wissenschaftli­ chen Pläne betrifft, die ich, wie Sie wissen, mit Teilnahme verfolge, und bleibe inzwischen mit freundlicher Begrüssung Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Kurzbriefformat, links oben Adresse überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/31

Monakow: Constantin von Monakow (1853 Russland – 1930 Zürich), erster habilitierte Neurologe der Schweiz. Die Neurologische Poliklinik und das Hirnanatomische Institut der Universität Zürich, dem ab 1928

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Minkowski vorstand, sind seine Gründungen. Klages scheint hier den schon verstorbenen Monakow mit seinem Schüler und Nachfolger Minkowski zu verwechseln. Dr. Katzensteiner: der Neurologe Erich Katzensteiner (1893–1961), ebenfalls Mitarbeiter von Monakows.

93 Rothschild an Klages Giessen, den 15. September 1935 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vielen Dank für Ihr freundliches Schreiben vom 11. ds. und für die Erkundigungen, die Sie in der Frage des Stipendiums eingezogen haben. Ich werde mich wegen des weiteren Vorgehens in dieser Sache mit Bernoulli in Verbindung setzen. Hoffentlich kommt es zu einem positiven Ergebnis. Es wäre für mich eine grosse Erleichterung bei dem Start unter ganz neuen Verhältnissen und ganz neuen Anforde­ rungen. Mit Bedauern habe ich aus Ihrem Briefe entnommen, dass Sie wäh­ rend meiner Durchreise Anfang Oktober (mein Schiff geht am 4. X.) voraussichtlich nicht in Zürich sein werden. Ich werde mir erlauben, gelegentlich wieder von mir hören zu lassen, und verbleibe, in Vereh­ rung Sie grüssend, Ihr sehr ergebener F. S. Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/25 (wurde fälschlich hinter 61.11900/26 Brief Rothschild an Klages vom 27.8.1935 archiviert) Kopie: Nachlass Rothschild

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94 Rothschild an Klages Ramoth-Haschavim 4.XI.35 near Tel-Aviv c/o Dr. Walter Mannheim Sehr verehrter Herr Dr. Klages! Dieser Tage erhielt ich das neue Werk, das Sie mir freundlicherweise durch den Verlag hatten zusenden lassen. Ich danke Ihnen vielmals dafür. Am liebsten hätte ich mich gleich darin vertieft, aber vorläufig lassen die hiesigen Verhältnisse noch keine Muße dazu. Ich befinde mich noch in einer recht ungewissen Situation. Es ist noch nicht einmal sicher, ob es mir gelingen wird, die dauernde Aufenthaltser­ laubnis im Lande zu bekommen. Zur Zeit lebe ich bei guten Freunden, die sich angesiedelt haben (Gemüse-, Apfelsinenanbau und Hühner­ zucht), und helfe in dem Betrieb mit, was mir im übrigen manche Freude bereitet. Mit Bedauern hatte ich von Bernoulli erfahren, dass die Anmerkung über meine Arbeiten in dem neuen Buch nicht hat erscheinen können. Den Korrekturabzug der Anmerkung habe ich durch Bernoulli erhal­ ten. Zu Ihrem Geburtstage am 10. Dezember gestatten Sie mir, Ihnen meine besten Wünsche auszusprechen; im übrigen verbleibe ich als Ihr verehrungsvoll Sie grüssender F.S. Rothschild. Original: Hs, Luftpostbrief, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/27

das neue Werk: Ludwig Klages 1936 erschienene Neuauflage »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck«, in die die auf Rothschild bezogene Anmerkung nicht einging (vgl. 86 R, Anmerkungen zu den Beilagen). Ramoth-Haschavim: eine Moshava, d.h. eine genossenschaftlich organi­ sierte Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. In Ramoth-Hashavim wurde u.a. eine moderne Geflügelzucht eingerichtet, und man kultivierte Zitrusfrüchte. Rothschild war dort bei Walter Mannheim untergekommen, der schon 1933 nach Palästina ausgewandert war.

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95 Rothschild an Klages Dr. F. S. Rothschild Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg b/ Zürich

Rishon-Lezion, 23. 6. 36 Beth Schochet

Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Mit gleicher Post sende ich Ihnen als Drucksache Abschriften der mir vom Verleger zugegangenen Referate meines Buches, von denen ich annehme, dass Sie sie interessieren werden. Im ganzen scheinen sie mir nicht schlecht auszufallen; besonders die von Bremer (1), Bing (6) und Meerloo (7), sind recht positiv gehalten. Schlecht ist nur die Besprechung von de Crinis (3), von der ich aber allen Grund habe anzunehmen, dass unsachliche Momente bei ihrer Abfassung einen erheblichen Einfluss gehabt haben. In dem Referat selbst ist charakteristisch dafür, dass der Referent an verschiedenen Stel­ len meine Gedanken unrichtig wiedergibt, bzw. falsch zitiert, ganz abgesehen von der Auswahl dessen, was er referiert. Ich habe die gröbsten Fehlleistungen am Rande korrigiert. Auch in dem an sich sachlich recht guten Referat von Scholz (4), das mir der Referent bei Gelegenheit als Durchschlag zugesandt hat, hätte der letzte Satz ruhig wegbleiben können. Über den Verkauf des Buches hat mir der Verleger noch keine bestimmten Angaben machen können. Von mir persönlich möchte ich Ihnen noch berichten, dass ich in diesem Frühjahr geheiratet habe. Eine berufliche Eingliederung hier im Lande ist mir bisher noch nicht möglich gewesen und wird auch so schnell noch nicht erreichbar sein. An sich habe ich große Neigung zum Siedeln, aber das würde wahrscheinlich den Verzicht auf weitere wissenschaftliche Arbeit bedeuten und dazu kann ich mich zur Zeit noch nicht entschliessen. Vorläufig lerne ich intensiv Hebräisch und will sehen, ob ich mich nicht in einer der Städte trotz sehr schlechten wirtschaftlichen Aussichten als Nervenarzt niederlassen kann. Ich habe vorläufig hier keinerlei Möglichkeit mich über neue Arbei­ ten zu orientieren. Sollte Ihnen irgendetwas begegnen, was für die von mir behandelten Fragen belangvoll erscheint, so wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich drauf aufmerksam machen würden. Die Abschriften der Referate bitte ich Sie, sie mir als Drucksache wieder zurückzusenden.

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Indem ich noch den Wunsch und der Hoffnung Ausdruck gebe, dass Sie sich wohl befinden, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11900/28 Kopie: Nachlass Rothschild

Abschriften der mir vom Verleger zugegangenen Referate meines Buches: Es finden sich im Klages-Nachlass Abschriften der Rezensionen zur »Symbolik des Hirnbaus«, Kopien sind im Nachlass Rothschild nur teilweise erhalten. Es finden sich jedoch die jeweiligen Zeitungsausschnitte. Bremer (1), Bing (6) und Meerloo (7), sind recht positiv gehalten: Die Bespre­ chung von Bremer (Bremer: nicht ermittelt) findet sich im »Kongresszen­ tralblatt für die gesamte innere Medizin« (Bd. 45), die des Baseler Neuro­ logen Robert Bing in der »Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift« vom 2. Mai 1936, die des niederländischen Mediziners und Psychoanalyti­ kers Abraham Maurits Meerloo im 2. Heft der »Psychiatrischen en Neuro­ logischen Bladen« des Jahres 1936. Schlecht ist nur die Besprechung von de Crinis (3): Die Besprechung des Psychiaters und Neurologen Maximilian de Crinis erschien 1935 im »Zen­ tralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie«. Schreibt Rothschild vom ZNS als einem ›Symbol des Erlebens‹, so gerät dies in der Besprechung von de Crinis zum ›Symptom des Erlebens‹, vor allem referiert der Verfasser grob vereinfachend und hierin wiederum tendenziös selektierend (Crinis 1935). De Crinis verfasste rassistische, erbbiologische Arbeiten und war der spätere Mitorganisator der Euthanasie-Aktion »Gnadentod« (1939–1941). Dazu s. z.B. Klee 2001, S. 84 und S. 286f. Referat von Scholz (4): An der ausführlichen Besprechung des Psychiaters Willibald Scholz, die in der »Münchener Medizinischen Wochenschrift« 1936 erschienen ist, stört Rothschild der letzte Satz: »Viele werden in den Ableitungen wahrscheinlich keine Bereicherung ihres Erkennens erblicken und finden, dass das Gehirn für die erscheinungswissenschaftliche Untersu­ chung doch ein recht sprödes Objekt ist«. dass ich in diesem Frühjahr geheiratet habe: Rothschild heiratete im April 1936 Margot Hellmuth, eine Ärztin aus Köln, die er in Tel Aviv kennenge­ lernt hatte.

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96 Klages an Rothschild Kilchberg, den 6. Juli 1936 Herrn Dr. F. S. Rothschild Beth-Schochet Rishon – Lezion Sehr geehrter Herr Doktor: Im Begriff, Ihnen herzlich zu danken für Ihre freundlichen Zeilen vom 23. Juni, sehe ich zu meinem Schrecken, dass noch ein zweiter Brief von Ihnen, datiert vom 4. November 1935, der Beantwortung harrt. Diese gar nicht zu mir passende Verzögerung erklärt sich aus dem Umstande, dass ich mich bei Ankunft jenes Brie­ fes in Holland befand, von wo mich mein Weg über Skandinavien, Finnland und das Baltikum erst gegen Weihnachten nach hier zurück­ führte. Auch dann ging die Vortragstätigkeit weiter (der Not gehor­ chend, nicht dem eigenen Triebe), dergestalt, dass ich im vorigen Wintersemester schliesslich – sage und schreibe – dreizehn europäi­ sche Staaten redend und immer wieder redend bereist habe. Sie ver­ stehen, dass deshalb unfreiwilliger Weise manche Korrespondenzen vernachlässigt wurden. Mit starker Teilnahme habe ich die Besprechungen über Ihr Buch gelesen und behalte sie mit Ihrer Erlaubnis noch ein paar Tage hier, da ich mir einiges daraus merken möchte. Wenn ich Ihnen sage, dass von meiner Ausdruckskunde bisher vielleicht fünf Besprechungen erschienen sind, so dürfen Sie mit den eingehenden Würdigungen durch Fachleute gewiss zufrieden sein! In Kürze hoffe ich, mehrere mir befreundete Ärzte zu sprechen und werde mich bei diesen erkundigen, was etwa an Neuheiten auf Ihrem Gebiete inzwischen erschienen ist. – Erlauben Sie mir, Ihnen nach­ träglich meinen Glückwunsch zu Ihrer Verheiratung auszusprechen, und seien Sie gewiss, dass ich stets erfreut sein werde, von Ihnen zu hören. Mit freundlicher Begrüssung Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Kurzbriefformat, Adresse überstempelt: »Seminar für Ausdrucks­ kunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6792/32

datiert vom 4. November 1935: s. 94 R. die Vortragstätigkeit: Organisiert von der ›Deutschen Akademie‹ (›Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums‹) bereiste Klages zwischen Oktober und Mitte Dezember die nordeuropäischen Län­

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der. »Im Verlauf von 45 Tagen hielt Klages an folgenden Orten Vorträge: Den Haag – Amsterdam – Amersfoort – Kopenhagen – Odense – Lund – Stockholm – Göteborg – Oslo – Upsala – Åbo – Helsingfors – Reval – Dorpat – Riga – Danzig – Marienburg – Stettin – Hamburg – Berlin – Dresden – Hof – München« (Schröder 1992, S. 1242). Daran schlossen sich weitere Vortragsreisen in Südeuropa an, die im Sommer 1937 endeten (a.a.O., S. 1291). Die ›Deutsche Akademie‹ wurde 1925 in München gegrün­ det, der Senat, in den Klages 1933 gewählt wurde, war bei der Gründung eher ›konservativ‹ besetzt, die Anpassung an den Nationalsozialismus erfolgte allmählich zwischen 1933 und Ende 1937. Die Akademie wurde Ende 1945 geschlossen, und es kam 1951/52 zu einer Neuinstallierung unter dem Namen ›Goethe-Institut‹ (Michels 2000).

97 Rothschild an Klages Rishon Lezion, 3.9.36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ich erhielt die von Ihnen zurückgesandten Copien der Besprechungen meines Buches. Vielen Dank für die Rücksendung und ebenso auch für Ihr freundliches Schreiben vom 6.7. Auf der Copie der Besprechung in der Münch. Med. Wochenschrift haben Sie ein Fragezeichen angemerkt, offenbar weil die Nummer, in der das Referat erschienen ist, nicht angegeben ist. Leider weiss ich sie selbst nicht. Der Verleger hat mir zwar ein gedrucktes Exemplar, ausgeschnitten aus der Zeitschrift, geschickt, aber vergessen, richtig zu bemerken, in welcher Nummer das Referat erschienen ist. Verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener F.S. Rothschild Original: Ts, Postkarte, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Kla­ ges 61.11900/29

Besprechung in der Münch. Med. Wochenschrift: bezieht sich auf die Bespre­ chung der ›Symbolik‹ von Willibald Scholz, s. Anm. zu 95 R.

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98 Rothschild an Klages Dr. Salomon Rothschild Jerusalem 3, Redak Road Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36

Jerusalem, 19.11.47

Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ihre freundlichen Worte auf der Karte von Herrn Prof. Frauchiger aus Soglio waren für mich eine große Freude und eine Hoffnung, dass ich nun wieder mit Ihnen in Verbindung treten kann. Aber ich wusste keine Adresse, bis dann in diesen Tagen ein Brief von Herrn Prof. Frauchiger eintraf. Prof. Frauchiger teilte mir auch mit, dass Sie bereit wären, sich wegen der Herausgabe meines Manuskriptes »Das Ich und die Regulation des Erlebnisvorganges« mit dem Verlag Hirzel in Verbindung zu setzen. Eine solche Empfehlung dürfte mir viel helfen, und ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Bereitschaft. Der Grundgedanke meiner Arbeit ist Ihnen nicht neu. Es ist die Anschauung, dass der Erlebnisvorgang für die Ordnung verantwort­ lich ist, die unter den Tausenden von Mechanismen herrscht, die die Physiologen bei ihren Analysen gefunden haben. Den Erlebnis­ vorgang aber sehe ich als einen polarisierenden Vorgang an, dessen Phänomenologie ich im wesentlichen Ihrem Werke entnommen habe. Die leitende Idee ist also dieselbe wie in der »Symbolik des Hirnbaus«. Aber es geht mir diesmal nicht um eine Deutung des Baues des Zentralnervensystems, sondern um eine eingehende Schilderung der Dynamik des Erlebnisvorganges, die unter anderem zeigen soll, wie trotz der Mannigfaltigkeit und Gegensätzlichkeit der im Erlebnisvorgang wirkenden Kräfte die Einheitlichkeit dieses Vorganges zustande kommt. In Ihrem Werke steht der Gegensatz zwischen Geist und Leben ganz im Vordergrund. Aber ein elemen­ tarer Gegensatz steckt schon in dem unbegeisteten Erleben, und jeder Erlebnisvorgang beginnt infolge dieses Gegensatzes mit einer Phase, wo den Lebenserregungen noch die Integration oder besser Individuation fehlt, die schliesslich bei dem normalen Ablauf erreicht wird. Ich kann in einem Brief das Wesen dieses Gegensatzes nicht ausreichend klarlegen. Ich habe das Problem schon in der »Symbolik«

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gesehen, wo es wohl am deutlichsten auf Seite 350 formuliert wird. Aber ich hatte damals noch nicht das Rüstzeug, um die Frage einge­ hend zu behandeln. Inzwischen haben sich meine Kenntnisse über die Funktionsweise des Nervensystems erweitert, und vor allem bin ich durch meine Tätigkeit als Psychoanalytiker genötigt worden, die­ sen angenommenen Elementarprocess, den Erlebnisvorgang, gewis­ sermaßen unter der Lupe zu verfolgen, um mir die Entstehung der verschiedenen Formen der funktionellen Abweichung, die ich in der Praxis beobachtete, erklären zu können. Hier begann mir Freud wieder interessant zu werden, seine Vorstel­ lungen von der Funktionsweise des sog. psychischen Apparates, seine Erklärungen für psychopathologische Phänomene. Aber ich stand seinen Problemen mit neuen Mitteln gegenüber, mit der Kenntnis Ihrer Phänomenologie und mit einem viel breiteren neurologischen Wissen, das die Wissenschaft im Laufe einer Generation erworben hatte. Ich unternahm also eine Aufgabe von neuem, an der er gearbei­ tet hatte, der Schaffung einer Theorie der Dynamik des Seelenlebens. Ich habe dabei viel von Freud übernommen, und doch hat alles – was Sie ja nicht wundern wird – ein anderes Gesicht bekommen. Im ersten Teil meines Manuskriptes schildere ich die einzelnen Phasen des Erlebnisvorganges in physiologischer und phänomeno­ logischer Hinsicht und die Verbindung mit den Bewusstseinsakten. Ich glaube die Art der Hemmung des Erlebnisvorganges, in der die geistigen Akte auftreten, heute klarer zu verstehen als in dem letzten Kapitel der »Symbolik«, wo ich manches, auch in der Art der Beteiligung der Hirnzentren zu ändern hätte. Dieser Teil trägt den Titel: Die Entstehung des Ichs. Im zweiten Teil behandele ich die Formen des Erlebnisablaufs, die nicht zur Ichbildung führen, vor allem die Veränderungen des Erlebnisvorganges bei dem Übergang vom Wacherleben zu dem Schlaferleben und zum Träumen. Auch gibt es dort ein Kapitel über die Struktur des Erlebnisvorganges beim Spielen, bei komischen Erlebnissen, und darin eingeschlossen eine eingehendere Erklärung der Ausdrucksbewegung des Lachens, die Sie wahrscheinlich beson­ ders interessieren dürfte. In diesem Teil setze ich mich auch mit der psychoanalytischen Auffassung der Sexualität auseinander, und zwar aufgrund einer genauen phänomenologischen Analyse der Veränderungen, die der Sexualtrieb im Erlebnisvorgang herbeiführt, und ich glaube dabei zu ganz neuen Einsichten über das Wesen der Sexualität gekommen zu sein. Im dritten Teil gebe ich dann

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eine Darstellung der krankhaften Formen der Erlebnisvorgänge bei Neurosen und Psychosen. Und auch hier ist wohl durch die neue Art, in der die Fragen angepackt werden, neues Verständnis gewonnen worden. – Aber ich sehe, dass es wohl besser ist, darauf zu verzichten, von einem recht umfangreichen Werk eine Inhaltsangabe in einem Briefe zu geben, weil so doch keine rechte Vorstellung davon zu vermitteln ist. Im ganzen ist es der Versuch einer Entwicklung der psychoanalytischen Theorie durch Aufnahme der Ergebnisse Ihrer erscheinungswissenschaftlichen Forschungen, und die Physiologie bildet dabei gewissermaßen den neutralen Boden, auf dem die beiden so verschiedenen Gedankensysteme Verbindungen miteinander ein­ gehen können. Leider ist das Manuskript erst zum Teil in die Maschine diktiert, sodass ich seinen genauen Umfang nicht angeben kann. Ich schätze etwa 250 – 300000 Silben. Ich habe auch ein Kapitel noch abzu­ schliessen, und deshalb mache ich mir Gedanken, ob ich mich nicht etwas voreilig an Herrn Prof. Frauchiger wegen einer Anfrage bei Huber, Bern, gewandt habe. Es lag mir damals vor allem auch daran, über die Höhe der vermutlich verlangten Druckkosten eine Vorstel­ lung zu bekommen. Huber schien mir ausserdem geeigneter als der Verlag Karger, bei dem die »Symbolik« erschienen ist, weil dieser nur medizinische und keine psychologischen Arbeiten herausgibt. Aber es scheint mir nun doch richtig, erst einmal bei Karger wegen des neuen Buches anzufragen und seine Forderungen zu hören, falls er es übernehmen würde. Sollte Karger, der sich jetzt in Basel befindet, es nicht für geeignet für seinen Verlag halten, oder würden seine Forderungen unangemessen sein, so könnte man bei Hirzel fragen, und dann wäre Ihre Fürsprache vielleicht entscheidend. Ich gedenke also jetzt erst das Manuskript abzuschliessen, und dann an Karger ein Vorwort und die Kapitelüberschriften mit evtl. zusätzlichen Inhalts­ angaben zu schicken, um seinen Bescheid zu erfahren. Dasselbe werde ich an Sie senden, damit Sie eine deutlichere Vorstellung von der Arbeit erhalten. Sollten Sie, der Sie die Verhältnisse im Verlagswesen und in der Schweiz ja viel besser kennen als ich, hier eine andere Meinung haben, so wäre ich Ihnen für einen Rat sehr dankbar. Persönlich hatte ich es die Jahre über nicht leicht, aber im Ganzen bin ich doch zufrieden, in Jerusalem zu leben. Das Land ist unruhig, die Politik erzeugt oft verabscheuungswürdige Erscheinungen, aber

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da können Leute meines Schlages nichts daran ändern. Einen ganz zentralen Platz in meinem Leben nehmen nach wie vor jene Ideen ein, die vor 20 Jahren auf Grund des Studiums Ihrer Werke in mir wach geworden sind. Diese Ideen haben mich nicht enttäuscht, und ich habe die Hoffnung, dass gerade diese neue Arbeit ihre Fruchtbarkeit zeigen wird. Es sind inzwischen ausserdem Befunde herausgekommen, die geradezu verblüffende Bestätigungen gewis­ ser Annahmen aus der »Symbolik« darstellen. Manchmal frage ich mich, wie Sie in diese Zeit schauen, ob Sie Neues gesehen haben oder nur Bestätigung Ihrer Ansichten. Es sieht ja oft genug so aus, als ob das grauenvolle Ende, das Sie vorausahnten, schnell näher käme. Ich muss bekennen, dass ich in dieser Hinsicht ein wenig die Haltung des Vogel Strauss angenommen habe; ich schaue nicht hin, oder ich denke nicht scharf zu Ende, denn das Urteil ist, wenn ich es ja tue, fast immer sehr betrübend. Durch den Krieg ist auch meine Verbindung mit Dr. Bernoulli ganz verloren gegangen. Lebt er noch in Basel unter der alten Adresse? Indem ich Ihnen nochmals für Ihre Freundlichkeit danke, mit der Sie mir auch bei der Veröffentlichung meiner neuen Arbeit helfen wollen, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben: hebräische Lettern, hschr. korr., auf der Rückseite findet sich der hschr. Briefent­ wurf von Klages zu 99 K, DLA Marbach, Nachlass Klages 11901/1 Kopie: Nachlass Rothschild

Ihre freundlichen Worte auf der Karte von Herrn Prof. Frauchiger aus Soglio: Zuvor hatte Rothschild an Ernst Frauchiger geschrieben und daraufhin von diesem eine Ansichtskarte (15.09.1947) aus Soglio erhalten. »Freundl. Grüsse im Gedenken an sehr verflossene Tage! Ihr erg. Klages« (Ansichts­ karte von Frauchiger an Rothschild 15.09.1947, Nachlass Rothschild). Kla­ ges verbrachte mit Charlotte und Ernst Frauchiger drei Sommerurlaube 1946, 1947 und 1949 als deren Gast in Soglio (Schröder 1992, S. 1370). Prof. Frauchiger: Ernst Frauchiger, Schweizer Neurologe (1903–1975), der vor allem als Human- und Veterinärneurologie und -neuropathologie ver­ gleichender Wissenschaftler hervortrat, wurde mit entsprechenden Themen an den Universitäten Zürich und Bern habilitiert. Er kannte Klages seit 1936

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persönlich, schätzte seine Arbeiten und verwandte sie in seinen Werken (Schröder 1992, S. 1370ff., Frauchiger 1974). Herausgabe meines Manuskriptes »Das Ich und die Regulationen des Erlebnis­ vorganges«: Das Buch erschien unter diesem Titel 1950 im Verlag Samuel Karger (Basel/New York).

99 Klages an Rothschild Kilchberg, den 26. November 1947 Herrn Dr. Salomon Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Doktor: Nach so langen Jahren durch Ihre freund­ lichen Zeilen vom 19. ds. wieder Genaueres über Sie und Ihre For­ schungsfortschritte und Pläne zu hören, war mir eine rechte Freude. Da es Ihnen nicht unerwünscht ist, in Verlagsangelegenheiten meine Ansicht zu hören, schicke ich diese voran. Durchaus richtig erscheint es mir, dass Sie zunächst Ihren früheren Verleger konsultieren; nur dürfte vielleicht eine einfache Anfrage vorerst genügen. Wie dem aber auch sei, jedenfalls sollten Sie nicht allzu bescheiden sein, genauer: nicht gleich die Möglichkeit eines Zuschusses von Ihrer Seite verlautbaren. Ich zweifle nicht daran, dass Sie ganz ohne dergleichen Mithilfe einen für Sie passenden Verleger fänden! Hier etwas von meinen persönlichen Erfahrungen. Seit mindestens drei Jahren sind meine sämtlichen Bücher vom Markt verschwunden. Ein Rest in Höhe von 20000 Stück war den Luftan­ griffen auf Leipzig zum Opfer gefallen; und darauf begann die Suche nach einem geeigneten Schweizer Verleger. Barth ist zwar seit langem lizensiert, bekommt aber offenbar kein Papier (russische Zone!). Angebote hatte ich. Allein, nachdem ich mit meiner kleinen Schrift »Vom Wesen des Rhythmus« hereingefallen, deutlicher gesprochen, vom p.p.Verlage betrogen worden war, wurde ich vorsichtig. Hier sind seit Kriegsende Dutzende neuer Verlage emporgeschossen, die sich bemühen, vom zertrümmerten Verlagswesen Deutschlands, soviel irgend möglich, aufzuschlucken. Indes, die meisten von Ihnen haben kein »Gesicht« und veröffentlichen Romane und Konjunkturelles neben Wissenschaftlichem. Ich dagegen brauche einen Verlag, der

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erstens wissenschaftlich orientiert ist und zweitens internationale Verbindungen hat. Ein solcher war und ist Hirzel (vormals Leipzig, jetzt Zürich). Die beiderseitigen Wünsche stimmten Punkt für Punkt überein. Ich will hier nicht das Epos erzählen, weswegen es gleichwohl und gegen die Absicht beider Partner mehr als anderthalb Jahre gedauert hat, bis wir endlich einen Vertrag schliessen konnten. Genug, ich kann hoffen (mehr nicht!), dass trotz Papierknappheit und Über­ lastung der Druckereien (so ziemlich in ganz Europa) im Laufe des nächsten Jahres wiedererscheinen werden: die 9. Aufl. der Charakter­ kunde, die 23. von »Handschrift und Charakter« und ein neues umfangreiches Werk, an dem ich rund sechs Jahre gearbeitet habe. Es dürfte mein letztes sein und bildet tatsächlich den Abschluss aller, die seit – sage und schreibe – 1900 auf meinem Programm stehen. – Huber in Bern wäre recht und bereit gewesen (recht auch für Sie); doch ist er auf ziemlich lange hinaus mit Manuskripten überlastet und kein so bekannter Verlag wie Hirzel. Das wäre wohl die Hauptsache. Persönlich habe ich schwere Schicksalsschläge erlitten: meine liebsten und letzten Verwandten sind nicht mehr am Leben, ebenso mancher meiner besten Freunde. – Freund Bernoulli dagegen lebt nach wie vor in Basel, Holbeinstr. 69, und würde sich gewiss freuen, auch einmal wieder von Ihnen zu hören. Was jene weltanschaulichen Fragen betrifft, die Sie berühren, so bin ich des verhältnismässig nahen Endes nicht weniger gewiss, als ich gewiss bin, diese Zeilen zu diktieren, halte mich aber längst an Goethes: »Das musst Du sehn und unterweilen – Nur immer, was Du willst, vollziehn«. Das Werk ist ein alogischer Zwang und entsteht ganz ohne Rücksicht auf die mutmassliche Dauer seines Vorhandenseins – so etwa, wie der Apfelbaum Äpfel zeitigt ohne Rücksicht darauf, dass sie von Menschen verzehrt werden. Kaum muss ich anfügen, dass ich Ihrem neuen Werk mit großen Erwartungen entgegensehe und vorweg dem Vorwort samt Inhaltsan­ gabe. Indem ich wieder von Ihnen zu hören hoffe, verbleibe ich mit allen guten Wünschen Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/1

meine sämtlichen Bücher vom Markt verschwunden: Beim Luftangriff durch die britische Royal Air Force in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943

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wurden u.a. die Verlags- und Speicherräume des Barth-Verlags zerstört, wobei auch die dort gelagerten Klages-Bücher verbrannten. Es gab ab da im freien Verkauf keine Bücher mehr von ihm. Klages setzte seine Energie nach dem Krieg in die Neuauflage seiner Bücher (Schröder 1992, S. 1360ff.). Schrift »Vom Wesen des Rhythmus«: Diese Schrift wurde 1934 von dem mit Klages befreundeten Verleger Niels Kampmann verlegt. Bei Kampmann (Heidelberg) erschien auch das von ihm und von Hans von Hattingberg herausgegebene Periodikum »Zeitschrift für Menschenkunde. Blätter für Charakterologie und angewandte Psychologie«. Was es mit dem Reinfall auf sich hat, den Klages mit seiner Schrift bei Kampmann erlebt hat, konnte nicht ermittelt werden. Im Briefwechsel zwischen Klages und Kampmann geht es immer wieder um die Schwierigkeiten, Geld aus Deutschland in die Schweiz zu transferieren (s. z.B. Brief Niels Kampmann vom 26. Juli 1934: hier Honorare für das Rhythmus-Buch, DLA Marbach 61.10193/27) oder darum, dass Klages’ Bücher gerade wenig Absatz finden (z.B. Niels Kampmann an Klages 19.8.1935, DLA Marbach, 61.10194/10). die 9. Aufl. der Charakterkunde, die 23. von »Handschrift und Charakter« und ein neues umfangreiches Werk, an dem ich rund sechs Jahre gearbeitet habe: Die 9. Auflage der »Grundlagen der Charakterkunde« erschien 1948 bei Hirzel in Zürich, ebenso wie Klages’ letztes Werk »Die Sprache als Quell der Seelenkunde«. Die 23. Auflage von »Handschrift und Charakter« erschien 1949 bei Bouvier in Bonn. Persönlich habe ich schwere Schicksalsschläge erlitten: meine liebsten und letz­ ten Verwandten sind nicht mehr am Leben: Nach langen Jahren schwerer Krankheit war im Januar 1947 Klages’ Schwester Helene und im September darauf, zwei Monate vor diesem Schreiben, die Nichte Heidi am Typhus verstorben. Klages habe darunter stärker als unter früheren Schicksalsschlä­ gen gelitten (Schröder 1992, S. 1361f.).

100 Klages an Rothschild Kilchberg, den 12. Januar 1948 Sehr geehrter Herr Doktor: Da man seit geraumer Zeit in hiesigen Tagesblättern viel von dortigen gewaltsamen Verkehrsstörungen hört, bin ich etwas in Sorge, ob mein ausführliches Schreiben vom 26. November vorigen Jahres Sie erreicht hat, und wäre Ihnen für eine kurze Empfangsbestätigung verbunden. Indem ich Ihnen nachträglich alles Gute zum neuen Jahre wünsche, verbleibe ich Ihr ergebener: LKlages

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Original: Ts, Postkarte, Luftpost, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/2

Verkehrsstörungen: In den ersten Monaten des israelisch-arabischen Krieges 1948 übernahm die arabische Seite die Kontrolle über einen großen Teil der Straßen. Die Hagana – die aus einer paramilitärischen zionistischen Unter­ grundorganisation hervorgegangene israelische Armee – versuchte zu die­ sem Zeitpunkt, hauptsächlich die Straßen, die Verbindungen zwischen iso­ lierten Siedlungen und den größeren Ansiedlungen und Städten frei zu halten. Diese Interventionen erhielten den Namen »Kampf um die Land­ straßen« (s. Krämer 2006, S. 363).

101 Rothschild an Klages Jerusalem, 18. 1. 48 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Die Anfang Dezember ausgebrochenen Unruhen sind der Grund, dass ich Ihnen auf Ihren freundlichen und ausführlichen Brief vom 26.11.47 noch nicht geantwortet habe und Ihnen für diesen Brief und Ihren Rat erst heute danke. Es gab in Jerusalem wochenlang keinen geordneten Postdienst. Jetzt funktioniert die Post wieder einigermassen, und ich hatte die Absicht Ihnen zu schreiben, als Ihre Karte vom 12. ds. eintraf. Wir leben jetzt hier in besonderer Unsicherheit und Ungewissheit. Der Gegensatz zwischen den Juden und Arabern ist zu einem heftigen Kampf geworden, da gewisse arabische Kreise die Entscheidungen der »Uno« nicht annehmen und den Juden keine staatliche Selbständig­ keit in Palästina zubilligen wollen. Soweit ich sehe, predigen diese Kreise in erster Linie deshalb einen extremen und kompromisslosen Nationalismus, weil er ihnen hilft, eine rückständige Socialordnung aufrechtzuerhalten, bei der die Fellachen sehr ausgebeutet werden. Die Durchsetzung der Entschlüsse der »Uno« könnte eine Grundlage schaffen, auf der die Beziehungen zwischen Juden und Arabern aufge­ baut werden. Aber ob wir Juden diese Entschlüsse allein gegen den Widerstand all der arabischen Staaten zur Verwirklichung zu bringen

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vermögen, ist mehr als fraglich, und ob und wieweit die grossen Mächte uns helfen, ist sehr, sehr ungewiss. An sich steckt in diesem Versuch der Juden, sich in Palästina eine Heimat aufzubauen, viel selbstlose Hingabe, und es ist ein Ziel, das kaum getadelt werden kann. Es ist nicht jungfräulicher Boden, der von einem Neueinwanderer ausgenutzt wird, sondern ein nach jahrtau­ sendelanger Bearbeitung verkarstet und verödet zurückgebliebenes Land, das erst durch neue Wassererschliessung und sehr viel wenig lohnende Mühe wieder fruchtbar gemacht werden kann. Diese kritische Zeit brachte für mich persönlich neue Anforderungen und Pflichten, und ich bin in meiner wissenschaftlichen Arbeit wieder einmal aufgehalten worden. Sobald ich sie abgeschlossen habe, werde ich mit der Bemühung um die Veröffentlichung entsprechend dem früher erörterten Plan beginnen und bin recht in Erwartung, was Sie zu dieser neuen Arbeit sagen werden. Ich erwidere Ihre guten Wünsche zum neuen Jahre und verbleibe verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/2 Kopie: Nachlass Rothschild die Entscheidungen der »Uno«: Am 29. November 1947 verabschiedete die UNO die Resolution 181 (II), die die Teilung des noch unter britischem Mandat stehenden Palästinas in zwei unabhängige Staaten, einen arabischen und einen jüdischen vorsah. Die jüdischen Einwohner akzeptierten die Resolution, die arabischen verwarfen sie, da dem zukünftigen Israel die grö­ ßere Fläche zugesprochen worden wäre (Krämer 2006, S. 362). Wenige Tage später begannen bewaffnete Kämpfe, die zum Zeitpunkt der Staatsgründung Israels am 15. Mai 1948 in den ersten arabisch-israelischen Krieg einmün­ deten.

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102 Rothschild an Klages Dr. Salomon Rothschild Jerusalem 3, Redak Road

27.4.1948

Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Vorige Woche habe ich endlich die letzten Seiten des Manuskripts »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« fertiggestellt und an Dr. Bernoulli gesandt. Den Hauptteil hatte ich ihm schon vor Wochen geschickt. Ich hatte keine Ruhe, das Manuskript in Jeru­ salem zu lassen, bis die Verhandlungen mit irgend einem Verleger abgeschlossen sein sollten, weil inzwischen hier de facto richtiger Kriegszustand herrscht, Stellungen der Araber sich 4–500 m. von unserer Wohnung entfernt befinden, Minen gelegentlich in der Nähe einschlagen und man im ganzen nicht weiss, wie das ausgehen wird. Ich habe deshalb Dr. Bernoulli gebeten, das Manuskript in Verwahrung zu nehmen, und er hat sich auch bereit erklärt, mit Karger wegen des Verlages zu sprechen. Ich besitze hier noch Kopien und habe auch eine an eine befreundete Kollegin in den U.S.A. geschickt. Wieweit diese Sendungen ihre Adresse erreichen und ob dieser Brief zu Ihnen gelangt, ist sehr ungewiss, da die Post immer wieder von den Arabern gestohlen oder vernichtet wird. Vorwort und Inhaltsverzeichnis schicke ich Ihnen einliegend, wie verabredet. Sollte es für Ihre evtl. Besprechung mit dem Verlag Hirzel erwünscht sein, dass Sie von dem Manuskript genauer Kenntnis nehmen, so habe ich Dr. Bernoulli gebeten, es Ihnen zu senden. Wie Sie aus dem Vorwort ersehen, wende ich mich mit meiner Darstellung zunächst einmal an meine engeren Fachkollegen, die Psychotherapeuten und Psychoanalytiker, die nur zu leicht auf Grund einer einseitigen Theorie oder Typologie die Vielseitigkeit ihres Objektes übersehen und ausserdem das reiche Material über die Zusammenhänge zwischen Leib und Seele nicht sinnvoll einzuord­ nen wissen. Aber ich glaube, dass das Buch auch für andere, Medi­ ziner, Psychologen und Philosophen von Interesse wäre, wenn es

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nur in ihre Hände käme. Sehr in Erwartung bin ich, wie Sie die Arbeit beurteilen; ist sie doch teils unter dem direkten teils unter dem indirekten Einfluss Ihrer Werke entstanden. Aber wann wird wieder ein geordneter Briefwechsel mit Palästina möglich sein? Ich weiss nicht, was Sie im Ausland von den Vorgängen hier zu hören bekommen. Die sog. arabische Befreiungsarmee, die in erster Linie von Söldnern aus Syrien, Irak und Ägypten gebildet wird, hat bisher im Kampf gegen die Juden fast nur Niederlagen erlitten, und die umliegenden arabischen Staaten rüsten nun zu grösserem Heereseinsatz. Das Beunruhigendste an der Situation sind die Vorgänge hinter den Kulissen. Haben Amerika und England den Arabern angedeutet, dass sie letzten Endes damit einverstanden wären, wenn man die jüdische Siedlung in Palästina vernichten würde, weil sie ihnen nicht in ihre Pläne passt, und dass sie uns direkt und indirekt so hindern werden, dass die Araber uns schliesslich besiegen können? – Von der Antwort auf diese Frage dürfte unsere Weiterexistenz hier wahrscheinlich abhängig sein. Ich habe in den letzten Wochen oft an Ihr Goethezitat in dem letzten Brief gedacht: »Das musst du sehn und unterweilen – Nur immer, was du willst, vollziehn«. Es konnte kein Wort besser zu dieser Situation passen. In Verehrung grüssend Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original und Kopie: Ts, gedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben hebräische Lettern, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/4 (archiviert hinter der Postkarte vom 18.8.48 – 61.110901/3), Brief kam ursprünglich nicht bei Empfänger an und eine Kopie war dem Wortlaut des Briefs Rothschilds o. D. [104 R] zufolge – nur Nachlass Rothschild – ebendiesem beigefügt, auf Kopie findet sich in der Mitte oben die Ziffer 27141, Typen gehen in Datum über. Kopie: Nachlass Rothschild

»Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges«: erschien 1950 bei S. Karger in Basel. richtiger Kriegszustand: s. Anmerkung zu Brief 101 R. In einem persönlichen Gespräch im April 1997 berichtete Margot Rothschild: Rothschild sei für die Wache und medizinische Versorgung verpflichtet worden. Bomben seien in der unmittelbaren Nachbarschaft heruntergegangen. Einmal hätten Schrapnelle ein Fenster der Wohnung zertrümmert, und Kugeln und Scher­ ben wären auf Schreibtisch, Stuhl und Schreibmaschine gelandet. Rothschild arbeitete in diesem Zeitraum in einer von dem Neurologen Lipman Halpern

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(s. Anm. zu 107 R und 113 R) für die Hirnverletzten des Krieges eingerich­ teten Abteilung des Hadassah Krankenhauses (Persönliche Mitteilung Mar­ got Rothschilds vom 05.04.1997, s. auch 113 R, Brief Rothschilds vom 23.1.1949). Der Brief wurde zwei Wochen nach dem sog. »Hadassah Konvoi Massaker« am 13.4.1948 geschrieben, bei dem die arabischen Palästinenser bei einem Vergeltungsschlag einen Konvoi mehr als fünf Stunden unter Beschuss genommen hatten. 78 Personen – Patienten und medizinisches Personal – wurden von ihnen erschossen. Der Konvoi bestand aus 10 Bussen und Lastwägen, die mit Lehrern, Studenten, Krankenschwestern, Ärzten, Patienten und medizinischen Hilfsgütern für die Hadassah Klinik auf dem Mount Skopus beladen waren (Morris 2008, S. 128f.). eine befreundete Kollegin in den U.S.A.: Es bestand ein Briefwechsel zwischen der israelisch-amerikanischen Psychoanalytikerin Ellen Simon und Roth­ schild. Ellen Simon war eine der letzten Lehranalysandinnen von Max Eit­ ingon. Sie emigrierte 1948 zusammen mit ihrem Ehemann in die USA (Kloocke 2002, S. 117, Anm. 92) und lebte und arbeitete in New York. Richard Rorty gehörte zu ihren Patienten. Rothschild hatte sie in Israel vor ihrer Emigration in die USA kennengelernt, und es ist zumindest noch zu einem persönlichen Treffen 1966 in New York gekommen (vgl. Schriftwech­ sel 1960 bis 1972, Nachlass Rothschild). Die sog. arabische Befreiungsarmee, die in erster Linie von Söldnern aus Syrien, Irak und Ägypten gebildet wird: Es traten syrische, irakische, ägyptische und transjordanische Truppen in den Krieg ein (vgl. Krämer 2006, S. 365).

103 Klages an Rothschild Kilchberg, den 28. Juli 1948 Sehr geehrter Herr Doktor: Vor wenigen Tagen erhielt ich Ihren Brief (nebst Vorwort und Inhaltsverzeichnis) vom 27. April (!). Bernoulli hat mehrere Briefe von Ihnen und ebenfalls vor kaum einer Woche sechs Seiten Manuskript mit Literaturverzeichnis erhalten und sich inzwischen auch bereits mit Karger in Verbindung gesetzt. Was aber noch fehlt ist der Haupttext Ihres Buches. So ungewiss es unter obwal­ tenden Umständen ist, dass diese Karte Sie erreichen wird, so wollte ich Sie doch für alle Fälle von vorstehenden Tatsachen in Kenntnis gesetzt haben. Ich möchte Ihnen raten, das Skriptum noch einige Male zu kopieren und die Kopien an verschiedene Stellen zu verteilen. Ich kenne aus eigenem Schaffen Ähnliches in Kriegszeiten. Ihre Inhalts­ angabe erfüllt mich mit hoher Erwartung. Möchte doch bald der Buch­

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text heil überkommen. – Mit den besten Wünschen und Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, Postkarte, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/3

Diese Postkarte kam erst am 16. August 1948 an (s. 105 R).

104 Rothschild an Klages Dr. Salomon Rothschild Jerusalem 3, Redak Road Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ende April habe ich Ihnen Vorwort und Inhaltsverzeichnis meines Manuskriptes mit einem Brief geschickt, dessen Kopie ich hier noch mal beilege. Inzwischen habe ich nämlich erfahren, dass in jener Zeit abgesandte Post nur zum Teil angekommen ist und da ich von Dr. Bernoulli auch noch keine Nachricht habe, ob er das Manuskript überhaupt erhalten hat, beginne ich mich in bezug auf die Verlässlich­ keit der Postverbindungen von hier ins Ausland recht unsicher zu fühlen. Bei Bekannten kommen allerdings in den letzten Wochen Luftpostbriefe aus der Schweiz an, sodass dies wohl zur Zeit der sicherste Weg für eine Mitteilung nach Palästina ist. Seit dem Brief, dessen Kopie beiliegt, haben wir hier in Jerusalem von dem Krieg beträchtlich mehr zu spüren bekommen. Im Osten der Stadt steht die arabische Legion und im Süden die Ägypter und wir wurden wochenlang aus Mörsern und Kanonen beschossen. In der ersten Kampfphase nach dem 5. Mai hatten die Juden in der Stadt keine Kanonen, sodass wir den weittragenden Geschützen der Araber ohne jede Möglichkeit der Abwehr ausgeliefert waren. In der kurzen Kampfepoche nach der Waffenpause waren auch auf unserer Seite solche Kanonen vorhanden, und wäre es nicht von neuem zur Ein­ stellung des Feuers gekommen, so wären wohl vermutlich die arabi­ schen Truppen aus der Umgebung der Stadt vertrieben worden. An sich hatten im Mai die arabischen Staaten einen Angriff begonnen, im Bezug auf den ich vor diesem Termin nicht geglaubt hatte, dass die Juden ihm standhalten könnten. Die Kampfkraft der Juden hatte sich aber als überraschend stark herausgestellt und die der Araber als rela­

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tiv schwach, obwohl es sich diesmal um reguläres und mit modernen Waffen ausgerüstetes Militär handelte. Jedenfalls ist ein jüdischer Staat auf dem Wege sich gegen alle möglichen Schwierigkeiten und Widerstände durchzusetzen, eine sowohl psychologisch wie soziolo­ gisch interessante Erscheinung. Hoffentlich wird nun bald Frieden in das Land kommen, damit all das bittere Leid, das der Krieg im Gefolge hat, einmal ein Ende nimmt. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir mitteilen, ob Sie jenes Vorwort mit Inhaltsverzeichnis erhalten haben. Vielleicht wissen Sie auch, ob Dr. Bernoulli verreist ist, und ich vielleicht deshalb von ihm noch keine Nachricht inbezug auf das Manuskript bekommen habe. Ich habe an sich in diesen Tagen noch einmal an Bernoulli geschrieben. In der Hoffnung, dass Sie sich wohl befinden, bin ich verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener Original: nicht vorhanden Kopie: nicht vorhanden Briefentwurf: Hs, gedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben hebräische Lettern, Nachlass Rothschild. Diesem Brief war der Brief 102 R beigefügt, der im Nachlass Klages vorliegt. Es müsste sich bei 104 R um den Brief vom 11. August 1948 handeln, dessen Erhalt Klages in 106 K bestätigt.

105 Rothschild an Klages

Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Switzerland

Jerusalem, 18.8.48

Sehr verehrter Herr Dr. Klages, vorgestern erfuhr ich durch Ihre freundliche Karte vom 28.VII. und durch zwei Karten von Bernoulli, dass Sie die Inhaltsangabe zwar erhalten haben, dass das Manuskript aber verloren gegangen ist. Trotz der Schmerzlichkeit des Verlustes des Manuskripts war ich durch den Erhalt dieser Karten erleichtert, und Ihr Interesse für das

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Manuskript auf Grund der Inhaltsangabe hat mich gefreut. Ich habe ein zweites vollständiges Exemplar der Arbeit gestern eingeschrieben als Drucksache an Bernoulli abgesandt und hoffe, dass es unter den gegenwärtigen Umständen in etwa 3–4 Wochen in Basel ankommen wird. Wie ich durch Nachforschungen inzwischen erfahren habe, scheint das erste Exemplar im April auf dem Flughafen in Ludd verbrannt zu sein. Ich empfinde dankbar das Interesse und die Sorge, die Sie um das Manuskript und um mich haben und bin mit ergebenen Grüssen Ihr Salomon Rothschild Original: Hs, Postkarte, Air Mail, mit Stempel Dr. med. Salomon Rothschild, Jerusalem, in lateinischen und hebräischen Lettern, hschr. erg., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/3

Flughafen in Ludd: Der Ortsname liest sich in der Handschrift annähernd als »Ludd«. »Al Ludd« wird der Ort, an dem der später nach Ben Gurion benannte Flughafen von Tel Aviv liegt, im Arabischen genannt, im Hebräi­ schen heißt er »Lod«. »Lydda« war der griechische Name der Stadt. Die Engländer gaben den Flughafen Lydda bei Tel Aviv im April 1948 auf und die israelischen Streitkräfte übernahmen ihn. Über den Brand konnte nichts ermittelt werden.

106 Klages an Rothschild Kilchberg, den 20. August 1948 Herrn Dr. Salomon Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Doktor: Gestern – also unter obwaltenden Ver­ hältnissen erstaunlich schnell – erhielt ich Ihren Brief vom 11. ds. samt Abschrift des früheren vom 27. April. Inzwischen nun, nämlich am 28. Juli, hatte ich Ihnen eine Postkarte gesandt, deren Text ich unten nochmals wiedergebe. Das Vorwort Ihres neuen Werkes samt Inhaltsverzeichnis habe ich seit ca. vierzehn Tagen meinem jetzigen Hauptverleger, Herrn S. Hirzel, überreicht, der, wie mir scheint, für das Buch Interesse hat. Nur möchte natürlich auch er erst das Manu­ skript in Händen haben, bevor er Ihnen gegebenenfalls seine Vor­ schläge unterbreitet. Da ich nicht sicher bin, ob meine gewöhnliche

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Auslandspostkarte nicht abermals Monate brauchen wird, bis sie bei Ihnen ankommt, sende ich diese Zeilen per Luftpost und hoffe auf rasche und glückliche Fahrt. Mit freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Abschrift meiner Postkarte vom 28. Juli 1948 Original: Ts, Kurzbriefformat, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/4

Postkarte gesandt, deren Text ich unten nochmals wiedergebe: identisch mit 103 K. Herrn S. Hirzel: Es müsste sich um den Enkel von Salomon Hirzel, dem Gründer des Hirzel-Verlags, 1853, handeln. Dies war Heinrich Hirzel, der von Leipzig, dem Verlagsort, 1938 in die Schweiz emigrierte. Er gründete eine Dependance des Verlags in Zürich. Der Hirzel-Verlag gab Bücher auf den Gebieten Chemie, Physik und Philosophie heraus (vgl. Links 2010, S. 308–310).

107 Rothschild an Klages Dr. Salomon Rothschild Jerusalem 3, Redak Road

4. 9. 48

Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36

Sehr verehrter Herr Dr. Klages! Ihr freundlicher Brief vom 20.8. kam schon Anfang dieser Woche hier an, also nach einer Reise von wenig mehr als 8 Tagen. Inzwischen dürften Sie wohl auch meine Karte erhalten haben, auf der ich Ihnen die Absendung eines zweiten Exemplars des Manuskripts an Dr. Bernoulli mitteilte. Hoffentlich erreicht diese Sendung ihr Ziel, und ohne lange Verzögerung. Für Ihre Weitergabe von Vorwort und Inhaltsverzeichnis des neuen Manuskriptes an Herrn S. Hirzel bin ich Ihnen sehr dankbar.

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956

Vielleicht wird das Manuskript selbst das Interesse des Verlegers noch erhöhen. Ich habe hier diese Woche begonnen in einem Heim zu arbeiten, in dem Schwerkriegsverletzte aufgenommen werden, die wieder an das Leben angepasst werden sollen. Es befinden sich darunter eine Reihe von Hirnbeschädigten mit aphasischen und agnostischen Störungen, Erscheinungen, deren Analyse sehr schwierig ist und für die nicht so leicht ein Verständnis zu gewinnen ist, die aber in theoretischer Hinsicht immer interessant sind. In Verehrung grüssend Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf mit lateinischen Lettern links, mit hebräischen Lettern rechts, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/5

Herrn S. Hirzel: s. Anmerkung zu vorigem Brief 106 K. in einem Heim zu arbeiten: Der aus Polen stammende Neurologe Lipmann Halpern (1902–1968), Direktor der neurologischen Abteilung der Hadassah Universität (Skolnik & Berenbaum 2007, S. 285), leitete ein Hirnverletz­ tenheim für die im arabisch-jüdischen Krieg verletzten Soldaten. Rothschild arbeitete hier dann abermals mit im Krieg hirnverletzten Personen.

108 Rothschild an Klages Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36

Jerusalem 1. 10. 48

Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Von Herrn Dr. Bernoulli erfuhr ich, dass die zweite Sendung des Manuskriptes schliesslich bei ihm angekommen ist, und er es an Sie weiter gesandt hat. Ich bin sehr in Erwartung, wie Sie es beurteilen werden, und hoffe nur, dass das Interesse, das die Inhaltsangabe bei Ihnen geweckt hat, durch den Text nicht enttäuscht wird. Die abschliessende Redaktion der Arbeit hat sicher darunter gelitten, dass ich sie unter den Störungen und in den Aufregungen der ersten

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Kriegsmonate hier in Jerusalem mit einer gewissen Hast durchfüh­ ren musste. So ist wahrscheinlich der Stil manchmal umständlich geblieben, wo man ihn hätte vereinfachen können. Im übrigen fand ich dieser Tage beim Hineinblicken in das Manuskript eine Stelle, die in ihrer Formulierung entschieden verbesserungsbedürftig ist. Auf Seite 27, 8. Zeile von unten, heisst es besser statt: »befähigt diese Antriebe....... zu bilden« »macht diese Antriebe zum Kern der individuierten Seele«; ausserdem sollte in der 2. Zeile von unten statt »individuellen Pol« »individuierten Pol« stehen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie diese Korrektur in dem Manuskript vornehmen werden, ehe es an einen Verleger weitergegeben wird, und bin in Verehrung grüssend Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf mit lateinischen Lettern links, hebräischen Lettern rechts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/6 Kopie: Nachlass Rothschild

109 Klages an Rothschild Kilchberg, den 8. Oktober 1948 Sehr geehrter Herr Doktor: Das Skriptum, von dessen verlockendem Inhalt ich wegen massloser Arbeitsüberlastung noch nicht Kenntnis nehmen konnte, befindet sich wohlbehalten in meinen Händen und gelangt in die des Verlegers, sobald dieser von monatelanger Aus­ landsreise zurück sein wird, was in Bälde zu erwarten steht. Die in Ihren soeben erhaltenen Schreiben vom 1. ds. angegebenen kleinen Verbesserungen werde ich vornehmen. Ich würde mich freuen, wenn ich Ihnen demnächst ein gutes Ergebnis mitteilen könnte, und ver­ bleibe inzwischen mit den besten Grüssen Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Postkarte, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/5

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110 Rothschild an Klages Jerusalem, 23. 11. 48 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Sie waren so freundlich, mir in Ihrer Karte vom 8. 10. den Erhalt meines Skriptums zu bestätigen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mit Ihrem Verleger sprechen und es an ihn weitergeben wollen, und ich wünschte nur, dass Sie ihm dieselbe Fürsprache angedeihen lassen könnten, die seinerzeit die »Symbolik des Hirnbaus« bei Ihnen gefunden hatte. Ich weiss, ich schreibe nicht leicht, und ich habe zu lange und in zu grossen Abständen an dem Buch gearbeitet. Wegen der Schwierigkeiten, die ich beim Formulieren und Schreiben hatte, habe ich mich manchmal gefragt, ob ich mich da nicht an eine Aufgabe gesetzt habe, die meinem Können und meiner Situation nicht gemäss sei. Aber ich bekam, auch bei kritischer Einstellung, doch immer wieder den Eindruck, dass ich nicht nur aus irgendeinem persönlichen Bedürfnis bereits bekanntes Wissen in meine eigene Sprache übersetze, sondern dass ich damit ringe, gewissen neuen Einsichten Ausdruck zu verleihen. Es liegt mir deshalb, nicht nur aus persönlichen Gründen, daran, dass die Arbeit ihren Weg zu einem Verleger und zur Veröffentlichung finden möchte. Auf der anderen Seite bin ich mir bewusst, dass sich kein Verleger um das Skriptum reissen wird, und dass ich von hier aus nicht viel tun kann, um die Arbeit jemandem nahe zu bringen. Ich muss es daher direkt als eine glückliche Fügung ansehen, dass Sie sich des Skriptums annehmen wollen. Abgesehen von dem Grundgedanken der Polarisation des Erlebnis­ vorganges bin ich auch bei der Behandlung vieler Einzelthemen von Aufstellungen aus Ihren Werken ausgegangen. Im allgemeinen ist dieser Zusammenhang schon auf Grund des Inhaltsverzeichnisses ersichtlich. Aufmerksam machen möchte ich aber auf eine Anwen­ dung Ihrer Lehre von der Doppeldeutigkeit der Ausdrucksmerkmale auf Seite 267, weil man aus der Überschrift dieses Abschnittes nicht auf sie schliessen kann.

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Ich habe in Reaktion auf die Nachricht, dass die erste Sendung der Arbeit verloren gegangen ist, den Durchschlag weggeschickt, ohne ihn noch einmal genauer zu kontrollieren. Auch gibt es darin etwa 20 Seiten, die auf einer Maschine mit kleinen Lettern geschrieben wurden, und die in dem Durchschlag vielleicht nicht ohne Mühe zu lesen sind. Ich hoffe aber, dass dadurch die Eignung der Arbeit zur Veröffentlichung in den Augen des Verlegers nicht herabgesetzt wird. Ich könnte diese 20 Seiten ja sofort noch einmal, mit grösseren Typen geschrieben, schicken. In Erwartung Ihrer Nachricht verbleibe ich verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf mit lateinischen Lettern links, hebräischen Lettern rechts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.119001/7 Kopie: Nachlass Rothschild

Anwendung Ihrer Lehre von der Doppeldeutigkeit der Ausdrucksmerkmale: Rothschild benutzt die ›Doppeldeutigkeit der Ausdrucksmerkmale‹ (Roth­ schild 1950, S. 287ff.) als Analogie zur Doppeldeutigkeit bzw. auch Mehr­ deutigkeit des Verhaltens, der Möglichkeit, dass sich ein bestimmtes Ver­ halten sowohl der ›Ichschwäche‹ als auch der ›Ichstärke‹ verdanken kann. Es handelt sich um eine der seltenen Stellen, in denen sich Rothschild auf die Klagesʼsche Graphologie und Charakterologie bezieht: »Bei der Deutung von Charakteren aus Handschriften war man ursprünglich in der Weise vor­ gegangen, daß man gewisse Eigentümlichkeiten der Schrift als Eigentüm­ lichkeiten des Charakters ansah, weil man sie relativ häufig gemeinsam vor­ gefunden hatte. Diese Methode ergab oft ganz falsche Resultate. Klages half nun der Unzulänglichkeit dieser Methode unter anderem dadurch ab, daß er auf die Doppeldeutigkeit jedes Ausdrucksmerkmals aufmerksam machte. Eine Schrifteigenschaft, etwa Regelmäßigkeit, kann in einem Falle als Aus­ druck von Willensstärke, von Widerstandskraft und Beständigkeit, in einem anderen aber von Gefühlskälte, Nüchternheit und Langweiligkeit zu werten sein. Diese Doppeldeutigkeit gilt nicht nur für Schrifteigenschaften, sondern genau so für das Verhalten des Menschen« (ebd., S. 287f.).

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111 Klages an Rothschild Kilchberg, den 15. Dezember 1948 Herrn Dr. Salomon Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Doktor: Mit Dank bestätige ich Ihre frdln. Zeilen vom 23. XI. Ich kann es begreifen, wenn Sie allmählich ein wenig ungeduldig werden. Allein ich wollte und sollte Ihr Skriptum wenig­ stens erst gelesen haben (in Wahrheit verlangt es ein Studium!), bevor ich es dem Verleger – versteht sich, es empfehlend – überreiche. Aber seit mindestens zwei Jahren sitze ich derart in – noch dazu mir per­ sönlich unangenehmen – Arbeiten, dass ich z. B. meine gesamte Pri­ vatkorrespondenz aufgeben musste und mit der Lektüre Ihres Manu­ skriptes vorderhand nur bis zu Seite 124 gekommen bin. In Rücksicht auf die Weihnachtsferien (soweit bei mir davon die Rede sein kann) hoffe ich, das Dokument bis ungefähr zum 10. Januar abliefern zu können. Um Ihnen einen Begriff von den Schwierigkeiten zu geben, mit denen ich zu ringen habe, sei wenigstens eine Tatsache erwähnt. Obwohl der Verlag H. sich Ende August 47 vertraglich verpflichtet hatte, drei von ihm übernommene Bücher bis spätestens zum Herbst 48 herauszu­ bringen, ist ihm das nur infolge unsäglicher Bemühungen meinerseits (Papierbeschaffung, Typenschwierigkeiten, Druckereiauswahl usw.) für deren zwei gelungen, so zwar dass diese wenigstens vierzehn Tage vor Weihnachten, also eben jetzt, erschienen sind, ungeachtet der Verlag die Manuskripte seit rund anderthalb Jahren besitzt! Vom drit­ ten dagegen ist im Augenblick noch keine Zeile gesetzt! Die beiden endlich veröffentlichten finden Sie auf beiliegendem »Waschzettel« angezeigt; die Bücher selbst gehen Ihnen nächster Tage vom Verlage aus zu. »Die Sprache als Quell der Seelenkunde« lag nach fünfjähriger Arbeit bis auf Punkt und Komma fertig von Anfang 1947. Für Sie als einen gründlichen Kenner des »Widersachers« bringt das Opus wenig Neues. Gleichwohl darf ich aus etwas egoistischen Gründen raten, es zu lesen. Denn dann kann ich mich kürzer fassen mit der – ebenfalls wahrscheinlich im Januar – an Sie erfolgten Übermittlung meines – durchaus nur provisorischen! – Eindrucks, den ich bis dahin von Ihrem neuen Werk gewonnen haben werde.

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Inzwischen verbleibe ich mit allen guten Wünschen zur Winterson­ nenwende Ihr ergebener: LKlages P. S. Die kleinzeiligen 20 Seiten Ihres Manuskriptes bilden in keiner Weise ein Hindernis. Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/6

Obwohl der Verlag H. ... von Anfang 1947: Bei Samuel Hirzel in Zürich erschienen 1948 die 9. Auflage von »Die Grundlagen der Charakterkunde« (die 10. Aufl. erschien einige Monate früher beim Bouvier Verlag in Bonn) und die Erstausgabe von »Die Sprache als Quell der Seelenkunde« (s. hierzu Schröder 1992, S. 1377ff.). Das dritte zur Disposition gestandene Buch war wohl die 3. Auflage von »Goethe als Seelenforscher«, die 1949 bei Hirzel herauskam. Beiliegendem »Waschzettel«: nicht vorhanden.

112 Rothschild an Klages Jerusalem, 6. 1. 49 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Dankend bestätige ich Ihren freundlichen Brief vom 15. 12. 48. Insbesondere bin ich Ihnen dankbar, dass Sie sich die Mühe nehmen wollen, das Manuskript ganz zu lesen. Was Sie an Positivem und an Negativem zu meiner Arbeit sagen werden, hat für mich ein besonderes Gewicht, und ich bin deshalb sehr in Erwartung der Mitteilung Ihres Eindrucks der Lektüre. Aufgrund Ihres Berichtes über die Schwierigkeiten, die Sie unter den gegenwärtigen Verhältnissen in der Schweiz bei dem Druck Ihrer Werke vorfanden, kann ich mir denken, wieviel Hindernisse dem Druck meines Skriptums noch im Wege stehen werden. Ich kann nur hoffen, dass sie überwindbar sein werden.

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Auf Ihre jetzt herausgekommenen Werke bin ich recht neugierig, und ich freue mich vor allem darauf das ganz neue, »Die Sprache als Quell der Seelenkunde« lesen zu können. Es kommen jetzt weniger neue Bücher ins Land, wahrscheinlich infolge des Krieges und der Valutafragen, am häufigsten sieht man amerikanische Literatur. Mit den besten Wünschen zum neuen Jahr Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links lateinische Lettern, rechts hebräische Lettern, hschr. korr., von Klages mit Datum 20.I.49 versehen. DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/8 Kopie: Nachlass Rothschild

113 Rothschild an Klages Jerusalem, 23. 1. 49 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ihre beiden neu erschienenen Bände sind dieser Tage hier eingetrof­ fen, und ich danke Ihnen nochmals für diese Sendung, die ich als eine ehrende Auszeichnung empfinde. Ich freue mich schon sehr auf die Lektüre des neuen Buches und wünschte mir nur mehr Ruhe und Zeit, um mich mit ihm gründlich befassen zu können. Der Mangel an Ruhe und Zeit hängt vor allem mit meiner neuen Arbeit zusammen. Ich habe vor einigen Monaten angefangen, abge­ sehen von meiner Privatpraxis an einem Krankenhaus für Kriegsver­ letzte zu arbeiten. Diese Abteilung wird demnächst von Jerusalem weg verlegt werden, aber es besteht ein Plan, mich als Psychothera­ peut an der Klinik der jetzt neu gegründeten medizinischen Fakultät der hebräischen Universität in Jerusalem anzustellen, womit ich gleichzeitig die Vorlesungen über medizinische Psychologie überneh­ men müsste. Ich wünschte an sich, dass dieser Plan sich verwirklicht, weil ich aus verschiedenen Gründen aus der Enge meiner analytischen Privatpraxis heraus möchte, vor allem aber, weil ich in dem grossen Krankenmaterial einer Universitätsklinik Anregung und Unterlagen

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für weitere Erforschung der leib-seelischen Zusammenhänge zu fin­ den hoffe. Die Schwierigkeit ist aber, dass ich die hebräische Sprache noch nicht so beherrsche, um auch frei im Vortrag in ihr sprechen zu können. Ich glaube aber, dass ich dieser Schwierigkeiten im Laufe der Zeit Herr werden könnte, wenn man nur von Seiten der Univer­ sität Geduld mit mir hätte. Diese Geduld dürfte nun wahrscheinlich grösser sein, wenn ich den wissenschaftlichen Wert meiner letzten ganz privat durchgeführten Arbeiten durch den Hinweis auf ein im Druck befindliches oder ein von einem Verlag übernommenes Werk hervorheben könnte. Der Wunsch, dass mein Skriptum bald gedruckt oder zum mindesten von einem Verlag übernommen würde, ist durch diese Umstände verstärkt worden, und ich bin jetzt in besonderer Erwartung dessen, was ich von Ihnen hören werde. Ich nehme ja entsprechend den Zeitangaben Ihres letzten Briefes an, dass Sie inzwischen das Manuskript an den Verlag weitergegeben haben und mir vielleicht schon dessen Stellungnahme mitteilen können. Inzwischen verbleibe ich in Verehrung grüssend Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links lateinische, rechts hebräische Lettern, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/9 Kopie: Nachlass Rothschild Abschrift: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/9

Ihre beiden neu erschienenen Bände: »Die Grundlagen der Charakterkunde« (9. Aufl.) und die Erstausgabe von »Die Sprache als Quell der Seelenkunde« (s. 111 K). Krankenhaus für Kriegsverletzte: Rothschild arbeitete zusammen mit dem Neurologen Lipman Halpern (1902–1968), der schon 1938 eine neurologi­ sche Ambulanz im Hadassah Hospital von Jerusalem, das der Hebräischen Universität als Lehrkrankenhaus diente, gründete. Halpern stammte aus Polen, studierte in Königsberg Medizin und arbeitete zusammen mit Gold­ stein an der Klinik Moabit, deren neurologische Abteilung Goldstein von 1930 bis 1933 leitete. Er schuf eine neuropsychiatrische Abteilung in den Jahren nach 1938 und war maßgeblich an dem Aufbau einer neurochirurgi­ schen Abteilung ab 1943 beteiligt (Feinsod 2012). neu gegründeten medizinischen Fakultät: Die Hebräische Universität in Jeru­ salem wurde offiziell 1925 mit zwei Instituten eröffnet, einem für Chemie, das andere für Jüdische Studien (Segev 2006, S. 236). Eine medizinische Fakultät, die ein reguläres Medizinstudium ausrichtete, wurde erst 1949

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geschaffen. Nach ihrer Evakuierung nach dem Massaker am 13.4.1948 war das Hadassah Krankenhaus räumlich an verschiedenen Orten der Stadt pro­ visorisch untergebracht. Im Nordwesten von Jerusalem wurde ein neuer Campus 1949 fertiggestellt. dass ich die hebräische Sprache noch nicht so beherrsche: Die meisten der Dozenten an der Hebräischen Universität, die noch nicht allzu lange im Land lebten, litten darunter, auf Hebräisch unterrichten zu müssen. So las zum Beispiel der Mediävist Richard Koebner einen in lateinische Buchsta­ ben transkribierten hebräischen Vorlesungstext (Jütte 2004, S. 316).

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Kilchberg, den 31. Januar 1949

Sehr geehrter Herr Doktor: Besten Dank für Ihre beiden Briefe vom 20. und 23. ds.! Erst jetzt bin ich bei den letzten Seiten Ihres Manuskriptes angekommen; denn inzwischen erfuhr ich, was man volksmäßig einen »nervösen Zusammenbruch« nennt (alias: übermässige Erschöpfungszustände, Schlafmangel weit über das mir gewohnte Mass hinaus, Herzbeschwerden usw.); das alles teils aus Überarbeitung, mehr noch aus chronischem Ärger. So musste ich bremsen. Nun soll auf Wunsch des Verlages in Ihr Skriptum noch einen Blick werfen ein mir nahestehender Psychotherapeut, der Ihre »Symbolik«, die er erworben hat, kennt und schätzt. Mehr als ein »Blick« wird es nicht werden, da besagter Herr beruflich enorm in Anspruch genommen ist (sehr ausgedehnte Privatpraxis, Oberarzt an zwei Sanatorien, Vorlesungen an der Hochschule). Mögen alle guten Geister, nicht zuletzt die des Geldes (!) geben, dass der Verlag H. sich zur Übernahme Ihres Werkes imstande fühlt. Nur, um Ihrem Wunsch zu entsprechen, werde ich versuchen, inner­ halb der nächsten zwei Wochen meinen ersten und deshalb ganz unverbindlichen Eindruck mit ein paar »Thesen« zu fixieren. Ein endgültiges Urteil wäre mir – abgesehen von meiner Unzuständig­ keit inbezug auf die neurologischen Teile – erst nach mindestens dreimaliger Lesung möglich. Nur eines lassen Sie mich jetzt schon vorausschicken: Ihr Werk gewänne durch Kürzung um ungefähr ein Drittel des Textes! Trotz, beiläufig bemerkt, einer heutzutage selten

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gewordenen und deshalb um so mehr erfreulichen Durchstilisierung liesse sich manches mit weniger Worten sagen, ja sogar fasslicher sagen, während ferner zahlreiche Wiederholungen unschwer zu vermeiden und – doch dem möchte ich eine kurze Begründung vor­ ausschicken. Ich verstehe es nur zu gut, dass, wer ein Prinzip, eine Ursache, einen Erklärungsgrund gefunden zu haben glaubt, sich gedrungen fühlt, das Gefundene zu verfolgen bis in die äussersten Möglichkeiten seiner Anwendbarkeit (z.B. in Ihrem Falle bis in den Chemismus des Zellenlebens). Allein er gerät dadurch vom an und für sich schon Hypothetischen ins noch Hypothetischere, welchem gemäß kritische Köpfe zu denken geneigt sind: nun ja; aber das liesse sich auf vierfache, auf fünffache Weise ebenso passend deuten. Würden Sie sich in der Beziehung mit kargen Hinweisen begnügen, so dürfte der Gesamttext durchsichtiger und übersichtlicher werden (nicht zu reden von der Verringerung der Herstellungskosten). Dem Verleger teile ich mit, das Werk sei wesentlich und bedeutend und stehe weit über dem Durchschnitt heutiger Schriften auf glei­ chem oder ähnlichen Gebiete, verdiene also unbedingt Veröffentli­ chung, könne aber meines Erachtens gekürzt werden. Sehr wünschte ich mit Ihnen, dass Sie Ihre psychoanalytische Praxis mit einer universitären Lehr- und Forschungstätigkeit vertauschen könnten, und werde nicht verfehlen, auch im Hinblick darauf baldige Entscheidung dem Verlage nahezulegen. – Bei meiner abnormen Unfähigkeit, Fremdsprachen zu erlernen, staune ich, dass Sie als ein jahrzehntelang auf Deutsch denkender, es wenigstens annähernd schon zu vortragsmässiger Verwendung der so völlig anders gebau­ ten hebräischen Sprache gebracht haben. Die erste Vorlesung werden Sie vermutlich ausarbeiten und ablesen; hernach ginge es dann rascher. Eine mühsame Sache; aber daran sollte Ihr Plan nicht schei­ tern! Ich wünsche Ihnen in der Beziehung alles Gute und verbleibe mit freundlichen Grüssen Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: hschr. Vermerk Klages’, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/7

Ihre beiden Briefe vom 20. und 23. ds.: Ein Brief Rothschilds vom 20. Januar 1949 befindet sich nicht im Nachlass Klages. Jedoch ist Rothschilds Brief vom 6. Januar 1949 [112 R] von Klages mit dem Datum »20. I.« versehen, wahrscheinlich das Eingangsdatum.

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ein mir nahestehender Psychotherapeut: Herbert Binswanger (1900–1975): Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker, seit 1920 mit Klages in Kontakt, absolvierte seine Lehranalyse bei Harald Schultz-Hencke in Berlin und war bei Sándor Radó in Kontrollanalyse. Beides erfolgte am Berliner Psycho­ analytischen Institut vor seiner Transformation in das »Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie« und später in das sog. Reichsinstitut unter der Leitung von Mathias Heinrich Göring, einem Adle­ rianer. Herbert Binswanger war einer der Stiefbrüder von Ludwig Binswan­ ger. Ab 1929 befindet er sich in unterschiedlichen Funktionen in psychi­ atrischen Einrichtungen in Zürich und unterhält eine psychoanalytische Privatpraxis (Angst 1977). Er wendet sich am 21. Februar 1949 wegen des Auftrags, das Rothschildʼsche Werk zu begutachten, an Rothschild. Er gibt sich als Anhänger der Neopsychoanalyse Schulz-Henckes zu erkennen und bekundet sein Unbehagen angesichts des breiten Raums, den die Metapsy­ chologie Freuds bei Rothschild einnimmt (Brief vom 21.2.1949, Nachlass Rothschild). Ab dieser Kontaktaufnahme setzt ein ausführlicher Briefwech­ sel der beiden Wissenschaftler ein, der bis zum Tod Binswangers im Jahre 1975 anhält.

115 Klages an Rothschild Herrn Dr. Salomon Rothschild 3, Redak Road Jerusalem

Kilchberg, den 11. Februar 1949

Sehr geehrter Herr Doktor: Unter der Voraussetzung, dass Sie mein ausführliches Schreiben vom 31. Januar erhalten haben, versuche ich heute, mein darin angesagtes Versprechen zu erfüllen, nämlich Mit­ teilung meiner an den ersten Eindruck Ihres Werkes sich knüpfenden Gedanken. Ich bitte, bei jeder Zeile in Acht zu behalten, dass diese durchaus vorläufig und unverbindlich sind. Nach dreimaliger Lektüre könnten Eindruck und Urteile sich teilweise weitgehend verändert haben. Ich lese vergleichsweise wenig und langsam, erfasse schwer und brauche oft erheblich Zeit, um das mir Wesentliche in richtiges Verhältnis zu setzen zu den eigenen Forschungsergebnissen oder mit andern Worten zu einem Gedankenbau, dessen Grundriss seit rund einem halben Jahrhundert vorliegt und welches im grossen und gan­ zen »fertig« geworden ist. Hätte ich dies nicht vorausgeschickt, so würde mein Wahrheitsgewissen mich der Leichtfertigkeit zeihen.

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Nehmen Sie also, was ich vorbringe, mehr für eine Stimmungsschil­ derung, wenn auch in der Form der Kritik dargeboten. Wären Sie hier einige Wochen in Kilchberg und könnten wir uns min­ destens anderthalb Dutzend Mal jeweils mehrstündig unterhalten, so liessen sich für meine »Thesen« reichlich Gründe bieten. Da das nun nicht sein kann, spreche ich durchweg dogmatisch, da und dort mit Andeutung von Argumenten, wobei Sie als Verfasser mit Verf. bezeichnet sind, und ich als Kl., Palágyi mit P., Freud mit Fr. – Einige Zwischenbemerkungen sind davon unabhängig. Wegen Zeitknappheit beschränke ich mich auf wenige Ihrer Grund­ begriffe, Neurologisches naturgemäss ganz aus dem Spiele lassend. Kilchberg, den 11. Februar 1949 Einige Thesen als Unterlage einer Kontroverse 1.- Weniger wäre mehr gewesen! Diesmal gesagt im Sinne des: prin­ cipia sine necessitate non sunt multiplicanda. Wir finden abgesehen vom Ich und Es z.B.: Eros – Thanatos – Nirwanaprinzip – Behaup­ tungsprinzip – Libido – Verdrängung – Ichkern – Icherscheinung – Überich – Lustprinzip. – Das birgt zwei Gefahren: einmal dass, was ohne die Prinzipien Beschreibung und Erläuterung wäre, mit ihnen wie Erklärung aussieht, ohne es zu sein; sodann, dass die Prinzipien unmerklich personifiziert werden (vgl. »in den Händen des Lust­ prinzips«, S. 99, »Arbeitsweise des NP«, S. 101, und noch so vieles). – Keiner dieser Gefahren scheint Verf. ganz entgangen zu sein. 2.- Grundsätzlich ist nichts einzuwenden gegen die Bezeichnung von Prinzipien und sonstigen Grundbegriffen mit mythischen oder halbmythischen Namen. Nur sollten diese nach Möglichkeit ihren ursprünglichen Sinn bewahren; ferner sollten die ihnen entsprechen­ den Denkgegenstände aufweisbar sein. Beides ist nicht der Fall mit Eros und Thanatos. Eros bedeutet im Altgriechischen einen Zustand, Thanatos ein Ereignis. Das ist nebensächlich. Hier gilt Eros = Lebens­ trieb – Thanatos = Todestrieb. Dagegen ist mehreres einzuwenden. Gehen wir vom sog. Todestrieb aus, so wäre der Gegensatz allenfalls Bios oder genauer η του ζωη ´επιθυμια; wenn aber vom Eros, dann wäre der Gegensatz Misos = Hass. Ungleich treffender hat Empedo­

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kles, der ohne Zweifel an der Fr.schen Konzeption beteiligt ist, seine beiden Weltprinzipien benannt: Philia = Neigung = Zusammenziehendes und Verbindendes. Neikos = Hader = Zertrennendes und Isolierendes. Ob und wie weit man damit die organismische und ausserorganis­ mische Welt verstehen kann, bleibe dahingestellt. Die Hypothese wenigstens ist verständlich und klar. – Dem gegenüber: wenn es schon einen Lebenstrieb gibt, so wurde als Komponente des Zellenle­ bens weder von Fr. noch vom Verf. ein Todestrieb nachgewiesen. Tat­ sächlich ist er überhaupt nicht nachweisbar. (S. 11 oben ist Verf. auf dem Wege, das Illusionäre eines Todestriebes zu bemerken, hilft sich aber mit der nicht eben glücklichen »Nachahmung toten Verhal­ tens«.) 3.- Inbezug auf den Lebensvorgang hat Verf. den Polarismus durch­ weg festgehalten. Mit seinen Grundbegriffen = Urtrieben aber ist er zurückverfallen in den sehr alten, von Descartes nur sozusagen kano­ nisierten Dualismus. Denn Eros und Thanatos (Th.) stehen nicht im Verhältnis der Polariät zueinander, sondern des kontradiktorischen Gegensatzes. Aus Unpolarisiertem kann Polarisiertes werden und umgekehrt; niemals aber können Pole sich mischen (S. 17 und vie­ lerorts), nimmermehr voneinander sich trennen. Die ganze Arbeit des Verf. erhält durch die Einführung des Gegensatzes von Lebens­ trieb und vermeintlichem Todestrieb etwas Zwiespältiges. 4.- Ferner soll sein Th. = Materie = Körper. (Belege überaus zahlreich. Allein auf S. 11 deren drei: »Der Körper ist das eigentliche Medium des Th.« »Im Körper ... herrscht die Induktionswirkung des Th.«. »...Gegensatz zwischen Körper und Seele«. – S. 26: »Der Körper in seiner materiellen Natur ist an sich das Medium des Th.«. – S. 19 wird der Dualismus ausdrücklich betont; ebenso S. 182 usw. Das System des Verf. gründet also im dualistischen Gegensatz von Körper und Seele. Die teils vorbeugenden, teils restringierenden Bemerkun­ gen auf S. 7 und 8 wirken nicht überzeugend.) Durch hier nicht mehr anzustellende Erwägungen lässt sich zeigen, dass damit der Polaris­ mus der Lebensvorgänge logisch unvereinbar ist. Dies als Begrün­ dungsansatz für die unter 3 angedeutete Zwiespältigkeit. Nun, das ist ein drittehalb tausend Jahre alter Grundgedanke weitaus der meisten Ideologien. Wenige Beispiele.

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Die Orphik: σωμα = σημα (der Leib als Grab der Seele). Platon: Materie = Nichtseiendes = leerer Raum (neuerdings wieder modern geworden). Alexandrinische Philosophie und vor allem die Stoa: Materie, Leib = Kerker des Geistes.Philon: Materie = Sündhaftigkeit. Ab Newton: Auflösung der Materie in mathematische Gleichungen. Allein die Konzeption »tote Materie« ist nachweislich falsch. Ein wenig sprachpsychologisches Denken enthüllt den Entstehungsherd. »Materie« gehört mit »mater« zusammen. Die Vernichtung der Materie, gleichgültig mittelst welcher Termini, beginnt innerhalb der Kulturvölker überall, nachdem das kultliche Übergewicht der Mater dem des Pater gewichen ist. (Zwischenbemerkung: Sollten für Ihre Gedanken tatsächlich eine Stütze bilden die Spekulationen Schr.s S. 74 – 75? Läuft doch bei ihm der ganze Aufwand schliesslich hinaus auf eine vis vitalis rediviva, wenn auch quantentheoretisch drapiert!). 5.- Bald soll die »Ganzheit« eine Folge des Eros sein, bald der »Behauptung«. (Vgl. S. 8 – 9 z.B. mit S. 20) Aber die Gleichung: Individuation = Behauptung stimmt nicht. Der Erdball – nach Gestalt wie Funktionsweise unzweifelhaft ein Ganzes – hatte sich bereits beliebige Millionen Jahre behauptet, bevor auf ihm eine lebende Zelle entstand, und ist dennoch kein Individuum. Beim Individuationsbe­ griff hätte der des Mikrokosmos einsetzen sollen. (Zwischenbemerkung: Nach den freilich ein wenig phantastischen Schätzungen der Physiker soll bekanntlich die Erde ein Alter von ungefähr 3 Milliarden Jahren haben, davon rund 2 ohne Organismen, rund 1 mit Organismen. Mit der Behauptungskraft der Weltkörper kann sich also die keines Gens vergleichen. Aber auch jeder Weltkör­ per ist ein Geschehen. Ich weiss natürlich, was unsere von »Statistik« berauschten Physiker einwenden würden. Indes, Mathematik und Logik sind – zweierlei.)

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115 K vom 11.2.1949, Teilauszug im Original

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6.- Verf. scheint oft, vielleicht immer zu verwechseln: statisch mit stationär. Die Folgen für seine Entstehungserklärung des geistigen Aktes wären unabsehlich. Doch hier muss der für alle »Thesen« geltende Vorbehalt verdoppelt werden, weil für konsequentes Durch­ denken entfernt nicht genug Zeit blieb. 7.- Auf S. 33 und vielerorts werden wiederholt bestimmt verwechselt: Triebantriebe mit Willensakten und Handlungen. 8.- Der Begriff des Schauens wird auf S. 52 unzweifelhaft angewandt auf das Vorstellen, das geistige Akte voraussetzt. Im Widerspruch dazu steht der erste Satz des Schlussabsatzes auf S. 56. Verf. sucht den Widerspruch aufzulösen, aber ohne Erfolg. In der Beziehung mangelt es überhaupt an der sonst dem Verf. hochgradig eigenen Klarheit. 9.- Gemäss den Schlusskapiteln der »Symbolik«, die Kl. seinerzeit dem Verf. selbständig zu veröffentlichen vorschlug (was mit diesem Werke ja teilweise geschehen ist) wird – beginnend etwa mit S. 30 und hinfort folgerichtig durchgeführt – Beständigkeit = Dauer aus dem empfundenen Widerstand des Körperlichen abgeleitet. Allein Dauer eignet bereits dem Anschauungsraum. Ist er doch = perennie­ rendes Jetzt! Anschauliche Qualitäten ohne mitangeschaute Räum­ lichkeit gibt es nicht. Hier spielt, so scheint es, herein die von P. angebahnte Verwechslung des Anschaulichen mit der Lokalisation des Angeschauten. – Beiläufig: bereits für Wirbellose besteht eine, wenn auch vergleichsweise noch unentwickelte, »Lageordnung der Materie«. Belege würden hier zu weit führen. 10.- Noch etwas gibt es nicht: nämlich bei noch so starkem Über­ gewicht der empfindenden Komponente nur empfindende Organis­ men. Selbst der Wurzelfüsser, das Infusor ermangelt nie völlig der Gabe des Schauens, wie durch zahlreiche Experimente erweisbar. 11.- Es gibt nur zwei unterschiedliche Aktarten: den Auffassungsakt und den Willensakt, nicht drei. 12.- Nirwanaprinzip – eine ansprechende Bezeichnung. Aber Kl. hat nicht einsehen können, dass NP etwas erklärt. Es dient zur

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Beschreibung von Sachverhalten, die ohne es ebenso gut beschrieben werden können. 13.- Wichtiger ist folgendes. Kein den westlichen Zivilisationen Angehöriger weiss, was ein Arhat Ceylons oder Chinas oder Japans, der das Nirwana erreicht hat, erlebt. Soviel aber lässt sich den Berichten entnehmen, dass es bestimmt keine Ähnlichkeit hat mit dem Erlebnis des Einschlafens. – Wohl heisst Nirwana ungefähr »Auslöschen, Auswehen«; aber eine Definition ist mit unseren Denk­ mitteln unerreichbar. Denn das ist unbestritten: Nirwana ist nicht nur kein negativer, sondern ein positiver Zustand, ja für den Buddhisten der positivste aller nur möglichen, eine uns unfassbare Seligkeit. Buddha = der Erwachte, Erleuchtete! Er steht, wie oft ausgesprochen wird, »am andern Ufer«, wo zwar kein Leben mehr ist, aber erst recht kein Tod. Leben und Tod sind im Buddhismus polar, und als das grösste Übel gilt es, dass alles Lebende sterben muss. Der Buddha Gewordene befindet sich jenseits des vom Sterben bedrohten Lebens, jenseits somit insbesondere des Todes. – Ein weiterer Grund um NP. in den Untersuchungen des Verf. fallen zu lassen. 14.- Psychopathie = Ichschwäche? Nein, sondern = Schwäche der Vitalität! Aber vielleicht geht das auf eine Bezeichnungsverschieden­ heit zwischen Verf. und Kl. zurück. 15.- Über Ekstasis sich zu unterhalten, würden Verf. und Kl. entweder von vornherein sich versagen; oder aus der Unterhaltung würden deren mehrere werden. Fr. schaltet hier völlig aus. Hat er doch einge­ standenermassen niemals etwas einer Ekstasis auch nur Ähnliches erlebt (was ihn anscheinend nicht hindert, darüber zu urteilen). Wer aus Eigenem Bescheid weiss, braucht nur zehn Sätze von ihm zu lesen, um darüber im Klaren zu sein. Aber er kann mit wenigen Fra­ gen, ja schon mit einer einzigen entscheiden, ob sein Mitunterredner darüber nur allerlei gelesen hat oder davon selbständige Erfahrung besitzt. – Doch das würde hier wohl zu weit führen. Geistesgeschichliche Zugabe I.- Durch das abendländische Denken ziehen sich seit Jahrhunderten die »Antinomien«, an deren zweien wohl jeder Knabe sich einmal versucht hat: Ist der Raum endlich oder unendlich – hat die Zeit ein­

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mal angefangen oder nicht? Kant widmete dem und Ähnlichem 100 Druckseiten (Reclamsche Ausgabe). Damit folgte er dem sehr alten Vorurteil, Antinomien müssten auflösbar sein. Demgegenüber ver­ trete ich den Satz: keine echte Antinomie ist auflösbar, so auch keine der beiden genannten. (Die Physik bleibt hier beiseite. Sie hat derzeit ihre Stärke im Experiment und im Rechnen samt daraus hervorge­ hender Technik; ihre Theoretik aber steht kaum noch auf bloss töner­ nen Füssen. »Eintritt Unbefugten wegen Umbaus verboten«, äußerte vor Jahren ein bedeutender englischer Physiker!). Der unanschauli­ che Wirklichkeitsraum erneuert sich mit sich selbst identisch in unbegrenzt kleinen Teilen der Sekunde, der Anschauungsraum war und ist stehender Raum: eine unauflösliche Antinomie. Im »Wider­ sacher« habe ich unter »Vom spiegelnden Schauen« (in der 2. Aufl. wesentlich verbessert: Kap. 29 – 33, S. 280 – 341) die vorauszuset­ zenden Lebensvorgänge bis zur – wenigstens heute – nicht mehr überschreitbaren Grenze verfolgt, meine aber keineswegs, jene Anti­ nomie gelöst zu haben. – Ihre Erwägungen nun scheinen gelegentlich an echte Antinomien zu rühren; und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie die Grenzen des Wissbaren teilweise über­ schreiten. II.- Auf dem Psychotherapeuten-Kongress 1928 in Baden-Baden sprach ich zu offensichtlicher Befriedigung der aus stark 400 Ärzten bestehenden Hörerschaft über »Die Triebe und der Wille«. Die kleine und sehr harmlose »Diskussion« (mitveröffentlicht im Sam­ melbande der Referate 1929) wurde auf meinen Wunsch unmittelbar an den Vortrag angeschlossen, weil ich – auf einer Vortragsreise begriffen – schon zwei Stunden später abreisen musste. Ein Herr Simmel aus Berlin, der bei der Diskussion nicht den Mund aufgetan hatte, polemisierte dann einige Tage später, also in meiner Abwe­ senheit, gegen mich, weil ich für die Unterscheidung des Ich vom Es Priorität in Anspruch genommen habe, während das alles und noch viel Besseres schon bei Fr. in »Das Ich und das Es« stehe. – Das wäre nun sachlich ganz und gar gleichgültig, da mit dem Es Fr. das nicht meint, was ich damit meine. Im wissenschaftlichen Sinn besteht also hier keinerlei Prioritätsfrage. Doch würde es mich interessieren zu erfahren, wann jenes (mir nicht bekannte) Buch von Fr. zuerst erschienen ist. Wenn vor 1910, so hätte er terminologisch den Vorsprung; wenn erst nach 1910, dann ich.

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III. Eher hat folgendes einige Bedeutung. – Als Entdeckungen P.s sehe ich an: 1.) die Unmöglichkeit des Stattfindens rezeptorischer gänzlich ohne effektorische Erlebnisse und somit die Erforderlichkeit nicht nur afferenter, sondern auch efferenter Lebensvorgänge zum Wahrneh­ men. – 2.) die eingebildete oder im vitalen Sinne virtuelle Bewegung (samt allen Folgen dessen). – 3.) die einzig dastehende Analyse des Tasterlebens. – 4.) den Nachweis der zeitlichen Punktualität des geis­ tigen Aktes. No. 4 wusste zwar auch ich, als ich anlässlich des Philo­ sophenkongresses in Heidelberg (1908 oder 1909) P. kennenlernte; aber der sozusagen mathematische Beweis dafür war mir neu. Die sog. Entfremdung ist beiden Forschern gemein. – Dagegen glaube ich als ausschliessliches geistiges Eigentum in Anspruch nehmen zu müssen: a) die Einführung der Verschmelzung im Schauen – b) die personenunabhängige Wirklichkeit der Bilder – c) die »elementare Ähnlichkeit« – d) die ganz neuartige Willenstheorie, welcher gemäss der Wille ein zerstörendes Prinzip ist und in der Handlung nur steuernd, niemals antreibend auftritt. Verschmelzung, z.B. von Empfindungen mit Gefühlen und beider mit Phantasmen spielen eine grosse Rolle natürlich auch bei P. (und schliesslich irgendwie in jeder Psychologie), nicht aber die unter a) genannte. – Den Begriff des Schauens hat P. erst in seinen Nach­ lassaufzeichnungen (mit Einführung herausgegeben von Kl. unter dem Titel »Wahrnehmungslehre« 1925) von mir herübergenommen. Um sich über »Die Wirklichkeit der Bilder« zu unterrichten, war er 1924 bei mir in Kilchberg zu Besuch; doch kamen die hochwichtigen Unterhaltungen nicht mehr zum Abschluss. Denn P., der mit Kl. ein gemeinsames Lehrinstitut gründen wollte, bei voller Wahrung auseinandergehender Anschauungen, erlag vor meinem geplanten Gegenbesuch im Juli einem Schlaganfall. – – – Zweifelhaft bleibt, ob P. zu gewinnen gewesen wäre für die »elementare Ähnlichkeit«, da er den Ähnlichkeitsbegriff nur im Sinne der Assoziationspsycho­ logen kannte und bekämpfte. – Über die Willenstheorie haben wir niemals gesprochen. ____________________ Doch nun, nachdem ich eine, wenn auch nur schmale, Grundlage der Kontroverse abgesteckt habe, lassen Sie mich zum Schluss nochmals betonen, weshalb ich Ihr Werk für wesentlich halte. Abgesehen von

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vielen Einzelproblemen (so z.B. der von Ihnen unternommenen Ver­ gleichung zellarer mit zentralen Lebensvorgängen) ist ja im Grunde Ihr Werk, wenn nicht der erste, so doch der am umfassendsten ange­ legte Versuch einer Deutung sämtlicher Neurosen und Psychosen. Dass im Zeitalter der herrschenden Sachforschung viele Leser diese weit gespannte Anwendung der Sinnforschung verstehen werden, bezweifle ich. Aber das betrifft in keiner Weise die Bedeutung Ihrer Hypothesen und Befunde. Wie viele von diesen sich halten werden, wage ich nicht zu entscheiden. Indes, selbst wenn das meiste hypo­ thetisch bliebe, so würden doch uneingeschränkt ihren Wert behalten die von Ihnen angewandten Methoden. Indem ich um kurze Empfangsbestätigung bitte, verbleibe ich mit vielen Wünschen und Grüssen Ihr ergebener: LKlages P.S. Statt »suggeriert« und »suggestibel« steht auf S. 119 wiederholt »suggestiv« – offenbar ein lapsus calami. – Über den neurologischen Teil Ihrer Arbeit werden Sie in wenigen Tagen direkt Nachricht erhal­ ten von dem erwähnten Psychiater. Original: Ts, hschr. korr. und erg., Brief und erste Seite der ›Thesen‹ jeweils oben links überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/8

Eros – Thanatos – Nirwanaprinzip – Behauptungsprinzip – Libido – Verdrän­ gung – Ichkern – Icherscheinung – Überich – Lustprinzip: Lustprinzip, Eros, Libido sind zentrale Begriffe der Freudschen Triebtheorie. In »Jenseits des Lustprinzips« (1920) formuliert Freud die Annahme eines Todestriebs (Tha­ natos) als eines Kontrahenten zum Lustprinzip. Diese Konstruktion hatte weitreichende Folgen, was psychoanalyseinterne Auseinandersetzungen auch schon in direkter Reaktion auf Freud betraf. Rothschild verwendet diese Konzeption eines Triebdualismus in seiner Arbeit »Das Ich und die Regu­ lationen des Erlebnisvorganges«, allerdings in einer fundamental konkreti­ sierten Weise (s.u.). Die Implikationen des Todestriebs, die auf die Ontolo­ gisierung eines Destruktionstriebs hinauslaufen, werden von Rothschild nicht nachvollzogen, aber auch nicht diskutiert. Hierzu s. Rothschilds Ant­ wortschreiben vom 24.2.49 [117 R]. Das ›Nirwanaprinzip‹ verwendet Freud zur Kennzeichnung des »Streben(s) nach Herabsetzung, Konstanthaltung, Aufhebung der inneren Reizspan­ nung« (Freud 1920, S. 60). Neben dem sog. Wiederholungszwang und den Phänomenen von Masochismus und Sadismus gehört es zu den psychischen und psychophysiologischen Entäußerungsformen des Todestriebs in der Freud’schen Konzeption.

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Behauptungsprinzip im Sinne der Selbstbehauptung ist ein wichtiger Ter­ minus in Rothschilds Denken (z.B. S. 42ff.). η του ζωη ´επιθυμια: altgriech. Lebensgier (Gemoll 2006). σωμα = σημα (der Leib als Grab der Seele): Dieser Zusammenhang findet sich in dem Dialog zwischen Sokrates und Kallikles in Platons Gorgias: »Denn ich habe von Wesen gehört, dass wir jetzt tot sind und dass der Körper für uns ein Grab ist« (Platon 2011, S. 144f.). Tatsächlich ist er (der Todestrieb/Einschub v. V.) überhaupt nicht nachweis­ bar: Heute gilt das Konzept des Todestriebs als metapsychologisch widerlegt (Vogt 2001). Schr.s S. 74 – 75? Läuft doch bei ihm der ganze Aufwand schliesslich hinaus auf eine vis vitalis rediviva, wenn auch quantentheoretisch drapiert!: Hier fin­ det sich in der Schrift von Rothschild am Rand der Vermerk »Schrödinger 63??«. Es konnte nicht ermittelt werden, auf was genau sich die Bemerkung bezieht. In Rothschilds Literaturverzeichnis findet sich Schrödingers »What is life« von 1944. Beständigkeit = Dauer aus dem empfundenen Widerstand des Körperli­ chen abgeleitet: Hierüber wird die Diskussion von Klages und Rothschild mit Bezugnahmen bzw. Deutungen in unterschiedlichen Begriffskontex­ ten geführt. 15. Über Ekstasis: Die Ausführungen in Punkt 15 zur Ekstasis veran­ schaulichen die polemische und ressentimentbestimmte Haltung Klages’ Freud gegenüber. »Eintritt Unbefugten wegen Umbaus verboten«, äußerte vor Jahren ein bedeu­ tender englischer Physiker!: nicht zuverlässig ermittelt. Wahrscheinlich ist Eddington gemeint. Auf dem Psychotherapeuten-Kongress 1928 in Baden-Baden sprach ich ... über »Die Triebe und der Wille«: Unter den Teilnehmern dieses Kongresses, der der »III. Allgemeine Ärztliche Kongress« der »Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie« war, fanden sich u.a. Frieda Fromm-Reich­ mann, Sigmund Heinrich Fuchs, Kurt Goldstein, Hans Prinzhorn und Fried­ rich Salomon Rothschild (Teilnehmerliste in: Eliasberg 1929, S. 292–300). Herr Simmel aus Berlin: Ernst Simmel (1882–1947), Psychoanalytiker, grün­ dete die erste psychoanalytisch stationäre Einrichtung in Deutschland/Ber­ lin 1922. für die Unterscheidung des Ich vom Es Priorität in Anspruch genommen habe: hierzu s. Rothschilds Antwortschreiben vom 24.2.49 [117 R]. Simmel bean­

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standete an diesem Kongress den Überhang von philosophisch und religi­ onspsychologisch ausgerichteten Beiträgen zuungunsten behandlungsprak­ tischer Beiträge (Eliasberg 1929, S. 286). Das wäre nun sachlich ganz und gar gleichgültig, da mit dem Es Fr. das nicht meint, was ich damit meine: Klages gebraucht den Begriff des ›Es‹ wie Freud auch im Kontext des Unbewussten, allerdings nicht als ausgearbeitete Kon­ zeption, sondern eher beiläufig, so zum ersten Mal in den »Prinzipien der Charakterologie« (1910). Wie in seinem Vortrag von 1928 (im Kongress­ band/Eliasberg 1929, S. 104f.) wird das ›Es‹ in Gegensatz zum ›Ich‹ gebracht, das dem Bewusstsein und hier dem Willen als Akteur zugeordnet ist. Das ›Es‹ wird mit ›Außer-mir‹ erläutert, ist eine Außenwelt-Repräsen­ tanz, die ›mich‹ bewegt, und sich zum ›Ich‹ im Verhältnis des Erleidnisses befindet, das das ›Ich‹ geschehen lässt, wenn es nicht zum Ziel des Willens gemacht wird (Klages 1910, S. 167f., 1929b, S. 602, im Kapitel: Trieb und Wille). Im Vortrag beim ›Kongress für Psychotherapie‹ 1928 könnte man bei der Verwendung des ›Es‹ Anklänge an Freuds Begriff vom ›Es‹ heraushören. Der Begriff wird nicht mehr als äußerer Triebanlass verwendet, sondern allein innerpsychisch in bezug zum Trieb gebraucht. »Nennen wir die Vita­ lität und insonderheit jene Seite an ihr, kraft deren sie Ursprungsstelle der Triebe ist, zwecks Profilierung der Gegensätzlichkeit zum Ich das Es, so dürften zu lehrsatzmäßiger Explikation des Sachverhalts folgende Sätze die­ nen: 1. Triebantriebe der verschiedensten Art entspringen dem Es. 2. Das Ich ist ihnen gegenüber der sie erleidende Teil. 3. Insofern das Ich sich der trei­ benden Kraft des Es zu widersetzen vermag, nennen wir es wollendes Ich oder kürzer den Willen. 4. Wie jeder Lebensträger ein einziger ist, so ist auch sein Ich nur eines und folglich sein Wille...« (Klages in Eliasberg 1929, S. 104). In einer Anmerkung macht Klages – eher defensiv im Hinblick auf mögliche Einwände vonseiten der Psychoanalytiker – darauf aufmerksam, dass er bereits 1910 die Gegenüberstellung von ›Ich‹ und ›Es‹ als Leitmotiv in seinen »Prinzipien der Charakterologie« verwendet habe. Von ›Leitmotiv‹ kann allerdings nicht die Rede sein. Freud bezeichnet mit dem ›Es‹ eine innerpsychische Instanz, die in seiner Strukturtheorie als ›Reservoir von Trieb-Energie‹ in einer Dreiheit, mit den sich interpersonell aus dem ›Es‹ entwickelten ›Ich‹ und ›Über-Ich‹ die psy­ chische Struktur ergibt. Zur besonderen Kennzeichnung der Psychoanalyse wurde sie von Freud auch mit ›Es-Psychologie‹ gleichgesetzt. Dem Begriff vom ›Es‹ kommt zwar eine zentrale Stellung in der Freudschen Metapsy­ chologie zu, er wird jedoch inkonsistent verwendet (vgl. Nitzschke 2008, S. 181–186). Als Entdeckungen P.s sehe ich an: 1.) die Unmöglichkeit des Stattfindens rezep­ torischer gänzlich ohne effektorische Erlebnisse und somit die Erforderlichkeit nicht nur afferenter, sondern auch efferenter Lebensvorgänge zum Wahrneh­ men: Palágyis Annahme, dass rezeptive Wahrnehmungsprozesse undenkbar

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ohne motorische Prozesse sind und Kreisprozesse efferenter und rezeptiver Nerventätigkeit die »vitale Grundlage« der Wahrnehmung bilden (z.B. Palágyi 1907, S. 186). Es finden sich in seinem Werk ausführliche Begrün­ dungen und Beispiele für den Anteil, den efferente, durch Motoraktivität bestimmte Vorgänge an der Wahrnehmung haben. Diese sind Teil des von ihm entwickelten Konzepts der ›virtuellen‹ Bewegung. die eingebildete oder im vitalen Sinne virtuelle Bewegung ... die einzig daste­ hende Analyse des Tasterlebens: Palágyis eigene Stellungnahme und Kon­ zeptbildung zur damals etwa 200 Jahre alten Frage, ob die Wahrnehmung des Menschen nicht auch konstitutiv der physiologischen Vorgänge der Motoraktivität bedarf. den Nachweis der zeitlichen Punktualität des geistigen Aktes: Für das Bewusst­ sein macht Palágyi folgende Aussagen: Das Empfinden des Menschen ist ihm größtenteils nicht bewusst, »(a)lle Empfindung ist nur summarische Empfindung« (Palágyi 1925, S. 11) und in unendliche Teile untergliederbar. Nur aus diesem Strom des Empfindens punktuell hervorgehend besteht Bewusstheit. »Während nämlich die Empfindung ohne Unterlaß fortfließt, rafft sich der menschliche Geist nur stoßweise, von Intervall zu Intervall, zu einem neuen Wahrnehmungsakte auf« (a.a.O, S. 16) Bis zu einem gewissen Grad können die Wahrnehmungsakte/Bewusstseinsakte willentlich beein­ flusst werden. Ihre Anzahl ist grundsätzlich begrenzt (s. auch das zweite Kapitel der »Naturphilosophischen Vorlesungen« 1907). Die sog. Entfremdung ist beiden Forschern gemein: ›Entfremdung‹ wird von Klages auf den Wahrnehmungsvorgang bezogen. Sie tritt nach der Ver­ schmelzung des Individuums mit dem Bild ein und ermöglicht erst ein Sub­ jekt-Objekt-Verhältnis. Um zu einem Erlebnis zu führen, muss es zu einer Loslösung vom Eindruck kommen. Diese will Klages nicht als ›Vergegen­ ständlichung‹ fassen. »Man kann es nicht laut genug verkünden und nicht zu oft wiederholen: die Besinnungstat stellt uns nichts gegenüber, sie macht nur ›dingfest‹, trennt aus dem Insgesamt einer fließenden Wirklichkeit wie aus dem Verbande mit der erlebenden Seele, begrenzt und scheidet und unterscheidet das schon vorhandene Gegenüber des Bildes!« (Klages 1921, S. 57) Die ›Entfremdetheit‹ ist das, was in diesem Wahrnehmungsverständ­ nis nachvollziehbar ist, konzediert Klages, nicht ohne weiteres nachvoll­ ziehbar sei aber das, was der ›Zusammenhang‹ sein soll: »Weil, wo ein Kör­ per ist, kein andrer ist, scheint uns das eingekörperte Bild vom Körper der erlebenden Seele dermaßen abgetrennt, daß wir erst vollends zwar die Ent­ fremdetheit, kaum aber mehr begreifen, inwiefern da überhaupt noch etwas zusammenhänge« (Klages 1929, S. 583). Palágyi rollt sein Wahrnehmungsverständnis von einer anderen Seite auf, das ›Widerstandsempfinden‹ wird zu einem zentralen Begriff, den er in zwei Richtungen qualifiziert: in »die Erlebnisse des Selbstwiderstandes und die Erlebnisse des Fremdwiderstandes«: Das Erleben des Selbstwiderstands ist

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vermittelt über die Beweglichkeit und die Bewegungen des Leibes, womit Palágyi nochmals die überragende Bedeutung der Bewegung für das menschliche Bewusstsein und die Erkenntnis betont. Er spricht dann von den »Stammempfindungen des Widerstandes« und von den »Zweigemp­ findungen des Gehörs, Gesichts usw.« (Palágyi 1925, S. 46f.). Weder in Palágyis »Naturphilosophischen Vorlesungen« von 1907 noch in der »Wahrnehmungslehre« 1925 findet sich der Begriff der Entfremdung. Der Begriff der Verschmelzung kommt bei Palágyi nicht als Besonderheit im Wahrnehmen zur Verwendung, sondern lediglich als Phänomen des Inein­ anderverschmolzenseins von Empfindungen, eine Erklärung und andere Nuancierung des unablässsigen Stroms der Empfindungen (Palágyi 1925, S. 8f.). die Einführung der Verschmelzung im Schauen: s. vorherige Anm. zur ›Ent­ fremdung‹. Klages verwendet den Begriff der Verschmelzung anders als Rothschild, der eine mikrophasenweise Verschmelzung zwischen dem Rezi­ pienten und dem Reiz neurologisch begründet. Klages deutet den Begriff näher an den Phänomenen, näher an einem lebensweltlichen Verständnis aus: Um als Erlebender dem Erlebten gegenübertreten zu können, muss vorher ein besonderer Zusammenhang zwischen Bild und Rezipient bestan­ den haben. »Würde die Seele das Bild nicht als etwas ihr Fremdes erleben, so könnte sie nicht ein Bild erleben; und hinge sie nicht mit dem Bilde zusammen, so wäre es aus mit ihrem Erleben« (Klages 1929b, S. 583). Die Verschmelzung selbst entspricht im Klagesʼschen Gebrauch des Wortes am ehesten einer Aufnahme und ›Einkörperung äußerer Eindrücke‹ (a.a.O., S. 594). Im »Vom kosmogonischen Eros« (1922) macht Klages eine klare Unterscheidung zwischen Wahrnehmen und Schauen: Im Gegensatz zur grenzgebenden Wahrnehmung kommt erst dem Schauen die Eigenschaft des Verwandelns zu. Der Schauende wird im Schauen des Bildes verwandelt (Klages 1922, S. 125). Schauen ist gleichzusetzen mit Wesensschau, das Bild mit dem Wesen des Erscheinenden. Das ›Bild‹ in diesem Sinne meint das Traumbild, das Bild im ekstatischen Erleben. Direkt bezogen auf – modern gesagt – trancekulturelle Ereignisse beschreibt Klages die Verwandlung in das Bild: Im Zustand der Trance verwandele sich der Mensch in »die Bilder des Wesens von Wolken, Stürmen, Wässern, Steinen, Bäumen, Pflanzen, Tieren« (Klages 1936, S. 100). An anderen Stellen spricht Klages von der ›Umstimmung der Seele‹ durch den Eindruck, modern gesagt durch das Perzept, dem gemäß es zur Wandlung des Rezipienten im Schauen kommt. Diese zeitweilige Wandlung wird von der Entfremdung dieses Geschehens abgelöst (a.a.O., 1936, S. 97ff.). die personenunabhängige Wirklichkeit der Bilder: »Die Wirklichkeit der Bil­ der« ist das zentrale epistemologische Konzept in Klages’ Philosophie. Der zufolge kommt dem ›Ding‹ keine »bewusstseinsunabhängige Wirklichkeit« zu. Die Dinge vertreten ›kraft des Geistes‹ nur gedacht die Bilder, die ihrer­

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seits »bedingungslos wirklich sind« (Klages 1921, S. 21). Das Bild ist nicht als Abbild zu verstehen, sondern als von der Ich- oder Personenabhängigkeit entbundene Repräsentanz des Außen im Innen. Die Erfahrung der »Wirk­ lichkeit der Bilder« ereignet sich außerhalb der Grenzen der wissenschaft­ lichen Erkenntnis und des Common Sense. Im Traum, im kontemplativen Schauen und in der Extase werden dem Menschen die Bilder zuteil, die die unmittelbare Schau der Wirklichkeit gewähren (s. Pauen 1996, S. 251). Ger­ not Böhme unterscheidet bezüglich dieses Konzepts zwischen der Wirklich­ keit als »Seinsart der Bilder« und der Realität als »Seinsart der Dinge« (Böhme 2007, S. 137f.) und Arthur Kronfeld, ein Zeitgenosse Klages’ und adlerianischer Psychoanalytiker, schrieb zur »Wirklichkeit der Bilder«: »Die Bilder sind schlechthin wirklich, sie wirken, und zwar ohne zu handeln, wie das Wasser; so erklärt Klages auch den Wachstumsvorgang des Keimes im Mutterleib damit, daß in der befruchteten Zelle ein ›Bild‹ des werdenden Organismus wirkt als stoffgestaltende Macht. Und so wirken bei allen vita­ len Handlungen des Menschen oder Tieres, die wir als Instinkthandlungen zu bezeichnen pflegen, durch einen sozusagen lebensmagnetischen Zug die Bilder auf die Seele des Menschen oder Tieres und dann, Handlungen aus­ lösend, auf den Organismus – oder auch direkt auf diesen« (Kronfeld 1932, S. 96). die »elementare Ähnlichkeit«: Die Anziehung ›zwischen Ähnlichem und Ähnlichem‹ wird von Klages als das Prinzip angesehen, das aus dem vor aller Welt gedachten Chaos zu einer kosmischen Ordnung führte. »Das Mittel alles wirklichen Wirkens ist uns bekannt geworden: es heißt elementare Ähnlichkeit. Die aber greift nun bis in das Chaos hinüber, weil ohne die Anziehungskraft zwischen Ähnlichem und Ähnlichem dem elementaren Geschehen es an der Bedingung seines Offenbarwerdens in Bildern gebrä­ che. Wenn ohne miterlebte Ähnlichkeiten weder räumliche Stetigkeit noch Qualitäten schaubar würden, so versteht es sich, daß die Bedingungen der Ähnlichkeiten vorhanden sein müssen, damit es möglich sei, daß sie erschei­ nen (Klages 1932, S. 1131f.). Ähnlichkeit und ›Mitbewegt-werden‹ stehen in einem Zusammenhang, wobei er für das – modern gesprochen – empathi­ sche Vermögen ein Spektrum annimmt, das ausgeht von: den emotionalen Zustand eines anderen bemerken, und reichen kann bis zu: »den Zuschauer mit heftiger Eigenerregung erfüllend« (a.a.O., S. 1041). die ganz neuartige Willenstheorie: Klages entwickelte eine eigene Willens­ philosophie, die vor allem im vierten Buch (zweiter Band) des »Der Geist als Widersacher der Seele«, das unter dem Titel »Die Lehre vom Willen« steht, dargelegt wird (Klages 1929b). Es finden sich hier Erörterungen zu den verschiedenen Kategorien des Willens wie ›Wille zur Wahrheit‹, ›Tat­ wille‹ und ›wollendes Bezogensein auf den Zweck‹. Das Zerstörerische des Willens liegt in der Möglichkeit des Geistes, eine Spaltung zwischen Antrieb und Triebziel herzustellen. Das unmittelbare

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Triebziel wird ersetzt durch einen gedachten Zweck. Die stetig zunehmende Isolierungsarbeit des Geistes charakterisiert Klages u.a. wie folgt: »Als auf Verwirklichung eines Zweckes hindrängend sieht sich das Ich nicht nur aus der geschehenden Wirklichkeit in eine seiende Wirklichkeit hineingestellt, sondern auch noch aus dem Seienden in ein Nichtseiendes hinausgerückt, womit die Tendenz zur Abtrennung der ›Bewußtseinsinhalte‹ vom je gegen­ wärtigen Erlebnisinhalt einhergeht« (Klages 1929b, S. 629). Je stärker die Bestimmung durch den Willen, desto mehr wird ›der Zug der Bilder‹, das pathische Hingegebensein an die Welt verhindert. »Ein nichts als wollendes Wesen befände sich im Zustand völliger Entsinnlichung« (ebd., vgl. auch Lersch 2011, S. 141ff.; Preusser 2015).

116 Rothschild an Klages Jerusalem, 19. 2. 49 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Für Ihren freundlichen Brief vom 31.1. danke ich Ihnen sehr. Ich weiss, dass das, was Sie über Stil, Wiederholungen und Länge des Manuskriptes sagen, richtig ist, und ich will nur die Stellungnahme des Verlegers abwarten, um mir genauer zu überlegen, wie ich diese Länge vielleicht vermeiden oder ausbessern kann. Der Nachteil der Darstellung liegt wahrscheinlich vor allen Dingen darin, dass das Werk mehr den Gang meiner geistigen Arbeit bei der Erforschung der behandelten Probleme darstellt als die Ergebnisse dieser Arbeit für einen Leser zu entwickeln und zu gestalten. Auf manche Themen bin ich auch eingegangen, weil sich Fragestellungen für weitere Forschun­ gen aus ihnen ergaben. So glaube ich z.B., dass die bestimmenden Vor­ gänge des Zellenlebens einfacher Natur sind, und dass eine richtige Intuition in der Fülle der Tatsachen diese massgebenden Grundlinien zu erkennen vermöchte. Die Schwierigkeit ist nur, diese Unmenge von wissenschaftlichen Befunden zu kennen und eine klare Übersicht zu gewinnen. Auf jeden Fall hat mir Ihr Urteil an den Verleger die Genugtuung gegeben, dass Sie meinen theoretischen Versuch grundsätzlich für berechtigt halten, und das bedeutet mir sehr viel. Ich bin jetzt in

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Erwartung Ihrer »Thesen« auf Grund des ersten Eindrucks der Lek­ türe. Die hebräische Sprache ist für mich, wie für die meisten, die nicht in jungen Jahren in das Land gekommen sind, eine mühselige Aufgabe, in bezug auf die ich zweifele, ob ich sie je zur Zufriedenheit bewältigen werde. Die Umgebung, in der ich lebe, spricht im wesentlichen deutsch, und auch in meiner Privatpraxis habe ich es vorwiegend mit deutschsprechenden Patienten zu tun. So fehlt vor allem die Übung im Hebräischen. Eine Schwierigkeit, die Sie übrigens besonders interessieren dürfte, ist die graphologische Deutung der hebräischen Handschrift. Ich pflege mir von meinen Patienten am Anfang der Behandlung eine Schriftprobe geben zu lassen, um meinen Eindruck von der Persönlichkeit dadurch zu ergänzen und wenn möglich die zu Konflikten disponierenden Eigenschaften des Charakters schneller zu erfassen. Ich habe keine gründliche Übung im Handschriftendeuten, aber ich komme doch an Hand Ihrer Anweisungen in »Handschrift und Charakter« zu für mich brauchbaren Ergebnissen. Mit den von rechts nach links geschriebenen hebräischen Handschriften weiss ich aber vorläufig noch nichts anzufangen. Ich habe jetzt begonnen, von Patienten, die sowohl in einer europäischen Sprache wie auch hebräisch schreiben, Proben in beiden Schriftarten zu sammeln, um Erfahrungen darüber zu gewinnen, wie Schrifteigenschaften der latei­ nisch geschriebenen Probe in der hebräischen erscheinen. Hoffentlich haben Sie die Störung Ihres Wohlbefindens wieder ganz überwunden. Es erregt ja Bewunderung, dass Sie mit Ihren Jahren noch ein solches Werk gestalteten wie »Die Sprache als Quell der Seelenkunde« und dass Sie so lebendig, interessiert und konzentriert an der Arbeit sind. Indem ich Ihnen nochmals für alle die Mühe danke, die Sie sich mit meinem Manuskript machen, verbleibe ich verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, linke Seite oben: lateinische Lettern, rechte Seite oben: hebräische Lettern. DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/10 Kopie: Nachlass Rothschild

Brief vom 31.1.: Der Brief von Klages vom 11.2.49 [115 K] samt Thesen war noch nicht angekommen.

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Die hebräische Sprache ist für mich... eine mühselige Aufgabe: s. Anmerkung zu 113 R. »Die Sprache als Quell der Seelenkunde«: Die Arbeit erschien 1948 bei Hirzel in Zürich.

117 Rothschild an Klages Jerusalem, 24. 2. 49 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Gestatten Sie mir, Ihnen zu schreiben, dass die Lektüre Ihrer Thesen für mich einen aussergewöhnlichen geistigen Genuss und eine anre­ gende Belehrung bedeutet hat, obwohl es doch nur wenige Seiten sind. Aber alle Ihre Bemerkungen betreffen Gegenstände, die mich sehr angehen, und da ist diese Wirkung schon verständlich. Der metaphysische Dualismus in den von mir verwendeten Grundbe­ griffen ist weder Ziel noch Ausgangspunkt meines Denkens gewesen. Ich habe nur eines Tages, nachdem ich mich schon geraume Zeit bemüht hatte, die Dynamik seelischer Phänomene in ihrer Verbin­ dung mit der Funktion des Zentralnervensystems zu verstehen, mit Erstaunen und vielleicht sogar mit Bestürzung bemerkt, dass ich mit dualistischen Grundvorstellungen arbeitete. Es schiene mir, dass Vorgänge, die ihrer Qualität nach zum Tode eines Organismus führen könnten, schon von seiner Geburt an in ihm auftreten, dass sie aber durch eine besondere Anstrengung des Lebens immer wieder überwunden werden und dadurch sogar zum Aufbau eines individu­ ierten Lebens beitragen. Wenn Sie erklären, dass nur die Funktion des Schauens für das Leben wesentlich ist, weshalb und woraus entwickelt sich dann die Funktion des Empfindens? Diejenigen vitalen Erregungs- und Reaktionsformen, die zur Empfindung führen, wür­ den aber vermutlich den Organismus töten, würden nicht Vorgänge des Schauens ein Gegengewicht bilden. Im übrigen unterscheidet sich meine dualistische Hypothese von der alten Gegenüberstellung von Körper und Seele, nachdem ich ja auch in den leblosen Körpern dasselbe Prinzip, wenn auch latent, als wir­

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kend annehme, das in den belebten dominiert. Und wenn auf S. 1132 des »Widersachers« die »Elementarseelen« als unentbunden und »stumm« in der Materie wirkend geschildert werden, so schien mir in diesen Worten nicht nur eigenes Erleben zu einem Wissen geformt, sondern ich glaube auch jetzt noch, dass die Hypothese von dem latenten Wirken des Eros in der leblosen Materie und dessen »Ent­ bindung« im Erlebnisvorgang diesen Anschauungen entspricht. Trotz dieser Annahme des lebenzeugenden Prinzips in der nicht-organis­ mischen Materie scheint mir der Unterschied zwischen Belebtheit und Leblosigkeit und der Übergang von Organismen aus dem Zustand der Belebtheit in den der Leblosigkeit von einem zu dem lebenerzeugen­ den gegensätzlichen Prinzip Zeugnis abzulegen. Im übrigen warnen mich eigene parapsychologische Erfahrungen und manches, was ich in dieser Beziehung gelesen habe, in bezug auf metaphysische Anschauungen dogmatisch zu sein. Ich bin mir bewusst, dass der Name »Todestrieb« für dieses Gegen­ prinzip des Eros nicht glücklich ist und dass ich das Wirken dieses Prinzips auch in manchen Zügen anders sehe als Freud. Aber es geht mir hier so wie bei vielen anderen Begriffen der Freud’schen Theorie, die ich verwende. Ich wollte dieses System umbauen, ergän­ zen, berichtigen, aber ich wollte kein anderes System an seine Stelle setzen. Schliesslich hat Freud als erster eine umfassende dynamische Theorie seelischer Vorgänge ausgebaut bzw. angestrebt, und diese Grundlage schien mir tragfähig genug, solche Zusätze und Umbauten zu gestatten. Mir fehlt ausserdem die Breite des geistesgeschichtlichen Wissens und die Darstellungskraft, teils auch das Selbstbewusstsein, um mit einem eigenen System und mit selbst geschaffenen Bezeich­ nungen aufzutreten. Zur Gegenüberstellung von Regulationsprinzipien und Urtrieben bin ich durch das Verhältnis zwischen dem Kleinhirn und dem übrigen Zentralnervensystem angeregt worden. Sowohl die makroskopische wie die mikroskopische Anatomie und die Physiologie begründen eine solche Gegenüberstellung, und diese Auffassung ist später durch Einsicht in die Funktion der Nebennierenrinde und durch die Analyse der Phänomene der Sexualität erhärtet worden. Zugeben muss ich, dass sich in meine Darstellung eine Personifikation der Prinzipien eingeschlichen hat. Einige Zeit nach Beendigung des Manuskriptes fing ich an, mir darüber Gedanken zu machen. Es lassen sich aber Stärke und Wechsel der regulativen Triebe wie auch ihr Einfluss auf die Wahl des dominierenden Erlebnisses unter den jeweiligen

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Erlebnisdispositionen rein dynamisch aus dem Zusammenwirken der regulativen Triebe und der Urtriebe verständlich machen. Ich denke, dass ich eine kurze vielleicht nur andeutende Behandlung dieses Problems in das Manuskript noch einfügen werde. Auch Ihre 9. These betrifft Fragen, in denen ich meine Darstellung für ergänzungs- und verbesserungsbedürftig halte. Ich glaube an sich schon die Richtung zu sehen, in der die weitere Klärung zu finden ist. Aber in den zentralnervösen Vorgängen bei der Entwicklung der Raum-, Ort- und Bewegungserlebnisse wirken mehrere Faktoren in einer so komplizierten Weise zusammen, dass eine gründliche Neubearbeitung des Themas mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, als ich gegenwärtig dafür frei machen kann. Jedoch würden diese Kor­ rekturen nicht den Grundgedanken dieses Teils der Arbeit betreffen, die Bedeutung der Statik für die Entstehung des Ichs, sondern nur die Analyse der Faktoren, die bei der Ausbildung des statischen Tonus und des Anschauungsraumes eine Rolle spielen. Zu 13: Eine Verbindung zwischen der Regulation des Erlebens durch das Nirwanaprinzip und dem Zustand, den die Buddhisten als Nir­ wana bezeichnen, scheint mir nicht unwahrscheinlich, nachdem das Wesen dieser Regulation darin besteht, das Leben zu opfern, um von dem Tod nicht zerbrochen zu werden. Die Verschmelzung als Erlebnisphase wird durch innere Entspannung und Passivität in einem Masse ausgedehnt, dass sie durch keinen Reiz, auch durch Schmerz und Leid nicht mehr gestört wird, was allerdings voraussetzt, dass Inhalt einer solchen Verschmelzung kein Ziel ist, das zu seiner Ver­ wirklichung Behauptung dem Tode gegenüber verlangt. Es kann ein starker Strom des Eros in einem solchen Erleben sein, aber er ergreift nicht das Individuum, sondern er geht von ihm aus; es ist eine Umkehr des Weges, auf dem im Abendland ekstatische Seligkeit erreicht wurde. Wenn diese Regulation auch an Hand des Schlaferlebnisses erworben wurde, so tritt sie doch im weiten Umfang auch bei anderen Erlebnissen auf und könnte deshalb sehr wohl die Führung zu dem Zustand des »Nirwana« inne haben. Zu II: Freud: Das Ich und das Es ist 1923 erschienen. Freud hat den Namen »das Es« unmittelbar von Groddeck: »Das Buch vom Es« übernommen, das ebenfalls 1923 herausgekommen ist, fügt aber folgende Anmerkung bei: »Groddeck selbst ist wohl dem Beispiel Nietzsches gefolgt, bei dem dieser grammatikalische Ausdruck für das

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Unpersönliche und sozusagen Naturnotwendige in unserem Wesen durchaus gebräuchlich ist«. Im übrigen erforschten Sie mehr die Teilhabe des Menschen am Reichtum des Lebens, Freud mehr an seiner Not, was in Verbindung mit der verschiedenen Weltanschauung dazu beigetragen hat, dass Ihrer beider Werke so wenig Berührungspunkte zeigen. – Ihr Ver­ hältnis zu Palágyi habe ich im wesentlichen so gesehen, wie Sie es darstellen. Ich wünschte sehr, ich könnte mich über manche Fragen, die Sie noch erwähnen, mit Ihnen unterhalten. Ich weiss sehr gut, dass die ja nur wenigen Gespräche mit Ihnen mir seinerzeit Eindrücke und Gedanken vermittelt haben, die ich Ihren Werken nicht entnommen hatte. Aber ich habe Palästina, seit ich hier eingewandert bin, nicht mehr verlassen, und ich zweifle, ob die Verhältnisse mir gestatten werden, an weite und längerdauernde Reisen zu denken. Vorläufig bin ich ganz davon beherrscht, mich an die neue klinische Arbeit anzupassen, was mir bei meiner Schwerfälligkeit, der langen Entwöhnung von klini­ scher Tätigkeit und dem Sprachenbabel noch wie ein sehr weiter und mühevoller Weg erscheint. An ernsthafte wissenschaftliche Arbeit kann ich zur Zeit gar nicht denken, aber ich sehe sehr viel und sammle Eindrücke, die einmal nützlich sein können. Ausserdem warte ich, was mit dem Manuskript werden wird. Von dem Psychiater habe ich noch keine Nachricht erhalten. Indem ich Ihnen nochmals für Ihre ausführliche Stellungnahme zu dem Manuskript danke, verbleibe ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, hschr. korr. u. erg., gedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben: hebräische Lettern, hschr. korr. und erg. Randbemerkungen von Klages: Wortlaut s.u., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/11 Kopie: Nachlass Rothschild

Randbemerkung Klages’ neben Abschnitt: Der metaphysische Dualismus ... Gegengewicht bilden: »Die Polarität von Empf. und Schauung hat nichts zu tun mit Dualismus. Und R. weiss das.« Randbemerkung Klages’zu: Im übrigen unterscheidet sich ... diesen Anschau­ ungen entspricht: »Überraschendes Missverständnis eines tatsächlich wesentlichen Befundes!«

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Randbemerkung Klages’ zum Satz: Ich bin mir bewusst, dass der Name »Todestrieb« für dieses Gegenprinzip des Eros nicht glücklich ist..: »Todestrieb = ›nicht glücklich‹ = irrig! Bleibt aber zu Ehren Freuds!« Randbemerkung Klages’ neben Abschnitt: Auch ihre 9. These ... eine Rolle spielen: »Hiermit kann man einverstanden sein. Zwar ist R.s Ansicht unrich­ tig, aber für diese Arbeit unwesentlich.« Freud: Das Ich und das Es ist 1923 erschienen: G.W., Bd. XIII. Groddeck: »Das Buch vom Es«: Groddeck (1923): Das Buch vom Es. Psycho­ logische Briefe an eine Freundin. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag. »Groddeck ... gebräuchlich ist«. Diese Anmerkung in »Das Ich und das Es« (Freud 1923) bezieht sich auf den Passus: »Wir ... verzagen nicht daran, der Einsicht Groddecks ihre Stelle in dem Gefüge der Wissenschaft anzuweisen. Ich schlage vor, ihr Rechnung zu tragen, indem wir das vom System W ausgehende Wesen, das zunächst vbw ist, das Ich heißen, das andere Psy­ chische aber, in welches es sich fortsetzt und das sich wie ubw verhält, nach Groddecks Gebrauch das Es« (Freud 1923, S. 251).

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118 Rothschild an Klages Jerusalem, 16. 11. 49 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Schon lange drängt es mich, an Sie zu schreiben. Aber alles, was ich in bezug auf den Druck meines Manuskriptes unternahm, endete zunächst mit Ungewissheiten. Inzwischen sieht aber die Sachlage folgendermassen aus: Der Verlag Hirzel ist, in erster Linie wohl dank Ihrer Fürsprache, bereit das Buch herauszugeben. Die Subvention, die er verlangt, habe ich zusammengebracht. Es ist mir auch gelungen, die Genehmigung zur Beschaffung der Devisen für die Überweisung des Geldes in die Schweiz zu erhalten, was bei dem Mangel an Devisen eine besonders schwierige Angelegenheit war. Nun will aber der Verlag Hirzel mit dem Druck nicht eher beginnen, als bis ich persönlich in die Schweiz komme, um evtl. Änderungen, die sich aus Rücksprachen mit Ihnen und Herrn Dr. Binswanger ergeben, dort vor dem Beginn des Satzes an dem Manuskript vornehmen zu können. Da ich es sowohl aus persönlichen Gründen wie im Interesse des Buches sehr begrüssen würde, wenn ich mich mit Ihnen besprechen könnte, habe ich mich mit dieser Idee des Verlages angefreundet. Eine solche Reise ist zwar für mich, nicht zum wenigsten wegen der Schwierigkeit der Devisenbeschaffung, keine einfache Angelegenheit. Aber da Herr Dr. Binswanger mir in Aussicht gestellt hat, dass ich dort sein Gast sein könnte, und ich Hoffnung habe, einige wenige Devisen für die Reise zu erhalten, ist der Plan wohl durchzuführen. Leider muss ich aber mit der Reise warten, bis das Wintersemester vorüber ist, da ich jetzt mit den Vorlesungen über medizinische Psychologie begonnen habe. Diese Vorlesungen machen mir vor allem wegen der hebräischen Sprache grosse Mühe. Ich habe weder Begabung noch Neigung zum Lehrer, muss aber diese Aufgabe übernehmen, wenn ich weiter im Zusammenhang mit der Universi­ tätsklinik arbeiten will, und dies ist für mich aus Gründen meiner wissenschaftlichen Arbeit sehr wichtig. So werde ich kaum vor Mitte März fahren können. Es ist noch eine lange Zeit bis dahin. Ich hoffe

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nur, dass Sie Anfang des Frühjahrs 1950 in Zürich sein werden, damit ich Sie sprechen kann. Inzwischen verbleibe ich mit den besten Wünschen für Ihr Wohlbe­ finden und verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr., gedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben: hebräische Lettern, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/12 Kopie: Nachlass Rothschild

Dr. Binswanger: s. Anmerkung zu 114 K. Zwischenzeitlich setzte sich Bins­ wanger mit Rothschild mit Schreiben vom 21. Februar 1949 in Verbindung. Er stellt sich ihm als Anhänger der Neopsychoanalyse Schulz-Henckes vor: »Diese Psychotherapeuten unterscheiden sich insofern von den orthodoxen, als sie die Autonomie des Prägenitalen als wissenschaftliche Voraussetzung ihrer Tätigkeit akzeptieren, sich ferner von jeglicher Metapsychologie im Sinne Freuds distanzieren. Im übrigen vertreten sie die Freud’schen Grund­ konzeptionen mit absoluter Unerschütterlichkeit und Konsequenz.« Er hielt sich in etwa an die Weisungen von Klages (s. S. 30f.): »Der Biologe sowie der theoretisch orientierte Mediziner wird aus einer solchen Riesenfund­ grube, wie Ihr Werk sie darstellt, nur wenige Details sich zu eigen machen können. Der Durchschnittspsychiater schaltet aus Mangel an der hier erfor­ derlichen Vorbildung schlechtweg aus. Von den Psychotherapeuten werden nur die orthodoxen Freudianer (alten Schlages) das Metapsychologische, soweit es auf den Meister zurückgeht, mitmachen, dagegen die im strenge­ ren Sinn erscheinungswissenschaftlichen Teile überhaupt nicht verstehen. Die Neopsychoanalytiker könnten grade für diese Teile gewonnen werden, wenn dieselben nicht mit der Freud’schen Metapsychologie vermengt wären. Solchen Begriffen wie des Eros, Thanatos, des Nirwanaprinzips usw. werden sie mit Einwänden begegnen, die auch ich teilen müsste, und welche, wie ich glaube, schwer zu entkräften sind« (Brief Binswanger an Rothschild v. 21.2.49, Nachlass Rothschild).

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119 Klages an Rothschild Kilchberg, den 24. November 1949 Herrn Dr. Salomon Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Besten Dank für Ihre freundlichen Zeilen vom 16. ds. Mit Vergnügen höre ich, dass Ihre prinzipiell zum guten Ende gekommenen Verhandlungen mit Hirzel mir im Frühjahr 1950 ein Wiedersehen mit Ihnen in Aussicht stellen. Mein Gesund­ heitszustand ist seit Jahr und Tag leider so unerfreulich, dass ich mir Vortragsreisen nur noch in homöopathischen Dosen erlauben kann; und so dürfen Sie »nach menschlichem Ermessen« mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf rechnen, mich im März hier anzutreffen. Sie werden bei Dr. Binswanger eine so behagliche und schöne Häuslichkeit finden, dass Ihnen, wenn ich nicht irre, der Abschied missfallen wird. Die Besprechungen über Ihr Buch jedoch dürften sich auf den neurologischen Teil beschränken, für den ich nicht zuständig bin. Hinsichtlich des wesenswissenschaftlichen Teils sind Ihnen meine abweichenden Auffassungen bekannt, sogar teilweise schon mit Begründung. Sie werden, wie Sie es müssen, bei den Ihrigen bleiben. Nur in einem Punkte könnte ich vielleicht ein wenig mitberaten, ich meine betreffend Kürzungen. – Dafür werden wir uns umso unbehinderter peripatetischen Unterhaltungen hingeben können, deren ich in meinem fast völligen Einsiedlertum weitgehend entbehre. – Dass Sie auf Hebräisch Vorlesungen halten müssen und können, erregt meine grenzenlose Bewunderung als eines Menschen, der niemals imstande war, eine Fremdsprache zu erlernen. Mit den besten Erfolgswünschen und freundlichen Grüssen Ihres ergebenen: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/9

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120 Rothschild an Klages Jerusalem, 20. 2. 50 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr.36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Besten Dank noch für Ihren freundlichen Brief vom 24.11.49. Inzwi­ schen nähert sich das Semester seinem Ende und ich kann mit den Reisevorbereitungen beginnen. Wenn es nach meinen Plänen geht, werde ich am 15. März nach Zürich fliegen. Ich bin sehr froh, Sie wiedersehen zu können und bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mich in bezug auf die Kürzung des Manuskriptes beraten wollen. Auch habe ich das Gefühl, dass das Manuskript in einer kürzeren Fassung den Leser mehr ansprechen könnte. Leider hatte ich durch die Vorberei­ tungen für die Vorlesungen, die zu meiner laufenden Arbeit dazu kamen, keine Zeit, das Manuskript noch einmal vorzunehmen. Die Vorlesungen gingen schlecht und recht. Ich fürchte, dass ich mich mit meinen Ausführungen den Studenten oft nicht genügend habe verständlich machen können. Daran war zum Teil schuld, dass ich Tatsachen und Anschauungen von meinem persönlichen Standpunkt aus darzustellen versuchte, und dass das Phänomen der Individuation zumal nicht leicht zu verstehen ist. Dann war die Schwierigkeit der Sprache. Aber der Zwang zu sprechen hatte das Gute, dass ich im praktischen Gebrauch der hebräischen Sprache ein ganzes Stück voran gekommen bin. In der Hoffnung und Erwartung, Sie bald persönlich zu sehen, bin ich verehrungsvoll grüssend Ihr sehr ergebener S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr., gedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben: hebräische Lettern, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/13 Kopie: Nachlass Rothschild

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121 Klages an Rothschild Kilchberg, den 3. März 1950 Sehr geehrter Herr Dr.: Es ist zum Erstaunen, dass Sie nun wirklich, wenn alles gut geht, am 15. ds. nach Zürich fliegen werden. Leider finden Sie mich nicht mehr als den, der ich 1935 war, sondern stattdessen ein Wrack, das von den Stürmen des Lebens und den Plagen des Alters erzählt. Meine Arbeitskraft ist auf etwa den fünften Teil der ehemaligen zusammengeschrumpft. Hoffentlich werden Sie Ihren Aufenthalt, der übrigens hier jederzeit verlängerbar ist, nicht zu kurz bemessen, damit es uns gegönnt sei, ihm das Mögliche an Wiedersehen abzugewinnen. Also gute Reise und auf bald! Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Postkarte, Luftpost, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/10

122 Rothschild an Klages Zürich, den 10. April 1950 Sehr verehrter Herr Dr. Klages, Anbei sende ich Ihnen eingeschrieben die beiden Arbeiten mit bestem Dank zurück. Wie ich Ihnen schon am Telephon sagte, hatte das schöne Wetter mich zu einem Ausflug in die Berge verführt, sodass mir zu einer gründlichen Lektüre nicht die Zeit blieb. Aber etwas, was vom Stand­ punkt des Physiologen als nicht zutreffend zu gelten hätte, ist mir in Ihren Ausführungen nicht begegnet. Jedoch bedaure ich, dass ich nicht die Zeit hatte, die Abhandlungen gründlicher durch zu arbeiten. Das Verhältnis der Statik zur Kinetik ist ja schon ein wichtiges Thema der »Symbolik des Hirnbaus«, und die Analyse der Entwicklung und Lösung von »Spannung« innerhalb des Erlebnisvorganges als Mittel zur Überwindung von Gegensätzen gehört zu den zentralen Aufgaben meines neuen Buches. Ich habe sogar das Gefühl, als ob es von den Ergebnissen dieser neuen Arbeit aus möglich wäre, zur Klärung des Verhältnisses zwischen Schreibdruck und Versteifung noch einiges beizutragen, und werde mich vielleicht deshalb noch einmal eingehender mit der Frage befassen.

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Ich danke Ihnen nochmals für Ihr Interesse und Ihre Bemühung für mein Manuskript und bin mit verehrungsvollen Grüssen Ihr Salomon Rothschild Original: Ts, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/14

die beiden Arbeiten: Einmal dürfte es sich um einen Sonderdruck einer 1942 in der von Philipp Lersch herausgegebenen »Zeitschrift für angewandte Psychologie und Charakterkunde« erschienenen Arbeit Klages’ (Randbe­ merkungen zu Pophals ›Psychophysiologie der Spannungserscheinungen in der Handschrift‹) handeln. Hier kritisiert Klages ausführlich einen zwei Jahre zuvor erschienenen Beitrag seines Graphologieschülers Rudolf Pophal. Er bestreitet die Geltung psychophysiologischer Zuordnungen, die Pophal vornimmt: wenn er u.a. der Verkrampfung eine »unzweckmäßige Enthem­ mung« unterstellt (S. 52). Er kritisiert mangelnde Differenzierung in den Zuordnungen von Versteifung, Spannung, Reibungsdruck, Willenskraft, echtem und unechtem Druck usw. Welche andere Arbeit gemeint ist, wird aus dem Zusammenhang nicht deutlich. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Sonderdruck einer 1949 erschienenen Arbeit über die Grenzen der Graphologie mit dem Titel »Was die Graphologie nicht kann – Ein Brief«. Hier verweist Klages auf die grund­ legende Vieldeutigkeit von verschiedenen Schriftmerkmalen und darauf, was ›grundsätzlich‹ nicht aus einer Schrift gedeutet werden kann.

123 Rothschild an Klages 14. 8. 50 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg bei Zürich Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Dr. Klages! Schon lange habe ich den Wunsch, Ihnen zu schreiben und von dem Fortgang in der Herstellung des Buches zu berichten. Aber es fällt mir schwer, mich aus den täglichen Arbeiten und stets neuen beruflichen Anforderungen herauszuziehen und mich in Ruhe an einen Brief zu setzen. Auch an wissenschaftliche Arbeit kann ich jetzt nicht denken. Der Betrieb macht mich zu unruhig und lässt mir bei meiner langsamen Arbeitsweise zu wenig Zeit. Auf der anderen Seite möchte

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ich auf die klinische Tätigkeit nicht verzichten. Fast jeden Tag lernt man neue Charaktere und interessante Persönlichkeitsentwicklungen kennen, die Erkennung ihrer Krisen, nervösen Zusammenbrüche und Symptombildungen ist immer wieder eindrucksvoll, die Aufgabe, sie zu verstehen und ihnen durch das Verständnis zu helfen, spannend. Besonders möchte ich auch Erfahrungen sammeln über Unterschiede zwischen Charakteren, die an Psychoneurosen und solchen, die an den sog. psychosomatischen Krankheiten erkranken. Ich habe das Thema aus Mangel an Erfahrung in dem neuen Buch nicht behandelt. Von diesem Buch erwarte ich jetzt den Umbruch. Ich hatte damit gerechnet, ihn schon seit 14 Tagen hier zu haben, aber der Verlag scheint am Porto gespart und ihn mit gewöhnlicher Post geschickt zu haben. Von der vielen Literatur, die ich laufend zu durchfliegen und zu lesen habe, um mich über neue Tatsachen und Auffassungen zu unterrich­ ten, möchte ich Ihnen von zwei Arbeiten berichten. Von Prof. Claus Conrad, Homburg-Saar, bekam ich auf meine Bitte Sonderdrucke seiner Strukturanalysen hirnpathologischer Fälle zugeschickt. Diese Untersuchungen sind ausgezeichnet und bedeuten meines Erachtens einen Fortschritt auf dem Gebiet der Aphasielehre. Seine Auffassung der Hirnfunktionen hat manche Verwandtschaft mit der meinen, so dass ich sein Material zur Exemplifizierung meiner Anschauungen verwerten könnte. Was er im Anschluss an Sanders als Aktualgenese von Wahrnehmungen und Handlungen beschreibt, wird von mir jedoch im Anschluss an Ihre Arbeiten als Erlebnisvorgang dargestellt. Ich glaube, dass Ihr Begriff des Erlebnisvorganges hier grundsätzlich richtiger ist, weil er das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt besser zu erfassen gestattet als der von der Gestalttheorie her ent­ wickelte Begriff der Aktualgenese. Aber phänomenologisch besteht doch eine wesentliche Übereinstimmung, und ich hoffe deshalb, dass dieser Autor auch Verständnis für meine neue Arbeit haben wird. Ich habe jedenfalls die Absicht, ihm das Buch nach seinem Erscheinen zuzuschicken. Was mich ausserdem beeindruckt hat, ist ein Buch von Prof. Rhine: »The Reach of the Mind«. Rhine hat mit MacDougall an der Duke University in den U.S.A. zusammengearbeitet und ist vielleicht sein Nachfolger dort auf dem Lehrstuhl der Psychologie. Er experimentiert auf dem Gebiet der Parapsychologie. Nun stimmt das, was er in diesem Buch über extrasensorielle Perzeption zusammenstellt, mit

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eigenen experimentellen Erfahrungen überein, so dass ich geneigt bin, auch seine Beobachtungen über die Beeinflussung des Falles von Würfeln durch Vorstellungen und Wünsche für Tatsachen zu halten. Auch was er theoretisch über die Beziehung zwischen dem rezeptori­ schen und effektorischen Phänomen schreibt, ist mir sehr interessant. Was dort bewiesen wird, ist ja nicht mehr und nicht weniger als eine grundsätzliche Fähigkeit des Menschen zu zaubern, wenn diese Fähigkeit auch nicht bei allen Menschen erscheint und auch dann, wenn sie auftritt, keineswegs von dem Willen beherrscht wird. Im übrigen spricht man hier viel von der Wirkung der Nebennieren­ rindenhormone. Aber was bisher darüber herausgekommen ist, ist in allen Einzelheiten nur eine Bestätigung der Auffassung der Funktion dieser Hormone, die ich in der jetzt im Druck befindlichen Arbeit dargestellt habe. In der Hoffnung, dass Sie sich wohl befinden, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr S. Rothschild Original: Ts, vorgedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben: hebräische Lettern. Hschr. korr. u. erg., Anstr. Klages, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/15 Kopie: Nachlass Rothschild

Claus Conrad: der Psychiater und Neurologe Klaus Conrad (1905–1961), machte u.a. berufliche Erfahrungen bei Otto Pötzl in Wien, an der Salpetrière in Paris. Er wurde Mitglied der NSDAP, des NS-Dozentenbundes und des NS-Ärztebundes (Klee 2005, S. 95f.). Während des Krieges arbeitete er in einem Lazarett für Hirnverletzte, nach dem Krieg als Professor in Homburg/ Saar und in Göttingen. Er bezieht sich in seiner Theorieentwicklung auf die Gestaltlehre, insbesondere auf die Weizsäckers, auch auf Goldstein. Sein Denken hat insofern Ähnlichkeiten mit dem Denken Rothschilds, als auch er einen komplexen Weg der Erklärung einschlägt und Erklärungsversuche nach einfachen Ursache-Wirkungs-Relationen verwirft. »Das wesentliche dieser Betrachtungsweise scheint mir zu liegen einmal in der Erkenntnis, daß bei der corticalen Läsion nicht ein Depot von mnestischen Spuren, Engrammen etc. zugrunde geht, daß nicht irgendwelche Verbindungsbah­ nen, Leitungsbahnen oder Associationen durchrissen werden, daß über­ haupt Psychisches nicht auf physischen Leitungen geleitet werden kann, wie man das immer und immer wieder lesen kann, sondern daß die Läsion der Rinde, also jede Unterbrechung ihrer Integrität einmal – anatomisch gespro­ chen – zu einer Verkleinerung des Systems führt, zum anderen – physiolo­ gisch gesprochen – zu einer Reduktion des energetischen Potentials und

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endlich – psychologisch gesprochen – hierdurch Gestaltungsprozesse nicht mehr bis zur völligen Durchgestaltung laufen können, sondern auf Vorstu­ fen, nämlich eben den Stufen der Vorgestalt stecken bleiben« (Conrad 1948, S. 69). Rhine: Der amerikanische Botaniker und Psychologe Joseph Banks Rhine (1895–1980) gründete zusammen mit William McDougall 1935 das erste parapsychologische Laboratorium. »The Reach of the Mind« erschien 1964 in New York. MacDougall: William McDougall (1871–1938) war ein englisch-amerikani­ scher Psychologe, der die zeitgenössische Theorieentwicklung in seinem Fach stark beeinflusste. Er stand mit Klages in Kontakt. In das »Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« bezieht sich Rothschild an mehreren Orten auf ihn und seine Schriften.

124 Rothschild an Klages Jerusalem, 7.X.50 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg/Zch Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Wie mir der Verleger mitteilt, ist mein Buch fertig, und dieser Tage wird Ihnen wohl ein Exemplar zugehen. Bei dieser Gelegenheit danke ich Ihnen nochmals herzlich für das Interesse, das Sie dem Manuskript gewidmet haben, und die Ratschläge, die Sie mir gegeben haben. Darüber hinaus brauche ich wohl nicht zu betonen, dass Methoden und Grundanschauungen meiner Arbeiten aus Ihren Werken stam­ men, und ich Ihnen dadurch noch in einem tieferen Sinn verpflichtet bin. Das ist aber aus dem Buche selbst ersichtlich. Ich habe jetzt ein Buch vom G.W. Allport, Professor an der Harvard University, mit dem Titel »Personality« gelesen. Es ist das beste Buch, das ich bis jetzt von einem »Schulpsychologen« über diesen Gegen­ stand in die Hand bekommen habe. In Amerika findet ja die Psycho­ logie eine grosse praktische Anwendung, und das spiegelt sich in diesem Buche. Fast alle Versuche, die Persönlichkeit wissenschaftlich zu erfassen, werden durchgesprochen, und das Mass ihrer praktischen Verwertbarkeit überprüft. Ihren Anschauungen wird dabei ebenfalls

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mehr Raum gewährt, als es sonst in der amerikanischen Literatur üblich ist. Wie ich gehört habe, soll jetzt von diesem Buch auch eine deutsche Übersetzung herausgekommen sein. Ist Ihnen dieser Autor persönlich bekannt? Es würde mich interessieren, mit ihm in Verbindung zu treten und ihm mein neues Buch zuzuschicken. Ich wünsche und hoffe, dass Sie sich wohl befinden und bin mit verehrungsvollen Grüssen Ihr sehr ergebener S. Rothschild Original: Ts, vorgedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben: hebräische Lettern, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/16 Kopie: Nachlass Rothschild

ist mein Buch fertig: »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« erschien 1950 bei S. Karger in Basel, nicht bei Hirzel in Zürich. G.W. Allport: Gordon W. Allport (1897–1967), amerikanischer Psychologe, der von der Klagesʼschen Graphologie und Charakterologie beeinflusst war. Klages kannte ihn und frug bei ihm nach einem geeigneten Übersetzer für einige seiner Arbeiten wie »Grundlegung der Wissenschaft vom Aus­ druck« mit Schreiben vom 12.4.1948 nach (DLA Marbach, Nachlass Klages 61.3882/1–2).

125 Klages an Rothschild Kilchberg, den 20. Oktober 1950 Herrn Dr. Salomon Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Auf eine monatelange Leidenszeit folgte eine vierzehntägige Bronchitis, von der ich soeben mich zu erholen im Begriffe bin. Aber die Müdigkeit ist noch gross und die Kräfte sind schwach. So erklärt sich die Verspätung meiner Antwort auf Ihre ausführlichen Zeilen vom 14. VIII. und Ihren zweiten Brief vom 7. ds. Es freut mich sehr zu hören, dass ihr Buch nun die »Öffentlichkeit« erblickt und ich sehe gern dem Exemplar entgegen, das Sie mir freundlicherweise in Aussicht stellen.- Prof. Allport ist mir zwar dem Namen nach, sonst aber nicht bekannt. Ganz

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unmöglich ist es gleichwohl nicht, dass ich irgendwann einmal mit ihm einen Brief gewechselt habe. Wenn Sie bedenken, dass ich 1897 charakterkundliche Veröffentlichungen begann und zwar damals in unausdenkbar krassem Gegensatz zur Schulpsychologie, dass ich sämtliche Grundbegriffe konzipiert und begründet habe, deswegen auf oft komische Weise verspottet wurde und hernach sehen musste, wie man unter sorgfältiger Verschweigung der Quelle vieles von mir herübernahm, so werden Sie verstehen, weshalb ich seit Jah­ ren Scheu trage, von neuzeitlichen Erscheinungen dieses Gebietes Kenntnis zu nehmen. Immerhin, sollte Allports Buch in deutscher Übertragung herauskommen, so wird mich Ihre Kennzeichnung wahrscheinlich ermutigen, es zu lesen. Die Veröffentlichungen des von Ihnen erwähnten Klaus Conrad scheint sehr Wichtiges zu berüh­ ren. Das Gebiet der Aphasielehre bedarf dringend der Durchforstung und Erweiterung. Für heute mit herzlichen Grüssen Ihres: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg bei Zürich«, Kurzbriefformat, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/11

Claus Conrad: s. Anm. zu 123 R.

126 Klages an Rothschild Kilchberg, den 8. November 1950 Herrn Dr. S. Rothschild 3. Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Da ich gemäss gewohnter Tücke des Objekts Ihre vorigen Zeilen eben nicht auffinden kann, schreibe ich ein wenig ins Blaue hinein. Das ist jedoch unverfänglich, weil ich die Hauptsache nicht im Gedächtnis haben muss, da ich sie in Händen halte: ich meine »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorgan­ ges«. Sie dürfen gewiss sein, dass ich nun das Werk erst eigentlich durcharbeiten werde, sobald mein einstweilen mehr absinkendes als aufsteigendes Befinden mir die Zeit dazu lässt. Freilich werde ich aus Mangel an Kenntnissen in der Neurologie mich begnügen müssen, in die rein biologischen und wirklichkeitswissenschaftlichen Theorien

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einzudringen; und so wird die Auffassung nur lückenhaft bleiben, doch aber, wie ich hoffe, hinreichend, um mir ein verhältnismässig abschliessendes Urteil über das Gesamtwerk zu ermöglichen. Heute lassen Sie mich nur erst Ihnen danken und daran die Bemerkung knüpfen, dass ich die Ausstattung des Buches in jeder Hinsicht trefflich finde. Sie haben, scheints, diesmal mit Karger einen guten Griff getan. Sie besitzen meine »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck«. Die in Kürze erscheinende Neuauflage ist von der vorigen so gut wie gar nicht verschieden. Wenn ich mir gleichwohl erlaube, Ihnen davon ein Exemplar zusenden zu lassen, so aus folgendem Grunde. Ich musste damals aus völlig ausserwissenschaftlichen Gründen eine auf Ihre »Symbolik des Hirnbaus« bezügliche Anmerkung fallen lassen. Die nun habe ich gänzlich umgearbeitet im Hinblick auf den Sinn Ihrer Forschungen und nicht mehr nur auf irgendeine Einzelheit. Es ist die Anmerkung 40 zu Seite 188. Indem ich Ihnen weiter erfolgreiches Wirken wünsche, verbleibe ich Ihr Sie herzlich grüssender: LKlages Original: Ts, links oben Adresse überstempelt: »Seminar für Ausdruckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/12

Die in Kürze erscheinende Neuauflage: Anders als in der Ausgabe von 1936, in die Klages eine auf einen jüdischen Wissenschaftler verweisende Anmerkung nicht aufnehmen konnte/wollte, bezieht er ihn in die 7. Auflage der »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck« ein, die bei Bouvier in Bonn erschien (Wortlaut s. 128 R).

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127 Rothschild an Klages 1.12.1950 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg/Zch Rigistr. 30 Sehr verehrter Herr Dr. Klages! Ihren letzten beiden Briefen habe ich mit Bedauern entnommen, dass Sie gesundheitlich eine recht schlimme Epoche hinter sich haben. Hoffentlich geht es Ihnen jetzt wieder besser. Inzwischen habe ich auch »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« erhalten und bin ebenfalls zufrieden mit der Ausstattung. Der Text hat einige Änderungen im Verhältnis zu dem Manuskript, das Sie gelesen haben, erfahren. Der Abschnitt über die Anschauungen Bergsons, der Darstellung der Jung’schen Funktions­ typen, der Neurasthenie und der Narkolepsie sind weggefallen. Dafür sind auf der Seite 15/16 Bemerkungen über Differenzierung und Integration zentralnervöser Erregungen eingefügt; ebenso sind die Seiten 77/80, 136/7 und die Anmerkungen auf Seite 29, 34, 69, 79 dazugekommen. Die Anmerkung auf Seite 34 und die Ausführungen auf Seite 136/137 deuten mehr Problemstellungen an, als dass sie sie behan­ deln. Aber ich glaube, dass hier die Ansätze zu einem genaueren Verständnis von Einzelheiten des Erlebnisvorganges liegen, denen ich in meiner bisherigen Darstellung noch nicht gerecht geworden bin. Auch die Entwicklung des Schauens und dessen Verschiedenheit vom Vorstellen wird dann wohl klarer gefasst werden können als in dem Buche. In bezug auf die Suppressionszentren ist übrigens, wie ich kürzlich gesehen habe, in Band 119, Nr. 6 (190) der Monatsschr. für Psychiat. und Neur. eine Arbeit von einem Züricher Arzt, Dr. Peter Wormser: »Halluzinieren und Suppressionsfelder«, erschie­ nen, die in bezug auf dieses Symptom des Halluzinierens die Funk­ tion der Suppressionszentren ganz ähnlich deutet wie ich. Dem Exemplar der neuen Auflage, der »Grundlegung der Wissen­ schaft vom Ausdruck« sehe ich mit Erwartung entgegen und danke Ihnen schon jetzt herzlich dafür.

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Gestatten Sie mir bei dieser Gelegenheit, Ihnen zu Ihrem Geburts­ tage am 10.12. alles Gute zu wünschen. Ich kenne das Datum von der seinerzeit zu Ihrem 60. Geburtstag erschienen Festschrift. Vor allem wünsche ich Ihnen, dass Sie sich in dem neuen Lebensjahr gesundheitlich wohl befinden mögen. In Verehrung grüssend Ihr S. Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links oben: lateinische Lettern, rechts oben: hebräische Lettern, hschr. korr. u. erg., DLA Marbach Nachlass Kla­ ges 61.11901/17 Kopie: Nachlass Rothschild

über die Anschauungen Bergsons: Henri Bergson (1850–1941) war der fran­ zösische Protagonist der Lebensphilosophie. Rothschild gibt im Literatur­ verzeichnis der ›Regulation‹ die zentralen Werke Bergsons an: ›Zeit und Freiheit‹ (Essay sur les données immediates de la conscience, 1889), ›Mate­ rie und Gedächtnis‹ (Matière et mémoire, 1896) und ›Schöpferische Ent­ wicklung‹ (L’Évolution créatrice, 1907). Rothschild nimmt den Dualismus zwischen élan vital und der Materie bei Bergson als Analogie zu Freuds Dualismus zwischen Todestrieb und Libido und in Abgrenzung zu Klages’ Konstruktion des Geistes als eines lebensfremden und außerkosmischen Prinzips (Rothschild 1950, S. 38f.). Darstellung der Jung’schen Funktionstypen: Jung teilt die regulativen Funk­ tionen des Bewusstseins in auf die Außenwelt bezogene (ektopsychische): Empfinden, Fühlen, Denken und Intuition, und solche, die auf die psychi­ sche/psychophysiologische Innenwelt (endopsychische): Gedächtnis, Sub­ jektivität, Emotionalität und Affektsteuerung, bezogen sind (vgl. Eckart 2011, S. 181). Peter Wormser: »Halluzinieren und Suppressionsfelder« wurde 1950 in der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie (Schweiz) veröffentlicht.

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128 Rothschild an Klages 11. 1. 51 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg/Zch Rigistr.36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Inzwischen ist das Exemplar der 7. Auflage der »Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck« bei mir eingetroffen, und ich danke Ihnen sehr herzlich dafür. Die Anmerkung über die Symbolik des Hirnbaus habe ich mit Genugtuung gelesen. Damit ist wohl der Kern meiner Bemühungen charakterisiert. Allerdings ist der Zusammen­ hang mit den Naturphilosophen der Romantik im wesentlichen ein indirekter, indem ich in erster Linie durch Ihre Werke beeinflusst und zur Anwendung von Methoden ermutigt wurde, die meinen romantischen Interessen gemäß waren. Leider stecke ich in den letzten zwei Jahren so sehr in klinisch dia­ gnostischer und therapeutischer Arbeit, dass ich zu systematischer Forschung nicht komme. Ich habe Ideen, aber keine Zeit, ihnen nach­ zugehen. Es bleibt keine andere Wahl, als diesen praktischen Betrieb einzuschränken, und ich werde das auch bei der ersten Gelegenheit tun. Allerdings Pläne auf längere Sicht kann man ja in diesen politisch und wirtschaftlich so unsicheren Zeiten nicht machen. Indem ich noch zu Beginn des neuen Jahres dem Wunsche Ausdruck gebe, dass Sie in ihm wohl und zufrieden sein werden, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr S. Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links oben in lateinischen, rechts oben in hebräischen Lettern, hschr. korr.; auf dem Briefblatt befindet sich unten der hschr. Entwurf von 129 K, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/18 Kopie: Nachlass Rothschild

7. Auflage der Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck: Sie erschien 1950 beim Bouvier Verlag in Bonn. Die Anmerkung über die Symbolik des Hirnbaus: Die Anmerkung Klages’ im Wortlaut: »Die in der vorigen Anmerkung genannten Forscher stehen teils ganz, teils wenigstens der Hauptsache nach auf dem Boden der Ursachen­

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forschung; sehr verschieden von den Denkern der Romantik, die, wie bekannt, sich heranwagten an eine Sinndeutung der organismischen Formen und Vorgänge (vgl. unsere Bemerkungen über Carus), jedoch mit physio­ logisch heute längst überholten Mitteln. Demgegenüber ist uns in der Gegenwart nur ein Werk bekannt geworden, das diesen Versuch inbezug auf das Nervensystem mit Hilfe des ganzen Apparates neuzeitlicher Neurologie unternimmt, nämlich: Dr. F. S. Rothschild, Symbolik des Hirnbaus (1935, Berlin). Schon der Untertitel des Buches läßt keinen Zweifel daran, daß nicht mehr Ursachenforschung in Frage steht, sondern durchaus Erscheinungs­ forschung = Wesensforschung: ›Erscheinungswissenschaftliche Untersu­ chungen über den Bau und die Funktionen des Zentralnervensystems der Wirbeltiere und des Menschen‹. Wie weit der Versuch gelungen ist, kann angesichts der außerordentlichen Fülle nervenphysiologischen Stoffes, den der Verfasser durchspricht, nur der Fachmann entscheiden. Die These, die Verf. auf 353 Druckseiten zu begründen bestrebt ist, lautet: ›Der Bau des Zentralnervensystems im Ganzen wie die Form und Lage seiner Einzelge­ bilde spiegeln die von den betreffenden Zentren vermittelten Körpererleb­ nisse wider‹ oder: ›Das Zentralnervensystem ist ein naturgewachsenes Sym­ bol des Erlebens‹ (S. 29). Es ist nun zu beachten, daß es grundsätzlich garnicht darauf ankommt, wie viele der beigezogenen Belege unanfechtbar sind, wie viele berichtigt oder fallen gelassen werden müssen. Entscheidend vielmehr ist die Tatsache, daß Verf. unter strenger Vermeidung des Kausal­ gedankens eine Deutung des Nervensystems vorlegt und damit eine For­ schungsweise wiedererweckt, die seit einem Jahrhundert in Vergessenheit geraten war« (Anm. 40 zu S. 188, Klages 1950, S. 361f.). S. auch 126 K. Die Auseinandersetzungen über diese Anmerkung und die Stelle im Text, auf die sie sich bezieht, die Frage nach dem Grund für die Weitung der Pupille beim Schrecken, ist der Hauptgegenstand der Briefe zwischen Klages und Rothschild im Sommer 1935, s. S. 47ff.

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129 Klages an Rothschild Kilchberg, den 17. Januar 1951 Herrn Dr. S. Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Eben erhalte ich Ihre Zeilen vom 11.ds. und stelle bei der Gelegenheit fest, dass ich Ihren Brief vom 1. Dez. immer noch nicht bestätigt habe. Grund: der übliche, mein schlechtes Befinden. Dazu auch bei mir die Klagen über die alles verschlingende Zweckarbeit. Meine Zeit erschöpft sich so ziemlich im Schreiben ärgerlicher Geschäftsbriefe. Ich weiss wohl, dass Sie nicht von der Romantik ausgingen; und Sie werden ein wenig staunen zu erfahren, dass die Gesamtheit meiner Konzeptionen bereits 1900 fertig vorlag, ehe ich von der Romantik einiges kennenlernte oder richtiger wieder ausgrub. Da unsre Kathederherren aber nur von den Nieten (Fichte, Hegel, Schel­ ling) zu wissen schienen, habe ich jede Gelegenheit benützt, die sog. Spätromantik (es ist die eigentliche) zu preisen. Wenn Neujahr auch schon wieder der Vergangenheit angehört, so wünsche ich Ihnen doch sehr, dass Sie sich bald wieder Ihren Forschungen zuwenden können, und verbleibe Ihr Sie herzlich grüs­ sender: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Kurzbriefformat, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/13 Was auf der Rückseite handschriftlich vermerkt ist, ist durch die schlechte Kopie nicht zu lesen.

die sog. Spätromantik ... zu preisen: Klages wird häufig als der Wieder­ entdecker der Matriarchatsarbeiten des Altertumsforscher Johann Jakob Bachofen, des Arztes und Naturphilosophen Carl Gustav Carus und des Sprachwissenschaftlers Lazarus Geiger angesehen.

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130 Rothschild an Klages Jerusalem, 15. 5. 1951 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg /Zch Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Gerade war ich im Begriffe, Ihnen wieder ein Lebenszeichen von mir zu geben, da wurde mir von einem Bekannten ein Buch geliehen, das mich nicht wenig in Verwirrung brachte. Es ist Ihre Herausgabe von Schulers Nachlass. Schon gelegentlich hatte man mich auf anti­ jüdische Äusserungen in Schriften aufmerksam gemacht, die in der nationalsozialistischen Epoche erschienen wären und die ich nicht kannte; einmal hat man mir auch einen Auszug einer solchen Stelle geschickt. Aber ich fand darin nur jenen affektgeladenen Ausdruck Ihrer antijudaistischen resp. antijahwistischen Einstellung, der mir schon aus anderen Stellen Ihrer Schriften bekannt war, und den ich im Rahmen Ihres Werkes und Ihrer Persönlichkeit zu verstehen glaube und einordnen kann. In der leidenschaftlichen Auflehnung gegen die Hemmungen, Verdünnungen und Ersetzungen elementaren Erle­ bens, die an dem Menschen unserer Zeit hervortreten, haben Sie auch alle geschichtlichen Erscheinungen mit Hass verfolgt, die den Weg zur heutigen Gestalt des Menschen gebahnt haben. Der Jude ist offenbar an verschiedenen Stellen ein solcher Bahner gewesen. So verstand ich Ihren Antisemitismus, verstand ihn, obwohl ich anderer Ansicht bin. Das Bild des Juden in der Einleitung zu Schuler scheint mir aber so weit entfernt von Objektivität und Sachlichkeit, dass ich Ihnen doch einige Gründe meiner anderen Auffassung darlegen und auf einige bestimmt nicht richtige Äusserungen aufmerksam machen möchte. Trotz grundsätzlicher Bejahung Ihrer Darstellung der Lebensfülle war mir die geschichtliche Einordnung dieser Seelenverfassung immer problematisch geblieben. War eine solche Fülle und eine solche Allverbundenheit nach Art eines Paradieses auf Erden wirklich einmal alltäglich? Waren es nicht nur die begnadeten Stunden und die Feiern, in denen die Begegnung mit den wesentlichen Mächten jene paradiesische Erfüllung schenkte? War nicht der Grossteil des Tages auch damals beherrscht von dem Kampf um Behauptung

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und Anpassung des Einzelnen und seiner Gruppe an eine harte und gefahrvolle Umwelt? Die Natur offenbart sich ja nicht nur in dem unerschöpflich anmutenden Reichtum, mit der sie Tierund Pflanzenformen erzeugt, sondern jede dieser Formen erscheint auch wie das Ergebnis des Ringens individuierter Lebenszentren um ihre Anpassung und Erhaltung. In diesem Anpassungskampf aber scheut sich die Natur trotz ihres Reichtums nicht, schwach, armselig und bösartig anmutende Formen zu entwickeln. Ich denke hier vor allem an die ungeheure Verbreitung parasitischer Lebensweisen in der Tierwelt. Sollten solche Tendenzen, die uns den Eindruck von blindem Egoismus und nüchterner Zweckmässigkeit machen, nicht auch in der Welt der Pelasger ihren Platz gehabt haben? War es nicht auch immer so, dass die Begegnung mit den Urbildern statt Erfüllung häufig Angst mit sich brachte und dass diese Angst Sicherungs- und Abwehrtendenzen auf den Plan rief? Trat dadurch nicht an die Stelle tiefer Magie die leere Zwangshandlung, an die Stelle des die Seele erfüllenden Gottes der die Sicherheit versprechende Götze, an die Stelle des Glaubens der Aberglaube? Ich bin nur ein wenig unterrichteter Laie in der Geschichte, aber auch in Ihrer Darstellung scheint, mit dem Fortschritt der Vergeistigung des Menschen das Heidentum bei den meisten mittelländischen Völkern eine fortschreitende Verarmung an Erlebnistiefe nicht habe verhindern können. Götter wurden wohl mehr und mehr zu aber­ gläubig gebrauchten Götzen oder zu wesensverarmten Begriffen. Das Judentum kann also nicht gut die heidnischen Menschen aus einem Paradies vertrieben oder herausgelockt haben. Ich halte eine Annahme mit entgegengesetzter Wertung nicht für unberechtigt. Weil Jahwe einer Verdinglichung oder ganz allgemein einer Verge­ genständlichung wegen seiner Unanschaulichkeit viel unzugängli­ cher war als die heidnischen Götter jener Epoche, ermöglichte seine Offenbarung den schon weitgehend ichverhafteten Menschen dieser Zeit eine neue, tiefere Verbindung mit dem Wesen der Wirklichkeit. Es entwickelte sich ein religiöses Gefühl, das alle Seiten des Lebens und alle Handlungen mit diesem Gott in Verbindung brachte und sie dadurch von neuem weihte und heiligte. Hat nicht der Monotheis­ mus, dann auch in den Formen des Christentums und des Islams, dem einem Prozess fortschreitender Versachlichung seines Weltbildes unterworfenen Menschen die Verbindung mit einem von diesem Prozess unangreifbaren Wesenskern bewahrt, und wurde dadurch die Seele der Menschen nicht in einem Masse offen und erlebnisfähig

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gehalten, dass wir heute nach dem Untergang dieser religiösen Verankerung diesen Verlust als eine Verarmung empfinden? Ich darf nicht behaupten, dass ich das Judentum gut kenne, aber ich glaube, dass Sie es doch weniger kennen. Sie sind in erster Linie von Nichtjuden, oder wenn von Juden, dann von Hassern ihres Judentums unterrichtet worden. Als Jude bin ich selbst von aussen und von innen immer wieder auf die Frage nach dem Wesen des Juden gestossen worden. Mir erscheint es, als ob der Jude infolge Veranla­ gung und Schicksal der menschlichste der Menschen wäre: nicht der göttlichste und nicht der heroischste, sondern der menschlichste. Die Problematik in der Natur und Existenz des Menschen hat von ihm häufiger als von anderen Völkern Antworten und neue Anpassungen verlangt. Ich sehe es jetzt wieder hier in Israel, in der Art, wie dieser Staat entstanden ist und sich entwickelt. Sie beschreiben das Wesen des Juden als seelenlos, gewissermassen ausschliesslich ichverhaftet, und hysterisch. Aber sowohl die Ausbreitung des Ichs wie das Auftreten von Psychopathie und Neurose sind allgemein menschliche Erscheinungen zumindest unter den Kulturvölkern. Ihr Bild des Juden erscheint mir deshalb als eine Projektion dieser Problemseite der menschlichen Existenz in eine Phantomgestalt, um gewissermassen die anderen Völker als schuldlos an dieser Teilhabe, als ihr nicht ebenfalls wesensverhaftet hinzustellen. Bewusstheit und unechte, heterogen entwickelte Erlebnisse mögen bei den Juden Europas in der vorigen Generation besonders auffällig gewesen sein. Aber die nervenärztliche Erfahrung hat uns ja gelehrt, wie leicht solche Züge bei gewissen schwierigen inneren und äusseren Lebenssituationen auftreten. Sie wissen, wie sehr ich Ihre Werke bewundere und wie viel diese für mich bedeuten. Trotzdem spüre ich in ihnen bisweilen eine Par­ teilichkeit und Einseitigkeit, die im Falle der Darstellung des Juden die vorhandenen negativen Züge so grell zeichnet, dass dadurch das Gesamtbild nicht mehr sichtbar wird. War das, was ich bisher schrieb, im wesentlichen eine Rechtfertigung des Wesens des Juden gegenüber Ihren Angriffen, so scheint mir ein anderer Teil Ihrer Darlegungen einfache Richtigstellung zu ver­ langen. Es gibt nicht einen jüdischen Plan zur Vernichtung der Völker, es gibt nicht einen Plan zur Eroberung der Weltherrschaft durch die Juden, die Protokolle der Weisen von Zion sind eine Fälschung und

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nie von den Leuten verfasst worden, die die Antisemiten als ihre Urheber hinstellen. Ich kenne Juden der verschiedensten Kreise, auch solche mit politischen Interessen, aber niemals fand ich politische Ziele, wie Sie sie darstellen. Wer die Realität der politischen Situation des jüdischen Volkes wirklich kennt, weiss, dass solche Pläne eine Absurdität sind. Kein Volk hat von Kriegen der Völker untereinander mehr zu fürchten und zu leiden als die Juden, was der letzte Weltkrieg deutlich genug gezeigt hat. Ich weiss nicht, ob dieser Brief Ihre Meinung über die Juden beein­ flussen kann, aber ich fühlte mich nach der Lektüre Ihrer Einleitung zu Schuler veranlasst, zu Ihren Äusserungen Stellung zu nehmen. Im übrigen hat mich das Buch, soweit ich es verstanden habe, sehr interessiert, weil die Ansichten, die ich in der Deutung biologischen Materials entwickelt habe, weitgehend den Ideen entsprechen, die Schuler über die Polarisierung der Seele und den Gamos dieser Pole im Erleben wie auch über das gegensätzliche Verhältnis zwischen der Zeugungsmöglichkeit im Innern zu der äusseren und dem Einfluss des Sexualtriebs ausgeführt hat. Von Besprechungen des »Ichs...« habe ich bisher nur zwei von der Basler Nationalzeitung und dem Bund erhalten, die beide eine recht positive Wertung zum Ausdruck bringen. Privat habe ich auch eine Reihe positiver Urteile gehört, aber für Mediziner ist im allgemeinen der Text zu schwer und die ganze Gedankenführung zu fernliegend. In der Hoffnung, dass Sie sich wohl befinden, verbleibe ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr. und erg., gedruckter Briefkopf, links oben in lateini­ schen, rechts oben in hebräischen Lettern, Unterstr., Anstr. v. Klages mit dem hschr. Vermerk K.s: »17.V.51«, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/19 Kopie: Nachlass Rothschild

von einem Bekannten: Der Bekannte war der Judaist, Freund von Walter Ben­ jamin, Gerschom Scholem (1897–1982), der einer der direkten Nachbarn der Rothschilds in Rehavia, Jerusalem, war. Er habe sich häufig verwundert über die Wertschätzung geäußert, die Rothschild Klages angedeihen ließ (Margot Rothschild, persönliche Mitteilung). Herausgabe von Schulers Nachlass: Klages hat in seiner umfangreichen Ein­ führung der Schriften aus dem Nachlass seines Freundes Alfred Schuler alle antisemitischen Vorurteile, die damals hoch im Kurs standen, affirmierend

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rekapituliert. Diese Vorrede ist die hauptsächliche öffentliche Stelle, an der sich Klages überdeutlich antisemitisch äußerte (Klages 1940). Von Klages­ schülern und anderen, die sich bis heute auf Klages’ Philosophie beziehen, ist diese Vorrede zum größten Teil verharmlosend kommentiert worden, es fehlt nicht an abwegig anmutenden Erklärungen für sie (Näheres s. S. 137– 142). Welt der Pelasger: eine von Klages in mythische Vorzeiten verlegte utopische Gemeinschaft von Menschen, die im Einklang mit ihren Empfindungen seelisch-körperlich mit ihrer Umwelt verschmolzen gelebt hätten. Protokolle der Weisen von Zion: Ein vom zaristischen Geheimdienst fingier­ tes Dokument, das eine Verschwörung des Weltjudentums nahelegen sollte und in diesem Sinn eine Karriere über die ganze Welt antrat, die als fatal zu bezeichnen, einen starken Euphemismus darstellt. Unter den ›Judaica‹ im Nachlass Klages’ – Material, das gesamtheitlich antisemitische Propaganda enthält – findet sich die ironisch-satirische Entgegnung auf die ›Protokolle‹ des in die USA aus Rumänien emigrierten Marcus Eli Ravage, die ein deutscher antisemitischer Verlag mit deutscher Übersetzung herausgegeben hatte (Ravage 1936). Die handschriftlichen Kommentare und Anstreichun­ gen Klages’ weisen darauf hin, dass er den ironischen Tonfall der Aufsätze entweder nicht verstanden oder als Beleg für die besondere Raffinesse, mit der das Weltjudentum arbeiten würde, angesehen hat (Schuber mit Titel: Judaica, DLA Marbach Nachlass Klages). Zu den Protokollen der Weisen von Zion s. Sammons 1998. Besprechungen des »Ichs...«: Rothschild erhielt eine große Anzahl positiver Besprechungen seines Buches »Das Ich und die Regulationen des Erlebnis­ vorganges«.

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131 Klages an Rothschild Kilchberg, den 15. Juni 1951 Herrn Dr. Salomon Rothschild Redak Road 3 Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Ihr ausführlicher Brief, der von Ihnen wohl irrtümlich vom 15. IV. datiert wurde, während der Poststempel auf den 17. V. lautet, konnte bisher keine Antwort finden, weil ich seit mehr als fünf Wochen schwerkrank darniederlag, niemanden empfangen, nichts lesen und sozusagen nichts denken durfte. Nur unter der Bedingung hoffte der Arzt, mich retten zu können. Auch jetzt besteht mein Tag aus nur ca. 6 Stunden ausser dem Bett. – Ich habe das vorausgeschickt, damit Sie begreifen, weshalb ich erst heute zu einer Rückäusserung gelange, die sich zudem auf Andeutungen beschränken muss. Punktweise geht es wohl etwas glatter. – 1.- In Ihren Ausführungen, deren Gehalt mir bekannt war, ist nur weniges – nämlich das auf Jahwismus = Monotheismus bezügliche –, dem ich nicht beipflichten würde. 2.- Das Wort Antisemitismus ist natürlich Unsinn und wird in meiner Einführung, soviel ich mich erinnere, nur auf den Seiten 55 – 57 ein paarmal erwähnt und zwar stets im Sinne der Korrek­ turbedürftigkeit. Semiten waren die Assyrer, Babylonier, Phöniker, Philister usw., und Semiten sind die Syrer, Araber, ein Teil der Ägypter usw. Zu dieser Sprachen- und Völkergruppe gehören auch die Juden. 3.- Aber Jude ist nicht = Judäer. Viele Juden sind keine Judäer, ausserordentlich viele Christen sind es. Nicht aus Zufall nannte sich das neue Palästina keineswegs Juda, sondern – Israel. 4.- Von allen Religionen auf Erden war die mörderischste das Christentum. Vgl. die Geschichte der Märtyrer, die Vertilgung der Manichäer, der Arianer, die entsetzlichen nie endenden Religions­ kriege, die unbeschreiblich grausame Ausrottung der Albigenser, die Inquisition, die Autodafés, die Hexenbrände, die Greuel der Wiedertäuferei, die grauenvolle »Bekehrung« der Heiden usw. usw. Man könnte damit Bücher füllen, und es wurden damit Bücher gefüllt, teilweise von christlicher wie aber auch von jüdischer Seite; doch empfehle ich Ihnen nicht, sich in deren Lektüre zu vertiefen, weil

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es für Sie nutzlos wäre, ausser dass Sie vielleicht einmal Nietzsches »Genealogie der Moral« und seinen »Antichrist« zur Hand nehmen, mag schon dieser zugleich ein Schrei der Verzweiflung jemandes sein, der am Christentum zugrundeging. 5.- Jeder Satz meiner Einführung ist unwiderlegbar, aber nicht jeder ist beweisbar. Damit bin ich beim Kern der Sache. 6.- Für einen Kenner der opera Schulers und der meinigen darf ich die Worte exoterisch und esoterisch gebrauchen, ohne befürchten zu müssen, verwechselt zu werden mit dem Jargon von Anthropo­ sophen und Konsorten. – – Sie sind Exoteriker wie wir alle und wie besonders die Wissenschaftler unter uns. Schuler war daneben überwiegend Esoteriker, ich bin es teilweise. Man ist es von Geburt, man wird es nie. Der Exoteriker kann den Esoteriker an Intelligenz weit übertreffen (z.B. Sie mich), aber ihm fehlt eine Dimension. Hätte er die, so wäre ihm eine Welt erschlossen, die er nie betreten kann und nie betreten wird, auch nicht durch echt esoterische Lektüre, weshalb ich davon abriet. Ihm kann weder ich noch sonst wer jene Unwiderleglichkeiten beweisen, von denen oben die Rede war. 7.- Wir werden uns immer begegnen auf dem Boden der Wissen­ schaft, wenn auch naturgemäss mit Einschränkungen. Aber das macht nichts. Ist doch die Vielfalt der Thesen und Hypothesen für die Wissenschaft günstig! Endlich noch eine persönliche Bemerkung. Ich habe lebenslänglich aufs liebenswürdigste mit Juden verkehrt, dagegen Judenhasser kaum kennengelernt. Auch Schuler war kein solcher, wohl aber echter Antijahwist; Wolfskehl war es nicht, obschon angeblicher Antijah­ wist. Ich hatte auch mehrfach Gelegenheit, jüdische Zeitgenossen zu fördern. Der monumentalste Fall, den ich nur Ihnen anvertraue, ist Palágyi. Wäre nicht ich mit zahlreichen Kapiteln für ihn eingetreten, so wüssten selbst die Herren Gelehrten von ihm heute nichts. »Durch Sie«, so sagte er anlässlich seines Besuchs in Kilchberg im Jahre vor seinem Tode, »werde ich in die Zukunft kommen«. Nun, Palágyi war konfessionell Calvinist, staatlich Ungar, der Herkunft nach Jude. Der ursprüngliche Name der Familie lautet: Silberstein. Ich habe einen Kampf mit dem Rassenbüro der Nazis ausfechten müssen, um es durchzusetzen, dass seine durch meine Bemühungen in 2. Aufl. erschienene »Naturphilosophie« nicht verboten wurde. Darüber

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liesse sich vieles erzählen, was teilweise selbst nicht eines grotesken Humors entbehrt. Aber die Kraft erlahmt, und ich muss für heute aufhören. – Ihr neues Buch wird seinen Weg machen, wenn auch langsam. In alter Verbundenheit verbleibe ich mit den besten Wünschen Ihr: LKlages P.S. Da mir kürzlich Überseepost verloren ging, wäre ich für eine ganz kurze Empfangsbestätigung dankbar. Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/14

Aber Jude ist nicht = Judäer ... zugrundeging: Der Abschnitt gibt die Version seines ›Antijudaismus‹ wider, die Klages in der Nachkriegszeit üblicher­ weise verwendete, um den Vorwurf des ›Antisemitismus‹ zu entkräften. Er diktierte es geradezu den mit ihm befassten Personen in die Feder, u.a. Martin Ninck, der eine Klages-Biographie schreiben wollte (die nicht zustande kam, da Ninck vorher verstarb). Im Monat nach dem Schreiben an Rothschild schreibt er an Ninck am 23. Juli 1951, nachdem er bekundet, bio­ graphisches Material verbrannt zu haben, das wohl ähnlich eindeutig ist wie die Schuler-Einleitung: »Ihr Widerwille kristallisiert um den vermeintlichen Antisemitismus meiner Ausführungen. Darüber sind wir, wie mir seit lan­ gem bekannt, verschiedener Meinung. Sie gebrauchen das Wort Jude exo­ terisch, ich, soweit es unumgänglich ist, gebrauche es esoterisch. Dann aber gilt: Jude ist nicht = Judäer. Viele Juden sind keine Judäer, zahllose Christen sind es. Nicht zufällig hat sich das neue Palästina nicht etwa Juda genannt, sondern – Israel« (Brief an Ninck vom 23.7.1951, DLA Marbach, Klages Nachlass 61.6379/28). Zur Tradition des charakterologisch gewandeten Antisemitismus in einem allmählich salonfähig werdenden Rassismus siehe die Arbeit von Per Leo (2013). Der Exoteriker kann den ... abriet: entspricht dem von Klages offenkundig ab 1900 gepflegten dünkelhaften Distinktionshabitus. Ich habe lebenslänglich aufs Liebenswürdigste mit Juden verkehrt: gehört auch zum Katalog der offiziellen Antisemitismusapologetik Klages’, ebenso Kla­ ges’ Einsatz für Palágyi (so auch bei Schröder 1992, S. 1347–1349).

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132 Rothschild an Klages 26.6.1951 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg /Zch Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Ihr Brief vom 15. 6. war für mich eine Beruhigung. Ersah ich doch aus ihm, was ich in der Beziehung zu Ihnen schon einige Male mit Genugtuung festgestellt hatte, dass die Verschiedenheit der Stand­ punkte nicht zu einer Verneinung der Person führen muss, die einen anderen Standpunkt vertritt. Ich hatte inzwischen Gelegenheit Ihren Nachlassband hier leihweise zu erhalten und war sehr beeindruckt davon. Auch habe ich in dem Buch von Friedrich Wolters über Stefan George die einschlägigen Kapitel, die sich auf Sie, Schuler und Wolfskehl beziehen, gelesen. Ich glaube, dass ich mir jetzt besser eine Vorstellung davon machen kann, was sich in den Hauptpersonen dieser Bewegung bzw. Auseinandersetzung damals in München zugetragen hat, und diese Vorstellungen haben etwas Ergreifendes für mich, auch wenn ich die Ereignisse nicht in dem Sinne deute, den Sie in der Einführung zu Schuler darstellen. Meine Haltung in diesen Fragen ausschließlich als die eines Exote­ rikers zu charakterisieren, scheint mir nicht richtig. Meine Aufge­ schlossenheit für Ihre Werke verdanke ich nicht meinem Intellekt, sondern Erlebnissen bzw. einer Weise des Erlebens, die zwischen meinem 18. und 23. Lebensjahr am deutlichsten waren, als ich Ihre Werke noch nicht kannte. Damals habe ich versucht, solche Erleb­ nisse in Gedichten auszudrücken. Ich bedaure, dass ich Ihnen nie von diesen für mich wesentlichen Erfahrungen erzählt habe. Aus diesen Erlebnissen stammt der metaphysische, antimechanistische Impuls, der hinter meinen wissenschaftlichen Arbeiten steckt. Aber dieser Impuls hätte sich wohl nie in fruchtbaren Forschungen verwirklichen können, wenn Ihre Philosophie und Ausdruckswissenschaft nicht den weltanschaulichen und begrifflichen Rahmen geliefert hätten.

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In der Hoffnung, dass die Ruhe und Schonung in den letzten Wochen Ihren Gesundheitszustand gebessert haben und Sie wieder eine Zeit des Wohlbefindens vor sich haben, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr S. Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links in lateinischen, rechts in hebräischen Lettern, hschr. korr. u. erg., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/20 Kopie: Nachlass Rothschild

Friedrich Wolters über Stefan George: In Friedrich Wolters 1930 erschienenen historiographischen Darstellung des George-Kreises – ein in durchgehalten hymnischem Tonfall verfasstes Werk – finden sich auf vielen Seiten die Charakterisierung der Personen der ›Kosmischen Runde‹ und ihres Zusam­ menwirkens. Zu den Kosmikern werden Karl Wolfskehl, Ludwig Klages, Alfred Schuler und Stefan George gerechnet, manchmal findet man auch den Dichter Ludwig Derleth (1870–1948), so bei Heißerer (2008, S. 131) und Dörr (2007, S. 188). Dörr stellt die Zugehörigkeit von George zu den Kos­ mikern überzeugend in Abrede (ebd.). Wolters nun beschreibt die Kosmiker als transformatorische Kraft, die das Denken und Handeln in München ver­ ändert und einen Wertewandel in Deutschland (mit)herbeigeführt habe hin zur »Geschlechtergleichheit«, zum »Erwachen« des »leibliche(n) und sinn­ liche(n) Deutschland«, das in der Romantik vorbereitet, sich in Nietzsche »die Bahn gebrochen« und in den Kosmikern Tiefe erlangt habe (Wolters 1930, S. 273). Wahrscheinlich durchaus treffend wird Klages von Wolters als »nordischer Protestant« beschrieben, »der zwischen überhellem Ver­ stand und verschwommener Mystik schwankte« (S. 259), als der »Indivi­ dualist«, der »nicht mehr mitschwingen« kann »in einem vom Rausch erfaß­ ten Gesamt, an dem er als Erkennender aber nicht als Hingerissener und Ergriffener Anteil hat« (ebd.). Er habe als der seiner »Selbst-Ungewisse stets einer Erhöhung seines Selbst bedurft(e), um zu bestehen« (S. 246). Er habe nicht zu Schuler gepasst, dem »süddeutschen Katholik«, der in allen tradi­ tionellen Ritualen und Festen den Niederschlag »ehemals kultischen Bege­ hungen eines größeren Lebens suchte« (S. 259). Durch Karl Wolfskehl sei es zu einer Art Verschmelzung oder Aufhebung dieser Gegensätze gekom­ men. Wolfskehl, »von nicht geringerer Schau- und Denkkraft, aber von grö­ ßerer Gestaltungskraft als die beiden und selber seltsam aus nördlichen und südlichen Wesenheiten gemischt, gab das umsetzende Mittel für die Ver­ bindung der drei Elemente her. Mit seiner vortreibenden Gewalt, die alle Gärungen zur höchsten Reife führte, immer das Äußerste des Möglichen suchte, stieß er die Kräfte und Sehnsüchte aller bis in die Tiefe auf und trieb das gemeinsame Wissen bis zur letzten Folgerung gemeinsamen Wollens. So stießen sie zusammen, stachelten und erhitzten sich gegenseitig in ihrem

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Bunde und erzeugten in den Jahren 1900–1904 jene Flutluft in München, welche alle die hineintraten verwandelnd ergriff, die Stadt zu einem Orte neuer Trächtigungen machte, ja in ihren Folgen weit über die Stadtgrenzen hinaus die geistigen und seelischen Lagerungen in Deutschland umschich­ tete« (259f.). George sei dabei die Rolle eines Ruhepoles zugekommen, ohne dessen Gravität die Energien der drei anderen zerstoben wären. »Der Meister stand in den treibenden Wirbeln der Kosmiker als unerschütterliche Mit­ telachse, die das Kreisen von Gewalten möglich machte, welche ohne ihn sogleich versprüht wären und später ohne seinen Halt auch machtlos zer­ fielen. In jenen lebenswichtigen Jahren aber konnten die Kosmiker wirklich die Luft mit Geistern schwängern, weil George sich ihnen nicht entzog, son­ dern sich mitten in ihre Runde stellte, wenn er zwischen Weihnachten und Ostern in München weilte« (S. 261).

133 Rothschild an Klages 1. 12. 1951 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg / Zch. Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Sie werden am 10. Dezember 79 Jahre alt. Das ist eine hohe Zahl. Gestatten Sie mir, Ihnen anlässlich dieses Termins Glückwünsche und Grüsse zu schicken. Vor allem wünsche ich Ihnen, dass Sie sich wohl befinden mögen. Von meinem Buch sind inzwischen noch einige Besprechungen erschienen. Teils wird es zur Lektüre empfohlen, teils vor ihm gewarnt, weil darin Naturphilosophie und nicht Naturwissenschaft betrieben werde. Ich habe deshalb die Hoffnung nicht aufgegeben, doch noch im Laufe der Zeit zeigen zu können, dass symbolisches Denken in bezug auf gewisse Lebenserscheinungen die einzig ange­ messene Methode zu ihrer wissenschaftlichen Erforschung ist. Eine grosse Hilfe scheinen mir in dieser Hinsicht die neuen Befunde des Bienenforschers von Frisch über die Verständigung unter Bienen zu bilden. Sie erwähnen diese Befunde ja auch in der letzten Ausgabe der Grundlagen der Ausdruckswissenschaft, ich bin aber auf die für die Tierpsychologie und Neurophysiologie revolutionierenden Einzelheiten dieser Rund- und Schwänzeltänze erst vor kurzem durch

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eine Arbeit des englischen Zoologen Thorpe aufmerksam gemacht worden. Es handelt sich hierbei um instinktive symbolische Darstel­ lungen des Funderlebnisses der Bienen, vor allem des Verhältnisses des Fundortes zum Sonnenstand und zum Bienenstock, die von anderen Bienen verstanden werden. Diese Befunde fügen sich aber vorzüglich in meine Deutung des Zusammenhanges zwischen Bau und Funktion der optischen Zentren des ZNS der Arthropoden. Wenn das Nervensystem dieser Tiere schon als Symbol ihres Erle­ bens aufgebaut ist, ist es nicht mehr so verwunderlich, dass sie auch in ihrem Verhalten Symbole produzieren können. Wie Sie sich vielleicht erinnern, habe ich bereits 1935 die Arbeit über das Nervensystem der wirbellosen Tiere verfasst, aber seiner Zeit keine Zeitschrift zu ihrer Veröffentlichung gefunden. Ich habe dann den wichtigsten Teil dieser Arbeit in mein neues Buch hineingenommen. Heute, nach den Mitteilungen von Frischs, könnte ich meine Deutungen auch in ihren Einzelheiten viel besser begründen. Ich habe die Absicht, dies in einer Arbeit nachzuholen. Jedenfalls dürfte die Sprache der Bienen den Maschinentheoretikern des Lebens einiges Kopfzerbrechen machen, wenn sie zweifellos auch dafür schliesslich eine Antwort bereit haben werden. Nochmals Glückwünsche zu Ihrem Geburtstag und verehrungs­ volle Grüsse Ihr S. Rothschild Original: Ts, hschr. korr. u. erg., gedruckter Briefkopf, links oben mit lateinischen, rechts oben in hebräischen Lettern, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/21 Kopie: Nachlass Rothschild

die neuen Befunde des Bienenforschers von Frisch: Die Forschungen des in München lehrenden Karl von Frisch (1886–1982) galten zum größten Teil den Honigbienen und ihrer fein auf die Umweltgegebenheiten abgestimm­ ten Zeichensprache, den Tänzen der Bienen, mit denen sie u.a. Angaben zur Entfernung und Richtung einer Futterquelle machen (Frisch 1927). Die ›neuen Befunde‹ beziehen sich wahrscheinlich auf den Aufsatz »Die Polarisation des Himmelslichtes als orientierender Faktor bei den Tänzen der Bienen« (Frisch 1949), auf den sich Rothschild in seinem Beitrag »Die symbolischen Tänze der Bienen als psychologisches und neurologisches Problem« (1953a) bezieht. Arbeit des englischen Zoologen Thorpe: Der englische Zoologe William Homan Thorpe (1902–1986) gilt als einer der ersten Vertreter einer Tier­

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verhaltensforschung im englischsprachigen Raum. Er kannte von Frisch und arbeitete mit ihm. Hier ist wahrscheinlich seine in »Nature» erschienene Arbeit »Orientation and Methods of Communication of the Honey Bee and its Sensitivity to the Polarization of the Light« (Thorpe 1949) gemeint, die sich ihrerseits auf die o.a. Arbeit von Frisch bezieht. Dass Bienen den Stand­ ort der Sonne auch bei mit Wolken verhangenem Himmel über Polarisati­ onsphänomene des Lichts erkennen können und in ihre tänzerische Mittei­ lung zur genauen Ortsangabe der Futterquelle einbauen, dass sie zu solchen ›symbolischen Transformationen‹ fähig sind, bewog Thorpe dazu, von einer »elementary form of map-making and map-reading« (Thorpe 1949, S. 11) zu sprechen und diese Fähigkeit der Bienen als Herausforderung für den Neurophysiologen und Psychologen anzusehen, bisherige Konzepte der Verhaltenserklärung bei Tieren neu zu überdenken (ebd., S. 14). Arbeit über das Nervensystem der wirbellosen Tiere: »Über die Bedeutung der Faserkreuzungen in dem optischen System der Arthropoden, Cephalopoden und Vertebraten«: eine Arbeit, die Rothschild vergeblich versuchte, im Jahre 1935 bei einer Fachzeitschrift unterzubringen (s. 91 R).

134 Klages an Rothschild Kilchberg, den 12. Januar 1952 Sehr geehrter Herr Dr.: Nachträglich vielen Dank für Ihre Geburts­ tagsglückwünsche. Kräftemangel und Zeitmangel trugen die Schuld daran, dass er nicht eher erfolgte. – Es leuchtet mir durchaus ein, dass die Forschungen des hervorragenden Biologen von Frisch eine Sinndeutung zulassen, ja, wie mir scheint, sogar fordern. Diesen Gegenstand nach erscheinungswissenschaftlicher Methode zu bear­ beiten, halte ich für ungemein aussichtsvoll. Ihre Ergebnisse könnten in der Tat in die mechanistischen Flachheiten eine Bresche schlagen. Mit herzlichen Grüssen Ihres: LKlages Original: Ts, Postkarte, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/15

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135 Rothschild an Klages 3. 12. 1952 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Mit Ihrem 80. Geburtstag am 10. Dezember 1952 ist Ihr Leben nun auch reich an Jahren, nicht nur an Werken. Ich glaube, dass diese Jahre Aussergewöhnliches an Einblicken, Offenbarungen und Begegnun­ gen im Verhältnis zur Welt und zum Menschen umfassen. Wie man in der Welt und insbesondere in Deutschland heute zu Ihrem Werke steht, darüber bin ich im einzelnen nicht orientiert. Aber die Neuauf­ lagen Ihrer charakterologischen und ausdruckswissenschaftlichen Schriften zeigen doch, dass diese Werke als Grundlagen für jene For­ schungszweige anerkannt sind. Was Ihre Metaphysik anbetrifft, so kann wohl erst die weitere Geschichte der Menschheit bezeugen, ob der Geist wirklich der Vernichter der Seele ist, der er jedenfalls in Gefahr ist zu sein. Für mich persönlich bedeuten Ihre Werke immer wieder eine Quelle der Orientierung für wissenschaftliches und welt­ anschauliches Denken. Ich wünsche Ihnen alles Gute zu diesem besonderen Jahrestag. Von meinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten aus dem letzten Jahr gibt es leider nur wenig zu berichten, da die Berufstätigkeit mir nicht viel Zeit lässt. Über den Gegenstand einer Abhandlung mit dem Titel: »Die symbolischen Tänze der Bienen als psychologisches und neurologisches Problem« hatte ich Ihnen schon geschrieben. Die Arbeit wird, wie mir Prof. Meili mitgeteilt hat, etwa im Mai oder Juni 1953 in der Schweizer Zeitschrift für Psychologie erscheinen. Eine andere: »Über den Ursprung der Selbstunsicherheit und Selbst­ täuschung neurotischer Charaktere« nimmt ihren Ausgang von Ihrer Auffassung der Psychopathie und des hysterischen Charakters und zeigt, wie eine Strömung in der Psychoanalyse sich den von Ihnen entwickelten Anschauungen nähert. Ich habe diese Arbeit für die Festschrift vorgesehen, die, wie Sie ja wissen, zu Ehren Ihres 80. Geburtstages geplant ist. In der Hoffnung, dass Sie diesen Tag in guter Gesundheit und Wohl­ befinden verbringen, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr S. Rothschild

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Kopie: Nachlass Rothschild

»Die symbolischen Tänze der Bienen ...«: von Frischs Arbeit ausgehende ›erscheinungswissenschaftliche Deutung des Bienentanzes‹, erschienen 1953 in der »Schweizerischen Zeitschrift für Psychologie und ihre Anwen­ dungen«. Prof. Meili: Richard Meili (1900–1991), deutsch-schweizer Psychologe, zu dessen Lehrer Köhler, Lewin, Piaget und Claparède gehören. »Über den Ursprung der Selbstunsicherheit ...« ist 1953 erschienen unter dem Titel »Über die Unsicherheit und Unechtheit des Selbst neurotischer Cha­ raktere« im »Wiener Archiv für Psychologie, Psychiatrie und Neurologie«. Ich habe diese Arbeit für die Festschrift vorgesehen: Diese Festschrift, die für den 80. Geburtstag von Klages vorgesehen war, ist nicht erschienen.

136 Rothschild an Klages 10. 11. 1953 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg/ Zch Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Von Zeit zu Zeit habe ich von Herrn Dr. Binswanger über Ihr Ergehen gehört, und nicht immer waren die Nachrichten die allerbes­ ten. Aber ein hohes Alter hat wohl in der Regel seine Beschwerden. Ich hoffe, dass Sie sich jetzt wohl befinden. Vor 14 Tagen etwa habe ich einen Sonderdruck einer Arbeit über »Die symbolischen Tänze der Bienen als psychologisches und neurologi­ sches Problem« aus der Schweizer Zeitschrift für Psychologie, Bd.12, Nr. 3, an Sie absenden lassen, der wohl demnächst bei Ihnen eintref­ fen wird. Die Arbeit bringt nichts grundsätzlich Neues, aber die Tänze der Bienen sind ein vorzügliches Beispiel, den Wert der in der »Sym­ bolik des Hirnbaus« entwickelten Methoden zur Deutung der Funk­ tion zentralnervöser Zentren und der Lokalisation von Funktionen in relativ einfacher Weise zu demonstrieren. Solche Anwendungsmöglichkeiten gäbe es noch eine Reihe, und vor allem verlangen die neuen Ergebnisse der Neurophysiologie und der Entwicklungsgeschichte des Zentralnervensystems ein intensives

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Studium vom Standpunkt der Physiognomik, aber vorläufig habe ich mich noch nicht aus der praktischen Arbeit soweit befreien können, um die erforderliche Zeit zur Verfügung zu haben. Überraschenderweise hat mein Buch, das »Ich...« in den U.S.A. Beachtung und positive Kritiken gefunden. Ich lege Ihnen Auszüge aus 2 an sich umfangreicheren Besprechungen bei. Das besagt noch nicht, dass die Kritiker das Buch in allen oder sogar den wesent­ lichsten Hinsichten verstanden hatten, aber irgendwie muss es sie angesprochen haben. Aus einem Prospekt ersah ich, dass jetzt die dritte Auflage von »Der Geist als Widersacher der Seele« erscheint. Ich besitze an sich die erste Auflage und ich habe bei der hiesigen Devisenlage kaum Aussichten die neue Auflage bestellen zu können. Das bedaure ich besonders wegen des neuen Vorwortes, das ich sehr gern kennen lernen möchte. Gibt es Sonderdrucke dieses Vorwortes, von denen Sie mir einen zur Verfügung stellen könnten? Ich nehme an, dass das Wiedererscheinen dieses Werkes Ihnen eine besondere Freude und Genugtuung bereitet. Es hat ja wohl nach wie vor die grosse Aufgabe, der logozentrischen Realitätserfassung eine andere biozen­ trische gegenüberzustellen. Indem ich zum Schluss noch meinen Wünschen für Ihre Gesundheit und Ihr Wohlergehen Ausdruck gebe, bin ich in Verehrung grüssend Ihr S. Rothschild Beilagen The Journal of Abnormal and Social Psychology, Vol. 47, July 1952 It will be difficult for most of us to follow the author in his specu­ lations. It would be a great mistake, however, to leave it at that without reminding ourselves that there is still a great deal for us to learn from the approach to which the present author has commited himself. There is a subtlety in these phenomenological analyses from which we could profit. Its authors seem to have a penchant for the complexity of human experience, for symbol, structure, and value which the more evidence-conscious approaches are lacking. They are not so apt to bracket-in whole segments of experience, hoping that they will not be there if we just keep on shutting our eyes

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to them, as experimental psychology has done. An untrammelled imagination does not only lead to license; there are, amidst all the high-flown speculations. Ideas of originality and potential value. A concise summary of this book, if it could be made available in English translation, would still be controversial but it would also be very stimulating. Frederick Wyatt Psychological Clinic, University of Michigan Psychosomatic Medicine, Vol. XV, Number 4, July /August 1953 Rothschild refers in his preface particularly to American psychoso­ matic literature as reflecting great progress in the practical recogni­ tion of the psychological factor in disease. He finds, however, that there has not been a parallel development of the new theoretical concepts oft he body-soul relationship, that the brain in particular is still regarded as a purely physiological mechanism. The present work sums up the results of more than twenty years of original inquiry into the psychodynamics which are underlying the integrating systems of the organism: central and autonomous nervous systems, and the system of the endocrine glands. The author derived his basic concepts from two men who had no sympathy for each other: Sigmund Freud and Ludwig Klages, the latter one of the founding fathers of scientific graphology. ... Rothschild applies the physiognomical interpretation of the nervous system to all the major spheres of living, most interestingly in locomotion, vision, sex, crying, and laughing. In these detailed discussions particularly the complexities of the innervation of the eye and of the sex organs become psychologically meaningful. The author claims that since his first publications between 1930 and 1935 a number of his predictions have been confirmed by the experiences of brain surgery. As the whole conceptual framework is so different from the customary it appears impossible to go into the details of this work within the limits of a book review. The author himself seems anxious to force the reader into a thorough study of his theory as the index is very meager in comparison to the huge amount of factual material which is discussed in one or several places. Also, the complete absence of diagrams makes the main ideas unnecessarily abstract so that this reviewer found it expedient to draw

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his own schematic illustrations. If one makes such effort, one recog­ nizes a living physiognomy in what is usually seen as a complicated switchboard system. Rothschild gives a psychological character to the organic bottom layers of the mind. As Sherrington »traced (the mind) downward in the animal scale« he observed, »the mind which we experience, that is, which is our mental experience seems to emerge from elements of mind which we do not experience. Here we have not to do with the unconscious of Freud, which is only temporarily unconscious and may be again« (Man and His Nature, p. 307.). It is this work’s mainly successful endeavor to connect this basic biological area with basic qualities of mental experience which do not fit into the classic concepts of psychology. Contrary to the ego emphasis in the title and the chapter headings of the book, it deals actually more with unconscious dynamics than with the powers of the ego. (The sixth chapter on the power of the ego over the id strikes this reviewer as the weakest part.) Its main value is its systematic contribution to the understanding of somatic phenomena as symbolic expressions of psychological processes. It would be very desirable to see this work translated into English. ... It is a particular merit of this work that it brings a great deal of concrete material from anatomy, psychiatry, and cultural psychology which permits the reader to learn even where the author seems to have strayed from the consistent application of his concepts, for which he makes the reasonable claim that »they do not reveal the secret of nature.... If, however, we have chosen our hypotheses well, then they allow us to demonstrate what is related in many widely spread phenomena... and stimulate further research« (p. 145). Gotthard Booth Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links oben in lateinischen, rechts oben in hebräischen Lettern, hschr. korr., Anstr. von Klages, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/22 Kopie: Nachlass Rothschild

Dr. Binswanger: Herbert Binswanger (1900–1975), Schweizer Psychiater, Neurologe und Psychoanalytiker, der maßgeblich die Begutachtung und wissenschaftliche Beurteilung von »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« (1950) übernommen hat (s. 114 K).

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137 Rothschild an Klages 6. 12. 1953 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg / Zch Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Der 10. Dezember kommt wieder heran, und ich möchte diese Gele­ genheit nicht versäumen, Ihnen Grüsse zu schicken und alles Gute zu wünschen. Vor einiger Zeit habe ich Ihnen eine Arbeit über die Tänze der Bienen zugehen lassen, die Sie vermutlich inzwischen erreicht haben wird. Es ist sehr merkwürdig, aber es scheint, dass die Entwicklung einer neuen Maschinentheorie der Funktionsweise des Zentralnervensys­ tems, nach der dieses Organ mit symbolischen Erregungen arbeitet, dem Verständnis der »Symbolik des Hirnbaus« zu gute kommen wird. Mich lockt es sehr, von meinem Standpunkt einmal aufzuzei­ gen, worin die Arbeitsweise der schachspielenden Maschinen und anderer Formen von »Elektronengehirnen« mit der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns übereinstimmt und worin nicht. Es würde wahrscheinlich ein interessanter Beitrag zur Phänomenologie des geistigen Aktes werden, dem Sie vermutlich zustimmen würden. Aber der Betrieb hält mich zur Zeit noch zu sehr fest, als dass ich mich an eine grössere wissenschaftliche Aufgabe heransetzen könnte. In der letzten Zeit hatte ich Gelegenheit, wieder mehr Literatur aus Deutschland zu studieren. So fand ich in zwei Büchern von Prof. Josef Meinertz: Psychotherapie als Wissenschaft; 2. Aufl.; Klett, Stuttgart, und: Moderne Seinsprobleme in ihrer Bedeutung für die Psychologie, Lambert Schneider, Heidelberg, 1948, eine eingehende und für die Ausführungen des Autors grundlegende Berücksichtigung Ihrer Auf­ fassung der Symbole, während man Sie in drei zum Teil nicht unin­ teressanten Heften der Zeitschriften »Studium Generale«, 4 – 6, 1953, die alle über Symbole handeln, nicht zu kennen scheint. Aber es mag wohl sein, dass dieser Strom des Interesses für Symbole von verschiedenen Quellen gespeist wurde. Nochmals die besten Wünsche und verehrungsvolle Grüsse Ihres sehr ergebenen S. Rothschild

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Kopie: Ts, Nachlass Rothschild

zwei Büchern von Prof. Josef Meinertz: In dem in der Buchreihe der »Psyche« herausgegebenen Werk von Meinertz »Moderne Seinsprobleme in Ihrer Bedeutung für die Psychologie. Ein Beitrag zur Grundlegung der Tiefen­ psychologie« geht der Verfasser neben der Ontologie Nicolai Hartmanns und der Existenzialphilosophie Heideggers, die er schwerpunktmäßig bear­ beitet, auch auf Klages ein. Er konzediert ihm, »die vitale Grundlage des begrifflichen Denkens [...] mit unübertrefflicher Prägnanz gezeigt« zu haben (Meinertz 1948, S. 34). Und Klages habe das Sichhingeben als das »echteste Tun« erkannt, das als Gegenströmung des Abwehrbedürfnisses das Gel­ tungsstreben auf den Plan rufe (a.a.O., S. 106). In dem 1952 erschienenen Werk »Psychotherapie als Wissenschaft. Untersuchungen über die Wissen­ schaftsstruktur der Grundlagen seelischer Krankenbehandlung« geht Mei­ nertz ausführlich auf die ›Wirklichkeit der Bilder‹, die Sprachphilosophie und die Wahrnehmungskonzeption Klages’ ein.

138 Klages an Rothschild Kilchberg, den 4. Januar 1954 Herrn Dr. S. Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Wie immer ist es mein kaum noch Hoffnun­ gen gestattendes Missbefinden, das meinen herzlichen Dank für Ihre freundlichen Geburtstagswünsche bis heute verzögert hat. – Ebenso habe ich mit Dank erhalten Ihre Abhandlung über »Die symbolischen Tänze der Bienen etc.«, bin aber aus eben genanntem Grunde bisher nur ein Mal dazu gekommen, Ihre interessanten Ausführungen zu lesen; und das genügt bei mir für eine Beurteilung bei weitem nicht. – Seltsamerweise ist ausserdem trotz intensiven Suchens meiner Hilfskräfte der Brief nicht auffindbar, dem Sie Abschriften englischer Texte beigelegt hatten, die, wie Sie mitteilten, Ihrem Werk über »Das Ich und die Regulationen des Erlebnisvorganges« hohe Anerkennung zollen. Ich beneide Sie um Ihre Sprachkenntnisse. Ich selbst kann nicht einmal Englisch und hatte vor, mir die Texte von meiner Mitarbeiterin übertragen zu lassen. Mir bleibt einstweilen nur die Hoffnung, dass die Blätter eines Tages an irgendeinem unwahrscheinlichen Orte wieder auftauchen.

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Der Briefwechsel zwischen Friedrich S. Rothschild und Ludwig Klages von 1929–1956

Von derzeitiger wissenschaftlicher Literatur Kenntnis zu nehmen, fehlt mir leider Kraft und Zeit. Ihre Mitteilungen über gewisse deut­ sche Autoren, die in ihren Publikationen auf meine Symbolauffassung Bezug nehmen, war mir deshalb von großer Wichtigkeit. – – Brieflich übrigens steht es anders. Da schreiben mir manche Fachleute, in welchem Masse sie meine Schriften schätzen und ihren Forschungen zugrunde zu legen im Begriffe sind. Dabei erfahre ich Ausdeutungen, die mir selbst völlig fern gelegen hätten. Nehmen Sie, wenn auch verspätet, die besten Wünsche für Ihr Schaf­ fen im neuen Jahr von Ihrem ergebenen: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/16

Abschriften englischer Texte: s. Beilage zu 136 R v. 10.11.1953.

139 Rothschild an Klages 15. 7. 54 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg / Zch. Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Dieser Tage dürfte bei Ihnen ein Sonderdruck einer kleinen Arbeit über die Unsicherheit und Unechtheit des Selbst neurotischer Charak­ tere angekommen sein oder noch ankommen. Die Arbeit ist gekürzt und das Thema ist keineswegs in all seinen Aspekten behandelt. Aber ich glaube, dass es auf diesem Wege möglich ist, Ihrer phänomenolo­ gischen Analyse des hysterischen Charakters bei der Psychoanalyse bzw. Psychotherapie neurotischer Persönlichkeiten gerecht zu wer­ den. Ich hoffe, das Thema in einiger Zeit einmal gründlicher in einem breiteren Rahmen behandeln zu können. Leider habe ich mich noch nicht in Ruhe an die grösseren Arbeiten machen können, die ich schon lange plane. Es gibt hier im Lande einen ziemlichen Mangel an Psychiatern und Psychotherapeuten und unter den gegebenen Umständen kann ich mich den Forderungen der praktischen Arbeit nicht entziehen. Das hat zwar den Vorteil, dass

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ich eine Menge interessanter »Fälle« kennen lerne und zum Teil auch behandele, die theoretische Verarbeitung des Gesehenen aber oft gar nicht oder nur unzulänglich erfolgt. Mit den besten Wünschen zu Ihrem Wohlergehen bin ich in Verehrung grüssend Ihr sehr ergebener Salomon Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, oben links in lateinischen, oben rechts in hebräischen Lettern, hschr. korr., Unterstr. v. Klages, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/23 Kopie: Nachlass Rothschild

Arbeit über die Unsicherheit..: Die Arbeit erschien 1953 unter dem Titel »Über die Unsicherheit und Unechtheit des Selbst neurotischer Charaktere« im Dezemberheft des »Wiener Archiv für Psychologie, Psychiatrie und Neu­ rologie« (3), S. 214–229.

140 Klages an Rothschild Kilchberg, den 22. Oktober 1954 Herrn Dr. Salomon Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Aus zwei Gründen sind jetzt rund drei Monate vergangen, ehe ich auf Ihre freundlichen Zeilen vom 15.VII. und Ihre Abhandlung »Über die Unsicherheit und Unechtheit des Selbst neurotischer Charaktere« zurückkomme: einmal weil Ihre Arbeit unauffindbar verschwunden war und sich erst kürzlich wiedergefun­ den hat, sodann infolge meines immer trauriger werdenden Gesund­ heitszustandes. Ich fühle nicht mehr die Kraft in mir, derart feingesponnenen Überle­ gungen, wie Ihre Arbeit sie darbietet, in allen Stücken zu folgen, und bitte, meine recht unzulänglichen Bemerkungen mehr im Sinne der Anteilnahme an Ihrem Schaffen als der Kritik zu nehmen. Im wesentlichen bieten Sie, soviel ich sehe, eine Anwendung der Gedanken Ihres Buches »Das Ich und die Regulationen etc.« auf das Neuroseproblem. Über die Differenz unserer Auffassungen haben wir uns seinerzeit ja schriftlich und mündlich eingehend ausgesprochen.

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Jemanden, der mit Ihren Anschauungen nicht schon gründlich ver­ traut ist, könnte die Anwendung des Wortes »Selbst« stören. Da Sie aber von einer vitalen Behauptungstendenz ausgehen, gelingt es Ihnen die Tierwelt einzubeziehen, ohne ihr deshalb ein Ich (= Selbst) zuschreiben zu müssen. Darnach würde Psychopathie auch bei Tie­ ren möglich sein. Das darauf bezügliche Schrifttum (einschliesslich eigener Erfahrung) bringt ja zahlreiche Beispiele dessen wie etwa die Scheinschwangerschaft von Hündinnen und dergleichen. So wäre gar vieles zu erörtern, falls Zeit und Kraft es zuliessen. Ich benutze die Gelegenheit zu einer ganz andersartigen Frage. Ich musste mich ein wenig mit der sog. Schizophrenie befassen und stellte zu meiner nicht geringen Verwunderung fest, dass die Autoren (z.B. Bleuler sen. und jun.) über Entstehung und Behandlung des »Spaltungsirreseins« (eine m.E. fehlgreifende Metapher) umfassende Erwägungen anstellen bei gänzlicher Unfähigkeit, »Schizophrenie« zu definieren. Was ist Schizophrenie? Eine Antwort auf diese Frage von Ihrer Seite wäre mir wertvoll. Da sah es vor 1900 anders aus. Ein Lotze, ein Brentano, ein Theodor Lipps sagten uns mit unüberbietbarer Genauigkeit, was sie meinten, bevor sie darüber zu spekulieren begannen. – Doch genug und über­ genug. Mit herzlichen Grüssen und den besten Wünschen für erfolgreiches Forschen verbleibe ich Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, hschr. korr., Adresse links oben überstempelt: »Seminar für Aus­ druckskunde Kilchberg bei Zürich«, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/17

vitalen Behauptungstendenz: Dies ist der Streitpunkt, um den es schon in den Gesprächen zur »Symbolik des Hirnbaus« ging: Rothschild behauptet eine physiologische Grundlage dessen, was man phänomenal als Selbstbe­ hauptung ansieht. Klages hingegen behauptet die grundlegende pathische Ausstattung des Menschen, der Mensch erlebt passiv, die Welt geschieht ihm, ist ihm ein Erleidnis. Bleuler sen. und jun.: Damit sind der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939) und sein Sohn, der Psychiater Manfred Bleuler (1903–1994) gemeint. Eugen Bleuler stand mit Sigmund Freud in wissenschaftlichem und freundschaftlichem Austausch, ohne zur engen Anhängergruppe Freuds zu gehören. Auf ihn geht die psychodynamische Ausrichtung der psychi­ atrischen Klinik Burghölzli, Zürich, zurück, der er von 1898–1927 als Direk­

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tor vorstand (s. Hell & Baur 2006, Küchenhoff 2006). Eugen Bleuler schuf den Begriff ›Schizophrenie‹ (1911) und eine Systematisierung nach Unter­ gruppen, Symptomen, Verläufen und möglichen Ursachen, die er vorwie­ gend psychophysiologisch und intrapsychisch verstand. Zentral wird der Begriff der Spaltung als »Übertreibung physiologischer Vorgänge« (Bleuler 1911, S. 296). Er verfasste eines der meistgelesenen Lehrbücher zur Psychi­ atrie (Bleuler 1916), und sein Sohn Manfred besorgte die Neuauflagen nach Eugen Bleulers Tod. Manfred Bleuler gehört ebenfalls in die Reihe der Leiter des Burghölzli (1942–1969). Zu Bleulers Schizophrenie und Behandlungs­ praxis s. auch Ellenberger 1973, insbes. S. 395–398. Ein Lotze, ein Brentano, ein Theodor Lipps: der deutsche Philosoph und Physiologie Hermann Lotze (1817–1881), der deutsche Philosoph und Psy­ chologe Franz Clemens Brentano (1838–1917) und der deutsche Psychologe Theodor Lipps (1851–1914). Die beiden ersten können zu den von Klages geschätzten spätromantischen Denkern gerechnet werden, Theodor Lipps hatte bis zu seinem Tod 20 Jahre lang den Lehrstuhl für Systematische Philosophie in München inne und Klages hörte bei ihm.

141 Rothschild an Klages 16. 11. 1954 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg / Zch. Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Es hat mich sehr gefreut, Ihren Brief vom 22. 10. zu erhalten, insbesondere auch weil ich daraus entnehmen konnte, dass Ihre Jahre und die Labilität Ihrer Gesundheit Sie nicht hindern, sich mit Inter­ esse an der Erörterung psychologischer und psychiatrischer Fragen zu beteiligen. Ihren Hinweis auf Zustände bei Tieren, die der menschlichen Psy­ chopathie ähnlich sind, kann ich nur unterstreichen. Besonders den experimentierlustigen Amerikanern ist es gelungen, bei Ratten, Kat­ zen, Hunden, Schafen und auch anderen Tieren Änderungen des Verhaltens zu erzeugen, die den Erkrankungen an Neurose beim Menschen ganz ähnlich sind. Am schnellsten führten experimentell inszenierte Konfliktsituationen zu solchen Zuständen, was wiederum

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die Bedeutung des Konflikts in der Entwicklung der Neurosen beim Menschen beleuchtet. Bleulers Bezeichnung einer Gruppe von Geisteskrankheiten als Schi­ zophrenie scheint mir gerechtfertigt. Sie ist zweifellos viel besser als der frühere Name »Dementia praecox«. Bleuler hatte dabei das Auseinanderfallen von Affekt und Gedanken, die nicht in der Ein­ heit einer Persönlichkeit integrierten Äusserungen von Trieben und Komplexen, den oft fehlenden Zusammenhang im Gedankengang im Auge. Ich sehe ebenfalls den Verlust eines einheitlichen Persönlich­ keitskerns – was ich in meinem Buch als Ichkern bezeichnet habe – als charakteristisch für diese Erkrankungen an. Es besteht eine Unangepasstheit zwischen dem Eigenpol und dem Welt- bzw. Bildpol der Seele, die in vielen Erlebnissen eine Individuation nicht zustande kommen lässt. Natürlich setzt diese Auffassung der Schizophrenie voraus, dass man sich darüber einig ist, was man unter Einheit der Persönlichkeit bzw. unter Individuation versteht und hier liegt wohl wieder eine neue Quelle von Missverständnissen. Ich beschäftige mich zur Zeit mit den Vorstudien für ein Referat: »Die phänomenologische Methode in der Psychiatrie und Neurologie«, in dem ich mich auch mit der anthropologischen und der daseinsanaly­ tischen Schule (L. Binswanger und Boss) auseinandersetzen möchte. Wahrscheinlich wird das letzten Endes auf eine Auseinandersetzung zwischen Ihrer Philosophie und der Heidegger’schen hinauslaufen. Ich bin aber durch den Betrieb der laufenden Arbeit noch nicht dazu gekommen, mich gründlicher in die Literatur zu vertiefen. Könnten Sie mir evtl. eine Schrift empfehlen, die für dieses Thema belangvoll wäre? Mit den besten Wünschen für Ihre Gesundheit und in Verehrung grüssend bin ich Ihr ergebener S. Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, oben links in lateinischen, oben rechts in hebräischen Lettern, hschr. korr., DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/24 Kopie: Nachlass Rothschild

Bleulers Bezeichnung einer Gruppe von Geisteskrankheiten als Schizophrenie: Bleuler verwendete den Begriff Schizophrenie (1911) an der Stelle von Kraepelins Bezeichnung dementia praecox. Der Begriff der Schizophrenie setzte sich durch.

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L. Binswanger und Boss: Der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Ludwig Binswanger (1881–1966) integrierte in seinen psychotherapeuti­ schen Ansatz die Existenzphilosophie, woraus sich eine eigene psychothe­ rapeutische Richtung entwickelte, die der sog. Daseinsanalyse. Ludwig Binswanger war einer der Leiter des Bellevue-Sanatoriums, das von seinem Großvater gegründet worden war, eine Privatklinik für psychiatrisch kranke Patienten. Auch war er der Stiefbruder von Herbert Binswanger, mit dem Rothschild über lange Zeit korrespondierte (s. 114 K). Der Schweizer Psy­ chiater und Psychoanalytiker Medard Boss (1903–1990) trug ebenfalls zur Entwicklung einer Daseinsanalyse bei, in engem Zusammenwirken mit Martin Heidegger.

142 Klages an Rothschild Kilchberg, den 29. November 1954 Herrn Dr. S. Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Verbindlichen Dank für Ihre ausführlichen Darlegungen vom 10. ds. Die sog. Existenzialphilosophie halte ich für ein Hirngespinst und aus Zitaten in Tageszeitungen Heidegger uneingeschränkt für einen Verhunzer der deutschen Sprache. Über den Inhalt seiner p. p. Philosophie dagegen kann ich nicht urteilen, da ich ausser jenen Zitaten nichts von ihm kenne. Ich besitze zwar eine höchst originelle und ausserordentlich umfas­ send angelegte Abfassung über Schizophrenie von einem Psychiater namens Treher. Aber diese ist bisher weder zum Abschluss gelangt noch veröffentlicht. – So bin ich leider nicht in der Lage, Ihnen irgendein einschlägiges Werk zu empfehlen. Mit wiederum herzlichen Wünschen für erfolgreiches Forschen ver­ bleibe ich Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, links oben überstempelt mit »Seminar für Ausdruckskunde Kilch­ berg bei Zürich«, Kurzbriefformat, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/18

Psychiater namens Treher: Wolfgang Treher (1919–1993), deutscher Psychi­ ater, lange Zeit in Freiburg tätig. Zum fraglichen Zeitpunkt lag noch keine veröffentlichte Arbeit zur Schizophrenie vor, später veröffentlichte er Stu­ dien zur vermuteten Schizophrenie bei Adolf Hitler, Rudolf Steiner und

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Daniel Paul Schreber (1966): Er kritisiert Freuds Sichtweise der Seele als mechanistisch und behält selbst einen Begriff der Seele als eines nichtmateriellen Phänomens bei. Er würdigt als Verdienst Bleulers, die Spaltung im Begriff der Schizophrenie hervorzuheben und stellt selbst die Spaltung als zentrales pathogenes Geschehen in den Mittelpunkt der als Schizophre­ nie zusammengefassten Krankheitsbilder. Er formuliert als entscheidende krankheitsspezifische Psychodynamik die Notwendigkeit zur Abspaltung eines Teils der Person/Seele in einen unversehrten Bereich, wenn die inner­ seelische Homöostase des Menschen aufgrund seiner Vulnerabilität und besonderen Umwelteinflüssen unter unerträglichen Druck gerät. Zwischen der Seelenhälfte, die mit Angst und Ohnmacht gefüllt sei, und der Seelen­ hälfte, die sich ein gutes Selbstgefühl und Glück bewahrt, kommt es in dieser Sicht Trehers in der Schizophrenie zu einer Pendelbewegung. Dies sei auch »das Grundprinzip von Hitlers psychodynamischer Antriebsmaschine« gewesen (Treher 1966, S. 29). Diese »Pendelbewegung von der Not zur Erlösung« u.a. erörtert er ausführlich anhand von Hitlers »Mein Kampf« (a.a.O., S. 104ff.) und versucht vor allem die Konstruktion nachzuvollzie­ hen, die Hitler ›die Pendelbewegung‹ an das Judentum heften lässt. Im Kampf gegen Bolschewismus-Sozialdemokratie-Judentum-Juden werden der innere Negativbereich und mit der Identifizierung mit dem deutschen Volkstum der positive innere Bereich definiert und die ›Rettung‹ als die Erlösung aus diesem inneren Kampf im außen angezielt. Treher wurde wenig rezipiert, mit den Hitleranalysen stieß er auf Einverständnis, wegen des Einbezugs Steiners in die Diagnoseklasse der Schizophrenien wurde die Arbeit als abstrus abqualifiziert.

143 Rothschild an Klages 4. 12. 1954 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg / Zch. Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Dr. Klages! Erst vor kurzem schrieb ich Ihnen, aber ich möchte Ihnen doch auch zu Ihrem Geburtstag meine Glückwünsche senden und Ihnen vor allem zufriedenstellende Gesundheit wünschen. Ich weiss, wie beschwerlich manchmal das Alter sein kann – meine Mutter ist eben­ falls 82 Jahre –, aber ich weiss auch von den brieflichen Mitteilungen von Dr. Binswanger, dass alle diese Beschwerden Sie nicht hindern, weiter im Sinne Ihres Werkes zu wirken und zu schaffen.

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Von mir kann ich Ihnen bei dieser Gelegenheit eine erfreuliche Mit­ teilung machen. Der »Foundations’ Fund for Research in Psychiatry«, der von einem Direktorium namhafter amerikanischer Psychiater, Psychologen, Neurologen und Physiologen verwaltet wird, und in Verbindung mit der Yale University in den U.S.A. eingerichtet worden ist, hat mir für 2 Jahre eine Unterstützung zugesprochen, die es mir erlaubt, die Hälfte meiner Zeit wissenschaftlicher Arbeit zu widmen. Ich werde noch einen halben Tag an der Universitätsklinik arbeiten, aber meine Privatpraxis schliessen. Obwohl dieses ameri­ kanische Direktorium sicherlich zunächst an Forschung mit experi­ mentellen und klinischen Methoden interessiert ist, haben einige positive Besprechungen, die in bezug auf mein letztes Buch auch in amerikanischen Fachzeitschriften erschienen sind, doch soweit Interesse geweckt, dass man sich auf meinen Antrag hin etwas näher mit meinen Arbeiten beschäftigt hat und mir diese Unterstützung zugesprochen hat. Mein Thema in der englischen Formulierung lau­ tet: Structure and Function of the Central Nervous System in Relation to Experience. Ich hoffe nun endlich, mich in grösserer Ruhe an die Arbeiten machen zu können, die ich schon lange plane, aber unter dem Druck der Berufsarbeit nicht in Angriff nehmen konnte. Indem ich nochmals meinen besten Wünschen zu Ihrem Geburtstag Ausdruck gebe, bin ich in Verehrung grüssend Ihr ergebener S. Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links oben in lateinischen, rechts oben in hebräischen Lettern, hschr. korr., mit hschr. Vermerk von Klages verse­ hen: »Dank + (unleserlich) für Ihren Erfolg« DLA Marbach, Nachlass Kla­ ges 61.11901/25 Kopie: Nachlass Rothschild

Foundations’ Fund for Research in Psychiatry: Der Forschungsfonds existierte von 1954 bis 1981. Er war das Resultat der Zusammenarbeit zwischen Fritz Redlich, Psychiater und Psychoanalytiker, Direktor der Abteilung für Psychiatrie an der Yale Universität (New Haven/Connecticut) und dem an einer zyklothymen Erkrankung leidenden Charles B. G. Murphy, einem rei­ chen Geschäftsmann, der sich bei René Spitz und später bei Lawrence Kubie in psychoanalytischer Behandlung befand. Ein großer Teil der Gelder wurde Psychoanalytikern zur Verfügung gestellt: u.a. Anna Freud, Erik Erikson, John Bowlby, Franz Alexander und Merton Gill. Erich Fromm erhielt Gelder für ein sozialpsychologisches Projekt in Mexiko und unvorhergesehene

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Kosten bei Ronald D. Laings Untersuchungen der Familien schizophrener Patienten wurden übernommen. Auch der Philosoph, Soziologe und Kom­ munikationstheoretiker Gregory Bateson wurde von dem Fonds unterstützt. Ab den späten 1950er-Jahren verschob sich der Schwerpunkt auf die För­ derung biologisch-psychiatrischer, neurologischer und sozialpsychiatri­ scher Forschung (Pines 1983). Rothschild war offenbar einer der ersten geförderten Wissenschaftler. Sein späterer Freund Jozef Hes, der Schriften von Rothschild ins Englische übersetzte, erhielt gegen Ende der 1950erJahre ein Stipendium an der Yale Universität für eine sozialpsychiatrische Fortbildung (Pines 1983, S. 4). Die finanzielle Unterstützung ermöglichte Rothschild die Abfassung umfangreicher Beiträge und der wiederum bei Karger erschienenen Arbeit »Das Zentralnervensystem als Symbol des Erlebens«, die die »Symbolik des Hirnbaus« aktualisierte, anders organisierte und um neuere Aspekte ergänzte (Rothschild 1958).

144 Klages an Rothschild Kilchberg, den 10. Januar 1955 Herrn Dr. Salomon Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Sehr geehrter Herr Dr.: Wenn Sie erst heute auf Ihren freundlichen Brief anlässlich meines 82. Geburtstags Dank und Lebenszeichen von mir erhalten, so deshalb, weil sich mein Befinden inzwischen erheblich verschlechtert hat. Alle Injektionen und Gifte scheinen verbraucht zu sein, und ich gewinne mehr und mehr den Eindruck, dass sowohl meine Schlaflosigkeit als auch meine nächtlichen Bein­ schmerzen unheilbar sind. Sehr habe ich mich gefreut zu hören, dass Sie von einem amerikani­ schen Forschungsinstitut für mindestens zwei Jahre eine regelmässige Unterstützung erhalten, die es Ihnen ermöglicht, die Hälfte Ihrer Zeit ganz Ihren Forschungen zu widmen. Ich wünsche Ihnen besten Erfolg und sehr nachträglich alles Gute zum Jahr 1955. Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich Ihr ergebener: LKlages Original: Ts, Kurzbriefformat, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/19

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145 Rothschild an Klages 3. 12. 1955 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg / Zch. Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Der Anfang Dezember ist ein willkommener Termin, Ihnen als Aus­ druck meiner Dankbarkeit und Verehrung Glückwünsche zu Ihrem Geburtstag zu senden. Aus Briefen von Dr. Binswanger habe ich zu meiner Freude entnommen, dass Sie weiter tätig sind und Ihr Buch »Vom Wesen des Bewusstseins« in Neuauflage erscheinen soll. Dieses Buch war es seinerzeit, dass mir Ihre Weltsicht eröffnet hat, und ich hänge besonders an ihm. Dieser Tage las ich das Buch von Enno Bartels über Ihre Lebenslehre und das Vitalismusproblem. Es scheint mir eine, wenn auch kritische, so doch viel gründlichere und ernsthaftere Auseinandersetzung mit Ihrem philosophischen Werk, als ich sie bisher gefunden habe. Da ich kein Fachphilosoph bin, das medizinische Leib-Seele-Problem von mir aber immer wieder Orientierung in solchen philosophischen Fragen verlangt, schätze ich kenntnisreiche und klare naturphiloso­ phische Darstellungen solcher Fragen. Wie Sie aus dem Kopf des Briefes ersehen, habe ich eine Ernennung an der hiesigen Universität erhalten. Der genaue Titel lautet in Englisch: »Clinical Associate Professor of Psychiatry« und entspricht etwa einer Titularprofessur in der Schweiz. Obwohl diese Verbindung mit der Universität Belastungen mit sich bringt, dürfte sie doch auch im Inter­ esse meiner wissenschaftlichen Arbeit sein. Psychiatrie und Neurolo­ gie sind in den letzten Jahren durch die elektroenzephalographischen Methoden und Pharmaca wie Largactil, die einen psychologisch und neurologisch fassbaren Einfluss ausüben, in Bewegung. Die Themen, die ich zur Zeit bearbeite, schliessen allerdings unmittelbar an der »Symbolik des Hirnbaus« an. Sobald etwas im Druck erschienen sein sollte, werde ich es Ihnen zusenden. Mit dem Wunsch, dass dieser Brief Sie bei zufriedenstellender Gesundheit finden möge, bin ich mit verehrungsvollen Grüssen Ihr ergebener S. Rothschild

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Original: Ts, hschr. korr., gedruckter Briefkopf, links oben in lateinischen, rechts oben in hebräischen Lettern: neuer, um ›Professor‹ ergänzter und geringfügig anders gestalteter Briefkopf, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/26

Enno Bartels: 1953 erschien sein Buch »Ludwig Klages – Seine Lebenslehre und der Vitalismus«, in welchem er die beiden, dem Positivismus entgegen­ gesetzten biologischen Positionen, die Klagesʼsche Lebenslehre und den Vitalismus (Hans Driesch u.a.) gegeneinander abgegrenzt bespricht. Die Lebenslehre versteht er als »heraklitische« Theorie, qualitativ anders als den Vitalismus. Er bezieht die Einwände ein, die Klages selbst gegen den Vitalismus vorbrachte. Largactil: Markennamen des ersten, eingesetzten Neuroleptikums mit dem Wirkstoff Chlorpromazin.

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145 R vom 3.12.1955 im Original

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146 Klages an Rothschild Kilchberg, den 4. Januar 1956 Herrn Prof. Dr. S. Rothschild 3, Redak Road Jerusalem Verehrter Herr Prof. Dr. Rothschild: Nachträglich vielen Dank für Ihre freundlichen Zeilen zu meinem Geburtstag. Die 4. Neuauflage von »Vom Wesen des Bewusstseins« habe ich zwar eingeschrieben, nicht aber als Luftpost an Sie abgesandt, sodass Sie das Buch wohl kaum schon erhalten haben. Da und dort wurden Änderungen vorgenom­ men. Für Sie aber genügt es, wenn Sie Kenntnis nehmen von der nur zwei Seiten umfassenden »Einführung«. Dass ein Gelehrter namens Enno Bartels sich kritisch mit meinem Werk auseinander gesetzt hat, erfahre ich erst durch Sie, und werde wohl auch kaum Gelegenheit haben, die Publikation kennenzulernen. Ich begrüsse Ihre Beförderung zum Titularprofessor und glaube, dass diese der Verbreitung Ihrer Forschungen zugute kommen wird. Von meiner Gesundheit schweige ich, weil es damit nicht zum Bes­ ten steht, und verbleibe mit herzlichen Wünschen zum neuen Jahr Ihr: LKlages Original: Ts, Kurzbriefformat, Nachlass Rothschild Kopie: DLA Marbach, Nachlass Klages 61.6793/20

147 Rothschild an Klages 29. 1. 1956 Herrn Dr. Ludwig Klages Kilchberg / Zch. Rigistr. 36 Sehr verehrter Herr Doktor Klages! Inzwischen erhielt ich nicht nur Ihren Brief vom 4. Januar, sondern auch die Neuauflage von »Vom Wesen des Bewusstseins«, dessen Zusendung mit der Widmung ich als eine besondere Ehre empfinde, für die ich Ihnen herzlich danke.

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Ihre warnende und unheilverkündende Prognose für die Menschheit, der Sie im Vorwort von neuem Ausdruck geben, regt mich immer wieder zum Nachsinnen an, ob die Geschichte der Menschheit wirk­ lich diesen Weg gehen muss. Ich komme zu keiner Gewissheit und vielleicht kann ich es von meinem Standpunkt aus auch grundsätz­ lich nicht. Im übrigen sind wir hier in Israel infolge der politischen Spannungen mit den umgebenden arabischen Völkern in einer viel unmittelbareren Gefahr, in bezug auf deren Beseitigung vorläufig auch noch kein Weg sichtbar ist. Indem ich Ihnen nachträglich zu dem Jahreswechsel alles Gute wün­ sche bin ich in Verehrung grüssend Ihr S. Rothschild Original: Ts, gedruckter Briefkopf, links oben in lateinischen, rechts oben in hebräischen Lettern, DLA Marbach, Nachlass Klages 61.11901/27 Kopie: Nachlass Rothschild

Ihre warnende und unheilverkündende Prognose für die Menschheit: Roth­ schild bezieht sich aktuell auf folgenden Text in dem zur Neuauflage neu verfassten Vorwort: »Die Gegenwart leistet bisher nicht Erreichtes auf drei Gebieten: der Tech­ nik, des Sports und des beide heimlich, aber unausweichlich führenden Geldwesens (Mammonismus). – Das ist gewiß nicht wenig. Gehören doch in Ansehung ihrer Verwendbarkeiten – und nur die erlauben ihnen zu blü­ hen! – zur Technik außer Chemie, Physik, Meteorologie, Mathematik alle Gebiete der Heilkunde wie Tierkunde, Pflanzenkunde, Anatomie, äußere und innere Medizin. In der Aufweisung und Behandlung der Krankheiten und, um nur eines zu nennen, in der Chirurgie leistet man Beispielloses. Man stellt auf allen Feldern die erfindungsreichsten Experimente an, und die Ergebnisse stimmen. Man rechnet mit oder ohne Glauben an die Kausalität, und die Ergebnisse stimmen ebenfalls. Vor den Künsten der Chemie verblassen die Wunder der Märchen des Orients. Die astronomische Technik stößt längst in die Stratosphäre, ja in den Weltraum vor. – Die sog. Geisteswissenschaften (wie Archäologie, Sprachwissenschaft usw.) stehen demgegenüber teilweise wohl schon etwas im Schatten, wahren im allgemeinen aber die Tradition. Kurz, der Aspekt des Kennens und Könnens ist, im ganzen genommen, imposant. Allein die Sache hat eine Kehrseite. Die maëlstromartig alles in sich hinein­ saugende Industrialisierung vergiftet die Flüsse, deren Fische zu zehntau­ senden dahinsterben. Die Ölfeuerung der Schiffe bedroht, nur etwas langsa­

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meren Tempos, mit Vernichtung die Tierwelt der Ozeane. Vom gewaltigen Großwildbestand Afrikas wird man die Reste bald in Naturschutzparken und zoologischen Gärten zu suchen haben. Mehr als hundert Tierarten wurden in fünfzig Jahren ausgerottet, will sagen für immer vertilgt. Der Hochwald der Erde geht seinem Ende entgegen. Das Grundwasser sinkt, und die Folgen der Versandung und Versteppung sind furchtbar, nicht davon zu reden, daß die Menschheit unter der ständigen Drohung von Kriegen steht, die ihr Ende bedeuten würden; wie der Verfasser dieser Zeilen das alles, bevor deren erster begann, 1913 der auf dem Hohen Meißner versammelten Freideutschen Jugend vorgetragen und wenig später in Verbindung mit andern Worten des Wissens unter der Aufschrift ›Mensch und Erde‹ der breitesten Öffentlichkeit zu Gehör gebracht hat. Halten wir neben die oben anerkannten Erfolge deren grauenhafte Folgen, so erhebt sich die Frage: was stimmt hier nicht? Die Antwort lautet: dank der von uns angeführten Errungenschaften hat sich die Anzahl menschlicher Erdbewohner, die sich im Gegensatz zur Tierwelt erstaunlicher Weise ›Seelen‹ nennen im Zeitraum von rund siebzig Jahren weit mehr als verdoppelt. Die meisten halten das für ein Glück. Allein es wurde erkauft mit der fortschreitenden Vernichtung der Menschenart, die einzig imstande gewesen wäre, den Weg des Verderbens zu sperren: mit der Vernichtung des kontemplativen Menschen. Dadurch ist der Prozeß des Unheils unaufhaltsam geworden. Niemand entzieht sich ihm, will er nicht untergehen. Die einen ergeben sich ohne Widerstand; andre indessen werden aus Liebe zum Leben zu Kämpfern für die tragische Größe des Lebens und stehen gleich ihm, nur aber bewußt, auf verlorenem Posten« (Klages 1955, Auszug aus dem Vorwort).

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Literatur

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Aufzeichnungen Gespräch mit Margot Rothschild am 5.4.1997 in Motza Illit (bei Jerusalem), Astrid Thome (Augsburg) [protokolliert] Gespräch mit Margot Rothschild am 26.8.2000 in Motza Illit (bei Jerusalem), Astrid Thome (Augsburg) und Gabriele von Bülow (Berlin) [protokolliert] Interview Friedrich S. Rothschilds mit Gabriele von Bülow und Irma Schindler 1991, Nachlass Friedrich S. Rothschild, Gabriele von Bülow (Berlin) [Kurzfas­ sung DVD]

Die Herausgeberin dankt allen Rechtsinhabern für die freundliche Abdruckerlaubnis. Da es nicht möglich war, in allen Fällen die Rechts­ inhaber ausfindig zu machen, bitten wir diese, sich gegebenenfalls mit dem Verlag in Verbindung zu setzen.

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