Vom Bilde des Absoluten: Grundzüge der Phänomenologie Fichtes 9783110864632, 9783110139242


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German Pages 580 [584] Year 1993

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Table of contents :
Einleitung Fichtes Lehre vom Bilde des Absoluten als dritte Vollendungsgestalt des Idealismus
1. Kennzeichnung der drei Vollendungsgestalten idealistischer Metaphysik
2. Rückgang in den Ermöglichungsgrund der vollendet gedachten Wahrheit
Teil I Seinslehre Sollen, Leben, Dasein
1. Kapitel Sollen – Zwischenglied zwischen Sein und Bild. Zur Auseinandersetzung mit Hegels Sollenskritik
2. Kapitel Trauer des Endlichen – Freude seligen Lebens
3. Kapitel Selbstverleugnung des Ich – Wege zum unbekannten Gott (Hölderlin/Sinclair und Fichte)
4. Kapitel Sein, Dasein, Bild
Teil II Methodenlehre Sprache, Dialektik, intellektuelle Anschauung
5. Kapitel Sprache. Mitteilung der Freiheit – Versagen des wahren Seins – Sinnbild der Erscheinungen des Absoluten
6. Kapitel Limitative Dialektik. Methode und System
7. Kapitel Dialektik des Begriffs. Das lebendige Durch
8. Kapitel Intellektuelle Anschauung – Organon transzendentalen Denkens
Teil III Bildlehre Einigungen der Einbildungskraft, Weltschöpfung des Begriffs, Fünffachheit der Vernunftform
9. Kapitel In-eins-Bildung im Zwischen-Schweben
10. Kapitel Das Sein außer sich. Grundgesetze des erscheinenden Einen in Entzweiungen des Bewußtseins
11. Kapitel Aufspaltungen der Weltansichten
Teil IV Stufenlehre Natur, Recht, Sittlichkeit, Religion
12. Kapitel Bestimmungen der Natur
13. Kapitel Anerkennung. Das Bild der rechtlichen Welt
14. Kapitel Moralität–Gewissen: unmittelbares Bewußtsein absoluter Freiheit
15. Kapitel Religion. Dasein Gottes in der Wirklichkeit lebendigen Glaubens
Ausblick Abschließende Nachschrift über den Primat einer transzendentalen Metaphysik und Daseinsontologie
Siglenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis
Sachverzeichnis
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Vom Bilde des Absoluten: Grundzüge der Phänomenologie Fichtes
 9783110864632, 9783110139242

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Wolfgang Janke · Vom Bilde des Absoluten Grundzüge der Phänomenologie Fichtes

Wolfgang Janke

Vom Bilde des Absoluten Grundzüge der Phänomenologie Fichtes

w DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1993

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek -

ClP-Einheitsaufnahme

Janke, Wolfgang: Vom Bilde des Absoluten : Grundzüge der Phänomenologie Fichtes / Wolfgang Janke. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1993 ISBN 3-11-013924-3

© Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin. Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Inhaltsverzeichnis Einleitung Fichtes Lehre vom Bilde des Absoluten als dritte Vollendungsgestalt des Idealismus 1. 2.

Kennzeichnung der drei Vollendungsgestalten idealistischer Metaphysik Rückgang in den Ermöglichungsgrund der vollendet gedachten Wahrheit

3 14

Teill Seinslehre Sollen, Leben, Dasein 1. Kapitel Sollen - Zwischenglied zwischen Sein und Bild. Zur Auseinandersetzung mit Hegels Sollenskritik.... 1.1 Über die vielfältige Bedeutung des Sollens im Jena der Fichte-Zeit 1.2 Sollen und Schranke in Hegels Großer Logik und die Spitze der Fichte-Polemik 1.3 Das Sollen im Aufstieg zum Absoluten 1.4 Das Sollen als Mittelglied der Fichteschen Phänomenologie 2. Kapitel Trauer des Endlichen - Freude seligen Lebens 2. l Endlichkeit: die auf die Spitze getriebene Negation.. 2.2 Vom Sterben und der Trauer des Endlichen nach Hegelscher Logik 2.3 Hegels leicht fertige Überwindung einer Metaphysik der Endlichkeit 2.4 Metaphysik der Endlichkeit - transzendentale Ontologie des Menschen

29 29 35 39 45 50 50 53 55 59

VI

Inhaltsverzeichnis

2.5

Freude durch Abstreifen der Angst im Schweben zwischen seligmachender und unseliger Liebe 2.6 Leben und Tod in Fichtes Lebens- und Erscheinungslehre 3. Kapitel Selbstverleugnung des Ich - Wege zum unbekannten Gott (Hölderlin/Sinclair und Fichte) 3.1 Kritische Scheidung zwischen dem Ich und dem Absoluten. Hölderlins Kehre in „Urtheil und Seyn". 3.2 Seyn schlechthin und Dasein des Schönen; Intellectuale Anschauung und ästhetischer Sinn. Ontologisch-ästhetische Verbindungslinien auf der Hyperion-Stufe 3.3 Der Überstieg zum Absoluten. Selbstverleugnung des Ich und absolute Abstraktion in Sinclairs „Philosophischen Raisonnements" und Fichtes Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 Exkurs I Hölderlins Wort vom Angesicht des unbekannten Gottes 4. Kapitel Sein, Dasein, Bild 4.1 In-sich-Geschlossenheit des Seins. Fichtes Satz der Inkludenz 4.2 Einziges Dasein: Bewußtsein und Wissen als Da des Seins 4.3 Absolutes Wissen als Bild des Absoluten

62 66 74 76

85

97 107 114 114 120 126

Teil II

Methodenlehre Sprache, Dialektik, intellektuelle Anschauung 5. Kapitel Sprache. Mitteilung der Freiheit - Versagen des wahren Seins - Sinnbild der Erscheinungen des Absoluten 5.1 Die Vorbestimmung von Sprache überhaupt: Zeichen der Gedanken und Mitteilung der Freiheit 5.2 Vernunftgerechte „Communikation" durch Mitteilung unserer Gedanken? Erörterung der 1. Fichteschen Sprachdeduktion

137 137

143

Inhaltsverzeichnis

5.3 5.4 5.5 Exkurs II o.Kapitel 6.1 6.2

6.3 6.4 6.5 7. Kapitel 7.1 7.2

7.3 7.4 7.5 8. Kapitel 8.1

Leitung der Freiheit durch Freiheit. Die Ansprache des anderen Ich als Bedingung freier Selbstwerdung und die Lösung des Sprachursprungsproblems Zur Krise der Sprache. Fichtes Scheidung von Sprache und Vernunft im Reden von Sein Die Sinnbild-Sprache als Durchströmungspunkt sinnlicher und übersinnlicher Welt (Fichtes 4. Rede an die deutsche Nation) Von Urvolk und Ursprache der Deutschen in den „Reden an die deutsche Nation" Limitative Dialektik. Methode und System Von der transzendentalen Dialektik im positiven Verstande Die Methodenreflexion bei Ableitung der Wechselbestimmung (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre 1794/95, §4) Was heißt limitative Dialektik? Dialektik von Schranke und Sollen versus affirmative Unendlichkeit. Ein kritischer Ausblick Die Einheit des Systems im Spiegel des thetischen Urteils Dialektik des Begriffs. Das lebendige Durch Das dialektische Durch im Sagen des Seins (Einleitung in die W.L. Herbst 1813) Das Durch-ein-ander als lebendige Denkform des Urbegriffs (Transzendentale Logik 1812, 3.-4. Vortrag) Ausfaltung der Fünffachheit im Durchnehmen von Sein und Bild (WL 1804-11,4., 10. Vortrag) Von der Selbstbegrenzung des Durch an der Unbegreiflichkeit des Lichts Kritische Scheidung von Leben und Begriffsform in Genetisierung des lebendigen Durch Intellektuelle Anschauung - Organon transzendentalen Denkens Heillose Schwärmerei oder Organon der Philosophie? Rechtfertigung der intellektuellen Anschauung gegenüber Kant (2. Einleitung, Abschn. 6)

VII

149 158

162 172 187 188 192 198 201 204 213 213 223 234 242 246 250 252

VIII

Inhaltsverzeichnis

8.2

Der einzig feste Standpunkt aller Philosophie. Position der intellektuellen Anschauung durch Negation der separierenden Reflexion (Versuch einer neuen Darstellung 1,2) ,JSich Setzen als setzend". Klärung der Theorie des 8.3 Selbstbewußtseins im Lichte der intellektuellen Anschauung Schellings Erhebung der intellektuellen AnschauExkurs III ung zur Selbstanschauung des Absoluten Sich-Durchschauen als Schema göttlichen Lebens 8.4 im Schauen des Soll (Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse, 1810, § 13) Intellektuelle Anschauung und Fünffachheit. Eine 8.5 zurechtweisende methodologische Einweisung (Darstellung der Wissenschaftslehre 1801/02, § 15)

258

265 272

276

283

Teil III Bildlehre Einigungen der Einbildungskraft,

Weltschöpfung des Begriffs, Fünffachheit der Vernunftform 9.Kapitel In-eins-Bildung im Zwischen-Schweben 9.1 Zur Privilegierung des verkannten, wunderbaren Vermögens 9.2 Rettung des endlichen Geistes aus dem Zirkel der obersten Denkbestimmungen durch eine „unabhängige Tätigkeit" 9.3 Funktionen: Hervorbringen der Realität und Zusammenknüpfen der Substanz 9.4 Das Wesen der Einbildungskraft: einigendes Schweben zwischen Endlichem und Unendlichem 9.5 Schweben des Chaos. Die Erhebung der Imaginationskraft ins Absolute („Fichte-Studien" des NoExkurs IV valis) Einbildungskraft (Erinnerung und Ahnung) in der transzendentalen Poetik des magischen Idealismus ..

293 294 300 304 308

314 318

Inhaltsverzeichnis

Schweben: Erörterung des Mittel- und Wendepunktes absoluten Wissens (Darstellung der Wissenschaftslehre 1801/02,1, § 19) 10. Kapitel Das Sein außer sich. Grundgesetze des erscheinenden Einen in Entzweiungen des Bewußtseins 10.1 Die Hauptspaltungen der Erscheinung. Ein Vorblick (Die Wissenschaftslehre 1804-11, 10. Vortrag). 10.2 Ableitung der Dualität von Denken und Sein im Ich. Das Von und das Licht 10.3 Erschaffung der Welt als Gegenbild inkludenten Lebens durch den Begriff unter dem Anspruch des Soll (Die Anweisung zum seligen Leben, 4. Vorlesung) 10.4 Deduktion der unendlichen Vielheit des Innerweltlichen aus dem freien Faktum der Reflexion 10.5 Vom Ursprung und Sinn der Ich-Vielheit 11. Kapitel Aufspaltungen der Weltansichten 11.1 Die faktische Spaltung der sinnlichen und übersinnlichen Welt: Bild a - Bild y (Die Tatsachen des Bewußtseins. Vorgetragen zu Anfang des Jahres 1813, 11. Vortrag) 11.2 Fünffachheit der Vernunftstandpunkte. Genetischer Aufriß unser Grundstellungen zur Welt

IX

9.6

324 336 337 345

351 358 366 376

376 384

Teil IV Stufenlehre

Natur, Recht, Sittlichkeit, Religion 12. Kapitel Bestimmungen der Natur 12. l Von der Verstehbarkeit der Natur überhaupt 12.2 Die vielfältige Bedeutung der Natur. Überblick über einseitige Natureinstellungen menschlicher Vernunft 12.3 Natur und Kultur. Rehabilitierung der Kultivierung im Zuge einer Bestimmung des Menschen an sich (Von den Pflichten der Gelehrten, 1794, 1. Vortrag) 12.4 Natur und Sittlichkeit. Das Materialeder Pflicht......

396 396 401

407 412

X

Inhaltsverzeichnis

12.5

Natur und Gott. Kritische Vermittlungen des Erscheinens Gottes in der Natur 13. Kapitel Anerkennung. Das Bild der rechtlichen Welt 13.1 Anerkennung - Wortfmdung und Begriffsprägung... 13.2 Einige Anmerkungen zur 1. Deduktion des Anerkennungsprinzips (Grundlage des Naturrechts 1796, §§1-4) 13.3 Eingrenzungen der rechtlichen Welt auf sich: Zwang, Selbstbehauptung, Abschreckung 13.4 Die Charakterisierung des Rechtsstandpunktes als Stufe erscheinenden Vernunftlebens 13.5 Anzeige der Vermittlungsfunktion des Rechts im Lichte der Erscheinungswissenschaft 14. Kapitel Moralität-Gewissen: unmittelbares Bewußtsein absoluter Freiheit 14.1 Das Faktum des Gewissens und das Prinzip der Autonomie: Bewußtmachung unserer höheren Natur und absoluten Freiheit (System der Sittenlehre 1798, § 11, § 3) 14.2 Unruhe und Zufriedenheit. Genetisierung des sittlichen Gefühls in einer Ethik der Freiheit 14.3 „Das Gewissen irrt nie". Sicherung des unmittelbaren Bewußtseins bestimmter Pflicht (System der Sittenlehre 1798, § 15) 14.4 Gehorsam - Erfolg des guten Willens - Endzweck des Daseins. Vorbereitende Vertiefung der Destination des Menschen (Die Bestimmung des Menschen 1800, 3. Buch) 14.5 „Orakel der ewigen Welt". Besinnung auf das hinfließen" des Unendlichen: die Stimme des Gewissens und das Dasein göttlichen Willens 15. Kapitel Religion. Dasein Gottes in der Wirklichkeit lebendigen Glaubens 15.1 Panethischer Atheismus? Zur Ausfaltung der moraltheologischen Weltansicht durch Jacob Salat, Friedrich Karl Forberg und Fichte (Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 1797/98) 15.2 Aufstieg zur religiösen Weltansicht im Stufengang

425 432 435

441 447 454 458 461

463

471

478

483

488 493

493

Inhaltsverzeichnis

15.3

15.4

der Moralität (Die Anweisung zum seligen Leben, 5. Vorlesung) Liebe und Haß, Hoffnung und Furcht. Aufriß einer Affektenlehre auf der Basis religiöser Menschenliebe „Die Liebe ist höher denn alle Vernunft". Ermittlung der absoluten Liebe als Quelle aller Gewißheit und Realität in der Religionslehre

XI

502

514

525

Ausblick Abschließende Nachschrift über den Primat einer transzendentalen Metaphysik und Daseinsontologie.

532

Siglenverzeichnis Literaturverzeichnis Namenverzeichnis Sachverzeichnis

543 547 557 564

EINLEITUNG Fichtes Lehre vom Bilde des Absoluten als dritte Vollendungsgestalt des Idealismus Der Deutsche Idealismus entstammt der platonischen Metaphysik, und er weiß sich als Vollendung des griechischen Anfangs durch einen Fortgang, in welchem das wahre Sein der Dinge, die Idee, erst zu sich selber findet. Das geschieht auf dem Boden der Idee und Vorstellung (idea, perceptio) als Selbstvorstellung (apperceptio) und der Wahrheit als Übereinstimmung von Subjekt und Objekt. Dabei wird alles zweifelhafte Weltbewußtsein in der Selbstgewißheit des Ich gesichert und die Adäquationswahrheit zuletzt in der Subjekt-Objekt-Übereinstimmung (Ich=Ich) gegründet. So scheint das bloße Streben nach Weisheit in eine strenge Wissenschaft als Wissen vom Wissen des Wahren übergegangen und am Ziel. Erstaunlicherweise ereignet sich solche Vollendung der Metaphysik dreifach. Der Deutsche Idealismus ist das Stadium der Metaphysik in der dreifachen Vollendung ihrer Wahrheit. Für diese rohe These sind zunächst die drei Vollendungsgestalten als solche herauszuheben, damit überhaupt die Frage nach dem Rätsel ihres dreifachen Anspruchs auf die Eine Wahrheit rege werden kann. Hegels System als Vollendung des Platonismus ist in aller Munde, nicht zuletzt durch Heideggers Rede vom Ende der Metaphysik, bei dem sich die Wahrheit unter dem Joch der Idee vom absoluten System her bestimmt und das Subjekt als Wille zum absoluten Wissen verfestigt. Schellings positive Philosophie steht wenigstens im Streit, abruptes Ende des idealistischen Pantheismus oder Vollendung der kritischen Selbstbegrenzung der Vernunft zu sein. Fichtes Lehre vom Bild des Seins ist (bis auf die Gelehrtendebatte über die »veränderte Lehre4) unbeachtet geblieben. Dabei bahnt gerade sie einen kritisch besonnenen Weg, das Prinzip des Selbstbewußtseins zu übersteigen, um das reine Wissen als Dasein, Erscheinung und Bild des in sich geschlossenen Absoluten einsichtig sowie als Einigungs- und Spaltungsfundament der Erscheinungen durchsichtig zu machen.

2

Einleitung

Um freilich die Dreigestaltigkeit des Deutschen Idealismus unbefangen ansehen zu können, muß endgültig von jener verführerischen Triplizität Abschied genommen werden, welche - unter dem Eindruck von Hegels „Differenzschrift" - für Fichtes Position den Akzent auf die subjektive Subjekt-Objekt-Einheit und die Gleichsetzung von Sein und Sollen legt und Schellings Fortschrittsleistung in der Aufstellung der Naturphilosophie als Antithese zum transzendentalen Idealismus im Sinne einer objektiven Subjekt-Objekt-Einheit sieht, um Fichtes Spätphilosophie, soweit sie überhaupt bekannt ist, und Schellings Lehre vom Absoluten seit dem Identitätssystem als spekulativ leer abzuschätzen. Die großartige Gewalttätigkeit des Hegeischen Vernunftglaubens, die Philosophie sei stufenweise auf die Höhe ihrer Vollendung als ontotheologische Wissenschaft aufgestiegen, hat lange einer von Hegels Mut zur Wahrheit mitgerissenen Philosophiegeschichte das Schema eines Prozesses von antithetischen Abstraktionen zur altes versöhnenden, konkreten Wahrheit vorgezeichnet: Fichtes oberster Grundsatz verkünde das absolute Ich, aber so, daß seine Grundlegung mit dem zweiten Satz einseitig subjektiv werde und in der schlechten Unendlichkeit des Strebens praktisch unlösbar an Endlichkeit und Schranke gebunden bleibe. Dem setze Schelling den undogmatischen Versuch entgegen, das Subjektive aus dem Objektiven, den Geist als höchste Potenz in der Stufenreihe der Natur (als bewußtlosem Geist) herzuleiten, da nicht bloß gezeigt werden müsse, daß Tätigkeit, Leben, Freiheit allein das wahrhaft Wirkliche seien, sondern auch umgekehrt, daß alles Wirkliche (die Natur und die Welt der Dinge) Tätigkeit, Leben und Freiheit zum Grunde habe. So aber werde das Objektive, die Natur als Inbegriff des Objektiven, einseitig zum Erklärungsgrund des Wissens und der Wahrheit erhoben. Was befriedigt den Wunsch nach Fortschritt und systematischer Geschlossenheit mehr als der dialektische Aufstieg vom subjektiven über den objektiven zu einem absoluten Idealismus, der mehr ist als die bloße Ergänzung und Wechselbestimmung von transzendentalem Idealismus und Naturphilosophie? Nun ist es geradezu ein Gemeinplatz gegenwärtiger Idealismusdiskussion, das Hegeische Schema zu verwerfen und auf dem Boden einer neuen Quellen- und Editionslage die Lebens- und Bildlehre des späten Fichte und Schellings positive Philosophie als eigenständige Grundstellungen und Vollendungsgestalten des transzendentalen Idealismus anzuerkennen. Aber eine nachfragende Besinnung auf die neu entdeckte Dreigestalt und deren Wahrheitserfassung steht immer noch aus.

Die drei Vollendungsgestalten idealistischer Metaphysik

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l. Kennzeichnung der drei Vollendungsgestalten idealistischer Metaphysik 1.1 Die erste, alles überschattende Vollendungsgestalt ist die Hegelsche Systembildung. Sie hat sich im Aufstieg der Phänomenologie des Geistes zum absoluten Wissen vorbereitet, in der Logik der absoluten Idee gegründet und in einer Enzyklopädie des Geistes allseitig ausgebreitet und befestigt. Hegels „Phänomenologie des Geistes", 1807 - die schwer zu durchdringende, in unserem Jahrhundert vielfältig rezipierte Hinleitung zum absoluten Wissen (Ulrich Claesges, Eugen Fink, Hans Friedrich Fulda, Theodor Haering, Jean Hyppolite, Alexandre Kojeve, Jean Labarriere, Werner Marx, Otto Pöggeler u.a.) - bahnt den Weg, auf dem das Bewußtsein aufsteigend erfährt, wie sich alle Gegenstandsverhältnisse in immer konkreter werdende Selbstverhältnisse verwandeln. Wichtig dafür ist nicht nur der Übergang vom Bewußtseins- zum Selbstbewußtseinskapitel, in welchem der erscheinende Geist das Element der Freiheit erreicht; entscheidend für die volle Konkretion wird der Überstieg über die Stufe des Selbstbewußtseins und der Vernunft zum absoluten Wissen. Der „subjektive Idealismus" behauptet das selbstbewußte Ich als Erstes Prinzip, insofern es sich selbst im Unterschied zum Gegenstand weiß, im Losreißen von aller Fremdbestimmung seine Freiheit gewinnt und das Wahre ausschließlich in der Form der Gewißheit seiner selbst zuläßt. Dagegen vermittelt die „Phänomenologie des Geistes" die Einsicht, daß das Selbstbewußtsein abstrakt bleibt, wenn es sich ebenso einseitig an das Ich-denke klammert wie das gegenständliche Bewußtsein an die „Realität" des Gegenstandes. Idealismus wie Realismus scheitern am Widerspruch, eine Seite im Bewußtsein des Seins zum Ganzen, ein Relatives zum Absoluten zu übersteigern. Der absolute Idealismus beendet die lächerlich-furchtbare Gigantomachie, die Riesenschlacht um das Sein zwischen den Materie- und Ideenfreunden, der „immer bestanden hat" (Plato, Soph. 246a-c). Das absolute Wissen steht weder auf der Seite des Seins noch auf der Seite des Bewußtseins, in ihm sind alle Gegensätze von Denken und Sein in die sich wissende Einheit von Wissen und Gegenstand aufgehoben. Der lange, prüfende Gang der Phänomenologie führt über alle möglichen Stufen der Wahrheitsansprüche abstrakter, d.h. einseitiger Positionen zur Gewißheit der Vernunft als Synthesis von gegenstandsgerichteter Übereinstimmung und freier Selbstgewißheit. Das absolute Wissen ist seiner selbst in der Übereinstimmung von wesenhafter Wirklichkeit und

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Einleitung

Vernunft gewiß geworden. Seine Wahrheit heißt: Bei-sich-selbst-bleiben im Anderssein. Bekanntlich ordnet sich die Phänomenologie des Geistes von 1830 innerhalb der triadischen Gesamtgliederung der „Enzyklopädie" in eine Philosophie des Geistes ein, und zwar in die Mitte zwischen Anthropologie und Psychologie. Hier endet sie, ihrer Einleitungsfunktion und -methode entkleidet, auf der Stufe der Vernunft als formeller Einheit von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Eine „phänomenologische" Hinleitung des erscheinenden Geistes über den Standpunkt der Vernunft hinaus zu einem absoluten Wissen, das noch die Religion in sich aufhebt, scheint hier weder notwendig noch möglich. Insbesondere an dem Verhältnis dieser zweifachen Gestalt der „Phänomenologie" zueinander hat sich die Streitfrage von Anfang, Einheit und System der Hegeischen „Wissenschaft" entzündet. Die „Große Logik", 1812-1816 - die lange vergessene und ausgeschaltete, erst neuerdings wieder, vorzüglich in ihrer Anfangs- und Methodenproblematik eindringlich diskutierte Metaphysik des Absoluten (Klaus Düsing, Hans-Georg Gadamer, Dieter Henrich, Bernhard Lakebrink, Herbert Marcuse, Geoffrey Mure, Lorenz B. Puntel, Ellis u. John MacTaggert, Michael Theunissen) - durchläuft den Kreis des sich in seine Kategorien entfaltenden absoluten Wissens. Sie reicht vom Werden als Ineinander-übergegangen-sein von Sein und Nichts bis zum Leben der absoluten Idee. Auf der Höhe des absoluten Wissens wird die Logik des Seins, des Wesens und des Begriffs zur Onto-Theo-Logik: Darstellung Gottes, wie er in seinem alle Gedanken in sich bewegenden Leben vor der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes ist. Und die dialektische Explikation solcher Gedanken als Kategorien des Seienden geht nicht von einem zum anderen fort, sondern läuft in den Anfang zurück. Das Ende, die absolute Idee, ist der in seiner Totalität erfüllte Anfang, das System der Logik im ganzen. Der Kreis theologischer Logik bildet den Horizont des auszuarbeitenden Systems. Die Heidelberger „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften", 1817 bringt das System als ganzes wenigstens im Grundriß zur Ausführung. (Sie ist in 2. Auflage 1827 um 100 Paragraphen erweitert worden.) Ihre drei Teile entsprechen der Idee an und für sich (Logik), der Idee in ihrem Anderssein (Naturphilosophie: Mathematik/Mechanik, Physik, „Organik") und der in sich zurückkehrenden Philosophie des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes. Neben der Lehre vom subjektiven Geist (in der Triade Seele, Bewußtsein,

Die drei Vollendungsgestalten idealistischer Metaphysik

5

Geist bzw. Anthropologie, Phänomenologie, Psychologie) und dem Ausblick auf die drei Gestalten des absoluten Geistes (Kunst-Religion, geoffenbarte Religion, Philosophie als Gottesdienst) hat die Lehre vom objektiven Geist (abstraktes Recht, Moralität, Sittlichkeit) Geschichte gemacht, vor allem durch die 1833 erschienenen „Grundlinien zur Philosophie des Rechts". Im ganzen geht sonach der Geist, nachdem er sich in der Phänomenologie als absolut ergriffen und in der Logik in der Fülle seiner Gedanken und Seinsbestimmungen durchgeklärt hat, in die Objektivität, das raum-zeithaft-geschichtlich Gegebene über. In diesen Übergängen bewährt die Dialektik der absoluten Negation die Kraft der Selbstverwirklichung durch Entäußerung. Die ewige Idee entäußert sich aus Freiheit ins äußerste Anderssein, in die Natur als dem Außereinander von Raum und Zeit, und der Geist kehrt aus seiner Entäußerung so in sich zurück, daß er das Andere und Fremde in sich aufnimmt. Also denkt der Hegeische Idealismus die Idee Platons zu Ende. Die absolute Idee entfaltet sich als ein dreistufiger Prozeß, in welchem sich die absolute Subjektivität hervorbringt. Hegels vollendetes System ist so wirkmächtig geworden, daß andere Fassungen der Vollendung ins Dunkel der Geschichte zurücktraten. 1.2 Inzwischen ist eine andere Endgestalt des Idealismus zutage gekommen, das Spätwerk Schellings. Es beruht weitgehend auf den erst aus dem Nachlaß herausgegebenen Münchener und Berliner Vorlesungen. Zu Schellings Lebzeiten blieb es ohne Widerhall, während der letzten Jahrzehnte aber rückte es in den Mittelpunkt der Schelling-Rezeption und Idealismusdiskussion. Für die Ortsbestimmung dieser Schlußstellung einer Weltalter- und Offenbarungsphilosophie kommt alles darauf an, den Sinn derjenigen Unterscheidung aufzuhellen, welche sie charakterisiert, die Dichotomic von negativer und positiver Philosophie. Einvernehmen besteht in folgendem: Die fragliche Unterscheidung deckt sich nicht mit einer trivialen Entgegensetzung von Empirie des gegebenen Positiven und Logik/Dialektik von Ideen, gar so, daß sich das Unterschiedene auf zwei Regionen des Seienden, das erfahrbar Existente und die rationalen Wesenheiten, verteilte. Die kritische Scheidung folgt auch nicht einfach der Differenz von Daß und Was, wonach es die negative Philosophie allein mit dem Begriff (Wassein, Idee), die positive mit der konkreten Wirklichkeit (Existenz, Sein) zu tun hätte. Und das höhere Recht der positiven Philosophie läßt sich nicht aus dem Unvermögen der Ratio herleiten, Existenz zu fassen. Der ekstatische Wechsel der Grundstellung verlagert nicht rigoros den Frageansatz aus

6

Einleitung

der Helle rationaler Wesenserkenntnis ins Dunkle der Welt und Abgründige der Existenz. Ein Bankrott der Vernunft, eine Konversion zum Irrationalen findet nicht statt (Xavier Tilliette). Zwar übergreift die positive Wirklichkeitsphilosophie eine bloß logische Wesens- und Vernunftwissenschaft, aber Grund und Sinn der Scheidung brechen nicht an der in aller Metaphysik ungeklärten Differenz kategorialen Daßseins und Wasseins auf, sondern an der durch die Vernunft nicht zu vermittelnden Offenbarkeit Gottes. Spaltung und Einheit der negativen und positiven Philosophie entsprechen Schellings letzter These vom Sein: Gott ist offenbar als reines Daß und unvordenklicher Anfang, der sich per posterius in seinem Was erweist. Genauer gesehen weist die negative Philosophie über sich selbst hinaus, indem sie sich der positiven beugt, und die positive kehrt von sich aus zurück, indem sie die negative wieder aufrichtet. Alle negative oder Vernunft Wissenschaft vollzieht die apriorische Reflexion auf den Grund des Wissens dergestalt, daß sie das Wißbare begreift, d.h. in seiner Essenz als Seinkönnendes erfaßt. Sie gerät in die Krise, wenn sie entdeckt, daß dem von ihr ergründeten Prinzip, dem wesentlichen Was des Geistes, etwas uneinholbar vorausgesetzt ist, nämlich, daß der Geist ist. Dieses reine Daß des urständigen Suppositum heißt „unvordenklich"; die Vernunft kann ihm nichts vorausdenken, weil es - als reiner Akt und ewige Freiheit - der Potenz und Wesenheit vorausliegt. Jedwede Kontemplation also, welche das primum principium nur als Seinkönnendes denken kann, muß an der Wirklichkeit verzweifeln, die höher ist denn alle Wesensnotwendigkeit. Das ist das urständig Seiende (Gott), der „Herr des Seins" (potentia potentiarum), der absolute Wille, der frei und gelassen ist gegenüber allem bestimmten Wollen und Nichtwollen. Bei diesem Prius setzt die positive Philosophie an. Ihr Ziel aber besteht darin, das unvordenkliche Daßsein a posteriori, schärfer: per posterius als Gott zu begreifen. Zur Erkenntnis des unvordenklich Absoluten kann die Vernunft nur über eine Erfahrung von Freiheitstaten gelangen, in denen sich Gott offenbart. Daher sucht die positive Philosophie die Wahrheit über das göttliche Ursein in den Mythen und in der christlichen Offenbarung unter der Leithinsicht einer trinitarisch-christologisch erfüllten Potenzen Wirklichkeit auf. Sie lehrt, die aus der Verborgenheit sich öffnende Wahrheit aus der Geschichte des Bewußtseins und der realen, zeithaften Geschichtswirklichkeit zu erkennen, die keinen anderen Erklärungsgrund zuläßt als die Freiheit Gottes. Die Wahrheit über Gott, Schöpfung, Vorsehung zeichnet sich in der Geschichte eines ge-

Die drei Vollendungsgestalten idealistischer Metaphysik

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waltigen theogonischen Prozesses im Potenzenschema ewiger Selbstentwicklung ab. Dieser Geschichtsgang beschränkt sich nicht auf die eigentliche Offenbarungsreligion, den christlichen Monotheismus; denn die polytheistischen Naturreligionen und Mythen gehören wesenhaft zu jenem geistigen Prozeß, durch den Gott im Bewußtsein der Menschheit geschichtlich geworden ist. So erweist sich das unvordenkliche Prius per posterius, auf dem Wege eines Empirismus des Apriorischen, im Blick auf das Offenbarungsgeschehen, als begreifbar, welches die Handlungen Gottes in der Welt als Abfolge der göttlichen Potenzen zum Ausdruck bringt. Darum also ist es der positiven Philosophie als einem empirischen Apriorismus zu tun, „das apriori Unbegreifliche a posteriori in ein Begreifliches zu verwandeln" (Philos. d. Offenb.; SW XIII, 165). Während die negative Philosophie das Wissen auf seine apriorischen Anfangsgründe hin methodisch zergliedert, um sich am Ende vor der Unvordenklichkeit eines absoluten Prius, des reinen Daß, zu beugen, beginnt die positive Philosophie, den Begriff und einen ontologischen Existenzbeweis aus dem Begriff fallenlassend, mit dem bloß Existierenden, um am Ende die gebeugte negative Philosophie wieder aufzurichten, indem sie den Anspruch des Denkens auf Wesenheiten und Potenzen aus der Wirklichkeit bestätigt. Umstritten bis heute ist die Alternative zwischen Abbruch und Ende oder Vollendung des Deutschen Idealismus bei Schelling geblieben. Die eine (vorzüglich durch Horst Fuhrmans abgesteckte und durch Heinz Heimsoeths Kennzeichnung des „Spätidealismus" - der späte Schelling, Christian H. Weisse, Immanuel Hermann Fichte - als kritische Umbildung zu einem spekulativen Theismus vorbereitete) Position behauptet, Schelling prangere den Idealismus einschließlich Identitätssystem und Potenzenlehre als negative Philosophie an und erkläre diese zum Sündenfall des Denkens gegenüber der Wirklichkeit; in diesem Urteil sei Schelling von der Absicht geleitet, die Systemkonstruktion ganz fallenzulassen, um für das Geschichtliche und Kontingente, die ewige Freiheit und Nicht-Notwendigkeit des handelnden Gottes offen zu werden. Die Wende zu einem an den Fakten von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung orientierten christlichen Theismus habe Gott undialektisch zum Anfang und beende somit den idealistischen Pantheismus, indem sie sich denjenigen Themen öffnet, welche der spekulative Idealismus ausläßt oder verkennt und welche Schellings ungeheure Freiheitsschrift und die Weltalter-Philosophie thematisiert hatten: die schlechthinnige Freiheit Gottes, die zerstörerische Realität und das Eigenprinzip des Bösen,

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Einleitung

der Schreckensgrund der Welt, Schwermut in der Tiefe der Natur und des Gemüts, Abfall der Kreatur als eine urzufällige Geschichte, Sündenfall, Rückkehr, Erlösung des partikularen Willens, die unabsehbaren Wirklichkeiten in Zeit und Geschichte, in Mythos und Offenbarung. Um dem gerecht zu werden und endlich wieder zu einer nicht apriorisch vorkonstruierten Wirklichkeit (und zum Faktum des Christentums) zurückzukehren, fordere Schelling rigoros den Ausbruch aus dem idealistischen Vernunftsystem. - Dagegen erklärt die (von Walter Schulz inaugurierte) Gegenposition, Schellings Spätphilosophie breche nicht mit dem Deutschen Idealismus, sondern vollende ihn. Damit verbleibt - unter weitgehender Abblendung der religionsphilosophischen Gedankenmassen und Schellings religiöser Existenz - der Vorgang einer kritischen Vernunftreflexion auf sich selbst im Zentrum und die negative Philosophie im Ansehen, selbst die Negation der Vernunft angesichts des Positiven, der unfaßlich freien Wirklichkeit Gottes, zu vollbringen. Freilich revidiert diese These die Ansicht dessen, was Idealismus sei: nicht Vermittlung und Versöhnung, sondern Selbstbegrenzung der Vernunft; das sei das Grundgeschehen in der Epoche des Deutschen Idealismus. Im Ganzen dieses Prozesses bilden negative und positive Philosophie zwei gegenwendige modi progrediendi, welche zur Einheit einer philosophischen Wissenschaft von Gott gehören. Erst in solcher Ergänzung zu einem Ganzen scheint der Idealismus vollendet. Recht besehen, ist die Essenzwissenschaft gar nicht falsch, sondern nur unvollständig. In den Irrtum führt sie nur, wenn sie im Stande der negativen Philosophie positive Wirklichkeits- und Offenbarungsphilosophie zu sein behauptet. Das ist der Fall Hegels. Er betreibt die negative Philosophie mit dem Anspruch der positiven. Dagegen erwächst die Wahrheit des Ganzen erst aus der Unterscheidung und wechselseitigen Beziehung von negativer und positiver Philosophie. Daher trägt die Essenzwissenschaft den alten Namen der „Ersten Philosophie" (Philos. d. Offenb.; SW XIII,151), freilich nicht mit der Aristotelischen Dignität einer grundgebenden Prinzipienwissenschaft, welche die Anfangsgründe des Seienden im ganzen aufdeckt und onto-kosmo-logisch die Existenz Gottes beweist. Vielmehr meint erste Philosophie eine vorläufige Wissenschaft, die einer grundlegenderen zweiten bedarf. Erst in der Aufstellung einer „Zweiten Philosophie" (Philos. d. Offenb.; SW XIII, 120), der positiven, vollendet sich das Geschäft des Idealismus. Freilich summieren sich erste und zweite Philosophie nicht nachträglich als Teile, welche einander äußerlich sind, zu einer additiven Einheit.

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Die negative Philosophie ist, indem sie die positive setzt, deren Bewußtmachung, und die positive wird, indem sie die negative einholt, deren Bestätigung im Wirklichen. Natürlich sieht sich eine Wissenschaft, die sich prinzipiell auf absolute Freiheit, Kontingenz und nichtantizipierbare geschichtliche Zeitlichkeit einläßt, als ein unabschließbarer Erkenntnisprozeß an, so daß die Philosophie, wieder bescheiden geworden, den Namen einer Philosophia annimmt (Philos. d. Offenb.; SW XIII, 132). Andererseits entspricht die Abfolge in „der Seins- oder Lebens-Annehmung des Höchsten" genau der sich vollendenden Dreiheit der Prinzipien oder Potenzen in der ewigen Natur (in der Sprache der Weltalter- und Grund-Existenz-Philosophie: der bejahende, reine Wille der Liebe - der verneinende, seinannehmende Wille - der bewußte und im höchsten Grade Geist gewordene Wille). „Wir können daher auch diese Folge der Offenbarung als eine Folge der Potenzen ansehen, die das Sein zu seiner Vollendung durchgeht" (Die Weltalter. Bruchstück 1813; SW VIII, 309). So entsteht ein neues Bild vom Deutschen Idealismus in der letzten Phase seiner Vollendung. Auf dem Weg der negativen Philosophie von der Immanenz zur Transzendenz vollzieht sich eine Selbstnegation der Vernunft, welche Gott als das „absolut Urständliche" und das „eigentlich Transzendente" ekstatisch aus sich heraussetzt. Dieser Vorgang geschieht unausweichlich, insofern das Vernehmen Gottes in eine Krise gerät. Auf Beihilfe der Erfahrung, z.B. durch kosmologisch-teleologische Beweisgänge, muß unsere Vernunft verzichten; denn Gott ist weder in äußerer noch in innerer, mystischer Erfahrung anzutreffen. Aber auch die reine Vernunft kann das Urständliche nicht denken; denn unser unverwandt objektivierendes Begreifen verdinglicht Gott oder das reine, sich setzende Hervorbringen. Die darüber ent-setzte Vernunft setzt sich Gott als das Transzendente und Nichtwißbare voraus. Das Einzige, was vom Anfang positiv zu wissen bleibt, ist, daß sich Gott qua potentia existendi immer schon existent gemacht hat. Damit formiert sich mit der Radikalität ekstatischer Selbstnegation noch einmal der kritische Geist des Idealismus. Wie und warum Gott sich zur Welt herabgesetzt hat, ist „unvordenklich". Aber mit dem kritischen Grundsatz, die reine Selbstvermittlung Gottes sei ihr unverfügbarer Anfang und Grund, gewinnt die Vernunft das Vermögen, die Welt und ihre Geschichte zu konstruieren, zurück. Die positive Philosophie entfaltet sich als erinnernder Nachvollzug des unvordenklichen Geschehens, in dem sich das

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Transzendente immanent gemacht hat. Sie nimmt die Drei-PotenzenLehre so in sich auf, daß die Geschichte der mythologischen und der christlichen Zeit sowie der Anbruch einer Religion des Geistes und der Freiheit verstehbar werden. Darin steht die äußerste Möglichkeit einer philosophischen Wissenschaft von Gott offen. In ihr vermittelt sich die Vernunft so weit mit sich selbst, wie sie durch das unvordenkliche Wirken Gottes vermittelt ist. Eine eigen- und einzigartige Vollendungsgestalt nehmen Schellings „Weltalter" an, welche insbesondere nach Veröffentlichung der Urfassungen durch Manfred Schröter ein tiefergehendes, vielfaches Forschungsinteresse auf sich zogen (Horst Fuhrmans, Wolfgang Wieland, Jürgen Habermas, Xavier Tilliette, Manfred Frank, Peter Oesterreich u.a.). Sofern „Die Weltalter" nicht als ein irrationaler Rückgriff auf den archaischen Mythos, sondern als ein eigenwüchsiger Typus neuzeitlichidealistischer Philosophie angesehen wird, bietet sich ein Zusammenhang mit Zielen des „Ältesten Systemprogramms" an: dem Mythos der Vernunft und einer poetischen Aufhebung philosophischer Wissenschaft. So betrachtet, stellen Schellings „Weltalter" in ihrer Vereinigung von logischem und narrativem Methodenstil einen, freilich gescheiterten Versuch dar, anfängliche Bestrebungen des Frühidealismus zu vollenden. 1.3 Vor der Leuchtkraft der Hegeischen Dialektik und den Entdekkungen des Schellingschen Spätwerkes blieb Fichtes Durchgestaltung der Transzendentalphilosophie zum absoluten Idealismus verdeckt. Das hat auch überlieferungs- und wirkungsgeschichtliche Gründe. Daran sei erinnert. Das Auftreten Fichtes in Jena hatte eine in der neueren Philosophiegeschichte kaum vergleichbare unmittelbare Wirkung. (Der seit 1978 erscheinende Fichte-Spiegel dokumentiert die fast momentanen Auswirkungen vor allem der Jenaer Systembildung.) Fichtes Grundlegungen in Jena wurden zum Quellgrund aller idealistischen Strömungen. Die Auseinandersetzungen und oft fruchtbaren Mißverständnisse, zumal über das thetische Urteil „Ich bin Ich", haben Hölderlin, Sinclair, Novalis, Friedrich Schlegel u.a. auf die Bahn ihres Denkens gebracht. Das gilt auch und vorzüglich für den jungen Schelling bis 1800, soweit er eben die Absicht verfolgte, Fichtes System auszuführen. Diesen Beziehungsreichtum hat philosophiegeschichtliche Forschung oft minutiös aufgearbeitet. Unbemerkt blieb der Vorgang, daß Fichtes Denkweg die mannigfaltigen, parallelen Übergänge vom transzendentalen Ich zum Subjekt-Objekt, Hen kai Pan, „Seyn schlechthin" überholt und an sy-

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stembildender Kraft überboten hat. Das kann aufgrund regsamster Forschungstätigkeit im Falle der „Kleinen Systeme" (Hölderlins „Unheil und Seyn", Isaak von Sinclairs .Philosophische Raisonnements", Jacob Zwillings „Über das Alles") oder im Blick auf die ingeniöse Masse der „Fichte-Studien" des Novalis deutlich gemacht werden, wenn sich das Forschungsinteresse einmal von einer Untersuchung der Einflüsse auf die Hegeische Denkentwicklung löste und endlich auch den Gang der Synthese von Seinsphilosophie und Subjekttheorie beim späteren Fichte in Betracht zöge. Freilich, Fichtes vertiefte Auslegung des absoluten Wissens als weltbildendes Bild des Absoluten, vorzüglich in den Berliner Vortragszyklen über Wissenschaftslehre, besaß nicht mehr die Schwungkraft der Jenaer Entwürfe. Zwar war Fichte 1804 der geistige Mittelpunkt Berlins, aber seine Hoffnung, durch mündliche Vorträge eine Schule zu stiften, erfüllte sich nicht. Lange (bis 1845) blieb die esoterische Lehre mit Ausnahme des schemenhaften Umrisses der Wissenschaftslehre 1810 unveröffentlicht. Und sie war noch länger durch Hegels Urteil in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" verachtet: Fichtes spätere Philosophie enthalte nichts Spekulatives. So konnte sich das eingängige dialektische Fortschrittsschema halten. Wie aber steht es mit der Vollendung des Idealismus, wenn die Wissenschaftslehre eine eigenständige Lehre vom Absoluten und seinem Erscheinen ausgeformt hat? Antworten finden sich in den Fassungen der Grundlegungen seit der bahnbrechenden Wissenschaftslehre 1801/1802 hinterlegt. Unter ihnen ragt, soweit die sich rapide bessernde Editionslage einer kritischen Fichte-Ausgabe schon ein Urteil zuläßt, der 2. Vortrag der WL von 1804 heraus. Dieses Werk der philosophischen Weltliteratur zwischen Kants „Kritik der reinen Vernunft" und Hegels „Großer Logik" denkt das Verhältnis von Ich und Gott zu Ende, indem es auf eigene Weise alle einseitigen Positionen des Idealismus und Realismus übersteigt. Das geschieht unter Führung der Einsicht, das Selbstbewußtsein sei aus seinem eigenen Wesen das sich Übersteigende selbst. Das Bewußtsein nämlich existiert in der Form eines lebendigen „Durch", mit Begriffen der frühen Wissenschaftslehre gesprochen: Das Ich besteht in schwebender Wechselbestimmung des Nicht-Ich und des Ich. Um sich zu begreifen, geht unser Denken durch das hindurch, was es selbst nicht ist. Weil aber endlich-menschlichem Denken nur die Form des „Durch", nicht aber dessen Leben und schwebendes Einigen von ihm selbst her eignet, setzt der Actus des „Durch" ein aus sich sei-

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ber lebendes, allreales Leben voraus. Folglich gilt der Grundsatz allen Wissens: Sollen das wahre Sein und Leben einleuchten, dann muß das Ich gesetzt und in seinem Prinzipienanspruch abgesetzt werden. Dieser Satz ermißt den Abstand zu Hegel. Das Absolute leuchtet allein als Unbegreifliches unter dem Gebote der Vernichtung des Begriffs ein (vgl. WL 1804-11, 4. Vortr.; GA 11,8,56). Hegels großer Einwand gegen Fichtes Ich-Prinzip: „Dies Selbstbewußtsein wird nicht erst auf das Absolute als ein Höheres bezogen, sondern es ist selbst das Absolute" (Differenzschrift 1801; ThW 11,96-97) ist durch die Maxime der Wissenschaftslehre entkräftet: Vom Ich aus gibt es gar keine Erste Philosophie; „es gibt nur eine über dem Ich", und die Frage ist, „ob das Ich zu Grunde gehen, und die Vernunft rein zum Vorschein kommen könne" (WL 1804-II, 18. Vortr.; GA 11,8,285). Das Gesetz der Vernichtung des Begriffs am Unbegreiflichen wird zum Ausgang einer immer höher steigenden Reflexion auf die Genesis dieses Faktums. Dafür dienen vier Abstufungen des Idealismus und Realismus als Leiter. Durchgängig beharrt der Idealismus auf der Energie und Freiheit des Denkens, auf dem „Soll" als Anfangsgrund, und versteht das notwendig vorauszusetzende Sein und Leben als notwendigen Gedanken. Der Realismus dagegen verweist auf das Reale an sich, die Selbstkonstruktion des Seins (Licht, Vonsich) als das Erste und versteht unser Sehen als Nachkonstruktion. Beide Parteien bringen es nicht zur wahren Einheit, sie bleiben in Zweiheit und Relation des Ansichseins und Fürunsseins befangen. Erst eine absolute Abstraktion von aller Relation läßt das Sein in seiner Absolutheit einleuchten. Damit hebt Fichte die schroffe Alternative der berühmten „Ersten Einleitung in die WL", 1797 zwischen dem Dogmatismus, der das Ding an sich, und dem Idealismus, der die Intelligenz an sich zum Grund aller Erfahrung erhebt, auf. Das erreichte Absolute unter dem Namen Leben, Licht, absolutes Ich, Vernunft, Gott „ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum des unmittelbaren lebendigen Seins, das nie aus sich heraus kann" (WL 1804-II, 16. Vortr.; G A 11,8,243). Fichte denkt das Absolute als völliges Ineinanderaufgehen von Denken und Sein in einer ununterscheidbaren Einheit von Subjektivität und Objektivität, die sich nicht öffnet und objektiviert, sondern in sich selbst aufgeht. Das Singulum über aller Dualität ist ganz und gar inwendiges Leben. Dessen Einheit hat weder den Charakter dialektisch-dreiheitlicher Identität noch den einer differenzierbaren Indifferenz. Sie ist Jnkludenz', Geschlossensein-in-sich. Das inkludente Sein sperrt die un-

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geheure Hegeische Logik ab. Nichts ist außer dem Einen, dem in sich unzugänglichen, undurchdringlichen Sein und Leben. Den Menschen schließt das Sein lebendig in sich ein, wenn er das Selbstbewußtsein, die Negation der Einheit durch die Zweiheit von Subjekt und Objekt, negiert. „Wir leben, eben unmittelbar im Lebensacte selber" (WL 1804 II, 15. Vortr.; G A 11,8,231). Nun endet die Wissenschaftslehre nicht im Schweigen mystischer Innerlichkeit, sie entbreitet sich auf dem Grunde des Absoluten als Phänomenologie. Das Wissen vom Wissen erscheint als Bild- und Erscheinungslehre des Absoluten. Diese meidet den Kardinalfehler des Hegelschen Idealismus, der nach Fichte geradezu dogmatisch „das absolute Seyn ignorirt, und das erscheinende für das absolute hält" (WL 180l/ 02, II § 4; GA 11,6,258). Ihre eigentliche Aufgabe besteht darin, das Selbstbewußtsein und dessen fünffache Fügung, die doppelte Zweiheit von Denken und Sein, Sinnlichem und Übersinnlichem sowie das durchgängige Wissen in der fünffachen Weltansicht von Sinnlichkeit, Sittlichkeit, höherer Moralität, Religion und philosophischer Wissenschaft als Erscheinung des Absoluten abzuleiten. Das überbietet die engere Aufgabenstellung des transzendentalen Idealismus. Jene verlangte die Deduktion der Dingvorstellung auf dem Boden des endlichen Ichs; Fichtes Lehre vom Bild als Erscheinung des Absoluten fordert eine Deduktion der erscheinenden Wahrheit als Erscheinung des Wahren auf dem Boden der Einheit des allrealen, lebendig-geistigen Absoluten. Und die Methode solchen Abstiegs von der inkludenten Einheit zur Vielheit der Bewußtseinsrelationen und faktischen Mannigfaltigkeit der Welt schreibt vor, die im Aufstieg fallengelassenen Positionen des Idealismus und Realismus wieder aufzunehmen und in den Zusammenhang mit dem Absoluten einzuholen. Auf diesem Weg vollendet sich der absolute Idealismus als System der Phänomenologie, d.h. als Erscheinungslehre des in sich geschlossenen Seins. Mithin führt der Idealismus zur Weltsicht einer dreifachen Vollendung. Alle drei Wege übersteigen die Idee und das reine Selbstbewußtsein zum Ursprung absoluter Einheit hin. Sie trennen sich in der Methode des Transzendierens. 1. Die dialektische Vermittlung des sich wissend zu sich vermittelnden Geistes kommt am Ende zum Absoluten als der konkreten Einheit von Vernunft und (vernunfterwirkter) Wirklichkeit (Hegel). 2. Die Ekstase des Ich und das Heraussetzen des eigentlich Transzendenten versteht das Absolute als unverfügbaren Anfang, der sich qua

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potentia existendi für eine positive Philosophie in Mythos, Offenbarung und ewiger Freiheit bekundet hat (Schelling). 3. In Vernichtung seiner Prinzipstellung verweist das Ich bei Genetisierung der Tatsachen des Bewußtseins von sich auf das aus sich lebende Absolute als in sich geschlossenes Singulum von Denken und Sein, dessen erste Erscheinung die Helle des Selbstbewußtseins ist, in der sich das Auge der Reflexion als Bild weiß und das Sein in die Vielfalt des Vorhandenen nach den Gesetzen der Reflexion bricht und bildet (Fichte). 2. Rückgang in den Ermöglichungsgrund der vollendet gedachten Wahrheit Das Resultat dieser philosophiegeschichtlichen Feststellungen zieht eine systematische Frage nach sich. Gesetzt, der absolute Idealismus habe eine mehrfache Wirklichkeit gewonnen, wie steht es dann mit dem Anspruch, den endgültigen Standpunkt erreicht zu haben? Müssen nicht angesichts der vollendeten Wahrheit eines abgeschlossenen Systems alle anderen Prinzipienbehauptungen zur Meinung verblassen? Entkräftet sich mithin die widersprüchliche Aufstellung dreier Absoluta von selbst, so daß der erbittert geführte Streit der Protagonisten und Epigonen um die Wahrheit das Schauspiel des sich selbst vertilgenden Idealismus bietet? Oder liegt eine eigene Aufgabe darin, den Zusammenstand einander organisch ergänzender Systeme zu bedenken? Auf diese Alternative weist Schelling hin: „Im ersten Fall (wenn sie sich alle gegenseitig vertilgten) würde man statt des Systems nur einen bodenlosen Abgrund vor sich sehen, in dem alles versinkt, und in dem sich nichts mehr unterscheiden läßt. Nicht getilgt werden sollen die Systeme, sondern zusammen bestehen" (Über die Natur d. Philos.; SW IX, 213). Nun scheint aber die verbreitete Rede vom Zusammenbruch des Idealismus im Stadium vollendet zu denkender positiver Wissenschaften und des „vollkommenen Nihilismus" dafür zu sprechen, daß alle Gestalten des Deutschen Idealismus ohne Unterschied und fernere Differenzierung versunken sind. Aber vielleicht ist allererst der Reichtum an Unterschieden im Selben deutlicher zu machen, um prüfen zu können, ob und wie sich der Anspruch der Vollendung in einem sich ergänzenden oder vertiefenden Zusammenstehen der drei konkurrierenden Grundlegungen erfüllt.

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Die so aufgebrachte Frage nach der Wahrheit des Idealismus trägt die nach dem idealistischen Sinn von Wahrheit in sich. Ob das philosophische Suchen nach Wahrheit zu einem vollendeten Ende gekommen ist oder sich im Spiegelschein dreier Absoluta verwirrt hat, findet Maßstab und Prüfstein darin, ob und wie der absolute Idealismus Wahrheit zu begründen vermochte. Das kann hier nur umrißhaft nachgezeichnet werden, und zwar in Betracht von Wahrheitsermöglichung und Wahrheitszuordnung. Die daran orientierte Streitfrage über die unterschiedlichen Wahrheitswege - Dialektik, Potenzenlehre, Genetisierung - bleibt unausgefaltet. Sie tritt hinter die Grundfrage zurück: Wie steht es unter dem Vorblick auf den Ermöglichungsgrund mit den Ansprüchen der Einen Wahrheit in der dreigestaltigen Grundstellung des Deutschen Idealismus? Schellings „System des transzendentalen Idealismus" beginnt mit der lapidaren Feststellung: „Alles Wissen beruht auf der Übereinstimmung eines Objektiven mit einem Subjektiven. - Denn man weiß nur das Wahre; die Wahrheit aber wird allgemein in die Übereinstimmung der Vorstellungen mit ihren Gegenständen gesetzt" (SW 111,339). Das ist Gemeingut. Der Deutsche Idealismus nimmt die aristotelisch-scholastische Adäquations- oder Korrespondenztheorie verwandelt in sich auf. Die Homoiosis (adaequatio, convenientia) von Logos (intellectus) und On (res) kommt als Übereinstimmung eines Subjektiven und Objektiven zur Sprache. Und die entschiedene Zuordnung des ens qua verum (transcendentale) zum intellectus speculativus (Thomas von Aquin, De veritate qu. l a. 1) kehrt in der Angewiesenheit von Wissen und Wahrheit wieder: Das Seiende als Wahres ist auf Wissen hingeordnet, das Wissen gewinnt seinen Stand in Zuwendung zum Wahren. Wissen bedeutet eben, die Wahrheit zu wissen. Man weiß nichts, wenn man nicht die Wahrheit weiß; denn im Schein gedeihen Unwissenheit und Selbstverblendung. Darum hat die Philosophie zur Aufgabe, die Wahrheit rein darzustellen, indem sie den Standpunkt des reinen oder absoluten Wissens einnimmt. Fichte, der „Priester der Wahrheit", hat das im Streit gegen Schein und Unwahrheit unermüdlich proklamiert, und wie selbstverständlich nimmt Hegel gegen Hamann für das Denken und die Vernunft Partei, „welche allein das wahrhafte Mittel jener gewußten Entfaltung der Wahrheit ... sein können" (Rez. Hamanns Schriften; ThW XI, 331). Von diesem kommunen Vorverständnis her stellt sich die Frage nach dem Wahrheitsgrunde so: Was ermöglicht innerhalb der Zuordnung von

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Sein und Wissen die Übereinstimmung des Subjektiven und Objektiven? Dabei gilt für jede Gestalt eines absoluten Idealismus als ausgemacht: Wahrheit kann weder im bloß Subjektiven (in der Selbstgewißheit des Ich) noch im bloß Objektiven (in einer sich von sich aus in den Geist verklärenden Natur) wurzeln, sie muß in einer absoluten Identität von Subjekt und Objekt unter dem Grundsatze Ich=Ich angelegt sein. Es formiert sich nämlich der neuzeitliche Begriff des Wahren aus dem Gegensatze zum Zweifelhaften und Schwankenden, zum Erdichteten und bloß Gedachten als das objektive und wirklich Bestehende. Und der metaphysische Zweifel bleibt in Kraft und aller Wahrheitsanspruch rechtlos, solange nicht ein Punkt gefunden wird, in welchem das auseinander liegende Entgegengesetzte, Vorstellung und Sachverhalt, eins sind. „Wie Vorstellung und Gegenstand übereinstimmen können, ist schlechthin unerklärbar, wenn nicht im Wissen selbst der Punkt ist, wo beide ursprünglich Eins - oder wo die vollkommenste Identität des Seins und des Vorstellens ist" (Syst.d.tr.Id.; SW III, 364). Der Skeptizismus leugnet diese Konsequenz, denn er fixiert ja den Gegensatz von Vorstellung und Sachverhalt. Der Skeptiker hält grundsätzlich an deren Unterschied fest und muß daher die Erkenntnis des Wahren, d.i. eine Übereinstimmung von Denken und Sein, für unmöglich erklären. Gegenüber diesem Standpunkt, der sich gegen das Wissen überhaupt wendet und kein wahrhaftes Sein zugesteht, behauptet der Idealismus: Es gibt Wahrheit, und der unverbrüchliche Wahrheitsgrund läßt sich wirklich finden. Der Grund der Wahrheit ist das Wahre an ihm selbst; er muß sich als vollkommenes Einessein von Subjektivität und Objektivität, Intelligenz und Ding, Bewußtsein und Gegenstand, Idealität und Realität, Natur und Geist aufweisen lassen. Daran müht sich die Begriffsarbeit der idealistischen Ersten Philosophie ab. Sie sucht endlich, das Absolute unter dem Namen Idee, absolutes Subjekt, Vernunft, Geist, Leben, Wille der Liebe, Gott als das wahre Eine und eine Wahre in einem Wissen zu konstruieren, das die Endlichkeiten des Bewußtseins überwindet; denn unsere menschlich-endliche, auf sinnliche Anschauung angewiesene Erkenntnis ist dazu nicht imstande, insofern sie sich immer schon innerhalb der Spaltung von Subjekt und Objekt bewegt. Die Subjekt-ObjektEinheit ist somit weder Gegenstand der Erkenntnis noch ein bloß ausgedachtes Nichts. Sie liegt weder in der Reichweite der Erfahrung noch außerhalb jeglichen Wissens. Der Ermöglichungsgrund des Wahren ist der Prozeß des absoluten Wissens selber.

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Bekanntlich beginnt mit der Aufstellung der Subjekt-Objekt-Einheit das Ringen um ihre rechte Auslegung. Schellings Schlüsselwort heißt Indifferenz. Diese Einheit, in der alles enthalten und nichts unterschieden ist, schließt die Differenz des Subjektiven und Objektiven, Idealen und Realen aus; diese soll ja aus ihr hergeleitet werden. Da in der wahren Einheit keine Zweiheit enthalten sein darf, ist der Begriff der Identität fernzuhalten; denn Identität besagt ja Einheit von Unterschiedenem, genauer: von zusammengehörigen Entgegengesetzten. Der sachgerechte Name für eine übergegensätzliche Einheit, welche die Differenz niemals als Differenz in sich duldet, heißt absolute Indifferenz. Sie ist der Grund von allem und nichts (Bestimmtem). Über solchen Ansatz hat Hegel das vielzitierte Urteil gefällt, Indifferenz bedeute das Nichts und die Leere an Bestimmbarkeit wie die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. Dagegen bringt Hegel als das Wahre die dialektische Einheit von Subjekt und Objekt mit der Formel einer absoluten Identität von Identität und Nichtidentität siegreich ins Spiel. Dagegen wurde Fichtes Diktum der Inkludenz kaum registriert: Gegenüber der quantitativen Differenzierung der Potenzen der Indifferenz ist das Wahre nach Fichte das ununterscheidbare Ineinanderaufgehen von L-eben und Sein, das in sich geschlossen bleibt; „denn das Seyn eben selber führt durch sich, diese in sich geschlossene Einheit bei sich" (WL 1804-11, 15. Vortr.; GA 11,8, 231). Gegenüber der Vernunftklarheit des Hegeischen Begriffs fallen nach Fichte im Grunde der Wahrheit Klarheit und Verborgenheit koinzidierend zusammen. „Der Punkt den ich aufzustellen habe ist an sich zugleich das allerklärste und zugleich das allerverborgenste, da wo keine Klarheit ist" (WL 1804-11, 15. Vortr.; GA 11,8,229). Aber ein Streit kann überhaupt nur da geführt werden, wo gemeinsamer Boden ist. In der Auseinandersetzung um den Grund von Wahrheit und Einessein kommen alle drei Ausprägungen des Deutschen Idealismus darin überein, daß sie auf eine Subjekt-Objekt-Einheit gemäß dem Axiom Ich=Ich bauen. Und gemeinsam ist die Hypothesis, daß Wahrheit und Wissen miteinander verwandt sind. Die eigentümlichen Differenzen brechen auf, wenn gefragt wird, wie denn das Wahre-selbst auf Wissen hingeordnet sei. 2. l Hegel proklamiert die wissenschaftliche Erkenntnis des Wahren ausdrücklich zum Ziel aller philosophischen Bemühung. „Die Philosophie beabsichtigt das zu erkennen, was unvergänglich, ewig, an und für sich ist; ihr Ziel ist die Wahrheit" (Vorl. üb. die Geschichte der Philos., Einl.; ThW XVIII, 24). Dabei ist Wahrheit eben fraglos als Überein-

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Stimmung des Begriffs mit seiner Gegenständlichkeit vorverstanden, freilich so, daß bei der Entsprechung von Begriff und Realität der Akzent auf der Übereinstimmung eines Gedankeninhaltes mit sich selber liegt. „Die Vernunft erkennt die Wahrheit, indem die Wahrheit die Übereinstimmung des Begriffs mit dem Dasein ist, die Bestimmungen der Vernunft aber ebensosehr eigene Gedanken sind als Bestimmungen des Wesens der Dinge" (Logik f. d. Mittelklasse, 1808/09 § 33; ThW IV, 85). Was also auf dem Wege zur vollen Wahrheit überstiegen werden muß, sind die bloß formelle Wahrheit des Bewußtseins, die Einschließung in die Selbstgewißheit und die Verendlichung der Wahrheit durch den Verstand. Formell bleibt die Wahrheit, solange sie in Beziehung auf das Bewußtsein gesetzt wird. Auf der Stufe gegenständlichen Bewußtseins herrscht das rechthaberische Pochen auf Richtigkeiten. Abstrakt bleibt die Wahrheit, wenn der Geist sich mit der Gewißheit seiner selbst auf der Stufe des freien Selbstbewußtseins begnügt und sich nicht zur Einsicht erhebt, die Idee sei die Wahrheit. „Gewißheit von sich (hat) noch keine Wahrheit" (I.e. § 23; ThW IV, 79). Und die Wahrheit bleibt endlich, wann immer eine als Verstand tätige Vernunft die unendliche Wahrheit des Begriffs als ein Jenseits fixiert. So verblaßt die Wahrheit zum nur an sich seienden Ziel: Sie ist immer nur das bloß Gesollte und niemals das wirklich Vollbrachte. Hegels „Phänomenologie" verfolgt dagegen das Endziel, die Gewißheit des Geistes zur Wahrheit zu erheben. Das scheint geglückt, wenn die formelle Identität von Subjektivem und Objektivem sich zum wirklichen Unterschied fortentwickelt, so daß die Subjekt-Objekt-Einheit sich zur Identität ihrer selbst und ihres Unterschiedes gemacht hat. ,JDie Wahrheit (ist) nur in der Einheit der Identität mit der Verschiedenheit vollständig" (Logik I, 2; ThW VI,42). Die Logik enthüllt die konkret gewordene Wahrheit auf der Höhe des absoluten Wissens. ,J)ieses Reich ist die Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selber ist" (Logik, Einl.; ThW V, 44). Darin entfaltet die Idee gänzlich den Reichtum und die Fülle ihres Inhalts und tritt am Ende als Prozeß und Methode eines absoluten Begreifens hervor. Nach spekulativer Logik gehen die lebendige Wahrheit der Idee und der sich mit sich vermittelnde Begriff im gereiften Geiste ineinander über. Das Schlußstück der subjektiven Logik hebt mit dem Satze an: „Die Idee ist der adäquate Begriff, das objektiv Wahre oder das Wahre als solches" (Logik II, 3; ThW VI,462). Der vollendete, positive Begriff nämlich - nicht das abstrakt-Allgemeine der Verstandeslogik, welche

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den Gegensatz von Form und Inhalt festhält - bildet das Wahre aus der Einheit von Sein und Wesen. Er begreift sich als das schlechthin Konkrete, welches die Fülle alles Inhalts in sich beschließt und zugleich aus sich entläßt. Weil der lebendige Begriff so das Element des Wahren bildet und sofern das wissenschaftliche System begriffene Wahrheit ist, steht der vollendete Idealismus auf dem Standpunkt des vollendeten Begriffs. Das besagt: Das Wahre selbst, der Gott der Philosophen, ist nicht etwa im subjektiven Begreifen erfaßbar, sondern: Der Begriff ist Gott. Darum auch drückt alles Gerede von der Unbegreiflichkeit Gottes, sei es vom Standpunkt der Reflexions- oder der Gefühlsphilosophie her, einen schlechten Subjektivismus aus. Das Göttliche, der lebendige Geist, ist weder jenseitig noch verborgen, er ist offenbar, und zwar in der totalen Durchsichtigkeit und Klarheit des Begriffs. „Die Lehre der Wahrheit ist ganz nur dies, Lehre von Gott zu sein und dessen Natur und Geschäfte geoffenbart zu haben" (Vorrede zu Hinrichs Religionsphilos., 1822; ThW XI, 49). Und die Logik solcher Wahrheitsauffassung lehrt: Das Wahre ist der sich offenbarende Geist. Das Wahrheitsgeschehen vollzieht sich im ewig-allgemeinen Prozeß eines Sichunterscheidens und Insichzurücknehmens des Anfangsgrundes. Wahrheit bedeutet vollkommenes Sichoffenbaren des sich dirimierenden göttlichen Begriffs. 2.2 Dagegen richtet sich die Spitze der Schellingschen positiven Philosophie. Die absolut begriffene Subjekt-Objekt-Einheit bilde lediglich den Grund für das Wahrseinkönnende, sie lasse die Frage nach dem Wissen wahrer Wirklichkeit und Existenz und damit nach dem wirklichen Wissen offen. Schellings Einwand kann auf eine einfache Überlegung bauen. Jeder Begriff faßt das in Gedanken, was eine Sache ermöglicht, diese Sache zu sein (quid est). Ist ein Sachwesen nur in seinem Begriff anwesend, wie beim mathematischen Wissen und in Hegels Gedanken-Logik, dann bildet der Begriff die Anwesenheit der Sache selbst, aber gerade nur im Sinne essentiellen Seinkönnens und nicht des Wirklichseins. Das Existieren hier und jetzt im Status geschichtlicher Kontingenz entzieht sich der Vernunft, es ist nur mittels Erfahrung zugänglich. Bedeutet nun aber Sein primär Daßsein (quod est), dann begreift der Begriff nichts anderes als ein seinsloses Seinkönnendes (Seinmüssendes, Seinsollendes). Das gilt auch und zuerst für das absolute Prius als bloß Existierendes. Es ist begriffslos unbegreiflich; es ist der Abgrund, vor dem die Sprache absoluten Begreifens verstummt. So läßt die positive Philosophie am Anfang den Begriff fallen und verläßt den

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klassischen Weg des ontologischen Arguments, der vom Begriff aus zum Sein und zur Existenz Gottes fuhren will. Dadurch, daß der Anfangsgrund zum Unbegreiflichen und der Vernunft Verborgenen wird, gewinnt das Wahrheitsgeschehen als übervernünftige (nicht etwa widervernünftige) Offenbarung erst sein eigentümliches Gepräge. Zur Bewegung des Offenbarmachens gehört das Durchbrechen einer Verborgenheit. Das Dunkel ist Basis der Helligkeit. Die Manifestation des Lichts und der Wahrheit geschieht im Gegenzug von Offenbarung und Verbergung. „Schon der Begriff der Offenbarung als eines sich Sichoffenbarenden (setzt) eine ursprüngliche Verdunklung voraus. Sich offenbaren kann nur, was einst verborgen war" (Philos. d. Offenb.; SW XIII, 187). So hält sich Gott als das bloß Existierende anfänglich mit sich zurück. Indessen, der Gott der positiven Philosophie ist kein Deus absconditus totaler Verborgenheit. So sagt „das alleinige, das höchste und über allem schwebende Weltgesetz": „daß nichts verborgen bleibe, alles offenbar werde, alles klar, bestimmt und entschieden sei" (Philos. d. Mythol. II; SW XII, 142). Dieses Gesetz der Wahrheit wiederholt nicht einfach die überlieferten Wahrheitsbestimmungen, nämlich das Offenbarsein des wesenhaften Wasseins für die Vernunft ( ) wie das Entschiedensein des Verworrenen und Undeutlichen als zur Gewißheit gewordene, gesicherte Offenheit (certidudo); es spricht vom entschiedenen Offenbarsein in neuer Weise: als Vorgang eines Geschehens, in welchem ein anfänglich Verborgenes und Unbegreifliches zu entschiedener Offenheit durchbricht. Die eigentlich kritische Frage aber lautet nun: Wie ist die Hinordnung solchen Wahrheitsgeschehens zum Wissen angesetzt? Dafür ist das zugehörige Schlüsselwort zu durchdenken, die intellektuelle Anschauung. „Die Einheit des Denkens und Seins nicht in dieser oder jener Beziehung, sondern schlechthin an und für sich selbst, mithin als die Evidenz in aller Evidenz, die Wahrheit in aller Wahrheit, das rein Gewußte in allem Gewußten erblicken, heißt, sich zu der Anschauung der absoluten Einheit und dadurch überhaupt zur intellektuellen Anschauung erheben" (Fernere Darstellungen, 1802; SW IV, 364). Da der Grund alles Wahren nicht selbst als etwas Wahres gegenständlich erkannt und sinnlich erblickt werden kann und da andererseits Wissen letztlich Erblicken und Anschauen als unmittelbares Vor-sich-Haben des Gewußten in seiner vollen Präsenz bedeutet, muß sich das schauende Subjekt zu einer geistigen Anschauung erheben, um den Wahrheitsgrund, die abso-

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lute Einheit und Indifferenz von Subjekt und Objekt, Idealem und Realem, zu erblicken. Natürlich erfordert das, alles gegenständliche Erkennen fallen zu lassen und das endlich-menschliche Ich überhaupt als Organ der Wahrheit zu verlassen. Das beschränkte Ich und dessen gegenständlicher Weltbezug muß am Ende als Prinzip negiert werden. „Der letzte Endzweck des endlichen Ich sowohl als des Nicht-Ich, d.h. der Endzweck der Welt ist ihre Zernichtung" (Vom Ich, 1795 §14; SWI.200 - 201). Das Auge der intellektuellen Anschauung öffnet sich, indem sich das Auge einer objektivierenden Weltanschauung schließt. Menschliches Einsehen wird durch die Grenzbesinnung der Ersten Philosophie zum Ort, an welchem die göttliche Vernunft sich selbst erkennt. „In der höchsten Wissenschaft schließt sich das sterbliche Auge, wo nicht mehr der Mensch sieht, sondern das ewige Sehen selber in ihm sehend geworden ist" (Krit. Fragmente; SW VII, 248). Wird auf den vermittelnden Prozeß kritischer Selbstaufhebung geachtet, dann fällt die Hegeische Kritik ins Leere, die intellektuelle Anschauung sei ein Unmittelbares, einfachhin Gefordertes und Zufälliges, das zur einzigen Bedingung philosophisches Talent oder gar Genie habe. Der Gang des Wissens, der sich zur Wahrheit erhebt, geht weg von der Bodenlosigkeit eines verabsolutierten menschlichen Subjekts und dessen vergeblicher Bemühung, das „Urständige" vergegenständlichen zu wollen, es bricht zum Wissensstand durch, in welchem nicht nur das Ewige im Ich, sondern das sich im Ich sehende Ewige selbst zu erblikken ist. Diese negierende Gegenwendung verstärkt der Erlanger Vortrag von 1821 „Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft". Er setzt anstelle des Problemwortes „intellektuelle Anschauung" den sprechenden Ausdruck „Ekstase". „Nämlich unser Ich wird außer sich, d.h. außer seiner Stelle gesetzt. Seine Stelle ist die, Subjekt zu sein. Nun kann es aber gegen das absolute Subjekt nicht Subjekt sein; also es muß den Ort verlassen, es muß außer sich selbst gesetzt werden, als ein gar nicht mehr Daseiendes. Nur in dieser Selbstaufgegebenheit kann ihm das absolute Subjekt aufgehen" (SW IX, 228). Ekstasis meint wörtlich Entsetzung von einer Stelle. Das ist unheilvoll und führt zu einem besinnungslosen Außersichsein, wenn etwas aus einem Ort gestoßen wird, der ihm zukommt. Die Ekstase ist heilsam und führt zur Besinnung zurück, wenn etwas aus einem Ort entfernt wird, der ihm nicht gebührt. Die kritisch besonnene Ekstasis nun entsetzt das Subjekt einer Vernunftwissenschaft, das am falschen Orte steht, nämlich im Punkte des Wahren selbst, und das ge-

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schiebt so, daß das beschränkte Ich seine Prinzipienstellung selber aufgibt. Die ekstatische Selbstaufgabe wird innerhalb der Scheidung von negativer und positiver Philosophie radikal. Dabei rückt das „absolute Subjekt" (die ewige Freiheit, die gleichgültig dagegen ist, sich in eine Gestalt einzuschließen oder nicht einzuschließen) schärfer als unvordenkliches suppositum in den Blick. Weil das absolute Prius und bloß Existierende allem Ideendenken unerreichbar vorausgeht, muß die Vernunftwissenschaft ihren Standpunkt aufgeben. „Das bloß - das nur Existierende ist gerade das, wodurch alles, was vom Denken herkommen möchte, niedergeschlagen wird, das, vor dem das Denken verstummt, vor dem die Vernunft selbst sich beugt; denn das Denken hat eben nur mit der Möglichkeit, der Potenz zu tun" (Philos. d. Offenb. I, 8. Vorl.; SW XIII, 161). Die ekstatische Selbstaufgegebenheit befreit. Durch sie wird die Vernunft frei davon, sich selbst Objekt zu sein und darin immer nur die unendliche Potenz des Seins zu linden. Kommt die Vernunft davon los, dann setzt sie sich wesensnotwendig das unendlich Existierende voraus. So aus sich herausgesetzt, erstarrt sie gleichsam vor Staunen; „aber sie erstarrt dem alles überwältigenden Sein nur, um durch diese Unterwerfung zu ihrem wahren und ewigen Inhalt, den sie in der Sinnenwelt nicht finden kann, als einer wirklich erkannten zu gelangen" (Philos. d. Offenb. I, 8. Vorl.; SW XIII,165). Aber wie kommt es zu jener Krise, in welcher die Vernunftwissenschaft ihren angestammten Ort räumt, um für den Anfang des Offenbarungsgeschehens Platz zu machen? „Wie kann aber der Mensch zu dieser Ekstase gebracht werden, welches soviel heißt, als: wie wird der Mensch zur Besinnung gebracht?" (Über d. Natur der Philos.; SW IX, 230). Schillings beziehungsreicher Bescheid lautet: Es ist der zerreißendste Zweifel, welcher zur Besinnung über das Ordnungsverhältnis von Vernunft und Wahrheit führt; dieser zerreißt den Zustand der Spannungslosigkeit oder freien Gleichgültigkeit und treibt den Menschen in die gespannte Unruhe, das Wahre selbst (unter dem Namen absolutes Subjekt, ewige Freiheit, lauterer Wille) sich bewußt machen zu wollen und nicht zu können. So findet sich das vernünftigste Lebewesen umgetrieben, ein Urständiges zu suchen, das alle Vergegenständlichung flieht. „Dieser innere Umtrieb ist der Zustand des zerreißendsten Zweifels, der ewigen Unruhe" (Über d. Natur d. Philos.; SW IX, 231). Ist das die Krise, welche den Prozeß der ekstatischen Selbstentsetzung auslöst, so sieht sich die Zuordnung der Wahrheit von der selbstgewissen Ge-

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wißheit des Vernunftbegriffs auf den zerreißendsten Zweifel und die ewige Unruhe menschlicher Existenz zurückgeworfen. 2.3 Nicht minder radikal und mit durchdringenderer kritischer Besonnenheit setzt Fichtes Wahrheits- und Vernunftlehre 1804 das Bewußtsein als Wahrheitsgrund ab. „Der Grund der Wahrheit als Wahrheit, liegt doch wohl nicht in dem Bewußtseyn sondern durchaus in der Wahrheit selber" (WL 1804-11, 13. Vortr.; GA 11,8,205). Um sich aber zum Standpunkt zu erheben, in welchem die Wahrheit von sich einleuchtet und nicht mehr als von uns (bewußt) gemacht behauptet wird, muß der Begriff sich vernichten und das endliche Ich sich als primum subiectum entsetzen. So lautet eben Fichtes Fassung des Grundgesetzes allen Wissens - lange vor Schellings Lehre von der Selbstzernichtung der Vernunft: Das Absolute soll einleuchten; das, was in Wahrheit ist und aus ihr lebt, soll aus dem verdeckenden Schein ins Klare kommen. Unter dem Anspruch dieses (aletheuischen) Soll muß sich das Ich setzen und sein Begreifen als Wahrheitsprinzip absetzen. Das ist der Ausgang, den die Frage vertieft: Wie entsteht uns, dem philosophierenden Bewußtsein, diese Einsicht? Solche „Genetisierung" führt schrittweise zur Höhe eines Standpunktes, der alle einseitigen Positionen von Idealismus und Realismus unter sich läßt, bis eine „absolute Abstraktion" das reine Wissen von jeglicher Bewußtseinsrelation löst, so daß das allreale Wahre selbst, die inkludente Einheit von Subjektivität und Objektivität, zur Evidenz kommen kann. Dabei bleibt die zum Absoluten aufsteigende Wissenschaftslehre kritisch besonnen. Was nämlich, sich selbst konstruierend und uns ergreifend, einleuchtet, ist das Sein (Leben, Licht, Vernunft, Gott), sofern es in der Aktuosität des reinen Wissens unter der Form des Begriffs und den Gesetzen der Reflexion da ist. In dieser Konstellation bedeutet reines oder absolutes Wissen nicht - wie bei Hegel - die sich wissende vollständige Einheit von Bewußtsein und Gegenstand und so das Absolute selber, es ist Dasein, Erscheinen, Bild, das sich durch Entgegensetzung zum Sein als dessen Dasein begreift und als dessen Bild durchbildet. Wird an dieser unterscheidenden Zuordnung von Wahrheit und Wissen festgehalten, dann kommt der kritische Anfang des transzendentalen Idealismus zu einem vollendeten Ende, nämlich als Darstellung der erscheinenden Wahrheit und radikale Auflösung des dogmatischen Scheins in einem System des menschlichen Geistes. Nun war die esoterische Durchführung solcher Wahrheitslehre exoterisch in der „Bestimmung des Menschen", 1800 vorbereitet. Dort findet

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sich eine Wendung Fichtes markiert, welche die überkommene Zuordnung der Wahrheit zur Erkenntnis auf charakteristische Weise revidiert. Bekanntlich hat die Erörterung des 2. Buches ein „nihilistisches" Resultat: Theoretisches Wissen bringt es niemals zur Übereinstimmung von Vorstellung und Realität oder von Denken und Sein; denn das Vermögen des Wissens unter Führung der ursprünglich synthetischen Einbildungskraft endet im Bilden leerer Bilder von Nichts und zu nichts. Das im Wissen Gewußte sind allemal nur vorüberschwebende Bilder ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung, ohne Zweck. Zwar vernichtet das System theoretischen Wissens jene Irrtümer über das Sein, die am Dogma von Dingen an sich hängen, aber es kann nicht erfüllte Übereinstimmung von Vorstellung und realem Leben beibringen. „Wahrheit geben kann es nicht; denn es ist in sich selbst absolut leer" (BdM, 2. Buch; GA 1,6,252). Der „Nihilismus" Fichtes sprengt also die traditionelle Zuordnung von Wahrheit und Erkenntnis: Es ist nichts mit der Wahrheit und Gewißheit unserer theoretischen Vernunft. Freilich zerschneidet dieser Einschnitt nicht etwa die klassische Zuordnung von Wahrheit und Wissen überhaupt. Vielmehr wird die Konfundierung von Wahrheit und Erkenntnis gemäß dem in der „Grundlage", 1795 deduzierten Primat der praktischen Vernunft auf die Zuordnung von Wissen und Gewissen zurückgeleitet. Populär argumentiert: Wird deutlich, daß das Kriterium aller theoretischen Wahrheit nicht wiederum ein theoretisches sein kann, dann bietet sich ein Prüfstein im (moralisch) Praktischen an. In Tat und Wirklichkeit kommt der Mensch in den Stand unzweifelhafter Gewißheit, nicht insofern er ein theoretisch erkennendes und Vorstellungen bildendes, sondern insofern er ein moralisch handelndes Wesen ist. „Nur inwiefern ich ein moralisches Wesen bin, ist Gewißheit für mich möglich" (SSL, 1798, 3. Hauptst. § 15; GA 1,5,158). Erst die mit der Stimme des Gewissens sprechenden Gebote der Pflicht bringen Realität in meine Vorstellungen. Sie gebieten, was ich in der Welt in Wirklichkeit zu tun und zu lassen habe, und sie vermitteln dadurch den einzigen Wahrheitscharakter der Ding- und Mitwelt, welchen diese für den Menschen haben können, nämlich der Zeit-Raum zu sein, in welchem sich ein Leben entwickelt, das unserer moralischen Freiheit abverlangt wird. Nun könnte es so aussehen, als wäre der Identitätsboden des Subjektiven und Objektiven doch wieder ins menschlich-endliche Ich verlegt; denn zweifellos sind ja im Willen des Ich das Subjektive (die Freiheit) und das Objektive (das Sittengesetz) durcheinander gesetzt und in ihrer

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Einheit intellektuell angeschaut. Also liegt der moralische Urquell aller Wahrheit in der Tiefe des menschlichen Willens? Indessen bilden gar nicht unsere autarke Freiheit und unser menschlicher Wille, sondern das schlechthin sich selbst bildende und darstellende Willensleben in uns den Ursprung der Wahrheit. Das macht spätestens Fichtes Religionsschrift „Die Anweisung zum seligen Leben", 1805 klar. Danach heißt die Quelle der Wahrheit Liebe des Wahren-selbst. Deren einigende Urkraft liegt evidentermaßen über aller Reflexion und bleibt aller Reflexion unzugänglich. So wird die zur göttlichen Liebe gewordene und in Gott sich selbst rein vernichtende Reflexion der Standpunkt einer Wissenschaft, die von Anfang bis Ende transzendental angelegt bleibt. Was nämlich begreifendes Wissen vermag, ist, die erscheinende Wahrheit systematisch herzuleiten. Darum stellt sich die philosophische Wissenschaft in zwei Hauptteilen auf: „Sie sey Vernunft- und Wahrheitslehre; zweitens... eine zwar wahre und auf Wahrheit gegründete, Erscheinungs- und Scheinlehre" (WL 1804-11; 15. Vortr.; GA 11,8, 229). Sie ist Wahrheitslehre durch Aufstellung des Wahrheitsgrundes eines in sich geschlossenen Absoluten, das nur als Unbegreifliches zu begreifen ist. Sie ist Lehre vom Schein, sofern sie den Schein in seiner Wurzel, dem sich verabsolutierenden Bewußtsein, vernichtet. Und sie ist Phänomenologie, sofern sie die Erscheinung der gegenständlichen Welt vollständig ableitet: aus der Ichform als Quellgrund der Erscheinungslehre. Damit vollendet sich der Idealismus ein anderes Mal. Aus den nachgezeichneten Grundrissen der drei großen Wahrheitslehren und Einheitssysteme läßt sich ablesen, daß die Systeme einander nicht vertilgen und wie sie zusammen bestehen können. Hegels Zuordnung von Ideenwahrheit und absolutem Begriff wird durch Schellings Ekstasis-Lehre zwar unterbrochen, aber im Hinblick auf ein Begreifbarmachen per posterius wiederhergestellt. Dem zuvor hatte Fichtes Wahrheitslehre dafür gesorgt, daß der Selbstvernichtung des Begriffs eine Resurrektion des absoluten Wissens in der Ichform als weltbildendes Bild des Absoluten folgte. Nun sind der Aufstieg der Wahrheitslehre, Fichtes Gipfelsatz vom Sein sowie Grundstrukturen und Methodologie des absoluten Wissens auf der Grundlage der Wissenschaftslehre 1804 in der neueren Forschung intensiv nachkonstruiert und diskutiert worden (Martial Gueroult, Joachim Widmann, Chukei Kumamoto), eine umfassende und durchdringende Erörterung von Fichtes Bild- und Erscheinungslehre in ihrer inhaltlichen Reichweite, systematischen Kraft und geschichtlichen Verbindlichkeit aber steht trotz einiger wegweisen-

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der, energischer Ansätze (Julius Drechsler, Johannes Schurr) immer noch aus. Dabei findet sich hier eine Vollendungsgestalt, welche die transzendental kritische Grundtendenz des Deutschen Idealismus zu einem Ende bringt. Die höchste Anspannung, die Endlichkeit des Bewußtseins zu transzendieren und den absoluten Wahrheitsgrund im absoluten Wissen zu konstruieren, verbindet sich mit der tiefsten Besinnung auf die Grenze des Begriffs und führt zur Urscheidung zwischen dem unvordenklichen Wahren selbst und dessen Erscheinen im menschlichen Denken und Handeln, wobei der zerreißendste Zweifel und die Unruhe eines sich selbst bespiegelnden, leeren Wissens im wesenlosen Scheine zurückgelassen werden. Zuerst also und vom Anfang ihrer Systembegründungen an zielen alle drei Vollendungsgestalten des Idealismus auf denselben Ermöglichungsgrund der Wahrheit: die allreale Einheit von Subjektivität und Objektivität unter der Gleichung Ich=Ich, wie heterogen diese auch gedacht ist (als coincidentia oppositorum, als Inkludenz eines ununterscheidbaren Ineinanderaufgehens von Leben und Sein, als unvordenkliche Indifferenz oder als Identität von Identität und Nichtidentität) und wie verschieden der Zugang zu ihr auch gebahnt wird (auf dem Wege intellektuellen Anschauens, einer Dialektik des sich ins Absolute aufhebenden gegenständlichen Bewußtseins, durch genetisierende Vernichtung des Begriffs oder als Entsetzung und Ekstase beschränkten Ich-Bewußtseins). Zuletzt und am Ende des Systemausbaues aber laufen die drei Ausgestaltungen der prima philosophia auf konkurrierende Entwürfe heraus, die Tragfähigkeit des Wahrheitsgrundes im Ganzen der Erscheinungen von Natur und Geisteswelt zu bewähren. Das wird an der Gretchenfrage überdeutlich: Wie hält man es mit dem Übergang vom Absoluten zur Erscheinung? In welchem Mittelpunkt sind Äußerung und Entäußerung, Erscheinung und Dasein, Bild und Bildform des Absoluten anzutreffen? Nach welchem Gesetz kommt es zu den Erscheinungs- und Bildformen des wahren Seins in seinem Erscheinen? In einer Lehre vom Bilde des Absoluten, d.h. im grundsätzlich abgeschlossenen Ausbau einer Phänomenologie und Erscheinungslehre wahren Seins entscheiden sich Verbindlichkeit und Lebendigkeit einer transzendental um- und durchgestalteten Metaphysik im Stadium ihrer dreifachen Vollendung.

TEIL I Seinslehre Sollen, Leben, Dasein

1. KAPITEL Sollen - Zwischenglied zwischen Sein und Bild. Zur Auseinandersetzung mit Hegels Sollenskritik Über Fichtes Grundlegungen liegt der Schatten Hegels. So gilt seit Hegels Einsprüchen als ausgemacht, die Wissenschaftslehre bringe es nicht zur Ansicht des wahren Seins und konkreter Einheit, sie kenne lediglich ein gesolltes Absolutes. Die Stimme der Hegeischen Sollenskritik hat zu jeder Zeit erklärt: Fichtes Idealismus fange an und höre auf mit dem Anspruch des Sollens, er verstricke sich in die Dialektik von Sollen und Schranke und verfalle Formen der schlechten Unendlichkeit. Daher löse die Wissenschaftslehre, wenn sie die Grundsynthesis Ich = Ich in die Forderung „Ich soll = Nicht-Ich sein" verwandle, die Widersprüche der Vernunft nicht auf. So aber werde die Macht der Idee und des Geistes verkannt. Nun ist Hegels Kritik exemplarisch für die Verkürzung der Fichteschen Prinzipien. Darum muß tiefer auf die einseitig geführte Auseinandersetzung eingegangen und die Grundstellung des S.ollens genauer erörtert werden, und dabei sind eben die (Fichte unbekannte) Große Logik Hegels wie die (von Hegel unbeachtete, ja verachtete) Lehre Fichtes vom Leben und Bild des Absoluten in Betracht zu ziehen.

1.1 Über die vielfache Bedeutung des Sollens im Jena der Fichte-Zeit In Hegels Logik 1812 steht folgende Anmerkung zu „Sollen und Schranke": „Das Sollen hat neuerlich eine große Rolle in der Philosophie, vornehmlich in Beziehung auf Moralität und (Zusatz 1832: metaphysisch) überhaupt auch als der letzte und absolute Begriff von der Identität der Gleichheit mit sich selbst und der Bestimmtheit (Zusatz 1832: oder der Grenze) gespielt" (Wissenschaft der Logik. Das Sein 1812, neu hg. von H.-J. Gawoll. Hamburg 1986,86). Hegels Anmer-

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kung zielt verweisend auf das neuerliche Gepräge der Philosophie: die vielfache Rolle des Sollens und dessen Avancement zum höchsten Begriff. Dabei drängt vornehmlich eine zweifache Bedeutung vor, die moralische und die metaphysische. Aber offenkundig spielen auch andere Ausgestaltungen eine Rolle, etwa in der Form eines naturrechtlichen, ästhetischen, gesellschaftspolitischen Sollens. Darum mag es hilfreich sein, einleitend an solch vielfach bedeutendes Sollen im Jena der Fichte-Zeit zu erinnern, mit der Absicht, das metaphysische Sollen als Hauptziel der Hegeischen Sollens- und Fichte-Kritik herauszustellen. Vordringlich hat sich das Sollen in Beziehung auf Moralität zu Wort gemeldet: als das Gebietende der Pflicht und als Anspruch des kategorischen Imperativs. Aber es hat sich inzwischen ein systematisches Interesse an einer Grundlegung der Sittenlehre ausgebildet, welches darauf hinausläuft, die sittliche Freiheit und moralische Forderung aus einem Sollen zu deduzieren, das über den moralischen Aspekt hinausgeht. Ebenso rege ist das Bedürfnis, das naturrechtliche Sollen abgrenzend einzuordnen: als Vernunftgebot, das die Rechtssubjekte auffordert, unter der Bedingung der Wechselseitigkeit und auf der Basis gegenseitiger Anerkennung ihre äußere Willkür im Gemeinschaftsleben einzuschränken. Und auf glücklich-unglückliche Weise hat das Sollen in der stekkengebliebenen Auseinandersetzung zwischen Fichte, Schiller und Hölderlin eine Rolle für die ästhetische Erziehung des Menschen gespielt: nach Schiller als ästhetischer Imperativ, das Ideal des ganzen Menschen und die versöhnte Einheit von Natur und Vernunft im Bilde des Schönen, im Spiel mit der lebenden Gestalt, darzustellen und zu verbürgen. Unüberhörbar ertönt am Ende von Schillers transzendentalem Wege, im 15. Brief „Über die ästhetische Erziehung des Menschen", das Gesetz ästhetischen Sollens: „Sobald sie (Vf.: die Vernunft) demnach den Ausspruch thut: es soll eine Menschheit existieren, so hat sie eben dadurch das Gesetz aufgestellt: es soll eine Schönheit seyn" (NA XX, 356). Und natürlich ist in ausdrücklicher Spannung zu ästhetischem Staat und schöner Gesellschaft ein politisch-gesellschaftliches Sollen proklamiert worden. Fichtes wirkmächtiges „Publicum" von 1794/95 hatte ja die revolutionäre Forderung der Egalite" als zwar unerreichbare, aber ins Unendliche zu erstrebende Aufgabe des Menschen in der Gesellschaft deduziert, „so lange der Mensch nicht aufhören soll, Mensch zu seyn, und nicht Gott werden soll" (BdG; GA 1,3,40). Also spielt „neuerlich" das Sollen in vielgestaltiger Weise eine prägende Rolle in der Philosophie. Aber diese Vertiefung des Soll erklärt

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auch umgekehrt die Fichtesche Tendenz, den Zugang des Menschen zur Wahrheit aus einer Forderung zu deduzieren, die über den bloß theoretischen Aspekt hinausgeht. Auch die Aufklärung der Wahrheit findet sich unter das Sollen gestellt. Da dieses „Du sollst" nicht unmittelbar ein moralisch-praktisches Handeln abverlangt, könnte es das „aletheuische Soll" genannt werden. Es betrifft Theorie und Wahrheit, so zwar, daß es den Menschen auffordert, sich der voreingenommenen Blindheit zu entledigen und sich im Aufsteigen zur „Wissenschaft" der evidenten Wahrheit zu öffnen. Solches Zur-Evidenz-Bringen des Wahren nämlich ist nicht eine beliebige Tätigkeit philosophischer Muße oder gar ein überflüssiges Geschäft metaphysischer Neigungen; es ist Pflicht, sofern es sittlich geboten erscheint, daß der Mensch sein Werk als Mensch verrichtet, indem er sich in den Standpunkt der Wahrheit und der Freiheit stellt. In der Jenaer Zeit fordert das aletheuische Soll, die intellektuelle Anschauung (der absoluten Selbsttätigkeit) zu vollziehen. Dadurch soll der Mensch den einzig festen Standpunkt gewinnen, den die Philosophie bietet, den der wahren Einheit des Selbstbewußtseins oder des reinen Ich. „Ich soll in meinem Denken vom reinen Ich ausgehen und dasselbe absolut selbstthätig denken, nicht als bestimmt durch die Dinge, sondern als die Dinge bestimmend" (VnD 2. Einl.;GA 1,4,220). Das aletheuische Soll fällt somit nicht in das Gebiet der Ethik; es geht der Scheidung von Theorie und Praxis voraus und prägt eine Denkart, in welcher sich Spekulation und Sittengesetz vereinigen. „Ethischer Idealismus" ist ein mißverständlicher Name dafür. Das macht ein Vorblick auf die Religionsschrift wohl noch deutlicher. In der „Anweisung zum seligen Leben" lautet die Formel des aletheuischen Soll so: „Der wahrhaftige und vollendete Mensch soll durchaus in sich selber klar seyn: denn die allseitige und durchgeführte Klarheit gehört zum Bilde und Abdrucke Gottes" (SW V.473). Wiederum zielt das Sollen auf die Verwirklichung der Wahrheit in der klarsten Fassung philosophischer Wissenschaft ab. Die Wissenschaft (im Stande der Wissenschaftslehre) verspricht Klarheit über das Eine und Viele und steigt aufklärend über die Stufen des Naturglaubens, der Rechtlichkeit und Legalität, einer höheren Moralität des Guten, Schönen, Heiligen und selbst über die Stufe der Religion auf. Am Ende hebt sie den unerschütterlichen Glauben (daß alles Mannigfaltige lebendig im göttlich Einen gründet) in ein Schauen auf. Das soll geschehen. Die Idee der Wahrheit in der Menschheit zu allseitiger Klarheit in Seele und Mitwelt zu bringen, ist ein Gebot „höherer Moralität". Und die Notwendigkeit

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des aletheuischen Soll wird nun nicht mehr von einer autarken Selbsttätigkeit des Ich her in Abwehr der Fremdbestimmung abgelesen, sondern vom Bilde des Absoluten aus formuliert. Das Soll fordert, das Bild Gottes in die Welt hineinzubilden, und zum Bild und Erscheinen Gottes gehören unabtrennlich allseitige Klarheit und lautere Evidenz. Für Hegel aber ragt seinslogisch der metaphysische Sinn des Sollens heraus: als gesollte Identität von Subjekt und Objekt gemäß der Gleichung Ich soll=Ich sein und als die gesollte Aufhebung der Bestimmung und Grenze des Endlichen gemäß dem Grundsatz: Das Endliche in seiner Bestimmtheit und Grenze soll in das wahrhaft Unendliche aufgehoben werden. Kritisch gehört behält so das Sollen das letzte Wort in der Frage der Ersten Philosophie, ob und wie eine absolute Einheit erreicht und das Endliche in das Unendliche aufgehoben werden kann. Unter der Ägide des Sollens bleibt das wahre Sein und Eine das bloß gesollte Absolute. Und im Angriff der Sollenskritik wird das metaphysische Sollen das Hauptangriffsziel im Streit um die Grundlegung der Ersten Philosophie. Sollenskritik gehört durchgängig und in vielseitigem Gebrauch zu den Waffen der Hegeischen Kritik.1 Wie und wann er sie seit den Frankfurter Entwürfen gezielt eingesetzt hat, kann und braucht hier nicht zusammengestellt zu werden. Das Schema ist stets gleich: Die Vernunft ist absolute Macht und keineswegs so ohnmächtig, immer nur zu sollen und nicht wirklich zu sein. So werden die Prinzipienansprüche des moralischen und naturrechtlichen Sollens früh durchstrichen. Die Einheit des ganzen Menschen sei nicht bloß aufgegeben, sondern in der Wirklichkeit der Liebe da; ein freies Gemeinwesen gedeihe nicht in der Forderung des Beschränkens, es sei wirklich in einer „schönen GesellGewicht und Sinn des Sollensargumentes im Werke Hegels hat Odo Marquard, Hegel und das Sollen, in: Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a.M. 1982,37-51 differenziert angezeigt. Danach erkenne Hegel das Sollen durchaus an, wo es das Wesentliche gegen das Nichtige behaupte, seine Kritik treffe allein die Weigerung der Transzendentalphilosophie, das Sollen an die Wirklichkeit zu binden. Weil sie sich nicht an den geschichtlichen Stand ihrer Vermittlung binde und die Herkunftsformen des Rechts und des Politischen im Starren auf das „Sinnliche", die „Natur" übersehe, werde sie zur Philosophie der unendlichen Aufgabe und einer fernen Zukünftigkeit des Heilen, die mit der Nichtverwirklichung des Gesollten rechne. - Diese Ansicht verkennt u.a. die Arbeit des Sollens auf allen Stufen der Weltansichten, nicht zuletzt auf der Stufe des Rechts, in Fichtes System der Fünffachheit.

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schaff", welche Zwangsgesetze durch Sitten entbehrlich mache.2 Auf dem Boden der spekulativen Logik heißt der Gegner Fichte; denn dieser verfechte den obersten Grundsatz metaphysischen Sollens. Das läßt sich schon aus der rudimentären Jenenser Logik 1804/05 herauslesen. Diese findet bezeichnenderweise in der Erörterung der Grenze (als Negation des anderen in Beziehung auf sich selbst) ihr eigentümliches dialektisches Gefüge3, und sie erledigt in eins den Fichteschen Idealismus, der statt der wahren Einheit nur Einheit der Qualität ist, „indem das absolute Einswerden nur ein Sollen bleibt" (Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie, hg. von G. Lassen. Hamburg 21967, 2). Das markiert mit kritischer Schärfe den Standpunkt Fichtes. Es ist schon bemerkenswert, daß Hegel die Fichtesche Position auf das Sollen als Forderung, Grenze oder Endlichkeit mit Unendlichkeit zu vereinigen, zusammenzieht. Bekanntlich formuliert „Glauben und Wissen": „Die Forderung ist der Kulminationspunkt des Systems; Ich soll = Nicht-Ich sein" (ThW 11,394). Zuletzt schließen sich die drei tragenden Einwände, 1. Fichtes Reflexionsphilosophie der Subjektivität sei abstrakt, d.h. einseitig subjektive Subjekt-Objekt-Einheit, 2. sie sei dogmatisch, d.h. unvermitteltes Entgegensetzen eines unvermittelten Ansich und Anstoßes, und 3. sie sei formell, d.h. leeres Selbstbewußtsein und am Ende empirisch, in der Einrede zusammen: Fichte mache den untauglichen Versuch, die Aufgabe der Ersten Philosophie mit der Kategorie des Sollens zu lösen.4 Daß das Sollen als Höchstes und Letztes hervortritt, ist nach He2

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Vgl. Klaus Düsing, Jugendschriften, in: Otto Pöggeler (Hg.), Hegel. Freiburg / München 1977, 28-42. - Im Falle Schillers wird der Makel des Sollens milde übersehen, obwohl ihn Hegel in seinen „Vorlesungen über Ästhetik" notiert. Ästhetische Erziehung soll den Gegensatz zwischen der Vernunft, die das Gattungsmäßige, und der Natur, welche Mannigfaltigkeit und Individualität erstrebt, vermitteln und versöhnen; sie „soll... die Forderung ihrer Vermittlung und Versöhnung verwirklichen" (ThW XIII,91) - nach Schiller durch unendliche Annäherung an ein Unerreichbares im Laufe der Zeit. Das Manuskript zur Logik, Metaphysik und Naturphilosophie („Jenaer Systementwürfe II") ist der erste Hegeische Text, der Ausführungen zur Dialektik enthält. Vgl. Manfred Baum, Die Entstehung der Hegeischen Dialektik. Bonn 1986,236ff. Eine treffliche Zusammenfassung über „Das Eigentümliche der Wissenschaftslehre in der Sicht Hegels" findet sich bei Peter Baumanns, Fichtes ursprüngliches System. Sein Standort zwischen Kant und Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1972,2024. Es werden sieben Einwände aufgereiht: 1. Die Wissenschaftslehre stelle sich auf den Denkstand der Entzweiung. 2. Sie verfalle in Dogmatismus. 3. Sie sei

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gelscher Logik zwingend; denn das perennierende Sollen, welches endlich bleibt, weil es das Absolute als unerreichbar immer jenseits des Erreichten hat, ist Resultat und Ausdruck des unaufgehobenen Widerspruchs zwischen einem abstrakten Setzen und einem absoluten Entgegensetzen. Lapidar erklärt die Fichte-Kritik in „Über Friedrich Heinrich Jacobis Werk", 1817: Weil dem Fichteschen System der unvermittelte Gegensatz zugrunde liege, komme es zu nichts weiter „als zu einem einseitigen, mit einem Jenseits behafteten Sollen und Streben" (ThW IV, 445). Und so ergänzt die Logik 1832 die Anmerkung der Logik 1812 über das metaphysische Sollen: „Die... Fichtesche Philosophie gibt als den höchsten Punkt der Auflösung der Widersprüche der Vernunft das So//e«an"(ThWV,148). Soweit sei im Durchlaufen der vielfachen „neuerlichen" Bedeutung des Sollens der Streitpunkt klargelegt. Es geht um die Rolle des metaphysischen Sollens im Aufbau einer Ersten Philosophie, die sich in die Aufgabe des Zeitalters gestellt weiß, das Endliche in das Unendliche als Leben und die Entzweiung in das Absolute als dessen Erscheinung zu setzen. Und es sollte auch deutlich geworden sein, daß diese Streitsache zwischen Hegels Logik und Fichtes prima philosophia verhandelt wird. Um Schärfe und Unscharfe der Stellungnahme zu ersehen, ist es nötig, über die bekannten Differenzen der „Differenzschrift" und „Glauben und Wissen" hinauszugehen, indem darauf geachtet wird, wie Hegel selbst das Sollen in die spekulative Logik des Seins als höchsten Fichteschen Gedanken aufnimmt. Und um Fichtes mögliche Replik überhaupt zu Gehör zu bringen, tut es not, über die „Grundlage" von 1794/95 hinaus sich denkend auf jene Gestalt der prima philosophia von 1804 einzulassen, welche den Grundsatz „Das Absolute soll da sein" in ein transzendentales System einer Wahrheits- und Erscheinungslehre einsetzt.

subjektivistisch.Sie gleite 4. in einen formalen und logischen, 5. in einen psychologischen Idealismus ab. 6. Ihr sei ein gewisser Empirismus eigen. 7. Sie gipfele in der Subjektivität des Glaubens und Sollens. Baumanns belegt zudem, wie diese Kritik das Fichte-Bild bis in die jüngere Forschung (N. Hartmann, R. Kroner, M. Gueroult, J. Vuillemin) bestimmt hat. Seinem Einspruch, der frühen Wissenschaftslehre gehe es gar nicht um die Einheit des Absoluten, sondern um den Zusammenhang des ganzen Menschen, ist zuzustimmen.

Sollen und Schranke in Hegels Logik

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1.2 Sollen und Schranke in Hegels Großer Logik und die Spitze der Fichte-Polemik Hegels Fichte-Kritik gewinnt in der objektiven Logik ihre gedankliche Prägnanz. Eine wenigstens umrißhafte Wiederholung hat beim Gedanken der Endlichkeit einzusetzen; denn es muß ein Übergang zum Unendlichen gedacht werden, in welchem das Endliche selbst über sich hinausgeht, sofern die wahrhafte Natur des Endlichen von vornherein darin gesetzt wird, in Aufhebung seiner Schranke unendlich zu sein. Nun entwickelt sich das Endliche in die Momente des Sollens und der Schranke, und mit dem Sollen beginnt ein Hinausgehen ins Unbeschränkte. Indessen, dieses Hinausgehen über die Endlichkeit bleibt endlich. Das ist der Angelpunkt der Hegeischen Fichte-Kritik. Darum ist er schärfer ins Auge zu fassen. Das Endliche kommt vor als das Vergängliche und Schwindende an ihm selbst. Das radikalisiert die qualitative Negation, wie sie sich mit den vorausgegangenen Kategorien der Qualität und des Daseins eingestellt hatte: Endlich zu sein, bedeutet mehr als bloß bestimmt, begrenzt, veränderlich zu sein. Eine Metaphysik der Endlichkeit behauptet: Was ist, ist das Zu-Ende-Gehen aller Dinge; denn deren Wahrheit ist das Verschwinden. So tritt Endlichkeit als die auf die Spitze getriebene qualitative Negation des Daseienden hervor. Dieser seiner Genesis zufolge ist das Endliche in seinen Bezügen und Vermittlungen bereits derart verwickelt, daß der Fortgang ins Unendliche und Affirmative schwer zu entwickeln ist. Der fragliche Übergang geschieht mit Hilfe der Kategorien von Schranke und Sollen. Beide folgen aus dem Begrenztsein des Daseienden. Die Schranke macht sich bemerkbar als verschärfte Grenze. An seiner Grenze hört etwas auf. Dieses Aufhören wird gleichsam gebieterisch, sobald eine Schranke dem Überschreiten einer Grenze Einhalt gebietet: „Bis hierhin und nicht weiter!" Schranke heißt also die qualitative Grenze mit dem Charakter des Aufhaltens. In eins tritt das Sollen hervor. Schranken zu haben, ist ja eine Qualität des Daseienden oder Etwas. Im Daseienden aber regt sich bereits eine Reflexion, die es gegenüber dem ruhigen Dasein auszeichnet, nämlich die Rückkehr über das Sichanderswerden in sich oder die Negation des Nicht-Andersseins. „Das Dasein als in dieser seiner Bestimmtheit in sich reflektiert ist Daseiendes, Etwas" (Enzyklopädie § 90; ThW VIII,195). Dank dieser Bewegung sucht das Etwas die Negation seines Beschränktseins zu negieren. Das aufgegebene Negieren von Schranken kraft der Selbsthaftigkeit

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des Etwas heißt Sollen. Offensichtlich kann es bei diesem Resultat nicht bleiben. Was nämlich jetzt als zu Denkendes vorliegt, sind Schranke und Sollen; denkt man deren Verbindung, dann stellt sich ein Widerspruch von Untrennbarem heraus. Beide sind voneinander unlösbar. Kein Sollen ohne Schranke, keine Schranke ohne Sollen. Schranken gibt es ja nur als Widerstand und Anstoß für ein Streben, das über sie hinaus soll, und Sollen spricht sinnvoll nur als Nötigung, Schranken zu überwinden. Aber die Tendenzen widersprechen einander. Gebietet die Schranke Einhalt, so fordert das Sollen ein Darüber-hinaus. Und weil Schranke und Sollen Aufbaumomente des Endlichen (als begrenztem Etwas) sind, kann die seinslogische Theorie konstatieren: „Das Endliche ist so der Widerspruch seiner in sich; es hebt sich auf, vergeht" (ThW V, 148). Mit dem Vergehen des Vergänglichen scheint sich eine erhabene Aussicht auf das Unendliche und Affirmative zu öffnen. Indessen, der Stachel der Endlichkeit sitzt noch fest. Bilden nämlich Schranke und Sollen Hauptmomente der Endlichkeit, muß dann nicht das Hinausgehen des Sollens ins Unendliche endlich bleiben? Wie und wohin vergeht denn unter dem Druck von Sollen und Schranke das Vergängliche? Unmöglich kann das Vergehen des Begrenzten in die Leere des Nichts zurücksinken; denn das unbestimmte unmittelbare Nichts ist ja ein Vergangenes und längst im Werden vermittelt. Ebensowenig kann es in den Kreisgang einer Unendlichkeit eingehen, welche die Negation der Endlichkeit negiert; denn der Übergang im Sollen verharrt ja im Endlichen. Mithin bleibt der gerade Weg ins Endlose. Auf ihm geht ein Endliches in ein anderes fort. Indem es ein anderes wird, vergeht es und bleibt es zugleich. Jedesmal, wenn das Sollen die Schranke von etwas überwindet, stellt sich ihm eine andere entgegen, die, überwunden, wiederum eine weitere Schranke von etwas hervortreten läßt. So erhebt sich aus dem Widerspruch von Schranke und Sollen die endlose, nie erlahmende Abwechslung von beiden. An diesen Ort stellt Hegels Logik seit Jena Fichtes Erste Philosophie. Die Große Logik bringt die Kritik auf den Punkt: „Die... Fichtesche Philosophie gibt als den höchsten Punkt der Auflösung der Widersprüche der Vernunft das Sollen an, was aber vielmehr nur der Standpunkt des Beharrens in der Endlichkeit und damit im Widerspruche ist" (ThW V, 148). Wohl verstanden, überall da, wo das Sollen das Wesentliche gegen das Nichtige behauptet und wo, wie im praktischen subjektiven Geist, Allgemeinheit und Vernünftigkeit ihre Realisierung fordern, erkennt He-

Sollen und Schranke in Hegels Logik

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gel das Sollen vorbehaltlos an.5 Ein perennierendes Sollen aber hält er für den Grundschaden der Ersten Philosophie. Es trennt prinzipiell Wirklichkeit und Idee. Und es ist, wie auch die Logik 1812 konstatiert, eben der Fichtesche Idealismus, der über das Sollen und den unendlichen Progreß nicht hinauskomme (a.a.O., 102). Das alles ist offenkundig. Versteckter vielleicht ist die historiologische Verknüpfung mit Fichte in der fortentwickelten Dialektik von Endlichkeit und Unendlichkeit. Um sie freizulegen, ist die bisher gewonnene Unendlichkeit zu betrachten. Was da als Unendliches vorkommt, ist immer nur das Jenseits dessen, was das Sollen je erreicht. Solange aber, wie bei Fichte, der Reflexionsstandpunkt, d.h. ein Setzen durch schlechthinniges Entgegensetzen herrscht, wird das jenseitig Unendliche scharf vom Endlichen getrennt. Stets sucht der Verstand das Unendliche durch trennende Negation von allem Endlichen rein zu halten. Gerade dadurch aber bekommt das Unendliche wieder eine reelle Grenze. Als das Jenseitige eines Diesseits wächst es nie zum wahren Konkreten zusammen. ,3s ist aber damit in Wechselbestimmung mit dem Endlichen und ist das abstrakte, einseitige Unendliche" (ThW V, 149). Zwar ist das Endliche im jenseitig Unendlichen getilgt, außerhalb und diesseits des Unendlichen aber bleibt es real bestehen. Mithin wird die Unendlichkeit der Verstandesnegation gerade dadurch, daß sie das Endliche von sich fernhält, verendlicht. Im Grunde tritt das negierte Endliche darum immer wieder an der Unendlichkeit als ihr Anderes hervor, weil es nur halbherzig negiert, d.h. einfach abgegrenzt wird. Das ergibt jenen pro-

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Im Hinblick auf das Sollen in Kants praktischer Vernunft heißt es in „Friedrich Heinrich Jacobis Werke" (ThW IV,429):Die Einheit von Selbstgewißheit und äußerlicher Wirklichkeit komme nur als „perennierendes Postulat" vor. Grundlage des Praktischen aber sei das Bewußtsein, daß das Vernünftige ebenso ist, als es sein soll. Kein Sollen ohne Sein, kein Sein ohne Sollen; „das bloße Sollen, der subjektive Begriff ohne Objektivität ist ebenso geistlos, als ein bloßes Sein ohne den Begriff, ohne sein Sein- Sollen in sich zu haben und ihm gemäß zu sein, ein leerer Schein ist" (ThW IV,444). - Zur Rolle des Sollens in Hegels Lehre vom praktischen subjektiven Geist vgl. Enzyklopädie, 3. Auflage §§ 469-482. Darin findet sich der das Sollen aufwertende Satz, das Übel sei nichts anderes als die Unangemessenheit des bloßen Seins zum Sollen (ThW X,292). Fichtenahe klingen manche Formulierungen eines niederen und höheren Sollens in den „Vorlesungen über die Philosophie des Geistes" vom Wintersemester 1827/28 in der Nachschrift von Johann Eduard Erdmann.

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gressus in infinitum, in welchem abwechselnd das Unendliche am Endlichen und das Endliche am Unendlichen hervortreten. Inwiefern? Der Gedanke der Endlichkeit geht, wie gesagt, haltlos über Schranke und Sollen in ein Unendliches jenseits des Sollens hinaus. Bleibt nun aber das Unendliche als ein Jenseitiges entschieden vom Diesseitigen abgegrenzt, dann paßt es sich wieder in die Bestimmtheiten endlicher Qualität ein. Das verendlichte Unendliche zeigt sich im Status der Begrenztheit und Bestimmtheit. Es ist so und nicht anders, nämlich unendlich und nicht endlich. Damit wiederholt sich der Vorgang. Kein Bestimmtes und Begrenztes kann sich halten, es geht zu einem ferneren Unendlichen hinaus, das seinerseits die Verendlichung braucht. In diesem endlosen Progreß entflieht das Unendliche in ein immer unerreichbareres Jenseits. Es entrückt in eine geheimnisvolle Ferne, dem das Streben als Sehnen endlos nachgeht. Ontotheologisch gesprochen: Gott entzieht sich in seine Unbegreiflichkeit. An dieser Stelle kommt noch einmal eine Fichte-Kritik zum Vorschein. Zwar scheint der Gedanke eines Gottes, der sich immer tiefer in das Geheimnis seines Seins entzieht, der Mystik und deren Behauptung anzugehören, der trüben Ferne des Unerreichbaren durch mystische Schau eine positive Sicht abzugewinnen. Recht besehen aber, hält sich die Tendenz der Sollenskritik durch. Nur wendet sie sich jetzt nicht mehr an den endlosen Progreß von Schranke und Sollen im Streben, wohl aber an einen ebenfalls endlosen Fortgang des Wechsels zwischen Endlichem und Unendlichem im Glauben. Das wird klarer, wenn man zwei kritische Grundsätze aus „Glauben und Wissen. C. Fichtesche Philosophie" heranzieht. 1. Da im Fichteschen System das Endliche (Natur, Sinnenwelt) und das Unendliche (Geisterwelt) nicht zusammenstimmen, rückt das Unendliche als Nichts des Wissens in ein Jenseits des Glaubens; der Glaube drückt die geforderte, im Wissen unerreichbare Identität aus. 2. Sofern das Unendliche vom Endlichen (als dem absolut Schlechten) reingehalten werden soll, vollzieht die Setzung des Unendlichen die Flucht aus der schlechten Endlichkeit. Seinslogisch entsteht so, wie gezeigt, ein perennierender Wechsel von Endlichem und Unendlichem, in welchem das Sehnen nach wahrer Unendlichkeit niemals gestillt werden wird. Hegels Logik entlarvt die Erhebung des Glaubens als fortwährende Flucht in eine trübe Ferne. So legt das philosophiegeschichtliche Urteil Hegels über Fichtes Versuch, den Dualismus zu überwinden und das Absolute einzuholen, fest: „Das

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Letzte ist nur ein Sollen, Bestreben, Sehnen" (Vorl. über d. Gesch. d. Philos.; ThW XX,399). Darum wird Fichte durch das in der Jenenser Logik geprägte Wort von der schlechten Unendlichkeit6 frontal getroffen; denn „die schlechte Unendlichkeit ist dasselbe, was das perennierende Sollen', sie ist zwar die Negation des Endlichen, aber sie vermag sich nicht in Wahrheit davon zu befreien" (Logik 1812,93). Nach spekulativer Logik heißt jede Gestalt eines progressus in infinitum schlecht, vorzüglich aus zwei Gründen: 1. Er wiederholt endlos und langweilig den einen Wechsel zwischen denselben Gliedern, ohne je reicher und konkreter in sich zu werden. 2. Er taugt nicht dazu, seine Glieder zu versöhnen, weil er deren Widerspruch als vorhanden ausdrückt. Das tödliche Stichwort der schlechten Unendlichkeit richtet sich mithin zweimal gegen Fichte: gegen den endlosen Wechsel von Schranke und Sollen im Streben nach der Identität Ich = Ich und gegen die endlose Abwechslung des Endlichen und Unendlichen in der Sehnsucht nach dem jenseitig unerreichbaren Absoluten. Das Unerreichbare aber ist das Unwahre. Was immer nur sein soll, ohne je zu sein, hat keine Wahrheit. Hegels Credo lautet eben: Das Wahre ist kein Sollen und keine letzte Forderung, sondern das an und für sich Vollbrachte. Als Zeugnis dafür setzt die spekulative Logik triumphierend den Gedanken der affirmativen Unendlichkeit ein. 1.3 Das Sollen im Aufstieg zum Absoluten Hat Fichte darauf eine Antwort gegeben? Nun fand ein persönliches Gespräch niemals statt. Einen Briefwechsel gibt es nicht. Fichte und Hegel sind einander nie persönlich begegnet. Als Hegel 1801 nach Jena kam, war Fichte schon endgültig nach Berlin umgezogen, und als Hegel im Oktober 1818 seine Vorlesungen in Berlin eröffnete, war Fichte Der Terminus „schlechte Unendlichkeit" wird von Hegel zum erstenmal in den „Systementwürfen " eingeführt (Abschn. D. Unendlichkeit); vgl. Manfred Baum, Die Entstehung der Hegeischen Dialektik, a.a.O, 248ff. Sie hat darin ihr Wesen, der vorhandene Widerspruch zu sein, dergestalt, daß die Bestimmtheit nicht ist, indem sie ist, und ist, indem sie nicht ist. Dagegen stellt Hegel die „absolute Unendlichkeit", die absolute Rückkehr der einfachen Beziehung in sich.

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schon vier Jahre auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben. Die Geister waren aneinander vorbeigeglitten. Wohl hatte Hölderlins FichteBegeisterung Hegel auf den Jenaer Titanen aufmerksam gemacht, aber als Hegel 1801 die Differenzschrift herausgab, war Fichte bereits auf seinem weiteren Denkweg: über das Sollen zum Sein und dessen Bilde. Und umgekehrt: Wohl hatte Schelling Fichte auf die Differenzschrift hingewiesen, aber für Fichte zählte Hegel noch zu den Schildknappen Schellings und zu den Verschlimmbesserern der Wissenschaftslehre, als dieser schon auf dem Wege zum spekulativen System war. Fichte erwähnt Hegel nur ein einziges Mal. Dabei dreht es sich immerhin um die Grundlegung der Ersten Philosophie. An Schelling schreibt Fichte am 15. Januar 1802: „So wünschte ich wohl, daß Sie sowohl als Hegel über diesen Streitpunkt nicht weiteres Aufheben, und dadurch, wie ich glaube, die Misverständnisse nicht zahlreicher machten; bis meine neue Darstellung erschienen ist" (BrW; G A 11,5,113). Die neue Darstellung hat ihre reinste Form in der Zweiten Vortragsreihe der Wissenschaftslehre 1804 gewonnen. Sie ist zu Lebzeiten Hegels nicht mehr im Druck erschienen. So hat sich Hegel nur noch über das Berliner Vortragswesen7 und die populären Schriften Fichtes mokiert und wirkungsgeschichtlich die Mißverständnisse noch zahlreicher gemacht. Zu ihnen zählt die Hegelsche Gleichung von perennierendem Sollen und schlechter Unendlichkeit als Unwesen der Fichteschen Wissenschaftslehre. Im Grunde nahm Hegel die „neugebildete Lehre" Fichtes allein aus der Perspektive Schellingscher Polemik wahr (vgl. an Schelling, 3. Januar 1803). Und Fichtes exoterische Schriften zog er seit dem „Sonnenklaren Bericht" (vgl. Hegel an Mehmel, Anfang August 1801 = FiG III, 69) als philosophisch bedeutungslos herab. Vielleicht tritt die befremdliche geistige und persönliche Ferne am grellsten in jener Bemerkung heraus, die man in Hegels Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie liest: „In seinen späteren, populären Schriften hat Fichte Glaube, Liebe, Hoffnung,Religion aufgestellt, ohne philosophisches Interesse, für ein allgemeines Publikum, eine Philosophie für aufgeklärte Juden und Jüdinnen, Staatsräte, Kotzebue" (ThW XX,413). Das ist boshaft und nicht einmal original. Hegel verlängert nur den Seitenhieb, den Schellings „Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur verbesserten Fichteschen Lehre" (vgl. Hegel an Schelling, 3. Januar 7

Vgl. Reinhard Lauth, Über Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin von Mitte 1799 bis Anfang 1805 und seine Zuhörerschaft, in: HegelSt 1980(15)9-50.

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1807) austeilt. Dort steht: Fichte, der die Natur und Naturphilosophie hasse und das Göttliche über alle Wirklichkeit in ein reines Jenseits rükke, greife an im „Dunkel einer Privatvorlesung" „vor Berliner Weibern, Kabinettsräten und Kaufleuten" (SW VII, 125). Nun waren die Kabinettsräte in Wahrheit führende Staatsmänner der preußischen Monarchie, Altenstein, Beyme, Hardenberg, Haugwitz, Struensee u.a. Neben Kotzebue und dem jüdischen Bankier Salomon Levy versammelten sich um Fichte in den öffentlichen Vorträgen von 1804 Gelehrte, Wissenschaftler, Künstler wie August Wilhelm Schlegel, Varnhagen von Ense, Solger, Delbrück, Hufeland, Klapproth, Zelter, Gerstenberg, und zu den Berliner Weibern und aufgeklärten Jüdinnen als Hörerinnen Fichtes zählen so bedeutende Frauen wie Rahel Lewin, Henriette Herz oder Charlotte von Kalb. Das private Dunkel war also die helle Öffentlichkeit geistigen Lebens, und die Privatvorlesung die philosophische Grundlegung jener Schriften, die Hegel als populär, synkretistisch und spekulativ bedeutungslos beiseite schob. So ist das möglicherweise machtvollste Streitgespräch über Prinzip und Methode der Ersten Philosophie im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ausgeblieben. Dabei enthält Fichtes Vortrag 1804 Entgegnungen zu den Hegeischen Abschätzungen der Wissenschaftslehre als eines abstrakten Idealismus, als eines leeren Reflektiersystems und Empirismus wie auch Angriffe gegen Hegels dialektisches Prinzip. Das haben neuere Forschungen nahegelegt.8 Hier aber geht die nachzubildende Aus8

Vgl. Reinhard Lauth, Hegel vor der Wissenschaftslehre. Mainz 1987, insbesondere „Fichtes Kritik an Hegels spekulativen Voraussetzungen im Jahre 1804", 135174. Die eindringliche Untersuchung belegt die Hypothese, daß Fichte sich hier nicht nur mit Schelling, sondern auch mit Hegel und dessen eigenständigen Positionen auseinandersetzt, die Fichte doch aus der Lektüre der „Differenzschrift" und von „Glauben und Wissen" bekannt waren. Dabei werden nicht nur Verteidigungen der Wissenschaftslehre zusammengestellt. Herausgehoben sind Angriffe gegen ein Identitätssystem auf dem Stande der spekulativen Identität von Identität und Nichtidentität, etwa der Vorwurf einer Synthesis post factum, des Dogmatismus, der Leerheit, nicht zuletzt der Widersprüchlichkeit eines sich selbst entzweienden Absoluten. - Anders akzentuiert wird das Verhältnis von Hegel und Fichte in dem Nachweis von Ludwig Siep, daß Fichte aufgrund von Überlegungen, die mit den Argumenten Hegels gegen die frühe Wissenschaftslehre in wichtigen Punkten übereinstimmen, eine der Kritik Hegels entzogene Position erreicht, vgl. Hegels Fichte-Kritik und die Wissenschaftslehre von 1804, Freiburg/München 1970. Dazu Johannes Heinrichs, Fichte, Hegel und der Dialog, in: ThPh 47(1972) 90-131. - Das Verdienst, die Fichte-Kritik der Differenzschrift kritisch analysiert

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einandersetzung allein auf den Streit um Sollen und Sein ein und konzentriert sich auf eine einzige Frage: Wie stellt sich das metaphysische Sollen in der Wahrheits- und Erscheinungslehre von 1804 dar? Kommt der Ersten Philosophie die vordringliche Aufgabe zu, das Endliche in das Unendliche als Leben zu setzen, dann lautet die Frage genauer: Welche Rolle spielt das Sollen im Aufstieg zum absoluten Sein und Leben? Bescheid gibt das Grundgesetz allen Wissens in der Wissenschaftslehre 1804. Es erklärt: „Soll es zu diesem (Vf.: reinem Licht und Leben absoluten Wissens) wirklich kommen, so muß der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegreifliches Seyn gesetzt werden" (WL 1804-11; GA 11,8,60). Der Satz fängt mit einem energischen Soll an. Es soll wirklich zu einem ungeteilten Sein kommen und nicht beim endlosen Streben bleiben. Leben und Licht des Absoluten sollen in der Tat einleuchten. Dazu muß der Begriff sich vernichten. Wohl nirgends klafft die Kluft zu Hegels Spekulation tiefer auf als in dieser Sollensforderung. Das zeigt schon die knappste Erläuterung. Fichte drückt den Begriff des Begriffs in der Wortart einer substantivierten Präposition aus: Der Begriff ist das „Durch". Im Sich-selbstDenken geht das Denken ja durch das Anderssein des Anderen, sich von ihm losreißend, hindurch. Unleugbar lebt das Selbstbewußtsein in der Bewegung einer Reflexion, bei der es durch Unterscheidung von dem, was es nicht ist, zu sich selbst zurückkommt und sich auf das Nicht-Ich als Schranke und Anstoß bezieht. Fichte nennt die unaufhörliche Bewegung eines solchen Hin und Her in ihrem reinen Relationscharakter das „Durcheinander". Die frühe Wissenschaftslehre hatte es als Schweben der produktiven Einbildungskraft ergründet. Jetzt aber macht die vertiefte Grundlegung einen merkwürdigen Vorbehalt. „Es (Vf. das Durch) hat bei aller Anlage zum Leben, dennoch in sich selbst nur den Tod" (WL 1804-11; G A 11,8,160). Damit melden sich Endlichkeit und Tod als Grundmomente unseres Selbstseins zu Wort, dergestalt, daß ihre Vernichtung in das wahre Licht und Leben jenseits des toten Begriffs verweist. Kritische Philosophie hält also Begriff und Leben auseinander. Was dem Begriff und endlichen Ich-denke von ihm selbst her eignet, ist nur die Anlage, d.h. die ermöglichende Form des zusammenhaltenden Übergehens von einem zum anderen, aber nicht das reine aktuose Werden iert zu haben, gebührt Helmut Girndt, Die Differenz des Fichteschen und Hegelschen Systems in der Hegeischen Differenzschrift. Bonn 1965.

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und Übergehen selbst. Dank seiner formalen Anlage hat der Begriff wohl die Möglichkeit, nicht aber schon die Wirklichkeit zu leben. Lebt aber nun das Durch nicht aus sich selbst, dann setzt es ein Leben voraus, das nicht im Begriff, sondern in sich selbst gründet. Der in sich tote Begriff hat ein urreales Leben zur notwendigen Bedingung dafür, daß er sich wirklich vollzieht. Fichtes transzendentale Lebenslehre versteht somit das Ich nicht mehr als das sich schlechthin selber Setzende, sondern als das sich notwendig Übersteigende. Es ist lehrreich, diese These vom Ich mit Friedrich Heinrich Jacobis Standpunkt zu konfrontieren. In der für die Wissenschaftslehre 1804 einflußreichen Briefabhandlung „Jacobi an Fichte", 1799 werden ja ebenfalls das Ich als das sich selbst Übersteigende und Gott als das Unbegreifliche geglaubt. „Mit unwiderstehlicher Gewalt weist das Höchste in mir auf ein Allerhöchstes über und außer mir; es zwingt mich das Unbegreifliche - ja das im Begriff Unmögliche zu glauben" (W 111,35). Die Differenz liegt im Methodenanspruch. Jacobis Lehre beruft sich auf den Instinkt der Vernunft und auf die unmittelbare Gewißheit des Glaubens an ein lebendiges Sein an sich über und außer mir im Gefühl eigener Nichtigkeit und des ahnungsvollen göttlichen Lebens und Liebens. Die Wissenschaftslehre dringt auf Genetisierung aller Tatsachen des Bewußtseins. Die transzendental genetische Frage ist: Nach welchem Gesetz entsteht uns dieses ja erst faktische Wissen von einem Sein und Leben jenseits des Bewußtseins? Die Antwort liefert das Schema: Soll - dann muß. Soll das lautere Sein einleuchten, dann muß sich mit dem Begriff ein Zweifaches begeben. Er muß sich selbst vernichten und mit demselben Schlag vom Unbegreiflichen ergriffen sein. Das ist eine Forderung transzendentalen Intelligierens und nicht etwa eines mystischen Versinkens in den Gott der negativen Theologie. Intelligieren nennt die Selbstanschauung reinen Wissens in seiner Genesis. Das ist streng zu scheiden von Schellings intellektualer Anschauung und jeder unmittelbaren Erkenntnis und Anschauung des Absoluten und Ewigen selbst. Jene sind für Fichte leere Prahlereien. Im Intelligieren kommt der Vorgang in die Sicht, in welchem der Begriff seine Endlichkeit bis zur Grenze wirklichen Lebens durchdringt, sich vernichtet, d.h. als oberstes Prinzip absetzt, um sich als Bild und Dasein des Absoluten einzusetzen. Mit dem Durch als Lebenswurzel des Ich ist es so in Ansehung des Absoluten zuende. Aber hat in diesem Aufstieg nicht doch ein Idealismus des Sollens

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das erste, initiale Wort? Hebt denn nicht der ganze durchreflektierte Prozeß mit dem Sollen an? Und der Anspruch des Sollens ergeht doch wohl an die Freiheit der Selbstbestimmung als Vermögen des Loslassens und der Selbstentsagung. Indessen, nur ein einseitiger Idealismus pocht auf die Freiheit und Energie unseres Selbstseins. Dann wäre das absolute Sein nichts als ein von uns unbedingt zu denkender Gedanke, aber nicht wahres, aus sich lebendes Leben. Und das Ich, welches Gott zum Gedanken des Endlichen herabsetzt und in seinem lebendigen Wesen vernichtet, wäre, mit Jacobi zu sprechen, das zu Gott erhobene Gespenst. Darauf richtet sich die Mahnung der Religionsschrift, 1805: „Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten" (AsL 8. Vorl.; SW V,518). Das hält sich als Grundsatz der Fichteschen Lebens- und Gotteslehre durch. „Gott selbst", konstatiert ein Grundsatz der „Tatsachen des Bewußtseins", 1813, „ist nicht durch das Denken, sondern an ihm vernichtet sich das Denken... Wer also die Iche als Absolutes setzt, der hat eben nur Bilder" (NW 1,563). Ist aber das einleuchtende Sein und Leben nicht Resultat unserer Durch-Konstruktion, woher stammt es dann? Die Vorliebe der Wissenschaftslehre 1804 für den Realismus antwortet: von der Selbstkonstruktion des sich selbst effizierenden Lichts als des „Urvon". So stellt sich dem Soll der Denkkonstruktion des Ich das Von der Selbstkonstruktion des Lebens an sich entgegen. Daraus entsteht ein Streit zwischen Idealismus und Realismus als Stufengang im Aufstieg zum Einfach-Einen. Dem kann hier weder systematisch noch historisch nachgegangen werden. (Aber offenkundig sind die Wendungen der Zeit zum Realismus, etwa im Stile Christoph Gottfried Bardilis, so aufgefangen, daß sie als Stufen im Aufstieg zur Wahrheit gekennzeichnet und überstiegen werden.) Am Ende kommt folgendes heraus: Der höchste Realismus und dessen Ansich- Prinzip enthüllt sich als ein sich selbst nicht kennender Idealismus (ein Nicht-Füruns). Daher müssen beider Anfangsgründe, das Soll und das Von, fallengelassen werden; denn beide gehören zur Relation des Bewußtseins und zur Form des Durch. Genaugenommen benutzt die Wahrheitslehre 1804 das Sollen als abzuwerfende Leiter in jenem Aufstieg, der das Endliche in das Unendliche als Leben setzt. Schon diese Einsicht revidiert das durch Hegel verbreitete Mißverständnis, Sollen, Streben und Sehnen seien das Alpha und Omega der Fichteschen Philosophie.

Das Sollen als Mittelglied

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1.4 Das Sollen als Mittelglied der Fichteschen Phänomenologie Wie aber steht es beim Abstieg vom Einen zu den Entzweiungen des Bewußtseins und der Mannigfaltigkeit der Welt? Da wird das Sollen wieder aufgenommen, und zwar als bedeutendes Disjunktionsglied einer kritisch besonnenen Phänomenologie oder Bildlehre. Entscheidend dabei ist, unter welchen Grundsatz vom Sein die prima philosophia ihre Aufgabe, die Entzweiungen in das Absolute als dessen Erscheinungen zu setzen, stellt. Kritische Vorsicht erklärt: Das allreale Licht und Leben öffnet sich nicht dem Auge des Begriffs, es bleibt in sich geschlossen. Das Absolute hat den Charakter eines völligen Geschlossenseins in sich, das nicht aus sich heraus kann. Das verbietet zweifellos den Gang einer Logik, wonach das Absolute selbst im Werden konkret wird, in die Endlichkeit des Daseins zusammensinkt und als affirmative Unendlichkeit versöhnend wiederaufersteht. Kritisch betrachtet, kann das Absolute nur in Vermittlungen und Relationen eingehen, wenn es sich selbst vernichtet. In Wahrheit bleibt es in sich geschlossen, dergestalt, daß in ihm Ansichbestehen (Substantial!tat) und Leben (Subjektivität) ununterscheidbar und unobjektivierbar ineinander aufgehen. Was folgt daraus? Für Hegelsches Denken vor allem ein Zweifaches: 1. Eine ununterschiedene und ununterscheidbare Einheit von Denken und Sein bleibt in der bloßen Unmittelbarkeit des Seins befangen, die sich nicht halten läßt. 2. Wenn solche Einheit nicht aus sich herauskann, dann sind das bewegende Unterscheiden, das Werden und aufhebende Negieren eben im Sein selbst als dessen Wahrheit zu denken. Dagegen aber sperrt sich kritische Vernunft. Mit dem Gebot der IchEntsagung hebt die eigentliche Aufgabe der prima philosophia an, nämlich die Grundverhältnisse des Seienden als Erscheinungen des Absoluten herzuleiten. Dieser zentrale Teil der Ersten Philosophie heißt bei Fichte „Phänomenologie" (WL 1804-11, GA 11,8,206). Deren drei oberste Grundsätze lauten: 1. Das Sein ist allein da im reinen Wissen - nicht in der Natur, nicht in der Menschenwelt, nicht in der Geschichte. 2. Das reine oder absolute Wissen ist allein Dasein des Seins und nicht etwa das Element des Absoluten selbst. (So konstatieren „Die Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre", 1805: „Derselbe Punkt der Wahrheit ist zugleich Vernichtung des Ich, als absoluten, und des Wissens selber"; GA II, 7, 401.) 3. Soll das Sein erscheinen, dann muß das reine Wissen sich

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durchbilden als Bild des Absoluten. Damit stellt sich die Phänomenologie nicht in das Absolute selbst; denn aus dem Absoluten kann unmittelbar gar nichts hervorgehen. Noch steht sie idealistisch auf der Seite des Bewußtseins oder realistisch auf der Seite eines Seins an sich; denn deren Entzweiung soll ja deduziert werden. Sie steht im Einheits- und Spaltungsgrunde zwischen dem Absoluten und dessen Entzweiungen und übernimmt die Aufgabe, alle Entgegensetzungen aus sich als Dasein des Absoluten herzuleiten. Die Ausarbeitung eines solchen Programms kann hier nurmehr roh skizziert werden, und das auch nur im speziellen Hinblick auf das Spaltungsmoment des Sollens. Wie also steht es in Fichtes Phänomenologie 1. mit der Spaltung von Sein und Welt, 2. mit dem Chorismos von Sinnlichem und Übersinnlichem und 3. mit der Zerteilung des Einen in die unendliche Mannigfaltigkeit raumzeitlicher Objekte und Subjekte? l. Fichtes Herleitung der Welt geht bekanntlich von zwei anstößigen Hypothesen aus: Der einzige Charakter von Welt ist Vorhandenheit, und der eigentliche Weltschöpfer ist der Begriff. Von daher hat eine Genetisierung zu erklären, warum das lebendige Sein sich als Vorhandensein von Welt faktisch vorfindet und mit welcher Notwendigkeit der Begriff das Leben in tote Vorfindlichkeit verwandelt. Hierbei dreht es sich nicht um das Rätsel, wie der durch uns gesetzte Gegenstand in der natürlichen Ansicht der Dinge als von uns unabhängig vorgestellt werden kann. Das ist als Selbstvergessenheit im vorbewußten Schaffen der produktiven Einbildungskraft aufgelöst. Zur Frage steht, warum das lautere, göttliche Leben in Vorhandenheit der Welt verwandelt werden muß. Das leuchtet ein, wenn das Sollensgesetz der Selbstvernichtung Beachtung findet. Es macht gewiß, daß das Durch ein Absolutes so wenig erschließen kann, daß dieses vielmehr nur als in sich Geschlossenes denkbar ist. Nun bedeutet in sich geschlossen zu sein auch, in seiner Urgenesis undurchdringlich zu bleiben. Das ergibt den gesuchten Erklärungsgrund. Das bloße Vorhandensein von Welt resultiert aus der Nichtgenetisierbarkeit des sich selbst effizierenden Lichts und Lebens, nicht etwa - wie bei Jacobi - aus unmittelbarer Offenbarung. Die Spaltung zur Welt erfolgt auch nicht - wie bei Hegel - aus einer Selbstentzweiung des göttlichen, sondern aus der Selbstvernichtung des endlichen Begriffs. In noch anderer Wendung gesagt: Der ideale Anfang der wirklichen Trennung liegt nicht - wie bei Hölderlin - in der „nothwendigen Willkür des Zeus" (StA IV,269), sondern in der unvermeidlichen

Das Sollen als Mittelglied

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Selbstverhüllung unseres Gesichts. 2. Aber der Mensch soll nicht an der vorhandenen Welt hängen und abhängen von ihn bedingenden Dingen. Wir sollen nicht nur Produkte der Natur, sondern freie Wesen sein. Das Sollen durchherrscht unsere Selbst- und Welteinstellungen und geht damit jene Spaltung an, welche nicht das Sein der Welt, sondern unsere Einstellung zur Welt betrifft. Fichtes Phänomenologie deduziert bekanntlich aus dem Schematismus des reinen Wissens eine Fünffachheit möglicher Weltansichten: den Naturglauben, das Recht (Legalität), (niedere und höhere) Moralität, Religion und Theorie (auf der Höhe der Wissenschaftslehre). Die fünf Weltansichten ergeben fünf Stufen im Aufstieg zur wahren Weltansicht, gesetzt, das Sollen wird in seiner Teleologie wirksam. Dann schließt sich auch die auseinandergefallene, vielfache Bedeutung des Sollens zur Einheit eines Vernunftgefuges zusammen. Das stellt sich im Verhältnis von sinnlicher und sittlicher Welt so dar: Die sittliche Welt soll sein, der kategorische Imperativ ist ihr Schöpfer; weil sie aber nicht wirklich wird, wenn nicht die sinnliche Schranke ist, soll auch diese sein. Die Sinnenwelt erhält Wert und Sinn als „Material der Pflichterfüllung", an ihr selbst ist sie nichtig. So gewiß also das Gesollte, die Pflicht, im Gewissen spricht, so unzweifelhaft existieren die Objekte und Subjekte außer mir, auf die sich das Sollen der Pflicht in Wirklichkeit bezieht. „Naturphilosophische" Übergänge von der Natur zur Intelligenz ohne Sollen sind für Fichte nur „gefährliche Zaubereien" (GSR; GA 11,7,436). Systematischer skizziert, erhebt sich ein erstes Soll, das an den Trieb als Selbstgefühl ergeht, zum naturrechtlichen Sollen. Dieses gebietet die Selbstbeschränkung der Willkür zwischen Rechtssubjekten und bereitet den Übergang zum sittlichen Sollen. Das wiederum gebietet dem Menschen, Glied einer moralischen Geisterwelt zu sein, die erleuchtet, belebt und in Übereinstimmung gehalten wird durch einen unendlichen Willen oder von Licht und Leben der unendlichen Vernunft. Das eröffnet ein religiöses Sollen, nämlich das Gebot, glaubend sein ganzes Leben und Lieben auf das Faktum zu setzen, daß Göttliches und Menschliches in der Wurzel ewig unzertrennlich eins sind; denn wahre Religion ist seliges Leben in Gott inmitten der Welt. Der ganze Prozeß dieses Stufengangs aber steht unter der Bedingung eines einzigen kategorischen Soll: Das Absolute soll da sein.9 9

Die Verknüpfung von absolutem und hypothetischem Soll als Grundlage für das naturrechtliche, sittliche und religiöse Sollen legen Fichtes Vorlesungen über „Die

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3. Und Fichtes Phänomenologie setzt am Ende auch jenes Sollen wieder ein, welches das Streben des Willens zur endlosen Arbeit in den Schranken der Sinnen weit antreibt. Das geschieht im Zusammenhang mit der hier nicht zu entwickelnden dritten Hauptspaltung des lebendig Einen in die unendliche Vielheit der Körper und Iche gemäß dem Hauptsatz „faktischer Reflexion" und Attention. Jedenfalls läuft demzufolge der eine Wille, ein Soll anschauend, als reale Kraft ins Unendliche ab. Kehrt so am Ende doch die langweilige, sinnlose Unendlichkeit wieder? Indessen, unter dem Himmel des fünffachen Sollens wälzt der Wille nicht den Stein des Sisyphos, er vollbringt die platonische Angleichung an den Gott ( ); denn ein Wille, der das absolute Sollen in sein Streben aufnimmt, gibt sich hin „nicht dem in seiner Nichtigkeit dargestellten Leben des blinden und unverständigen Triebes, sondern dem an uns Sichtbarwerden sollenden göttlichen Leben" (WL 1810 § 14; SW 11,709). Das hätte Hegel als Schlußsatz in „Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse" lesen können. Sie war 1810 bei J. E. Hitzig in Berlin gedruckt worden. Gesetzt, Hegel hätte Fichtes Phänomenologie und Fichte Hegels Logik ernsthaft erwogen, worum wäre der Streit um Sein und Sollen, Endlichkeit und Unendlichkeit letztlich gegangen?10 Fest steht: Hegelscher Logik zufolge ist das zum Ersten Prinzip erhobene und nicht zum Moment herabgesetzte Sollen dem konkreten Geiste gegenüber ein Geistloses. Perennierendes Sollen führt in die Sackgasse schlechter Unendlichkeiten. Diese taugen nicht zu Aufhebung und Versöhnung, sie versperren dem erlösenden Gedanken affirmativer Unendlichkeit den Weg. Das

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Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre" von Februar und März 1805 dar. Eine eindringliche Paraphrase findet sich bei Michael Brüggen, Fichtes Wissenschaftslehre. Das System in den seit 1801-02 entstandenen Fassungen. Hamburg 1979,72-93. Wirkungsgeschichtlich hat sich der Streit um Hegels Sollenskritik am Sollen in Betracht der Weltgeschichte (und Hegels „Revolutionierung der Wirklichkeit unter Abzug der Revolution selbst", vgl. Jürgen Habermas, Hegels Kritik der Französischen Revolution, in: Theorie und Praxis. Frankfurt a.M. 21967,91) entzündet. Die große Klimaverschlechterung des Sollens bei Hegel macht ihn als Verteidiger eines schlechten Bestehenden suspekt. Zwar gibt Ernst Bloch z.B. einer Kritik des perennierenden Sollens recht, aber im Hinblick auf geschichtlichen Fortschritt und offene Zukunft verurteilt er Hegels Sollenskritik als Instrument der schlechten Zufriedenheit: Es gäbe kein Unverwirklichtes mehr (vgl. Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel. Berlin 21962,443).

Das Sollen als Mittelglied

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Wahre ist eben keineswegs so ohnmächtig, immer nur zu sollen. Aber hat Fichtes Wahrheits- und Erscheinungslehre nicht das Sollen vom Höchsten und Letzten zum Einigungs- und Spaltungsmoment abgesetzt? Darüber sollte Einigkeit erzielt werden können. In keinem Falle ist das Absolute immer nur ein Gesolltes. Mit Fichte gesprochen: Es ist - und das zweite Wort „nur gesollt" ist von Übel. Die Differenz der Ersten Philosophie im Fichteschen und Hegeischen System steckt in den Grundwerten Aufhebung und Selbstvernichtung. Der spekulativen Aufhebung widersetzt sich die transzendental kritische Absetzung. Selbstverständlich fordert auch die Spekulation den Akt der Vernichtung des Bewußtseins. Aber die Nacht der Reflexion und des räsonierenden Verstandes verheißt den Mittag des Lebens: das lebendige Anschauen des Absoluten in seiner ontotheologischen Selbstentfaltung. Transzendentale Kritik dagegen negiert die Negationen des endlichen Bewußtseins bloß, um die Entzweiungen ins Dasein des Absoluten, in den Schematismus reinen Wissens, zu setzen. Zielt, so akzentuiert, der Streit um das Sollen nicht auf die Frage nach dem Grundgeschehen des Deutschen Idealismus von Kant bis zum späten Schelling? Diese stellt sich inzwischen so: Steht der Deutsche Idealismus unter den methodischen Schlußworten Spekulation, Aufhebung, Vermittlung, Versöhnung, oder führt er die Anfangsworte Kritik, Schranke, Sollen bis zur Selbstvernichtung und Selbstentsetzung durch?

2. Kapitel Trauer des Endlichen - Freude seligen Lebens 2.1 Endlichkeit: die auf die Spitze getriebene Negation Die Frage nach den Vollendungsmöglichkeiten der Ich-Philosophie läßt sich auch so stellen: Gesetzt, ihr methodischer Gang hebt das Endliche und mit dem endlichen Ich die Trauer des Endlichen auf, wie weit reicht solche Aufhebung der Grenzen der Menschheit? Bevor der kritische Überstieg über die Begrenztheit des Endlichen erörtert wird, sind wohl Tiefe oder Untiefe einer Metaphysik der Endlichkeit zu ermessen. Dabei kommen sich wieder indirekt die Hegeische Logik affirmativer Unendlichkeit und Fichtes Anweisung zum seligen Leben in die Quere. Trauer heißt die „Stimmung" der Vergänglichkeit. Sie weht gleichsam über allem, was dem Untergange geweiht ist, und durchzieht alle endlichen Dinge, weil deren Sein darin besteht, den Keim des Vergehens in sich zu haben. Darin begründet Hegels objektive Logik des Seins die Trauer des Endlichen. „Der Gedanke an die Endlichkeit der Dinge führt diese Trauer mit sich, weil sie die auf die Spitze getriebene qualitative Negation ist" (ThW V, 140). Gedanke der Endlichkeit meint, streng gehört, nicht unser Andenken an die Vergänglichkeit aller Dinge und an das Ende unseres Daseins in einer feierlichen Stimmung als Ausdruck subjektiver Zuständlichkeit. Der „Gedanke" auf der Höhe absoluten Wissens als der sich wissenden Einheit von Bewußtsein und Gegenstand ist Idee und Wesen der Dinge zumal. Ontotheologisch gesprochen: Der Gedanke der Endlichkeit bildet eine Kategorie des Absoluten oder eine Definition Gottes. Der letzte Gott der Philosophen unter dem Namen des Absoluten spricht sich darin so aus: Ich bin unvergänglich das Vergehen aller Dinge; was wahrhaft ist, ist Negation, Grenze, Veränderung, Untergang und Tod in einer Trauer, die alles durchstimmt. Dieser Gedanke führt zweifellos die schwerste Krise der christlichen Ontotheologie herauf. Er scheint mit den voraufgegangenen Definitionen Gottes zu brechen: Ich bin das Sein

Endlichkeit: die auf die Spitze getriebene Negation

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(ens entium), Ich bin das Nichts (der unbekannte Gott negativer Theologie), Ich bin in Wahrheit das Werden (das Licht und das Leben). So abstrakt und vorläufig diese großen archaischen Anfange auch waren, sie hielten sich doch auf der erhabenen Höhe des unentfalteten Unendlichen. Wie aber vereinbart sich damit eine Metaphysik der Endlichkeit? Die Frage ist unvermeidlich, weil das Fragliche unentgehbar aus dem Gange einer Logik folgt, in welcher das ewige Werden haltlos in die ruhige Einheit bestimmten Daseins zusammensinkt. Und der Gedanke der Endlichkeit kommt als die auf die Spitze getriebene qualitative Negation zum Austrag. Die Negation wird radikal, sie geht an die Wurzel des Daseienden. Um die in Hegels Seinslogik begründete Endlichkeit in ihrer Tiefe oder Untiefe nachdenkend zu betrachten, muß dieser Gedanke schrittweise entfaltet werden. Das geschieht eben mit einer Verschärfung der qualitativen Negation in den drei kategorialen Grundmomenten der Bestimmtheit, Grenze und Veränderung. 1. Der erste Vorschein der Endlichkeit fällt mit der Negation als klassischer Kategorie der Qualität ein. Dabei drückt Qualität die Bestimmtheit oder das Sosein des Daseins aus, und Dasein liegt vor als das aus dem Widerspruch des Werdens geborene Sein im Stande der Bestimmtheit. Gegenüber dem parmenideischen Sein unbestimmter Unmittelbarkeit ist das Sein des Daseins bestimmt und real geworden. Aber es erkauft seine Realität eben mit Negation. Das Bestimmte ist denkend nicht nur als seiend, sondern immer auch als nicht-seiend aufzunehmen. Realität und Negation greifen zusammen: omnis determinatio est negatio. Das auch nicht sein könnende Sosein steht im Anblick der Kontingenz: contingens est quod potest non esse. Aber dieser Sinn von Negation erschöpft nicht die Tiefe der Endlichkeit; denn die Negation konstituiert Realität mit. Das kommt im dialektisch entscheidenden Übergang zum Daseienden deutlicher heraus. Hier gewinnt das Nichtsein den positiven Charakter der Andersheit, und im So-und-nicht-Anderssein bestimmt sich das Dasein zum bestimmten Etwas (Daseienden) durch. Im Fortgang der Negation als Nichtsein zur Andersheit mildert sich das alte Nichts, in dessen Leere alle Bestimmungen abgründig vergangen schienen. Vielleicht aber meldet sich im Endlichsein aller Dinge die Furchtbarkeit des Nichts noch einmal an. Steht es so, dann reichen weder einfache Negation und Kontingenz noch dialektisches Anderssein aus, um die Trauer faktischer Endlichkeit verstehbar zu machen. „Wenn wir von den Dingen sagen, sie sind endlich, so wird darunter verstanden, daß sie nicht nur eine Bestimmtheit haben" (ThW V, 139).

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2. Die trauervolle Endlichkeit der Dinge besagt auch, „daß sie nicht bloß begrenzt sind -, sie haben so noch Dasein außer ihrer Grenze" (ebd.). Weithin scheinen aber doch „endlich" und „begrenzt" gleichsinnige Wörter zu sein. Heißt nicht begrenzt zu sein dies: an der Grenze sein Ende finden und aufhören? Hat nicht Kant die Endlichkeit des menschlichen Subjekts an den Grenzen seiner Erkenntnis festgemacht? Und schwingt nicht in Goethes „Grenzen der Menschheit" von 1778 die Begrenztheit unseres Lebens mit der Vergänglichkeit zusammen? „Ein kleiner Ring begrenzt unser Leben... uns hebt die Welle/verschlingt die Welle/und wir versinken". Demgegenüber gilt es, auf den dialektischen Charakter der Grenze zu achten. Dabei ist hier von der qualitativen Grenze die Rede. Eine quantitative Grenze, z.B. die Abgrenzung von drei Morgen, bestimmt ja nicht das Umgrenzte in seinem Sosein; in den Grenzen von drei Morgen können ein Feld, eine Wiese, ein Wald vorkommen. Die qualitative Grenze, z.B. eine Landesgrenze, gibt feste Bestimmtheit. Zwar legt sie fest, wo etwas aufhört, aber sie schließt in eins das Eigene zu fester, bestimmter Einheit zusammen. Darum entgeht jeder, der Umgrenzungen verabscheut, seiner Bestimmung und verliert sich im Grenzenlosen und Unbestimmten. Also gewinnen die Dinge „außer (praeter) ihrer Grenze", d.i. der Negation des Aufhörens, noch Dasein; sie bestehen als sicher Umgrenztes. Im Aufhören an der Grenze hören die Dinge nicht selber auf. Während das begrenzte Ding so gerade ein bestehendes Etwas ist, zeigt sich das Endliche als Etwas, das nicht bleibt, sondern weggeht. Also trennen sich Begrenzt- und Endlichsein. Das Endliche ist nicht nur begrenzt. 3. Wird der Negationscharakter der Grenze weiterverfolgt, kommt der Gedanke der Veränderung auf. Er sagt aus: Was in Wahrheit ist, ist das Werden in der Gestalt des immerwährenden Anderswerdens. Nichts bleibt außer der Veränderung. „In der Veränderung zeigt sich der innere Widerspruch, mit welchem das Dasein von Haus aus behaftet ist und welcher dasselbe über sich hinaustreibt" (ThW VIII,198). Das scheint von der Grenze her sofort einzuleuchten. Etwas hat sein Dasein in der Grenze. Die Grenze ist, sofern sie Aufhören bedeutet, ein Nichtsein. Also hat das Etwas sein Dasein im Nichtsein, und die Nichtigkeit des Begrenzten offenbart sich darin, daß es nicht bleibt, sondern der Veränderung unterworfen ist. So gedacht, ist Veränderung kein Wechsel, der einer beharrenden Substanz äußerlich zukommt. Sie ist Resultat eines Widerspruchs, der Etwas unaufhörlich ins Anderswerden treibt. Gerade in der Macht einer Negation, die nichts bleiben läßt, wird Veränderung

Vom Sterben und der Trauer des Endlichen

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als Manifestation des Endlichen erfahren. Aber solches Weggehen ist nur ein Vorschein des Vergehens und des harten Zu-Ende-Seins im Tode. „Endliches verändert sich nicht nur, wie Etwas überhaupt, sondern es vergeht" (ThW V,139). Endlich heißen die Dinge, weil sie zu Ende gehen. „Sie sind, aber die Wahrheit dieses Seins ist ihr Ende" (ebd.). Hier ist die Bestimmung der Dinge nichts weiter als ihr Vergehen und Schwinden. Die in der Bestimmtheit des Daseins angelegte Negation enthüllt sich als endgültiges Zu-Ende-Gehen. Vergehen ist der einzige Charakter der Endlichkeit. Was schlechthin und unaufhaltsam geschieht, ist das Zu-Ende-Gehen von allem, was da ist. „Die Bestimmung der endlichen Dinge ist nicht eine weitere als ihr Ende" (ThW V, 140).

2.2 Vom Sterben und der Trauer des Endlichen nach Hegelscher Logik Die auf die Spitze getriebene qualitative Negation wird schmerzlich offenbar im Sterben und in der Trauer des Endlichen. Wie weit aber der Tod und seine Trauer in die Logik des Vergehens hineinreichen, ist aufmerksam auszumessen. „Das Lebendige stirbt, und zwar einfach um deswillen, weil es als solches den Keim des Todes in sich selbst trägt" (ThW VIII, 198). Im Aspekt der alles durchherrschenden Endlichkeit erhebt sich der Tod keineswegs als der fremde absolute Herr, der allen Lebensentfaltungen und -entwürfen Einhalt gebietet. Zum Tode zu sein liegt dem Endlichen als einem solchen nahe. Aus ihm selbst nämlich geht das Leben auf sein Ende zu. Alles, was ist und lebt, ist ganz und gar durch das eigene Zum-Ende-Sein bestimmt und durchstimmt. Ins Leben aufzubrechen heißt, den Tod auszutragen. Nur einer „scholastischen" Vorstellung erscheinen Vernichtung (corruptio) wie Veränderung (alteratio) im Modus bloßer Möglichkeit (potentia), die ihre Wirklichkeit (actus) einem bewegenden Anderen schuldet. Beispielsweise kommt das Brennen und Verbrennen von Holz als möglichem Brennstoff durch ein Anderes zustande, nämlich durch Feuer als das Brennende und Glühende an ihm selbst. Steht dementsprechend nicht im Sterben der Tod, der alles Schwindenmachende, als Urheber außer uns vor uns? Indessen, diese Vorstellungen hantieren mit der Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit. Eine Metaphysik, welche das Vergehen zur Natur des Endlichen erklärt, stellt die bloße Möglichkeit zu verge-

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hen beiseite. „Es ist nicht bloß möglich, daß es vergeht" (ThW V, 139 140). Der Tod stößt uns nicht von außen zu. „Das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben; die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes" (ThW V, 140). Alles Lebendige stirbt an der Endlichkeit seiner Natur. Von jeglichem gilt: Die Stunde seiner Geburt ist - nicht der Zeit und ihrem Jetztpunkte nach, wohl aber der Logik des Daseins zufolge - die Stunde seines Todes. Es ist als Sterbliches geboren, dergestalt, daß es den Untergang zu seiner Bestimmung hat. Darin hebt sich die Endlichkeit der Menschen nicht heraus, obwohl diese seit alters betont „die Sterblichen" heißen. Die Logik des Seins läßt die Differenzen von Vorhandensein, Zuhandensein und Dasein im emphatischen Sinne als Sichverstehen auf Endlichkeit und Tod unberührt. Auch vom Menschen gilt: Er ist sterblich, weil er lebt. Auch sein Tod ist Resultat des Widerspruchs im Endlichen, dessen lebensvolles Sein sich als härtestes Nichtsein enthüllt. Es leuchtet ein, warum diese Position der Hegeischen Logik von Friedrich Engels exzerpiert und für eine naturalistische Dialektik okkupiert worden ist. Unter den Notizen zur Dialektik der Natur findet sich eine aus dem Jahre 1874 mit dem Titel „Leben und Tod": „Schon jetzt gilt keine Physiologie für wissenschaftlich, die nicht den Tod als wesentliches Moment des Lebens auffaßt, die Negation des Lebens als wesentlich im Leben selbst enthalten, so daß Leben stets gedacht wird mit Beziehung auf sein notwendiges Resultat, das stets im Keim in ihm liegt, den Tod. Weiter ist die dialektische Auffassung des Lebens nichts... Leben heißt Sterben" (MEW XX.554; vgl. auch ThW VIII, 173). Engels spielt diese wissenschaftliche Doktrin entschlossen gegen das Gerede von der Unsterblichkeit der Seele und den Aberglauben jenseitigen ewigen Lebens aus. Nach ihm ist das Sterben des Menschen nichts Besonderes. Wie in jedem Vergehen wird auch im Tode des Menschen einfachhin die Negation als notwendiges Moment des Lebens wirksam. Das eben ist jenes Faktum, welches die Metaphysik der Endlichkeit als unaufhebbar behauptet." 1

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Aber liegt nicht in Hegels Rede von der Trauer des Endlichen vielleicht doch ein Akzent auf menschlicher Endlichkeit? Grundsätzlich ist Trauer freilich eine Gestimmtheit, die alle Dinge durchzieht. So weht sie um jedwedes Daseiendes, sofern es eben die Bestimmung an sich hat unterzugehen. Trauer zeigt das Schicksal notwendigen Untergehens an. Darum liegt ein „Hauch und Duft der Trauer" selbst in den Götterbildern der Alten. Zwar stellt deren Skulptur das göttliche Individu-

Hegels Überwindung einer Metaphysik der Endlichkeit

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Gegen die Verabsolutierung des Vergehens erhebt sich triumphierend die affirmative Unendlichkeit. Diese negiert jene Negation, die sich im Endlichen als bloßes Zu-Ende-Gehen eingehaust hatte. Und sie negiert in eins eine Unendlichkeit, die sich in unerreichbarem Jenseits vom Endlichen rein und fern hält. Wie Sein und Nichts in Wahrheit Momente des Werdens sind, so sind Endliches und Unendliches nichts Selbständiges gegeneinander, sondern Momente eines Prozesses. In ihm heben beide einander so auf, daß das Werden in sich zurückkehrt und das Sein vollständige Präsenz gewinnt. Auf der Höhe affirmativer Unendlichkeit verkündet das Absolute die frohe Botschaft spekulativer Vernunft: Ich bin auch das Endliche, der Tod und die Vergänglichkeit, aber als Vergehen des Vergänglichseins, als Negation der endlichen Negation, als Versöhnung des Todes und Lösen der Trauer.

2.3 Hegels leichtfertige Überwindung einer Metaphysik der Endlichkeit Nachzugehen aber ist der Frage: Hebt und bewahrt solche Vermittlung die Endlichkeit in ihrer Radikalität in vollem Ernst in sich auf? Oder weist sie die Trauer des Endlichen leichtfertig ab? Wie obenhin die Gedanken-Mediation das Faktum der Endlichkeit abtut, dafür sprechen alle drei aufgebrachten Argumente:

um für sich in seliger Ruhe dar und tilgt das Verstricktsein der Olympischen in die Gegensätze und Kämpfe beschränkter Endlichkeit, gleichwohl durchdringt ein stiller Zug der Trauer die Hoheit der plastischen ewigen Götter. Ihre Trauer offenbart - Hegels geistvoller Deutung zufolge -, daß etwas Höheres über den olympischen Göttern steht, die Moira, und daß es Schicksal dieser Götter sein wird, in ihren besonderen Gestalten, ihrer Vielheit und Verschiedenheit in den Gedanken einer Göttlichkeit zugrunde zu gehen (ThW XIV,85). Mag nun die Trauer der schmerzvolle Glanz sein, der alles Vergängliche als solches aufscheinen läßt, schließlich ist es der Mensch, der die Trauer des Untergangs in allem fühlt, weil er der Welt im ganzen zugekehrt bleibt und weil er allein den Tod sieht. Ist nun das Fühlen der Trauer - wie jegliches Grundgefühl nach Hegel - Überhebung des Subjektiven über das Substantiale? Oder evoziert es die Klage und das dichterische Wort, weil das Schwindende uns, die Schwindendsten, braucht, damit wir in Sagen und Preisen der Dinge das, was unsäglich weg und zuende geht, ins Unvergeßliche verwandeln (vgl. Rilke, 8.u.9. Duineser Elegie)?

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1. Eine Metaphysik der Endlichkeit behaupte die Unmittelbarkeit ihres Prinzips, 2. sie falle in das archaische Nichts zurück, und 3. sie versteife sich hartnäckig auf die Position des trennenden Verstandes. 1. Schon die einführende Überschrift ist seinslogisch eine Widerlegung: „Die Unmittelbarkeit der Endlichkeit" (ThW V, 140). Das hatte die Entfaltung der qualitativen Negation ja an den Tag gebracht: Während die vorläufigen Kategorien des Nichtseins, nämlich Negation, Grenze, Veränderung sich mit Realität, Bestimmtheit und Bestand des Daseins vertragen und vermitteln, verweigert sich die Endlichkeit jeder Vermittlung. Sie tritt als eine an sich fixierte und erstarrte Negation heraus und stellt sich dem Sein und dem Affirmativen schroff entgegen. Und in der Tat wird sich eine Analytik endlichen Daseins auf solche Unmittelbarkeit stützen, vorzüglich unter dem Titel Faktizität. Faktisch bin ich als Sterblicher geboren, ohne Wahl auf der Wanderschaft zum Ende, unvermittelt finde ich mich in der Grenzsituation des Todes. Und hat Kierkegaard nicht das existierende Selbst auf das unmittelbare Stehen vor Gott gesetzt? Für die spekulative Vernunft aber widerlegt sich alles Behaupten von Unmittelbarkeit unmittelbar selbst; denn das hat doch die Auseinandersetzung mit den kühnen anfänglichen Abstraktionen des Seins und Nichts logisch wie geschichtlich längst an den Tag gebracht: Was als unvermittelt behauptet wird, ist abstrakt und einseitig; es ist nicht haltbar und wahr, sondern bloß gemeint. Also ist die Rede von der Unmittelbarkeit des Endlichen eine überholte, haltlose Meinung. 2. Überdies: Wer so auf das unaufhebbare Endlichsein setzt, fällt auf die Stufe des abstrakten Nichts zurück. Das schreibt Hegel einer Metaphysik der Endlichkeit ins Stammbuch. „Sollte aber das Endliche nicht im Affirmativen vergehen, sondern sein Ende als das Nichts gefaßt werden, so wären wir wieder bei jenem ersten, abstrakten Nichts, das selbst längst vergangen ist" (ThW V, 141). Prima facie scheint nichts einleuchtender als die Meinung, das Zu-Ende-Gehen des Etwas verschwinde ins Nichts. Genauer gesehen, beruft sich aber solche Ansicht auf die große Leere des Nichts, die als logisch wie historisch aufgehoben ist.12 12

Inzwischen hat die Analytik endlichen Daseins ein anderes Gefüge von Endlichkeit, Tod, Nichts und Sein dargelegt, und zwar im Gegenzug gegen Hegel. In Heideggers Antrittsvorlesung „Was ist Metaphysik?" findet sich die These: „Sein

Hegels Überwindung einer Metaphysik der Endlichkeit

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3. Und schließlich: Indem die Endlichkeit jede Vermittlung von sich abweist und sich lieber auf den archaischen Gegensatz von Nichts und Sein zurückfallen läßt, als ihre eigene Negation zu negieren, erweist sie sich als die hartnäckigste Kategorie des Verstandes. „Die Endlichkeit ist um dieser qualitativen Einfachheit der Negation, die zum abstrakten Gegensatze des Nichts und Vergehens gegen das Sein zurückgegangen ist, die hartnäckigste Kategorie des Verstandes" (ThW V, 140). Der Verstand (wie die Reflexion) setzt durch Entgegensetzen. Seine Natur ist das Unterscheiden und Trennen, sein Element die einfache Negation. Es ist mithin der halsstarrige Verstand, der die Endlichkeit als Negation an sich fixiert und dem Unendlichen entgegensetzt. Und er erklärt unbeirrbar eine Vereinigung der einen Seite mit der anderen für unmöglich. Das Unendliche oder Affirmative und das Endliche oder Negative schließen einander aus. Damit versperrt der Verstand den Weg der Versöhnung durch Vernunft. Und keinem Standpunkt der Reflexion (als einem Sichsetzen durch schlechthinniges Entgegensetzen) kann es gelingen, die Gegensätze als notwendige Form der Selbstkonstruktion des Absoluten zu begreifen. Und: „Der Verstand verharrt in dieser Trauer der Endlichkeit" (ThW V, 140). Das ist von bestürzender Folgerichtigkeit. Die Trauer des Endlichen durchstimmt die Welt, wo die Negation die Dinge zum Untergang bestimmt. Und sie bleibt dominierend, solange der Verstand vorherrscht, denn er setzt die radikale Negation als ewig. Das ist auch hiund Nichts gehören zusammen, aber nicht weil sie beide - vom Hegeischen Begriff des Denkens her gesehen - in ihrer Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit übereinkommen, sondern weil das Sein selbst im Wesen endlich ist und sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Daseins offenbart" (Frankfurt 81960,39-40). Hier zeichnet sich eine genuine Konstellation von Nichts und Endlichkeit ab. Davon nur soviel: Das Dasein des Menschen ist in Endlichkeit und Todesangst in das Nichts hineingehalten. Auch dieses Nichts weist jede Bestimmtheit eines bestimmten Etwas ab und läßt alles Seiende haltlos entgleiten, so daß das Sein als das Andere gegenüber dem Nichts offenbar wird. Und gerade dieses Hineingehaltensein in das Nichts durch Geworfenheit, Tod und Angst macht unser endliches Dasein zum Platzhalter des Nichts. Steht es also mit der Zusammengehörigkeit von Sein, Nichts und Zu-Ende-Gehen in Trauer anders? Kommt vielleicht gar in einer neuen Konstellation von Nichts, Dasein, Sein zum Tode, Gestimmtheit in Angst und Transzendenz die Endlichkeit des Seins selbst zum Austrag? Solche Verflechtungen schneidet die Spekulation rigoros durch. Seinslogisch fällt eine Koinonie von Endlichkeit, Tod und Nichts auf die Stufe des Nirwana zurück.

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storiologisch bemerkenswert. Trauer ist doch nach Hegel die Haltung des griechischen Menschen, welcher der Moira als Sterblicher ins Auge sieht und die Seligkeit der Versöhnung in Ewigkeit nicht kennt. Aber logisch verharrt jede geschichtliche Welt in der Trauer des Endlichen, welche von den hartnäckigen Unterscheidungen des Verstandes nicht läßt. Die Griechen lebten aus dem Gegensatz und Widerspiel der Sterblichen und Unsterblichen; neuzeitliche Aufklärung baut auf die Grenzen der Endlichkeit gegenüber dem unerkennbaren Ewigen. Solange also der kritische Verstand herrscht, waltet Trauer. In Trauer um den Untergang des Endlichen zu verharren, ist mithin nicht nur außerchristlich, es verschmäht die Kraft des Geistes und der Vernunft. Ganz anders fügen sich Endlichkeit, Trennung, Verstand und unendlicher Geist da zusammen, wo auf die abgründige Differenz zwischen dem sich in Natur und menschlichem Geist offenbarenden Gott und dem Worin dieser Selbst-Offenbarung geachtet wird, in Schellings „Freiheitsschrift" 1809. Dort sind die Endlichkeit alles Naturhaften wie die Gefährdung des Menschen in der Korrelation von Existenz (dem Willen des Verstandes zum Sich-Offenbaren) und Grund (dem bedingenden Willen der dunklen Basis zum Sich-Verschließen) festgestellt. Niemals vermag das Endliche aus eigener Kraft, den dunklen Grund als Gegensatz zu Geisthaftigkeit, Klarheit und Freude ganz aufzulösen. Das glückt allein dem Leben Gottes im Willen der Liebe. Daher ist in Gott die Quelle der Traurigkeit in Wirklichkeit ein Brunnen der Freude (als ewig überwältigter Trauer). Im Endlichen dagegen bilden Trauer und Schwermut mit dem Gewicht des Leidens die Grundbefindlichkeit des Seienden im ganzen: die über allem lagernde Stimmung, an einen sich verschließenden Willen des Grundes gebunden zu sein. „Dieß ist die allem endlichem Leben anklebende Traurigkeit, und wenn auch in Gott eine wenigstens beziehungsweise unabhängige Bedingung ist, so ist in ihm selber ein Quell der Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die unzerstörliche Melancholie alles Lebens" (SW VII, 399). Dagegen nimmt die siegreiche Klarheit affirmativer Unendlichkeit die niederdrückende Position der Endlichkeit nicht ernst; denn diese beseitigt sich im Grunde selbst als schon überholt und anachronistisch, wo sie auftritt. Und vollends nichtig und scheinhaft wird die Kategorie des Endlichseins, wenn der Gedanke die Sphäre des Unmittelbaren, von Sein und Dasein verläßt und die Wahrheit des Wesens verkündet. Vor

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der Wahrheit des Wesens enthüllen sich das Zu-Ende-Gehen der Dinge, Trauer und Tod als Schein. Ohne Vermittlung durch Grund und Wesen werden diese Seinsbestimmungen nicht bloß unwesentlich, sie haben keinen Bestand. Sie „existieren" nicht. Die Trauer des Endlichen vergeht, sobald der Gedanke hervortritt: Die Reflexionsbewegung des Wesenhaften ist das Wahre. In dieser eigentümlichen, Grund und Gewesensein „erinnernden" Bewegung kommt das Endliche in seiner Unmittelbarkeit nurmehr als zu negierendes vor. An ihm selbst ist es nichtig und wesenloser Schein. Der Weg zur Trauer des Endlichen ist also nach Hegelscher Seins- und Wesenslogik ein Irrweg. Zwar erklärt die klassische Phrase der „Phänomenologie des Geistes", das Leben des Geistes bewahre sich nicht rein von der Verwüstung und scheue nicht den Tod, sondern ertrage ihn und erhalte sich in ihm, aber sie redet vom Tod und seiner Furchtbarkeit unter Vorbehalt: „wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen" (ThW 111,36).

2.4 Metaphysik der Endlichkeit — transzendentale Ontologie des Menschen Ist die Einstellung zu Endlichkeit und Tod auf der Höhe der Fichteschen Bild- und Lebenslehre prinzipiell anders? Die „Grundlage" 17947 95 schon hatte eine Metaphysik der Endlichkeit aufgehoben, die Religionsschrift 1806 weist schließlich an, die Sorge um das Endlich-Vergängliche und die Furcht vor dem Tode abzustreifen, um aus dem Scheinleben zur Seligkeit und Freude wahren Lebens durchzudringen. Darin besteht von Anfang an christliche Weisheit: Die unfruchtbare Traurigkeit der Welt, von welcher gesagt ist, sie wirke den Tod, nährt sich vom maßlosen Schmerz über den Verlust dessen, woran unser weltliches Herz hängt (2. Kor. 7,10). Indessen, in Fichtes Denken geht die Sorge um Endlichkeit, Vergehen und Tod nicht so wie bei Hegel am Dasein des Menschen vorbei. Nach Hegelscher Seinslogik ist Trauer eben eine Gestimmtheit, welche das Ganze des Seienden durchzieht. Sie hängt an jedwedem Seienden, das zum Untergange bestimmt ist. In dieser Ansicht der Endlichkeit kommt das menschliche Bewußtsein zu kurz. Im Menschen und nur in ihm wird doch die Trauer des Endlichen bewußt, und zwar in einem Selbstbewußtsein, das immerfort vom Wandel betroffen ist und den Tod als Auslöschen der Weltvorstellung vor sich hat. Nur durch die Angst

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hindurch dringt der Mensch zur Freude seligen Lebens hier und jetzt. Und so fest auch der Glaube daran sein mag, daß unser geistiges Dasein Bild und Erscheinung göttlichen Lebens, von diesem unabtrennlich und darum unverlierbar ist, Endlichkeit und Furcht zu bestehen, bleibt unser Schicksal. „Doch ist dies das der Endlichkeit nie abzunehmendes Schicksal; nur durch den Tod hindurch dringt sie zum Leben. Das Sterbliche muss sterben, und nichts befreit es von der Gewalt seines Wesens"(AsL;SWV,413). Von solchem Ausgange her ist zunächst die These zu erhärten, die Wissenschaftslehre sei keine Metaphysik der Endlichkeit, wohl aber eine Ontologie endlichen Menschseins. Das Gewicht der Endlichkeit im Sinne der Begrenztheit ermißt der dritte Grundsatz der „Grundlage". Das Unbedingte und schlechthin Unableitbare dieses Satzes liegt in der Begrenztheit des Ich aufgrund der Teilbarkeit (Quantitabilität) der Realität qua Tätigkeit. Darauf baut ein „quantitativer Idealismus". Er verabsolutiert dieses Moment der Ichheit und übersteigert es zum primum principium; denn er stellt als Grund der Weltvorstellung das mittelbare Setzen heraus als Gesetz beschränkter Quantität: Das Ich setzt das Nicht-Ich als real, soweit wie es dasselbe Quantum Realität nicht in sich setzt. Diese Formel stützt sich auf das Urfaktum der Teilbarkeit und auf die Endlichkeit des Ich. Daher lautet der letzte Bescheid des quantitativen Idealismus: ,J)as Ich ist endlich, schlechthin weil es endlich ist" (GA 1,2,333). Nun bildet Endlichkeit zwar eine unbedingte Bedingung menschlichen Selbstbewußtseins, aber sie ist nicht das Unbedingte selbst. Die Endlichkeit absolut zu setzen, ist unmöglich. „Absolute Endlichkeit ist ein sich selbst widersprechender Begriff' (GA 1,2,334). Ein relatives Absolutes ist ein hölzernes Eisen; das Endliche ist ja seinem Begriffe nach relativ auf ein begrenzendes Entgegengesetztes und wird als Glied und Relat in die konkrete Synthesis von Endlichkeit und Unendlichkeit aufgenommen. Eine Metaphysik der Endlichkeit verkürzt den Phänomenbestand des menschlich-endlichen, nach Unendlichkeit strebenden Daseins. Auf sich allein gestellt, ist ihr Prinzip ein Ungedanke. Gleichwohl bekennt sich die Wissenschaftslehre dazu, in ihrer Grundlegung prima philosophia zu sein, welche die Erscheinungen der Endlichkeit a priori vollständig begründet. Und sie ist tatsächlich die einzige Metaphysik im Stadium ihrer idealistischen Vollendung, die das übersinnliche Sein und alle Abstufungen der Überwirklichkeit aus dem Dasein des Absoluten und dessen geschlossener Reflexionsform genetisch ableitet, ohne die transzendentale Kontrolle über sich zu verlieren.

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Sie erfüllt durchaus die Auflage einer kritischen Metaphysik der Metaphysik, nämlich alles metaphysisch Wißbare auf synthetisch apriorische Bedingungen seines Fürunsseins zurückzuführen. Das liegt daran, daß Fichtes Denken stets das tiefste Interesse der menschlichen Vernunft im Auge behält, nämlich eine verläßliche Antwort auf die Frage zu gewinnen: Was ist der Mensch? So bestimmt die Wissenschaftslehre eine Metaphysik der Endlichkeit durchstreicht, so energisch verfolgt sie das ureigene Thema der Bestimmung des Menschen. Dabei zeichnet sich eine durchgängige Stellungnahme ab: Aus welchem Standpunkte auch immer der Mensch in seiner Bestimmung untersucht wird, er erweist und bezeugt sich stets als ein Zwischensein (interesse), dessen ganzes Interesse sich darauf richtet, die Gegensätze, zwischen denen es ausgespannt lebt, aufzuheben und zu vereinigen. Das läßt sich in einem ersten Umriß im Blick auf die Verfassung des Menschen als Wesen des Erkennens, Wollens und Glaubens anzeigen. In seinem Wissen, Erkennen und Begreifen dessen, was ist, steht der Mensch betroffen zwischen Wahrheit und Schein. Sein Verlangen nach schlüssigem Wissen über Unbedingtes (Gott, Welt, Seele) wird von einem natürlichen, aus seiner Vernunft selbst aufsteigenden Schein beirrt, den transzendental-logische Analyse zwar auflösen, aber nicht vermeiden kann. In dieser Rücksicht nennt sich die Wissenschaftslehre Schein- und Wahrheitslehre in eins. In der Stellungnahme zu Grund und Quelle aller Wahrheit weiß sich das Wissen in einer privilegierten Zwischenstellung zwischen dem in sich geschlossenen Sein bzw. unentzweibaren Einen und der offenbaren Erscheinung im Modus der Vielheit und unendlichen Mannigfaltigkeit von Außenwelt und Mitwelt. Eine Phänomenologie als Lehre vom Bilde des Absoluten wird dieses Zwischen-Schweben dank ihrer Einsicht in die Sonderstellung des Menschen ausschöpfen. Der Mensch als sich wissendes und wollendes Wissen ist Dasein, Bild, Schema des absoluten Seins. Sein Ort ist das Zwischensein, in welchem sich die Wahrheit unbegreiflichen göttlichen Seins und die Welt der Erscheinung, wie sie von uns zur Erscheinung gebracht wird, in der reflexiven Bewußtseinseinheit von Sein und Freiheit kreuzen. Von daher befestigt und entfaltet sich eine transzendentale Ontologie als Lehre vom absoluten Sein aus der Mittelstellung absoluten Wissens in den transzendental erhellbaren Gesetzen der reflexiven Einheit menschlichen Selbstbewußtseins. Die beirrende und unaufhebbare Zwischenstellung des Menschen,

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der weder in der Wahrheit leben kann noch dem Scheine zu verfallen braucht, der das absolute Sein nicht begreift und doch die Welt nach eigenen Gesetzen seines Begreifens und Verstehens zur Erscheinung bringt, bekommt Sinn, wenn der Mensch als Wesen der Freiheit und des unbedingten Willens im Gebiete der moralisch-praktischen Vernunft zur Sprache kommt. Hier werden die Schranken, in denen sich menschliche Erkenntnis faktisch eingeschlossen findet, als Bestimmungen und Aufgaben verstanden, diese Beschränktheit zu überwinden. Das geschieht auf dem Wege eines endlich-unendlichen Strebens, das die Vereinigung des Endlichen mit dem Unendlichen durch Ausweitung der Schranken ins Unendliche will. So aber spannt sich menschliches Interesse zwischen Schranke und Ideal, Sollen und Können, überwindbarer Endlichkeit und unerreichbarer Unendlichkeit aus. Die erregendste existenzielle Spannung seines inter-esse zwischen Wahrheit und Erscheinung, Ideal und Wirklichkeit, Zeit und Ewigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit aber hält den Menschen in seinem religiösen Existieren zwischen Leben und Tod, Vergänglichkeit und Unsterblichkeit, zwischen Furcht und Hoffen, Liebe und Haß, zwischen seligem und unseligem Leben in Atem. In der Dimension der Gläubigkeit ethisch-religiösen Daseins entscheidet sich zuletzt die Bestimmung des Menschen, nämlich ob sich sein Leben von einer selbstbefangenen Liebe zum Vergänglichen einnehmen oder von der Liebe Gottes ergreifen läßt. Hier schwebt der Mensch zwischen einem furchtdurchstimmten Hoffen auf weltliche Güter und der Freude aus der Klarheit seligen Lebens. Der mitreißende erste Vortrag der „Anweisung zum seligen Leben" gibt darüber einen allerersten Aufschluß.

2.5 Freude durch Abstreifen der Angst im Schweben zwischen seligmachender und unseliger Liebe „Folgendes ist überhaupt das Verhältnis der Erscheinung, oder des Wirklichen und Endlichen, zum absoluten Seyn, oder zum Unendlichen und Ewigen. Das schon Erwähnte, welches die Erscheinung tragen und im Daseyn erhalten müsse, wenn sie auch nur als Erscheinung daseyn solle,... ist die Sehnsucht nach dem Ewigen. Dieser Trieb, mit dem Unvergänglichen vereinigt zu werden und zu verschmelzen, ist die innigste Wurzel alles menschlichen Daseyns" (SW V,407). Das Thema Endlichkeit-Unendlichkeit ist auf den Boden einer Bild- und Erscheinungslehre

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des offenbaren Seins zurückgestellt. Dabei gewinnt jenes Endliche Vorrang, das zuerst und wirklich Dasein hat. Das Seiende, das unmittelbar und eminent da ist, ist der Mensch. Dasein wird zum Namen für den Menschen als erscheinendem Geist in den Formen und Brechungen des Selbstbewußtseins. Anders gesagt: Das Sein ist da und außer sich im Status des Bildes, das, sich als Bild bildend, die Welt des Vorhandenen formiert. Dabei ist unüberhörbar vom absoluten, unendlichen, ewig-einen Sein die Rede, nicht vom vermittelten Sein im Sinne von Gegenständlichsein und realer Objektivität. So gehört schwingen die Titel absolutes Sein, Leben und Liebe ineinander. „Das Leben ist Liebe" (SW V,401). Dieser Satz leuchtet zuallererst im Hinblick auf unser menschliches Lebensglück ein. In Wahrheit lebt nur der Mensch wirklich, der liebt. Er lebt so, wie er liebt. Er ist durch das bestimmt, was er liebt. Liebe erscheint so als Prüfstein für die Existenz und Essenz geglückten Lebens. Der Mensch ist ja nur Mensch unter Menschen, und die innigste Art, mit Anderen zusammen und einig zu sein, ist die erfüllte Sehnsucht der Liebe. Wer von den Seligkeiten der Liebe ausgeschlossen existiert, den wird man so recht nicht glücklich nennen, wieviel andere Glücksgüter ihm sonst auch zufallen mögen. Und selbst der, den eine tiefe unglückliche Liebe bewegt, lebt intensiver als der Gleichgültige, der weder liebt noch haßt. So evident diese Verknüpfung von Leben und Liebe auch sein mag, der Satz „Das Leben ist Liebe" muß universalontologisch bedacht und nicht bloß anthropologisch illustriert werden. Was unmittelbar real ist, lebt. Unmittelbare Realität kommt einer Tätigkeit, dem Handlungsvollzug qua esse in mero actu des Geistes, zu. (Nur vermittelt und ins Vorhandensein abgestorben, hat Sein den Stand objektiver Realität und die Bedeutung entgegengesetzter Gegenständigkeit.) Leben im strikten Sinne kommt mithin allein dem göttlichen Sein zu. Und dessen Dasein äußert sich einzig im Lebensvollzug absoluten Wissens. Darum gilt die Gleichung Sein = Leben = Liebe ontologisch für den lebensvollen Bezug der Gottes- und Menschenliebe. Soweit ist in vorläufigen Grundzügen geklärt, inwiefern Sein und Leben zusammengehen. Aber warum fallen Leben und Liebe seinsmäßig zusammen? Darüber gibt schon eine ganz allgemeine Darlegung ihrer „dialektischen" Charakterzüge Auskunft. Alles Gattungsleben erwächst in einem lebendigen Prozeß, der sich aus einer Zerstreuung ins Viele und deren Negation ins Eine aufbaut. Die naturhafte Gattung lebt nur im Existieren einer Vielheit von Einzelexemplaren, und sie über-

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lebt, indem das Leben der Einzelnen stirbt um der Gattung willen. Auf der Stufe sittlichen Lebens existiert auch das Menschengeschlecht in der Sinnenwelt zerteilt in die Vielheit individueller Iche, deren Bestimmung es ist, die eigensinnige Individualität zu vernichten, um die Einheit des Menschengeschlechts zum Reiche der Freiheit zu erheben. Nun aber offenbart sich der tiefste Grundzug solchen Zusammenspiels von Getrenntheit und Einigkeit im Walten der Liebe. Unleugbar bildet die Liebe ein Band, welches Getrenntes zu einer solchen Einheit verbindet, ohne die keines der verbundenen Glieder in sein Wesen fände. Das ist das vielbeschworene Wunder und Geheimnis der Liebe, daß der Liebende, indem er seine Selbständigkeit und seinen Eigensinn aufgibt, sich entfremdend ganz im Anderen verliert, gerade dadurch sein Selbst in reichster und seligster Lebendigkeit gewinnt. Darum ist menschlich-endliches Dasein, das lebt, von der Sehnsucht nach absoluter Liebe durchstimmt. „Ueber dieser Sehnsucht nun, worauf alles endliche Daseyn ruht, und von ihr aus, kommt es entweder zum wahrhaftigen Leben, oder es kommt nicht dazu" (SW V,407). Unser Dasein ist einem Entweder-Oder ausgesetzt. Kierkegaard wird den furchtbaren Ernst dieser Entscheidung als Gepräge unseres Existierens hervortreiben, nämlich das Heil ewigen Lebens zu retten oder auf ewig zu verspielen. Kommt es - nach Rentes Anweisung - nicht zur Wahrheit, sondern bloß zum Schein des Lebens, so erheben sich Zweifel, Sorge und Furcht, und zwar aus einer ungeklärten Sehnsucht nach ewigem Glück. Das ist näher zu analysieren. Leben im Schein ist nicht ganz und gar nichtig und im Tode; denn Schein ist ja seiendes Nichtsein oder nichtseiendes Sein und so gemischt aus Leben und Tod. Daher schwebt das Scheinleben zwischen Werden und Vergehen. Und sofern es derart teil am Sein hat, lebt es im Stande der Liebe. Es liebt das Vergängliche. So aber wird es von der alles verschlingenden Zeit und dem Anblick des Todes unaufhörlich betroffen. „Jeder künftige Moment verschlinget und verzehrt den vorhergegangenen; und so wird das Scheinleben zu einem ununterbrochenen Sterben, und lebt nur sterbend, und im Sterben" (SW V, 406). Darum heißen die Menschen die Sterblichen und die Sterblichen die Unseligen. Vom Geliebten im Weggang und Vergehen ausgestoßen, sehnen sie sich nach unerfüllbarer Vereinigung. „So sehnen sie und ängstigen ihr Leben hin" (SW V,408). Ihr Leben verläuft in der Tat in der unheilvollen Gestalt einer schlechten Unendlichkeit, nämlich im Wechsel von Begierde und Befriedigung, im endlosen Taumeln von

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Begierde zu Genuß, von Genuß zu Begierde. Jedwedes Streben, in der Welt durch Vereinigung mit einem Endlichen die Sehnsucht der Liebe zu stillen, wirft sich, wenn ein vergängliches Glück vergeht, auf ein anderes. Freilich, auch in diesem progressus in infinitum scheint das Infinite durch. Der unendliche Progreß zeigt an, daß sterbliches Dasein selbst im Modus des Scheinlebens an das Unendliche geknüpft ist. Das Band nun, welches den Menschen mit dem göttlich Unendlichen zusammenbindet, heißt absolute Liebe. Diese wird als jene Liebe des Menschen zu Gott zum Austrag kommen, in welcher Gott sich selbst in uns liebt. Hier geht es vorab um dem Modus der Äußerung dieser Liebe als innerste Wurzel unseres Daseins. Sie kommt als Trieb zum Bewußtsein, in Gott zu versinken aus Sehnsucht des Sterblichen und Zeitbefangenen nach Ewigkeit. Diese Rede von der Sehnsucht nach dem Ewigen als innigste Wurzel allen menschlichen Daseins scheint einen ganz anderen und neuen Ton zu haben als die Verkündigung des Willens als innigste Wurzel des Ich und der Forderung, alles Nicht-Ichhafte den Gesetzen unserer Freiheit und Vernunft zu unterwerfen. Das laute Pathos der Revolution scheint mystischer Stille gewichen zu sein. Bevor aber daraus ein Zwiespalt in Fichtes Persönlichkeit und eine Umkehr in seiner Systembegründung konstatiert wird, sollte auf die Warnungen Fichtes vor Mystizismus und Schwärmerei gehört werden. Danach gebärt das Versinken in Gott aus Sehnsucht nach dem Ewigen im Elemente absoluter Liebe nicht die Seligkeit weitabgewandten, willen- und wirklichkeitslosen Genießens einer unio mystica in Vereinigung der Seele mit Gott. Die Wirklichkeit der Gottesliebe bezeugt und verwirklicht sich vielmehr in einer Wirksamkeit der Menschenliebe aus religiöser Gesinnung gegen die Anderen. Erst dadurch, daß sich das Lebensprinzip absoluter Liebe in der Spare der Menschenliebe durcharbeitet und emporringt, streift menschliches Leben in der Sinnenwelt die „Grundbefindlichkeit" der Angst ab und empfindet die Freude der Seligkeit. In dieser Rücksicht muß also auch eine Phänomenologie der Seelenregungen und Affekte, die das gestimmte Dasein als Zwischensein im Dazwischen-Schweben menschlichen Existierens betreffen, in Anschlag gebracht werden. Durchdrungen von der Liebe zum Vergänglichen, schwebt unser „uneigentliches" Dasein zwischen Furcht und Hoffnung und wird durch die Grenzbefindlichkeit der Angst beengt, wenn die Furcht alle Hoffnung, vor allem angesichts der Gewißheit des Todes, fahren läßt. Eigentliches Dasein aber schwebt in einem höheren Zwischen: zwischen dem Schweben zwischen Furcht und Hoffnung und ei-

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ner nie schwankenden Freude, der Seligkeit im Lebensvollzug absoluter Liebe. Solche Seligkeit ist wortwörtlich unbeschreiblich. Die Freudigkeit in einer „ewigen Befriedigung der Liebe" im Sichvereinigtfühlen mit Gott ist unfaßlich. Keine begriffliche Reflexion und Beurteilung kann sie fassen; denn das Begreifen und Unterscheiden unserer Reflexion bleibt einer Vereinigung inadäquat, in der sich keine Unterschiedenheit des einen vom Anderen, auch nicht in der Form des Nicht-Anderen, abhebt. Im Äther der ewigen Freude vergehen schwankende Furcht und schwankende Freude ebenso wie die Urangst im Vorlaufen zum Tode. Der Stand wahrer Freudigkeit streift alle zeitbedingte Angst ab. Freilich löst solches Seligsein, solange der Mensch in Zeit und Welt existiert, menschliches Dasein nicht aus seiner Zwischenstellung zwischen Welt- und Gottesliebe, zwischen Todesangst und sorgloser Lebensfreude heraus. So weit die unselige Liebe zu mundanen Scheingütern, alles bange Hoffen und das Zittern der Furcht auch zurückgedrängt werden, diese Ängste zu bestehen, bleibt das der Endlichkeit unseres Lebens und Liebens nie abzunehmende Schicksal.13 2.6 Leben und Tod in Fichtes Lebens- und Erscheinungslehre Das letzte uns erhaltene Wort Fichtes über die Eigentümlichkeit der Wissenschaftslehre gilt dem Stande der Philosophie als Lebens- und Bildlehre. „Dies ist nun das absolut Neue unserer Lehre; aber gerade in dieser Rücksicht ist sie kaum vernommen worden: dieses Dreifache, daß der absolute Anfang und Träger von Allem reines Leben sei; alles Dasein und alle Erscheinung aber Bild oder Sehen dieses absoluten Lebens sei, und daß erst das Produkt dieses Sehens sei das Sein an sich, die objektive Welt und ihre Form" (E-WL 1813; NW 1,102). In einer einleitenden Vorüberlegung sind diese drei Leitthesen über das absolute Sein, das reine Wissen und die Vorstellung einer an sich bestehenden 13

Unter dem Aspekt „Seligkeit angesichts des Zerrspiegels Gottes? Fichtes Eschatologie" hat Hansjürgen Verweyen dagegen in Frage gestellt, ob Fichte die ganze Härte der eschatologischen Paradoxie zum Ausdruck körnen lasse: den Schmerz des Versagens vor dem absoluten Du-sollst oder die Qual, in einer Welt den rechten Weg zu finden, die noch die verborgene Erscheinung Gottes ist (Einleitung AsL, Hamburg 31983, 44-49).

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Welt lediglich auf das darin herrschende Verständnis von Leben und Tod hin abzuhören. 1. Erstes Prinzip von allem, was ist, wird und erkannt werden kann, ist das reine Leben. Nun diente das Wort Leben seit je ausdrücklich oder unausdrücklich als Äquivalent für Sein. „Es giebt kein anderes Seyn als das Leben" (WdG; SW VI.361). Name und Begriff des Lebens treffen den vorherrschenden Sinn von Sein im äußersten Gegensatz zum Tod. Lebendig zu sein, besagt zuerst, vom Tode frei und verschont zu sein. Und das Lebensurteil über etwas lautet: Es ist. Ebenso fallen Totund Nichtsein zusammen. Das Todesurteil über jegliches lautet schlechtweg: Es ist nicht. „Sowie Seyn und Leben Eins ist und dasselbe, ebenso ist Tod und Nichtseyn Eins und dasselbe" (AsL; SW V,404). Inwiefern aber bildet das reine Leben den Anfangsgrund von allem, so daß eine haltbare Lebensphilosophie davon auszugehen hat? Die Vorlesung „Über das Wesen des Gelehrten" 1805 hat das Gepräge absoluten Lebens in drei Grundsätzen umrissen.14 a. „Das Seyn, durchaus und schlechthin als Seyn, ist lebendig und in sich thätig, und es giebt kein anderes Seyn, als das Leben: keineswegs aber ist es todt, stehend und innerlich ruhend" (SW VI,361). Sein überhaupt manifestiert sich in der anhaltenden Regsamkeit des Geistes. Daher bildet die Linie für Fichte ein sprechendes Gleichnis aktualen Lebendigseins: Sie existiert nur im Akt des Linienziehens und hat in sich kein Stück, das nicht Linie wäre. Dieses von Fichte häufig benutzte Liniengleichnis veranschaulicht eine geistige Handlung ohne Anhalten, Unterbrechung und Tod. So, als rege Tätigkeit des Geistes, nicht als ruhender Substanzbestand, kommt wahres Sein in den Blick. Sein bedeutet eben nicht ruhendes Bestehen in sich, sondern immerwährendes Leben von sich. b. „Das einzige Leben, durchaus von sich, aus sich, durch sich, ist das Leben Gottes oder des Absoluten, welche beide Worte eins und dasselbe bedeuten" (SW VI.361). Dieser Satz reicht zurück bis zur Gleich14

Die Erlanger Vorlesungen tragen in voller Apodiktizität als gesicherte Thesen vor, was Resultat einer anderen, "tieferen Untersuchung und vollkommen erweislich ist" (SW VI,361). Die Grundsätze der Lebenslehre, welche die populären Vorträge der folgenden Jahre - wie übrigens jede ausgearbeitete Fortführung des Systems stützen, wurden auf dem Boden und mit den Methodenmitteln der Wahrheitslehre von 1804 aufgestellt. Sie wiederholen also nicht die kühnen, unvermittelten Abstraktionen Parmenideischer Seinsgedanken, sondern sind durch einen transzendentalen Transzensus vermittelt.

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setzung der reinen Energeia des Nous mit dem lauteren Leben Gottes (Aristoteles, Met. 1072b27). Fichte verteidigt diesen Ansatz gegen Spinozas Einspruch (Cogitata metaph. 11,6) und nimmt ihn verwandelt auf. Göttliches Leben ist Wirksamkeit eines Geistes, die durch kein entgegenstehendes Objekt begrenzt und bestimmt wird; denn das Absolute ist alles, und außer ihm ist kein anderes Sein. Darum ist Gott nicht als absolute Substanz zu begreifen, sondern als unbegreifliches Vonsich: „lauter That und Leben" (AsL; SW V.462). c. „Dieses göttliche Leben ist an und für sich rein in sich selber verborgen, es hat seinen Sitz in sich selber, und bleibt in sich selbst, rein aufgehend in sich selbst, zugänglich nur sich selbst" (SW VI,361). Diese Formel variiert den Inkludenz-Satz. Das Leben sei in sich verborgen, es stelle sich nicht als Objekt einem Subjekt entgegen und komme so nur in sich selber, aber niemals im endlichen Bewußtsein vor. Nun gehört aber doch zu allem Leben Wirksamkeit und Äußerung. Nur das Tote ist unwirksam und äußert sich nicht. Deshalb kommt auch das reine Leben zum Vorschein, aber an und für sich so, daß es ganz innerlich bleibt. Es äußert sich immanent, d.h. nicht im Stile erstarrender Objektivierung. Das Vernunftleben des Absoluten, lebensvoller als unser menschliches Bewußtsein, geht rein in sich auf. Es tritt nicht in die Zweiheit von Subjekt und Objekt auseinander. Vielmehr durchdringen beide Bewußtseinsmomente einander zur innigsten Einheit einer nie auseinanderfallenden Zweiheit. Und so leuchtet das Urbild von Leben auf: das Tätigbleiben in einigender Einheit einer ständig ineinander aufgehenden Zweiheit.15 2. Soweit ist behauptet: Was in Wahrheit ist und lebt, ist das Absolute. Nur Gott oder dem Absoluten kommt der Zuspruch zu, zu sein und nicht nicht zu sein, zu leben und niemals tot zu sein. Wie aber steht es dann mit dem Endlichen, das doch wähnt, im Schatten des Todes zu leben. Endlichseiendes ist nicht einfachhin seiend, aber auch nicht schlechthin nichts. Was weder ist noch nicht ist, was vielmehr sowohl seiend ist als auch nicht seiend ist, heißt Erscheinung und unter Voraus15

Leben ist bedeutungsverwandt mit bleiben. Wie leben ein habitare, manere (wohnen) bedeutet, so bezeichnet bleiben ein remanere, superesse, wesen und sein. Entsprechend bedeutet der Leib den Bau, das Bleiben der Seele, und bauen drückt ein Wohnen und Sein aus; es gehört etymologisch zu beo, bin (vgl. bleiben, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1860=München 1984, II, 90).

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Setzung des Absoluten Erscheinung oder Bild absoluten Lebens. Das unmittelbare Bild oder Schema Gottes nun heißt reines Wissen oder Sehen. Indem das Sehen ist und sich lebendig vollzieht, ist es selber göttlichen Lebens; indem es Wissen und Offenbarkeit ist, ist es nicht von der Seinsart göttlichen Lebens; denn das bleibt in sich verborgen. Gerade diesen Widerspruch, das reine Wissen sei göttliches Leben und sei es nicht, löst der Grundsatz der Erscheinungslehre auf: Das reine Wissen ist lebendiges Dasein, Bild, Schema des an ihm selber unsichtbaren göttlichen Lebens. Nun kann sich Wissen nur im Wissen halten, wenn es sich selber weiß, nämlich als Da und Erscheinung des Seins. Zum Wissen gehört wesensnotwendig der Selbstbezug auf sich als bloßes Bild durch Unterscheidung vom allrealen Leben, das es abbildet. Wissen in der Form des Selbstbewußtseins formiert somit die erste und einzige Gestalt, die mit Fug und Recht Dasein heißt. Alles andere, die körperhaften Objekte und ichhaften Subjekte in Natur und Geschichte, Gesellschaft und Staat, ist gar nicht da. Es ist das, worin die lebendige Sichbildung des Wissens das göttliche Leben hineinbilden soll. Nun dürfen solch schwerwiegende Thesen nicht einfach als Tatsachen des Bewußtseins behauptet und aneinandergereiht werden; es muß einleuchten, warum Wissen zum ursprünglichen Dasein des Lebens geworden ist und wie es aus dem in sich verborgenen Sein entsteht bzw. warum gar nicht zugesehen werden kann, wie das absolute Leben zum Dasein außer sich kommt. Dafür müßte der eigenartige Charakter des Lebens, das Vonsich, näher untersucht werden. Hier kommt es vorerst darauf an, den Tatbestand des erscheinenden Seins im Wissen als eine Frage auf Leben und Tod aufzunehmen. Dabei sollte klar sein: Sofern das reine Wissen in der Form des Sichunterscheidens und - objektivierens da ist, gehört es auf die Seite des Unlebendigen und Totscheinenden; sofern es dagegen im reinen Akt des Wissensvollzugs wirkt, lebt es aus göttlichem Leben. „Das reale Leben des Wissens ist daher, in seiner Wurzel, das innere Seyn und Wesen des Absoluten selber" (AsL; SW V,443). Darum findet ein lebendiges Denken, das radikal genug denkt, das angestrengte Vernunftinteresse rationaler oder spekulativer Metaphysik an Unsterblichkeitsbeweisen unvernünftig. „Über die Unsterblichkeit der Seele kann die W.-L Nichts statuiren; denn es ist nach ihr keine Seele, und kein Sterben, oder Sterblichkeit, mithin auch keine Unsterblichkeit, sondern es ist nur Leben" (WL 1804-11; G A 11,8,134). Freilich müssen auch auf dieser Erscheinungsstufe Leben und Tod, Sein und Nichtsein distinkt bedacht werden, um nicht der trüben Mi-

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schung von Leben und Tod anheimzufallen. Dabei liegt viel daran, zu zeigen, daß die Vielheit der Iche in zeithaft-geschichtlicher, rechtlichgesellschaftlicher Welt ihr Spaltungsfundament in der Verstehensform des Wissens und ihren Einheitsgrund in der lebendigen Fortentwicklung des Wissens hat, dergestalt, daß der Sinn der sinnlichen Vielheit individueller Subjekte als Einheit im lebendigen Band der Geisterwelt aufleuchtet. Unter diesem Gesichtspunkt fallen alle Gedanken und Ängste über Tod und Leben der individuellen Iche in die Sphäre des Scheins. Das hat seine Analogie in der Leibnizschen Hypothese von monadischindividuellen, unzerteilbar-unsterblichen Ichsubstanzen und deren Geborgenheit im System einer prästabilierten Harmonie. Und überhaupt verliert das Sterben der jemeinigen Existenz seine beängstigende Aussicht. „Ich werde überhaupt nicht für mich sterben, sondern nur für ani/m?" (BdM; SW 11,315). 3. Aber warum lastet auf uns Endlichen gleichwohl die Gewalt des Todes und das beengende Bewußtsein der Sterblichkeit und des lähmenden Zuendegehens? Die Angst vor dem Tode ergreift auch das philosophisch aufgeklärte Gemüt. Der Bescheid der Wissenschaftslehre lautet: Das Leben und todlose Sein liegt uns niemals unverhüllt vor Augen; es ist unser Auge selber, welches die reine Wahrheit verhüllt. Mit der dritten These von 1813 gesagt: Das Produkt unseres Sehens ist nicht das lebensvolle Sein, sondern das tote Vorhandensein eine Zeitlang bestehender Gegenstände. Die Kardinalfrage der Lebensphilosophie Fichtes lautet daher: „Woher die Ertödtung des Lebens?" (E-WL 1813; NW 1,56). „Wie und wodurch wird denn das absolute Leben, Gottes, zu einem Sein, zur Ruhe, Erstorbenheit gebracht?" (NW I,42).16 Es ist das Sehen, welches das Sein in den Blick faßt und festhält. Dabei muß unser Sehen dem Leben gleichsam ein Gewicht anhängen, um es feststellen und bestimmen zu können. Das kann geschehen, weil sich das Sehen oder reine Wissen von Anfang an unabwendbar in der Duplizität von Bild und Realität bewegt. „Das Sehen ist ... ein Bilden, 16

In einer ersten Ausarbeitung dieser Fragestellung bleiben die untergeordneten Fragen ausgespart: Wie bringt es das zeitlose Leben zu einem „Zeitleben"? Wie tritt der Tod ins Leben der Natur und in den Zeitfluß der Geschichte ein? Vgl. dazu die Bestimmung des Zeitlebens durch die Thesen 4-10 in „Über das Wesen des Gelehrten" (SW VI,361-367) sowie die metaphysische Wesensbestimmung der Geschichte in der 9. Vorlesung der „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters" (SW VTU29ff.).

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ein Ertödten des Lebens ausser ihm..., ein Projiciren, Hinsehen, und zwar eines Ändern und Fremden ausser ihm." (E-WL 1813; NW 1,57). Und natürlich muß auch die Aufstellung dieser Tatsache genetisiert und aus den Gesetzen der Reflexion einsichtig hergeleitet werden. Im Blick auf die Unabwendbarkeit des Todesanblicks genügt es, festzuhalten: Es ist die Grundwendung menschlichen Bewußtseins, das lebendige Sein in totes Vorhandensein umzuwandeln, so daß es sich vor eine an sich bestehende Natur und naturhafte Leiblichkeit gestellt sieht. Daher bezeugt sich denn auch Leben vordringlich als das Belebende der Natur. In der Tat sind fundamentale Bestimmungen des Lebens und der Seele dem Bereich des Vegetativen und Organischen entnommen worden: körperhaftes In-Bewegung-Sein, Aufwachsen und Schwinden, Sichernähren und Fortpflanzen durch sich. Wird aber der Anblick einer an sich seienden (und ohne das Sollensgebot der Freiheit nicht zum Geiste durchbrechenden) Natur als notwendige Selbstverhüllung unseres Sehens durchschaut, dann verliert das Naturleben seinen ontologischen Primat. „Daß dieses Leben der Natur nun aber kein wahrhaftes Leben ist, sondern ein bloßes Bildleben, kann freilich nur dem aufgehen, der über die Natur und das Befangensein in ihrem Bildwesen selbst hinauskommt" (TdB-II; NW 1,464). Einer durchdringenden Phänomenologie des Lebens wird evident, daß die Natur gar keine eigene Wirklichkeit und Realität hat, sondern nichts als das Worin des Hineinbildens der Überwirklichkeit ist. Natürlich kann Physis schulmäßig das innere Prinzip der Bewegtheit (von Bewegung und Ruhe) heißen, und zwar neuzeitlich in der Gesetzesform eines naturhaften Willens, der sich als Trieb nach Selbsterhaltung, Wohlsein etc. regt. Aber ein „ichlicher" Naturwille besitzt keine Freiheit, und das heißt kein eigentliches Leben. Deshalb bleibt alles Naturleben an ihm selber an das Gegebene und Notwendige gebunden ohne Möglichkeit und Vermögen, über sich hinaus zu kommen. Tritt dagegen der freie Vernunftwille in die Natur ein - und das ist möglich, weil das Ich als Prinzip der Erfahrung primär Wille ist -, dann wird der Naturwille nicht etwa durchbestimmt oder geleitet, sondern als Anfangsgrund aufgehoben. Erst dadurch gewinnt die Sinnlichkeit ihren rechten Sinn, Wirkungssphäre des Überwirklichen, „Ersichtlichung" des Übersinnlichen zu sein. „Die Natur ist nun an sich selbst aufgehoben, und ist Leben und Thätigkeit nur aus dem ihr fremden geistigen Leben, welches statt ihrer in ihr lebt" (TdB-II; NW 1,513). Dementsprechend rührt auch unsere Furcht vor dem physischen To-

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de, vor dem Zerstieben unseres leibhaft-individuellen Lebens ins Nichts, daher, daß wir in die Selbstverhüllung der Lebenssicht verstrickt sind. Niemand kann dem entgehen, aber jedermann soll sich davon befreien. Dazu leitet die Wissenschaftslehre an. Wer den Schleier, den unser objektivierendes Sehen über das unversehrte Leben legt, hebt, für den bedeuten der Ruin und die Auflösung seines Leibes das Vergehen eines an ihm selbst Vergänglichen. Der Hang, dem Sterben zu widerstehen, hängt am Leib und der leibhaften Realität; „aber dieser Leib ist nicht Ich. Ich selbst werde über den Trümmern schweben, und seine Auflösung wird mein Schauspiel seyn" (AP; GA 1,5,452). Recht besehen, vollbringt schon der Tod in der Natur stets die Geburt einer lebendigeren Welt. Um so weniger vernichtet die Natur das Leben des individuellen Ich. „Die Erscheinung des Todes ist der Leiter, an welchem mein geistiges Auge zu dem neuen Leben meiner selbst ... hinübergleitet" (BdM; SW 11,318). Im Brechen der sinnlichen Augen und im Entkleidetwerden von der egoistischen Individualität eröffnet sich ungetrübt die Aussicht auf die unsichtbare Geisterwelt. Die durchströmende Lebendigkeit wird ersichtlich „als Band, das Geister mit Geistern in Eins verschlingt, als Luft und Äther der Einen Vernunftwelt" (SW II, 316). Im ganzen besteht das existentielle Pathos einer wahren Lebens- und Bildlehre im schneidenden Gegensatz zu jedem toten Dogmatismus darin, die Erscheinungen des Lebens in körperhafter Natur und leibhafter Rechtswelt zu durchbrechen und über die moralische Welt der Geister zum Glaubenssatz der Religion von der Verwurzelung des menschlichen im göttlichen Leben aufzusteigen, um das absolute Sein als wahres, alles durchströmendes Leben und das Dasein und Ichwerden als dessen Erscheinung zu verstehen; denn das reine Leben ist der absolute Anfang und Träger von allem. „Die wahre, in sich selbst zu Ende gekommene und über die Erscheinung hinweg wahrhaft zum Kern derselben durchgedrungene Philosophie geht aus von dem Einen, rein göttlichen Leben; als Leben schlechtweg" (RdN; SW VII,362). Im Grunde könnte die Philosophie auch in den Abstufungen der Fichteschen Phänomenologie Einübung ins Sterben heißen. Prima philosophia erfordert nämlich die Durchdringungskraft eines Schauens, welches das ewige Leben durch die Verhüllungen der Sterblichkeit hindurch ersieht. Solch staunendes Schauen durchschaut die Schemabildung, in welcher das Ich unausweichlich göttliches Leben sich verhüllt. Und eine philosophische Lebenshaltung gebietet, daß das, was in uns und durch uns

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sterblich scheint, als beengende Todesmacht erstirbt. Nur so kommen wir zur Klarheit unverstellten Lebens und Seins. Dafür muß ein sehenmachender Blick in das Wesen und Unwesen der Ichheit eindringen. Anders werden wir nicht wissend um Leben und Tod. Allein dadurch also, daß die verhüllende Macht aller Ichbezogenheit aufgeklärt wird, erreicht unser Sehen unverschleiertes, todloses Leben. Solche Dialektik von Hülle und Kern, Verschleierung und Verklärung, Sterben des Ich und Leben in Gott bringt Fichtes Sonett „Nichts ist denn Gott, und Gott ist nichts denn Leben" ins geprägte Wort (NW 111,348): Ganz klar die Hülle sich vor dir erhebet, Dein Ich ist sie: es sterbe, was vernichtbar, Und fortan lebt nur Gott in deinem Sterben. Durchschaue, was dies Sterben überlebet, So wird die Hülle dir als Hülle sichtbar; Und unverschleiert siehst du göttlich Leben.

3. KAPITEL Selbstverleugnung des Ich - Wege zum unbekannten Gott (Hölderlin / Sinclair und Fichte) Der Weg zum wahren, göttlich-seligen Leben führt durch eine Selbst- und Grenzbesinnung hindurch, in welcher das stolze Ich sich am Ende verleugnet und als oberstes Prinzip absetzt. Die Tendenz zur Selbstvernichtung des Ich-Begriffs bildet einen gemeinsamen Grundzug des kritischen Idealismus im Aufstiege zum Absoluten. Sie ist übersehen worden, vermutlich weil die Vermittlungen der Phänomenologie des Geistes und der göttliche Begriff Hegelscher Logik alle Augen anzogen. So bewundernswert auch die Frühgeschichte des Deutschen Idealismus - etwa als Prozeß einer „Vereinigungsphilosophie" unter den Leitsternen von Schönheit und Liebe in den Vermittlungen der großen Anreger Shaftesbury, Hemsterhuis, Jacobi - erschlossen wurde17, so unbeachtet blieb die Vertiefung der elementaren Erkenntniskritik zur Selbstverleugnung oder Selbstvernichtung des Ich. Diese Bahn transzendental-kritischer Selbst-Begrenzung führt zu einer neuen Aussicht auf den unbekannten Gott. Über ihren Ausgang kann die Auseinander17

Über die Tradition der Vereinigungsphilosophie im 18. Jahrhundert im Blick auf Hölderlins philosophischen Ansatz bei Endlichkeit und Schönheit vgl. Gerhard Kurz, Mittelbarkeit und Vereinigung. Zum Verhältnis von Poesie, Reflexion und Revolution bei Hölderlin. Stuttgart 1975,16-31. - Zum Umgang Hölderlins mit der Schönheitslehre Kants und Schillers vorzüglich in der Waltershausener Zeit bis zur „Umkehr" in Jena vgl. die umfassende Untersuchung von Friedrich Strack, Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübingen 1976. - Hölderlins Plato-Studien, seine sich wandelnde Plato-Rezeption, die an Plato anknüpfende bewußtseinsüberlegene Metaphysik der Liebe und des Schönen und im Ausblick die Krise dieses ästhetischen Platonismus in den Homburger Empedokles-Entwürfen legt die Studie von Klaus Düsing, Ästhetischer Platonismus bei Hölderlin und Hegel, in: Christoph Jamme / Otto Pöggeler (Hg.), Homburg vor der Höhe in der deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin, Stuttgart 1981,101-117 dar.

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setzung Hölderlins mit Fichtes Wissenschaftslehre im Spannungsfeld von Spinozas Substanzdenken, Kants Kritik, Schillers Ästhetik und der Tübinger Losung „Hen kai Pan" und dem „Reich Gottes" belehren. Sicherlich wurde auch diese historische Kontroverse unterdessen durch neuere Untersuchungen detailliert durchforscht.18 Aber eine Überprüfung - und durch Konzentration auf einen Punkt unvermeidliche Überlichtung - der Auseinandersetzung Hölderlins mit Fichte in systematischer Absicht könnte die Genesis einer dritten Vollendungsgestalt des absoluten Idealismus neu beleuchten. Dafür sollten vier Gedankenschritte nachvollzogen werden: 1. die Scheidung des Urteils „Ich bin Ich" vom absoluten Sein, 2. die Vergegenwärtigung des intellektual angeschauten Seins im Dasein des Schönen, 3. der Überstieg zum Absoluten durch Selbstverleugnung des Ich vermittels absoluter Abstraktion, 4. das Andenken an den unbekannten Gott. Die Nachzeichnung dieses Gedankenzuges soll die verborgene Grundtendenz eines transzendentalen Transzensus aufdecken, um am 18

Charakteristisch für die ältere Forschung dagegen ist die eher episodische Behandlung des Themas. Kurt Hildebrandt notiert z.B. leichtfertig die kritische Waltershausener Gleichsetzung von Fichtes Ich mit Spinozas Substanz als Anbahnung des Identitätssystems. „Damit ist der Weg, von dem aus einige Jahre später Schelling den Idealismus in seine Höhe treibt, deutlich gebahnt" (Hölderlin. Philosophie und Dichtung, Stuttgart 1939 = 21943,55). Ernst Müller, skeptisch gegen die Erhebung Hölderlins zum Inaugurator philosophischer Spekulation, vermerkt dagegen das Tastende, Verkehrte und Unschlüssige in Hölderlins Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (Hölderlin. Studien zur Geschichte seines Geistes. Stuttgart und Berlin 1944). Johannes Hoffmeister, Hölderlin und die Philosophie. Leipzig 1942, der Hölderlins Rückkehr aus „der Region des Abstrakten" und die Überwindung der „metaphysischen Stimmung" in den Mittelpunkt stellt, übt mehr als Zurückhaltung: Die epochale Begegnung Hölderlins mit Fichte kommt nicht vor. Vgl. den großen Forschungsbericht von Alessandro Pellegrini, Friedrich Hölderlin, Sein Bild in der Forschung. Berlin 1965: Fichte ist so gut wie nicht erwähnt. Das hat sich vor allem durch die Forscherkreise um Otto Pöggeler und Dieter Henrich und durch die Eruierung des „Ältesten Systemprogramms" gründlich geändert. Dazu: Otto Pöggeler, Hölderlin, Hegel und das älteste Systemprogramm, in: HegelSt, Beiheft 9 (1982)211-259. - Friedrich Strack, Das Systemprogramm und kein Ende. Zu Hölderlins philosophischer Entwicklung in den Jahren 1795/96 und zu seiner Schellingkontroverse, in: HegelSt, Beiheft 9(1982)107150. - Michael Franz, Hölderlin und das „Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus", in: HJb 29(1975-77)328-357.

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Ende der sich trennenden Wege eine Aussicht auf Hölderlins dichterische Deutung der heilig-epiphanen Zeichen wie auf Fichtes Wissenschaftslehre vom Bilde und der Erscheinung des Absoluten zu eröffnen.

3. l Kritische Scheidung zwischen dem Ich und dem Absoluten. Hölderlins Kehre in „ Unheil und Seyn " Immer noch ist Hölderlins Kehre im Bedenken des obersten Fichteschen Grundsatzes zu wenig beachtet. Dabei wendet sich in ihr sein Urteil über die Identität des Ich und die Einheit des Seins vollständig um. Am Anfang, beim flüchtigen Kennenlernen der ersten Blätter der „Grundlage" in Waltershausen, entsteht unter dem Eindruck der (zweiten) Lektüre des Spinoza ein Dogmatismus- und Spinozismus-Verdacht. Fichtes Grundsatz vom Ich transzendiere dogmatisch unkritisch gegenüber den Bedingungen möglicher Erfahrung das Selbstbewußtsein und laufe auf Spinozas Gott-Substanz hinaus. „Sein absolutes Ich (= Spinozas Substanz) enthält alle Realität; es ist alles u. außer ihm ist nichts... also das absolute Ich ist (für mich) Nichts" (StA VI, 155). Eine bemerkenswerte Parallele zu dieser Kritik an Fichtes Verabsolutierung des Ich findet sich bei Christian Weiß (Fragmente über Seyn, Werden und Handeln. Leipzig 1797,69): „Das Ich, ohne Grenze, ohne begrenzendes Aeusseres, ohne Nicht-Ich ist nichts für uns". Das volle Waltershausener Argument schließt so: Das absolute Ich enthält alle Realität und hat folglich kein Objekt außer sich. Ohne Unterscheidung von dem, was ich nicht bin, gibt es kein Bewußtsein. Ohne Objekt kein Subjekt. Als bewußtloses Ich wäre ich nichts für mich. Also ist Fichtes oberstes Prinzip das Unding eines Ich ohne Bewußtsein und Reflexion. Schlimmer: Das allreale Sein, das Nichts „für sich" (Verbesserung Wolfgang Binder, vgl. StA VI,724) ist, gleicht Spinozas erstarrter Substanz und involviert wie der Fatalismus Spinozas einen deterministischen Dogmatismus. Hölderlin fügt dieser Überlegung für Hegel hinzu: „So schrieb ich noch in Waltershausen" (ebd.). Das ist nicht mehr als ein Vorurteil im Namen Kants und in Erinnerung an die Jacobi-Lektüre. (Der Tübinger Stiftler schon hatte im Winter 1790/91 aus Jacobis „Briefen über die Lehre des Spinoza" den Satz exzerpiert: „Denn der Wille und der Verstand findet one einen Gegenstand nicht statt", StA IV,207; Hölderlins erste, lange nachwirkende Spinoza-Lektüre bezeugt der Brief an die Mutter, Tübingen Februar 1791, StA VI,63-64.) Gleichwohl gilt diese vorschnelle

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Verurteilung vielen als das letzte Wort Hölderlins über Fichtes Wissenschaftslehre. Er hat es ausdrücklich zurückgenommen.19 Indem sich Hölderlin während des Jenaer Halbjahres der Fichte-Begeisterung von Anfang November 1794 bis Ende Mai 1795 tiefer in die Sache hineindenkt, durchstreicht er den Dogmatismus- und Spinozismus-Verdacht. Der Ton der Skepsis ist in Enthusiasmus umgeschlagen. Im November 1794 schreibt Hölderlin an Neuffer: „Fichte ist jetzt die Seele von Jena. Und gottlob! 19

Selbst Dieter Henrich, dessen Studien zur Entstehungsgeschichte des Idealismus der neuen Forschung große Impulse gegeben haben, sieht Hölderlins schroffe Wendung gegen Fichte durch die Verbindung von Spinozas Seinslehre mit Kantischer Kritik im Text von „Urtheil und Seyn" konsequent fortgesetzt. „Er stellt einen selbstbewußten Angriff auf Fichtes Grundgedanken dar"; Hölderlin über Urteil und Sein. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte des Idealismus, in: HJb 14 (1965/66)73-96. Diese Beurteilung modifiziert Christoph Jamme unter Berufung auf den Brief an Hegel vom 26. Januar 1795. „Gerade hier zeigt sich, daß Henrichs Urteil insofern modifiziert werden muß, als von einer radikalen Absage an Fichte durchaus nicht die Rede sein kann; vielmehr hat er bestimmte Fichtesche Theoreme nur konsequent weitergedacht, besonders den Begriff des Strebens und den Begriff der Wechselwirkung; ,Ein ungelehrtes Buch'. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797/1800, in: HegelSt, Beiheft 23(1983)80ff. - Auf Wandlungen und Schwächen in Hölderlins FichteKritik geht Panajotis Kondylis, Die Entstehung der Dialektik. Stuttgart 1979, 304317 näher ein. Hölderlins Bedenken richten sich am Ende nicht gegen eine unkritische Verabsolutierung, sondern gegen die kritische Beschränktheit des Ich-Prinzips: Die ideelle Grundlegung des Bewußtseins bleibe im Urteil A=A an ihr eigenes Produkt gebunden. Im ganzen spiegele Hölderlins Schwanken in der FichteFrage sein eigenes Schwanken zwischen Kritizismus und Ontologismus im Problemfeld wider, Bewußtseins- und Freiheitstheorie mit der Vereinigungsphilosophie zu vereinbaren. - Eine frappante „Nebenlinie" hat Hans-Jürgen Gawoll, „Nebenlinien - Variationen zu/von Hölderlins „Urtheil und Seyn"", in HJb 26 (1988/ 89)87-119 verfolgt mit dem provokativen Resümee: „Im wörtlichen wie übertragenen Sinne beginnt Hölderlins Weg zum Idealismus von „Urtheil und Seyn", für das Heydenreich entscheidende Gedanken vorbereitet hat, die dann bei seinem Schüler Weiß nachklingen und weiterentwickelt werden, schon 1790 in Leipzig und nicht 1794 in Jena" (115). Aber auch hier wird unterstellt, daß Hölderlin, als er Ende März/Anfang April 1794 in Leipzig die „interessante Bekanntschaft mit Heydenreich" (StA VI, 167) gemacht hat, mit Fichte als einem dogmatischen Spinozist fertig war und sich dem Unternehmen Heydenreichs öffnete, die transzendentale Reflexion bis zu dem Punkte weiterzutreiben, wo sie sich für die Aufnahme eines absoluten Seins öffnet. Hölderlin brauchte danach bloß (!) Heydenreichs Lehre von Urtheil und Daseyn in eine Subjekt-Objekt-Terminologie zu übersetzen.

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daß ers ist. Einen Mann von solcher Tiefe und Energie des Geistes kenn' ich sonst nicht" (StA VI, 139). Und am 16. April 1795 berichtet Hegel an Schelling: „Hölderlin schreibt mir oft von Jena; er ist ganz begeistert von Fichte, dem er große Absichten zutraut" (Briefe von und an Hegel, hg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 31961, 1,25). Außer dem großen, unvollständigen Brief an Hegel vom 26. Januar 1795 sind weitere Schreiben Hölderlins darüber freilich nicht bekannt. In welchem Umfange und mit welcher Intensität Hölderlin Hörer Fichtescher Kollegien war, läßt sich nicht mit Sicherheit festlegen. Im Winterhalbjahr (Oktober 1794 bis März 1795) las Fichte nachmittags von 3 bis 6 Uhr drei Kollegs: die „Privatvorlesung" über spezielle theoretische Philosophie, d.i. über das Eigentümliche der Wissenschaftslehre, über praktische Philosophie, d.i. den dritten Teil der Wissenschaftslehre („Grundlage der Wissenschaftslehre des Praktischen", erschienen zur Ostermesse 1795), von 5 bis 6 Uhr das Publicum „Logica et Metaphysica, duce Platnero" - diesem Kolleg entnahm Fichte seine in Niethammers Journal 1795 erschienene Sprachabhandlung. Die erst am 9. November begonnene Sonntagsvorlesung, welche „De officiis eruditorum" fortsetzte, hat Fichte im Februar vorzeitig abgebrochen. Vermutlich hat Hölderlin zuerst, Anfang November in Jena angekommen, mehr als die Plainer-Vorlesung bei Fichte gehört; das Platner-Kolleg vermittelte ja auch nicht unmittelbar Fichtes neue Philosophie, um die es Hölderlin ging. An die Mutter schreibt er: „Fichte's neue Philosophie beschäftigt mich itzt ganz. Ich hör' ihn auch einzig und sonst keinen" (StA VI, 142). Und er schwärmt im Novemberbrief an Neuffer: „In den entlegensten Gebieten des menschlichen Wissens die Prinzipien dieses Wissens, und mit ihnen die des Rechts aufzusuchen und zu bestimmen, und mit gleicher Kraft des Geistes die entlegensten künsten Folgerungen aus diesen Prinzipien zu denken, und troz der Gewalt der Finsternis sie zu schreiben und vorzutragen, mit einem Feuer und einer Bestimtheit, deren Vereinigung mir Armen one diß Beispiel vielleicht ein unauflösliches Problem geschienen hätte, - diß, lieber Neufer! ist doch gewis viel und ist gewis nicht zu viel gesagt von diesem Manne. Ich hör' ihn alle Tage. Sprech' ihn zuweilen" (StA VU39-140).20 Und der Brief an den Bruder vom 13. April referiert die Kategorien von Streben und Widerstand als die Haupteigentümlichkeit der Fichteschen Philosophie (StA 20

Dokumentiert ist, daß ein Gespräch Hölderlins mit Fichte und Novalis in Niethammers Haus über Gott am 28.5.1795 stattgefunden hat; vgl. FiG 1,284.

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VI, 164). Ende Dezember reiste Hölderlin mit den von Kalbs nach Weimar, um nach Kündigung der Hofmeisterstelle Mitte Januar das unterbrochene Kolleg wiederaufzunehmen. Ab Januar scheint Hölderlin nur noch die Plainer-Vorlesung gehört zu haben. „Ich arbeite jezt den ganzen Tag vor mich. Gehe nur Abends in Fichtes Kollegium" (an Neuffer, Jena, d. 19.Jenner 95; StA VI, 152). Ende Mai wird er Jena verlassen. Jedenfalls verläuft inzwischen die Auseinandersetzung mit Fichte auf dem Boden grundsätzlicher Affirmation umgekehrt. Für eine Wendung in der Fichte-Auffassung spricht auch Hölderlins Bekenntnis an den Bruder: „Zu Anfang dieses Winters, bis ich mich hineinstudirt hatte, machte mir die Sache manchmal ein wenig Kopfschmerzen" (StA VI, 164) sowie die Aufforderung an Hegel, die vorgetragene Waltershausener Argumentation „als nicht geschrieben anzusehen" (StA VI, 156). Und wie läßt sich die verlorene Fortsetzung des Satzanfangs im nämlichen Brief „Fichte bestätiget mir..." (StA VI, 156) ergänzen? Doch wohl kaum so, daß seine Rede vom Ich dogmatisch-spinozistisch zu nehmen sei. Daß Hölderlins Waltershausener Argument jedenfalls nicht gegen, sondern für Fichtes Ich-Theorie spricht, konnte Hölderlin spätestens in § 5, 2. Lehrsatz der „Grundlage" merken: „Wäre das Ich mehr als Streben; hätte es eine unendliche Kausalität, so wäre es kein Ich, es setzte sich nicht selbst, und wäre demnach Nichts" (GA 1,2,404). Im Brief an den Bruder erklärt Hölderlin die Fichtesche Bestimmung des Strebens als endlich: „Wäre diese Thätigkeit alles... litte also unsere Thätigkeit keinen Widerstand von außen, so wäre außer uns nichts, wir wüßten von nichts, wir hätten kein Bewußtseyn" (StA VI, 164). Mithin stimmt Hölderlin Fichtes Grundlegungen im ganzen zu, aber er geht gegen Fichte mit Fichte über die Grenzlinie des ersten Grundsatzes hinaus. Daher stellt auch Hölderlins Weg weisende Programmnotiz „Urtheil und Seyn" nicht einen selbstbewußten Angriff auf Fichtes Grundgedanken dar, der die Waltershausener Gleichsetzung von Fichte mit Spinoza wiederholt und beide mit Kant bzw. Jacobi kritisiert. Vielmehr vollzieht sich vom ersten Kontakt mit dem ersten Bogen der Wissenschaftslehre in Waltershausen bis zum Resümee von „Urtheil und Seyn" ein Wandel in der Bewertung der Fichteschen Ich-These. Es herrscht nicht mehr die Behauptung vor, Fichtes absolutes Ich gleiche Spinozas Substanz. Es kommt zur Frage, ob nicht gerade die transzendentale Beschränkung des Identitätsurteils Ich=Ich einen Überstieg zum Sein schlechthin im Sinne der Vereinigungsphilosophie erzwingt. Solcher Sichtwechsel endet in einem Überdenken, welches transzendental über

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Thesis und Urteilung des Ich zu dessen Voraussetzung, der ununterschiedenen Einheit des Seins, vordringt. (Genau diesen Weg wird die spätere Wissenschaftslehre mit ihren Methoden ausarbeiten.) Das bezeugt Hölderlins bis 1930 verschollene, 1961 edierte und von Friedrich Beissner treffend überschriebene Programmnotiz vom April 1795 „Unheil und Seyn". Deren Resultat setzt Ich und Gott nicht gleich, sondern scheidet deutlich das Urteil „Ich bin Ich" vom Sein im absoluten Sinne. „Dieses Seyn muß nicht mit der Identität verwechselt werden" (StA IV,216). Allein diese Scheidung - und nichts anderes soll hier betrachtet werden.21 Dabei lautet die vorgelegte Wesensbestimmung des Urteils: „Unheil ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects, diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur-Theilung" (StA IV.216). Das vertieft und bestimmt den Urakt allen Urteilens. Jegliches Urteil verdankt sich einer Teilung, welche Satzsubjekt und Satzprädikat auseinanderhält, um das Auseinandergehaltene aufeinander zu beziehen. Es ist dihairetisch-synthetisch in eins. So vollzieht sich das Urteilen im Darlegen von etwas als etwas anderes („Die Wand ist grau") als Handlung eines zertrennenden Verbindens. Das trifft auch zu, wenn das Urteil näher betrachtet und das in der Kopula, dem „Verhältniswörtchen ist", ausgesprochene Verhältnis transzendental eingerechnet wird. Spricht nämlich das „ist" des Aussagesatzes über 21

Die übergreifendste Analyse von „Urtheil und Seyn" hat Helmut Bachmaier, Theoretische Aporie und tragische Negativität. Zur Genesis der tragischen Reflexion bei Hölderlin, in: Ders./Thomas Horst/Peter Reisinger, Hölderlin. Stuttgart 1979,83-145 vorgelegt. Bachmaier vermerkt auch den Zusammenhang mit Sinclairs „Raisonnements" und entfaltet die „ästhetische Überwindung der Negation" in der vorletzten Hyperion-Fassung. Allerdings muß jene vorgetragene Hauptthese zu „Urtheil und Seyn", die intellektuale Anschauung Fichtes sei grundlegend für Hölderlins Philosophie geworden, revidiert werden. - Michael Franz, Hölderlins Logik. Zum Grundriß von Seyn Urtheil Möglichkeit, in: HJb 25(1986/87)93-124 zieht gemäß seiner Generalthese, „Urtheil und Seyn" enthalte einen geschlossenen Text über Hölderlins Logik und Sprachlogik, allein das Sein als Kopula in Betracht: die Bedingung der Möglichkeit des transzendental verstandenen Urteils als Verbindung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt. Ohne Beleg bleibt die These, Reinholds Satz des Bewußtseins werde durch Hölderlin aus dem Begriff der Teilung hergeleitet, und verblüffend klingt die Bewertung, Fichtes dritter Grundsatz enthalte das „Wortspiel" der Teilbarkeit; Hölderlin habe von der entsprechenden „Metaphorik" ausgiebig Gebrauch gemacht.

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das Verhältnis einer gegebenen Erkenntnis zum Erkenntnissubjekt, dann ist das Urteilen „die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen" (KrV B 142). Und so gesehen, besorgt die Urteilshandlung ursprünglich Disjunktion wie Konjunktion von Subjekt und Objekt. In dieser transzendentalen Wende bildet der Grundsatz „Ich bin Ich" in der Tat das Urteil im strengsten Sinne. Er ermöglicht anfänglich alle Urteilsbezüge als solche, insofern er ursprünglich Subjekt und Objekt so in eins setzt, daß er beide voneinander trennt und als unterschiedene identisch setzt. Die weitertreibende Frage aber lautet: Welches ist der eigentümliche Akt ursprünglichen Urteilens, das Trennen und Disjungieren oder das Verbinden und Synthetisieren? Entgegen der geläufigen Bestimmung des Urteils als eines Verbindens hört Hölderlin aus dem Worte Ur-Teil den Primat der Teilung heraus. Diese Gewichtung konnte er übrigens in der Plainer-Vorlesung Fichtes hören: Dem Urteilen liege „ein ursprüngliches Theilen ... zu Grunde" (GA 11,4,182). Freilich int solche Berufung auf das Wort. Urteil meint Erteilung und nicht Erste Teilung. Daß die Auffassung einer Ur-Teilung im Fichteschen Denkraum nahelag und mit der ursprünglichen Teilung von Ich und Nicht-Ich zusammengebracht wurde, bezeugt die Anspielung von Christian Weiß (Frg. 20):,,Es lassen sich artige Betrachtungen über das Wort Urtheil und seine Etymologie anstellen. Urtheil, erstes Teilen, erstes Unterscheiden der Dinge ... Vielleicht liegt in dem einzigen Worte Urtheil die grosse Wahrheit verborgen, dass alle unsere geistige Thätigkeit, deren Wesen im Urtheilen besteht, so wie unser gesammtes Bewusstseyn, auf nichts anderes, als eine Wechselwirkung gegründet sey, welche uns zum Unterscheiden und Theilen bestimmt, und dass die erste Frucht derselben die höchste Unterscheidung alles dessen, was ist, sey - in Ich und Nicht-Ich". Also legt Hölderlin den Akzent auf die Trennung. Urteil im höchsten Sinne ist die ursprüngliche Zerteilung des Seins in Subjektsein und Objektsein.22 22

Den schärfsten Kontrast dazu hat Hegels Etymologisierung geliefert: „Die etymologische Bedeutung des Urteils in unserer Sprache ist tiefer und drückt die Einheit des Begriffs als das Erste und dessen Unterscheidung als die ursprüngliche Teilung aus, was das Urteil in Wahrheit ist" (Enz. §166; ThW ,316). Das Urteil ist mithin nicht flach als äußerliches Zusammenbringen selbständiger Subjektund Prädikatsbestimmungen aufzufassen, sondern als Dirimtion des Begriffs, der sich von sich selbst unterscheidet; denn das Erste ist die Einheit des Begriffs im höchsten und einzigen Sinne des Worts: nicht das Gemeinsame und Allgemeine des Verstandes, sondern die schlechthin tätige, unendliche Subjektivität. Danach

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Aber unleugbar verbindet das Urteil doch auch Subjekt- und Objektbegriff und setzt Subjekt und Objekt anfänglich in Beziehung. Nach Hölderlin aber ergibt sich die Verbindung analytisch aus dem Vorbegriff der Teilung. „Im Begriffe der Theilung liegt schon der Begriff der gegenseitigen Beziehung des Objects und Subjects aufeinander" (StA IV.216). Indem nämlich das Objekt als Gegen-Stand bzw. Nicht-Ich abgeteilt wird, ist es schon auf das bezogen, von dem es getrennt wird, und umgekehrt: Indem das Subjekt vom Objekt geschieden wird, ist es kraft der Unterscheidung auf das bezogen, von dem es geschieden wird. Das sollte am Paradigma einleuchten „Das Ich setzt sich schlechthin selbst". Hier sind Urteilung und Urbeziehung am reinsten am Werk, nämlich als Entzweiung und Verbindung des reinen Ich mit sich selbst. (Darum stellt Hölderlin hier den Hauptsatz der praktischen Vernunft „Das Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich" beiseite.) Das Urteil „Ich=Ich" vollzieht jene Entzweiung und Verdoppelung, durch welche das Ich in die Subjekt- und Objektstellung auseinandergesetzt wird: Ich stelle mich als seiend vor. Erst diese Ur-Teilung stiftet die Verbindung und Vereinigung einer Identität, d.i. der Einheit einer Selbigkeit von zuvor Zerteiltem und Unterschiedenem. Davon hebt sich die Bestimmung von Sein im höchsten und strengsten Sinne ab. Während das Urteil als urprüngliche Spaltung im Zusammensetzen von Zerteiltem lebt, währt das Sein in einem Verbinden, das aller Trennung gerade vorausliegt, dergestalt, daß Subjekt und Objekt unzerteilt und ununterschieden innigst verbunden sind: „Seyn - drükt die Verbindung des Subjects und Objects aus" (ebd.). Auf die Unzerteiltheit deutet das Beiwort „schlechthin". Schlechthin im Sinne von einfachhin bedeutet ja monadologisch, einfach, und das heißt ohne Teile sein. Danach bildet das Seyn schlechthin eine einfache Einheit von solcher Simplizität, daß sie als Eines und Ganzes von der Ur-Teilung absolviert ist. „Wo Subject und Object schlechthin, nicht nur zum Theil vereiniget ist, mithin so vereiniget, daß gar keine Theilung vorgenom-

heißt Urteil die erste Teilung, in der sich der Begriff in seine Momente (Einzelheit, Besonderheit, Allgemeinheit) auseinanderlegt und als Subjekt und Prädikat in der Form der Aussage zur Sprache kommt: Das Einzelne ist das Allgemeine, zum Beispiel „Gott ist Geist".

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men werden kann, ohne das Wesen desjenigen, was getrennt werden soll, zu verlezen, da und sonst nirgends kann von einem Seyn schlechthin die Rede seyn" (ebd.). Seyn schlechthin ist der ontologische Name für das Losungswort, das Hölderlin aus Jacobi exzerpierte (StA IV,207) und das dem Freundeskreis im Tübinger Stift zum Symbol geworden war: Hen kai Pan. Die Identität des Ich und die Einheit des Seins dürfen nun nicht verwechselt werden. Auf dieser alle „Identitätsphilosophie" kritisierenden Mahnung liegt das Schwergewicht der Programmnofiz. Sein im einzigen Sinne des Wortes besagt nicht Handeln als Tathandlung und produktives Sich-auf-sich-Beziehen. Eines sein bedeutet nicht Identität als Vereinigung von Unterschiedenem zur für sich seienden Selbigkeit des Ich mit sich selbst. Sein und Einheit haben einen absoluten, von der UrTeilung des Ich losgelösten Sinn. Aber welches Kriterium macht solche transzendental-idealistisch suspekte Differenz nachprüfbar? Prüfstein dieser ontologischen Differenz ist die Probe, ob eine Teilung das Wesen des Zerteilten verletzt. Das ist beim Ich sowenig der Fall, daß die Zerteilung die Ichheit allererst konstituiert. „Das Ich ist nur durch diese Trennung des Ichs vom Ich möglich" (StA IV,217). Das ist so, weil das Sein des Ich ohne Selbstbewußtsein nicht gedacht werden kann und weil das Sich-selber-Denken jener Teilung bedarf, durch welche sich das Ich in ein Subjekt- und Objekt-Ich aufteilt und eben dadurch sich auf sich bezieht. Also lädiert eine Trennung das Einheitswesen des Ich nicht, sie bildet dessen unverzichtbares Element. Mit dem Seyn schlechthin geht es umgekehrt. Jedwede Teilung verletzt dessen wesenhafte Einfachheit. Die Spaltung in Selbst und Welt stört auf und zerstört die innigste Alleinheit. Sie verletzt den Frieden allen Friedens. Mithin steht das Sein über dem Ich. Es ist inniger an Einheit und bewußtseinsmäßig über dem Selbstbewußtsein. Für das Urteilen als Verbinden von Begriffen jedenfalls bleibt es unerreichbar und unsäglich. Das Absolute entgeht, wenn der unterscheidende Begriff und eine objektivierende Aussagerede an es herangehen. Ist aber das Sein unbegreiflich und nicht aussagbar, wie kann der an das Selbstbewußtsein gebundene Mensch gleichwohl davon reden? Hölderlins Programmnotiz gibt dafür zwei Winke. Der eine Hinweis deutet auf den Methodenweg eines transzendentalen Transzensus vor, der andere weist beziehungsvoll auf einen privilegierten Zugang, die intellektuale Anschauung. Für den ersten Weg ist lediglich eine analysis notionis, die Zergliederung des Begriffs der Urteilung ausgeführt. In diesem Begriff stecken

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Trennung, Teil, Erste Teilung ebenso wie das Ganze und das noch nicht zerteilte Eine. Blickt man nun auf die „Urteilslehre" in Sinclairs „Philosophischen Raisonnements" voraus, so lassen sich vier Folgerungen aus der Begriffs- und Wortanalyse ziehen: 1. Das Wort -teilen drückt die Handlung des Teilens als genuine Tätigkeit in allem Urteil aus. Zwar verbindet das Urteil stets, aber eben doch zuvor Geteiltes. Nach Hölderlin ist die Dihairesis elementarer als die Synthesis. Setzen, d.h. etwas reflexiv als seiend beurteilen, vollzieht anfänglich ein Trennen. „Trennen ist noch besser gesagt als reflektieren u. setzen" (PhR, 245). 2. Im Wort /r-teilung liegt überdies Erste und uranfängliche Teilung. Sie spaltet Subjekt und Objekt, Geist und Natur auf und eröffnet dadurch allererst deren wechselseitige Beziehung zueinander aufgrund der Teilbarkeit. So verweist Hölderlin die für ihn wie für Schiller entscheidende Kategorie der Wissenschaftslehre, die Wechselbestimmung, auf das Ereignis der Urteilung zurück. Das ist für das Bewußtsein ein Abgrund. Da alles Trennen und Beziehen des Ich sich innerhalb der Urteilung vollzieht, findet sich im Bewußtsein die Aufteilung von Ich und Nicht-Ich immer schon vor. 3. Der Urteilung kommt mithin zu, unabhängig vom Ich zu geschehen. „Das Wort C/rtheilung enthält das, daß man nicht höher hinauf als diese Theilung steigen kann: daß sie geschehen ist unabhängig vom Ich und von dem, das in der Theilung als Theil gedacht wird" (PhR B 20,271). 4. Und endlich weist die Struktur der Urteilung auf die Einheit eines Einen und Ganzen jenseits des endlich geteilten Ich hinaus. „Im Begriffe der Theilung liegt... die nothwendige Voraussezung eines Ganzen wovon Object und Subject die Theile sind" (StA IV,216). Teilung ist immer Aufteilung einer vorausliegenden Einheit. Dieses 4. Aufbaumoment läßt sich transzendental anwenden, und zwar auf den Gedanken eines transzendental angelegten Überstiegs vom Ich zum Sein. Wie alle Teilung setzt auch die Urteilung ein ungesondertes, an ihm selbst teilloses Eines und Ganzes voraus, das göttliche Hen kai Pan oder das Seyn schlechthin. Das Urteil „Ich bin Ich" weist mithin von sich her auf das Sein als notwendige Bedingung seiner Möglichkeit hinaus. So bezieht sich das Ich nicht nur reflektierend auf sich zurück, es übersteigt sich selbst. Auf dieses noch nicht zertrennte Hen kai Pan, auf das Sein im einzigen Sinne des Wortes lenkt das Urteil im Sinne ursprünglicher Urteilung hin. Hölderlin erläutert diese Deduktion im Vor-

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blick auf eine ontologische Teil-Ganzes-Relation methodisch zwar nur mit Hilfe einer analysis notionis, aber er legt doch den Weg weisenden Gedanken nahe, das Ich setze nicht selber die absolute Einheit, es setze sie voraus. Aber die Klippe solchen Übergangs zum Sein ist noch nicht bewältigt. Wie kann, wenn nicht in der Aussage begreifenden Bewußtseins, vom Sein schlechthin überhaupt die Rede sein? Hölderlins knapper Bescheid lautet, das sei „bei der intellectualen Anschauung der Fall" (ebd.). Das Sein sei die über-ichhafte Einheit des Jn der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects" (ebd.). Aber was meint in diesem wortkargen Kontext dieses Rätsel- und Lösewort des Idealismus? 3.2 Seyn schlechthin und Dasein des Schönen; Intellectuale Anschauung und ästhetischer Sinn. Ontologisch-ästhetische Verbindungslinien auf der Hyperion-Stufe Intellectuale Anschauung ist auch ein Grundwort Hölderlins. Es hat sein dichterisches Denken von der Hyperion- zur Empedokles-Stufe und zur Homburger Poetologie begleitet. Ob „Unheil und Seyn" den wie selbstverständlich gebrauchten Terminus in der Lautbildung einer „intellectualen" Anschauung von Schelling entlehnt hat, ist strittig. (Die Vorrede „Vom Ich" ist auf den 29. März 1795 datiert, die Schrift kam zur Ostermesse auf den Markt, Fichte erklärte sie am 2. Juli in einem Brief an Reinhold als Kommentar der Wissenschaftslehre. Hatte Hölderlin sie bis April zur Niederschrift von „Unheil und Seyn" in der Hand?) Jedenfalls lag dieses vielbezügliche Problemwort in Jena in der Luft. Schon Reinhold hatte es verwendet. Fichte nahm es früh in „Eigne Meditation über Elementarphilosophie" auf, wenn auch die „Grundlage" die Wortbildung auffällig vermeidet. Immerhin steht in der Aenesidemus-Rezension klipp und klar: „Das absolute Subject, das Ich, wird nicht durch empirische Anschauung gegeben, sondern durch intellectuelle gesetzt" (GA 1,2,48). Selbst Hegel - bevor er die Form intellektuellen Anschauens als bequemste Manier, die Erkenntnis darauf zu setzen, und als zufälliges Kunsttalent von Sonntagskindern verwarf (ThW XX, 428) - wird in Jena noch den Terminus einer transzendentalen oder intellektuellen Anschauung in Anspruch nehmen. Sicherlich aber ergibt Schellings ingeniöse Frühschrift „Vom Ich als Prinzip der Philosophie

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oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen" einen neuen Drehund Angelpunkt der einschlägigen Diskussion.23 Freilich, die darin entfaltete Lehre der intellectualen Anschauung handelt von der Ichheit des Menschen und dem Organon transzendentalen Denkens - der Tendenz, ein Gegenstück zur Ethik Spinozas zu liefern, und der Zweideutigkeit des „absoluten Ich" zum Trotz. Der transzendentale Aufweis ist bis zum „System des transzendentalen Idealismus" 1800 in Kraft geblieben. Die Schrift „Vom Ich" versteht das Prinzip alles menschlichen Wissens als ein Unbedingtes, das schlechterdings nicht als Ding gedacht werden kann. Das ist das absolute Ich, aufgestellt im Satz „Ich bin, weil ich bin". Dessen Wesen ist Freiheit, negativ gefaßt als die gänzliche Unabhängigkeit von allem Nicht-Ich, positiv verstanden als die „Selbstmacht", sich schlechthin als reines Ich zu setzen. Die Frage nun nach der Art des Bewußtseins einer Unbedingtheit, Ichheit und Freiheit, die erst durch dieses Bewußtwerden möglich werden, führt unausweichlich zur Annahme der intellektuellen Anschauung. Die Ichheit nämlich ist durch keinen Begriff zu erfassen, sofern Begriffe allein in der Sphäre des Bedingten zum Zuge kommen; und das Ich kann auch nicht sinnlich

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Daß „Urtheil und Seyn" und damit die Prägung des Titels „intellectuale Anschauung" unabhängig von Schellings „Vom Ich als Prinzip der Philosophie" entstand, macht Henrich (a.a.O., 78) wahrscheinlich. - Dagegen hält es Michael Franz für möglich, daß Hölderlin den Titel aus Schellings „Vom Ich" aufgegriffen habe, ohne freilich damit dessen Interpretation zu übernehmen. Ob aber Hölderlins FichteAuseinandersetzung überhaupt erst durch diese Schrift provoziert worden ist, erscheint mir nicht nur wegen der Datierungsprobleme fraglich; Hölderlins Logik, in: HJb 25 (1986-87)107f. - Hegel steht in seiner frühen Jenaer Zeit vor der unaufgehobenen Dichotomic von endlicher Reflexion und einer Anschauung, welche das wirkliche Unendliche und absolut Identische unmittelbar vergegenwärtigt. Sonach heißt eine von der Reflexion selbst postulierte Erkenntnisart, in welcher die absolute Einheit präsent wird - veranlaßt durch Schelling - intellektuelle Anschauung: nicht mehr Gefühl, Liebe, Begeisterung, mystische Anschauung, Glauben und noch nicht absolutes Wissen oder spekulativer Begriff; vgl. Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und der Dialektik. Bonn 1976, 140-148. - Über den Zweiweg in Hölderlins dichterischem Überstieg des Denkens und Schellings Denken des Dichtens vgl. Guido Schmidlin, Hölderlins und Schellings Philosophie der Mythologie und Offenbarung, in: HJb 17 (1971-72)43-55.

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angeschaut werden, sofern sinnliche Anschauung auf Gegebenheiten ihrer Objekte angewiesen, das Ich aber das gänzlich Nichtobjektive ist. Daraus resultiert der Satz: „Das Ich also ist für sich als bloßes Ich in intellectualer Anschauung bestimmt" (SW 1,181). Noch die Systemschrift von 1800 wird den Grundsatz alles Wissens durch den Ursprungsakt der intellektualen Anschauung zum Ausdruck bringen. „Nun entsteht uns aber durch intellectuelle Anschauung das Ich, sofern es sein eigenes Product, Producirendes zugleich und Producirtes ist" (SW 111,372). Eine ursprüngliche geistige Selbstanschauung also konstituiert das menschliche Ich im Stande zeitlos-ewigen, unendlichen Selbstbewußtseins und unbedingter Freiheit. Zugleich bildet solches Anschauen den unmittelbaren Zugang, durch welchen das philosophierende Bewußtsein zum Unbedingten und Ewigen im endlichen Ich gelangt. Schelling möchte Jacobis berühmter auch von Hölderlin exzerpierter - Forderung Genüge tun, das Unauflösliche, das Unmittelbare und Einfache zu enthüllen (SW 1,186); er schlägt dafür den Weg ein, das endlich-empirische Ich zu übersteigen und sich zur intellektuellen Anschauung unseres reinen Selbst zu erheben (SW 1,183). Dieses Vermögen der methodischen intellektuellen Anschauung ist das einzige Organ der Philosophie und die Grunderfahrung transzendentaler Denkart. Sie bahnt einen angemessenen Weg zum Prinzip des Ich, weil dessen ursprüngliches Wesen selber in der Verfassung einer intellektuellen Anschauung besteht. Hölderlins „Kleines System" markiert eine Kehre in der Tragweite dieses Leitwortes, und zwar in zweifacher Richtung. Dabei verbindet sich die Abwehr von einer transzendental-kritischen Grundlegung durch Hinwendung zu einer onto-theologischen Sinngebung mit der anderen Tendenz, sich von einer praktisch fundierten, unabschließbaren Systemtheorie abzukehren, um sich einer ästhetischen Anschauung und dichterischen Bezeugung zuzukehren. Gewiß, es muß offen bleiben, wie weit die Verabsolutierung des Seyns schlechthin in intellectualer Anschauung trägt. Sicher ist lediglich, daß die intellectuale Anschauung eine Be wußtsei nsform jenseits des Selbstbewußtseins bildet und ein Organon benennt, mit dessen Hilfe nicht nur das zeitlos-ewige Identische in uns, sondern die vorauszusetzende innigere Einheit des Einen und Ganzen zur Sprache kommt. Das eben ist in Schellings „Vom Ich" noch anders. Dort bleibt das Ich-Prinzip Grundlage und Grenze alles Wissens und aller für uns wißbaren Realität. „Im Ich hat die Philosophie ihr gefunden"

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(SW 1,193); das bedeutet in Fichtescher Wendung: Alles ist nur im Ich und für das Ich, das nur besteht, insofern es in intellektueller Anschauung entsteht. (Gott ist das letzte Ziel des endlichen Ich, insofern dieses mit dem absoluten Ich identisch werden soll.) Nach Hölderlin aber gehen nicht intellektuale Anschauung und Ich=Ich, sondern intellektuale Anschauung und Sein schlechthin zusammen. Darüber jedoch, ob intellektuelle Anschauung zum Ort wird, an welchem sich das göttliche Sein selber fühlt und unmittelbar anschaut, gibt „Urtheil und Seyn" keine Auskunft mehr. Faßbarer wird eine Bedeutungslinie, welche das Seyn schlechthin mit dem Dasein des Schönen und die intellektuale Anschauung mit der ästhetischen verknüpft. Dafür können Leitgedanken herangezogen werden, welche die Umwandlungen des „Hyperion" begleiten. Mithin wäre die angedeutete Gedankenverbindung im Umkreis der Jenaer philosophischen Studien, ästhetischen Entwürfe und der Umarbeitung des „Hyperion" zu erörtern. Bekanntlich gehen in Jena die Fichte-Studien Hölderlins mit der Umarbeitung des „Hyperion" Hand in Hand. Schrieb Hölderlin am 19. Januar 1795 an Neuffer, er arbeite den ganzen Tag an eigener Sache und besuche Fichtes Vorlesung nur gegen Abend, so teilt er Hegel am 26. Januar mit: „Meine productive Tätigkeit ist izt beinahe ganz auf die Umbildung der Materialien von meinem Romane gerichtet. Das Fragment in der Thalia ist eine dieser rohen Massen" (StA VI, 154). Neben der herrlichen, durchkomponierten Thalia-Form werden offenbar auch die „Massen" der Tübinger Fassung umgebildet, und die Tendenz der Umbildung wird wohl am ehesten in der viel verhandelten Vorrede der „Vorletzten Fassung" (der August bis September 1795 datierten „Lovell -Fassung" des „Hyperion" (vgl. Zinkernagel) greifbar. Darin wirkt die Fichte-Auseinandersetzung im Sinne eines Antriebes nach, den recht verstandenen Grundsatz der Ich-Philosophie in Rücksicht auf die Voraussetzung von Seyn und Frieden zu durchdenken und dichterisch fruchtbar zu machen. Hölderlins „poetischer Monismus" geht nicht aus einem penetranten Vorurteil gegen Fichtes Grundsätze hervor, sondern aus der wohlverstandenen Spannung zwischen dem Identitätsurteil des Ich und der innigeren Einheit des Seins in intellektualer Anschauung. Freilich kommt zu dem Gefüge von Ich-Urtheilung und Seyn eine dritte Größe hinzu, Idee und Dasein des Schönen für den ästhetischen Sinn. Unausweichlich nämlich geht die Einigkeit des Hen kai Pan dem Aufbruch des Selbstbewußtseins verloren, und gleichwohl bleibt der Frieden des Seins unverloren - im Erscheinen ewiger Schönheit.

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Die Spannweite dieses Vorgangs ermißt die Vorrede zur „Vorletzten Fassung".24 Der einschlägige Eingangssatz lautet: „Die seelige Einigkeit, das Seyn im einzigen Sinne des Worts, ist für uns verloren und wir mußten es verlieren, wenn wir es erstreben, erreichen sollten. Wir reißen uns los vom friedlichen der Welt, um es herzustellen, durch uns Selbst" (StA 111,236). Das gibt zwar keinen genetischen Aufschluß über das Wie der Urteilung, wohl aber einen Hinweis auf das Daß und Wozu. Der Verlust unreflektierten Einesseins mit dem All muß geschehen, damit der Mensch zu sich selbst und zu seiner Freiheit kommt. Freiheit entsteht im Sichlosreißen vom Bestimmtwerden und im Übernehmen der Selbstbestimmung. Wird der Mensch frei, so reißt er sich heraus aus der friedvollen Einigkeit der Natur. Anders kann er seine Aufgabe nicht ergreifen, die Gabe der Natur in Selbstgebung umzuwandeln, in Fichtes Sprache: das Nicht-Ich dem Ich in unendlichen Anstrengungen des Willens und der Kultur anzugleichen. Hinter diesem Fichteschen Sollensgebot mag für Hölderlin der Anblick des Titanen Hyperion (Ilias 8,480) erscheinen und das „ungeheure Streben Alles zu seyn, das, wie der Titan des Aetna, heraufzürnt aus den Tiefen unsers Wesens" (StA 111,18). So liegt der Zustand unendlichen Friedens immer 24

Bild und Sache der „exzentrischen Bahn" bleiben hier unerörtert. Über die vielfachen Deutungsversuche gibt Friedrich Strack, Ästhetik und Freiheit. Hölderlins Idee von Schönheit, Sittlichkeit und Geschichte in der Frühzeit. Tübingen 1976, 149 ff. einen Überblick. - Zuletzt dazu die umsichtig-aufklärende Studie von Clemens Menze, Hölderlins Deutung der Bildung als exzentrische Bahn, in: Vjschr. f. wiss. Pädagogik 58 (1982)234-282. Danach bedeutet exzentrische Bahn Bildungsbahn, d.i. die Verlaufsform einer Bewegung, welche den Zustand höchster Einfalt verläßt und den Weg aus der Abhängigkeit von sinnlichen Trieben und Neigungen hin zu einem vernunfthaften, dem Sittengesetz gemäßen autonomen Handeln durchmißt mit dem Ziel, sich seiner als Identität bewußt zu sein und ganz zu bestimmen. Solche Bahn der Menschenbildung als ein Selbstbewußt-Werden sei nicht ohne Spuren Fichtescher Einwirkung, die jedoch nicht überschätzt werden sollten. Indessen, legt sich nicht von Hölderlins Fichte-Studien her ein gegenüber der Fragment-Vorrede (StA 111,182) umgreifenderer Sinn nahe? Ex-zentrisch besagte dann: aus dem Zentrum des Seins schlechthin heraus und in den Widerstreit von Selbst und Welt geworfen zu sein. Exzentrisch schwebt das Bewußtsein hin und her zwischen zwei Extremen, einerseits das Ich zum Prinzip zu übersteigern, so daß Welt und Natur an ihnen selbst nichtig erscheinen, andererseits die Welt als Absolutes anzuerkennen, so daß das Ich in seiner Beschränktheit nichtig erscheint. So gelesen, zeichnete sich der Weg des zu sich kommenden Bewußtseins als ex-zentrische Bahn ab, die wir alle in unseren Welteinstellungen durchlaufen.

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schon hinter dem erwachten Selbstbewußtsein, aber doch so, daß er als zu wiederholender vor ihm steht. Aber wie? Offenbar nicht als er selbst, wohl aber in seinem Dasein und Bilde. Dazu erklärt der Schlußsatz der Vorrede: „Wir hätten auch keine Ahndung von jenem unendlichen Frieden, von jenem Seyn, im einzigen Sinne des Worts, wir strebten gar nicht, die Natur mit uns zu vereinigen, wir dächten und wir handelten nicht, es wäre überhaupt gar nichts, (für uns) wir wären selbst nichts, (für uns) wenn nicht dennoch jene unendliche Vereinigung, jenes Seyn, im einzigen Sinne des Worts vorhanden wäre. Es ist vorhanden - als Schönheit" (StA 111,236-237). Die Periode dieses Bedingungssatzes läßt sich gewaltlos im Stile einer Fichteschen Deduktion aufschlüsseln: kein Selbstbewußtsein ohne Gegenstand, kein Gegenstand ohne Widerstand, kein Widerstand ohne handelndes Streben, kein Streben ohne ahnend-liebende Erschlossenheit wiederkehrenden Seins und Friedens, keine Ahnung von jenem ungestörten, unendlichen Frieden ohne dessen Dasein im Schönen. Nun können hier Eigenart und Grenze dieses Schönheitsidealismus nicht ausgemessen oder gar bis in die Endfassung des „Hyperion" hinein verfolgt werden. So bleiben die Übernahme der Heraklitischen Formel der Schönheit als das göttliche „ (das Eine in sich selber unterschiedne des Heraklit"; StA 111,81 u.83; vgl. Platon Sympos. 187a) im Athengespräch und der ganze ästhetische Platonismus Hölderlins ebenso beiseite wie der Einschlag des Diotima-Erlebnisses in die philosophischen Abstraktionen und jene Gedankenlinien, die unübersehbar zum „Ältesten Systemprogramm" hinleiten. Aber versucht werden soll, vom Schlüsselsatz der „Vorletzten Vorrede" her die angedeuteten Linien zu dem von Hölderlin schon in Jena geplanten Neuen ästhetischen Humanismus auszuziehen. Auskunft versprechen die Briefe an Schiller vom 4. September 1795 und an Niethammer vom 24. Februar 1796.25 Der Nürtinger Brief an 25

Dabei ist der Kontakt mit Schelling durchaus spürbar. Daß aber, wie der eingehende Kommentar von Ernst Müller, Hölderlin. Studien zur Geschichte seines Geistes, Stuttgart und Berlin 1944,146-166 behauptet, Hölderlins Schiller-Brief Schellings Schrift „Vom Ich" weiterentwickeln will und Gedanken des SchillerBriefes Spuren in Schellings „Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus" hinterlassen, scheint den Gedankenaustausch doch überzubewerten. Dennoch trifft die Vermutung, zu den zwischen beiden verhandelten Streitpunkten gehöre das Verhältnis der intellektuellen Anschauung zum Ästhetischen, wohl zu. Vielleicht ist die These der Schellingschen „Briefe", Kunst sei die stille Hingabe

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Schiller enthält den Keim zu einem System der Ästhetik. Seine Absicht stellt Hölderlin so vor: „Ich suche zu zeigen, daß die unnachläßliche Forderung, die an jedes System gemacht werden muß, die Vereinigung des Subjects und Objects in einem absoluten - Ich oder wie man es nennen will - zwar ästhetisch, in der intellectualen Anschauung, theoretisch aber nur durch eine unendliche Annäherung möglich ist, wie die Annäherung des Quadrats zum Zirkel, und daß, um ein System des Denkens zu realisiren, eine Unsterblichkeit eben so nothwendig ist, als sie es für ein System des Handelns. Ich glaube, dadurch beweisen zu können, in wie ferne die Skeptiker recht haben, und in wie ferne nicht" (StA VI, 181). Hier soll lediglich die Differenz zwischen theoretischer und ästhetisch-intellektualer Anschauung herausgehoben werden. In dieser Differenzierung liegt ein belebendes Element für die Fragestellung Hölderlins, wie sie „Hermokrates an Cephalus" exponiert (StA IV,213). Dieses Fragment - nach Beissner im Frühjahr 1795 als Anfang der Niethammer versprochenen Philosophischen Briefe entstanden - kreist um die Frage, ob wir Sterblichen das Privileg haben, im Streben nach Wissen zur Vollendung zu gelangen. (Diese Frage mag übrigens durch Niethammers Zielsetzung für das Philosophische Journal angeregt sein, die Philosophie als Wissenschaft der letzten Gründe menschlichen Wissens, als Wissenschaftslehre, zu vollenden.) In einem brieflich von Hermokrates, einer Platon-Figur, mitgeteilten Gespräch sprechen zwei Unterredner miteinander; der eine glaubt an ein vollendetes System der Vernunft, der andere zweifelt skeptizistisch daran. Dabei stellt der Systemdenker die alte Meinung zur Disposition, die Annahme einer Vollendung der Wissenschaft, sei es durch einfache Begrenzung, sei es durch Leugnung aller Grenzen, sei ein „scientivischer Quietismus", und der Mensch bedürfe in Denken und Handeln eines unendlichen Fortschreitens. Würde dieser Irrtum durchstrichen, dann könne die Hypothesis einer Systemvollendung in Betracht gezogen werden. Bezeichnenderweise endet das Bruchstück mit der Gleichnis-Frage, „ob denn wirklich die Hyperbel mit ihrer Asymptote vereinigt, ob der Übergang vom" (ebd.)... vermutlich: vom Endlichen zum Unendlichen über eine unendan das Unfaßliche, Ruhe im Arme der Welt - aber nicht die wahre Vereinigung des Widerstreites, sondern nur die andere, rein ästhetische Seite des konsequenten Dogmatismus in seiner stillen Hingabe ans absolute Objekt (SW 1,284), wirklich ein Echo davon. - Vgl. dazu Bernhard Dinkel, Der junge Hegel und die Aufhebung des subjeküven Idealismus, Bonn 21980,239-244.

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liehe Annäherung gemacht werden könne. So eröffnet sich eine Untersuchung, unter welchen Voraussetzungen ein unendlicher Progreß und wie eine Vollendung im Widerstreit von Subjekt und Objekt, Selbst und Welt, Ich und Nicht-Ich zu denken möglich seien. Eben diese Frage skizziert der Brief an Schiller: Wie kann der Forderung nach einem abgeschlossenen System Genüge getan werden? Dabei kommt der Systemgrund als das Absolute selbst, nicht bloß als das Unbedingte, die Freiheit des Ich, in den Blick, gleichgültig, ob man es Seyn schlechthin, Frieden, Hen kai Pan oder im Anklang an Schellingsche Spinoza-Korrekturen absolutes Ich, unbedingte Substanz oder den überpersönlichen Gott nennt (vgl. Schelling an Hegel, 4. Februar 1795). Dieser Ansatz ist wohl ebenso ein Nachhall der Auseinandersetzung mit Fichte wie ein Widerhall der Begegnung mit Schelling in Tübingen zwischen dem 21. Juli und 30. August. Und die in der Schelling-Biographie überlieferte Antwort Hölderlins auf Schellings Klage, er sei noch so weit zurück, wirft ein Schlaglicht auf das Ringen mit Fichte: „Sei Du nur ruhig, du bist grad' so weit als Fichte, ich hab ihn ja gehört" (StA VI,2,771). In welcher Hinsicht Hölderlin über Fichte hinaus will, läßt sich am Primat der ästhetischen bzw. intellektualen Anschauung heraushören. Die Bildung eines Vernunftsystems des Denkens und Handelns kommt einer absoluten Vereinigung unter der aufgegebenen Gleichung Ich = Ich nur approximativ in unendlicher Annäherung nahe. Das entspricht Fichtes Schlußgleichung „Ich soll=Ich werden". Gleichwohl bringt die Einbeziehung des Skeptizismus einen schärferen Akzent mit sich. Während das Fichtesche Denken von unbeirrbarem Pathos unendlichen Vernunftstrebens erfüllt ist, hält Hölderlin - nicht nur in der Versteinerung des Nürtinger „Winters" - das Recht des Skeptikers aufrecht. Theoretisch komme die Arbeit der Vernunft in Theorie und Praxis nicht zu Ende, sie erreiche den Grund von Wahrheit und Erkenntnis nie. Andererseits hat diese Skepsis eine positive Gegenseite. Die gesuchte Vereinigung von Subjekt und Objekt komme „ästhetisch, in der intellectualen Anschauung" zu Gesicht. Diese Formel macht allerdings nicht deutlich, ob die ästhetische Anschauung das sinnlich vor Augen stellt, was in intellektueller Anschauung geahnt wird, oder ob die intellektuelle Anschauung die Idee der Schönheit im Platonischen Sinne vernimmt, so daß sich das Reich des Schönen eröffnet, in welchem die Relation von Subjekt und Objekt und die Auseinandersetzung von Selbst und Welt verlöschen. In jedem Falle behielte der Skeptizismus nicht nur

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recht im Hinblick auf die Theorie, er wäre nötig, um das Wissen einzuschränken und für die ästhetisch-intellektuelle Anschauung Platz zu schaffen, damit das wahre Seyn da zum Erscheinen kommt, wo es sein angestammtes Reich hat, im Schönen. Freilich mag es sein, daß Hölderlin die Verbindungslinien zwischen Seyn und absolutem Ich, Idee und Dasein des Schönen, Theorie, intellektueller und ästhetischer Anschauung noch nicht deutlich genug gezogen hat. So bekennt er ein halbes Jahr später, da die Philosophie wieder fast seine einzige Beschäftigung ist: „Verschiedene Linien verschlingen sich in meinem Kopf, und ich vermag sie nicht zu entwirren" (an Niethammer, StA VI,202). Hölderlin berichtet Niethammer aus Frankfurt über seinen schon in Jena zugesagten Aufsatz. Dieser soll in Briefform erscheinen und „Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" heißen. Unüberhörbar klingt der Bezug auf Schillers im 1. und 2. Bande der „Hören" erschienene Briefe an. Ebenso deutlich ist das Neue: die über die Grenzlinie Kants und Fichtes hinausgehende Prinzipienfrage. Die hat Hölderlin mit Schelling in den im Dezember 1795 fortgesetzten Gesprächen „nicht immer accordirend" (StA VI,203; vgl. VI, 191) - gewiß erörtert. Wahrscheinlich ist auch die Reichweite der intellektualen Anschauung und die Notwendigkeit des ästhetischen Sinnes beredet worden. Der mitgeteilte Aufriß der „Neuen Briefe" lautet: „In den philosophischen Briefen will ich das Prinzip finden, das mir die Trennungen, in denen wir denken und existieren, erklärt, das aber auch vermögend ist, den Widerstreit verschwinden zu machen, den Widerstreit zwischen dem Subject und dem Object, zwischen unserem Selbst und der Welt, ja auch zwischen Vernunft und Offenbarung, - theoretisch, in intellectualer Anschauung, ohne daß unsere praktische Vernunft zu Hilfe kommen müßte. Wir bedürfen dafür ästhetischen Sinn, und ich werde meine philosophischen Briefe ,Neue Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen' nennen" (StA VI,203). Hier kündigt Hölderlin wiederum einen Anlauf an, um das philosophische Epochenproblem zu lösen, nämlich das Prinzip aufzustellen, welches in eins die Trennung und Urteilung von Selbst und Welt - in Verschränkung mit der religiösen Zerteilung von Vernunft und Offenbarung - erklärt und aufhebt. Ausgang ist immer noch die Bestimmung des Menschen durch seine Aufgabe, wie sie die „Vorrede" vorlegt: „Jenen ewigen Widerstreit zwischen unserem Selbst und der Welt zu endigen, den Frieden alles Friedens, der höher ist denn alle Vernunft, den wiederzubringen, uns mit der Natur zu vereinigen zu Einem unend-

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lichen Ganzen, das ist das Ziel all' unseres Strebens" (StA 111,236). Aber diese Bestimmung erfüllt sich nicht im Streben der praktischen Vernunft. Darin sind „Vorrede" und Schiller-Brief einig: „Weder unser Wissen noch unser Handeln gelangt in irgend einer Periode des Daseyns dahin, wo aller Widerstreit aufhört, wo Alles Eins ist" (ebd.). Und solche Abwehr des Primats der praktischen Vernunft kann auch an die Programmnotiz anknüpfen; denn nach „Unheil und Seyn" spricht der Grundsatz der praktischen Vernunft - Fichte zufolge - innerhalb des Widerstreits von Ich und Nicht-Ich und entfaltet sich in Richtung auf eine absolute Vereinigung, die immer nur gesollt, aber niemals vollbracht wird. Von daher ließe sich der terminologische Wandel vom Schillerzum Niethammer-Brief innerhalb der Kontinuität einer Gedankenlinie plausibel machen. Im Schiller-Brief umfaßt das Theoretische ausdrücklich ein System des Denkens und Handelns unter dem Primat willenhaften Strebens, in der Niethammer-Annonce ist von einer „Theorie" des Absoluten ohne Beihilfe der praktischen Vernunft die Rede, und solches Schauen wird mit der intellektuellen Anschauung gleichgesetzt und mit einem ästhetischen Sinn gekoppelt. So zeichnet sich der Weg von „Urtheil und Seyn" über die „Vorrede" zu den „Neuen Briefen" ab: die Klärung einer intellektualen Anschauung als Prinzip von Trennung und Vereinigung, welches zur Beglaubigung den ästhetischen Sinn braucht. So gesehen, gehört die ästhetische Erziehung des Menschen - gegenüber dem „transzendentalen Weg" des Schillerschen ästhetischen Humanismus - in eine neue Deduktionsfolge. Schiller sucht den Antagonismus im Menschen, sofern dieser in Person und Zustand, in Formund Stofftrieb zerteilt ist, unter der Kategorie der harmonischen Wechselwirkung zu befrieden. Es braucht dazu Kultivierung des ästhetischen Sinnes, damit der Mensch im Spiel mit dem Schönen, der „lebenden Gestalt", verbindlich erfährt, daß er inmitten des tragischen Widerstreits der Seele und der Revolution des Notstaates ganz Mensch sein kann. Hölderlin skizziert eine noch umfassendere Konstellation. Hier dreht es sich nicht um den Menschen als gefährdetes Doppelwesen und Bürger zweier Welten, sondern um den Frieden des Seins angesichts des Widerstreits von Geist und Natur, Vernunft und Offenbarung, der versöhnt aus der Welt verschwinden soll. Dafür braucht es ästhetischen Sinn; denn für den urteilenden Begriff, der sich innerhalb der Subjekt-ObjektSpaltung bewegt, ist das Seyn im einzigen Sinne nicht vorhanden. „Es ist vorhanden - als Schönheit; es wartet, um mit Hyperion zu reden, ein neues Reich auf uns, wo die Schönheit Königin ist" (StA 111,237).

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Nun hat Hölderlin - in Homburg und auf der Hyperionstufe Schönheitsspekulation und Vereinigungsphilosophie hinter sich gelassen. Deren Grundkonzeption ändert sich, sofern Trennung, Urteilung und intellectuale Anschauung in das Absolute selbst hineingenommen werden. Darauf wirft ein Grundsatz in „Über den Unterschied der Dichtarten" ein scharfes Licht. „Die in der intellektualen Anschauung vorhandene Einigkeit versinnlichet sich in eben dem Maaße, in welchem sie aus sich herausgehet..., in diesem Streben des Theilbaren Unendlichem nach Trennung, welches sich im Zustande der höchsten Einigkeit alles organischen allen in dieser enthaltenen Theilung mittheilt, in dieser notwendigen Willkür des Zeus liegt eigentlich der ideale Anfang der wirklichen Trennung" (StA IV,269). Hier wird noch einmal das philosophische Grundwort intellektuale Anschauung ins Spiel gebracht. Von ihr wird gesagt, ihre Einheit könne keine andere sein „als jene Einigkeit mit allem was lebt" (StA IV,267). Intellektuale Anschauung nennt ein geistiges Innesein des Hen kai Pan, ein deutliches Sicheinsfühlen mit allem, was lebt, oder das unmittelbare Bewußtsein von Natur und Geist. Aber nun tritt der fortbewegende Gedanke hinzu, dieser über-ichhaften Einheit des absoluten Geistes eigne an ihr selber das Streben nach Trennung. Im ursprünglichen Einen und Ganzen steckt der ideale Anfang der wirklichen Trennung, die auf ein Zusichkommen des Ganzen im Durchgang durch die Entzweiung aus ist. Erst in der Zerteiltheit nämlich wird das Ganze ein Sichfühlen, das sich in den Teilen fühlt, wobei der eine Teil in sich selbst und in dem anderen fühlbar wird. Die uranfängliche Einigkeit ist somit einer Notwendigkeit zur Selbstzerspaltung unterworfen. Ihr entspricht eine Entscheidung und Willkür, die frei heißt, weil sie der wesensbestimmten Notwendigkeit folgt. Somit läßt sich ein grundsätzlicher Wandel konstatieren: Die Trennung, Urteilung, SichEntgegensetzung ist nicht Urhandlung des Ich, sondern Prozeß des Absoluten. Die Urteilung ist der Prozeß der Selbstoffenbarung und dieser das Sein und Leben des Ganzen selbst. Das bringt den transzendental gestützten ästhetischen Platonismus in die Krise. Hölderlins Schönheitsdenken geht daran zugrunde. Werden eben Urteilung und Trennung ins göttliche Sein aufgenommen, dann ruht dieses nicht mehr in ewiger Schönheit in sich, erhaben über Streit und Entgegensetzung von Selbst und Welt. Der Gedanke des Selbstentfaltungsprozesses löst die Idee des mangellosen, sich selbst genügenden Göttlichen ab. Die intellektual angeschaute, prozessuale Triplizität von ursprünglicher Einheit des Einen und Ganzen, notwendigem Herausge-

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hen in die Teile und Zurückkehren in ein neues Ganzes sieht aus wie ein Vorspiel der großmächtigen Hegeischen Dialektik.26 Indessen ist doch auf den Ort dieser Erörterung zu achten. Sie gehört in die Poetologie und Tragödienlehre. Der Begriff einer intellektualen Anschauung geht in eine poetologische Gattungsbestimmung ein: Das tragische Gedicht sei „die Metapher einer intellektualen Anschauung" (StA IV,266). Die dem Scheine und ihrer Kunstform nach heroische Tragödie bringt in ihrem Wechsel der Töne die Einheit intellektualer Anschauung in ihrem tragisch-tödlichen Prozeß zur Darstellung. Und in solchen Zusammenhängen von poetischem Mythos und spezifischer Gedichtsform spricht die Wendung von der „nothwendigen Willkür des Zeus".27 Der ideale Ursprung der Trennung kommt nicht dialektisch als Dirimtion des göttlichen Begriffs zur Sprache, sondern in mythischer Rede vom Zeus als Gott der Zeit (Wolfgang Binder) oder als dem der Zeit vorausgehenden Höchsten (Lawrence Ryan). Es geht um Grund und Ton des tragischen Gedichtes, nicht um Onto-Theo-Logik. Die philosophisch relevante Frage liegt dem zuvor: Wie steht es angesichts der Scheidung von urteilsbedingter Ich-Identität und Seinseinheit in intellektualer Anschauung mit deren Zusammenhang? Es ist die Grundfrage des Transzendentalphilosophen, der vor Augen hat, daß das Ich von sich her auf ein Absolutes jenseits des zertrennten Bewußtseins verweist. Gibt es einen Transzensus vom Ich zum „Sein im einzigen Sinne des Wortes", der die Regel transzendentaler Vorsicht nicht verletzt?

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Darauf zielen die umfassenden und gelehrten Studien von Christoph Jamme, ,Ein ungelehrtes Buch'. Die philosophische Gemeinschaft zwischen Hölderlin und Hegel in Frankfurt 1797/1800. HegelSt. Beiheft 23(1983). Vgl. auch den Forschungsbericht über die Wirkung von Hölderlins Vereinigungsphilosophie auf den jungen Hegel: Ders., ,Ungelehrte' und gelehrte Bücher. Literaturbericht über das Verhältnis von Hegel und Hölderlin, in: ZphF 35(1981)628-645. Zur Homburger Poetologie vgl. Meta Corssen, Der Wechsel der Töne in Hölderlins Lyrik, in: HJb 5(1951)19-49. - Zur Phrase von der notwendigen Willkür des Zeus vgl. Ulrich Gaier, Der gesetzliche Kalkül. Hölderlins Dichtungslehre. Tübingen 1962,152-161. - Und immer noch Lawrence Ryan, Hölderlins Lehre vom Wechsel der Töne. Stuttgart 1960, 18-30. - Zuletzt Friedrich Strack, ,Freie Wahl' oder .Willkür des Zeus'. Hölderlins Weg vom Schönen zum Tragischen, in: HJb 29(1975-77)212-243.

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3.3 Der Überstieg zum Absoluten. Selbstverleugnung des Ich und absolute Abstraktion in Sinclairs „Philosophischen Raisonnements" und Fichtes Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 Wie also ergeht es dem Ich beim Übergang und Eingehen in die absolute Einigkeit? Solange das Ich sich setzt und durchsetzt, kommen Trennung, Entgegensetzung, Negation, Schranke, Widerstand, »Exzentrizität' im Zeitalter der Seinsverlorenheit zum Zuge. Frieden gibt es erst wieder, wenn das Ich seine Negationen negiert. Dabei fordert nicht nur die Liebe, daß die Natur nicht mehr unter ein Handeln des Ich kommt, welches „die Welt um uns zu einer Wüste macht" (StA 111,190). Vielmehr gebietet die Maxime eines transzendentalen Transzensus, daß das Ich sich selbst als Erstes Prinzip überhaupt absetzt, damit das unzertrennte Absolute sich zeigt. „Nur insofern als das Ich sich selbst verläugnet, die Reflection als unzureichend anerkennt, hat es das Recht etwas absolut zu setzen" (PhR A 12,250). Dieses Gesetz einschränkender Anerkennung findet sich in Isaak von Sinclairs „Philosophischen Raisonnements".28 Dieses Konvolut von Konzeptblättern war in der Varnhagenschen Sammlung der Preußischen Staatsbibliothek aufbewahrt und von Werner Kirchner bei seinen Sinclair-Forschungen abgeschrieben; es galt seit der Auslagerung im 2. Weltkrieg für verschollen, war aber in der Jagelionischen Bibliothek Krakau verwahrt worden. Die frühesten grundlegenden Manuskripte lassen sich in die zweite Hälfte 1795 datieren, also lange vor die hohe Zeit der Gespräche im »Frankfurter Kreis' (zwischen Hölderlin, Sinclair, Zwilling und Hegel), die in den ersten Monaten 1797 begannen. Deren 28

Das Verdienst, die eigenartige Bedeutung des Sinclairschen Systementwurfs im Umkreise Hölderlins entdeckt und maßgebend skizziert zu haben, gebührt Dieter Henrich, Hölderlin über Urteil und Sein, a.a.O., 84-91. - Als Standardwerk liegt jetzt vor: Hannelore Hegel, Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Frankfurt a.M. 1971. Darin wird die Einsicht gefördert, daß sich Sinclairs Fichte-Kritik - früher als jede andere - auf einen Punkt richtet, von dem aus Fichte selber zur gleichen Einsicht vordrang, nämlich daß die Absolutheit des Ich aufgehoben und aus einem durch Reflexion unbegreifbaren Grunde verstanden werden muß. Und es werden auch die große Bedeutung von „Urteil und Sein" und das Gewicht der Auseinandersetzung Hölderlins mit Fichte angemessen in Anschlag gebracht. Freilich steht für die Entstehungsgeschichte der idealistischen Philosophie - wie überall - der Weg Hegels von Bern nach Frankfurt und Jena und nirgends der Weg Fichtes von Zürich nach Jena und Berlin im Blick.

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Hauptthesen hat der knapp zwanzigjährige Sinclair unter der geistigen Anleitung Hölderlins formuliert. Begegnet ist der Magister Hölderlin dem fünf Jahre Jüngeren im Jenaer Fichte-Semester. Beide haben von der zweiten Aprilhälfte bis Ende Mai gemeinsam im Gartenhaus am „Schillingschen Brückentor" gewohnt (vgl. Briefe Nr. 98, 99, 101). Das ist zeitlich die Entstehungsperiode von „Urtheil und Seyn". Und der philosophisch unfertige Rechtsstudent Sinclair ist seinem „strahlenden, liebenswürdigen Urbild" (Sinclair an seinen ,Mentor' Franz Wilhelm Jung, 26. März 1795) jedenfalls in Fragen der philosophischen Ursprungsproblematik gefolgt. Die Ende 1795 notierten und wohl noch 1796 weiter ausgearbeiteten Gedanken sind zweifellos durch den ferneren Gedankenaustausch mit Hölderlin im verlorenen, offenbar intensiven Briefwechsel und anläßlich der häufigen Zusammenkünfte in Frankfurt und Homburg weiter gefördert worden. Diese biographischen Verflechtungen mögen es erlauben, Sinclairs Ansichten über einen transzendentalen Transzensus des Ich als Hölderlinsches Gedankengut zu nehmen. Und so dürfte die Leitthese der „Philosophischen Raisonnements", der trennenden Reflexion des Ich liege das Eine Sein voraus, das sich vom „ästhetischen" Gesichtspunkte aus zeige, in die Diskussion des Hölderlin-Kreises eingegangen sein: als Weg weisende Auseinandersetzung mit Fichte.29 Die Frage ist: Wie kommt das Ich zum Absoluten? Genauer: Wie gelangt das Ich zu einem ästhetisch-intellektualen Anschauungspunkt, der das Dasein des Absoluten sehen läßt? Der Bescheid lautet: durch Selbst29

In den Vordergrund der Forschung rückt die Bedeutung, welche die Auseinandersetzung des Hölderlin-Kreises mit Fichte für die Entwicklung von Hegels Denken in Frankfurt hatte. Sie ist kontrovers. Dieter Henrich, Hegel und Hölderlin, in: Hegel im Kontext. Frankfurt a.M. 1967,9-40 sieht in Hölderlins Überwindung Fichtes den wichtigsten und letzten prägenden Anstoß für Hegel als Philosophen; letztlich ersetzt Hegels Grundwort „Geist" Hölderlins Rede vom „Seyn": Das Eine und Ganze liege nicht, wie bei Hölderlin, als Sein oder intellektuale Anschauung voraus, das Ganze sei der entwickelte Begriff der Relation selber. Sein bedeute nicht das ursprünglich Einige, aus dem Alles komme, nach Hegelscher Logik sei es anfangs das schlechthin unbestimmte Unmittelbare. - Dagegen bringt Otto Pöggeler, Sinclair - Hölderlin - Hegel, in: HegelSt 8(1973)9-53 gleichgewichtig den Versuch Hölderlins ins Spiel, „Schönheit" von der griechischen Tragödie her als ein tragisches Geschehen zu denken. Einverständnis aber herrscht darin, daß die Frage, wie Hölderlin, Sinclair, Zwilling und Hegel miteinander verbunden waren, ein Forschungsfeld vorzeichnet, in welchem die Genesis des Deutschen Idealismus neu zur Erörterung gestellt ist.

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Verleugnung der trennenden, urteilenden Ichheit angesichts der Forderung unzertrennter Einheit. „Wie gelangen wir zum ästhetischen Gesichtspunkt? Dadurch daß es die Federung der Einigkeit ist die uns zur Selbstverläugnung bringt" (PhR A 13,251). Das die Unterwerfung des Nicht-Ich betreibende Ich (PhR B 37,274 u. 249) muß seinen Stolz beugen und von sich als Seins- und Erscheinungsgrund absehen. Sich verleugnen besagt demnach, von der sich vordrängenden und immer wieder einstellenden Reflexion als zureichender Form für das Setzen des Seins Abstand nehmen, da die Bedeutung von Sein und Einheit nicht darin aufgeht, in mir und von mir gesetzt und vereinigt zu sein. „Was aber außer der Reflection ist", schreibt Sinclair auf, „das kann ich nur (wissen) durch Negation meines Wissens, dadurch daß ich zeige, daß die Schuld am Wissen liege, daß ich es nicht wissen könne und dadurch daß ich die Form des Wissens entferne" (PhR A 4,247). Mithin sind alle Modi und Relationen des Wissens methodisch abzuziehen. Im „Frieden der negirten Reflection" (PhR A 19,252) hebt sich der Widerspruch zwischen dem anfänglichen Frieden (bei Sinclair: Athesis) und der Urteilung (Thesis) in einer Aisthesis auf. Das denkt Fichtesche Grundsätze weiter, dem Anscheine nach in Konfrontation, der Sache nach in Einklang mit Fichteschen Tendenzen. Es geht um die Durchdringung des sich selber setzenden Ich bis an die Grenze, an welcher das Absolute (ästhetisch) einleuchtet. „Hätte F (ichte) also über die Befugniß Form und Materie zu unterscheiden nachgedacht, er wäre auf ein höheres Setzen als das Setzen für ein Ich gekommen, auf eine A ( ) , auf eine Aesthetik" (PhR A 24,254). Abermals fällt der philosophische Blick auf Form und Materie des obersten Grundsatzes „Das Ich setzt sich schlechthin selbst". Form meint dabei die ursprüngliche Handlungsweise der Trennung und Urteilung, Materie den „Inhalt", nämlich das getrennte Subjekt-Ich und Objekt-Ich. Woher aber stammt das Recht, Form und Materie zu unterscheiden? Doch wohl aus einer höheren Setzung, welche ein noch völlig unzertrenntes Eines als seiend vorstellt. Also ist der Thesis des urteilenden Ich eine -Thesis als Bedingung seiner Möglichkeit vorauszusetzen: Sein im Zustande des Friedens. Und dieses Sein kommt vom ästhetischen Gesichtspunkte aus zur Anschauung. Dabei mag die griechische Formel solcher Aisthesis und Ästhetik eben dreierlei komponieren: die Athesis (A), die Thesis (thesis) und den Akt der Selbstverleugnung im Eingehen auf sich selbst (eis heauton). Ergänzt das nicht Hölderlins Vorrede zur .Vorletzten Fassung' durch

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die Methodik einer transzendentalen Grundoperation? Die einstige Einheit und unzerteilte Ganzheit, der Friede, die Athesis und schöne Mythe der Kindheit (vgl. PhR B 2,27 - B 26,272), ist durch die Ur-Teilung des trennenden Ich (vgl. PhR B 20,271 u. ö.) zerstört. Sie stellt sich durch Abstraktion von aller Relation und Entgegensetzung wieder her. „Nur in völliger Abstraction von aller Reflection allem Entgegensezen ist Friede" (PhR A 52,265). So eröffnet sich für Sinclair/Hölderlin ein transzendentaler, kritisch besonnener Aufstieg zum Absoluten. „Eine Philosophie kann über das Bewustsein hinausgehen ohne transcendent zu sein, sie muß nur negierend verfahren" (PhR A 11,250). „Diese selbstverläugnende Reflection wie das selbstverläugnende Ich wollen wir das transcendentale nennen" (PhR A 30,256). Hegel hat Sinclair, seinen Freund im „Bund der Geister", noch 1810 - nicht zuletzt wegen der Annahme des Progresses ins Unendliche - für einen „hartnäckigen Fichteaner" gehalten (Briefe von und an Hegel, a.a.O. I,332).30 Was bei Sinclair/Hölderlin ein schnell wieder verlöschender Geistesblitz war, hat in Fichtes Wissenschaftslehre 1804-11 systematische Gestalt und methodische Gedrungenheit. Dabei ist schwerlich an direkte oder indirekte Einflüsse zu denken. Es handelt sich um parallele Vor

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Das Etikett des platten Fichteaners haftet Sinclair unter den Zeitgenossen an. Schelling berichtet Hegel aus Würzburg, 14. Juli 1804: „Vor ungefähr vier Wochen überraschte mich Sinclair, es kam mir vor, daß mit den schnell zusammengerafften, noch Fichteschen Ideen er sich dann übrigens so ziemlich in die Plattheit begeben hat" (FiG, 111,257). Jahre später, 1810 wird Sinclair gleichsam im Gegenzug Schelling der Scharlatanerie und eines läppischen Enthusiasmus bezichtigen. Vgl. Briefe von und an Hegel, 1,82 u. 321. - Anfang Oktober 1806 schreibt Clemens Brentano aus Heidelberg an Arnim: „Isaak von Sinclair ist ein Fichtesches Produkt, sonst ein unangenehmer, ungeduldiger Mensch" (FiG, 111,438). - Daß Sinclair mit Fichte in Jena bekannt war, belegt Fichtes Brief an Johann Gottfried Ebel vom 16. Juni 1794: „Sinclair habe ich ohnlängst gesprochen. Er fragte nach Ihnen u. sagte mir, daß Sie mit dieser Uebersetzung beschäftigt wären" (BrW; GA 111,2,132). Dabei ging es um die Schriften von Sieyes, die Ebel sammelte, übersetzte und durch Fichte bei Gabler publizieren wollte. Ludwig Strauß berichtet weiter: „Mit Franz Wilhelm Jung und Isaak von Sinclair im nahen Homburg, mit Dettmar Basse und Hölderlin in Frankfurt hatte er die leidenschaftlichen Hoffnungen auf die Segnungen der französischen Revolution, die schmerzliche Enttäuschung an ihrem Verlauf, die Bereitschaft, immer wieder neu zu glauben und zu hoffen, geteilt"; Aus dem Nachlaß Johann Gottfried Ebels, in: Euphorion 32,353393.

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stoße innerhalb desselben Grundgeschehens. Der Deutsche Idealismus bedeutet eben nicht nur Vermittlung, Versöhnung, dialektische Selbstentzweiung und allmächtige Aufhebung des göttlichen Begriffs, sondern ebenso wesenhaft und anfänglich Selbstdurchdringung, Selbstbegrenzung, Selbstentsetzung und Versinken des endlichen Ich in den unbegreiflichen Gott. Der Anfang solchen Weges zum Absoluten kann in Schellings frühen philosophischen Briefen" gesehen werden. Dort ist ein konsequenter Realismus rehabilitiert; dessen Bestimmung sei nämlich nicht Kampf, sondern Unterwerfung. „Sie geht auf... freiwilligen Untergang, stille Hingabe meiner selbst ans absolute Object" (1. Brief, SW 1,208). Und das geschieht, indem die Schranken meiner Freiheit verengt und meine absolute Selbsttätigkeit vernichtet werden. So findet der Mensch in unendlicher Passivität Ruhe in der Liebe des Unendlichen (vgl. 7. Brief). Fichtes Grundsatz der Religion wird dafür einen analogen Ausdruck finden: „So lange der Mensch noch irgend etwas selbst zu seyn begehrt, kommt Gott nicht zu ihm... Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott" (AsL, 8. Vortr., SW V,518). Und solche Vollendung des Idealismus endet, wie gesagt, mit Schellings Scheidung von negativer und positiver Philosophie im Medium der sich selbst negierenden Vernunft; die entsetzte Vernunft setzt Gott als das absolute Urständige aus sich heraus und sich zuvor.31 Eine eigenartige Mittelstellung nimmt dabei die zweite Fassung der Wissenschaftslehre von 1804 ein. Diese benutzt gerade auch den bei Schelling rehabilitierten Realismus als Leiter, um zum Absoluten aufzusteigen, und sie vollzieht eine kritisch besonnene Entsetzung des Ich. Ihre drei Eingangsthesen sind darum zu wiederholen, und zwar im Vorblick auf den Vollzug einer absoluten Abstraktion.32 1. Das Selbstbewußtsein kann nur dann aus seiner Endlichkeit heraus, 31

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Bekanntlich hat das umwälzende Werk von Walter Schulz, Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Pfullingen 21975 dies dargelegt: Selbstbegrenzung, Nichtvermittlung und Versöhnung sei „das Grundgeschehen in der Epoche des Deutschen Idealismus" (329). Die einzelnen Reflexionsschritte für die Genesis des einleuchtenden Absoluten in einer Wahrheits- und Vernunftlehre hat Vf. dargelegt in: Fichte. Sein und Reflexion. Teil III: Wahrheit und Erscheinung. Die Vernichtung der Reflexion und das Absolute. Berlin 1970,301-417.

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wenn es von seinem eigenen endlichen Wesen her auf ein Absolutes über sich verweist. Nun hat das denkende Wissen sein Wesen im Begriff mit der Form des „Durch" oder „Durcheinander"; in dieser Form gehen alle Gegensätze von Subjekt und Objekt, von hingeschautem Ding (Bild) und Bewußtsein des Angeschauten (Bild des Bildes) in lebendigem Werden als ununterschiedene zusammen. Sie gehen ineinander über und in der Einheit des Selbstbewußtseins auf. Die unaufhörliche Bewegung des Übergehens in einem schwebenden Hin und Her macht hierbei das Leben, die Existenz und Agilität des Begriffs aus. 2. Kritisches Philosophieren muß sich auf das Moment unserer menschlichen Endlichkeit besinnen und darum Begriff und Leben scheiden. Dem Begriff eignet von sich her die Unterschiedenheit, nicht aber das Leben. Er setzt vielmehr ein ursprüngliches Leben als Grund seiner Aktuosität und Freiheit voraus. Dieser Quell von Lebendigkeit und geistigem Licht ist das Absolute. Und soll das Absolute als Unbegreifliches von sich her einleuchten, muß der Begriff sich setzen und vernichten. 3. Dieser Transzensus und das Gesetz der Selbstvernichtung sind ihrer Entstehung und Genesis im Bewußtsein nach methodisch zu reflektieren. Dabei muß eine doppelte Abstraktion vollzogen werden: a) von allem idealistischen Rückbezug auf die Formen der Gedachtheit, der Nachkonstruktion und des Fürunsseins aus der Energie des Ich, b) von aller realistischen Hingabe an die Selbstkonstruktion einer Urtätigkeit „an sich", d.h. nicht-für-uns. Nur in Abstraktion von jeglicher Bewußtseinsrelation leuchtet das Sein unter dem Namen Leben, Urtätigkeit, Licht, Gott ein. Die versuchte Synopse der .Philosophischen Raisonnements" und der Wissenschaftslehre 1804 ist ausschnitthaft. Sie möchte lediglich einen Gleichlauf von Grundgedanken sichtbar machen und die Hypothese stützen, Hölderlins Scheidung des obersten Grundsatzes Ich=Ich vom Seyn im einzigen Sinne des Worts ziele auf eine Selbstbegrenzung des Ich ab, welche die Unterstellung eines Absoluten nicht bloß zuläßt, sondern fordert. Dabei dokumentiert der Auszug aus Sinclairs Entwürfen drei bedeutsame Parallelen zum späteren Fichte. 1. Der Transzensus geschieht auf dem Wege einer Selbstverleugnung des Ich durch Negation der Reflexion oder Wissensform selbstbewußten Wissens; die Selbstverleugnung oder Selbstvernichtung des

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Ich hat die Wissenschaftslehre als Grundgesetz allen Wissens entfaltet. 2. Dieses Verfahren, zu einer höheren als der bloß objektiven Bedeutung von Sein zu kommen, versteht sich selbst als transzendental; es meidet ein transzendentes Verfahren, das unkritisch die Grenzen unserer Erkenntnis überfliegt, gerade weil es sich auf die Grenze zwischen Begriff und Leben, Formen des Sichverstehens und urrealem Licht, trennend-urteilendem Bewußtsein und innig geeintem Sein besinnt. Das zeichnet die spätere Wissenschaftslehre aus. Sie gründet alles, was ist, ins Leben und absolute Sein, ohne den transzendentalen Standpunkt im Disjunktions- und Einigungsfundament des Ich (qua Bild und Dasein des Absoluten) aufzugeben. Ohne transzendentale Durchdringung gibt es keine adäquate Phänomenologie als Lehre vom Erscheinen des in den Formen absoluten Wissens erscheinenden Seins. Fichtes Wissenschaftslehre ist so die einzige Vollendungsgestalt des Deutschen Idealismus, die bei kritischer Besonnenheit bleibt. 3. Und das Verfahren des Aufstiegs zum Gesichtspunkt des Seins trägt bei Sinclair/Hölderlin und Fichte denselben Namen: absolute Abstraktion. Das scheint merkwürdig, ist aber konsequent. Dabei geht es nicht wie bei der logischen Abstraktion im Bilden empirischer Begriffe darum, von Einzelheiten mannigfaltiger Einzelanblicke im Hinblick auf das Vielgültig-Allgemeine abzusehen. Und es handelt sich auch nicht um jene Abstraktion, welche den Gegensatz der beiden philosophischen Systembildungen hervortreibt; diese einseitig philosophische Abstraktion sieht im Hinblick auf das Vorliegende, das vorgestellte Ding, von einem der beiden Grundmomente ab, um auf das andere als Prinzip hinzusehen: entweder vom Vorgestelltsein, um das Ding an sich als Anfangsgrund zu behalten, oder vom Ding an sich, um so auf das Vorgestelltsein als Anfang und Grund zu reflektieren. Eine absolute Abstraktion dagegen verlangt, von beiden Gliedern der Relation und mithin auch vom Gegensatz eines dogmatischen Realismus und Idealismus zu abstrahieren. Von der gesamten Relation abstrahierend, geht dem Wissen die Evidenz einer ununterschiedenen Einheit auf. Das hat Sinclair mit Hölderlin formelhaft ebenso ausgedrückt: Nur in völliger Abstraktion von aller Relation kehren Frieden und Sein wieder ein. Wie um solchen transzendentalen Transzensus im „Bunde der Geister" gedanklich gerungen wurde, spiegelt der erstmals von Ludwig

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Strauß bekanntgemachte Systementwurf von Jacob Zwilling „Über das Alles" wider.33 Er ist wohl kurz nach Zwillings Briefentwürfen vom April 1796 (jedenfalls vor Hegels „Phänomenologie des Geistes") anzusetzen und kann als kritische Auseinandersetzung mit Hölderlin/Sinclair gelesen werden. Leider sind die Briefkonzepte an einen Jenenser Professor vom 26. April 1796, welche - nach Strauß - gegen Fichtes absolutes Ich im Namen der Grundbegriffe „Beziehung" und „Ebenmaß" polemisieren, im Urtext bisher nicht gefunden. In jedem Falle ist auch hier Fichtescher Grund und Boden. So eigenwillig das Entwurfsmuster dieses „kleinen Systems" auch ist, so ungebrochen bleiben zwei Gemeinsamkeiten mit Sinclair: Der Bund der Geister hat Hölderlin zum Zentralgestirn, und die eigenen Skizzen führen Fichtesche Grundsätze unter der Leitlinie weiter, das Prinzip des Ich abzusetzen, um die Einheitsund Ursprungsverhältnisse zwischen dem anfänglichen Sein schlechthin und den Trennungen des Subjekts in Betracht zu ziehen.34 Hier soll le33

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Zum Bund der Geister, dessen Blütezeit Ludwig Strauß im Frühjahr 1797 vermutet, vgl. die Briefe Sinclairs an Hegel vorn 16. August 1810, 5. Februar 1812, 12. Oktober 1812; in ihnen gedenkt Sinclair „der Zeiten des Bundes unserer Geister" „mit Hölderlin und Zwilling". Wahrscheinlich sind Zwilling und Hölderlin schon 1795 in Jena über Sinclair miteinander bekannt geworden; Jacob Zwilling und sein Nachlaß, in: Euphorien 29(1928)368-396. - Vgl. Jacob Zwillings Nachlaß - Eine Rekonstruktion. Mit Beiträgen zur Geschichte des spekulativen Denkens. Herausgegeben und erläutert von Dieter Henrich und Christoph Jamme, in: Hegel-St, Beiheft 28. - Selbstanzeige in: HJb 24(1984/85)371-374. Darin heißt es: Der Text „Über das Alles" begründe die Gleichursprünglichkeit von Einheit und Vielheit, Beziehung und Nichtbeziehung, Verbindung und Entgegensetzung, womit er eine Einsicht vorwegnehme, die Hegel erst am Ende seiner Frankfurter Zeit, im sog. „Systemfragment von 1800" als die „Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung" formuliert habe, was unmittelbar zu seiner späteren Definition des Absoluten als Identität der Identität und Nichtidentität führe (373). - So verblüffend der Gleichlaut der Formulierungen auch ist, die Frage bleibt offen, ob sie nicht gänzlich Verschiedenes bedeuten: für Hegel die Beziehungsstruktur des Absoluten, für Zwilling den ermöglichenden Zusammenhang endlichen Bewußtseins, sofern dieses auf der wechselseitigen Bedingung unendlicher Unterscheidung (durch Reflexion) und stetiger Aneinanderreihung der Gedankenreihen (durch Identität stiftende Imagination qua Gedächtnis) beruht. Dieter Henrich hat überlegen den Problemhorizont des „Homburger Denkens" abgesteckt: als Spannungsfeld zwischen metaphysischem Prinzip und ontologischer Begriffsform, zwischen Seinsphilosophie und Subjekttheorie, zwischen Ursprungsphilosophie und Identitätssystem der Allheitstheorie; vgl. Jacob Zwillings Nachlaß. Gedanken, Nachrichten und Dokumente aus Anlaß seines Verlustes, in:

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diglich das Problem der absoluten Abstraktion weiter verfolgt werden. Eine absolute Abstraktion bahnt nach Jacob Zwilling lediglich einen Irrweg zum Absoluten. Sie transzendiert das Selbstbewußtsein als Idee, welche die Reflexion überspringt, „oder, wie man es zu nennen pflegt, als eine Abstraktion" (Über das Alles, Nachlaß in Rekonstruktion,64). „Die Methode der Abstraktion führt dazu, auf eine negative Weise zur Idee des Absoluten" zu gelangen (ebd.), indem sie das Gleichgewicht in der Urkorrelation (der endlich-zeitlichen Bewußtseinsreihe) von Trennung und Vereinigung negiert, und zwar auf zwei mögliche Weisen: Entweder sieht sie von der gleichgewichtigen Trennung ab, um so die Vereinigung als „prädominierend" zu setzen und zum Absoluten zu erheben; aber so findet sich alle Bestimmung, die Unterscheidung durch Abtrennung, zugunsten einer bloß formalen Unendlichkeit und bestimmungslosen Einheit aufgehoben. Oder die Abstraktion negiert die gleichgewichtige Trennung und unterstellt die Vereinigung als Absolutes; dagegen aber erhebt sich, da Trennung Vereinigtes, Beziehung Nicht-Beziehung braucht, die Vereinigung. Und so streiten statt zweier Absoluta zwei Korrelat!va miteinander. Die Folgerung lautet, „daß es absolut nichts Absolutes giebt oder daß die Auf-einander-Beziehung selbsten absolut wäre" (a.a.O.,65). Es gibt nichts Absolutes. Heißt absolut, losgelöst zu sein von aller Relation, dann hebt sich der Gedanke auf; das Absolute, als Nicht-Beziehung gedacht, bezieht sich auf den Gedanken der Beziehung, so wie der Gedanke der Beziehung den der Nichtbeziehung zum Korrelat hat. Recht bedacht, geht der Anfang des „Alles" in die Kategorie der Beziehung als Wechselwirkung von Beziehung (in der Form der Trennung) und Nichtbeziehung (mit der Materie unendlicher Einheit oder des vollen Ganzen) ein. Nun ist Zwillings Relationstheorie in „Über das Alles" auf die darin vorgezeichneten Möglichkeiten untersucht worden, die klar machen, wie der von Fichte losgekommene idealistische Monismus in die RichChristoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.), Homburg v.d.Höhe in der Deutschen Geistesgeschichte. Studien zum Freundeskreis um Hegel und Hölderlin. Stuttgart 1981, 245-266. - Eine speziellere Frage wäre, ob damit, daß die Rede vom Sein und die Auffassung der Kategorien nicht mehr an die synthetischen Handlungen apriori des Ich gebunden sind, schon Hegels Weg zwingend wird, die Kategorien (Realität, Negation, Limitation - Identität, Gegensatz) begrifflich spekulativ zu entfalten.

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tung gehen konnte, deren Zielpunkte durch Hegels Wissenschaft der Logik besetzt worden ist.35 Indessen, vielleicht lohnt es sich auch, vorher den Weg zu gehen, den Fichtes Wissenschaftslehre selber an diesem Kreuzungspunkte eingeschlagen hat. Auf der Höhe der Fichteschen absoluten Abstraktion lautet diejenige Frage, welche zum Satz vom Sein und ins Aufgabenfeld einer kritisch-besonnenen Erscheinungslehre des Absoluten weiterführt: „Nach Aufgabe der absoluten Relation, die selber noch am ursprünglichen Ansich, das auf ein Nichtansich hinwies, sich zeigt, blieb uns Nichts übrig, als das reine bloße Sein, wobei unsere objektivierende Intuition, der Maxime zufolge, als ungültig abgewiesen werden mußte. - Was ist nun in dieser Abstraktion von der Relation dieses reine Sein?" (WL 1804-11, 15. Vortr., GA 11,8,228).

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Vgl. Henrich, Homburg v.d.H., a.a.O., 255. - Ders., HegelSt, Beiheft 28, Vorwort, a.a.O. 3-7. Ebenso zweifelhaft wie die These, daß durch Zwilling Denkmotive frei werden, die auf Hegels philosophischem Weg entscheidende Bedeutung gewonnen haben, bleibt mir der Gedankengang, wonach „Über das Alles" aus einem aus Hölderlins „Kleinem System" entspringenden logischen Zwang resultiert, nämlich das Sein schlechthin (den Initialgrund des Systems) schließlich nurmehr als intern wirkenden Einheitsgrund zu denken. Eindrucksvoll und aufregend bleiben Henrichs Forschungen allemal. Sie zeigen die Lebendigkeit spekulativer Experimentierfreude, die von Jena aus im Kreise Hölderlins rege war. - Ein ähnliches Bild ergeben übrigens die Fichte-Studien des Novalis, vgl. Nr. 454: „Nichts in der Welt ist blos\ das Sein drückt nicht Identität aus... Nur das All ist absolut"; Schriften II, 247).

EXKURS I Hölderlins Wort vom Angesicht des unbekannten Gottes Unter den hymnischen Entwürfen Hölderlins findet sich ein Bruchstück, das fragt: Was ist Gott? Es ist zeitlich (von Beissner) lediglich durch einen terminus ante quern festgelegt: früher als das Jahr 1825. Stil und Inhalt zufolge muß man es wohl in die Nähe zu den großen Hymnenentwürfen „Griechenland", also ans Ende des Spätwerkes um 1805, rücken. Gehört es schon in die Zeit der Umnachtung, dann bezeugt es nicht einen sprachlichen und gedanklichen Zerfall, die Selbstentleibung des Worts (Michel) oder den erstickten rufenden Mund des Verkünders (Hellingrath), sondern eher plötzliche Hellsicht: nachklingende Zusammenschau einer letzten „Theologie". Was ist Gott? unbekannt, dennoch Voll Eigenschaften ist das Angesicht Des Himmels von ihm, die Blize nemlich Der Zorn sind eines Gottes. Je mehr ist eins Unsichtbar, schiket es sich in Fremdes. Aber der Donner Der Ruhm ist Gottes. (StA 11,210) Das Fragment hebt an mit der Schulfrage nach der essentia Dei. Aber in Frage kommt nicht mehr der Gott der Philosophen, etwa die in Eigenschaften und Attributen sich auswirkende All-Substanz Spinozas, der Gott der Vernunft, den der Tübinger Stiftler - unter Preisgabe von Jacobis persönlichem Gott - glaubensbedrohend vor sich sah. Befragt aber werden auch nicht die Götter Griechenlands, seien es die chthonischen oder olympischen Gottheiten, und selbst nicht der Gott der Propheten oder des Christentums. Die Wasfrage zielt auf das wesenhafte Sein, Werden und Erkennbarsein der Gottheit überhaupt. Die Antwort ist zweiseitig gefügt, in ein Zwar-dennoch. Die eine Seite des Bescheides erklärt einsilbig: Unbekannt sei Gott. Das wieder-

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um spielt nun nicht etwa auf die Rede des Paulus vom unbekannten Gott vor dem Areopag an; denn Paulus spricht vom noch unbekannten, d.i. noch nicht geglaubten Gott. Hölderlins Spruch dagegen legt fest: Der Gott bleibt verborgen an ihm selbst. Und diese Auskunft einer negativen Theologie läßt sich begründen. In der Einleitung zur PindarÜbersetzung „Das Höchste"36 heißt es: „Der Mensch, als Erkennender, muß auch verschiedene Welten unterscheiden, weil Erkenntnis nur durch Entgegensezung möglich ist. Deswegen ist das Unmittelbare, streng genommen, für die Sterblichen unmöglich" (StA V,285). Das wiederholt im Grunde das älteste Argument aus dem Umkreise der Fichte-Diskussion. Erkenntnis auf dem Stande des Selbstbewußtseins braucht die Unterscheidung und bringt die Entgegensetzung mit sich. Ein Wissen ohne Unterscheidung (von Subjekt und Objekt, sinnlicher und übersinnlicher Welt, griechisch: zwischen Sterblichen und Unsterblichen) wäre weder Wissen von etwas noch Wissen für sich. Daraus folgt, daß ein Unmittelbares, nicht durch den Gegensatz Vermitteltes, unerkennbar bleibt. Wie also steht es mit dem Höchsten? Als Unmittelbares ist es verborgen und der Erkenntnis entzogen. Aber es waltet als „strenge Mittelbarkeit". Pindars Gnome lautet in Hölderlins Übersetzung: „Gesetz/Von allen der König, Sterblichen und /Unsterblichen", und Hölderlin erläutert: „Die strenge Unmittelbarkeit ist aber das Gesez" (StA V,285). Dieses Gesetz fordert Zucht, Maß und Verstand, nämlich sich zurückzuhalten gegenüber dem Unmittelbaren. Das Höchste, die Zucht - kristallisiert in Kirche, Staatsgesetz, ererbter Satzung, „schönausgleichenden" Gesetzen - gestattet es den Menschen, die Heiligkeit des Gottes wahrzunehmen.37 Wie aber ist die Mittelbarkeit, worin sich der Mensch und der Gott begegnen, zu denken? 36

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Zum griechischen Text, zu Hölderlins Übersetzung, welche zweifellos die gnomische Geschlossenheit und Bedeutsamkeit von Pindars Spruch verstärkt, wie zur Interpretation, welche den Ausleger des Pindar-Fragments als einen metaphysischen Denker des Deutschen Idealismus zu erweisen sucht, vgl. Manfred Baum, Hölderlins Pindar-Fragment ,Das Höchste', in: HJb 13(1963/64)65-76. Freilich wäre ein Rückblick auf „Urteil und Sein" wohl förderlicher und angemessener gewesen als der Vorblick auf Hegels Logik, in deren Licht das „Höchste" bei Hölderlin als absolutes Wissen erscheint, welches das Unendliche und Endliche in ihrer Unterschiedenheit und Einheit weiß. So Friedrich Beissner, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen. Stuttgart 2 1961, 45-67. Indessen bleibt hier der Erweis der strengen Mittelbarkeit im ersten Absatz ohne Einfluß auf die Auslegung des Textes selbst.

Das Angesicht des unbekannten Gottes

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Eine weitreichende Auskunft steckt im Bruchstück „Was ist Gott?": „unbekannt, dennoch/Voll Eigenschaften ist das Angesicht/Des Himmels von ihm." Unmittelbar ist das „Gesicht" (Luthers Übersetzung von Idee) Gottes nicht zu schauen, dennoch ist es überall sichtbar. Das Angesicht des Himmels ist sein Zeichen. So betrachtet, hat die scholastische Rede vom Deus absconditus erst die halbe Wahrheit für sich. Der Erkenntnis selbstbewußten Wissens ist Gott unbekannt, aber er gibt sich bekannt in Zeichen des Himmels. Davon ist das Angesicht des Himmels voll. Das ungeheure, so merkwürdig überlieferte Hymnenfragment „In lieblicher Bläue" schärft die Frage zu: „Ist unbekannt Gott?/Ist er offenbar wie der Himmel? dieses/Glaub' ich eher" (StA 11,372, Z. 17-18; Versabteilung nach Pigenot). Nun scheint der Sinn der folgenden Verse einfach. Die Rede ist von Eigenschaften Gottes. Davon sind Zorn und Ruhm, und des Theos genannt. Diese müssen sich nun darin schicken, den Menschen in Gestalten wahrnehmbar zu werden, die ihnen eigentlich fremd sind, nämlich als sinnlich Naturhaftes wie Blitz und Donner am irdischen Himmel (Beissner, StA 11,843). Gewiß, nur erklärt solche Paraphrase so wenig, daß sich die Allegorie nahelegt, die zu nichts führt. Blitz und Donner nennen etwas ihnen fremdes Anderes, nämlich Zorn und Ruhm Gottes. So bleibt vor allem der Skopus des Spruches im Dunkeln: „Je mehr ist eins/Unsichtbar, (desto) mehr schiket es sich in Fremdes." Der Satz redet verschränkt von den Gegensätzen unsichtbar - sichtbar, eigen - fremd; er spricht ein Gesetz der Mittelbarkeit aus und zielt auf Gott: unbekannt - offenbar, verborgen im Eigenen - sichtbar im Fremden. Dabei ist bedeutend, daß der Satz einen Vorgang, den Gott im Aktus seines Erscheinens, ausspricht. Das in seinem Eigenen Unsichtbare schickt sich in Fremdes, um mittelbar sichtbar zu werden. Sich schicken hat den Doppelsinn von senden und fügen. Beides trifft zu: Gottvater sendet, christlich geredet, sich im Sohn ins Fremde, in die von Gott abgewendete Welt. Gott fügt sich, mit Pindar gesprochen, in das Schickliche, das Gesetz strenger Mittelbarkeit, in die Moira, die über den Göttern und Menschen waltet. Dabei besagt sich schicken nicht etwa, sich abfinden mit dem Unvermeidlichen, sondern sich verfügen in das Eigene dadurch, daß der Betreffende sich in Fremdes begibt. Und dieser Grundsatz spricht keinen Widerspruch aus, er formuliert ein Paradox. Dadurch, daß ein Unsichtbares sich in Fremdes fügt, wird es sichtbar, und: Je unsichtbarer das Höchste an ihm selbst ist, desto mehr sendet und fügt es sich in Fremdes, um offenbar zu werden im

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Schauen der Menschen. Das ist kein Widerspruch. Zwar kommen demselben Subjekt entgegengesetzte Prädikate zugleich zu, nämlich unbekannt - allbekannt, unsichtbar - sichtbar, aber doch in verschiedener Hinsicht. An ihm selbst bleibt das Unsichtbare unbekannt, sichtbar wird es im Angesicht des Himmels. Um so deutlicher tritt das Paradox heraus, daß der Gott sich entzieht, indem er sich entbirgt. Offenbarung geschieht durch Verbergung, Verbergung durch Offenbarung. Im Bruchstück „Was ist Gott?" tritt mithin gnomehaft eine latente Grundfigur des späteren Hölderlinschen Andenkens an Gott hervor, das Paradox vom Deus absconditus - revelatus oder in einer Ausprägung, die Luther nahe ist, vom Deus nudus - indutus/vestitus.38 Die vielsinnige Methodenfigur des Paradox kann dabei als Gegeninstanz und Korrektiv gegen den Überschwang dialektischer Vermittlungen von Selbstbewußtsein und Geist, Gott und menschlicher Existenz fungieren. (Das bricht bei Kierkegaard vehement wieder auf.) Der Ursprung schickt sich also in Fremdes, nicht um im Anderen, seiner selbst gewiß, bei sich zu bleiben und sich erblickbar zu machen, sondern, um sich, in fremdes Gewand gehüllt, zu verbergen und zurückzuhalten. Sichtbar werdend, tritt der Anfangsgrund also in seine Unsichtbarkeit zurück. Das, was sich zeigt, verbirgt sich durch die Weise des Sichzeigens; der Ursprung, der unbekannt bleibt, zeigt sich in Fremdem. Und es wachsen Fremdheit und Befremdlichkeit der Zeichen, in denen Offenbarung geschieht, mit dem Maße der Unfaßlichkeit dessen, das sich offenbart. Je reiner der Ursprung, je überwältigender der Grund ist, desto mehr fügt er sich 38

Vgl, die maßgebende Untersuchung von Wolfgang Binder, Hölderlin. Theologie und Kunstwerk, in: ZThK 69(1972)350-378 = HJb 17(1971/72)1-29 sowie: Ders. Hölderlin, in: TRE XV,441-444. Allerdings orientiert sich Binders These von Hölderlins Ablösung des Idealismus durch eine Theologie des Paradoxen zu pauschal am Hegeischen Modell des spekulativen Bei-sich-Bleibens und Zu-sich-Kommens im Anderssein. Beispiel dafür bietet der Anfang des „Athen-Gesprächs": „In ihr (sc. der Kunst) verjüngt und wiederholt der göttliche Mensch sich selbst. Er will sich selber fühlen, darum stellt er seine Schönheit gegenüber sich. So gab der Mensch sich seine Götter" (StA 111,79). Das ist nach Binder reiner Idealismus. Das Sein kommt in der Kunst zum Selbstbewußtsein; das Göttliche, das ist, erkennt sich an Gott, der gemacht ist, im Spiegel gedichteter Göttergestalt (TRE XV, 443). Aber spricht hier wirklich die Spekulation des Logos oder nicht vielmehr die Weisheit der Mysterien? Hyperion - bei Hesiod Titan und Vater des Helios - ist erfüllt vom Einessein der Götter und Menschen, das im Anfange herrscht: „Ich spreche Mysterien, aber sie sind" (StA 111,79).

Das Angesicht des unbekannten Gottes

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in Banales. Der ruhmvollste Gott, Zeus (Ilias 3,298), ist da im Donner schwarzwolkigen Himmels. Der allmächtige Schöpfer des Himmels und der Erden kommt herab in Knechtsgestalt. Die christliche ist sicher eine frühe Blickrichtung des Verbergungsparadoxes. Am 28. November 1798 schreibt Hölderlin an den Bruder: „O Lieber! wann wird man unter uns erkennen, daß die höchste Kraft in ihrer Äußerung zugleich auch die bescheidenste ist, und daß das Göttliche, wenn es hervorgeht, niemals ohne eine gewisse Trauer und Demuth seyn kann" (StA VI,294). Das assoziiert Christus, der sich demutsvoll in das Fremdeste, die Knechtsgestalt, und das Trauervollste, die Sterblichkeit, fügt. Aber diese Erkenntnis ist bereits als paradoxes Gesetz formuliert. Gerade die höchste Kraft zeigt sich in geringster Äußerung. Das Hymnenfragment faßt das „strenge Gesetz" so: Je mehr ist eins unsichtbar, schicket es sich in Fremdes. Je tiefer also die Verbergung, desto fremder die Zeichen und umgekehrt. Im Paradox von Verbergung - Entbergung kommt ein Wahrheitsgeschehen zur Sprache, das über das Urteil des Verstandes und der Vernunft geht, sofern sich dieses an die Übereinstimmung von Subjekt und Objekt auf dem Grunde der Subjekt-ObjektIdentität hält. Es dreht sich auch nicht um die begründbare Wirklichkeit vorgestellter, objektiver Sachverhalte. Es geht um die paradoxale Offenbarung des unbekannten Gottes. Aber warum geht das so, daß der Gott sich verhüllt, wenn er sich zeigt? Das ist für verständige Begründung ein Abgrund. Dahin reicht philosophische Weltweisheit nicht. Im Grunde kann eine kritische Selbstdurchdringung des Begriffs nur zeigen, warum notwendigerweise die Genesis der Selbstoffenbarung unserem Sehen verborgen bleibt; das wird Fichtes Erscheinungslehre evident machen. Für Hölderlin aber zählen mythische Bescheide. Ein Bescheid auf die Frage, warum sich der Gott im Sichzeigen verhüllt - und warum die Götter sich unserem götterlosen Geschlecht entzogen haben und alle mythische Welt zugrunde ging - lautet: weil der Gott uns schont39. Das ist mythisch zu hören, 39

Warum die mythische Welt, in welcher die Götter gegenwärtig und Welt- und Göttererfahrung ein und dasselbe sind, untergegangen ist, erfährt bei Hölderlin zwei Antworten, eine in mythischer Rede, die andere in der Sprache der Reflexion (eigentlich: einer poetologischen Besinnung über mythisches Dichten im Böhlendorff-Brief vom 4. Dezember 1801): Walter Bröcker, Das was kommt gesehen von Nietzsche und Hölderlin. Pfullingen 1963. Sonach gehen, mythisch gesprochen, die Himmlischen fort, weil sie uns schonen, sofern und solange die Menschen ihre Gegenwart nicht zu ertragen vermögen. Hauptzeugnis dafür ist ,3rod

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Seinslehre

auch im Andenken an alttestamentliche Weisheit. Der Gott verhüllt sich, weil die menschliche Kreatur den Anblick göttlicher Herrlichkeit nicht ertragen kann und die unverhüllte Glorie ihm zum Schrecknis wird. Und Hölderlin denkt an den griechischen Mythos. Das „Unmittelbare" des Pindar-Kommentars läßt nicht an das leere, unbestimmte Unmittelbare des Parmenideischen Seins im Sinne der Hegeischen Logik denken, sondern eher an das unmittelbare Feuer des obersten Gottes. Beides, das Paradox des gewandet erscheinenden Gottes und das Mythologem des Schönens, sprechen Verse des großen Hymnenfragments „Griechenland" (Dritte Fassung; StA 11,257) aus. Alltag aber wunderbar zu lieb den Menschen Gott an hat ein Gewand. Und Erkenntnissen verberget sich sein Angesicht Und deket die Lüfte mit Kunst. Der mit einem Gewand bekleidete Gott (Luthers Deus vestitus) schont uns; denn der Deus nudus ist schrecklich. Gepaart mit Zeus war Semele, die „göttlichgetroffene", verbrannt, „da sie sichtbar/Gott zu sehen begehrte". Also geschieht es den Sterblichen zuliebe, daß der Gott seinen Glanz und verzehrenden Strahl verhüllt, ein Gewand anlegt, wunderbarerweise Freundesgestalt annimmt. Alltäglich nämlich ist die Zudringlichkeit groß, im Erkenntniswillen alles auszuspähen, und in der Seelenempfindung, die „zu sehr liebet mit Gebeten" (V. 30), sich mit Gott zu vereinigen. Am kultischen Fest-Tag und mit der Feier des Daseins, dem Gesang, steht es anders. Im Alltage sind beides „unangemessene Schritte" (V. 40), denen Gott zuvorkommt, „mit Kunst", d.i. mit Absicht.40 „Und Luft und Zeit dekt/Den Schreklichen" (V. 28-29). Der Deus terribilis entdeckt sich so, daß die Zeichen der Natur (die Lüfte,

40

und Wein" V. 112. Das ist richtig und wird nicht widerlegt durch die Annahme, diese Begründung der Götterferne („So sehr schonen die Göttlichen uns") spreche ironisch; vgl. Friedrich Beissner, Dichterberuf, in: HJb 5(1951)15. Mir scheint es einfacher, „mit Kunst" als „mit Absicht" nämlich: „zu lieb den Menschen" zu verstehen, denn überzubetonen: „mit den Mitteln der dichterischen Kunst", in irdisch-überirdischer Zweideutigkeit: So Winfried Kudszus, Sprachverlust und Sinnwandel. Zur späten und spätesten Lyrik Hölderlins. Stuttgart 1969, 110: „Und so nennt Hölderlin mit „Kunst" ein, wenn nicht das Schlüsselwort von „Griechenland"."

Das Angesicht des unbekannten Gottes

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der Himmel) und der Zeit (die Wetter der Weltgeschichte) ihn abdekken. Zu lieb den Menschen entdeckt sich der Gott im schonenden Verdecken. Das Fremde ist das Angesicht des Himmels, die Lüfte, die Wolken, der Donner und der Blitz. Die Blitze sind der Zorn eines Gottes. Sie sind Zeichen und zeigen den anwesend-abwesenden Gott unter dem Gesetze der Mittelbarkeit. So zeigt der Blitz in mythisch unverstellter Sicht das Zusammenspiel von Lichtung und Verhüllung. In ihm ist gegenwendig zur Liebe der Zorn Gottes gegenwärtig am Himmel, der rätselhafte Grimm und Eifer Jahwes, der im N.T. als wiederkehrt, ebenso wie der geschleuderte Blitz des Zeus. In „Patmos" heißt es: „Im Zorne sichtbar sah ich einmal/ des Himmels Herrn" (StA II, 170). Und der Donner ist Sprache des Himmels, wenn er den Ruhm (gloria/doxa) Gottes befremdlich verkündet; die überwältigende Glorie zeigt sich im Fremden, im erderschütternden Donner des aufblitzenden Firmaments. Steht es so, dann bleibt eine Frage übrig. Offenbart sich der unbekannte Gott in Sprachen des Himmels und Zeichen der Geschichte, wer deutet die Zeichen, und wer bringt die gedeuteten Zeichen ins Welt prägende Wort? Am Anfang wie am Ende von Hölderlins Weg zum unbekannten Gott steht der Beruf des Dichters. Zuletzt und zuhöchst ist die Deutung der Bedeutung von Sein nicht mehr den Erkenntnissen der Weltweisheit anvertraut, so tief die Ideen Hegels, des ehedem treu anblickenden Freundes, auch reichen. Der Dichter ist Mittler der Selbstoffenbarung Gottes in Zeichen, Denn manches mag ein Weiser oder Der treuanblikenden Freunde einer erhellen, wenn aber Ein Gott erscheint, auf Himmel und Erd und Meer Körnt allerneuende Klarheit. (Versöhnender, der Du nimmer geglaubt, Zweite Fassung; StA II, 130).

4. KAPITEL Sein, Dasein, Bild 4. l ln-sich-Geschlossenheit des Seins. Fichtes Satz der Inkludenz ,J)as Sein ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum des Lebens und Seins, das nie aus sich heraus kann" (WL 1804-11, lö.Vortr.; GA 11,8,242). So lautet Fichtes These vom Sein. Sie enthält und vollendet ausdrücklich Fichtes reine Vernunft- und Wahrheitslehre.41 Vom Sein ist die Rede unter den wechselnden Namen Wahrheit, Vernunft, Licht, Leben, Liebe, Gott; es wird durchgängig verstanden als das abso41

Zur betonten Heraushebung dieses Grundsatzes über das Sein durch Fichte steht die Zurückhaltung der Interpreten in merkwürdigem Gegensatz. Die beiden großen Strukturanalysen dieser Fassung der Wissenschaftslehre, von Martial Gueroult und Joachim Widmann, lassen ihn eigentlich beiseite. Bekanntlich gliedert Gueroult den Aufbau des Vertrags in 25 Synthesen unter Berufung auf die Form der Fünffachheit auf, die im Sich-Erscheinen des Selbstbewußtseins liegt. In diesem Schema findet der Gipfelsatz vom in sich geschlossenen Sein keinen Platz. Er wird der Synthesis E2, der Position des absoluten Realismus, angehängt. Zwar kommt er als Umschlagspunkt zur Phänomenologie in Sicht, als Grundsatz von Licht und Leben aber wird er mit erstaunlicher Kürze paraphrasiert: ,3ref, il y a lä un Esse in mero actu. L' etre et la Vie sont identiques et nous sommes unis ä cet Etre dans la Vie"; L'evolution et la structure de la doctrine de la science chez Fichte. Hildesheün 21982, Bd 2,119. - Widmann vermerkt zwar die Einzigartigkeit dieser Transzendenz- und Wahrheitslehre und verweist zu Recht auf eine innere Parallelität zum Johannesevangelium, aber der Satz vom Wahr- und Einessein des Lebens verbreite eher Schwierigkeiten denn Klarheit. Er rede von einem Sein, das nicht Teil des System sei (weil es das Ganze des Subjektivitätssystems transzendiere). Er entziehe sich der Wahrheit als Übereinstimmung von Denken und Leben, Tun und Sagen. Und er bedrohe die je individuell frei zu vollziehende Wahl, sofern wir, im Sein lebend, nicht absolut frei wählen können, zu sein oder nicht zu sein; Die Grundstrukturen des transzendentalen Wissens nach J.G. Fichtes Wissenschaftslehre 21804. Hamburg 1977. - Bevor aber Fichtes Ansicht vom Absoluten aus dem System (der Phänomenologie) ausgeschieden wird, sollte sie als Grund der Erscheinungslehre erprobt und eingehender erörtert werden.

Fichtes Satz der Inkludenz

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lut gegensatzlose Eine. Der Satz kennzeichnet das Einessein als Singulum; er spricht das einzig Eine an, auf das alles Mannigfaltige, vor allem die Zweiheiten von Denken und Sein, sinnlicher und übersinnlicher Welt, zurückgeführt werden soll. Singulum nennt das einzig-eine Gegensatzlose ohne Dualität und Pluralität in sich. Nun steht ein Singulum „des unmittelbaren lebendigen Seins" (Lesart: Copia) vor Augen, und diese Lebendigkeit soll als Einigung von Zweien einleuchten, von Leben und Sein. Gesetzt, das „und" ist nicht explikativ zu nehmen, schleicht sich dann nicht doch die Gefahr des Dualismus wieder ein? Wie also steht es mit den zwei Elementen einigen Lebens? Daß sich tatsächlich zwei Grundcharaktere von Sein abzeichnen, wenn man der Bedeutung von Sein nachgeht, das gibt die 3. Vorlesung der „Anweisung zum seligen Leben" an. Die dort gestellte Aufgabe ist, „das Seyn scharf zu denken" (AsL; SW V,438). Das verlangt, von der Meinung abzusehen, die sich an das Wahrnehmbare und Werdende hält. Erst einem Denken, dem Meinen, Sehen und Hören vergangen sind, leuchtet ein: „Das eigentliche und wahre Seyn wird nicht, entsteht nicht"; es ist „schlechthin durch sich selbst, von sich und aus sich selbst" (ebd.). Diese erste Bestimmung des Seins scheint in der kühnen Abstraktheit des Parmenides mit archaischer Simplizität hingesprochen zu sein. Sagt nicht Parmenides vom wahren Sein auch: „Wie es unentstanden ist, ist es auch unvergänglich" (Diels B 8,3)? Fichte bringt dafür ein im Grunde Aristotelisches Argument bei: Werden und Entstehen besagen, übergehen aus dem Nichtsein in Sein durch ein Seiendes, welches das schon in Wirklichkeit ist, wohin es das Entstehende übergehen macht. Kann nun auch das Bewegende und Entstehenlassende geworden und aus dem Nichtsein entstanden sein, zuletzt muß doch ein Sein gedacht werden, das selbst vom Werden und Entstehen absolviert bleibt. Sonst ginge grundsätzlich das Nichtsein dem Sein voraus und das Sein aus dem Nichtsein hervor, was unmöglich ist. Also ist das Sein selbst vom Werden zu trennen. Und dieses negative gedankliche Resultat wendet sich in den positiven Gedanken: Wahres Sein ist von sich selbst, aus sich selbst, durch sich selbst. Ist es nicht geworden und entstanden von anderem her, aus anderem und durch ein anderes, dann kann es nur betrachtet werden als immer-reges Leben, das von sich, aus sich und durch sich selber lebt. Diese Charakteristik des Seins als Leben steht gleichsam als Parmenideisches Eingangstor am Anfange der späteren Wissenschaftslehre. So verkündet die Einleitung in die Wissenschaftslehre 1813: „Gott-ein durch sich, von sich, aus sich ...: er ist durch sich, aus

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sich, von sich, ein ewig reges, nie still stehendes Leben; und Nichts ist in ihm, was Nichtleben wäre" (NW 1,42). So wird am Anfange anders als bei Hegel das Sein vom Werden getrennt. Das Werden ist nicht scharf gedacht als Übergegangensein von Sein und Nichts, das den Übergang bereitet zu konkreter und reicher Gedankenfülle; Sein ist nicht Prozeß, sondern werdeloses Leben, das immer schon in sich aufgegangen ist. Freilich kommt das Denken des Seins immer auch zu einer zweiten Bestimmung. Diese erwächst aus dem negativen Gedanken: „Auch innerhalb dieses Seyns kann nichts neues werden" (SW V,439). Und dieses Negativum schlägt in die positive Fassung um: „Es bleibt unveränderlich in alle Ewigkeit" (ebd.). Auch dieser Satz erinnert an den Parmenideischen Anfang: „Als selbiges bleibt es im selben und ruht bei sich selbst" (Diels B 8,29). Sein bedeutet vordringlich Bleiben und Ruhen in sich. Wahres Sein ist nicht nur dem Werden des Scheinlebens, sondern ebenso dem Wandel der Zeit enthoben. Auch dafür bringt scharfes Denken ein Argument in der Form eines apagogischen Beweises bei. Wandel und Veränderung von etwas in der Zeit braucht ein anderes, das hindernd oder erneuernd einwirkt. Das aber kann beim durch sich selbst seienden Selbständigen nicht sein. Was durch sich selber ist, ist, was es ist, ganz und ungeteilt. So ergibt sich die zweite Bestimmung von Sein, das substante Beharren und unwandelbare Bleiben. Am Anfange also steht das Sein als aus sich lebendes Leben und zeitlos in sich ruhendes Bestehen. Im Blick auf diesen Anfang muß freilich beachtet werden: Diese Sätze sind Resultat, nicht unvermittelter Systemgrund. Und sie stellen sich auch nicht einfach auf im schreienden Gegensatz zum früheren negativen Verstehen von Sein qua Nicht-Tätigkeit (wie Schelling erklärt; SW VII,25ff.). Dieser Anfang hat die Anstrengung des sich zu Ende reflektierenden Begriffs hinter sich und das Wissen um die absolute Abstraktion von jeder Bewußtseinsrelation in sich. Anders kann sein unmittelbares Leben nicht einleuchten. Steht es nun so mit der zweifachen Seinsbedeutung von Sein als Leben (Subjektivität) und Sein (Substantialität/Objektivität), wie läßt sich die These vom Singulum halten, welche doch Zweizahl und Dualität der Elemente ausschloß? Oder sind die in der philosophischen Analyse auseinandergehaltenen zwei Bedeutungen der Sache nach eins? Fichte braucht zur Einleitung in die Evidenz eine scholastische Hilfsformel. Sein qua Bestehen an sich heißt schulmäßig esse substantiae und Leben

Fichtes Satz der Inkludenz

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als wirksame Wirklichkeit actus. Werden nun In-sich-Bestehen und Aus -sich-Leben absolut gedacht, dann durchdringen sich beide Momente ununterscheidbar zu einem lebendigen Seinsvollzug. Undenkbar ist das wahre Sein als absolute Substanz, welcher Leben bloß mitgängig zukäme. Sein besteht im reinen Akt, und im reinen Akt besteht das Bestehen: esse in mero actu. Das kann neuzeitlich übersetzt werden. Ist Bestehen an sich die Seinsart der Objektivität, Natur, Realität sowie freie Lebendigkeit die Seinsart von Subjektivität, Geist, Idealität, dann bedeutet Sein: allreale Einheit von Subjektivität und Objektivität, Natur und Geist, Realität und Idealität. Aber worin besteht die Eigenart eines Absoluten, das singular und in sich geschlossen ist? Der eigentümliche Bescheid der Wissenschaftslehre lautet: Die analytisch auseinandergehaltenen Hauptbedeutungen von Sein fallen in Wahrheit unvermittelt und ununterscheidbar ineinander, „so daß beides Sein und Leben, und Leben und Sein durchaus sich durchdringen, in einander aufgehen, und dasselbe sind, und dieses dasselbe Innere das Eine und alleinige Sein" (WL 1804-11, IS.Vortr.; GA 11,8,228). Das eigenartige Profil dieser These und die unterstellte eigentümliche Vollendungsgestalt des Idealismus hängen an dieser Frage: Was ist das für ein Geeintsein? Welches ist das Gesicht absoluter Einheit? Anders, von der Suche nach der Wahrheit her gefragt: Wie sieht jener Wahrheitsgrund aus, der Sachwahrheiten als Übereinstimmung von Denken und Sein ermöglicht, weil in ihm der notwendige Zusammenstand von Denken und Sein, Subjekt und Objekt wurzelt? Systematisch wie historisch haben sich drei Antworten herausgebildet: Identität, Indifferenz und Koinzidenz. Sie treffen alle für Fichtes Seinsdenken nicht zu. Das sei wenigstens roh angezeigt. 1. Absolute Einheit steht im Ansehen einer Identität, die den Gegensatz von Identität und Nicht-Identität in sich bewahrt und kraft ihrer Negativität aus sich entfaltet. Das ist Hegels Gedanke. Er ist selber in Differenz zum Fichteschen System erdacht worden, und er zielt am Gedanken des in sich geschlossenen Singulum doppelt vorbei. Das Singulum unmittelbar lebendigen Seins ist von aller Dualität und Relation (auch der von Identität und Nicht-Identität) rein und geht folgerichtig nicht aus sich in weitere Bestimmungen über. Es eröffnet keine Seinslogik, sondern verschließt sie. 2. Einheit des Absoluten ist aufgestellt als Indifferenz. Danach ist gegensatzlose Vernunft in Depotenzierung des Ich total indifferent gegen die Differenz des Subjektiven und Objektiven und ein noch unge-

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schiedenes All von Möglichkeiten, das sich durch Quantitierungen, in gradmäßigem Überwiegen des Subjektiven und Objektiven als Potenzen des Absoluten konstruierbar macht. Aber solch unmittelbar ergriffene Indifferenz (ohne die genuine Äußerung im absoluten Wissen) ist auch für Fichte ein Abgrund.42 Deren Einheit ist nicht absolut; denn Indifferenz besagt bloß negative Identität, d.i. Nicht-Verschiedenheit des Wissens und Seins. Ihr Sein ist nicht absolut; denn der Begriff einer Einigung von zweien im Indifferenzpunkt trägt deutlich das „Merkmal einer Zusammensetzung, die begreiflich nicht ohne Scheidung vorgegangen seyn kann" (an Schelling 15. Januar 1802; BrW; GA 111,5,112). Und der Übergang zum Endlichen und zur quantitativen Differenz in der Anschauung ist nicht absolut; denn die Differenz kommt gleichsam von außen ins Absolute hinein. 3. Höchste Einheit sei Koinzidenz von Opposita, dergestalt, daß das Maximum und das Minimum in einer maximitas absoluta zusammenfallen. So kann Gott das Allerklarste genannt werden, welches das Alierverborgenste ist, weil größtes Licht und größtes Dunkel koinzidieren. Dieser auf der docta-ignorantia-Lehre aufruhende Gedanke des Nikolaus von Kues liegt nicht fern,43 aber er trifft doch nicht. Das Sein als Singu42

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Ebenso unglücklich wie die verpaßte Aussprache Fichtes mit Hegel verlief die erbitterte Polemik mit Schelling. Fichte verzieh Schelling im Grunde die frühe Ergänzung der Transzendentalphilosophie durch eine (dogmatische) Naturphilosophie nicht, und Schelling wiederum hielt Fichtes späte Lehre vom Sein für unvereinbar mit der frühen vom Ich. Dabei treibt doch die Systementwicklung von beiden dieselbe Frage: Wie ist das Absolute als Grund allen Wissens zu denken? Und beide kommen auf getrennten Wegen dahin, das wissende Subjekt als Ausgangspunkt zu setzen, als erstes Prinzip abzusetzen und auf ein undenkbares Absolutes hin zu übersteigen. Aber Schelling hat die im Briefwechsel 1799-1802 vollzogene Abwertung Fichtes ebensowenig revidiert wie Fichte seine Verunglimpfungen Schellings. Für Schelling zählt nurmehr Hegel als Widerpart im Streit um die Vollendung des Idealismus. Auf Fichtes Vollendungsweg hat er sich nicht mehr eingelassen. „Man sieht: die Entwicklung des idealistischen Denkens ist durchaus nicht von einem absoluten Weltgeist dirigiert"; Walter Schulz, Fichte-Schelling Briefwechsel, Einleitung, 13. Frankfurt a.M. 1968. Karen Gloy, Identität, in: TRE XVI,27 klassifiziert Fichtes Spätphilosophie als Koinzidenzphilosophie. Sonach bedeutet Koinzidenz allgemein einen Zusammenhang von Relata in Aufhebung der Relation. Sie unterscheidet sich hierin spezifisch von der Indifferenz. Indifferenz hebt die Relata im Sinne des Sowohl-alsauch auf und behält einen Zustand der Noch-nicht-Unterschiedenheit zurück. Koinzidenz dagegen läßt die Relata zusammenfallen im Sinne eines ausschließenden

Fichtes Satz der Inkludenz

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lum hat sich von allen Relaten jeglicher Relation gelöst, also auch vom Zusammenfall extremster Opposita in höchster Opposition. Fichte hat das deutlich ausgesprochen. Im Januarbrief an Schelling heißt es: „Das absolute selbst aber ist kein Seyn, noch ist es ein Wissen, noch ist es Identität, oder Indifferenz beider: sondern es ist eben - das absolute - und jedes zweite Wort ist von Uebel" (BrW; 111,5,113). Das macht die Abgrenzungen noch einmal klar. Natürlich steht das Absolute weder auf der Seite des Seins oder Dinges an sich noch auf der Seite des Wissens oder der Intelligenz an sich. So wäre es eben nichts als ein zum Absoluten übersteigertes Relatives. In Wahrheit bildet es die Vereinigung von Sein und Denken/Leben, aber gerade nicht im Sinne von Identität und Indifferenz. Die Indifferenz läßt die Differenzierung ungeklärt, eine Identität (von Identität und Nicht-Identität) die unzertrennte Einheit. Wie aber kann man dann das pure Sein zu lebendiger Anschauung bringen? Anleitung gibt der Titel des In-sich-Geschlossenseins. In Abhebung gegen Indifferenz und Identität könnte er terminologisch als Inkludenz eingeführt werden. Darauf weist Fichtes These vom Absoluten. Das Sein ist, besagt soviel wie: Das Sein ist in sich geschlossen, und jede weitere Bestimmung ist das Übel einer falschen Seinslehre. Die Religionsschrift faßt daher Singularität und Inkludenz in der Einsicht zusammen, „dass das Seyn schlechthin nur als Eins, nicht als mehrere; und dass es nur als eine, in sich selbst geschlossene ... Einerleiheit zu denken sey" (AsL, 3.Vorl.; SW V,439). Dabei weist die Anleitung, Inkludenz innerlich anzuschauen, auf ein zweifaches Gesicht des Absoluten, auf ein Ineinanderaufgehen und ein Insichbleiben. 1. Inkludent gehen Leben und Sein völlig ununterscheidbar ineinander auf. Was wahrhaft ist, ist die restlose Durchdrungenheit und die lautere Einheit von beiden, von Subjektivität und Objektivität. Anders wäre das Absolute nicht inwendiges Leben. Von ihm kann in Abstraktion Weder-noch und behält eine Nicht-mehr-Unterschiedenheit zurück. Im Stile der Koinzidenz bringt es Fichtes Einheitskonzeption mithin nur zu einer negativen Fassung des Einen, das weder Subjekt noch Objekt ist und von dem nichts Bestimmtes und Unterschiedenes zu sagen übrig bleibt. Indessen, der Gedanke der Koinzidenz ist historisch durch den Kusaner besetzt und ausgeprägt. Der von mir vorgeschlagene Titel Inkludenz sucht dagegen der unverwechselbaren Eigenart der Fichteschen Einheitskonzeption zu entsprechen. Sie weist beides ab, das Wedernoch der Koinzidenz und das Sowohl-als-auch der Indifferenz und zielt auf ein Ineinander jenseits dieser Disjunktionen.

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von aller Relationalität eben nur gesagt werden: Es ist. Dabei bedeutet das „ist seiend" soviel wie: lebt, lichtet in unaufhörlichem Ineinanderaufgehen aller Gegensätze. „Das Sein, von der Sprache indessen substantivisch genommen, kann nicht sein, verbauter, esse in actu, ohne unmittelbar im Leben selber; aber es ist nur ein verbales Sein" (WL 1804-11, IS.Vortr.; GA 11,8,230). Sein bedeutet soviel wie Lebensvollzug, und Leben bedeutet unvermitteltes Ineinanderaufgehen von Bleiben und Aufbrechen. 2. Inkludent lebt das Leben in sich. Es ist geschlossen und kann niemals aus sich heraus. Das wird zur Maxime einer Ansicht von Sein, die bei transzendentaler Besonnenheit bleibt und Erscheinung, Dasein und Sein so wenig vermischt, daß sie das Sein in Besinnung auf die Daseinsart des Wissens aussondert gemäß der Vorschrift: Eine Seinslehre gibt es nicht. Ausgesperrt werden so alle Emanationssysteme, wonach das Eine aus sich gleichsam aus eigener Überfülle zur Zweiheit überfließt und abwärts ins Viele zerfließt. Aber abgewehrt wird eben auch eine Logik, nach welcher das Sein für sich selber wird und so innerlich aus seiner anfänglichen Einfachheit herausgeht und sich in sich verdoppelt und objektiviert. Die Inkludenzlehre legt der Onto-Theo-Logik einen Sperriegel vor. „Nur das esse lebt, und da ist es ganz, als eine untheilbare Einheit, die nicht ausser sich sein kann, nicht herausgehen aus sich selber zur Zweiheit" (ebd.). Also ist der Dualismus in der Wurzel ausgetilgt, die Wahrheit als Übereinstimmung von Denken und Sein im göttlichen Leben eingewurzelt und das Sein als wahres Leben innerlich vollzogen. „Dieses einige Sein und Leben kann nun nicht ausser ihm selber sein, oder aufgesucht werden, und es kann ausser ihm gar Nichts sein. Kurz, und mit Einem Worte: es findet durchaus und schlechthin nicht Zweiheit, oder Vielheit Statt, sondern nur Einheit" (ebd.). Aber wie in aller Welt kann dann Vielheit sein und wie das Wissen, welches das in sich geschlossene Sein objektiviert? 4.2 Einziges Dasein: Bewußtsein und Wissen als Da des Seins Das Sein ist ein in sich geschlossenes Absolutes. Außer dem Sein gibt es nichts, das außer ihm wäre. Indessen, haben wir nicht doch fortwährend außer dem Singulum ein Zweites beansprucht, nämlich unsere Einsicht von ihm im Wissen? In der Tat, so innig auch der Lebensvollzug des Wissens mit dem Leben verbunden ist, als Wissen steht es au-

Wissen als Da des Seins

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ßer dem Absoluten da, es betrachtend als seinen Ursprung und Grund. Damit rückt die Frage nach dem Wissen des Wissens wieder in ihre zentrale Stellung ein. Deren Aufklärung wird das Wissen im Sinne unmittelbaren Daseins des Seins als gesuchtes Einheits- und Spaltungsfundament durchgehen. Diese komplizierte Aufgabenstellung verlangt eine einfache Vorfrage: Was besagt die Annahme eines Daseins außer dem Sein? Wie das zu denken ist, dafür bietet wiederum der 3. Vortrag der „populären" Anweisung zum seligen Leben eine einschlägige Anleitung. „Wir haben sonach ... im Denken darzuthun, dass das Bewußtseyn des Seyns, die einzigmögliche Form und Weise des Daseyns des Seyns, somit selber ganz unmittelbar, schlechthin und absolut dieses Daseyn des Seyns sei" (SW V,441). In diesem Kontext ist zuerst der Sinn von Dasein genau zu umgrenzen. Dabei müssen alle Vorblicke abgeblendet werden, welche Dasein mit Existenz und Wirklichkeit gleichsetzen und als Vorhandensein eines Dinges an einem Orte (und zu einer Zeit) vorverstehen. Das fragliche Dasein bezieht sich nicht auf ein korrelatives Möglichsein als bloßes Sein in Gedanken. Da-Sein weist auf Sein im Modus von Erscheinung, Äußerung, Offenbarung, Licht.44 Um Fichtes eigenartige transzendentale Setzung absoluten Daseins scharf zu denken, mag es hilfreich sein, sie vorerst gegen den Sinn von Dasein in der Daseinslogik (Hegels) wie in der Daseinsanalytik (Heideggers) abzugrenzen. Nach Hegelscher Logik besagt Dasein überhaupt das einfachste bestimmte Einessein von Sein und Nichts. Das Sein ist da, indem es das Nichtsein in sich aufnimmt und dadurch aus seiner Unbestimmtheit zum erstenmal heraustritt. Dasein heißt bestimmtes Sein. Das Sein ist da, nicht räumlich an einem bestimmten Ort, sondern gedanklich qualitativ im So- und Nichtanderssein. Und dabei ist auf das Heraustreten im Prozeß der Gedanken zu achten. Im Da-Sein ist das Sein aus der anfänglich leeren Unbestimmtheit in eine deutlich bestimmte Gestalt und qualitative Grenze hervorgekommen.

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Alle Beziehungen des Daseinsbegriffs zu Wirklichkeit, Möglichkeit, Sosein, Existenz und Leben im geschichtlichen Fortgang von Christian Wolff bis Jaspers und Heidegger - unter gebührender Hervorhebung Fichtescher Grundsätze - sind zusammengestellt durch Ulrich Wienbruch, Dasein, in: HWP 11,15-22.

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Gegen solche Seinslogik sperrt sich der kritisch-transzendentale Standpunkt, er läßt den Gedanken des Daseins als Selbstexplikation des Seins nicht zu. Die Wissenschaftslehre reserviert den Namen Dasein im eigentlichen Sinne des Wortes für das menschliche Geschlecht. Dabei spricht das Da des Daseins eben wörtlich eine Darstellung, Äußerung, ein Erscheinen aus, und zwar im zweifachen Sinne eines unteren, uneigentlichen und eines höheren, wahren Daseins. Da und zur Erscheinung gekommen ist die Welt im Modus der Vorhandenheit. Das Vorhandene ist da. Aber dem Ding, sofern es als an sich vorhanden geglaubt wird, kommt Dasein nur in einem abgestandenen Modus zu. Als einfach vorliegend Vorhandenes ist das Seiende und Naturhafte tot, in sich erstarrt und keiner tieferen Verklärung fähig. „Das Todte ist weder noch ist es, im höheren Sinne des Wortes, da" (WdG; SW VI,362). Da-Sein in höherer Bedeutung dagegen zielt auf die Äußerung und Offenbarung lebendigen Seins. So verspricht das Dasein, Darstellung göttlichen Lebens zu werden. In diesem Verständnis wird Dasein zum Titel für das menschliche Geschlecht. „Dieses lebendige Dasein in der Erscheinung nun nennen wir das menschliche Geschlecht. Also allein das menschliche Geschlecht ist da" (ebd.). Die aufgedeckte Verschränkung von Dasein, Sein, Offenbarkeit und Mensch scheint auf Ansätze der Daseinsanalytik hinzulenken. In „Sein und Zeit" heißt Dasein das, was Heidegger anfangs faktisches Leben nannte. Es betrifft in scharfer Abhebung gegen alles Vorhandene und Zuhandene einzig den Menschen; denn der Mensch ist das faktisch existierende Seiende, das sich zu seinem Sein verhält, weil es ihm in seinem Sein um sein Sein geht. Und der Mensch ist das einzige Wesen, das ekstatisch in der Wahrheit und Lichtung des Seins innesteht. So nimmt das glücklich gefundene Wort Da-Sein mehr und mehr ein Doppeltes in sich auf, das Wesensverhältnis des Menschen zur Offenheit des Seins wie den Bezug des Seins zum Wesen des Menschen. Indessen, die Fundamentalontologie der Daseinsanalytik wendet sich entschlossen von einer Metaphysik der Subjektivität ab, die vorgeblich am unbedachten Verstehen von Sein als Vorhandensein (und ständige Anwesenheit) festhält. Aber so viel sollte schon eine allererste Worterklärung deutlich machen: Fichtes Lehre vom Dasein hängt so wenig am Sinn vom Sein als bleibender Vorhandenheit, daß sie diesen Seinssinn gerade aufklärt, indem sie ihn genetisch herleitet. Und das gelingt allein dadurch, daß sich die Wissenschaft vom Dasein auf die Ursprungsverhältnisse von Sein und Bewußtsein besinnt, von denen Heideggers Destruktion der

Wissen als Da des Seins

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Subjektivität glaubte Abschied genommen zu haben.45 Dasein heißt Offenbarkeit und Außersichsein des Seins im Bewußtsein. Das Sein ist da, besagt mithin: Es ist vorgestellt im Bewußtsein des Ich. Zum Exempel: Der Satz „Die Wand ist" kann sinnvollerweise nur besagen „Wand kommt vor als Vorgestelltes". Das Ding als Seiendes ist verstanden als Bild des Seins. „Dasein heißt eben nur Sein im Verstande, beides ist durchaus identisch" (TdB-II, 1813; NW 1,566). Nun verweist aber der Titel Dasein nicht einfach auf den transzendental aufgeklärten intentionalen Bezug von Vorstellung, Bewußtsein, Verstand, Wissen zurück, er gibt eine neue ontologische Grundstellung des Menschen an. Etwas als seiend vorstellen, heißt - allein vom Ich bedacht - Setzen auf dem Grunde des autarken Sich-selber-Setzens. Nun aber wird das Ich als unmittelbar lebendige Äußerung des Seins selber zum Dasein; denn das Leben und die Helle des reinen Wissensvollzugs ist nichts anderes als das göttliche Licht und Leben im Modus der Äußerung. Diese Einsicht verändert das Selbstverhältnis, sie macht das Bewußtsein religiös gläubig: In der Wurzel sind göttlicher und menschlicher Geist unzertrennlich und ewig eins; es gibt keine unermeßliche Kluft zwischen Gott und Mensch. Eine Anweisung zum seligen Leben beginnt mit dieser These. Einzig im geistigen Lebensvollzug des Menschen ist das Sein wahrhaft da. Das kann niemandem, der nicht geistig lebt, andemonstriert werden. Wohl aber bietet sich eine Anleitung an, die Notwendigkeit dieser Annahme innerlich anzuschauen. Solch einzusehende Notwendigkeit steht 45

Dabei ist es m.E. abwegig, die Philosophie der Subjektivität, Heidegger vergröbernd, unter das Vorzeichen wachsender Seinsvergessenheit zu stellen. Zutreffender scheint mir die These von Walter Schulz, wonach Heidegger in der Philosophie der Subjektivität, d.i. des Selbstbehauptungswillens ansetzt und jene Erfahrung bedenkt, in welcher das sichbekundenwollende Subjekt seine Ohnmacht erfährt; Über den philosophiegeschichtlichen Ort Martin Heideggers, in: Philos. Rundschau 1(1953/54)65-64 u. 211-232. Dabei fallen erstaunliche Parallelen zwischen Heidegger, dem späten Schelling und dem späten Fichte ins Auge. Walter Schulz hat, natürlich unter gebotener Beachtung der Differenzen, diese Zusammenhänge bekräftigt: „Alle drei Denker setzen ein Ungedachtes oder ein Unvordenkliches über die Subjektivität (Dasein oder Ich) und entwerfen eine Doppeldialektik, die darauf hinausläuft, daß dies Ungedachte oder Unvordenkliche sich in die Subjektivität schickt oder in ihr erscheint, aber in der Subjektivität keineswegs aufgehoben wird"; Die Aufhebung der Metaphysik in Heideggers Denken, in: Marcel F. Fresco (Hg. u.a.), Heideggers These vom Ende der Philosophie. Bonn 1989,45.

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unter einer Voraussetzung, dem Soll. Es wird eine necessitas ex hypothesi beansprucht, und zwar in der Gestalt „Soll - dann muß". „Das Seyn - als Seyn, und bleibend Seyn, keineswegs aber aufgebend seinen absoluten Charakter, und mit dem Daseyn sich vermengend und vermischend, soll daseyn" (AsL; SW V,441). Zwar eignet diesem Soll strenge Kategorizität, aber es ist nicht einfach dem moralischen Imperative gleich. Das moralische „Du sollst!" gebietet ein Handeln unter Menschen aus Pflicht und ergeht an unsere moralisch-praktische Freiheit. Die Aufforderung „Das Sein soll da sein" könnte dagegen aletheuisches Sollen heißen; denn es gebietet: Was ist, soll nicht verdeckt bleiben und in Schein, Täuschung und Betrug verfallen; es soll ins Klare der Wahrheit gebracht werden. Offenbar steuert das Soll einer Gefahr entgegen. Diese steckt nicht nur in der allgemeinen Lebenseinstellung, die uns das Herz an vergängliche Dinge, das Unwahre, hängen läßt, sie beruht auf der Verwirrung von Dasein und Sein im Übermut des Ich. Hält sich das Dasein qua Wissen und Sich-Setzen für den schlechthinnigen Anfangsgrund aller Realität, dann ist der Halt am aus sich lebenden Leben und absoluten Beruhen auf sich verloren. Dieses Menetekel erinnert an das Resultat am Ende des 2. Buches der „Bestimmung des Menschen" 1800. Allein aus sich und auf sich gestellt, kann das Ich nicht dauern und feststehen. Bewußtsein verläuft eigentlich als unaufhörlicher Wechsel im „Strom" von Bildern. Was nämlich aus dem Wissen durch Wissen entsteht, ist immer nur Wissen, und Wissen bringt es nur zum Bilde, nicht zum Sein. Also bildet ein Wissen des Wissens nichts denn ein System von Bildern. Solche Selbstreflexion enthüllt das Ich als in sich haltloses Bild flüchtiger Bilder. Also dürfen Sein und Dasein nicht vermengt werden. Damit wird die zu lösende Aufgabe dringlicher, das notwendige Dasein des Seins so zu denken, daß das Sein zugleich außer sich und offenbar wird und doch fest auf sich beruht und in sich geschlossen bleibt. ,3s muss darum von dem Daseyn unterschieden und demselben entgegengesetzt werden; und zwar, - da ausser dem absoluten Seyn schlechthin nichts anderes ist, als sein Daseyn, - diese Unterscheidung, und diese Entgegensetzung muss - in dem Daseyn selber - vorkommen" (ebd.). Das aletheuische Soll verlangt mithin unausweichlich eine Entgegensetzung. Sonst zergeht alles im Gemenge von Sein und Dasein. Wohin aber kann solches Entgegensetzen gestellt werden? Offenkundig nicht ins Sein, sofern dieses ja gerade das reine gegensatzlose Eine ist. Folglich kommt die Entgegensetzung im Dasein zustande, da

Wissen als Da des Seins

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es außer dem Sein nichts anderes gibt. Dieses Unterscheiden ist die erste Urteilung und das Fundament aller Spaltung. Das scheint den zweiten Grundsatz der „Grundlage" zu repetieren, den Satz vom schlechthinnigen Entgegensetzen als Urhandlung des Ich. Indessen, hier dreht es sich um eine einschneidendere Gegensetzung. Nicht mehr setzt sich ein Ich schlechthin ein Nicht-Ich mit dem Charakter der Nicht-Lebendigkeit und Nicht-Freiheit entgegen, nunmehr geht es um die Abhebung des Daseins vom in sich seienden absoluten Leben. Das kann deutlicher so gedacht werden: „Das Daseyn muss sich selber als blosses Daseyn fassen, erkennen und bilden, und muss, sich selber gegenüber, ein absolutes Seyn setzen, und bilden, dessen blosses Daseyn eben es selbst sey: es muss durch sein Seyn, einem anderen absoluten Daseyn gegenüber, sich vernichten; was eben den Charakter des blossen Bildes, der Vorstellung oder des Bewußtseyns des Seyns giebt" (ebd.). Das Soll ergeht also aus dem Dasein an es selber. Soll Klarheit über das wahre Sein und menschliche Wesen in die Welt kommen, dann muß das Dasein sich über sich selber klarwerden. So gehört, spricht das Soll mit der Stimme des uralten Anspruchs: „Nosce te ipsum - merke auf dich selbst". Der Mensch soll nicht so dasein, wie er sich vorfindet, nämlich bedingt durch die Dinge und eingebunden in die sinnliche Welt, er soll sich als Da-Sein des wahren, übersinnlichen Seins ergreifen. Also zieht das Soll das „Als" nach sich. Als Dasein setzt sich das Dasein dem Sein entgegen. Damit kommt das Dasein zu sich, indem es sich von dem unterscheidet, was es nicht ist, nämlich absolutes Sein und aus sich lebendes Leben. Und so vernichtet sich das Dasein. Es setzt sich als Absolutes ab im Bewußtsein, nicht das Absolute zu sein. Zur Selbstbildung gehört unverzichtbar der Akt der Sichvernichtung, dergestalt, daß in ihm das Bewußtsein nicht ausgelöscht, sondern gerade geweckt wird: das Bewußtsein des Selbst, nichts zu sein denn Bild des Seins. Soweit ist geklärt: Unmittelbar ist das Sein nicht da und wirklich in den selbständig erscheinenden Objekten und Subjekten der Sinnenwelt. Es ist einzig da im Lebensvollzug reinen Wissens, und zwar im Stande des Selbstbewußtseins als sich bildenden Bildes des Absoluten. „Und so leuchtet es denn, falls wir nur die aufgegebenen Gedanken vollzogen haben, ein, dass das - Daseyn des Seyns - nothwendig ein - Selbstbewußtseyn seiner (des Daseyns) selbst, als blossen Bildes, von dem absolut in sich selber seyenden Seyn, seyn - müsse, und gar nichts anderes seyn könne" (AsL; SW V,442).

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Damit erklärt sich eine Theorie des Selbstbewußtseins zur Wissenschaft des Daseins. Ihr Thema ist zwar niemals das Sein und dessen Gehalt, wohl aber immer das Dasein des Seins in seiner Form. Die Vorstellung von dem, was vorliegt, nämlich die Welt in ihren Gegensätzen und Stufen, in ihrer Vielheit und Mannigfaltigkeit, aus Gesetzen des Daseins entstehen zu sehen, das ist ihre Sache. Daher erklärt die letzte Einleitung 1813 unter Anspielung auf ein - auch von Hölderlin exzerpiertes - Wort Jacobis aus „Über die Lehre des Spinoza": „Die Wissenschaftslenre hat es durchaus nur zu thun mit der Form der Erscheinung, oder mit der Form des Daseins. Sie ist eine genetische Einsicht des Daseins überhaupt, Wissenschaft des Daseins. Die äussere Probe der Vollständigkeit der Wissenschaftslehre würde die sein, ob das Dasein erschöpfend abgeleitet wäre. Auch Jacobi sagt: die Aufgabe der Philosophie sei: Dasein zu enthüllen" (TdB-II; NW 1,567). 4.3 Absolutes Wissen als Bild des Absoluten Das einzige unmittelbare Dasein ist Wissen (Bewußtsein, Sein im Verstande), und da es Dasein des Absoluten ist, absolutes Wissen. Das ist nun nicht das mannigfaltige, ständig wechselnde Wissen von etwas, sondern der eine und selbe Wissensvollzug in jeglichem Wissen von etwas, die Helle gleichsam in allem Sehen. „Es scheint mir", schreibt Fichte an Schelling im Januar 1802, „an sich klar, daß das Absolute nur eine absolute, d.h. in Beziehung auf Mannigfaltigkeit, durchaus nur Eine, einfache, sich ewig gleiche, Aeussemng haben kann; und diese ist eben das absolute Wissen" (BrW; GA 111,5,112-113). Bisher ist lediglich diese Einsicht hergeleitet: Notwendig ist das absolute Wissen außer dem Absoluten da. Welche Seinsart aber ist dem Wissen als Dasein zuzudenken, wenn das Absolute wahrhaft absolut und in sich geschlossen ist? Offenbar können sich das Sein (Leben, Gott) und das Dasein (Wissen, Ich) nicht wie zwei selbständig Seiende zueinander verhalten, so gar, daß der unvordenkliche Grund, aus welchem Wissen und Selbstbewußtsein sind und leben, verschlossen dem Wissen vorausgesetzt bleibt. Wenn aber ein Verhältnis zwischen Seienden wegfällt, dann stehen das absolute und das einzige Dasein wohl in der Einheit eines Seinsverhältnisses zueinander. Die fragliche Einheit solchen Seinsverhältnisses ist die Einheit von Sein und Bild oder Schema. Wie also steht es mit Wesen oder Unwesen des Bildes? In den „Tat-

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Sachen des Bewußtseins" 1813 findet sich der Bescheid: „Was ist Bildwesen überhaupt? Es gibt davon nur einen negativen Begriff: Bild ist Nicht-Sein, so wie umgekehrt, insofern Sein nicht Bild ist. Doch hat das letztere eine Beziehung auf das Sein, und ohne Sein vermöchte es auch nicht zu sein ein Bild, und wäre es gar kein Bild" (NW 1,564). Das erinnert an Platons Entdeckung des Bildseins zwischen dem reinen Sein und schlechthinnigen Nichts. Der Dialog „Sophistes" hat die Wesensart des Bildes im Versuch aufgeklärt, den Sophisten zu stellen (239e-240c). Der nämlich läßt sich als ein Kunstfertiger umgrenzen, der Trug-Bilder zu verfertigen weiß. Der Gattungsname für Trug-Bild ( ), AbBild ( ), Schatten-Bild ( ) ist Bild überhaupt ( ). Wessen Wesens also ist so etwas wie Bild? Einer ersten Zuweisung nach scheint es gänzlich auf die Seite des Nichtseienden und Unwahren zu gehören. Ein Bild, ein Spiegel-Bild oder ein Gemälde-Bild, sieht nur so aus wie das, was es abbildet, ohne dieses wirklich zu sein. Es ist zwar wie das Wahre, dem es sich angleicht, aber doch nur als Scheinhaftes. Es gibt mithin nicht ein Wirkliches und Wahres zu sehen, sondern nur etwas, was da zu sein scheint, es in Wirklichkeit aber nicht ist. Was aber nicht wahrhaft seiend ist, ist doch unwahr und unseiend. So geurteilt, verfällt das Bild dem Nichtsein und der Unwahrheit. Indessen macht der angenommene Gegensatz in seiner kontradiktorischen Schärfe und Ausschließlichkeit Schwierigkeiten. Er wird dem Phänomen nicht gerecht. Gilt denn für das Bildwesen die Disjunktion, wonach das, was nicht wahr ist, unwahr, und was nicht seiend ist, nichts sein müsse? So etwas wie Bild ist zwar nicht wahres Sein, aber offensichtlich auch nicht schlechthin nichts und immer falsch. Bild ist etwas zwischen schlechthinnigem Sein und schlechthinnigem Nichts. Daher muß eine Verflechtung ins Auge gefaßt werden, die im Rufe steht, ungereimt und widersprüchlich zu sein, die Verbindung von Nichtseiendem und Seiendem. Es ist das Zwischenwesen des Bildes, welches eleatischer Strenge das Zugeständnis abnötigt zu sagen, daß Nichtseiendes ist. Und das gilt sogar für Trugbilder, mit denen der Sophist etwas Falsches als wahr vortäuscht. Sophistische techne phantastike verführt zur Annahme von Falschem; sie verleitet dazu anzunehmen, daß ein Nichtseiendes sei. Das aber legt doch die Einsicht nahe: Selbst im Blick des Getäuschten auf ein Trugbild herrscht der Sachverhalt, daß Nichtseiendes ist. Wäre das unwahre Falschbild nicht irgendwie seiend, hätte es nicht die Kraft, zu täuschen und etwas Unseiendes als seiend zu präsentieren. Mithin heißt Bild solches, das nicht wirklich und wahr ist und doch irgenwie

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ist. Es ist, aber nicht das Seiende, von dem es Bild ist. In diese von Platon eröffnete Mitte zwischen Sein und Nichtsein stellt Fichtes erste Kennzeichnung das Bildwesen zurück. Vom Bildwesen gibt es nur einen negativen Begriff. Das ist der vordringliche Charakter des Bildes als eines solchen. Es ist Nichtsein, sofern eben ein Bild nicht das selber ist, was es abbildet. Als Bild steht es unwidersprechlich ontologisch hinter dem Sein, dessen Bild es ist, zurück und bleibt dessen Negation. Aber eine Negation kommt in dieser Entgegensetzung auch dem Sein zu. Sein ist Nicht-Bild; es geht nicht in das Bildsein über und im Bildwesen auf, sofern es dem Sein zukommt, an sich selbst zu sein und sich von sich selbst her zu zeigen, nicht von anderem her, im Bilde und Stellvertreter. Zugleich aber kann dem Bild ein untrennbarer Bezug auf Sein nicht abgesprochen werden. Bild ist, obzwar nicht originales Sein, doch da; ohne Sein wäre das Bild gar nicht da-seiend, so wie das Sein ohne Bild nicht / -seiend wäre. Wie aber ist nun das Bild-Verhältnis geartet, das zwischen Sein und Darstellung des Seins herrscht? Wie stehen zum Beispiel Mensch und gemalter Mensch zueinander? Offenkundig ist ein gemalter Mensch nicht der Mensch selber in seinem Lebendigsein, und doch stellt er nichts anderes dar. Das Bild eines Menschen stellt nichts vor als eben diesen Menschen. Das Bild ist auch nicht etwa ein seiender Teil des Abgebildeten, es ist das abgebildete Seiende in der Vorstellung ganz und gar. Also sind Bild und Sein zugleich identisch und nicht-identisch. Bild ist dasselbe wie das in ihm abgebildete Sein und nicht dasselbe, so zwar, daß das Abbild sich zur Nichtidentität bekennen, das Trugbild dagegen Identität vortäuschen kann im Vertuschen der Nichtidentität. Nun hält sich transzendentales Denken von Bild nicht, wie Platon, an den Sonderbereich der Schatten oder Spiegelungen, welche die Dinge selbst werfen, wie die Bilder von Bäumen oder Wolken im Wasser, und auch nicht an Abbilder, welche Künstler hervorbringen, wie die gemalten Trauben des Zeuxis. Der genaue ontologische Titel spricht in den Bezügen der Dinge überhaupt zum Bewußtsein. Vorstellung ist Bild mit dem Bewußtsein des Bildes. Vorstellung läßt eben nicht das Vorgestellte, etwa Wand oder Ofen, in seinem Sein an sich zu. Das Vorgestellte ist Bild, nämlich Dasein im Bewußtsein. Diese einfachen ontologischen Grundtatsachen sind nun auf die Seinsverhältnisse vom absoluten Sein und Wissen zu übertragen, nicht einfach anzuwenden. Jedenfalls wird der Bezug zwischen Gott und dessen Erscheinen ausdrücklich in das Bildverhältnis eingewiesen. „So-

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dann. Absolutes Bild ist demnach Bild des absoluten Seins. (Wenn ich also sagte: Bild Gottes, Erscheinung Gottes, so hätte ich auch eben so sagen können - schlechtweg: Bild oder Erscheinen, nämlich absolutes)" (ebd.). Das klärt vieles auf. Es wird klar, wie das Absolute ganz außer sich sein kann, ohne seine Singularität und Inkludenz zu verlieren. Was außer dem Absoluten ist, ist nicht etwas selbständig Seiendes außer ihm, sondern dessen Bild. Also geht das Singulum nicht zu einem zweiten und anderen aus sich heraus, es ist da im Bildwesen absoluten Wissens, das außer ihm ist, aber weder ein zweites Selbständiges noch ein anderes Wesen. Und darum ist das Absolute auch nicht teilweise da, als wäre das Wissen eine partikuläre Manifestation seiner. Als Bild ist das Absolute in seiner Äußerung ganz das, was es ist. Und es leuchtet auch ein, daß das Wissen absolut heißen kann, ohne das Absolute und die Allrealität selbst zu sein. Es ist negativ, nämlich Bild und nicht seiendes Sein, und es ist gleichwohl absolut, nämlich Bild des Absoluten. Genauer zugesehen: Das absolute Wissen liegt nicht einfach als Bild vor, es ist da, indem es sich zum Bilde macht. Das Wissen ist, indem es sich selber macht, und zwar zum Bilde. In Wahrheit ist das Sichmachen und Sichsetzen eben ein Sich-zum-Bilde-Machen. Das folgt der Einsicht: Unser sich wissendes und verstehendes Leben lebt nicht aus sich selbst; das tätige Ich macht sich nicht schlechthin selbst, es macht sich als schon gemacht.So macht es sich eigentlich nach, und Nachmachen ist Bild-Machen. Mithin handelt es sich beim Sichbilden des Wissens nicht um ein In-sich-Bestehendes, das sich bildet, wie ein Maler, der sein Portrait malt. Das Wissen ist durch und durch Bild: nichts als das Sich-Machen zum Bilde des Absoluten. Damit bestätigt sich auch noch einmal das Gesetz der Selbstvernichtung. Sichsetzen und Sichabsetzen geschehen mit demselben Schlag. Indem sich das Wissen zum Bilde des Absoluten macht, negiert es sich im entgegensetzenden Bezug zum Absoluten und weiß sich als Nicht-Sein und bloßes Bild.46 In kräftigen, dichten Grundsätzen hat die Wissenschaftslehre 1810 in § l dieses Resultat zusammengestellt. „Soll nun das Wissen dennoch seyn, und nicht Gott selbst seyn, so kann es, da 46

Nach Julius Drechsler und im Einverständnis mit ihm hat Klaus Giel die Bildlehre als die Eigentümlichkeit der Wissenschaftslehre herausgehoben und das IntuierenMachen der Vernunft aus ihrer Endlichkeit als Sichmachen zum Bilde des Absoluten sorgsam und phänomennahe analysiert: Fichte und Fröbel. Heidelberg 1959 (inbesondere Kap. VI-XI,66-104).

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nichts ist denn Gott, doch nur Gott selbst seyn, aber ausser ihm selbst; Gottes Seyn ausser seinem Seyn; seine Aeusserung, in der er ganz sey, wie er ist, und doch in ihm selbst auch ganz bleibe, wie er ist. Aber eine solche Aeusserung ist ein Bild oder Schema" (SW II,696)47 So gewinnt das Wissen eine neue Ansicht. Wissen von dem, was ist, ist im Grunde Bild des Absoluten. Das ist die Grundansicht, welche die Lehre vom Wissen als Phänomenologie des Geistes oder Erscheinungslehre der Vernunft bis zum Ende geleitet hat. So hat noch „Die Wissenschaftslehre vorgetragen im Frühjahr 1813" öffentlich erklärt: „Das Wissen ist durch und durch Bild, und zwar Bild des Einen, welches ist, des Absoluten" (NW 11,9). Dies also und nichts anderes ist das bleibende und feste Objekt der Wissenschaftslehre, nicht das Sein, das Absolute, die göttliche Vernunft, Gott selbst, sondern des Seins Bild und Erscheinung im Elemente des absoluten Wissens. Nun kommt freilich alles darauf an, die komplexe Struktur des Bildseins mit transzendentaler Energie zu durchdringen. Das ist Sache der Bild- oder Erscheinungslehre. Für eine ontologische Verklärung aber ist es förderlich, die Grundstruktur jener Bildverfassung deutlich zu machen, und zwar als ein solches Bilden des Bildes, aus dessen Form, dem Wie des Sichverstehens, alle Weisen resultieren, in denen wir Welt zur Vorstellung bringen und in ihrem Sinn einsichtig machen (vgl. TdB-II,l.Vortrag). Um sich dieser Sichtweise zuzuwenden, sieht sich das philosophierende Bewußtsein aufgefordert, jenen Stand des Verstehens zu reflektieren, in welchem uns die Erscheinung als Bild in der Form des Sichverstehens bewußt wird. „Sie ist ein Bild, in welchem gebildet ist sie selbst als Erscheinung. Das ist sie; und darin ist ihr so ausgesprochenes formales Sein vollendet und geschlossen. Sie hat jetzt verstanden sich: keineswegs aber hat sie verstanden das Verstehen ihrer selbst. Weiter: Sage und denke sodann: Hier versteht sich die Erscheinung, und das ist ihr formales Sein. Versteht sie aber, daß sie sich versteht? Nein. Du hast aber gesagt, sie versteht sich ganz und durchaus; du mußt daher auch 47

Nach Günter Schuhes Kommentar zu § l, Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umriß, 1810. Einleitung und Kommentar, Frankfurt a.M. 1976 bedeutet absolutes Wissen die Allgemeinheit unserer Vorstellungen, insofern wir in Teilnahme am intersubjektiven Diskurs unserer Lebenspraxis stehen, Vernunft die bewußtseinsimmanente Vergesellschaftung des Vorstellens und Gott die Realität dieser im Wissen erscheinenden intersubjektiven Allgemeinheit. Das ist eine kühn pointierende Aktualisierung. Sie beurteilt sich selbst als anachronistisch.

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setzen, daß sie versteht wieder ihr Verstehen. So bekommst du ein Bild (B3), von dem Bilde (B2), durch welches die Erscheinung (B1) sich versteht" (NW 1,409). Was sich aus dieser Besinnung auf den komplexen Bildcharakter der Erscheinung ergibt, ist das Faktum, daß die eine und selbe Erscheinungsform in verschiedene Verstandesakte zerfällt. Es gibt unterscheidbare Momente des Sichverstehens. Diese lassen sich als drei Potenzen des Bildseins darstellen. Die Erscheinung hat den Seinscharakter des Bildes (B1), und zwar notwendig und nicht bloß zufällig. Die Äußerung des Absoluten im Modus des Bildes kann nicht nicht sein, so gewiß das Absolute nicht nicht sein kann und sich notwendig immer schon geäußert hat. Und dieses immerseiende Bild ist Wissen oder „Verstand"; denn vom Absoluten ist wissentlich gesagt: Es ist Eins, und außer dem Einen ist schlechthin nichts - außer dem Wissen von ihm. Solches Wissen kann, will es nicht das Absolute durch den Bezug auf sich selbst relativieren und damit zerstören, kein eigenständiges, in sich selbst ruhendes, substantivisches Sein annehmen. Ihm kommt seinmäßig zu, im Status eines Bildes dazu sein (B1). Nun ist aber die unmittelbare Erscheinung des Seins doch ein Wissen und Verstehen. Mithin ist sie nicht nur Bild, sie hat ein Bild von sich selbst und weiß sich als Bild des Absoluten (B2). Unabtrennlich hat das Bild die Gestalt des Sichverstehens an sich. „Das Sichverstehen ist das formale Sein der Erscheinung" (ebd.). „Verstand" bedeutet in diesem Zusammenhange nicht das spezifische Vermögen empirischer und reiner Begriffe, der Titel nennt die Bewußtseinsform des Fürsichseins und Sichsetzens überhaupt, zusätzlich eines Momentes der Verständigkeit; denn das Sichbilden des Bildes versteht sich auf seine Grenzen ebenso wie auf seine Bestimmungen und Aufgaben im Konstituieren und Verständlichmachen der Welt. Das entspricht haargenau der Position einer transzendentalen Phänomenologie, sofern deren Grundsatz festlegt: Alles, was außer Gott gesetzt ist, ist überhaupt nur im Sichverstehen der Erscheinungen und durch dieses gesetzt. Der Ort, an welchem die Erscheinungen erscheinen, ist das Bewußtsein. Vollständig aber leuchtet der Bildcharakter in der Reflexionsform des Sichverstehens erst dann ein, wenn ein weiterer Verstandesakt vollzogen wird. Damit ist die dreifache Bewußtseinsstruktur von Setzen, Sichsetzen und Sichsetzen als setzend (in intellektueller Anschauung) in die Potenzendifferenz einer transzendentalen Bildontologie eingeholt. Es gibt nämlich unbestreitbar ein Bewußtsein von der reinen Verstan-

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desform der Erscheinung, welches das sich bildende und sich verstehende Bild als solches versteht (B3). Diese schematische Verdeutlichung des Wissens als Bild des Absoluten dient zur ausweisbaren und vollständigen Vorgabe für die Ausfaltung einer Bild- und Erscheinungslehre. Die dreifach potenzierbare Bildform bildet den Ausgangs- und Mittelpunkt für alle prinzipiellen Aufspaltungen und Einigungen einer für und durch uns verstehbaren Welt. Es handelt sich ja nicht um ein totes Bild, das in der Seinsweise bloßer Vorhandenheit vorliegt, sondern um einen „spekulativ" lebendigen Spiegel.48 Dieser Zug des Lebens meint nicht das Funktionierenkönnen der Organe eines Seele habenden, materiellen Körpers, sondern den Vollzug des Wissens in den Formen der Reflexion. „Das Leben, wovon hier die Rede ist, gehört schlechthin zur absoluten Form" (NW I, 411). Ein lebendiges Sichverstehen auf das, was überhaupt ist und erscheint, vollzieht sich im Prozeß einer Zerspaltung des Einen ins Viele und der Einigung des Vielen ins Eine. Von den Zerteilungen des Bildseins in seine drei Aufbaumomente her läßt sich das so anzeigen: In den verschiedenen Potenzen und Reflexionsstufen des Sichverstehens liegt unabweisbar ein unterschiedliches Verstehen von sich selbst und der darin gebildeten und ausgelegten Welt bereit. So zeichnet sich vor allem die alte Hauptspaltung des Seienden im Ganzen in die „Wirklichkeit" aus dogmatischem und in eine „Überwirklichkeit" aus einem höherstufigen Bild- und Seins Verständnis ab, wobei das dogmatische Bewußsein eben bei der Setzung eines an sich absolut bestehenden Bildes (B1) stehen bleibt, während ein tieferes Verstehen auf das Sichbilden und Selbstbestimmen im Bilden des Weltbildes eingeht. In eins gibt die Schematisierung der Bildform eine Einigung des Getrennten vor: im lebendigen Durchlaufen der ins unendlich Vielfache und Fünffache ausgefalteten Hauptmomente und Standpunkte des Sichverstehens.

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Wohin weist der gedichtete Zusammenhang von Bild, Spiegel, Spekulation, sich sehendem Bild (dem gleichsam ein Auge eingesetzt ist) und Licht mit der Zudringlichkeit eines Auges, das nicht einmal wie der Mond geborgtes Licht hat und das grauenvoll geblendet wird, wenn es mehr sehen will, als ein Mensch ertragen kann? Hölderlin (In lieblicher Bläue): „Wenn einer in den Spiegel siehet, ein Mann, und siehet darinn sein Bild, wie abgemahlt; es gleicht dem Manne. Augen hat des Menschen Bild, hingegen Licht der Mond. Der König Oedipus hat ein Auge zuviel vieleicht" (StA II, 373).

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Dieser Ansatz fordert eine erneute Konfrontation mit Hegel geradezu heraus.Hegels Lehre vom erscheinenden Geiste in seinem Erscheinen führt über das Selbstbewußtsein hinaus zur Höhe absoluten Wissens. Absolut heißt solches Wissen, das sich als die vollendete Einigung von Bewußtsein und Gegenstand weiß. Auf der Stufe absoluten Wissens versteht der erscheinende Geist alle fremden und einseitigen Vermittlungen als Selbstvermittlungen. Das gegenständliche Bewußtsein hat sich von der sinnlichen Gewißheit aus zur Freiheit des Selbstbewußtseins erhoben, und diese hat es zur Vernunftgewißheit gebracht, kraft welcher die Vernunft sicher ist, alle Realität zu sein, und daher darauf vertrauen kann, im Anderen und Fremden bei sich selbst zu bleiben. Im Hegeischen Systemaufbau bildet das absolute Wissen den Scheitelpunkt, an welchem die Phänomenologie des Geistes endet und die Logik des Seins als Dialektik der Gedanken Gottes vor der Erschaffung der Welt und des Selbstbewußtseins beginnt. Bei Fichte geht es umgekehrt zu. Mit der Auf- und Klarstellung des absoluten Wissens verschließt sich eine Lehre vom Sein, um eine Erscheinungslehre der Idee zu eröffnen. Und die Erscheinungslehre bildet nicht Eingang und Einleitung für eine Erste Philosophie, sie ist prima philosophia selber. Anders gesagt: Die metakritische Absetzung des Ich und der bei Besinnung bleibende Überstieg zum in sich geschlossenen, unvordenklichen Sein enden mit einer Einsicht in das einzige unmittelbare Dasein, mit der Aufstellung des absoluten Wissens als Bild des Absoluten. Damit ist nun allerdings für eine Ausarbeitung des Systems einer Erscheinungslehre nichts geleistet als die Einweisung in den Gegenstandsbereich philosophischer Forschung. Die These vom Sein, die Ableitung des Daseins und die ontologische Feststellung des Bildes bedeuten nicht ein Ende, sondern den Anfang der Arbeit, Dasein zu enthüllen. Dafür mußte ein Denkweg gebahnt werden, der vom Ich aus als dem sich selbst schlechthin setzenden Setzen zum in sich geschlossenen Sein und Leben jenseits des Selbstbewußtseins führte und der zum Sichverstehen als Form des absoluten Wissens qua Bild des Absoluten zurückleitet. Anders kommt die Sache der Ersten Philosophie nicht unverstellt zu Gesicht. „Nur mit diesem Bilde oder Erscheinen hat es die Wissenschaftslehre zu thun; dies ist das Objekt, der Gegenstand ihrer Einsicht und nichts Anderes. Daß die Wissenschaftslehre bemerkt, das Bild beziehe sich auf das Sein, und drücke aus dasselbe, gehört zum Begriffe des Bildes selbst, und wird darum nicht gesagt um des Seins willen, und um dies zu erklären, sondern bloß um des Bildes willen, und

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um dies dadurch zu erklären. So ist demnach die Wissenschaftslehre nicht Seinslehre, denn eben solche giebt es unmittelbar gar nicht, sondern sie ist Erscheinungslehre" (TdB.II, 1813, 19. Vortr.; NW 1,564).

TEIL Π Methodenlehre Sprache, Dialektik, intellektuelle Anschauung

5. KAPITEL Sprache. Mitteilung der Freiheit - Versagen des wahren Seins Sinnbild der Erscheinungen des Absoluten Die Besinnung auf unsere Grenzen und Schranken im Verstehen und Einholen dessen, was in Wahrheit ist und sein soll, verwehrt der Ersten Philosophie den Überschwang, sich im Äther des Geistes als theologische Logik des Seins zur konkreten Fülle der absoluten Idee zu entfalten, und weist auf den Stand einer Methode zurück, welche das absolute Wissen als Dasein und Bild des Seins durchsichtig macht. Solch kritische Besonnenheit greift über auf die Frage nach den Grenzen sprachlicher Sagbarkeit, methodischer Systematik, dialektischer Begrifflichkeit und geistiger Anschauung. Dabei zeichnen sich vier weitere Problemkreise idealistischen Denkens im neuen Lichte ab: 1. Wesen und Herkunft der Sprache, 2. methodische Explikation und Abschließbarkeit eines Systems, 3. das Grundverhältnis von Leben und Denkform in der Dialektik des Begriffs, 4. Rechtfertigung und Tragweite intellektuellen Anschauens.

5.1 Die Vorbestimmung von Sprache überhaupt: Zeichen der Gedanken und Mitteilung der Freiheit Was ist Sprache überhaupt? Sprache im weitesten Sinne des Worts, ist der Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen" (SuU; GA 1,3,97). Diese Umgrenzung des Sprachwesens liegt allen Stufen der Fichteschen Untersuchungen über Ursprung, Bestimmung und Grenze menschlichen Sprachvermögens voraus und zugrunde.49 Sie findet sich 49

Die Haupttexte der Fichteschen Sprachbetrachtungen sind: „Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache", 1795 (GA 1,3,91-127). - „Über den Ursprung der Sprache", in: „Vorlesungen über Logik und Metaphysik", 1797, §§ 473

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Methodenlehre

in der Abhandlung „Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache" im 3. und 4. Heft des 1. Bandes von Niethammers „Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten", April 1795. Diese Darstellung ist aus der Vorlesung „Logik und Metaphysik" erwachsen. Fichte hat sie in allen Semestern, die er in Jena las, vom Wintersemester 1794/95 an vorgetragen. Das als Propädeutik der gesamten Philosophie angelegte Kolleg nahm Ernst Platners „Philosophische Aphorismen" 1776 in der 4.Auflage von 1793 zur Vorlage, mit der Absicht, die vom Eklektiker Plainer repräsentierte Position des gemeinen Menschenverstandes auf die Stufe transzendentaler Reflexion zu heben. Darin hatte die Sprachphilosophie ihren festen Platz. Das bezeugt die Nachricht Fichtes an Friedrich David Gräter vom 17.Juni 1798, er habe Sprachphilosophie „jedes halbe Jahr in einem collegio zu behandeln" (G A 111,3,124). Fichtes Definition von Sprache im weitesten Sinne umfaßt Gebärden- und Wörtersprache, Ursprache und Vernunftsprache, Laut- und Schriftsprache. Sie ist eine aufgelesene Formel. Eine fast identische Bestimmung bietet Salomon Maimons „Philosophisches Wörterbuch" 1791: „Sprache in der allgemeinsten Bedeutung ist Ausdruck der Gedanken durch Zeichen überhaupt" (GW 111,135). Kant lehrt innerhalb der Anthropologie im Hinblick auf die engere Bedeutung der Sprache als stimmlich gegliederte Verlautbarung: „Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken, und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache" (Anthrop. § 39; VII, 192). Noch Hegels „Propädeutik" 1808 wird unterstellen, Sprache sei Ausdruck eines Allgemeinen, des Gedankens, durch Zeichen, seien diese nachahmend, willkürlich oder symbolisch, hieroglyphisch oder alphabetisch. Und die thematische Behandlung der „Sprachfähigkeit" behält auch in Hegels System ihren angestammten Platz bei. Sie findet sich in der Anthropologie oder der Lehre vom subjektiven Geist. „Der Mensch (hat) die Sprache als das der Vernunft eigentümliche Bezeichnungsmittel" (Logik; ThW VI,295). Die Prüfung der bei Fichte vorgetragenen Sprachwe-

-504 (GA IV,l,291-326). Vgl. dazu „Nachgelassene Schriften zu Platners Philosophische Aphorismen", 1794-1812: „Ueber den Ursprung der Sprache überhaupt", Ostern 1796 (GA 11,4,158-179). - Ferner: „Zusätze zur Abhandlung über die Sprache", Januar 1797 (GA 11,4,179-181). - „Betrachtungen über das Wesen der Sprache", in: „Reden an die deutsche Nation" (SW VII,314-344).

Die Vorbestimmung von Sprache überhaupt

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sensformel auf ihre Tragfähigkeit und Reichweite hin stellt also eine durchgängige Tradition in Frage. So geläufig die unterstellte Sprachdefinition auch klingt, ihre Fichtesche Explikation bekommt doch einen eigenen Akzent. Nach ihr waltet im Zeichen- und Benennungswesen der Sprache Willkür, d. i. die bedachte, absichtsvolle Wahl des Willens mit dem Ziel, sich verständlich zu machen und mitzuteilen. Mit dieser Präzisierung der Sprache auf den Zweck absichtsvoller Mitteilung von Gedanken durch Zeichen wird sich übrigens Novalis auseinandersetzen. Er hat sie wohl bei Fichte gelesen. Jedenfalls bedenkt eine undatierte Aufzeichnung diese Hypothese: „Wenn man also Sprache - Ausdruck einer Absicht nennen will, so ist die ganze künstliche Poesie Sprache - ihr Zweck bestimmte Mittheilung - Erregung eines bestimmten Gedanckens" (Vermischte Fragmente III Nr.214;II,6,572). Für Fichte ist zweifellos der Endzweck der Sprache Mitteilung und Erregung eines bestimmten Gedankens, zuerst und zuletzt nämlich Hinleitung zur Freiheit aus Freiheit in „Communikation" freier Vernunftwesen. Das ist im Durchgang durch die vorgelegte Definition Schritt für Schritt klarzustellen. Sprache sei Ausdruck oder Darstellung durch Zeichen; sie wird vorverstanden als Relation von Zeichen und Bezeichnetem. Das ist ein problemträchtiger Ansatz. Hier aber interessiert Fichtes Zusatz vom willkürlichen Zeichen mehr. Worauf zielt das? Es scheint ein Bescheid auf die alte Frage nach der Herkunft der Bedeutung von Gemeinnamen zu sein, und er scheint für den Konventionalismus zu plädieren. Plainer gibt ja der aufgelesenen Konventionstheorie die Rousseauhafte Wendung, Sprache sei Folge des gesellschaftlichen Verhältnisses und Erzeugnis der bürgerlichen Gesellschaft: Wörter seien „willkürliche Zeichen der Begriffe" gemäß „Verabredung und Willkür ( )". Kronzeuge dafür ist immer noch Aristoteles, dem die im Platonischen „Kratylos" von Hermogenes vertretene Ansicht zugeschrieben wird: „Selbst Aristoteles geht davon aus und leugnet daher ausdrücklich, daß Wörter natürliche Zeichen seyn können" (Philos.Aphor. § 478,477,495; GA II,4S,114). Dagegen polemisiert Fichte alle Tage: Verabredung und Willkür seien aus der Theorie der Sprache ganz herauszulassen. Dieses Votum gilt nicht nur für die Findung der Gemeinnamen, sondern auch für die Erfindung der Grammatik: Verabredung ist unwahrscheinlich und dreht sich im Zirkel (SuU; GA 1,3,97,105,115; vgl. II,4S,166,180). Daher beginnt auch die Wesensbetrachtung der Sprache in den „Reden an die deutsche Nation" mit dem Einspruch: „Die Sprache überhaupt,

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und besonders die Bezeichnung der Gegenstände in derselben durch das Lautwerden der Sprachwerkzeuge, hängt keinesweges von willkürlichen Beschlüssen und Verabredungen ab" (4.Rede; SW VII,314). Fichte vertritt in dieser Frage den Standpunkt des semantischen Naturalismus in Form einer lautmalerischen Mimesis-Theorie: Die Bedeutung der Wörter beruhe auf Nachahmung von Naturtönen bzw. deren analogischer Übertragung (GA 11,4,168). Reinhold argumentiert übrigens gegen den skeptizistischen Einwand, alles komme in der Philosophie auf Bestimmung der Ausdrücke an, und diese seien am Ende willkürlich, so: Das sei eine falsche Auslegung der Überlieferung, welche „die Worte von jeher willkührliche Zeichen der Gedanken geheißen habe" (Über das Fundament des philosophischen Wissens, hg. von Wolfgang Schrader. Hamburg 1978, 88). Aber das Attribut „willkürlich" bezeichne lediglich die Differenz zum natürlichen Zeichen und bedeute nicht: abhängig von freier Wahl und bloßer Willkür. Also ist beim Definitionsteil „willkürliche Zeichen" zu unterscheiden. Im Namenszeichen selbst ist nach Fichte keine Willkür am Werke, wohl aber im Akt des Zeichengebens. Das Sprachzeichen wird absichtsvoll gegeben und an jemanden gerichtet. Es findet sich nicht natürlich vor, so wie der Pulsschlag für Gesund- oder Kranksein ein natürliches Zeichen ist. Aber diese Angabe sieht nicht auf Herkunft und Entstehung, sondern auf Sinn und Zweck der Namen oder Wörter der Rede: die Willkür als Absicht, Gedanken durch Zeichen mitzuteilen. „Die Mittheilung der Gedanken selbst (ist) willkürlich" (SuU; GA 1,3,103104). „Willkür" nennt einfachhin die Freiheit eines Vernunftwesens, nach eigener Wahl anderen Menschen seine Gedanken kundzutun oder zu verschweigen. Nur da, wo sich ein frei verfügender Wille absichtsvoll bemerkbar macht, ist Sprache. Was nun der gesellschaftliche Mensch durch das Zeigen der Sprache kundtut (neuzeitlich re-präsentiert), sind Gedanken. Sprache ist Ausdruck unserer Gedanken. Vor allem Hegel hat ja darauf bestanden, daß nichts in ihr gesagt werden könne, was nicht allgemein sei. Diese Bindung an das Allgemeine grenzt menschliche Sprache von einer Natursprache, dem Ausbruch von Empfindungen in Naturtönen wie Schmerzoder Jubellauten, ab. Fichte erklärt kategorisch: „Unwillkürlicher Ausbruch der Empfindung ist nicht Sprache" (SuU; GA 1,3,98). Rühren uns stimmliche Verlautbarungen von Empfindungen des Schmerzes und der Lust auch noch so an, sie machen nicht die Eigenart menschlichen Spre-

Die Vorbestimmung von Sprache überhaupt

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chens aus; denn es sind unartikulierte Töne, sie werden mechanisch hervorgebracht, sie hegen nicht die Absicht, sich anderen mitzuteilen. Das aber ist und der Sprache.50 Das Lautwerden der Sprache folgt nicht mechanisch-kausal aus Schmerz- oder Lustempfindungen, es gründet in der Freiheit des Willens, sich mitzuteilen. Was mitteilbar ist, ist der allgemeine Gedanke, der von anderen geteilt wird, sei es in der Gestalt einer Vorstellung sinnlicher oder übersinnlicher Dinge, sei es in der Form eines praktischen Vorhabens, welches Gedanken zu verwirklichen sucht. Willkürliche Bezeichnung von Gedanken meint also mitteilendes Aufzeigen von Vorstellungen und Absichten, von Ideen und Plänen aus Freiheit - und nichts weiter. „Bei allem, was Sprache heißen soll, wird schlechterdings nichts weiter beabsichtigt, als die Bezeichnung des Gedankens; und die Sprache hat außer dieser Bezeichnung ganz und gar keinen Zweck" (SuU; 50

Der Abweis einer Natursprachentheorie ist rigoros. „Man hat sich zwar auf unwillkürliche Töne beim Ausbruch der Freude, des Schmerzes u.s.w. berufen, und daraus gar manches über Erfindung und Gesetze der Sprache ableiten wollen; aber beides ist völlig verschieden; unwillkürlicher Ausbruch von Empfindungen ist nicht Sprache" (GA 1,3,98). Das zielt auf die sensualistischen Theorien von de Brosses, De la formation mechanique des Langues, Paris 1765 und Etienne B. de Condillac, Essai sur l'origine des Connaissances humaines, Amsterdam 1746 in ihrer Vermittlung durch Plainer, Aphorismen §§ 478,485,486. Plainer referiert zustimmend: Empfindungen brechen zur Lautsprache aus, und zwar unmittelbar und „mechanischerweise" (GA II,4S,116). Dagegen betont Fichte immer wieder: „Mechanischerweise isl keine Sprache: ... Sprache sezt Absicht voraus" (GA 11,4,180). Aus dem Schallen der Empfindung wird niemals menschliche Sprache. Andererseits hat Herders 1770 entworfene Preisschrift „Über den Ursprung der Sprache" eine Nalursprache als Ausdruck der Leidenschaft und als verbindendes Element aller Rührung gefeiert, welche, von Dichlern zum Tönen gebrachl, das Dasein belebl und in die Kindheit zurückleilet, auch wenn die Töne in der Sprache nur Säfte, nicht die Wurzel menschlichen Sprechens (als Besinnungs- und Benennungskunst) sind. Novalis wird klagen: „Unsre Sprache - sie war zu Anfang viel musicalischer und hat sich nur nach gerade so prosaisiert - so enttönt" (Das Allgemeine Brouillon; 111,9,283-284). Und Novalis wird magisch-idealistisch von der erlösenden Macht des dichterischen Wortes erklären: „Worte sind nicht allgemeine Zeichen - Töne sind es - Zauberworte" (Vorarbeiten Nr. 32;II,6,533). Hat nicht Fichte selber in „Über Geist und Buchstab in der Philosophie" dem Ingenium und Geiste dichterischer Sprache zugestanden, das Spiel der Empfindungen zum Tönen und eine geistige Grundstimmung zur Sprache zu bringen? Wie stehl das zum Grundsatz: „Unwillkürlicher Gebrauch der Sprache enthält einen innern Widerspruch" (SuU; GA 1,3,98)?

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GA 1,3,98). Das verdient, eingesch rft zu werden. Das Telos der Sprache ist Mitteilung, Verst ndigung, Er ffnung von Gedanken; sie bezeichnet, zeigt auf, tut kund, um Gedanken ins Offene zu bringen. Sprache hat nicht den Zweck, Gedanken durch Hineinbilden von Ideen in die Sinnenwelt ins Werk zu setzen. Nat rlich eignet der Sprache eine „illokution re" Kraft, d.h. das Verm gen, in Rede und Satz - in locutione - kommunikativ etwas zu bewirken. Aber das Tun der Sprache darf nicht mit der Praxis des Willens gleichgesetzt werden. Immer kommen Gedanken und Absichten auch durch unser Tun und Lassen in praxi zutage, und sie k nnen durch bestimmte taktische Winkelz ge auch verschleiert werden. Aber dieser Umstand, da im technisch-politisch-moralischen Handeln Gedanken und Absichten ins Offene kommen, bleibt zuf llig und geht mit dem eigentlichen Zweck stets nur beil ufig mit. Das Tun allt glicher Praxis hat seinen Sinn und Zweck nicht im Bezeichnen durch willk rliche Zeichen. Ich esse, um meinen Hunger zu stillen, nicht aber, um anderen zu er ffnen, da ich hungrig bin. Ich leiste Hilfe, um redlich zu helfen, nicht um meine Hilfsbereitschaft publik zu machen. Da sich dabei der zu stillende Hunger oder die t tige Hilfsbereitschaft anderen kundtut, kommt dem Handeln lediglich akzidentell zu. „Ich handle nicht, um andren meine Gedanken zu er ffnen" (ebd.). Akkurat das aber, die Er ffnung von Gedanken durch willk rliche Zeichen, ist Telos und Substanz der „Sprechhandlung". Und genau das, was im praktischen Handeln akzidentell bleibt, macht die Wesensaufgabe sprachhaften Tuns aus. Mithin m ssen „Handlung" und Sprache streng voneinander getrennt werden. Selbstverst ndlich sind die Vollz ge von Sprechen, Miteinanderreden, Informieren, Sichverst ndigen und erst recht Versprechen, Behaupten, Befehlen, Loben Akte im Sinne des kategorialen Tuns (ποιεΐν) und des modalen Am-Werke-Seins (ενέργεια). Freilich bedeutet die passivische Form des Beredet-, Abgesprochen-, oder Gelobtwerdens im kategorialen Sinne auch ein Leiden (πάσχειν). Analog kommt der Seinsmodus der M glichkeit (δύναμις) zum Zuge. „Der Mensch spricht bzw. wird gelobt" kann ja auch besagen, er sei der Sprache fallig bzw. lobenswert. In kategorialer wie modaler Hinsicht also unterscheiden sich Tun und T tigkeit des Sprechens nicht von den theoretischen Akten des Sehens oder Denkens. Zugleich aber sollte auf den Unterschied geachtet werden. Der Vollzug der Sprachabsichten ist kein technisch-politischmoralisches Handeln praktischer Vernunft. Fichte legt eine kl rende Scheidung nahe. Das einzige Ziel des „Sprechaktes" ist die mitteilend-

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aufzeigende Eröffnung von Gedanken. So zeigt dieser Akt wohl Absichten wirklichen Handelns an, aber er intendiert nicht einmal deren Erfüllung.51 Werden dagegen Handlung und Sprechakte vermischt, dann wächst die Gefahr, die Grenzen der Sprache zu überspringen und dadurch ihr eigenes Vermögen zu verkennen. Worauf nämlich das Zeichen der Sprache zuerst hinweist und hinleitet, ist der erste Gedanke: Selbstsein und Selbstbestimmung. Mit diesem Vorblick tritt die Wesensbestimmung der Sprache durch Fichte schon deutlicher heraus. Sprache ist Mitteilung der Freiheit und die notwendige Bedingung dafür, daß der Mensch unter Menschen ein Mensch werden und bleiben kann.

5.2 Vernunftgerechte „Communikation" durch Mitteilung unserer Gedanken? Erörterung der L Fichteschen Sprachdeduktion Die Angel, um die sich Fichtes frühe Erörterung der Sprache dreht, bildet der Fundierungszusammenhang von Mensch, Selbstbewußtsein, Gesellschaft und wechselseitiger Verständigung. Fichte gebraucht dafür das Wort Communikation. „Der Mensch (wird) zur Communikation getrieben" (GA 11,4,165). Freies, selbstbewußtes Handeln soll, „behaupte ich von Communikation ausgehen" (GA 11,4,179). Ihren spezifischen Ort finden Sprache und Communikation somit in dem Problemfeld, das durch Fichte allererst eröffnet worden ist, im Gebiete von Fremderfahrung, Intersubjektivität und Interpersonalität. Sprache kann in der Tat nicht fiktiv isolierten, auf sich vereinzelten Menschen zugedacht wer51

Die Eigenstruktur performativer Rede im Sinne der Sprechakttheorie (J.L. Austin, J.R. Searle) könnte kritisch durchgeklärt werden, wenn man eine neue Differenz einführte: zwischen „signifikativen" und „pronuntiativen" Akten. Die signifikativen Performationen kündigen Folgen an („ventus tempestatem significat"). Das „Ja" bei der Trauung ist ein Versprechen, das den Willen zur Ehegemeinschaft anzeigt und darum unter Bedingungen vielgestaltigen Glückens und Mißglückens stellt. Pronuntiative Performation dagegen hat den Charakter eines Macht-Wortes im Bannkreis von Kultus und Mythos. So ist das Auferlegen des „harten Wortes" ( ) durch den Heerkönig für Chryses, der die Freigabe der Tochter erfleht, Schicksal (11.17,33). So heißt es bei Hölderlin von den „Götterworten", sie seien Gebot und Erfüllung zugleich (StA 111,89). Und Novalis erinnert an die „Genesis": „Sprechen und thun oder machen sind Eine nur modificierte Operation. Gott sprach es werde Licht und es ward" (Das Allgemeine Brouillon, Nr. 319; , 9,297).

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den. Mitteilungen von Gedanken und Absichten brauchen Bezüge zum Anderen. Mitteilung ist ein soziales Phänomen. Der Anlaß zur Verlautbarung ist der Andere. Das hat Humboldt in schlichter Einfalt klassisch formuliert: „Jedes ausgesprochene Wort war ein Versuch, sich einem ändern verständlich zu machen. Der vereinzelte Mensch würde nie auf den Einfall zu sprechen gekommen seyn. Denn die Anlage zur Sprache hängt unzertrennlich mit der Anlage zur Geselligkeit zusammen. Eine sprachlose biberartige Gemeinschaft unter Menschen ist schlechterdings ein widersprechender Begriff (Über die Basken; W V, 104). In diesem Kontext nun versucht eine transzendentale Herleitung, die Idee der Sprache aus dem Prinzip des Ich zu deduzieren. Fichte hat den Gang dieser Ableitung mehrfach skizziert. Deren Wiederholung wird von der Absicht geleitet, Tragweite und Grenze der von der sprachphilosophischen Forschung weithin unbeachtet gebliebenen Deduktionen kenntlich zu machen. Der erste Gang unternimmt es, die Sprache selbst als gegenseitige Mitteilung der Gedanken durch Zeichen transzendental herzuleiten und zu rechtfertigen. Er ist im Journal-Aufsatz „Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache" (GA 1,3,99-103) vor dem Hintergrunde des Publicums „De officiis eruditorum", insbesondere der 2. Vorlesung „Über die Bestimmung des Menschen in der Gesellschaft", gebahnt worden. Dabei führt die Methode dahin, das höchste Prinzip im Menschen aufzusuchen und dann zu sehen, ob Sprache als notwendiges Moment in dieser grundsätzlichen Bestimmung des Menschen liegt. Die höchste Bestimmung des Menschen lautet nun: Sei immer einig mit dir selbst! Weil der Mensch wesensmäßig davon bedroht wird, einem Selbstwiderspruch zu verfallen, ist er durch die Aufgabe definiert, sich mit sich in Übereinstimmung zu bringen. In dieser Hinsicht zeigt sich Fichtes Denken als Ontologie des Menschen aus Sorge um dessen stets gefährdetes Wesen in der großen Tradition der Platonischen Paideia. Nun freilich sticht die Gefahr hervor, daß das „vorstellende Wesen" vom Vorgestellten, das als außer ihm seiend und fremd erscheint, fremdbestimmt und bedingt wird. Darum drängt unsere Vernunftnatur darauf, alles Vernunftwidrige außer uns vernünftig zu machen und das Wirkliche, den Widerstreit von Ich und Nicht-Ich, dem Ideal einer absoluten Einheit anzunähern. Dieser Antrieb zur Wesensverwirklichung im strengen Sinne des Wortes sucht vordringlich die sinnliche Natur nach menschlichen Zwecken zu bearbeiten, um die Furcht loszuwerden, von der Gewalt der Natur abzuhängen und unfrei existieren zu müssen. So

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scheint das Verhältnis des Menschen zur Natur das eines Kampfes, gleichsam eines unaufhörlichen Unterjochungskrieges, zu sein. Und das ist keine empirische, sondern eine apriorische Feststellung; denn das selbstbewußte Wesen braucht, um sich nicht in leerer Unendlichkeit zu verlieren, den Gegenstand als „Anstoß", Schranke und Dawider. Wie aber steht es damit im Verhältnis zu einem Gegenstand und Objekt, das selbst Subjekt- und ichhaft ist? Ist das Verhältnis des Ich zum Nicht-Ich-Ich von Anfang bis Ende ebenfalls ein fortwährender Kampf? Das scheint im Naturstand so zu sein. Fichte zitiert Hobbes „De cive" (nach der Ausgabe von 1647) und „Leviathan" von 1651: Danach herrscht eben im status naturalis ohne Unterwerfungsvertrag ein Unterjochungskrieg aller gegen alle gemäß dem ius in omnia. Fichte sieht, daß diese durch die Bürgerkriegserfahrung genährte Position nicht durch das Argument der entgegengesetzten Erfahrung gegenseitiger, humaner Hilfeleistung zu erschüttern ist. So stünde Erfahrung gegen Erfahrung. Mithin müssen das soziale Urverhalten und die soziale Grundstimmung a priori dem Prinzip entnommen werden, das in der Natur des Menschen liegt. Das ist der Urtrieb, alles außer sich vernunftgemäß zu machen. Dieser trifft nun, indem er auf Mitmenschen stößt, auf etwas, was von sich her schon mit ihm übereinstimmt. Darum bilden nicht Mißtrauen und Furcht die „Grundbefindlichkeit" der Mitwelt, sondern das freundliche Wohlgefallen, ein „gleichgestimmtes Wesen - einen Menschen angetroffen zu haben" (GA 1,3,101). So gewinnt die Mitwelt ontologisch einen Vorrang gegenüber der Körperwelt. Der Mensch ist primär nicht ein körperhaftes Naturwesen unter anderen im Universum, sondern ein animal sociale. Ein anderer Mensch ist nicht ein Objekt unter anderen Objekten, dem gegenüber sich das vorstellende Ich gänzlich fremd fühlt; ein alter ego wird als vertrautes Gegenüber in einer Stimmung der Vertrautheit erschlossen. Der Mensch ist nur unter Menschen Mensch, weil er nur in gleichgestimmter Gemeinschaft hoffen kann, seine Bestimmung und Aufgabe in Frieden zu erfüllen. Diese Überlegung ruft die Vorfrage auf: Wie bin ich der Existenz des Fremden außer mir, eines alter ego, gewiß? Fichte entfaltet das Problem der „Fremderfahrung" im Horizont der praktischen Vernunft und im Gefolge der Forderung nach Übereinstimmung mit sich selbst im Modus wechselseitiger Anerkennung von ego und alter ego. Das wird in der Grundlegung des Rechtsgrundes tiefer zu erörtern sein. Hier gleitet die Herleitung ins Gebiet der Erkenntnistheorie zurück. Um das Andere und Fremde als anderes Ich wirklich anzuerkennen, muß ich es zuvor

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als solches erkannt haben. Und die Existenz eines vernünftigen Wesens außer mir ist - dieser frühen Deduktionsfassung zufolge - durch einen Analogie-Schluß gesichert. Ein Handeln außer mir „nach veränderter Zweckmäßigkeit" läßt in Analogie zu meiner eigenen Vernunftmäßigkeit auf das Dasein eines vernünftigen Wesens außer mir schließen. Der schlüssige Sachverhalt liegt vor, wenn ein fremdes Wesen Ziel und Zweck seines Handelns von sich her ändert, nachdem ich auf es nach meinen Absichten eingewirkt hatte, „z.B., ich erzeige ihm eine Wohlthat, es erwidert sie" (SuU; G A 1,3,101). Also schließt unsere Erkenntnis aus solcher Praxisänderung auf ein Handlungssubjekt, das Freiheit und Vernunft besitzt. Warum aber endet der Deduktionsgang nicht mit diesem Schluß? Genügt eine Identifizierung gleichgestimmter Iche nicht als letzte und hinreichende Bedingung dafür, die Bestimmung des Menschen zu erfüllen? An dieser Frage hängt offenbar die Bedeutung der Sprache für eine menschengerechte Wesensverwirklichung. Der Gedankengang, welcher das Gewicht der Sprache ermißt, verläuft so: Eine Wechselwirkung vernünftiger Wesen aufeinander ohne Sprache wäre dem Mißverstande ausgesetzt; dieser könnte den Menschen in Widerspruch zu seinen Zwecken versetzen. Im sprach- und wortlosen Handeln und Einwirken aufeinander kommen ja die Gedanken und Absichten, mit denen sich der Handelnde trägt, nur akzidentell zum Austrag. Sie werden nicht eigentlich und nicht auf eindeutige Art und Weise ausgedrückt. Dadurch aber droht die erstrebte Übereinstimmung eines jeden mit sich durch Zusammenstimmung mit den Anderen zu mißglücken und in Mißverstand, Undank, Feindseligkeit zu pervertieren. Weil nämlich der unausgesprochene Beweggrund unseres Handelns im Innersten verborgen ist, kann selbst der beste Wille verkannt und mißdeutet, die erstrebte Übereinstimmung des Menschen mit sich im Anderen mißgeleitet und durch Unfrieden vernichtet werden. Dieses Grundphänomen mitmenschlicher Praxis macht die rettende Funktion der Sprache deutlicher. Also tritt Sprache als das Organon und Medium hervor, durch das Menschen einander ihre Gedanken deutlich mitteilen und ihre Absichten eindeutig vereinbaren können. Daher stammt der Drang, in verfahrenen menschlichen Situationen sich auszusprechen und offen über alles zu reden, d.h. die im Handeln verschwiegenen Gedanken und Absichten aufzudecken. Das Miteinander-reden-Wollen aus Not führt zur Sprache als eindeutige Mitteilung der Gedanken durch Zeichen. Sie liegt als Werkzeug und Organon bereit, eine durch ein elementares Mißverstehen ge-

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fährdete Mitwelt frei und friedvoll füreinander zu machen. Daran hat Fichte immer festgehalten: Das vorzüglichste Instrument der Verständigung und das Medium der Eintracht sei die Sprache. Wo immer es um Verständigung und herzustellende Einmütigkeit im Weltverstehen geht, da leistet die Sprache das ihrige. „Sie ist nur das Mittel der Verständigung mit Ändern, und das Element der Einmüthigkeit einer aus mancherlei Individuen bestehenden Geisterwelt" (PD; NW 111,270). Damit scheint der Deduktionsweg geschlossen. Er läßt sich als Bedingungsreihe artikulieren, welche die Sprache notwendig mit der Bestimmung des Menschen verknüpft: ohne Sprache kein unmißverständliches Auswechseln von Gedanken und Absichten unter Menschen; ohne eindeutiges sprachliches Kommunizieren, ohne den Dialog der Sprache keine vernunftgemäße Wechselwirkung von Handlungen freier Wesen aufeinander; ohne geglückte Wechselwirkung keine Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst durch Zusammenstimmung mit Anderen; ohne Übereinstimmung des Menschen mit sich keine Erfüllung seiner Bestimmung. Also kommt die Sprache als Bedingung zu Gesicht, die notwendig ist, damit der Mensch seine Aufgabe in der Gesellschaft gemäß dem Sollensgebot erfüllen kann: „Sei immer einig mit dir selbst!". Aber bildet die Wörtersprache nicht alltäglich ein Forum verständnislosen Unverstandes? Sind ihre Zeichen nicht eher ein Vehikel der Gedankenlosigkeit? Verständigen sich Menschen in nachbetendem Geschwätz nicht oft genug nur zum Schein? Solches Mißtrauen gegen die Mitteilungskraft der Wörter- und Gedankenzeichen zieht sich durch Fichtes Denken hindurch.52 Im „Versuch einer neuen Darstellung der 52

Eine tiefgehende Kritik an der Sprache und deren Rückstellung auf „willkürliche Zeichen" zeichnet sich im Werke Jacobis ab. Jacobi sieht, wie das Ich sich „durch den geilsten Mißbrauch des Vermögens willkührlicher Bezeichnung, dieses zweyschneidigen Schwertes der Wahrheit und Lüge" (Allwill, Zugabe; W 1,251), vom Urgründe des Seins und lebendigen Gottes loslöst. Die Gefahr erwächst nicht zuletzt daraus, daß die Sprache sich auf den Ausdruck von Gedanken durch willkürliche Zeichen versteift. So werden die lebendigen Empfindungen und Leidenschaften verschwiegen oder gezügelt, indem man sie sprachlich an Begriffe und leere Zeichen bindet. „Da aber Begriffe nur vermittels der, mit ihnen verknüpften, Zeichen festgehalten, fortgeleitet und ausgebreitet werden können; so sind die Zeichen von Natur im Besitz eines gefährlichen Einflusses" (Zufällige Ergießungen; W 1,278). Je willkürlicher die Zeichen werden, desto mehr verfestigt sich die Gewohnheit, Wörter für Begriffe zu halten und zu denken, ohne zu verstehen. Und da

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Wissenschaftslehre" 1797/98 heißt es pauschal: „Die Sprachzeichen nämlich sind durch die Hände der Gedankenlosigkeit gegangen, und haben etwas von der Unbestimmtheit derselben angenommen; man kann durch sie sich nicht sattsam verständigen" (GA 1,4,272). Das gewöhnliche Mitteilen verfällt zum Gerede. Durchschnittlich und alltäglich herrscht das Geschwätz, weil die beredete Sache selbst nicht zu lebendiger Anschauung und Entschiedenheit gebracht wird. Vielmehr nimmt man den Sachverhalt ungeprüft vom bloßen Hörensagen her auf und gibt ihn in Wörtern ohne innerliche Evidenz-Aneignung als leeren Schall weiter. Das Miteinander-Sprechen, das die Gemeinschaft freier Geister stiften soll, verkommt zumeist zum Nachbeten von Gehörtem und Nachleiern von Redensarten. „So stehts nun mit der gewöhnlichen Mittheilung der Menschen gar zu oft u. viel; mehrenteils sind sie nur zusammen und schallen einander an" (GA IV,l,308). Es gibt Anweisungen Fichtes genug, angesichts dieser Zustände Wörter Wörter sein zu lassen, Zeichen und Wort wegzustellen, die Wörter zu einem leeren Hauche schwinden zu machen. Jedenfalls taugt die alltägliche Umgangssprache nicht dazu, eine lebendige Verständigung unter Vernunftwesen herbeizuführen. Das liegt nach Fichte nicht eigentlich an der Kontingenz und Individualität des jeweiligen Sprachhorizontes, wonach alles Verstehen auch partielles Mißverstehen impliziert,53 sondern primär daran, daß die Wörtersprache ohne die Kraft der innerlichen Veranschaulichung und Verlebendigung der Gedanken-Zeichen leer bleibt und gedankenlos wird. Dieser Befund erschöpft sich nicht in einer Zeitkritik der Sprachver-

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Stimme und Buchstabe wie alles Körperliche in sich finster und leblos sind, kann es keine positive Menschensprache dahinbringen, „in und durch sich selbst lebendig, an und für sich verständlich" zu sein (Zufällige Ergießungen; W 1,285). Daß jedermann unter der Voraussetzung spricht, wahrscheinlich mißverstanden zu werden, ist ein Humboldtsches Axiom: „Ganz und durchaus versteht auch in der höchsten Cultur und bei den einfachsten Sachen niemand den ändern" (W V, 104). Sprachliche Verständigung und Mitteilbarkeit finden eben ihre Grenze an der Individualität der miteinander Sprechenden wie an der je eigenen, perspektivischen Weltansicht und Weltbemächtigung durch sich in sich wandelnde Sprachen.

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fallenheit.54 Er nötigt, eine eigentümlichere Bestimmung der Sprache aufzusuchen. Vielleicht liegt der Mitteilungs- und Verständigungsfunktion der Sprache eine anfänglichere Kommunikationsfunktion zuvor. Braucht die Verständigung zum Frieden nicht zuvor das erzieherische Wort als Aufforderung zur Freiheit und Selbstbestimmung? Das zwingt zu einer erneuten Besinnung auf die Ursprungsverhältnisse der Kommunikation zwischen Ich und Du. 5.3 Leitung der Freiheit durch Freiheit. Die Ansprache des anderen Ich als Bedingung freier Selbstwerdung und die Lösung des Sprachursprungsproblems Es gibt in der Tat eine andere Ausarbeitung der Sprachdeduktion auf Fichteschem Denkwege. Diese hat die „Grundlage des Naturrechts" 1796 zum Hintergrund und findet sich in dem Manuskript zur Vorlesung über Platners „Philosophische Aphorismen" mit dem Datum Ostern 1796: „Ueber den Ursprung der Sprache überhaupt" (GA 11,4, 159-160; vgl. „Zusätze zur Abhandlung über die Sprache". Januar 1797; GA 11,4,179-181). Eine Ausarbeitung dieser Skizze bietet die Kollegnachschrift von Friedrich Christian Krause, wohl aus dem Sommersemester 1797 „Ueber den Ursprung der Sprache" (GA IV,l,292-323). Unter den Hörern war übrigens Friedrich Schlegel. Aus Jena schreibt er am 24.Mai 1797 an Novalis, dem er das 3. Heft des „Philosophischen Journals" mit Fichtes Sprachabhandlung schickt: „Ich werde immer mehr Fichtes Freund. Ich liebe ihn sehr, und ich glaube es ist gegenseitig ...er liest ein Publikum über die gesammte Philosophie, wo ich natürlich höre. Könntest Du doch auch dabey seyn" (Novalis, Schriften; IV,485).In diesem Kolleg hat Fichte die Spracherörterung neu gefaßt.

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Einen noch tieferen Verfall attestiert Fichte bekanntlich in den „Grundzügen" der Mitteilungs- und Kommunikationskraft des geschriebenen, gedruckten und rezensierten Wortes in einem schreib- und leseseligen Zeitalter. Es erzeuge den Leser, der in pausenlosem Lesen seinen Geist zerstreue, mit der heillosen Wohltat, ihn vom angespannten Denken zu entlasten, in „süße Vergessenheit seiner selbst" zu wiegen und an absolute Passivität des Hingebens zu gewöhnen. Literatur als Opium für den „reinen Leser" mache die Menschen vollends unfähig, einfache und lebenswichtige Gedanken auszutauschen und sich über sie zu verständigen (GgZ, 6. Vorl.; SW VII,87-90).

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Jedenfalls berichtet er an Reinhold am 27.August 1796, er habe den Kollegstoff der Plainer-Vorlesung ganz neu bearbeitet (GA III,3,Nr. 344). Die Neufassung schickt sich in den alten Rahmen des Sprachursprungsproblems. Sie sucht, die Frage von Individualität und Intersubjektivität genetisch zu klären, indem sie eine Wendung im Ansatz der Fremderfahrung vollzieht. Sie verbindet die Winke der Sprache mit der Form des Aufforderns und setzt die Mitteilung durch Sprache vom Hören und Entsprechen her dialogisch an. So stellt sich das Zeigen des Sprachzeichens als ein Hinleiten zur Freiheit durch Freiheit heraus. Darauf beschränkt sich die kommentierende Analyse. Darum soll die Deduktionsreihe auch nicht durchgearbeitet und problematisiert werden. Diese Diskussion wird in der Naturrechtsfrage geführt. Hier kommt es lediglich darauf an, die Folgerichtigkeit einer Herleitung durchsichtig zu machen, welche das Zeichenwesen der Sprache unzertrennlich mit dem „Ich bin" verflechtet. Der zusammenbindende Satz lautet: „Ich bin; ich bin mir meiner als vernünftiges Wesen bewust, lediglich in sofern ich mich als Individuum setze; dieß aber nur in dem ich ein vernünftiges Wesen neben mir annehme, dieses kann ich nur insofern als mir ein Begriff mitgetheilt wird, u. dieses ist nur möglich durch ein Zeichen" (GA IV,l,293). Methodischer Sicherungswille dringt auch hier auf unumstößliche Gewißheit: So gewiß ich bin und existiere, so gewiß sind die unabweisbaren Bedingungsmomente; diese existieren mit derselben Gewißheit, mit der das denkende Ich existiert. Solche Vergewisserung zielt auf die Zeichen gebende Sprache ab. „So gewiß Menschen sind, so gewiß sind Zeichen... - und ohne diese kann der Mensch nicht sein" (GA IV,l,296). Eine so strenge Folgerichtigkeit findet sich in der vielschichtigen Erörterung von Sprache und Mensch kein zweites Mal. Die hier zu bedenkenden Schritte der Ableitung gehen folgenden Gang: 1. ohne Bewußtsein von Freiheit kein Ich, 2. ohne Individualität kein wirkliches Freiheitsbewußtsein, 3. ohne die Existenz eines auffordernden Anderen kein Individuum, 4. ohne leitendes Zeichen keine Aufforderung. Mithin kann es ohne Sprachlichkeit kein freies Ich geben. 1. Der Ausgang baut auf das Ende der „Grundlage": „Ich bin ich, heißt: ich bin frey" (GA IV,l,293). Dabei unterscheidet sich das menschliche Subjekt von Gegenstand und Nicht-Ich nicht nur durch das Vermögen, „sich durch seinen Willen zu dem oder jenen zu machen" (ebd.), sondern durch das Wissen, das sich frei weiß. Die ideale Tätig-

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keit begleitet die reale, ein Intuieren das Sichsetzen. Selbstsein ist in der Wurzel Freiheitsbewußtsein. 2. Richtet sich der Blick auf das Wirklichsein der Freiheit in geschichtlicher Welt, dann tritt das individuelle Ich hervor. Das Gesetz lautet: „Es ist kein Selbstbewußtseyn ohne Bewußtseyn der Individualität" (NR § 4;GA 1,3,353). Freie Tätigkeit läßt den Menschen von Bestimmbarkeit zu Bestimmtheit aus Unbestimmtheit übergehen; in Wirklichkeit existiert Freiheit nur in einem je und je bestimmten und beschränkten Spielraum von Möglichkeiten und Aufgaben. Besteht nun sogar das principium individuationis bei Menschen darin, daß jedem Einzelnen die unvertauschbare Lebensaufgabe zukommt, in seiner geschichtlichen Handlungssphäre Freiheit zu verwirklichen, dann geht das reine Selbstbewußtsein in die Gestalt der Individualität ein. Ohne die unvertretbare Einzigartigkeit des Menschen in Erfüllung seiner Freiheitssphäre bliebe das Selbstbewußtsein als Fürsichsein absoluter Freiheit unbestimmt. Die große Idee der Selbstbestimmung ist da, wo der Mensch seine Individualität ergreift. So wird die Individualität des je Einzelnen von Anfang an nicht etwa als Egoismus eines selbstsüchtigen Einzelwillens, sondern als Medium eingesetzt, die Idee der Freiheit in der Welt unter Abstreifen der Ichsucht zu verwirklichen. 3. Von Anfang an und immer klarer wird das Individuum als Glied der Geisterwelt begriffen und aus dem Bezug zu Anderen hergeleitet. Darauf lastet das ganze Gewicht der Deduktionsreihe. Das Ich Fichtes gewinnt seine Wirklichkeit gerade nicht im isolierten Individuum ohne Blick für das Du und das „gesellschaftliche Sein". Unüberholbar hatte der zweite Vortrag „De officiis eruditorum" 1794 erklärt: „Der Mensch ist bestimmt, in der Gesellschaft zu leben; er soll in der Gesellschaft leben; er ist kein ganzer vollendeter Mensch und widerspricht sich selbst, wenn er isolirt lebt" (GA 1,3,37). Entsprechend heißt es im „Naturrecht": „Der Begriff des Menschen ist so nach gar nicht Begriff eines Einzelnen, denn ein solcher ist undenkbar, sondern der einer Gattung" (NR § 3,Cor.; G A 1,3,347). Und insofern zum Leben in der Gesellschaft sprachliche Kommunikation gehört, hat Fichte als erster und einziger grundsätzlich die Vorstellung eines isolierten, der sprachlichen Gemeinschaft unbedürftigen Individuums zerbrochen. Das geschieht durch einen scheinbar paradoxen Aufweis. Individuum zu sein heißt, durch den Bezug zum Anderen frei zu werden. „Der Begriff der Individualität ist aufgezeigter Maßen ein Wechselbegriff' (NR § 4,Cor.; GA 1,3,354). Fichtes Ansatz wahrer menschlicher Individualität ist nicht isolierend

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individualistisch und ohne Sinn für das soziale „Gattungswesen" Mensch, sondern sprachlich-kommunikativ. Um das ins Offene zu bringen, muß sich der Blick auf die Genesis des individuellen Ich in Zeit und Wirklichkeit der Sinnenwelt richten. Wie steht es mit Herkunft und Entstehung des jeweiligen Ich- und Freiheitsbewußtseins in der Menschenwelt? Eine naheliegende Antwort scheidet aus. Ich mache mich nicht schlechthin selber frei; dann müßte ich ja „meine Freiheit mit dem Bewußtsein des Producirens produciren" (GA IV,l,293). Das wäre ein Zirkel. Um mich selbst freizumachen, müßte ich schon Ich sein, d.h. Selbstbewußtsein und damit Freiheit haben. Folglich mache ich mich nicht frei, ich finde mich frei. „Meine erste Vorstellung ist die von meiner Freiheit; ich finde mich als frey, ich werde mir so gegeben, nicht ich mache mich frey" (ebd.). Das mag einen transzendentaler Aufschluß für die Faktizität liefern, wonach wir aus Freiheit wählen, die Freiheit selbst aber nicht gewählt haben, auch wenn wir uns in einer „Urwahl" für sie entscheiden. Bringen wir nun die Vorstellung unseres Freiseins nicht selbst hervor, dann wird sie uns durch ein anderes Wesen außer uns gegeben. „Das was die Vorstellung der Freiheit giebt, muß diese Vorstellungen selbst haben" (GA IV,l,294). Geradeso wie das Feuer, das Brennbares entflammt, selber Flamme sein muß, muß das Wesen, welches Freiheit bewußt macht, an ihm selber freiheitsbewußt sein. Es geht hier eben um den Übergang aus der Möglichkeit von Freiheit in den Zustand der Wirklichkeit; der braucht ein Hervorbringendes, das wirklich frei ist und sich frei weiß. Dieser ontologische Befund zerbricht die Isoliertheit des Individuums und sichert die Existenz eines alter ego. So gewiß ich mich als frei finde, so gewiß existiert ein anderes Vernunftwesen außer mir, das mich dahin leitet, mich frei zu finden.55 Und so zerfällt die fen55

Fichtes Weg vom existierenden alter ego zum werdenden Ich bedeutet eine Wende im Problemansatz der Fremderfahrung. Der klassische Weg sucht, vom ego aus zur Vorstellung eines existierenden alter ego (extra me) zu kommen. Er scheitert an der Klippe des Solipsismus. Exemplarisch dafür ist Husserls 5. Cartesianische Meditation. Der Ausgang von einer „primordialen Sphäre" bildet zwar keinen Ungedanken, wohl aber eine ebenso unnatürliche wie fruchtlose Abstraktion. Die analogisierende Appräsentation eines Bewußtseins zum wahrgenommenen fremden Leibkörper transzendiert nicht das Reich des Primordialen und kommt nicht zum Anderen als einem wirklich Anderen. Zu diesem Problemkomplex vgl. Klaus Held, Das Problem der Intersubjektivität und die Idee einer phänomenologischen Transzendentalphilosophie, in: Perspektiven transzendental-phänomenologischer

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sterlose Mauer der Ich-Einsamkeit in nichts. Die fensterlose Monade, die Annahme einer „primordialen Sphäre" sind künstliche Abstraktionen. „Keiner hält sich für isoliert sondern so gewiß er ist, nimmt er andere ausser sich an" (GA IV,l,295). Was ist dabei bisher bewiesen? Sicherlich ist noch keine Vielheit von anderen Ichen außer mir deduziert, sondern allein das Urverhältnis eines Weg weisenden Du zu einem sein Selbst suchenden Ich. Dieser Aufweis genügt für die Grundsituation der Freiheitsvermittlung durch Sprache.56 Drückend aber ist noch der Widerspruch einer „gegebenen Freiheit". Jemandem Freiheit geben heißt doch, ihn zur Freiheit bestimmen, und das widerstreitet dem Grundakt der Freiheit als Selbstbestimmung. Seine Freiheit von einem Fremden gegeben zu finden, hieße das nicht, durch Fremdbestimmung zur Selbstbestimmung zu kommen? Führt der Weg zum Du auf einen Irrweg? Die Lösung des Widerspruchs beruht auf der Unterscheidung von direkt-unmittelbarer und indirekter Mitteilung. Unmittelbares Mitteilen von etwas, etwa von Körperwärme, verfährt mechanisch nach dem Gesetz der Wirkkausalität, mittelbare oder indirekte Mitteilung untersteht dem Gesetze freier Wechselwirkung. Unter freien Vernunftwesen hat solch mittelbar-indirektes Anreden den Namen Aufforderung. Jemanden auffordern, etwas zu tun oder zu unterlassen, besagt, ihm den Gebrauch seiner eigenen Freiheit zuzumuten. Im tiefgehenden Unterschied zu Befehl und Kommando gibt die Aufforderung frei. Sie läßt den Aufgeforderten sich frei finden. Auffordern beForschung. Den Haag 1972,3-60. - Zum Forschungsstand insgesamt vgl. Antonio F. Aguirre, Die Phänomenologie Husserls im Lichte ihrer gegenwärtigen Interpretation und Kritik. Darmstadt 1982,1V: Primordiale Sphäre und Intersubjektivität, 150-165. - Fichtes Umkehr geht unvermerkt der phänomenologischen Umstellung in der Blick- und Schamanalyse Sartres und dessen Kardinalthese voraus: Den Anderen sehen heißt, von ihm gesehen werden. Nach Fichte bedeutet, den Anderen anerkennen, von ihm anerkannt zu sein. 56

Man muß Walter Schulz zustimmen, wenn er von hier auf die „Synthesis der Geisterwelt" verweist. „Man redet heute viel von der sogenannten Ich-Du-Beziehung, und es ist üblich geworden, die Beziehung gegen den „Solipsismus" des Deutschen Idealismus abzusetzen. Im Gegensatz zu diesen Meinungen gilt es einzusehen, daß Fichte nicht nur die Ich-Du-Beziehung als solche thematisiert hat, sondern daß sein Ansatz der modernen Fassung dieses Problems überlegen ist" (J.G. Fichte. Vernunft und Freiheit. Pfullingen 1962,20-21). Die Überlegenheit beruht nach Schulz darauf, daß es Fichte nicht bei einer existentiellen Du-Beziehung beläßt, sondern dialektisch zu einem Wir in Beziehung setzt, zur moralisch vernünftigen Ordnung des Göttlichen, welche Ich und Du vereinigt.

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stimmt zur Selbstbestimmung, indem sie zu ihr hinleitet. Darum bildet Aufforderung die Maxime einer Erziehung, die zum Gebrauche der eigenen Freiheit und Selbsttätigkeit in Denken und Handeln führen will. Das ist nicht weiter zu verfolgen. Deutlich aber sollte geworden sein, daß die Individualität eigenen Freiheitsbewußtseins nicht entstehen kann ohne das auffordernde Du außer mir. Das stiftet einen Vorrang des Du. Dieser streitet freilich nicht mit dem Primat der Ichheit überhaupt im Sinne eines prinzipiellen Tuismus; denn er gilt lediglich für das Verhältnis zwischen Individuen im Einander-Begegnen durch Sprache. Dabei ist das Du „früher", sofern es im Modus der Wirklichkeit anspricht und auffordert; das aufgeforderte Ich ist seinsmäßig „später", nämlich im Modus der Möglichkeit - wenn es auch der Zeit nach zugleich ist als der, der die Antwort hört und ihr zu entsprechen vermag.57 4. Auffordern lenkt hin zum Bewußtwerden je eigener Freiheit, ohne das der Mensch nicht zu sich selber findet. Das geschieht in einem absichtsvollen, hindeutenden Hinlenken. Zeigen in der Weise Aufmerksamkeit erregenden Hindeutens ist der ursprüngliche und anfängliche Charakter des Zeichens, etwa beim deiktischen Akt des Zeigens auf etwas oder auf jemanden mit dem Finger. „Der ursprünglichste Charakter des Zeichens ist ohngefähr ausgedrückt im Winke, im Hindeuten mit dem Auge u. Finger" (GA IV,l,295). Alles Zeichen wird sprechend im Akt des Zeigens. Ein Zeichen stellt nämlich kein Objekt dar, das an ihm selbst betrachtet oder gebraucht sein will. „Wird es für ein Object gehalten, so ist es kein Zeichen" (ebd.). Das Sein des Zeichens liegt in der Kraft, die Aufmerksamkeit in eine Richtung zu lenken; gebe ich einem, der in die Irre geht, Zeichen durch Winken mit den Armen, so rufe ich ihn auf den rechten Weg. Das ist auf Sprache anzuwenden, sofern diese als Mitteilung von Ideen und Absichten durch Zeichen vorverstanden wird. Sprache im ele57

Das Miteinander von Anrede und Antwort und die Priorität des Du in der Aufforderungssituation hat Wilhelm Weischedel herausgehoben und gegen ethisch-religiöse Verabsolutierungen geschützt. Die Thesen vom Vorrang des Du im Sinne Friedrich Gogartens oder Eberhard Griesebachs finden jedenfalls bei Fichte keinen Rückhalt. Auf dem Boden der Wissenschaftslehre weitet sich der Primat des Du nicht zu einem ethisch-religiösen Prinzip aus, er bleibt auf die Erscheinungsweise des individuellen Ich in der ursprünglichen erzieherischen Aufforderung beschränkt; Der frühe Fichte. Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft Leipzig 1939 = Stuttgart-Bad Cannstatt 1973,124-127.

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mentaren Sinne ist ein Winken, und zwar ein aufforderndes Hinleiten zur Freiheit durch willkürliche (tonale) Zeichen. Die Sprache offenbart so ihre Eigentümlichkeit, kundzufun, ohne einzuwirken. Auf diesem Wege lassen sich Freiheit und Vernunft so mitteilen, daß sich das angesprochene Individuum frei findet. Sonst wären die mäeutische Leistung und der auslösende Anstoß der Aufforderung vom Nezessitieren wirklich nicht zu unterscheiden. Und sofern Sprache ein Tun ist, das den Erfolg eben nicht vorwegnimmt, entspricht der „Sprechakt" dem Auffordern, d.h. einem Handeln durch Handlungsverzicht.58 So gilt für den Zeichen-Sinn menschlicher Sprache der Satz: „Der Charakter des Zeichens ist Leitung der Freiheit durch Freiheit" (ebd.). Also kann es ohne Sprache kein individuelles Ich geben, das seiner Freiheit bewußt geworden ist. In eins ist der dialogische Sprachbezug konstituiert; denn das Individuum bildet ja einen Wechselbegriff, anfänglich den Wechsel von Ich und Du. Darauf ist im Auffordern und Zeigen zu achten. Das Hinleiten zur Freiheit aus Freiheit eröffnet den Wechsel von Anspruch und Entsprechung. Sprache ist anfänglich und zutiefst ein Wechselgespräch zwischen Individuen möglicher und wirklicher Freiheit. Logos ist Dialogos. Er spannt Ansprechen, Hören und Entsprechen zusammen. Der Wink des Hinzeigenden ergeht nur an den, der das Zeichen als Zeichen nimmt, d.h. auf das auffordernde „Du sollst" hört. So unterstellt das Antworten als Stellungnahme sich entscheidender Freiheit stets eine Aufforderung. Keine Antwort ohne Aufforderung. Und umgekehrt gilt auch: keine Aufforderung ohne Antwort. Das Auffordern ist ja erst da im Gehörtwerden durch den Hörenden, so wie alles Tun seine Anwesenheit im wirklichen Leiden des Leidenden hat. Anruf und Antwort, Ansprechen und Hören lassen sich mithin nicht voneinander ablösen. Das Zeigen der Sprache verwebt Ansprechenden, Hörenden und Ant58

Eine bemerkenswerte aktuelle Ergänzung der Fichteschen Intersubjektivitätstheorie der Aufforderung von der Sprache her hat Peter Baumanns, Von der Theorie der Sprechakte zu Fichtes Wissenschaftslehre, in: TrG, 171-187 vorgelegt. Dabei wird die Austin-Searlesche Sprechakttheorie kritisch auf die Aufforderungsproblematik im Lichte der Wissenschaftslehre nova methodo zurückgeführt entlang der These: Die kognitiv-praktische Doppelnatur des Sprechaktes bestehe in einem Tun durch Sprechen und Aussagen dieses Tuns, im Handeln durch Zeichen-Setzung in eins mit der Bezeichnung solchen Handelns. Der so erfaßte Sprechakt ist als empirischer Modus der Konkretion eines Aufforderns anzunehmen, bei dem im Zeichen (der Sprache) unmittelbar das Bezeichnete (die Freiheit) präsent ist.

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wortenden miteinander. Der Anspruch ergeht nicht einseitig. Er geht, vom Hörenden aufgenommen, in einer Entsprechung zurück und belebt die Gemeinsamkeit der Vernunftwesen. Am Ende begründet Fichtes Deduktion der Sprache als Wechselwirkung durch Zeichen die dialogische Struktur menschlicher Gemeinsamkeit als Bedingung dafür, daß der Mensch sein kann, was er ist, nämlich Wesen der Freiheit. „Diese Wechselwirkung also durch Zeichen ist Bedingung der Menschheit; denn der Mensch ist nicht allein...Diese Wechselwirkung ist nun Sprache im allgemeinsten Sinne, u. ohne diese kann der Mensch nicht sein" (GAIV,1,296). Mit diesem Resultat läßt sich die Frage lösen, wie die Sprache entstanden sei. Diese alte Preisfrage wird in drei Alternativen ausgebreitet: Die Sprache sei dem Menschen angeboren oder durch ein Wunder eines höheren Geistes gegeben oder vom Menschen erfunden. Das entspricht dem Herkommen. Hamann z.B. hatte drei Ausgangspunkte für das Sprachursprungsproblem angegeben: Instinkt oder Erfindung oder Unterricht, und noch Schellings „Vorbemerkungen zu der Frage über den Ursprung der Sprache" 1850 (SW X,419-426) halten sich an diese Dreiteilung. Der „ewige Kreisel" dieser Frage hat ein ganzes Zeitalter, von Herders preisgekrönter „Abhandlung über den Ursprung der Sprache" bis zu Jacob Grimms Rede „Über den Ursprung der Sprache" (die durch empirisches Sprachstudium auf die erste Sprachbildung zurückschließt), in Atem gehalten.59 Fichte lenkt das Problem in die transzendentale Fragestellung: Kann der Mensch ohne Sprache gedacht werden? Transzendentale Einstellung verschließt die populäre Scheinfrage: Was war ich wohl, bevor ich zu Wille, Selbstbewußtsein und Sprache kam? Ich war nämlich in Wirklichkeit gar nicht, denn ich war (noch) nicht Ich. Die Vorstellung eines sprachlos durch die Wälder streifenden Wilden, der Sprache empfing oder erfand, unterstellt den Unsinn, der Mensch sei als ein Naturding, bevor ihm Selbstbewußtsein und Sprache zufallen, bewußt zu machen. Kritische Besonnenheit verzichtet aus59

Im Hinblick auf die „Gelegenheitsarbeit" des Journal-Aufsatzes hat Holger Jergius Fichtes Theorie des Sprachursprungs einem Vergleich mit Herder unterzogen, und zwar im Rahmen der sprachanalytischen Prämisse, welche das Fundierungsverhältnis von „Vorstellung" und sprachlicher Artikulation umkehrt: Philosophische Sprache und analytische Sprachkritik. Bemerkungen zu Fichtes Wissenschaftslehre. Freiburg/München 1975,125-133. - Das Problem des historischen Sprachursprungs in den sprachphilosophischen Überlegungen Schellings verfolgt Jochem Hennigfeld, Schellings Philosophie der Sprache, in: PhJ 91(1984)16-29.

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drücklich darauf, das Ich noch jenseits seiner ursprünglichen Gegebenheiten aufzusuchen. Also ist die Frage nach der ursprünglichen Verbindung von Menschseinkönnen und Sprachfähigkeit transzendental, nicht historisch zu entscheiden. In den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" wird Fichte diese methodische Mahnung wiederholen. So gewiß eine Menschheit in gesellschaftlichem Zusammenleben ist, so gewiß ist sie mit einer Sprache versehen: „Keine Geschichte unternehme daher, die Entstehung des Menschengeschlechtes überhaupt, oder seines gesellschaftlichen Lebens, oder der Sprache, erklären zu wollen" (SW VII, 133). Es ist Sache einer transzendentalen Deduktion, das Selbstbewußtsein als Grund der Sprache und Sprache als Bedingung des Selbstbewußtseins aufzuweisen. Das allerdings muß gegen alle Skepsis verbindlich gezeigt werden: Ohne Sprache kann der Mensch nicht sein. Was folgt daraus für die Gegenpositionen im Kampf um den Ursprung der Sprache? Zunächst ist einzuräumen: Sprache überhaupt ist dem Menschen angeboren, sofern er eben als freies Vernunftwesen unter seinesgleichen existiert. Soweit es sich dagegen um die Herkunft der eingeführten und entwickelten Zeichen handelt, verdankt sich die Sprache der menschlichen Erfindungskraft. Das Alphabet oder der Dualis der Grammatik sind menschliche Erfindungen wie das Rad oder die Rechenmaschine.60 Und insofern „Wunder" eine Begebenheit heißen kann, die durch kein Gesetz des Naturmechanismus zu erklären ist (nicht etwa: die gegen die Gesetze der Natur verstößt), sind freie Handlungen des Menschen Wunder. Daher kann der Anfang der Sprachbeziehung ein Wunder und die Sprache eine Gabe des höheren Wesens heißen, das den ersten Menschen erzog (GA IV,l,301). So hebt sich die Antinomie auf. Alle drei feindlichen Positionen sind wahr, aber keine besitzt die 60

Auf derlei Fragen z.B. nach dem Übergang von der Ur-oder Hieroglyphensprache zur bloßen Gehörsprache, nach der Entstehung der Bezeichnung für allgemeine Begriffe, nach der Entstehung der Tempora aus dem Aorist oder der Personalpronomina aus der dritten Person, hat Fichte viel unbekümmerten Scharfsinn angewendet. Immerhin ist sein Entwurf einer „Geschichte der Sprache apriori", die Verbindung zwischen Denkgesetzen und Kategorien der Grammatik, bemerkenswert. Das Projekt sucht Vorstellungen und Begriffe der allgemeinen Grammatik in der Tradition des 17. und 18. Jahrhunderts aus transzendentaler Sicht neu zu bestimmen und bildet den Ausgangspunkt einer mit ungleich größerer linguistischer Akribie durchgeführten neuen Sprachtheorie und Sprachwissenschaft bei Bernhardi und Humboldt; vgl. Kurt Müller-Vollmer, Fichte und die romantische Sprachtheorie, in: TrG,442-460.

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ganze Wahrheit. Transzendentale Einsicht findet heraus, „daß die Sprache theils angeboren, theils gegeben, theils von den Menschen selbst erfunden sey" (GA IV,l,292). Daher ist es erlaubt, zu formulieren: Sofern der Mensch unter Menschen ist, geschieht ihm das Wunder der Sprache, die Hinleitung zur Freiheit aus Freiheit.

5.4 Zur Krise der Sprache. Fichtes Scheidung von Sprache und Vernunft im Reden von Sein Es scheint, als rücke die Sprache aus der Stellung eines Randphänomens ins Herz vernunfthafter Weltauslegung. Ist Sprache in Fichtes Sprachabhandlungen nicht tiefer verstanden denn bloß als Leib und sinnliches Dasein unserer Gedanken? Der erste Deduktionsweg führt zum Resultat: ohne Verständigung und Kommunikation durch Sprache keine friedlich-humane Mitwelt und keine Erfüllung der Bestimmung des Menschen. Der zweite Weg knüpft an seinem Ende Vernunft und Sprache noch enger zusammen: ohne Sprache kein Selbstwerden. Zur Entstehung der Vernunft als Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung braucht es eine Hinleitung durch Sprache. So kann Fichte auch später noch, in den „Patriotischen Dialogen", Sprache „das allererste Mittel zur Entwicklung der Selbstbesinnung", ja das „absolute schöpferische Prinzip einer Geisterwelt überhaupt" nennen (NW 11,270-271). Ist hier Sprache nicht eher als Erzeugung denn als ein totes Erzeugtes angesehen? Wird damit nicht ein Weg gezeigt, der darüber hinaus führt, Sprache bloß als Bezeichnung von Gegenständen oder als Vermittlung der Verständigung und Kommunikation von Menschen untereinander zu betrachten? Führt auch Fichtes Weg zur Sprache bis zum verborgenen Kraftquell des Logos, dem Sprache und Geist auf rätselhafte Weise zugleich entfließen? Indessen stößt nach Fichte jeder Versuch, die Sprache zum Organ der Gedankenbildung und zum Element der Vernunfttätigkeit zu machen, an die Grenze methodischer Selbstbeschränkung. Die kritische Regel lautet: Unsere Wörtersprache versagt vor der Wahrheit des Seins, sie entfaltet ihre vermittelnde Kraft erst auf den Stufen der Erscheinung. Gegen Humboldts Weg zur Sprache61 wendet sich der Einspruch Fich61

Humboldt ist erst 1795 zu sprachphilosophischen Erörterungen im eigentlichen Sinne vorgedrungen, und es ist wahrscheinlich, daß diese plötzliche Wendung zur

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tes: „Die Sprache ist meiner Ueberzeugung nach für viel zu wichtig gehalten worden, wenn man geglaubt hat, daß ohne sie überhaupt kein Vernunftgebrauch statt gefunden habe" (GA 1,3,103). Zwar kritisiert dieses Monitum vordergründig Platners Satz: „Ohne zugesellte Zeichen kann man nicht denken" (GA IV,l,324), aber es tadelt überhaupt alle Spracherhöhungen, welche das Sprechen zur notwendigen Bedingung des Denkens eines isolierten Einzelnen und die Sprache überhaupt zur Erzeugerin, zur „Gebärmutter", der Vernunft erheben. Das greift in die Streitfrage der Zeit ein: Erzeugt die Vernunft des Menschen die Sprache, oder ist die Sprache ein Menschen und Vernunft erzeugendes Ding? (Jacobi an Schlosser, 6. März 1792; W 111,550). Die Hamannsche Bedingungsgleichung „Ohne Wort, keine Vernunft - keine Welt" (an Jacobi, 2. November 1783) führt nach Fichteschen Grundsätzen zur verkehrten Methode, die Wörtersprache und deren metakritische Analyse an die Stelle von Evidenz und geistiger Selbstanschauung zu setzen. Dagegen muß festgestellt werden: Wo es um den höchsten Gedanken und die Wahrheit des Seins geht, da muß die geistige Anschauung von den Weisungen der Wörter und den Darlegungen der Sprache abstrahieren. Das ist die Angel, um die sich die Einordnung der Sprache in Wahrheits- und Erscheinungslehre dreht. Die Sprache hat sich aller Aussage und Prädikation über das absolute Sein zu enthalten, um sich für das Erscheinen des Seins in Sinnen- und Ideenwelt Gehör zu verschaffen. Auch im Hinblick auf die Sprache greift so Selbstbegrenzung transzendentaler Besonnenheit Platz. Sprachphilosophie durch Fichte veranlaßt wurde. Fichtes Sprachabhandlung bot ihm Anlaß, seine eigenen Gedanken vom Menschen als Sprachgeschöpf - im Anschluß an Herder - systematisch zu ordnen und denen Fichtes entgegenzustellen. Vgl. Wilhelm Lammers, W. von Humboldts Weg zur Sprachforschung 1785 bis 1801. Diss. Rostock 1936. - Nur leicht korrigierend Clemens Menze, W. von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratingen 1965,210ff. - Material über die persönliche Beziehung zwischen Fichte und Humboldt seit dem Mai 1794 bei Menze, 2. Teil Anm. 7, S. 353-354. - Über den komplexen Sachbezug informiert Humboldts Aufzeichnung „Über Denken und Sprechen", die vermutlich schon im Winter 1795/96 noch in Bannkreise Fichtes entstanden ist. - Jochem Hennigfeld, Fichte und Humboldt, in: FichteSt 2(1990)37-50 erörtert vielfältig anregend die Doppelthese, Fichte breche in den „Reden" mit der früher aufgenommenen traditionellen Sprachauffassung und komme so in auffällige Nähe zu Humboldts spätem Sprachdenken. Über den Einfluß Fichtes auf Humboldts Sprachtheorie und -deduktion vgl. a.a.O.,46ff.

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Eine charakteristische Absage an die Kraft des Sprachlogos im Erschließen des Wahren-selbst fällt im 2. Gespräch der „Patriotischen Dialoge" 1807: „Die Sprache liegt selbst in der Region der Schatten und die durchgeführte fällt zusammen mit dem Sein, als derselben erster und unmittelbarer Schatten" (PD; NW 111,258). Das bedeutet im Kontext der Dialoge: Eine Vernunftwissenschaft, welche auf den Logos der Sprache baut, versagt vor der notwendigen Aufgabe, die Quelle der Wahrheit und Realität in den freien Besitz der Menschen zu bringen, um das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit der Gleichgültigkeit gegen das Wahre zu entreißen. Die Wörtersprache nämlich legt Seiendes als gegenständlich Vorhandenes dar. „Das Wort ,Seyn' bedeutet unmittelbar immer ein Objekt des Denkens" (Rückerinnerungen 1799; SW V,439). Etwas ist objektiv-real seiend, bedeutet, daß es den Charakter eines beharrenden Nicht-Ich in reeller Negation der Tätigkeit an sich hat. Dem Charakter des ihm zugesprochenen Seins zufolge hat das Nicht-Ich „in seiner Beharrlichkeit und Ruhe klar das Gepräge des Todes an sich" (PD; NW 111,257). Zudem hält der alltägliche Sinn, den die Wörter „sein", „ist", „bin" ausdrücken, unser Seinsverständnis in der Welt des Sinnlichen fest. Das Wort ,sein' nämlich leitet nach Fichtes Sprachabhandlung hin auf einen „sinnlichen Begriff der Substanz" (FA 1,3,111). Zu sein bedeutet daher ebenso selbstverständlich wie irreführend: andauern in der Weile der Zeit, nicht zu sein besagt entsprechend: haltlos mit der Zeit verfließen.62 So bildet sich die Vorstellung von Sein als einem Substrat, das im Wechsel von Eigenschaften untätig beharrt. „Auf dieses Substrat nun wird das Wort sein oder ist angewendet" (GA 1,3,112). Das heißt aber doch: Von Hause aus bewegt sich das Ist- und Ich-bin-Sagen im Bereiche der Sinnenwelt. Das ist seit Platon die Welt der Abbilder und Schatten. Solche grundsätzliche Zuordnungen machen die merkwürdige Schattenformel der .Patriotischen Dialoge" schon verständlicher. Die Sprache bewegt sich im Reden von Sein und im Aussagen des ,ist' und ,bin' in der Region der Schatten; der dogmatisch erstarrte Sinn von Sein qua 62

Fichtes Überlegung ist linguistisch naiv, gleichwohl etymologisch nicht unzutreffend. Alle drei idg. Stämme nennen ein Bestehen in durativer Bedeutung: 1. das älteste Stammwort es, gr. : Stand und Sitz haben (ai. aste = sitzt), 2. bhu. gr. , ahd. bin: ein in Stand kommen und im Stande bleiben, 3. idg. wasani, mhd. wesen: wohnen, verweilen, währen in dauernder Gegenwart.

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Nicht-Handeln überschattet das Wahre und Ursprüngliche, nämlich die Tätigkeit absoluten Wissens und dessen Lebens- und Lichtquelle. Das unbedachte Gerede vom Sehen an sich vollends wirft den Riesenschatten, der das Licht des wahren, absoluten Seins verdunkelt. In den „Patriotischen Dialogen" kommt es - wie in der 2. Vorlesungsreihe der Wissenschaftslehre 1804 zuvor - am Ende zur Frage: Wie kann vom Absoluten im Sinne des in sich geschlossenen Seins wissenschaftlich adäquat gesprochen werden? Offenbar nicht in der Wortverbindung einer eigenschaftlichen Prädikation über ein fortzubestimmendes Substantiv; das wäre der geschlossenen, unbestimmten Ununterschiedenheit des in sich aufgehenden, allrealen Lebens unangemessen. Es kann einzig gesagt werden: „Das Leben ist, und es ist das einzig an sich Wahre, Reale" (PD; NW 111,258). So hatte Fichte an Schelling geschrieben: Das Sein ist, und jedes zweite Wort sei von Übel. Indessen, sogar die Konzentration auf das Substantiv „Sein" und das Hilfswort „ist" bedarf eines sprachkritischen Vorbehalts. Der Ausdruck „das Sein" zeigt eher die Begrenztheit der Sprache als die Wahrheit des Besprochenen an, und zwar aus zwei Gründen. Er hat den Zug der Negation wahrer Tätigkeit im Ausdrücken des Gegenständlich-Seins in sich, und er substantiviert und verdinglicht den „verbalen" Sinn reiner Aktuosität. Das war ja aufgeklärt: Im Anschein der Unmittelbarkeit zielt das Wort „Sein" immer auf ein Objekt des Denkens. Darauf rekurriert die Wissenschaftslehre 1804: „Die erste Grundwendung aller Sprache ist die Objektivität" (15. Vortr.; G A 11,8,229). Das Absolute ist mehr und etwas anderes als Objekt unseres Gedankens. In Betracht des uns ergreifenden Lichts und Lebens muß das Seinsverständnis der Objektivität aufgegeben werden. Das Absolute ist unobjektivierbar. Also verfehlt die Wörtersprache, sofern deren erste Wendung das Hinzeigen auf das Objekt und Nicht-Ich ist, den Zugang zur Wahrheit. Und die sprachliche Substantivierung führt völlig vom Wege ab. „Das Seyn, von der Sprache indessen Substantiv genommen,... ist nur ein verbales Seyn; denn das ganze substantive Seyn ist Objektivität, die durchaus nicht gilt" (15. Vortr., G A 11,8,231). Das Substantiv ist „Dingwort" und fungiert als „Satz-Gegenstand". Was in Wahrheit ist, ist aber kein Ding und kein Gegenstand, sondern reine Tätigkeit, sich lichtendes Leben. Das Wesen west (verbal genommen). Die gleiche Konsequenz ziehen die „Patriotischen Dialoge": Über das Prinzip absoluten Seins und Lebens lassen sich nicht viele Worte machen. Kritischer formuliert: Vor dem Aufleuchten des Absoluten und

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im Uns-Ergreifen der Evidenz versagt die Sprache. Diese Verhaltenheit gegenüber der alles objektivierenden Tendenz der Sprache wurzelt nun nicht in Scheu und Ehrfurcht vor dem Arrheton, dem unsäglichen Gott. Und die Sprach-Entsagung folgt auch nicht dem Gebot des Mystikers, im Schweigen sich auf das eigentliche Wort zu versammeln. Das SichVersagen der Objekt-Sprache rührt nicht aus der Stimmung des Erschreckens vor dem Ungeheuren, es folgt zwingend aus der methodischen Reflexion auf eine notwendige Abstraktion von allem objektivierenden Ist-Sagen. Auch Sprachbesinnung ist transzendental-kritische Selbstbegrenzung. Aber das Stummwerden der Wörtersprache endet nicht mit dem Schweigen der Seinsergriffenheit. Das Durch-Sprechen der Sprache muß vernichtet werden, damit „das Sein" einleuchtet. Es muß gesetzt werden, damit die Erscheinung und das Bild des Seins zu Worte kommt. Beides ist ohne eine kritische Sprachbesinnung nicht möglich. Daher konstatieren schließlich die „Patriotischen Dialoge": „Es ist durchaus nothwendig, daß am Princip der realen Wissenschaft die Sprache zu Ende gehe, und daß über dies Princip eine Verständigung in bloßem Worte nicht möglich sei" (PD; NW 111,258).63 5.5 Die Sinnbild-Sprache als Durchströmungspunkt sinnlicher und übersinnlicher Welt (Fichtes 4. Rede an die deutsche Nation) Die methodische Generalregel für den Aufbau einer Erscheinungsund Bildlehre lautet: Alle Stützen und Stufen, die im Aufstieg zum Wahren und Absoluten überstiegen und am Ende mitsamt der Leiter verworfen werden, können und müssen im „Abstieg" zu den Grundgestalten erscheinenden Lebens wiederaufgenommen werden. Gilt das auch für die Wörtersprache? Sie liegt doch, die Helle des Wahren ver63

Das kritische Verhältnis Fichtes zur Sprache unter dem Hinblick einer angemessenen Darstellung der Wissenschaftslehre in ihrer ursprünglichen, unaussprechlichen Einsicht hat Manfred Zahn, Fichtes Sprachproblem und die Darstellung der Wissenschaftslehre, in: TrG,155-167 nachdenklich verfolgt. Danach hindere eben die Grundwendung aller Sprache, die Objektivität, daran, den Aktcharakter von Ich und Leben frei ergreifen zu können; denn die Sprache versinnlicht, sie führt die Vorstellung in die Raumwelt hinaus und drückt auch nur im zeitlichen Nacheinander das aus, was mit einem Schlage ist. So falle die Darstellung eines Prinzips, das doch über alle Faktizität hinaus sei, ins Faktische zurück. - Offengelassen ist die Frage, wie und warum sich Fichtes Sprachkritik seit 1801 verschärft hat.

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dunkelnd, in der Region der Schatten. Und bleibt nicht die Maxime in Geltung, die Wörtersprache zu einem Hauche vergehen zu lassen, um das, was ist und begreifbar ist, in seinem Werden und Entstehungsgesetz rein anzuschauen? Andererseits bildet doch die Sprache das vorzüglichste Mittel der Kommunikation, leitet hin zur Freiheit, ist das Organon der Geisterwelt. Es wird sich zeigen: Auf dem Hintergrund einer vertieften sprachkritischen Selbstbegrenzung kommt die Sprache als das Medium zur Geltung, in welchem das erscheinende Leben die Stufen und Abgrenzungen sinnlicher und geistiger Welt durchwaltet und eröffnet. Damit folgt Fichtes Sprachtheorie der Vertiefung des Ich- und Freiheitsprinzips. Sprache als Organ der Mitteilung organisiert sich nicht einfach bloß aus dem freien Willen, sich und seine Absichten anderen kundzutun. Sprache ist nicht Bildung und Gebilde des Menschen. Sind Wille und Freiheit Ausfluß und Dasein absoluten Lebens, dann ist es auch die Willkür, welche die Zeichen der Sprache braucht. Daher revidiert die Erscheinungslehre das herkömmliche Fundierungsverhältnis von Sprache und Mensch. Die „Reden" stellen drei Revisionsthesen auf: 1. Der Mensch werde mehr von der Sprache gebildet denn die Sprache von dem Menschen; 2. nicht der Mensch rede eigentlich, sondern aus ihm rede die menschliche Natur; 3. die Sprache sei nicht durch Willkür vermittelt, sie breche als unmittelbare Naturkraft aus dem verständigen Leben aus. Als unmittelbare Form erscheinenden Lebens vermag die Sprache, wo sie in ihrer symbolisch operierenden Kraft lebendig bleibt, die unter den Gesetzen des Bewußtseins zerspaltene Erscheinungswelt einigend zu vermitteln. Für die Ausarbeitung dieser These steht die „4. Rede an die deutsche Nation" bereit. Der Umfang des Themas ist zuvor streng abzugrenzen. Abgeblendet wird der Argumentationszusammenhang der „Reden", sofern er der Zeitsituation zugehört und soweit er aus der heils- und vernunftgeschichtlichen Geschichtskonstruktion der „Grundzüge" spricht. Beiseite gestellt wird so (zunächst) die Rede von der weltgeschichtlichen Bestimmung der deutschen Nation, welche in scharfer Abhebung gegen die „anderen Völker germanischer Herkunft" ihre Sprache ursprünglich erhalten und kontinuierlich fortgebildet habe, so daß sie allein über das Mittel verfüge, das Menschengeschlecht neu zu bilden. Herangezogen wird allein die „Betrachtung über das Wesen der Sprache überhaupt" (SW VII,344f.). Und auch innerhalb dieses eingegrenzten Themenkrei-

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ses werden zwei Einschränkungen gemacht. Ausgegrenzt wird die Bedeutung der dichterischen Sprache, welche die erscheinende Welt in ein neues Licht taucht und sie so zur Sprache bringt, wie sie nie war (vgl. 5. Rede).64 Und unkommentiert bleiben Fichtes Thesen über die aus der Naturkraft des Lebens ausbrechende Wörtersprache, welche sinnlich sich Zeigendes ausdrücken, wie Löwe, Fisch, Reif oder Baum. Die thematische Untersuchung konzentriert sich allein auf die Wörter für übersinnliche Begriffe in der geistigen Welt der Ideen und behandelt die These: Die sprachliche Erfassung des Übersinnlichen geschieht sinnbildlich, dergestalt, daß ihre durchströmende Erhellungskraft das ganze Leben bis auf seinen letzten sinnlichen Boden hinab geistig erleuchtet. Wie also steht es mit dem symbolischen Operieren der Sprache?65 Kant hatte notiert: „Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält. So sind die Wörter Grund (Stätte, Basis), abhängen, (von oben gehalten werden), woraus fließen (statt folgen), Substanz 64

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Zum kaum untersuchten Verhältnis von Fichte zur romantischen Sprachtheorie vgl. die perspektivenreiche Untersuchung von Kurt Müller-Volhner, Fichte und die romantische Sprachtheorie, in: TrG,442-460. Danach sind es vor allem Fichtes Ansatz der Sprache als Wechselwirkung geistiger Teilhabe und seine Verknüpfung von produktiver Einbildungskraft. Darstellung, Sprache, nicht zuletzt in „Über Geist und Buchstab in der Philosophie", welche die gesamte romantische Sprachtheorie durch herrschen und bis Coleridge ausstrahlen. Die weitreichenden Funktionen des Symbolbegriffs in den Gebieten von Mythos, Religion, Kunst und Sprache während des Deutschen Idealismus sind hier abgeblendet. Vgl dazu Vf., Das Symbol, in: PhJb 76 (1968)164-180, mit einem Schwerpunkt auf Schillers äesthetischem Humanismus: Das Spiel mit dem Schönen (der lebenden Gestalt) sei Symbol der vollendeten Menschheit, der Wechselbestimmung von Stoff- und Formtrieb. - Jochem Hennigfeld, Schellings Philosophie der Sprache, in: PhJb 91 (1984)16-29, mit dem bedeutenden Hinweis auf Schellings Satz, Sprache (die sich lebendig aussprechende unendliche Affirmation) sei Symbol des Chaos (der absoluten Identität). - Manfred Zahn, Zeichen, Idee und Erscheinung, in: Manfred Lurker (Hg.), Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung. Baden-Baden 1982,217-228, in Konzentration auf die Symbolkonzepte Kants und Hegels mit dem Urteil, die Vermittlungen der symbolischen Kunstform seien zwar im Rahmen der Hegeischen Ästhetik als Durchgang zur klassischen ein bedeutsamer Schritt auf dem Wege des sich gestalthaft zu sich entwickelnden Geistes, seien aber doch ihrer Unangemessenheit von Idee und Gestalt wegen vorläufig, Kants Symbol-Vermittlungen dagegen (insbesondere in der Kunst im Blick auf die ästhetische Idee) seien unverzichtbar.

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(wie Locke sich ausdrückt: der Träger der Akzidenzen) und unzählige andere nicht schematische, sondern symbolische Hypotyposen" (KdU § 59). Ein Symbol ist nach Kant die indirekte Versinnlichung (Darstellung, Hypotypose) eines direkt nicht zu Versinnlichenden, und zwar auf dem Wege einer analogisierenden Reflexion auf die Gleichheit von Verhältnisbezügen. Was so zur Darstellung gelangt, sind Ideen oder (intellektuelle) Vernunftbegriffe einer unbedingten Totalität von Bedingungen, da diese - im Gegenzug zur ästhetischen Idee und anders als im praktischen Vernunftgebrauch - gerade dadurch definiert sind, daß sie direkt niemals adäquat zur Anschauung kommen. So steht es z.B. mit der Idee Gottes. Die religiöse Sprache hat dafür Symbole entwickelt, etwa in Analogie zur Sonne. Fichte nun verallgemeinert die Beobachtung Kants über das symbolische Agieren der Sprache. Symbolische Darstellungen kommen nicht nur häufig vor, sie betreffen alle Ausdrücke für reine übersinnliche Begriffe. Sind reine Begriffe allgemein-gesetzhaft vorgestellte Handlungen des Ich, so kommen sie nach Analogie mit sinnlichen Handlungen zur Sprache: „e.g. sprechen, disserere, hinsäen, daher Sermo. So auch Verstand, verständigen, hinstellen. Einbildungskraft, wodurch ich etwas in mich hineinbilde" (GA IV, 1,314). Entgegen der verbreiteten Ansicht, Fichte habe kein eigenes Symbolkonzept entwickelt, belegt die 4. Rede den Versuch, das nach Kant „bis jetzt noch wenig auseinandergesetzte Geschäft" einer Untersuchung sprachlicher Symbole weiter zu betreiben. Eine Leitthese lautet: Sinnliche Zeichen per analogiam auf übersinnliche Begriffe zu übertragen, ist unvermeidlich; anders vermögen die Wörter für Übersinnliches nicht anschaulich zu werden und sinnenkräftig anzusprechen. Jedes Sprachzeichen braucht ein Schema, eine schwebende Ansicht, wie das Besprochene überhaupt aussieht, um angewandt werden zu können. Für Übersinnlich-Ideenhaftes gibt es kein Schema-Bild, es sei denn, es werde einem sinnlichen Analoga! entnommen und auf geistige Gegenstände übertragen. „Nämlich das Zeichen, das der sinnliche Gegenstand, von welchem das Schema hergenommen wurde, in der Sprache schon hatte, wurde auf den übersinnlichen Begriff selbst übertragen" (GA 1,3,113). Das Paradebeispiel der frühen Sprachabhandlung im Journal-Aufsatz ist das lateinische Wort spiritus. Es dient zum Ausdruck für Seele oder Geist und verdankt seine unmittelbare Verständlichkeit der Analogie zur sinnlichen Wortbedeutung „Luft oder Äther". Welches Urteil fällt nun eine sprachkritische Selbstbegrenzung über Wesen und Funktion der Sinnbild-Sprache? Es kann nicht verwundern,

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daß es ambivalent ausfallt. Auf der einen Seite - auf ihr liegt das Schwergewicht der frühen Sprachreflexion - bilde solche Sprachoperation eine Quelle der Täuschung. Sie breite einen Schein aus, der zu Irrtümern über das darin Gesagte verleite. „Die Uebertragung sinnlicher Zeichen auf übersinnliche Begriffe ist indeß Ursache einer Täuschung" (GA 1,3,114). Auf der anderen Seite - auf sie legt die spätere Sprach- und Bildlehre den Akzent - breite das Sinnbild Klarheit aus, wenn den Hörenden Sinnbild-Bezüge deutlich und sinnkräftig ansprechen. „Das Sinnbild ist ihm klar, und drückt ihm das Verhältnis des Begriffenen zum geistigen Werkzeuge vollkommen verständlich aus" (4. Rede; SW VII,318). So erscheine Sprache nicht nur als eindeutiges, des täuschenden Scheins überhobenes Mittel der Verständigung von Vernunftwesen über Ideen, sie öffne das Tor, welches das Sinnliche zum Übersinnlichen wie das Übersinnliche zum Sinnlichen durchlasse. „Sprache (ist) ...der wahre gegenseitige Durchströmungspunct der Sinnenwelt und der der Geister" (4. Rede; SW VII,326). 1. Sprache als Ausdruck übersinnlicher Begriffe durch sinnbildliche Wörter erzeugt einen Schein, der unsere Ansicht von Welt beirrt. Fichte hat zuerst diesen Illusionscharakter der Sprache betrachtet. Dieser stärke den Hang des sinnlichen, positivistischen Bewußtseins, alles Geistige sinnlich zu nehmen; denn sprachliche Sinnbilder kleideten ja das Geistige in Ausdrücke sinnlich-leibhafter Gegebenheiten. Natürlich ist diese Täuschung auflösbar. Von der Art der zu übertragenden Schematisierung her aber bleibt sie unvermeidlich. „Die Täuschung war unvermeidlich; man konnte jene Begriffe nicht anders bezeichnen" (GA 1,3,114). Kant nannte einen auflösbaren, aber unvermeidlichen Schein Illusion. Fichte hat gezeigt, wie solche semantische Illusion die Grundwörter „Ding" und „Sein" durchzieht. Nun gehört zur sprachkritischen Tendenz der Philosophie seit Platon die Maxime, das wahre Sein der Dinge ohne die Namen zu erforschen. Dieser Richtung folgt Fichtes Anweisung, „sich über diese Worte, die blosse Hülfslinien sind, und über die ganze bisherige Bedeutung derselben hinweg, sich zur Sache selbst, zur Anschauung zu erheben" (SB; GA 1,7,237). Einen Weg, die Sinnlichkeit der Sprache zu entkräften, die beirrende Schematisierung loszuwerden und die babylonische Sprachverwirrung zu beenden, haben die Entwürfe einer ars characteristica eingeschlagen. Auch das wird zum Programm der Wissenschaftslehre: mit der vorhandenen Wörtersprache anzufangen, um mit einem System mathemati-

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scher Zeichen zu enden. Wortfreie Zeichen zeigen Handlungen des Setzens und deren reine Verhältnisse an, die in unmittelbarer intellektueller Anschauung zu gegenwärtigen sind. So kann die Wissenschaftslehre auf eine eigene „Charakteristik" hinzielen, „ein ihr durchaus eigenthümliches Zeichen-System..., dessen Zeichen nur ihre Anschauungen und die Verhältnisse derselben zu einander, und schlechthin nichts ausser diesem bedeuten" (ebd.). Ein solches Projekt kündigte Fichte in der „Allgemeinen Zeitung" 1801, Beilage Nr.l, in Berlin an: „Für Bestimmung der Terminologie durch Sprachzeichen, für ein Zeichensystem der reinen Begriffe (als die schon von Leibniz gesuchte allgemeine Charakteristik, welche erst seit der Wissenschaftslehre möglich ist), werde ich späterhin sorgen". Ausarbeitung und methodische Reflexion solcher Zeichenkombinatorik sind über Ansätze nicht hinausgediehen. Vielleicht wurde diese Tendenz, Wörtersprache in ein reines Zeichensein aufgehen zu lassen, von der Einsicht in die Durchströmungskraft des Sinnbild-Kreises durchkreuzt.66 2. Die Einsicht in den täuschenden Schein der Sprache und die Hinwendung zum erscheinenlassenden Vermögen des Wortes bedeutet keinen sprachphilosophischen Widerspruch. Beides gehört wesenhaft zusammen. Die Sprache täuscht und verdeckt, und sie läßt erscheinen und ins Offene treten. Sie kann überhaupt nur (das Übersinnliche durch das Sinnliche) verdecken, weil sie entdeckend ist (das Übersinnliche in Differenz und Relation zum Sinnlichen). Wie sich beim Erlernen der Wörtersprache dem Kinde Welt lichtet, so erschließt sich in lebendiger Tradierung der Sinnbildsprache die Geisterwelt in ihrem ungebrochenen Zusammenhange mit dem Leben. Darauf zielt die 4. Rede. Ihr geht eine grundlegende Besinnung auf die immense Bedeutung der Sprache für ein Volk oder für eine Nation voraus. Hier wird Volk primär als Sprachgemeinschaft vorverstanden (SW VII,315). Dabei legt sich die Einsicht nahe, die Menschen werden mehr von der Sprache gebildet als die Sprache von den Menschen. Jeder findet sich in einen 66

Manfred Zahn, Fichtes Sprachproblem und die Darstellung der Wissenschaftslehre, in: TrG,155-167 geht der Frage nach, warum Fichte das Zeichensystem, welches den philosophischen Gedanken vor der gedankenlosen Wörtersprache retten soll, nicht ausgeführt hat. „Sah er vielleicht auch in solchem Zeichensystem neue Gefahren, z.B. die einer Formalisierung bzw. formalen Interpretation, die gerade als eine solche dem, worauf es einzig ankommt, nicht entspricht, nämlich der geschehenden Einheit, dem „Leben", in dem und als das sich das Selbstverstehen des Verstandes vollzieht?" (l61)

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schon bestehenden Sprachraum hineingeboren, der ihm Möglichkeiten vorzeichnet und zur Entscheidung stellt, sich als Einzelner wie als Glied einer Gemeinschaft in einer Welt des Sinnlichen und Übersinnlichen zu verstehen. „Welchen unermeßlichen Einfluss auf die ganze menschliche Entwicklung eines Volkes die Beschaffenheit seiner Sprache haben möge, der Sprache, welche den Einzelnen bis in die geheimste Tiefe seines Gemüths bei Denken, und Wollen begleitet, und beschränkt oder beflügelt, welche die gesammte Menschenmenge, die dieselbe redet, auf ihrem Gebiete zu einem einzigen gemeinsamen Verstande verknüpft, welche der wahre gegenseitige Durchströmungspunct der Sinnenwelt und der der Geister ist, und die Enden dieser beiden also in einander verschmilzt, daß gar nicht zu sagen ist, zu welcher von beiden sie selber gehöre..., lässt sich allgemein errathen" (4. Rede; SW VII,326). Darin liegen drei einflußreiche Bezüge der Sprache: auf den Einzelnen, die Gemeinschaft und den Anblick von Welt. a. Die belebende Kraft der Sprache begleitet den Einzelnen. Sie strahlt bis in die Tiefe des Gemüts. Gemüt bedeutet dabei noch wie bei Kant die Einheit unserer Erkenntniskräfte und umfaßt daher die theoretischen Vermögen des Denkens wie die Strebungen und das Wollen der praktischen Vernunft. Der Einzelne in seinen Vernunftkräften erfährt sich durch Sprache beflügelt, offenbar da, wo sie aus Freiheit zur Freiheit hinleitet und zur Selbstbestimmung auffordert. Und die Sprache beschränkt den Einzelnen auf die Sphäre seiner Wirksamkeit da, wo sie, selber aus der Not wirklichen Lebens geboren, unmittelbar entlastend ins Treiben und Überlebenmüssen der sinnlich andringenden Welt hinein wirkt. b. Sprache verständigt mehrere miteinander und fördert, wie gezeigt, die Einmütigkeit untereinander. So erscheint Sprache durchgängig zuerst: „Mittel der Verständigung mit Ändern, und das Element der Einmüthigkeit einer aus mehrererlei Individuen bestehenden Geisterwelt" (NW 111,270). Zumal die Nationalsprache bildet das Band von Völkern einer Nation und ist ein „ewiger Vermittler und Dolmetscher" zwischen den Generationen (4.Rede; SW VII,316). Sie bindet eine Gemeinschaft freier Vernunftwesen freilich nur dann zusammen, wenn sie die geistige Welt der Ideen inmitten der Sinnenwelt offenhält. c. Der Einfluß der Sprache auf die Weltansicht eines Volkes kulminiert in einem ganz eigenartigen Einigen von Natur und Übernatur. Sie leitet die Ansicht weder einseitig vom sinnlichen Anblick der Dinge weg zu den Ideen noch von den reinen Ideen zurück zum handfesten

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Ding. Das glückt der Sprache, weil diese dazwischen liegt. Als tönende Stimme und Zunge ( ) gehört sie dem Sinnlichen an, als Kundtun von Bedeutungen und Geist ( ) dem Übersinnlichen. Sie hat an beiden teil und läßt beide einander durchströmen, und zwar im sinnbildlichen Ausdruck des Übersinnlichen. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen das gelingt. Bedingung für ein verbindendes Zusammenströmen ist ein auseinanderhaltendes Unterscheiden der Weltansichten. Dazu braucht es ein Organ, welches die geistige Welt der Ideen unvermischt mit den Einzelanblicken sinnlicher Wahrnehmungen eröffnet. Das ist das Selbst des Selbstbewußtseins, und das Wort dafür heißt Seele, Geist oder späterhin Ich; es bringt das Werkzeug eines geistigen Sehens in distinkter Unterscheidung vom Leib und dessen Wahrnehmungsorganen zum Ausdruck. Dabei ist das Wort „Ich" die der Zeit nach späteste, der Sache nach früheste Kennzeichnung. Daran erinnert der Journal-Aufsatz und auch daran, daß Kinder von sich zuerst in der dritten Person reden, ehe sie „Ich" sagen. Erst im erwachten Selbst also erscheinen die Gegenstände einer übersinnlichen Welt, die Ideen, und zwar in Bekundung sinnbildhafter Kennzeichnungen. Als Beispiel dient das Wort, welches die Sache selbst nennt, gr. , dt. Gesicht. Das platonische Wort bezeichnet einen nur der Vernunft zugänglichen Wesensanblick; er spricht in sinnbildhafter Analogie zum Gesehenhaben ( ) mit leiblichem Auge. Dem entspricht das deutsche Wort Gesicht, so wie es in der Luther-Sprache vorkommt. „Gesichte haben" weist vom sinnlichen Wahrnehmen auf ein innerlich Erschautes des geistigen Blicks. Charakteristisch für Fichte mag sein, daß er „Idee" und „Gesicht" im Gebiete der praktischen Vernunft als Paradigma und Urbild für ein Handeln ansiedelt, das die Gesichte und Ideen in die Sphäre der Sinnenwelt einführen soll. „Ein praktisches Wissen ist ein durch sich selbst bestimmtes, also ein bloßes Gesicht, wie die deutsche Sprache das griechische Wort Idee trefflich ausdrückt; ein solches, das selbst deutlich sich ankündiget, und ausspricht, als dasjenige, dem die Realität durchaus nicht entspreche, das kein äusseres Dasein habe, sondern bloß ein inneres, und das mit keinem ausser sich, sondern nur mit sich selbst übereinstimme: ein Gesicht aus der Welt, die durchaus nicht da ist, der übersinnlichen und geistigen Welt, die eben durch unser Handeln wirklich werden, und in den Umkreis der Sinnenwelt eingeführt werden soll" (BdG-1811, 1. Vorl.; NW 111,150). So, nämlich im Vollzug der Freiheit, kommt Gott zu Gesicht; Freiheit

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ist die Bedingung dafür, daß der göttliche Wille gesehen wird. „Nur in der Form der Freiheit ist Gott sichtbar, - wie er überhaupt sichtbar ist, im Bilde, im Gesichte!" (Neue Welt; SW IV,522). In jedem Falle hat das Wort für „Idee" einen sinnkräftigen Klang. Diese Durchströmungslehre bringt noch einmal Ohnmacht und Macht der Sprache in den Blick philosophischer Grenzbesinnung. „Weiter vermag in diesem Umkreise die Sprache nichts; sie giebt ein sinnliches Bild des Uebersinnlichen bloss mit der Bemerkung, dass es ein solches Bild sey; wer zur Sache selbst kommen will, muss nach der durch das Bild ihm angegebenen Rede sein eigenes geistiges Werkzeug in Bewegung setzen" (RdN, 4. Rede; SW VII,317). Auch im Umkreis der Ideen also artikuliert die Reflexion auf deren sprachliche Gegebenheit die Begrenztheit unseres Sprechens. Die sprachliche Darstellung bildet eben nicht die Weltansicht selber. Sie formiert nicht den Begriff und das Gesetz seiner Entstehung. Sprache ist nicht der Vollzugsbereich der Wahrheit als Energeia unserer Gedankenbildung. Andererseits ist sie nicht eitler und notwendig irreführender Schein. Der sprachliche Ausdruck von Sinnbildern täuscht nur ein Bewußtsein, das noch nicht zum geistigen Selbstsein gefunden hat und ganz am Sinnlichen hängt. Dann redet die Analogie nicht, und die Aufforderung zur Selbsttätigkeit und zu geistigem Schauen findet nur taube Ohren. Anders spricht die Sprache zum wachen Geiste. Ihm bekennt das sinnliche Bild, daß es ein Analogen des Übersinnlichen ist. Die Sprache spricht, wenn sie unmittelbar so sinnkräftig redet, daß ihr Sinnbild als Bild verstanden und zum Erschauen des Übersinnlichen angenommen wird. „Und mit dem Besitzer einer solchen Sprache spricht unmittelbar der Geist, und offenbart sich ihm, wie ein Mann dem Manne" (5. Rede; SW VII.332). Innerhalb ihrer Grenzen aber vermag die Sprache viel. Sie bildet den Durchströmungspunkt der Sinnen- und Ideenwelt. Das gelingt, wenn die vertrauten Relationen des Bildteils unmittelbar lebendig sind. Das Verständnis des Sinnbildes hängt an der Vertrautheit des Wortbildes. Bleibt der sinnliche Bezug dunkel, dann erklingt ein hochtönendes Wort, das nicht Einsicht, sondern blinden Glauben erregt. Wo aber die sinnlichen Grundverhältnisse ungetrübt einleuchten, da bringt die Bezeichnung die Ideen gleichsam vom Himmel auf die Erde zurück. „So versetzt dennoch die Bezeichnung durch die Sprache, das Unbildliche auf der Stelle in den stätigen Zusammenhang des Bildlichen zurück" (4. Rede; SW VII,319). Unbildlich-Geistiges geht auf das Bild- und Sinnkräftige einer Sprachschicht zurück, die aus der Naturkraft verständigen Lebens aus-

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bricht; die geistige Bildung trennt sich nicht vom wirklichen Leben (ebd.). Zugleich leitet die Wörtersprache ihre Bilder hin zu den Zeichen der Ideen- und Geisterwelt. Sind nun die Gesichte des Vernunftblicks Erscheinungen des Göttlichen, dann zeigt die Sinnbildsprache auf den unsichtbaren Gott. „Hier (tritt) gleichsam der unbildliche Gott ein" (ebd.)67 Gott, das an ihm selbst verborgene, nur im Vorschein seiner Helle erscheinende Urlicht und Urleben, ist da in den „Gesichten" des Rechts, der Gerechtigkeit, des Schönen und Guten, der Wissenschaft und des Wahren als abgestuften Erscheinungen des in sich geschlossenen Seins in den Augen der Vernunft. So betrachtet, gewinnt die Sprache eine ungewöhnliche Würde. Sie läßt die Erscheinungen des Absoluten durchströmen und fließt selber aus dem Quell allen geistigen Lebens, aus Gott. Darum ist das Höchste zu sagen, den Dichtern anvertraut und der Philosophie, sofern diese das ewige Urbild allen geistigen Lebens erfaßt. Sie soll dabei nicht nur Ideen der Vernunft in tradierter Fachsprache wahren, sondern die menschlichen Verhältnisse geschichtlich fortbilden. Dafür muß auch die Sprache der Vernunftwissenschaft so gebildet sein, daß sie das ganze Leben in ein neues geistiges Licht taucht. Das geschieht durch Erweiterung des Sinnbild-Kreises. Damit wird der Denkende gleichsam zum Dichter; „und falls er dies nicht ist, wird ihm schon beim ersten Gedanken die Sprache, und beim Versuche des zweiten das Denken selber ausgehen" (5. Rede; SW VII.333). Der erste Gedanke ist die Idee eines Selbstverhältnisses. Fichte hat sie unter dem neuen Wort „Tathandlung" zur Sprache gebracht. Der zweite Gedanke, der aus dem ersten erwächst, ist der des absoluten Seins. An ihm vergeht das Denken, wenn nicht die Sprache aushilft: durch einen Kreis ehrwürdiger Sinnbilder, wie Licht oder Leben oder Quelle. Auch darin kommt der Idealismus Platons in eine letzte Gestalt. Die transzendentale Vollendung führt die bei Platon angelegte Kritik der Sprache durch. Die Sprache versagt im unmittelbaren Sagen des Seins, sie spricht aber für das ganze Erscheinen des Lebens, sie läßt es durchströmen vom tiefsten bis zum höchsten Ende. 67

Das erinnert an die symbolische Weltsicht Goethes, wonach das wahre Symbol das Unerforschliche offenbart. Wo sich die Sinnenwelt als Sinnbild erschließt, „knüpft sich der Himmel...gleichsam mit der Erde zusammen"; Über die Gegenstände der bildenden Kunst 1798. Vgl. Manfred Zahn, Zeichen, Idee und Erscheinung, a.a.O., 224.

EXKURS II Von Urvolk und Ursprache der Deutschen in den „Reden an die deutsche Nation" Die Wirkungsgeschichte der Fichteschen Philosophie hängt auf fatale Weise an der politischen Rezeption der „Reden an die deutsche Nation". Im Grunde fällt der öffentliche Ruf Fichtes bis heute mit dem Ansehen dieser Reden, gehalten im Winter 1807/08 im Akademiegebäude zu Berlin, zusammen. Und dabei werden oft genug nur prophetengleiche Sentenzen über die Deutschen als das auserwählte Volk der Erde kolportiert und aus einem dreifachen Kontext herausgerissen: der Geschichtsdeutung der „Grundzüge", der Bestimmbarkeit der „Synthesis der Geisterwelt" und der (geschichtlichen) Wirklichkeit als Bild und Erscheinung des Absoluten. Ohne solchen gedanklichen Hintergrund waren die „Reden" schutzlos dagegen, als aggressiver Nationalismus und als völkischer Rassismus verunstaltet zu werden. Daher kann man es nur folgerichtig finden, daß Fichte zu nationalen bzw. nationalistischen Krisenzeiten wirkmächtig wurde. Seine „Reden" sind in Deutschland in entstellter und verkürzter Gestalt in zwei großen Schüben aktualisiert und mißbraucht worden. Das erste Rezeptionsdatum ist das Säkularjahr 1914. Fichte avancierte zum Inaugurator einer Deutschtumsphilosophie; die deutsche Weltkriegsphilosophie war im wesentlichen eine Fichtesche Bewegung; seine Philosophie diente als Vorbild für die Vereinigung der philosophischen Theorie mit der Sache der Nation. Natürlich trugen die „Reden" die Beweislast. Hier fand man das Paradigma eines aus Liebe zum Vaterlande engagierten und begeisterten Denkens und Thesen für einen exklusiven Nationalismus der Deutschen, dem Salz der Erde: „Nur er, (der Deutsche) ist der eigentlichen und vernunftgemässen Liebe zu seiner Nation fähig" (8. Rede; SW VII,378). Allein die Genesung des Deutschtums heile die Menschheit; eine Niederlage Deutschlands begrabe die Zukunftshoffnungen der Menschheitsgeschichte. Das hat beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges Widerhall gefunden. Titel wie „Fichte, und wir" (Hermann Schwarz)

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oder „Neue Reden an die deutsche Nation" (Ottmar Dietrich) bezeugen die Zuwendung zum Nationalredner und die Aufnahme der Theorie von Urvolk und Menschheitsnation der Deutschen. Das alles ist inzwischen eindrucksvoll aufgewiesen.68 Als zusätzliche Leseprobe mögen Sätze aus Ernst Bergmann, Fichte der Erzieher zum Deutschtum (Leipzig 1915,VI) genügen: „Das Volk der Dichter und Denker ist es, in dessen Schoß diese hohen, menschheitspolitischen Hoffnungen gereift und hervorgetreten sind. Und das deutsche Volk hat zugleich bewiesen, daß es auch der Organisation fähig ist, wie kein zweites, ja daß es das bestorganisierteste Volk der Erde ist, wie selbst die Mißgunst unserer Feinde bewundernd uns zugestanden. Hat also der Fichtesche Glaube an die weltgeschichtliche Mission des Deutschtums, hat seine Metapher vom „Normalvolk der neuen Bildung" nicht doch ihren berechtigten Untergrund?" Eine zweite, weitgehend nur noch propagandistische Konjunktur hatten die „Reden" nach der „völkischen Erneuerung" 1933: als Quelle einer irrationalen völkischen Wiedergeburt in pangermanischem Ausmaße. Dabei wurde begrüßt, daß Fichte die Nationalidee in einem irrationalen Nationalerleben, gar in den Tiefen germanischen Empfindens wurzeln ließ (auch wenn die eigentlichen Lebenskräfte der Rasse und der Blutsgemeinschaft noch verdeckt geblieben seien).69 Jedenfalls fand 68

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Vgl. Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. München 21974, 194 -205. Hier wird die Rezeption der „Reden" in einen Gesamtkontext der ,Jdeen von 1914" gestellt und der Wandel Fichtes vom Menschheitsapostel der Französischen Revolution zum Nationalredner Preußens zu erklären versucht. „Es ist die Dialektik der Revolution, daß der Universalismus ihres Prinzips die Individualität der Nationen politisch macht, d.h. den Nationalismus hervortreibt" (195). Aber das ignoriert die Fichtesche Koinonie der Ideen des Kosmopolitismus und Patriotismus. - Und es überfrachtet auch die Sprachbetrachtung. Hat Fichte wirklich die Parolen der Revolution „Humanität, Liberalität und Popularität" umgewertet und ihren positiven Sinn durch Eindeutschung gerettet? Oder dient ihm das „berüchtigte Wort Humanität" nicht einfach zum Exempel dafür, daß sich Wörter entleeren, wenn sie aus dem Kreise der Anschauung herausfallen und dunkel-hochtönend blinden Glauben statt lebendige geistige Anschauung erzeugen? (Im Namen der „Humanität" kann man lebensunwertes Menschenleben vernichten, unter dem Wort „Menschenfreundlichkeit" kaum.) So attestiert Nico Wallner, Fichte als politischer Denker. Werden und Wesen seiner Gedanken über den Staat. Halle/Saale 1926, 93,137,169,182 Fichte, ihm fehle der rechte Sinn für das Historische und Irrationale, z.B. für die rassische Eigenart eines Volkes, wenn er einfach Liebe zum Vaterland schlechthin fordere. - Gustav

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Beifall, daß das „Völkische" den Deutschen vorbehalten bleibe: „Nur der Deutsche der ursprüngliche, und nicht in einer willkürlichen Satzung erstorbene Mensch, (hat) wahrhaft ein Volk" (8. Rede; SW VII, 378). In dieser Perspektive wird auch die Sprachtheorie der Reden ins Rassisch-Völkische hineingebogen. Von Rentes Reflexionen über die Sprache interessieren nur noch die Verflechtungen von Sprache, Ge-

Adolf Walz, Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes. Berlin 1928,603,647 erklärt analog, der Rationalismus mache Fichte unfähig, die irrationalen Kräfte der Rasse, der Blutsgemeinschaft als Wurzel der Nationalidee zu erfassen. - Gleichwohl ist Fichtes Nationalidee mit einem nationalsozialistischen Rassismus gleichgesetzt worden (Elie Kedourie, Nationalismus. München 1971=Nationalism, London 1960,73 f. oder : George Lichtheim, The Origins of Socialism. London 1969=Ursprünge des Sozialismus. Gütersloh 1969,150f. - Neuerdings Doris Mendlewitsch, Volk und Heil. Vordenker des Nationalsozialismus. Bielefeld 1988). - Dagegen stellt Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. Frankfurt a.M. 1962, 254ff. fest: Ein weltanschauliches Stadium des Rassismus - wie es Gobineau als Grundlage einer Geschichtstheorie mitsamt der Behauptung von der Überlegenheit der germanischen Völker entwickelt hat - gibt es bei den deutschen Patrioten vor den Befreiungskriegen nicht. Für sie war die Verbundenheit des kleinstaatlich organisierten deutschen Volkes durch gemeinsame Herkunft und Sprache Ersatz für nationale Emanzipation und nicht Vehikel einer (supernationalen) Ideologie der Rasse. Das gelte für Friedrich Schlegels „Philosophische Vorlesungen aus den Jahren 1804-1806", für Ernst Moritz Arndt und „vor allem für Fichte, der ganz zu Unrecht so vielfach für die Entstehung der deutschen Rasseideologie verantwortlich gemacht worden ist" (256,13. Anm.). - Für die prinzipiell möglichen Übersteigerungen und Verunstaltungen der interpersonalistischen, sprachlichen Struktur des Selbstbewußtseins der erwachenden Nationalidee im Schema der Fünffachheit menschlicher Welteinstellungen gibt Karl Hahn programmatisch fruchtbare Hinweise: Die Idee der Nation als Implikat der Interpersonalitäts- und Geschichtstheorie, in: FichteSt 2 (1990)24-26. - Erich Fuchs, Fichtes Stellung zum Judentum, in: FichteSt 2(1990) 160-177 hat dem berüchtigten, wahrhaft entsetzlich klingenden Satz „Den Juden Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sey" (GA I,l,292f.) mit dem zugehörigen Toleranzgebot Fichtes konfrontiert: „Zwinge keinen Juden wider seinen Willen und leide nicht, daß es geschehe ... Und hast (du) nur auf heute Brod, so giebs dem Juden, der neben dir hungert" (ebd.). Und er hat den Teilsatz, durch den Fichte zum Antisemiten und Vorläufer der in deutschem Namen begangenen Nazigreuel abgestempelt wurde, besonnen abwägend in den gehörigen Argumentationszusammen-

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meinschaft, Volk, Volkstum.70 Von da führt ein kurzer Schritt zum Rassismus, zur „wissenschaftlichen" Doktrin vom deutsch-germanischen Volkstum als einer durch Blutsgemeinschaft erzeugten, rassisch überlegenen Einheit. Und in der Tat, unter dem Eindruck solcher Verunstaltungen ist Fichtes Nationalidee als Rassismus abgestempelt worden. Und wenn sich schon keine biologische Rassentheorie in Fichtes kritischer Vernunftlehre fand, so wurde zumindestens aufgrund der Formel von der Ursprache des deutschen Urvolkes ein Sprachrassismus diagnostiziert. Angesichts dieser elenden Überlieferungsgeschichte sollte der Anstoß erregende Komplex von Ursprache, Urvolk und Patriotismus der deutschen Nation bei Fichte nicht mit vornehmem oder verlegenem Schweigen übergangen werden. Ein Exkurs kann freilich nur einige Leitbegriffe klarzustellen versuchen: 1. Fichtes Vorstellung vom „Volk",

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hang des im Winter 1792/93 verfaßten „Beitrags" gestellt. Es dreht sich um die These des jungen Fichte, der Einzelne habe ein Menschenrecht auf den Austritt aus dem Staat. Dagegen erhebt sich der Einwand, das führe zu einem Staat im Staate. Dawider nun stellt Fichte das Faktum, einen solchen (durchaus nicht zu fürchtenden) Staat im Staate gebe es doch, z.B. das Judentum. Und diesen abgesonderten Staat im Staate werde es geben, solange nicht eine völlige geistige Umwendung in den Köpfen geschehe. - Wie wenig Fichte in praxi ein wilder Judenfeind gewesen ist, läßt sich an markanten Episoden seines Lebens belegen (vgl. Fuchs, 169-177) Vgl. z.B. Hans Wenk, Fichtes Lehre vom Wesen der Sprache, in: Deutsche Grenzlande 13(1934)97-101: „Die große Leistung Fichtes für die Wesensdeutung der Sprache liegt in seinen Reden an die deutsche Nation. Hier findet er die schöpferische Synthese von Sprache und Volk, die Sprache wird als die Grundlage des Volkstums gedeutet" (98). Und noch plakativer wird Fichtes Sprachbetrachtung in den „völkischen Lebenskreis der Deutschen" eingeholt bei Darstellungen wie Theodor Hüpges, Volk und Sprache. Betrachtungen für Deutsche, Berlin 1934,13 u. 17. - Gegen die Unterstellung eines biologischen Rassismus wie eines Rassismus der Sprache' in den „Reden" wendet sich mit Recht Johannes Heinrichs, Nationalsprache und Sprachnation. Zur Gegenwartsbedeutung von Fichtes Reden an die deutsche Nation, in: FichteSt 2(1990)51-73. Kreisend um die Brennpunkte Nationalsprache und Sprachnation, sucht diese Darlegung Sprache sozialphilosophisch als das älteste formelle Interaktionsmedium des kommunikativ-kulturellen Subsystems (Fichte: „Werkzeug des gesellschaftlichen Menschen") in Abhebung von anderen Interaktionsmedien (Geld oder Recht) wie vom Subsystem der Religion zu fassen und sprachphilosophisch die Begründung des nationalen Gedankens kritisch zu erneuern.

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2. seine Verklammerung von Patriotismus und Kosmopolitismus, 3. die geschichtliche Koinzidenz von Urvolk, Ursprache und deutscher Nation zum Zeitpunkt der sich selbst vernichtenden Selbstsucht. Dabei sind die unterschlagenen Leitideen der Bildlehre, der Geschichtsdeutung und einer Synthesis der Geisterwelt einzuzeichnen. l. In den „Reden" wird der Begriff Volk zweifach konzipiert, in einem engeren Sinne von der Sprache aus, in einem weiteren Sinne von der Geschichte, der Entwicklung des Göttlichen im Fortgange der Welt, her. Zunächst heißt Volk: „die unter denselben äusseren Einflüssen auf das Sprachwerkzeug stehenden, zusammenlebenden und in fortgesetzter Mittheilung ihre Sprache fortbildenden Menschen" (4. Rede; SW VII, 315). Volk ist Sprachnation. Die Grenzen eines Volkes sind die Grenzen seiner Sprache, die Dauer seines Lebens ist die andauernde Fortbildung seiner Spracheigentümlichkeit. Verliert ein Volk seine Sprache, dann ist sein Eigenwesen tot. Und die Eigenart eines Volkes liegt in der einheitlichen sprachlichen Ausgelegtheit der Welt, so wie die Geistigkeit einer Weltansicht an der lebendigen Fortentwicklung einer Nationalsprache hängt. Natürlich reicht das Band der Sprache über Landesgrenzen hinweg und kann mehrere Staaten zu einem Volke machen. Als ein Sprachvolk war ja die deutsche Nation für Fichte vielstaatlich. Von den Gesetzen der Geschichte einer geistigen Welt her heißt Volk: „das Ganze der in Gesellschaft mit einander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesammt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht" (8. Rede; SW VII,381). Diese Bestimmung legt Wesen und Aufgabe der Einheit eines Volkes dar. Es ist geistig erzeugt und nicht durch Blutsgemeinschaft erwachsen, und es verbürgt irdische Ewigkeit bei Verfall und Wiedergeburt der Vernunft in der Geschichte. Völker sind Subjekte der Weltgeschichte, in die sie nach einem apriorischen Weltplan eintreten. Geschichte bildet ein Volk. Gemeinschaftliche Taten, gemeinschaftliche Leiden prägen seine Lebensform. Aber Fichte arbeitet diesen Gedanken in das Schema einer Vernunftgeschichte ein. Von der Eigenart und Wesensform eines Volkes notiert ein Entwurf aus dem Jahre 1813 (unmittelbar nach dem Aufrufe des Königs Friedrich Wilhelm III. am 17. März „An mein Volk"): „Die Volksform selbst ist von der Natur oder Gott: eine gewisse hoch individuelle Weise, den Vernunftzweck zu befördern. Völker sind Individualitäten, mit eigenthümlicher Begabung und Rolle dafür" (SW VII, 563). So war das französische Volk der Revolution dafür begabt, die

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Idee der Gleichheit aller in die Welt zu bringen. Das war seine unverwechselbare Rolle für die Beförderung der Vernunft im Fortgang der Geschichte. Die deutsche Nation dagegen hatte keine gemeinschaftliche Geschichte. „Die Deutschen haben als solche in den letzten Jahrhunderten keine Geschichte" (SW VII,565). Auch darum sind sie ein Urvolk und als etwas Ursprüngliches prästabiliert für einen Neuanfang in den Krisen der Weltgeschichte. Diese definitiven Belege aus den „Reden" sollen hier lediglich bezeugen: Volk bedeutet im Kontext der „Reden" Sprachnation und Geschichtssubjekt. Damit kommt zu Staat und Menschheit über diese Konzeption von Volk ein neuer Begriff dazu, „Nation". Nation im Fichteschen Sinne einer Sprach-, Kultur- und Vernunftnation bedeutet die Einheit eines staatsbildenden Volkes als Subjekt einer neu anbrechenden Geschichte, wobei die nationale Einheit von Staaten oder Staatenbünden eben nicht ökonomisch, rechtlich, religiös - wie im bloßen Wirtschaftsstaat, Rechtsstaat oder einer religiösen Staatseinheit wie das Heilige Römische Reich deutscher Nation -, sondern sprachlich fundiert und sprachphilosophisch legitimierbar ist. Diese Wesensbestimmungen passen offenbar nicht auf die Prägungen des „gemeinen Volkes" als der von den Fürsten regierten Gesamtheit der Bürger, eines unterprivilegierten Standes oder gar einer exploitierten KJasse. Sie sind himmelweit von einer Auslegung der Völker als Rassen verschiedenwertigen Blutes entfernt. Und die Verhaftung eines Volkes an Scholle und Boden war für Fichte „Schollenpatriotismus", das Nationalgefühl der Preußen „versessener Bauernstolz". Was die .Erdgeborenen', die sich an die Erdscholle, den Fluß und den Berg klammern, nicht zu Gesicht bekommen, ist ein Vaterland der Kultur, in der Licht und Recht ist. Eine Symbiose von Kultur-Nation und christlichem Europa hatten die „Grundzüge" angezielt: Europa, wiewohl in verschiedene Staaten entwickelt, bilde im Wesen ein Volk, und Vaterland sei dem Europäer in jedem Zeitalter der Geschichte derjenige Staat, der auf der Höhe der Kultur stehe. In Wahrheit hängen Einheit und Profil eines Volkes von seiner Kultur und Sprache, Aufgabe und Bestimmung der Nation von ihrer geschichtlichen Rolle ab. In beiden Fällen dominiert die Hinsicht der geistigen Weltansicht und des sittlichen Weltzwecks im Ausblick auf die Erscheinung als Bild des Absoluten; denn auch die Nationen sind Hüllen des Göttlichen. Gesetzt, die Völker entwickeln sich geschichtlich in ihrer besonderen Eigenheit und Reinheit, dann bilden sie einen Spiegel, in welchem die Erscheinung der Gottheit sich zeigt.

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2. Aber zeichnet sich mit der Zukehr zu Volk (und Sprach- bzw. Geschichtsnation) nicht eine Kehre der politischen Grundstellung ab? Fichte begann als Verfasser von Revolutionsschriften mit Manifesten für die Denkfreiheit und mit Deduktionen unveräußerlicher Menschenrechte. Dabei drehte es sich um die „Gesellschaft", wobei Gesellschaft und Menschheit sich decken. Ein Glied der Gesellschaft ist Welt-, nicht Staatsbürger. Hat sich nun der Fichte der „Reden" in Abkehr vom Kosmopolitismus zum aggressiven Deutschnationalen gewandelt? Verteufelt er, der einst Bürger des revolutionären Frankreichs werden wollte, jetzt das napoleonische? Man hat im Falle Fichte von einer zwangsläufigen Dialektik der Revolution gesprochen. Der politische Universalismus schlage in sein Gegenteil, den Nationalismus, um; denn das universal-revolutionäre Prinzip mache die Nationen in ihrer Individualität politisch. Diese Dialektik spiegele sich in Fichtes Wechsel der politischen Proklamationen. Die „Reden" münzen die Ideen eines politischen Universalismus ins partikulär Nationale um. Aber deutscht so Fichte die abstrakten Prinzipien der Französischen Revolution einfach nationalstaatlich ein? Kippt das kosmopolitische Pathos, auf dem Forum der Menschheit verkündet, zu glühender Vaterlandsliebe und Ausländerhaß um? Und versteigt sich nicht wirklich Fichtes Patriotismus zum Satz, nur der Deutsche könne Patriot sein; der Patriotismus jeder anderen Nation sei selbstisch, engherzig und feindselig gegen das übrige Menschengeschlecht (PD; NW 111,234)? Es ist sonderbar, wie wenig beachtet bzw. wie stark abgeschätzt der Entlastungszeuge Fichte in dieser strittigen Frage geblieben ist.71 Das 71

Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, München 1907 verfolgt die Wege aus der kosmopolitischen Welt des 18. in die nationalstaatliche des 19. Jahrhunderts als Etablierung der Staats- und Kulturnation. Fichtes Idee des deutschen Nationalstaates dient ihm dabei als Zeugnis für eine komplexe Entwicklung, in der nicht einfach der junge Gedanke des Nationalstaates den in fader Erbaulichkeit abgelebten Kosmopolitismus ersetzt. Sorgsame Untersuchungen - nach dem Quellenstand von 1900 - erörtern den Wandel Fichtes vom Weltbürger der „Grundzüge" 1804 zum Redner der deutschen Nation 1807. Sie betrachten die Synthesis von Vaterlandsliebe und Weltbürgersinn im ,3rief an Konstant" 1800, die „Patriotischen Dialoge" wie den Erlanger Universitätsplan vom Sommer 1806, aber sie schätzen Fichtes „abstrakte Vernunftkonstruktion" am Maßstabe des modernen Nationalstaates als Institution wirklicher politischer Welt ab. Meinecke bewertet negativ, daß sich Fichte - trotz der episodischen Annäherung an die politische Wirklichkeit nationalstaatlichen Lebens, d.h. staatlicher Macht- und Expan-

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gilt für die Einlassung in den „Patriotischen Dialogen": Kein Patriotismus ohne Kosmopolitismus und umgekehrt. Mithin hat nicht ein dumpfer Patriotismus (Spartanismus) an die Stelle des verstandeskalten Kosmopolitismus zu treten; der rechte Patriotismus (Atticismus) ist sich darüber im klaren, daß er mit Weltbürgersinn zusammenstimmt (Erlanger Universitätsplan 1805/1806; NW 111,288). Dieses Wechselverhältnis bietet keine weltgeschichtliche Dialektik an, sondern die gegenseitige Ergänzung von universalistischem Ideal und politischer Wirklichkeit. Zwar ist das Zusammenschmelzen des ganzen Menschengeschlechts zu einer einzigen Völkerrepublik der Kultur Endzweck der Geschichte, aber das ist ein aufgegebenes, unerreichbares Ziel, so daß die Eigenheiten der Nationen ihre weltgeschichtliche Funktion im Befördern des kosmopolitischen Ideals auf Erden behalten. Daraus folgt die strikte Verneinung jedes abgesonderten Patriotismus. Wahrer Patriotismus ist an ihm selbst kosmopolitisch. „Jener dunkele und verworrene Begriff eines besonderen Patriotismus (ist) eine Ausgeburt der Lüge" (NW III, 233). Der singuläre Patriotismus verstellt das wahre Vaterland, nämlich das Reich der Freiheit, und er verzerrt die Vaterlandsliebe, indem er für ein Reich der Eigenliebe und des Unverstandes wirbt. So wird der Vorbehalt gegen einen engherzigen Patriotismus schon klarer: Er trifft jede Vaterlandsbegeisterung, welche nicht die Zwecke der Menschheit umfaßt. Dieses Verdikt klammert übrigens Preußen nicht aus. Auch der besondere preußische Patriotismus, der selbstsüchtig-neutral das „Heilige sionspolitik im Machiavelli-Aufsatz - nicht vom Lebenstrieb des Machtstaates fesseln ließ, daß er aller Realpolitik die Wurzeln abschnitt und eine Invasion unpolitischer Ideen in das politische Leben Deutschlands betrieb, die radikale Vergeistigung des Staaten- und Völkerlebens in Verkündung eines Vernunftstaates und der Vernunftnation. - Gegen Meineckes These, Fichtes „Reden" ließen zwar einen Einheitsstaat in republikanischer Form gelten, legten aber, da es Fichte lediglich auf die Einheit des Geistes im deutschen Staatsleben ankomme, auf die konkrete Staatsform keinen gesteigerten Wert, zeigt Richard Schottky, Fichtes Nationalstaatsgedanke auf der Grundlage unveröffentlichter Manuskripte von 1807, in: FichteSt 2(1990)111-137 eindrücklich, wie die Vorarbeiten zu „Die Republik der Deutschen" der deutschen Republik einen scharfen politischen Umriß zu geben suchen. - Das widerlegt auch die These von Bernhard Willms, Die totale Freiheit, Köln und Opladen 1967,151, die Zeitereignisse hätten dazu geführt, daß die revolutionären Probleme der politischen Freiheit und Gleichheit durch den Begriff der Nation überspielt worden seien und die nationale Selbstbehauptung alle Fragen der Staatsverfassung und Gesellschaftsform gebieterisch zurückgedrängt habe.

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Reich" preisgab und der im Frieden von Basel 1795 die Gemeinsamkeit mit den anderen deutschen Staaten verriet, ist für Fichte eine Ausgeburt der Lüge. Fichte war eben in der Frage von Volk und Nation durchaus kein preußischer Patriot. Charakteristisch dafür ist ein Bericht über Fichtes Empörung auf einer Abendgesellschaft in Berlin zur Weihnachtszeit 1805, als die „neutralen" Preußen die bekanntwerdende Niederlage Österreichs bei Austerlitz bejubelten.72 Auch Fichte hat - wie die Romantik - der Einheit des christlichen Europa nachgehangen. Systematisch besehen, sind wahrer Patriotismus und Kosmopolitismus unzertrennlich. „Kosmopolitismus ist der herrschende Wille, daß der Zweck des Daseins des Menschengeschlechtes im Menschengeschlechte wirklich erreicht werde. Patriotismus ist der Wille, daß der Zweck erreicht werde zu allererst in derjenigen Nation, deren Mitglieder wir sind, und daß von dieser aus der Erfolg sich verbreite über das ganze Geschlecht" (PD; NW 111,228-229). Mithin schließen Patriotismus und Kosmopolitismus einander nicht aus, sondern ein. Der regsamste Patriot ist der aktivste Weltbürger; denn der aus der Urtätigkeit ausbrechende Vernunftwille kann immer nur hier und jetzt in die nächste Umgebung eingreifen. Am Tage ergehen die politischen Forderungen idealer Menschlichkeit immer noch an den Menschen als Patrioten, d.h. als Mitglied eines Nationalstaates, welchen er sein Vaterland nennt. Allseitige Menschenbildung ist konkret nur in den Gestalten nationaler Bildung möglich. Aber wie in aller Welt reimt sich das mit der Rede von der deutschen Nation als exklusivem Urvolk, einziger Wahrerin einer 72

„Fichte war, was weniger bekannt und nicht selten in der Vergangenheit vertuscht worden ist, in der deutschen Frage kein preußischer Patriot"; vgl. Reinhard Lauth, Reden an die deutsche Nation. Hamburg 1978, XXX ff. Dazu stimmen Äußerungen wie: „Die Absonderung der Preußen von den übrigen Deutschen ist künstlich, gegründet auf willkürlich und durch das Ungefähr zustande gebrachte Einrichtungen" (NW 111,232). - Daß deutsch zu sein am Ende eine geistig-philosophische Qualität bedeutet und ob die Hegemonie eines ,Volkes der Wissenschaftslehre' die Schwierigkeiten eines Kosmopolitismus, der die Nationen in ihrer Eigenheit nicht verschlingen soll, löst, erörtert - in Verbindung mit der Aufhebung der Individualität in eine „Gemeine der Heiligen" - die bohrende Untersuchung von Ives Radrizzani, Ist Fichtes Modell des Kosmopolitismus pluralistisch?, in: FichteSt 2 (1990)7-19. - Wie aber der Schlußgedanke einer Synthesis der Geisterwelt den Schlüssel anbietet, der den Zugang sowohl zu der geschichtsphilosophischen Konzeption der „Grundzüge" als auch zum Gedanken der Nation im Umkreis der „Reden" eröffnet, lehrt überzeugend Wolfgang H. Schrader, Nation, Weltbürgertum und Synthesis der Geisterwelt, in: FichteSt 2(1990)27-36.

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Ursprache und alleiniger Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt? 3. Die Heraushebung der Deutschen als Stammvolk einer Ursprache und deren Erhebung über die anderen Völker germanischer Herkunft, die eine ihnen fremde Sprache angenommen hätten, gehört wohl zu den kuriosesten Hypothesen des an wunderlichen Wissenschaftskonstruktionen nicht armen Deutschen Idealismus. Sie zielt polemisch auf die Sprach- und Kulturnation Frankreich, wobei die Franzosen als Nachkommen der Franken und Burgunder zur Volks- und Sprachgemeinschaft der (West-)Germanen gerechnet werden. Da diese nun im Unterschied zur deutschen Zunge die fremde Sprache der unterworfenen Völker angenommen hätten, gewöhnten die „neulateinischen Völker" sich eine in sich tote und entfremdete Geistesbildung an. In unterschiedlichen Sprachentwicklungen kommen ja, zumal in der Sprache der Ideen, unterschiedliche Grundverhältnisse zur Welt zum Ausdruck. In den neulateinisch überfremdeten germanischen Völkern verkomme, da die lateinische Sprach- und Grammatikgestalt verfestigt und abgeschlossen sei, die Sprache der Idee zum toten Besitz und zum Privileg der Gebildeten, welche ihre Geistesbildung abgetrennt vom Volk als Spiel und Muße betrieben. Das Stammvolk der Germanen dagegen finde seine Sprachentwicklung nirgends unterbrochen und entfremdet; seine Sprachbildung greife darum unmittelbar als lebendige Macht in die Wirklichkeit des Ganzen ein. Die romanischen Sprachen aber seien als Vermittler des Übersinnlichen abgeschlossen, erschöpft und tot. Darauf also bauen die selbstherrlichen Fichteschen Prognosen, nur der Deutsche könne aufgrund der lebendigen Sprache die geistige Einheit eines Volkes bilden, nur ein geistig unentfremdetes Volk werde die unterdrückte geistige Freiheit der Welt wiederherstellen. Nun ist es leicht und nötig, auf den defizitären Forschungsstand hinzuweisen:73 Fichtes Hypothesen leiden an Unkenntnis, vor allem über 73

Zur sprachtheoretischen Begründung der nationalen Idee und zum historischen Kontext der Reden immer noch instruktiv: Xavier Leon, Fichte et son temps, Paris 1922/27 11,3,138. Bemerkenswert erscheinen dabei Fichtes Studien zur vergleichenden Grammatik in Hinsicht auf das Italienische, Spanische und Portugiesische und Fichtes Abhängigkeit von A.W. Schlegel in der These vom Vorrang des Deutschen vor den neulateinischen Sprachen. - Auf Beziehungen zum Problemstand der vorromantischen Sprachlehre in Deutschland, vor allem zu J. Severin Vater, Übersicht des Neuesten, was für Philosophie der Sprache in Teutschland gethan worden ist, Gotha 1799, aber auch zu M. Roth, Antihermes oder philosophische

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die indogermanische Wurzel der germanischen Sprache, über die Sprachfamilien der Kentumsprachen (griechisch, italisch, keltisch, illyrisch und germanisch), über die Zäsur der 1. Germanischen Lautverschiebung (vor der Berührung mit den Römern). Weniger leicht, aber keineswegs unnötig wäre es überdies, die Grenzen der philosophischen Methode und die Motive philosophischer Prämissen in dieser Sache zu markieren. Das soll im Hinblick auf den Wesensbestand eines Volkes seiner Sprache und geschichtlichen Bestimmung nach geschehen. Mehrere Anläufe haben ergeben: Auf der Grundlage der Wissenschaftslehre kann abgeleitet werden, daß es Sprache geben muß. Das ist a priori erweislich. Dabei geht der Weg der Deduktion immer über den Begriff des Individuums als Wechselbegriff zum Du und über die Herleitung der Interpersonalität. Dieser im „Naturrecht" klassisch angebahnte Deduktionsgang wird sich auf dem Stande einer Bild- und Erscheinungslehre vertiefen. Eines ihrer hervorstechenden Themen ist die Genesis der Vielheit der Iche (Mannigfaltigkeit des Selbst=Person) aus dem Spaltungsfundament des Selbstbewußtseins im Wissen als Dasein des Absoluten. Die Vielheit (der Iche) ist wesenhaft Ausgangspunkt für Einheit (der Gesellschaft), anders ist Vielheit nichtig und unsinnig; gesellschaftliches Zusammenleben aber ist nicht ohne Sprache. An diesen Herleitungsduktus erinnert die 9. Vorlesung der „Grundzüge": „Das Wissen spaltet sich im Selbstbewußtseyn nothwendig in ein Bewußtseyn mannigfaltiger Individuen und Personen; eine Spaltung, die in der höheren Philosophie streng abgeleitet wird. So gewiß daher Wissen ist und dieses ist, so gewiß Gott ist; denn es ist selber sein Daseyn - so gewiß ist eine Menschheit, und zwar als ein Menschengeschlecht von Mehreren', und, da die Bedingung des gesellschaftlichen Zusammenlebens des Menschen die Sprache ist, mit einer Sprache versehen" (SW VII, 132-133). Damit aber ist die Grenze einer philosophischen Sprachbetrachtung erreicht. Daß Sprache überhaupt sein muß, ist a priori sicher, in welcher Gestalt sie in die Fortentwicklung der Menschheit eingreift, bleibt aus Prinzipien der Wissenschaftslehre unerweislich. Also wäre der Satz von Ursprache und Stammvolk der Deutschen gar nicht als ewige Wahrheit, sondern als kontingente Aussage zu nehmen, die Untersuchungen über den reinen Begriff der menschlichen Sprache und die allgemeine Sprachlehre. Frankfurt und Leipzig 1795, macht die Studie von Anna Maria Schurr-Lorusso, II pensiero linguistico di J.G. Fichte, in: Lingua e stile 5 (1970) 253-270 aufmerksam.

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nicht nur ihre Zeit gehabt hat, sondern auch schon zu ihrer Zeit falsch war? Fällt damit zugleich die geschichtsphilosophische Komponente dahin? Auch hierfür ist eine kritische Abgrenzung nötig, und dafür hilft ein Blick auf das Verhältnis von Geisterwelt und Volkscharakter. Volk war ja definiert als Vereinigung geistiger Naturen zu einer zweiten gesellschaftlichen Natur. Volk erscheint als Teil der Gemeinde vernünftiger Wesen, die Fichte „Geisterwelt" nennt. Das ergibt eine folgerichtige Übertragung der Verhältnisse von Individuum und „Gemeine der Heiligen" auf die Geschichtsbezüge von Volk und Gattungsleben. Während die „Sittenlehre" 1798 den Zusammenhang von intelligibler Welt als dem Ganzen der vernünftigen Wesen mit der Individualität der EinzelIche grundsätzlich festlegt, thematisieren die Vorlesungen der „Grundzüge" 1804/05 die analogen Verhältnisse zwischen individuellen Völkern und der Menschheit im ganzen im Vorblick auf das Fortschreiten des Gattungslebens. Hierbei wird das Gesetz der übersinnlichen Geisterwelt als Weltplan gedacht, der dem geschichtlichen Leben der Menschheit auf Erden vor- und zugrunde liegt. So betrachtet, ist der Angehörige eines Volkes nicht bloß geschichtlich das Mitglied einer irdischen Kongregation hier und jetzt, sondern Glied in der ewigen Kette geistigen Lebens überhaupt. Und ebenso steht es mit den individuellen Völkern im Sinne der Nation. Nationalität als Ausdruck der Individualität eines Volkes im Geschichtsverlauf wird in Wechselwirkung mit bestimmten anderen Gemeinschaften von Vernunftwesen begreifbar - und prinzipiell verstehbar aus der Korrelation von Bestimmbarkeit (der Vernunft und Geisterwelt überhaupt) und Bestimmtheit (des reinen Wollens) als Grundcharakter absoluten Wissens. Von diesem Fundierungsverhältnis her läßt sich wiederum für die philosophische Deduktionsfrage ein kritischer Bescheid einholen. Daß bestimmte Völker nach einem apriorischen Weltplan ihre Aufgabe und Bestimmung finden, läßt sich denken, welche Völker welche weltgeschichtliche Rolle spielen, aber nicht. Deduzibel ist der Übergang von einer zeitlosen Synthesis der Geisterwelt zum geschichtlichen Volk; denn die Synthesis der Geisterwelt steht unter der Kategorie der Bestimmbarkeit, welche einen Übergang zur Bestimmung aus Freiheit offenhält. Der Übergang zur geschichtlichen Bestimmtheit nun ist das Hervortreten der geistigen Volksindividualitäten im Laufe der Weltgeschichte. Das Wie der Genesis aber bleibt für endlich-menschliches Wissen undurchdringlich. Evident wird nur, daß bestimmte Völker ihre

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Weltstunde haben, in der sie als Mittel zum Zweck agieren, Freiheit und Vernunft der Menschheit zu befördern. Die Behauptung von der Gescnichtsmission der Deutschen in der Epoche einer sich selbst auflösenden Selbstsucht aber läßt sich transzendental mit Mitteln der Wissenschaftslehre nicht rechtfertigen. Bleibt mithin übrig, das gedanklich Unableitbare aus der kontingenten, geschichtlichen Situation zu erklären? Das klingt plausibel. Wurde nicht Fichte zum Notpreußen, als die staatliche Selbständigkeit Preußens faktisch vernichtet war? Entsprang mithin die Aufforderung an die deutsche Nation von Preußen her aus der Notwehrsituation gegenüber einem Frankreich, das die Französische Revolution verraten hatte und dabei war, eine despotische Uni versa! monarchie als einseitige Herrschaft eines Volkes über alle anderen in Europa aufzurichten, die - dem Zwecke des Weltplans zuwider - alle Keime des Menschlichen mit ungeheurer Roheit zu zerreiben drohte? „Uns treibt die Noth, und wir müssen eben sagen, was diese uns zu sagen gebietet" (12. Rede; SW VII,455). Spricht dafür nicht auch Fichtes Kennzeichnung Napoleons? Sie fällt nicht einseitig verherrlichend aus wie bei Hegel oder Goethe. Der Schwabe Hegel war ergriffen vom Anblick des Weltgeistes zu Pferde in Jena; die Welt übergreifend, habe die ungeheure Macht seines Charakters die liberalen Einrichtungen überall durchgesetzt: Keine größeren Siege seien je gesiegt worden. Und Goethe verneigte sich weimarerischolympisch vor dem Bändiger der Massen, der das Chaos überwand und die wohltätigen Folgen der Revolution diziplinierte: Ein Halbgott schreite von Sieg zu Sieg. Andererseits verteufelt Fichte den Korsen auch nicht wie ein Freiherr von Stein oder Ernst Moritz Arndt. Von Stein prangerte die Rücksichtslosigkeit in Hinblick auf Recht und Herkommen, die gänzliche Abwesenheit leitender moralischer Grundsätze und Gefühle an. Und Arndt titulierte Napoleon als Satans ältesten Sohn. In den „Reden" stellt Fichte „das Wesen, dem dermalen die Leitung eines großen Theiles der Weltangelegenheiten anheimgefallen ist" (12. Rede; SW VII,455), unter den Maßstab der Größe. Groß sei nur dasjenige, was solcher Ideen fähig ist, die Heil über die Völker bringen, unheilvoll eine ungeheure Natur und der schwärmerische Geist eines gewaltigen Eigendünkels. Auch das unverhohlene Urteil in „Über den Begriff des wahren Krieges" (SW IV.424-430) verkennt nicht die gewaltige Potenz napoleonischen Willens, seine kühn erhabene, den Genuß verschmähende Denkart, die feste Entschlußkraft, alles seinem Ziele aufzu-

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opfern, und die Klarheit, alles Schwächere für seine Zwecke einzusetzen. Der Korse Napoleon versammelt alle Bestandteile eines großen Mannes in sich - bei gänzlicher Blindheit für die sittliche Bestimmung des Menschengeschlechts. „Mit diesen Bestandtheilen der Menschengrösse, der ruhigen Klarheit, dem festen Willen ausgerüstet, wäre er der Wohlthäter und Befreier der Menschheit geworden, wenn auch nur eine leise Ahnung der sittlichen Bestimmung des Menschengeschlechts in seinen Geist gefallen wäre" (SW IV,425). So aber schwebe seine Freiheit vernichtende Kraft über dem betäubten Europa wie ein Geier über den niederen Lüften. Napoleons Wille, Herr der Welt zu werden, ist Ausbruch einer alles verzehrenden Selbstsucht. Was dem bedrängten Europa und der Zeit not tut, ist ein gleich starker absoluter Wille: der Wille eines Volkes zur sittlichen Freiheit in der ruhigen Klarheit der Vernunft. So kommt ein überlegener Sinn in die scheinbar chauvinistische Rhetorik Fichtes. In ihr herrschen ungeschmälert die Grundüberzeugung des Idealismus vom Primat der Ideen oder Vernunftbegriffe in der Geschichte und der Glaube an einen vernunftgeleiteten, weltbürgerlichen Menschheitsfortschritt. Die Entwicklung der Ideen durch Vernunftwissenschaft und Vernunftkunst, das ist das Innerste der Weltgeschichte. Ist nun Sprache Ausdruck der Vernunft und eine lebendige Sprache Mittlerin der Ideen, dann braucht die Vernunft Wissenschaft eine lebendige Sprache, um in die geschichtliche Wirklichkeit einzudringen und diese umzuschaffen. Und spricht die Vernunftwissenschaft, welche zur Umwandlung der sittlichen Denkungsart anleitet, seit Kant nicht in deutscher Zunge? Also nicht der einzigartige „innere Wert der deutschen Sprache" steht zur Diskussion - es gibt ebenso andere ursprüngliche Sprachen, etwa die griechische (4. Rede: SW VII,325) -, in Betracht gezogen wird allein die Koinzidenz von deutscher Sprache und Vernunftwissenschaft in derjenigen Geschichtsepoche, da die Weltzeit reiner Selbstsucht so zu Ende gehen mag, daß sie sich totalisiert. Es ist die geistige Kraft und Sprache der Vernunftwissenschaft, welche im nämlichen weltgeschichtlichen Augenblick die wahren Zwecke des Menschengeschlechts wieder ins Klare bringt. Sie hat als Kritik der reinen Vernunft und System der Wissenschaftslehre um die Wende des Jahrhunderts ihren geschichtlichen Ort und Ausdruck beim Volke deutscher Zunge gefunden. Mithin habe sich im gegebenen Moment der Geschichte die spezifische Vaterlandsliebe der Deutschen darauf zu konzentrieren, die Wissenschaft und deren möglichst größte Verbreitung zu

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befördern. So relativiert sich die Anmaßung, nur der Deutsche könne Patriot sein und die ganze Menschheit umfassen, auf die Stunde idealistischer Vernunftaufklärung. Natürlich sprechen sich darin ebenso das hochgespannte Sendungsbewußtsein Fichtes aus, die Philosophie als Vernunftsystem zu vollenden, wie die Würde der Gelehrten, Seher dessen zu sein, was in Wahrheit ist und unbedingt werden soll. Aus diesem Blickwinkel erhält das Postulat, der Deutsche solle die Regierung der Welt übernehmen, den urplatonischen Sinn, die von der Vernunftwissenschaft ersehenen Gesichte oder Ideen sollen ins geschichtliche Leben eingreifen. So bleibt die Bestimmung der deutschen Nation ihrer Idee nach in Einklang mit dem weltbürgerlichen Ideal und dem Endzweck des Erdenlebens, alle Verhältnisse der Menschheit mit Freiheit nach der Vernunft einzurichten. (Daß das Sendungsbewußtsein des „deutschen Volkes" auf entsetzliche Weise gewalttätig-völkermordend ausbrach wurzelt diese Perversion vielleicht darin, daß es die geistige Bestimmung seiner Weltstunde nicht erfüllte?)

6. KAPITEL Limitative Dialektik. Methode und System Sprache ist, mit Jacobi gesprochen, ein zweischneidiges Schwert der Wahrheit und der Lüge. Schon das einfache, unverbundene Wort, zumal aber die aussagekräftige Wörterverbindung können, weil sie entdeckend sind, erscheinen-lassen und richtig-steilen, auch verdecken, verschleiern und falsch-aussagen. Darum taugt die Wörtersprache nicht zum Medium der reinen Wahrheit absoluten Seins. Den Abweg, auf die natürliche Alltagssprache in der Analyse dessen, was wahrhaft ist, zurückzugreifen, hat Fichte geradezu perhorrisziert: Alltäglich gehe die Wörtersprache durch die Gedankenlosigkeit hindurch. Und den anderen Ausweg hin zu einer ars characteristica, einer täuschungsfreien Idealsprache als System künstlicher, eindeutig definierter, mathematischer Zeichen, hat er nicht weiter verfolgt. Fichte sieht, daß man, wird Sprache auf das reine Zeichensein reduziert, bloß symbolische Erkenntnis erhält: Diese gibt nur Zeichen, nicht aber schon die geistige Anschauung der Sache selbst. Der namentliche Ausdruck im Zeichen wie die sprachliche Ausgelegtheit überhaupt haben vor dem zurückzutreten, was zum Ausdruck kommt, dem Gedanken oder Begriff. Diese Maxime legt eine andere Methode als die „sprachanalytische" nahe: die Dialektik der Begriffe. Der neuzeitliche Idealismus formiert sich geradezu dadurch zum System, daß er die Platonische Ideen-Dialektik verwandelt aufnimmt. Das beginnt mit Fichte. Ein Versuch, die Eigenart der Fichteschen Dialektik im Zusammenhang mit der methodischen Entwicklung eines Systems herauszustellen, konzentriert sich zunächst auf die frühe Grundlegung der Wissenschaftslehre. (Innerhalb der späteren Bild- und Erscheinungslehre wird das dialektische „Durch" als Prinzip der Disjunktion und als Prinzipiat des Lebens im Zusammenhange methodischer Selbstbegrenzung zu erörtern sein.) Am Anfange lassen sich drei Fragen stellen: 1. Welche Wesensmöglichkeit einer Dialektik zeichnet sich auf dem Boden des kritischen transzendentalen Idealismus ab? Diese Frage stellt

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sich in den weit gespannten geschichtlichen Horizont von Kants transzendentaler Dialektik reiner Vernunft bis zur Logik Hegels. 2. Welche Generalregeln leiten die Durchbestimmung der obersten Grundsätze? Diese Frage kann sich an Methodenreflexionen halten, welche die Durchbestimmung der Ich-Triade begleiten. 3. Schließt sich die Dialektik der Wissenschaftslehre in der ersten methodischen Entfaltung ihres Prinzips zu einem System zusammen? Diese Schlußfrage sollte an den Anfang, zur Thesis des ersten Anfangsgrundes, zurückgehen und das Problem in der dadurch geprägten Aussageform des thetischen Urteils spiegeln. Am Ende wird sich zeigen, daß transzendentale Besonnenheit dem Zauber spekulativer Dialektik nicht erliegt und ihn auch nicht zu scheuen braucht. 6.1 Von der transzendentalen Dialektik im positiven Verstande Der neuzeitliche Idealismus kann eine aus dem Geiste der Kritik und der Vernunftgewißheit wiedergewonnene Dialektik heißen. Das gilt für die sogenannte negative wie für die positive Dialektik gleichermaßen. Unter negativer Dialektik ist diejenige Gestalt der Unterredung zu verstehen, welche sophistisches Alles- und Scheinwissen als widerspruchsvolles Blendwerk entlarvt. Sie hat ihre klassische Ausdrucksform im Sokratischen Dialog gefunden. Solche Unterredungskunst heißt negative Dialektik, weil sie im Felde argumentierenden Sichunterredens lediglich das negative Resultat hat, Scheinwahrheiten in den Widerspruch zu treiben, (nach Hegel) die festen Verstandesgegensätze zu liquidieren oder (nach Schopenhauer) den Willen zu entkräften, der sich in der Maske des Verstandes mit Hilfe von Sophismen und Stratagemata durchsetzen will (vgl. Welt als Wille und Vorstellung II, l, Kap. 9: Zur Logik überhaupt - Parerga II, l, Kap. 2: Zur Logik u. Dialektik). Und Fichte stellt im „Privatissimum für G.D." die dialektische Kunst als Antisophistik zum Schütze der Wahrheit vor (GA 11,6,369). Das hat in Kants Dialektik eine eigene Dimension gewonnen. Transzendentale Logik klärt einen zwar auflösbaren, aber doch unvermeidlichen natürlichen Schein auf, der den Menschen zum Irrtum verleitet, aus reiner Vernunft Erkenntnisse über Welt, Seele und Gott zu erschließen. Zumal die Antinomie-Lehre macht klar: Die Vernunft verstrickt sich in eine dialektische, d.i. scheinhafte Opposition von Gegensätzen

Transzendentale Dialektik im positiven Verstande

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und Gegenpositionen, solange nicht die Grundgesetze menschlichen Bewußtseins kritisch überprüft werden. Und natürlich versteht und verwendet Fichte den Terminus Dialektik auch in diesem Kantischen Verstande, nämlich als transzendentale Logik jenes Scheins, der unseren Verstand darin beirrt, bloß formale Prinzipien des Denkens zum Erwerb materialer Erkenntnis zu verwenden. „Den Schein, u. die Grundlosigkeit dieser Anmaßung aufzudeken, und den Verstand in seine Grenzen, die des empirischen Gebrauchs zurük zu weisen,... heißt Dialectik" (G A II, 1,302). Fichte kennt auch den Sprachgebrauch, welcher Dialektik mit ars sophistica gleichsetzt und nicht auf Platons Antisophistik, sondern auf die „verderbliche" Widerlegungskunst des Euklides von Megara zurückführt (Kant, Logik-Philippi, 336; vgl. Platners Erwähnung der „Megarischen Dialektik" II,4S,131). Kant kennzeichnet diese Verfallsform der dialogischen Unterredung als „Kultur gewisser geschwätziger Köpfe, jeden Schein zu erkünsteln" (Logik-Jäsche, Einl. 11,11). Im Zusammenhang mit der Skeptizismusdebatte notiert Fichte 1812 im Blick auf Platners „Philosophische Aphorismen" § 705: Dialektischer Scharfsinn, a) Leichtigkeit, selbst neue Meinungen, die noch nicht dagewesen sind zu erdichten. - b) Jede Meinung zu rechtfertigen, aus ihrem Princip, u. in ihrem Zusammenhange" (GA 11,4,231-232; NW 1,168-169). Vermöge des dialektischen Scharfsinns treibt der Skeptiker die Vielheit der Meinungen in den Widerstreit. Er weist nach, „daß keine Meinung etwas vor der anderen voraus habe', allenthalben mehrere, mit gleich geltenden Gründen ausgerüstet, sich widerstreiten werden" (TL; NW 1,169). So bewährt der Skeptizismus seinen Grundsatz: Nil sciri polest (vgl. NW I, 180). Das ist für Fichte bloße Psychologie und unwahre Dialektik, eine „Dialektik des Aus- und Erdenkens" (NW 1,188): Sie erdenkt sich mit Leichtigkeit Gegenmeinungen und denkt sich so einen grundlosen Widerspruch, nämlich den Widerstreit bloßer Meinungen, aus. Mehr als ein Kathartikon für sophistisches Blendwerk und das gerade Gegenteil skeptizistischer Widerlegungskunst ist die Dialektik im positiven Verstande. Auch diese Gestalt der Dialektik hat durch Platon vorzüglich im „Sophistes" ihr maßgebliches Gefüge erhalten.74 Danach 74

Zu den hervorragenden Interpretationen dieser ersten ausdrücklichen Kennzeichnung des Philosophen als Dialektiker (Soph.252c-e) sind zu zählen: Julius Stenzel, Studien zur Entwicklung der Platonischen Dialektik von Sokrates zu Aristoteles. Darmstadt31961,67-71. - Hans-Georg Gadamer, Platos dialektische Ethik. Harn-

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heißt Dialektik die Lehre von der regelrechten Trennung (dihairesis) und Zusammennähme (synagoge) der mischbaren Ideen aufgrund eines Wissens von den fünf obersten Seinsgeschlechtern, die sich wie ein Band durch alle Ideen Verbindungen, sie ermöglichend, hindurchziehen. Platons positive Dialektik eröffnet vorzüglich drei Einsichten: 1. Zu den „unbewegten Standbildern" der Ideen in ihrer ewigen Ruhe gehört untrennbar eine Bewegung, nämlich Prozeß und Leben der vernehmenden Seele, wodurch die Ideen aus der Abwesenheit in die Anwesenheit, aus dem Nichtgesehenwerden in die Offenheit der Sicht übergehen. Dialektik als Vergemeinschaftung von Ruhe und Bewegung hat ihr angestammtes Gebiet im Bezug von denkender Seele und Idee, neuzeitlich gesprochen: von Subjekt und Objekt. 2. Um den Gegensatz von In-Ruhe-Sein und In-Bewegung-Sein aufzuheben, ist die Gemeinschaft von Sein, (ontologischer) Ruhe und (noetischer) Bewegung mit Selbigkeit und Andersheit zu bedenken; denn jedwedes ist vom anderen verschieden und gerade dadurch es selbst. Dabei erweisen sich Andersheit und Selbigkeit als eigenstämmige, voneinander unabtrennbare Grundbestimmungen. Der Ursatz der Spekulation, das Absolute selbst sei die Identität von Identität und Nicht-Identität, stammt aus dem Erbgut der Platonischen Dialektik. 3. Wird nun das schlechthinnige Nichts zum Nicht-ein-Anderes-Sein gemildert, dann gewinnt das Nichts den Sinn der Verschiedenheit des Seienden gegen Seiendes. Die Andersheit macht das Seiende sichtbar, dergestalt, daß sie es von allem anderen unterscheidet, das es nicht ist. Dieser positive Sinn von Nichtsein macht den schroffen eleatischen Gegensatz von Sein und Nichtsein vermittelbar. Das gewinnt in Hegels spekulativer Dialektik eine neue Dimension. Platons Einsichten in die Vermischung und Verflechtung der Ideen ist sicher vorbildhaft für die Entfaltung des Gesamtbereiches der Ideen in Hegels Logik geworden. Hegels Dialektik geht so auf die Logos-Metaphysik der platonischen Tradition zurück, daß sie diese auf dem Boden des sich selber wissenden Geistes neu begründet. Darüber herrscht weitburg 21968, 73-80. - Margot Fleischer, Hermeneutische Anthropologie. Platon. Aristoteles. Berlin/New York 1976, 138-147. Vielleicht ist aber doch noch die Verschränkung von dihairetischer Dialektik (Aristotelisch: die Kunst des Definierens) und „transzendentaler" Dialektik (die Lehre von den fünf als notwendigen Bedingungen für die Möglichkeit, eine Idee im trennend-zusammenfügenden Durchgang durch alle anderen zu fassen) zu wenig beachtet.

Transzendentale Dialektik im positiven Verstande

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gehend Einverständnis: Die spekulative Dialektik habe die Platonischen Vorgaben im reinen Geistesäther absoluten Wissens systematisch und geschichtlich zur Vollendung gebracht.75 Also stellt sich eine aus dem Geiste der Kritik und Vernunftgewißheit wiedergeborene Dialektik so dar: Der alles umstürzende Neuanfang der negativen Dialektik sei die Kantische Antinomiekritik, die alle Entzweiungen vermittelnde Vollendung der positiven Dialektik die Hegelsche Logik. Dazwischen gebe es lediglich Präfigurationen, Zwischenstufen, Ahnungen des spekulativen Prinzips und danach nur noch Ab75

Maßgebend ist die Abhandlung von Hans-Georg Gadamer, Die Ideen der Hegelschen Logik, in: Hegels Dialektik. Fünf hermeneutische Studien. Tübingen 1971, 50-69. Daraus seien die Thesen über Hegel, Fichte und die Griechen herausgeschnitten: Fichte faßt die Idee des absoluten Idealismus, den gesamten Inhalt des Wissens als des vollendeten Ganzen des Selbstbewußtseins zu entfalten, als Forderung. Hegel sichert das absolute Wissen als Resultat der Erfahrungen des Bewußtseins und führt die Logos-Nus-Metaphysik der Platonisch-Aristotelischen Tradition auf den Boden des sich selber wissenden Geistes zurück. Dabei ist der Hegeischen Logik die Platonische Dialektik ständig als Vorbild gegenwärtig. Es führt die Einsicht des „Parmenides", es gebe keine einzelnen Ideen, die Ideen seien nur in ihrer Verkettung, Vermischung oder Verflechtung da. Im „Sophistes" ist diese innere Verkettung der Ideen an „Reflexionsbestimmungen", etwa der Identität, evident gemacht. - Wie im Einzelnen Hegels frühe Ausbildung der Dialektik in Jena und das spätere Selbstverständnis seiner dialektischen Methode durch modifizierende Aufnahme der Dialektik Platons mitkonstituiert wird, zeigt unter Aufnahme der Forschungsdebatte Klaus Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie. Darmstadt 1983,55-96. Dabei stellt für Hegel gerade der „Sophistes", nicht der „Parmenides" das Paradigma Platonischer Dialektik dar. Die Dialektik im „Parmenides" bleibe negativ, weil die Negation der Negation als Affirmation nicht ausgesprochen werde. - Zusammenfassend stellt Klaus Düsing, Formen der Dialektik bei Platon und Aristoteles, in: Manfred Riedel (Hg.), Hegel und die antike Dialektik. Frankfurt a.M. 1990,169-191 (Lit.: Norbert Waszek, Hegel und die antike Dialektik. Bibliographie, 275-283) die verschiedenen Weisen der Dialektik bei Platon dar, die Dialektik der Dihairesis im „Sophistes" und die große ,Übung' im „Parmenides"; dabei zeigt er Hegels spekulative Umdeutung in genauen entwicklungsgeschichtlichen Studien, vorzüglich im Blick auf den „Parmenides", d.i. auf die negative Seite der Erkenntnis des Absoluten. - Auch Manfred Baum, Kosmologie und Dialektik bei Platon und Hegel (a.a.O.,192-207) konzentriert seine gelehrten überlieferungs- und entwicklungsgeschichtlichen Untersuchungen auf den 2. Teil des „Parmenides" - für Hegel das größte Kunstwerk der antiken Dialektik - und verfolgt die Rolle der darin waltenden Zenonischen (Aristotelischen) und theologisch-neuplatonischen Dialektik für die Konzeption von Hegels ersten Systemen.

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stufungen oder Umstülpungen.76 Eine naheliegende Frage wird so nirgends ernsthaft erwogen: Gibt es nicht eine die negative Dialektik Kants ergänzende positive Dialektik auf dem sicheren Boden des Selbstbewußtseins? Solch fragender Blick fällt auf Fichtes Wissenschaftslehre. Findet sich hier vielleicht die Geburtsstätte einer haltbaren Dialektik, sofern diese nicht den Zauberblick der Spekulation, sondern die Besonnenheit kritischer Einschränkung braucht? Diese Leitfrage orientiert sich hier lediglich an jener kurzen Methodenreflexion, die am Anfang von § 4 der „Grundlage" den Weg in das Ganze der theoretischen und praktischen Vernunft bahnt (GWL; GA 1,2,283-285). Das beziehungsreiche Problem der „dialektischen Kunst" in den späteren Fassungen der Wissenschaftslehre bleibt hier ausgespart. 6.2 Die Methodenreflexion bei Ableitung der Wechselbestimmung („Grundlage" 1794/95 §4) Fichtes Methodologie beruft sich auf oberste Grundsätze. Sie genügt damit dem Gewißheits- und Systemanspruch der Neuzeit im Gefolge der regula generalis: Baue angesichts des metaphysischen Zweifels ein 76

Typisch für diese Forschungsperspektive sind Titel wie Werner Hartkopf, Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik, in: ZphF 21(1967)173-207. Danach sei in Fichtes Wissenschaftslehre die gesamte Weiterentwicklung der dialektischen Methode (Denkdialektik) zur dialektischen Metaphysik (Universaldialektik) angelegt; sie stelle eine Dialektik in statu nascendi dar, an der sich freilich Grundmotive und Grundmomente dialektischen Denkens besser erkennen ließen als bei Hegel: eine mehrfältige Methodik, ein heuristisches, nicht unter dem Diktat der Logik stehendes Vorgehen, der Anwendungsbereich komplexer Phänomene geistiger Vorgänge im offenen Denkraum u.a.m. - Gänzlich im Sinne der Hegelschen Position urteilt Richard Kroner, Von Kant bis Hegel. Tübingen 21961, 402ff.: Fichte bilde die Antithetik zur Dialektik um, indem er den durch sie entstehenden Widerspruch zum Prinzip des Fortschritts mache, ohne ihn je logisch-spekulativ aufzulösen; denn absolute Einheit und Identität blieben immer nur gesollt. - Im Namen des dialektischen Materialismus lobt T. Oisermann, Die Dialektik in der Philosophie J.G. Fichtes, in: Wissen und Gewissen. Berlin 1962,99ff., daß Formelemente der Wissenschaftslehre wie die Triplizität der Grundsätze oder die belebende Synthesis der Wechselbestimmung ahnungsvolle Ansätze einer wahren dialektischen Logik seien, obwohl der sachliche Anfang und Grund einer Ich-Philosophie in einseitigem Subjektivismus und abstrakt idealistischer, geschichtsloser Konstruktion verharre.

Die Methodenreflexion der „Grundlage" §4

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unerschütterliches Fundament und stelle dafür einen schlechthin gewissen, unbedingten Grundsatz auf! Dabei überbietet Fichtes Axiologie die Vorgänger (Descartes, Kant, Reinhold) an dialektischer Differenzierung und methodischer Geschlossenheit. Mit der Triade unbedingter Sätze sichert die „Grundlage" 1794/95 der prima philosophia ihr genuines Gebiet: das reine Selbstbewußtsein oder absolute Wissen in der lebendigen Einheit schlechthinnigen Setzens, Entgegensetzens und Zusammensetzens. Und mit der methodischen Reflexion auf die Tragfähigkeit dieser Dreiheit zeichnet sie die Entwicklung des Systemgrundes in ihrem Gang und ihrer Reichweite vor. Darin bewährt sich der Grundsatz als Grundsatz. Daher lautet die zweite Methodenregel: Prüfe, ob der zugrunde liegende Satz ein System tragen kann! Daher versichert Fichtes Methodenüberlegung eingangs, daß die drei Grundsätze eine bruchlose Systementfaltung verbürgen, und zwar im Hinblick auf Einheit, Form und Gehalt. 1. Die Einheit und Homogenität stellt der erste Grundsatz, der Satz der Identität in der Gestalt des thetischen Urteils „Ich bin (Ich)", sicher. Deduziert wird ja ein Zusammenhang von Sätzen, welche synthetisch apriorische Handlungen des einen und selben Ich ausdrücken. So vielfältig diese auch ihrer Tendenz und ihrem Gehalte nach sind, alle kommen darin überein, gesetzhafte Vollzüge der in sich zurückkehrenden Tätigkeit zu sein. Die Ichheit überbrückt selbst die Kluft zwischen dem Gebiete der theoretischen und der praktischen Vernunft. Nach dem Grundsatz der praktischen Vernunft bestimmt das Ich das Nicht-Ich; es strebt ja danach, das Unvernünftige gänzlich unter die Gesetze der Freiheit und Vernunft zu stellen. Nach dem Hauptsatz der Theorie ist das Ich durch das Nicht-Ich bestimmt; es sucht das Richtige, indem es sich nach dem vorgestellten Sachverhalt richtet. Beides aber sind Einstellungen des nämlichen Ich, das sich selbst setzt. Unverlierbar begründet die Thesis „Ich bin" Einheit im Grundsätzlichen. 2. Die Form der Systementwicklung gründet im zweiten und dritten Grundsatz. „Die beiden leztern machen das synthetische Verfahren überhaupt erst möglich; stellen auf und begründen die Form desselben" (GA 1,2,283). Form meint dabei das geregelte Wie der Ableitung. Deren Grundregel lautet: „Keine Synthesis ohne Antithesis, keine Antithesis ohne Synthesis". Die erste Teilregel wurzelt offenbar im zweiten Grundsatz. Das Ich setzt sich unmittelbar ein Nicht-Ich entgegen; anders kommt das endliche Selbstbewußtsein nicht zu sich selbst, als daß es sich von dem unterscheidet, was es nicht ist. Daher läßt sich jede Syn-

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thesis als Vereinigung Entgegengesetzter aufdecken. Mit gleicher unzweifelhafter Gewißheit gilt die andere Teilregel: „Keine Antithesis ohne Synthesis". Sie hat ihren transzendentalen Wurzelgrund im dritten Grundsatz: Das Ich setzt im Ich die Antithesen von Ich und Nicht-Ich durch Bestimmung oder Einschränkung aufgrund der Teilbarkeit nach der Kategorie der Limitation zusammen. Das ist die notwendige Bedingung, welche die Versicherung ermöglicht, jeder Gegensatz sei aufgehoben. „Wir bedürfen demnach, um der formalen Gültigkeit unsers Verfahrens in der Reflexion sicher zu seyn, nichts weiter" (GA 1,2,283). 3. Schließlich ist auch der Gehalt bereits vollständig aufgestellt. Der dritte Grundsatz gibt den Herkunftsbereich an, dem alle künftigen Synthesen entstammen und den sie mit keinem Schritt mehr verlassen. „Eben so ist in der ersten synthetischen Handlung, der Grundsynthesis (der des Ich und Nicht-Ich) ein Gehalt für alle möglichen künftigen Synthesen aufgestellt" (GA 1,2,283). Die Grundsynthesis vereinigt das Gegensätzliche, das ichhaft Subjektive und das nicht-ichhaft Objektive, das Reale und Ideale, Natur und Geist, im Sinne der Bestimmung oder quantitativen Einschränkung aufgrund der Teilbarkeit. Daher bilden alle möglichen Synthesen ihrem Sachgehalt nach eigentlich nur Arten dieser gattungshaften Bestimmung. Die Wechselbestimmung ist ja (selbst dem Worte nach) nur eine Art Bestimmung, Kausalität wie Substantialität stellen sich als Unterarten der Wechselbestimmung heraus, und selbst die hochkomplizierte, offene Schlußsynthesis der theoretischen Wissenschaftslehre löst ihre Antithesis - den Widerspruch zwischen einer vom Wechsel zwischen Tun und Leiden abhängigen Tätigkeit (dem reflexiven Denken) und einer davon unabhängigen Tätigkeit (der vorbewußten, produktiven Einbildungskraft) - nach dem Gesetz der Wechselbestimmung. So kommt nichts Neues von außen hinzu, keine Bestimmung fällt vom Himmel, alles Künftige ist schon in der Grundsynthesis des dritten Grundsatzes enthalten. „Aus jener Grundsynthesis muß alles sich entwickeln lassen, was in das Gebiet der Wissenschaftslehre gehören soll" (GA 1,2,283). Diese Rückversicherungen sollen verdeutlichen: Einheit, Form und Gehalt des Verfahrens einer Systemgründung liegen in den obersten Grundsätzen bereit. Die Regeln einer methodischen Untersuchung finden ihre Verbindlichkeit allein in dem, was sie untersuchen, in der antithetisch-synthetischen Einheit des Ich selber.77 77

Die vielfach anregende Studie von Klaus Hammacher, Problemgeschichtliche und

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Wie aber arbeitet nun diese Methode der prima philosophia? Diese Frage soll nicht bloß anhand abstrakter Vorschriften, sondern in deren konkreter Anwendung Antwort finden. Dafür bietet sich der allererste Schritt im Gebiet der theoretischen Wissenschaftslehre an, die methodische Herleitung der Relation oder Wechselbestimmung. Diese Thematik legt sich nahe, nicht nur, weil die Wechselbestimmung im Jena der Fichte-Zeit für Schiller, Hölderlin oder Novalis zum Schlüsselbegriff wurde, sondern einfach darum, weil Fichte deren Deduktion mit methodologischen Anweisungen begleitet hat. Die erste Ausführungsregel gebietet dabei: Analysiere das, was vorliegt, nämlich das Selbstbewußtsein in der lebendigen, unzertrennten Einheit seiner Synthesen! Analytisch heißt das Verfahren, in der vorliegenden Synthesis noch unentdeckte Antithesen aufzusuchen und als Gegensätze aufzustellen; denn keine Synthesis ist ohne Antithesis. Zwar ist solche Zergliederung eine willkürliche Handlung unseres, nicht etwa eine Selbstentfaltung des absoluten Geistes, dennoch bleibt die Methode, da sie sich nach den Vorgaben des zu Analysierenden richtet, keineswegs der Sache nur äußerlich. Wendet sich nun dieses „analytische Verfahren" auf den Hauptsatz der theoretischen Wissenschaftslehre, so hat es folgenden synthetischen Sachverhalt vor sich: Das Ich bestimmt sich selbst als bestimmt durch das Nicht-Ich. Und sofort fällt der klaffende Gegensatz beider Teilsätze auf. Er nährt den uralten Streit zwischen einem dogmatischen Idealismus und Realismus. Der Idealismus versteift sich auf den ersten Teilsatz: Das sich setzende Ich ist erster und alleiniger Anfangsgrund auch systematische Analyse von Fichtes Dialektik, in: TrG, 384-406 entnimmt den drei Grundsätzen der „Grundlage" das analytisch-synthetische Verfahren einer Methode, welche die transzendentale Wende vollzieht. Sie versteht dabei problemgeschichtlich Dialektik als logische Bestimmung der Erfahrung und des Erfahrungswissens in der Fichteschen Rückwendung auf das Subjekt. Diese Vorbestimmung ist wohl zu weit, wie die Berufung auf die Aristotelische Dialektik und eine argumentative Unterredungskunst zu eng ist. Allerdings kommt die Eigenart der Fichteschen Dialektik zur Sprache, sobald die Entgegensetzung (in ihrer Offenheit als ausschließende bzw. aufteilende Bestimmung, als konträre und kontradiktorische Opposition) und die Vereinigung der Gegensätze diskutiert werden: die Synthesis mittels Quantifizierung der Totalität als Einschränkung. - Dieser Ansatz, die Wissenschaftslehre durch die aus ihren obersten Grundsätzen entwickelte dialektische Methode zu begründen, ist problemgeschichtlich und transzendental-logisch angereichert worden: Ders., Zur transzendentallogischen Begründung der Dialektik bei Fichte, in: KantSt 79(1988)467-475.

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im theoretischen Vorstellen und Repräsentieren der Welt; das Bewußtsein bestimmt das Sein. Mit gleichem Recht beharrt der Realismus auf dem anderen Teilsatz: Das Sein bestimmt das Bewußtsein; das NichtIch ist das wahre und einzige Prinzip unserer Weltvorstellung. Mithin führt der erste analytische Methodenschritt das Philosophieren vor jenen Widerstreit, der immer schon die Riesenschlacht zwischen Ideen- und Materiefreunden ausgelöst hat.78 Das scheint ein vernichtendes Resultat. Herausgefunden ist eine Antithese im Ausmaße einer kontradiktorischen Opposition. Was sich aber widerspricht, kann nicht bestehen. Der Widerspruch hebt das Widersprüchliche auf. Indessen, dagegen hat sich die Methode versichert: Wurde richtig analysiert, dann muß es ein Drittes geben, welches die Gegensätze vereinigt; denn alle Antithesen, Gegensätze und Entzweiungen bleiben in der Grundsynthesis vereinigt: Keine Antithesis ohne Synthesis. Die analysierten Antithesen heben folglich die Einheit des Selbstbewußtseins so wenig auf, daß vielmehr ihr Widerspruch sich mit Sicherheit aufgehoben findet. „Mithin läßt von der Antithesis sich auf die Synthesis schließen; das dritte, worin die beiden entgegengesezten vereinigt sind, läßt sich gleichfalls aufstellen: nicht als Produkt der Reflexion, sondern als ihr Fund: aber als Produkt jener ursprünglichen synthetischen Handlung des Ich" (GA 1,2,284). So steht es mit dem herausgegliederten Gegensatz im Hauptsatz der theoretischen Wissenschaftslehre. Er muß sich aufheben; denn er hat einen tödlichen Widerspruch in sich. Er kann nicht aufgehoben (einfach negiert) werden; denn sonst wäre der Grund allen Wissens, die Grundsynthesis, aus der er folgt, mit vernichtet. Also sind beide Gegensätze in einem Dritten zu vereinigen. Zugleich ist der Modus der Aufhebung methodisch geregelt. „Dieses 78

Platons Bericht über die Gigantomachie um das wahre Sein zwischen den Materiefreunden, die sich, Eiche und Fels umfassend, an die massive Körperlichkeit klammern, und den Ideenfreunden, welche, sich an die dem Wandel enthobenen Ideen als unbewegten Urbildern haltend, unter keinen Umständen zulassen, daß solch ewiges Sein mit dem Nichtsein des Werdens verbunden wird, scheint ironisch angelegt und nur bestimmte zeitgenössische Schulen und eigene überholte Positionen zu treffen (Soph.246a-246e). In Wahrheit handelt es sich um einen Weltanschauungskampf zwischen Doktrinen, der „immer bestanden hat" (Soph. 246c), der im Cartesischen Zeitalter verwandelt wiederkehrt und nur zu befrieden ist, wenn die Parteigänger „besser gemacht", d.h. im dialektischen Prozeß zur Einsicht ihrer Einseitigkeit und Beschränktheit gezwungen werden.

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geschieht (§ 3) durch Einschränkung oder Bestimmung" (GA 1,2,288). Die Aufhebung von Gegensätzen in einem Dritten, nämlich einer durchbestimmteren Synthesis, folgt dem Gesetz der Limitation. Die limitativ eingrenzende Bestimmung vereinigt kontradiktorische Antithesen in einer neuen, spezifischeren Synthesis auf dem Wege des Einschränkens. „Etwas einschränken heißt: die Realität desselben durch Negation nicht gänzlich, sondern nur zum Theil aufheben" (GA 1,2,270). Diese Methode hatte Kants Auflösung der dritten Antinomie vorgezeichnet: Kosmologische Freiheit und Naturnotwendigkeit sind dadurch miteinander vereinbar, daß sich ihre Ansprüche auf absolute Realität einschränken, d.h. zum Teil aufheben. Dieses Schema hat Fichte für die Auflösung der Antinomie des Offenbarungsbegriffs übernommen. Dieser Streit sei völlig „dialectisch"; die Thesis behaupte, Anerkennung einer Offenbarung sei unmöglich, die Antithesis erkläre, sie sei möglich. Eine Kritik der Offenbarung läßt beide Gegensätze wahr sein durch Einschränkung: In der Sphäre der Theorie könne Offenbarung unmöglich anerkannt werden, praktisch, d.i. im Glauben, ist sie anerkannt (CaO; GA 1,1,115). Die Wissenschaftslehre hat solches Einschränken auf die Quantitabilität in der Grundsynthesis des Ich zurückgegründet. Nun genügt es im Falle des theoretischen Hauptsatzes nicht, festzustellen, daß ein quantitatives Bestimmen und Abgrenzen den herausgehobenen Widerspruch schlichtet. Es muß gezeigt werden, wie die Synthesis geschieht. Die Antwort lautet: durch Wechselbestimmung. So viel Realität bzw. Negation das Ich in sich setzt, so viel Negation bzw. Realität ist dadurch in das Nicht-Ich gesetzt, und umgekehrt: So viel Realität bzw. Negation dem Nicht-Ich zukommt, so viel Negation bzw. Realität ist in das Ich gesetzt. Das hebt die Widersprüche auf, welche einseitig und total das Ich bzw. das Nicht-Ich zum absoluten Prinzip übersteigern. Der erste dialektische Gang im Gebiete der theoretischen Vernunft ist für die Sache ganz und gar vorläufig und fast nichtssagend. „Aber für die Methode haben wir festen Fuß gewonnen" (GWL; GA 1,2,290). Das analytische Verfahren hat sich im Aufsuchen von Gegensätzen ebenso bewährt wie die Limitation im Finden neuer Synthesen. Von dieser befestigten Methodik her eröffnet sich der Weg in tiefere Fragen und noch ungehobene Widersprüche. Das, was vorliegt, ist die reine Relation der Wechselbestimmung. Aber wie kann ihr zufolge dem allrealen und selbsttätigen Ich widerspruchslos ein Teil Negation und Leiden zugesprochen werden? Wie sind umgekehrt dem Nicht-Ich Tätigkeit und

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Realität ohne Widerspruch zuzudenken? Und bleibt nicht die Wechselbestimmung im Widerspruch von Idealismus und Realismus stecken, solange nicht bestimmt ist, wo der Wechsel anhebt, realistisch beim Nicht-Ich oder idealistisch beim Ich? Nun ist hinlänglich bekannt, wie die so aufbrechenden Antithesen zu immer verwickelteren Synthesen von Synthesen führen, das Gebiet der theoretischen Vernunft durchbrechen und erst im Gebiete der praktischen Vernunft über die Dialektik von Schranke und Sollen die Hauptantithesis von absolutem und endlichem Ich auflösen. Und noch bekannter ist, wie Hegels Dialektik dagegen Sturm gelaufen ist. Aber vielleicht wäre es heilsam, sich an den methodologischen Eingang der Wissenschaftslehre zu erinnern und die Eingangsfrage ernst zu nehmen: Liegt hier nicht eine Dialektik vor, die das Recht transzendentaler Kritik und Besonnenheit auf ihrer Seite hat?

6.3 Was heißt limitative Dialektik? Fichtes analytische Methode der „Grundlage" kann Dialektik heißen. Sie verfährt dialektisch, weil sie den Dreischritt von Thesis, Antithesis und Synthesis ausmißt und einhält. Solche Triplizität hat wohl als erster Schelling mit dem Titel „Dialektik" bedacht.79 Die frühe Wissenschafts79

Vgl. Kurt Röttgers, Dialektik, in: HWP 11,184-189. „Schellings Stellung in der Geschichte des Dialektikbegriffs ist ambivalent. Einerseits weicht er von der Strenge der Dialektikauffassung als dem Grundprinzip des Denkens, die Fichte mit Hegel verbindet, ab, andererseits ist er der erste, der das Verfahren des Dreischritts mit dem Wort „Dialektik" bezeichnet" (a.a.O., 188). - Vgl. Werner Hartkopf, Die Dialektik in Schellings Frühschriften, in: ZphF 23(1969)3-23,227-248: Fichte sei der wahre Entdecker der Dialektik; Schelling nehme Fichtes dialektisches Denken auf, weite es unkritisch ins Gebiet der Naturphilosophie aus und übersteigere es - vorzüglich in „Vom Ich" und den „Briefen" _ zu einer Urdialektik des Absoluten. - Ferner: Harald Holz, Die Struktur der Dialektik in den Frühschriften von Fichte und Schelling, in: AGPh 52(1970)71-90 geht aus von Fichtes „Über den Begriff der Wissenschaftslehre" 1794 als dem entscheidenden Anstoß für die Ausbildung einer eigenen, sich in den Frühschriften bis etwa 1796 abzeichnenden Dialektik bei Schelling. Dabei wird der „linearen Denkform" Fichtes, welche das System der zusammenhängenden Handlungen menschlichen Wissens folgerichtig entwickelt, der Versuch Schellings entgegengesetzt, das Absolute von sich selbst her zu fassen und unser Denken als Vehikel zum Absoluten zu erweisen, und zwar in einer Dialektik, die sich - unter dem Primat des Problems von

Was heißt limitative Dialektik?

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lehre jedenfalls schreibt zuerst jene Gedankenbewegung vor, die von der Einheit verbürgenden Thesis über das Aufsuchen von Antithesen zu immer venvickelteren Synthesen weiterführt. Freilich ist kritische Dialektik niemals die Selbstentfaltung der Sache im Sinne der absoluten Idee. Andererseits bleibt sie eben der Sache nicht äußerlich. Sie legt das auseinander, was in Einheit ist, das Leben des absoluten Wissens. Und dieser Gedankengang wird in Gang gehalten durch das dialektische Urmotiv des aufhebenden und aufzuhebenden Widerspruchs. Eine Methode, welche den Weg zur systematischen Entfaltung des Wahren durch fortschreitende Aufhebung von Widersprüchen in konkretere Synthesen findet, kann man füglich dialektisch nennen. Sie geht dialektisch vor, weil das, was sie analysiert, dialektisch verfaßt ist. Den Titel Dialektik als Methode der Wissenschaftslehre gebraucht Fichte selber erst spät. Von „dialektischer Kunst" spricht die „Transzendentale Logik", Vorlesung vom Oktober bis Dezember 1812, so: „Das ist nicht die Dialektik des Aus- und Erdenkens, sondern das Denken macht sich uns selbst, die Evidenz ergreift uns. Durch Genie nur plötzliche Evidenz, die wieder entschwinden kann; wahre Dialektik aber die gesetzmäßige Methode, zu dieser Evidenz zu kommen" (TL; NW 1,188. Der Text dieser Vorlesung wurde, wo nötig, nach der gereinigten Fassung der Ausgabe von R. Lauth und K. Schneider. Hamburg 1982 korrigiert). In Anspruch genommen wird eine „wahre Dialektik". Diese grenzt sich scharf von der falschen Dialektik des Aus- und Erdenkens ab. Solche Abgrenzung weist sicherlich den dialektischen Scharfsinn des Skeptikers ab, der darin geübt ist, zu Meinungen Gegenmeinungen zu erdenken und so einen Widerstreit von Meinungen auszudenken. Aber sie wendet sich wohl auch gegen eine pseudodialektische Aufhebung von Widersprüchen. Gerade der systematische Ausbau der Transzendentalphilosophie geht ja methodisch als ein fortgesetztes Herausgliedern von GegensätEinheit und Vielheit - aus dem Zusammenhange von ursprünglicher positiver Setzung, bestimmender Negation und deren Transzendierung zu bestimmterer Positivität ergibt. - Dagegen unter Nachzeichnung einer dialektischen Triplizität (absolute Identität - Urgegensatz oder absolute Duplizität - Indifferenz oder die aus der Differenz hervorgegangene Identität = das dialektische Dritte) auf dem Boden der entwickelten Naturphilosophie Panajotis Kondylis, Die Entstehung der Dialektik. Stuttgart 1979,575-596. Schellings Entfaltung dieser eigenwüchsigen, aus der Wissenschaftslehre unableitbaren Triplizität bedeute die Geburtsstunde der programmatischen Dialektik überhaupt.

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zen aus dem Setzen des Seins vor. So verfolgt die einleitende „Transzendentale Logik" immer tiefergehende Entgegensetzungen: von Innen und Außen, selbständigem Sein und Bild, Fließen und Stehen des Bildes, Geschlossenheit (synthetische Einheit) und Unabgeschlossenheit des Werdens im Fließen der Vorstellungen. Solche Analytik erklärt eine methodische Nebenbemerkung zum „Muster und Bild anderer Untersuchungen der Art, die in transzendentaler Philosophie immer vorkommen. Es geht um Vereinigung absoluter Gegensätze" (TL; NW 1,175). Und nun bildet der Modus im Einigen Schlechthinniger Gegensätze das Kriterium für eine wahre und falsche Dialektik. Wie also wäre ein Widerspruch dialektisch angemessen aufzulösen? Die „Transzendentale Logik" merkt dazu an: „Allenthalben wo wir einen solchen Widerspruch zu lösen haben, ist nicht die Meinung, daß wir durch unsere Kunst ein drittes, das die Gegensätze vereinige, ausdenkend hineintragen wollen. Sondern - (wir setzen voraus,) es sey eigentlich gar kein Widerspruch: das vereinigende Glied sey in der That ursprünglich in der Anschauungsform, wir wollten es nur anerkennen" (TL; NW 1,183). Diese methodische Maxime durchstreicht ein dialektisches Vorgehen, welches ein vereinigendes Drittes ausdenkt und von außen in die Sache hineinträgt. Die rechte Methode läßt sich im Eingehen in die Sache von der Sache leiten. Dabei wiegt sich die Dialektik des Seinssetzens in der Gewißheit, daß jeder aufgezeigte Widerspruch lediglich auf eine tiefere und konkretere Synthesis hinweist, in der er aufgehoben ist. Auf diesem Weg läßt die Dialektik den Einheitsgrund des Wissens vor unseren Augen entstehen. Das Faktum des natürlichen Bewußtseins aus dem Grunde des Selbstbewußtseins genetisch zu machen, ist die dialektische Kunst. Sie liefert ein Regelverfahren, an dessen Ende das Selbstbewußtsein als sich bildender Einheits- und Spaltungsgrund allen Bewußtseins einleuchtet. Dabei steht es so: Weil die einigende Einheit und ursprüngliche Synthesis der Apperzeption nicht von uns ausgedacht ist, ergreift uns deren Einsicht mit Evidenz, freilich so, daß die Bedingungen für diese Evidenz durch dialektische Kunst hergestellt werden. Der plötzliche Genie-Blick in den Ursprung wird zum wissenschaftlichen Verfahren. Das kennzeichnet den Übergang von Kant zur Wissenschaftslehre. Kants epochale Einsicht war die Annahme einer reinen, transzendentalen Apperzeption als Einheit und Grund aller Denkgesetze: „die bei ihm freilich nur Anschauung geblieben ist, Genieblick" (TL; NW 1,178). Die „dialektische Kunst der Entwicklung" (TL; NW 1,184) zeigt ein Regel-

Dialektik von Schranke und Sollen

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verfahren, welches einsichtig macht, wie das Selbst als Bild des Bildes alle Gegensätze aufhebt, die unser Setzen und Sehen des Seins involviert. Nun aber wird von Dialektik in vielfacher Weise gesprochen. Hier ist von der positiven Dialektik die Rede. Diese bekommt eine mehrfache Bedeutung durch die mehrfache Art und Weise, wie der eingesehene Widerspruch in Wahrheit aufgehoben wird. So verfährt Fichtes „Grundlage" limitativ, Hegels Logik spekulativ. Worin liegt die Differenz? Einen gravierenden Unterschied kann man sicherlich an der kontroversen Auffassung von Schranke und Sollen festmachen. Die frühe Wissenschaftslehre bindet, wie gesagt, ihr Verfahren an die Verfassung der Grundsynthesis, d.h. eben an die Limitation aufgrund einer Quantitabilität, welche eine zwar jeweils bestimmte, aber nicht festgelegte, sondern beweglich gehaltene Teilung und einschränkende Bestimmung ermöglicht. Alle Vermittlung geschieht durch quantitative Begrenzung und Einteilung der Totalität aller Realität. Einschränken bedeutet dabei eben, die Realität des zu Bestimmenden zum Teil aufheben, und Schranke bedeutet jene abteilende quantitative Grenze, welche einen Teil der Realität so abgrenzt, daß sie das abgeteilte Quantum dem angrenzenden anderen zuweist. Endlich kennzeichnet die Schranke die Wesensart einer Dialektik, welche die Aufhebung aller Entzweiungen nicht als das vom Geist an und für sich Vollbrachte, sondern als das der Freiheit Aufgegebene und in der Dialektik von Schranke und Sollen zu Vollbringende ansieht. So komplettiert Fichtes limitative Dialektik die negative Dialektik Kants aus dem Geiste der Kritik.80 6.4 Dialektik von Schranke und Sollen versus affirmative Unendlichkeit. Ein kritischer Ausblick Gesetzt, limitative Dialektik sei ein charakteristischer Methodenbegriff der Fichteschen Transzendentalphilosophie auf dem Boden der frühen „Grundlage", ist sie da nicht längst mit der schlechten Unendlich80

Wie sich die „Limitative Dialektik" in den Revolutionsschriften auf dem Felde des Politisch-Gesellschaftlichen entwickelt und auf der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre im „Naturrecht" von 1796 voll entfaltet hat: vgl. Vf., Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx. Berlin/ New York, 1977,100-178.

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keit von Schranke und Sollen als Episode einer objektiven Seinslogik aufgehoben und entkräftet? Es scheint doch ausgestanden, daß die Abwechslung von Schranke und Sollen vorspekulativ auf dem Standpunkte des Widerspruchs und der Endlichkeit beharre. Solange der Geist noch eine Schranke hat, ist er bloß endlich; wahrer Geist entreißt sich der Schranke als eines anderen, um im anderen zu sich selbst zu kommen. Während Fichtes limitative Dialektik in einer schlechten Unendlichkeit leer läuft, schließt eine wahre, spekulative Dialektik die Gegensätze von Endlichkeit und Unendlichkeit zum Kreis affirmativer Unendlichkeit zusammen. Aber geht das mit rechten Dingen zu? Hegels Spekulation basiert auf dem Geschehen einer Selbsterkenntnis im Anderssein. Dieser Ansatz des „Gedankens" (der das Wesen der Dinge ist) verstärkt sich schon in der Idee des Werdens; denn Werden bedeutet jenes Sein, das im Nichts bei sich selber bleibt. Konkret wird der dialektische Prozeß des Seins-Gedankens aber erst im Status affirmativer Unendlichkeit. In diesem Stande wechseln Endliches und Unendliches nicht so miteinander ab, als wären sie zwei gegeneinander Selbständige. Endlichkeit und Unendlichkeit bilden in Wahrheit Momente in der Einheit eines Prozesses. In diesem wechseln die Glieder nicht mehr endlos, eintönig einander ab. Vielmehr hebt sich das Endliche in das Unendliche auf, indem es seine Nichtigkeit und sein ZuEnde-Gehen negiert. Und das Unendliche hebt sich auf, indem es, seine Flucht ins Endlose negierend, ins Endliche heimkehrt, welches als sein Wesen das Übergehen ins Unendliche gefunden hat. So vollbringt nach Hegelscher Logik das Werden den Kreisgang einer Rückkehr in sich selbst. Das wahre Unendliche kommt bei sich selbst an. Es will so zwei Wahrheiten aufgehoben haben, 1. daß das Endliche sein Wesen darin hat, zu Ende zu gehen, 2. daß das Endliche ins Endlose über sich fortgeht. Indessen, die affirmative Unendlichkeit hat keine der beiden Teilwahrheiten in sich aufgenommen und bewahrt; sie geht, wie gesagt, einfach an der Endlichkeit in ihrer Unmittelbarkeit und an der schlechten Unendlichkeit vorbei. Jene sind Meinungen, keine Wahrheitsmomente. Mithin bleiben die Trauer des Endlichen und das Streben ins Unendliche störende Einsichten, welche die verkündigte affirmative Unendlichkeit eigentlich nicht versöhnt. Genau zugesehen, verläuft der Weg der Seinslogik zur affirmativen Unendlichkeit auch anders. Er geht gar nicht von der Endlichkeit aus (die er umgeht und beiseite läßt), sondern vom Daseienden im Wider-

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spruch von Etwas und Anderem. Und das ist auch nicht verwunderlich. Seit Platon zeigt sich ja die dialektische Koinonie von Sein, Werden, Ruhe vorzüglich in den eigenstämmigen und unabtrennbaren Seinsgeschlechtern der Selbigkeit mit sich (Etwas) und der Andersheit des Anderen. Aber dieser Widerspruch im Schöße des Etwas-Anderen, der zur Veränderung treibt und in die affirmative Unendlichkeit mündet, ist erschlichen. Um das zu zeigen, muß bis auf die Kategorie des Daseins zurückgeblickt werden. Dasein heißt im Kontext der Seinslogik das in die Bestimmtheit eingetretene unbestimmte Sein: Sein, das so und nicht anders ist. Als Daseiendes wird - in einem einschneidenden, hier nicht zu erörternden Übergang - solches Sosein selbsthaft und in sich reflektiert: das Etwas. Und nun gilt: Indem Etwas anders ist als Anderes, besteht es so, wie es ist. Dazu gehört offenkundig die qualitative Grenze. Diese schließt in eins das Andere aus und das Eine in seiner Qualität und SoBestimmtheit ein. So gedacht, gehen Etwas und Anderes zusammen, dergestalt, daß sich kein Unterschied an ihnen findet. Das Andere, dem Etwas gegenüber ist, ist ja selbst ein Etwas und so Etwas-Anderes. Und umgekehrt: Das Etwas, dem Anderes gegenüber ist, ist ein Anderes und daher ebenso Etwas Anderes. Wäre mithin, da die Unterscheidung von Etwas und Anderem nur auf der Seite der Meinung, des Zeigens und äußerlichen Nacheinander läge, in Wahrheit jedes Etwas ein Anderes? Darauf liegt in der Tat bei Hegel der Akzent. „Etwas ist an sich das Andere seiner selbst" (Enz. 1830, §92). Etwas steht dem Anderen so wenig gleichgültig gegenüber, daß es vielmehr an sich das Andere seiner selbst ist. Und das bildet nun ausdrücklich den Widerspruch, welcher das Endliche und Begrenzte zur Veränderung und über seine Endlichkeit hinaustreiben soll. „In der Veränderung zeigt sich der innere Widerspruch, mit welchem das Dasein von Haus aus behaftet ist und welcher dasselbe über sich hinaustreibt" (ebd.). Aber ist das zu denken zulässig? Etwas ist als solches zugleich ein Anderes. Gewiß, aber doch nicht an ihm selbst, sondern einzig und allein in und durch den Bezug auf ein davon getrenntes Anderes. (Darüber könnte die Explikation des „transzendentalen" aliquid, aliud-quid in De veriiate bei Thomas von Aquin belehren.) Nur vom Anderen her ist Dasein etwas Anderes, an ihm selbst dagegen ist es gerade das Andere nicht. Widerspruchsfrei gedacht, heißt Etwas an ihm selbst gerade das Nicht-Andere. Läuft nun aber der spekulative Königsweg zur affirmativen Unendlichkeit über die Dialektik von Etwas und Anderem, so muß er von seinem Ausgange her

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doppelt zweifelhaft bleiben. Er findet weder einen Zugang zur Tiefe des Endlichen noch zu jener Unendlichkeit, die in angemessener Spannung zur Endlichkeit des Menschen bleibt. Also löst die Chimäre einer affirmativen Unendlichkeit den kritischen Ansatz nicht auf, der auf dem Widerspruch zwischen Endlichem und Unendlichem beharrt. Die limitative Dialektik macht ernst mit der Endlichkeit und Begrenztheit des Selbstbewußtseins und mit der Bestimmung des Menschen als unendliche Aufgabe. Kritische Vorsicht weiß, daß eine absolute Identität von Ich und Nicht-Ich an sich unmöglich und nur in unendlicher Annäherung erreichbar ist. Und so erscheint als Bestimmung des Menschen zwar nicht die sinnlose Arbeit des Sisyphos, wohl aber die sinngebende Annäherung an das Ideal absoluter Einheit im unentwegten Streben, das Nicht-Ich dem Ich anzugleichen, die Unvernunft in sinnlicher Natur und Menschenwelt unter die Gesetze und Offenbarung der Freiheit zu stellen. Und solche Dialektik weiß, daß das Reich der Freiheit immer nur ein Erstrebtes, niemals ein Fertiges und an und für sich Vollbrachtes ist.

6.5 Die Einheit des Systems im Spiegel des thetischen Urteils „Es muß ein System und Ein System seyn. Das Entgegengesezte muß verbunden werden, so lange noch etwas Entgegengeseztes ist, bis die absolute Einheit hervorgebracht sey" (GWL; GA 1,2,276). Diese unbedingte Forderung verlangt von der Philosophie, eine absolute Einheit in der Gestalt eines Systems von Sätzen auf dem Wege dialektischen Entgegensetzens und Verbindens des Entgegengesetzten hervorzubringen. Das Ziel solcher Dialektik ist für den philosophischen Eifer verlokkend. Es verspricht, alles Mannigfaltige in seinen Hauptgegensätzen auf eine grundgebende Einheit zurückzuführen, welche selbst von aller Dualität und Vielheit, von allem Gegensatz und Widerspruch absolviert ist. Erst die Aufstellung solcher Einheit, in der sich kein Gegensatz und Unterschied mehr findet, verbürgt den Abschluß und die Geschlossenheit eines Systems. In ihr kommt das dialektische Trennen und Verbinden zur Ruhe. Dabei hat die Anwendung der triplizitären Grundsätze auf den Systemgedanken schon dargetan: Die Notwendigkeit, limitativ dialektisch durch Aufsuchen von Gegensätzen und durch Aufheben der Widersprüche in konkretere Synthesen des Selbstbewußtseins vorzugehen, beruht

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auf dem dritten Grundsatz, die Notwendigkeit, überhaupt zu verbinden und Einheit hervorzubringen, auf dem ersten. Die Thesis des Ich qua absolutem Subjekt sichert dem vereinigenden Handeln absolute Einheit zu. Denn warum muß eigentlich Einheit sein und als Anfangsgrund gedacht werden - und nicht vielmehr Vielheit und Mannigfaltigkeit? Methodologisch gefragt: Warum kann die Analyse nicht mit einer letzten absoluten Entgegensetzung und dem Aufweis eines prinzipiellen Dualismus enden? Die Cartesische Antwort lautet immer noch: weil die unumstößlich gewisse, einigende Tätigkeit des Ich-denke eine alles zusammenfassende Einheit verbürgt. Mithin wird sich die Thesis des Ich in der systematischen Vereinigung aller Gegensätze bewähren. Aber verspricht die Thesis des „Ich bin", genauer zugesehen, wirklich die abgeschlossene Einheit eines dialektischen Systems? Das Problem verdichtet sich, wenn auf die Form des Urteilens geachtet wird. Die Thesis des Ich nämlich wird in einer eigentümlichen Aussageart dargelegt, dem thetischen Urteil. Fichtes Lehre vom thetischen Urteil gibt nicht nur darüber Aufschluß, wie die Einheit des Ich= Ich adäquat ausgesagt wird, sondern auch, wie es mit ihr als Systemprinzip steht. Sie findet sich innerhalb programmatischer Vorentwürfe am Anfange der „Grundlage". „So viel zur Anwendung der gemachten Bemerkung auf unser System überhaupt, aber noch giebt es eine andere noch wichtigere Anwendung derselben auf die Form der Urtheile" (ebd.). Zuerst ging es um die Anwendung der Grundsätze auf Methode und Struktur des Systems, jetzt um die Anwendung ihrer Dreiheit auf die Urteilsformen.81 Aber ist das von Gewicht und wichtiger gar als die Vorzeichnung eines theoretische und praktische Vernunft übergreifend

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Klaus Harrunacher, Zur transzendentallogischen Begründung der Dialektik bei Fichte, in: KantSt 79(1988)467-475 geht dem Fundierungszusammenhange von Urteilslogik und transzendentaler Dialektik nach. Aufschlußreich sind dabei die nötigen Hinweise auf historische Zusammenhänge, etwa der Verweis auf Christian Wolff und die Bestimmung des thetischen Urteils als problema i.e. propositio practica demonstrative. Und mit Händen zu greifen ist, wie Reinholds Annahme der Denkart von Abstraktion und Reflexion als Begründungsakte, welche einen Unterscheidungs- und Beziehungsgrund beibringen, nachwirkt. Fraglich scheint mir indessen der Ansatz, die Eigenart der transzendentalen Grundsätze und ihre Dialektik durch Anwendung der Urteilsfunktionen auf sie zu beleuchten. Fichtes Urteilslogik verfährt umgekehrt. Sie erfaßt die Dreiheit der Urteilsformen durch Anwendung der transzendentalen Grundsätze auf diese.

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zusammenschließenden Systems? Jedenfalls kann deutlich werden: Die Dreiheit (qualitativer) Urteilsformen folgt der Dreiheit der Grundsätze. Das leuchtet generell ein, wenn das Urteil als ein Handeln betrachtet wird, das seine Grundgesetze im Handeln des Ich findet. Daß das Urteil ein Akt und Handeln unserer Verstandeskraft (mens) ist, hat die Schulphilosophie längst festgelegt: „iudicium appellatur actus iste mentis, quo aliquid a re quadam diversum eidem tribuimus vel ab ea removemus" (Christian Wolff, Logik § 39). Im Zuerteilen „etwas ist etwas" führt die Handlung des Verbindens (coniungere), im Aberkennen „etwas ist nicht etwas" führt die Handlung des Trennens und Auseinanderhaltens (separare). Nun entsprechen aber die Formen logischer Urteilshandlungen den Akten des Ich, gesetzt, das Erkenntnisurteil wird nicht mehr flach als Vorstellung des Verhältnisses eines Subjekt- zu einem Prädikat-Begriff genommen, sondern als die Art aufgefaßt, gegebene Erkenntnisse zur Einheit der Apperzeption zu bringen. Diese vertiefte Ansicht hat in Kants Kritik der reinen Vernunft Epoche gemacht. Transzendentaler Systematik zufolge muß es nun drei (qualitative) Urteilsformen geben: thetische, antithetische und synthetische. Das folgt aus der Analogie zu den drei Urhandlungen des Ich. Im Falle des synthetischen und antithetischen Urteils liegt das auf der Hand; denn im antithetisch-verneinenden Urteil führt die Handlung des Entgegensetzens, im synthetisch-affirmativen die des einschränkenden Zusammensetzens. Das Beispiel für ein antithetisches Urteil lautet: „Eine Pflanze ist kein Tier"; es hat die formal-logische Gestalt „- A nicht = A". Unterschieden wird ja die Pflanze als Nicht-Tier (- A) von Tier (A), dergestalt, daß beides nicht gleich und dasselbe ist. Das vollbringt die Handlung eines Vergleichens, welche Vergleichbares (organisches Lebewesen) darin auseinanderhält, worin es ungleich ist. Das antithetische (verneinende) Urteil ist mithin ein Ist-nicht-Sagen aufgrund einer (letztlich transzendentalen) Entgegensetzung von Vergleichbarem. Entsprechend steht es mit dem synthetischen Urteil. Fichte orientiert sich am Beispiel: „Der Vogel ist ein Tier". Der Satz hat die formal-logische Gestalt „A zum Teil = - A". Gleichgesetzt wird ja das Satzsubjekt Vogel (A) in einer Hinsicht (dem Tiersein) zum Teil dem Tier qua Gattung. Solches Urteil bejaht, daß Entgegengesetztes in einer Hinsicht, d.i. zum Teil, gleich ist. Auch dafür muß ein Vergleichen vollzogen werden. Beim affirmativen Zusammennehmen von etwas mit etwas wird das „Merkmal" aufgesucht, worin beides gleich ist, z.B. die Tierheit. So verbindet sich das synthetische (bejahende) Urteil in einem (zuletzt

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transzendental-einigenden) Zusammensetzen von Vergleichbarem aufgrund der Teilbarkeit. Zugleich macht diese Zergliederung klar, warum in jeder Form des Urteilens Verbinden und Auseinanderhalten unzertrennlich zusammengehören. Im antithetischen Urteile der Art „Die Pflanze ist kein Tier" wird im Gleichen (Lebewesen) Entgegengesetztes aufgesucht; die vorausliegende, zugehörige Synthesis (von Pflanze und Tier als Lebewesen) bleibt zwar unausgedrückt, wird aber mitvollzogen. Entsprechend bleibt im synthetischen Urteil „Der Vogel ist ein Tier" die zugehörige Handlung der Entgegensetzung unartikuliert. Mithin herrscht im antithetischen Urteil die Trennung von Vergleichbarem, im synthetischen das Verbinden von Unterschiedenem vor, in beiden aber ist die Synthesis nie ohne Antithesis und umgekehrt. Das gründet im dialektischen Mutterboden der transzendentalen Urhandlungen unter dem Gesetz „Keine Synthesis ohne Antithesis v.v.". Aber wie steht es mit dem ersten Grundsatze, der Thesis des Ich, und der ihm entsprechenden Form unseres Urteilens? „So wie es antithetische und synthetische Urtheile gab, dürfte der Analogie nach, es auch wohl thetische Urtheile geben, welche in irgend einer Bestimmung den erstem gerade entgegengesezt seyn würden" (GWL; GA 1,2,276). Nun ist schon nach Kants Logik im Blick auf die Funktionen des Verstandes im Urteilen unter dem Vorblick der Qualität dem bejahenden und verneinenden Urteil nach triadischem Schema eine eigenständige dritte Urteilsform zugesellt, das unendliche Urteil (KrV A 70-73).82 Fichte erschließt die Dreiheit aus der Analogie mit der Tripli82

Rein formal zählt nach Kant ein Urteil der Art „Die Seele ist nicht-sterblich" zu Sätzen von der Qualität bejahenden Ist-Sagens; es setzt ja das Satzsubjekt „Seele" affirmativ in den unbeschränkten Umfang nichtsterbender Wesen. Indessen, dieser Zuerteilung eignet eine eigentümliche Handlung der Beschränkung dem Erkenntnisinhalte nach; sie stellt die Seele in eine unendliche Sphäre aller möglichen Bestimmungen, indem sie zugleich die Umfangssphäre dadurch beschränkt, daß das Sterbliche abgetrennt wird. Merkwürdigerweise wechselt Kants Erläuterung der unendlichen Urteilsqualität in das Genus des Umfangs, der Quantität; und sie beläßt es bei einem vagen Hinweis auf das transzendentale Gewicht der limitativen Urteilsfunktion eines reinen Einschränkens ohne bejahende (inhaltliche) Bestimmung. „Diese unendlichen Urteile also in Ansehung des logischen Umfangs sind wirklich bloß beschränkend in Ansehung des Inhalts der Erkenntnis überhaupt, und insofern müssen sie in der transzendentalen Tafel aller Momente des Denkens in den Urteilen nicht übergangen werden, weil die hierbei ausgeübte Funktion des

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zität transzendentaler Ich-Handlungen. Wie das antithetische Urteil sich dem schlechthinnigen Entgegensetzen und das synthetische dem ursprünglichen Zusammensetzen verdankt, so verdankt sich das thetische oder unendliche Urteil der Thesis schlechthinnigen Sich-selber-Setzens. Das Paradebeispiel eines thetischen Urteils ist daher nicht von ungefähr der Satz: „Der Mensch ist frei". Generell läßt es sich so vorzeichnen: „Ein thetisches Unheil aber würde ein solches seyn, in welchem etwas keinem ändern gleich und keinem ändern entgegengesezt, sondern bloß sich selbst gleich gesezt würde" (GWL; GA 1,2,276-277). Worin aber steckt denn nun in aller Welt die angekündigte eminente Bedeutung dieses Aufweises? Offenbar darin, daß das thetische Urteil der Thesis des Ich korrespondiert. Es bildet diejenige Satzform, welche das Prinzip der Ichheit adäquat aussagt. Das bedeutet für die Frage nach der Reichweite der Dialektik: Wie ist im thetischen Urteil die in der Thesis des Ich verbürgte absolute Einheit der dialektischen Methode ausgesagt? Das thetische Urteil beansprucht, die absolute Einheit im Ich-denke angemessen auszusagen. Die auszusagende Einheit des absoluten Subjekts nun ist losgelöst von aller Relation zum Objekt als einem NichtIch. Es kann mithin keinem anderen entgegen- oder gleichgesetzt werden. Ebensowenig kann es teilweise mit etwas, und sei es mit sich selbst, gleich bzw. ungleich gesetzt werden. Das absolute Subjekt ist als solches ja von der Teilbarkeit absolviert. Also kann ein thetisches Urteil das Subjekt seiner Aussage nur mit sich selbst gleichsetzen. Haben wir es im thetischen Urteil also mit einem Sich-mit-sich-Identischsetzen zu tun, das vorzüglich die Tathandlung des Ich aussagt? So scheint es in der Tat. „Das ursprüngliche höchste Unheil dieser Art ist das: Ich bin" (GWL; GA 1,2,277). Legt mithin ein Urteil, welches das absolute Ich ausschließlich mit sich selbst gleichsetzt, den Grundsatz fest: Das Ich ist alles, was ist, und alles, was ist, ist einheitlich Eines, nämlich Ich, Leben, Vernunft, Geist? Dann spräche das thetische Urteil eine absolute Einheit aus, in der alle Unterschiede, Gegensätze und Entzweiungen als solche immer schon und auf ewig versöhnt wären. Aber gerade das steht nicht in seiner Macht. Die Eigenart des thetischen Urteils und die Grenze dialektischer Einigung treten heraus, wenn eine schärfere Abgrenzung gegen die anderen Urteilsformen vorgenommen wird. Die Differenz liegt in der Art, Verstandes vielleicht in dem Felde seiner reinen Erkenntnis a priori wichtig sein kann" (KrV A 73).

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wie die Aussagen begründet werden können. „Nemlich die Richtigkeit der beiden ersten Arten sezt einen Grund, und zwar einen doppelten Grund, einen der Beziehung und einen der Unterscheidung voraus, welche beide aufgezeigt werden können" (GA 1,2,276). Natürlich baut ein Urteil, welches unterscheidet und vergleicht, auf einen Unterscheidungs- bzw. Beziehungsgrund, will es dem immanenten Anspruch auf Wahrheit genügen. Eine Aussage ist richtig, wenn solcher Grund vorliegt, und sie gilt als erwiesen, wenn der Grund aufgewiesen ist. Das leuchtet wiederum an den beigebrachten Beispielsätzen ein. Die affirmativ-synthetische Aussage „Der Vogel ist ein Tier" ist richtig. Es liegt ja erweisbar ein Beziehungsgrund für die Beziehung von Subjekt und Prädikat vor, das Genus des Tierhaften. Analog heißt die negativ-antithetische Aussage „Eine Pflanze ist kein Tier" richtig, da ein Unterscheidungsgrund nachweisbar ist, nämlich die eidetische Differenz tierhaften und pflanzenhaften Lebens, die es erlaubt, Subjekt und Prädikat auseinanderzuhalten. Somit bedeutet das „ist" im Ist-Sagen solcher Aussagen in jedem Falle „ist richtig" und das besagt „ist wohl begründet". Auch dieser Befund hat eine transzendental-logische Basis. „Die logischen Regeln, unter denen alle Antithesis und Synthesis steht, (sind) von dem dritten Grundsatze der Wissenschaftslehre abgeleitet" (GA 1,2, 274). Bekanntlich nimmt ja der Satz vom Grunde in logischer Formalisierung die Gestalt an „A zum Teil = - A": Etwas ist ein Anderes Etwas aufgrund der Teilbarkeit. Dieser Satz ist abgezogen vom transzendentalen Grundverhältnis „Ich zum Teil = Nicht-Ich" (und zwar aufgrund der Quantitabilität). Jedenfalls wurzelt die Richtigkeit von Aussagen im Satz vom Grund und dieser im dritten Grundsatze des Ich. Aber wie steht es damit beim thetischen Urteil? Kann es überhaupt richtig sein und wohlbegründet werden? In ihm wird doch weder Etwas mit etwas Anderem gleichgesetzt noch einem Anderen entgegengesetzt; „es könnte mithin gar keinen Beziehungs- oder Unterscheidungsgrund voraussetzen" (GA 1,2,277). Das sollte am Beispielsatz „Der Mensch ist frei" einleuchten. Diese Aussage stellt nämlich keine Beziehung zwischen Menschen und einer Klasse freier Wesen fest, als wollte er behaupten, der Mensch sei eines der freien Wesen, so wie der Vogel ein Tier ist. Es läßt sich daher kein Beziehungsgrund beibringen. Andererseits stellt die fragliche Aussage auch keinen Unterschied fest, als wollte sie negativ sagen, der Mensch sei kein determiniertes Naturwesen; denn der Mensch hat als intelligibler, freier Geist nichts mit Naturwesen gemein. (Wäre der Mensch eine Art Tier, dann wäre er ein mißratenes

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Tier - eben darum ist er keins.) Es läßt sich so auch kein Unterscheidungsgrund beibringen. Sind also thetische Urteile der Art „Der Mensch ist frei" grundlos und unwahr? Jedenfalls sind sie weder richtig noch unrichtig, weder gut noch schlecht begründbar. „Ein Urtheil über dasjenige, dem nichts gleich, und nichts entgegengesezt werden kann, steht gar nicht unter dem Satz des Grundes, denn es steht nicht unter der Bedingung seiner Gültigkeit; es wird nicht begründet, sondern es begründet selbst alle möglichen Urtheile" (GA 1,2,273). Das ist, wenn das thetische Urteil in der transzendentalen Urthesis wurzelt, nur folgerichtig; denn der transzendentale Satz der Identität geht dem transzendentalen Satz vom Grunde, ihn ermöglichend, voraus. Nun aber ist das merkwürdige Resultat zu betrachten: Thetische Urteile gelten schlechthin und ohne Grund. Sind sie darum wahrheitslos? Wenn nicht, welche Art Wahrheit macht sie verbindlich? Für solches Fragen muß das ursprünglichste und höchste Urteil dieser Art herangezogen werden: „Ich bin, in welchem vom Ich gar nichts ausgesagt wird, sondern die Stelle des Prädikats für die mögliche Bestimmung des Ich ins Unendliche leer gelassen wird" (GA 1,2,277). So aber stellt sich doch das thetische Urteil formal als ein halber Satz ohne Prädikatserfüllung dar: „Ich bin -". Ihm fehlt an der Dreigliedrigkeit des kleinsten Logos (SeP) gerade das Dritte, nämlich das Prädikat, welches dem unbestimmten Subjekt Bestimmtheit gibt. Heißt das thetische Urteil also unendlich, weil seine Prädikatsbestimmung ins Unendliche uneinholbar bleibt?83 Indessen, das thetische Urteil ist kein halber Satz. Es ist auch kein Existentialurteil: „Das Ich existiert". Aber das Dritte ist auch nichts Gegebenes und kein vorliegender Beziehungsgrund. „Das Dritte, das es der logischen Form nach, doch voraussetzen muß, wäre blos eine Aufgabe für einen Grund" (ebd.). Im thetischen, unendlichen Urteil ist die Be83

Richard Kroner (Von Kant bis Hegel. Tübingen 21961,434ff.) vermerkt, daß im ursprünglichsten, höchsten Urteil die Stelle des Prädikats freigelassen sei und daß die völlig leere Thesis kein Urteil, keine Synthesis, keinen Gedanken bilde, sondern einen bloßen Vorgedanken oder ein Denkmoment darstelle. Das streitet zweifellos mit dem Fichte unterstellten Glauben, daß die Thesis ohne Synthesis, die Setzung des Ich ohne Sich-Unterscheiden und Vereinigen möglich sei. Aber das stellt lediglich ein (altes) Vorurteil gegen Fichte in Frage. Eine Fj-wägung dagegen, ob nicht dem Ausdrucke des Ich im thetischen Urteil eine notwendige Selbstbegrenzung innewohne, die Hegels spekulativem Satz-Gefüge fehlt, ist Kroners Intentionen fremd.

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stimmheit einer abschließenden Prädikation niemals gegeben, wohl aber aufgegeben. Diese Kennzeichnung gilt für alle thetischen Urteile. So spricht der Satz „Der Mensch ist frei" nicht von einem gegebenen und richtig prädizierbaren Sachbestand, sondern von einer unendlichen Aufgabe. Er lautet eigentlich: „Der Mensch soll sich der, an sich unerreichbaren Freiheit ins Unendliche immer mehr nähern" (ebd.). Sein im thetischen Ist-Sagen bedeutet Sollen. „Ich bin (frei)" besagt, das Subjekt soll die Aufgabe der Freiheit immer wieder und immer tiefer auf sich nehmen. Entsprechend redet der oberste Grundsatz nicht von einer seienden absoluten Einheit im Sinne einer seine Unterschiede aufhebenden und vollständig konkreszierenden Identität. „Ich bin (Ich)" besagt, in der Form eines thetischen Urteils gehört: Die in die Beziehung von Subjekt und Prädikat gesetzten Glieder (Subjekt und Objekt, Natur und Geist, absolutes und endliches Ich) sind niemals identisch und in einer Identität von Identität und Nichtidentität aufgehoben; sie sollen in unendlicher Arbeit praktischer Vernunft der Vernunft angeglichen werden. Darum hat die Wahrheit thetischer Sätze auch nicht den Charakter begründbarer Richtigkeit, wohl aber den der Gewißheit des Gewissens praktischer Vernunft. Weiter braucht Fichtes Lehre vom thetischen Urteil nicht verfolgt zu werden.84 Sie beleuchtet klar genug eine zweifache Selbstbegrenzung, welche die dialektische Methode betrifft. 84

Wilhelm Lütterfelds, Fichte und Wittgenstein. Der thetische Satz, Stuttgart 1989 unternimmt es, in verschlungenen perspektivenreichen Untersuchungen transzendentalphilosophische Grundsätze mit Hilfe der Sprach an alytik in eine transzendental fundierte Theorie empirischer Sprechakte zu überführen. Einen Schlüssel dafür bieten Wittgensteins grammatische Untersuchungen des Ich-Gebrauchs und Fichtes umgangssprachliche Erörterung des Ich in der „Zweiten Einleitung". Zum Paradigma dient die von Fichte entdeckte Satzklasse des thetischen Satzes. Dabei werden thetische Sätze im Sinne egologischer Aussagen überhaupt verstanden, z. B. „Ich sehe", „Ich halte es für meine Pflicht", „Ich behaupte". Sätze mit dieser Ichform fungieren als Begründungsbasis, auf der das urteilende Subjekt seine Urteile gegen jede Fallibilität schützt, so daß der Rückgang auf thetische Sätze das Letztbegründungsproblem zu lösen vermag. - So begrüßenswert das große Unternehmen ist, philosophische Positionen ins Gespräch zu bringen, die sich sonst nur feindselig oder einfach sprachlos gegenüber stehen, es bleibt doch gewagt, transzendentale Prinzipiensätze des Ich-denke mit Hilfe der Sprachanalytik als fundierte Sprechakte zu etablieren. Wird nicht das scheinbar mühelose Übergehen von der Ich-Axiomatik der Wissenschaftslehre zur Ich-Grammatik Wittgensteins durch eine unzulässige Reduktion und eine fragwürdige Überdehnung erkauft?

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1. Die Ursprungsverhältnisse des Ich lassen sich nicht mit dem Anspruch objektiv erweisbarer Richtigkeit unter dem Satz des Grundes aussagen. Antithetisch-synthetische Urteile sind für die Thesis des Ich nicht zuständig. Die Methode dialektischen Entgegensetzens und Verbindens reicht nicht in den Ursprung. Am Ende leuchten die Ursprungsverhältnisse von sich her in unmittelbarer Evidenz ein, die unsere geistige Anschauung ergreift. 2. Immerhin wird die Thesis des „Ich bin" adäquat im unendlichen oder thetischen Urteile ausgesprochen. Nun bildet diese Aussageform keinen je abzuschließenden Satz. Die Stelle des Prädikats bleibt ins Unendliche offen. Gerade weil das Urteil „Ich bin -" das unendliche Streben des Ich nach Einheit unter dem Gebot des Sollens zur Aussage bringt, prädiziert es nicht absolute Einheit als Grundlage eines abgeschlossenen Systems. Am Ende verstärkt die Anwendung der Thesis auf die Form des Urteils den Vorbehalt gegen die prinzipielle Abschließbarkeit eines Systems auf dem Boden der Endlichkeit. Die methodologischen Überlegungen zur Dialektik des einschränkenden Verbindens von Gegensätzen waren von einem Systemgebot ausgegangen. „Auf unser System bezogen giebt diese dem Ganzen Haltbarkeit und Vollendung; es muß ein System und Ein System seyn; das Entgegengesezte muß verbunden werden, so lange noch etwas Entgegengeseztes ist, bis die absolute Einheit hervorgebracht sey" (GA 1,2,276). Das muß korrigiert und ins reine gebracht werden. Eben die Anwendung auf das thetische Urteil „Ich bin -" hat die Grenze dieser dialektischen Einigung akzentuiert: „welche freilich, wie sich zu seiner Zeit zeigen wird, nur durch eine geendete Annäherung zum Unendlichen hervorgebracht werden könnte, welche an sich unmöglich ist" (ebd.).

Das betrifft die Reduktion des absoluten Ich auf das empirische Einzel-Ich, so daß der Satz Ich = Ich zur singulären Proposition wird, und das weitet den thetischen Satz „Ich bin", bei dem die Stelle des Prädikats für praktische Freiheitserfüllungen offen bleibt, zum Sprechakt der Form „Ich behaupte" aus, der allen Objekt-Urteilen vorausliegt. Und kommt man um Fichtes rudimentären, aber energischen Abweis einer Sprechakttheorie herum?

7. KAPITEL Dialektik des Begriffs. Das lebendige Durch 7. l Das dialektische Durch im Sagen des Seins (Einleitung in die WL, Herbst 1813) Die Dialektik des Begriffs im positiven Verstande vollbringt seit Platon ein lebendiges Durchgehen der Gedanken im Vollzug eines Denkens, welches das Gedachte in seiner Einheit und Selbigkeit umgrenzt (definiert) durch Abgrenzung von allem anderen, was es nicht ist. Diese Methodos ist in Fichtes Wissenschaftslehre transzendental verwandelt und in den Horizont einer limitativen Dialektik eingeholt. Einschr nkend bestimmt sich das Gedachte und Ersehene durch Entgegensetzung im Durcheinander von Sein und Nichtsein. Die Denkform solchen Sichtens hei t „Durch" (δια). Aber im gleichen Zuge, mit welchem das διάλέγεσύαι im Erfassen der Begriffe verwandelt aufgenommen wird, wird auch Platons Gleichnisrede vom Ursprung und Lichtquell jenseits des dialektisch Begreifbaren (Rep. 509) transzendental angemessen auf den Punkt gebracht. So leistet die dialektische Rede vom Durch ein Mehrfaches: 1. Sie hebt die Grundstruktur des Sehens im Sehen von dem, was ist, heraus; 2. sie leitet in die Lehre vom Denken als transzendentale Logik ein; 3. sie markiert die Selbstbegrenzung des Begriffs an der Unbegreiflichkeit des sich selbst effizierenden Lichts; 4. sie nennt in eins das Prinzipal des Einen Lebens wie dessen Spaltungsprinzip in der Erscheinung. Eine vorz gliche Hinfuhrung zur Dialektik transzendentalen DurchSehens bieten die „Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre. Vorgelesen im Herbst 1813 auf der Universit t zu Berlin" (WL 1813, NW 1,41-66). Sie folgen in ihrem Impetus dem Zuge der Platonischen Paideia. Philosophie bietet kein wissenschaftliches Lehrst ck an, sie fordert die Umschaffung des ganzen Menschen. Mehr als die Revoluti-

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on der Denkart als bloßen Wandel des Gesichtspunktes in der Weltkonstellation verlangt die philosophische Grundeinstellung eine Wiedergeburt, in welcher der Mensch sein ganzes Dasein erweiternd umwandelt. Das wiederholt die Platonische Menschenbildung als ) in der Sprache der Neuzeit. Das Bewußtsein soll sich umwenden vom hinnehmenden Bestimmtwerden durch das Sein zum Sehen des Seins aus der Freiheit eines sich als Grund setzenden Sehens. Und es soll seine Weltsicht erweitern, nämlich zum Sehen der Idee in freier Hinwendung zu dem im Wirklichen erscheinenden Überwirklichen. Dazu braucht es einen „neuen Sinn". Dieser läßt eben das sehen, was unserem gewöhnlichen Sinn so lange unsichtbar bleibt, wie er sich nicht von der alten, sinnlich orientierten Sehweise losreißt. Erst ein gleichsam neu eingesetztes Auge sieht über die Sinnenwelt hinaus in die Wahrheit des Übersinnlichen und auf den Grund des Intelligiblen. Umschafrung und Erweiterung also ermöglichen die Umbildung des ganzen Menschen.85 In einem ersten Schritt ist hier lediglich die Rückbesinnung vom Sein auf das Sehen zu verfolgen und das lebendige Durchsehen als Grundform von Anschauung und Denken freizulegen. Ausgang ist die alte und immer neue Frage: Was ist das Sein? Was bedeutet das ,4st", wenn wir sagen „Das und das ist"? Dabei rückt das Sein in seiner reinen Form in den Blick, unangesehen dessen, was das vielerlei Seiende seinem Sachgehalte nach sein mag. Darum bezieht die Frage nach dem Sein auch das willkürlich Eingebildete oder mathematisch Konstruierte ein; denn auch vom goldenen Berg oder der in der Rechenoperation vorhandenen Zahl Pi wird ausgesagt: „Das und das ist". Methodisch vordringlich aber ist ein „Seinsetzen", welches das als seiend vorstellt, das an sich (objektiv real) besteht. Und das wird in den „Einleitungen" 1813 vom „Vorstellungsdenken", welches auch freie Vorstellungen einschließt, abgegrenzt (NW 1,99). Es dreht sich alles um die Durchdringung des natürlichen Bewußtseins. Und das versteht unter Sein: unabhängig vom Vorstellungsbezug eines empirischen Ich existieren. Dabei sollte der Tiefgang dieser Auseinandersetzung wenigstens angedeutet werden.86 Das natürliche Bewußtsein steht der neuen Sehweise 85

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Das ist der Leitgedanke der genauen Auslegung der Einleitungsvorlesung 1813 durch Johannes Schurr, Gewißheit und Erziehung, Ratingen 1965,102ff.: Ohne den neuen Sinn ist alle Paideia sinn-los. Die Auflösung des natürlichen Bewußtseins als eines Problems für die Wissenschaftslehre, sofern sie Philosophie des Absoluten sei, macht den 1. Teil der bahn-

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und erweiterten Weltsicht im Wege. Es verlegt der Erweiterung des Sehens gleichsam den Weg. Daher zielt die erste Absicht der Methode darauf, den Seinsglauben des natürlichen Bewußtseins dialektisch zu vernichten. Und diese dialogische Destruktion wird um so dringlicher, je hartnäckiger sich das natürliche Bewußtsein auf seine Ansicht vom Sein versteift und sich, sie verabsolutierend, zum Dogmatismus einer „Naturschwärmerei" übersteigert. Blickt man bis zum reinen Sehen des Absoluten in seinem Erscheinen vor, dann wirkt dieser Methodenschritt noch fundamentaler. Das naturhafte Sein in den Fesseln des natürlichen Bewußtseins muß sich als an ihm selbst nichtig seiend und als Ertötung des Lebens erweisen, damit das unsichtbare Leben in ihm sichtbar werde. So nimmt die Wissenschaftslehre den ihr polemisch zugesprochenen Titel „Nihilismus" an. Sie sei in der Tat „strenge Nachweisung nämlich des absoluten Nichts, außer dem Einen, unsichtbaren Leben, Gott genannt" (NW 1,39). Mit solchen Endabsichten nimmt die annihilierende Dialektik des Durch die Position des natürlichen Bewußtseins an und überführt sie des Widerspruchs. Deren unbefangener Ausdruck lautet: Die Dinge sind, und sie sind so, wie sie an sich sind. Dieses Dogma hat allemal die sinnliche Gewißheit auf seiner Seite. Sinnliche Gewißheit bezeugt handgreiflich und unmittelbar, daß eine Welt von Dingen an sich außer uns existiert. Indem wir unreflektiert mit der Überzeugung sinnlicher Wahrnehmung und Empfindung sagen „Das und das ist (hier und jetzt)", meinen wir doch: Es existiert an sich und besteht unabhängig von meinem Sehen und Vorstellen. Der Mond scheint, auch wenn ich ihn nicht sehe. Das Meer hat gerauscht und wird weiter rauschen, auch als es noch keinen Menschen gegeben hat und wenn es einst keinen Menschen mehr geben wird. Unsere Ansicht der Dinge ist so eingehaust in ein Seinsverständnis auf der Stufe und in den Fesseln der „Höhlenbewohner", die nur Sinn haben für das, was in sinnlicher Bekundung offensichtlich kommt und geht. Wie läßt sich diese hartnäckige Ansicht aus dem Bewußtsein heraustreiben? Die schon im Höhlengleichnis erteilte Antwort lautet: durch Zwang, und zwar durch den Zwang des Logos, der freilich auf freie Zubrechenden Untersuchung von Günther Schulte, Die Wissenschaftslehre des späten Fichte, Frankfurt a.M. 1971 aus. Solche Aufklärung des natürlichen Bewußtseins beginnt mit einer durchdringenden, subtilen Analyse der Einleitungsvorlesungen aus dem Herbst 1813; vgl. §§ 3-9, 32-75.

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Stimmung angewiesen ist. Auch darin arbeitet die Logik dialektisch. Sie hebt einen fest fixierten Standpunkt des Denkens auf, indem sie ihn in den Selbstwiderspruch treibt. Im Sagen „Seiendes ist und besteht an sich und in sich selbst" nämlich herrscht der Widerspruch zwischen dem Gesagten und dem Tun des Sagens. „Was gesagt wird, widerspricht dem, Daß es gesagt wird" (NW 1,43). Was als wirklich gesagt und als wahr behauptet wird, ist Sein in seinem In-sich-Sein. Das Ding ist, nämlich an ihm selbst und in sich geschlossen, so nämlich, daß es alle Beziehung auf anderes, das Bewußtsein, als einen Grund abweist, von dem es abhinge. Sein besagt Innerlichsein, und Innerlichsein bedeutet, sich nicht äußern und da sein für und durch ein Bewußtsein. Aber diesem Diktum widerspricht das Faktum des Sagens. Das Ding ist nicht einfach, es ist im Sagen offenkundig gemacht, daß es ist. Damit fällt das Seiende bereits aus dem In-sich-Geschlossensein heraus. Im schlichten Sagen „Seiendes ist" steckt ein kontradiktorischer Gegensatz. Ein Inneres („ist" in sich) findet sich entgegengesetzt einem Äußeren („ist" da im Sagen). Sein nämlich wird behauptet als Bestehen in sich, unabhängig von allem Vorstellungsbezug. Aber solche Aussage ist nur möglich aufgrund einer Beziehung auf ein Sagen, das Innen und Außen unterscheidet. Steht es so, dann muß der Widerspruch aufgehoben werden. Anderenfalls fällt die grundgebende Annahme „Seiendes ist" der nichtssagenden Sinnlosigkeit einer contradictio in adiecto anheim. Aufhebung eines Widerspruchs geschieht in Fichtescher Dialektik prinzipiell durch wechselseitige Begrenzung. Die dialektische Leitkategorie der Limitation bewährt sich auch hier. Demzufolge müssen beide Tendenzen im Ist-Sagen einander begrenzen und damit ihre Totalitätsansprüche aufgeben. Das gilt für die entgegengesetzten Positionen gleichermaßen, für das Dogma „Seiendes besteht in sich" wie für den Gegensatz: „Seiendes ist außer sich" und im Sagen nur da im Bezug auf anderes. „Das Sagen: es ist, Seinsetzen ist ein Begränzen zweier Entgegengesetzter - eines Innern, (des Ist selber) und eines Aeussern, in welchem es ist - durch einander" (NW 1,44). Das Begrenzen der Gegensätze geschieht wechselseitig. Das eine, das Innere, begrenzt sich durch das andere, das umfangende Äußere, und umgekehrt. Was mithin eigentlich beim einfachen Sagen von Sein („Etwas ist") zu bedenken wäre, ist diese einigende und vermittelnde Einheit. Nun darf das Element der Vermittlung nicht als ein Drittes verstanden werden, das außer den zwei zu vermittelnden Gliedern auch noch

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besteht und diese post factum synthetisiert. Das Vermittelnde ist nichts anderes als das einigende Durcheinander der gegensätzlichen Zwei, die sich im Durchgehen limitativ einigen, dergestalt, daß sie ihre Zweiheit bewahren. Wie aber kann solche Einigung konstruiert und rein anschaulich gemacht werden? Es gibt ein reines Bild solch durch-gängiger Einheit, das Leben. Offenkundig hat das Leben eine dialektische Gestalt. Es geht ja unentwegt aus der Einheit in Zweiheit und Vielheit über, um diese in Einheit zu bergen. (So spaltet sich das Gattungsleben durch das Lebendigwerden der Individuen in die Vielheit, um durch deren endliche Begrenztheit im Tode die Einheit der Gattung zu wahren.) Worauf nun im Sagen von Sein mit der Eingliederung des Lebens abgezielt wird, ist das Grundmoment des Fortgehens und Fließens von einem Gliede zum anderen in Setzung und Aufhebung eines Zerteilten. Das passende Beispiel bietet die gezogene Linie. Sie kommt zustande in der Tätigkeit des Linienziehens, welche im Fortgehen von einem Punkte zum anderen, deren Diskretheit aufhebend, fließend übergeht. So kommt die gesuchte Aufhebung der Gegensätze als lebendiges Einigen in den Blick. Das dialektisch Vermittelnde hat den Titel eines absoluten, d.i. durch sich lebenden und übergehenden „Durch". „Die zwei Glieder des Gegensatzes verhalten sich, wie ein absolutes Durch" (NW 1,46). Die eingeführte Wortprägung ist von Fichte als substantivierte Präposition aufgefaßt, nicht etwa als Adverb „durch und durch", z.B. in Wendungen wie „ein Netz zerreißt durch und durch", d.h. von Anfang bis Ende. Die Absicht, die Fichte mit solch ungewöhnlichem Wortgebrauche verfolgt, ist zweifach. Er soll die gewohnte Wörterbeziehung befremden und das in der Anschauung festhalten, was das Wort genau bezeichnet. „Ich spreche mit Bedacht so, mache Präpositionen zu Substantiven, indem diese in der That das Anzuschauende genau bezeichnen, und die von der Gewohnheit abweichende Redeweise die Einbildungskraft eben befremden und aufregen soll" (NW 1,46). Gemeinhin verweist eine Präposition auf das Hauptwort, dem es vorangestellt ist. „Durch die Tür" lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Tür-Durchgang. Das substantivierte Verhältniswort macht das Verhältnis als solches zum Hauptwort. Durch das „Gegenbild" des Wortes angehalten, verweilt die Einbildungskraft bei der Betrachtung eines reinen Verhältnisses. Nun hat das „Durch" unleugbar eine mehrfache kategoriale Bedeutung. So lassen sich das räumliche Durch („durch ein Tal hindurch"), das temporale Durch („sieben Jahre hindurch") oder das kausale Durch

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(„alle Dinge sind durch das Wort gemacht"; Luther-Joh. 1.2) unterscheiden. Dabei liegt wohl die Bedeutung des Durchdringens von einem zum anderen einheitlich zugrunde. Diese kommt als dialektisches Durch im Sinne eines wechselseitig bestimmenden Durcheinander des einen und anderen ins Spiel. Und das ist kein erkünsteltes Abstraktum. „Dieses Durch ist die allbekannte Denkform, in der Jeder sein Lebelang sich bewegt hat: A ist mithin B; A das Durch für das B" (NW 1,47). A ist B, z. B. „Die Rose ist rot". Unsere Aussage geht von A (dem Subjekt) zu B (dem Prädikat) über, indem das Denken durch A als dem Worüber der Aussage hindurch zu B gelangt und das eine durch das andere abgrenzend bestimmt. Und das „ist" der Kopula nimmt das Sein der Rose als an sich bestehender und in sich aufblühender roter Blume mit der dargelegten Äußerung zusammen, und zwar in der Form einer Negation im wechselseitigen Durcheinander, das den Charakter des Durch-sichselbst und damit den der Lebendigkeit hat. So gehen im einfachen Ist-Sagen die Gegenbestimmungen des Innen und Außen durcheinander auf. „Was heißt nämlich denn nun das Innen! Antwort: nicht Außen und Außen nicht Innen. Jedes darum trägt seine Bestimmung, seinen Charakter nur durch das Andere, indem es nur ist die Negation des Ändern" (NW 1,46). Angesichts dieser Einsicht vergeht im Seinsetzen die Ansicht des einseitigen Realismus, und zwar von der naivsten bis zur reflektiertesten Stufe. Der Gedanke vom Sein an sich und Bestehen in sich läßt sich nämlich nur in Einheit mit dem Gegengedanken fassen, dessen Negation er ist: An sich zu sein bedeutet, nicht durch den Bezug auf anderes sein. Und ebenso ergeht es dem einseitigen oder abstrakten Idealismus, vom schlichten Sensualismus bis zur reflektierten Annahme der Grundgleichung esse=percipi. Auch der Gedanke, das Seiende bestehe nur in und durch den Bezug auf ein Perzipieren, bestimmt sich durch Negation des Dogmas vom Ding an sich. Für uns sein bedeutet, nicht an sich zu sein. In Wahrheit bleiben diese Elementargegensätze im absoluten Durch verschmolzen. Das Innen ist so, wie es gedacht wird, durch Negation des Außenbezuges und umgekehrt. Allgemein gesagt: Das eine setzt das andere und wird von ihm gesetzt. Was, so betrachtet, wesenhaft ist, ist weder das eine noch das andere - weder Sein noch Bewußtsein, sondern das lebendige Fortgehen von einem zum anderen im Akt des Durchdringens beider zur Einheit (der Apperzeption). „Daran ist nun festzuhalten: das Seinsetzen ist ein Leben, ein Akt, in der Form des Durch Entgegengesetzter" (NW 1,46). Bisher hat sich also ergeben: Das Ist-Sagen kann widerspruchsfrei nur

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dann verstanden werden, wenn auf das Bewußtseinsleben geachtet wird. Die Form dieses Lebens heißt Durch. Als lebendiges Durch einigt es im ständigen Übergehen die einander begrenzenden Gegensätze von Innen und Außen. Bleibt dieses tätige Leben im Akt des Ist-Sagens verborgen, wie im natürlichen Bewußtsein, dann herrschen Dogmatismus und Naturschwärmerei. Dieses Resultat nötigt zur Frage: „Wie denn aber ist die Einheit in sich und für sich möglich: woher das EandT (NW 1,48). Bisher ist lediglich klar: Die Einheit ist Fluß des Lebens, welcher fortfließt von einem zum anderen durch einschränkendes Ausschließen des ersten vom zweiten. Aber so geht doch durch das Ganze ein Riß. Ist das Leben im Zustande des einen, ist es im anderen nicht; denn das andere bleibt im Durchgange wechselseitigen Ausschließens jeweils entgegengesetzt. Warum also wird die Lebenseinheit des Bewußtseins durch das Durch nicht gerade auseinander gerissen? Der Bescheid weist auf eine höhere Einheit, wie sie durch das absolute Durch konstituiert wird. Von ihr wird gefordert, „sie müßte in sich selbst eine Duplicität enthalten" (NW 1,49). Das Bewußthaben von Sein hat die Form einer gedoppelten Einheit. Sie ist Einheit von Einigung und Nicht-Einigung in sich selbst. Eben dieses Gesetz der Duplizität prägt das absolute Durch. Es ist in sich gedoppelt als limitative Synthesis der Aufteilung von Innen und Außen und deren Einigung. Mithin befindet sich das Bewußtseinsleben in eins zerteilt in das Emanieren und Sich-Äußern im Sem-Setzen und mit sich geeint im Sich-Äußem als Sein-Setzen. Aber kann solche in sich gedoppelte Einheit auch konstruiert, d.h. rein anschaulich dargestellt werden? Ein solches nicht zerfallendes und im Produkt gleichsam zum Stillstand kommendes, auseinander gerissenes Durchgehen kennen wir. Von solcher Art ist das Sehen. „Also jene gesuchte (höhere) Einheit der zwei entgegengesetzten Glieder müßte eben ein Wesentliches Durch sein; nach der gewöhnlichen Sprache des Menschengeschlechts ein Sehen, welches schlechthin bei sich führt ein Gesehenes, worin eben jener Gegensatz mitgegeben ist" (NW 1,50). Die beizubringende Anschauung und aufzubringende Konstruktion des absoluten Durch ist das Sehen. Diese Weisung lenkt die ganze Seele auf die folgenreiche Wendung vom Sein zum Sehen des Seins und schließlich zum ursprünglichen Sehen des Sehens als Grund des Sein-Sehens hin. Damit rückt der Grundmodus des Wissens überhaupt ins Zentrum der Untersuchung. Sehen ist das Wort für Wissen überhaupt. Es nennt

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mithin nicht das sinnliche Anschauen im Unterschied zum diskursiven Denken. Sehen meint hier weder das sinnliche Sehen des Einzelnen noch das verständige Sehen des Allgemeinen, sondern eben den einheitlichen Vorstellungsmodus von beiden. Dessen Grundform ist ein lebendiges, unzerteiltes Durch im Ersehen von Sein. Es hat daher mit der gewöhnlichen Auffassung des Sehens mit Hilfe des Organs der Augen als sinnliches Rezipieren und Widerspiegeln äußerer Eindrücke und Bilder nichts gemein: „Sehen: es wirft sich ein Bild des Gegenstandes auf die Netzhaut. Auf der ruhigen Wasserfläche spiegelt sich auch ein Bild des Gegenstandes. Sieht darum, unserer Meinung nach, die Wasserfläche?" (NW 1,18). Thematisch wird das Sehen als Hauptweise des Wissens in der Gestalt eines Handelns und Produzierens in der Grundform allen Wissens, des Durch. Sehen bedeutet Hinsehen. Das Hinschauen emaniert, d.h. es setzt außer sich, nämlich ein Gesehenes. Wie aber steht es mit der Einheit von Sehen und Gesehenem? Das Sehen führt unabtrennlich Gesehenes bei sich. Sehen ist Sehen von etwas und wird erst dadurch wirklich, daß Gesehenes ist. Umgekehrt kommt Gesehenes nur dadurch zustande, daß sich ein Sehen vollzieht, und es währt nur, solange das Sehen am Werke ist. Darin zeigt sich: Ziel und Werk der Tätigkeit des Sehens, das Hingesehene, fallen nicht außerhalb des Sehensaktes. Das Werk des Sehens kommt nicht dadurch zur Wirklichkeit, daß es in sich selbst und außerhalb der abgeschlossenen Hervorbringung besteht, wie beim Erbauen eines Hauses das Haus oder beim Kiellegen eines Schiffes das Schiff. Also erscheint und erläutert sich das in sich gedoppelte absolute Durch als Sehen. Und damit bedeutet Sein Hingesehen- oder Produziertsein durch den Lebensvollzug eines Sehens, das sich nicht in den Vorgang des Produzierens und in ein in sich stehendes Produkt neben und außer dem Akt des Produzierens zerteilt. Freilich tritt damit der alte Widerspruch zwischen Innen und Außen, An-sich und Für-uns im Sehen vom Sein eher noch kräftiger und unbezweifelbarer heraus. Einerseits hat das hingesehene Sein den Charakter eines Gesehenen, das durch das Sehen produziert worden ist. Andererseits beansprucht das hingesehene Sein den Charakter eines Bestehenden, das nicht nur hingeträumt wird, sondern durch sich selbst ist und sich von sich her zeigt. „Das Sein ist demnach einmal als nicht durch ein Anderes, sodann als allerdings als durch ein Anderes gedacht werden, ohne Zweifel ein Widerspruch" (NW 1,54). Sein wäre, so gedacht, zugleich durch sich und nicht durch sich. Und auch dieser Widerspruch

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entspringt nicht etwa einer verstiegenen philosophischen Überlegung, er bildet das Rätsel unserer alltäglichen Dingvorstellung. Wir stellen die Dinge vor - als an sich bestehend. Im Vorstellen stellt sich uns das Ding als von unserem Vorstellen unabhängig dar. „Es ist wohl der Mühe werth zu untersuchen, wie es mit diesem Widerspruche zugehen möge" (ebd.). Schärfer zugesehen, geht es beim Hinsehen des Seins so zu, daß das Sehen das Dingsein zwar poniert, aber in eins als sein Produkt negiert. Das Sehen poniert das gesehene Sein und vernichtet sich im gesehenen Sein. Unser Sehen setzt das Sein als nicht durch es gesetzt. „Es negirt das Sein als sein Produkt" (NW 1,55). Das Sein-durch-sich ist ja im Sehen der zu negierende Gegensatz des Für-uns. Auf dem Wege solcher Negation entsteht die Vorstellung denkhaften Seins. Die Analyse konzentriert sich mithin auf die Frage: „Wie geschieht diese Negation?" (NW 1,57). Wie kommt es zur Selbstnegation des Sehens? Warum wird das Hingesehene als Seiendes angesehen, das nicht durch das Sehen ist? Anders gefragt: Wozu verleugnet sich das Sehen am Sein? Für eine hinreichende Antwort ist der Modus solcher Selbstvernichtung schärfer in den Blick zu fassen. „Das Sehen ist, wenigstens inwieweit es sich selbst sieht, ein Bilden, ein Ertödten des Lebens ausser ihm" (NW 1,57). Das besagt: Das Sehen setzt das Sein, indem es sich von diesem unterscheidet. Das bedeutet für das Hinsehen: Erscheint das Sein im Seinsmodus wahrnehmbarer Realität und eines Bestehens in sich, dann sieht sich das Sehen im Stande des Bildens eines Bildes im Gegensatz zur Realität. Das Sehen an ihm selbst kommt so gerade im Durchgang zum Gesehenen zu Tode. Und im Blick auf das Hingesehene bedeutet das: Das Sehen projiziert seine eigene Lebendigkeit in das Sein, dergestalt, daß es sich in ein Fremdes und Anderes selbst entfremdet. Die dialektische Selbstentfremdung ins Anderssein wird hier - anders als im Leben der absoluten Idee - als Grundgesetz des Sehens evident. Im gesetzten Durch wird das eigene Durch vernichtet. Dadurch findet sich das Gesehene als ein dem Sehen Fremdes vor. Die „Realität der Außenwelt" ist hergeleitet. „Das Sehen ist demzufolge ein absolut immanentes Durch, ein Projiciren, Hinsehen, und zwar eines Ändern und Fremden ausser ihm, als eines selbstständigen, auf sich selber beruhenden Lebens, woran darum die Abhängigkeit desselben von Sehen in ihm selber ausdrücklich negirt wird" (NW 1,57). Diese Einsicht weist das natürliche Bewußtsein zurecht, das alle Tage behauptet: Das Sein bestimme das Bewußtsein, das Sein sei tätig-ei n wirkend, das Sehen lei-

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dend-widerspiegelnd. Recht besehen, findet sich das Sehen im Zustand des Leidens, soweit es sich in seiner Agilität durch Hinschauen von Sein gemäß dem Wesensgesetze des Durch selbst negiert. Indessen, so ist doch lediglich versichert, daß eine solche Vernichtung geschieht, dunkel bleibt noch, nach welchem Gesetz und gar wozu und zu welchem Ende sie geschieht. Das wird deutlich, achtet man auf die Denkgestalt des Sehens. Sehen vollzieht sich ja nicht nur im Stande des Hinschauens eines Gesehenen unter dem Gesetze des einfachen Durch, es sieht das Gesehene hin als „Das und Das", nämlich als Insich-Stehen und Nicht-Produziertsein. Diese Ais-Bestimmung ist dem menschlichen Sehen wesensnotwendig. Sie kann aber ihrerseits wiederum nur vollzogen werden nach der Dialektik des Durch. Daraus folgt: Das Hinsehen und Produzieren kommt in einem Fremden zustande, weil es das Hingesehene als Bestimmtes denkt und diese seinsmäßige Bestimmtheit nur durch abgrenzende Negation gewinnen kann. So kommt das Hingesehene nur als Das, nämlich als Nicht-Produkt, zu Gesicht. Und solches Hinsehen eines Anderen und Fremden außer dem Sehen geschieht im Sehen wesensnotwendig gemäß dem Wesen des Durch. In eins leuchtet das Durch als die gemeinsame Wurzel von Denken und Anschauen in ihrem Unterschied ein. Das bloße Hinsehen geht selbstverloren im Angeschauten auf. Es sieht geradehin und hat nur Augen für das Angeschaute, nicht für sich selbst. Im Denken dagegen wird dem Sehen „ein solches Auge für sich, ein immanentes Sehen seiner selbst eingesetzt" (NW 1,65). Nun muß im Bestimmen eines In-sichBestehenden und Nicht-Produzierten beides zusammengehalten werden, das Bestehen in sich und das Sehen und Produzieren; denn das NichtSehen bestimmt sich ja als Negation absoluten Sehens. Und hier kommt eine verborgene Wurzel der Erkenntnisstämme von Anschauung und Denken zur Sprache, das Schweben der produktiven und sich im Produkt vergessenden, vorbewußten Einbildungskraft. Das Denken des Sehens schwebt zwischen Sein des Gesehenen und Nichtsein des Sehens. „Es ist darum klar, daß dieses zweite Sehen eben ein Schweben über dem Gegensatz, und ein Bestimmen durch den Gegensatz ist" (NW I, 61). Zuletzt läßt sich in einem Ausblick auch das Wozu gut verstehen, und zwar im Blick auf das Fundierungsverhältnis von Denken und Anschauen. Deren Sinn- und Zweckverhältnis ist einfach: Das Anschauen des natürlichen Bewußtseins, d.i. das unbesonnene Vorstellen von Dingen an sich ist der Terminus a quo für das Denken als ein Sichtbarma-

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chen. Das Sichtbarmachen nämlich bedarf eines Worin der Sichtbarkeit erscheinenden Lebens. Daraus erwächst ein ideologischer Sinn für die Ertötung des Sehens im festen Wirklichsein der Sinnenwelt. Das Fremde und Andere zu Freiheit und Geist findet seine Rechtfertigung darin, daß in ihm das lebendige Durch allererst sichtbar wird. Dramatischer, gleichwohl sachgerecht gesagt: Das Sehen bedarf des Todes, um das Bild des Lebens erscheinen zu lassen. Mit diesem Resultat steht die methodische Analyse dicht vor dem Eingang in die neue Welt des Transzendentalismus und vor der Anweisung eines neuen Lebenssinnes. Das sei wenigstens mit einem ganz und gar vorläufigen Ausblick angezeigt. Es hatte sich in der Wendung vom Sein zum Sehen des Seins ergeben: Das Sehen sieht das Sein als nicht sein Produkt seiend. Was liegt in dieser Wendung? Um etwas als das „Seine" bzw. „Nicht-Seine" zu setzen, muß das Setzen und Sehen ein Bild seiner selbst haben. Das Sehen muß sich selbst als Produzierendes im Negieren seines Effektes sehen. Unzweifelhaft muß doch das Sehen sich selbst gesetzt und gesehen haben, damit es sich negieren kann. Sehen von Sein hat immer ein Sich-Sehen des Sehens zum Rückhalt und Grunde. Diese Überlegung stellt die Synthetisierung von Bewußtsein und Sein. Ansichsein und Fürunssein, Innen und Außen in ihren Mittelpunkt; denn alles Sehen des Seins setzt das Sichselbersehen voraus. Das ist hier nicht weiter zu verfolgen. Eine einleitende Untersuchung, welche in die Dialektik des Begriffs einführen möchte, kann sich mit der Herleitung des Denkens in der Gestalt des dialektischen Durch begnügen. Das erbringt immerhin ein nicht unerwartetes Resultat: Im Ist-Sagen treten notwendig und a priori alle Bedingungen auf, welche seit Platons Grundlegung ein dialektisches Begreifen konstituieren, nämlich Sein und Nichtsein (Bildsein), Position und Negation, Selbigkeit und Andersheit (das Eine als Nicht-Anderes) und die Bewegung eines lebendig einigenden Durch-Sehens.

7.2 Das Durch-ein-ander als lebendige Denkform des Urbegriffs (Transzendentale Logik 1812,3.-4. Vortrag) Die ersten Schritte in der „Einleitung" von 1813 haben das Faktum des Seinsetzens im alltäglichen Ist-Sagen genetisiert. Das führte zur Hinwendung auf Bewußtseinsleben und Sehen in der Form des Durch. Das Vorstellen von etwas als seiend entsteht in einem lebendigen, in

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sich gedoppelten Durchgehen von Bild und Sein in der Selbstvernichtung des Sehens am hingesehenen Sein. Dabei steht das Sehen überhaupt vor der Spaltung in Anschauung und Denken im Mittelpunkt. Für eine Besinnung auf die Dialektik des Begriffs aber ist das Sehen nun spezifischer als Denken zu behandeln. Eine transzendentale Erörterung wird dabei auf die Gestalt des Urbegriffs in der Denkform des Durch stoßen. Der Aristotelischen Tradition gemäß gehört die Lehre vom Denken in diejenige Disziplin der Philosophie, die sich mit den allgemeinen Regeln des Verstandesgebrauchs befaßt, die Logik. Sie gilt bis heute noch als Theorie der wahren Aussageformen oder als Lehre von der Folgerichtigkeit. Kant nennt sie formale Logik, sofern sie ausschließlich die Regeln allen Denkens untersucht. Als Wissenschaft vom Verstandesgebrauch stellt die formale Logik die schlechthin notwendigen Regeln im Begreifen (Definieren), Urteilen (Folgern) und Schließen auf, unabhängig vom materiell gegenständlichen Sein des Gedachten. Dagegen beansprucht eine transzendentale Logik seit Kant, Wissenschaft von denjenigen Prinzipien der reinen Verstandeserkenntnis zu sein, durch die wir gerade die Gegenstände a priori denken (KrV B 81). Fichte hat im Kanon seiner Vorträge zur Wissenschaftslehre im Jahre 1812 an der neugegründeten Universität Berlin zweimal „Transzendentale Logik" gelesen (nach R. Lauth von April-August und von Oktober-Dezember 1812). Für eine Erörterung der Zusammenhänge von „Durch" und „Urbegriff' werden die Wintervorlesungen herangezogen. Ein Semester zuvor hatte Karl Wilhelm Solger Logik und Dialektik vorgetragen, und im nämlichen Jahr erschien der 1. Band von Hegels Wissenschaft der Logik.87 Hegel versteht seine spekulative Logik als Fortführung und Vollendung der transzendentalen. Er nimmt die Logik des Ich-denke (der Subjektivität) in eine Ontotheo-Logik auf, die auf der Höhe des absoluten 87

Eine allgemeine Kennzeichnung der Transzendentalen Logik von 1812 in Aufgabenstellung und Hauptinteresse findet sich bei Max Wundt, Fichte-Forschungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 21976,256-58. - Einen besonnenen und klaren Einblick in die tragende Idee einer transzendentalen Logik auf dem Boden der Wissenschaftslehre in Abgrenzungen gegen die Ansätze der formalen wie spekulativen Logik verschafft Manfred Zahn, Die Idee der formalen und transzendentalen Logik bei Kant, Fichte und Hegel, in: Schelling-Studien FS für Manfred Schröter, Anton M. Koktanek (Hg.), München u. Wien 1965,153-191.

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Wissens die Einheit von Sein und Begriff (über das Wesen) entfaltet, dergestalt, daß deren Dialektik kraft der Macht absoluter Negation, die durch Negation des bestimmten Negativen ein Positives zum Resultat hat, die logische Methode philosophischer Wissenschaft und der Gang der Sache selber ist. Hegels Logik gipfelt in der absoluten Idee als dem konkret Allgemeinen, das zugleich Ursprung und Realität des Anderen seiner selbst ist, nämlich des unmittelbaren Seins in Raum und Zeit. Innerhalb der Fichteschen Systembildung dagegen hat die transzendentale Logik eine ganz andere Funktion. Sie entwickelt nicht die Grundlegung einer prima philosophia, sie führt in diese lediglich ein. Transzendentale Logik bietet eine Möglichkeit, in die eigentliche Wissenschaft vom Wissen einzuleiten. Das geschieht nicht wie in der berühmten Ersten Einleitung in die Wissenschaftslehre von 1797 durch Widerlegung der Prinzipien dogmatischen Denkens oder wie in den Einleitungsvorlesungen 1813 durch Aufhebung des alten Sinnes, um einen neuen Sinn für das Sehen des Sehens zu wecken. Die transzendentale Logik leitet ins reale Wissen durch Widerlegung der formalen Logik ein. Indem die formale Logik in ihrer Grundlosigkeit und bloßen Faktizität aufgedeckt wird, kommt eine Logik zum Zuge, welche das Denken auf die eigentliche Philosophie hinlenkt. In solch kritischem Aspekt erweist sich die formale Logik als bloß empirisch fundiert. Sie hält sich an einen Bestand vorfindlicher Denkformen, sie hält das Bild für die Sache und versucht nicht einmal, den Zusammenhang zwischen dem Bild und dem Bilden des Bildes zu thematisieren. Mit einem Wort: Die formale Logik enthält sich jeder Rückbesinnung auf das Ich-denke, wie es sich im Denken durchgängig bestimmt und in seinem Denkhandeln intellektual anschaut. Darum erscheinen ihr die Denkvollzüge wie Naturbegebenheiten, und darum können diese nur empirisch festgestellt und klassifiziert werden, ohne Einblick in die Notwendigkeit der Einteilungsgründe. Dagegen lehrt eine transzendentale Logik, das Sein als Bild anzusehen und im Gesehenen stets das Sehen zu sehen. Sie macht den Zusammenhang zwischen dem Bild und dem Bilden des Bildes einsichtig, indem sie auf das Ich zurückgeht, wie es sich erscheint als apriorischer Einheits- und Spaltungsgrund von Sehendem und Gesehenem. Thema ihrer Untersuchung ist somit weder das bloße Denken noch das bloße Ding, sondern der apriorisch-synthetische Bezug des Denkens zum Ding in seiner Genesis. Kommt so das Faktum menschlichen Denkens in seiner Genesis, d.h. dem Gesetze seiner Entstehung nach vor Augen, dann löst sich die formale Logik in ihrem philosophischen An-

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Spruch (nicht in ihrer kathartischen, von Irrtümern reinigenden Nützlichkeit) als bodenlos und in sich widersprüchlich auf. Für die Frage nach dem Durch genügt es, die ersten, noch leichten Schritte eines langwierigen und schwierigen Untersuchungsganges nachzugehen. Diese verfolgen das Urverhältnis des Begreifens von Anschauungsbildern. Dabei kommt eben das Durch als Denkform des Urbegriffs zur Sprache (3. und 4. Vortrag, NW 1,122-140. Die Zitate folgen der gereinigten Ausgabe „Ueber das Verhältniß der Logik zur Philosophie oder Transzendentale Logik". Vorlesungen von Oktober bis Dezember 1812, hg. von Reinhardt Lauth und Peter K. Schneider unter Mitarbeit von Kurt Miller, Hamburg 1982=TL). Der 3. Vortrag nimmt das vordringliche Thema der Logik in Angriff, einen Begriff des Denkens aufzustellen. „ Natürlich: einen Begriff des Denkens selbst: Konstruktion aus seinem Grundcharakter" (TL,20). Offenbar hat die formale Logik keinen zureichenden Begriff des Begriffs vorgelegt. Formallogisch bedeutet Denken die Tätigkeit des Subjekts, etwas (Baum, Ofen) in seiner vielgültigen Allgemeinheit zusammenzufassen. Das geschieht durch abstrahierende Klassifikation der Allgemeinbegriffe im Aufsuchen vorfindlicher Merkmale. Anders gesagt: Denken ist die verknüpfende Tätigkeit, die eine Mannigfaltigkeit zur Einheit eines Bildes von etwas Bestimmtem verbindet. Die transzendentale Logik scheint einen gleichen Vorbegriff zu haben. Aber ihre erste Kennzeichnung setzt nicht beim Verhältnis Einzelnes-Besonderes-Allgemeines an, sondern bei der Verhältnishaftigkeit als solcher. „Denken = ein Verhältniß fassen: Begriff = Bild eines Verhältnisses" (TL,21). Denken ist das Vermögen der Begriffe, der Begriff aber Bild eines Verhältnisses. Was ist das für ein Verhältnis? „Das Denken : ein Bilden, das schlechthin ein Bild seiner selbst sezt.a.. nicht denkbar ohne b. - darin das Wesen; daß es das gar nicht ist, ohne diese Geseztheit des ändern" (TL,20). Denken ist stets ein Bilden und Hervorbringen einer Vorstellung oder eines Bildes mit dem Bewußtsein, daß es ein Bild ist. Dieses Bilden geschieht, indem Etwas=a im Verhältnis zu etwas Anderem=b gesetzt wird, a fungiert als Zeichen für Bild im Sinne des Einzelanblicks der sinnlichen Vorstellung. Das ist z.B. dieser Baum da oder jener Ofen hier. Das angeschaute Einzelne wird gedacht, wenn es im Verhältnis zu einem Anderen, dem Bilde b, gesetzt wird. Dabei bedeutet b nicht etwa ein anderes vorfindliches Einzelnes, etwa einen anderen Baum. Das ergäbe lediglich die Abfolge zweier Anschauungen, b bezeichnet vielmehr

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dasselbe Seiende in seiner umfassenden Allgemeinheit. Im Blick auf das fragliche Verhältnis gesprochen: Denkend setzen wir zwei unabtrennbare Glieder (a-b) in Beziehung, nämlich das Bild dieses Etwas hier und jetzt (a) in die Vorstellung eines Etwas überhaupt (b). Solches Ins-Verhältnis-Setzen erläutert Fichte an einem charakteristischen Beispiel. „Beispiel: Ort, a, in Beziehung auf den allgemeinen Raum, u. innerhalb desselben: zugleich demselben gleichgesezt zugleich abgesondert von ihm" (TL,20). Das Beispiel erläutert die Frage: Wie wird ein Ort festgestellt? Ein Ort wird faßbar aus dem Verhältnis zum Raum; er ist eine Stelle im Raum. Also müssen Ort und Raum ins Verhältnis gesetzt werden, und zwar im Vollzug eines Gleichsetzens und Gegeneinanderhaltens. Als /taww-Stelle ist der Ort mit dem Raum gleichzusetzen; der Ort ist ja räumlich. Als diese Raum-Stelle dagegen ist der Ort abzusondern; er ist nicht Raum überhaupt. Folglich muß beides so ins Verhältnis gesetzt werden, daß die Differenz bleibt. Das glückt, wenn das eine Bild (=Ort als Stelle) innerhalb eines umfassenden Bildes (=Raum) dadurch zustande kommt, daß beide in einer beweglichen Wechselbeziehung gehalten werden. Das Bild einer Stelle allein ergibt nicht die Vorstellung eines Ortes als /faum-Stelle, und das Bild des umfassenden Raumes ergibt nicht den Ort als Stelle im Raum. Was das Bild eines Ortes allererst hervorbringt, ist der Vollzug eines Vergleichens und Ins-Verhältnis-Setzens von a und b. Das Beispiel steht für die Sache. Denken ist Leben im Akt eines Erfassens, welches ein Verhältnis faßt. Was das Denken bildet, ist das Bild eines Verhältnisses. Die Relate dieser Relation sind der Einzelanblick von diesem Etwas jetzt und hier, das angeschaute Bild dieses Baumes, und die Vorstellung von Etwas-überhaupt. Mithin ist Denken: Etwas als Etwas-überhaupt erfassen. Diese Bestimmung ist vorläufig genug. Sie ist schärfer zu analysieren. Zuvor aber kann der Ertrag dieses Resultats ausgebreitet werden. „Dieses Denken, u. Begreifen, komme nun schlechthin in aller Vorstellung, (Bild mit Bewußtseyn), ohne Ausnahme vor" (TL,21). Das ist eine Behauptung transzendentaler Logik. Die überlieferte Logik versteht das Denken als eine besondere Art des Wissens und grenzt sie psychologisch von anderen Vermögen menschlichen Vorstellens, dem sinnlichen Wahrnehmen, Erinnern, Streben, Wollen, ab. Nach transzendentaler Logik aber kommt das Denken in aller Vorstellung vor. Schlechthin dadurch, daß es ist, ist Wissen ein Denken. Das leuchtet faktisch ein. Die Vorstellung einer sinnlichen Anschauung z.B, bei welcher das Wis-

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sen auf das Sinnenfeld konzentriert bliebe, ist eine künstliche Abstraktion. Im Hinsehen nehme ich nicht „grün" wahr, ich sehe „Etwas Grünes", und dieses Etwas ist nicht ein farbiges oder tastbares Einzelnes, sondern der allgemeinste Gedanke. Freilich nützt der Hinweis auf das Faktum wenig. Es muß sichtbar werden, wie solches Faktum entsteht, d.h. nach welchem Gesetz des Sehens es zustande kommt. Und dafür ist das Denken als Erfassen eines Verhältnisses von a = dem Einzel-Etwas und b = dem Etwas-überhaupt einzusetzen. „Denn man seze: die Vorstellung sey nur die eines Etwas, eines abgesonderten, u. einzelnen: so ist sie dies doch nur im Gegensatze mit allen übrigen, aus ihnen ausgesondert, mithin im Fluge dieses Aussonderns, u. durch den Flug ist sie" (TL,21). Die faktische Vorstellung eines einzelnen Etwas, von Diesem-jetzt-hier, entsteht, indem „dieses-Etwas" - wie die Stelle im Raum - ins Verhältnis zu Etwas-überhaupt gesetzt, diesem gleichgesetzt und aus ihm ausgesondert wird. Durch solches Aussondern wird das Einzel-Etwas von allem ausgegrenzt, was es nicht ist, Baum-überhaupt und nicht Eiche, Kiefer oder Ahorn. (Das geschieht ,4m Fluge", d.i. im schwebenden Auseinanderhalten der in-eins-bildenden Einbildungskraft.) Für das Denk-Bild ist entscheidend: a=dieses Etwas kann nicht vorgestellt werden, es sei denn, es ist in das Bild b=die Etwasheit aufgenommen. Und das Bild dieses Verhältnisses ist der Begriff von Etwas. Nun aber sollte einleuchten: Was in jeder Vorstellung, sei sie Baum oder Ofen, Kreis oder Dreieck, Rind, Mensch oder Gott, vorkommt, ist das Bewußtsein, daß das Vorgestellte ein Etwas sei und nicht Nichts. Ist ferner die Vorstellung des Etwasseins Sache des Denkens und dessen Produkt, dann ist förmlich erschlossen, was bisher nur behauptet war, das Denken komme in aller Vorstellung vor. „Der Beweiß der transzendentalen Logik ist darum strenge geführt" (TL,21). In allem Wissen stellen wir etwas als seiend vor. Wissen ist immer Wissen von etwas. Das Etwassein wird artikuliert im Denken. Also gibt es ohne Denken kein Wissen. Von diesem Resultat her verfolgt der 3. Vortrag nun den Vergleich zwischen einer formalen und transzendentalen Logik, mit der Absicht, die gewöhnliche Logik der Blindheit zu überfuhren (TL,21-26). Formale Logik bleibe beim Sein stehen, ohne über das Sein und Etwas zur Genesis und zur Konstruktion im Begriff weiterzugehen. Das braucht hier nicht im einzelnen verfolgt zu werden. Es ist lediglich grundsätzlich zu betrachten, um das gewonnene Resultat noch einmal zu beleuchten. Alle Logik des Verstandes nimmt das Denken, wie gesagt, als Ver-

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mögen der Begriffe an und begreift die Begriffe als Vorstellung von Etwas in seiner vielgültigen Allgemeinheit. Bei deren Bildung verfährt das Denken so, daß es „Merkmale" ins Allgemeine wendet, das Merkmal des stammhaften Wuchses z.B. als Spezifikum von Baum-überhaupt. Aber in dieser Abstraktionstheorie vergißt die Verstandeslogik über dem Denken das Werden des Denkens. „Denn alle Merkmale sind Bestimmungen des vorliegenden Etwas durch sein Verhältniß zu einer höhern Sphäre" (TL,22). Mithin bleibt formallogisch abgeblendet, was die transzendentale Logik in ihrem ersten Schritte beispielhaft klarmacht, nämlich die Genesis des Gedankens von Etwas. „ Nur durch Gegensatz mit dem, was nicht zu diesem Etwas gehört, u. Aussonderung. - Dies nun unmittelbar so wichtig, daß es die ganze Ansicht des Denkenden, u. überhaupt des Bewußtseyns ändert, und die ganz neue Welt der transzendentalen Philosophie erzeugt in uns, wie sich immer mehr zeigen wird" (TL,23). Bis hier ist die ursprüngliche Vorstellung am Bewußtwerden von Etwas genetisch verstehbar geworden. Ein Begriff entsteht durch ein Ins -Verhältnis-Setzen von Bildern (a-b). Soweit ist sichergestellt: Dinge gibt es gar nicht außer dem Wissen. Genauer gefaßt: Das Etwas ist Produkt des Denkens; „ Form des Denkens" (TL,27). Das fertigt die Ansicht ab, das Ding mit seinen Bestimmungen liege für eine abstrahierende Reflexion allgemeiner Merkmale fertig vor. In Wahrheit ist nicht das Ding, sondern die Vorstellung da, und Vorstellung ist als bloßes Bild verstandenes Bild. Mithin stößt eine tiefergehende Untersuchung auf die Frage, wie das Bewußtsein von Etwas im Durchgang durch ein Verständnis des Bildes als eines solchen entstehe. Wie also entsteht dieses Verstehen? Und im Vorblick auf die Dialektik des Urbegriffs gefragt: Ist hier etwa das dialektische Durch in seinem Element? Das ist das Thema des 4. Vertrages. Die Analyse hält sich an das Bild a, sofern es als Bild gedacht ist. Fest steht: Wird das Bild als Bild genommen, d.i. gedacht, dann kommt die Unabtrennlichkeit von Sein und Bild zum Bewußtsein. Das drängt sich auf, sofern das eine allein durch Negation des anderen feststellbar wird. Das Bild eines Menschen ist eben nicht der lebendige Mensch selber, andererseits aber auch nichts anderes als dieser Mensch. Ontologisch gesagt: Bild ist nicht Sein, das durch uns Vorgestellte ist nicht Ding an sich; das Sein der Vorstellung ist Bildsein und so nicht die Sache an ihr selbst. Also ist Etwas als Bild verstanden, wenn diese Differenz begriffen wird, nämlich daß es bloßes Bild und nicht Sein an sich

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ist. Ist das Sein der Vorstellung Bild, dann ist ein Etwas als solches begriffen, wenn mitverstanden ist, daß es nicht Sein ist. Genauer und auf dem Stande der Untersuchung nachgefragt: Wenn eine Vorstellung von Etwas (Ofen, Baum) im Sinne des Bildes=a unter die Vorstellung von Bild-überhaupt=b qua Nichtsein subsumiert wird, was geht da vor? Das fragliche Verstehen kann sich unmöglich am Sachgehalt der Vorstellung orientieren. Dem Inhalte nach ändert sich bei beiden Bildern, um deren Verhältnis es geht, gar nichts. Der bestimmte Einzelanblick sei dieser Ofen, dieser Baum. Er wird denkend in das Verhältnis b=Etwas als Bild aufgenommen. Der Gedanke nun, daß dieses Ding da kein Ding an sich, sondern Bild und Erscheinung ist, fügt dem sachhaltigen Merkmal eines Baumes nichts hinzu und nimmt keinen Sachgehalt weg. Bild-Sein ist kein reales Prädikat. Indessen ist das Bild b auch keine bloße Reduplikation von a, sondern etwas anderes. Aber zu welchem Vorstellungsmodus leitet dieser Gedanke, der real und sachhaltig nichts am hingeschauten Etwas verändert? Der Bescheid kann nur lauten: Im Bilde b wird nicht ein neuer Inhalt, sondern der wesentliche Sinn, die Bedeutung seines Wesens und Seins, ausgesprochen. Vom Einzelanblick wird verstanden, daß er nicht das wesentliche An-sich-Sein, sondern ein abgesondertes Bild ist. Und dieser Seinssinn kommt zustande im Begreifen des Unterschiedes zwischen Sein und Nichtsein, zwischen dem wesentlichen An-sich-selbst und dem bloßen Bilde qua Äußerung der Erscheinung. Und beide Glieder dieser ontologischen Differenz sind wechselseitig durch Negation des einen am anderen bestimmt; „denn beide sind nur neben einander u. durch einander zu erbliken" (TL,29). In welcher Region der Anschauung nun ist dieser Unterschied zu ersehen? Natürlich scheidet für das Erblicken des Bildes b die sinnliche Anschauung aus. Was die Sinne wahrnehmen, ist das Einzelne in seinen Empfindungsgehalten, nicht ein allgemeiner Sinn von Sein. Fällt die sinnliche Wahrnehmung aus, ist dabei andererseits ein Verstehen von Sein unmittelbar, d.h. anschaulich in jedem Vorstellen von Etwas bewußt, dann muß eine nicht-sinnliche Anschauung eingerechnet und eigens zum Vollzug gebracht werden, die intellektuelle Anschauung. Das Sehen und Denken „ zu der absolut erkennenden (intellektuellen) Anschauung, oder absoluten Bewußtseyn eines Seyns überhaupt, und schlechtweg, mit dem Unterschied vom Bilde" (TL,30). Hier ist das große Schlüsselwort der intellektuellen Anschauung nicht in seiner ganzen Tragweite, sondern lediglich im Zusammenhange mit

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dem dialektischen Durch zu erörtern. Dabei wird es bezeichnenderweise nicht für die Konstitution der unmittelbaren Einheit des Ich in Identifizierung von Sein (Handeln, schlechthinniges Setzen in Freiheit) mit dem Bewußtsein des Handelns im Stande des Fürsich eingesetzt, sondern für die Konstitution des Unterschiedes von Sein und Bild. Was unmittelbar intellektuell bewußt ist, ist das Handeln der Intelligenz im Vollzug des Unterscheidens von Sein und Bild in der Gestalt dialektischen Durchnehmens. Auf dem Bewußtseinsstand intellektueller Anschauung versteht sich der Verstand auf den Sinn von Sein, so zwar, daß das Verstehen sich weder im Sein noch im Bilde festmacht, sondern Sein begreift durch Negation des Bildes und Bild durch Negation des Seins. Intellektuell unmittelbar evident ist so das Bewußtseinsleben denkenden Fortgehens von einem zum anderen, das sich einstellt, sofern etwas als Bild begriffen ist. „Dieses der erste Theil der Analyse des ersten Bestandteils der ursprünglichen " (TL,30). Als erster Bestandteil einer Vorstellung von Etwas hatte sich das Denken in seiner zweifachen Funktion herausgestellt, als Ins-Verhältnis-Setzen von a und b und als Durch-Nehmen von Sein und Bild. Der zweite Teil der Analyse dreht sich um die Unzertrennlichkeit von a=Anschauung und b=Begriff (5. Vortrag). In diesem Abschnitt geschieht das Entscheidende, nämlich der Versuch, das Denken als Ich-denke genetisch nachzuweisen, die transzendentale Apperzeption in „absoluter Anschauung" entstehen zu lassen. Das liegt hier noch außerhalb unserer thematischen Absicht, die sich darauf beschränkt, Wesen und Grenzen des dialektischen Durch als Denkform des Begriffs auszumessen.88 Dafür können wir, im 2. Teil des 4. Vertrags, „einen Augenblik stehen bleiben, u. fest niederlegen, was 88

Wie sich die Dialektik gar im Durchgang von absolutem Wissen und Absolutem entwickelt, das bildet den Schwerpunkt in der Untersuchung von Hans Radermacher, Fichte und das Problem der Dialektik, in: Studium Generale 21 (1968)474502. Hier wird das Dialektische im Anschluß an die Unterscheidung von Emil Lask zwischen einer analogischen und emanatistischen Logik aufgenommen, vorzüglich in Orientierung an der WL 1801: Das Grundproblem in dieser Fassung der Wissenschaftslehre sei der Hiat zwischen absolutem Wissen und Absolutem, der zugleich eine Entwicklung des Absoluten aus dem absoluten Wissen eröffnen solle. Dabei stelle sich die Dialektik in die sich wissende Einheit und Differenz zwischen Sein und Wissen - im Wissen um das eigene Ende in der Kon tin gen z der Freiheit (daß es auch nicht sein könne) und im Wissen um die Unverfügbarkeit des Seins qua Licht und Grund.

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gesehen worden ist" (TL,30). Im geschärften Blick für das Werden des Denkens läßt sich ein Fundierungsverhältnis von vier Grundbestimmungen feststellen: 1. der Urbegriff, 2. das Bewußtsein davon, die intellektuelle Anschauung, 3. die so angeschaute Denkform des Unterschieds von Sein und Bild, 4. das Durch, die Grundlage der inneren Lebendigkeit. Alle vier Aufbauelemente sind noch einmal in Betracht zu ziehen. 1. „Das Bild b vom Bilde a, wodurch dasselbe als Bild, nicht als das Seyn selbst, schlechthin gebildet ist=der Urbegriff' (TL,30). Urbegriff nennt den höchsten und ersten Begriff. Aber das betrifft nicht etwa den Begriffsumfang, sei es formallogisch das unbestimmte Allgemeine, sei es spekulativ-logisch das wesenhaft Konkrete. Der Urbegriff ist die Begriffsform, die allen Begriffen, den empirischen wie reinen, den besonderen wie den höchsten Allgemeinbegriffen, zuvorliegt. Was alles Begreifbare als solches bildet, ist das vorgängige Sichverstehen des Bewußtseins auf den Unterschied von Sein und Bild. Der Urbegriff setzt jedwedes Bild in sein Bildwesen. Damit hat sich das Denken als Element des absoluten Wissens legitimiert. Ohne den Urbegriff kommt es zu gar keinem Wissen von Etwas; denn er läßt verstehen, wie Etwasüberhaupt seiend ist. 2. Nun vollbringt der Urbegriff nicht nur die Unterscheidung von Sein und Nichtsein des Bildes in Anwendung auf die Ding-Vorstellung, er ist sich dieses Handelns der Intelligenz auch unmittelbar bewußt. Für die Selbstanschauung der Intelligenz qua Handeln hat Fichte den Namen intellektuelle Anschauung reklamiert. „Diesem Begriffe liegt nun zu Grunde... eine absolute erkennende Anschauung des Seyns selbst u. seines Bildes" (TL,30-31). Diese Anschauung nimmt also nicht - wie die sinnliche Wahrnehmung - Beschaffenheiten des Bildes a wahr, etwa das Grün eines Baumes, sie ist der Sinn für das Unterscheiden von Bild und Sein im Handeln des Urbegriffs. 3. Was so absolut erkannt ist, ist die Differenz von Sein und Bild, ohne die nichts als Bild erkennbar wäre. Das intellektuell angeschaute Unterscheiden ist der bewußte Vollzug des Denkens in der Gestalt der absoluten Denkform. „Denkform ist der Unterschied zwischen Seyn und Bild. - Das Bewußtseyn derselben eine absolut verstehende, intellektuelle Anschauung, Evidenz, Klarheit" (TL,31). Nochmals gesagt: Was im Fürsichsein des Denkens ursprünglich evident wird, ist der Urbegriff in seiner absoluten Form, d.h. die Form des In-Beziehung-Setzens von a und b im Lichte der Unterscheidung von Sein und Bild.

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4. Was in diesem Kontext letztlich zur Klarheit kommt, ist das Sehen als Leben in seinem Durch-Gange. Das ist die absolute Grundlage der ursprünglichen Vorstellung: „ein innerlich lebendiges Bilden, ein Durch jedes der beiden durch das andere" (TL,33). Hier kommt das dialektische Durch als das erste Element der Vorstellung von Etwas zur Sprache. Prägend ist dabei die Denkform, das Erfassen des einen durch Negation des anderen in den dialektischen Ursprungsverhältnissen von Selbigkeit und Andersheit, Sein und Nichtsein. Natürlich kommt auch hier die volle Koinonie der obersten Denkbestimmungen zur Anschauung. Zur Dialektik des Urbegriffs gehören nämlich unabtrennlich Bewegung ( ) und Stehen ( ). Das Durch ist ein Durch-Nehmen als Fortgehen und ununterbrochenes „Fließen" von Einem zum Anderen, freilich nicht als endloses Fortlaufen und unvollendetes Fließen. Der Verstand bringt ja einen Sinn von Sein im Hinsehen von Etwas zustande. Das kommt im Grundwort Durch zur Sprache: das Fließende und das Stehende (Abgeschlossene, Unveränderliche) zumal. Daher redet Fichte vom „vollendeten Durch". „Der Verstand aber ist eben ein vollendetes Durch, eine vollendete Wechselseitigkeit der Einsicht" (TL, 33). Mithin stellt sich das sich verstehende Verstehen des Verstandes dar als Wechselseitigkeit von Leben und Sein (festem Bestehen), als dialektische Einheit eines Durchsehens, welches das veränderliche Fließen mit dem unveränderlichen Stehen in der intellektuell evidenten, ständigen Form des Durch vereinigt. Die so weit verfolgte transzendentale Analytik macht nur einen ersten methodischen Schritt. Sie geht vom Sein der Dinge zurück zum Verstehen des Sinnes von Sein. Für eine Einleitung in das Philosophieren aber ist viel erreicht; denn der erste Schritt ist mehr als die Hälfte. Wird diese „erste ordentliche Ansicht" vom Denken wirklich vollzogen, dann versinkt die dogmatische Ansicht der Welt. Das Sein qua Ansichsein der Dinge verschwindet als Prinzip und Wahrheitsgrund für das Denken der Dinge. Denn wie in aller Welt ließe sich die innere durchgängige Lebendigkeit, das intellektuelle Fürsichsein, das sich wissende „Mittelschweben" zwischen Sein und Bild aus dem Vorhandensein mechanisch-kausalen Einwirkens an sich selbst bestehender Dinge erklären? „Also die Welt der Dinge versunken" (TL,33).

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7.3 Ausfaltung der Fünffachheit im Durchnehmen von Sein und Bild (WL 1804-11, 4., 10. Vortrag) „Das innere durchaus unveränderliche Wesen des Begriffs ist schon aus einer frühern Untersuchung bekannt als ein Durch" (10. Vortr., G A 11,8,154). Das Durch hat sich bewährt als die beständige und unveränderliche Denkform eines Wissens, das sich im Sehen des Seins als die einigende Einheit von Bewußtsein und Sein begreift, und zwar in wechselseitiger Beschränkung des einen durch das andere: „dieses Durch, was nach dem Vorhergehenden doch die Hauptsache abgiebt in unserer ganzen Untersuchung" (11. Vortr., G A 11,8,160). Die Hauptsache der ganzen Untersuchung einer Wahrheits- und Erscheinungslehre in der reifen Fassung der Wissenschaftslehre 1804 ist, alles Mannigfaltige in seinen Hauptdisjunktionen auf einen Punkt zurückzuführen, der sowohl Durchgang zur absoluten Einheit wie zur Spaltung der Erscheinungen ist. Dabei bildet das Wesen des Begriffs den Durchkreuzungspunkt im Aufstieg wie im Abstieg des absoluten Wissens. Im Aufstieg leuchtet am Wesen des lebendigen Durch ein, wie der Begriff sich vernichten muß, um das Unbegreifliche als solches zu begreifen.89 Das Äußerste, was der sondernde Begriff in der absolut ungesonderten Einheit (des sich selbst effizierenden Lichts, des in sich geschlossenen Seins) vermag, ist, es als Unbegreifliches aufzufassen und das Unsägliche zu sagen. Zugleich aber wird evident, daß der Begriff in seiner unveränderlichen Lebensform, dem Durch, alles vermag, nämlich im Hinblick auf das erscheinende Absolute und dessen Aufgespaltenheit in Denken und Sein wie in Sinnenwelt und Überwirklichkeit der Ideen. Begriff wie Urbegriff versagen am ungesonderten Einen und bewähren sich als Prinzip der Erscheinungen des Einen dank ihres unveränderlichen Wesens. Das lebendige Durch hat die Form dialektischer Sonderung. Darum taugt es 89

Darauf stößt von seinem Ausgange her Klaus Hammacher, Problemgeschichtliche und systematische Analyse von Fichtes Dialektik (a.a.O.). Er stellt die von Jacobi aufgerissene Disjunktion von Wissen und Freiheit, von Anschauung, Begriff und Licht in den Mittelpunkt der späteren Dialektik Fichtes und zeigt auf das Lösungswort von der Selbstentmächtigung. Eine dialektische „Aufhebung" könne weder der Begriff leisten, der notwendig in Gegensätzen denkt, noch ein Schweben der produktiven Einbildungskraft, das sich selbst nicht trägt. Die Aufhebung der Gegensätze verlangen den ethischen, ganz unmystischen Akt einer Vernichtung des Begriffs. Er allein hebt die übersteigernde Selbstmacht des Wissens auf.

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zum Prinzip der Disjunktion beim Abstieg, in der Äußerung des Absoluten. Und darum eignet es sich zu kritischer Selbstbegrenzung, in welcher das unterscheidende Durch am Ununterschiedenen verssagt, das lebendige Durch aber von sich auf die Quelle des Lebens und Lichtes über sich hinaus weist. Die Erörterung konzentriert sich sonach auf das Durch als Wesen des Begriffs in einer zweifachen Zusammenfassung (vorzüglich im 4.-10. Vortrag der wahrhaft lichtvollen zweiten Vortragsreihe der Wissenschaftslehre 1804 in Berlin): 1. auf das Durch als unveränderliche Wesenform des Begriffs überhaupt, 2. als Gefüge der dialektischen Triplizität bzw. Quincuplizität. Dabei ist deutlich: Das Durch muß im Aufstieg als Prinzip des Lebens abgesetzt werden, um im Abstieg als Prinzip der Erscheinung im Schema der Fünffachheit wieder eingesetzt werden zu können. Zunächst gilt es, den Wesenszusammenhang von Begriff und Durch und damit die Wurzel des Dialektischen im Bewußtsein wiederholend zu sichern.90 Eine Kurzformel lautet: „B=Durch, worin Disjunktion liegt" (11. Vortr., GA 11,8,160). In dieser Kurzformel fungiert B für Begriff überhaupt. Dessen unwandelbare Form ist das Durch. Und das Durch impliziert Disjunktion; zum Begreifen des einen durch Negation des anderen gehört der Akt des Spaltens, der das eine als das Negative vom anderen absondert und deren Unterschied offenhält. Das Sehen im Stande =B hat mithin den vordringlichen Anblick eines sondernden Konstruierens. „Princip der Sonderung=Princip der Construktion, also des Begriffes" (5. Vortr., GA 11,8,78). Der Vollzug des Begreifens ist Sonderung und Zusammennähme zumal aufgrund desselben Prinzips, des Durch. Das bewährt sich nicht nur im Blick auf die Platonische Dihairesis und Synagoge jedweden Artbegriffs wie Baum oder Vogel, das zeigt sich grundsätzlich auch am Begriff des Selbstbewußtseins. Das Ich denkt sich selbst eben dadurch, daß es sich von allem anderen unter90

Einen Hinweis auf den ursprünglichen Zusammenhang von Dia-Lektik und DurchForm des sich begreifenden Begriffs gibt Joachim Widmann, Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens. Hamburg 1977, 72-77. Insofern das Dialektische zur genetischen Struktur des Bewußtseins gehöre, habe Fichtes Analyse des Durch in der W.L. 21804 die transzendentale Wurzel des Phänomens freigelegt. Dabei werde das Durch im dia-legomai auf seine Grundstruktur reduziert und dadurch die allgemeine Bewußtseinsform der Dialektik erhellt.

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scheidet, was es nicht ist, d.h. in Absonderung vom Nicht-Ich. Und anders denn durch Absonderung vom Gegenteil, dem Ich, kommt auch der Begriff eines Nicht-Ich nicht zustande. Beides gelangt nur im unterscheidenden Entgegensetzen in der Form wechselseitigen Durcheinanders zum Begriff. Höher und ontologisch fundamentaler steht der Urbegriff. Er ließe sich formelhaft anzeigen als B=Durch, worin Disjunktion von Bild und Abgebildetem liegt. Nun ist der \Jv-Begriff ein Begriff und hat darum unabtrennlich die Form des Durch an sich. Als /r-Begriff aber ist er ontologisch urstiftend; er nimmt konstruierend-sondernd den Sinn von Sein (Abgebildetes) und Bild durch: „die Construktion des Bildes und Abgebildeten, und die Indifferenz der Consequenz zwischen beiden" (10. Vortr.,GA 11,8,154). Das hat Fichte in den späten Einleitungen immer wieder herausgehoben. Das Begreifen des Urbegriffs umgrenzt nicht Etwas abgrenzend in seinem Sachgehalt, es eröffnet den Sinn für die Seinsverfassung von Etwas überhaupt. Der Urbegriff rückt so ins Ansehen eines ersten Prinzips und ersten Ursprungs. Er läßt in eins die Differenz von Bild und Abgebildeten und die Indifferenz ihrer Wechselfolge entspringen; „dadurch wird in ihm schlechthin gesetzt, was nur durch einander und organisch construirbar ist, Bild und Abgebildetes" (7. Vortr., Copia, GA 11,8,105). Das Sehen des Urbegriffs konstruiert Bild als Nichtsein des Abgebildeten und das Abgebildete als Nichtsein von Bild in der Freiheit des „Durcheinander". Anders, leibnizhafter gesagt: Sein erscheint im Urverhältnis von Repräsentierendem und Repräsentiertem. Hervor tritt die organische Fügung des Bildverhältnisses. „Es ist klar, daß ein Repräsentant, ohne die Repräsentation des darin Repräsentirten, ein Bild, ohne Abbildung des Abgebildeten, Nichts ist: kurz, daß ein Bild, als solches, schon seiner Natur nach, keine Selbstständigkeit in sich hat, sondern auf ein Ursprüngliches ausser ihm hinweist" (7. Vortr.; GA 11,8,100). Das Sein des Bildes als eines solchen läßt sich nur in der Zusammenfügung und Konstruktion erfassen, welche in eins eine Disjunktion vollzieht. Das hat in der beginnenden Neuzeit durch den Leibnizschen Begriff der Vorstellung als repräsentatio Schule gemacht. Re-präsentatio (mundi) nennt die Ruck-Stellung des Präsenten und Erscheinenden auf das Vorgestelltsein und weist auf die Vergegenwärtigung der Monade als eines miroir vivant, der das Viele (die Welt) in der Einheit des willenhaft perzipierenden Bewußtseins repräsentiert. Dabei ist zu lernen: Indem Bildsein nur durch das Nichtsein des Abgebildeten

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und das Abgebildete nur als Nichtsein des Bildes im Bild- und Repräsentationsverhältnis unserer Vorstellung begreifbar erscheinen, spaltet sich nicht eigentlich das Sein und Eine an ihm selbst, sondern unser Verstehen und Sagen von dem, was ist. Und der Urbegriff sondert das Verstehen von Sein in eine dialektische Triplizität bzw. Quincuplizität. Die Erörterung des Urbegriffs legt eine „Fünffachheit" als fünffache Artikulation des Grundverhältnisses von Bild und Abgebildetem frei. Es schadet sicher nicht, an dieser klassischen Stelle vorsorglich eine mehrfache Bedeutung bzw. verschiedenartige funktionale Akzentuierung des Fünferschemas voneinander abzuheben: die formale, methodologische und materiale Fünffachheit menschlicher Vernunftbezüge. (Die Probleme einer historischen, geschichtsgründenden Fünffachheit bleiben hier ausgespart.)91 Die formale Quincuplizität legt das absolute Wissen in der Vereinigung einer Doppelspaltung frei, nämlich der gleichzeitigen Disjunktion in Sein (Ob91

Ausführlich hat Günter Meckenstock, Das Schema der Fünffachheit in J.G. Fichtes Schriften der Jahre 1804-1806, 31-83 die Fünffachheit als Gliederungsschema der Menschheitsgeschichte erörtert und problematisiert. Danach streitet das fünfgliedrige Verlaufsschema als Totalitätsschema der Menschheitsgeschichte in Fichtes Großentwurf selber mit einer Geschichtsgliederung, welche vom Prinzip des Christentums aus die Weltalter in eine alte und neue Zeit aufteilt. Überhaupt muß fraglich bleiben, ob ein Bewußtseinsschema simultaner möglicher Weltauslegungen mit einem Verlaufsschema empirisch wirklicher geschichtlicher Abfolgen kompatibel ist, das zum Konstitutionspunkt das epochale Gegenwartsbewußtsein einer durch das Johanneische Christentum neu erleuchteten Philosophie hat. Aufschlußreich können dagegen Analysen sein, welche eine Geschichtsepoche, etwa die dritte, in ihren Auffassungen und Durchgestaltungen von Natur, Staat, Sittlichkeit, Religion und Wissenschaft nach dem fünfgliedrigen Bewußtseinsschema als materialem Konstruktionsprinzip des Wissens überhaupt charakterisieren. „Es kehrt auch an der Geschichte die Form der Fünffachheit wieder, die die W.L. an jedem Wissensakte schauen lehrt"; Emanuel Hirsch, Christentum und Geschichte in Fichtes Philosophie. Tübingen 1920. Das ist an den Berliner Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten abgelesen. Die fünf Glieder der Zeitalterkonstruktion wären danach: 1. eine unmittelbare Anschauung (Begeisterung-Vernunftinstinkt), 2. Einsicht des Begriffs (Vernunftwissenschaft), 3. das Geschichtsobjekt (Seher, Gelehrte), 4. Geschichtsobjekt (Volk) und 5. die gleichsetzende Aufeinanderbeziehung aller vier Glieder von Anschauung und Begriff, Subjektivem und Objektivem im Geschichtsblick der Wissenschaftslehre (Vernunftkunst). Ob sich dieser Ansatz mit den fünf Entwicklungsphasen der „Grundzüge" oder der Staatslehre 1813 in Deckung bringen läßt, muß gerade im Blick auf die 3. Verfallsepoche fraglich werden.

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jekt) und Denken (Subjekt) wie in Wirklichkeit (Sinnenwelt) und Überwirklichkeit (Ideen-, Freiheitswelt). Das fünfte Glied dieser vier Aufbaumomente allen Wissens (S-D + x-z) ist eine ursprünglich trennende und vereinigende intellektuelle Selbstanschauung. Dieses Schema der Wissensform läßt sich nun methodologisch für eine vollständige und scientifische Darstellung der Philosophie auf der Höhe der Wissenschaftslehre gebrauchen. Danach baut sich eine Wissenschaft vom Wissen dessen, was in Wahrheit und Gewißheit real ist, in fünf Schritten zu erreichbaren Wissenspositionen vollständig auf. Die methodologische Fünffachheit bietet sich als das Vollständigkeit beanspruchende, strukturale Konstruktionsprinzip einer prima philosophia an, die sich als oberste Methodenregel auferlegt hat, nichts als klares und deutliches Wissen zu dulden, was nicht genetisch eingesehen wird, und zwar durch Aufweis desjenigen Gesetzes, das angibt, wie uns der faktische Wissensstand entstanden ist. Es ist bekanntlich die Fassung der Wissenschaftslehre 1804-II, welche beansprucht, die organische Einheit von Bewußtsein (Begriff) und Sein (unbegreifliches Licht) aus den Mittelgliedern des Durch, Soll und Von am Leitfaden einer je fünffach reflektierbaren Fünffachheit durchdrungen zu haben. (Mit Hilfe dieses Hauptschlüssels haben die subtilen Analysen von Martial Gueroult, Joachim Widmann und Günter Meckenstock Konstruktionsprinzip und Methodengang der zweiten Vorlesungsreihe aus dem Jahre 1804 - bei aller Kontroverse doch im methodischen Ansatz einig - entschlüsselt.) Das daraus resultierende materiale Schema der Fünffachheit schließlich strukturiert gleichsam den materialen Überbau dieser Grundlage. Es fächert die fünf möglichen Vernunftstandpunkte einer empirischen, rechtsgläubigen, moralischen, religiösen und philosophischen Seins-, Daseins- und Weltdeutung auf und eröffnet so ein abgestuftes System der Natur-, Rechts-, Sitten- und Religionslehre auf der Grundlage einer vollendeten Vernunftkunst. (Solcher Ausblick auf eine materiale Fünffachheit der Wissenschaftslehre findet sich am Ende der ersten Vortragsreihe aus dem Jahre 1804 wie im letzten Vortrag der zweiten Reihe.) Im Zusammenhang mit der Dialektik des lebendigen Durch nun und im Blick auf den Urbegriff geht es lediglich um eine Teilanalyse der formalen Fünffachheit in der Korrelation von Sein und Bild. Aber natürlich zeichnet sich gleichsam im Hintergrund die Dreifachheit bzw.

Ausfaltung der Fünffachheit

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Fünffachheit eines Seinsverständnisses ab, welches methodologisch wie materialiter die uns möglichen Vernunftansichten enthält.92 Das resultiert aus der Form des Durch, in welcher der Urbegriff die Einheit von Bild und Abgebildeten konstituiert. „Soll sie nun realiter construirt werden, so muß sie eben construirt werden als schwebend von a zu b, und wiederum von b zu a, und erschöpfend durchaus beides, also schwebend wiederum zwischen dem zwiefachen (Copia: beiderlei) Schweben. Was das Erste wäre und eine Drei- oder Fünffachheit der Synthesis giebt" (4. Vortr.; GA 11,8,64). Unüberhörbar kommt als Element dieser Urkonstruktion eine Bewegung zur Sprache, das Schweben, welches dem Vermögen der ursprünglich synthetisierenden Einbildungskraft eignet. Es ist nämlich klar, daß eine Konstruktion, welche unser Verstehen von Bild und Sein nachkonstruiert, nicht allein die Denkform des Begriffs in Anspruch nehmen kann. Freilich steht das Durch hier, wo es um die Heraussonderung von Möglichkeiten des Begreifens von dem, was ist, geht, im Vordergrund. Weil aber das Durchgehen von einem zum anderen ein bewegliches Vermitteln braucht, kündigt sich dasjenige Vermögen an, das seit der „Grundlage" von 1794 als ursprünglich synthetisierende Kraft herausgestellt war: das wunderbare Vermögen produktiver Einbildungskraft. Dessen methodischer Vorzug ist ein verbindendes, ortloses Hin- und Hergehen in der Art des Schwebens. Zur vollen Durchkonstruktion einer fünffachen Grundstellung in der Synthetisierung von Sein und Bild greifen mithin Urbegriff und ursprüngliche Einbildungskraft im Prozeß eines Durcheinander-Schwebens ineinander. Die erste Synthesis resultiert einfach aus dem Fortgehen des Verstehens von Bild zu Abgebildetem. Dieser Übergang liegt nahe, da der Nichtseincharakter des Bildes ja von sich auf Sein, ein an sich Bestehendes, dessen Bild es ist, verweist. So verknüpft sich mit der Vorstel92

Im Blick auf die Synthesis der Fünffachheit hat Joseph G. Naylor, Transzendentalism and the Philosophy of Dialectic, in: TaS, 364-75 die These vorgetragen, erst eine transzendentale Grundlegung erledige den Streit, ob Dialektik eine Gedankenbewegung oder der Entwicklungsprozeß der Wirklichkeit sei - etwa in der Auseinandersetzung des „wissenschaftlichen" Materialismus mit dem „bürgerlichen" Idealismus. Das Prinzip des Durch eröffne eine Dialektik, welche formal die Synthesis der Fünffachheit möglicher Beziehungsverhältnisse und konkreter Grundstellungen des Bewußtseins zur Welt erschließe. - Was hier mehr programmatisch vorgetragen ist, war in einer aufschlußreichen Entschlüsselung der Fichteschen „Phänomenologie" vorbereitet worden: Ders., Fichtes Founding of Dialectical Phenomenology, in: EdT, 247-58.

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lung von Etwas die Annahme eines Seins an sich. Hält nun das Verstehen von Sein bei diesem Übergehen zum Sein still, dann verfällt es dogmatisch einem „Naturglauben". Umgekehrt verläuft die zweite Synthesis. Ihr Durch-Gang geht nicht („verschwebend") von a (Bild) zu b (Sein an sich) fort, sondern von a (Sein an sich qua Nichtsein des Bildes) zu b (Vorgestelltheit) zurück. Das hebt die dogmatische Einstellung auf, und es setzt sich die Einsicht durch: Es gibt keine Dinge an sich; das abgebildete Nicht-Bild-Sein bleibt als an sich Bestehendes vorgestellt. Das Abgebildete (re-praesentatum) bleibt als Relat in die Bild- und Vorstellungsrelation einbezogen. Versteift sich nun aber das Seinsverständnis auf das Vorgestelltsein (esse=percipi) und erhebt das Bild zum Prinzip aller Realität, dann kommt es - auf dem Standpunkte eines abstrakten Perzeptionsidealismus und theoretischen Wissens - zum bloßen Wandel fortfließender Bilder ohne Anhalt an einem Unwandelbaren. Soweit leuchtet ein: Werden die erste und zweite Synthesis für sich und einander auschließend konstruiert, dann kommt es nicht zu einer durchgreifenden Synthesis. Vielmehr bleibt es bei Antithesen, welche die Antinomie im Begreifen von Sein nähren. Offensichtlich aber ist die Synthesis des Ur-Begriffs noch nicht erschöpft. Es muß zu einem Dritten kommen, das den latenten Widerspruch vereinigt. Das vermittelnde Dritte bildet eine Synthese von Synthesen. Es vereinigt ja die gegenläufigen (realistisch-pseudoidealistischen) Gegensätze, die je in sich a-b konstruieren. Auf diesem Stande des Begreifens leuchtet ein, daß kein Bild ohne Sein, aber auch umgekehrt kein Sein ohne Bild ist. Das Sehen sieht, daß das Bewußtseinsleben im Fortgehen von Bild zum Abgebildeten in sich den Rückgang vom Abgebildeten zum Bild vollzieht. Der Mittelpunkt des Bewußtseins im Verstehen von Sein im Ist-Sagen ist solch sondernd-zusammenhaltendes Schweben zwischen den Gegenrichtungen in der Synthesis von Bild (a) und Sein (b). Die triplizitäre Seinsetzung läßt sich als Fünffachheit explizieren. Schematisch geordnet geht ein Verstehen von Sein 1. von a (Bild und Vorstellung) zu b (Sein an sich), 2. umgekehrt von b (Sein an sich) zu a (Sehen des Seins), 3. hin und her schwebend zwischen a-b und b-a, 4. entschieden von a-b (Sehend-Sem) zu b-a (Sehend-Sein), vermittelnd Bild und Sein vom urrealen, sich selbst konstruierenden Sein aus, 5. entschieden von b-a zu a-b, vermittelnd Bild und Sein vom Begreifen des Ansichseins als Nichtfürunssein aus.

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Die Fichtesche alternative Formel Dreifachheit oder Fünffachheit zeigt an, daß keine neue Synthesis gewonnen, sondern lediglich die dritte Synthesis durchkonstruiert wird. Offenkundig läßt sich ja die Synthesis der Synthesen - auf der dritten Stufe - von zwei Seiten her durchnehmen. Im ersten Falle wird die erste Synthesis als Anfang festgesetzt. Herrscht nun in der ersten Synthesis der Hang zum realen Sein vor, so ist die konstruierende Zusammennähme mit der zweiten Synthesis vom Geiste eines Höheren Realismus geprägt, der die idealistische Grundannahme in sich aufnimmt. Ein Höherer Realismus versteht durchaus, daß alles Sein nur im Bilde da ist, aber er erhebt ein urreales Sein an sich zum Prinzip, welches als sich selbst effizierendes Licht, sich selbst konstruierend, das Bewußtsein ergreift und überhaupt erst zum Vorstellen von Realem ermöglicht. Dieser Position steht eine andere antithetisch gegenüber. In ihr geht das Konstruieren vom Stande der zweiten Synthesis aus. Daher pocht das Seinsetzen auf den Bildcharakter des abgebildeten Seins und auf den Primat des Fürsichseins; folglich wird die dialektische Zusammenfügung mit der zweiten Synthesis vom Geiste eines höheren Idealismus durchherrscht. Hier wird zugestanden, daß ein urreales Leben und absolutes Sein, sich selbst konstruierend, von sich her einleuchtet, aber es bleibt der kritische Vorbehalt in kraft, daß über solch absolutes Sein gar nichts, es sei denn als Dasein in den Erscheinungsformen unserer Reflexion, gesagt werden kann. In der Wurzel des Urbegriffs und im Dazwischen-Schweben (der produktiven Einbildungskraft) sind beide Einigungsverfahren durcheinander vermittelt, so daß sich die Dreifachheit als Fünffachheit darstellt. Die volle Fünffachheit erst erschöpft die Einheit des Bewußtseins im Sehen und Verstehen von Sein. Am Ende schließen sich der Höhere Realismus und der Höhere Idealismus in einer Lehre vom Bilde des Absoluten zusammen. Der Geist des Realismus hat recht im Hinblick auf das unbegreifliche, in sich geschlossene Sein, der Idealismus im Hinblick auf alles Bild- und Erscheinungswesen des Absoluten außer sich. Dieses Schema der Durchkonstruktion von Bild und Abgebildetem bleibt gegenüber den drei Bedeutungen der Fünffachheit offen. Die eingezeichneten vier Positionen eines je niederen und höheren Idealismus bzw. Realismus und deren zugehörige Synthesis können methodisch wohl zur Darstellung der Wissenschaftslehre dienen. Die fünffache Spaltung und Einigung von je wirklichen und überwirklichen Denken und Sein schematisiert dagegen die Vernunftform, und die angedeuteten Abstufungen vom Naturglauben bis zum Standpunkt urrealen (göttli-

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chen) Lebens markieren eine materiale Quincuplizität vernunftrelevanter Seinsauslegungen. Der Aufstieg zur Wahrheit freilich läßt den Ansatz einer formalen und materialen Fünffachheit unentfaltet. Er dringt vielmehr darauf, zuerst das Dasein in der Form des Durch mit dem lebendigen, unbegreiflichen Sein zu synthetisieren.

7.4 Von der Selbstbegrenzung des Durch an der Unbegreiflichkeit des Lichts Das Durch wird in Einheit mit der schwebenden Einbildungskraft seine dialektische Sonderungskraft in der Erscheinungslehre bezeugen. Vor der Ausarbeitung der Spaltungsprinzipien des erscheinenden Seins aber ist es für eine transzendental-kritische Seinslehre nötig, die Grenze des Begriffs zu ziehen. Dabei ist das Grundgeschehen der Vernunft-Besinnung, die Selbstbegrenzung als Vernichtung des Begriffs, noch einmal zu akzentuieren. Nunmehr liegt der Akzent darauf, Macht und Ohnmacht der Dialektik abzuschätzen, und zwar in Erwägung des Durch und dessen Anspruch, die Synthesis absoluter Einheit vollständig durchzukonstruieren. Dafür ist auf die Aufgabenstellung der Philosophie in der Fassung von 1804 zurückzugehen. Philosphie heißt das Streben, alles Mannigfaltige in seinen Hauptdisjunktionen auf absolute Einheit zurückzuführen, und zwar unter dem Geleit des Regelverbotes, in der Weise einer Synthesis post factum zu verfahren, indem vorgefundenen Gegensätzen und Entzweiungen nachträglich ein Einheitsgrund angefügt wird. Vielmehr gilt es, das Gesetz zu ermitteln, wie uns die Entzweiungen des Einen und die Einigung des Entzweiten in eins und zumal entstehen. Der Weg dahin führt in die Frage hinein, ob wir uns die absolute Einheit auf dem Wege des Durch-Konstruierens begreifbar machen oder ob uns die Evidenz über den Einheits- und Disjunktionsgrund ergreift. Der Bescheid spricht ein Gesetz des Wissens aus: Die Evidenz ergreift uns, wenn sich der Begriff in seiner Macht sondernden Konstruierens setzt und am Unkonstruierbaren vernichtet. Dafür liefert der 3. Vortrag ein exemplarisches Vorspiel. Es geht in ihm um die Einigung der Hauptspaltungen im Vorstellen von Welt und um deren begriffliche Konstruktion. Kritische Besonnenheit kommt zur Einsicht: „A absolut in S und D und in x, y, z gespalten; durchaus in Einem Schlage. Eins nicht ohne das Andere ... ich construire daher ein

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durchaus nicht zu Construirendes" (WL 1804-11, 3. Vortr.; G A 11,8,36). Die Buchstaben-Zeichen können leicht innerlich veranschaulicht werden. A benennt die gesuchte Einheit. Sie heißt anfangs absolutes Wissen oder Licht und später - im transzendentalen Überstieg - sich selbst effizierendes Licht oder in sich geschlossenes Sein oder Gott. Jedenfalls steht A für das Prinzip absoluter Einheit als die eine Helle, das eine Licht und Leben in allem Wissen. Nun findet sich aber das eine Wissen tatsächlich immer schon in Vielheit aufgespalten vor. Als Hauptdisjunktionen treten dabei in allen Wendungen der Metaphysik zwei Grundunterscheidungen auf. S und D bezeichnen die Differenz von Sein und Denken, Bewußtsein und Gegenstand oder Selbst und Welt, und z kennzeichnen den Chorismos von Sinnenwelt und Ideenreich, von wandelbarer Wirklichkeit und unwandelbarer Überwirklichkeit - in Kants Kritik der Urteilskraft=y post factum synthetisiert. Nun sind unleugbar beide Spaltungen „mit einem Schlage" (tout d'un coup) da. Weder kommen sie nacheinander im Bewußtsein vor, noch erwirkt die eine Disjunktion die andere. Und sie stehen auch nicht unabhängig und getrennt voneinander da. Sie bilden vielmehr eine organische Einheit: Denken (D) ist Erfassen des wahrnehmbar-wandelbar Einzelnen (=x) durch InsVerhältnis-Setzen zur übersinnlichen Idee (z); Sein (S) bedeutet Wirklichkeit (x) durch Entgegensetzung zum Überwirklichen (z) und umgekehrt. Entscheidend für die Selbstbegrenzung ist nun die Einsicht: Der Begriff vermag die organische Einheit beider Divisionen in ihrer Genesis nicht adäquat auszudrücken; denn das „mit einem Schlage", das Plötzliche ( ) läßt sich nicht im Durchnehmen des einen durch das andere konstruieren. Es ist konstruiert mit dem Vorbehalt der Konstruktion eines Unkonstruierbaren. Hat der Begriff die feste Denkform des Durch unabtrennlich an sich, dann kann er nur wechselweise von einem Gliede zum anderen hindurchgehen. Er muß bei der Spaltung S-D anheben, um sie mit x-z zu verknüpfen, oder umgekehrt. Die Evidenz des „mit einem Schlage" aber entgeht dem konstruierenden Begriff in seinem Nacheinander. Unser verdeutlichendes Begreifen findet an der organischen Lebenseinheit der Wissensdisjunktionen eine Grenze. Solche Selbstbegrenzung deutet auf eine zentrale Selbstvernichtung vor. Die einzugestehende Inadäquatheit des Begriffs kommt zutage, wenn unser Begreifen versucht, eine höhere organische Einheit durchzusprechen. Dabei dreht es sich um die Verschmelzung des soeben bedachten „urplötzlichen" Spaltungsfundaments mit der unaufgespaltenen Einheit. Deren Durchdringung liegt höher als der Vereinigungspunkt

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der beiden Divisionsfundamente S-D + -z; denn das vereinigende Spaltungsprinzip wird jetzt als Glied der Vereinigung mit dem bruchlos Einen im absoluten Wissen (A) zum Problem. „Welches ist nun die absolute Einheit der W.-L. ? Nicht A und nicht der Punkt, sondern die innere organische Einheit beider" (WL 1804-II, 4.Vortr.; GA 11,8,56). Die hier angezeigte Grundstellung der Philosophie wird im Geiste kritischer Selbstbegrenzung niemals schwanken. Die Erste Philosophie qua Wissenschaftslehre kann nicht in A, der absoluten Einheit selber, stehen, sei das All-Eine die Einzigkeit der absoluten Substanz Spinozas oder die Indifferenz Schellings. In ungesonderter Ununterschiedenheit erlischt das Bewußtsein. Das Sehen vermag die Lichtquelle der Helle, in welcher es sieht, niemals zu durchdringen. Vor allem aber bleibt uneinsichtig, wie es aus dem Absoluten zu den Disjunktionen kommt, in denen das Bewußtsein Sein und Welt begreift. Diese Spaltungen gehören zur Denkform und Gesetzlichkeit des Wissens (dem Von, Durch, Als). Eine Selbstunterscheidung des Absoluten jenseits der Schemabildung menschlichen Wissens überfliegt für die transzendentale Grenzziehung die Schranken des sich bis an seine Grenze durchdringenden Ich. Andererseits kann sich die prima philosophia in ihrem Suchen nach Wahrheit und Einheit auch nicht einfach in den Punkt der Disjunktionen stellen. So wären ihr zwar die Sonderungen, nicht aber die urreale Einheit, ihr ewiges Licht und Leben evident. Kritisches Denken formuliert die absolute Vereinigung als „innere organische Einheit" von Einheit und Vielheit. „Die organische Einheit beider ist Construktion oder Begriff (4. Vortr.; GA 11,8,56). So scheint doch der Begriff das Konstruktionsprinzip absoluter Einheit zu sein. Indessen kommt gerade hier die grundsätzliche Selbstbegrenzung des Begriffs zum Zuge. Die Konstruktion der „höheren Einheit" konstruiert ein Unkonstruierbares; denn in deren organischer, innerer Einheit verschweben beide Glieder mit einem Schlage. Es gibt eben nicht zuerst eine ungesonderte Einheit des Einen, an die dann Disjunktionen anzuknüpfen wären. Und erst recht liegen nicht zuerst Zweiheit und Vielheit vor, für die dann etwas Gemeinsames zu finden wäre. Beides ist mit einem Schlage ineinander verschränkt. Das eine urreale Sein und Leben äußert sich als Helle eines Wissens, das den Unterschied von Sein und Bewußtsein, Bild und Abgebildetem, Wirklichkeit und Überwirklichkeit, Einheit und Vielheit mit sich bringt. Das absolute Eine ist nur da und äußert sich in den Sonderungen des Wissens, und das Wissen ist nichts als Dasein des absolut Einen. Diese

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Evidenz ergreift uns, wenn der Begriff bis an die Grenze seines konstruierenden Durchnehmens zur höheren Einheit durchdringt und die Unangemessenheit seiner Begriffskonstruktion erfährt. Die Selbstbegrenzung des durch-konstruierenden Begriffs und die Intuition der organischen, inneren Einheit bedingen einander. Was folgt daraus für die Arbeit des Begriffs? „Die Construktion als Construktion wird nun durch die Evidenz des durch sich Bestehenden geläugnet; also wird durch diese Evidenz grade das Unbegreifliche als Unbegreifliches, und schlechthin nur als Unbegreifliches, und nichts mehr gesetzt; gesetzt durch die Vernichtung des absoluten Begriffes, der eben deßwegen, damit er nur vernichtet werden könne, gesetzt sein muß" (4.Vortr.; GA 11,8,56). Was selbstkritischem Begreifen als bleibender Ursprung aufgeht, ist „Licht" in seiner lichtenden Vereinigung von Sichverbergen und Sichäußern als Urgeschehen von Einigung und Disjunktion. Diese Urkonstruktion ist das „durch sich Bestehende" in allem Wissen. Es weist jede begriffliche Nachkonstruktion als inadäquat ab. Was dem Begreifen als solchem übrig bleibt, ist, einzugestehen, daß die absolute Einheit unbegreiflich sei. Was mithin das dialektische Durch am Ende begreift, ist die Unbegreiflichkeit des Absoluten. Also muß der Begriff seinen Prinzipienanspruch opfern. Das eben bedeutet die Rede von der „Vernichtung des absoluten Begriffs": Der Begriff negiert sich selbst als absoluter Anfangsgrund. Dafür gelingt es ihm, das Absolute wenigstens als Unbegreifliches zu begreifen. Und so bleibt für einen Idealismus, der das dialektische Durchnehmen als Universalmethode retten will, nur diese eine Ausflucht: Damit das Absolute als Unsägliches und Unbegreifliches einleuchte und in seiner Urkonstruktion uns ergreife, muß der Begriff sich negieren; um sich zu negieren, muß er sich selber setzen. Also nimmt die ganze Operation, die zur Evidenz einer absoluten Einheit führt, ihren Anfang von einem Begriff in der Denkform des Durch, der sich energisch setzt. Und selbst die Aussage „Es, das Absolute, ist nicht an sich unbegreiflich "(4.Vortr.; GA 11,8,58) nimmt den Begriff in Anspruch. Unbegreiflichkeit ist geradezu ein klassischer Fall für die Denkform des Durch. Die Zusage des Unbegreiflichseins macht ja erst im Durchgang durch die Negation der Begreifbarkeit Sinn. An ihm selbst ist dem Absoluten das Prädikat der Unbegreiflichkeit fremd. Es wird vom Begreifen her an es herangetragen. Vom Absoluten kann eben nur gesagt werden „Es ist"; jedes zusätzliche Prädikat, z.B. „ist unbegreiflich", entstammt einer unkritischen Selbstüberschätzung des Begreifenwollens

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von etwas als etwas. „Diese Unbegreiflichkeit für ein fremdes, aus dem Wissen herbeigeführtes Merkmal erkannt, ... bleibt am Absoluten nur das reine Fürsichbestehen, die Substantialität übrig" (4.Vortr.; GA 11,8, 58). Weiter ist die Genetisierung des Wissens nicht zu verfolgen. Hier steht ja allein die Grenzbesinnung des dialektischen Durch als Denkform des Begriffs zur Frage. Sie hat mit der aufgeklärten Rede (aller negativen Theologie) von der Unbegreiflichkeit des Absoluten ihr Ziel erreicht. Freilich steht die entscheidende Selbstkritik noch aus. 7.5 Kritische Scheidung von Leben und Begriffsform in Genetisierung des lebendigen Durch Die ontologische Unselbständigkeit des Begriffs kommt noch durchschlagender zutage, wenn eine bisher unbefragte Faktizität genetisch aufgeklärt wird, die Lebendigkeit der Durch-Form.93 Die Form des Urbegriffs als Durcheinander von Bild und Abgebildetem und als Indifferenz der Abfolge zwischen beiden hatte eingeleuchtet. Aber wie steht es mit der Tatsache des Lebens im wechselseitigen Übergehen? Wem verdankt das Bewußtseinsleben seine Wirklichkeit im möglichen Fortgehen von einem zum anderen? Das ist für die Dialektik des Begriffs gleichsam eine Frage auf Leben und Tod. „Wie soll es mit diesem,- bei aller Fähigkeit, mit der es zum Leben ausgerüstet ist, eben vermittelst der Durchheit, des Fortgehens von Einem zum Ändern, wenn es nur 93

Die Methode der Genetisierung ist mit Recht als Vorteil der Fichteschen Dialektik hervorgehoben worden, so in der differenzierten und thesenreichen Darstellung von Klaus Hammacher, Zur Entwicklung der Kritik der neueren Dialektik, in: Hans-Georg Gadamer (Hg.), Das Problem der Sprache. München 1967,107-127. Danach bilde Jacobis Dialektik von unableitbarem Freiheitsgefühl und unabweisbarem Bewußtsein des Leidens einen markanten Ausgangspunkt: für Fichtes Entwicklung der Selbstbegründung im Widerspruch von Wissen und Freiheit (Bewußtsein der Zufälligkeit); für den Schelling der „Briefe über Dogmatismus und Kritizismus", der freilich durch die frühe Annäherung an Spinoza die Freiheitserfahrung als Gegenmoment im Wissen aus der Hand gebe, für Hegel, der ebenso die Gegenerfahrung des Freiheitsgefühls ausschalte und durch eine Selbstentzweiung des Absoluten ersetze. Aber Selbstentzweiung bewähre sich nur faktisch durch Folgerichtigkeit des aufsteigenden Bewußtseins wie der (göttlichen) Gedanken. Sie sei durch Fichtes Maxime, von der Synthesis post factum zur Evidenz der Einigung und Spaltung aller Gegensätze zu kommen, methodisch überholt.

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einmal in Gang gebracht wäre,- dennoch in sich todten, eben weil es keinen Grund in sich hat, zur Verwirklichung zu kommen (Copia: zum Gange zu kommen),- wie soll es, sage ich, mit diesem also beschaffenen Durch, jemals zum Leben kommen?" (WL 1804-11, lO.Vortr.; GA 11,8,154). Solche Fragen stellen sich da nicht, wo Fähigkeit und Vermögen (facultas, potentia) zum Erfassen von Welt in der einfachen Einheit appetitiver Apperzeption als Lebenskraft (vis primitiva) aufgefaßt sind. Das ist ein großer Leibnizscher Einfall. Das einigende, Welt re-präsentierende Begreifen dessen, was ist, geschieht im Akt von perceptio und appetitus. Begreifen ist so die lebendige Spiegelung der Welt in einem aus sich selbst drängenden Drang der Apperzeptionskraft. Findet sich diese Konfundierung von Wissen, willenhaftem Streben und lebendigem Selbstanfang nicht in transzendentaler Klarheit wieder, nämlich im zugrunde gelegten Lebensvollzug einer durch Tathandlung und unendliches Streben bestimmten Ichheit? Indessen, kritisches Eingedenken der Endlichkeit unserer menschlichen Erkenntnisform übersteigert das Handeln des Ich nicht zum unbedingten Sich-selber-exisü'eren-Machen. Es bestimmt die Form der IchTätigkeit als ein Sich-Nachmachen und das Nachgemachte eben als Bild von dem, was nachgemacht wird. So verirrt sich transzendentale Besonnenheit nicht - auf dem gebahnten Wege von Leibniz' force primitive zu Spinozas potentia immensa - im Ungedanken einer causa sui. Sie lenkt die Selbst-Verwirklichung des Begriffs in der Lebendigkeit des Durch auf die Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit zurück. In der Grundform des Begriffs, der Durchheit, ruht eine Anlage und Fähigkeit zum Leben: das Übergehen von einem zum anderen in der organischen Gestalt des Einigens und Entzweiens. Nun ist aber Möglichkeit in Analogie zur Wirklichkeit der Seinsmächtigkeit nach ein Nichtsein im Sinne des Noch-nicht-Wirklichseins. Aus dem Nichtsein aber kann es nicht zum Sein kommen. Folglich haftet dem Durch als bloßer Anlage und Fähigkeit zum Leben der Seinsmodus des Nicht-Lebens an. Es bleibt, auf sich allein gestellt, innerlich tot. Unser Wissen in der Begriffsform des Durch hat in sich selbst nur den Tod. Dieser Zentralsatz ist ein weitreichendes Menetekel. Er hält Leben und Begriff auseinander. Unser Begreifen und Sich-Begreifen besitzt in seiner Grundform immer nur die Möglichkeit, nicht schon die Wirklichkeit des Lebens. Mehr noch, die unabtrennliche Wesensform des Durch verhindert prinzipiell ein schlechthinniges Sich-selber-Machen. Vermit-

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telst des Durch wird unser Wissen dialektisch, aber nicht lebendig. Auch hier stößt die Wissenschaftslehre auf den Tod als unser Schicksal, das uns niemand abnehmen kann. Allein auf unser Vermögen gestellt, finden wir uns dem Tode ausgesetzt. Das zeigt sich an der Zeit-Dauer des faktisch ins Viele unendlicher Iche zerspaltenen Ich. Hier hat der ins Leben gerufene Begriff, der unsere Welt schafft, für jeden seine ihm Ungewisse Zeit-Dauer. In jedem Moment selbstbewußten Lebens wissen wir uns davon bedroht, daß unsere Lebensform durchgängigen Sonderns erstarrt und unser Bewußtsein in seiner beschränkten Form erlöscht. Erlöschen der durchgängigen Form des Bewußtseins heißt im neuzeitlichen Selbstverständnis Tod. Descartes' „Meditationen" haben daran erinnert. Die 3. Meditation lehrt: Das Ich, das ich selber bin, findet in sich keine Kraft (vis), sein Existieren über den Abgrund auch nur eines einzigen gegenwärtigen Jetzt in das zukünftige Jetzt hineinzuheben. Das Ich existiert in seinem Zeitleben zum Tode. Weil das darüber meditierende Wissen sich der tödlichen Ohnmacht des Ich-Lebens bewußt wird, setzt es eine lebenserhaltende Kraft (für den Scholastiker Descartes: eine creatio continua) voraus, von der es in jedem Moment abhängt. Das sei völlig evident. Ebenso wie Descartes widersteht Fichte der möglichen Versuchung der Neuzeit, ein an ihm selbst todloses Ich an die Stelle zu setzen, an der vormals der Gott der Philosophen stand. Der 11. Vortrag schärft diese These ein. Das Durch hat bei aller Anlage zum Leben in sich selber nur den Tod. „Es wird zuträglich sein, über diese Aeusserung weiter nachzudenken, indem an und in ihr das Durch so klar verstanden werden kann, wie es bisher wohl noch nicht verstanden ist" (WL 1804-11, 11. Vortr.; GA 11,8,160). Weiter nachzudenken wäre darüber, wie es denn mit dem in sich toten Durch zum Leben und zum lebendigen Fluß des Bewußtseins komme. Die Frage läßt sich so stellen: Welche Bedingungen sind notwendig, damit ein Mögliches und zum Leben Fähiges zur Wirklichkeit in Verwirklichung seiner Anlage übergeht? Dazu braucht es ein Hervorbringendes, welches das schon im Modus der Wirklichkeit ist, wohin es das Mögliche überführt. Das hat alle Aristotelische Tradition behauptet. Im Falle des lebensfähigen Durch muß folglich grundsätzlich ein Hervorbringendes vorausgesetzt werden, das im Modus wirklichen Lebens existiert. So wie das Feuer, welches brennbares Holz zum Glühen bringt, das Glühende an ihm selber ist, so ist das Prinzip, welches dem Durch Leben gibt, das an ihm selbst Lebendige. Resultat: Exi-

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stenz eines Durch setzt ein ursprüngliches an sich gar nicht im Durch, sondern durchaus in sich selbst begründetes Leben voraus" (ebd.). Also trennen sich ichhafter Begriff und absolutes Leben. Auch dieses Nachdenken verbietet den Überschwang einer spekulativen Dialektik. Für Hegeische Logik verharren die Trennung von Begriff und Leben und die Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit auf dem Standpunkte des Verstandes. Spekulativ betrachtet, ist der Begriff der „subjektiven Logik" die energische Selbstentfaltung der absoluten Subjektivität. Daher sind Begriffe Selbstbewegungen, und die absolute Idee Unendlichkeit eines Lebens, welches wesensnotwendig aus der Möglichkeit, dem Ansichsein, in die Wirklichkeit des Fürsichseins umschlägt. So wäre der Begriff das Lebendige selbst. Dagegen sperrt sich Fichtes Genetisierung des Durch. Der Begriff ist nicht die substantielle Macht des aus sich lebenden Lebens. Er ist die menschliche Denkform absoluten Lebens in seiner Äußerung. Diese kritische Scheidung verkennt nicht die unvergängliche Lebendigkeit des Begriffs, aber sie vollzieht eine angemessene Selbstbegrenzung. Die lebendige Durchheit braucht zu ihrer Verwirklichung ein Leben jenseits der Denkform des Durch, das unvergänglich aus sich selber lebt.

8. KAPITEL Intellektuelle Anschauung - Organon transzendentalen Denkens Die methodologischen Erörterungen über Sprachadäquatheit, Systembau und Begriffsdialektik im Horizonte transzendentaler Rückbesinnung haben alle einen und denselben Grundzug der Selbstbegrenzung. Dabei leuchtet ein, daß für die Sprache gilt, was für den Begriff gilt, sofern und soweit Wörter Stellvertreter von Begriffen sind und die Wortzeichen Allgemeinheiten ausdrücken. Daher ist das Unbegreifliche das Unsagbare. Mit Worterklärungen kommt man im Philosophieren so weit wie mit begrifflicher Dialektik. Sie reichen für eine bestimmte, durch Sonderung und Wechselbeschränktheit eingegrenzte Begriffsfügung zu. Sie ergehen sich nachkonstruierend in einer Abfolge von Sätzen, welche der lebendigen, ursprünglichen Einheit inadäquat bleibt. „Das höchste, was sich durch die Wort-Erklärung herausbringen läßt, ist ein bestimmter Begriff: und eben darum in der Wissenschaftslehre das durchaus falsche" (SB; GA 1,7,237). Gibt es mithin kein Organ und Werkzeug der Methode, welches das eine Wahre und das wahre Eine in seiner Evidenz erweisbar macht? Bleibt menschliches Denken von Wahrheit und Wahrheitsgrund verbannt? Behauptet folglich der Skeptizismus - zumindestens im Gebiete theoretischen Wissens und spekulativer Systembildung - das Feld? Indessen, die selbstkritische Beschränkung von Begriffssprache und Begriffsdialektik eröffnet einer anderen die Bahn, einem unmittelbaren, geistigen Innewerden des wahren Einigungs- und Spaltungsprinzips.94 So merkt „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche 94

So hat Schelling die Kunst der Dialektik als Propädeutik der intellektuellen Anschauung angesehen (vgl. „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums", 1802, 6. Vorl.; SW V,266ff.). Danach bilde „Dialektik" die unerläßliche Kunstform philosophischer Wissenschaft als einer Logik, welche die Formen der Endlichkeit in ihrer Beziehung aufs Absolute rein darstelle und einen wissenschaftlichen Skeptizismus fördere. Das mache den Weg frei zur Einen absoluten

Intellektuelle Anschauung

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Weltregierung" 1798 an: „Dasjenige, wovon die W.L. ausgeht, lässt sich nicht begreifen, noch durch Begriffe mittheilen, sondern nur unmittelbar anschauen: Wer diese Anschauung nicht hat, für den bleibt die W.L. nothwendig grundlos und lediglich formal; und mit ihm kann dieses System schlechterdings nichts anfangen" (GA 1,5,350). Und der „Sonnenklare Bericht", 1801 verwirft die Wörter, Gedanken im Bauche, die zu Richtern über die Vernunft erhoben werden, und degradiert sie eben zu bloßen Hilfslinien. Sie leiten lediglich zur Sache selbst hin und helfen so der Vernunft, sich zur Anschauung zu erheben. „Das, worauf es ankommt, ist bisher nicht gesagt, noch durch das Wort bezeichnet worden, auch läßt es sich nicht sagen, sondern nur anschauen" (SB; GA 1,7,237). Wie also, wenn ein eigentümliches, intellektuales Anschauen das einzige zureichende Organen der Philosophie wäre? Was aber bedeutet dann dieser suspekte Titel im transzendentalen Verstande? Und wie weit trägt seine methodisch erschließende Sehkraft?95

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Erkenntnis des Absoluten (der intellektuellen Anschauung, welche nicht bloß das Ewige in uns, sondern das Ewige an sich anschaue). - In den Grenzen der Transzendentalphilosophie erklärt die Transzendentale Logik Fichtes, 1812: Dahin, daß die Evidenz uns ergreife, müsse die Dialektik hinleiten; Dialektik sei „die gesetzmäßige Methode, zu dieser Evidenz zu kommen" (TL, 78). Dialektisches Konstruieren leite aber nur dazu an, daß die Evidenz sich in intellektueller Anschauung erweislich einstelle. Mithin trennen sich Dialektik und Wahrheit. „Die Kunst der Dialektik, wie alle Kunst, ist unendlich; nicht aber die Wahrheit" (ebd.). Eine eindringliche Studie bietet Jürgen Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02. Stuttgart 1986. Sie führt sorgfältig die Entwicklung der intellektuellen Anschauung aus einem Methodenbegriff transzendentalreflexiver Wissenskonstruktion zu einem Strukturbegriff des Ich und dessen Doppelfunktion vor Augen, zugleich Objektivität und ursprüngliche Selbstbezüglichkeit zu konstituieren. Vgl. dazu mit wichtigen Bedenken Peter Baumanns, Neue Monographien zur Philosophie Fichtes, in: AZPh 13(1988)67-70. - Zu der von Stolzenberg entwickelten „Logik des absoluten Bestimmens" als Keim der Fichteschen Theorie des Selbstbewußtseins vgl. die Besprechung von Wilhelm Metz, in: FichteSt 1(1990)251-54.

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8. l Heillose Schwärmerei oder Organon der Philosophie? Rechtfertigung des Methodenanspruchs der intellektuellen Anschauung gegenüber Kant (2. Einl, Abschn. 6) Intellektuelle Anschauung ist wohl das schillerndste Problemwort der Kant-Auseinandersetzung in der Fichte-Zeit seit der ReinholdSchulze-Kontroverse, den „Eignen Meditationen über Elementarphilosophie", den selbstbewußten Fichte-Kommentaren des jungen Schelling, den genialisch schwankenden „Fichte-Studien" des Novalis und den wegweisenden Winken Hölderlins in „Unheil und Seyn" und der Homburger Poetologie.96 Für die Wahl der intellektuellen Anschauung zum einzigen Organon der Philosophie im Horizont transzendentaler Denkart ist eine Vorfrage von Gewicht: Wie eigentlich kann Fichte das von ihm früh angenommene Leitwort gegenüber den Vorbehalten Kants rechtfertigen? Eine abschließende Klärung wird Fichte innerhalb der Zweiten Einleitung, Abschnitt 6 im „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre", 1797/98 unternehmen. Er stellt sich darin bekanntlich fol96

Die beziehungsreiche Situation der ersten, epochalen Fichte-Rezeption mit dem Brennpunkt der intellektuellen Anschauung hat Xavier Tilliette facettenreich erörtert. Erste Fichte-Rezeption und intellektuelle Anschauung, in: TrG, 532-545. Tilliette widerlegt darin die These, daß die intellektuelle Anschauung in der „Grundlage" nicht vorkomme und die eigentliche Wissenschaftslehre erst eigentlich danach beginne (vgl. Thomas P. Hohler, Intellectual Intuition and the beginning of Fichte's philosophy, anew interpretation, in: Tijdschrift voor Filosofie 37 52-73). Und er favorisiert behutsam die Ansicht, Schellings frühe ausführliche Interpretation der intellektuellen Anschauung entferne sich von Fichte, indem sie sich vom freien, reflektierenden Ich loslöse. Der 5. Abschnitt der 2. Einleitung sei die Antwort Fichtes auf Schellings Übergriff. Fichte reklamiere den Begriff der intellektuellen Anschauung energisch für das Ich. - Über „Die erste philosophische Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling 1795-96", insbesondere über die schon von Xavier Leon vermerkte, verschlüsselte Antwort der „Einleitungen" auf Schellings „Philosophische Briefe" handelt scharf zupackend Reinhard Lauth, in: ZPhF 21(1967)341-367. Die Darlegungen der „Philosophischen Briefe" bedeuten danach den eindeutigen Übergang Schellings zu einem dogmatischen Idealismus; das Absolute werde in einer intellektuellen Anschauung erfaßt, die Schelling im selben Sinne wie Kant konzipiere und die er dem Spinoza zuerkenne; Fichte sichere dagegen die intellektuelle Anschauung vor solcher Trüglichkeit, indem er sie auf die Bewußtseinsform des Sittengesetzes als desjenigen Mediums zurückführe, durch das ich mich erblicke.

Rechtfertigung der intellektuellen Anschauung

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gender Schwierigkeit: Die Wissenschaftslehre geht von einer intellektuellen Anschauung als ihrem höchsten Standpunkte aus, und sie beansprucht gerade damit, die großen Ansätze Kants grundlegend zu vollenden; nun hat aber Kant unüberhörbar die Annahme eines solchen Vermögens verworfen und in „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie", 1796 mit satirischer Schärfe wiederholt, daß sich von dem Wahne einer intellektuellen Anschauung die Verachtung der herculischen Arbeit transzendental-analytischer Selbsterkenntnis und überhaupt die „heilloseste Schwärmerei" ableiteten (VnD; GA I, 4,224; vgl. Kant, Akad. Ausg. VIII,387-406). Mithin steht die Wissenschaftslehre vor einem Scheideweg. Entweder will sie Kants Vernunftkritik grundsätzlicher begründen und umfassender ausbauen, dann muß sie den Ungedanken eines intellektuellen Anschauens fallen lassen, um nicht selber unversehens zur Schwärmerei zu werden. Oder sie verteidigt Wort und Sache der intellektuellen Anschauung, dann muß unvermeidlich ein Bruch mit Kants kritischem Geschäft erfolgen. Vielleicht war dieses Dilemma wirklich ein Grund dafür, daß Fichte in der „Grundlage" von 1794 den Terminus verschweigt. Die Zweite Einleitung löst solche Irritation durch den Nachweis einer Äquivokation auf. In Kantischer Terminologie gehe die intellektuelle Anschauung auf ein (nicht-sinnliches) Sein, innerhalb der Wissenschaftslehre auf ein Handeln; im Kantianismus verbinde sie sich mit der Problematik eines Dinges an sich, in der Wissenschaftslehre mit der von Selbstbewußtsein und Tathandlung. Fichte sieht natürlich, daß Kants wegwerfende Erklärung gegen eine intellektuelle Anschauung als menschliches Erkenntnisvermögen in Grundunterscheidungen der Vernunftkritik wurzelt. Der Terminus ignoriert die Differenzen zwischen intuitiver Anschauung und diskursivem Begriff, zwischen Rezeptivität der Sinnlichkeit und Spontaneität bzw. Produktivität der Vernunft (im weitesten Sinne) und nicht zuletzt zwischen Ding an sich und Erscheinung. „Intellectuelle Anschauung wäre sonach das unmittelbare Bewußtsein eines nicht sinnlichen Seyns; das unmittelbare Bewußtsein des Dinges an sich, und zwar durch das bloße Denken; also ein Erschaffen des Dinges an sich, durch den bloßen Begriff (VnD; GA 1,4,224). Das ist unter Kantischen Prämissen ein hölzernes Eisen. Es gibt keine intellektuelle Anschauung (für uns); denn unsere Anschauung ist unmittelbar intuitiv. Und wir haben keinen intuitiven Verstand, denn unser Begreifen ist diskursiv. Menschlich-endliches Anschauen leitet sich von einer Affektion wahrnehmbarer, gege-

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bener Objekte her (intuitus derivatus); es bleibt von einer Anschauung ausgeschlossen, die darum ursprünglich heißen kann, weil durch sie selbst das Dasein des Objekts der Anschauung gegeben wird (intuitus originarius). Unzulässig ist daher ein moderner Platonismus, nämlich die Hypothesis einer intellektuellen Anschauung von Ideen im Urzustände der menschlichen Seele bei Anwendung auf die unsinnlichen Dinge-selbst. Die .Philosophen der Vision" (wie der unermeßliche F. H. Jacobi und der bloß anmaßende J. G. Schlosser) beanspruchen ein Glaubensgefühl von der Art einer nicht sinnlichen Anschauung, dem unmittelbar die Offenbarung des intelligiblen Dinges an sich zukommt. So redet Johann Georg Schlosser in seinen von Kant satirisch behandelten Noten der Schrift „Platos Briefe über die syrakusische Staatsrevolution nebst einer historischen Einleitung und Anmerkungen", Königsberg 1795 vom Vermögen einer sich selbst entzündenden Anschauung, welche unmittelbar die Dinge in ihrem unveränderlichen Wesen und Ansichsein ergreife. Solche Behauptung eines unmittelbaren Vermögensgrundes aller Philosophie und Religion verfuhrt zu heilloser Schwärmerei, d.i. zu einer illegitimen Erweiterung menschlicher Erkenntnis in Verwirrung der Erkenntnisquellen. Und das kreiert den vornehmen Ton einer Philosophie, die wähnt, einen privilegierten, geheimnisvollen Zugang zum Übersinnlichen und an sich Seienden zu besitzen, der sich nicht schul-, sondern geniemäßig einem einzigen Scharfblick des Genius in sein Inneres auftue. Kants Monitum verschärft sich im Lichte der Wissenschaftslehre: „Die intellectuelle Anschauung im Kantischen Sinne ist ihr ein Unding, das unter den Händen verschwindet, wenn man es denken will, und das überhaupt keines Namens werth ist" (VnD; GA 1,4,225). Sofern und solange die Erkenntnisart einer intellektuellen Anschauung auf ein Ding an sich bezogen wird, ist sie ebenso widersinnig wie überflüssig. Der Gedanke eines von aller Bewußtseinsrelation absolvierten Ansich ist unsinnig; denn er läßt sich nur negativ als Nich-für-uns-Sein, d.h. eben aus der Bewußtseinsrelation bestimmen. Und er ist überflüssig, insofern die Wissenschaftslehre das Ding an sich ja „über die Seite gebracht" hat (ebd.). Für die Beseitigung der Ding-an-sich-Hypothese soll hier lediglich der vitiöse Zirkel der Kantianer und die Lösung der Wissenschaftslehre (in der „Grundlage" § 2 und im Aufbau einer „pragmatischen Geschichte des Bewußtseins") angedeutet werden. In Kants Terminologie heißt

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Ding an sich soviel wie Noumenon. Das bezeichnet einen Gedanken, der notwendig nach Gesetzen des Ich-denke entsteht und folglich für uns denkende Wesen da ist. Die Kantianer aber nehmen den Widersinn in Kauf, einen Gedanken auf das Ich einwirken zu lassen. Und sie verrennen sich in einen circulus vitiosus; denn das Ding an sich soll die Affektion der Empfindung, diese das Ding an sich erklären. Die Schwierigkeiten verschwinden, wenn das Affiziertwerden und Leiden des theoretischen Bewußtseins pragmatisch im Übergang vom Trieb zur Empfindung als Gefühl beschrieben werden. Dabei kommen Gefühlsdaten (wie grün, laut, weich) nicht als Eigenschaften an sich bestehender Dinge außer uns zu Gesicht, sie ergeben sich als zuständliche Bewußtseinsanschauungen und Vollzüge der Triebbeschränktheit, dergestalt, daß in jeder materialen Empfindung Tätigkeit und Leiden ursprünglich vereinigt sind. Gefühl ist meine Empfindung von Sinnesdaten im Status einer noch nicht gesonderten Einheit von Fühlendem und Gefühltem. So kommt das Erleiden von Eindrücken als Empfinden der eigenen Gehemmtheit vor und nicht als einseitiges Affiziertwerden. Leiden überhaupt erweist sich als gehemmte Tätigkeit. Das Erleiden im Gefühl verdankt sich einer Selbstaffektion und notwendigen Selbstbeschränkung des menschlich-endlichen Geistes selber. Es steht - der dialektischen Analytik der „Grundlage" zufolge - unter den Gesetzen der Quantitabilität, der Wechselwirkung in Synthesis mit der vorbewußten Tätigkeit produktiver Einbildungskraft. Wird diese komplizierte Synthesis entflochten, dann kommt das Leiden des Ich als verringerte und ins NichtIch übertragene Tätigkeit des Ich zutage. In eins ist die dogmatische Unterstellung eines das Erkenntnissubjekt „rührenden" Dinges an sich beseitigt. Und damit steht einer Annahme der intellektuellen Anschauung nicht mehr der Kantische Wortgebrauch im Wege. „Die intellectuelle Anschauung, von welcher die Wissenschaftslehre redet, geht gar nicht auf ein Seyn, sondern auf ein Handeln" (VnD; GA 1,4,225). Mit dieser methodischen Annahme einer Anschauung von Tathandlung, Intelligenz oder Ichheit behauptet sich Fichte durchaus als Erbe und Vollender der Kantischen Hauptansichten. Dabei knüpft die Annahme einer intellektuellen Anschauung wissentlich an beide Zentralworte Kants an, an den Titel einer reinen Apperzeption und an die Aufstellung des kategorischen Imperativs. Natürlich darf das Ich-denke nicht bloß als primum subiectum unterstellt, es muß als reine Tätigkeit im Actus der Spontaneität und ursprünglich einigender Synthesis verstanden werden, so daß folgende Frage unausweichlich wird: Da wir uns unzweifel-

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haft dieses Handelns bewußt sind, von welcher Art ist solches Bewußtsein? Es ist die transzendentale Kritik des 2. Paralogismus, welche Kant ganz dicht vor diese Frage führt (KrV A 352-361). Diese kritische Erörterung erweist bekanntlich den „Achilles" unter den dialektischen Schlüssen der rationalen Psychologie als Beirrung unserer Vernunft durch einen natürlichen Schein. Der erste Schlußsatz der Leibnizschen psychologia rationalis: „Die Seele ist einfach (inkorruptibel, immateriell, spirituell, immortabil)" ist ein paralogischer Trugschluß. Im Vollzug dieser Kritik verdeutlicht sich die Rede von der Teillosigkeit der Seele, genauer: von der Einfachheit des denkenden Ich. Seitdem ist klar: Es führt in die Irre, das reine Ich oder das apperzeptive Bewußtsein als Gegenstand menschlicher Erkenntnis vorzustellen, um ihm im Verfahren des Schließens aus reiner Vernunft das Prädikat realer Einfachheit zuzuteilen; und es ist eine Illusion, so unsere Erkenntnis von der erhofften Unzerstörbarkeit und Unsterblichkeit unserer Seele über alle mögliche Erfahrung hinaus ins Übersinnliche hin zu erweitern. Dieser transzendental begründete Einwand stürzt das ganze Systemgebäude der metaphysica rationalis um. Aber das zentrale Bedenken weist zugleich auf eine neue Theorie von Seele und Selbstbewußtsein hin. Das cogitare ist keine Sache, nicht ein im Begriff gegebenes „Etwas", sondern ein „Handeln", das sich unmittelbar nur im eigenen Denkvollzug zeigt. Und es wird eine Einfachheit bemerkbar, die nicht inhärierende Eigenschaft einer res (cogitans) ist, sondern als Moment der Ichheit notwendig zukommt und unmittelbar im Bewußtsein der Apperzeption liegt. So spricht die Paralogismuslehre dem Ich-denke Unteilbarkeit im Sinne einer „logischen Einheit" zu; denn die Zerteilung des „ganzen" Ich auf die Vielheit der Vorstellungen sowie der vorstellenden Einzeliche widerspricht dem Phänomen, daß alle meine Vorstellungen vom Ich unzerteilt als das Eine und Selbe „begleitet" werden. Gleichwohl bleibt der positive Status des Ich-denke und dessen Einfachheit merkwürdig schwankend. Der 2. Paralogismusartikel spricht von ihm als Begriff oder Urteil oder gar metaphorisch von einem „Vehikel", und erwägt das unmittelbare Innesein der Einfachheit als „bemerken" oder „gedenken". Die transzendentale Analytik erweist das reine Selbstbewußtsein als notwendige Bedingung unserer Vorstellung, welche für unser Erkenntnisstreben ein bloßes x, ein einfach unbestimmbares „Etwas überhaupt", ist. So liegen die Bestandteile einer Theorie der theoretischen Apperzeption bereit: die Umwendung des Ich vom substantialen Bestand einer res

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cogitans zum reinen Akt einer ursprünglichen Synthesis und die Auffassung dieser ursprünglich-einfachen Einigung in einem unmittelbaren und nicht zu erschließenden „Gedenken". Aber die sich aufdrängende Frage: „Wie bin ich mir des unteilbaren Selbstbewußtseins, das alle meine Vorstellungen ursprünglich eint, bewußt?" hat Kants Kritik der Seelenmetaphysik nicht weiter verfolgt. Und noch dringlicher stellt sich diese einfache Frage im Gebiete der praktischen Vernunft: „Des kategorischen Imperativs ist man nach Kant sich doch wohl bewusst? Was ist das für ein Bewusstseyn?" (ebd.). Kants Bescheid bleibt bei der verfänglichen Rede vom „Faktum der Vernunft" stehen. Die Realität der Freiheit, in der Sinnenwelt unerfahrbar, ist allein im moralischen Handeln aus praktischer Vernunft vorhanden. Wir sind uns unserer Freiheit unmittelbar bewußt, wenn wir uns selbsttätig unter den Anspruch des Sittengesetzes in der Form des kategorischen Imperativs stellen. Freie Selbstbestimmung bezeugt ihre Realität dadurch, daß sich der Mensch wirklich handelnd dem Sollensgebot fügt. Das ist ein Faktum der Vernunft, keine Tatsache der Erfahrung oder Evidenz eines Gefühls. Fichtes Sittenlehre wird diese Tatsache des Bewußtseins genetisieren, indem sie nachweist: So gewiß ein menschlich-endliches Vernunftwesen ist, so gewiß gibt es Freiheit in der Verfassung einer Autonomie als Wechselbestimmung von Selbstbestimmung und Gesetz. Und die Grundlegungsproblematik der gesamten Wissenschaftslehre wird die Frage nach dem Bewußtsein der Freiheit mit der Rechtfertigung intellektueller Anschauung verknüpfen. Der Vollzug der Selbstgesetzgebung ist ja reine Selbsttätigkeit oder absoluter Freiheitstrieb im Stande des Bewußtseins, und dieses Bewußtsein ist offenkundig unmittelbar (nicht andemonstriert), aber nicht sinnlich in Wahrnehmung oder Empfindung; „also gerade das, was ich intellectuelle Anschauung nenne" (ebd.). Von dieser Klarstellung aus macht ein Rückblick überdies einsichtig, warum Kant diese Frage nach einer intellektuellen Anschauung vergessen hatte, obwohl er an ihrer Schwelle stand. Zum vollen Aufbau einer intellektuellen Anschauung gehören nämlich unabtrennlich zwei Strukturmomente, die Gewißheit einer schlechthinnig freien Selbsttätigkeit im Anspruch des Sollens und die Reflexion auf die Bewußtseinsart der Selbsttätigkeit. Bleibt nun - wie bei Kant - die Vernunftlehre zerteilt und in die Gebiete der reinen theoretischen und reinen praktischen Vernunft auseinandergerissen, dann stellt die praktische Vernunft die Frage „Was soll ich tun?" ohne Rücksicht auf das einschlägige Wissen und

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Bewußtsein, und die theoretische Vernunft hält sich an die Frage „Was kann menschliches Wissen wissen?" ohne Rücksicht auf die schlechthinnige Freiheit des Sichsetzens. Erst eine Grundlegung der gesamten, eben der theoretischen und praktischen, Wissenschaftslehre stößt auf den Standpunkt einer intellektuellen Anschauung vor. Sie baut auf die einzige Denkart, „wo die Speculation und das Sittengesetz sich innigst vereinigen" (VnD; GA 1,4,219); denn der transzendentale Gedanke, daß alles, was ist, im Bewußtsein vorkommt und kein Bewußtsein ohne Selbstbewußtsein möglich ist, macht nicht bei der Deduktion des Ich als einigendem Subjekt halt. Er erhebt sich zum Standpunkt einer intellektuellen Anschauung, auf dem die Bewußtseinsform einer Selbsttätigkeit, welche sich als die Dinge bestimmend weiß, unbedingt thematisiert werden soll. So beginnt die systematische Vereinigung von Spekulation und Sittengesetz damit, die intellektuelle Anschauung oder das In-sichZurückgehen, in welchem das Ich unmittelbar sein Handeln sieht, zum Prinzip der Selbsterkenntnis zu machen. Sie schließt damit, die Wesensbestimmung des Ich als vom Sollen geforderte, intellektuell evidente Aufgabe erhellt zu haben.97

8.2 Der einzig feste Standpunkt aller Philosophie. Position der intellektuellen Anschauung durch Negation der separierenden Reflexion (Versuch einer neuen Darstellung 1,2) Immer dreht es sich in der prima philosophia der Neuzeit darum, das Bewußtsein von dem, was ist, aus Grundsätzen des Selbstbewußtseins zu erklären. Bisher aber war nicht einmal die angemessene Fragestellung eingenommen worden; denn der Cartesianismus stößt zwar auf das Ego im Zugang vom methodischen, universalen, metaphysischen Zweifel, aber er beläßt es bei der Hypothesis einer sich-vorstellenden Substanz als Fundament der Gewißheit. Und die Anlage der Kantischen 97

Um diese Zweideutigkeit der intellektuellen Anschauung der Tathandlung wie des kategorischen Imperativs kreisen die Überlegungen von Alexis Philonenko, Die intellektuelle Anschauung bei Fichte, in: TrG, Hamburg 1981,93-96. Dabei wird die Ambivalenz aufgelöst, indem die intellektuelle Anschauung (des In-sich-Zurückgehens) als ratio cognoscendi des Ich, das Ideal (die vom Sittengesetz geforderte, unmittelbar bewußte Aufgabe unendlicher Selbstverwirklichung) als ratio essendi des Ich verstanden wird.

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Vernunftlehre steigt von der Frage nach den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit objektiver Erkenntnis lediglich zur deduktiv gerechtfertigten höchsten Bedingung, der Einheit des Ich-denke, auf. Cartesianisch bezeugt sich die Selbstgewißheit des Ich-stelle-vor als Gewißheitsboden, Kantisch bewährt sich die reine Apperzeption als Deduktionsgrund. Das Selbstbewußtsein als Urphänomen des Bewußtseins in der vollen Problematik seiner Struktur und Entstehung wird zuerst und allein durch Fichte zum Thema einer grundlegenden Untersuchung gemacht. Und man kann wohl zu Recht sagen: Wie Kant von der Aufdekkung der kosmologischen Antinomie als einer Veruneinigung der Vernunft mit sich selbst ausging, so Fichte von der Entdeckung der Zirkelund Iterationsprobleme in den vorherrschenden Theorien des Selbstbewußtseins. Sein frühes Losungswort lautet: intellektuelle Anschauung. Allein der Standpunkt einer intellektuellen Anschauung führe über die unzureichenden oder absurden Hypothesen der Bewußtseinstheorien und ungesicherten Ich-Philosophie hinaus. „Die intellectuelle Anschauung ist der einzige feste Standpunkt für alle Philosophie" (VnD; GA 1,4, 219). Natürlich kann ein Erstes Prinzip niemals direkt schlüssig bewiesen, d.h. aus höheren Vordersätzen mit Notwendigkeit entnommen werden. Wohl aber läßt es sich - im Unterschied zur Schimäre eines Dinges an sich - von jedem finden, der seine Aufmerksamkeit und Attentionskraft gehörig lenken läßt.98 So erst hält sich die Erste Philosophie streng an das, was phänomenal ausweisbar ist, an einen Gehalt, der im Bewußtsein liegt, nämlich das zur Anschauung zu bringende Selbstbewußtsein. Und auch ein indirekter Beweisgang ist zulässig, der die Wahrheit des gefundenen Aufweises apagogisch durch die bewiesene Falschheit des Gegenteils erhärtet. Daher geht die neue Darstellung in der schrittwei-

98

Die behutsame, klärende Interpretation der „Neuen Darstellung" durch Johannes Römelt, ,Merke auf dich selbst'. Das Verhältnis des Philosophen zu seinem Gegenstand nach dem ,Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre' (1797/98), in: FichteSt 1(1990)73-98 legt den Akzent auf das jedermann zugemutete „Experiment" des Auf-sich-Merkens als einzige mögliche Kommunikationsform zur Hinführung auf intellektuelles Anschauen. Folgerichtig bedeutet das Scheitern der Reflexionstheorie des Bewußtseins die Falsifikation einer Hypothese, die durch eine andere Hypothese, die der Subjekt-Objekt-Einheit, überholt wird. Aber schlägt Fichte wirklich den Weg von Versuch und Irrtum und nicht vielmehr den eines apagogischen Beweises ein?

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sen Aufweisung einer intellektuellen Anschauung im 2. Abschnitt des 1. Kapitels (GA 1,4,274-277) so vor, daß sie, zur Selbsttätigkeit auffordernd, zum adäquaten Standpunkt der Spekulation hinleitet und dessen Einheitsgrund freilegt, und zwar durch Negation der entgegengesetzten Position in indirektem Beweisgange. Ausgang der Hinführung ist die natürliche Einstellung des Bewußtseins (intentio recta). Geradehin richtet sich unser Denken betrachtend und handelnd auf etwas außer uns, das nicht ich bin, einen Gegenstand in der Verfassung und Stellung eines Nicht-Ich. Die erste Aufforderung lautet mithin, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Gegenstand in der Welt, die mich umgibt, zu lenken, z.B. die Wand. Die zweite Anweisung gebietet eine Rückwendung (intentio obliqua): Denke den, der die Wand denkt! „Denke dich und bemerke, wie du das machst" (VnD; GA 1,4,274). Merken wir mithin auf den fraglichen Vorgang: Wie kehrt die Tätigkeit des Vorstellens von Wand zu dem die Wand Vorstellenden zurück? Das geschieht unzweifelhaft so, daß sich unser Blick aus Freiheit von allem, was uns umgibt, abwendet und nach „innen" auf etwas zurückblickt, was vom Vorgestellten außer mir unterschieden ist. Das Sich-denken kommt durch ein losreißendes Sichunterscheiden von allem zustande, was nicht Ich ist. Diese Reflexion vollbringt nichts als die Rückwendung des Denkens von mundanen Objekten auf das denkende Subjekt durch dessen Unterscheidung vom gedachten Gegenstande. Einsichtig werden aber soll ein höherer Standpunkt der Spekulation. „Jetzt aber sage ich dir: bemerke dein Bemerken dieses Selbst-Setzens" (ebd.). Nun ist nicht mehr das Sich-Abwenden von der Welt Thema der Untersuchung, Objekt der Betrachtung wird die Selbsthaftigkeit des freien Sich-Setzens mittels einer rein in sich zurückkehrenden Tätigkeit. Das, was bisher Subjekt war, das Ich-denke, wird zum Objekt einer grundlegenden Untersuchung. Damit ist die Fragestellung erreicht, die bei Kant liegen geblieben war. Wie steht es mit der Bewußtseinsart der reinen Apperzeption bzw. der absoluten freien Selbsttätigkeit im Handeln unter dem Anspruch des kategorischen Imperativs? Freilich kann die Frage nach dem Bewußtsein des Selbstbewußtseins von Anfang an verfehlt werden. Da es sich um die Frage nach dem Seins- und Erklärungsgrund allen Bewußtseins von dem, was ist, dreht, kann die Erste Philosophie damit alles verfehlen. Daher ist vor einem naheliegenden Irrweg zu warnen, und eben so, daß, indem dieser Methodengang ad absurdum geführt wird, die entgegengesetzte Richtung als richtig eröffnet wird. Das irreführende Raisonnement nun, welches

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das Bewußtsein des Selbstbewußtseins erklären will und doch alles Bewußtsein unbegreiflich macht, ist das der separierenden Reflexion. Dabei scheint nichts einleuchtender und traditionsgemäßer zu sein, als das Selbstbewußtsein aus der Reflexion und einer Selbstbeziehung zu erklären, welche sich von der Außenwelt abwendet und sich so auf sich zurückbezieht, daß das Ich sich seiner selbst in der Zweiheit von Reflektierendem und Reflektiertem bewußt wird. Indessen bringt es die unterscheidende Reflexion in ihrem unentwegten Sondern so wenig zu einer Grund und Halt gebenden Ich-Bewußtheit, daß sich das gesuchte primum subiectum endlos in immer wieder höhere Stufen der Reflexion entzieht, und zwar unausweichlich. Das fragwürdige Raisonnement stützt sich dabei auf ein unwidersprechliches Gesetz. „Jedes Object kommt zum Bewußtseyn lediglich unter der Bedingung, daß ich auch immer meiner selbst des bewusstseyenden Subjects mir bewußt sey" (VnD; GA 1,4,275). Das repetiert die methodische regula generalis: kein Objekt ohne Subjekt, kein Bewußtes ohne Bewußtseiendes. Denke ich die Wand, so bin ich mir eigentlich des Denkens der Wand bewußt. Jedes Bewußtsein von etwas hat den Bewußtseinsstand zur Bedingung: Ich bin mir meiner selbst bewußt. Im Status der Selbst-Reflexion kommt das Ich unleugbar zweimal vor: Ich setze mich. Das Reflektieren hat den Grundzug des Unterscheidens. ,J)u bist - deiner dir bewusst, sagst du; du unterscheidest sonach nothwendig dein denkendes Ich von dem im Denken desselben gedachten Ich" (ebd.). Im Reflektieren eröffnet sich der Unterschied im Selbstbewußtsein zwischen dem Ich in der Stellung des Subjekts und dem Ich in der Objektstellung. Die aufgebrochene Differenz macht dabei keineswegs einen Unterschied der Qualität oder der Zeit, sondern lediglich einen der Stellung im Sich-auf-sich-Beziehen aus. Gleichwohl setzt der reflexionskonstitutive Unterschied eine Entzweiung und Unterscheidung als Grundakt voraus und ruft die Frage hervor: Wie kommt es auf dem Wege des Sich-von-sich-Unterscheidens zur Übereinstimmung und Einheit des Unterschiedenen? Das wird zur Problemlast: nicht der Aufweis der Doppelheit und des Unterschiedes im Identischen und Selbigen, sondern die Identität des Unterschiedenen in der Selbigkeit des Ich=Ich; denn im Beharren auf dem Gesetz der separierenden Reflexion kommt es niemals zur rechten Einheit. Das Unterscheiden geht ins Endlose fort, ohne je zur Identifikation zu kommen; denn weiß das reflektierend-trennende Bewußtsein nichts von sich selbst, wie kann es sich im Anderen selbst erkennen? Weiß es dagegen immer schon von sich, dann führt die

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reflektierende Reflexion auf diese Voraussetzung seiner selbst ins endlose Wissen des Wissens. Unvermeidlich also ergibt der Satz „Kein Bewußtes ohne Bewußtseiendes" in Anwendung auf das Selbstbewußtsein einen regressus in infinitum. Die ständige Objektivierung des Bewußtseinssubjekts erzeugt die Iteration immer höherer Reflexionsstufen. Die 1. Stufe (Ich stelle mich vor) wird überstiegen zum Reflexionsstand: Ich stelle vor den, der sich vorstellt, und diese 2. Stufe verlangt die 3.: Ich stelle vor den, der vorstellt den Vorstellenden des Sich-Vorstellens. „Dieses Bewußtseyns von unserem Bewußtseyn werden wir aber wieder nur dadurch bewußt, daß wir dasselbe wiederum zum Objekt machen" (WL n.m.; GA IV,2, 30). Und so geht es fort in den schwindelerregenden Abgrund des Ich weiß, daß ich weiß, daß ich weiß..., „fort ins Unendliche" (VnD; GA I, 4,275). Heißt aber selbstbewußt und für sich zu sein, sich selbst zum Objekt zu haben, dann entzieht sich ein primum subiectum unserer Erfassung. Dieses Resultat scheint für die angenommene Fragestellung verheerend. In Frage steht das Bewußtsein des reinen Selbstbewußtseins, und die Antwort entgeht in endloser Iteration. Im regressus in infinitum kommt es auf keiner Stufe und an keinem Punkte zu einem Ersten Subjekt. Und es kommt in eins zu keinem entgegenstehenden Objekt, sofern es gar kein Objekt ohne Subjekt gibt. Also wäre das Bewußtsein „Ich stelle etwas vor" unbegreiflich. Angesichts dieser Aporie tut es not, den Grundfehler der Verirrung scharf ins Auge zu fassen. Er liegt nicht in der „mundanen", von der Welt abstrahierenden Reflexion; denn unbestreitbar komme ich zu mir selbst in abkehrender Unterscheidung vom Welthaften, das ich nicht bin. Und der Irrtum liegt auch nicht auf seilen der „egologischen" Reflexion; denn selbstverständlich bleibt die Entzweiung des Ich in Subjekt- und Objekt-Ich für ein Selbstbewußtsein konstitutiv, das sich auf sich in der Helle von Unterschied und Bestimmtheit bezieht. Der Mangel besteht in der abstrakten Vereinseitigung, welche ein Moment der Reflexion zum absoluten Grundakt übersteigert, nämlich das unterscheidende Sondern. So war die Reflexionsiteration gerade vorgegangen. „In jedem Bewusstseyn also wurde Subject und Object von einander geschieden, und jedes als ein besonderes betrachtet; dies war der Grund, warum uns das Bewußtseyn unbegreiflich ausfiel" (ebd.). Eine Position, welche die separierende Reflexion für die Entstehung und Erklärung des Ich-Bewußtseins ins Feld führt (das in der Forschung so genannte Reflexionsmodell), muß in folgendes ausweglose Dilemma

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geraten: Entweder hat das Ich von sich noch kein Bewußtsein als Erstes Subjekt-Objekt, weil es dessen Entstehung der Reflexion schuldet dann entzieht es sich in endlosem Regreß; oder das Ich hat schon Bewußtsein von sich, dann kommt die Reflexion als Entstehungsmittel zu spät. Gibt es in der „Neuen Darstellung" außer der Warnung vor dem Irrlicht der separierenden Reflexion im Scheitern eines „Experiments" einen positiven Ertrag für die Erklärung des Bewußtseins? Es greift ein apagogischer Beweis. „Nun ist aber doch Bewußtseyn; mithin muß jene Behauptung falsch seyn. Sie ist falsch, heißt: ihr Gegenteil gilt" (ebd.). Die Falschheit einer Position bedeutet im Falle einer ausschließenden Disjunktion die Richtigkeit der Gegenposition. Nun ist der eine Standpunkt der eines Bewußtseins, in welchem das Subjekt und Objekt immerfort getrennt und unterscheidbar sind. Der entgegengesetzte wäre zweifellos der, in welchem Subjekt und Objekt absolut dasselbe sind. Tertium non datur. Entweder ist das Selbstbewußtsein prinzipiell nichtidentisch oder identisch (gleichgültig, in wie vielfacher Bedeutung die Identität gedacht werden mag, als Indifferenz, Koinzidenz, Inkludenz oder als absolute Identität). Nun ist der Weg der einen Position ein Irrweg. Er ist falsch, sofern in ihm das Bewußtsein, das es doch gibt, niemals zustande kommt. Also ist der andere Weg richtig. Er führt zur Annahme einer intellektuellen Anschauung hin und zur Ausgangsfrage zurück: „Wie kommst du nun zu diesem Bewußtseyn deines Denkens?" (GA 1,4,276). Die transzendentale Frage stellt sich so auf: Welches sind die notwendigen Bedingungen dafür, daß der Mensch Ich sagen kann? Wie, dank welcher Konstitution entsteht das Bewußtsein der reinen, in sich zurückkehrenden Tätigkeit?" Dabei ist für die Genesis des Selbstbe99

Dieser Frageansatz ist methodisch streng von der Analyse eines „stammesgeschichtlichen Aposteriori" in den Untersuchungen der evolutionären Erkenntnistheorie zu unterscheiden; vgl. Transzendentalphilosophie und Evolutionstheorie = FichteSt IV (1992), insbesondere 153-155. Das verlangt der transzendentale Vorbehalt ebenso wie der unaufhebbare methodische Zirkel. Die Transzendentalphilosophie leistet Verzicht darauf, das Ich noch jenseits seiner ursprünglichen Selbstgegebenheit im Bewußtsein aufzusuchen und Geschichten über Zustände zu erzählen, da die menschliche Gattung noch nicht im Stande des Selbstbewußtseins und ein Ich noch nicht ichhaft war. Und verwickelt sich nicht die evolutionäre Theorie der Selbsterkenntnis in einen methodologischen Zirkel? Sie will von aller Ichbezüglichkeit abstrahieren und bringt doch im wissenschaftlichen Bewußtwerden ei-

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wußtseins nach dem Muster der Tathandlung vorentschieden: Ausgang ist nicht mehr wie in der Überlieferung ein Subjekt im Stande möglicher Selbstbeziehung, so als läge ein gegebenes Ich vor, auf welches das Bewußtsein im Reflexionsprozeß zurückkomme. Element der Ichheit ist nicht ein Sich-auf-sich-Zurückbeziehen, sondern ein „subjektloses" Sich -selber-Setzen. Und diese ursprüngliche Tätigkeit ist nur, indem sie im Stande des Fürsichseins ist, und indem sie im Stande des Fürsichseins ist, setzt sie sich selbst. Damit kann eine einfallende Antwort sofort abschlägig beschieden werden: Das Bewußtsein komme zufällig zum Sich -Setzen hinzu, es sei hinterher dazugesetzt und nachträglich vermittelt. Das zufällige Hinzutreten scheidet aus, sofern zufällig solches heißt, was sein, aber auch nicht sein kann. Aber es kann niemals sein, daß ich eine Tätigkeit und ein Setzen vollziehe, ohne Bewußtsein davon zu haben. Und dieses notwendige Zusammengehören kann nicht aus einer Verknüpfung stammen, welcher unterschiedene Glieder (ein tätiges Ich in der Stellung des Objekts und ein Bewußtsein davon in der Stellung des Subjekts) vorliegen. Es gibt kein drittes, nachträglich hinzugefügtes Band; denn beide Glieder sind ja immer schon unabtrennlich. Liegt nichts Entzweites in der Gestalt von zwei getrennten Seienden vor, dann kann auch keine äußere Vermittlung durch ein Drittes, gar zufälligerweise, hinzugesetzt werden. Ist mithin die Einigung zur Einheit des Subjektiven und Objektiven im Selbstbewußtsein weder kontingent noch vermittelt, dann folgt: „Das Selbst-Bewußtseyn ist unmittelbar; in ihm ist Subjectives und Objectives unzertrennlich vereinigt und absolut Eins" (VnD; GA 1,4,276). In eins mit dem Zurückgehen der Tätigkeit des Setzens geht das Bewußtsein des Ich auf, und das Bewußtsein des Ich ist gar nichts anderes als die in sich zurückkehrende Tätigkeit im Stande des Fürsichseins. Damit ist unleugbar der Standpunkt einer intellektuellen Anschauung erreicht nes nichtichhaften Substrats jenen Ichbezug wieder auf, von dem sie völlig absehen will. Ein Welt- und Naturzustand ohne Ichbezüge ist vom Menschen aus nicht vorstellbar. Natürlich kommt in transzendentaler Methode die Frage nach der Genesis des Selbstbewußtseins zur Sprache. Sie entzündet sich ja geradezu am Problem der Zirkularität und Iteration in der Entstehung des sich reflektierenden Bewußtseins. Aber solche Genetisierung der Tatsache des Selbstbewußtseins geht auf übergeschichtliche Strukturen ein, nicht auf eine naturhistorische Entwicklung gar auf dem Stande eines „hypothetischen Realismus", der Anpassungen eines „Weltbildapparates" an das objektiv Reale der Außenwelt zugrunde legt; Konrad Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, München 1973.

Selbstbewußtsein und intellektuelle Anschauung

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und gerechtfertigt. Das Bewußtsein absoluter Selbsttätigkeit ist unvermittelt, und ein unmittelbares Innesein heißt Anschauung. Und da es sich nicht um eine sinnliche Anschauung (auch nicht des inneren Sinnes) handelt, kann die Anschauung zu Recht intellektuelle Anschauung heißen. „Also - die Intelligenz schaut sich selbst an, bloß als Intelligenz oder als reine Intelligenz, und in dieser Selbstanschauung eben besteht ihr Wesen. Diese Anschauung wird sonach mit Recht... intellectuelle Anschauung genannt" (GA 1,4,277-278). „Intelligenz" dient hier zum Gegenwort zu Ding. Ihm kommt im Unterschied zur einfachen kausalen Reihe dinghaften Wirkens die „doppelte Reihe" von realer Tätigkeit und idealem Sich-Wissen als tätig zu. (Sonst zieht Fichte dem Wort Intelligenz den Terminus Ichheit vor.) Intellektuelle Anschauung heißt somit nichts anderes denn Selbst-Anschauung der Intelligenz, worin Angeschautes und Anschauendes untrennbar eins und dasselbe sind. Und das ist mehr als eine Nominaldefinition. Diese Auskunft erklärt nicht nur den Namen, sie rechtfertigt die Annahme einer intellektuellen Anschauung als höchste, unverrückbare Bedingung für das selbstbewußte Bewußtsein von dem, was ist. „Die intellectuelle Anschauung ist der einzige feste Standpunkt für alle Philosophie" (VnD; G A 1,4,219). Das leuchtet ein, wenn die angemutete Deduktionsreihe verlebendigt worden ist: kein Ding ohne Bewußtsein des Dinges, kein Bewußtsein ohne Selbstbewußtsein, kein Selbstbewußtsein ohne reine Tätigkeit, keine reine Selbsttätigkeit ohne unmittelbares Bewußtsein (des Ich als Subjekt-Objekt), kein Ich-Bewußtsein ohne intellektuelle Anschauung. 8.3 „Sich Setzen als setzend": Klärungen der Theorie des Selbstbewußtseins im Lichte intellektueller Anschauung Über die Art des unmittelbaren Bewußtseins, welche allein Einheit und Identität in aller Sonderung von Subjekt und Objekt verspricht, ist hinreichend gehandelt. Aber welche Struktur kommt nun dem „Setzen" in der Gestalt intellektueller Anschauung zu? Ihre Aufstellung müßte die Theorie des Selbstbewußtseins eigentlich zu einer neuen, bisher übersehenen Durchsichtigkeit bringen. „Die Anschauung, von welcher hier die Rede ist, ist ein sich Setzen als setzend (irgend ein Objectives, welches auch ich selbst, als bloßes Object, seyn kann,) keineswegs aber etwa ein bloßes Setzen; denn dadurch würden wir in die soeben aufgezeigte Unmöglichkeit, das Bewusstseyn zu erklären, verwickelt. Es liegt

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mir alles daran, über diesen Punkt, der die Grundlage des ganzen hier vorzutragenden Systems ausmacht, verstanden zu werden" (VnD; G A I, 4,276). Es ist überdeutlich, die Ais-Formel des Selbstbewußtseins soll die Gefahr der Bewußtseinsiteration bannen. Geht die Ichheitsanalyse vom bloß seienden Sich-Setzen in der isolierten Grundsatzfassung „Das Ich setzt sich schlechthin selbst" aus, dann entzieht sich der Wahrheits-, Einheits- und Bewußtseinsgrund in die Endlosigkeit eines immer wieder sondernden und entzweienden Reflektierens. Also ist eine solche Sonderung und Entzweiung einzuführen, welche in eins Selbigkeit und Identität aufbringt. Und mithin geht es bei der „Revision" des 1. Grundsatzes der Wissenschaftslehre 94 nicht so sehr darum, auszudrücken, wie aus dem bruchlos Einen die Doppelung der Selbsterkenntnis entspringt; der Akzent der Ais-Formel liegt im Kontext der „Neuen Darstellung" darauf, die Sonderung und Verdoppelung (von Subjekt-Ich und Objekt-Ich) aufzustellen und in eins aufzuheben. Recht besehen, handelt es sich auch gar nicht um eine Grundsatz-Änderung, sondern um die Komplementierung einer Formel, welche schlagend die Explikation des Ersten Grundsatzes in § l der „Grundlage" zusammenfaßt; denn dort war das, was bereits die „Eigne Meditation" und die SchulzeAenesidemus-Rezension unter dem Titel einer intellektuellen Anschauung ins Auge gefaßt hatten, Schritt für Schritt zum Satz auseinandergefaltet: Das Ich ist, was es ist und weil es ist - beides für das Ich. Das Fürsichsein wesenhafter Selbsttätigkeit, die intellektuelle Anschauung, kommt noch einmal einprägsam und im Zusammenhang mit der Iterationseinsicht zur Sprache. Die von Fichte substantivierte Präposition „als" (das Als) ist eines der philosophisch sprechenden Verhältniswörter überhaupt. Die Erste Philosophie stellt sich ja in der Frage nach dem Seienden als einem Seienden, auf. Im Zuge der Rückbeziehung des Seienden auf einen apriorischen Bewußtseinsbestand kommt das Verhältniswort Als im Aufbau der grundgebenden Selbstbeziehung des Sich-Setzens zum Zuge, und zwar in der Einheit von Beziehung und Sonderung. Das war schon in der Heraushebung des apophantischen Als (der Beziehung von Subjekt und Prädikat im Aussagesatz) durch Aristoteles deutlich geworden. Im Urteil „Sokrates ist blond" wird etwas (Sokratessein) als etwas anderes (Blondsein) angesprochen. Hier bringt das Als Unterschiedenes in der Weise der Sonderung zusammen. Im Urteil „Sokrates ist Mensch" dagegen wird etwas als es selbst angesprochen. Hier bindet das Als Geson-

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dertes in der Weise der In-eins-Setzung zusammen. Nichts anderes geschieht formal in der Aufstellung des „Sich Setzens als setzend". Die Entzweiung und immer fortgehende Sonderung des Sich-Setzens (als eines Bewußten in der Stellung des Ich-Objekts) von einem Setzen als Bewußtseiendem (in der Stellung des Ich-Subjekts) wird unterbunden. Das geschieht durch Ineinssetzung des Sich-Setzens als eines solchen. So findet sich die Zweiheit des Selbstbewußtseins ursprünglich vereinigt, und zwar in der unmittelbaren Selbigkeit des Sich-Setzens als setzend. Sicherlich erwächst diese Strukturformel der intellektuellen Anschauung aus der Einsicht in die Unvollständigkeit der Thesis eines schlechthinnigen Sich-Setzens und in die Irrnis der separierenden Reflexion. Aber sie spricht auch aus der Konfrontation mit den Unzulänglichkeiten geschichtlich vorliegender Konzepte.100 Darum schließt der 2. Abschnitt im 1. Kapitel der „Neuen Darstellung" mit einer dreifachen Berichtigung ab. Kritisch korrigiert werden die drei Thesen: 1. Das Ich sei bloßes Subjekt, 2. Selbstsetzung sei Hervorbringung der Existenz des Ich, 3. Selbstanschauung verlange die Voraussetzung eines existierenden Ich. 1. „Das Ich ist nicht zu betrachten, als bloßes Subject, wie man es bis jetzt beinahe durchgängig betrachtet hat, sondern als Subject-Object 100

Die souveräne, systematische Analyse von Karen Gloy, Selbstbewußtsein als Prinzip des neuzeitlichen Selbstverständnisses, in: FichteSt 1(1990)41-72 konzentriert sich auf Fichtes Theorie. (Der Hegelianismus bleibe in der Analyse des Selbstbewußtseins unproduktiv.) Diese erwachse aus der Einsicht in die dreifache Schwierigkeit des traditionellen „Reflexionsmodells" wie des „Substanz-Akzidenz-Modells" (Dilemma der Identifikation, Zirkel, infiniter Progreß). Andererseits vermag auch das „Produktionsmodell" nicht, den Schwierigkeiten zu entgehen. Es schlichen sich reflexionstheoretische Momente ein, es werde der Ungedanke einer causa sui beansprucht, es bleibe ein Begründungsdefizit für die Einheit von Selbstproduktion und Selbstbewußtsein. Gegen diese scharfsinnige Kritik läßt sich in gebotener Kürze sagen: Natürlich bleiben Reflexion und Selbstbeziehung auf dem Grunde des Sich-Setzens erhalten, aber nicht mehr als Einheitsgrund, wohl aber als Konstitutionsmomente. Die causa-sui-Problematik tritt auf, wenn das Sich -Setzen gegen Fichtes Monitum als Existenzerzeugung und Ins-Dasein-Rufen unter der temporalen bzw. logischen Ursache-Wirkung-Kategorie und nicht als ursprüngliches Fürsichwerden verstanden wird; und das Begründungsdefizit wird drückend, wenn die intellektuelle Anschauung nicht gehörig in Anschlag gebracht worden ist.

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in dem angegebenen Sinne" (VnD; GA 1,4,277). Die Rede vom Ich als Subjekt und von der Erhebung des Ich zum primum subiectum in aller Subjektivitätsphilosophie herrscht vor, seitdem sich die Idee als Vorstellung und Apperzeption in die Stellung eines Vor- und Zugrundeliegenden ( /primum subiectum) gebracht hatte. Und nichts scheint folgerichtiger: Erweist sich das reine Selbstbewußtsein als vorausliegender Einheitsgrund allen Bewußtseins von dem, was für uns ist, dann ist das Ich (ego, Ich-denke, Apperzeption) als das maßgebende Subjekt zu betrachten. Nun geht die Philosophie in ihrer Rückwendung zum Ich-Subjekt schon den rechten Weg, aber sie geht ihn nicht zu Ende. Sie beläßt ihr oberstes Prinzip in der Unbestimmtheit eines „bloßen Subjekts". Als bloßes Subjekt bleibt das reine Ich ein unerkennbares Substrat, ein X, da es doch aller Erkenntnis immer schon vorausliegt, es sei denn, es verliert als Bestimmtes und Bewußtes den Rang eines Ersten Subjekts. Das sind vorläufige Schwierigkeiten. Sie verschwinden, wenn das Ich als Subjekt-Objekt-Identität in der Bewußtseinsweise der intellektuellen Anschauung als Einheitsgrund zugrunde gelegt wird. 2. Zum hartnäckigen Mißverständnis wird ein Vorurteil, welches dem 1. Grundsatze der Wissenschaftslehre anhängt: Das sich schlechthin selber setzende Ich (Subjekt-Objekt) bringe die Existenz eines Ich hervor. Das ist absurd. „Es soll durch dieses sich selbst Setzen nicht etwa eine Existenz des Ich, als eines unabhängig vom Bewußtseyn bestehenden Dinges an sich, hervorgebracht werden" (ebd.). Die Abwehr dieses schier unausrottbaren Mißverständnisses kann im Lichte der Sichanschauung noch einmal die erste und ursprüngliche Einsicht Fichtes zur Sprache bringen. Die Fehldeutung beharrt auf folgender Überlegung: Setzen besagt Tätigkeit und Produktion; schlechthinnige Tätigkeit ist ursprüngliche Produktion und Erschaffen von Wirklichkeit; sich schlechthin selber setzen bedeutet demnach den Urakt, in welchem das Ich sich selber in seiner Existenz hervorbringt. Aber das ist widersinnig, und zwar sowohl vom Hervorgebrachten als auch vom Hervorbringenden aus. Bedeutet existieren, aus dem Bezug zur hervorbringenden Ursache entlassen zu sein und als Ding an ihm selbst zu bestehen, dann würde das Ich, aus dem Bezug zur hervorbringenden Selbsttätigkeit entlassen, als Ding an sich existieren. Und als das Sichhervorbringende im Stile einer causa efficiens sui ipsius verfiele das Ich dem in allen Schulen vorgeführten Zirkel: Es wäre früher als es selbst; es müßte als causa sein, bevor es als effectus existiert. Gegen solche Verkennungen muß

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Fichtes erste Einsicht in Erinnerung gerufen werden. „Die Vernunft ist kein Ding, das da sey und bestehe, sondern sie ist Thun, lauteres reines Thun" (SSL; GA 1,5,68). Dem Ich kommt gar nicht dinghafte Existenz zu, es kommt nicht vor und ist vorhanden wie ein Baum, ein Ofen oder diese Wand. „Unser Wesen ist nehmlich nicht ein materielles Bestehen, wie das der leblosen Dinge, sondern es ist ein Bewußtseyn" (SSL; GA 1,5,60). Die Wirklichkeit des Ich ist die Urhandlung der intellektuellen Anschauung und nichts anderes. „Ich bin diese Anschauung und schlechthin nichts weiter, und diese Anschauung selber ist Ich" (VnD; GA 1,4,277). Zu sein und wirklich zu leben, bedeutet für das Ich, den Akt der intellektuellen Anschauung zu vollziehen. Daraus entsteht und darin besteht es. Hört dieser Selbstbezug auf, erlischt das Bewußtsein der endlichen Subjektivität. Der Geist als endlicher ist tot. Mithin besagt das schlechthinnige Setzen lediglich, sich seiner selbst bewußt werden, und nicht etwa, sich Existenz und dinghaftes Bestehen an sich geben aus nichts. 3. Wie aber steht es mit einer Auffassung, welche dem Akt der Selbstanschauung ein existierendes Ich voraussetzt Auch gegen solche Hypothesis der Ich-Substanz verwahrt sich die Theorie der intellektuellen Anschauung, und zwar dadurch, daß sie durch Abgrenzungen ihren eigenen genuinen Standpunkt deutlicher umgrenzt. „Eben so wenig wird dieser Anschauung eine vom Bewußtseyn unabhängige Existenz des Ich, als (anschauenden) Dinges vorausgesetzt" (ebd.). Die Unterstellung des Ich als eines anschauenden Dinges reicht sicherlich bis zu Descartes' Ansatz des ego qua res cogitans zurück. Danach bestünde die Ichheit in der Relation von Substanz und inhärierenden Attributen - analog zur substantia extensa - als einem an sich bestehenden Ding, dem es zukommt, sich selber anzuschauen. Die subtilere Tendenz, dem Bewußtsein der Subjekt-Vorstellung ein immer schon bestehendes Vorstellen als Tatsache überhaupt vorauszusetzen, schreibt Fichte den „berühmtesten Weltweisen unseres philosophischen Jahrhunderts" zu.101 Sie ist da101

Vielleicht bezieht die Wendung gegen die „berühmtesten Weltweisen unseres Jahrhunderts" Karl Leonhard Reinhold mit ein. In der schrittweisen Absetzung von der Elementarphilosophie wendet sich die Wissenschaftslehre jedenfalls auch dagegen, dem Selbstbewußtsein (Bewußtsein des Subjekts) den Satz der Vorstellung als Tatsache des Bewußtseins vorauszusetzen. In „Über das Fundament des philosophischen Wissens" hat Fichte solche Voraussetzung gelesen: ,J)ie Thatsache des Bewußtseins war von jeher vorhanden" (mit einer Einl. hg. von Wolfgang Schrader, Hamburg 1978,110). Und hat Reinhold nicht selber mit sympathi-

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rum nachhaltig zu widerlegen. Das geschieht durch den Nachweis eines gnoseologischen Zirkels. Ein circulus vitiosus liegt vor, wenn das Bedingende durch das, dessen Bedingung es ist, selber bedingt wird. Auf den Fall des Ich angewendet: Ein unabhängig von Selbstbewußtsein und Sichanschauung existierendes Substrat soll das Selbstbewußtsein bedingen; aber das Selbstbewußtsein ist und bleibt doch Bedingung dafür, daß von einem Substrat überhaupt geredet werden kann, sofern ich von nichts reden kann als von solchem, dessen ich mir bewußt bin. Aus diesem Zirkel gibt es für die Cartesianische Weltweisheit kein Entrinnen. Der Zirkelnachweis hat eine andere Struktur als das Argument der Iteration. Der Aufweis des regressus in infinitum in kritischer Betrachtung der separierenden Reflexion zeigt die Unfaßlichkeit eines Ich auf, das sich ständig in höhere Stufen der Reflexion entzieht. Der jetzt eingeworfene Nachweis des Zirkels zeigt die Fehlerhaftigkeit einer IchTheorie, welche Ich und Sichanschauung bzw. Selbstbewußtsein ständig im Wechsel von Bedingendem und Bedingtem gleichsam auf derselben Ebene in sich kreisen läßt. Warum gibt es aus dieser Zirkelhaftigkeit für die Substrat-Hypothese kein Entkommen? Der Versuch, dem Zirkel zu entgehen, endet in einem Dilemma, d.h. in zwei Möglichkeiten mit der Form des Entweder - Oder, die beide unzulässig sind. „Ihr müßtet entweder gestehen, daß Ihr von etwas redet, ohne davon zu wissen ... oder ihr müßtet leugnen, daß das aufgezeigte Selbstbewußtsein alles andere Bewußtsein bedinge" (ebd.). Daraus spricht die Konsequenz des transzendentalphilosophischen Gedankens. Er liquidiert, indem er Zustimmung fordert, die Trennung von Ich-Substanz und Ich-Akt; denn weder kann zugelassen werden, daß ich von etwas rede, ohne davon zu wissen, daß ich rede (da ja das Ich-denke alle meine Vorstellungen muß begleiten können); noch darf der Satz gestrischer Ehrlichkeit eingestanden (Brief vom 14.2.1797; Seh. Nr. 284): „Ich erstaunte, daß ich die Thätigkeit, die zu jeder anderen vorausgesetzt wird, und keine andere voraussetzt, solange und so albern verkennen konnte. Der Unterschied zwischen jenem Ich als Subjekt - die Möglichkeit der Vorstellung und der Zusammenhang zwischen dem praktischen und theoretischen Theil u.s.w. ergeben sich nun gleichsam von selbst". - Zur Dokumentation der Wechsel- und spannungsvollen Beziehung Fichte-Reinhold vgl. Reinhard Lauth, Fichtes und Reinholds Verhältnis vom Anfange ihrer Bekanntschaft bis zu Reinholds Beitritt zum Standpunkt der Wissenschaftslehre Anfang 1797, in: Ders. (Hg.), Philosophie aus einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold, Bonn 1974.

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chen werden, Selbstbewußtsein und Sichanschauung bedingen alles Bewußtsein (das würde die Grundeinsicht neuzeitlichen Denkens desavouieren). Vielmehr muß gelten: Der Grundvollzug des Bewußtseins, das Sich-selber-Setzen, ist die unmittelbare Einigung des Subjekt-Objekt im Vollzuge intellektueller Anschauung, welche alles andere Bewußtsein vermittelt. Es ist sogar ontologisch abwegig, das Ich als ein Etwas anzunehmen, dem das Vermögen zukommt, vorstellen zu können. „Es ist zum wenigsten unphilosophisch, zu glauben, daß das Ich noch etwas anderes sey, als zugleich seine That und sein Produkt. So wie wir von dem Ich als einem thätigen hören, ermangeln wir nicht sogleich ein Substrat uns einzubilden, in welchem die Thätigkeit, als bloßes Vermögen, inwohnen soll ... Das Ich ist nicht etwas, das Vermögen hat, es ist überhaupt kein Vermögen, sondern es ist handelnd; es ist, was es handelt, und wenn es nicht handelt, so ist es nichts" (NR; GA 1,3,334). Das unmittelbare Innesein solchen Handelns heißt intellektuelle Anschauung. Also bringt Fichte die Ansicht der intellektuellen Anschauung ins reine, indem er drei vorherrschende Subjekttheorien ad absurdum führt: 1. Das Ich kann nicht als bloßes Subjekt unterstellt werden; es ist Subjekt-Objekt in der untrennbaren Identität einer Anschauung, in welcher sich die Intelligenz als Sich-Setzen unmittelbar inne ist. 2. Das schlechthinnige Sich-Setzen bringt nicht das Ich in seinem Existieren und Bestehen hervor; das Ich besteht in nichts anderem als im Lebensvollzug einer intellektuellen Anschauung, welche das SichSetzen der Intelligenz hervorbringt. 3. Das Ich ist nicht ein anschauendes Ding, das dem Attribut des Sichvorstellens tatsächlich vorausgesetzt wäre; die einzige unbedingte und unvermittelte Voraussetzung allen Bewußtseins ist die Aktuosität eben eines intellektuellen Anschauens.

EXKURS Schellings Erhebung der intellektuellen Anschauung zur Selbstanschauung des Absoluten Auf dem unruhevollen Denkwege Schellings wandelt sich die Selbstanschauung menschlicher Intelligenz zur Vernunftanschauung und Kontemplation des Absoluten. Das einzige Organ transzendentalen Denkens wird zum „Organ göttlicher Selbsterkenntnis" (Syst. der gesamten Philosophie 1804; SW IV, 143). „Die Erkenntnißart des Absoluten also, wenn sie eine absolute ist, ist auch eine contemplative. - Jede unmittelbare Erkenntnißkraft ist überhaupt = Anschauung, und insofern ist auch alle Comtemplation Anschauung. Da aber die Vernunft hier nur die erkennende ist, so ist diese Anschauung eine Vernunft, oder, wie sie sonst genannt wird, eine intellektuelle Anschauung" (SW IV, 153). So wäre intellektuelle Anschauung nicht mehr bloß der Akt, welcher das Unbedingte in uns, sondern das Unbedingte an ihm selbst ersieht.102 Wie kommt es zu solche überschwenglicher Erhebung? Die gegenseitige Versicherung intellektueller und ästhetischer An102

Die überaus sorgfältige Untersuchung von Ingtraud Görland, Die Entwicklung der Frühphilosophie Schellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, Frankfurt a.M. 1973 illustriert die Neubestimmung der intellektuellen Anschauung am gewandelten Methodenvergleich zur Geometrie (190-196). Der transzendentale Vergleich sieht darauf, daß auch in der Geometrie Handlungen, z.B. das Linienziehen postuliert werden, die einen Gegenstand hervorbringen, der nur in der Konstruktion besteht, und die ein der intellektuellen Anschauung analoges Vermögen verlangen, Handlungen des Geistes zugleich zu produzieren und anzuschauen. Der „fernere" Vergleich erläutert die intellektuelle Anschauung als Vermögen, das Allgemeine im Besonderen, das Unendliche im Endlichen als lebendige Einheit vereinigt zu sehen. So sieht der Geometer im Kreis oder Dreieck weder bloß das Urbild noch den konkreten Kreis oder ein konkretes Dreieck, sondern die Einheit des Allgemeinen/Denkens und des Besonderen/Seins. Und solch intellektuelle Anschauung wird dadurch zum absoluten Erkenntnisakt, daß das Ich depotenziert wird. Und das geschieht, indem von der Subjektivität der intellektuellen Anschauung gänzlich abstrahiert wird.

Intellektuelle Anschauung als Selbstanschauung des Absoluten

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schauung in Schellings „System des transzendentalen Idealismus" 1800 ist Episode geblieben. Deren Schlußsatz hatte erklärt: „Die ästhetische Anschauung eben ist die objektiv gewordene intellektuelle" (SW III, 625). Intellektuelle Anschauung heißt dabei die angemessen Bewußtseinsart des Unbedingten und des schlechthin Nichtobjektivierbaren. Sie gerät in den Verdacht des Zweifels. Wie kann ich sicher sein, daß die Anschauung eines schlechthin Nichtobjektivierbaren nicht auf einer subjektiven Täuschung beruht? Fichte hat die intellektuelle Anschauung freier Selbsttätigkeit in der Gewißheit des Sittengesetzes verankert. Schelling weist auf das Wesenhafte der Kunst und die Tätigkeit des Genies. Das Unbedingte und die Wahrheit selbst, d.i. die nicht objektivierbare Subjekt-Objekt-Übereinstimmung ist objektiv da und wirklich bezeugt in der Offenbarung der Kunst; „denn eben jener ursprüngliche Grund aller Harmonie des Subjektiven und Objektiven, welcher in seiner ursprünglichen Identität nur durch die intellektuelle Anschauung dargestellt werden konnte, ist es, welcher durch das Kunstwerk aus dem Subjektiven völlig herausgebracht und ganz objektiv geworden ist" (SW 111,628). Der Fortgang zum Identitätssystem aber theologisiert die Grundverhältnisse intellektueller Anschauung, und zwar in Hinblick auf Zeit und Ewigkeit. Kritisch bedacht, ist das angeschaute Unbedingte, das Ich, ein Ewiges. Ist nämlich das reine Selbstbewußtsein der Akt, der Zeit und Dauer allererst konstituiert, dann ist es selber nicht der Zeit verhaftet. Der Zeit bildende Akt ursprünglicher Selbstkonstitution fällt nicht selber in die Zeit, er liegt ihr zeitlos voraus. Und ziehen wir uns im Stande intellektueller Selbstanschauung nicht wirklich, dem Wechsel der Zeit enthoben, in ein ewiges Selbst zurück? „Seine Urform ist die des reinen ewigen Seyns... die Form seiner intellektualen Anschauung ist Ewigkeit" (Vom Ich; SW 1,202). Mithin erreicht intellektuelles Anschauen das Ewige, und zwar in uns. Das leuchtet vom transzendentalen Gesichtspunkt aus ein. Kann das Unbedingt-Ewige als schlechthin Nichtobjektives nicht außer uns sein, dann muß es das Absolute in uns sein. Nun aber verlegt das Identitätssystem das Ewige und den Ursprung der Zeit aus dem Ich in das Absolute selbst. Die transzendentale Hypothesis einer Vorzeitigkeit des Ich wird zur theo-logischen Frage nach dem Ewigen selbst. Zeit erweist sich mehr und mehr als die Weise, wie sich das Göttliche (nach Hölderlin: der „Herr der Zeit") als Wirkliches manifestiert. Und in die Tieferlegung des Anfangsgrundes wird die intellektuelle Anschauung mit hin-

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eingezogen. Sie wird zum einzigen Werkzeug und Organ erklärt, welches ein von sich her einleuchtendes Absolutes, die reine Evidenz, aufnimmt. Glaube, Ahnung, Gefühl bleiben demgegenüber unangemessen. „Es gibt also eine unmittelbare Erkenntnis des Absoluten (und nur des Absoluten). Wir nennen diese Erkenntnis: intellektuelle Anschauung" (Fernere Darstellung, 1803; SW IV.368). Recht bedacht, ist die intellektuelle Anschauung das Organ, wodurch Gott in Gott geschaut wird. Das Sehen des Ewigen selbst geschieht nicht aus menschlicher „Selbstmacht". Menschliche Vernunfterkenntnis und Kontemplation ist nichts als der Ort, an welchem sich göttliche Selbsterkenntnis vollzieht. „Das Princip der absoluten Erkenntniß ist dasjenige von der Seele, wodurch sie selbst in Gott ist, das Princip der intellektuellen Anschauung, wodurch sie Gott in Gott schaut" (Syst. d. gesamten Philos., 1804; SW VI,561). Und das geschieht so, daß sich auf der Höhe der Vernunft Wissenschaft unser sterbliches Auge schließt. Hier sieht nicht mehr der Mensch. Das ewige Sehen selbst ist in ihm sehend geworden. In dieser Vereinigung mit Gott versinkt die Zeit mitten in der Zeit vor dem Lichte der Ewigkeit.103 Auf dem Boden der Scheidung von negativer und positiver Philosophie, der die Selbstbegrenzung der Vernunft wieder wachsen läßt, rückt ein verborgener Grundzug intellektueller Anschauung in den Vorder103

Eine Dokumentation der intellektuellen Anschauung im Denken Schellings bis zum Erreichen der philosophischen Theologie und der Ekstatik, kritische Erwägungen zur Selbstbegründung intellektuellen Anschauens und eine Problematisierung der Anschauung des Ewigen im Ich bietet Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen I §§ 46-49, München 21972,259-283. Am Ende stellt Weischedel die philosophische Theologie Schellings radikal in Frage. Verlangt die intellektuelle Anschauung nicht nur das Abarbeiten der Endlichkeiten des empirischen Ich, sondern die Vernichtung aller Bewußtseinsrelationen, warum eröffnet sich dann die Affirmation Gottes - und nicht vielmehr das Nichts? Warum bildet das eigene Nichtsein einen Durchgang zum Sein und nicht den Übergang zum Nichts? „Sollte also das Nichts das letzte Ergebnis der kritischen Untersuchung der intellektuellen Anschauung sein? Ist das letzte Wort der frühidealistischen Grunderfahrung, die behauptet, Erfahrung Gottes zu sein, der Nihilismus?" (281). - Das trifft Fichtes Rede von der Vernichtung des Begriffs nicht. Denn in der absoluten Abstraktion sind in sich geschlossenes Sein und das Nichts an Bewußtseinsrelationen dasselbe, und überdies ist die intellektuelle Anschauung in der Erscheinungslehre nicht wie bei Schelling - „ohne Rückkehr in sich selbst" (SW 1,325). Sie kehrt zurück und mit ihr die ganze fünffache Bewußtseinsstruktur als einziges Dasein des Seins.

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grund, das Verhältnis der Selbstverlorenheit und Selbstaufgabe. „Anschauung nannte man es, weil man annahm, daß im Anschauen oder (da das Wort gemein geworden), im Schauen das Subjekt sich verliert, außer sich gesetzt ist: intellektuelle Anschauung, um auszudrücken, daß das Subjekt hier nicht in der sinnlichen Anschauung, in einem wirklichen Objekt verloren sey, sondern verloren, sich selbst aufgebend in dem, was gar nicht Objekt seyn kann" (Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft, 1821; SW IX.229). Das wird herausgehoben: Die Grundstellung der intellektuellen Anschauung ist ein Außersichsein, in welchem sich die Selbstbeziehung des Ich aufgibt. Insofern Anschauen als Sein beim Angeschauten die Selbstverlorenheit und das Außersichsein betont, ersetzt Schelling den Namen intellektuelle Anschauung durch Ekstasis. Ekstatisch ist das Ich außer sich, d.h. aus seiner Stelle als Erkenntnissubjekt gesetzt. In dieser Ekstase läßt der Mensch nicht nur von allem Seienden - auch von Gott, sofern Gott endlichem Verstehen wie ein Seiendes vorkommt -, er läßt von sich ab und verläßt seinen Standpunkt objektivierenden Begreifens. Aber solches Lassen führt nicht zur Besinnungslosigkeit. Selbstverloren, staunend, von Verzweiflung erlöst, schaut der Mensch ein Unvordenkliches. Vor dem Ansehen des absoluten Prius und Nur-Existierenden beugt sich eine Vernunft, die ihr Nichtwissen weiß. Das Denken verstummt.

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8.4 Sich-Durchschauen als Schema göttlichen Lebens im Schauen des Soll (Die Wissenschaftslehre, in ihrem allgemeinen Umrisse, 1810, §13) Gegenüber dem dramatischen Bedeutungswandel der intellektuellen Anschauung auf dem Denkwege Schellings vom Organon transzendentalen Denkens über die Selbstanschauung des Absoluten in uns bis zur Selbst-Entsetzung der Ekstasis ist Fichtes Gebot intellektuellen Anschauens sich treu geblieben. Es bleibt von Direktiven Kants geleitet. Im Gebiete der transzendentalen Logik führt die Frage nach dem Selbstoder Fürsichsein der Apperzeption, und in der Grundlegung praktischer Vernunft herrscht das Fragen nach der Wissens- und Gewißheitsart des kategorischen Imperativs. Freilich kommt am Ende eine vertiefte Selbstdurchdringung zur Sprache. Das Ich-Subjekt versteht sich als Erscheinung, Bild, Dasein, Schema des Absoluten, und die intellektuelle Anschauung wird von da gefaßt werden als Sich-Durchschauen (als Schema und Bild göttlichen Lebens) im Schauen des Soll. Beides soll dargelegt werden, die Anknüpfung der intellektuellen Anschauung an die Strukturerhellung der Apperzeption wie an den Willen (als Wurzel des Ich-denke) bei Eingliederung in eine Erscheinungs- und Bildlehre. Dafür kann zuerst die intellektuelle Anschauung als Bewußtseinsart der Apperzeption im Rahmen der einleitenden transzendentalen Logik, 1812 wiederholt werden. Danach wäre eine abschließende Kennzeichnung des Soll im Grundriß der Wissenschaftslehre, 1810 herauszuheben. Für die erste Aufgabe bietet sich der Lehrsatz im 19. Vortrag der ,Logik' zur Erörterung an: „Die intellectuelle Anschauung kann nur sein die eines faktischen Ich; und umgekehrt die faktische Anschauung kann nur sein ein Verstehen des Ich" (TL,152). Die Logik steht hier im Mittelpunkt ihrer Untersuchung, der Synthesis von Anschauung und Denken. Sie bringt dafür den Satz bei, faktische Anschauung sei niemals ohne intellektuelle und umgekehrt. Die Erläuterung dieses Wechselverhältnisses klärt die Grundstellung einer „absoluten intellektuellen Anschauung". Dafür sind drei Fragen zu klären: 1. Was bedeutet faktische Anschauung bzw. faktisches Ich? 2. Was ist intellektuelle Anschauung, abgehoben von der faktischen? 3. Wie steht es mit der behaupteten Unabtrennbarkeit beider auf dem Boden der Einheit transzendentaler Apperzeption? 1. Faktisch bietet das Angeschaute der Anschauung ein Bild in der

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Einheit von a=Raum und b=Qualität. Was unser sinnliches Anschauen vorstellt, ist ein raum-zeithaftes, materielles So-Beschaffenes, geeint durch das In-eins-Bilden der Einbildungskraft. Das ist Sache des faktischen Ich, sofern ein Hingeschautes im Stande des Ich-schaue-hin erscheint. Und das Angeschaute erscheint als gegebenes Faktum, sofern es in seinem Bildcharakter unsichtbar und als vom Ich Gebildetes verborgen ist. („Denn auf die absolute Verborgenheit und Unsichtbarkeit dieses Bildes kommt schlechthin Alles an"; TL,151). Unter diesem Gesetz der Unsichtbarkeit des Bildes kommt das faktische Ich ins Spiel, zu dem die Duplizität des Beziehens auf sich gehört: Ich stelle mich vor als anschauend das und das jetzt hier. 2. Die intellektuelle Anschauung bringt das zweite Strukturmoment des Ich-denke auf. Zur Apperzeption gehört nicht nur der Vollzug einer Selbstbeziehung. Das Selbstsein ist, indem es ein Bild des Selbstbezuges hat. Das Selbst ist nicht nur in sich zurückkehrende Tätigkeit, es sieht dieses Selbstsein als Selbsthaftigkeit. Es sieht sich in dieser Bewegung. Solche Strukturangabe stellt eine intellektuelle Anschauung fest: ein Sehen, welches das Selbstsein sieht. Und es lohnt sich, gegenüber der vereinfachenden Rede von der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption festzuhalten: Intellektuelle Anschauung schafft nicht die Einheit, sie bildet nur nach, was schon ist; die synthetische Einheit der Apperzeption ist Nachbild der analytischen (vgl. 8. Vortr., TL,69 u. 9. Vortr. TL,74). Vom Bildwesen her formuliert: „In B als intellektueller Anschauung ist ein Bild des Bildes schlechtweg, ein Bild des Wesens" (19. Vortr., TL,15l). Die Selbstanschauung der Intelligenz bringt das Bild-Wesen des Ich vor das Denken. 3. Von diesen Vorklärungen aus sollte einleuchten, daß intellektuelle und faktische Anschauung einander wechselseitig bestimmen, und zwar in der Analogie von Wesensmöglichkeit und Wirklichkeit. Beide sind ja Strukturmomente der Ichheit. Intellektuelle Anschauung konstatiert demnach das Sichverstehen des Selbst und gibt dessen Bild-Wesen zu denken. „Aber ein reines Denken giebt es nicht" (ebd.). Im unmittelbaren Sichverstehen wird zwar das Bild rein als Bild begriffen, ob aber eine solche Bildform ist, kann der Wesensmöglichkeit nicht entnommen werden. Dazu braucht es ein faktisches Ich im faktischen Anschauen. Also setzt sich die intellektuelle Anschauung die faktische voraus, mit derselben Notwendigkeit, mit der sie sich der faktischen voraussetzt. Denn natürlich gibt es keine faktische Anschauung ohne intellektuelle. Erst dann ist das Hingeschaute in seinem Bild-Sein verstanden, wenn es

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auf das Bild-Wesen der Apperzeption zurückbezogen wird. Ein Anschauungsbild als von mir hingeschautes kommt erst unter der Voraussetzung des intellektuellen Sichverstehens zum Vorschein. Damit bewährt sich die organische Einheit von Denken und Anschauen in der Einheit der Apperzeption; denn faktisches und intellektuelles Ich sind deren Grundbestandteile und voneinander unabtrennbar, weil sie sich wechselseitig bestimmen und voraussetzen. „Das Ich demnach dem einen seiner Bestandtheile nach, ist faktisches Bild; dem ändern nach, Verstehen dieses Bildes als solchen. Das Ich selbst, die Identität, ist die Unzertrenntheit der beiden" (TL 152). Genau diesen Aufbau hat der Lehrsatz erläutert, die intellektuelle Anschauung sei nur die Wesensweise eines faktisch anschauenden Ich, so wie faktische Anschauung nur der Wirklichkeitsmodus eines intellektuell anschauenden Ich sei. So weit konnte eine transzendentale Logik unter dem Vorbehalte einer Hinleitung zur prima philosophia die von Kant offengelassene Frage nach der Konstitution der Apperzeption im Stande des Fürsichseins intellektueller Selbstanschauung fördern. Die vorgetragene Berliner Erörterung von 1812 scheint kein Jota von der Jenaer 2. Einleitung, 1797 abzuweichen, es sei denn, der Wandel der Wörtersprache bedeute mehr als eine didaktische Variante. Die Grundworte sind aus dem Kreise des Setzens, der Tathandlung, der in sich zurückkehrenden Tätigkeit in den Wortkreis von Bild, Schema, Erscheinung übergegangen. Das spiegelt sich in der Formel intellektuellen Anschauens. Sie lautet nicht mehr: Das Ich setzt sich schlechthin als sich setzend. Sie verwandelt sich in den Satz: Das Bild (ursprünglichen Lebens) versteht sich als Bild. „Kurz darum nochmals. Im Sein des Bildes liegt es: (wenn wir wissen, was wir reden, und energisch denken); das Bild ist dies nur im Verstehen seiner selbst; es stellt darum in diesem Verstehen sich als das Verstandene hin; hebt sich gleichsam ab von sich selbst, in einem Denkbilde. Dies heißt der Satz: die Erscheinung ist schlechthin für sich selbst, sie versteht sich, schaut sich intellectualiter an" (TL, 152-53). Der Wechsel der Worte folgt aus einer Vertiefung der transzendentalen Grundlage. Dabei bleibt Thema der Philosophie das reine, apriorische, sich durch sich gestaltende Wissen von allem, was für uns ist. Und auch das bleibt unverrückbar: Das Wissen ist schlechthin, was es ist und weil es ist - für sich. Das Sehen des Bewußtseins ist kein toter Spiegel wie die Wasserfläche und nicht durch Dinge außer ihm bestimmt. In Wahrheit ist das Wissen absolut, aber es ist nicht das Absolute. Es ist Dasein,

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Bild, Erscheinen des Absoluten. Die Wissenschaft vom absoluten Wissen ist im Grunde Erscheinungslehre des Seins. Und natürlich behält sie gerade als Phänomenologie ihre transzendentale Besonnenheit bei. Die Ur-Teilungen von Subjekt und Objekt, Denken und Sein, Sinnenwelt und Ideenwelt nämlich werden nicht als Selbstentzweiung oder Differenzen des Absoluten oder Indifferenten selber behauptet, sondern aus der Struktur und Gesetzlichkeit ichhaften Wissens hergeleitet. So kommt das Wissen als Bild des Absoluten in einer Wissenschaft zum Austrag, welche das Erscheinen göttlichen Lebens im Gegenbilde der Welt aus dem Bildwesen des Wissens entfaltet. Solchen Fundamentalzusammenhang von Wissen und Gottheit hat der Anfang der Berliner Vorlesungen über die Bestimmung der Gelehrten, 1811 - als Resultat einer tiefergehenden Wissens- und Bildlehre - einfach hingestellt. „Das Wissen ist allerdings schlechthin durch sich selbst bestimmt, keineswegs durch Dinge ausser ihm, deren bloßer Spiegel es wäre; und es ist in dieser seiner Absolutheit das Bild des innerlichen Seins und Wesens der Gottheit. Gott allein ist das wahrhaft Uebersinnliche, und der eigentliche Gegenstand aller Gesichte. Als Bild Gottes und dadurch, daß es dieses Bild ist, ist auch allein da das Wissen, und wird lediglich durch das Erscheinen Gottes in ihm getragen" (NW 111,151). Diese Schlußsätze sind Resultat einer tieferen Untersuchung, der Grundlegung einer prima philosophia in der Gestalt der Wissenschaftslehre. Fichte hat eine einzige Zusammenfassung der späteren Fassungen 1810 veröffentlicht: „Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umrisse" (SW 11,693-709). Es ist die faßliche Summe der Wintervorlesung 1809/10. Hier ist lediglich die Funktion der intellektuellen Anschauung herauszulesen, und zwar in Anknüpfung an den anderen vorgegebenen Ansatz bei Kant, den Zusammenhang von Wille und Anschauung des Soll.104 Das führt in jenen Mittelpunkt hinein, in welchem das reine Wissen wirklich für sich ist und sich als Schema Gottes weiß. Dem zusammengreifenden § 13 entnehmen wir drei Thesen:

104

Der Frage nach der Anschauung des Soll im Rahmen einer Problematik intellektuellen Anschauens ist, soweit ich sehe, keine der Darlegungen und Kommentare der WL 1810 nachgegangen, von der klaren Berichterstattung eines Kuno Fischer bis zum problematisierenden Kommentar von Günter Schulte, Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umriß, Einleitung und Kommentar. Frankfurt a.M. 1976.

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„Der Wille (ist) derjenige Punct, in welchem Intelligiren und Anschauen oder Realität sich innig durchdringen...; er ist ein intelligirendes Princip, er durchschaut sich, und er schaut an das Soll. In ihm ist... das Schema göttlichen Lebens zur Wirklichkeit erhoben" (WL 1810; SW 11,708). 1. Anschauung als Vermögen meint ein unendliches, unbestimmtes, mannigfaltiges Wissen im Stande reflexionsloser Selbst-Anschauung. Es schaut seine Unendlichkeit hin als Raum, seine Selbständigkeit als Dasein im Raum (raumerfulltes Dasein=Materie), die unendliche Gegebenheit seiner Wirksamkeit als unendliche Zeitreihe u.s.f. Selbstverloren hält sich das Wissen in diesem Stande an die raum-zeitlichen Körperdinge sinnlicher Qualität im Horizont der Sinnenwelt. Über diesen Weltkreis kann es nicht hinaus; denn ihm geht die Richtung auf das Eine göttliche Leben ab. Die Wurzel der Anschauung nämlich ist der Trieb, der als Sich-Getrieben-Fühlen bewußt ist. Dem fehlt jede Orientierung an einem Freiheit fordernden Sollen. Darüber erhebt sich das Vermögen reinen Denkens. Es sieht sich als Anfangsgrund des Vorstellens ein und reißt sich vom dunklen Trieb und Getriebenwerden los. Weil es den Trieb vernichtet, kann es sich über die Realität des sinnlich Gegebenen erheben. Damit verliert sich das Sehen nicht mehr selbstverloren in der Mannigfaltigkeit der Körper- und Mitwelt, es ersieht sich selbst in seinem eigenen Lichte. Das Wissen auf dem Stande des Intelligierens erreicht die Einheit des Ich vor und über der unendlichen Vielheit der Körper-Objekte und Ich-Subjekte. Zugleich kommt aber etwas Bedenkliches zutage. Aus der Selbstgenügsamkeit der Theoria sich selbst denkenden Denkens erwächst die Krise des Wissens. Es ist die in der „Bestimmung des Menschen", 1800 an die Wand gemalte Krise des Bild-Wesens in seiner Nichthaftigkeit. Dieser kathartische Nihilismus verstärkt sich, wenn das Intelligieren sich sieht als Bild und Schema des wahren Seins. Ist nämlich Wissen von der Seinsart des Bildes und ersieht es sich als Bild, dann erscheint das sich wissende Wissen als Bild eines Bildes. Haften nun Bild und Schema der Charakter des Nichtseins und Schattens an, dann fällt das rein sich denkende Denken in die Leere des Schattens vom Schatten. Und überdies: Ist das Wissen lediglich Bild absoluten ursprünglichen Lebens und damit Nichtleben, dann ist das sich als Bild bildende Wissen doppelt ertötet. Das scheinbar so feste Fundament des Selbstbewußtseins erscheint in sich selbst ebenso leer wie tot.

Sich-Durchschauen als Schema göttlichen Lebens

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Dieser Beschreibung von Anschauung und Denken zufolge fällt das Eine Wissen krisenhaft auseinander. Im Anschauen hat das Wissen Realität, aber sein wahres Prinzip bleibt unsichtbar - im Denken versteht sich das Wissen auf sich selbst, aber es bleibt leer und tot. Erst im Willen kommen beide zu erfüllter Wirklichkeit, dergestalt, daß sie sich in ihm innig durchdringen. Wille ist praktische Vernunft und damit ein sich wissendes Streben, nicht ein dunkler Trieb. Und der Wille ist, da er sich in der Sinnenwelt auswirkt, real und lebendig. Überdies realisiert der Wille bewußt den Sinnzusammenhang beider Welten. Im Werke des Willens bekommt die Anschauungswelt Sinn, nämlich den, notwendige Bedingung für das wirkliche Erscheinenkönnen des Übersinnlich-Göttlichen zu sein, gemäß dem Gesetz: Soll das intelligibel Übersinnliche real werden, muß die Realität der Anschauungswelt sein. So ist in groben Zügen herausgestrichen, wie der Wille die vermittelnde Mitte bildet, in welcher sich reines Denken und sinnliches Anschauen, Übersinnliches und Sinnliches, Denkform und Realität innig durchdringen. 2. Wie aber gehören Wille und intellektuelle Anschauung zusammen? Der Wille realisiert und verlebendigt die Vernunfteinheit in ihren zwei Aufbaumomenten. Er wirkt als selbstbewußtes Wirken nach Begriffen letztlich unter dem Begriff des Soll. Und er ist in allem sich wissender Wille. In dem, was er ist - nämlich frei -, und in dem, wie er ist - nämlich stehend unter dem Du-sollst -, ist er für sich. Fichte hatte von früh an danach gefragt, was das für eine Weise des Fürsichseins ist. Wie ist der freie Wille sich seines Handelns unter dem Anspruch des kategorischen Imperativs bewußt? Die aufklärende Antwort lautete eben: unmittelbar, aber nicht sinnlich, intelligibel, aber doch anschauend. Am Ende der Wissenschaftslehre 1810 kommt solches Anschauen folgerichtig und angemessen zur Sprache. Der Wille durchschaut sich. Er ist sich seiner freien Wirksamkeit unmittelbar inne. Er schaut an das Soll. Das Gefühl der Verbindlichkeit des Sittengesetzes beruht auf einem intellektuellen Anschauen. 3. Die kritische Schlußfrage steht an. Bildet die intellektuelle Anschauung so, nämlich als Selbstanschauung intelligiblen Willens in seinem Handeln gemäß dem Soll, die ursprüngliche Einheit der Ichheit und das Organon transzendentalen Denkens, oder erhebt sie sich zum Sehen des Ewigen und Absoluten? Die Antwort der Bild- und Erscheinungslehre besagt, intellektuelle Anschauung erhebe zur Wirklichkeit des Wissens als Schema göttlichen Lebens. Über das Bildwesen absoluten Wissens verschafft der Grundriß von

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1810 von Anbeginn Klarheit. Er beginnt nämlich mit einer grundsätzlichen ontologischen Argumentation über das Seinsverhälmis von Absolutem und absolutem Wissen. Das reine Wissen ist und ist absolut (durch sich bestimmt) und doch nicht das Absolute (theologisch gesprochen: Gott). Da aber nichts ist außer (praeter) Gott - er ist das Absolute und All-Eine -, kann das reine Wissen nur Gott selber außer (extra) ihm sein. Das Wissen ist, es ist da - das einfach-eine göttlich-absolute Sein in seiner Äußerung. Nun heißt die äußere Darstellung von etwas Bild oder Schema. Entsprechend heißt das absolute Wissen Bild des Absoluten oder Schema Gottes. Und da Gott in sich lauteres Leben ist und kein toter Verstandesbegriff, nennt die Bildlehre das absolute Wissen Bild reinen, göttlichen Lebens. Von hier aus gewinnt das Gesetz des Soll einen neuen Tiefgang. Soll sich das Wissen als sollend sehen, dann muß es zuvor schon das Sehenüberhaupt sehen. Anders gesagt: Soll die Sichtbarkeit des Seins als Erscheinen wahren Lebens sich entwickeln, dann muß Realität hingeschaut sein, die zu entwickeln wäre. Diesen Fundierungszusammenhang bringt die intellektuelle Selbstanschauung des Willens ins reine, so wahr der Wille der genuine Durchkreuzungspunkt von Anschauung und Intelligieren, Wirklichkeit und Überwirklichkeit ist, und damit gewinnt der Wille als Schema wirklichen Lebens Wirklichkeit. Nochmals gesagt: Das Wissen im Zustande der Anschauung hat es mit nichtiger Wirklichkeit, das Wissen als Intelligieren mit einer leeren Form zu tun. Erst ein das Soll anschauender Wille besorgt die wahre Wirklichkeit. Der Wille in seiner absoluten Einfachheit erhebt das Soll zum treibenden Prinzip einer ins Unendliche ablaufenden Kraft, welche in der Sinnenwelt im Verlaufe der Zeiten das wahre, in der übersinnlichen Welt gesichtete Ideenwesen sichtbar macht. So verträgt sich die Rede vom Wissen als Äußerung Gottes durchaus mit dem Vernunftfaktor menschlicher Freiheit. „Äußerung Gottes" besagt nämlich gar nicht notwendige Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung des absoluten Seins. Gott verwirklicht sich nicht wesensnotwendig im Durchgange durch Entzweiung und Anderswerden, er ist immer schon wirklich, das Wirkliche und Leben an ihm selbst. (Das wird Kierkegaard gegen ein „Werden" sub specie aeterni in Hegels Logik einzuwenden haben.) Was allerdings unbedingt verwirklicht werden soll, ist das Bild Gottes, und zwar als Wirklichwerden eines Wissens, das sich in freier Selbsttätigkeit ersieht und unter dem Ansprüche des Soll verwirklicht und vergemeinschaftet.

Intellektuelle Anschauung und Fünffachheit

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In der Krise der Bildlehre hatte sich eine andere Überspanntheit gezeigt. Es führt in die Irrnis gespenstisch leerer Selbstbespiegelung, wenn das Schema göttlichen Lebens bloß als sich selber wissendes Wissen gedacht ist. Alles hängt am Ende davon ab, das Bild göttlichen Lebens zu sein, und so zu sein, daß es wirklich erscheint, nämlich als sittliches Leben in realer Wirksamkeit der zur praktischen Vernunft gewordenen Kraft des Triebes unter der Anschauung des Soll. So erhebt sich im Willen das Schema göttlichen Lebens selbst zur Wirklichkeit. Am Ende bleibt die intellektuelle Anschauung Organon transzendentalen Denkens. Und das bleibt ein unbedingt Gefordertes. Die Erhebung zum Standpunkt philosophischer Wissenschaft soll sich sehen und anschauen. „Es soll sich sehen als Schema göttlichen Lebens" (WL 1810 § 6; SW 11,699). Sonst bleibt das Streben dem Trieb verhaftet und das Menschenleben an Nichtiges verfallen.

8.5 Intellektuelle Anschauung und Fünffachheit. Eine zurechtweisende methodologische Einweisung (Darstellung der Wissenschaftslehre 1801/02 § 15) Intellektuelle Anschauung ist das Organ menschlich-endlichen Philosophierens. Als Werkzeug der Methode dient es dazu, die Erscheinung des Absoluten in den Formen reinen Wissens und ewig daseienden Willens auszugliedern. Mithin eignet sich dieses Organ nicht dazu, das Ewige an sich, absolviert von seinem Dasein in uns, darzustellen. Und es bedarf einer zusätzlichen Zurechtweisung. Die intellektuelle Anschauung ist keine ingeniöse Kunst von Auserwählten, welche eigene methodologische Vorgriffe an die Sache des Seins und Daseins herantragen; sie bildet die einzige und vollständige Sache einer philosophischen Phänomenologie selber. Die Methode der Philosophie nämlich besteht einfach darin, die lebendigen Aufbaugesetze des sich intellektuell anschauenden absoluten Wissens abzulesen und nacheinander darzustellen. Solche Klarstellung findet sich inmitten der Darstellung der Wissenschaftslehre aus dem Jahre 1801/02 im § 15 (GA 11,6,168-169). Es dreht sich dabei um eine sich aufdrängende methodologische Zweideutigkeit wie um den Primat der Methode überhaupt. Auf der einen Seite fungiert intellektuelles Anschauen als Instrument des philosophischen Bewußtseins. Es regelt eine unbedingt abgeforderte Tätigkeit des Menschen mit

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dem Ziel, dasjenige zur Evidenz zu bringen, was in Wahrheit ist und erscheint. Und sofern das die vita contemplativa der Philosophen ausfüllt, scheint intellektuelles Anschauen einen methodischen Reflexionsvollzug abzuverlangen, dem nur wenige Auserwählte in geistiger Schau entsprechen. Stehen also nur jene wenige Gelehrte im Lichte der Wahrheit, welche das fachspezifische Instrument intellektuellen Anschauens beherrschen und mit seiner Hilfe verborgene Geheimnisse des Seins und dessen Daseins schauen? Auf der anderen Seite meint intellektuelle Anschauung dagegen gerade das, was dem philosophierenden Bewußtsein immer schon vorliegt. Sie gehört derart der Sache einer Wissenschaftslehre, nämlich dem Grunde des Wissens, zu, daß sie deren Materie und Form ausbildet; denn die Wurzel aller Vorstellungen ist ein sich selbst wissendes und wollendes Wissen in der Form schlechthinnigen Fürsichseins. Dieses Fürsichsein eines absoluten Wissens, das ist, was und weil es selber ist, trägt den sachgerechten Namen einer intellektuellen Anschauung. Das und nichts anderes ist die maßgebende „Sache" der prima philosophia. Daher soll und kann der Philosophierende intellektuell anschauen, weil das, worüber er philosophiert, die Verfassung intellektueller Selbstanschauung besitzt. Dieser Sachverhalt verabschiedet den neuzeitlichen Primat der Methode. Seit Descartes „Regulae ad directionem ingenii" könnte es so scheinen, als wäre das Sachgebiet aller Wissenschaften das Zweite und die regelrechte Einrichtung des Wissens in seinem methodischen Vorgehen und entdeckenden Eindringen in das vorliegende Sachgebiet das Erste. Wo hingegen daraufgesehen wird, daß Sache und Objekt der Philosophie nichts als das absolute Wissen mit der Form des Sichsetzens im Vollzuge intellektuellen Anschauens ist, da kommt der Vorrang einer Methodologie überhaupt und die Auffassung von der intellektuellen Anschauung als vorzügliches Organ der Regelkundigen ins Wanken. „Zugleich tritt, mit der entdeckten Täuschung, in der sie sich befand, die Reflexion des Wissenschaftslehrers als thätig, und etwas aus sich selbst als ihr bekannt, herbeiliefernd, völlig ab. Sie ist von nun an Leiden, verschwindet daher in sich selbst" (GA 11,6,168). Weder fördert die Philosophie ein geheimes Wissen zutage, das nur priviligierten Vollbringern einer höheren Reflexion einleuchtet, noch trägt der Methodenlehrer seine Erkenntnisinteressen und Leithinsichten für die Analyse von sich her, gleichsam von außen, in die Sache hinein. Recht besehen, hat der Philosophierende der Selbstkonstitution des Wissens zuzusehen und

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das, was mit einem Schlage geschieht und evident wird, gesondert herauszugliedern. „Doch analysiren wir nicht, sondern das Wissen selbst analysirt sich" (ebd.). Die Selbstkonstitution und lebendige Disjunktion absoluten Wissens eben ist die Formgebung intellektueller Anschauung. Und in ihr findet der Zusehende, der sich von ihrer Evidenz ergreifen läßt, alles, was zum System einer aufzustellenden philosophischen Wissenschaft gehört. Die intellektuelle Anschauung als Grundform absoluten Wissens hat daher die Systemprädikate der Vollständigkeit und der Geschlossenheit an sich. „Alles, was von nun an aufgestellt werden soll, liegt in der aufgezeigten Anschauung, und der Verfolg ist bloß u. lediglich eine Analyse derselben" (GA 11,6,168). Von dieser methodologischen Einweisung her stellt sich die zentrale Frage nach der Einrichtung einer auszuarbeitenden Erscheinungslehre so auf: Was alles liegt in der intellektuellen Anschauung beschlossen? Welche Glieder von Wissen und Sein kann eine kritisch eingestellte Bewußtseinsphänomenologie sachangemessen herausgliedern? Der weitreichende Bescheid lautet: „Wir bekommen so, wie das Bewußtsein anhebt, ein untrennbares fünffaches, als eine vollkommene Synthesis. Eben in dem Mittelpunkte, d.i. in dem Akte des Reflektierens steht die intellectuelle Anschauung. Vereinigt beides, u. in beiden die Nebenglieder beider" (GA 11,6,165). Diese Formel von der synthetischen Fünffachheit des Bewußtseins als Erscheinungsform dessen, was für uns seiend ist, ist in der Absicht zu entfalten, methodologisch in die Erscheinungslehre auf transzendentalem Boden einzuführen. Für den vorbereitenden Grundriß einer Phänomenologie absoluten Wissens genügt es, das Schema der Fünffachheit aufzugliedern, welches jegliches Bewußtsein konstituiert, sobald es anhebt, im Stande des Selbstbewußtseins und des Ich-Sagens zu leben: 1. ein (unten liegendes) Sein des Selbstbewußtseins, 2. die (unten liegende) Freiheit des Selbstbewußtseins, 3. das (oben liegende) Sein des sich selbst anschauenden Selbstbewußtseins, 4. eine (oben liegende) Freiheit des sich geistig anschauenden Selbstbewußtseins, 5. das einigende (den Mittel- und Einheitspunkt beider Disjunktionen bildende) Band der intellektuellen Anschauung als Durchkreuzungspunkt für die Aufspaltung und Einigung der Wissensformen in eins. Eine grundsätzliche Vorerörterung solcher Fünffachheit wird aufwei-

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sen, daß in diesem Schema die Simultanität zweier Grundspaltungen angelegt ist, nämlich die Disjunktion in Subjektives und Objektives wie die Disjunktion in Sein und Freiheit. Aufzuhellen ist das volle Wesen der absoluten Reflexion in der Gestalt der seienden Intelligenz, die sich aus Freiheit selber anschaut. Dabei fällt zuerst eine Triplizität im inneren Wesen der Reflexion ins Auge. „Sie ist ein für sich seyn des Wissens oder des für sich seyns, und in dieser Ansicht, der wir auch bisher gefolgt sind, erhalten wir ein doppeltes Wissen, ein solches für welches das andere ist (in der Anschauung das obere, oder das subjektive) und ein solches, welches für das andere ist (in der Anschauung das unten liegende, das objektive). Nun wäre weder das Eine noch das Andere, und daher auch beides nicht ein Wissen, und es fehlte zwischen ihnen das Band, wenn sie nicht zusammen Ein Wissen wären, und beides innigst sich durchdränge" (§ 13; G A 11,6,158). Von Anfang an hat eine zureichende Theorie des Selbstbewußtseins herausgestellt: Zum Selbstbewußtsein gehört nicht der Vollzug einer Reflexion, die zustande kommt, indem das Ich-denke alles, was ist, auf sich zurückbeziehen kann und in diesem Können und Vollbringen für sich wird. So ist das Bewußtsein im Stande des Fürsichseins, und die Transzendentalphilosophie weiß, daß alles Sein von einem ichhaften Sehen muß begleitet werden können. Aber zur in sich geschlossenen Konstitution des Selbstbewußtseins braucht es eine absolute Reflexion oder ein Fürsichsein des Fürsichseins. Hier rückt das Sichsetzen und einfache Fürsichsein gleichsam an die Stelle des Objekts. Es bildet das Worüber einer höheren geistigen Anschauung, welche darüber reflektiert und der apperzeptiven Tätigkeit unmittelbar inne wird. Das bedeutet: Zur Formstruktur absoluten Wissens gehören zwei Hauptglieder, das erste Fürsichsein als reiner Apperzeptionsvollzug und ein zweites, sich darüber erhebendes, iterationsloses Fürsichsein als unvermittelte geistige Anschauung des ersteren. In dieser Selbstunterscheidung wurzelt die Urdisjunktion von Subjektivem und Objektivem. Der Unterschied zwischen Subjektivem und Objektivem kommt nicht vom Objekte setzenden natürlichen Bewußtsein her, er wurzelt im Innersten des Selbstbewußtseins. Aber bei dieser Zweiheit - dem „unten liegenden", für sich seienden apperzeptiven Wissen in der Stellung des Objektiven und einem in geistiger Selbstanschauung „oben liegenden", höheren Reflektieren in der Grundstellung des Subjektiven - kann es nicht bleiben. Das Selbstbewußtsein bliebe ohne Einheit und verlöre sich in einer endlosen Iteration, in welcher jedes „subjektive" Fürsichsein in

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die Stellung eines Objekts für eine weitere Reflexion rücken könnte. Eine abschließende Unvermitteltheit geistiger Selbstanschauung verbindet indessen beides, das angeschaute und das anschauende Selbstbewußtsein, zur „organischen" Einheit einer Durchdrungenheit, in der keines der beiden Glieder ohne das andere leben kann. Zugespitzt formuliert: Ohne Selbstanschauung wäre die Intelligenz blind, und ohne letzte Klarheit, ohne Intelligenz wäre die höchste Selbstanschauung leer und ohne Realität. Soweit ist eine Dreifachheit im Aufbau der reinen Wissensform nachkonstruiert: ein Fürsichsein in der Stellung des (unten liegenden) Objektiven, ein Fürsichsein dieses Fürsichseins in der (sich darüber erhebenden) Stellung des Subjektiven und ein Band, welches beide Momente zur organischen Einheit eines Wissens verknüpft. Genauer betrachtet, fächert sich das Eine Wissen aber in eine Fünffachheit auf. Das ergibt sich, wenn die „Nebenglieder", die in jedem der beiden „Hauptglieder" auftreten, hinzugerechnet werden. Das sind Sein und Freiheit. Aus deren Vereinigung baut sich ja jedwedes reines Wissen, gleichgültig in welchem Reflexionsstatus, auf. Das leuchtet ein; denn ein absolutes Wissen, das diesen Namen verdient, kann nicht durch etwas anderes begründet und bestimmt werden. Ihm eignet von Haus aus der Vollzug einer Freiheit als Selbstbestimmung und Selbstsetzung. Und auch darum heißt ein Wissen materialiter absolut, weil es nicht in und an einem anderen Sein bestehen kann. Ihm eignet wesenhaft Sein und beständiges, auf sich selbst beruhendes Insichstehen. Darin bewährt sich die Konstitution absoluten Wissens: das freie Licht, das sich erblickt als seiendes, das seiende, das auf sich ruht als freies. Und deren organische Einheit hat für die Nachkonstruktion gleichsam einen doppelten Wendepunkt. Im ersten wendet sich das Sein zur Freiheit, im anderen wendet sich die Freiheit zum Sein zurück. Steht es so, dann baut sich das „untere" wie das „obere" Hauptglied jeweils aus substantem Sein und selbstbestimmendem Freiheitsakt auf, und das einigende Band vollbringt mit demselben Schlage die Disjunktion von Subjektivem und Objektivem wie die Spaltung von Freiheit und Sein. „Zuförderst ist klar, daß das gleichsam unten liegende durch ein Denken und eigentlich dieses Denken selbst als Denken ist, das oben liegende durch Freiheit oder Anschauung, u. wie es auch beschrieben, die Freiheit selbst ist" (GA 11,6,165). Dieser Satz bringt alle drei Glieder zur Sprache. Das „Objektive" in intellektueller Anschauung ruht in sich selbst im Seinsbestande des Intelligierens (reinen Denkens);

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ihm kommt der Status der Freiheit zu, weil sich das Intelligieren als absolutes Wissen von jeglichem intentionalen Gegenstandsbezug löst. Es ist für sich aus Freiheit. Und dieses freie Fürsichsein ist sein Sein, in dem allein es besteht. Zugleich und mit demselben Schlage aber erleuchtet es sich in einem höheren Fürsichwerden. Und diesem „subjektiven" Sich-Anschauen eignet ebenso Freiheit und Sein zumal. Es schließt das Insichruhen ab und bringt den Freiheitsvollzug ins Klare. In diesem Akte werden allererst die Freiheit zur Freiheit und der „Gedanke" des in sich ruhenden Seins zum Gedanken. Damit hebt sich eine Fünffachheit heraus, in der sich eine doppelte Aufspaltung in Subjekt und Objekt wie in Sein und Freiheit ebenso abzeichnet wie deren Einheits- und Spaltungsgrund: ein seiendes Objektives, ein seiendes Subjektives, ein seiner Freiheit bewußt seiendes Subjektives, ein durch Freiheit erleuchtetes Objektives und eben ein Durchkreuzungspunkt von Subjektivem und Objektivem wie von Sein und Freiheit. So grob und vorläufig dieser Umriß auch sein mag, er bietet doch einen Gegenentwurf zu allen Systemen, welche die Differenzen von Subjekt und Objekt, von Sein (Sinnenwelt) und Freiheit (intelligibler Welt) aus dem Absoluten herleiten wollen. Das überall gesuchte Einheits- und Spaltungsfundament liegt nicht in einer göttlichen Indifferenz oder absoluten Identität, sondern in der Selbstanschauungsform absoluten Wissens. Und die verlangte Systementfaltung verfolgt nicht die Selbstbewegung und Selbstkonstruktion des Absoluten, sie konstruiert die Lebendigkeit daseienden Wissens nach. Besonnene Philosophie ist und bleibt Wissenslehre. Hier, in der Einstellung auf das Wissen in der Gesamtform intellektueller Anschauung oder absoluter Reflexion, kommt Fichtes Lieblingsmetapher vom in sich geschlossenen Auge zur Sprache. Solches Auge erblickt nicht das Absolute außer sich, sondern allein sich selbst als Dasein des Absoluten in der unübersteigbaren Bewußtseinsform der Fünffachheit. Das ist auch genug; denn von diesem „Augpunkt" aus erschöpfen sich alle Erscheinungsformen und Sinnmöglichkeiten der Welt. „Das Wissen ist nun gefunden und steht vor uns als ein auf sich selbst ruhendes in sich geschlossenes Auge. Es sieht nichts ausser sich, aber es sieht sich selbst. Diese Selbstanschauung desselben haben wir zu erschöpfen; und mit ihr ist das System alles möglichen Wissens erschöpft" (§ 16; GA 11,6,169). Der Vollzug solcher Methodenreflexion eröffnet einen abgesicherten Zugang zur Erscheinungslehre. Die Methode der Analysis, des Heraus-

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gliederns der Wissensbestände auf dem Wege limitativer Dialektik, beruht darauf, daß die Sache der Philosophie, das absolute Wissen, nicht eine einfach-teillose, sondern eine komplexe Einheit darstellt. Und in allem Durch-Nehmen des Begriffs und unserer Begriffssprache hat die regula generalis zu herrschen: Das Nacheinander des nach- und durcheinander zergliedernden Begreifens bleibt der Simultaneität der Bewußtseinsspaltungen inadäquat. Daß das eine nur durch das andere verstanden und nacheinander dargestellt wird, kommt dem Analysierenden, nicht der plötzlichen Evidenz des Analysierten zu. Derselbe methodische Vorbehalt betrifft die Sprache, welche in ihrer ersten Wendung, der Objektivierung, vor der nichtobjektivierbaren Subjekt-Objekt-Einheit versagt. Darum sind Begriff und Begriffssprache auszuloten und einzuschränken, um für die Evidenz reinen Anschauens Platz zu bekommen. Eine über ihre Grenzen und Möglichkeiten aufgeklärte Methode der prima philosophia konzentriert sich auf den Mittelpunkt des Bewußtseins, den Komplex der intellektuellen Anschauung. Diese ihre „Sache" ist weder ein dinghaft vorhandenes Etwas noch ein unteilbar transzendentes, indifferentes Einfach-Eines. Sie ist urreales Leben in der Daseinsform eines sich als Bild durchdringenden Bildes. Und sie vollbringt ihr ursprüngliches Spalten und Zusammenhalten in der Daseinsform eines Dazwischen-Schwebens. In den Standpunkt dieses ursprünglich-produktiven Schwebens und Bildens sieht sich die Wissenschaftslehre verwiesen, eigentlich von Anfang an.

TEIL Bildlehre Einigungen der Einbildungskraft, Weltschöpfung des Begriffs, Fünffachheit der Vernunftform

9. KAPITEL In-eins-Bildung im Zwischen-Schweben Eine philosophische Methode ist erst dann dem Sachbereich, den sie regelrecht eröffnet, angemessen, wenn sie selbst dem, worüber sie philosophiert, adäquat ist. Darum bleibt das Vorgehen eines mos geometricus im Spinozismus inadäquat; es hält nicht mit der Lebendigkeit jener Substanz, die sie explizieren will, Schritt. Umgekehrt erweist sich in Fichtes Wissenschaftslehre das methodische Instrumentarium als die Struktur der Sache selbst. Die limitative Dialektik kommt zum Tragen, weil sich Setzungen des Ich in dialektischer Gesetzlichkeit vollziehen. Die Sprachanalysen treffen zu, weil sie dem Ineinandergreifen von sinnlicher und übersinnlicher Welt in ihrer Ausgelegtheit durch lebendige Sprache folgen und die Unsäglichkeit des Wissensgrundes beachten. Und die intellektuelle Anschauung stellt sich als einziges Organon der Transzendentalphilosophie heraus, weil die Reflexivität des Wissens Einheit, Grund und Licht in der Selbstanschauung der Intelligenz besitzt. Somit geht das philosophierende Bewußtsein sein „Subjekt" gar nicht von außen an, es sieht lediglich zu, wie das absolute Wissen selbst in den dialektischen Grundzügen der Selbstreflexion und intelligiblen Sichanschauung vollständig zur Darstellung kommt. Zugleich sollte einleuchten, daß die Methodologie der Subjektivität auch Phänomenologie des Geistes, d.h. Lehre vom erscheinenden Wissen in seinem Erscheinen ist. Nun zeigt sich etwas Merkwürdiges. Überall da, wo der Fortgang einer Ideendialektik im Medium reinen Denkens sich in einem Zirkel verfängt oder in Endlosigkeiten verläuft, springt ein „fast immer verkanntes" Vermögen ein, die produktive Einbildungskraft. Diese schöpferische, spontane Urkraft menschlichen Bewußtseins bildet die Quelle, aus welcher das Sehen die Dinge einheitlich zur Erscheinung bringt. Und aus derselben Urkraft entspringt auch der Einheitszusammenhang des absoluten Wissens, wie er in Wendungen der Selbstreflexion und im Lichte der intellektuellen Anschauung erscheint; denn dort, wo es im

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Fühlbarwerden einer absoluten Gebundenheit mit der formalen Freiheit der Reflexion und Selbstanschauung zuende ist, da kommt ein urspünglicher Lebensmodus menschlichen Bewußtseins ins Spiel, welcher beides, das Sich-Fassen und das das Zu-Ende-Sein des absoluten Wissens, in eins und zumal zusammen- und auseinander hält: ein ZwischenSchweben. Ein Schweben zwischen den äußersten Gegensätzen, zwischen absolutem Sein (Nichtwissen des Wissens) und absolutem Wissen (Nichtsein des Seins), bildet die Grundverfassung allen Wissens oder Sehens, so wie die produktive Einbildungskraft die Verfassung der Ichheit konstituierte. Mit diesem in-eins-bildenden Verschweben kommt das menschliche absolute Wissen als Dasein des Absoluten ins Klare. 9. l Zur Privilegierung des verkannten, wunderbaren Vermögens An der tiefsten Stelle einer Grundlegung des theoretischen Wissens beruft sich Fichte auf „das wunderbare Vermögen der produktiven Einbildungskraft..., ohne welches gar nichts im menschlichen Geiste sich erklären läßt - und auf welches gar leicht der ganze Mechanismus des menschlichen Geistes sich gründen dürfte" (GWL; GA 1,2,353). Im selben Kontext heißt es: „Dieses fast immer verkannte Vermögen ist es, was aus steten Gegensätzen eine Einheit zusammenknüpft" (GWL; G A 1,2,350). Ein hinleitender Vorblick auf Fichtes folgenreiche Lehre von der Einbildungskraft fragt zunächst: Warum kommt gerade diesem „unteren" Erkenntnisvermögen des Ich (phantasia, facultas fingendi, memoria) die Auszeichnung zu, das „wunderbarste seiner Vermögen" (ebd.) zu sein? Und inwiefern hat es die Überlieferung fast immer verkannt? Die Vorfrage muß lauten: Wie war das verkannte Vermögen der Tradition bekannt? Über den Traditionsbestand konnte sich Fichte an Platners „Philosophische Aphorismen" orientieren. Da steht: Das Vermögen, alle möglichen und wirklichen (räumlich ausgedehnten) Dinge vorzustellen, welche nicht gegenwärtig sind, heiße Phantasie (§ 225; G A II, 4S,63); Erinnerung sei eine Vorstellung in der Phantasie mit dem Bewußtsein, sie schon gehabt zu haben (§ 335; GA II,4S,85), und Einbildungskraft nenne man die dem Grade der Deutlichkeit und Lebhaftigkeit nach gesteigerte Phantasie als Gabe und Talent eines guten, wissenschaftlichen Kopfes (§ 343 ff; GA II, 4S, 86-89). Das entspricht der Überlieferung, sofern sich diese darauf konzentriert, die Fähigkeit hervorzuheben, Nichtgegenwärtiges zu vergegenwärtigen. So definiert die

Das verkannte wunderbare Vermögen

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Schulphilosophie „Einbildung" als Vorstellung solcher Dinge, die nicht zugegen sind, und „Einbildungskraft" als das Vermögen, Nichtpräsentes präsent zu machen (Christian Wolff, Vernünftige Gedanken I § 235). Dementsprechend nennt Kant Einbildungskraft im allgemeinen jene Kraft, einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vorzustellen. Fichtes Plainer-Vorlesungen akzentuieren diese Definitionen so, daß sie das Moment der Spontaneität, Produktivität und Freiheit hervorheben: Einbildungskraft sei das Vermögen hervorzubringen (GA 11,4,46); die Vorstellung der Phantasie sei ein durch freie Tätigkeit hervorgebrachtes Bild (GA 11,4,66); und schließlich - in einer scheinbar abrupten Verabsolutierung: „Auf der Freiheit der Einbildungskraft... beruht alle Geistesfreiheit" (GA 11,4,114). Darauf war Fichte schon in den „Eignen Meditationen über Elementarphilosophie" gestoßen. Dort ist die Einbildungskraft als Stellungskraft definiert, welche mit Spontaneität wirkt. Und sie wird bereits als dasjenige Vermögen hervorgehoben, welches die Vorstellung von A und -A und so eigentlich erst das Vorstellen erklärt. Nun ist die Fähigkeit des Menschen, von sich her aus Freiheit Gegenstände auch ohne deren Gegenwart bildhaft vorzustellen, gewiß bemerkenswert. Aber warum bildet sie die wunderbarste Quelle unseres Geisteslebens und den Ursprung aller Geistesfreiheit? Zunächst sind zwei naheliegende Erklärungen auszuscheiden. Das zitierte wunderbare Vermögen meint nicht das Vermögen des Wunderbaren. Zwar steht die Phantasie in diesem Rufe, sofern sie als magische und verzaubernde Kraft angesehen wird, welche Träume, Visionen, Zaubereien produziert. Und wo sie als psychologische Grundlage von „Wundern", z.B. bei P. Pomponazzi, verstanden wird, lassen sich auf sie mirakulöse Heiligungen oder ekstatische Visionen zurückführen.105 Aber das bleibt hier außer Betracht. Ebensowenig ist unmittelbar auf das Vermögen abgezielt, welches die Wunder der Kunst stiftet. Bekanntlich nennt Kant die produktive oder „dichtende" Einbildungskraft, etwa im Hervorbringen von Fabelwesen oder Luftschlössern „eine große Künstlerin, ja Zauberin" (Anthrop. § 2; VII, 168) und legt eine ästhetisch-schöpferische Einbildungskraft dem Genie bei, dem Talent, auf naturhafte Weise ästhetische Ideen oder Musterbilder hervorzubringen und damit den Begriff auf unbegrenzte Art zu erweitern.106 Wilhelm von 105 106

Vgl. Maria Rita Pagnoni-Sturlese, Phantasie, in: HWP VII,533 Charakteristisch für Kants Privilegierung der Vernunft ist die Rolle der Einbil-

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Humboldt feiert vorzüglich die dichterische Einbildungskraft als Vermögen, ein Bild zu erzeugen, das zwar Schein, aber doch tiefer und dauerhafter als alle Wirklichkeit ist: „die geheimnißvollste unter allen Kräften" (Ak.-Ausg. II, 116). Und August Wilhelm Schlegel versteht Sprache von der schöpferischen Einbildungskraft her als „die wunderbare Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens, gleichsam das ganze nie vollendete Gedicht, worin die menschliche Natur sich recht darstellt" (Krit. Schriften u. Briefe, hg. von E. Lohner. Stuttgart 1962 I, 145). Gewiß, Fichte hat, auch hier maßgebend, das Schöpferische der Einbildungskraft im Umkreis von Sprache, Kunst und Dichtung hervorgehoben. Das belegen vor allem die Jenaer Vorlesungen, die Entwürfe und die spätere Veröffentlichung der Briefe „Ueber Geist und Buchstab in der Philosophie". (Die ersten drei Briefe sind 1800 im 9. Band des Philosophischen Journals erschienen, 3. Heft, 199-232.) Darin erhöht er eine produktive, schaffende Einbildungskraft über die bloß ordnende Einbildungskraft, welche ehemals schon entworfene Bilder lediglich erneuert, trennt oder zusammensetzt. Die schaffende, zur Freiheit erzogene Einbildungskraft dagegen vermag, überhaupt und schlechthin Bilder zu entwerfen. Sie kommt im Gebiete des ästhetischen Triebs zu völliger Freiheit. Dieses freie Schöpfungsvermögen heißt Geist und produziert durch Kunst neue Gegenstände. Indessen, das wunderbare, schöpferische Vermögen ist nach Fichtes Grundlegungen nicht bloß darauf spezialisiert, in dichterischer Freiheit „geistvoll" ästhetische Ideen zu entwerfen. Die Einbildungskraft vermag, den Stoff unserer Vorstellungen dungskraft innerhalb der Analytik des Erhabenen. Die Einbildungskraft nämlich stellt das Erhabene so dar, daß es unsere Sinnlichkeit zugleich abschreckt und anzieht. In ihrem frei produzierenden Bilden ist die Einbildungskraft zwar das größte der unteren Erkenntnisvermögen, im Falle des Erhabenen aber scheitert sie auch bei größter Anstrengung an der gestellten Aufgabe. Vorzüglich an der Unermeßlichkeit des Kosmos kommt die unangemessene Einbildungskraft in ihrer ästhetischen Größenschätzung heraus. So macht die Einbildungskraft durch ihr Scheitern an der Darstellung des Erhabenen die Überlegenheit der Vernunftbestimmung des Menschen „über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich" (KdU § 27; V,257). - Die „dichterische" wie die ästhetische Einbildungskraft hat Klaus Düsing, Ästhetische Einbildungskraft und intuitiver Verstand, in: HegelSt 21 (1986)87-128 in aller wünschenswerten Klarheit aus der Gesamtfunktion der reproduktiven und produktiven, empirischen und apriorischen Einbildungskraft herausgegliedert. Die Intention dieser Studie besteht darin, die spekulativ-idealistische Umdeutung des von Winckelmann beeinflußten Kantischen Ansatzes der ästhetischen Einbildungskraft zu verfolgen.

Das verkannte wunderbare Vermögen

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überhaupt aus eigener Kraft zu erschaffen. „Die Einbildungskraft in diesem Geschäfte ist Schöpferin all deßen, was in unserm Bewußtseyn vorkommt, u. da alles Bewußtseyn etwas voraus sezt, deßen man sich bewußt ist, Schöpferin des Bewußtseyns selbst" (GuB, 2. Entwurf; G A II, 3,310). Fichtes Rede vom wunderbarsten aller Vermögen beansprucht die Einbildungskraft als die Schöpferin des Bewußtseins, welche das Wunder des für sich seienden Lebens ermöglicht und die vollständige Einigung der Gegensätze des endlich-unendlichen Menschengeistes überhaupt bewirkt. Das leistet die Einbildungskraft aufgrund ihrer Mittelstellung. Aber auch die vermittelnde Mittelstellung ist doch mit Händen zu greifen und der Tradition der Erkenntnislehre wohlbekannt. Innerhalb Platners pragmatischer Geschichte der Erkenntnisvermögen - „ein sehr passender Ausdruk" (GA 11,4,46) - findet Fichte Phantasie, Gedächtnis, Einbildungskraft in die Mitte zwischen sinnlicher Anschauung und Denken (Verstand, Urteilskraft) gestellt. Seit je ist ja die phantasia in dieser vermittelnden Mittelstellung anerkannt. Sie steht, an beiden teilhabend, zwischen dem rezeptiven Anschauen von Einzelnem und dem spontanen Denken des Allgemeinen; denn sie hängt einerseits im Reproduzieren und Memorieren eines Einzelanblicks - bzw. im schwebenden Zusammenhalten eines Schema-Bildes - am Einzelnen, und sie bildet andererseits ihr Bild, , Schema frei und spontan. Indessen bleibt das wunderbare Vermögen überall da verkannt, wo es lediglich empirisch-anthropologisch als ein Erkenntnisvermögen unter anderen durchgesprochen und nicht transzendental aus dem reinen Erkenntnisbezug von Subjekt und Objekt ausgelotet ist.107 Die große Ausnahme bildet wie fast überall das Ingenium Kants. Kants Unterscheidung von reproduktiver, empirischer und produktiver transzendentaler Einbildungskraft weist den Weg in die verborgene Tiefe des wunderbarsten Vermögens. Kants Kritik scheidet. Die reproduktive Einbildungskraft unterliegt den empirischen Gesetzen der Assoziation, produktive Einbildungskraft ist selbst gesetzgebend. Sie vermittelt in reiner, „figürlicher" Synthesis das Mannigfaltige menschlich-endlicher Anschauung in Raum und Zeit a priori mit der Einheit der Apper107

Eine Übersicht über die definitiven Fassungen von Einbildungskraft und Phantasie, insbesondere an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert bietet die gelehrte Sammelarbeit von Karl Homann, Zum Begriff der Einbildungskraft nach Kant, in: ABG 14(1970)266-302.

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zeption, dergestalt, daß sie transzendentale Schemata, d.i. die transzendentalen Zeitbestimmungen produziert. Das ist für Fichte ein genialer, aber systematisch zu vertiefender Ansatz. Aber gerade auch die transzendentale Besinnung auf die ursprünglich synthetische Funktion der Einbildungskraft ist fast überall verkannt worden.108 Exemplarisch für diese Einschätzung der zeitgenössischen Philosophie ist Fichtes Auseinandersetzung mit Salomon Maimon. Diese Streitsache soll hier von der Position der Wissenschaftslehre her herangezogen werden, um die Wahrheit der produzierenden Einbildungskraft und ihres Produkts, die DingVorstellung, vor dem Einwurf des Scheins zu sichern. „Einer der grösten Denker unsers Zeitalters, der, so viel ich einsehe, das gleiche lehrt, nennt dies eine Täuschung durch die Einbildungskraft" (GWL; GA 1,2,368 vgl. dort einschlägige Nachweise bei Salomon Maimon). Nun waren fast immer Phantasie und Einbildungskraft in das Zwielicht von Wahrheit und Täuschung zwischen Abbild und Nicht-Abbildung geraten. Die Phantasie müsse, da sie mehr Spiel als Wissenschaft sei und eine durch Fiktionen erweiterte, irreale Welt vorgaukle, streng von der Wissenschaft getrennt werden (Bacon, De augm. scient. V,l). Das Reich der Phantasie bereite auch ein Refugium für die 108

Vgl. neuerdings die insbesondere von Heideggers „Kant und das Problem der Metaphysik", Frankfurt a.M. 1929 belebte, vielgestaltige Diskussion darüber, ob die produktive Einbildungskraft die gemeinsame Wurzel von Anschauung und Denken sei und inwieweit die Fassung B der „Kritik der reinen Vernunft" von einer Grundlegung der transzendentalen Einbildungskraft zurückweiche (z.B. Dieter Henrich, Über die Einheit der Subjektivität, in: Philos. Rundschau 328-69. - John Sallis, The Gathering of Reason = Die Krise der Vernunft. Metaphysik und das Spiel der Einbildungskraft. Hamburg 1983). - Wilhelm Metz, Kategoriendeduktion und produktive Einbildungskraft in der theoretischen Philosophie Kants und Fichtes. Stuttgart-B ad Can nstatt 1991 erörtert im Spannungsfeld der Interpretationen von Martin Heidegger bis Dieter Henrich die systematische Position der produktiven Einbildungskraft bei Kant (KrV B) und die verwandelte Grundstellung der schaffenden Einbildungskraft in Fichtes Jenaer „Grundlage". Dabei gewinnt die sorgfältig abwägende Analyse eine Differenz zwischen „formproduktiver" und „inhaltsproduktiver" Einbildungskraft von der Anstoß- und Ding an sichProblematik her und stößt zum Resultat vor, welches das „wunderbare Vermögen" als Mitte heraushebt, die der Geist zwischen Realität und Idealität innehält. Weil nämlich eine genetische Deduktion des Anstoßes für Fichte undenkbar und folglich das absolute Ich nicht Alles und Nichts zugleich ist, bewegt sich der Geist schwebend inmitten des Widerspruchs, daß das Ding an sich im Ich und doch nicht im Ich sein soll, kraft der schaffenden Einbildungskraft.

Das verkannte wunderbare Vermögen

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„schöne Seele", der die Kraft fehlt, das Sein zu ertragen und die in sehnsüchtiger Schwindsucht zerfließt (Hegel, Phä.; ThW III, 491). Und zumal in Augustini scher Tradition ist das Verderbliche solcher Täuschung angeprangert worden: Die Bilder ungezügelter Phantasie erregten und nährten den Aufruhr des Fleisches, sie versetzten die Kreatur in eine trügerische Welt, sie seien Mutter und Amme aller Laster und Häresien.109 In Ansehung der transzendentalen Einbildungskraft aber geht es nicht darum, ob die täuschende Einbildungskraft den Welt- und Gottesbezug des Menschen verderbe, sondern ob sie die Dingvorstellung und den Anschauungsbezug des Ich-denke beirre. Und gerade die Wissenschaftslehre hat den metaphysischen Zweifel bedacht, ob das in uns Vorhandene bloßes Produkt der Einbildungskraft oder eines ohne unser Zutun wirkenden Dinges ist. Dabei hat sich die Fragestellung durch die These zugeschärft, alle Realität sei bloß durch die Einbildungskraft hervorgebracht. „Alles, was im Bewußtseyn vorkommt, ist Produkt der Einbildungskraft" (GA 11,4,360). Nun dreht es sich nach Maimon um die Fiktionen eines Realgrundes außer uns, der sich aus dem Erkenntnisvermögen herleiten lasse. Dazu erklärt Maimons „Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens" (Berlin 1794, XXXV ff.): „Die Vorstellungen dieser Fictionen als reelle Objekte ist ein Werk der Einbildungskraft" - mithin eine Täuschung. Fichte repliziert: Täuschungen müssen auflösbar sein und wegfallen können. Die Handlung der Einbildungskraft dagegen kann nicht wegfallen, weil „auf jene Handlung der Einbildungskraft die Möglichkeit unseres Bewußtseyns, unsers Seyns für uns, d.h. unsers Seyns als Ich, sich gründet" (GWL; GA 1,2,369). Fällt mithin die Einbildungskraft und deren Täuschung weg, so entfällt das Ich, welches doch die Täuschungen wegfallen lassen soll. Also sind die Handlungen der Einbildungskraft schlechthin notwendig. Sie können gar nicht vermieden werden, wenn wir nicht aufhören wollen, vernünftige Wesen zu sein. Vertieft findet sich diese Streitsache im „Grundriß des Eigentüm109

Ernesto Grassi, Die Macht der Phantasie. Königstein/Ts. 1979 thematisiert Phantasie, das Phantastische, dichterische Sprache in seinen humanistischen Kreuzzügen gegen die Verabsolutierung der logisch-rationalen Sprache, die das Bildhafte, Metaphorische, Phantasieentsprungene ins Gebiet des Nichtwissenschaftlichen und Nichtlogischen verbannt, und für ein bildhaftes, mehrdimensionales (beweisend/weisendes) Denken. Dabei werden interessante geschichtliche Hinweise auf die „zu fesselnde Verführungsmacht" der Phantasie, etwa bei Gianfranco Pico della Mirandola, De imaginatione, geboten (201 ff.).

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lichen der Wissenschaftslehre" 1795 (§ 3; G A 1,3,189-90) wieder. Fichte skizziert hier Maimons Position so: Die Kategorien, zumal die Kausalität oder Wirksamkeit, seien Gesetze des Denkens a priori, und sie würden vermittels der Einbildungskraft auf Objekte angewendet; folglich sei das Objekt ein Produkt der täuschenden Einbildungskraft. Aber daß die Einbildungskraft den Geist derart in die Irre führt, das ist für Fichte deren ärgste Verkennung. In Wahrheit klärt ihre synthetische Kraft unsere Dingvorstellung in den Verhältnissen von Substanz und Akzidenz, Ursache und Wirkung, Zeit und Raum glänzend auf. „Wir wissen es wohl; das Ding entsteht allerdings durch ein Handeln nach diesen Gesetzen, das Ding ist gar nichts anders, als - alle diese Verhältnisse durch die Einbildungskraß zusammen gefaßt" (VnD; GA 1,4,202). Und im ganzen dringt die erste epochale Grundlegung der gesamten, d.i. der theoretischen und praktischen Wissenschaftslehre darauf, die Einbildungskraft eben als jenes wunderbare Vermögen zu erweisen, welches das Wunder des Selbstbewußtseins in seiner lebensvollen Vereinigung äußerster Gegensätze wahrhaft aufklärt.

9.2 Rettung des endlichen Geistes aus dem Zirkel der obersten Denkbestimmungen durch eine „unabhängige Tätigkeit" Die der Einbildungskraft zugesprochene Auszeichnung ist bislang nicht mehr als eine Behauptung. Sie läßt sich auch gar nicht in einer Betrachtung belegen, welche ein Vermögen definierend gegen benachbarte Vermögen des Menschen abhebt. Was die Einbildungskraft wesenhaft vermag, zeigt sich, wenn sie in ihrer ursprünglichen Tätigkeit im Mechanismus der synthetischen Handlungen a priori des Ich-denke aufgedeckt wird. Dabei ist zunächst zuzusehen, wie sie zuerst auftritt: als Retterin des rein denkenden Bewußtseins aus dem Zirkel seiner durchbestimmten Kategorien. „Die Aufgabe war die, die entgegengesezten, Ich und Nicht-Ich zu vereinigen. Durch die Einbildungskraft, welche widersprechendes vereinigt, können sie vollkommen vereinigt werden" (GWL; GA 1,2,361). Jene Aufgabe, den Widerspruch von Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, Natur und Geist aufzuheben, wird zuerst im Gebiete der theoretischen Wissenschaftslehre als Gegensatz von Intelligenz an sich und Ding an sich dringlich. Der Hauptsatz theoretischen Wissens lautet bekanntlich: „Das Ich setzt sich selbst als bestimmt durch das Nicht-Ich".

Kategorienzirkel und „unabhängige Tätigkeit"

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Er führt unübersehbar die Frage herauf: Wie kann denn das Ich sich selbst bestimmen und zugleich bestimmt werden? Anders gewendet: Wie kann es in eins tätig und real und zugleich leidend und nicht real sein? Die Lösung des Widerspruchs und die Einigung dieses Gegensatzes legt die Grundsynthesis (der dritte Grundsatz) nahe. Die Einigung der einander total ausschließenden Antithesen verlangt Einschränkung oder Bestimmung aufgrund der Teilbarkeit, und zwar in der Gestalt der Wechsel-Bestimmung. Danach schließen das Vorstellen des Ich und das Erleiden (Affiziertwerden) durch ein Nicht-Ich einander nicht gänzlich aus. Vielmehr gilt: So viel Realität (Tätigkeit) dem Ich zukommt, so viel Negation (Leiden) ist dem Nicht-Ich zugeteilt, und so viel Realität (Tätigkeit) dem Nicht-Ich zugehört, so viel Negation und Leiden ist dem Ich zugeteilt. Das vorstellende Subjekt ist eben zum einen Teil bestimmend (real, tätig, spontan), zum anderen Teil bestimmt (leidend, rezeptiv, nicht-real). Das klingt zwar nach einer dialektischen Endlösung, ist aber ganz und gar vorläufig und fast nichtssagend. Drückende Fragen bleiben. Wie kann denn dem Nicht-Ich in seiner bloßen Nicht-Ichhaftigkeit Tätigkeit und Realität zugedacht werden? Der transzendental-kritische Bescheid antwortet, indem er die Wechselbestimmung von der Art der Kausalität aufdeckt; denn das „Gesetz der Wirksamkeit" besagt: Das Nicht-Ich (die Natur!) hat an ihm selbst keine Realität und Tätigkeit; es heißt real und tätig nur, sofern und soweit das Ich leidet. Aber auch diese Antwort ist widerspruchsvoll. Wie in aller Welt können denn Leiden und Negation in ein Ich gesetzt werden, das seiner Wesensnatur nach reine Tätigkeit, schlechthinniges Sich-Setzen, energische Tathandlung ist? Der transzendental-kritische Bescheid weist auf die zweite Art der Wechselbestimmung hin, die Relation von Substanz und Akzidenz; denn das Gesetz der Substantialität sagt: Im Ich gibt es weder Leiden noch Negation an sich; leidendes Ich bedeutet nichts als verringerte Tätigkeit (im akzidentellen Tun, etwa dem Empfinden von „grün" oder beim Denken von „Baum" - am Maßstab der Totalität der Ich-Tätigkeit). Diese Freilegung der zweifachen Wechselbestimmung von Kausalität und Substantialität scheint die Rätsel der Vorstellung eines tätigen Ich, das sich affiziert und leidend findet, glänzend zu lösen. Indessen, die gegebenen Bescheide ergeben ein verheerendes Resultat. „Aber durch diese Antworten haben wir uns in einen Zirkel verflochten" (GWL; GA 1,2,302). Worin genau besteht nun dieser circulus vitiosus, in welchen sich der

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Prozeß selbstbewußter Dingvorstellung unter den Gesetzen des Denkens in der Triade von Relation, Kausalität und Substantialität verfangt? Blicken wir zurück! Die Wissenschaftslehre trägt die Beweislast, die anstößige Tätigkeit des Nicht-Ich zu erklären. Sie wurde nach dem Gesetz der Wirksamkeit aus dem Leiden des Ich hergeleitet. Das nicht weniger widerspruchsvolle Leiden des Ich aber enthüllte sich nach dem Gesetz der Substantialität als verminderte Tätigkeit. Nun aber entspricht doch dem Gesetz der Relation qua Wechselbestimmung zufolge der verringerten Tätigkeit im Ich komplementär ein Quantum gewachsener Tätigkeit im Nicht-Ich. Und so dreht sich der Mechanismus menschlichen Geistes im Kreise. Die Tätigkeit des Nicht-Ich setzt Leiden im Ich, das Leiden (die Selbstbeschränkung) des Ich Tätigkeit des Nicht-Ich voraus. Das zu Erklärende findet sich immer schon als Erklärungsgrund vorausgesetzt. Dieses Resultat fuhrt die Analytik der theoretischen Vernunft in eine beträchtliche Krise. Jeder dogmatische Realismus beharrt ausschließlich auf dem Gesetz der Kausalität und erhebt das kausal auf das Bewußtsein wirkende Sein (Nicht-Ich) zum Prinzip. So erklärt er zwar das Dingbewußtsein, nicht aber unser Selbstbewußtsein darin. Jeder dogmatische Idealismus dagegen baut ausschließlich auf die Tätigkeit des Ich und erhebt das sich bestimmende (und einschränkende) Ich zum Erkenntnisgrund. So erklärt er zwar das Selbstbewußtsein, aber nicht das Bewußtsein von real bestimmenden Dingen außer uns. Der transzendental-kritische Idealismus nimmt beide Positionen aufhebend zusammen. Aber das ergibt einen fehlerhaften Zirkel. Der Mechanismus des menschlichen Geistes läuft leer. Offenbar fehlt noch eine Tätigkeit, ohne die sich gar nichts im ichhaften Prozeß der Dingvorstellung erklären läßt. Rettung verspricht eine noch verborgene Tätigkeit des Ich, welche vom zirkulären Wechsel unabhängig ist. Sie ist von ihm unabhängig, wenn sie deren Elemente bestimmt und begründet. Herauszugliedern wäre sonach eine solche Tätigkeit, welche den Grund legt 1. für die fragliche Wechselbestimmung überhaupt, 2. den spezifischen Wechsel der Wirksamkeit wie 3. der Substantialität, und zwar jeweils der Materie und der Form nach. Die Gestalt der „unabhängigen Tätigkeit" soll vorab unter diesem dreifachen Vorblick skizziert werden. l. Materie des Erkenntnisbezuges überhaupt heißen dessen Glieder, Ich und Nicht-Ich. Sie verfallen eben nur dann nicht dem Zirkel, wenn es ein Vermögen des Ich gibt, das absolut, d.h. losgelöst von den Wech-

Kategorienzirkel und „unabhängige Tätigkeit"

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selgliedern frei und spontan tätig ist. Die Form der einschlägigen Relation, das Wie des Bezugs, ist der Wechsel; Wechsel aber erfordert das Übergehen von einem zum anderen als ein solches. Beides nun, die herausgestellte Form und Materie der unabhängigen Tätigkeit, ist synthetisch vereinigt. Indem sie absolut ist, geht sie frei und sua spontae über, und indem sie übergeht, ist sie losgelöst und frei tätig. 2. Im Falle der Kausalität heißt Materie das Nicht-Ich, sofern es vom Leiden des Ich aus tätig und real gesetzt (als seiend vorgestellt) ist. Aber erst eine von diesem Wechsel absolvierte Tätigkeit vermag unser Bewußtsein als Vorstellung von an sich bestehenden und auf uns wirkenden Dingen vollends herzuleiten. Die entsprechende Form ist der Wechsel vom Leiden des Ich zum Tätigsein des Nicht-Ich; er basiert auf einem Übergehen von der Art des Übertragens. Solches „Übertragen" leistet das unabhängige Vermögen. Und auch in diesem Respekt ist beides, Materie und Form der unabhängigen Tätigkeit, synthetisch vereinigt. Im Übertragen erscheint das Ding als an sich bestehend, und unser Anschauen von an sich Bestehendem vollzieht sich als Übertragen (unseres Hinschauens). 3. Im Falle der Substantiality endlich heißt Materie das akzidentelle Subjekt im Stande wechselnder Vorstellungen; es steht in Relation zur Totalität der Ich-Substanz. Beide Relate nun sind einander entgegengesetzt und hätten keinen Beziehungsgrund, gäbe es nicht eine von diesem Gegensatz freie Tätigkeit. Erst sie hält die wechselnden Vorstellungen des einen Ich zusammen und verknüpft sie. Die einschlägige Form der Substantialität ist der Wechsel zwischen totaler und bestimmter Tätigkeit des Ich; er braucht ein Übergehen von der Art des Entäußerns. Das leistet die unabhängige Tätigkeit, indem sie eine bestimmte Vorstellung aus allen möglichen Vorstellungen ausschließt und außer die Sphäre der Totalität setzt. Natürlich sind auch hierbei Materie und Form der unabhängigen Tätigkeit in ihrer synthetischen Einheit zu bedenken. Das Beziehen der wechselnden Vorstellungen aufeinander ist ein Entäußern und das Entäußern ein anknüpfendes Aufeinanderbeziehen. Es ist klar, daß damit nur die tiefere Synthesis einer neuen Antithese vorbereitet ist; denn eine vom Wechsel-Tun und Leiden unabhängige und eine von diesem Wechsel abhängige Tätigkeit widersprechen einander.110 Hier aber ging es lediglich darum, dasjenige Vermögen vorläufig 110

Eine detaillierte Rekonstruktion der vermittelnden Synthesen von Synthesen (A-E) der Ichhandlungen bietet Dorothea Schäfer, Die Rolle der Einbildungskraft in

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zu charakterisieren, welches den Vorstellungsbezug unter bloßen Gesetzen des Denkens vor dem Zirkel rettet. Es heißt Einbildungskraft. „Diese unabhängige Thätigkeit... ist aufgestellt; nicht absolute Thätigkeit überhaupt, sondern absolute Thätigkeit, die einen Wechsel bestimmtste heißt Einbildungskraft, wie sich zu seiner Zeit zeigen wird)"; (GWL; GA 1,2,313-314). 9.3 Funktionen: Hervorbringen der Realität und Zusammenknüpfen der Substanz Deutlicher tritt die vorgezeichnete unabhängige Tätigkeit als produktive, ursprünglich synthetische Einbildungskraft hervor, und zwar eben in Einheit mit den beiden Hauptgesetzen des Denkens, den Kategorien der Kausalität und Substantialität. Daher ist wenigstens in Hauptzügen zu rekapitulieren, inwiefern dieses Vermögen 1. im Zusammenhange mit dem Gesetz der Wirksamkeit Realität produziert und 2. inwiefern es im Zusammenhange mit dem Gesetz der Substantialität den Lebensstrom unseres Bewußtseins synthetisiert. 1. „Es wird demnach hier gelehrt, daß alle Realität... bloß durch die Einbildungskraft hervorgebracht werde" (GWL; GA 1,2,368). Dabei konzentriert sich die Erörterung auf die crux eines transzendentalen Idealismus: Wie kommt es zur Vorstellung eines realen, tätigen, uns bestimmenden Dinges in der Anschauung? Aufklärung glückt eben dadurch, daß eine anfängliche Synthesis des Kausalverhältnisses mit der Einbildungskraft aufgefunden wird. Das Gesetz der Kausalität bestimmt, wie gesagt, die Tätigkeit des Nicht-Ich aus dem Wechsel zum Leiden des Ich; die Tätigkeit der Einbildungskraft macht klar, wie das Leiden des Ich zur Tätigkeit oder Realität des Nicht-Ich werden kann: durch Übertragen. Das zerstört die dogmatischen Positionen eines unmittelbaren Dinges an sich bzw. einer ebenso unvermittelten Intelligenz an sich und Fichtes Wissenschaftslehre von 1794/95, Diss. Köln 1967. Das übertrifft an kommentierender Hingabe die mehr problemgeschichtliche Arbeit von Charlotte Büssow, Die Auffassungen von Einbildungskraft und Verstand und ihr gegenseitiges Verhältnis bei Hume, Kant, Fichte. Diss. Berlin 1920. Eine ähnlich genaue Wiederholung steht für die große Synthesis von Einbildungskraft und Urteilskraft in der Wissenschaftslehre nova methodo noch aus.

Realität, Substanz, Einbildungskraft

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macht das „mittelbare Setzen" klar. Nach dem Mechanismus mittelbaren Setzens stellt das Ich ein Nicht-Ich eben als real und tätig vor, indem es die Realität so überträgt, daß es dieses Quantum Tätigkeit nicht in sich setzt. Die Darlegung dieser ursprünglichen Synthesis bringt grundsätzlich die verborgenen Handlungen unseres Bewußtseins ins Offene, welche das Vorstellen im Stande der Anschauung konstituiert. „1. Die so eben aufgezeigte Handlung des Ich ist offenbar eine Handlung durch die Einbildungskraft in der Anschauung; denn theils vereinigt das Ich völlig Entgegengeseztes, welches das Geschäft der Einbildungskraft ist; theils verliert es sich selbst in diesem Handeln, und trägt dasjenige, was in ihm ist, über auf das Objekt seines Handelns, welches die Anschauung charakterisirt. 2. Die sogenannte Kategorie der Wirksamkeit zeigt sich demnach hier, als lediglich in der Einbildungskraft entsprungen" (GdE § 3; G A 1,3,188). Hier ist das wunderbare Vermögen der Einbildungskraft in dreifacher Weise am Werk. Es vereinigt: Es ermöglicht ja allererst die lebendige Relation von (anschauendem) Subjekt und (angeschautem) Objekt. Es überträgt: Das spontane Hinschauen trägt unsere Blicke hinüber zum erblickten Ding. Und es verliert sich in diesem Handeln: Das Einbilden ist ja vom Subjekt-Objekt-Bezug absolviert und vergißt so gleichsam, daß das angeschaute Objekt ein von uns hingeschautes ist; dank der „vorbewußt" produzierenden Einbildungskraft vergißt der Produzierende im Produkt sein Produzieren. In eins vertieft sich die transzendentale Deduktion der Kategorien. Dazu nur ein Wink. Kants Grundfrage war, wie die principia cognoscendi (die reinen Stammbegriffe des Verstandes) principia essendi (Grundbestimmungen des Seienden) sein können. Fichtes Analytik konnte systematisch aufweisen: Kategorien sind apriorische Handlungsgesetze des Selbstbewußtseins; sie verbinden sich ursprünglich mit der Einbildungskraft. Vermittels der transzendentalen Einbildungskraft beziehen sie sich auf Objekte der Anschauung, weil sie erst in dieser ursprünglichen Synthesis die Realität der Anschauungsgegenstände produzieren. 2. Analoges gilt für die Kategorie der Substantial!tat. Auch sie regelt das Vorstellen unseres Bewußtseins immer nur in Einheit mit der Einbildungskraft. Dabei muß freilich ein richtiges Vorverständnis von Substanz herrschen. Entgegen einer Ontologie der Vorhandenheit kommt Substanz nicht als daseiendes Substrat und Träger von Accidenzen in Betracht. Von Anfang an durchstreicht die Wissenschaftslehre das Ich als substantia cogitans in der Fiktion eines Substrats, dem zufällige und

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Bildlehre

wechselnde cogitationes inhalieren. Das lebendige Bewußtsein ist nichts Feststehendes und Fixiertes, nicht einmal „etwas Tätiges". Substanz ist der Titel für die lebendige Einheit der Akzidenzen; „die Accidenzen, synthetisch vereinigt, geben die Substanz" (GWL; GA 1,2,350). Anders gesagt: Das „Bleibende" in der Abfolge unserer Vorstellungen ist die Kontinuität eines Bewußtseinsstroms. Was aber verbürgt synthetische Einheit und Kontinuität der abströmenden cogitationes? Die Akzidenzen wechseln doch. Unsere je bestimmten Vorstellungen gehen über in andere, dergestalt, daß das Aufkommen der einen das Verschwinden der anderen ist. Wie also kommen, gesetzt, es werde kein beharrendes Subjekt, kein Substrat oder Träger unterstellt, Einheit und Kontinuität von Vorstellungen zustande, die einander verdrängen? Die Antwort weist auf das wunderbarste Vermögen des setzenden Ich. „Das setzende Ich, durch das wunderbarste seiner Vermögen, das wir zu seiner Zeit näher bestimmen werden, hält das schwindende Accidenz so lange fest, bis es dasjenige, wodurch dasselbe verdrängt wird, damit verglichen hat - Dieses fast immer verkannte Vermögen ist es, was aus steten Gegensätzen eine Einheit zusammenknüpft, - was zwischen Momente, die sich gegenseitig aufheben müsten, eintritt und dadurch beide erhält" (ebd.). Hier ist die unabhängige Tätigkeit in Rechnung zu stellen, sofern sie im Entäußern das Entäußerte aufeinander bezieht und zusammenknüpft. Sie vermag es, weil sie das eine schwindende Akzidenz so lange festhält, bis das andere erscheint. Dadurch kann das Bewußtsein beide vergleichen, nämlich auf das hin, worin sie gleich sind: Vorstellungen desselben Ich zu sein. So knüpft sich aus einander verdrängenden Vorstellungen deren synthetische Einheit, die Ich-Substanz, zusammen. Dieses fast immer verkannte Vermögen ist „dasjenige, was allein Leben und Bewußtseyn, und insbesondre Bewustseyn als eine fortlaufende Zeitreihe möglich macht" (ebd.). An dieser Stelle klärt sich der von Kant bloß faktisch aufgenommene Zusammenhang von produktiver Einbildungskraft und Zeit genetisch auf. Dabei läßt sich zweifellos voraussetzen: Für eine bloß reine Vernunft ist alles zugleich. Erst da, wo die Einbildungskraft ins Denken eingreift, gibt es Zeit. Diese Verflechtung zeigt sich auch umgekehrt: Ohne Zeitlichkeit wäre der Mensch nicht endlich beschränkt, sondern ein Gott; sofern sich nun das Zeitbewußtsein der Einbildungskraft verdankt, ist der Mensch als endliche Vernunft durch Einbildungskraft verfaßt. Um aber das Ursprungsverhältnis von Denken, Einbilden und Zeitlichkeit aufzuklären, ist eben die

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Verwurzelung von Einbildungskraft und Substantialität noch eingehender zu betrachten. Ergeben hat sich bereits: Nur dann zerteilt und zerstückt sich das Bewußtsein nicht in unverbundene Teilvorstellungen, wenn sie in dem Moment, in welchem sie aufeinander treffen, miteinander verglichen werden. Dazu ist eine Kraft notwendig, welche die einander ausschließenden Momente fest- und zusammenhält. Das geschieht nun so, daß der Punkt der gemeinsamen Grenze ausgedehnt wird. Ein sprechendes Beispiel dafür bietet der Übergang zwischen Licht und Finsternis. Dessen physisches Grenzmoment ist, sofern es als Grenze zwischen beiden liegt, weder das eine noch das andere. Andererseits ist es beides; denn es klafft ja im kontinuierichen Finsterwerden des Hellen keine Lücke. Wie also steht es genau mit dem Moment, in welchem Licht in Dunkel übergeht? Gerade so, daß die scharfe Grenze zu einem Übergangsmoment ausgedehnt wird, und das geschieht eben durch das „wunderbare Vermögen der produktiven Einbildungskraft" (GWL; GA 1,2,353). Das Beispiel zeigt ein Vermögen in uns am Werke, das es vermag, gegensätzliche und an sich unvereinbare Momente wie Licht und Finsternis fest- und zusammenzuhalten, und zwar durch Ausdehnen des Grenzpunktes. Solche Ausdehnung von übergängig Bewegtem hat das Maß eines Solange. Der Grenzpunkt des Lichts wird im Wahrnehmen des Verdämmerns solange ausgedehnt, bis Dunkel erscheint. Dasselbe geschieht grundsätzlich im Falle der einander verdrängenden, akzidentellen Objektvorstellungen überhaupt. Die Grenze wird so lange ausgedehnt, bis die frühere Vorstellung mit der späteren verglichen und als meine Vorstellungen zusammengesehen sind. Das Solange einer Bewegung, eines Übergehens von einem früheren bis zu einem späteren Moment, ist die klassische Definition der Zeit seit der „Physik" des Aristoteles. Freilich orientiert sich eine transzendentale Analytik nicht an der Bewegung der Kyklophora, des Himmelsumschwungs, sie dringt in die ursprüngliche Synthesis des Selbstbewußtseins ein und entdeckt die „Zeitigung" der Einbildungskraft. Diese erst macht das Bewußtsein als fortlaufende Zeitreihe möglich. Weiter ist die Deduktion der Zeit hier nicht zu verfolgen.1" Diese

111

Zur Entstehung des Zeitbewußtseins und über die Zusammengehörigkeit von Zeitund Weltbildung vgl. die eindringliche Studie von Fernando Inciarte, Transzendentale Einbildungskraft. Zu Fichtes Frühphilosophie im Zusammenhang des transzendentalen Idealismus. Bonn 1970.

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wird vorzüglich innerhalb einer „pragmatischen Geschichte des menschlichen Geistes" gefördert (vgl. GWL § 4; 1,2,369-84) und im „Grundriß des Eigentümlichen der WL", 1795 genauer analysiert (§ 4). Dabei besteht das Eigentümliche der Wissenschaftslehre nicht zuletzt darin, Zeit und Raum genetisch herzuleiten und nicht bloß als für das Ich vorhanden aufzunehmen. Dabei wird auf der Stufe sinnlicher Wahrnehmung die Zeit für eine Reihe von Anschauungen konsumtiv, die das Angeschaute nicht zugleich und im Neben- und Außereinander des Raumes setzen, sondern im Nacheinander von Jetzt-Punkten. Dabei läßt sich bemerken (vgl. GdE; GA 1,3,207-208): Was nacheinander in die Anschauung fällt, ist zufällig, wie es im Bewußtsein vorkommt, dagegen nicht. Das ergibt sich durch die Anknüpfung an das je Vorausgegangene. Voraus geht immer ein Zeitpunkt, in welchem diese und keine andere Anschauung gegenwärtig war. Ist nun aber der vergangene Punkt jeweils der erste und der gegenwärtige stets der zweite, so ergibt sich die Notwendigkeit einer Reihung von Anschauungspunkten in einem Wahrnehmungsbewußtsein, welches das verschwindende Moment der Anschauung als das vorausgegangene erste vergegenwärtigen und mit dem gegenwärtigen zweiten verknüpfen kann. Solche Zeitreihe bildet die gemeinsame Sphäre, welche die Folge subjektiver Wahrnehmungen als notwendiges, „objektives" Anschauungsnacheinander ermöglicht. Der kontinuierliche Zusammenhang der Zeitsphäre aber hat zur Bedingung, daß die aufeinander folgenden Grenzpunkte sich ausdehnen. Das geschieht dank der ständigen Synthesis der Jetzt-Grenzen durch eine zwischen ihnen schwebende Einbildungskraft. „Und so bekommen wir eine Reihe Punkte, als synthetische Vereinigungspunkte einer Wirksamkeit des Ich, und des Nicht-Ich in der Anschauung ...; kurz eine ZeitReihe" (GdE; GA 1,3,206). Innerhalb einer Grundlegung der theoretischen Wissenschaftslehre aber steht als entscheidende Aufgabe aus, die angekündigte Wesensnatur der Einbildungskraft zu fassen. Sie war bisher erst angekündigt, aber noch nicht an ihr selbst zur Sprache gekommen. 9.4 Das Wesen der Einbildungskraft: einigendes Schweben zwischen Endlichem und Unendlichem Was die Einbildungskraft wirklich ist, kommt da heraus, wo die Gegensätze im Gebiete der theoretischen Vernunft unüberbrückbar scheinen. Was sie zuletzt vermag, die Vereinigung des in der Theorie unver-

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mitteilen Gegensatzes, zeigt sich am Ende im Gebiet der praktischen Vernunft. Die Wesensbestimmung lautet: „Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt" (GWL; GA I, 2,360). Diese Definition fordert drei Fragen heraus: 1. Wo zwischen schwebt die Einbildungskraft? 2. Von welcher Art ist ihre Bewegung, das Schweben? 3. Was vermag das behauptete Dazwischen-Schweben für die Vermittlung der Gegensätze? 1. Die Einbildungskraft schwebt zwischen Endlichem und Unendlichem. Gemeint sind Gegensätze im Ich, sofern es sich zugleich endlich und unendlich setzt. Für sich genommen, geht ja die Tätigkeit des absoluten Ich ins Unendliche, Unbegrenzte und so ins Unbestimmte. Aber das menschliche Ich ist endlich, reflektiert. Es gibt einen „Anstoß", der dem Ich die Aufgabe gibt, sich selbst zu begrenzen. Natürlich kommt in der Annahme eines „Anstoßes" nicht etwa doch wieder das Dogma eines vorhandenen Dinges an sich außer uns zum Zuge. Der Anstoß ist nichts als die Aufgabe der Selbstbegrenzung für das Ich; er existiert nur im Wechsel mit der Ich-Tätigkeit. Keine unendliche Tätigkeit, kein Anstoß - kein Anstoß, keine unendliche Tätigkeit. In diesem lebendigen Wechsel also treffen Endliches und Unendliches im Ich zusammen. Das Unendliche ist in die Form der Endlichkeit aufzunehmen. Aber das menschliche Subjekt kann niemals unendlich werden. Es findet sich an der Grenze, dem Anstoß, zurückgetrieben auf ein Ich, dessen Tendenz unbeirrbar ins Unendliche geht. Das Zusammenfassen dieses unaufhörlichen Zusammentreffens von Endlichem und Unendlichem (Anstoß und absoluter Tätigkeit) im Ich, das ist die Vollzugsweise der Einbildungskraft. Sie schwebt zwischen Unvereinbarem. „Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt - ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jezt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jezt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht - ist das Vermögen der Einbildungskraft" (GWL; GA 1,2,359). 2. Die Einbildungskraft faßt ständig zusammen, was unaufhörlich zusammentrifft, nämlich die ins Unendliche gehende Tätigkeit und den Anstoß. Beide können nur zusammentreffen, wenn sie eine gemein-

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schaftliche Grenze haben. Und beiden eine gemeinschaftliche Grenze geben heißt gerade, sie zusammenfassen. Dabei wird entscheidend: Das vereinigende Vermögen setzt die Grenze fest, aber nicht als feste Grenze. Weil es an ihm selbst nirgends festgestellt ist, kann es auch die Tätigkeit der Objekt-Vorstellung nicht fixieren. „Die Einbildungskraft sezt überhaupt keine feste Grenze, denn sie hat selbst keinen festen Standpunkt" (GWL; GA 1,2,360). Von Anfang an war die „unabhängige Tätigkeit" als reines Übergehen in Rechnung gestellt. Jetzt kommt heraus, daß diese Bewegung nicht festgelegt, d.i. durch ein bestimmtes Woher und Wohin eingerichtet ist. Sie hat keinen Standpunkt; denn sie vollzieht sich als Setzen und Handeln des Vorstellens, das so in Bewegung ist, daß es in keinem bestimmten Woher oder Wohin anhält, darin Stand und Richtung gewinnt. Solch ort- und zielloses Übergehen heißt Schweben. Schweben ist ein ortloses Hin und Her im Modus einer nicht fixierbaren Bewegung. Es hat keine eindeutige Gerichtetheit an sich und weist einen eindeutigen Anfang und ein bestimmtes Ziel von sich ab. Solches Hin- und Hergehen kennzeichnet die Weise, wie die produktive Einbildungskraft tätig ist. Das Schweben bildet den Modus ihrer Produktion. Was sie hervorbringt, ist das Vereinigtsein von Unvereinbarem. Mithin kann man sagen: Dazwischen schwebend, verschwebt und vermittelt die Einbildungskraft ursprünglich das, wozwischen sie schwebt. Nun scheint solche Rede vom verwebenden Verschweben reichlich nebelhaft und rein metaphorisch. Indessen, sie nennt Vertrautes in elementaren und vertrauten Sachverhalten, nämlich bei der Konstitution der Ding-Vorstellung und der Schema-Bildung des Anschauenden. Bekanntlich ist es ein entscheidender Programmpunkt idealistischer Systembildung, die Ding-Vorstellung durch ein Handeln nach Gesetzen der Intelligenz entstehen zu lassen. Nun genügen, wie der Zirkelnachweis zeigt, die Gesetze der Wechselbestimmung nicht, um das Ding zu konstituieren. Die Verhältnisse von Ursache-Wirkung, Substanz-Akzidenz bringen allein (ebenso wie die Verhältnisse von Zeit und Raum) unsere Ding-Vorstellung nicht zustande. Das Ding ist „alle diese Verhältnisse durch die Einbildungskraft zusammen gefaßt" (GA 1,4,202). Wie nun etwa das Verhältnis von Substanz-Akzidenz immer nur in Einheit mit der Einbildungskraft und ihrem zusammenfassenden Schweben zum Ding-Verhältnis wird, läßt sich in concrete ergänzen. Dieses wunderbare Vermögen ist ja frei. Es haftet nicht wie die Empfindung an einem je bestimmten Sinnesfeld, sondern schwebt dazwischen. So kann

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die Einbildungskraft akzidentelle Ding-Eigenschaften wie „grün" oder „rauh-rissig" oder „rauschend" in eins bilden und zum Bilde eines grünen, rauschenden, rissig-harten Etwas zusammenfassen. Entsprechendes leistet sie im Zusammenfassen der Verhältnisse von Ursache-Wirkung, von Zeit-letzten und Raum-Stellen. Zusammengefaßt also durch das Schweben ursprünglichen In-eins-Bildens, entsteht die Vorstellung „Ding". Ebenso bekannt und einsichtig ist das Schweben der Einbildungskraft im Hinblick auf die Vermittlung von Anschauung und Begriff. Die Einbildungskraft zählt traditionsgemäß zu den unteren Vermögen. Sie gehört zur Anschauung, sofern sie einen Einzelanblick bildet und sinnliches Anschauen auf Einzelnes geht. Aber dieses wunderbare Vermögen vermag sich über den Einzelanblick zu erheben und zwischen sinnliches Wahrnehmen und begreifendes Allgemeines zu treten. So schwebt es zwischen Einzelanblicken, z.B. dieser Birke, Fichte oder Eiche und schafft durch schwebendes Zusammenhalten dieser Einzel anblicke das Schema und Bild, wie Baum-überhaupt aussieht. Nur durch solche Schematisierung kommt der Begriff zum Anschaulichen und das Anschauliche zum Begriff durch. Das geschieht, wie Kant gezeigt hat, nicht allein in empirischer, sondern grundlegender in transzendentaler Schemabildung. Da die Vernunft wesensnotwendig Anschauung und Begriff zu vereinigen strebt, kann Fichte generell erklären: „Das Anschauende ist durch Vernunftnothwendigkeit getrieben zu schweben von einem zum ändern" (GA 11,4,133). Diese Fälle mögen genügen, um den Schwebecharakter unseres Bewußtseins vertrauter zu machen. Innerhalb der Wesensbestimmung der Einbildungskraft geht es nicht um das spezielle Schweben bei Dingkonstitution und Schemabildung. Thema ist generell das Schweben der ursprünglich synthetisierenden Einbildungskraft im unaufhörlichen Hin und Her zwischen Endlichem und Unendlichem. Ihre Bewegung kommt nicht zum Stehen. Sie findet in keinem der Pole Halt, zwischen denen sie hin- und hergeht. Nicht im Unendlichen; denn die ins Unbegrenzte gehende Tätigkeit findet sich an der Grenze des Anstoßes auf sich reflektiert und zurückgetrieben. Nicht an der Grenze; denn der Anstoß gibt ja gerade auf, das Unendliche ins Endliche aufzunehmen. Im Schweben also hält sich das Bewußtsein dazwischen, und dieses Zwischen-Sein bedeutet nicht eine beziehungslose Mitte, sondern lebendige Vermittlung. Schwebend faßt die Einbildungskraft das Unvereinbare zusammen, indem sie dessen bewegliche Grenze produziert. „Jenes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch

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ihr Produkt; sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch ihr Schweben hervor" (GWL; GA 1,2,360).'12 3. Bekanntlich greift der Widerspruch zwischen der absoluten, vom Anstoß unabhängigen und der endlichen, vom Anstoß abhängigen Tätigkeit in das Gebiet der praktischen Wissenschaftslehre hinüber. Weniger bekannt ist der fundamentale Zusammenhang von schwebender Einbildungskraft und tragendem Mittelglied der praktischen Vernunft, dem Streben. Er ist im Umriß nachzuzeichnen. Streben wird eingeführt als das gesuchte Mittelglied zwischen der unendlichen Tätigkeit des absoluten Ich und der objektbezogenen Intelligenz. Einerseits ist das Streben objektiv und daher endlich; denn es richtet sich ja auf etwas als zu verwirklichendes. Andererseits steht es an der Grenze seines Objekts nicht still; denn es nimmt den Gegenstand als Widerstand und zu überwindende Schranke. Also vereinigt das Streben in sich objektive und unendliche Tätigkeit. Offenkundig aber wird so der Widerspruch in das Streben selber hineingeschoben. Eine objektiv-unendliche Tätigkeit scheint doch ein hölzernes Eisen, da „objektiv" soviel wie endlich-begrenzt bedeutet. In der Tat würde dieser Widerspruch das Streben vernichten, wenn die objektive Tätigkeit im Streben nicht von der der Intelligenz wesensverschieden wäre. Jede objektive Tätigkeit des erkennenden Vorstellens von etwas richtet sich auf ein wirkliches Objekt, und alles theoretische Auslegen hält sich an die wirkliche Welt. Das Streben dagegen geht „auf ein bloß eingebildetes Objekt" (GWL; GA 1,2,402). So heißen zwar beide Tätigkeiten mit Recht objektiv und haben ein Ende und eine Grenze, aber Endlichkeit und Begrenztheit sind von verschiedener Art. Im Vorstellen der Intelligenz hängt die Grenze nicht vom Ich, sondern vom hemmenden Anstoß ab; solches Objekt heißt wirklich. Im Streben dagegen hängt die Grenze vom Ich selber ab. Es bezieht sich ja auf eine ins Unendliche zu erweiternde Grenze als übersteigbare Schranke; solches Objekt heißt eingebildet. Im Streben nach einem eingebildeten Objekt fallen Unendlichkeit und Gren112

Diese Wesensbestimmung der Einbildungskraft markiert einen Wendepunkt für die Geschichte des Selbstbewußtseins. Das anfängliche Produkt des im Schweben produzierten Zustandes unbewußter Anschauung kommt als ein Faktum in Betracht, welches den Ausgang für eine neue Reflexionsreihe - Gefühl, Selbstgefühl, Sehnen u.s.w. - bildet. Dazu die Untersuchung von Ulrich Claesges, Geschichte des Selbstbewußtseins. Der Ursprung des spekulativen Problems in Fichtes Wissenschaftslehre von 1794-95. Den Haag 1974.

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ze qua ins Unendliche auszudehnende Begrenzung widerspruchslos zusammen. Beim „eingebildeten" Objekt des Strebens ist unüberhörbar die Einbildungskraft im Spiel. Eingebildet wird weder die wirkliche, objektiv gegebene noch eine fiktive, bloß erträumte, sondern die aufgegebene, ideale Welt. Das ist eine Welt, in welcher das Ich alle Realität gesetzt hätte. Dabei ist das „Reich der Freiheit" eben kein Gebilde der Phantasie, nicht Wunschtraum und Selbsttäuschung. Als Ideal des Strebens bildet es die notwendige Bedingung der praktischen wie der theoretischen Vernunft (sofern der theoretische Gegenstandsbezug vom praktischen und der theoretische Realitätsglaube von der Freiheitsgewißheit abhängt). Wie aber wird solches Ideal eingebildet? „Das Ideal ist absolutes Produkt des Ich" (GWL; GA 1,2,403), und das produzierende Vermögen ist die produktive Einbildungskraft. Darum gerade bleibt die Idealbildung nicht an der Grenze objektiver Wirklichkeit stehen, weil die Einbildungskraft das Objekt des Strebens auszudehnen vermag. „Das Ich kann das Objekt reinen Strebens zur Unendlichkeit ausdehnen" (ebd.). Einerseits nämlich entwirft sich das Streben auf ein Ziel hin, in welchem das Ideal fixiert ist; anders kann es nicht wirksam werden. Andererseits wird das verwirklichte Ziel in dem Moment weiter ausgedehnt, wo es in die Grenze der Wirklichkeit eingeht; am Maßstabe des Ideals erscheint das Erreichte unvollendet. So dehnt das Streben des Menschen sich ins Unendliche aus. Und das ist möglich, weil der menschliche Geist zwischen fixierter Grenze und unerreichbarem Ideal hin- und herschwebt. Sein wunderbarstes Vermögen schwebt idealbildend zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit. Zwar ist die Realisierung der Idee der Unendlichkeit ein Widerspruch, „dennoch schwebt die Idee einer solchen zu vollendenden Unendlichkeit uns vor, und ist im Innersten unsers Wesens enthalten" (GWL; GA 1,2,403). Vermittelnd zwischen den entgegengesetzten Bestimmungen unseres Bewußtseins mitten inne zu sein, „dies ist nun das Geschäft der schaffenden Einbildungskraft (GwL; GA 1,2,414). Daher tritt am Ende das wunderbare und oft verkannte Vermögen als Vereinigungsgrund der gesamten, theoretischen und praktischen Wissenschaftslehre heraus. „Das ganze Geschäft des menschlichen Geistes (geht) von der Einbildungskraft aus" (GA 1,2,415). Anders formuliert: „Auf der Freiheit der Einbildungskraft... beruht alle Geistesfreiheit" (GA 11,4, 114).

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9.5 Schweben des Chaos. Die Erhebung der Imaginationskraft ins Absolute („Fichte-Studien" des Novalis) „Alles Seyn, Seyn überhaupt ist nichts als Freyseyn - Schweben zwischen Extremen, die nothwendig zu vereinigen und nothwendig zu trennen sind. Aus diesem Lichtpunct des Schwebens strömt alle Realität aus - in ihm ist alles enthalten - Object und Subject sind durch ihn, nicht er durch sie. Ichheit oder productive Imaginationskraft, das Schweben bestimmt, producirt die Extreme, das wozwischen geschwebt wird Dieses ist eine Täuschung, aber nur im Gebiete des gemeinen Verstandes. Sonst ist es etwas durchaus Reales, denn das Schweben, seine Ursache, ist der Quell, die Mater aller Realität, die Realität selbst" (FichteStudien Nr. 554;II,2,266). Die alte Frage nach dem Sinn und Ursprung von Sein (Realität) erhält einen merkwürdigen Bescheid. Sein bedeutet Schweben zwischen Extremen. Natürlich ist diese Antwort transzendental-kritisch vorbereitet. Das Sein ist weder dogmatisch-idealistisch auf die Seite des Subjektes noch dogmatisch-realistisch auf die Seite des Objektes zu stellen. In Wahrheit ist es frei von solch abstrakter Einseitigkeit. Ursprünglich ist es im Schweben zwischen den Extremen von Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich, Intelligenz und Ding, Geist und Natur. Im Grunde schafft ein in sich ruhendes Übergehen, das ort- und ziellose Hin und Her des Schwebens, die Voraussetzung dafür, daß Subjekt und Objekt vereinigt und getrennt werden können. Solches Schweben bildet den Einheits- und Spaltungspunkt aller Realität; denn mehr Realität als das Subjektive und Objektive gibt es nicht. Diese Aufzeichnung findet sich in der Masse der Fichte-Studien des Novalis aus den Jahren 1795-96. Novalis hat Fichtes „Grundlage" wie „Grundriß" in den Jahren 1795 und 1796 nach eigenem Bekunden in mühsamen Untersuchungen intensiv studiert. Die Aufzeichnung über das Schweben (der Imaginationskraft) scheint lediglich die Grundstellung des frühen Fichte zu wiederholen. Dafür spricht der gleichsinnige Gebrauch der Grundwörter Sein, Schweben und Ichheit. „Seyn, Ichseyn, Freyseyn und Schweben sind Synonymen" (Fichte-Studien Nr. 556;II,2, 267). Und das bekräftigt die Einbeziehung der Imaginationskraft in diesen Urzusammenhang. „Die Einbildungskraft ist das verbindende Mittelglied - die Synthese - die Wechselkraft" (Fichte-Studien Nr. 247;II,2, 186). Indessen, nicht von ungefähr mischen sich neuplatonische Hauptme-

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taphern ein: Licht, Quelle, Ausströmen, Einheit, Zerteilung. Das Schweben wird vermerkt als Quell und Mater aller Realität. Kommt so das Schweben nicht als ein Zustand des Geistes (der Ichheit) zur Sprache, der jenseits und über dem Selbstbewußtsein liegt? Denn das Selbstbewußtsein braucht ja das Element des Unterschieds und die Urhandlung des Entgegensetzens. Dann aber wäre der Lichtpunkt des Schwebens nicht ein Vermögen des endlich-menschlichen Ich, sei es theoretisch zeitbildend, sei es praktisch idealbildend. Das Schweben beschriebe jenen Urzustand, in welchem Subjekt und Objekt noch ungeschieden sind. Er läge ihrer Aufspaltung voraus. Denn braucht eine Urteilung nicht die aufzuteilende Einheit des ungeteilten Einen? Die Aufzeichnung des Novalis zielt im Bedenken des Ineinanderverschwebens von Subjektivität und Objektivität auf das Absolute. In der Tat weisen Programmnotizen mit Fichte über Fichte hinaus auf den Weg eines transzendentalen Überstiegs ins Absolute. So notiert Novalis die skeptische Frage: „Hat Fichte nicht zu willkührlich alles ins Ich hineingelegt? mit welchem Befugniß?" (Fichte-Studien Nr.5;II,2, 107). Und er zeichnet sich einen dreifach gestuften Transzensus vor: „Spinotza stieg bis zur Natur - Fichte bis zum Ich, oder der Person. Ich bis zur These Gott" (Fichte-Studien Nr.l51;II,2,157). Dieser Gott ist der Gott der dialektisch aufsteigenden Philosophen. „Gott ist These und Synthese zugleich. Die Natur ist Antithese" (Fichte-Studien Nr.l88;II,2, 163). Gott ist Geist, und „Geist ist Synthese. - schaffende Kraft. Urheber der Natur" (Fichte-Studien Nr.l59;II,2,160). Also formuliert der Satz des Novalis von der produzierenden Imaginationskraft eine These über das Sein als göttliche Lebens- und Schaffenskraft? Jedenfalls vermerkt Novalis programmatisch: „Fichtens Sätze müssen sich mehr auf allgemeine Sätze reduciren lassen" (Fichte-Studien Nr.647;II,2,287). Vielleicht hat Novalis die Trias der Grundsätze von der Identität, Entgegensetzung und Synthesis des Ich auf folgenden Satz vom Sein zurückgeführt: Sein ist einigend-trennendes Schweben, in anderer Fassung: Sein heißt Leben. Aber welches wäre dann der zureichende Begriff von Leben? „Um das Ich zu bestimmen müssen wir es auf etwas beziehn. Beziehn geschieht durch Unterscheiden - beydes durch These einer absoluten Sfäre der Existenz. Dis ist das Nur-Seyn - oder Chaos. Sollte es noch eine höhere Sfäre geben, so wäre es die zwischen Seyn und Nichtseyn - das Schweben zwischen beyden - Ein Unaussprechliches, und hier haben wir den Begriff von Leben" (Fichte-Stu-

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dien Nr.3; 11,2,106). Auch hier zeichnet sich der Gedankenweg vom Fichteschen Ich zum göttlichen Leben unter dem Titel Nur-Sein, Chaos, Schweben ab. Das Vehikel sind die Reinhold-Fichteschen Erwägungen des Beziehungs- und Unterscheidungsgrundes. Das Ich bestimmt sich, indem es sich von dem unterscheidet, was es nicht ist. Anders kommt das Bewußtsein nicht zu sich selbst. Aber diese Unterschiedenheit setzt doch die Einheit des Unterschiedenen voraus. So verlangt der Selbstbezug des sich vom Nicht-Ich losreißenden Ich den Überstieg zur These einer „absoluten Sfäre der Existenz". Diese Sphäre existiert wirklich. Wäre sie nur vorgestellt, so gehörte sie zur Sphäre des vorstellenden Ich. Die höhere Sphäre der Existenz heißt Nur-Sein; von ihr ist nur zu sagen: sie ist; alle weiteren, unterscheidenden Bestimmungen bleiben, da sie dem Urteil des Ich entstammen, inadäquat. Erläutern läßt sich das Nur-Seyn allenfalls durch ein altes mythisches Wort, das Chaos. Nun ist Chaos im Denken des Novalis kein Zufalls- oder Verlegenheitswort, es wird zum Leitbegriff. Chaos bedeutet den Urgrund eines ungeschiedenen Durcheinanders, nämlich von Subjektiven und Objektiven, von Natur und Geist, in welchem alles, was ist, noch nicht in feste Gestalten auseinandergetreten ist, sondern noch ineinander verschwebt.113 Indessen bringt das Nur-Sein eine Bestimmung und Begrenzung mit sich, nämlich das Nichtsein. Vom Sein ist doch zu sagen: es ist und ist nicht nicht; im Nur-Sein findet sich keinerlei Unterschied und Bezug. Genauer aber wäre zu formulieren: In der höheren Sphäre verschweben Nur-Sein und Nicht-Sein ineinander. Der treffende Name für diesen Ursprungs- und Schwebezustand ist Leben. Absolutes Leben meint hier gerade die verschwebende Einheit, in welcher Sein und Nichtsein, Lebendigsein und Totsein untrennbar und unterschiedslos ineinander aufgehen. Es liegt allem bestimmten Leben und jedem individuellen Tod, der doch nur unserer egoistischen Selbstbefangenheit ein Ende setzt, voraus. Aus unvergänglichem Leben strömt alles, was todbezogen lebt. In diesem bleibt es unverlierbar erhalten. Leben, Übergang, Freiheit, Schweben, Einbildungskraft bilden eine untrennbare Gemeinschaft. „Freiheit bezeichnet den Zustand der schwebenden Einbildungskraft... Aller Transitus - alle Bewegung ist Wirck113

Vgl. Vf., Enttönter Gesang - Sprache und Wahrheit in den „Fichte-Studien" des Novalis, in: EdT, 168-203. Dort befinden sich nicht nur die hier ausgelassene Theorie der Zeichen, sondern die vollen Bezüge von dichterischem Ton - „achtem Märchen" - transzendentaler Poesie = „höherer Wissenschaftslehre" ausgearbeitet.

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samkeit der Einbildungskraft" (Fichte-Studien Nr.249;II,2,188). Es ist göttliche Einbildungskraft, welche die Bewegung und synthetisierende Wirksamkeit des Selbstbewußtseins belebt. Diese Einsicht leuchtet ein, wenn das objektbezogene Vorstellen sich zur unmittelbaren Anschauung des Nur-Seins erhebt. „Wenn die Vorstellung zur Anschauung wird - so sind wir im Gebiete des göttlichen Ich - die Einbildungskraft, als Anschauung, ist Gott" (Fichte-Studien Nr.218;II,2,168). Die Vorstellung hängt an Reflexion und unterscheidendem Begreifen, die Anschauung ist von der Art eines unmittelbaren Vor-Augen-Habens und Inneseins. Nur eine nichtsinnliche, imaginative Anschauung ersieht das Ewige in uns: die göttliche Einbildungskraft und Ichheit, in der wir leben und weben."4

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Vgl. Apg. 17,28. - Dazu Manfred Dick, Die Entwicklung der Poesie in den Fragmenten des Novalis. Bonn 1967. Diese Studie bietet eine gedanklich äußerst sorgsame Analyse der produktiven Einbildungskraft, der absoluten Synthese des Schwebens und des unbegreiflichen Lebens in den frühen Fragmenten (71-159).

EXKURS IV Einbildungskraft (Erinnerung und Ahnung) in der transzendentalen Poetik des magischen Idealismus Die „Fichte-Studien" wecken ein Problem: Wie kann es zu einer Darstellung kommen, welche das „Chaos" angemessen zum Ausdruck bringt? Offenbar läßt sich die verschwebende Einheit von Subjekt und Objekt nicht objektiv vorstellen und begrifflich-urteilsmäßig aussagen, da sie der Unterscheidung von vorstellendem Subjekt und vorgestelltem Objekt, von grammatisch-logischem Subjekt und Prädikat vorausliegt. Folglich entgeht jener Urzustand, in welchem der Geist noch nicht als Geist und die Natur noch nicht als Natur auseinandergesetzt sind, dem sebstbewußten Vorstellen und Urteilen. Weil der „chaotische" Urzustand die Entgegenstellung von Bewußtsein und Gegenstand als vorausliegender Grund ermöglicht, rückt er selbst nicht in die Relation von Gegenstand und Bewußtsein ein. So bleibt das Schweben des Chaos unaussprechlich, unbegreiflich, undefinibel. „An dem Nur Seyn haftet gar keine Modification, kein Begriff (Fichte-Studien Nr.3;II,2,106). Es ist „ein Unaussprechliches" (ebd.). Wie aber kann es dennoch zur Darstellung und sprachlichen Auslegung des unbegreiflichen und unaussprechlichen Uranfangs kommen? Novalis arbeitet nicht das geheime, wunderbare Vermögen der intellektuellen Anschauung im Sinne Schellings aus.115 Er verfällt auch nicht auf den Zauberblick dialektischer Spekulation. Die Darstellung des Undarstellbaren ist ihm vielmehr dem poetischen Sinn anvertraut. „Der Sinn für Poesie hat viel mit dem Sinn für Mystizism gemein. Er ist der Sinn für das Eigentümliche, Personelle, Unbekannte, Geheimnißvolle, zu Offenbarende, das Nothwendigzufällige. Er stellt das Undarstellbare 115

Über die Funktion der intellektuellen Anschauung in den „Fichte-Studien" handelt die gründliche Studie von Stefan Summerer, Wirkliche SitÜichkeit und ästhetische Illusion. Die Fichterezeption in den Fragmenten und Aufzeichnungen Friedrich Schlegels und Hardenbergs. Bonn 1974,87-94.

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dar" (Fragmente und Studien 1799-1800, Nr.671;III,12,685). Ein Denken, welches den poetischen Sinn als Darstellung des Undarstellbaren bedenkt, heißt transzendentale Poetik. Ihr kommt der poetische Sinn als notwendige Bedingung dafür infrage, daß absolute Einheit, Chaos, die Vereinigung vor aller Disjunktion, die Hochzeit von Natur und Geist verstanden und besprochen werden können. „Die Transzendentale Poetik handelt vom Geiste, eh er Geist wird" (Das Allgemeine Brouillon, 1798-99,Nr.51;III,9,248). Philosophie als Theorie der Poesie ist höhere Philosophie. „Die höhere Philosophie behandelt die Ehe von Natur und Geist" (ebd. Nr. 50;III,9,247). Sie übersteigt damit die Transzendentalphilosophie Fichtes, aber ausdrücklich auch die Naturphilosophie Schellings. Der Weg der tranzendentalen Poetik steigt vom Boden Kants über Fichte und den Schelling der Naturphilosophie auf zu einem magischen Idealismus. „Zu Kant - von da zu Fichte - und endlich zum magischen Idealismus" (Teplitzer Fragmente,Nr.56;II,6,605). Dabei geht es in der Frage nach der Einbildungskraft einzig darum, die Bedingungen für eine Veranschaulichung des Uranfangs im Kontext des magischen Idealismus freizulegen.116 Geschichtlicher und systematischer Ausgang ist Fichtes Wissenschaftslehre. „Die Transzendentale Physik ist die Erste, aber die auch niedrigste Wissenschaft - wie die Wissenschaftslehre" (Das Allgemeine Brouillon 1798-99,Nr.50;III,9,246). Die Wissenschaftslehre läßt sich ansehen als eine Art transzendentaler Physik. Sie klärt darüber auf, was die Physis in ihren Grundgesetzen ist, nämlich Produkt der Handlungen des Ich. Das Bild der äußeren Natur ist nicht zuletzt Resultat der vorbewußten produzierenden Einbildungskraft. Das ist eine erste Einsicht. Sie zuerst geht auf die Wechselbestimmung von Subjekt und Objekt, auf die „Ehe von Natur und Geist" ein. Aber sie bleibt nach dem ersten Schritt stehen. Zwar wird klar, daß und wie der Anblick der Natur aus 116

Den transzendentalen Idealismus Fichte als notwendige Vorstufe des magischen Idealismus im Ausgang von den drei Arten der Naturbetrachtung bei Novalis (Naturwissenschaftliche Physik - Transzendentale Physik=Natur als notwendiges Produkt eines ewigen Aktes des Geistes - Transzendental-poetische Physik=Natur als im Geheimniszustand versetzter Geist) zu charakterisieren unternimmt KarlHeinz Volkmann-Schluck, Novalis' magischer Idealismus in: Hans Steffen (Hg.), Die Deutsche Romantik, Göttingen 21970,45-53. Diese maßgebende Untersuchung verfolgt die Absicht, den magischen Idealismus als die zur Poesie gewordenen Metaphysik selbst zu verstehen und auf ein neues Grundverhältnis von Dichten und Denken aufmerksam zu machen.

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der Relation zum Geiste hervorgeht, aber es bleibt verborgen, daß und wie die Natur ihrer Herkunft gemäß geistdurchzogen lebt. Fichtes frühe Wissenschaftslehre stößt die Natur gleichsam aus dem Leben des Geistes aus. Als objektiviertes Nicht-Ich erstarrt ihr Sein im Zustande des Todes. Dem aber widerspricht der erste, zündende Gedanke, daß die Gegenstände im Grunde Produkte des Geistes und so selber geisthaft sind. Das Äußere ist in Wahrheit nichts als das Innere im Zustande merkwürdiger Verborgenheit. Natur ist in Geheimniszustand versetzter Geist. „Das Äußre ist ein in Geheimnißzustand erhobnes Innre" (Das Allgemeine Brouillon 1798-99, Nr.295; 111,9,293). Freilich bleibt dieser Geheimniszustand unbeachtet, wo die Natur als an ihm selbst nichtiges Nicht-Ich mediatisiert und ontologisch abgeschätzt wird. So geht das natürliche Bewußtsein vor, und so verhält es sich noch in der Wissenschaftslehre. Das an und durch sich bestehende Ding ist Gegenstand der Erkenntnis und Widerstand des Strebens. Von daher kann der magische Idealismus konstatieren: „Die Natur ist eine versteinerte Zauberstadt" (Fragmente und Studien 1799-1800, Nr.65; 111,12,564). Das besagt ontisch: Pflanzen sind gestorbene Steine, Tiere gestorbene Pflanzen (nicht etwa umgekehrt). Ontologisch bedeutet das: Der böse Zauber der bloßen Vergegenständlichung der Natur (das vergessenmachende Hinschauen produktiver Einbildungskraft) versteinert die lebendige Natur zum ruhenden Gegen-Stand. Diesen Zauberbann löst das treffende Wort dichterischer Sprache. „Die Poesie lößt fremdes Daseyn in Eignen auf (Fragmente und Studien 1797-98,Nr.46;II,6,535). Insofern Poesie die Entzauberung der verzauberten, versteinerten (objektivierten, entfremdeten) Welt vermag, kann das Märchenhafte zum Richtmaß alles Poetischen erhoben werden. „Das Mährchen ist gleichsam der Canon der Poesie - alles poetische muß mährchenhaft seyn. Der Dichter betet den Zufall an" (Das Allgemeine Brouillon 1798-99,Nr.940;III,9,449). Das zielt nicht auf die eine Gattung des Märchens, sondern auf das Märchenhafte in allen Gattungen. Das Märchenhaft-Dichterische setzt die Gesetze der Verstandeserkenntnis außer Kraft: das Nacheinander der Zeit, das Außereinander des Raumes, die Verhältnisse von Ursache und Wirkung, Grund und Folge, die Notwendigkeit, die Relation von unwandelbarer Substanz und wechselnden Eigenschaften. Das „Eine geheime Wort", das Zauberwort der Poesie, löst die Vorstellung einer in Zahlen und Figuren verschlüsselten Außenwelt aus dem Banne ihrer kategorialen Vergegenständlichung und distinkten Entgegengesetztheit. Das Märchenhafte der Poesie läßt Na-

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turwesen und Ichwesen durcheinandergehen und macht die Ehe von Natur und Geist, die Synthesis von Gemüt und Welt, offenbar. „Sonderbar, daß eine absolute, wunderbare Synthesis oft die Axe des Märchens oder das Ziel desselben ist" (Das Allgemeine Brouillon 1798-99, Nr. 989;III,9,455). So konzentriert sich die Untersuchung des poetischen Sinnes auf die transzendentale Frage: Welche Bedingung erfüllt dieses wunderbare Organ, damit solche Synthesis zur Sprache kommt? „Der Dichter ist wahrhaft sinnberaubt - dafür kommt alles in ihm vor. Er stellt im eigentlichsten Sinn Subject und Object vor - Gemüth und Welt (Fragmente und Studien 1799-1800, Nr.671; 111,12,686). Archetyp des sinnberaubten Sängers ist der blinde Homer. Sein Blick verliert sich nicht mit äußeren Sinnen an den Abglanz der Außenwelt, er geht nach innen und erinnert sich. Daher rührt die Verwandtschaft mit dem Mystizismus, der gebietet, die Augen zu schließen, um alles in sich zu sehen. Erst solches Erinnern eröffnet das Äußere als den Geheimniszustand des Inneren. Es bildet so den Sinn für das Unbekannte, Geheimnisvolle, eben für die versteinerte Zauberstadt. Und es ist zugleich das Gespür für das Personelle. Der poetische Sinn erinnert inmitten der erstarrten Bezüge von Ding und Intelligenz an die Urverwandtschaft von Natur und Geist. So verwandelt er die verdinglichten Verhältnisse, z.B. von Mensch und Baum oder Vogel märchenhaft in personale Begegnisse. Dazu braucht es auch Sinn für das Notwendigzufällige und die numinose Macht von Fortuna und Tyche. Poetische Erinnerung macht ein unfaßliches Zusammentreffen - ein märchenhaftes Verschweben - von Naturhaftem und Geisthaftem lebendig, sie läßt die Kategorien der Notwendigkeit, der Kausalität oder des Wahrscheinlichkeitskalküls verblassen und schafft Raum für glückhafte oder unglückhafte Begegnisse in ihrer unfaßlichen Notwendigkeit. Der ins Innere gehenden Erinnerung verschweben die räumliche und zeitliche Getrenntheit ebenso wie die Differenz von Vergangenheit und Zukunft. Darum thematisiert eine transzendentale Poetik Erinnerung und Ahnung als ineineiandergreifende Hauptmodi der Einbildungskraft. Sie bilden das wunderbare Vermögen aus, das Undarstellbare darzustellen. „Nichts ist poetischer, als Errinnerung und Ahndung, oder Vorstellung der Zukunft. Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft beyde durch Beschränckung - Es entsteht Contiguitaet, durch Erstarrung - Crystallisation. Es giebt aber eine geistige Gegenwart - die beyde durch Auflösung identificirt - und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre

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des Dichters" (Blutenstaub 1797-98,Nr.l23;II,4,468). Die poetische Erinnerung ist von der gemeinen zu scheiden. Zwar holt auch die alltägliche memoria wunderbar genug nicht mehr Gegenwärtiges in die Gegenwart zurück, aber eben doch mit dem Bewußtsein, nicht mehr jetzt zu sein. So entsteht Kontiguität, d.i. ein Einanderberühren und Zusammensein von Zeitmomenten nur auf Kosten einer Erstarrung. Das Vergangene berührt die Gegenwart als das, was unabänderlich gewesen ist. Aber das Zeitelement dichterischer Phantasie und Erinnerung ist nicht die Gegenwart als das elementare Moment, welches die vergangenen und zukünftigen letzte zusammenbringt und voneinander ausschließt. Poetische Erinnerung löst beides, Vergangenes wie Zukünftiges als Nichtgegenwärtiges, auf und läßt die Zeiten einander verschlingen. Daher wird die Erinnerung an das Vergangene Ahnung des Zukünftigen und umgekehrt. „Nur der rückwärtsgekehrte Blick bringt vorwärts, da der vorwärtsgekehrte Blick rückwärts führt" (Das Allgmeine Brouillon, 633;III,9,381). Der vorwärts gekehrte Blick führt rückwärts. Die Ahnung erschließt mit unbegreiflicher Gewißheit, wohin wir gehen, nämlich „nach Hause". Und das ist hier nicht vulgär-romantisch, auch nicht christlich-symbolisch zu denken, sondern transzendental-poetisch. Wohin alles Leben und Bewußtsein vorwärts geht, ist der Anfang, das Verschweben von Natur und Geist. Darin erinnert die Poesie, deren Kanon das Märchenhafte ist, das vorwärts gerichtete Bewußtsein: an die Rückkehr in den zeitlosen Anfang vor aller meßbaren, objektivierten Zeit, wo es einmal war, daß Subjektivität und Objektivität durcheinandergingen und Naturwesen und Ichwesen innig miteinader verkehrten. Das, was die „FichteStudien" unter dem Titel Chaos bedacht hatten, kommt als das Undarstellbare heraus, was der poetische Sinn als Sinn für das Märchenhafte darstellt. „In einem achtem Märchen... (muß) die ganze Natur auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt seyn", wie das Chaos (Das Allgemeine Brouillon, Nr.234; 111,9,280-281)."7 Aber die117

Friedrich Schlegel stellt übrigens gegen Fichtes Gleichung Naturphilosophie= Naturvergötzung=Schwärmerei eine absolute Vernunftansicht des Absoluten auf, „wo alles Konstruieren aufhört, und die chaotische Fülle, die selbst der Phantasie angehört, auch keine andere Gestaltung und Einheit leidet, als die von ihr gegebene." Und solcher „Pantheismus der Phantasie" liegt aller alten Mythologie zugrunde: „Fichte, 1808",in: Kritische Schriften und Fragmente 1803-1812,hg. von Ernst Hehler und Hans Eichner, Studienausgabe. Paderborn 1988; ,115.

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ser rückwärts gekehrte Blick führt in eins vorwärts. Das Erinnern ist in sich ahnungsvoll. Poetischer Sinn bringt in erinnerungsvoller Ahnung eine zukünftige Welt-Zeit zur Darstellung, für welche die Trennungen von Natur und Geist, Freiheit und Unvernunft durch den unterscheidenden Verstand Vergangenheit gewesen sein wird. Das so ersonnene Zukünftige wiederholt nicht das saturnhafte Chaos. Poetischer Sinn ahnt das, was kommt, als ein durch die Vernunft hindurchgegangenes Uranfängliches, freilich nur unreflektiert und in zerstreuten Zügen. Die Philosophie reflektiert dieses unreflektierte Erinnern. Die transzendentale Poesie weiß die Poesie als das heilsame Wort. Der magische Idealismus macht bewußt, daß dichterische Sprache die Wunden heilt, welche die Objekt-Stellung der transzendentalen Physik der Natur schlägt. Solch poetischer Idealismus bedenkt das Schweben göttlicher Imaginationskraft als das Undarstellbare. Er weist auf das Vermögen der Einbildungskraft in der Synthesis von Ahnung und Erinnerung als das wunderbare Organ hin, welches allein das Unaussprechliche zur Sprache bringt. So beschließt sich der magische Idealismus nicht im Andenken an das Goldene Zeitalter als Zeit vor der Welt, er lehrt die Wiederkehr eines potenzierten, sich selbst durchdringenden Chaos (als Zeit nach der Welt- und nach der staatlichen „Vorgeschichte"). Das „ewige Reich" wird durch die Spaltungen von Subjekt und Objekt und die Gegensätze des Äußeren und Inneren hindurchgegangen sein und zur ursprünglichen Einheit zurückgefunden haben. „Die künftige Welt ist das Vernünftige Chaos - das Chaos, das sich selbst durchdrang - in sich und außer sich ist - Chaos2 oder «>" (ebd.).

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9.6 Schweben: Erörterung des Mittel- und Wendepunktes absoluten Wissens (Darstellung der Wissenschaflslehre 1801/02,1, § 19) Keine der vielen Fassungen der Wissenschaftslehre ist der Romantik enger zugeordnet worden als ihre erste volle Durchgestaltung aus den Jahren 1801/1802.118 Und kein Lehrstück wurde eindeutiger mit dem romantischen Geiste in Verbindung gebracht als Fichtes vertiefte Erörterung der produktiven, weltschöpferischen Einbildungskraft. Um aber die transzendentale Reserve der Fichteschen Bestimmungen deutlich zu machen, kann eine Zentralthese der Wissenschaftslehre 1801 herangezogen werden. Sie handelt vom „Schweben". Diese neue Darstellung der Wissenschaftslehre bietet methodisch eine durchgehende Explikation des absoluten Wissens im Prozeß seiner Selbstreflexion. Sie kommt ins Ziel, wo die methodische Ausfaltung den eigentlichen Fokus und Mittelpunkt des absoluten Wissens freilegt. Dessen Seinsbestand ist ein Schweben-Zwischen. „Der Mittel- und WendePunkt des absoluten Wissens ist ein Schweben zwischen Seyn und Nichtseyn des Wissens, und sodann Nichtabsoluten Seyn und absolut seyn des Seyns" (WL 1801,1 § 20; GA 11,6,183). Nun ist nicht die vollständige Entfaltung der Selbstreflexion in allen Gliedern und Ne-

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Die geistesgeschichtliche Zuordnung der Wissenschaftslehre 1801 zur romantischen Bewegung und die bemerkenswerten Hinweise auf Plotin und die PlotinStudien von Novalis durch Max Wundt, Fichte-Forschungen, Stuttgart-Bad Cannstatt 21976,166-187 bieten nicht mehr als eine bis heute nicht zureichend bearbeitete Forschungsaufgabe. - Eindeutiger als die Verwandtschaft mit dem Geiste der Romantik ist der systematische Zusammenhang mit Problemen und Ergebnissen der epochalen Vorträgen „Über die Bestimmung des Menschen", 1800. Das arbeitet überzeugend die durchgreifende Untersuchung von Wolfgang H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972,125ff. heraus: Was im 3. Buch der „Bestimmung des Menschen" Resultat ist, fungiert in der Wissenschaftslehre 1801 als Prinzip; von da wird die neue Einsicht, daß Gott sich der Geisterwelt mitteilt und als göttliches Leben ins Reich der vernünftigen Wesen einströmt, deduktiv entwickelt. So kommt das absolute Wissen in einer allgemeinen Bestimmtheit und Bestimmbarkeit - nicht gleich als Bewußtsein der gesamten Geisterwelt - in den Blick, dergestalt, daß die Synthesis von absolutem Sein (göttlichem Leben) und absolutem Wissen gedacht werden muß, weil das Wissen seine Bestimmtheit und Gebundenheit nicht aus sich selber erzeugt, sondern aus dem absoluten Sein empfängt.

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bengliedern der Wissenseinheit nachzuzeichnen, zu erörtern ist allein das Resultat, wie es sich im Ermitteln des Brennpunktes allen Bewußtseins selbst in § 19 einstellt. Und dabei treten zwei Grundzüge für die Aufstellung einer Erscheinungslehre, die vom Bilde Gottes redet, heraus: die Einbeziehung Gottes (des absoluten Seins) als Realgrund allen Wissens und der Rückgang auf ein Schweben, das offenkundig die Grundbestandteile des Wissens, an sich bestehendes Sein und für sich bestehendes Wissen, in eins und zumal ursprungshaft auseinanderhält und vereinigt. Und es kann im Rückblick auf die frühe Wissenschaftslehre vorausgeschickt werden: Dieses ursprünglich einigende Schweben ist ein „objektivierender" Name für das, was die „Grundlage" von 17947 95 produktive Einbildungskraft genannt hatte, so wie der alte Titel des Ich und der Tathandlung unter dem Namen Wissen oder Sehen neu und gründlicher zur Sprache kommt. In diesem doppelten Aspekt also bewahrt sich im Zuge der In-eins-Bildungslehre der Angelpunkt einer Phänomenologie, in welcher sich das absolute Wissen als Dasein und Bild des Absoluten allseitig zu bewegen lernt. Grundlage von allem ist und bleibt das Wissen des Wissens. Niemals kann das Wissen zum Absoluten selbst werden. Solche transzendentale Epocho schärft die Wissenschaftslehre von 1801/1802 von Anfang an unmißverständlich ein. Anfang und Ende der prima philosophia ist das Wissen und nicht das Absolute. Zwar redet die Neufassung der Wissenschaftslehre anfänglich nicht mehr von Ichheit, Sich-selber-setzen, Tathandlung, sondern eben vom reinen Wissen in seiner Absolutheit, aber das bedeutet keineswegs, daß sich das Wissen der Ichform entkleidet habe und an die Stelle des absoluten Ich das absolute Sein oder das göttlich Absolute getreten sei. Im Absoluten kann eine philosophische Analyse nimmermehr Fuß fassen. Ausdrücklich stellt die Wissenschaftslehre 1801/02 die berühmte Absage an Schellinghafte Identitätssysteme und Indifferenzpotentiale an den Anfang ihrer einführenden Begriffsklärung. „Das absolute ist weder ein Wissen, noch ist es ein Seyn, noch ist es Identität, noch ist es Indifferenz beider, sondern es ist durchaus bloß und lediglich das Absolute" (I § 5; GA 11,6,143-144). Methodisch entfaltbar bleibt allein der Einheitszusammenhang des absoluten Wissens, sofern in ihm Identität und Differenz von Sein und Wissen ineinander verschwebend aufgebracht sind. Was mit dem Titel eines absoluten Wissens gesagt werden soll, klärt eine einfache Worterklärung (I § 7). Es heißt ,absolutus', insofern es, ,losgelöst' von allem materialen Wissen, intentionalem Vorstellen von

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Etwas entgegengesetzt ist. Thematisch wird der Zustand des Sehens selber, d.i. der Eine Blick oder das reine Licht in allen Akten und Inhalten besonderen Wissens. Tiefer führt die Realerklärung ein, welche angibt, was das Absolutsein im absoluten Wissen ausmacht; denn es muß ja Merkmale des Absoluten an sich haben. „Das Wissen ist nicht das Absolute, aber es ist selbst als Wissen absolut" (I § 11; GA 11,6,153). Vorläufig und methodisch gefragt, werden Kennzeichnungen des Absoluten dem absoluten Wissen zugesprochen: das wandellose, in sich vollendete Bestehen (absolutes Sein), das durch kein Fremdes zu verursachendes, reine Von-sich-Sein (absolute Freiheit), und beides, das schlechthinnige Was und Weil, im Zustande ununterscheidbarer Durchdrungenheit. „Jenseit alles Wissens, nach unsrer gegenwärtigen Darstellung, treten Freiheit, und Seyn zusammen, und durchdringen sich, und diese innige Durchdringung, und Identificierung beider zu einem neuen Wesen giebt nun erst das Wissen, eben als Wissen, als ein absolutes Tale" (I § 8; G A 11,6,148). Im Anfange einer Darstellung, welche die Glieder und Bestandteile des absoluten Wissens noch nicht aus der Form der Selbstreflexion entfaltet hat, werden die Sobeschaffenheiten des Wissens als eines absoluten der einzigen Beschaffenheit des Absoluten jenseits allen Wissens entlehnt, die sich in transzendentaler Enthaltsamkeit ausmachen läßt: das ununterscheidbare Ineinaner-Aufgehen von Sein (In-sichselber-Ruhen) und Freiheit (Von-sich-sein). Wie diese Beschaffenheiten des Absoluten reale Qualitäten des absoluten Wissens sind, das dürfte freilich erst einleuchten, wenn die Form allen Wissens zum Einsatz kommt. Die Form, wie das Wissen sieht, ist das Fürsichsein, das innere Sehen, das Augen-Licht, in dem alles erscheint. „Dieses Auge liegt nicht ausser ihm, sondern in ihm, und ist eben das lebendige sich Durchdringen der Absolutheit selbst" (I § 9; GA 11,6,150). Das Organon allen Wissens und Bewußtseins, ein inneres, sich selbst sehendes Auge, nennt das, was die frühe Wissenschaftslehre Ichheit im Stande intellektuellen Anschauens genannt hatte. Nun aber wird dieses Organ als Form verstanden, die dem absoluten Wissen hinzugefügt ist, metaphorisch gesprochen: als ein Auge, das eingesetzt wird. In dieser Modifikation gehört die Ichform als unverlierbares Glied zum Wesensbestand des absoluten Wissens, und die These der Forschung, in der Wissenschaftslehre 1801 falle die subjektivistische Einkleidung der Rede vom Ich als unwesentliches Beiwerk ab, erweist sich schon angesichts dieser ersten vorläufigen Beschreibungen als oberflächlich. Schon gar nicht hält sie

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einer tieferen Analyse stand.119 Diese orientiert sich gerade am inneren Auge oder der intellektuellen Anschauung, und zwar so, daß dieses Vehikel der Philosophie als Werkzeug philosophischen Bewußtseins abgesetzt und als Selbstreflexion absoluten Wissens zum Vollzuge gebracht wird. Die bisher beigebrachten Präparationen mögen helfen, den Mittelpunkt absoluten Wissens angemessen zu verstehen. Der zentrale Abschnitt der Wissenschaftslehre 1801 beschreibt einen abschließenden Stand der Selbstdurchdringung, wenn er eine zweifache schlechthinnige Bedingtheit wirklichen Wissens darlegt, Freiheit in Einheit mit Notwendigkeit. „Die, alles faktische Wissen anhebende, (weil nur sie ihm ein für, oder einen Lichtpunkt ertheilt) formale Freiheit wurde im vorigen gedacht als absolute Möglichkeitsbedingung alles Wissens oder als das Wissen seinem Wesen nach bindende Notwendigkeit" (WL 1801/02, I § 19; GA 11,6,181). Warum kein wahres Wissen ohne Freiheit sein kann, ist von Anfang an einsichtig. Wissen ist nur auf dem Stande eines sich-wissenden Wissens in der Form des Fürsichseins, im Lichte inneren Sich-Sehens. Dazu gehört Freiheit als Sichlosreißen, in welchem das Wissen sich vom Sein beim Gewußten befreit, um sich auf sich als Grund des Gesehenen (das Sehen des Bildes) zurückzuwenden. Aber inwiefern gehört Notwendigkeit zur Wesensbedingung eines durch und durch freien Wissensvollzuges? Das mag deutlicher werden, wenn die fragliche Notwendigkeit als Bindung und ein Gebundensein wahrer Freiheit ins Auge gefaßt wird. Vom Prinzip der Sittlichkeit her ist das ja 119

Beispielhaft für solche historische und systematische Kennzeichnung ist die große Darstellung Nicolai Hartmanns, Die Philosophie des deutschen Idealismus, Berlin 2 1960,69ff. Hier wird die philosophische Entwicklung der Fichteschen Grundsätze - nicht zuletzt durch Einwirkung der Romantiker - so beschrieben: Das Ich im Medium der intellektuellen Anschauung reiche als oberstes Prinzip nicht mehr zu; vom absoluten Ich falle die subjektivistische Einkleidung als unwesentliches Beiwerk ab; es bleibe das Absolute übrig, das rein als solches ebenso übersubjektiv wie überobjektiv dastehe. Solche Wende zum Absoluten setze die Wissenschaftslehre 1801 radikal ins Werk. Hier hebe sich ein absolutes Wissen, das sich als bloße Reflexion und das Sein (Nichtwissen) als Ursprung zu Ende reflektiert, auf, um das Absolute als seinen Ursprung zu begreifen. - Die Unvollständigkeit und Undifferenziertheit dieser weithin geteilten Ansicht merkt Wolfgang H. Schrader (a.a.O., 203ff.) an, der energisch die eigentliche Deduktionsabsicht Fichtes zur Geltung bringt, nämlich die bloße Reflexionsform und das absolute Sein zum Einheitsganzen absoluten Wissens zu verschmelzen.

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vertraut. Eigentliche moralische Freiheit besteht in der Selbstbindung an die Notwendigkeit, die Allgemeingültigkeit und unbedingte Verbindlichkeit des Sittengesetzes. In dieser Bindung ist Freiheit bestimmt. Was im Gebiete der Moral und des Pflichthandelns seit Kant faktisch beansprucht ist, wird in der prima philosophia im Mittelpunkt allen Wissens aufgedeckt: Freiheit und Notwendigkeit sind untrennbar verschmolzen. Aber bedeutet Festbindung nicht ein Ende absoluter, ungebundener Freiheit und, sofern die Freiheit der in sich zurückkehrenden Tätigkeit Wissen konstituiert, ein Ende des Wissens? Warum in aller Welt gehört zum Walten der Freiheit im Wissen die der Freiheitsform ein Ende setzende Bindung? Und wenn es denn so wäre: Was zeigt sich am Ende des Wissens als Bestand gebende Notwendigkeit? Bei diesem Fragekomplex ist wohl an die Halt- und Bestandlosigkeit eines Wissens zu erinnern, das sich allein auf die Freiheit der Selbstreflexion stellt. Das hat das 2. Buch „Die Bestimmung des Menschen" als Gespenst des Nihilismus an die Wand gemalt, und das stand von Anfang an als die Bodenlosigkeit der Iteration im Reflexionsprozeß des Selbstbewußtseins im Blick. Das freie Reflektieren, das immer wieder aus sich heraus geht, um den erreichten Wissenstand zu objektivieren, bewegt sich im Nichts an Realität und in einer Leere bloßer Selbstbespiegelung, wenn sie nicht auf ein reales Sein stößt, welches dem end- und haltlosen Reflexionsprozeß ein Ende setzt. (Dafür hat sich im Gebiete der Intersubjektivität das andere Ich ergeben, das seinem Eigenwesen nach nicht darin aufgeht, Objekt und Bild der Reflexion zu sein). Im Blick auf das Wissen überhaupt bietet sich eine Bestimmtheit-überhaupt an, wie sie sich in einem Gefühl, d.h. dem unmittelbaren Innesein der Gewißheit aufdrängt, schlechthin bestimmt und gebunden zu sein. Soll ein ständig für sich werdendes Wissen sein und bestehen können, dann muß es ein Ende der in sich bodenlosen Freiheit der Selbstobjektivierung geben. Das gibt es in der Bestimmtheit des Wissens. Es ist bestimmt und gebunden und dieser Bestimmtheit gewiß im Gefühl Schlechthinniger Gebundenheit: als ein immer schon auf sich beruhendes Sein und lebendiges Wollen, das sich nicht der Freiheit der Reflexion verdankt. Damit ist Grundsätzliches zur Sprache gebracht. Zwar wurde das Sein, die Realität des Wissens, bisher auch im Vollzug des sittlichen Willens sicher geglaubt, jetzt aber wird die Überzeugung der Realität in der Verfassung des absoluten Wissens überhaupt klargestellt. Bisher freilich ist diese behauptete Synthesis eines Freiheit und Not-

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wendigkeit verschmelzenden Denkens erst faktisch. Sie muß daher auf die Gesetze zurückgestellt werden, nach denen sie im Bewußtsein entsteht. „Selbst dieses alles faktische Wissen erfassende, und durchdringende Wissen geht sonach wieder aus sich heraus, um sich selbst in sich selbst zu construiren... es ist eine Triplicität" (ebd.). Der Gedanke (der Synthesis von Freiheit und Notwendigkeit) ist faktisch vollzogen. (Was das Erste ist.) Er muß, soll er nicht faktisch bleiben, für sich werden; er entäußert sich also und wird vor das Bewußtsein hingestellt, um genetisch aufgeklärt werden zu können. (Was das Zweite ist.) Das aber geschieht, damit das Wissen sich in höherer Synthesis, nämlich der genetischen Bewußtseinsformen oder Gesetze, wieder ergreift. (Was das Dritte wäre.) Nun geht die Untersuchung direkt in den Mittelpunkt der neuen Synthesis hinein. Dieser wird sich als der von Anfang an gesuchte Mittelund Wendepunkt absoluten Wissens erweisen. Das neue Glied, das hierfür eigens erörtert und eingeholt werden muß, ist die Bewußtseinsform der Notwendigkeit als einer solchen. „Es ist nicht die Frage und nicht ein Objekt unsrer neuen Synthesis, wie in dem vereinigenden Wissen von dem formalen FreiheitsAkte gewußt werde, denn dieser ist die absolute Anschauung selbst...; sondern wie von der Notwendigkeit gewußt werde" (I § 19; GA 11,6,182)). Die alte Frage, welche die neue Ansicht der intellektuellen Anschauung hervorgerufen hatte, lautet ja: Der Freiheit und des Handelns unter dem Kategorischen Imperativ sind wir uns doch bewußt - was für ein Bewußtsein ist das? Der Bescheid lautet jederzeit: ein unmittelbares, intellektuelles Anschauen als Grundakt des Freiheitsvollzugs selbst und als Einheitsstiftung allen menschlichen Bewußtseins überhaupt. Mithin bringt die Frage die Antwort schon mit sich. Eine weitergehende Frage dagegen wäre: Wie wissen wir von der vorgetragenen Gebundenheit, dem Bestimmt- und Begrenztsein, welches allererst Wissen sein läßt? Damit das ins reine kommt, muß der Blick auf die formale Freiheit abgeblendet werden; sonst wird die Notwendigkeit nur als gebundene Freiheit, aber nicht in ihrem eigenwüchsigen Bewußtseinsgesetz genetisiert. Was und wodurch also ist diese Notwendigkeit schlechthin? Und wie wird von ihr gewußt? Wie kann der Charakter der Notwendigkeit als Wesensmoment in die Selbstreflexion absoluten Wissens integriert werden? Notwendigkeit heißt hier absolute Gebundenheit des Wissens, die im Denken offenbare Bestimmtheit dessen, was das Wissen ist. Die Realität dessen, was es ist, kann nur als in sich ruhendes, immerwährendes

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Licht und Leben, (durch sich selbst seiender Wille) gedacht werden. Solcher Sachgehalt umfaßt das, was das Wissen immer schon war. Das kommt nicht erst zustande, weil die freie Reflexion es erzeugt. Notwendige Gebundenheit und nur so und niemals anders seiende Bestimmtheit im wesenhaften Wassein entsteht nicht dadurch, daß eine Reflexion vollzogen wird. Als durch die Reflexionsform nicht-erzeugt, liegt sie dem Akt der Selbstobjektivation nicht nur immer schon voraus, ihr Was entgeht dem Weil. „Notwendigkeit ist absolute Gebundenheit des Wissens, oder absolutes Denken; welches daher alle Beweglichkeit, von sich los reissen, ausgehen aus sich selbst, um nach einem weil nur zu fragen schlechthin abschneidet: und nicht ist, was es ist, wenn diese hinzutritt" (ebd.). So aber wird die Frage noch dringlicher: In welcher Form des Bewußtseins kann von einem Was, das alles Weil abschneidet, gewußt werden, da wir doch von nichts reden können, was nicht für uns ist, und nichts verstehen, was nicht in seinem Weil, d.h. dem Woher seiner Bewußtwerdung evident zu machen ist? Der Bescheid lautet: Die fragliche Anschauungsform ist ein Sichvernichten am absoluten Sein. „Sie vernichtete ihre Form schlechthin durch ihre Materie" (ebd.). Die Form wäre die Selbst-Anschauung aufgrund einer freien Reflexion; diese aber wird ja gerade abgeschnitten durch das, was im Bewußtsein evident werden soll. Was unvermeidlich bewußt wird, ist der Prozeß einer Sich Vernichtung: ein Wissen, das sich negiert, d.h. nicht als Wissen setzt. Aber damit versinkt das sich negierende Wissen keineswegs in Nichts. Wird die Inadäquatheit der Form des Sich-Wissens im Bedenken der Wissensnotwendigkeit evident, dann leuchtet das Wissen ein „als (formales versteht sich) Seyn und als absolutes Seyn, das da schlechthin auf sich selbst ruht, aus welchem nun nicht herausgegangen, noch nach einem Weil gefragt werden kann" (ebd.). Nach dem Gesetz der Sichvernichtung am absoluten Sein entsteht die Evidenz, nämlich eine unmittelbare Gewißheit im Gefühl Schlechthinniger Gebundenheit, absolut zu sein, auf sich selbst zu ruhen, und gerade dadurch zur Anschauung zu kommen, daß sich die Reflexion als erzeugende Wissensform absetzt und das Sich-fassen als adäquaten Bewußtseinszustand negiert. Es scheint nicht unnötig, die erreichte Konjunktion von Wissen und Absolutem scharf zu markieren. Das Resultat entsprang ja nicht der spekulativen Frage, wie die Endlichkeiten des Selbstbewußtseins aufzuheben und das Absolute als Einheits- und Spaltungsgrund im Bewußtsein zu konstruieren sei. Es ergab sich aus dem transzendentalen Problem-

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stand, nach welchem Bewußtseinsgesetz Gebundenheit und Notwendigkeit im Wissen aufgenommen werden können. Dabei erscheint das Gebundensein nach dem Gesetz der Sichvernichtung als das, woran sich die Anschauungsform vernichtet: als absolutes, auf sich ruhendes, in sich geschlossenes Sein. Das ist der Gott der Philosophen. Aber Gott oder das Absolute und absolute Sein bleiben auf ihr Dasein im Wissen zurückgestellt; denn der Mittelpunkt des absoluten Wissens liegt nicht im absoluten Absoluten selber. Damit ist die Analyse grundsätzlich wenigstens soweit durchgeführt, um die Leitfrage beantworten zu können: Wo liegt der eigentliche Mittelpunkt des absoluten Wissens? Und welche Verfassung kommt ihm in seiner Vermittlungsfunktion zu? Der erste Bescheid bringt die Einsicht: „Er liegt nicht im sich fassen als Wissen (vermittelst der formalen Freiheit) auch nicht im sich vernichten am absoluten Seyn, sondern schlechthin zwischen beiden" (ebd.). Die zweite Frage wird mit der Antwort beschieden: „Der Mittel- und WendePunkt des absoluten Wissens ist ein Schweben" (WL 1801/02,1 § 20; G A 11,6,183). Das menschliche Dasein und Selbstsein ist im Grunde ein Zwischensein (inter esse) zwischen Freiheit und Notwendigkeit, Endlichkeit und Unendlichkeit, Sein und Nichtsein. Diese Bestimmung des Menschen wird Kierkegaard aufnehmen und in die Stadien des ästhetischen, ethischen und religiösen Selbst entfalten. Die Begründung dafür, daß und wie das menschliche Selbst ursprünglich ein Zwischen-Sein ist, ist dabei übersprungen. Fichte hat sie geliefert. Das absolute Wissen verdankt sich nicht der formalen Freiheit des Sich-Fassens. Das ergibt einen haltlosen Reflexionsstandpunkt, ein leeres Bildwesen und eine nichtige Selbstbespiegelung, der es an Seinsgebundenheit und Realität fehlt. Aber ebenso abstrakt und einseitig wäre jene Gegenposition auf dem Standpunkte urrealen Seins, in welches sich das Selbstbewußtsein versenkt und vergißt. Das läuft allemal auf einen Spinozismus heraus. Konkret bedacht, genügt keiner der beiden Standpunkte sich selber, weil jeder des anderen bedarf. Das ist leicht zu sehen. Damit sich das Wissen als absolut faßt, muß es den Akt des Sichvernichtens vollziehen, sonst fällt die Verfassung der Absolutheit (das Unveränderlichsein, Ewigsein, Einessein als Seinsbestand des Wissens) fort. Und umgekehrt: Damit das Wissen sich als absolut fasst, braucht es ein Sichfassen überhaupt, und sei es in der Besinnung darauf, daß das Sichfassen nur gesetzt wird, um als inadäquat am absoluten Sein abgesetzt zu werden. Wo also findet sich ein sich selbst genügender Anfangsgrund? Seine Verfassung

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kommt weder ohne Freiheit der Reflexion noch ohne Realität des Seins aus, sie kann aber weder auf der Seite des für sich seienden Wissens noch auf der eines sich am absoluten Sein (Gebundensein) vernichtenden Wissens liegen. Der wahre Anfang und Grund findet sich zwischen „Seyn und Nichtseyn des Wissens, und sodann Nichtabsoluten Seyn, und absoluten seyn des Seyns" (ebd.). Das eben gehört zum Zwischen, daß es zwei unaufhebbare Pole oder Extreme geben muß. Verschwindet eines von beiden, dann verschwindet das Dazwischen-sein. Und es muß jeder der Pole als Zielpunkt aufgehoben werden; sonst endet das Zwischensein darin. Beide Bedingungen sind beim absoluten Wissen erfüllt. Es gibt unaufhebbar zwei Möglichkeitsbedingungen, Freiheit und Notwendigkeit (Fürsichsein und Gebundenheit des Wissend-Seins). Und beide heben einander als alleinigen Anfangsgrund auf, „indem eben das Seyn des Wissens das absolute Seyn aufhebt, und das absolute Seyn das Seyn des Wissens" (ebd.). Der gesuchte Mittelpunkt ist mithin ein Zwischen. Das besagt nun nicht, er liegt selbständig als etwas Drittes zwischen zwei anderen seienden Wissensständen. Der Mittelpunkt realisiert sich als Zwischensein, d.h. als Vollzug und Bewegung einer ursynthetischen Vermittlung, welche das Vermittelte schlechthin auseinander- und in eins absolut zusammenhält. Der sachgerechte Ausdruck für solche Bewegtheit ist „Schweben".120 Schweben bezeichnet eben eine solche Bewegung des Hin und Her bzw. eines Auf und Ab, die ohne festen Ort und ohne festes Ziel bleibt. 120

Die mit durchdringender synoptischer Kraft durchgeführte Interpretation dieses Schlußabschnittes zur Vollendung des Einheitszusammenhanges absoluten Wissens durch Jürgen Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung, a.a.O., 363-376 nimmt die „Metapher" des Schwebens als Ausdruck der Nichtanalysierbarkeit des zu Analysierenden. Als Metapher - als übertragendes Wort drückt sie das Ende der Konstruktion eines Nichtkonstruierbaren ebenso aus wie die Regel, die Konstruktion der Nichtkonstruierbarkeit durchzuführen. - Aber vielleicht verhindert die metaphorische Auffassung, Grundstrukturen des Schwebens (gar im Zusammenhang mit der Vollzugsform der ursprünglich einigenden Einbildungskraft) in ihrer unmittelbaren Sachangemessenheit fruchtbar zu machen und so dasjenige interpretatorisch einzulösen, worauf Stolzenberg treffend hinweist: daß das Schweben den Wissensfokus zwischen den Vollzügen von Sichfassen und Sichvernichten erläutert und die Seinsweise einer ursprünglich einigenden Einheit deutlich macht, welche absolute Selbstdifferenzierung und Selbstbeziehung in eins ist.

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Schweben meint somit immer eine ort- und ziellose Bewegung zwischen Oben und Unten, Hier und Dort. Das, was im Schweben aufgeht, verschwebt gleichsam im Zwischen, dergestalt, daß es den Zwischenraum als solchen öffnet und einigend durchschwebt. Werden diese Aufbaumomente auf die lebendige Bewegtheit des Bewußtseins angewendet, dann läßt sich das Schweben des Bewußtseins von seinem Nächsten, der Wechselwirkung, abheben. Die Wechselwirkung ist auch eine einheitstiftende Bewegung korrelativen Hin und Her (zwischen dem Subjektiven und Objektiven), aber das Wechselwirken steht eindeutig im Gefolge der Kategorie der Kausalität. Das urstiftende Schwebenzwischen aber geht den apriorischen Denkgesetzlichkeiten des Wissens zuvor. Das ziellose Verschweben-zwischen ermöglicht erst ein zielhaft bestimmtes Hin- und Herwenden. Darum kann der Ursprung des Wissens ein „Wendepunkt" heißen. Zwar kennzeichnet das Schweben nicht eine bestimmte, zielhafte Hinwendung oder Zurückwendung des Bewußtseins, wohl aber markiert es die ermöglichende „Wendigkeit" überhaupt. Daher kommt das Schweben (der vorbewußten, einigenden Einbildungskraft) überall zum Austrag, wo Zuwendungen entspringen. Das ist ausdrücklich bei der Bewegung der Anschauung in der Wahrnehmungswelt der Fall. Während das Denken mit dem Bewegungsstatus des Ruhens beschrieben wird, wird das Anschauen als Sehweben-zwischen definiert. Denken ist Ruhen in der Einheit (Allgemeingültigkeit des Begriffs), Anschauen dagegen ein Schweben in der Mannigfaligkeit des Separaten (I § 12; GA 11,6,156; vgl. I § 18). Und insofern es weder Einheit außer als Vereinigung von Separatem noch Separate außer als Sonderung des Allgemeinen gibt, ist der synthetische Vorgang des Erkennens von Dingen der Anschauung ein Schweben. „Es schwebt daher innerhalb beider, und ist vernichtet, wenn es nicht innerhalb beider schwebt" ( I § 10; G A 11,6,152). Und das ursprünglich synthetisierende Schweben ist auch in der vollkommenen Synthesis des „Fünffachen" im „Durcheinander" des sich begreifenden Begriffs am Werk (WL 1804 - II,4.Vortr.; GA 11,8, 64) bzw. im Akt intellektueller Anschauung, in welchem sich Freiheit und Sein, Subjektives und Objektives untrennbar vereinigen (I § 15; GA 11,6,164-165). Im tiefsten Einigungs- und Wendepunkt des Bewußtseins jedoch dreht es sich nicht mehr bloß um die Einigung von Denken und Anschauen im Schweben zwischen Einheit des Begriffs und Separierung

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der Anschauung. Und es geht auch nicht mehr bloß um die Einigung der Reflexionsglieder in intellektueller Anschauung als Schweben zwischen dem Subjektiven und Objektiven im für sich seienden Sich-Wissen. Das Schweben konstituiert hier die In-eins-Bildung des Wissens, das in Besinnung auf seine Gebundenheit und Notwendigkeit am absoluten Sein sein Ende findet. So schwebt das absolute Wissen genauso zwischen dem sich setzenden und sich vernichtenden Wissen wie zwischen dem für uns seienden und an sich vorausgesetzten Sein. Nun hat das Sein, an welches sich das Wissen schlechthin gebunden fühlt, alle Attribute des Absoluten. Es ist Dasein Gottes, aber so, wie es im Wissen da ist, ohne von der formalen Freiheit hervorgebracht zu sein. „Das absolut Eine ... sich selbst gleiche, unveränderliche, ewige unaustilgbare - Seyn schlechthin, Gott ... Geführ der Abhängigkeit (I § 21; GA 11,6,193). Daher ist noch einmal festzustellen: Was im Vertrauen auf die lebendige Sprache im exoterischen Vortrage sinnbildlich formuliert wird, nämlich die Rede vom „Einströmen" göttlichen Leben oder vom „Aufstrahlen" des unendlichen Willens im endlichen, ist hier transzendental konkretisiert. Und was die Sittenlehre im Gefühl des Gewissens für die Gewißheit bestimmter Pflichten verankert, wird hier als Gefühl Schlechthinniger Gebundenheit angesetzt: die unmittelbare Gewißheit der Realität des alles umfassenden Wissens. Zu diesem Resultat also kommt eine prima philosophia, die sich als Darstellung der Selbstreflexion absoluten Wissens und dessen Einheitszusammenhanges versteht. Das bereitet einer Phänomenologie des Geistes den Boden. Sie kann auf den Einheits- und Spaltungsgrund des absoluten Wissens als Dasein und Bild des Absoluten bauen.

10. KAPITEL Das Sein außer sich. Grundgesetze des erscheinenden Einen in Entzweiungen des Bewußtseins Eine Besinnung auf die In-Eins-Bildung der ursprünglich synthetischen Einbildungskraft und tiefer: auf das Schweben zwischen absolutem Wissen (Nichtsein) und absolutem Sein (Nichtwissen) legt den Ort einer adäquaten Schein- und Erscheinungslehre fest. Er liegt zwischen der bruchlosen Einheit des Seins und der unendlichen Bestimmbarkeit der Freiheit im Wissen. Das wirft ein neues Licht auf die uralte Grundfrage der Ersten Philosophie nach dem Fundierungsverhältnis von Einheit und Vielheit. Dabei dreht es sich in einer Erscheinungslehre nicht mehr wie in Fichtes Wahrheitslehre um die Frage, wie alle Gegensätzlichkeit auf eine einzige, in sich unzerteilte Einheit zurückzuführen sei.121 Der Problemstand ist jetzt umgekehrt: Wie kann angesichts des unaufteilbaren Einen die Gegensätzlichkeit, Mannigfaltigkeit und unendliche Vielheit des Bewußtseienden entstehen? Dafür muß nochmals der Grundsatz vom Sein als dem absoluten Singulum von Sein und Leben in Erinnerung gerufen werden. Das Absolute heißt Jn sich geschlossenes Singulum". Das sagt unmißverständlich: Es gibt keine Zweizahl und Vielzahl, einen Dualismus oder Pluralismus von Substanzen, sondern nur die Einzahl des göttlich Einen. Und immer wieder hat Fichtes These vom Sein beteuert: Außer der absoluten Einheit ist nichts. Die Inkludenzlehre wehrt ausdrücklich im Seitenblick auf Schellings Selbstdifferenzierungen des Indifferenzprinzips alle Art Differenzierungs- oder Emanationsschemata ab, wonach das göttliche Eine aus ihm selbst zur Zweiheit von Subjekt und Objekt oder ins Anderssein der Natur oder zu abgestuften Potenzen der Subjekt-ObjektIdentität herausgeht. Im transzendental-kritischen Überstieg zum wahrhaft Einen kann immer nur konstatiert werden: „Es findet durchaus und 12t

Das ist die Leitfrage der Abhandlung Vf., Fichte. Sein und Reflexion, Berlin 1970.

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schlechthin nicht Zweiheit, oder Vielheit Statt, sondern nur Einheit; denn das Sein eben selber führt durch sich die in sich geschlossene Einheit bei sich, und darin steht ihr Wesen" (WL 1804-11; G A 11,8,230). Aber fällt solche Grundlegung eines unbestimmbaren Einen nicht bis an den Parmenideischen Anfang zurück? Wiederholt sich nicht im Horizont neuzeitlichen Wissens einfach die kühne, aber dialektisch haltlose Abstraktion des Einen, das logisch ins Nichts (an Bestimmtheit) umschlägt? Läßt sich dieser Anfang gar in den (neuplatonisch interpretierbaren) Gang der 1. Hypothese in Platons „Parmenides" verwickeln? Diese kam ja zum Resultat: Wenn Eines ist, dann ist das Eine, im Verhältnis zu sich selbst betrachtet, alles und nichts. Da es nicht Vieles sein soll, muß ihm nicht zuletzt die zweiteilige Relation von Selbigkeit und Andersheit abgesprochen werden. Und das heißt: Das schlechthin Eine ist nicht verschieden von sich selbst und nicht verschieden vom anderen; es ist nicht dasselbe mit anderen und nicht identisch mit sich. In ihm verlieren dihairetische Aussage und intentionales Wissen jeglichen Halt. „Es ist eben - das absolute - und jedes zweite Wort ist von Uebel" (an Schelling, 15. Januar 1802; BrW G A 111,5,113). Nun aber gibt es doch außer dem in sich geschlossenen Singulum und unsagbar Einen noch ein Zweites außer ihm, nämlich die Einsicht davon im absoluten Wissen und im lebendigen, sich intuierenden Schweben unseres Bewußtseins. Zweifellos, das absolute Wissen und dessen lebendiges, sich intuierendes Bilden und Vorstellen ist außer dem Absoluten da. Gleichwohl ist es, obwohl keinesfalls das absolute Eine selbst, doch kein Zweites außer und neben ihm. Es ist in der Seinsweise des Bildes als Bild, Dasein, Äußerung des Absoluten. Für diese Lösung steht eben die Ontologie des Bildes gut. Bild ist nicht dasselbe wie das Abgebildete und doch nichts anderes. Ein Bild steht ontologisch unaufhebbar hinter dem Seienden zurück, dessen Nachahmung es ist, aber es stellt ontisch nichts anderes dar als dasselbe, dessen Nachbildung es ist. Mithin gibt es im Bildverhältnis außer dem Seienden noch dessen Bild, und das Bild ist das Seiende selbst außer ihm. So wird das Verhältnis des Absoluten und Einen zum absoluten Wissen durchsichtiger. Das absolute Wissen, auf dem Stande kritischer Besonnenheit bedacht, ist nicht das Absolute selbst, sondern das Absolute außer sich. Und das ergibt nicht ein Zweites, eine finite Substanz unter dem göttlich Infiniten oder ein freies Subjekt in Relation auf ein (dann doch relativiertes) Absolutes; denn Wissen in seiner lebendigen Aktuosität ist nichts als das Eine Leben in seinem unvermittelten Dasein. Auf dieses

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Grund Verhältnis baut Fichtes Phänomenologie und Bildlehre. „Das Wissen ist durch und durch Bild; und zwar Bild des Einen, welches ist, des Absoluten: es ist also auch absolut nur Ein Bild; das Wissen ist absolute Einheit, weil das in ihm Gebildete ist absolute Einheit. Und doch soll dasselbe Wissen auch wieder sein ein Mannigfaltiges, theils ein unendliches, theils ein in einer geschlossenen Vielfachheit. Was kann dieses Mannigfaltige sein? Verschiedene Bildformen des Einen Bildes" (WL 1813; NW 11,9). 10.1 Die Hauptspaltungen der Erscheinung. Ein Vorblick (WL 1804-11, 10. Vonrag) Die Ausgangsfrage einer Phänomenologie als Lehre vom erscheinenden Einen in seinem Erscheinen stellt sich positiv so auf: Wie kann das göttliche Eine durchdacht werden, daß es zugleich Vieles sein kann, ohne seine Einheit einzubüßen? Die kritische Einstellung fragt: Wie läßt sich das reine mit der Vielheit der so verbinden, daß das Mannigfaltige und Viele nicht Äußerung, Emanat oder Aufspaltung des unverbrüchlichen Einen selber ist? Antworten darauf bietet eine Erscheinungslehre, welche - in der Mitte zwischen Einheit und Vielheit schwebend - das absolute Wissen als Dasein des Einen und das Viele als Aufspaltungen des Wissens verstehen lehrt. Einen ersten, ganz vorläufigen Überblick über das Ganze solcher Phänomenologie bietet der 10. Vertrag der Zweiten Wissenschaftslehre 1804. Er stellt sich dazu in einen archimedischen Punkt hinein, in jenen Schnittpunkt, an welchem das „Durch" als Prinzipiat des aus sich lebenden wie als Prinzip des erscheinenden Lebens evident wird. Der Schluß des 10. Vertrags entwirft von hier aus einen dreifachen allgemeinen Vorblick 1. auf die erste Spaltung von Denken und Sein, 2. auf eine zweite Spaltung und deren Zusammengehen mit der ersten, 3. auf die unendliche Teilbarkeit der Einen Realität. Die Ableitung dieser dreifachen Disjunktion in ihrer Gleichursprünglichkeit setzt voraus, den Spaltungsgrund in seinem Prinzipiencharakter kritisch festzulegen. Die Wissenschaftslehre 1804 nennt ihn „lebendiges Durch", und sie behauptet das Durch nicht nur als Prinzipiat des Seins und Lebens, sie leitet es in seiner Konstitution und Genese ab. Nur dadurch kommt es verbindlich als Prinzip der Disjunktionen des erscheinenden Lebens und Seins zustande. Wie also ist es Dasein geworden, und

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worin besteht es? Für die Antwort auf diese methodische Ausgangsfrage des Phänomenologieprojekts kann an die Art und Herkunft des Lebens erinnert werden, aus dem das lebendige Durch lebt. Der 10. Vortrag legt folgende Überlegung nahe: „Wie wäre es, wenn grade das inwendige Leben des absoluten Lichts = 0, sein Leben wäre?" (GA 11,8,154). Offensichtlich ist die Lebendigkeit, der das Durch sein Fortkommen (im dialektischen, verschwebenden Durchgang vom Einen zum Anderen) verdankt, nicht naturhaft-körperlicher, sondern intellektuell-geistiger Art. Das Lebenselement geistigen Sehens und Durchblikkens heißt sachgerecht Licht; denn Licht läßt ja das Sehen wirklich tätig werden. Licht ist seit Aristoteles als das Durch-Lässige an ihm selbst definiert; und es läßt im Lebensvollzug des Sehens das Auge zum Gegenstand und den Gegenstand zum Auge durch, dergestalt daß sich die Welt lichtet und die Dinge in ihrer mannigfaltigen Unterschiedenheit distinkt heraustreten. Das Geisteslicht an ihm selber aber ist für unser Sehen und Bewußtsein ein Unsichtbares (= 0). Wir sehen ja in der Helle des Lichts, nicht aber sehen wir das Licht selber. Wer wirklich ins Licht starrt, sieht nicht nur nichts, er erblindet. Zumal für ein sonderndes Durch-Konstruieren bleibt das Licht des Geistes null und nichtig. Allenfalls kann es ein Unkonstruierbares und Unbegreifliches heißen. An ihm selber aber ist das Licht in keiner inneren Bestimmtheit zu fassen; selbst das Prädikat der Unbegreiflichkeit stammt ja aus der Negation unseres Begreifens. Solches Licht und Leben nun, das über unseren Begriff geht, ist das inwendige Leben eines lebendigen Durch im Modus der Energeia. Steht es so, dann entspringt das Durch aus dem Licht-Leben des Absoluten und fließt aus der Seinsfülle des Einen. Für eine Erläuterung des Ursprungsverhältnisses ist es aber wissenschaftlich nicht mit mystiknahen, neuplatonischen Sinnbildern wie „Aus- und Überfließen" (der Einheit in das Viele) oder „Erleuchtung" (der in der unio mystica ins Eine versinkenden Seele) getan. Die Wissenschaftslehre 1804 gibt einen förmlichen Syllogismus an, der die Genesis des Durch als Lebensäußerung des Einen erschließt. Die l. Prämisse lautet: „Soll es zu einer Aeusserung, aeussern Existenz, des immanenten Lebens, als solchen (Copia: als immanenten Lebens je) kommen, so ist das nur an einem absolut existenten Durch möglich" (GA 11,8,154 u. 155). Die aufgestellte Konsequenz variiert den Satz, das einzige Dasein des in sich geschlossenen Lebens sei das Wissen, und zwar im wirklich-tätigen Vollzug des Durch; denn Leben ist allein im Lebensvollzuge da, und das Durch existiert nur

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im schlechthinnigen Vollzug des sich wissenden und wollenden Wissens. Mithin offenbart sich das göttliche Leben unmittelbar in der Aktuosität und Freiheit absoluten Wollens und Wissens. Das Wissen kann nicht anders denn in einer Wissensform außer sich sein, welche das immanente Leben als solches setzt. Das Durchnehmen von etwas als etwas ist sonderndes Unterscheiden. Es unterscheidet im Blick auf das Sein zwischen dem immanenten Leben und dessen Äußerung. Als im Bild daseiend, ist das Sein in seiner Äußerung da und bewußt. Mithin scheint es zwingend: Einzig mögliche Äußerung des Seins ist das schlechthin existierende Durch. Aber diese Folgerung steht unter einer Voraussetzung, der Hypothesis des Soll. Das lebendige Durch wird zum Bilde des Absoluten, wenn es zu dessen Äußerung kommen soll. Aber warum soll sich das Absolute äußern? Warum bleibt es nicht dem menschlichen Auge ganz und gar verborgen, so daß das letzte Wort das Schweigen der Mystik oder eine radikale negative Theologie wäre? Die 2. Prämisse legt fest: „Es muß aber zu einer solchen Aeusserung kommen sollen" (ebd.). Auch diese Voraussetzung will mit kritischer Vorsicht behandelt werden. Sie verlangt nicht etwa Einsicht in das Wesensgesetz, das ins Klare bringt, wie und wodurch sich das Absolute äußert (etwa aus Überfülle an überquellender Einheit wie bei Plotin oder aus versöhnen-wollender Güte wie bei Hegel). In Frage steht nicht das Wie, sondern das Daß der Äußerung des Absoluten. Und von diesem Ereignis, dessen Warum durch einen irrationalen Hiat von unserem Begreifen getrennt ist, läßt sich nur eines sagen, daß es notwendig sein soll. Das spricht nicht in Respekt auf das moralische Sollen; jenes betrifft menschliches Handeln zwischen Neigung und Pflicht, zwischen sinnlichem Genuß und freier Selbsttätigkeit. Die Formel redet vom aletheuischen Soll; denn das betrifft das absolute Wissen zwischen in sich geschlossenem Sein und Sein in seinen mannigfaltig-vielheitlichen Äußerungen. Jedwedem Soll aber eignet Kategorizität. Auch das aletheuische Soll hat demnach etwas Unbedingtes an sich. Die Wahrheit Gottes muß unter allen Umständen in der Welt erscheinen, will diese nicht in der Liebe zum Unvernünftigen, d.h. zum Scheinhaften in der Irre bleiben und soll die Menschheit ihre Bestimmung nicht verfehlen. Dafür muß das göttliche Leben im absoluten Wissen und reinen Wollen da sein und das Durch absolut existieren können. Zu 1. Soweit ist das lebendige Durch nicht nur faktisch angenommen, sondern genetisch erschlossen. Inwieweit aber taugt es zum Divisionsfundament für die Spaltungen endlichen Seins- und Weltbewußt-

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seins? Wie steht es dabei zuerst mit der Prim rspaltung von Denken und Sein? Der zu erprobende Bescheid lautet: „Wie w re es wenn grade dieses lebendige Durch (lebend freilich durch ein fremdes Leben, aber doch lebend.) - als Einheit des Durch sich spaltete in Denken und Seyn, d.h. in sich selber, und in den Urquell seines LebensT' (GA 11,8,15557). Diese Annahme will grunds tzlich die Grundfrage einer neuzeitlichen Einheitsphilosophie l sen, n mlich das Problem, wie das Eine (das Absolute, die substantia unica, die Indifferenz) sich in die Dualit t von Denken und Sein aufspaltet, und zwar dadurch, da sie den Spaltungsgrund ins Dasein des Einen mit der Bewu tseinsgestalt des lebendigen Durch verlegt. Die gesuchte Differenz bricht auf, weil das Durch zwar lebt, aber eben doch nur durch ein anderes, fremdes Leben. Somit findet es sich immer schon in eine Zweiheit zerfallen vor, n mlich in sich selbst, d.h. das Denken und Sichverstehen in der Bildform des Durch, und in ein aus sich lebendes Leben, d.i. die im Denken daseiende Wirklichkeit des Seins. Das ist nicht mehr als ein freilich richtungweisender Wink. Er weist dahin, wo die Urspaltung von Denken und Sein ihre Wurzel hat, in den Lebensvollzug des absoluten Wissens als Einheit des lebendig-seienden Durch-Denkens. Daher bewegt sich unser menschlich-endliches Bewu tsein, sobald es zum Leben erwacht, durchg ngig in der Zweiheit von Denken und Sein, von Vorstellung und Realit t, von Subjekt und Objekt. Freilich bleibt in dieser Andeutung das Problem offen, was mit diesem, dem Denken innewohnenden Sein in der Reflexion des Bewu tseins wird. In der Urspaltung treten Denken (oder Sehen berhaupt) und Sein (als Urquell allen Bewu tseinslebens) auseinander. Wie aber kommt es, da wir nicht „Sein" unverh llt als das g ttliche Licht und Leben vorfinden, sondern verh llt und verwandelt im Seinsmodus positiv gegebener Vorhandenheit? Diese Frage nach der Verwandlung des lebensvollsten Seins in totes Vorhandensein ist hier nicht ausgefaltet, aber sie findet im ersten Grundsatz der Disjunktion von Sein und Denken wenigstens eine ihr angemessene Stellung. Zu 2. Im selben Zuge der Analyse des lebendigen Durch kommt eine zweite Spaltung des Einen im Bewu tsein zum Vorschein. Sie wird im Ausblick des 10. Vortrags nicht mehr beim Namen genannt. Von einer zweiten Spaltung aber war eindeutig in den Einleitungsvorlesungen dieser Vortragsreihe die Rede. Es handelt sich um die Kluft, die alle platonische Metaphysik pr gt, n mlich den Chorismos von κόσμος αισθητός und κόσμος νοητός, und zwar in der Kantischen Verwandlung

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zum mundus intelligibilis eines praktischen Freiheits- und Vernunftglaubens und zum mundus sensibilis theoretischer Welterkenntnis. Dieser Spaltung ist eigentümlich, daß es nicht um eine Zerstückung der realen Welt (in eine Welt vergänglicher Dinge und die „Hinterwelt" der Ideen) geht, sondern um eine in sich geschlossene (fünffache) Teilung und Abstufung der Vernunftansichten der Einen Welt. Die Disjunktion gründet mithin im Selbstverständnis unseres Sehens. Freilich genügt es überhaupt nicht, diese Zerteilung der Weltansichten auf zwei Grundvermögen unserer Erkenntnis zu reduzieren. Das legt sich nahe, zumal wenn zwei wesensverschiedene Erkenntnisquellen angenommen werden, so daß die Ansicht der Sinnenwelt auf das sinnliche Wahrnehmen und die der Ideenwelt auf ein Vernehmen von Übersinnlichem verteilt werden könnten. Aber das hieße doch nur, die Zweiheit unserer Welt auf eine Zweiheit von Erkenntnisstämmen zurückzuschieben und den Einheits- und Spaltungsgrund unbeachtet zu lassen, um in einem unhaltbaren Dualismus zu verharren. Mit dem „lebendigen Durch" dagegen steht ein Vermögen im Blick, welches die Grundform allen Sehens (von Anschauung und Denken) bildet. Es bietet sich an, in ihm die Aufspaltung der Weltansichten festzumachen. Auch diese zweite Spaltung ist im Ausblick des 10. Vertrags nur lapidar im Hinweis auf das lebendige Durch angezeigt. „Wie wäre es, wenn es nicht mehr unmittelbar in diesem seinem Wesen als Durch befangen, sondern dasselbe selbst wieder objektivirend und ableitend wäre?" (GA 11,8,156). Das Durch existiert nicht nur an sich im Vollzug eines Denkens, das Bild und Sein auseinanderhaltend durchgängig durchnimmt, es ist für sich im Stande eines sich denkenden Denkens. Es geht dann nicht im „Daseyen" und Offenbaren des Seins im Bilde auf, es bildet sich als Bild. (Das ist offenbar möglich; denn das philosophierende Bewußtsein hat ja schon das lebendige Durch objektiviert.) Und nun ist klar, daß solches Herausgehen aus sich im Sich-Reflektieren wiederum unter dem Gesetze des Durch steht, sofern es im Elemente absoluten Wissens geschieht: „welche Objektivirung und Ableitung ja auch wohl nach dem Gesetze des Durch (Copia: zu Stande) kommen konnte" (GA 11,8,156/157). Das Gesetz des Durch legt überhaupt ein Fortgehen von Einem zum Anderen und das Bestimmen des Einen durch Entgegensetzung zum Anderen fest. Daraus läßt sich die in Frage stehende Objektivierung des lebendigen Durch herleiten, nämlich als bestimmendes Fortgehen vom seienden Durch und stehenden Bilden zum sich wissenden Durch und sich bildenden Bilden. „Wie wäre es, wenn in dieser De-

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duktion und Ableitung es sich nun spaltete auf die zweite Weise?" (GA 11,8,156). Was so auseinandertritt, ist die Differenz zwischen einem „stehenden" und einem sich bildenden Durch-Bilden des Seins. Um aber die konkrete Komplexheit dieser Aufspaltung zu erreichen, muß in einem neuen Schritt auf das Verhältnis beider Spaltungen eingegangen werden. Die entscheidende Kundgabe findet sich als Zugabe am Rande der Copia: „Ferner, wie wäre es; da es ja doch wohl ein Durch seyn kann...; (wenn) die erste Art des Seyns, ohne wenigstens irgend einige Weise der zweiten, gar nicht möglich wäre; daher auch die erste Spaltung nicht ohne einige Weise der zweiten und v.v." (GA 11,8,157). Bisher konnte einfach behauptet werden: Die Spaltungen von Denken und Sein (S D) wie von sinnlicher und übersinnlicher Weltansicht (x - y) geschehen mit demselben Schlag. Sie kommen daher untrennbar voneinander in unserem Bewußtsein vor. Unsere Vorstellung von Sein (als die dem Denken vorliegende realitas actualis im Cartesischen Verstande) ist immer geprägt durch irgend eine Vernunftansicht der Welt. (Der menschliche Bezug zum Ontischen ist ontologisch.) Und der Vernunftblick erstreckt sich von der untersten Stufe eines Seins Verständnisses, das Sein als das positiv Gegebene der Sinnenwelt behauptet, bis zum Standpunkt der Wissenschaftslehre, welcher Sein eben als das in allen Vernunftansichten erscheinende urreale Leben versteht. Und faktisch sollte auch die umgekehrte Konjunktion einleuchten. Es gibt keine vernunftbestimmte Weltansicht, sei es auf dem Stande der Sinnen-, sei es auf dem Stande der Ideenwelt, für die nicht die transzendentale Fundierung des Seins im Sehen (das Urapriori der Subjekt-Objekt-Korrelation) gilt. Die Ankündigung des 10. Vertrags weist auf den Erklärungsgrund dieses Faktums. Beide Spaltungen gehen zusammen, unser Bewußtsein teilt sich begreiflich und völlig durchsichtig in einem Nu in die vier Glieder von Sein und Denken, sinnlicher und intelligibler Welt auf, da beide Spaltungen aus derselben Wurzel stammen, dem lebendigen Durch. „Da dieses Durch unser eignes inneres Wesen ist, und ein Durch in einem Durch vollkommen aufgeht, so muß durchaus alles was in diesen Gliedern begründet ist, sich vollkommen begreifen und ableiten lassen" (ebd.). Zu 3. Es bleibt ein dritter, aufdringlicher Anblick von Vielheit mit der allumfassenden Einheit zu vereinbaren, die unendliche Zerteiltheit des Realen. Das Bewußtsein findet in der für alle einen und selben Welt eine unendliche Vielheit und Mannigfaltigkeit vor, und das sowohl in

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der Körper- wie in der Menschenwelt. Die Menschenwelt ist aufgesplittert in eine unendliche Vielheit individueller Iche, die Körperwelt in eine endlose Mannigfaltigkeit von Körpern in Zeit und Raum. Nun hat eine transzendentale Herleitung auch hier ihr Axiom zu beherzigen: Die Realität der Einen Welt spaltet sich nicht von sich her unangesehen jener Bewußtseinsformen, die Einheit und Vielheit der Welt zur Erscheinung bringen. Die Zerteilung des Einen, die Separierung ins Viele verdanken sich vielmehr einer Instanz, welche auch das Gesetz unendlicher Teilbarkeit an sich hat. Das ist das absolute Wissen in der Grundform des sich intuierenden lebendigen Durch. Der Ausblick des 10. Vertrags beläßt es bei diesem Problemkomplex mit der Synthese von Allrealität, lebendigem Durch und Quantitabilität (unendliche Teilbarkeit) als Grundlage für die zu genetisierende Vielheit in der erfahrbaren Welt. Diese Anweisung geht von einer anderen Ansicht des in sich geschlossenen Lebens aus. Der leitende Vorblick wechselt nun vom Leben und dessen Äußerungen zur Realität und deren Teilung. Das ist möglich, weil Leben und Realität untrennbar verflochten sind. Nur das ist wirklich real und wahrhaft seiend, was aus geistig-freier Lebendigkeit ist und wird. Was ohne Leben und geistige Kraft vorhanden ist, ist innerlich tot und nichtig. „Unzertrennlich mit dem Leben (Copia: ist) vereinigt, was wir mit dem bloß negativen Begriff der Realität fassen" (G A 11,8,156/157). Obwohl in der Wurzel geistiges Leben und wahre Wirklichkeit vereinigt sind, fassen wir im Stande natürlichen Bewußtseins das Wirkliche nur im negativen Begriff der Realität, nämlich als das außer dem Bewußtseinsleben an sich bestehende Vorhandene. Diese Tatsache des Bewußtseins kann hier vorerst im Andenken an das absolute Leben vermerkt werden. Handelt es sich um das aus sich selbst lebende Leben des Absoluten, dann muß auch von einer absoluten Realität die Rede sein, nämlich von der in sich aufgehenden Einheit von Subjektivität und Objektivität. Das ist alle Realität, denn mehr Reales als das Objektive (die Natur und Sinnenwelt) und das Subjektive (die Welt der Geister und deren Stufen) gibt es für uns nicht. Sofern nun aber diese Alleinheit nur in der Wissensform des Durch da ist, entgeht sie dem Begriff, dessen Element das Unterscheiden, das Durchgehen vom Einen zum Anderen, ist. Der Begriff faßt mithin das All-Leben nur negativ als das im Durch und durch das Durch lebende Reale. Worauf es in dieser lapidar hervorgehobenen Synthesis ankommt, ist, die Basis aufzustellen, von der die Zerteilung des Einen in die unendliche Mannigfaltigkeit und Vielheit ausgeht. Das ist eben die Koino-

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nie von ursprünglichem Leben, Allrealität und lebendigem Durch. Vom Absoluten kann nämlich konstatiert werden: „Ist es nun unzertrennlich vom Leben und lebt das Leben ein (Copia: im) Durch, so lebt es als absolute Realität, aber, da es ein Durch ist, eben nur im Durch, und als Durch" (ebd.). Mithin gilt: keine Realität ohne Durch, kein Durch ohne Realität. Das verleiht große Sicherheit. Das Wissen in der Form des sich bildenden Durch-Bildens stellt nicht leere Spiegelbilder hin, es nimmt Realität, und zwar die einzig wahre und lebensvolle Realität, durch. Hinwiederum ist das ewige Geistesleben nichts Unsichtbares oder bloß Ausgedachtes, es kommt vor in der Realität, wie sie sich in der Grundform unseres Sehens, dem dialektisch-schwebenden Fortgehen von Einem zum Anderen, formiert. Die richtungweisende programmatische Frage, die aus dieser Konstellation entspringt, kann nur lauten: Was folgt daraus, daß die absolute Realität ausschließlich in der Form des absoluten Durch - nicht etwa unmittelbar in Natur oder Geschichte - erscheint, für die Frage nach Einheit und Vielheit? Der lapidare Bescheid besagt, „daß die bekannte unendliche Theilbarkeit, bei absoluter Continuität, als das Grundphänomen alles unseres Wissens - mit Einem Worte das, was die W.-L. Quanütabilität nennt, als unabtrennbare Form der Erscheinung der Realität (Copia: der Qualität), entstehe" (ebd.). Die Zerteiltheit der Realitätseinheit wird zurückgeführt auf die Teilbarkeit des Bewußtseins, das alle Realität setzt. Die Teilbarkeit oder Quantitabilität des Ich hat die Wissenschaftslehre 1801/02 (II §2) und eigentlich schon die erste Grundlegung der Wissenschaftslehre 1794/95 (§3) als Grundverfassung des Wissens unter der Kategorie der Limitation bekannt gemacht. Einschränken heißt ja, einen Teil der Realität aufheben und auf etwas anderes außer sich übertragen. So verteilt das Ich in sich alle Realität teils auf sich selbst, teils auf das Nicht-Ich. Das macht die erste Synthesis des endlich-menschlichen Ich im dialektischen Durcheinander von Bewußtsein und Welt aus. Absolute Realität (Ich = Ich) und absolute Negation (Ich = Nicht-Ich) vereinigen sich allein aufgrund der Teilbarkeit. Teilbarkeit oder Quantitabilität ist demnach das bekannte, unableitbare Grundphänomen eines absoluten Wissens, das endlich ist. Hier nun ist die Quantitabilität oder unendliche Teilbarkeit ausdrücklich in Bezug gesetzt zur Form des konkret aufteilenden Durch. Das läßt sich als Analogie von Bestimmbarkeit und Bestimmung zusammendenken. Das Durch-Bestimmen braucht eine schlechthin nur aufzufindende, weil jenseits des teilenden Bewußtseins stehende Sphäre der Bestimm-

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barkeit. Und diese hat sich als Quantitabilität abgezeichnet. In ihr bewegt sich das absolute Durch. Dabei kommt hier das Durch in seiner Absolutheit, d.h. losgelöst von den spezifischen Formen menschlichen Sehens zur Anzeige. Die Voranzeige legt einzig die Grundform des anschauend-denkenden, dialektisch-schwebenden Durchsehens als Zerteilungsprinzip der Realität überhaupt vor. Ein kontinuierliches Fortgehen von Einem zum Anderen teilt das Reale ein in das Eine als consequens, das durch ein anderes, und das Andere als antecedens, durch welches das Eine entsteht. Anders ist das Eine in der Realität nicht aufzufassen als in dieser unausbleiblichen Teilung im Durchgang des Einen durch das Andere. Damit geht der programmatische Vorblick zu Ende. Er zeigt immerhin Voraussetzungen für die Aufgabe an, die daran anzuknüpfen hat, nämlich Gesetze der Separabilität darzulegen (z.B. innerhalb einer Anschauungswelt die Prämissen für die unendliche Teilbarkeit des Räumlichen als Separabilität eines Punktekontinuums: der „Urraum" in seiner ewig gleichen Mannigfaltigkeit und das „Linienziehen" als Nachkonstruieren eines Ausschnittes aus dieser Quantitabilität). Also hat Fichte am Ende des 10. Vertrags - wahrscheinlich am Donnerstag, dem 3.Mai 1804 - seine Lehre vom Bilde des Absoluten im großen und ganzen vorgelegt: die Ableitung des Disjunktionsprinzips, Grundzüge der Spaltungen von Denken und Sein wie der Ansichten einer sinnlichen und übersinnlichen Welt, die Deduktion der unzertrennlichen Simultaneität beider, die Aufklärung der unendlichen Teilbarkeit der Einen Realität. „Ich habe in diesem letzten kurzen Absatz meiner Rede, den gesammten Inhalt der W.-L. zusammengedrängt. Wer dies gefaßt hat, und es ihm als nothwendig eingeleuchtet, - die Prämissen aber und Bedingungen dieser Evidenz sind schon vollständig gegeben, - der kann nun hier nichts neues mehr lernen; er kann nur das eingesehene sich durch Analyse noch deutlicher machen" (GA 11,8,157/59).

10.2 Ableitung der Dualität von Denken und Sein in der Selbstgewißheit des Ich. Das Von und das Licht Die Aufgabe einer Phänomenologie des Geistes, die gleichsam vom Einen und Absoluten im Durchgang durch das absolute Wissen zum Vielen und Mannigfaltigen absteigt, ist vorentworfen. Sie gibt der Ersten Philosophie auf, alles Mannigfaltige in seinen Hauptspaltungen a

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priori genetisch als Prinzipiat des daseienden Einen verstehbar zu machen. Nun hat die Aufklärung einer Spaltung die Epoche der Neuzeit eröffnet, nämlich die Sicherung des Gegensatzes von Denken (Vorstellen) und Sein (Existenz) vor dem metaphysischen Zweifel in der Selbstgewißheit des Ich. Der metaphysische Zweifel verbreitet eine zum Nihilismus hintreibende Unsicherheit darüber, ob dem von uns sachhaltig klar und deutlich Vorgestellten (qua realitas obiectiva) auch wirkliches Sein und Existieren (realitas actualis) zukommt. Es geht um das methodisch verdeutlichte verum (clare et distincte perceptum) qua ens. Gibt es ein Fundament, das unser Weltvorstellen vor dem Auseinanderfallen in bloßes Denken und wirkliches Existieren schützt und vor den alten Anflügen des Zweifels rettet, das Leben sei nur ein Traum? Descartes hat auf einen Grund gebaut, der die Zweiheit von Denken und Sein (Existenz) in eine indubiose Einheit verwurzelt, die Selbstgewißheit des sum cogitans. Der Grundzug der perceptio qua apperceptio ist der wirkliche Vollzug eines Denkens, das sich selber denkt und das zweifelsfrei aktual seiend ist, sofern und solange es denkt. Ist der schwanken-machende Zweifel nun selber eine Weise solch ichhaften Denkens, dann hebt er sich auf, wenn er das Sein im Vorstellend-Sein leugnet. Das Leugnen des Seins widerspricht dem Sein des Leugnens. Damit scheint seit Descartes die zweifelhafte Zweiheit von Denken und Sein radikal in ihrer einheitlichen Wurzel aufgeklärt und abgesichert. Geht die Erscheinungslehre Fichtes weiter und tiefer, weil Descartes' Aufschluß nicht genügt? Worin läge dann das Ungenügen der Cartesischen Lösung? Auf welche Gesetze und Prinzipien greift die Wissenschaftslehre, über Descartes hinausgehend, aus? Diese Fragen sind in einer freien Überlegung zu entfalten. Es wird sich zeigen, daß hierbei die Wissenschaftslehre als ,JPhänomenologie, Erscheinungs- und Scheinlehre" (1804-11, 13. Vortr.; G A 11,8,206) zum Zuge kommt. Sie löst den Schein auf, der in der überlieferten Lehre von Denken und Sein im Bewußtsein herrscht, indem sie diese Zweiheit als Erscheinung des Einen in ihrer Nichtgenetisierbarkeit genetisiert. Zunächst ist die Borniertheit des herkömmlichen Idealismus genauer zu beschreiben. Dafür muß die Unzertrennlichkeit der Zweiheit von Wirklichkeit (Sein, Existenz) und Bewußtsein in täuschungsfreier Selbstgewißheit erzeugt werden. „Du wirst nicht annehmen, daß du wirklich denken könntest, ohne dir dessen bewußt zu sein, und umgekehrt, daß du dir deines Denkens bewußt sein könntest, ohne daß du wirklich dächtest, und dieses Bewußtsein dich nur täusche" (WL 1804-11,14.Vortr.;

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GA 11,8,218). Das ist als Tatsache des Bewußtseins unleugbar. Bewußtsein und Sein (wirkliche Realität, realitas actualis) bilden untrennbare Glieder in der Einheit des Selbstbewußtseins. Wirkliches Denken ist stets für sich, und Fürsichsein ist stets Bewußtwerden wirklichen Denkens. Aber eine gründlichere Phänomenologie darf nicht bei Tatsachen des Bewußtseins stehen bleiben. Sofern der Cartesische Idealismus lediglich die Haupttatsache vorführt, ist er Einleitung in die Philosophie, aber nicht selber philosophische Wissenschaft. Die philosophische Aufgabe bestünde eigentlich erst darin, den vorgetragenen Zusammenhang dieser Zweiheit zureichend, d.h. aus seinem Entstehungsgesetz zu erklären. Solcher Erklärungsversuch aber führt zu einer eigentümlichen Ratlosigkeit. „Wenn du aber über den Zusammenhang dieser beiden Glieder nach einem erklärbaren und erklärenden Grunde fragen würdest, würdest du einen Grund nie herbeibringen können" (ebd.). Der bloße Idealismus der Selbstgewißheit hat diese Frage gar nicht gestellt. Er ist beim Ich und dessen Seinsgewißheit als einer unerschütterlichen Tatsache stehen geblieben. Zur Genetisierung aufgefordert, gerät er in eine Aporie. Er kann nicht darüber Rechenschaft abgeben, was Erklärungsgrund dieser Zweiheit ist, das Sein und die Wirklichkeit des Denkens oder das Fürsichsein und Bewußtsein des Sich-Denkens. So bleibt dunkel, ob Sein, Wirklichkeit, Existenz der Selbstreflexion entstammen oder ob um gekehrt die Selbstreflexion aus dem Sein und Existieren des Denkens herkommt. Damit ist ein Ungenügen in der Theorie der Selbstgewißheit für die zweifelhafte Zweiheit von Denken und Sein aufgezeigt. Wie aber kann dem abgeholfen werden? Nicht so, daß ein Denkfehler korrigiert wird, wohl aber so, daß die Unerklärbarkeit als solche erklärt werden sollte. Mithin ist genau darüber Rechenschaft zu geben, warum die Bewußtseinstheorie über das Fundierungsverhältnis von Denken und Sein keinerlei Rechenschaft zu geben vermag. Wo das rationem reddere versagt, kommt es zu einem Hiat, einem Abbrechen des Intelligierens. Hier verzichtet die Ratio darauf, einer Realität ihr Prinzip nachzuweisen. Per hiatum irrationalem wird eine Realität einfach ohne jede Erklärung aus Prinzipien projiziert. Das ist der Stand einer puren Bewußtseinsphilosophie. „Dieses Bewußtsein projicirt daher eine wahrhafte (Copia: vorgebliche) Realität, per hiatum einer absoluten Unbegreiflichkeit und Unerklärbarkeit hindurch" (GA 11,8,220/221). Die tiefergehende Aufgabe einer Phänomenologie qua Erscheinungs- und Scheinlehre besteht nun nicht etwa darin, bisher lediglich übersehene, aber wohl vorhandene

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Vermittlungsglieder als Erklärungsprinzipien beizubringen, sondern darin, den zu konstatierenden Hiatus irrationalis als solchen aufzuweisen. Die Prinziplosigkeit soll als solche auf ein Prinzip zurückgeführt werden. Somit lautet die Frage: Warum kommt in der Einheit des Selbstbewußtseins die Zweiheit von Denken und Sein als in ihrer Genesis absolut unbegreifliche Zweiheit vor? Eine zureichende Auskunft muß auf das Grundgesetz allen Wissens so zurückgreifen, daß sie dessen Erscheinungselement herausholt. Der Grundsatz hat in der Wissenschaftslehre 1804 die Formel gefunden: Soll das reine Licht und Leben von sich her einleuchten, dann muß der Begriff sich setzen und vernichten. Für die Frage nach der rationalen Unableitbarkeit des Seins, das sich in allem Sichdenken wirklich vorfindet, verspricht weniger die Methodenregel „Soll-dann-muß" und selbst nicht die Bedingung der Selbstvernichtung des Begriffs, sondern vorzüglich die Struktur des Von als integrales Mittelglied der Fichteschen Phänomenologie Aufschluß.122 Die gezielte Rückfrage lautet nunmehr so: Inwiefern erklärt das „Von" den hiatus irrationalis in der fraglichen Zweiheit von Denken und Sein? Das fordert offenkundig eine Vorfrage heraus: Was bedeutet überhaupt diese seltsame Substantivierung der Präposition „Von" sachlich und sprachlich? Das Von ist wie das „Durch" ein substantiviertes Verhältniswort. Es bringt sachangemessen ein Ursprungsverhältnis als solches zum Ausdruck. Der Terminus wird in der Fassung eines „Urvon" reserviert für die reine Ursprungshaftigkeit des absoluten Seins, das schlechthin von sich lebt. So bringt das Von reine Genesis oder Ursprungshaftigkeit ins Wort einer kritisch reflektierten Wissenschaftssprache. Das Erste Prinzip darf ja nicht verstellt und verendlicht werden zu einem Etwas, und sei es zum höchsten Lebe-Wesen Gott, dem die Macht der Entäußerung und das Vermögen zukommen, etwas anderes außer sich entstehen zu lassen. Das „wesen" des Seins ist rein verbal als Akt zu verstehen und als ursprüngliches Von auszudrücken. 122

Es ist erstaunlich, mit welcher Intensität und Fruchtbarkeit die japanische Philosophie des 20. Jahrhunderts seit dem Durchbruch bei Kitaro Nishida Grundgedanken des Buddhismus mit Prinzipien der Wissenschaftslehre verbunden hat. Dabei sind es vor allem Untersuchungen von Chukei Kumamoto, welche in dieser Absicht Fichtes Erscheinungslehre aufarbeiten, z.B. die zwei Stufen des Von; vgl. Der Begriff der Erscheinung beim späten Fichte, in: TrG, 74ff. oder die Charakterisierung des Absoluten als Licht; vgl. Das System vom Licht beim späteren Fichte, in: The Hiroshima University Studies 32(1973)26-49.

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Nun redet das Von des reinen Entspringens von einer Genesis der Vernunft. Da stellt sich aus neuplatonischer Tradition wie von selbst das Sinnbildwort des Lichtes ein. Es taugt dazu, das Entspringen der Erscheinungen des Bewußtseins anschaulich zu machen. Das Von meint eigentlich „Lichtung", nämlich des ursprünglichen Vernunftlebens. Solch uranfängliche Lichtung ist Urquell des Lichtes, welcher die Helle unserer Welt- und Selbsterhellung und das Sehen unseres Bewußtsein, aufgehen läßt. „Licht" als Symbolwort des „Von" bedeutet daher nicht lumen, die ausgebreitete Helle, sondern soviel wie lux. Lateinisch „lux", etwa in der Augustinischen Wendung von der „lux lucifica", bedeutet das von sich Entbrennende und aus sich Aufleuchtende. Das versinnlichte Begriffswort für die reine Genesis und Selbstkonstruktion des Seins wäre somit Licht als aufspringender Strahl. Die klassische Lichtmetaphysik nimmt das Hen im Seinsmodus reiner Dynamis mit dem Bilde des Aufstrahlens zusammen. Das Eine ist überquellende Kraft und Ausfluß des Lichtes ( bei Proklos, bei Plotin). Wie selbstverständlich nimmt Fichtes Phänomenologie diese platonischen Sinnbilder in transzendentaler Verwandlung auf. (Das ist toto coelo von Heideggers Andenken an die Lichtung der und an das Ereignis des Seins getrennt, da Fichte gerade auf das setzt, was Heidegger „verwindet", nämlich auf die Tragweite einer zu Ende reflektierten, vollendeten Subjektivität.) Und die kritische Verbildlichung des Einen in seinem Erscheinen von sich beachtet auch die Weisung des Sonnengleichnisses in Platons „Staat": Das überbegriffliche Eine unter dem Namen einer Idee des Guten und im Bilde der Sonne bleibt unserem Auge entzogen. Mit Plotins Grundgedanken gesagt: Das Hen ist dem Nous an Sein und Einheit überlegen, denn der Nous lebt schon in und aus der Einheit von Denkendem und Gedachtem. In der Gleichnissprache wiederholt: Die Sonne als Quelle des Lichts ist das alles sichtbarmachende Unsichtbare an ihm selbst. Schließlich, in Fichtes Wortprägungen ausgesprochen: Das Urvon ist die von uns nicht zu konstruierende Selbstkonstruktion oder reine Genesis. In der Ursprungshaftigkeit bleibt das Von für immer verborgen. „Alles Von, als Genesis, setzt Licht; - so wie vorher Licht Genesis setzte: und zwar, da hier das absolute Von des rein unzugänglichen Princips liegt, es setzt absolut Licht, schlechthin ohne alle Sichtbarkeit der Genesis" (WL 1804-11,19. Vortr.; G A 11,8,298). Was bedeutet das für das Erscheinen des Seins im Bewußtsein? Ergibt sich daraus etwas für die Erklärung des fraglichen hiatus irrationa-

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lis im Zusammenstand von Sein und Denken und die Verfassung der Selbstgewißheit? Zunächst dies: Das allreale Eine ist nur als Erscheinendes, aber niemals selbst da. Und das ist so, nicht weil das göttliche Eine im Dunkel haust, sondern gerade umgekehrt, weil es den Charakter des aufstrahlenden Lichtes hat. Gesetzt aber, das Eine ist unsichtbar und das absolute Sein bleibt ewig in sich geschlossen, was erscheint dann als dessen Bild? Auch das läßt sich in den Verdeutlichungen der Sinnbildsprache entschlüsseln. Ist das Urvon ein sich selbst effizierendes Licht, dann ist dessen Effekt wiederum Licht, aber eben das an sich unsichtbare Licht in seiner Äußerung. Das erzeugte Licht heißt Helle: Licht im Zustande ungesonderten Scheinens. Daher können wir angemessen von der Helle der Vernunft reden und von jener Helligkeit absoluten Wissens, die all unserem Sehen erst die Sicht ermöglicht. „Wir daher, mit unserm unmittelbaren Sehen selber, seinem ganzen Inhalte nach, sind die Urerscheinung des unzugänglichen Lichtes, in seinem Ureffekte" (ebd.). Dasselbe in Abstufungen des Von ausgedrückt: Unser unmittelbares Sehen und absolutes Wissen hat nicht den Charakter des Urvon. Das Urvon gehört dem Absoluten an. Der Lebenscharakter unseres Sehens dagegen ist das „erleuchtete Von". Und dabei ist im Kontext der gestellten Aufgabe die Vorstellung fernzuhalten, das Selbstbewußtsein des Menschen sei ein Ureffekt, eine causa sui ipsius efficiens. Es ist, kritisch gesehen, vermitteltes, in seiner Genesis und Ursprünglichkeit undurchdringliches Dasein des sich selbst effizierenden Lichts und einer Lebendigkeit ganz von sich. So wird das Grundgesetz allen menschlichen Wissens auch für die undurchsichtige Zweiheit von Denken und Sein in der Selbstgewißheit unseres Bewußt-Seins verbindlich. Soll das reine Licht von sich einleuchten, dann muß der Begriff sein Konstruieren aufgeben und die Undurchsichtigkeit und Unerklärbarkeit dieser reinen Genesis eingestehen. Und daher wird dieser irrationale Hiat erklärbar, die durch die Ratio nicht zu schließende Kluft zwischen dem Sein und Dasein des Bewußtseins in seinem Ursprünge; denn die reine Genesis liegt allem Bewußtsein zuvor. Unmöglich kann das Bewußtsein in die Ursprungsverhältnisse seiner eigenen Konstitution eindringen; denn, nochmals beteuert, das sich selbst effizierende Licht und Urvon bleibt für unser Begreifen unbegreiflich, weil es der Helle, in der wir uns selber sehen, als seinem Effekte vorausliegt. Mithin intuiert sich unser Bewußtsein als unabtrennliche Zweiheit von Denken und Sein immer nur so, daß es sich unzweifelhaft faktisch als seiend vorfindet.

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Am Ende leugnet eine zureichende Phänomenologie die Seinsgewißheit unseres Bewußtseins so wenig als Tatsache per hiatum irrationalem, daß sie dieses Grundphänomen allererst als nicht genetisierbares Faktum erklärt. Die fragliche Zweiheit von Denken und Sein verdankt sich einem Begriff, der sich selbst als Erkenntnisprinzip absetzt und so sein eigenes Sein und Leben zwar untrennbar vom Bewußtsein, aber doch unaufklärbar durch die Ratio vorfindet. Formelhaft kritisch zusammengefaßt: Die Zweiheit von Denken und Sein in der unvordenklichen Einheit der Selbstgewißheit gründet nicht wie im absoluten Idealismus in der Selbstentzweiung des göttlichen, sondern in einer Selbstvernichtung des menschlichen Begriffs. 10.3 Erschaffung der Welt als Gegenbild inkludenten Lebens durch den Begriff unter dem Anspruch des Soll (Die Anweisung zum seligen Leben, 4. Vorlesung) Die Philosophie durchdringt die gewöhnliche Ansicht unseres Selbst- und Weltbewußtseins bis auf dessen Ursprung und Grund. Dabei achtet kritisches Philosophieren unbeirrbar auf die Schranken unserer Endlichkeit. Endlich heißt der Mensch seit den Griechen, weil er der Sterbliche ist. Die Creatio-Metaphysik versteht Endlichkeit als Geschaffensein der Kreatur. Seit Kant wird das Problem menschlicher Endlichkeit zur Frage nach dem Stande des Bewußtseins. Danach bestehen die Schranken unserer menschlichen Erkenntnis in der Rezeptivität der Anschauung und in der Zeitgebundenheit der Rezeptivität. Für Fichte bilden dagegen weniger Sterblichkeit, Kreatürlichkeit, Rezeptivität die Male der Endlichkeit, sondern die entgegengesetzte, einander einschränkende Zweiheit von Selbstbewußtsein und Weltbewußtsein aufgrund der Teilbarkeit. In diesem beschränkten Zustande findet sich unser endliches Bewußtsein vor, wenn es gleichsam die Augen aufschlägt und „Ich" sagt. Hier bin ich - dort die Dinge und die bestehende Welt außer mir. Unausweichlich und unaufhebbar stellen wir die Welt, die Dinge außer uns, andere Vernunftwesen neben uns als unabhängig von uns vorhanden vor. Diese der Endlichkeit unseres Bewußtseins eingeborene Zweiheit des An-sich- und Für-uns-seins muß, will die Erste Philosophie eben nicht einem unhaltbaren Dualismus verfallen, sowohl auf eine absolute Einheit zurückgeführt als auch aus einem Einheits- und Mittelpunkte hergeleitet werden.

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Nun haben die theoretische und praktische Wissenschaftslehre für diese Hauptaufgabe, die Vorstellung an sich bestehender Dinge zu erklären, Bedeutendes geleistet. Die theoretische Wissenschaftslehre weist das wunderbare Vermögen der Einbildungskraft als jene vorbewußte, produktive Tätigkeit nach, welche die Bestimmungen eines Dinges als Ding ursprünglich in eins bildet und im Anblick des Produkts ihr Produzieren vergißt. Und die praktische Vernunft macht die Schranke der Welt als Anstoß und Hemmung der absolut freien Wirksamkeit unseres endlichen Handelns verstehbar. Jetzt aber soll die Welt als Gegenbild des Absoluten, des göttlichen Seins und Lebens, durchsichtig werden. In solcher Erscheinungslehre kommt der äußerste Gegensatz in der Zweiheit von lebensvollem Sein und toter, vorhandener Welt zur Sprache. Für die Ableitung dieser Disjunktion sind neue Mittelglieder aufzunehmen: das kategorische Sollen, das dihairetische Als und das dialektische Durch. Diese Charaktere des Begriffs müssen in den genetischen Zusammenhang von absolutem Leben, Dasein und Bild eingeholt werden. Fichtes Religionsschrift hat das Resultat verkündet. Es provoziert die Schöpfungslehre des Alten Testaments ebenso wie alle Creatio-Metaphysik: „Der Begriff daher ist der eigentliche Weltschöpfer, vermittelst der aus seinem inneren Charakter erfolgenden Verwandlung des göttlichen Lebens in ein stehendes Seyn" (AsL, 4.Vorl.; SW V,454). Diese These streicht den Satz der Genesis „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde" wissenschaftlich durch. Einen Schöpfungsakt anstelle des ewig offenbaren Daseins Gottes zu setzen, das ist nach Fichte der Grundirrtum aller falschen Metaphysik und Religion. Im Anfange war das Wort, der Logos: das in die Welt scheinende Licht und Leben, das geist- und lichterfüllte Bewußtsein als Schöpfer der Welt. So findet Fichtes Religionslehre die Bestätigung der philosophischen Phänomenologie im Johannesprolog. Im Anfange war das Wort: zeitlich-weltgeschichtlich erschienen in der Person Jesu, ewig da im Geiste absoluten Wissens und den Menschen durchgängig bestimmend im gebietenden Wort „Du sollst!". Dieser Sollensanspruch durchzieht daher alles Handeln des Menschen, der seine Bestimmung zu erfüllen strebt. Die Natur soll kultiviert, die Willkür unter Menschen nach Fug und Recht eingeschränkt werden, es soll auf das Sittengesetz gehört und schließlich das Göttliche in der Welt ins Klare gebracht werden. Methodisch geht das Sollen in das Grundgesetz allen Wissens als Gebot der Wahrheitsverklärung ein:

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Das Absolute in der Daseinsform absoluten Wissens soll in die Welt gebracht werden. Das Licht soll in die Finsternis scheinen. Dieses „aletheuische" Soll erstreckt sich auf das Streben des Menschen nach Wahrheit. Das Wissen soll sich in seiner Wahrheit als Bild und Dasein des inkludenten Seins und absoluten Lebens klar machen. Als Bestimmung des Menschen vom Stande religiöser Glaubensgewißheit formuliert: Der Mensch soll sich in einen Bewußtseinsstand erheben, von wo aus er durch die Verhüllungen der Vielheit hindurch das lebendige Eine in allem glaubt, schaut und liebt. Das verlangt nicht etwa das mystische Ablassen von der Welt im Auslöschen des Bewußtseins oder ein pantheistisches Einswerden mit der Natur, sondern Besonnenheit. Gefordert ist eine wissenschaftliche Welteinstellung, die sich auf die Mittelstellung des absoluten Wissens in der Form des Durch unter dem Anspruch des Soll besinnt. Die nüchterne Analyse beginnt wiederum damit, das Soll - wie das Von - zweifach zu kennzeichnen, nämlich als Mittleres und Vermittelndes, als Mittelglied und Disjunktionsfundament. (So steht ja auch das Von in der Mitte: Als Urvon gehört es dem Absoluten, als Energie des Wollens und Wissens dem Dasein an.) Offenbar ist das Soll modal-kategorial betrachtet ein Mittleres. Einerseits gehört es dem Endlichen, ja dem Nichtseienden zu; denn das Soll hat den Modus der Problematizität, des Seinkönnens, an sich. Das Soll drückt kein unentgehbares Muß aus. Das Gesollte kann sein, aber es kann auch nicht sein. Unser Wille folgt Nötigungen des sittlichen Sollensgebotes nicht mit derselben Notwendigkeit wie ein Stein den Gesetzen der Schwerkraft. Und auch jene energische Durchdringung und Absetzung menschlichen Wissens, durch die das Absolute in seinem Sein und Dasein einleuchtet, geschieht nicht notwendig. Sie soll sein; Menschen und Zeitalter können aber auch im dogmatischen Naturglauben aus Liebe zum Wohlleben befangen bleiben. Andererseits trägt das Soll Charakterzüge des Unendlich-Unbedingten. Dank seiner Unbedingtheit und Kategorizität gehört es dem Herkunftsbereich des Absoluten zu. Von daher kann konstatiert werden: Das kategorische Soll erschafft und trägt sich selbst. So betrachtet, zeigt das Soll Züge göttlicher Vernunft. Es erschafft sich selbst, denn das Gesollte wird nicht durch etwas anderes und um eines anderen willen gefordert. Und es trägt sich selbst, es lebt aus freier Selbsterzeugung; damit das Sollen lebendig wird, muß es sich in den Geist absoluten, schlechthin freien Willens einpflanzen. Somit ist das Soll als ein Mittleres charakterisiert. Als Mittleres taugt es zur Vermittlung. Wie steht es damit?

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Das Sollen steht zwischen dem Absoluten, dem sich selbst erschaffenden Göttlichen, und dem Nicht-Absoluten, dem Endlichen und Kontingenten, und zwar als Gesetz, das an ein freies Wissen ergeht. So müßte es als der Mittelpunkt einleuchten, der absolutes Leben und endliche Welt zusammenhaltend auseinanderhält. Das vermittelnde Einheitsglied ist in sich trennendes Disjunktionsfundament. Um aber von daher die Spaltung von Ich-Bewußtsein und an sich bestehender Welt aus dem Begriff qua absolutem Wissen unter dem Anspruch des Soll herzuleiten, müssen wenigstens grundsätzlich andere Mittelglieder eingeführt werden. Das absolute Wissen vermittels der Form des sich selbst tragenden kategorischen Soll ist nicht identisch mit dem absoluten, sich selbst erschaffenden Licht. Das aletheuische Soll erhebt gerade die Forderung, das Wissen solle sich verklären als Bild des Absoluten. Das reine Wissen soll sich als Schema reinen Lebens und aktuosen Seins verstehen, und das kann es nur dadurch, daß es sich vom absoluten Sein und Leben unterscheidet. Zwar eignet dem absoluten Wissen gleichsam von Ewigkeit her das Von, die vom Urlicht stammende Helle und die energische Aktuosität ursprünglichen Wollens - so spricht die Wissenschaftslehre vom Wissen in der Verbform als „Daseyen" des Seins -, aber in der Reflexionsgestalt des Sich-Begreifens weiß es sich als Bild vom Abgebildeten geschieden. Und es ersieht sich als Bild durch Unterscheidung vom Sein, das es nicht ist. Damit kommen unausweichlich zwei Konstitutiva des Begriffs zum Zuge, das Als und das Durch. Mit dem Als und dem Durch im Vollzug des Soll („Das absolute Wissen soll sich als Bild durch Unterscheiden vom Sein-selbst verklären") ist der Disjunktionspunkt erreicht, in welchem sich Bewußtsein und Welt spalten und die Vorstellung einer an sich bestehenden Welt herleitbar wird. Da diese Ableitungen notwendig hinter dem Rücken des natürlichen Bewußtseins erfolgen müssen, ist es nur folgerichtig, daß sie vom Standpunkte positivistischer Vorgaben und dogmatischer Überzeugtheiten als unnatürlich und abwegig verurteilt werden. Aber sie könnten sich durch ihr Resultat rechtfertigen, nämlich einfach dadurch, daß sie dem natürlichen Bewußtsein seine eigene Herkunft erklären. Das Als hat den Wesenszug, das Trennende an ihm selbst zu sein. Stelle ich etwas als etwas anderes heraus, dann habe ich es gleichsam verdoppelt und in eine Zweiheit auseinandergelegt. Das gilt vorzüglich für die Darlegung des Wissens als Bild des Absoluten. Als Bild, Sehe-

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ma oder Dasein trennt sich das Wissen ausdrücklich von seinem Sein und Leben, in welchem es wurzelt. Zugleich aber bezieht es sich in dieser Verdoppelung und Selbstunterscheidung wissend auf sich zurück. Als Bild des Seins weiß das Wissen, daß es nicht das Sein ist, dessen Bild und Dasein es bildet. Von hier aus wird deutlich: Indem das Als grundsätzlich etwas als etwas auseinandersetzt, schafft es Abstand und Unterschied. Und die Unterschiedenheit ist das Element des Begriffs. In der Unbestimmtheit völliger Ununterschiedenheit kann menschliches Begreifen nicht gedeihen. Begreifen ist unterscheidendes Erfassen von etwas und erlischt da, wo die Unterscheidbarkeit aufhört. Die Grundform allen Begreifens, das etwas als etwas durchnimmt, ist das dialektische Durch. Das hat maßgeblich schon die platonische Dialektik im Durchnehmen der eigenstämmigen Grundbegriffe von Selbigkeit und Andersheit aufgedeckt. Als es selbst wird etwas dadurch deutlich, „dass es nicht sey, was das andere ist, und umgekehrt, dass das andere nicht sey, was dieses ist" (AsL, 4.Vorl.; SW V,453). Nun hat das dialektische Durch seine Erfassungsbewegung schon von der einen Seite her durchgeführt. Das absolute Wissen ist nicht, was das andere ist. Es ist absolutes Wissen, aber als Bild und Schema ist es nicht das Absolute selbst. Nun kommt alles darauf an, das Bildverhältnis auch von der anderen Seite her durchzunehmen. Wie steht es mit dem Sein, sofern es lediglich im Bilde und in Bildformen des Wissens vorkommt? Es kann nach dem Gesetz des Begriffs nur so vorgestellt werden, daß es nicht ist, was das andere ist. Das Sein im Bilde ist dadurch das, was es ist, daß es das von ihm und aus ihm selber lebende Leben nicht ist. Das folgt unentrinnbar aus der Form des Durch. Dasjenige Sein, welches unser Wissen als Bild des Seins begreift, kann das Wissen immer nur durch das Nichtsein des anderen, des unbegreiflichen Seins hindurch, erfassen. Das gegenständliche, erkennbare Seiende als Seiendes ist für uns immer schon verstanden als ruhende, an sich bestehende Vorhandenheit. Das uns zugängliche und handgreifliche Wirkliche hat den Charakter ständiger, in sich stehender Vorhandenheit. Aber das ist kein unmittelbarer Seinsbestand, sondern Resultat. Es resultiert aus der unvermeidlichen Verwandlung göttlichen Lebens in ein stehendes, durch den Begriff in tote Vorhandenheit verwandeltes Sein. Das Gesetz dieser Verwandlung des ursprünglichen, göttlichen Lebens in tote Vorhandenheit ist durch die Mittelglieder des Als und Durch für das begreifende Bewußtsein aufgedeckt. Soll sich das Wissen als Bild

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des Seins setzen und vollzieht sich solche Unterscheidung nur in der Bewußtseinsform des Durch, dann gilt: Dasjenige Sein, welches im Bild- und Schemawesen des absoluten Wissens begreiflich und erkennbar wird, ist dadurch verstehbar, daß es das nicht ist, was das andere, das Unbegreifliche, ist, nämlich nicht allreales, in sich aufgehendes Leben: Es kommt unentgehbar als ruhendes Vorhandensein zur Vorstellung. So stellt sich das Bewußtsein seinen Ursprung als in sich stehendes Vorhandenes hin, und das natürliche Bewußtsein glaubt sich im Erkennen und Handeln auf das angewiesen, was ihm vorliegt, das positiv Gegebene, das als Vorhandenes an- und aufzunehmen ist. Diese transzendentale Nachkonstruktion scheint verstiegen und überspannt. Aber sie überfliegt das alltägliche Weltvorstellen so wenig, daß sie deren konkretestes Phänomen, die uns vorliegende Welt im Grundcharakter ihrer Vorhandenheit, gerade an der Wurzel faßt. „Jenes stehende Vorhandenseyn ist der Charakter desjenigen, was wir die Welt nennen; der Begriff daher ist der eigentliche Weltschöpfer" (AsL, 4. Vorl.; SW V,454). Unserer gewöhnlichen Ansicht bietet das Innerweltliche den Anblick eines an sich bestehenden, vorhandenen Dings. Vordringlicher und weltbezogener gesprochen: Unserer Umsicht begegnet zuhandenes Zeug. Welt erscheint so als das All des Zu- und Vorhandenen.123 Und nichts ist natürlicher. Das philosophisch durchgeklärte Bewußtsein weiß, wie das natürliche zustande kommt. Das „stehende Bild der Welt" erscheint ursprünglich nach Gesetzen des Begreifens in den Formen des Als und Durch als „Gegenbild des in sich selber geschlossenen göttlichen Lebens" (AsL, 4.Vorl.; SW V ,458). Das Sein der Welt, die Vorhandenheit, enthüllt sich als das durch den Begriff verwandelte

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Bekanntlich hat Heidegger in Auseinandersetzung mit der Cartesischen Ontologie der Welt erklärt: Diese überspringe das Phänomen der Welt (genauer: unser daseinsmäßiges In-der-Welt-sein), weil sie sich fraglos am Sein als ständigem Vorhandensein orientiere (SuZ §21), und in diesem Seins- und Weltverständnis walte das Ungedachte der metaphysischen Grundannahme, Sein bedeute ständige Anwesen- und Vorhandenheit. Dagegen zeigt Fichtes These von der Verwandlung des Seins in Vorhandenheit durch die Stellungnahme des Begriffs, daß die überlieferte Ontologie der Welt das vorherrschende und natürliche Seinsverständnis immerwährender Vorhandenheit keineswegs als Tatsache des Bewußtseins fraglos aufnimmt. Sein als ständige Vorhandenheit wird transzendental-kritisch in seiner Genesis aus Grundgesetzen des Wissens bis in das Urverhältnis von Verbergung (Inkludenz des Seins) und Dasein (des Begriffs) aufgeklärt.

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Leben. Verwandlung des lebendigen Seins in stehende Vorhandenheit, das ist das Entstehungsgesetz der Welt. Und dieser Seinswandel erfolgt unwiederbringlich, weil er aus dem inneren Charakter des Begriffs, dem „Durcheinander", erfolgt. Welt ist notwendige Erscheinung des Lebens im Begriff, der das Sein nicht nur als Gegenständlichsein sich entgegensetzt, sondern als Vorhandensein vom Leben absetzt. Die Rede vom Begriff des Weltschöpfers ist freilich vor dem Vorwurf des Titanismus zu schützen.124 Sie will gerade nicht sagen, die Welt sei Schöpfung des Ich, das Bewußtsein vom Ding an sich sei Produkt unserer Vorstellung, und der Mensch werde der Welt mächtig, weil er sie hervorgebracht habe. Das trifft nicht einmal für die geistige Welt, das Reich der Freiheit, zu, obwohl in der moralischen Welt die Autonomie des freien Willens vorherrscht; denn die Bild- und Erscheinungslehre wird auch die Freiheit des endlichen Willens als Dasein und Bild des unendlichen, göttlichen Willens darlegen. Für die Natur und die sinnliche Dingwelt hat sich jedenfalls herausgestellt: Der Mensch heißt ihr Schöpfer, weil er des wahren Seins und Lebens von sich allein her nicht mächtig ist. Anders gesagt: Der Mensch erzeugt nicht das wahre Leben, er verhüllt es. Unentgehbar findet er sich in der Endlichkeit seines Welt setzenden Begreifens befangen. Daher beirrt ihn der transzendentale Schein, der ihn dazu verleitet, das Sein der Welt im Sinne ständiger Vorhandenheit für das Wahre zu nehmen. Diese Gefahr grundsätzlicher Seinsbeirrung kann die Wissenschaft als Erscheinungs- und Scheinlehre bannen. Das glückt, wenn das Gesetz gefunden ist, nach welchem das natürliche Bewußtsein einer außer uns vorhandenen Welt entsteht. Eben das bringen Grundsätze der Religionsschrift zur Anzeige. Die Vorstellung der an sich vorhandenen Welt ist, recht bedacht, das Gegenbild 124

Als Titanismus, d.h. maßlose Übersteigerung der Kraft des Ich ist Fichtes Lehre schon zu seiner Zeit verstanden worden. Hier mögen zwei Belege von Zeitzeugen genügen, die auf ihre Weise in Konkurrenz zu Fichte das Geschäft der Vernunftkritik vollenden wollten. An Christian von Dohm berichtet Jacobi (am 13. Dezember 1797) über den Fortgang der Philosophie zum Prinzip einer alles - sich selber, die Dinge, ein Du - setzenden Kraft der Ichheit: „daß wir damit nun alles bestreiten, und fertigbringen, Himmel und Erde, und was darinn ist, und den alten Herrgott, der wir gar nicht seyn möchten, gewaltig auslachen"; FiG 1,471 - und Jacob Sigismund Beck schreibt an Kant (24. Juni 1797) von einer mündlichen Mitteilung Fichtes über den Systemgrund eines Verstandes, der überall durch seine absolute Freiheit die Dinge setze, hochfahrend: „ein dummes Zeug! wer so reden kann, kann wohl niemals die critischen Prinzipien beherzigt haben"; FiG 1,445.

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göttlichen Lebens nach dem Grundgesetz der Verwandlung des göttlichen in ein vorhandenes Sein durch den Begriff. Damit wäre die gestellte Aufgabe, die Zweiheit von Selbstsein und Weltsein angesichts der absoluten Einheit abzuleiten, aus ihrem höchsten Gesichtspunkte grundsätzlich gelöst.

10.4 Deduktion der unendlichen Vielheit des Innerweltlichen aus dem freien Faktum der Reflexion Die Erscheinung der Sinnenwelt als solcher ist angemessen bedacht. Die „stehende Welt" erscheint nach dem entdeckten Gesetz der Verwandlung absoluten Lebens durch die Ais-Struktur des durch-nehmenden Begriffs dem natürlichen Bewußtsein unausweichlich und unaufhaltsam im Anblick ständigen Vorhandenseins. Mit diesem Aufschluß aber ist die Frage nach der Entstehung der Vielheit und Mannigfaltigkeit keineswegs gelöst; denn bisher bleibt doch alles Abgeleitete in der Einheit des Einen einbehalten. Das gilt für das Wissen als Dasein Gottes ebenso wie für die Welt als Schöpfung der Begriffsform absoluten Wissens. An der Transformation des in sich geschlossenen Einen in das Einessein der Welt läßt sich nicht rütteln. Ist Wissen nämlich in der Wurzel Dasein Gottes und ist Gott im Bilde so da, wie er in sich selber ist, dann hat das Wissen bruchlose Einheit und Wandellosigkeit an sich; denn Gott oder das Sein ist Eines und nicht Mehreres und ewig sich selbst gleich. Darum sind Sein wie Dasein auch von allem Werden, von Veränderung und Wandel absolviert. Alle Bewegung nämlich braucht Vielheit, die Dreiheit eines Woher der Bewegung, eines entgegengesetzten Wohin und eines Bewegungssubjekts. Wo also Wandel ist, da ist das Eine schon aufgespalten in Vielheit. Folglich ist das absolute Wissen qua Dasein des Einen wandellos. Stellt sich nun der Anblick der Welt als Gegenbild göttlichen Lebens her, dann kommt ihm auch der Charakter der Einheit zu. Anders formuliert: Ist der Begriff im Elemente absoluten Wissens durch Einheit geprägt, dann auch die durch den Begriff geschaffene Welt. Wir können die Welt nicht anders denn als Eine und Dieselbe denken, weil der Begriff, der sie erschafft, der Eine und Selbe ist. An solche unzertrennte Einheit hält sich der homo religiosus. Er setzt seine Existenz, sein ganzes Leben und Lieben darauf, daß unser Dasein in der Wurzel das Eine, ewige, wandellose Leben ist und aller Wandel in Vielheit, Vergänglichkeit, Tod nur Schein. Das ist wahr, und

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der Glaube hat an dieser Wahrheit genug. Unser positivistischer Sinn dagegen glaubt an eine andere Welt. Er hält sich an das, was sich in sinnlicher Wahrnehmung als wirklich bekundet und bezeugt, und diese Weltwirklichkeit ist von Vielheit und Mannigfaltigkeit durchherrscht und von endlosem Wandel durchzogen. Auch das ist wahr und nicht gut leugbar. Der für uns Menschen vorhandene Weltbestand findet sich im Zustande unendlicher Mannigfaltigkeit und endloser Wandelbarkeit vor. Vielheit und Veränderung kennzeichnen die Körperwelt der materiell in Bewegung seienden, zeit-raumhaften Objekte, aber auch die Mitwelt individueller Subjekte im Fortgang der Geschichte. Alles Innerweltliche ist zerteilt in die infinite Vielheit von Körperdingen und Ichen. Mithin ist beides wahr: wandellose Einheit und endlos sich wandelnde Vielheit der Welt. Und die bisher geleistete Deduktion unseres Weltwissens kann diesen Widerspruch eben nicht lösen, weil sie noch ganz auf der Seite der Einheit operiert. Als Gegenbild des Einen Lebens erscheint die Welt doch durch wandellose Einheit geprägt. Wie lassen sich damit die unendliche Vielheit der innerweltlichen Gestalten und der unabschließbare Wandel der Weltgestalt vereinbaren? Dazu ist die transzendental-phänomenologische Frage aufzunehmen: Wer erzeugt die im Bewußtsein sich zeigende Mannigfaltigkeit eigentlich? Nach welchem Gesetz entsteht diese Tatsache des Bewußtseins? Und fernerhin, sinnträchtiger gefragt: Wozu ist überhaupt Vielheit (zumal die Vielheit der Iche), wenn doch im Anfange Einheit waltet und das Eine das Wahre und ewig Unvergängliche an sich und in uns ist? Einen allgemeinsten Bescheid erteilt wiederum die „Anweisung zum seligen Leben" in der 4. Vorlesung: „So wie der Begriff überhaupt sich zeigte als Welterzeuger, so zeigt hier das freie Factum der Reflexion sich als Erzeuger der Mannigfaltigkeit, und einer unendlichen Mannigfaltigkeit, in der Welt" (AsL; SW V,456). Die transzendentale Grundstellung dieser These ist eindeutig. Die Einheit der Welt zerstiebt nicht an sich ins Viele, und die Mannigfaltigkeit ist keine Bestimmung von Dingen an sich. Sie stammt aus der Reflexionstätigkeit des menschlichen Subjekts. Freilich hängt alles an der Frage, was es mit diesem „freien Faktum der Reflexion" als Schöpfer der unendlichen Mannigfaltigkeit des Innerweltlichen auf sich hat und wie weit es trägt. Dieser Titel ist zuerst in seinem gewöhnlichen Gebrauch, sodann in der transzendental-phänomenologischen Anwendung zu betrachten. „Auch erscheint diese Kraft der gewöhnlichen Selbstbeobachtung in allem sich

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Zusammennehmen, Aufmerken und seine Gedanken auf einen bestimmten Gegenstand Richten (mit dem Kunstausdrucke nennt man diese selbständige Sicherfassung des Begriffs die Reflexion)" (AsL; SW V, 455). Im alltäglichen intentionalen Bewußtseins Vollzug ist Reflexion das Vermögen, sich auf sich zurückzubiegen. Das geschieht bei empirischer Reflexion in der Weise einer Selbstbeobachtung. So findet sich jeder in mannigfaltigen und wechselnden Zuständen „als das und das", etwa als wahrnehmend, fühlend, denkend, strebend, träumend. Solche Selbstzuwendung ermöglicht im Akte der Attention, des Aufmerkens auf etwas, das Moment des Sichzusammennehmens in Hinspannung auf das und das. Und dieser Akt reflexiver Attention ist frei. Es steht bei mir, mich und meine Aufmerksamkeit auf jenes zu richten oder auf dieses, auf den Kirchturm dort oder den Menschen da oder jetzt auf dieses Sternbild gerade über uns. Solch angespanntes Sich-Richten-auf kann unterbleiben, es kann abbrechen oder sich unterbrechen, und es kann sich auf ganz anderes, in anderer Richtung hin entwerfen. In der gewöhnlichen Reflexion nehme ich mich so zusammen, daß ich meine Aufmerksamkeit in freier Bezüglichkeit auf das und das in unterschiedlichsten Bewußtseinsmodi lenke. So kommt faktisch Unterschiedliches in wandelbarem Bewußtsein zur Vorstellung. Die so verstandene gewöhnliche Reflexion ist in der Aufstellung einer Schein- und Erscheinungslehre mit der Bezeichnung einer „absoluten Reflexion" an das absolute Wissen anzuschließen, und zwar als eigentümliches Spaltungsfundament für die Mannigfaltigkeit der Welt; denn die Ais-Struktur des Begriffs steht allein für die uniforme Vorhandenheit gut. Die absolute Reflexion tritt hinzu als Sicherfassung absoluten Wissens oder des Daseins in sich geschlossenen Seins und Lebens. (Und sie tritt so in die Weltgestaltung ein, daß nicht das einige und unvergängliche, im göttlichen Dasein aufgehende Bewußtsein wirkt, sondern sein Repräsentant: das Ich der Sicherfassung und Selbstbeobachtung oder der Mensch als empirisches Bild absoluten Wissens.) Dabei ist vorzüglich auf das Strukturmoment der Freiheit zu achten. Auch diese Freiheit entspricht einem Soll. Das Dasein soll sich als solches erfassen. Hier herrscht keine übermächtige Notwendigkeit, da die Sicherfassung ja unterbleiben und die Reflexion an der Oberfläche der Dinge haften bleiben kann. Freilich gerät in einer Lehre vom Dasein und von der Reflexion als sich bildendes Bild Gottes der Freiheitsgrund ins Zwielicht. Freiheit als Selbstbestimmung der Reflexion verliert den Charakter des Selbstanfangs und der Autarkie; denn sie gründet nicht in

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sich selbst, sondern folgt vermittelt aus dem lebendigen Dasein Gottes. „Diese Kraftanwendung des Daseyns und Bewußtseyns folgt daraus, dass ein Als des Daseyns seyn soll; dieses Soll selbst aber ist gegründet unmittelbar in dem lebendigen - Daseyen Gottes" (ebd.). Folglich wird der Grund der Selbstmächtigkeit und Freiheit des Bewußtseins ausdrücklich in Gott verlegt. Verflüchtigen sich aber damit die Hypothesis der Freiheit des Selbstbewußtseins und die große Idee menschlicher Selbstbestimmungen nicht zur Fiktion und Chimäre? Ist Freiheit, die nicht in sich selbst, sondern in anderem gründet, und die nicht selbst anfängt, sondern aus anderem folgt, mehr als ein hölzernes Eisen? Nimmt Fichte nicht von seiner eigenen Philosophie Abschied, deren Alpha und Omega Freiheit ist? Dagegen wäre im Namen der Bildlehre zu sagen: Die Realität der Freiheit als Grundzug allen Selbst- und Weltbewußtseins erhält jetzt erst ihre tiefe Bestätigung, da sie als untrennbares Moment absoluten Wissens zum Austrage kommt. Ist nämlich das absolute Wissen das einzig Reale, was wirklich und unaufhebbar da ist, dann kommt auch der Freiheit der Reflexion unverlierbar Wirklichkeit zu. Mithin darf mit Fug und Recht vom freien Faktum der Reflexion als selbständiger Kraft der Sicherfassung des Daseins gesprochen werden. Das Bedenken der Freiheit absoluter Reflexion hält somit die weiterführende Frage an das Wissen und Dasein nicht auf: „Was entsteht ihm denn nun in diesem Erfassen?" (ebd.). Der Bescheid lautet: Durch die Reflexion entsteht mit gesetzlicher Notwendigkeit eine Spaltung, durch welche die eigentliche Grundlage der Reflexion - das daseiende Wissen - gleichsam in zwei Stücke zerfällt. So lautet das Gesetz der Reflexion. Vielleicht hilft auf dieser Abstraktionshöhe das Spaltungsgesetz der Selbstbeobachtung zur Erläuterung. Im gewöhnlichen Sicherfassen zerteilt sich das Selbst in das eine bestimmbare Ich und in die bestimmten Modi, in denen es „als das und das" erscheint und sich auf dieses und jenes richtet. Analog spaltet sich das Dasein des Absoluten, das reine Wissen, auf in das durchbestimmbare Eine und die Bestimmtheiten des geistigen Lebens und der produktiven Tätigkeit als das und das (als strebendes Wollen, produzierendes Einbilden, hinschauendes Wahrnehmen). „Dies ist das wesentliche Grundgesetz der Reflexion" (AsL;SW V,456). Damit ist der nächste Gedankenschritt vorbereitet. Er führt zur Genesis der Vielgestaltigkeit und Wandelbarkeit des Innerweltlichen hin. Was sich da in Vielheit zerspaltet, ist das Wissen als Bild der Welt unter dem freien Faktum des Sicherfassens gemäß dem Grundgesetz der

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Reflexion. Es war ja sichergestellt: Die absolute Reflexion betrifft in ihrer unterscheidend-aufspaltenden Kraft das Dasein; nun aber schlägt das Daseinsleben gemäß der Ais-Form des Urbegriffs unwiederbringlich ontologisch ins Vorhandensein als Einheitscharakter der Welt um. Mithin erreicht die zerteilende absolute Abstraktion gar nicht das lebendige Leben und Dasein selbst, sondern allein dessen Gegenbild, die Welt im Modus stehenden Seins. Darum also begegnet Welt nicht in der Einförmigkeit von Vorhandenem, sondern aufgespalten in besondere Gestalten individueller Vielheit und abfließend im endlosen Wandel von Reflexion zu Reflexion im Strome des Bewußtseins. Einer Religionsschrift, der es um die Erweckung gottseligen Lebens geht, mag es genügen, diese Grundzüge einer Erscheinungs- und Scheinlehre zu skizzieren. Sie weisen den Menschen an, den Schein des Bewußtseins zu durchschauen, der dazu verleitet, das mannigfaltige Wandelbare und Veränderliche für das wahrhaft Wirkliche zu nehmen und sein Herz an solches zu hängen, das innerlich tot ist. Für eine systematische Entfaltung des Wissens auf der Grundlage einer transzendentalen Bild- und Erscheinungslehre dagegen ergibt sich die spezifischere Aufgabe, das allgemeine Reflexionsgesetz in die zuständigen Problemfelder hinein zu entfalten. „So lässt sich die Materie im Räume, so lässt sich die Zeit, so lassen sich geschlossene Systeme von Welten, so lässt sich ... ein System von verschiedenen, auch als selbständig erscheinenden Individuen ... aus dem Reflexionsgesetze völlig einleuchtend ableiten" (AsL;SW V,460). Das soll hier für die Frage nach der „Materie im Räume" in den Grenzen einer transzendentalen Physik wenigstens andeutungsweise eingeholt werden. Dabei ist lediglich die Funktion der aufspaltenden Reflexion zu beleuchten, und zwar im Blick auf den Raum überhaupt, auf die Materie selbst und schließlich auf die Materie im Räume. Bekanntlich wird der Raum nach Fichte durch einen spezifischen Reflexionsakt konstituiert, das freie Handeln des „Linienziehens". Dieser zerteilt die virtuelle Quantität des Urraums in Abschnitte, die er aus Freiheit aus der allgemeinen Quantitabilität in die Wirklichkeit heraushebt. Dieses fortlaufende reflexive lineare Linienziehen wird nun dadurch zum spezifischen Raumbewußtsein, daß die Linie sich zur Fläche verbreitet. Das verdankt sich einer freien Reflexion, in welcher sich das Bewußtsein von einer Richtung löst und sich vermöge einer reflektierenden Urteilskraft auf andere Dimensionen hin entwerfen kann. Was nun die Materie im Sinne von Empfindungsgehalten wie süß

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oder sauer, rot oder blau angeht, so ist wiederum eine aufspaltende Reflexion im Spiel. Transzendental besehen, sind Empfindungen von Qualitäten Wahrnehmungen meines eigenen Zustandes, und Gefühle sind gegeben durch ein Erleiden von Hemmungen, wobei Leiden (Affiziertwerden) kategorial nichts als verringerte Tätigkeit ist. Warum aber erscheinen dann meine Empfindungen als Eigenschaften der Dinge? „Wenn daher das materielle Gefühl (roth, sauer) betrachtet wird, von der einen Seite als Affektion des Ich, von der ändern als Qualität des Dinges, so ist diese Duplicität schon die Folge der spaltenden Reflexion" (WL 1801/02; G A 11,6,284-285). Hier ist das Gesetz der Reflexion gleichsam in seinem Elemente. Im reinen Gefühl gehen Fühlendes und Gefühltes distanzlos ineinander auf. Der bloß Fühlende ist nicht bei sich und das Gefühlte nicht gegenständlich außer ihm. Sobald die Reflexion aufkommt, tritt beides auseinander. Ich fühle einen Sinneseindruck materieller Dingqualitäten gemäß der reflektierten Wechselwirkung: kein subjektives Gefühl ohne objektive Qualität und umgekehrt. Schließlich läßt sich die angesprochene Ableitung der „Materie im Räume" aus dem Reflexionsgesetze - ebenso andeutungsweise - aufweisen, wenn die koexistente Vielheit von Kraftsubstanzen an unterscheidbaren Stellen im Räume thematisiert wird. Auch diese Aufspaltung in Pluralität beruht auf der Freiheit des Reflexionsaktes. Die Reflexion kann sich ja vermöge ihrer Freiheit in der je herausgeschnittenen Raumsphäre Verschiedenem zuwenden. Daß mehrere Kraftsubstanzen als gleichzeitig im Räume vorgestellt werden können, hat zur ermöglichenden Bedingung mithin das Vermögen der Reflexion, innerhalb der Raumsphäre frei fortzugehen. Soweit ist die Genesis der „statischen" Mannigfaltigkeit und Vielheit des Innerweltlichen zur Anzeige gebracht. Es bleibt übrig, aus dem Reflexionsgesetz auch den Wandel und die endlose Abwandlung unserer Weltvorstellungen zu erklären. Die Mannigfaltigkeit des Welthaften erscheint in nie endender Veränderung und Umgestaltung. Auch das ist eine Tatsache des Bewußtseins, und auch sie ist aus dem freien Faktum der Reflexion herzuleiten. Die Reflexion ist frei, jederzeit abzubrechen und sich auf eine andere oder veränderte Qualität zu richten. Dank dieser Abänderung faßt das fortfließende Bewußtsein einen je neuen Sachgehalt auf. Der Übergang von Diesem-Rot-jetzt-hier zu einem JetztGelb braucht ein reflexives Sichfassen, das die Auffassung des vorhergehenden Gehaltes abbricht, um in neuer Zuwendung einen anderen und veränderten Sachverhalt zu fassen. Solch verwandelte Ansicht der Welt

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- nicht etwa die je unterschiedliche, niemals wiederkehrende Stoffgegebenheit - ist a priori deduzibel, eben aus der fortlaufend sich wandelnden Reflexionsgerichtetheit. „Wird aber ins Unendliche fort von Reflexion auf Reflexion reflectirt, wie zufolge derselben Freiheit wohl geschehen kann, so muss jeder neuen Reflexion die Welt in einer neuen Gestalt heraustreten, und so in einer unendlichen Zeit, welche gleichfalls nur durch die absolute Freiheit der Reflexion erzeugt wird, ins Unendliche fort sich verändern und gestalten, und hinfliessen als ein unendliches Mannigfaltige" (AsL; SW V,456). Im angegebenen Komplex von Zeitlichkeit, Wandelbarkeit, Endlosigkeit im Bewußtsein der vorhandenen, mannigfaltigen Welt ist nur ein Moment hervorzuheben: das endlose Fortgehen der Jetzt-Zeit und der unabschließbare Wandel der Weltgestalten, wie sie im Fortgange des Bewußtseins von Reflexion zu Reflexion gründen, die jetzt Dieses und jetzt ein anderes Dieses in abgehobener Bestimmtheit zur Erscheinung bringen. Solcher Zusammenhang von endloser Zeit und Bewußtsein läßt sich mit einem Aristotelischen Argument stützen. Wird die intentionale Reflexion nicht immer wieder aufs neue vollzogen, d.h. gibt es keinen Übergang und keinerlei Bewegung des Bewußtseins, dann vergeht uns keine Zeit. Mit der Reflexion steht die Zeit still. Folgt dagegen ein angespanntes Reflektieren auf ein anderes in den Entschlüssen aufmerkenden Sichzusammennehmens, dann wandelt sich das Attendierte als solches im Nacheinander einer Jetzt-Folge. (Noch Fichtenäher argumentiert: Spannt sich mein Wille nicht immer wieder auf etwas Bestimmtes als ein zu Verwirklichendes hin, so gibt es für mich keine Zukunft.) Solche, sich im allgemeinen haltenden transzendental-phänomenologischen Grundsätze der Religionsschrift haben immerhin drei Weltphänomene unseres Bewußtseins aufgeklärt: die Einheit einer „stehenden" Welt als Allheit von Vorhandenem, die Besonderung des Einen in die unendliche Vielheit innerweltlicher Gestalten sowie deren endlosen Wandel. „Im Bewusstseyn verwandelt das göttliche Leben sich unwiederbringlich in eine stehende Welt: ferner aber ist jedes wirkliche Bewußtseyn ein Reflexionsact; der Reflexionsact aber spaltet unwiederbringlich die Eine Welt in unendliche Gestalten, deren Auffassung nie vollendet werden kann, von denen daher immer nur eine endliche Reihe ins Bewusstseyn treten kann" (AsL; SW V,457). Die eingeholten Aufschlüsse reichen hin, um den Widerspruch von Einheit und Vielheit, welcher die Analyse antrieb und in Atem hielt, aufzuheben. Unvereinbar scheint die aus der Einheit des Seins und Da-

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seins folgende Einheit der Welt mit dem tatsächlichen Weltbestand endloser Vielheit und Wandelhaftigkeit. Beides besteht zusammen, aber in je verschiedener Hinsicht. Die Einheit der Welt folgt aus dem reinen Denken, die Vielheit der Wahrnehmungswelt erfolgt aus dem freien Faktum der Reflexion. So sehen wir dem Gesetze der Reflexion gemäß nur Vielheit und Wandel in der Welt vor uns; hier sind Einheit und Ewigkeit des lebendigen Wissens- und Weltgrundes ins Unsichtbare verhüllt, so daß die Frage dringlich wird: „Wo bleibt denn also die Eine, in sich geschlossene und vollendete Welt, als das eben abgeleitete Gegenbild des in sich geschlossenen göttlichen Lebens?" (AsL; SW V, 457-458). In der Sinnenwelt ist das göttliche Leben verschwunden und von keiner Reflexion wiederzubringen, weil das reflektierende Auge sich im Enthüllen des Einen Lebens und einer geschlossenen lebensvollen Vernunftwelt selbst im Wege steht. Ein reines Intelligieren dagegen, das sich über die Gegebenheiten der Sinnenwelt erhebt und das Prinzip des aufspaltenden Begriffs negiert, kann die Sichtbarkeit einer in sich vollendeten Weltordnung (eine Synthesis der Geisterwelt) und darin das Wirken göttlichen Lebens ungebrochen wiederherstellen. Diese Problemlösung illustriert das beigebrachte Gleichnis aus der „Farbenlehre" (AsL;SW V,558-59). Dabei ist hier das Beispiel nicht etwa zur Sache selber zu machen und Fichtes Stellung in der aufgeregten Frage nach der Entstehung der Farbenvielfalt (gleichsam zwischen Newton oder Euler und Goethe und späterhin Hegel) genau zu markieren. Es reicht hin, der Fichteschen Intention gemäß die Gleichniskraft zu nutzen und das tertium comparationis zu treffen. Das Gleichnis geht aus vom vertrauten Bezirk der sinnlichen Welt, die wir in ihrem farbigen Abglanz vor uns haben. Ihre Vielfarbigkeit resultiert aus einer prismatischen Brechung des Lichtes in verschiedene Strahlen von Rot bis Violett. Der eine, reine und farblose „Äther" (nicht das weiße Tageslicht, das in sich aus verschiedenen Farben besteht) bricht sich prismatisch im Organon des Auges. Die Gleichnisfrage lautet: Wo bleibt denn nun dieser Äther in seiner Reinheit und Einheit, da doch alles, das unser Auge sehen kann, farbig erscheinen muß? Dem Sehen des Äthers steht das eigene Sehorgan im Wege. Wird aber die Farbigkeit als Produkt des Auges, welches das reine Licht notwendig aufspaltet, begriffen, dann kann der Äther gedacht, und er muß mit Abzug der Farbigkeit als rein und ungespalten gedacht werden. Dieser Gleichnisbestand wäre Zug um Zug auf die Ursprungs Verhältnisse der Erscheinungs- und Scheinlehre zu übertragen. Dem sinnlichen Auge entspricht ein geistiges Organ, der

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prismatischen Eigenschaft die Reflexionskraft, dem farbigen Abglanz die erscheinende Weltmannigfaltigkeit, dem Äther schließlich das reine, sich selbst gleiche, unwandelbare Licht und Leben im Dasein absoluten Wissens. Und so lehrte auch dieses Gleichnis, den farbigen Abglanz der Welt als Abglanz und Widerschein zu durchdringen und das Wahre als das Eine, Ewige, Unveränderliche zu begreifen. Wird mithin das Gesetz erfaßt, unter dem Mannigfaltigkeit, Wandel, Zeit, Vergänglichkeit, Tod als Gepräge der Welt unausweichlich in der Bildwirklichkeit der Seele erscheinen, und ist verstanden, daß der Tod mit den weltlichen Zeitbildern in das zeitlose Jetzt des wahren Lebens zugrunde geht, dann erhebt sich das Bewußtsein über allen Schein zur wahren Einheit von Bild und Urbild, Zeit und Ewigkeit, Leben und Tod. (Es ist erstaunlich, wie nahe - aus ganz anderen Erfahrungen von Schicksal und Tod - das dichterische Wort der Moderne diesem transzendentalen Gedanken kommt: „Gesetz und Zeit / aus einander geboren,/ in einander aufhebend und stets aufs neu sich gebärend,/ einander spiegelnd und nur hiedurch erschaubar,/ Ketten der Bilder und Gegenbilder / die Zeit umschließend, das Urbild umschließend/ keines von beiden jemals zur Gänze erfassend und dennoch / zeitloser und zeitloser werdend/ bis im letzten Echo ihres Zusammenklanges/ bis in einem letzten Sinnbild / sich das des Todes mit dem alles Lebens vereinigt,/ die Bildwirklichkeit der Seele/ ihre Wohnstatt, ihr zeitloses Jetzt" (Hermann Broch, Der Tod des Vergil. Die Elegien [1]). 10.5 Vom Ursprung und Sinn der Ich-Vielheit Bisher ist herausgefunden, was es mit der Vielheit, Veränderlichkeit, Zeitlichkeit der besonderen Weltgestalten auf sich hat. Der Anblick von Mannigfaltigkeit und Vielheit läßt sich nicht nur als Tatsache des Bewußtseins beschreiben, er ist aus der inneren Form der Reflexion genetisierbar. Das glückt, wenn ein Gesetz erfaßt ist, demzufolge dieser Weltanblick und kein anderer in unserem Bewußtsein erscheint. Und so wäre diese Erscheinungsform der Welt bestimmt, sofern bestimmen bedeutet, etwas definitiv festlegen, und wenn eine Definition (im neuzeitlichen, Leibnizschen Sinn der definitio causalis) verlangt, das Entstehungsgesetz von etwas aufzudecken. Ein Kreis z.B. ist bestimmt und definitiv verstanden, wenn sein Konstruktionsgesetz klargemacht worden ist. Eine Tatsache des Bewußtseins ist verstanden, wenn evident wird, nach

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welchem Gesetz sie im Bewußtsein entsteht. „Verstehen aber heisst Einsehen aus einem Gesetze" (StL;SW IV.463). Nun hat aber die Wendung „Bestimmung der Natur oder Menschen weit" auch die andere Bedeutung einer Aufgabe und „Destination" an sich. Sein und Verstehbarkeit ergeben sich daraus, was Ziel und Aufgabe von etwas ist. Das führt zur Frage hin: Wozu ist Mannigfaltigkeit gut? Warum sollte es Vielheit geben anstelle des heilen, unzerteilbaren Einen? Solche Frage mutet angesichts der konstatierbaren Tatsächlichkeit überflüssig an. Sie erhält in Erwägungen über die Bestimmung des Menschengeschlechtes Gewicht. Die eine Menschheit findet sich fraglos in eine unendliche Vielheit und Mannigfaltigkeit individueller Iche aufgespalten vor. Worin aber gründet diese Zerspaltung, und worin liegt ihr Sinn? Nun bildet das Problem von Dualität und Pluralität der Iche nicht erst eine Fragestellung der späteren Erscheinungslehre. Diese „fast noch ganz unberührte" Frage nach der Zerteilung und Disjunktion von ego und alter ego ist der Ich-Philosophie eigentlich eingeboren. Sie findet auf der Grundlage der Wissenschaftslehre zu epochalen Antworten. Der Ertrag dieser Analysen für den Problemkreis von Fremderfahrung, Tuismus, Intersubjektivität, Interpersonalität ist historisch und systematisch kaum zu überschätzen. Freilich muß er immer noch gegenüber dem Schiefesten aller Einwände, die Wissenschaftslehre sei ein „philosophischer Egoismus", apologetisch geschützt werden. (Baggesen hatte schon am 19.Dezember 1793 an Reinhold über den „vorstellenden Fichte' sehen Egoismus" niedergeschrieben: „Könnte man sich eine Welt aus lauter einfachen philosophischen Egoisten vorstellen, würde die Humanität aufhören"; FiG 1,145-146. - Dagegen steht Fichtes frühester Grundsatz, der Mensch sei nur Mensch unter Menschen.)125 125

Die maßgebende und einflußreiche Abhandlung von Reinhard Lauth, Das Problem der Interpersonalität bei J.G.Fichte in: Transzendentale Entwicklungslinien, Hamburg 1989,180-195 verfolgt die These: Nach dem Idealplan Fichtes entfalte die „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" nur die formale Grundstruktur des Wissens, das Gesamtsystem brauche eine Ergänzung durch die vier materialen Teildisziplinen der Natur-, Rechts-, Sitten- und Religionslehre und die Vollendung in einer Phänomenologie des Absoluten. Für solche Systemvollendung spiele die höchste Synthesis, die der Geisterwelt (nach dem Zeugnis des berühmten Briefes an Schelling vom 31. Mai 1801) eine überragende Rolle. Dabei komme die Konzeption der Interpersonalität schon mit der ersten Konzeption der Wissenschaftslehre zur Sprache, sie entfalte sich systematisch als Lehre von der Geisterwelt in den materialen Systemteilen und trete in der „höheren Wissenschaftslehre" als de-

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In Cartesianischer Tradition wird das Problem existierender Vernunftwesen außer mir nicht eigens thematisiert. Der Andere ist ein Objekt unter anderen, demgegenüber ich mich fremd fühle. Im Vordergrund stand im Zeitalter eben der Zweifel an der „Realität der Außenwelt" überhaupt. Einzig bei Leibniz spitzt sich die Problemlage zu im Blick auf die Einzigartigkeit der substantia individualis, die grenzenlose Ich-Einsamkeit der fensterlosen apperzeptiven Monade, die Mannigfaltigkeit der Perspektiven einer repraesentatio mundi in monadisch-lebendiger Spiegelung der Welt und die abgestimmte Einheit, in der jede der unendlich vielen Monaden jeder anderen Rechnung trägt. Aber der Leibnizsche Systemgedanke springt gleichsam zum Lösungswort einer prästabilierten Harmonie über und überspringt alle transzendentalen Vermittlungen. Die sind schon in der 2. Vorlesung der „Bestimmung der Gelehrten", 1794 in Angriff genommen worden, und zwar unter der Leitfrage: Was verschafft Gewißheit darüber, daß ein von mir vorgestelltes Vernunftwesen auch wirklich außer mir existiert? Sie verlängert sich in die Vorfrage: Wodurch kann ich solches subjekthafte Objekt, für das ich selber Objekt bin, von anderen, bloß dinghaften Objekten unterscheiden? (Nur auf solche Unterscheidungen und Spaltungen sieht die hier verfolgte Problementfaltung ab.) Nun ist es kennzeichnend, daß Fichte eine Lösung „aus praktischen Prinzipien" im Vorblick auf die Bestimmung des Menschen in interpersonaler Gemeinschaft sucht. Danach wird eine durch Freiheit in Wechselwirkung zu mir selbst erwirkte Zwecktätigkeit zum Prüfstein darüber, ob die Tätigkeit außer mir ein Wesen meinesgleichen zum Subjekt hat. Die im Jenaer „Publikum" vorgetragene Aufklärung über die reale Entzweiung des Ich hat ihre Mängel. Diese liegen nicht nur in der exoterischen Vortragsart. Hier ist nur das methodische Ungenügen herauszuheben. Der Weg, der zur Existenz von Vernunftwesen außer uns und so zur Vielheit der Iche führt, geht über die schwankende Brücke eines bloßen Analogie-Schlusses. Geschlossen wird angesichts einer Zweckmäßigkeit aus Freiheit auf ein Ursachenverhältnis, das dem Verhältnis von Subjektivität und freiem Handeln gleich ist, das ich bei mir selber ansetze. Das ist eine rationale Analogisierung, aber duktives Moment auf. „Material-inhaltlich angesehen aber ist die sittlich-erfüllte Interpersonalität die vollendete Offenbarung Gottes und der Sinn der ganzen Erscheinung" (a.a.O., 195). Die hier rekonstruierte „Stufenlehre" unternimmt eine Ausdifferenzierung dieses kraftvollen Ansatzes.

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keine transzendentale Deduktion. Und sie sichert eine Tatsache des Bewußtseins ab, ohne sie genetisch herzuleiten. Die transzendentale Rechtfertigung der „Fremderfahrung" eines Du hat das „Naturrecht" (GA 1,3,313-330) unternommen. Das ist bekannt, wenn auch die epochale Umkehr der Fragerichtung und das Lösungspotential (über Husserls und Sartres Intersubjektivitätstheorien hinaus) immer noch nicht durchgeschlagen haben. Die ganze Problemstellung dreht sich jetzt nicht mehr darum, wie ich aus der Selbstbezüglichkeit meiner Vorstellungen her zum wirklich existierenden Anderen komme, sondern darum, inwiefern ich vom anderen her zur freien Existenz meiner selbst gelange. Den Anderen auffordern heißt, vom Anderen aufgefordert zu sein. (Sartre wird in seiner Theorie des Blicks solche Umkehr nachvollziehen: Den Anderen sehen heißt, von ihm erblickt zu sein.) Die Aufforderungslehre Fichtes zeigt: Für die Selbstsetzung des Ich muß es ein existierendes Du geben, das die Aufforderung, also eine Bestimmung zur Selbstbestimmung, von sich her aufbringt. Das schafft Klarheit über fundamentale Verhältnisse der Ich-Zweiheit und der kommunikativen Ich-Bezüge. Kein Individuum existiert für sich isoliert. Es hat den Bezug zum Anderen als notwendige Bedingung seiner SelbstWerdung an sich. Individualität ist ein Wechselbegriff, nämlich eine Wechselwirkung aus Freiheit zwischen ego und alter ego. In den Zusätzen zur dänischen Ausgabe von „Über die Bestimmung des Gelehrten" findet sich die Formel: „Weiterhin sind wirkliche Menschen nicht möglich, außer daß sie in Verbindung mit artgleichen Wesen stehen. Kein Mensch ist isoliert; und der Begriff vom Individuum postuliert den Begriff seines Genus" (GA 1,3,73: Übersetzung vom Vf.). Aber auch diese Erörterung hat Grenzen. Und das liegt nicht nur an der theoretischen Beschränkung auf das Fundierungsverhältnis zwischen Rechtssubjekten und der Abblendung einer moralisch fundierten Interpersonalst. Abgesehen davon, daß sich die Genese mit der Sicherung eines Du begnügt, handelt es sich überhaupt gleichsam fraglos um die Konstitution des schon individualisierten empiric-hen Ich in der Zeit. Daher entsteht wie von selbst die antinomische Hage nach einem Anfange der unendlichen Aufforderungsreihe. Wer hat den ersten Menschen aufgefordert? Fichte beantwortet sie mit der doch eher verlegenen Berufung auf die ehrwürdige Urkunde des Schöpfungsberichts. So kommt zwar im Blick auf Adam der Gott des Alten Testaments als Anfangsgrund ins Spiel, aber doch nur in einem „Beweis" ex autoritate. Transzendental ungeklärt bleibt das Entscheidende. Wie steht es gene-

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tisch mit dem Ursprungsverhältnis der unendlichen Vielheit empirischer Iche zur Einheit der einen reinen Ichform im absoluten Wissen, und wie verträgt sich das absolute Wissen, sofern es Bild Gottes ist, mit der unaufspaltbaren Einheit des Absoluten? Solche Frage nach der Bestimmung einer Vielheit ist erst noch zureichend zu stellen. Nach welchem Gesetz also spaltet sich das Eine Ich-Absolute in die Mannigfaltigkeit innerweltlicher Iche? Warum ist überhaupt solche Ich-Vielheit und nicht vielmehr Nicht-Vielheit? Anders gefragt: Welche Synthesis der Vernunftwesen gibt der Aufspaltung in individuelle Einzel-Iche Ordnung und Sinn? Einen ersten, hinführenden Zugang zu diesem Fragenkomplex bieten die „Tatsachen des Bewußtseins" von 1810 und 1813. Sie sind genuine transzendentale Phänomenologie, freilich mit einem Vorbehalt. Diese Darlegungen bieten nur Einleitungen und Vorbereitungen für die eigentlichen Aufschlüsse der beschriebenen Phänomene, die der Ersten Philosophie vorbehalten bleiben. Immerhin kann ermessen werden, wie weit die Phänomenbeschreibungen, welche die Vielheit der Iche kennzeichnen, die genetische Ergründung fördern. Die einleitende Erörterung setzt beim vordringlichen Tatsachenbereich an, der anschaubaren Sinnenwelt. Wie kommt die Welt im Sehen der Iche zur Vorstellung, als die eine und selbe oder als je verschiedene? Und gesetzt, die repraesentationes mundi seien vielheitlich, manifestiert sich darin die Mannigfaltigkeit je einzigartiger Iche? Der Bescheid fällt zweiseitig aus. Einerseits liegt unserem Welt-Anschauen unabänderlich die eine und selbe Welt vor. Unangesehen der je individuellen Zuwendung sehen und besorgen alle Menschen dieselbe Welt. Andererseits aber steht es jedem einzelnen Ich frei, von sich her zu attendieren, d.h. sein Augenmerk aus Freiheit auf etwas Bestimmtes außer ihm zu richten. Darauf baut die Phänomenologie der Ich-Mannigfaltigkeit. „Bei der Attention geht die Spaltung in Individuen erst an, weil hier erst angeht die Freiheit" (TdB 1813, 12. Vortr.; NW 1,519). Somit hängen Individualität und Unvertretbarkeit der Einzel-Iche nicht einfach an dem gegebenen Standort, der Perspektivik und Tragweite ihrer Weltanschauungen wie bei Leibniz, sondern an der Freiheit, sich auf eine bestimmte Ansicht der Weltdinge einzulassen. Mit der Freiheit des Attendierens im Anschauen sinnlicher Weltgegebenheiten geht die Spaltung des Einen Ich in die Vielheit individueller Iche an, aber da hört sie nicht auf. Der tiefere Sinn und die Bestimmung der Individualität kommt in einer Betrachtung heraus, welche der

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Sinnfrage folgt. Dann erst dürfte das Faktum der Ich-Vielheit zureichend abgeleitet sein, wenn Ableiten im Falle der Vielheit besagt, den verborgenen Sinn des Mannigfaltigen an den Tag zu bringen und das Sein der Vielheit zu rechtfertigen. Das ist notwendig; denn die Vielheit fällt zumal in neuplatonischer Tradition gegenüber dem Vorrang der Einheit ab, ja, sie steht sogar im Verdacht der Verderblichkeit, weil sie das Ganz- und Einheitliche zerstückt und zerspaltet. Der Tatbestand des Vielen bekommt Sinn, wenn sein ontologischer Zweck im Dienste der Einheit klar wird. Eine Erscheinungslehre, welche dem Dasein der IchMannigfaltigkeit nachgeht, muß Sinn und Wert des Vielen angesichts der zerteilten und verlorenen Vernunfteinheit verstehbar machen. Auch im Zuge dieser Besinnung kommt die Konsequenz des aletheuischen Soll zur Anwendung. Soll die Einheit des absoluten Wissens durchsichtig entstehen, dann muß es in der Erscheinung eine Vielheit schlechthin wandelbarer, mannigfaltiger Iche geben. Das leuchtet freilich erst ein, wenn die Prämissen einer Genesis aufgestellt und bedacht werden. Die Vernunfteinheit ist nicht schon immer für uns gegeben, sie soll werden und als aufgegebene entstehen. Wird nun auf die Aufbaumomente der Bewegung des Entstehens geachtet, dann gewinnt das Viele einen konsumtiven Sinn. Zu allem Werden und Entstehen braucht es doch ein Woher und ein Wohin, einen Ausgang und ein Ziel, und zwar so, daß beides zueinander im Verhältnis des gegenteiligen Andersseins steht. So kommt das Altgewordensein aus seinem Gegenteil, dem Jungsein, und es erscheint an diesem seinem Gegenteil. Oder Großes entsteht und erscheint in einem Übergang, dessen anfängliches Woher das Kleinsein und dessen Wohin das gegenteilige andere, das Großsein, ist. Ebenso steht es mit dem Entstehen von Einheit. Es kommt von seinem Gegenteil her, dem Vielen und Mannigfaltigen, und erscheint als zurückgelassene und aufgegebene Mannigfaltigkeit. Darauf sehen die „Tatsachen des Bewußtseins", 1813: „Die Einheit wird aus Mannigfaltigkeit. Der terminus a quo für die Construktion einer Einheit ist Mannigfaltigkeit" (NW 1,545). Nun herrscht dieses Entstehungsgesetz nicht nur in allem naturhaften Werden, es gilt auch für das Entstehen und Einheitbilden in der Dimension des Bewußtseins und Sich-bewußt-Werdens. Das ist aus der Lehre von der Entstehung des (empirischen) Begriffs wohl bekannt. Denken ist Einheit-Erzeugen im Begriff; und diese Einheit wird aus Mannigfaltigkeit, nämlich aus der Vielheit sinnlicher Einzelanblicke. Von daher erhält die Mannigfaltigkeit der Anschauungen einen einheitsstiftenden

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Sinn. Sie ist terminus a quo für die Entstehung der vielgültigen Einheit des Begriffs durch abstrahierende Reflexion. Und solches Einheit-Erzeugen im empirischen Begriff kann formal auf das Erscheinen der ursprünglich einigenden Einheit des reinen Ich übertragen werden. Das reine Ich, das sich seiner in intellektueller Anschauung bewußt werden soll, existiert anfänglich als empirisches Ich-Individuum unter anderen. Damit solche Einheit entsteht und von der Mannigfaltigkeit abstrahiert werden kann, muß es die Vielheit individueller Iche geben, eben als terminus a quo fur die Konstruktion der Einheit im absoluten Wissen. Absolute Einheit verlangt absolute Mannigfaltigkeit und unendliche Vielheit als das gegenteilige Woher ihrer Genesis. Und wie nun das Großgewordensein am gegenteiligen Woher, dem Kleinseienden, erscheint, so zeigt sich das einig gewordene Selbstbewußtsein an der Mannigfaltigkeit wirklicher Iche. Folgerichtig bietet die Ichheit in der Erscheinung den Anblick unendlicher Vielheit, Mannigfaltigkeit, Individualität, als das Vonwoher ihrer Vernunfteinheit. So stößt die Tatsachenphänomenologie auf ein Gesetz der erscheinenden Vernunft-Einheit überhaupt. Die Wissenschaftslehre 1804 hat es schlagend zusammengefaßt: „Die Vernunft, als absolut Eins: dies entsteht, und erscheint als entstehend. Aber alles entstehen erscheint als entstehend aus seinem Gegentheil; das Gegentheil der absoluten Einheit, die in diesem Gegensatz eben wiederum qualitative Einheit wird, ist absolute Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit. Soll daher diese Einheit genetisch erscheinen, so muß in der Erscheinung das Bewußtseyn wovon abstrahirend ausgegangen wird, erscheinen als ein absolut wandelbares, und Mannigfaltiges, welches das erste Grundgesetz wäre" (WL 1804-11, 18. Vortr.; G A 11,8,415-417). Damit bekommt die Einheits- und Erscheinungslehre einen Schlüssel in die Hand, der den Sinn der Vielheit und der ins Viele zerspaltenen Iche aufschließt. Dabei kommt die Tendenz, Vielheitlichkeit zu rechtfertigen, wie gesagt, von weither. Sie lebt immer noch von der uralten Parmenideischen Hochschätzung des Einen und der ontologischen Abschätzung des Vielen als dem zerteilten Nicht-Einen, und sie sucht einen neuen Weg, das Wahre als Einheit von Einheit und Vielheit sinnvoll zu begreifen. Dazu bietet sich die Formel vom Vielheitlichen als Ausgang und Ort für das Erscheinen des Einen im Bilde einer das Viele ordnenden Einheit an. An ihnen selbst ohne Bezug auf eine höhere Geordnetheit, haben die ins Viele zerstreuten Einzel-Iche ebensowenig Sinn und Wert wie die Sinnenwelt in ihrem naturhaften Bestehen. Dem auf sich vereinzelten, vergänglich wandelbaren Sinnlichen selbst eignet

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keinerlei Dignität. Es ist verlorene, verdunkelte Einheit. Vielmehr droht das sich auf sich versteifende Einzel-Ich in seinem Eigenwillen und Naturtrieb die aufgegebene Einheit der Vernunft zu negieren und deren Erscheinen in Natur und Geschichte zu hindern. Wert gewinnt das Viele allein als terminus a quo für die Entstehung der Vernunfteinheit in der Erscheinung. Die unendlich vielen individuellen Iche erfüllen ihre Bestimmung eben nur dadurch, daß sie ihren vernunftwidrigen Egoismus abstreifen, um zu unverlierbaren und unersetzbaren Gliedern einer Gemeinschaft zu werden, deren ewige Ordnung Bild und Dasein des göttlich Absoluten ist. Die vertiefende, schon in der Wissenschaftslehre nova methodo, 1798 angelegte Erörterung über Einheit und Vielheit der Iche gruppiert sich um Problem- und Lösungswörter wie Prästabilierte Harmonie, Synthesis der Geisterwelt, Bestimmbarkeit der Freiheitssphären. Die sich darin abzeichnende, komplementäre Grundlagenstiftung kann hier, wo es lediglich um die Frage nach dem Spaltungsgesetz der freien Reflexion geht, nicht behandelt werden. Dafür ist das Verhältnis der transzendental-monadischen Iche als Glieder des Vernunftreiches in den Blick zu fassen. Dabei kann das Zwischenspiel, welches mit dem Leibnizschen Einheitsgedanken einer Prästabilierten Harmonie als Ordnung der Geisterwelt operiert, vernachlässigt werden. Der Leibnizsche Systemeinfall ist allzuschwer mit der Hypothek eines dogmatischen Determinismus belastet (vgl. VLM 1797; G A IV, l,374-375). Es geht allein um den Komplex der Aufspaltung in transzendental-personale Freiheitssphären, anders gesagt: um die Aufgliederung der Einen Vernunft in ein Reich von Ichen. Für deren Erschließung bietet die Wissenschaftslehre nova methodo einen Schlüsselsatz an: „Ein freyes Wesen als solches aber kann nur bestimmt seyn durch die Aufgabe sich selbst mit Freyheit zu bestimmen. Indem das Ich dieses denkt, geht es von einer Sphäre der Freyheit überhaupt als bestimmbares über zu sich als dem in dieser Sphäre Bestimmten und setzt sich dadurch als Individuum im Gegensatz mit einem Reiche der Vernunft und der Freyheit außer sich" (GA IV,2,246). Dieser Satz analysiert den Reflexionsstatus des Aufgefordert sei ns. Ein Freiheitswesen kommt zu sich, indem es sich aufgefordert, d.h. zur Selbstbestimmung bestimmt findet. Da es sich zweifellos dieser Bestimmung zur Freiheit bewußt ist, muß die genetisierende Frage gestellt werden: Wie kommt dieses Sich-Denken zustande? Offenbar geschieht die Reflexion als Übergang. Sie hält damit ein Woher und ein Wohin ausein-

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ander: das Woher als Sphäre der Freiheit überhaupt unter der Kategorie der Bestimmbarkeit, das Wohin als eine bestimmte, quantitativ abgeteilte Sphäre jemeinigen Wirkens. Die aufgehellte formale Relation von Bestimmtheit und Bestimmbarkeit läßt sich materialiter als Willensverhältnis explizieren. Das reine, in seiner Wurzel willenhafte Einzel-Ich bestimmt sich, evoziert im Wechsel von Anruf und Antwort, dadurch, daß es einen quantitabilen Gesamtwillen zerteilt und sich auf diejenige Willenstätigkeit versammelt, die es als seine Aufgabe erkennt und anerkennt. Das bedeutet in eins, Freiheitssphären für andere Willenswesen außer mir offen zu halten und frei zu geben. Und auch das geht nach dem Schema einer limitativen Dialektik vor sich. Die Reflexion aufgeforderter Bestimmtheit beschränkt durch Aufteilung: Bis hierhin reicht die Sphäre meiner Wirksamkeit gemäß der Ordnung des unendlichen Willens, aber nicht weiter. Jenseits der Schranke grenzt derjenige Teil an Wirksamkeitssphäre an, in dem zu handeln meinem Freiheitstrieb nicht zukommt. Solche Art Reflexion setzt mithin ein individuelles Ich in abgeteilte Verbindung mit anderen Ichen außer sich, und sie bringt in eins die Disjunktion zwischen den Einzel willen und einem Reiche der Vernunft „über sich" auf, deren Mitglieder sie sind. Offensichtlich erreicht diese Reflexionsspaltung nicht mehr nur die in Freiheits- und Eigentumssphären aufgeteilte Welt der Rechtssubjekte. Der Anspruch des Soll und eine moralisch-religiös-aletheuische Vertiefung kommen in der Spaltung zum Austrag. Das Ich sieht sich kategorisch aufgefordert, den sittlichen Trieb soweit wie möglich wirksam werden zu lassen, und dem religiösen Glauben wächst die Hoffnung zu, daß das zu meinem Teil Gewollte in der Geisterwelt unverloren bleibt, auch wenn es in den Widerständen und Zufällen der Sinnenwelt verloren scheint. Damit beschließt sich der gesuchte Zusammenhang von freier Reflexion und Ich-Mannigfaltigkeit. Er braucht im Grunde das Medium der Geisterwelt. Diese vermittelt, weil sie zwischen dem Sein des Urbildes, Gott oder dem in sich geschlossenen Sein, und dem Dasein oder Bild des Absoluten, der zu errichtenden moralischen Weltordnung, liegt. „Die gesammte Geisterwelt... liegt, als frei, zwischen einem doppelten Sein; zuvörderst demjenigen, welches in ihr unmittelbar wirkt: Gott; sodann demjenigen, welches sie selbst hervorbringen soll als das Nachbild jenes ersten Seins" (BdG, 1811; NW 111,194). Also schematisiert die freie Reflexion die Vielheit der Iche zum Bilde einer ewigen Ordnung, in welcher sich die Einheit Gottes, des unendlichen Willens, offenbart.

11. KAPITEL Aufspaltungen der Weltansichten 11.1. Die faktische Spaltung der sinnlichen und übersinnlichen Welt: Bild a - Bild y (Die Tatsachen des Bewußtseins. Vorgetragen zu Anfang des Jahres 1813, 11. Vonrag) Bisher ist unser natürliches Weltbewußtsein phänomenologisch aufgeklärt. Dabei wird „ein Phänomen (ein bloß im faktischen Bewußtsein Gegebenes) begriffen ... aus seinem Grunde oder Gesetze" (TdB-II; NW 1,403). Aber faktisch finden wir nicht nur eine an sich vorhandene Welt außer uns und die unendliche Mannigfaltigkeit von Körperdingen und Ich-Individuen im Bewußtsein vor, wir erfahren eben auch, daß unsere Ansicht von der Welt grundsätzlich vielfältig ist. Die Aufspaltung der Weltansichten in eine sinnliche und eine übersinnliche Welt, deren Kluft ( ) und Zusammenhalt ( ) bilden ein Hauptthema der Metaphysik nach Platon. Die in mannigfaltigen Abwandlungen vorherrschende „Zwei-Welten-Theorie" erfährt in Fichtes Bildlehre eine eigene inhaltliche Differenzierung und Ausfächerung, nämlich zur Fünffachheit der Vernunftansicht der Welt in den abgestuften Standpunkten des Naturglaubens, des Rechts, der Sittlichkeit, der Religion und der Wissenschaft (philosophischen Weltweisheit). Und Fichtes Erscheinungslehre oder Phänomenologie legt dar, nach welchem Gesetz des Sichverstehens (als Bild des Absoluten) die abgestuften Weltansichten zustande kommen. Der hier angekündigte fünffach gegliederte Stufenbau der Fichteschen materialen Erscheinungslehre bleibt von Hegels üppiger entfalteten, geschichtsgesättigten, methodisch sprunghafteren Phänomenologie des Geistes in Aufbau und Funktion verschieden. Hegels Phänomenologie zeichnet den erscheinenden Geist nach, wie er, vom Selbstwiderspruch genötigt, von den einseitigsten zu immer konkreteren Vernunftansichten über das, was prinzipiell ist und in Wahrheit bleibt, aufsteigt. Danach laufen alle möglichen Standpunkte des gegenständlichen Be-

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wußtseins auf die gegenüberliegende Seite des Selbstbewußtseins und der Selbstbestimmung über, um in der absoluten Gewißheit der Vernunft, alle Realität zu sein, zur Ruhe zu kommen. Das Absolute, das dem Ansprüche nach schon in der naivsten Position sinnlicher Gewißheit steckt, bricht sich am Ende siegreich Bahn: eben als die sich wissende Einheit von Gegenstand und Bewußtsein. So tritt das Absolute im Äther des absoluten Wissens hervor. In Fichtes Phänomenologie dagegen bildet das absolute Wissen gerade nicht das Element des Absoluten selber, es ist dessen äußeres Dasein, das in der Verstandesform des Sichverstehens die Vernunftansichten der Welt bildet. Unter dem kritischen Vorzeichen dieses Unterschieds wird die Erscheinungslehre zur prima philosophia. Während sich eine Onto-theo-logik des absoluten Wissens an der Differenz von Ursein (sich selbst effizierendem Licht) und Bild des Lichts (erscheinende Helle) versieht, lebt Fichtes Phänomenologie des Geistes aus einem Selbstbewußtsein, das sich auf diesen Unterschied versteht. Mithin werden die Stufen der Weltansichten aus dem Mittelpunkt einer Verstandesform abzuleiten sein, die sich als Bild des absoluten, in sich geschlossenen Seins und Lebens versteht. Fichtes Phänomenologie stellt sich somit nicht die Aufgabe, eine Erscheinungslehre des absoluten Geistes in den aufsteigenden Stufen seines Erscheinens von der Sinnenwelt bis zur höchsten Vernunftansicht auszubreiten. Sie hält sich im Dasein des absoluten Geisteslebens an die Bildverfassung der Ichform und bleibt so in transzendentaler Besonnenheit eine Phänomenologie des Ich. Das hat „Das System der Sittenlehre", 1812 als Aufgabe der Philosophie formuliert: „ein vollständiges Bild des Phänomens des wahren Ich bis herunter in die Körperwelt aufzustellen: eben eine vollständige Erscheinungslehre des wahren Ich zu geben" (SL; NW 111,40).I26 126

Eine bahnbrechende, umfassende Darstellung der Bild- und Gotteslehre der 3. Periode im Ausbau der Wissenschaftslehre (WL 1810/ Tatsachen des Bewußtseins 1810/1811. - WL 18127 SL 1812. - Transzendentale Logik 1812/ Tatsachen des Bewußtseins 1813/ WL Frühjahr 1813. - Staatslehre Sommer 1812/ Einleitungen in die WL Herbst 1813) bietet Julius Drechsler, Fichtes Lehre vom Bild, Stuttgart 1955,173-410: Hier werden Beziehungsfunktion und Schematismus des Bildseins, die Weisen des Bildes (Urerscheinung A, Grundbild B, Erscheinungsbild C) sowie die Abstufungen des Bildes (Bild x, Bild y, Bild Gottes) eingehend dokumentiert und analysiert. Ob nach der 2. Periode der Johanneischen Mystik und Ergriffenheit eine neue Periode reiner Seins- und Gotteslehre folgt, in welcher das absolute Sein nicht mehr Ziel der Sehnsucht, sondern Grund und Boden eines Denkens ist,

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Zur Einleitung in solche Ableitungen dürfte es förderlich sein, das Abzuleitende faktisch als Tatsache des Bewußtseins hinzustellen. Für die hier in Angriff genommene 2. Spaltung der absoluten Einheit in die Abstufung unserer vernunftgeborenen Weltansichten tritt jene Hauptspaltung in den Vordergrund, welche alle platonisch-christlichen Weltauslegungen durchherrscht, die Unterscheidung von sinnlicher und übersinnlicher Welt, von Diesseits und Jenseits, von Wirklichkeit und Überwirklichkeit oder in transzendentaler Wendung: von Ding an sich und Ding als Erscheinung oder von Welt als Wille und Welt als Vorstellung. Solche Prolegomena finden sich im 11. Vortrag der „Tatsachen des Bewußtseins" von 1813.127 Dessen Auslegung begnügt sich damit, das Grundverhältnis der Sinnenwelt als Bild a zum übersinnlichen Bild y faktisch auszumachen. Die weitergehenden Aufschlüsse dieses großen Schlußentwurfes der Bildlehre - die Verbindung der Sinnenwelt mit dem System der Iche, die Darlegung der sittlichen Welt als Erscheinung Gottes, der Nachweis des Willens im Stande intellektueller Anschauung als vereinigendes Glied - bleiben vorerst außer Betracht. Die Überlegungen konzentrieren sich auf die entscheidende These: „Das Naturbild ist das durch das übersinnliche y bestimmte: also das Naturbild oder die Empirie ist die Sphäre der Erscheinung des Uebersinnlichen"

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dem es um die Sichtbarmachung des Seienden als Bild des Absoluten geht, erscheint zumindest dann fraglich, wenn der neue Urgrund, das absolute Sein, als nicht mehr gebunden und bedingt durch das absolute Wissen angenommen wird (173-174). - Xavier Tilliette, La theorie de l'image chez Fichte, in: Archives de Philosophie 25(1962)541-545 hat das Werk von Drechsler als einen Meilenstein in der Wiederaneignung von Fichtes Berliner Philosophie gewürdigt und die Grundzüge der komplexen Bildlehre nachgezeichnet, die er als letzte Anstrengung Fichtes versteht, das System aller Realität in einem einzigen Blickpunkt zu versammeln. Es ist bezeichnend, daß Tilliettes Analyse von Bild, Schema, Durch, Zwischen auf das „Schweben" bei Novalis aufmerksam wird und überhaupt eine Konzentration bloß auf Fichtesche Quellen als eine Enthaltsamkeit beklagt, die es verhindert, Ursprünge und Eigencharakter der Bildlerire im Blick auf Novalis, Wilhelm von Humboldt, Schiller und natürlich auf Jacobi, Hegel und Schelling einzukreisen. Die Spaltung der Erscheinung in Überwirklichkeit und Wirklichkeit als Erste Grundspaltung des Wirklichen - neben der Zweiten Grundspaltung der Erscheinung in eine „Vielheit von Ichen" - hat Johannes Schurr, Gewißheit und Erziehung, Versuch einer Grundlegung der Erziehungslehre Fichtes nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Ratingen 1965,101-160 in vorbildlichen Detailinterpretationen nicht zuletzt der „Tatsachen des Bewußtseins" gründlich durchdacht.

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(NW 1,511). Wie also steht es mit der Sinnenwelt oder der Natur als dem Ganzen des Erfahrbaren? Was ist die Seinsverfassung des Bildes a? Welches ist seine Bestimmung? Vor allem aber: In welchem Verhältnis steht es zum sogenannten Bilde y? Dem zuvor aber muß wohl geklärt werden, in welchem Sinne beide Welten ontologisch als Bild gekennzeichnet werden können. Das scheint doch merkwürdig, weil die platonische Tradition der Sinnenwelt den negativen Seinssinn des Bildes und Eidolon vorbehielt, während die Ideenwelt als Urbild und Vorbild (Paradigma) des bloßen Nachbildcharakters gerade enthoben wird. Hier aber tragen beide Welten gleichsinnig den Namen Bild. „Bild" ist ja ein anderes, sprechenderes Wort für Vorstellung, cogitatio, perceptio. Es nennt das vom Wissen, dem Sehen-überhaupt, Gesehene. Das formuliert noch einmal den transzendentalen Gedanken: Es gibt nichts Seiendes im Himmel und auf Erden, was nicht Bild des Sehens und als Bild Ersehenes ist. Für eine Phänomenologie, welche vom Phänomen als einem vom Wissen und Sehen Gewußten und vom Sehen und Wissen als Dasein und Bild des Absoluten spricht, wird nun aber die Potenzierung des Bildgefüges entscheidend. Das Sehen, welches das Bild der Welt konstituiert, ist selber Bild, und zwar ein Bild, das sich als Bild des absoluten Lebens intuiert. Daher erscheinen die Bilder der wirklichen, empirischen und der überwirklichen, sittlichen Welt nicht einfach als Gegenbilder menschlicher Vernunft. Sie sind Vernunftansichten, die als abgestufte Erscheinungsformen absoluten Wissens ins Klare kommen sollen. Wie also steht es unter diesem Aspekt mit dem „Bilde a"? Es benennt das System der Erfahrung vorhandener Gegenstände als „Bild" menschlichen Bewußtseins. Wir sehen Objekte der Sinnenwelt in den Anschauungsformen von Raum und Zeit hin, wir denken sie in den Verstandesformen von Wechselwirkung, Kausalität, Substantialität, wir setzen das so ersehene Ding-Bild in der Synthesis der produktiven Einbildungskraft zusammen und als an sich bestehend außer uns. Das alles läßt sich methodisch aus dem Grundsatz der theoretischen Wissenschaftslehre entwickeln: Das Ich setzt sich selbst als bestimmt durch das Nicht-Ich. So erscheint die Sinnenwelt als Bild a: die Welt der Dinge, als wirklich bestehend angeschaut, deren Wirklichkeit nur hingenommen werden kann. Und wo das Verstehen der Welt sich strikt an die sinnliche Erfahrung und das positiv Gegebene unter der Gleichung Sein = Werden hält, da behauptet diese Bildansicht, die einzige Welt und alle Wirklichkeit, die ganze Wahrheit und alles, was ist, vor sich zu haben.

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Folgerichtig wird jedes andere Bild als Fiktion der Religion oder verstiegene Abstraktion der Metaphysik und fabelhafte Hinterwelt verschrieen werden. Auf dem Boden des Freiheitsbewußtseins und vom Standpunkte einer primär praktischen Vernunft aus aber ist bedenkenlos ein anderes Bild in Anschlag zu bringen: das Bild einer Welt, die zwar nicht empirisch vorhanden ist, die aber sein und werden soll. Das ist das Bild einer Wirklichkeit über der sinnlich bezeugten Wirklichkeit. Solch intelligible Welt ist nicht geordnet nach Raum- und Zeit- und Kausalgegebenheiten, sie ist die aufgegebene Ordnung einer „Geisterwelt", vordringlich die moralische Ordnung in der Welt freier Vernunftwesen. Natürlich bewährt sich dieses Bild y nicht durch Erfahrung und Experiment, es ist ein Denkbild, in welchem das übernatürliche Gesetz geistigen Lebens vordringlich im intellektuellen Anschauen des Sittengesetzes - ersehen werden kann. Eine Phänomenologie, welche die erscheinenden Vernunftansichten der Welt im Gefüge ihres Erscheinens darlegen will, dringt angesichts der vorgetragenen Tatsachen zweier Welten auf eine Klärung der Frage: Woraus entsteht und worin besteht dieser Unterschied? Die fragliche ontologische Differenz kann nicht einfach der inhaltlichen Verfassung des Bildes entnommen werden; denn der Charakter, Bild und Erscheinung, d.i. das Gesehene eines Sehens, zu sein, kommt beiden Weltansichten zu, sofern Bild einfach das Seiende überhaupt heißt, wie es vom Sehen zur Erscheinung gebracht wird. Die Differenz muß in der Form liegen, wie sich das Sehen die eine und selbe Bild-Wirklichkeit zustellt: im Bilde a nämlich in der Form eines seienden, faktisch bestehenden, im Bilde y in der Form eines genetischen, werdenden Bildes. „Die Eine und selbige Erscheinung erscheint nothwendig in diesen beiden Formen, eines seienden und eines genetischen Bildes ihrer selbst" (SW 1,509). Danach kommt der Sinnenwelt der Anwesenheitscharakter und die Vorstellungsform des Seins, einer übersinnlichen Welt die Form des Werdens zu. Das scheint nun aber die überkommene Zuweisung der platonischen Zwei-Welten-Theorie auf den Kopf zu stellen. Traditionsgemäß verfallen doch die Abbilder einer Welt, wie sie sich den Sinnen bekundet, dem haltlosen Werden, worin alles kommt, um zu vergehen. Die Urbilder dagegen stehen vor dem Blick der Vernunft ewig da, und unvergänglich gegenwärtig zu sein bedeutet Sein im einzigen Sinne des Wortes. Aber von dieser Differenz zwischen dem naturhaften Werden, dem Entstehen und Vergehen der Körperdinge, und dem ewigen Bestand

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göttlichen Seins ist in der transzendentalen Differenzierung gar nicht die Rede. Hier geht es um die Weise, wie die unterschiedenen Bilder der Welt im Bewußtsein vorkommen. Und da ist zu konstatieren: Die Weltansicht a ist ein seiendes Bild; es ist gleichsam fertig, wenn das natürliche Bewußtsein die Augen aufschlägt. Und es ist unter den Gesetzen theoretischen Vorstellens unabänderlich und nicht fortzugestalten. Darum heißt das Naturbild innerlich tot. Die Natur als herausgestelltes fertiges Sein kann sich nicht von sich her einer höheren geistigen Form öffnen und zum Geist werden; denn die Bildform der vom Ich hingeschauten Natur ist ein fertiges, stehendes, in sich totes Vorhandensein. Diese Feststellung schlägt eine Naturphilosophie nieder, welche - wie die Schellings - das Neuplatonische Mittelglied der „Weltseele" wieder einfuhrt. „Wer ein anderes höchstes Princip in der Natur annimmt, eine Weltseele und welterschaffende Kraft, ausser der des Ich, der kennt auch nicht einmal den allerniedrigsten Punkt der Philosophie, die Natur, sondern nur wieder das niedrigste Stück der Natur, die materielle Welt, die er dann mit seinen Hirngespinsten belebt und ausfüllt. Daraus beurtheile man die Naturphilosophen" (NW 1,513).128 Was aber ist das dann für ein Werden, welches das Bild y als ein genetisches kennzeichnet? Einleuchten sollte, daß eine rechtliche oder eine sittliche Welt nicht schon fertig da sind, sobald ein ichhaftes Bewußtsein sich in der Welt vorfindet. Sie müssen werden und wachsen. Dabei scheiden zwei Bedeutungen von Werden aus, das naturhafte Übergehen im Wandel körperhafter Erscheinungen und ein absolutes Werden als Konkret-Werden und Sich-Anders-Werden des Absoluten. Das Absolute wird nicht, es ist (im Sinne ewig währender Lebendigkeit). Nun soll aber doch das Absolute im Bilde y zur Erscheinung kommen und so entstehen. Was in dieser Sphäre wird und entsteht, ist nicht das Absolu128

Diese polemische Anspielung auf Schellings Skizze „Von der Weltseele", 1798 bekräftigt drastisch das ingrimmige Urteil Fichtes über die Naturphilosophie als eine in den gröbsten Dogmatismus zurückfallende Weltansicht und über den Wortführer Schelling, der die Wissenschaftslehre nicht durchdrungen und nie richtig gewußt habe, was kritischer Idealismus bedeute. Im Falle der „Weltseele" scheiden sich in der Tat die Geister. Den Naturphilosophen zufolge gibt es in der (sich selbst im Urgegensatz von Schwere und Licht organisierenden) Materie Intelligenz oder Seele als Lebensprinzip und Urkraft. Für die Transzendentalphilosophie sind die Vorstellungen der Selbstorganisation und inneren Zweckmäßigkeit des Naturhaften Reflexionsgesetze der menschlichen Intelligenz, aber nicht Produktionsprinzipien einer irgendwie mit Intelligenz ausgestatteten Materie.

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te selbst, sondern dessen Sichtbarkeit im Bilde. Die aufgegebene moralische Weltordnung ist ein vorzügliches Bild, an welchem das, was in Wahrheit ist, das absolute Leben oder der unendliche Wille, sichtbar werden kann, weil es sichtbar werden soll. Damit ist eine erste Auskunft eingeholt. Der Unterschied von Bild a und Bild y besteht in einer Differenz von Sein (= S) und Werden (= W), und dieser Unterschied entsteht aus der Weise, wie das Sehen das Weltbild ersieht, als seiendes und fertig gegebenes oder als werdendes und aufgegebenes. Besteht aber nun das Bildwesen der Überwirklichkeit im Sichtbarwerden, dann kommt unausweichlich das Fundierungs- und Einheitsverhältnis (= E) des Unterschiedslosen ins Gespräch. Das Bild y soll wirklich sichtbar werden, wirklich aber ist für den Menschen sein Leben lang allein das Bild a. In diesem Sollensbezug nun liegt der Sinn, der beides, das stehende Sein der Natur und das Sichtbarwerden der Übernatur, verstehbar macht. Für deren Verschränkung schreibt Fichte die Formel auf: Einheit (E) erscheint und ist da in Wechselverhältnissen von Werden (W) und Sein (S) als denjenigen Modi, in denen Sinnenwelt (Bild a) und intelligible Welt (Bild y) zu Gesicht kommen. „Was ein Werden des Bildes sei, ist verständlich nur an einem Sein, und umgekehrt, das Sein des Bildes ist verständlich nur an einem Werden: E W S" (NW 1,509). Das leuchtet zunächst formal aus dem Gegensatzcharakter der Vernunftbilder ein. Ein Über-Sinnliches braucht, um überhaupt sinnvoll gedacht werden zu können, das Sinnliche als das, über das es sich erhebt. Und die Sinnenwelt erscheint als fertige und bloß gegebene allein in und durch die Konfrontation mit der aufgegebenen und notwendig gesollten Ordnung. „Ohne den Gegensatz einer Natur erscheint das Uebersinnliche und Ueberirdische gar nicht als solches" (NW 1,511). Ebenso gilt: Ohne den Gegensatz der Übernatur kann Natur nicht als solche erscheinen. Und diese Wechselwirkung macht auch die Zweckbestimmung der Weltbilder deutlich. Ohne das Bild y hat die Natur und Sinnenwelt überhaupt keinen Sinn. Die Natur an ihr selbst bietet nichts als den Anblick sinnlosen In-sich-Kreisens. Als bloßes Natur- und Leibwesen, der er ja auch ist, würde der Mensch lediglich geboren, um zu sterben. In Verschränkung mit der Übernatur dagegen bricht jene beziehungsreiche Bestimmung der Natur auf, Material einer geistigen Ordnung (des Rechts, der Sittlichkeit, der Kultur) zu sein. In der bloßen

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Mannigfaltigkeit, dem rohen Stoff der Natur, der Wildheit der Menschheit ohne geistige Ideen - im Staub, den der Wind bewegt, an den Kriegen, die die Welt verheeren - soll sich eine geistig-sittliche Ordnung durchringen. In diesem Zusammenhange verbleibt der Natur nur ein Sinn: „bloße Wirkungssphäre des Übernatürlichen zu sein" (NW 1,514). Und umgekehrt findet das Übersinnliche nur in der zeitlich-geschichtlichen Welt seine wirkkräftige Wirklichkeit. Als reine Möglichkeit bliebe das Übersinnliche sonst unsichtbar. Mögen die höhere und niedere Welt nun auch wechselseitig ineinander ein- und übergreifen, wie und wodurch ist deren Gegensätzlichkeit vermittelt? Dafür muß ein Mittelpunkt nachgewiesen werden können, welcher diese Vermittlung stiftet. „Wo liegt nun der Mittelpunkt des Eingriffs des Höhern in das Niedere?" (NW 1,511). Diese entscheidende Erörterung ist bereits darüber verständigt, von welcher Seite her das beschriebene Eingreifen des einen in das andere geschieht. Unmöglich kann die Natur von sich aus in die Übernatur eingreifen; das wäre der Weg der Naturphilosophie. Aber der verkennt das fertige und in sich tote Bild der Natur und den Naturtrieb, der nichts will denn Selbsterhaltung und Genuß um des Genusses willen. Folglich bleibt nur die andere Richtung des Eingreifens und „Einfließens" übrig. Das Höhere muß in das Niedere eingreifen. Aber welche Kraft vermag solch durchgreifende Vermittlung? Den gesuchten Mittelpunkt bildet der endliche Wille als innerste Wurzel menschlich-endlichen Selbstbewußtseins. Er steht in der Mitte zwischen dem Natunvillen (dem Sehnen und Verlangen des Naturtriebes nach leibhaftiger Bedürfnisbefriedigung) und dem göttlichen Willen (dem unendlichen Sich - selber - Wollen ewig-geistigen Lebens überhaupt). Und er vermittelt die Weltansichten der Sinnenwelt (Bild a) und der Ideenwelt (Bild y) so, daß er den Naturwillen als Kraft für den sittlichen Willen in Dienst nimmt, um jene geistig-moralische Ordnung aufzurichten, in der sich der göttliche Wille ausdrückt. Damit dürfte diese „Zwei-Welten-Theorie" wohl auch gegen den wohlfeilen Vorwurf der Fabelei im Erdichten irrealer Hinterwelten gefeit sein. Die gesollte Welt ist, indem der aufgerufene freie Wille in die Sinnenwelt eingreift und den Naturwillen depotenziert. Dieser Vorgang ist hier, die Hinleitung zur transzendentalen Stufenlehre und zum materialen Ausbau des Systems abschließend, nurmehr in Grundzügen zu skizzieren. „Der Naturwille wird durch den sittlichen Willen ... als letztes Bewegendes gänzlich aufgehoben und wird Zwei-

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tes, bloße zu bestimmende Kraft" (NW 1,512). Der Naturwille gehört zum Bilde a, insofern und soweit sein Subjekt, das empirische Ich, zur Welt der Empirie gehört. Und er hat denselben Charakterzug, der das Naturbild prägt, nämlich das Sein und Fertigsein ohne Möglichkeit geistiger Erhebung in Fortentwicklung zum Reiche der Freiheit. „Das empirische Ich steht da als ein vollendeter und fertiger Wille" (NW 1,510). Als Glied der Natur handle ich so, wie die Natur in mir handelt. Als Naturwille gestalte und verändere ich die Natur zum Zwecke der Selbsterhaltung im Verlangen nach Genuß bei Befriedigung der Bedürfnisse. Dieser Naturtrieb ist unveränderlich und immer schon fertig. Freilich besitzt er im Stande des Wollens und Begehrens die Macht der formalen Freiheit, Begehrtes auszuwählen und vorzuziehen, und das verleiht dem empirischen Ich das Ansehen, die Kraft zu haben, sich nach eigenem Willen selbst zu verwirklichen. Aber eine Vorherrschaft der formalen Freiheit im fertigen Naturwillen, der sich gegen die Gebote des Sollens taub stellt, bezeugt nur, daß das göttliche Bild noch nicht herausgekommen ist. Der so konstituierte Naturwille nun kann als bewegender und bestimmender Anfangsgrund negiert werden. Das geschieht, wenn das Wollen sittlicher Freiheit eingreift. Dann wird der Naturwille des empirischen Ich als eine Kraft eingespannt, welche sich an der Errichtung einer Weltordnung abarbeitet, die das Übersinnliche zum Ausdruck bringt. Natürlich steht bei diesen Refundierungen das Phänomen der sittlichen Weltordnung im Vordergrund. Aber das Gründungsverhältnis von Wirklichkeit und Überwirklichkeit darf nicht auf die gängige Formel reduziert werden, die Sinnenwelt sei nichts denn das Materiale der Pflicht. Die Übergänge der Weltansichten erscheinen erst dann in ihrer ganzen Reichweite, wenn beide Grundsätze der Erscheinungslehre in Anschlag gebracht werden: Das einzig Reale in der Erscheinung sei die Freiheit, und nur Gott sei, und außer ihm sei nur seine Erscheinung. Von solchem Blickpunkt aus zeigt sich die Vielschichtigkeit der Sichtbarmachung des Unsichtbaren. Die Sinnenwelt der Natur (Bild a) gewinnt ihre wahre Bestimmung darin, Sphäre der Freiheit oder Medium zu sein, in welchem das Bild y erscheint. Das Bild y seinerseits fungiert wiederum als Medium der Sichtbarkeit. Es wird ja durch die Doppelnatur eines Willens getragen, der ebenso Prinzip autonomen Wollens wie Prinzipiat göttlicher Lebendigkeit ist. Mithin vermittelt sich das Sichtbarwerden des an sich verborgenen Übersinnlichen in einem mehrfachen Schematismus. Die Erfahrungswirklichkeit soll sein, damit die

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sittliche Ordnung im Bilde y sichtbar werde. Deren Sichtbarkeit aber ist bedingt durch den Begriff eines Sehens, das sich als Bild und Dasein des in sich geschlossenen, absoluten Seins ersieht. „Kurz, alles Hingestellte verwandelt sich in ein blo es Mittel der Ersichtlichkeit: das empirisch Wirkliche, die Erfahrung w re darum, um darzustellen ein y, die Form der Genesis, welches y wieder die Bedingung ist, da der Begriff des Sehens sichtbar werde, ... dieser Begriff des Sehens wieder bedingte die Sichtbarkeit des Uebersinnlichen des Sehens selbst, des Unsichtbaren... So verwandelt sich Alles in ein blo es Mittel der Ersichtlichkeit des Unsichtbaren, des absoluten Begriffs des innern Wesens der Erscheinung, da sie sei Bild des Absoluten" (NW 1,457). 11.2 F nffachheit der Vernunftstandpunkte. Genetischer Aufri unserer Grundstellungen zur Welt Die transzendentale Ph nomenologie des Bewu tseins bezieht die platonisch-christliche Hypothesis der zwei Welten in den Horizont transzendentaler Reflexion, d.h. in die Urkorrelation von Sein, Bild und Sehen ein und verweist den offen gebliebenen Fragekomplex von Chorismos und Methexis an die Disjunktions- und Konjunktionskraft des Willens, der alle Stufen des Bewu tseins durchgreift. Dabei zeichnet sich eine reichere Differenzierung der Ideenwelt ab. Das legt bereits eine plane Erinnerung an die mehrfache Bedeutung des Sollens nahe; denn der κόσμος νοητός, das Bild y, ist ja nicht das Gebiet von Vorhandenem, sondern das Reich des Gesollten, und das Sollen greift bei N tigung des freien Willens in die Naturgegebenheiten der materialen K rper- wie der naturst ndigen Menschenwelt ein. Es sind weltver ndernde Gebote: Die Sinnenwelt soll kultiviert werden; der status naturalis isolierter Menschen soll zur Rechtsgemeinschaft erhoben werden; der reine Trieb soll sich mit dem Naturtrieb zum sittlichen Wollen vereinigen, um das Prinzip der Sittlichkeit in der Welt zur Anwendung zu bringen. Und schlie lich: Die Welt soll in ihrer wahren Realit t, dem Leben und der Freiheit des Willens als Ausflu g ttlichen Seins, geglaubt werden. Jede Art solcher Weltver nderungsgebote repr sentiert eine eigene Vernunftansicht der Welt: den Glauben an die Vorhandenheit der Natur, das Vertrauen in die rechtliche Welt, die Verpflichtung auf die moralische Weltordnung, eine religi se Welterfahrung und die Lebensform des βίος θεωρητικός, d.i. die philosophisch-

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wissenschaftliche Erschließung der Welt. In diesen fünf Grundstellungen unseres Daseins differenziert sich die duale Aufspaltung der Realität im Gefolge der Zwei-Welten-Theorie. Die 5. Vorlesung von „Die Anweisung zum seligen Leben" hat die Aufspaltung der Weltbilder als fünf Abstufungen inneren geistigen Lebens historisch-faktisch aufgestellt und expliziert (SW V,465-475).129 Ein genaues Schema dieser materialen Spaltung bietet ein „Erläuternder Zusatz" zum Brief an (Paul Joseph) Appia vom 23. Juni 1804. Hier wird folgendes erklärt: Das mit dem Bewußtsein im absoluten Wissen vereinigte Sein spaltet sich „zuförderst in ein sinnliches und übersinnliches Bewußtseyn, was auf das Seyn angewendet, ein sinnliches und übersinnliches Seyn geben muß. Das Übersinnliche spaltet sich hinwiederum, nach einem hier nicht anzuführenden Gesetz, in religiöses, und moralisches Bewußtseyn, was auf das Seyn angewendet, einen Gott giebt, und ein sittliches Gesetz', das Sinnliche spaltet sich wiederum in ein Sociales, und in ein Mzfwr-Bewußtseyn, was auf das Seyn angewendet, ein Rechtsgesetz und eine Natur giebt." (BrW; GA 111,5, 247). Danach erwächst das Verständnis von dem, was ist, indem es uns bewußt ist, aus einer doppelten Spaltung. Die Platonische Grundspaltung in sinnliches und übersinnliches Seyn, die aus der Spaltung des Bewußtseins in eine sinnliche (theoretische) und eine übersinnliche (praktische) Vernunftansicht entspringt, spaltet sich noch einmal. Die Ansicht der Sinnenwelt zerteilt sich in den Naturglauben und in die Rechtsgläubigkeit. Für den Naturglauben ist das, was in sich selbst und um seiner selbst willen besteht, die Natur. In den Augen des Rechtsgläubigen ist die Sinnenwelt da umwillen einer mitmenschlichen Ge129

Günter Meckenstock, Das Schema der Fünffachheit in J.G. Fichtes Schriften der Jahre 1804-1806, Göttingen 1973, 8-30 hat die in der „Anweisung zum seligen Leben" explizierte Fünffachheit als Reduktionsprinzip der materialen Selbstauslegung vernünftiger Subjektivität verfolgt und als nicht historisch erzeugte, sondern konstitutive Momente des Einen Bewußtseins charakterisiert: Sie bieten Normierungslinien, um die Mannigfaltigkeit von Bewußtseinslagen und Traditionen zu strukturieren. - Indem überdies dieser Vorgriff einer Fünffachheit nicht nur als Untersuchungsobjekt im Sinne einer materialtheoretischen Standpunktkonstruktion, sondern auch als interpretatorischer Leitfaden der Religionslehre verdeutlicht wird, kommt eine Interpretationstendenz zu Fall, welche in der „Anweisung" lediglich eine populäre-erbauliche Predigt mit appellativem Charakter sieht und die genetisierenden Intentionen und Erträge übergeht oder mit Hegel für spekulativ wertlos erklärt.

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meinschaft an sich bestehender Rechtssubjekte. Ihren wahren Sinn freilich beziehen diese Weltansichten erst aus einem Bewußtseinsstand, der sich an die Überwirklichkeit hält. Solche Einstellung stuft sich ihrerseits in die Bewußtseinsformen der Religion und der Moralität ab. Für die eine bildet das Sittengesetz das unbedingte Sein und die Bürgschaft aller Realität, für die höhere das urreale, alles belebende Sein Gottes. Es ist klar, daß es eine fünfte Vernunfteinstellung gibt, nämlich die Wissenschaft. Sie verwandelt den religiösen Glauben in ein Schauen. Der höchste faktische Vernunftstand klärt sich auf in einem Wissen, das die Entstehungsgesetze des reinen Wissens als Einheit von Bewußtsein und Sein weiß. Mit solchen Angaben gibt der Brief an Appia den Sachverhalt an, ohne in die Sache der Philosophie selbst einzuweihen. Nun steht aber ein System der Erscheinungen des Bewußtseins unter dem Anspruch, die vielfachen Ansichten und Bewußtseinsformen von Welt nicht bloß faktisch zu beschreiben, sondern vollständig und durchsichtig herzuleiten. Da es sich dabei um Bildformen unseres vernunftbegabten Sehens handelt, sieht sich die methodisch abgeforderte Deduktion auf die Vernunftform menschlichen Daseins zurückverwiesen. Mithin gilt es, die gesonderten, abgestuften fünf Grundstellungen zur Welt als Fünffachheit des menschlichen Vernunftblicks zu genetisieren. Solches Verfahren verspricht, das Ungenügen der bisherigen Ansätze zu kompensieren. Es genügt offenbar nicht, eine zweifache Weltansicht des Menschen aus der Zweiheit unserer Erkenntnisstämme abzuleiten, so als verdanke sich das Verhalten zur Welt als kosmos aisthetos dem Schwergewicht der Aisthesis im Erkennen, die Hinwendung zur Ideenwelt des kosmos noetos dem Blick der Noesis, mit dem das Menschengeschlecht begabt und den göttlich-immerseienden Ideen verwandt ist. Auf diesem Wege wird doch die Zweiheit des Weltbestandes nur auf eine Zweiheit der Weltansicht zurückgeschoben, und die philosophische Wissenschaft, die sich als Einheitslehre zu bewähren hat, bleibt im Dualismus stecken. Solche Gefahr hat auch Kants Vernunftkritik nicht gebannt. Sie durchstreicht alle Hypothesen, welche die Bestimmungen der übersinnlichen Welt auf Möglichkeiten unserer menschlich-endlichen theoretischen Erkenntnis zurückführen. Dafür weist sie die moralisch praktische Vernunft als legitimen Zugang zum mundus intelligibilis auf. Aber auch so werden die zwei Welten doch nur auf eine Zweiheit im menschlichen Vernunftverhalten, auf die Unterschiedenheit von theoretischer und praktischer Vernunft, zurückgestellt. Und eine Systembildung, welche die getrennten Gebiete der theoretischen und praktischen Vernunft durch ei-

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ne dritte Vernunftansicht, die der ideologischen Urteilskraft, zu überbrücken sucht, bringt es nur zu einer Synthesis post factum. Faktisch vorgegebene Gegenglieder werden nachträglich durch ein drittes Glied vermittelt. Genetisch dagegen muß die fragliche Vielgliedrigkeit aus einer einheitlichen Vernunftform vor jeder faktischen Aufteilung in die Gebiete der theoretischen und praktischen Vernunft bzw. der Anschauungs- und Ideenwelt entspringen. Gelingt diese Verwurzelung der Sinnenwelt in den höheren Welten nicht, dann haben die Abwertungen des Positivismus und die Umwertungen des Nihilismus freie Bahn. Eine Ableitung der angekündigten Fünffachheit aus der Grundstruktur menschlicher Vernunftform hat der weitsichtige Überblick des letzten, 28. Vortrags der Wissenschaftslehre 1804 (nach Lauth am Freitag, dem 8. Juni) vorkonstruiert. Die Leitfrage lautet also: Wie kommt die fünffältige Weltansicht aus der Einfachheit des absoluten Wissens zustande? Genauer: Nach welchem Gesetz der Reflexion oder des Sichverstehens spaltet sich das Dasein unzerteilten Vernunftlebens auf? Die Basis solcher Ableitung liefert die Grundformel vernunfthaften Selbstbewußtseins: „Die Vernunft macht sich selber schlechthin intuirend" (WL 1801-11; GA 11,8,410). Diese Formulierung scheint den obersten Grundsatz einer Philosophie des Ich ergänzend zu wiederholen. Jedenfalls nimmt sie die Grundworte Tathandlung und intellektuelle Anschauung in sich auf. Die Vernunft macht sich schlechthin selber; hier kommt das schlechthinnige Setzen zu Wort, der Wesensvollzug des Ich, das nur ist, indem es sich selbst als seiend vorstellt. Das entwurzelt eben jedwede schlechte Subjekttheorie. Das Ich ist schlechthinniges, unbedingtes, freies Sichsetzen, inneres effektives Sichmachen - und nicht totes Vorhandensein und beharrende Substanz. Die Vernunft in der Form des Sichverstehens entsteht und besteht in reiner Tätigkeit. Alle Hypothesen von einem tätigen Etwas (res cogitans) und von einem substantivischen „Tätigen" sind von der Theorie des Selbstbewußtseins fernzuhalten. Aber ebenso energisch ist die Meinung abzuwehren, das Ich mache sich selbst im Sinne einer sich selbst effizierenden causa sui. Das Ich ist in seiner Wurzel endlich. Es macht sich nicht selber existierend, als erschaffe es in Selbstproduktion sein Sein und werde Existenzgrund seiner Welt. Die Grundformel besagt deutlich genug: Es macht sich intuierend. Was ursprünglich zustande kommt, ist ein Bewußtseinsmodus in der Gestalt des intuitus. Indem das Selbstbewußtsein sein Sein qua schlechthinnige Selbsttätigkeit vollzieht, ist es für sich, und dieses Fürsichsein kann nicht den Modus diskursiver cognitio, es muß die Weise

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eines nicht-sinnlichen intuitus haben. In diesen Standpunkt also hat sich eine Vernunftphilosophie zu stellen: in die Form einer sich schlechthin intuierend machenden, ichhaften Vernunft. Überdies hat eine kritisch zu Ende reflektierte Bild- und Erscheinungslehre nachdrücklich gezeigt: Das Ich verdankt allein die Form des Sichvernehmens sich selber, sein Leben, das Licht seiner Bewußtseinshelle, schuldet es einem aus sich lebenden Leben, einem sich selbst effizierenden Licht und Urvon. Das läßt sich „phänomenologisch" so ausdrücken: Das Prinzip, das unsere Welt und Weltansichten in den Formen des Sichverstehens zur Erscheinung bringt, ist selber Prinzipiat eines Prinzips, das im absoluten Willen als Bewußtsein der Freiheit da ist. In kritischer Feststellung und gegen eine naive Produktionstheorie gesagt: „Ich bin nur Erscheinung, Produkt eines Höheren, der Erscheinung jenseits" (TdB-II; NW 1,544). Die Vernunft ist somit keinesfalls das absolute Leben selbst, sie ist nicht Urtätigkeit, sich selbst effizierendes Licht, sondern nur dessen Dasein. Als was aber intuiert sich dann eigentlich die sich selbst machende Vernunft? Offenbar als Nachmachen eines schon Gemachten, wobei das „schon Gemachte" Produkt der aus sich lebenden Urtätigkeit in ihrer vom Begriff nicht objektivierbaren Transzendenz ist. Das Sich-intuierend-Machen der Vernunftform entdeckt sich somit als ein Nachmachen. Nach-Machen aber besagt, ein Bild nach einem nicht-bildhaften Sein machen. Kann nun das schlechthinnige Sich-Machen der Vernunft nur nachmachen, dann macht es sich zum Bild. Das ist Fichtes Vertiefung der ursprünglichen Einsicht vom schlechthinnigen Sich-Machen des Ich. Menschliche Vernunft versteht sich, indem sie sich nach-macht, als Bild göttlicher Urtätigkeit. Das absolute Wissen weiß sich als deren einzige unmittelbare Offenbarung.130 Indem sich die Erste Philosophie in diesen kritisch erörterten Mittelpunkt der Vernunftform erscheinenden Lebens stellt, kann sie die Dis-

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Entsprechend steht es mit dem Lebenselement des absoluten sich wissenden und wollenden Wissens, der Freiheit. Freiheit bedeutet im Gefüge der Erscheinungslehre nicht Prinzip des Ich qua absolute Selbstbestimmung, sondern das einzig wahre Reale in der Erscheinung. Folglich ist die Welt freier Individuen, das Reich der Freiheit, nicht das Werk menschlichen Freiheitswillens, sondern Äußerung göttlicher Freiheit. Im Stande der Freiheit ist das Individuum Mitglied der wahren Welt. So „ist es durchgebrochen zum Seyn" (vgl. die machtvollen Eingangsthesen zur Grundlegung der Staatslehre von 1813; SW IV,431-432).

Fünffachheit der Vernunftstandpunkte

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junktion der Vernunfteinheit in ihrer Genesis erfassen. Die maßgebende Einsicht lautet in der Begrifflichkeit der vertieften Erscheinungslehre: „Es entsteht hier zugleich eine absolute Urthäligkeit und Bewegung als an sich: und ein Machen oder Nachmachen dieser Urthätigkeit, als ihr Bild" (GA 11,8,410). Das ist der Schlüsselsatz, der die Aufspaltung der Vernunft in der Fünffachheit von Weltansichten erschließt. Weil sich die Vernunft als Bild absoluter Urtätigkeit intuierend macht, entstehen mit einem Schlage zwei Disjunktionen, die von Urtätigkeit (Sein) und Nachmachen (Bewußtsein) und zugleich die von Ansichsein und Bildsein (Fürunssein). Diese Unterscheidung von Bild und Ansich leuchtet vom Nachmachen her ein. Durch Nachmachen entsteht niemals die Sache selbst, sondern ein Nachbild derselben. Das ergibt, auf die Genesis der Grunddisjunktionen angewendet, die Einsicht: Indem die Vernunft sich zum Bilde der Urtätigkeit macht, begreift sie, daß sie selbst nicht Sein und Leben an sich ist. So fügen sich die Bedeutungen von Bild und Ansich untrennbar zusammen. Es entsteht die Seinsbedeutung von Ansich durch den Unterschied zum Bild. Ansich seiend heißt, was nicht Bild ist, so wie das Bildsein im Durchgang durch das Nicht-Ansichsein begreiflich wird. Und zugleich spaltet sich im Ich eben auch die Zweiheit von Objektivität und Subjektivität auf. Die Vernunft intuiert sich als Bild einer ansichseienden Urtätigkeit. Urtätigkeit ist gleichsam das Urobjektive, während das Sich-zum-Bilde-Machen das Subjektive ausmacht. Die sich intuierend machende Vernunft hält mithin vier Disjunktionsglieder, einigend dazwischen schwebend, auseinander. 1. Das erste Glied ist die Urtätigkeit als an sich seiend. In der Tiefe seines Lebens und seiner Endlichkeit weiß das Selbstbewußtsein, daß die unverlierbare Wurzel seiner Realität und seiner unsterblichen Lebendigkeit Urrealität göttlichen Lebens ist. Und diese Urrealität heißt ontologisch an sich seiend; denn sie ist nicht durch das Konstruieren menschlicher Vernunft da. Sie ist an sich geschehende Selbstkonstruktion, die uns ergreift und auf uns „einfließt". Diese Vernunftansicht konstituiert den Standpunkt des religiösen Glaubens. Was in Wahrheit und insgesamt ist und wahrhaft lebt, das ist die Urtätigkeit (des göttlichen Lebens). Und das kann nur als an sich seiend geglaubt, nicht durch uns bewiesen und durch Energie des Denkens konstruiert werden. Darum kann das Göttliche im Vernunftblick religiösen Glaubens auch „absolutes Bilden und Leben des absoluten Objekts" heißen. Das wehrt einen Aberglauben ab, der Gott im toten Objekt, im Gestein, Gewächs oder Gestirn

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Bildlehre

sucht. Gott ist das sich selbst bildende, absolute Bilden und Leben, welches dasjenige „Objekt" ausmacht, in welches sich menschliches Leben und Lieben ganz versenkt. Dominiert dieses Aufbaumoment der Vernunftsynthesis, dann herrscht der Glaube an das ewige Leben als daseiendes Licht in uns. Das nährt die Überzeugung, daß unser Zeitleben in der sinnlichen Welt nur eine Verhüllung der Wahrheit durch unsere Weltzuwendung ist. Und es stärkt eine Lebenshaltung, die ihre ganze Existenz auf das setzt, was sie für wahr hält, nämlich die unzertrennliche Lebenseinheit mit Gott. Das ist der „Glaube an einen in allem Zeitleben allein wahrhaft, und innerlich allein lebenden Gott" (WL 1804-11; GA 11,8,418). Er bildet das religiöse Bewußtsein, das sich inständig dem absoluten Bilden und Leben des absoluten Subjekts als dem Ewigen in uns anheimgibt. 2. Das Gegenglied dazu ist die Tätigkeit oder das Machen im Sinne des Sich-zum-Bilde-Machens. Immer sieht sich die Vernunft auch als Tätigkeit qua Selbst-Konstruktion. Das macht das subjektive Moment in der Subjekt-Objekt-Spaltung der Ich- oder Vernunftform aus. Und dieses Sichmachen bildet sich zum Bilde des urrealen Seins. Solche Vernunftansicht konstituiert den Standpunkt der Moralität und sittlichen Freiheit. Die Sittlichkeit hat ja eine Autonomie zum Prinzip, wonach sich das sich selbst bestimmende Subjekt aus Freiheit dem Sittengesetz unterstellt. Und eine philosophisch festgegründete Moralität weiß, daß die vom sittlichen Wollen gebildete moralische Ordnung der Welt Ausdruck und Erscheinung des göttlichen Willens, Bild der lebendigen Urtätigkeit ist. (Im Grunde ist so der Mensch, der pflichtgemäß handelt, auch fromm.) 3. Das dritte Disjunktionsglied, das im Sich-intuierend-Machen liegt, kann ontologisch als seiendes Nachmachen herausgegliedert und als „stehendes Subjekt" charakterisiert werden. Dabei ist auf das Bilden und Nachmachen (einer höheren Realität) zu achten, und zwar so, daß das Bilden nicht in die Autonomie des Sich-selber-Bildens (des guten Willens) gestellt wird, sondern in eine an sich seiende, vorfindliche Naturkraft. So heißt das hier grundgebende Subjekt „stehend", weil es, an die Natur gekettet, sich nicht zur Übernatur erheben und Dasein der höheren Realität werden kann. Dieses mit der Vernunftform entstehende Selbstverständnis konstituiert den Standpunkt des Rechts und die Eigenständigkeit der rechtlichen Welt. Als Vernunftansicht ruht es auf der Vernunft und Freiheit von empirischen Ichen, die sich in ihrer äußeren Willkür beschränken und sich unter der Bedingung wechselseitiger Ein-

Fünffachheit der Vernunftstandpunkte

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schränkung rechtlich vertragen. Darum ergehen Rechtsordnungen und Rechtszwänge an empirisch vorfindliche Subjekte im Zustand der Naturkraft (nicht der sittlichen Gesinnung). Darauf verweisen, Legalität und Moralität aufs strengste unterscheidend, die „Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre", Februar und März 1805, nämlich daß „die Rechtslehre überhaupt gar kein Handeln, sondern ein Seyn, einen stehenden u. festen Zustand zum Objekte hat: nemlich das stehende Verhältniß von mehreren vernünftigen Individuen, als Naturkräften, zueinander. Die Rechtslehre ist nach uns überhaupt nicht SittenPhilosophie, sondern ist Natur-Philosophie" (GSR, 4). Für den Rechtsgläubigen bringen allein Rechtsgesetze, die unsere Naturkräfte aus freiem, vernunfteinsichtigem Willen zur wechselseitigen Einschränkung zwingen, Ordnung und Einheit in die Welt. Erst die Rechtlichkeit pflanzt die Idee der Egalito (die Gleichheit aller vor dem Gesetz) in die Welt ein. So besteht diese Vernunftansicht im „Glauben an Persönlichkeit, und bei der Mannigfaltigkeit derselben, an die Einheit und Gleichheit der Persönlichkeit" (WL 1801-11; GA 11,416). Es ist nicht von ungefähr, daß in diesem Kontext das Subjekt als „Person" zur Sprache kommt. Persona ist das römische, vom Rechtsbewußtsein geprägte Gegenwort zur Sache, res. 4. Das vierte Disjunktionsglied, das sich genetisch herausgliedern läßt, kann als „stehendes Objekt" gekennzeichnet werden. In ihm stößt das sich wissende Intuieren auf das Objektive mit einem Ansichsein im Sinne toter Vorhandenheit. So tritt - nach dem Gesetz der Verwandlung der Urrealität ins Vorhandensein - die vorliegende Natur als das Ganze des an sich Vorhandenen vor die Vernunft. Das konstituiert die Weltansicht des sogenannten „Naturglaubens". Wird dieses Vernunftmoment verabsolutiert, so entsteht die Grundstellung des Materialismus, der sich konsequenterweise zum Fatalismus bekennen müßte. Die Lebensform des Naturglaubens klammert sich an das stehende Objekt, und zwar aus einer Liebe zu den Gegenständen der Begierde, die sich an das vorhandene Objekt greifbaren Genusses in massiver Materialität hält. Das zieht eine Haltung des Determinismus nach sich. Wo sowohl die Freiheit der Urtätigkeit wie die der sittlichen Selbstgesetzgebung unberücksichtigt bleiben, da erscheint die Sinnenwelt als das, was selbst unbedingt und an sich vorhanden ist und das Subjekt in seinem Erkennen und Handeln bedingt. 5. Über die gekennzeichneten vier Welteinstellungen hinaus kommt eine fünfte Vernunftansicht von dem, was ist, zum Austrag. Diese stammt nicht aus einem fünften Moment des Sichverstehens, das neben

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Bildlehre

den vier herausgehobenen Lebenshaltungen additiv hinzukäme. Sie hat ihren Standpunkt im Mittelpunkt der Vereinbarkeit der vier gegensätzlichen Glieder. Damit steht der fünfte Standpunkt weder auf der Seite der Urtätigkeit noch auf der des Nachmachens und weder auf der Seite des Ansichseins noch auf der des Bildes. Er hält sich in der Schwebe dazwischen. Dieser vermittelnde Mittelpunkt ist ein absolutes Sichmachen, das die Vierheit der Glieder verschwebend zusammenhält und die sich daraus erhebenden Vernunftansichten sinnvoll aufeinander bezieht. Das konstituiert den Standpunkt der Wissenschaft auf der Höhe der Wissenschaftslehre. Philosophieren sei ein Staunen und Schauen, es bilde die Lebensweise des gottnahen und erfülle die Bestimmung des Menschen am würdigsten und schönsten. Diese alten Behauptungen bewähren sich angesichts der ausgeführten Vernunftansichten. Es ist die Philosophie, welche deren Vielheit sinnvoll zusammenhält und als Erscheinungsform des Absoluten verständlich macht. Und das muß geschehen, sollen sich nicht die Grundstellungen des Menschen zur Welt, abgerissen für sich, vereinseitigen und verzerren. Mit dieser genetischen Explikation ist der Inhalt einer materialen Stufenlehre auf der Grundlage einer transzendentalen Phänomenologie des Geistes ausgebreitet. Nun kommt es darauf an, die Gebiete der Natur, des Rechts, der Moralität und der Religion so aus Prinzipien der Wissenschaftslehre zu begründen, daß sie als Stufen aufsteigender Erscheinung des Absoluten verstehbar werden. Der Sinn und Wert gebende Endzweck solcher Aufklärung ist im aletheuischen Soll rege. Es soll das absolute Wissen vollzogen werden; es soll Klarheit in die Verworrenheit menschlicher Weltansichten einkehren; mit Jacobi gesprochen: Es soll Dasein enthüllt werden. Darin liegen Anfang und Ende aller Wissenschaft. „Das gesammte Resultat unserer Lehre ist daher dies: das Dasein schlechthin, wie es Namen haben möge, vom allerniedrigsten bis zum höchsten, dem Dasein des absoluten Wissens, hat seinen Grund nicht in sich selber, sondern in einem absoluten Zwecke, und dieser ist, daß das absolute Wissen sein solle. Durch diesen Zweck ist Alles gesetzt und bestimmt; und nur in der Erreichung dieses Zweckes erreicht es und stellt es dar seine eigentliche Bestimmung. Nur im Wissen, und zwar im absoluten, ist Werth, und alles Uebrige ohne Werth" (WL 1804-11, 25. Vortr.; GA 11,8,378).

TEIL IV Stufenlehre Natur, Recht, Sittlichkeit, Religion

12. KAPITEL Bestimmungen der Natur 12.1 Von der Verstehbarkeil der Natur überhaupt Die Anfangs- und Grundfrage jeder naturphilosophischen Untersuchung lautet: Was ist die Natur? Worin liegt ihre Bestimmung an sich? Freilich, die Frage ist vieldeutig, insofern das von Fichte eingesetzte deutsche Wort „Bestimmung" eine mehrfache Bedeutung hat. Etwas bestimmen, besagt umgangssprachlich: es genau ausmachen und feststellen (constitutio), etwa in Bestimmung des spezifischen Artgewichtes eines Körpers. Erkenntnislogisch heißt bestimmen soviel wie: abgrenzendes Umgrenzen einer Sache in dem, was sie an sich selbst ist (definitio). So verstanden liefe die Frage nach der Bestimmung der Natur auf eine Erörterung ihres trefflichsten Horismos heraus, systematisch: in den verschlungenen Abgrenzungslinien von Natur und Gott, Natur und menschlicher Satzung ( ), Natur und Kunst ( ), Natur und Kultur, Natur und Geschichte und endlich Natur und res cogitans, Ich, Idee, Geist, und philosophiegeschichtlich: von Platons theologischer Fassung der Natur als dem „werdenden Gott" (Tim. 34a) oder als „Schmuckstück für die ewigen Götter" (Tim. 37c) über die „physikalische", präzise Aristotelische Eingrenzung als Ursprung des Entstehens, Bestehens und Vergehens der werdenden und wachsenden Dinge in diesen selbst (Phys. Bl;192bl3-14; vgl. Met. V,4;1014bl6-1015al3) bis zu Hegels äußerster Entgrenzung als absolute Idee in der Form des Andersseins. In solchem Untersuchungsfeld hat Fichte eigentlich keinen Platz. Auf der Grundlage der Wissenschaftslehre trägt die Natur das Kainsmal des Nicht-Ich an sich. Sie läßt sich lediglich negativ, als innerlich tot und nichtig definieren (in Hegels böse abschätzender Zuspitzung als „Leichnam des Verstandes"). Bestimmungen eines eigenständigen, grundgebenden Naturwesens, etwa in der Gestalt der Weltseele oder als versteinerter, träumender Geist, sind nichts als Schwärmerei und Dogmatismus.

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Stufenlehre

Nicht viel anders scheint es mit der zweiten Bedeutung von „Bestimmung" zu gehen. Bestimmung meint ja auch Aufgabe und Ziel (destinatio). So führen wir etwas seiner Bestimmung zu, indem wir es in dem verwenden, wozu es taugt und worum willen es da ist. Daher reden wir von der Bestimmung, die ein Mensch hat, und das Zeitalter gar - in einer Lieblingswendung - von der Bestimmung des Menschengeschlechts. Nun laufen Hinsichten auf das Wozu und Worum-willen alle auf die (nihilismusträchtige) Frage nach der Endbestimmung oder dem letzten Worum-willen heraus. Eine letzte Bestimmung, so es sie gibt, gäbe allem Sinn. Sie eröffnete zu allererst den Umkreis der Verstehbarkeit des Seienden in seinem vorgegebenen Was und aufgegebenen Wozu und hielte den Umkreis der Verstehbarkeit offen. Vorzüglich dieser Frage nach dem Sinn der Natur ist hier nachzugehen. Ausgespart bleibt mithin auch die spannungsreiche Erörterung der Zweckmäßigkeit des von Natur Seienden, etwa in Aufstellung der Gretchenfrage: ,Gilt die innere Zweckmäßigkeit des organisierten Naturprodukts real oder ideal?' Hier dreht es sich allein um die ebenso simple wie radikale Frage: Hat die Natur an ihr selber eine Bestimmung, die ihren Sinn aufschließt und sie für uns überhaupt im Grunde erst verstehbar macht? Nun gerät solche Frage in jedem Idealismus, der Grund und Sinn allen Lebens und Webens in ein Übernatürliches (die Freiheit des Willens, die Tathandlung, die intellektuelle Anschauung, den Geist) setzt, in Verlegenheit. Jedenfalls scheint der Natur kein eigenwüchsiger, sondern nur ein fremder, von außen eingelegter Sinn zuzukommen. Im Fragment „Ueber Zufall..." ist von Fichte lakonisch vermerkt: „Ein Sinn wird dem Naturfactum beigelegt, den es in seinem nothwendigen Bestehen, als Ausdruck des Naturgesetzes, an sich nicht hat" (SW VII, 592). Ist also Natur an ihr selber sinnlos? Versteht nicht einmal eine Vernunft, die doch im Bestand des Natur-Allgemeinen, der Gesetze, bei sich selbst sein soll, den tieferen Sinn der Natur? Öffnet sie sich uns allen erst von einem Sinn her, der ihr von woanders beigelegt ist? Und von woher käme ihr solche Bestimmung zu? Die Antwort auf solche Sinnfragen setzt offenkundig eine Vorfrage voraus: Ist Natur für den Menschen überhaupt verstehbar, oder bleibt sie uns in ihrem Innersten verschlossen? Wie tief können wir in sie eindringen, und wo stoßen wir auf Schranken unseres Erkennens und Verstehens? Auf unser Erkenntnisvermögen zurückgefragt: Ist die theoretische Vernunft, das erkenntnismäßige Erfassen von Naturbewegtheit, ihrer Er-

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scheinungsform und Gesetzlichkeit, dafür zuständig, oder ergibt sich der wahre Sinn der Natur im Felde der praktischen Vernunft bei Anwendung sittlicher und religiöser Prinzipien auf die Sinnenwelt? Eine erste Annäherung an diesen Problemkomplex stößt auf einen bemerkenswerten Widerspruch: Die Natur ist zugleich für unser Verstehen durchsichtig bis in ihr Inneres, und sie ist unbegreiflich bis zu Angst erregender Unheimlichkeit. „Die Natur, in welcher ich zu handeln habe, ist nicht ein fremdes, ohne Rücksicht auf mich zu Stande gebrachtes Wesen, in welches ich nie eindringen könnte. Sie ist durch meine eigne Denkgesetze gebildet, und muß wohl mit denselben übereinstimmen; sie muß wohl mir überall durchsichtig, und erkennbar, und durchdringbar seyn bis in ihr Inneres" (BdM; GA 1,6,260-261). Das ist ein Hauptsatz der „transzendentalen Physik". Die Natur ist nicht aus dem Nichts durch einen Schöpfergott zustande gebracht. Daß uns Natur als Nicht-Ich entgegensteht, ist eine notwendige Entgegensetzung des Ich, und die Grundbestimmungen der Natur sind Wesensgesetze der Intelligenz in ihrem Denken, Anschauen und Einbilden. (Daher kann die Religionsschrift zugespitzt sagen, der Begriff sei Schöpfer der Welt.) Konstituiert sich Natur sonach durch eine transzendentale Operation des Ich, dann stimmt die Erkenntnis mit der Naturgestalt darum überein, weil sie mit sich selbst übereinstimmt. Die Natur „drückt überall nichts aus als Verhältnisse und Beziehungen meiner selbst zu mir selbst" (ebd.). Der Erkenntnisweg in das Innere der Natur außer uns führt in das Innerste der Selbsterkenntnis zurück. „So gewiß ich hoffen kann, mich selbst zu erkennen, so gewiß darf ich mir versprechen, sie (sc. die Natur) zu erforschen" (ebd.). Da also die Natur in ihrer Grundbestimmtheit notwendiges Produkt eines ewigen Aktes im Ich ist, ist sie der Intelligenz nicht fremd und unheimlich, sondern vertraut und heimatlich. (Nirgends ist der Übergang zu Novalis so nahe wie hier.) Die Intelligenz erkennt in der Natur sich selbst, soweit diese ihre Produktion ist. Sie findet die Natur unbegreiflich, sofern sich an der Natur etwas findet, was nicht auf bewußter Vernunftproduktion beruht. Für solche Negation scheidet eine radikale Begründung aus, die Unbegreiflichkeit eines Dinges an sich. Als Ding an sich wäre die Natur ganz und gar unerkennbar und würde jede Sinngebung von sich abstoßen (was den Skeptizismus den Aenesidemus auf den Plan ruft). Fichte behält die Natur in Setzungen des Ich ein, aber unter den Kategorien von Entgegensetzung, Teilbarkeit, Wechselbestimmung und Übertragung. Von da-

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her erscheint Natur insgesamt als das Ganze bewußtloser Tätigkeit. Insofern sie bewußtlos tätig ist, erscheint sie dem Ichbewußtsein dunkel. Insofern sie bewußtlos tätig ist, erscheint sie durchsichtig, nämlich als verringerte Tätigkeit von Leben, Selbstbewußtsein, Geist, Licht, so wie das Dunkel in Wahrheit Licht von geringer Quantität ist. Transzendental nachgerechnet, bestimmt sich die bewußtlose Tätigkeit des Nicht-Ich als ein übertragener Teil derjenigen Tätigkeit, in welcher das Ich selbst kraft produktiver Einbildungskraft „vorbewußt" produziert. (An diesem Ansatz von Natur als einem übertragenen Quantum bewußtloser Produktion lassen sich Nähe und Ferne zu Schellings Naturphilosophie ermessen.) Freilich, niemals kann die Natur oder Sinnenwelt so durchsichtig werden wie die sittliche Welt. Das „Reich der Zwecke" ist ja durch und durch Produkt unseres freien Handelns auf dem Grunde selbstbewußter Autonomie. In Betracht der Natur aber stößt das Vorstellen und Handeln auf Schranken. „Die Welt ist nichts weiter, als die nach begreiflichen VernunftGesetzen versinnlichte Ansicht unsers eignen innern Handelns, als bloßer Intelligenz, innerhalb unbegreiflicher Schranken, in die wir nun einmal eingeschlossen sind" (GuG; GA 1,5,353). Diese Gegenthese stellt eine Unbegreiflichkeit im Verstehen der Natur fest. Sie stammt daher, daß die Natur Produkt eines Geistes ist, der endlich und unaufhebbar beschränkt bleibt. „Jene Schranken sind ihrer Entstehung nach allerdings unbegreiflich" (ebd.). Diese Unbegreiflichkeit hat schon der 3. Grundsatz der „Grundlage" festgestellt. Die Unbegreiflichkeit der Natur wurzelt in der Schrankenhaftigkeit und Endlichkeit eines Geistes, der sich schlechthin und unableitbar ein Nicht-Ich zum Teil entgegenstellt. Einem absolut und ohne Schranken gedachten Geist kommt die Struktur der Selbstbezogenheit, wie sie in Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung vorliegt, niemals zu, und eine selbstbewußte und sich selbst bestimmende Vernunft kommt ohne Schranke niemals aus. Und kein Mensch vermag, die Schranken seiner Endlichkeit zu durchdringen und genetisch aufzuklären. Zwar ergeben unsere Schranken im Lichte einer moralisch-theologischen Weltansicht einen klaren Sinn, nämlich den, die bestimmte Stelle in der moralischen Ordnung des Ganzen zu bilden, gleichwohl bleiben sie erkenntnismäßig unableitbar. Darum findet sich der Mensch, obwohl die Sinnenwelt nichts als die versinnlichte Ansicht der Handlungen unserer Intelligenz ist, in seinen Schranken vor etwas Unbegreiflichem. So behält unser Naturverhalten allen Vermitt-

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lungen durch Sinngebungen der moralisch-praktischen Vernunft zuvor etwas Undurchschaubares an sich. Baut der neuzeitliche Mensch nun ganz auf die Durchsichtigkeit des sich begreifenden Begriffs, dann verliert er angesichts der Unbegreiflichkeit der Natur den Boden unter den Füßen. Was ihm als Bild seiner geistigen Produktion vertraut schien, wird ihm unheimlich. „Es ist dem Menschen nicht zu verargen, wenn ihm bei dieser gänzlichen Verschwindung des Bodens unter ihm unheimlich wird" (ebd.). Nirgends ist der Übergang zu Hegel so fern - und eine Affinität zu Sartre so nahe - wie hier. Jedenfalls ist der transzendentale Grund dafür gefunden, warum die Natur als das Andere des Geistes allein auf dem Wege existenzialer Erschließungen in ihrer Unheimlichkeit begegnen kann. Es ist charakteristisch, daß Fichte nicht das Hegeische Vertrauen teilt, wonach die wahrhafte Gestalt des Begriffs, das Allgemeine, als das Innere der Natur vollständig aus seiner Verborgenheit unter dem Auseinander der vielen Gestalten ins Offene kommt. Hegels Zutrauen, in der Natur spreche der Begriff zum Begriff, findet seine Grenze eben in der Erfahrung, daß die menschliche Vernunft in der Unheimlichkeit der Natur niemals ganz bei sich und zu Hause sein kann. Aber es ist ebenso charakteristisch für die Welt- und Natureinstellung Fichtes, daß das Bedrohliche und Unheimliche der Natur nicht etwa durch die Erschließungskraft der Stimmungen ausgelotet wird: in der Furcht vor schrecklichen Katastrophen, die auf uns zukommen, oder in der Angst vor der Unheimlichkeit und Unbehaustheit menschlichen In-der-Naturseins überhaupt. Das Bedrohliche wird Anstoß zur Bändigung, das Unheimliche Aufforderung zur Urbanisierung in einer tiefen Verwurzelung unseres Daseins im freien Willen und in einer unenttäuschbaren Hoffnung. Wie also steht es mit der Bestimmung der Natur hinsichtlich ihrer durchsichtigen Definibilität und sinnträchtigen Verstehbarkeit? Die Antwort scheint widersprüchlich. Natur ist durchsichtig bis in ihr Inneres, und sie ist verschlossen in dunkler Unheimlichkeit. Sie erscheint notwendig durchsichtig und unheimlich zugleich, weil sie Produkt einer Intelligenz ist, die unaufhebbar in den Schranken ihrer Endlichkeit eingeschlossen bleibt. Der Widerspruch kann im Gebiet der theoretischen Vernunft nicht aufgelöst werden. In theoretischer Wissenschaftslehre herrscht die Hauptantithesis von Endlichkeit und Unendlichkeit bis zum Schluß, da die Intelligenz als absolute Selbsttätigkeit ins Unendliche geht und sich zugleich als Erkennen von Objekten verendlicht. Daher

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Stufenlehre

vermag die Naturphilosophie als Teil der reinen theoretischen Vernunftlehre viel, nämlich in transzendentaler Methode Auskunft über die alten Fragen der „Zweiten Philosophie" zu geben: Was ist die Zeit? Was ist der Raum? Was sind Teilbarkeit und Kontinuität? Wie steht es mit Materie, Körper, Leib? Und wie mit Zweckkausalität und Organismus im Naturprodukt oder mit Kausalität und Zufall im Naturmechanismus? Das betrifft Fragen einer generellen Naturbetrachtung, für welche die Wissenschaftslehre durchaus eine tragfähige Grundlage bereithält. Aber eben diese kritische, sich auf das a priori Erweisliche beschränkende Grundlegung schließt Fragen einer speziellen Naturphilosophie aus. So finden sich in Fichtes Systembau nirgendwo zusammenhängende Spekulationen über Probleme der Gravitation und chemischen Action, der Elektrizität und des Elektrochemismus, des Galvanismus und der Voltaschen Säule, des Magnetismus als Funktion der Materie oder des Mesmerismus131 oder über Sensibilität, Irritabilität, Reproduktion als organische Kräfte und dergleichen Naturphilosophismen mehr. Und das nicht (nur) darum, weil Fichte ein rechter Ignorant in allen speziellen Fragen der Physik war, sondern eigentlich darum, weil er eine apriorische Naturerklärung auf das Grundsätzliche einschränkte, um der empirischen Naturforschung den ihr gebührenden Platz einzuräumen.132 131

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Charakteristisch mögen Fichtes Reflexionen über den animalischen Magnetismus im „Tagebuch" (Protokolle therapeutisch-hypnotischer Experimente des befreundeten Berliner Arztes Karl Christian Wolfart 1778-1832, an denen Fichte teilnahm, und Auszüge über hypnotische Heilbehandlung, vorzüglich aus Franz Anton Mesmer, Die Richtung des Magnets; NW 111,295-344) sein: Fichte setzt den Zustand somnambuler Hellsichtigkeit in Analogie zur Evidenzmitteilung und vermerkt, in der Hypnose steige die Herrschaft über die Natur; vgl. Günter Schulte, .Übersinnliche' Erfahrung als transzendentalphilosophisches Problem. Zu Fichtes „Tagebuch über den animalischen Magnetismus" von 1813, in: TrG,278-289. Reinhard Lauth, Die transzendentale Naturlehre Fichtes nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1984 setzt in einer bewundernswerten Rekonstruktion Fichtes Naturphilosophie gegen das schon unter Zeitgenossen umlaufende Vorurteil, Fichte habe die Natur übergangen und sei ein wahrer Ignorant in allem, was Physik und Natur betreffe, in ihr Recht und ihre festen Grenzen ein. Dabei wird strikt der Limes zwischen einer speziellen und einer generellen Philosophie der Natur eingehalten. Bei Fichte gibt es eine völlig geschlossene philosophia naturalis, wenn auch nicht in einer eigenen Abhandlung. Sie folgt der Frage: Was kommt der Natur notwendig zu, wenn das Wissen sich als solches konstituiert? Sie expliziert in einer theoretischen und praktischen Konstitutionsanalyse das anorganische Objekt, den Aufbau der objektiven Außenwelt, die Konstitution der or-

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Und Fichte weist schließlich auch die Grundfrage „Was ist die Bestimmung der Natur?" aus dem Gebiete der theoretischen Gegenstandserkenntnis aus. Wird sie darum der praktischen Vernunft überantwortet? Die ethisch-praktische Vernunftlehre fragt doch nach dem Sinn und letzten Worum-willen menschlichen Handelns. Aus dieser Fragerichtung verbreitet sich Klarheit über die theoretisch unbegreiflichen Schranken unserer Welterkenntnis. „Die Bedeutung derselben ist das klarste, und gewisseste, was es giebt... Unsre Welt ist das versinnlichte Materiale unsrer Pflicht" (ebd.). Dieses vielfach anstößige Diktum gilt als das erste und letzte Wort in Fichtes Bestimmung der Natur. Das ist es nicht.

12.2 Die vielfältige Bedeutung der Natur. Überblick über einseitige Natureinstellungen menschlicher Vernunft Die berüchtigte und verspottete Bestimmung der Natur als das versinnlichte Material unserer Pflicht und der Sinnenwelt als Sphäre pflichtmäßigen Handelns ist rigoros, aber konsequent. Sie folgt zwingend aus einem zentralen Gesichtspunkt des erscheinenden Geistes, der Moralität. Um aber die Reichweite einer transzendentalen Phänomenologie des erscheinenden absoluten Seins und Lebens nicht zu verkürzen, muß gerade unter dem Eindruck eines panethischen Idealismus eingeschärft werden: Der Standpunkt der Moralität als principium primum der Weltauslegung ist weder der erste noch der letzte. Der reine Moraganischen Natur wie den Menschen als biologisches Lebewesen. Dabei finden Natur und Naturlehre ihren angemessenen Ort im Gesamtsystem des Bewußt-Seins. Nun hängen diese transzendentalen Ableitungen methodisch bewußt von apriorischen Naturbestimmungen ab. Daher weisen sie in kritischer Selbstbeschränkung Spekulationen im Stile Schellings (über Gravitation, Elektrizität, Galvanismus oder Magnetismus) auf dem Boden einer objektiven Subjekt-Objekt-Einheit ab, um der empiristischen Naturforschung ihr zuständiges Gebiet freizugeben. Dort sind Beobachtung, instrumentelle Messung, Experiment, Generalisierung, induktive Gesetzlichkeit und im Scheitern fortschreitende Hypothesen völlig angebracht; denn es gibt, gerade weil die Natur Bild eines freien, endlichen Bildens ist, ein echtes Aposteriori: Basisdaten der Wahrnehmung lassen sich nicht erräsonieren, sondern nur historisch-empirisch auffassen. Mithin eröffnet die transzendentale Konstitution der Natur von ihr selbst her einen unaufhebbaren Freiraum reiner Empirie.

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listnus bildet eine Stufe in einer umfassenderen Bild- und Erscheinungslehre, und von ihm gilt dasselbe Monitum, das auch die anderen kapitalen Welteinstellungen unserer Vernunft warnt: Wird ein Teilstück zum Einen und Ganzen überdehnt, dann droht die Gefahr, den komplexen Vernunftzusammenhang zu vereinseitigen. Vereinseitigungen bedrohen alle möglichen abgerissenen Vernunftansichten, die Moralität ebenso wie den Naturglauben, die Legalität ebenso wie die Religion. Die daraus resultierende, oft genug leidenschaftlich und ingrimmig geführte Kontroverse über die angemessene Bestimmung der Natur läßt sich schlichten, wenn in einer wissenschaftlich-transzendentalphilosophischen Vorverständigung die Fälle möglicher Verzerrungen durchdekliniert werden. Dazu lassen sich Andeutungen gut verwenden, die der 28. Vortrag der Wissenschaftslehre im Juni 1804 gemacht hatte.133 Wie also kommt Natur auf den einzelnen Stufen des erscheinenden Geistes vor? Gezielter, mit kritischer Vorsicht .gefragt: Welcher Sinn dirigiert auf den verschiedenen Stufen menschlicher Seins- und Selbstauslegung unser Naturverständnis? Die größte ontologische Dignität wird der Natur auf der ersten Stufe eines Naturglaubens zuerkannt, der sich unkritisch versteigt. Hier steht Natur als Inbegriff aller sinnlich sich bekundenden Gegenstände im Ansehen, das einzig Reale und alles Determinierende zu sein. Solcher Glaube an die Natur an sich zieht folglich den Sensualismus, der die Sinnlichkeit zum Prinzip aller Erkenntnis erhebt, wie einen Materialismus, der Freiheit und Indeterminismus verneint, groß. Transzendental nachgerechnet, hängt diese Grundstellung im Dogmatismus fest. Sie hält sich an eine an ihr selbst bestehende Natur als feststehendem, vom Werden der Freiheit und des Selbstbewußtseins unberührtem Bild. Ihr erscheint das, was hingeschautes Bild des Bewußtseins ist, als an sich und unabhängig für uns bestehend und als das uns Bestimmende. Der Naturglaube macht das, was doch erst in und aus der Relation zum Ich besteht und verstehbar wird, zum Absoluten.134 So steht es mit dem Weltbild des platonischen Höhlenbewohners, 133

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Gegen die Falschheit der geschichtsträchtig gewordenen Auffassung von der Natur als bloßem Material der Pflicht und für eine zu erneuernde schöpferische Naturansicht aus dem Standpunkte der sogenannten höheren Moral argumentiert umsichtig differenzierend Helmut Girndt, Die fünffache Sicht der Natur im Denken Fichtes, in: FichteSt 1(1990)108-120. Die Abhandlung erreicht ihr Ziel, scheinbar unvereinbare Äußerungen Fichtes über die Natur aus der fünffachen Naturansicht miteinander verträglich zu machen. So avanciert die niedrigste Weise, die Welt zu nehmen, zur „Ansicht unserer

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der Bild und Sein, Schein und Wahrheit verwechselt, indem er das sinnlich Bekundete für das einzig Reale und gar für das Bleibende und Wahre hält. Verwunderlich daran ist die Hartnäckigkeit, mit der wir alltäglich und zumeist an dieser oberflächlichen, im ersten Nachdenken sich in Widersprüche verwickelnden, verworrenen Naturansicht festhalten. Das liegt daran, daß Weltansichten in eins Lebenshaltungen sind und daß wir das leben, was wir lieben. Die Natur aber liebt der Mensch mit allen Sinnen; denn die Sinnenwelt verspricht sinnliche Befriedigung und Belebung. Und wir hängen mit Leib und Leben an ihr; denn sie erhält uns nicht nur, sondern erfreut auch den Sinn, dergestalt, daß das Schöne als Angenehmes erscheint: als Wohlriechendes oder Wohlschmeckendes oder Schönscheinendes. Dabei gilt für das ästhetische Naturverhältnis dasselbe, was für alle Vereinseitigungen im Stufenbau der Vernunftansichten gilt: Nicht die Lust am Angenehmen ist zu beklagen, wohl aber die Reduzierung der Naturschönheit auf das sinnlich Genießbare. Mithin gründen Naturglaube und „Materialismus" nicht in Prinzipien der Logik, sie wurzeln in elementaren Antrieben der Liebe zum Sinnlichen. Immerhin ist es konsequent, wenn sich das theoretische Dogma vom Naturhaften als Ding an sich auch auf den Menschen als Sinnenwesen und Naturding erstreckt, so daß sich Naturdogmatismus und Genußeudämonismus zur Einheit einer Weltsicht verbünden. Ist der Mensch ein Naturwesen unter anderen im Ganzen der Natur, dann herrscht in ihm nichts als der Naturtrieb. Und dieser dringt auf Selbsterhaltung und Lebensgenuß. Damit wird das, was Gebiet der Pflicht sein soll, zum behufe des Genusses freigegeben. Und das ist nicht Resultat einer abstrakten Konstruktion, es ist geschichtliche Wirklichkeit in einem „aufgeklärten" Zeitalter, welches das Interesse der individuellen Selbsterhaltung und das persönliche Wohlsein auch zur Bestimmung der Natur macht. Daher Weltweisen und des in ihrer Schule gebildeten Zeitalters" (AsL; SW V.466). Das trifft nicht nur den vorkritischen Dogmatismus und Eudämonismus einer falschen Aufklärung, es richtet seine Spitze auch gegen die „Naturphilosophie". Diese nimmt die Natur als Inbegriff alles Objektiven in unserem Wissen zum Anfangsgrund, um daraus die Einheit von Subjektivem und Objektivem zu entfalten. Das ist ein Naturglaube ohne jede Logik. Sie glaubt nämlich, von der Natur zur Intelligenz zu kommen, da sich zeigen lasse, daß die Natur von sich aus sich in Geist verkläre. Aber ist das möglich, ohne daß die Natur schon in ihrem Wesen Geist ist, und sei es bewußtlos produzierender, „träumender" Geist oder „versteinerte", „gefrorene" Intelligenz?

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kommt die Natur in ihren Kräften und Produkten nurmehr als das materiell Nützliche und bestenfalls als das dem Luxus Dienliche in Frage. Naturglaube, auf den Säulen von Empirie und Selbstsucht, schließt die Ausbeutung der Natur ein. Das ist für Fichte eine Verzerrung der wahren geistigen Herrschaft über die Natur. „Jene höhere Herrschaft aber über die Natur, wodurch der widerstrebenden das majestätische Gepräge der Menschheit als Gattung, ich meine das der Ideen, aufgedrückt wird, und in welcher Herrschaft das eigentliche Wesen der schönen Kunst besteht, wird es nicht kennen" (GgZ, 2. Vorl.; GA 1,8,215). In diese dogmatisch-eudämonistische Grundstellung fügen sich nun dem Vernunftschema der Fünffachheit zufolge die anderen Hauptansichten ein. Das Recht reduziert sich dann auf Regulierungen im Verteilen des Genusses, etwa nach dem Zuteilungsgesetz „Jedem nach seinem Bedürfnisse!". Moralische Normen halten den zur Begierde und zur Pleonexie auswuchernden Genußwillen zur Mäßigung an, und zwar gemäß einer vulgär-epikureischen Maxime des „Nichts zuviel!". Und Religion hat ihr Element dann in mythenbildender Verehrung von Naturmächten und findet ihren Ausdruck im Bitten an Himmel und Erde um unser tägliches Brot. Das aufgeklärte Zeitalter verwandelt - dem Schema der Fünffachheit in den „Grundzügen" zufolge - die Religion in eine schiere Glückseligkeitslehre. Und diese kennt eben nur das Gebot, mäßig genießen zu sollen, um lange vieles genießen zu können. „Ein Gott wird ihm nur dazu da seyn müssen, damit er unser Wohlseyn besorge, und bloß unsre Bedürftigkeit wird es seyn, die ihn ins Daseyn gerufen" (GA 1,8,216). Analoge Vereinseitigungen resultieren aus der Verabsolutierung des Legalitätsstandpunktes. Auf ihm hat sich die Welteinstellung aus Sorge um das rechte menschliche Zusammenleben vom äußeren Naturglauben losgerissen. Daher zählt nur eine Substanz, welche die Welt menschlich einrichtet: das alles fügende Recht in der Gemeinschaft von Rechtspersonen. Welche Bestimmungen fallen der Natur und Sinnenwelt auf der Stufe der verabsolutierten Rechtsidee zu? Fichte findet die Formel einer Sphäre „zum Behuf der bürgerlichen Industrie" (GA 11,8,418). Natur erscheint gleichsam als Material des Bürgerfleißes. Sie findet sich unter das bürgerliche Recht gestellt und den Urrechten auf Arbeit und Eigentum zugeordnet. Sofern nun der Bürgerfleiß (industria) im Fördern, Veredeln und Verteilen von Natur-Rohstoffen besteht, reduziert sich Natur wesenhaft auf ein Lager von Rohstoffen. Gleichwohl braucht diese Naturauffassung nicht abträglich oder gar verdammenswert zu sein, ge-

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setzt, sie ordnet sich in die höheren Welteinsichten der Vernunft ein. Sie wird - zumal im Zeitalter moderner Maschinentechnik und einer „Seinsvergessenheit", welche zuerst die Naturverantwortung des Menschen, des „Hirten der Freiheit als Dasein Gottes", vergessen hat - verheerend, wenn sie sich absolutistisch gebärdet und die anderen Vernunftansichten subordiniert. Daher geht eine weiterreichende, von Fichte nicht ausgefächerte Frage dahin, wie an diese Bestimmung der Natur die legalistisch gefärbten Vernunftsichten von Sittlichkeit und Religion anknüpfen. Nun fallen auf dem Standpunkt der Legalität Rechtlichkeit und Moralität zusammen. Moralität beweist sich - unangesehen der Gesinnung und des guten Willens - sodann in der Wirklichkeit von Taten und Unterlassungen, die dem Zugriff des Rechts offenstehen, d.h. die justitiabel sind und unter Zwangsgesetze gestellt werden können. Das färbt auf eine ökologische Ethik ab. Von hier aus legt sich eine Naturethik nahe, welche Naturdingen den Status von Rechtspersonen einräumt und Übergriffen gegen die Natur den Prozeß macht. Und insofern die Legalität den Glauben an Gott als eine höhere, über den Arm des staatlichen Rechtszwanges hinausreichende Polizei nährt, erwächst daraus eine Auffassung, daß Sünden gegen das Naturleben als Strafe auf die Menschheit zurückfallen werden. Entsprechende Übersteigerungen erwachsen auch aus dem vertieften Standpunkte der Moralität. Strenge Sittlichkeit, bauend auf das Prinzip der Autonomie und dessen Anwendbarkeit im sittlichen Trieb nach Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen, läßt die Natur nurmehr als Material der Pflichterfüllung zu. Diese Formel bekommt nun einen gefährlichen Sinn. Das Bewußtsein auf der Höhe der Sittlichkeit vermittelt zunächst der an ihr selbst nichtigen Natur eine erhabene Bestimmung, nämlich Zeit-Raum für das Handeln aus Pflicht und Sphäre für die Ausbreitung des sittlichen Triebes zu sein. Sicherlich bringt Moralität dabei für den Menschen die Forderung auf, seine eigene innere Natur dem kategorisch Gebotenen zu unterwerfen, so daß die Natur außer uns nur mittelbar über die Selbstunterwerfung der inneren Sinnlichkeit und Naturgebundenheit zum Medium pflichtmäßigen Handelns wird. Gleichwohl gilt auch für diese Stufe, die ja nicht die höchste Vernunftansicht repräsentiert: Wird der Primat moralischer Selbstbestimmung verabsolutiert, dann wächst die Riesengefahr, das Naturverhältnis als Unterwerfungskrieg mißzuverstehen, so als wäre Natur das unverständige Andere und vernunftwidrige Nicht-Ich, das in einem nie endenden Kampfe un-

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terworfen werden muß, damit sich menschliche Vernunft und autonome Freiheit in der Sinnenwelt durchsetzen. Daß die Wissenschaftslehre selber solche Gefährdungen des Vernunftblicks einkalkuliert, läßt sich an der kritischen Vorzeichnung belegen, in der sie Gott, Recht und Natur an die zum ersten Anfangsgrund übersteigerte Moralität anfügt. „So ist bei der Moralität als Princip allerdings auch ein Gott, aber nicht um sein selbst willen, sondern damit er über das Sittengesetz halte, und hätten sie kein Sittengesetz, so bedürften sie keines Gottes; und es sind ihnen Menschen ausser sich, auch nur lediglich, damit sie sittlich seien oder werden, und eine Sinnenwelt, lediglich als Sphäre des pflichtmäßigen Handelns" (ebd.). Das klingt doch wie ein kräftiger Vorbehalt gegen eine Weltanschauung, die nur aus Moral besteht. Wie es auf dieser Vernunftstufe mit der Schätzung der Natur aussieht, läßt sich leicht ermessen. Da sich moralische Achtung allein auf die Würde und den Selbstzweck freier Vernunftwesen erstreckt, bleibt der Natur eine eigene Würde versagt. Und weil Gott hier gleichgesetzt ist mit der moralischen Ordnung, sind auch alle Spuren göttlicher Gegenbildlichkeit aus der Natur getilgt. Ihr einziger Sinn konzentriert sich darauf, die Sphäre zu sein, in welcher sich die Gesinnungen eines guten Willens versinnlichen können. Das ändert sich vom vierten Standpunkt, dem der Religion, aus grundsätzlich und mit einem Schlag. Hier erscheint alles, Natur, Recht, niedere und höhere Moralität, Natur, „als Ausfluß des Einen göttlichen Lebens" (ebd.). Aber auch hier ist vorab zu bedenken, wie die Bestimmung der Natur überlichtet werden kann, wenn der Zusammenhalt des Einen und Ganzen nicht in einer transzendental gebildeten Wissenschaft durchsichtig gemacht wird. Dann nämlich bleibt eine Creatio-Metaphysik im Schwange, welche die Natur als Schöpfung Gottes feiert, und in ihrem Gefolge die Kosmotheologie, welche aus der wunderbaren Zweckmäßigkeit des Kosmos auf einen göttlichen Weltbaumeister und Gubernator schließt. Oder es herrscht eine Rousseauische Scheinfrömmigkeit, welche die Natur, wie sie aus den Händen Gottes kommt, gut sein läßt, um ihre Zerstörung durch die Eigensucht der menschlichen Gesellschaft beklagen zu können. Einseitige Ehrfurcht vor der von Menschenhand unberührten Natur führt zum pseudoreligiösen Eifer, jede Modifikation der Natur als Todsünde zu verdammen. Schließlich finden so Emanations- und Pantheismustheorien aller Art freie Bahn. Diese haben eines gemeinsam, nämlich die Natur als unmittelbares Bild Gottes zu verstehen, ohne die Vermittlungen durch das einzige Dasein des Ab-

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soluten, das Selbstbewußtsein und den Willen des Menschen, zu reflektieren. Es sollte am Ende dieser Prolegomena einleuchten, daß die gegenwärtigen Verabsolutierungen der Natur - sei es vom Standpunkte eines evolutionären, „hypothetisch-realistischen" Naturalismus, Öko-ethischen Biozentrismus oder des politiko-theologischen Rousseauismus135 Spielarten vereinseitigter Vernunftstandpunkte sind. All diese jederzeit wiederholbaren Verzerrungen der Naturbestimmungen kommen ins Lot, wenn die transzendentalen Vermittlungen durch die Bestimmung des Menschen zureichend in Anschlag gebracht werden. Das sollte Klarheit in die verworrenen Verhältnisse von Natur und Kultur, Natur und Technik, Natur und Sittlichkeit, Natur und Gott bringen. 12.3 Natur und Kultur. Rehabilitierung der Kultivierung im Zuge einer Bestimmung des Menschen an sich (Von den Pflichten der Gelehrten, 1794, l. Vortrag) „Die Sinnlichkeit soll kultivirt werden" (BdG; GA 1,3,31). Dieses Sollensgebot erstreckt sich nicht nur auf die cultura animi und die sinnliche 135

Helmut Girndt, Über den Umgang mit der empfindungsfähigen Natur nach J.G. Fichte, in: TaS, 134-146 prüft die umweltethische Frage nach dem rechtlichen und moralischen Status von Tieren, Pflanzen, Steinen im Hinblick auf den Umgang mit dem Kreise empfindungs- und leidfähiger Naturwesen mit dem Ziel, Fichtes Theorie der Anerkennung auf eine prärationale Quasianerkennung von nicht-personalen, zwar determinierten, dennoch aber lust- und schmerzbestimmten Lebewesen auszudehnen, um ein rücksichtsloses, tierquälerisches, nur an technischpraktischer Instrumentalisierung orientiertes Vorgehen gegen die empfindungsfähige Natur zu ächten. - Aber kontrastiert damit wirklich das vorgeblich genuine Fichtesche Programm eines planmäßigen Ausrottungskrieges gegen die raubtierhafte Natur? Allerdings kann nach Fichte von einer Anerkennung unter der Bedingung der Wechselseitigkeit zwischen Tier und Mensch keine Rede sein. Wie Schlangen, Urwälder oder Felsen keine Pflichten gegen mich haben, so hat auch der Mensch keine (interpersonale oder quasi-interpersonale) Pflichten gegen Getier, Gewächse, Gestein. Wohl aber gehört es zur Bestimmung des Menschengeschlechts, die bedrohliche Natur zu überwinden, um Platz zu bekommen für ein befreundetes Schonen, Pflegen, Hüten und Zusammenleben mit den uns nächsten Naturwesen, denen die Lebensgefühle von Lust und Schmerz wohl zukommen (GA IV,l,404. - GA 11,3,196) und mit denen wir uns in den Grenzen einer naturhaften Empfindungssprache auch verständigen können (GA 11,3,225).

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Triebnatur in uns, es ergeht auch an das Verhalten des Menschen zur Natur und Sinnenwelt extra nos. Solche Nötigung steht im Zusammenhang mit der Fichteschen Grundfrage nach der Bestimmung des Menschen. Sie wurde im 1. Vortrage des Jenaer Publikums De officiis eruditorum - Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (am Freitag, dem 23. Mai 1794, einem bemerkenswerten Tag der neueren Geistesgeschichte) vor etwa 500 Zuhörern erörtert. Daran sei hier lediglich in der Absicht erinnert, denjenigen Grundbezug des Naturbegriffs zu klären, der das Zeitalter Rousseaus aufgeregt hatte, das Verhältnis von Natur und Kultur, in Fichtes Fassung: von Sinnlichkeit und Kultivierung. Von der Kultur sagt Fichte: „Sie ist das lezte und höchste Mittel für den Endzweck des Menschen, die völlige Uebereinstimmung mit sich selbst, - wenn der Mensch als vernünftig sinnliches Wesen; sie ist selbst lezter Zweck, wenn er als bloss sinnliches Wesen betrachtet wird" (ebd.). Maßstab dieser Zweckzuordnung ist die Destination des Menschen, d.i. die ihm abgenötigte Aufgabe. Deren Feststellung bewegt sich vorerst im Umkreise einer Bestimmung des Menschen „an sich". An sich heißt hier: nicht in Relation auf andere Vernunftwesen außer uns. Vom Wesensbezug zum alter ego (dem Nicht-Ich-Ich), zum auffordernden Du, zur Rechtsperson im Rechtsstaat, zum Weltbürger der Gesellschaft, gar zur Interpersonalität der sittlichen Gemeinde wird methodisch abstrahiert. Eine Bestimmung des Menschen an sich konzentriert sich auf die unabtrennbare Entgegensetzung zur Natur unter dem problemreichen Titel eines Nicht-Ich.136 136

Diese Korrelation umgreift entschieden auch die Selbstverhältnisse des Organischen. Das organisierte Naturprodukt ist dabei gut Aristotelisch durch eine zweifache Abgrenzung gegen das Kunstprodukt definiert (NR § 6; GA 1,3,378): Beim Artefakt, einem Hause zum Beispiel, dienen die Teile dem Ganzen und das Ganze einem Zweck außer ihm, dem Wohnen des Menschen. Beim Naturwüchsigen dagegen, einer Pflanze zum Beispiel, ist nicht nur jeder Teil um willen des Ganzen, das Ganze ist auch um willen der Teile, und darin, die eigenen Teile zu produzieren, liegt der Zweck des Ganzen. Zum anderen ist im Kunstprodukt der innere Bildungstrieb ertötet, so daß seine Zusammenstellung nach mechanischen Gesetzen durch einen Urheber außer ihm geschieht. Im Naturorganismus dagegen bringt jeder Teil durch seine innere Lebenskraft sich selbst und so alle Teile des Ganzen hervor, dergestalt, daß er sich fortdauernd produziert und darin erhält. Die Streitfrage einer neuzeitlichen Naturphilosophie dreht sich um die Grundlegung der Naturorganisation und des organischen Lebens überhaupt. Dafür bieten die Angabe physisch-chemischer „Kräfte" zu wenig und die ontologische Vorgabe einer objektiven Subjekt-Objekt-Einheit zuviel an. Grundsätzlich läßt sich der Geist nicht

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Das neuzeitliche Gepräge erhalten Natur und Naturhaftes so nicht durch Abgrenzung gegen Kunst und Kunstprodukt im Blick auf Bewegtheit, Ursächlichkeit und Zweckhaftigkeit, sondern in der Korrelation von Sinnenwelt und menschlicher Intelligenz in der ursprünglichen Sich-Entgegensetzung eines Nicht-Ich. „Natur", „Sinnenwelt", „NichtIch" benennt alles, „was als ausser dem Ich befindlich gedacht, was von dem Ich unterschieden und ihm entgegengesezt wird" (GA 1,3,28). Außer dem Ich befindet sich die in der unendlichen Zeit und in dem gediegenen Raum, den sie ausfüllt, ablaufende, unvollendbare, unabschließbare, sich selbst gleiche Einheit der Natur. Sie ist vom Ich unterschieden: in der unfreien Befangenheit der Selbstorganisation. Vom Ich im Stande der Intelligenz und Freiheit bleibt „das unabhängige Nicht-Ich... oder die Natur" (GA 1,3,43) durchaus verschieden. Selbst wenn man der Natur Intelligenz und Freiheit zugestände, niemals kann ihr eingeräumt werden, einen Zweckbegriff zu fassen (vgl. NR § 3; GA 1,3,346). Das Wirken des Naturhaften geschieht nicht gewollt als ein Tätigsein nach Begriffen unter Voraussetzung des Zwecks, sondern kausal als Abfolge von Ursache und Wirkung. Das Brennen eines Hauses folgt auf das Einschlagen des Blitzes. Das von Menschenhand angezündete Feuer im Herd dagegen ist von einem vorgesetzten Zweck geleitet. Und wir zürnen nicht dem Feuer, das unser Haus niederbrennt, wohl aber dem Brandstifter, der es vorsätzlich legt. Also bleibt das Naturhafte als Nicht-Ich vom Ich genau unterscheidbar. Und es ist ihm entgegengesetzt nicht nur theoretisch als durchsichtiger Gegen-Stand der Erfahrung, sondern auch befindlich als das unheimlich Bedrohende. Solches Vorverständnis von Natur und Naturprodukt ist nun mit der Aufgabe des Menschen an sich zu verklammern. Seine Bestimmung besteht in Kantischer Tradition darin, die Widersprüchlichkeit seines geistig-naturhaften Doppel wesens zu vereinen. Das fordert dem Menschen an sich ab, das reine und freie Ich mit dem empirischen, leibhaft-naturgebundenen Ich in Übereinstimmung zu bringen. Die dialektische Aufhebung dieses Gegensatzes bringt die öffentliche Vorlesung von 1794 ohne subtile Deduktion, allein unter Berufung auf das Gefühl für die Würde der Person nahe. Der Mensch (als vernünftig-sittliches Ich) ist, weil er ist, nämlich Selbstzweck und nicht bloßes Mittel für anderes. aus dem Leben und das Leben nicht aus okkulten Qualitäten, wohl aber die organische Natur aus dem vernünftigen Bilden (der reflektierenden Urteilskraft) erklären.

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Ebenso unleugbar gilt die Antithese: Der Mensch (als leibhaft sinnlichbegehrendes Ich) ist, weil etwas außer ihm ist. So existiert er alltäglich zumeist nicht in Übereinstimmung mit sich, sondern veruneinigt durch den Widerspruch zwischen den Strebungen der Natur und den Vorsätzen der Vernunft. Die Veruneinigung aufzuheben, ist Bestimmung des Menschen an sich. Damit das glückt, darf die Vernunft weder der Sinnlichkeit weichen noch die Naturhaftigkeit vernichten. Vielmehr kommt alles darauf an, das Nicht-Ich in unendlicher Annäherung dem Ich anzugleichen und die bloße Natur unter die Gesetze der Freiheit und Vernunft zu stellen. Dazu verhilft die Kultur. Die Sinnlichkeit soll kultiviert werden, damit der Mensch ganz Mensch sein kann. Als Korrelat der Natur heißt Kultur bei Fichte in einem allgemeinen Umriß eine erworbene Technik und durch Übung erhöhte Geschicklichkeit, die Natur außer uns und in uns nach unseren Begriffen zu modifizieren. Dieser Kulturbegriff umfaßt primär nicht den Entwicklungs- und Bildungsstand von Kunst, Literatur und Wissenschaft eines Kulturkreises oder der Kulturnationen, sondern die Handlung und Tat der Kultivierung. Und Kultivierung erweist sich als eine Tätigkeit, die untrennbar zur Bestimmung des Menschen gehört. Daher läßt sich der KulturStand des Menschen nicht nur aus geschichtlicher Erfahrung ein- und abschätzen, Fichte hat seine Annahme streng a priori deduziert und gerechtfertigt. Die Schritte dieser transzendentalen Herleitung sind folgende: Ohne Kultivierung der Natur außer uns und in uns gelingt keine wirkliche Angleichung der Sinnlichkeit an Freiheit und Vernunft; ohne solche Angleichung kommt keine Übereinstimmung von reinem und empirischem Ich zustande; ohne solche Übereinstimmung existiert keine Humanität. Die Bestimmung des Menschen an sich, das Werk, das der Mensch als Mensch zu verrichten hat, wäre eine sinnlose Aufgabe. Aber bedeutet solche Angleichung an das Willenswesen des Ich nicht eine Vernichtung der Natur in ihrem Eigenwesen? „Alles vernunftlose sich zu unterwerfen, frei und nach seinem eignen Gesetze es zu beherrschen, ist lezter Endzweck des Menschen" (BdG; GA 1,3,32). Das klingt nach einem gewalttätigen Unterjochungskrieg, den der Mensch zwar niemals endgültig gewinnen kann, den er aber in stetiger Erweiterung seiner Herrschaft zu führen hat. „Also, die Vernunft liegt mit der Natur in einem stets daurenden Kampfe; dieser Krieg kann nie enden, wenn wir nicht Götter werden sollen" (GA 1,3,45). Die Staatslehre 1813 wird die Unterwerfung der äußeren Natur als Auftrag göttlichen Willens deuten (vgl. SW IV,585). Radikalisieren solche The-

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sen nicht das biblische „Macht euch die Erde Untertan!" der priesterschaftlichen Schöpfungsgeschichte (Gen 1,28), die Magna Charta der Herrschaft des Menschen über die Natur, indem sie die Natur als das Andere des Geistes bekämpfen heißen? Indessen, aus dem Unterwerfungsgebot spricht nicht ein Haß gegen die vernunftlose Natur, welcher deren freiheitsfeindliches Unwesen ausrotten will; und es drückt auch nicht den Ausbeutungswillen aus, der mit der Gewaltsamkeit technischer Förderungen den Planeten verunstaltet. Die Natur soll nicht unterjocht, sie will unter die Botmäßigkeit der Vernunft gebracht und vernünftig gepflegt werden.137 „Der Zweck aller Bildung der Geschicklichkeit ist der, die Natur... der Vernunft zu unterwerfen" (GA 1,3,45). Und die Sittenlehre 1798 wird den Endzweck des guten Willens in die Formel fassen: „£r will, daß die Vernunft, und nur sie, in der Sinnenwelt herrsche. Alle physische Kraft soll der Vernunft untergeordnet werden" (GA 1,5,246). Kultivierung der Seele (cultura animi) bedeutet doch nicht Dressur und Repression, sondern Bildung der rohen Natur in uns wie der vorstaatlichen Wildheit zwischen uns zur Freiheit. Solches Bildungsgebot betrifft nicht nur die sich auslassende Willkür, sondern alle Anlagen des Menschen. Und deren Ziel ist nicht Unterwerfung der Triebe, sondern Zusammenstimmung aller Kräfte und Vermögen in harmonischer Übereinstimmung. „Nicht etwa bloß der Wille soll stets einig mit sich selbst seyn,... sondern alle Kräfte des Menschen" (BdG; GA I, 3,30). (Dieser Folgesatz der Fichteschen Bestimmung des Menschen ist ein Quellsatz von Schillers ästhetischem Humanismus.) Wie aber soll die sinnlich rohe Natur kultiviert werden? Eine Angabe darüber macht die 11. Vorlesung in „Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters", vorgetragen im Jahre 1804-1805. Durch Kultivierung ein freies Verhältnis zur Natur zu gewinnen, ist eine gemeinsame Menschheitsaufgabe, die an alle vernünftigen Wesen ergeht. Sie läßt sich durch eine technische Kultur erfüllen, welche die Wildheit der rohen Natur bändigt, sie für den mechanischen Gebrauch zurüstet, ihre Unberechenbarkeit berechenbar macht und ihren Rohstoff nach dem 137

Natürlich läßt sich die biblische Entgötterung der von Gott gemachten, also nicht mehr selbstmächtigen, göttlichen Natur mit dem sogenannten Herrschafts auf trag zusammendenken und für die technische Ausbeutung der Natur mit verantwortlich machen. Indessen ergeht doch der Auftrag des Schöpfungsberichtes an den Menschen als einen Hirten der ihm unterstellten Geschöpfe, und das schließt ein Pflegen, Bebauen und Bewahren der Erde ein; vgl. 1. Mose 2.15.

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Maße der Schönheit und der Kunst bearbeitet. Gehen so Technik und Kunst in der Pflege der Natur zusammen, dann werden weder die bearbeitete Natur entstellt noch der arbeitende Mensch entfremdet. Technisierte Arbeit ermöglicht dem Menschen die Freizeit schöpferischer Muße und eröffnet die Möglichkeit, daß „der Natur das majestätische Gepräge der Idee aufgedrückt werde - welches die schöne Kunst giebt" (GgZ; GA 1,8,324). Niemals hatte Kultivierung (seit ihrem anfänglichen Sinn als Agrikultur) Naturbeherrschung zum Zweck. Und sie mag auch nicht die Technik verherrlichen und die Wunder der Industrie anbeten. Kultivierung im Sinne Fichtes hat zum Ziel, die äußere, sinnliche Natur so pfleglich zu bearbeiten, daß das Geistige in ihr Raum erhält und an ihr sichtbar wird. Wird das verfehlt, dann verfehlt der Mensch seine Bestimmung an sich.

12.4 Natur und Sittlichkeit. Das Materiale der Pflicht Kultivierte Natur außer uns ist der letzte Zweck menschlichen Lebens und Arbeitens, wäre der Mensch bloßes Naturwesen. Sie dient als Mittel, wird der Mensch in seiner Vernunftbestimmung betrachtet. Sie erscheint da als Material der Pflicht, wo die Bestimmung des Menschen sich in Moralität beschließt. „Unsre Welt ist das versinnlichte Materiale unsrer Pflicht; dies ist das eigentliche Reelle in den Dingen, der wahre Grundstoff aller Erscheinung" (GuG; G A 1,5,353). Dieser Satz Fichtes steht im Ansehen, diejenige Generalthese zu sein, welche den theoretisch unbegreiflichen Sinn der Natur praktisch-moralisch aufschließt. Beides, die theoretische Verschlossenheit wie der praktische Aufschluß der Natur, ist für die Interpretation dieses Schlüsselbegriffs von vornherein und für all seine Wandlungen in Anschlag zu bringen. Der Gedanke des „Materialen", des Grundstoffes aller Erscheinung, bildet im Gebiete der theoretischen Vernunft einen Grenz- und im Gebiete der praktischen Vernunft einen Anwendungsbegriff. Für das Vorkommen des inhaltlich Mannigfaltigen, Vereinzelten, Individuellen in der Sinnenwelt läßt sich kein Grund beibringen, wohl aber ein Sinn. Keine a priorische Gesetzlichkeit ist für die zufällige Mannigfaltigkeit materialer Bestimmtheiten in Raum und Zeit zuständig. In dieser Sphäre herrscht der transzendentale Zufall. Daran, am inhaltlich nicht deduzierbaren Material der Empfindung, findet die kategoriale Gesetzlichkeit des vorstellenden Ich ihre Grenze. Entsprechend hat die praktische Ver-

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nunft ein Materiale der Pflicht in ihre Sinngebungen aufzunehmen, spätestens dann, wenn es um die Anwendbarkeit des reinen Moralprinzips geht. So gewinnt die theoretisch unableitbare und grundlose materiale Beschränkung unseres Ich praktisch als versinnlichtes Materiale unserer Pflicht Sinn und Wert. Die Sphäre der Natur und Sinnlichkeit soll sein, damit das Ich moralisch-praktisch in einer Reihe sittlicher Akte wirksam werden kann. So verknüpfen sich Realität, Wert und Sinn der Natur in uns und außer uns mit dem sittlichen Tun und Lassen des Ich bzw. mit der Freiheit (als realem Dasein absoluten Lebens). Allein in einer genauen Explikation dieser Relationen läßt sich das bis heute umlaufende Vorurteil berichtigen, wonach die Wissenschaftslehre das Eigenwesen der Natur unkenntlich mache. Aber reduziert Fichte nicht wirklich bis zum Ende seiner Systemumschreibungen Eigenmacht und Eigenrecht der Natur auf einen bloßen Stoff, an welchem sich Sittlichkeit manifestiert? „Die Natur... ist Stoff, an welchem die Sittlichkeit sich zeigen könne" (StL, 1813; SW IV,463). Wird die Natur nicht ausdrücklich zum bloßen Werkzeug und Vehikel zur Beförderung der Moralität degradiert? „Wie das Sittengesetz redet, soll die Natur Werkzeug seyn, oder werden können" (StL, 1813; SW IV,432). So scheint doch die Natur an ihr selber nichtig und wertlos und nur als Sphäre und Material für das Erscheinen wirklicher Freiheit und Sittlichkeit von Wert. Das ist differenziert zu prüfen. Und dabei muß auf die Abstufungen der Vernunftstandpunkte geachtet werden, von denen her das „Materiale der Pflicht" ausgelegt wird. Im vorhinein kann vermutet werden, daß dieses Schlüsselwort wie die Auffassung der Natur überhaupt einen je anderen Verstehenshorizont erhält, je nachdem, ob es inmitten der Systematisierung der Sittenlehre, des Atheismusstreites oder der Phänomenologie absoluten Lebens vorkommt.138 138

Hans Freyer, Das Materiale der Pflicht. Eine Studie über Fichtes spätere Sittenlehre, in: KantSt 25(1920)113-155 sucht die Wandlungen der Fichteschen Philosophie am Leitbegriff des Materials der Pflicht festzumachen, indem er diesen zum Ansatzpunkt für die Auflösung und Weiterentwicklung der transzendentalen Wissenschaftslehre überlichtet. Er verfolgt die Umwertungen des Natur-Materialen (als bloße Sphäre des sittlichen Triebs, als einschränkender Widerstand des Bösen, als Daseinsbild der lebendigen Äußerung des Seins) über den reinen Moralismus des Systems der Sittenlehre von 1798 hinaus zu dem im Atheismusstreit angenommenen Standpunkt der Religion bis zur Position einer „emanatistischen" Metaphysik. Diese nötige Differenzierung hängt an der unnötigen Voraussetzung, Fichtes

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Der naheliegende und in vielfachem Respekt maßgebende Ort solcher Feststellung ist die Sittenlehre und das klassische Dokument das „System der Sittenlehre" von 1798. Es gilt als die geglückteste und vollständigste philosophische Konstruktion des reinen Moralismus. Eine einschlägige Untersuchung kann sich zunächst auf § 12 dieser Abhandlung konzentrieren. Dort wird das „Princip einer anwendbaren Sittenlehre" (GA 1,5,139-143) thematisch behandelt und darauf gesehen, wie das Vernunfthandeln unter der Kategorie der Autonomie an ein Materiales (der Pflicht) und an einen Stoff (für den reinen Trieb) gebunden ist. Dem liegt die Deduktion des Prinzips der Sittlichkeit zuvor und zugrunde, d. i. die Ableitung der Autonomie als Wechselwirkung von Freiheit und Notwendigkeit (Gesetz). Die Selbst-Gesetzgebung erweist sich als notwendige Bedingung dafür, daß die Subjekt-Objekt-Identität des Ich widerspruchsfrei gedacht werden kann. Damit wird gesichert, daß das Prinzip sittlichen Handelns, die Freiheit als Unterwerfung unter die Verbindlichkeit des Sittengesetzes, zum Wesen des Ich gehört. Der sittlich Handelnde unterwirft sich nicht einem fremden Gebot, das, über ihm schwebend, von außen an ihn herantritt und Gehorsam abverlangt. Folgt das Sittengesetz aus meinem selbstbewußten Wesen, dann folge ich, indem ich mich seinem kategorischen Anspruch unterwerfe, allein mir selbst. Indessen, diese Art Ableitung bewegt sich lediglich in der Sphäre des Begriffs und in der Wesensmöglichkeit sittlichen Handelns. Wie aber steht es mit der Sittlichkeit in Wirklichkeit? Ist das Prinzip absoluter Autonomie überhaupt in der Sinnenwelt anwendbar? Bildet das Sichunterstellen unter den kategorischen Imperativ vielleicht nur einen Akt der Gesinnung? Ist das Befolgenwollen der Maximen des guten Willens mehr als ein frommer Wunsch und idealische Schwärmerei? Konkrete Ethik muß das Sittengesetz eigens in seiner Anwendbarkeit ableiten, und zwar auf dem Wege des transzendentalen indirekten BeDenken stelle sich, getrieben von einer unaufhaltsam ins Metaphysische gehenden Tendenz (gleichsam ein neuplatonisches Schicksal) am Ende auf den posttranszendentalen Standpunkt der Metaphysik eines allrealen Seinszusammenhanges. - Hier sind deutliche Parallelen zum eindrucksvollen Projekt von Emil Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, Tübingen 21914, das Stellung und Fortgang der Wissenschaftslehre vom „Irrationalen" (nicht zuletzt vom absolut irrationalen Individuationsakt) her beleuchtet und im Weggehen von der Methodik transzendentaler Deduktion zu einer bald spinozistischen, bald emanatistischen Systematik einen Fortschritt in der „logischen Erfassung der Wertindividualität" diagnostiziert.

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weises: Wird die reale Möglichkeit des Sittengesetzes, d.h. seine Anwendbarkeit in der Natur aufgehoben, dann ist das Ich aufgehoben. Die Deduktion geht dabei in zwei Schritten vor. Zuerst wird ein Widerspruch zwischen Naturtrieb und reinem Trieb in der Gestalt einer Antinomie aufgedeckt. Der zweite Schritt bietet die dialektische Aufhebung der Gegensätze und stellt das Prinzip einer anwendbaren Sittenlehre heraus, den „gemischten" sittlichen Trieb. (Eine Zwischenbemerkung erörtert kritisch die Auflösung des Widerspruchs durch eine negative Ethik des Unterlassens in der Weise einer Mystik, welche die Negation des Naturtriebes und eine weltentsagende Selbstverleugnung gebietet, damit der Mensch mit der Gottheit verschmelze.) Im Zusammenhang mit einer Bestimmung der Natur verdienen die Synthesis des Naturtriebes und die Einbeziehung der Natur als notwendige Bedingung für die Verwirklichung des sittlichen Prinzips, letztlich für die Wirklichkeit der Ichheit Beachtung. Zuerst also gerät die hinleitende Erörterung in einen merkwürdigen Widerstreit. „Wir sind in einen Widerspruch gerathen, und derselbe ist um so merkwürdiger, da durch die beiden so eben erwähnten Sätze widersprechendes als Bedingung des Selbstbewusstseyns, aufgestellt wird" (GA 1,5,140). Der erste Satz erklärt: Die Kausalität des reinen Triebes wird durch den Naturtrieb aufgehoben; sonst kann das Selbstbewußtsein nicht wirklich in der Sinnenwelt handeln. Der Gegensatz erklärt: Die Kausalität des reinen Triebes darf nicht aufgehoben werden; sonst ist Selbstbewußtsein nicht möglich. Beide Parteinahmen, für den Naturtrieb wie für den Freiheitstrieb, berufen sich für ihre entgegengesetzten Ansprüche auf dasselbe Gesetz der Ich-Gewißheit. Wie konnte die Frage nach der Anwendbarkeit des Pflichtprinzips in diese Gegengesetzlichkeit geraten? Das liegt daran, daß die Ethik des guten Willens den Naturtrieb einzubeziehen hat. Zwar bemißt sich Kants Grundsätzen über die Pflicht zufolge der moralische Wert einer Handlung nicht am Erfolg in der Welt, sondern an der Maxime des Wollens, gleichwohl begnügt sich der gute Wille nicht mit einem bloßen Wünschen. Zu ihm gehört die Anstrengung, seine Grundsätze in der Sinnenwelt durchzusetzen. Das wirkliche Wollen aber braucht den Naturtrieb; denn der reine Trieb geht nicht auf Objekte in der Sinnenwelt, sondern allein auf sich selbst. „Alles wirkliche Wollen geht nothwendig auf ein Handeln; alles mein Handeln aber ist ein Handeln auf Objecte. In der Welt der Objecte aber handle ich nur mit Naturkraft; und diese Kraft ist mir nur gegeben durch

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den Naturtrieb, und ist nichts anderes, als selbst der Naturtrieb in mir" (GA 1,5,139). Menschliches Wirken nach Begriffen will, daß der vorgestellte Zweck wirklich wird. Es ist die Vorstellung eines zu erwirkenden Objekts in der Sinnenwelt. In der Natur aber wirkt der Wille kraft des Naturtriebes. Will mithin der gute Wille wirklich werden, muß er sich dem Naturtrieb überlassen. Was aber ist der Naturtrieb? „Der Naturtrieb geht aus auf etwas materiales, lediglich um der Materie willen; auf Genuß, um des Genusses willen" (ebd.). Natur heißt, was unabhängig von meiner Freiheit bestimmt ist. Ein Naturtrieb bildet daher den Gegensatz zum Freiheitstrieb. Trieb (appetitus) nennt einen aus sich drängenden Drang, der sich selbst aufmacht und von sich her darauf ausgeht, die materielle Existenz eines organischen Leibwesens in der Sinnenwelt zu erhalten. Dazu holt er Materiales ein. Das sind Dinge der Natur in ihrer Eignung, den Naturtrieb zu befriedigen: Wasser zum Trinken, Luft zum Atmen, Baumstämme zum Bauen, Früchte des Feldes zum Essen, aber auch das belebende heitere Wetter oder die weite Aussicht zum Ausschauhalten. (So bestätigt sich die Einsicht, die Dinge begegneten uns primär als „Zuhandenes" - von der Einstellung des Naturtriebes aus!) Das letzte Worum willen solch naturwüchsigen Eintreibens und Einverleibens ist der Genuß als solcher, die vielartige Befriedigung leibhafter Bedürfnisse um der wohltätigen Befriedigung willen. Freilich muß die Rede vom Naturtrieb und vom Willen der Natur in mir differenziert und vor einem blanken Naturalismus geschützt werden. Jch will, und nicht die Natur; der Materie nach aber kann ich nichts anderes wollen, als etwas, das dieselbe auch wollen würde, wenn sie wollen könnte" (GA 1,5,140). In mir herrscht nicht einfach der Drang, Hunger und Durst zu stillen. Ich bin mir meines Hungers und meiner Bedürfnisse überhaupt bewußt und will sie befriedigen in der Weise unbestimmten Sehnens und zielgerichteten Begehrens. Das ist ein gleichsam präreflexives Agieren. Was den bloßen Naturtrieb in Sehnen und Verlangen verwandelt, ist die erste, notwendige Reflexion; was das Sehnen in Begierde überführt, ist eine zweite und freie Reflexion. Also hat der Naturtrieb nicht die Form der Bewußtlosigkeit naturhaften Wirkens, sondern den Modus reflektierten Bewußtseins. Gleichwohl bleibt die Materie, d.i. alles, worauf der Naturtrieb aus ist, von der Natur vorgezeichnet. Darauf baut die Thesis der Naturalisten. Was materiell überall in der Sinnenwelt gefordert und verrichtet wird, geschieht aufgrund des Naturtriebs. Darin erschöpft sich mein empirisches Handeln aus Natur. An-

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ders hätte das Wollen nichts, worauf es anwendbar wäre. Ohne Naturtrieb wäre das Ich unwirklich. Das läßt sich indirekt beweisen. Angenommen, es herrschte allein der reine Trieb, dann käme dem Ich der Zustand totaler Unabhängigkeit von der Natur zu. So aber hätte der Trieb nichts, auf das er anwendbar wäre; „die Kausalität desselben wird ganz aufgehoben" (ebd.) und das Ich chimärisch und unwirklich. So vergröbert sich am Ende das Ethos des Pflichtwillens realiter zu jenem Eudämonismus, der das Glück im Genuß intensivster, extensivster und dauerhaftester Bedürfnisbefriedigung sieht. Dem stellt die Gegenpartei der Ideenfreunde den reinen Trieb entgegen. „Der reine Trieb [geht] auf absolute Unabhängigkeit des Handelnden, als eines solchen, von jenem Triebe; auf Freiheit um der Freiheit willen" (GA 1,5,139). Dieser Freiheitstrieb dringt darauf, den Menschen vom Naturtrieb freizumachen, d.h. sein Streben von materialen Objekten der empirischen Welt zu entbinden. So läßt er ihn frei zur absoluten Tätigkeit. Das ist die elementare Tendenz des reinen Triebes, das Handeln selbsttätig und selbstbestimmt zu machen, um nicht fremdbestimmt zu werden. Darin erscheint das Maß des moralischen Wertes allen Tuns und Treibens. Indem sich dieser Urtrieb unseres geistigen Wesens nicht auf Objekte in der Sinnenwelt, sondern auf sich selbst richtet, läßt er sich nicht von außen anziehen, sondern eröffnet dem Menschen ein selbsttätiges Handeln um der Selbsttätigkeit willen. Sein Ausdruck ist die Forderung: „Strebe nach Selbständigkeit!" Und eine Ethik der Freiheit hält daran fest: Die Ursächlichkeit des reinen Triebes darf nicht wegfallen. Ohne diesen Trieb wäre ja das Ich der Natur unterworfen und so kein Ich. Gesetzt nämlich, es herrschte allein der Naturtrieb, dann wäre der Mensch ganz und gar Ausdruck der Natur und ohne jede Kausalität aus Freiheit. Ohne Kausalität aus Freiheit gibt es keine Selbstgesetzgebung und ohne sittliche Autonomie keine Ichheit. In Wahrheit erschöpft der Urtrieb nach reiner, naturunabhängiger Tätigkeit die Lebendigkeit und Urrealität des Ich. Die Nachzeichnung dieser Argumentationen sollte den antinomischen Widerstreit in Anbetracht der Anwendbarkeit des Prinzips der Sittlichkeit deutlicher machen. Ohne Naturtrieb kann das Ich nicht wirklich sein und willentlich handeln. Ohne reinen Trieb kann das Ich nicht wollen und wirken. Beide Triebe sind notwendig, damit das Ich wirklich den guten Willen in der Welt anwendet. Folglich muß der Widerstreit aufgehoben werden. „Wie ist dieser Widerspruch zu lösen?" (GA 1,5,140). Dessen Aufhe-

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bung erfolgt erklärtermaßen „den Gesetzen der Synthesis nach" (ebd.). Das Gesetz der Synthesis lautet auf der Grundlage der Wissenschaftslehre: keine Antithesis ohne Synthesis. Demnach muß sich im Hinblick auf das, was das Handeln des Willens wirklich in der Natur bezweckt und erwirkt, eine Vereinigung der antithetischen Motive finden lassen. Die eine und selbe Handlung muß zugleich dem reinen Trieb wie dem Naturtrieb angemessen sein. Aber bleibt sie nicht dennoch den Ansprüchen des reinen Triebes in Ewigkeit inadäquat? „Der einzige Bestimmungsgrund der Materie unserer Handlungen ist der, uns unsrer Abhängigkeit von der Natur zu erledigen, ohnerachtet die geforderte Unabhängigkeit nie eintritt" (ebd.). Der reine Trieb zielt auf völlige Befreiung von der Natur. Das aber kann in keinem Zeitpunkt erreicht werden, weil der Mensch endlich, sinnlich organisiert und leibgebunden ist. Als Bedürfnis-, Erkenntnis- und Willenswesen ist er auf die Natur angewiesen. Er braucht sie als Rohstoff, Gegenstand und Widerstand - und soll doch nicht von ihr abhängig sein. Wie in aller Welt kann sonach dieselbe Handlung dem Trieb nach Unabhängigkeit folgen und doch dem Naturtriebe angemessen bleiben? So, daß die Natur in ihrer wahren Bestimmung einbezogen wird, nämlich unaufhörlich zu erweiternde Schranke der Freiheit zu sein. Damit werden die Forderungen der Natur nicht negiert und vernichtet, sondern durch Einschränkung in einer fortdauernden Reihe von Freiheitsakten aufgehoben. Und das korrigiert in eins das Endziel des reinen Triebs. Es geht in das Handeln endlicher Vernunft als ideale, unerreichbare Aufgabe ein, die der Reihe von Freiheitsakten im ständigen Erweitern der Naturschranke eine unaufhörliche Annäherung an das unerreichbar Unendliche abverlangt. Die Einführung dieser Handlungsreihe ist kein willkürlicher Einfall, sondern transzendentale Notwendigkeit. „Es muß eine solche Reihe geben, bei deren Fortsetzung das Ich sich denken kann, als in Annäherung zur absoluten Unabhängigkeit begriffen; denn lediglich unter dieser Bedingung ist eine Kausalität des reinen Triebes möglich" (GA 1,5,141). Greift der reine Trieb in einer Reihe von Freiheitsakten in der Zeit nicht wirksam in die Natur ein, dann ist das Prinzip der Sittlichkeit auf die Welt nicht anwendbar und der Gedanke der Selbstgesetzgebung unwirklich. Diese Herleitung stellt die sittliche Bestimmung des Menschen in ein neues Licht. Die Aufgabe, zu der er bestimmt ist, besteht darin, in einer Reihe von Freiheitsakten zur völligen Unabhängigkeit von der Natur fortzuschreiten. Folgerichtig lautet das Gebot der Sittlichkeit: „Er-

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fülle jedesmal deine Bestimmung!". Jedes einzelne endliche Vernunftwesen hat zu jedem Zeitpunkt die Aufgabe, so zu handeln, daß die Abhängigkeit durch einen heteronomen Naturtrieb immer mehr eingeschränkt und die Natur immer weiter unter das Gesetz der Selbsttätigkeit gestellt wird, damit die Freiheit in Mit- und Umwelt fortschreitend ins Unendliche Platz greift. Diese Bestimmung des Menschen begreift die Natur als das Materiale der Pflichterfüllung und als mögliche Sphäre der Freiheit in sich ein. In jedem Moment unseres Lebens ist etwas unserer sittlichen Bestimmung adäquat, und dasselbe wird zugleich materialiter durch den Naturtrieb gefordert, der seine Form vom sittlichen Trieb erhält und dadurch nicht verdirbt. Unsere sittliche Bestimmung hat zum Prinzip ihrer Anwendbarkeit den sittlichen Trieb. In ihm nämlich vereinigen sich der reine Trieb und der Naturtrieb aufgrund von Teilbarkeit und Einschränkbarkeit unter der Hinsicht von Materie und Form. „Der sittliche Trieb ist ein gemischter Trieb, wie wir gesehen haben. Er hat von dem Naturtriebe das materiale, worauf er geht, d.h. der mit ihm synthetisch vereinigte und in eins verschmolzene Naturtrieb geht auf dieselbe Handlung, auf welche er gleichfalls geht, wenigstens zum Theil. Die Form aber hat er lediglich vom reinen. Er ist absolut, wie der reine, und fordert etwas, schlechthin ohne allen Zweck außer ihm selbst" (GA 1,5,143). Limitativ dialektisch betrachtet, vereinigt sich der sittliche Trieb mit dem Naturtrieb nicht uneingeschränkt, sondern bloß der Materie nach, und auch dies nur zum Teil. Weil der sittliche Trieb bestimmte Handlungen in der Sinnenwelt verrichtet, deckt sich das zu Erwirkende materialiter mit den Zielen des Naturtriebs. Jeder inhaltliche Zweck im menschlichen Tun und Lassen zielt ja darauf ab, den Naturtrieb zu befriedigen. Um das Feld zu bestellen, Maschinen zu bedienen, Handel zu treiben, Häuser zu bauen, Essen zu kochen, braucht es eine Reihe aufeinander folgender Akte. Sie können dem sittlichen Trieb angemessen sein und werden es dadurch, daß dieser ein Glied der Reihe heraushebt, manches andere wegläßt und so den Charakter der Reihe bestimmt. Er hebt nämlich das heraus, was zur Pflicht gehört, z.B. für Leib und Leben zu sorgen, und er läßt alles weg, was die Sphäre anderer an Leib und Leben lädiert. Und abgestoßen wird auch die Form, d.i. Wesen und Zweck des Naturtriebs. Dieser besteht im Genuß um des Genusses willen. Davon geht der sittliche Trieb ab. „Er geht absolut nicht auf irgend einen Genuß aus, von welcher Art er auch seyn möge" (ebd.). Entsprechend limitativ verfährt die Vereinigung mit dem reinen

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Trieb. Von dieser Seite der Synthesis her gewinnt der sittliche Trieb allein die Form, nicht aber seine Materie, und auch das nicht im Ganzen und auf einmal, sondern zum Teil und mit der Zeit. Die Materie, d.h. das, was der reine Trieb will, ist absolute Unabhängigkeit überhaupt. Der sittliche Trieb aber geht auf bestimmte Handlungen. Die Form des reinen Triebes dagegen, sein Wesen und Zweck, ist Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen. Das prägt den sittlichen Trieb formal. Er verrichtet bestimmte Tätigkeiten, z.B. das ehrliche Verkaufen von Waren, bloß um der Ehrlichkeit willen. Und der sittliche Trieb vereinigt sich mit dem reinen Trieb der Form nach eben nur zum Teil. Er hat ja die Unabhängigkeit von der Natur nicht ganz in sich, sondern in einer Reihe von Freiheitsakten unerreichbar vor sich. Die methodische Nachkonstruktion dieser Synthesis hat gezeigt: Im sittlichen Trieb ist das Prinzip der anwendbaren Sittlichkeit herausgestellt und als notwendige Bedingung für die dialektische Auflösung des Widerstreits von reinem Trieb und Naturtrieb deduziert. Und damit ist der einschlägige Leitsatz in einer Ethik nach Prinzipien der Wissenschaftslehre ausgetragen. Natur, das versinnlichte Materiale unserer Pflicht, bildet das sinnliche Gegenbild unserer wirklichen Freiheitsmögtichkeiten. Darauf, Material des sittlichen Triebes zu sein, beruht die Realität des Naturhaften. Es ist unleugbar reell, sofern die Freiheitstätigkeit unzweifelhaft reell ist, deren Anwendungssphäre sie ist. Damit bricht sich eine neue Einstellung zum Verhältnis von Pflicht und Neigung, Leib und Geist, Natur und Freiheit Bahn. Die Neigung ist nicht prinzipiell der Widerpart der Pflicht. Sittlichkeit, Handeln aus Pflicht werden dem naturhaften Streben nicht aufgezwungen. Die naturhaften Antriebe gehen vielmehr so in den sittlichen Trieb ein, daß sie sich mit ihm vereinigen lassen. „Der bloße Naturtrieb ist keineswegs ein eigennütziger oder tadelswürdiger, sondern ihn zu befriedigen ist selbst Pflicht" (GA 1,5,182). Es ist Pflicht, den Leib zu pflegen, damit der Leib seinen ihm eigenen Sinn erhält, Organ und Werkzeug der Sittlichkeit und Freiheit in meiner eigenen Sphäre der Sinnenwelt zu sein. In Kategorien der Wissenschaftslehre gefaßt: Naturtrieb und sittlicher Trieb stehen nicht im Verhältnis der Unterordnung und des Zwanges, sondern im Bezug einer Wechselwirkung zueinander, in welcher der Naturtrieb den sittlichen der Materie nach und der sittliche Trieb den Naturtrieb der Form nach bestimmt und beschränkt. So scheint die Rede von der Natur als Material der Sittlichkeit jedenfalls vom Standpunkt der Moralität und Autonomie her das letzte sinn-

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gebende Wort Fichtes zu sein. Indessen muß diese Faustformel selbst im Rahmen der Sittenlehre differenziert betrachtet werden. Das zeigt sich im Kontext von moralischer Freiheit, Natur, dem Bösen und der Wurzel des Übels. Prima facie kann die Natur in uns wie außer uns eigentlich nur moralisch indifferent gegenüber Gut und Böse genannt werden. An ihr selbst bildet sie nicht den Urgrund des Bösen. Der Natur zu folgen, ist nicht unsittlich. Im Naturstande kann das Prinzip des Bösen nicht liegen. Schuld am moralisch Bösen trägt allein die Freiheit des Menschen, wenn sie eine schlechte Maxime als Regel des Handelns annimmt, sich nicht aus dem Schlendrian der Gewohnheiten losreißt und auf die Verpflichtung des Sollens hört. Die Natur läßt den freien Willen keinesfalls aus sich herauswachsen. Andererseits kommt der Natur, etwa in Entgegenstellung zur verderbten und Verderben bringenden menschlichen Gesellschaft, auch nicht der Wert des Guten zu, so daß gut und moralisch zu leben hieße, einfach der Natur zu folgen. Mithin scheint die Natur weder moralisch noch unmoralisch zu sein. Darum wendet sich Fichte auch gegen das Dogma von der angeborenen Sündhaftigkeit der Erbsündenlehre: Es verleumde die menschliche Natur. „Natur, die nicht moralisch ist, aber auf die Glückseligkeit moralischer Wesen Einfluß hat" (CaO § 2; GA 1,1,28), kann in den sittlichen Trieb eingehen, aber sie kann sich auch aus Kraft der Gewohnheit der Erhebung zur Moralität versagen.139 Daher ist das Problem des Bösen auf der Grundlage der Wissenschaftslehre differenziert zu behandeln (vgl. die Hauptquellen SL § 15; GA 1,5,164-188. - Collegium über die Moral, 1769, § 13; GA IV,1,88100). Natürlich ufert es nicht mehr unkritisch-metaphysisch zur Theodizee-Frage nach der Möglichkeit des dreifachen malum physicum, morale, transcendentale in der Welt angesichts der Güte eines allmächtigen 139

Die immer noch nützliche Abhandlung von Max Hildebert Böhm, Natur und Sittlichkeit bei Fichte. Halle 1914 = Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte 46(1914)1-40 prüft die möglichen Positionen einer amoralischen, vormoralischen und antimoralischen Naturhypothese: die Natur als indifferent gegenüber Gut und Böse, als sich entfaltender sittlicher Keim und als Feind der Sittlichkeit. Die beigebrachten Belege widerlegen das Vorurteil vom Naturhaß Fichtes. Es zeichnet sich vielmehr, zumal in den späteren Schriften, eine versöhnte Naturauffassung ab: in Fichtes Polemik gegen die Erbsünde, in seiner Theorie von Geschlechtstrieb und Liebe, in der Konstruktion der Geschichte als Gang von der Natur (dem Dasein eines Naturvolkes) zur Freiheit und auch in einer damit verflochtenen Restitution Rousseaus; dazu vgl. SW , 490. - SW IV, 409.

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Weltenschöpfers aus. Und es verflüchtigt sich auch nicht in der Annahme des malum als privatio boni. Das Problem des Bösen konzentriert sich auf das Widersittliche, wie es aus einem pflichtwidrigen Entschluß menschlichen Willens entspringt: als Mißbrauch unserer formalen Freiheit, worin wir das Sittengesetz umgehen, übertreten, verneinen. Im Zusammenhange des leitenden Naturverständnisses interessieren die unterschiedlichen Verhältnisse von menschlicher Natur, Reflexionsstand, bösem Willen und Urständ der Übel als Grundlaster des gewöhnlichen Menschen. Dafür ist generell festzuhalten: Der Mensch ist nicht der Natur nach böse. Allein jener Status des Willens kann böse heißen, der sich bewußt gegen die Verwirklichung des Guten sperrt. Dazu gehört ein Stand der Reflexion, der über Naturtrieb und Naturverlangen hinausgeht. Bloß unter der Leitung des Naturtriebes hat der Mensch, wie gesagt, präreflexiv formale Freiheit. Im naturhaften Verlangen kommt ihm das Bewußtsein der Freiheit zu, so daß er verständig zwischen verschiedenen Wegen wählt, um seine Naturbedürfnisse unter der Maxime der eigenen Glückseligkeit zu befriedigen. Beide Haltungen sind nicht übel; denn sie unterlaufen oder verkehren nicht das Sittengesetz. Nur da, wo das Treiben der Genußsucht dem Sollensgebot Abbruch tut, ist für Fichte die „Natur der innere Feind" (StL, 1813; SW IV,599). Und nur in einem Zeitalter, welches den sittlichen Trieb außer Kraft setzt, fließen Natur, Materie, „das Fleisch" ( ) zur Lebensform einer Gott abgewandten Welthaftigkeit zusammen (vgl. RaN, 9. Rede). Das aber setzt als Maßstab ein Handeln im klaren Bewußtsein des Sollens und eine Reflexion voraus, welche den Trieb nach absoluter Selbständigkeit und dessen bestimmte Anwendung bewußt macht. Daran gemessen, erscheint ein Versagen als Grund des Bösen, welches es unterläßt, sich bis zum Bewußtseinsstande des Sollens zu erheben. Solche Trägheit der Reflexion ist „ein wahres positives radikales Übel" (GA 1,5,182). Hier ist von einem wahren Übel die Rede, nicht nur von einem Schein, dem Fehlen oder der Abwesenheit des Guten. Dieses Übel heißt radikal; denn es ist die Wurzel aller Laster, vorzüglich von Grundlastern wie Feigheit und Falschheit erga alios. Und es ist in der Tat etwas Positives. Im Stande der Trägheit hat die Natur ein positives Vermögen (vis inertiae), nämlich die Kraft zu bleiben, was sie ist. Es gibt mithin nach dem Bewußtseinsmechanismus der Teilung und Übertragung ein in die der Ich-Tätigkeit entgegengesetzten Natur gesetztes Quantum an widerständiger Kraft. Das ist die Natur in uns als

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Trägheit des Geistes, welche das Bewußtsein an der Erhebung auf den Stand der Sittlichkeit hindert und im Geleise der Gewohnheiten festhält. „Trägheit sonach, die durch lange Gewohnheit sich selbst ins Unendliche reproduciert, und bald gänzliches Unvermögen zum Guten wird, ist das wahre, angebohrene, in der menschlichen Natur selbst liegende radicaleUebel"(GAI,5,185).140 So ist die Natur in einer Erörterung des Bösen noch etwas anderes als die vormoralische Sphäre des Freiheitsgebrauchs. Ihr „Stoff ist nicht etwas Gleichgültiges, sondern ein Resistentes an ihm selbst. Das weist - analog zu ihrer aller theoretischen Durchsichtigkeit entzogenen Unheimlichkeit - auf eine praktische Abgründigkeit der Natur hin. Die Natur und das transzendental-zufällige Materiale des Naturhaften besitzen positive Widerstandskraft. Eben diese Inertie macht die Wurzel aller Übel in der Gestalt der drei Grundlaster Trägheit, Feigheit und Falschheit aus. Und das kennzeichnet nicht den verderbten Außenseiter, sondern den „gewöhnlichen" Menschen, d.h. die Lebensform, in der wir durchschnittlich und alltäglich existieren, und das prägt eine Bewußtseinsstufe aus, die uns im Ethos vorsittlicher Gewohnheiten festhält und von der sich sittliche Entschlußkraft losreißen soll. Aber auch solche Charakterisierung der Natur trifft nicht deren letzte und tiefste Bestimmung. Im Rahmen des Atheismusstreites geht die Problematik des Materialen und individuell Mannigfaltigen der Erfahrungswelt über in den Aspekt des Religiösen. Und hier erfolgt eine eigentümliche Umwertung des materialiter bestimmten Charakters empirischer Iche. Er erweist sich als unerheblich und untauglich für den Gedanken einer immerwährenden moralischen Ordnung. Das „Materiale" der Sinnenwelt legt den 140

In bemerkenswerten Überlegungen hat Marco Ivaldo, Das Problem des Bösen bei Fichte, in: FichteSt 3(1991)154-169 die in der Forschung eher beiläufig behandelte Frage nach dem Bösen über die These von der Trägheit als dem radikalen Übel hinaus weiter verfolgt. Danach stellt eine tiefere Auffassung das eigentlich Böse als den Anspruch einer (napoleonischen) Subjektivität auf absolute Herrschaft über alles außer ihr auf. Solche Selbstverabsolutierung der Subjektivität wird zur bedrohlichen Kraft, wo sie im vollen Wissen durch eine freie Entscheidung des Menschen gegen die Anforderungen der Vernunft erzeugt wird. Eine radikale Umkehr dieser Selbst-Zentrierung im Anspruch auf absolute Herrschaft kann nur eine Selbst-Hingabe im Opfer (christlich: die Übernahme fremder Schuld durch den Unschuldigen an ihm selbst) sein: eine qualitativ ursprüngliche Erscheinung des Absoluten in der Tiefe des Sittlichen.

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reinen Willen in ein Nacheinander der Zeitlichkeit und in die Mannigfaltigkeit von Einzel-Ichen auseinander. So bleibt der Sittlichkeit die Garantie dafür versagt, daß der Entschluß zum Guten wirksam fortdauert. Im Felde des Empirischen bedarf der freie Wille einer fortgesetzten Anstrengung, ohne seiner Dauer auch nur einen Augenblick sicher sein zu können. Im versinnlichten Materialen der Pflicht tritt das Sittliche nur sporadisch auf. Aus Prinzipien der Religion, d.h. des Glaubens an einen unendlichen Willen und eine moralische Ordnung aus der Kraft einer ordo ordinans verschiebt sich die Realität der persona moralis und der sittlichen Gemeinschaft auf ein intelligibles „Reich aus lauter Willen". Hier gehen die Entschlüsse pflichthafter Gesinnung einfach darum nicht verloren, weil kein entgegenwirkendes Materiales sittliche Vorhaben hemmt oder gar entstellt. Ohne Einrechnung der Natur als versinnlichtem Materiale der Pflicht hat der reine Wille als Glied in der Synthesis der Geisterwelt notwendige Folgen. Diese Erinnerung sollte genügen, um anzuzeigen: Die moralische Welt aus lauter intelligiblen Tatsachen eliminiert das materialbestimmte Individuelle und erhebt sich über die Zufälligkeiten und Inertien der sinnlichen Sphäre. Diese Sicht ergänzt und vertieft sich vom philosophischen Standpunkt der Erscheinungs- und Lebenslehre aus. Das in der Konstruktion der Geisterwelt vernachlässigte materiell Individuelle erhält als Ausgang und terminus a quo für das Erscheinen des erscheinenden Geisterreiches Sinn und Bedeutung. „Die Individuen-Welt ... das einzig Wahre und Wirkliche an der Natur, und mit ihrer Hervorbringung ist die allgemeine Natur geschlossen und zu Ende" (TdB-II; SW 11,665). Ziel und Sinn der „Naturgeschichte" ist der unerklärliche Durchbruch der Reflexion im individuellen Ich-Bewußtsein als Glied des Menschengeschlechts. Und das ist das einzig Wahre und Wirkliche in der Natursphäre, sofern in der Daseinslehre das Axiom gilt: Allein das menschliche Geschlecht ist da. Vom selben Standpunkte aus kommt auch das große Thema der Weltgeschichte mit ins Spiel. Jetzt verflechten sich die Sinnbezüge der Bestimmung des Menschen wie der Geschichte des Menschengeschlechts mit der Bedeutung von Sittlichkeit und Natur. Natur erscheint in solchem Verstehenshorizont als das ermöglichende Worin des sittlich gebotenen Prozesses der Menschheit. „In ihr ist die sittliche Entwickelung des Menschengeschlechts möglich, so möglich, als sie möglich sein soll. Diese Möglichkeit ist niedergelegt in der Natur, da soll die Freiheit eingreifen und an ihre Aufgabe gehen" (SL, 1812; NW 111,101).

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In solch komplementärer Vertiefung hält sich die ethische Sinngebung der an sich wertlosen Natur bis zum Ende durch. In der Sittenlehre 1812 steht scheinbar unverändert die frühe These: „Die Welt, wie sie ist, ist die Sphäre unserer Pflicht" (ebd.). Indessen, das Naturhafte ist auf dem Boden der Seins- und Bildlehre nicht mehr primär das dialektisch aufgehobene Moment des sittlichen Triebes und auch nicht die positive Gegenkraft der Trägheit und die Wurzel des Bösen. Das Materiale und Individuelle der Natur und Erfahrungswelt ist im Lichte der Geschichte und der Erscheinung Gottes weder ein Außer- noch ein Widersittliches. Die Natur zeigt sich als geschichtlich erfüllte Möglichkeit einer Geistesbildung, deren technische Kultivierung und sittliche Konkretisierung immer weiter in sie eingegriffen hat. Das prägt ihre letzte Sinngebung aus: als Bild des sich in unendlichem Fortschritt bildenden Daseins, als Ersichtlichung der Freiheit, als zu enthüllende Hülle des Übersinnlichen.

12.5 Natur und Gott, Kritische Vermittlungen des Erscheinens Gottes in der Natur Die Kennzeichnung der Natur als das Materiale der Pflicht bildet die bleibende Mitte, nicht aber die letzte Tiefe eines Selbst- und Weltverstehens, das sich bis auf den Grund durchdringt. Fichtes Bestimmung der Natur geht in eine Sinnerschließung über, welche das Verhältnis von Natur und Gott transzendental-kritisch in Betracht zieht und die Natur als vermitteltes Bild der Darstellung Gottes erörtert. Ein kritischer Leitsatz aus „Die Thatsachen des Bewußtseins", 1813 sagt darüber: „Die Natur ist darum durchaus nicht Bild Gottes, sondern nur dasjenige, worein Gott zu bilden ist" (TdB II; NW 1,515). Einen grundsätzlichen Durchblick durch dieses komplizierte Bildverhältnis bietet die 2. Erlanger Vorlesung „Über das Wesen des Gelehrten" vom Sommer 1805. Hier sind Grundsätze der Gottes- und Erscheinungslehre vorangestellt und dem Wahrheitsgefühl anempfohlen, die in den Wissenschaftslehren von 1804 genetisch entwickelt worden sind. Sie brauchen hier nur so weit herausgehoben zu werden, um die Bestimmung der Natur aus dem vermittelten Bezug zum ursprünglichen göttlichen Leben überhaupt festzulegen (WdG; G A 1,8,71-74) und den Sinn der Natur im Verhältnis zu Recht, Kultur, Wissenschaft und Kunst als Erscheinungen der göttlichen Idee zu artikulieren (WdG; GA 1,8,77-79).

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Sein heißt Leben, und das einzig Eine, das wahrhaft lebt, ist Gott oder das Absolute. Fichtes These vom Sein faßt die Namen Sein, Leben, Gott, das Absolute gleichsinnig zusammen. „Das einzige Leben, durchaus von sich, durch sich, ist das Leben Gottes: oder des Absoluten, welche beiden Worte eins und dasselbe bedeuten" (GA 1,8,71). Dagegen fällt die „sogenannte Natur" so weit ab, daß ihr der Name Sein abgesprochen wird. „Diese ist nicht lebendig, so wie die Vernunft, und einer unendlichen Fortentwikelung fähig, sondern todt, ein starres und in sich beschlossenes Daseyn" (GA 1,8,73). Aber standen nicht in aller Überlieferung gerade das körperhafte In-Bewegung-sein und die organische Lebendigkeit als Grundzug der Natur fest? Sicherlich, aber diese Bewegung im Anblick stetigen, in sich kreisenden Werdens und Vergehens zählt nicht zum Leben der Vernunft, wie es im göttlichen Geist wurzelt und sich in der Geschichte als lebendige Fortentwicklung der Idee der Freiheit darstellt. Dagegen mutet die Natur tot und starr an. Die so aufgestellte Antithese führt in den Widerspruch. Gott heißt doch das Absolute und ist alles Sein, und außer (extra/praeter) ihm ist nichts. Wie starr und perfektibilitätsunfähig nun die Natur und sinnliche Körperwelt auch sein mag, sie ist nicht bloßer Schein oder gar ein schlechthinniges Nichts. Sofern und soweit die Natur seiend ist, bleibt sie im Sein einbehalten und gründet in Gott. „So hat die Natur ihren Grund freilich auch in Gott" (ebd.). Das aber ergibt doch den Widerspruch, die Natur sei Vernunft- und gottlos, tot und nichtig und zugleich in Gott gegründet und im Leben eingewurzelt. Kommt nicht in der Religionsschrift eine Naturansicht zum Austrag, welche, die Unfaßlichkeit des all-einen Gottes, der hinter allem lebt und webt, einsehend, in allen Gestalten der Natur, in Gestein, Gewächs und Getier, den verhüllten Gott erblickt? „Wir sehen ihn als Stein, Kraut, Thier" (AsL; SW V,471). Und feiert nicht am Ende die Glaubenseinstellung von „Die Bestimmung des Menschen" hymnisch die Naturansicht eines religiösen Gesichts, das durch alle Hüllen hindurch in die schöne Allbeseelung der Natur eindringt? „Was ich rund um mich herum erblicke, ist Mir verwandt; es ist alles belebt und beseelt, und blickt aus hellen Geister-Augen mich an" (BdM; GA 1,6,306). Die drückende Frage ist: Wie läßt sich dieser Widerspruch aufheben, ohne die Natur pantheistisch zu vergöttlichen oder „naturphilosophisch" zum Absoluten zu übersteigern? Den transzendentalen Lösungsweg hat die Bild- und Erscheinungslehre eingeschlagen. Er wird in der Erlanger Vorlesung, freilich ohne

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Angabe der Konstruktionsprinzipien, markiert. Der oberste Grundsatz über Gott und Welt lautet: Das Absolute, das ununterscheidbare, daher dem Begriff entzogene Ineinanderaufgehen von Sein (In-sich-bestehen) und Leben (Von-sich-sein) ist ganz und ungeteilt außer sich im Bild. Welt ist Erscheinung, Bild, Darstellung Gottes oder das Absolute im Zustande seiner Äußerung. Aber kann denn die Natur Bild und Darstellung des Absoluten heißen, da sie doch innerlich tot ist und dadurch das Leben von sich ausschließt? „Das lebendige kann keinesweges dargestellt werden in dem Todten, denn diese beiden sind durchaus entgegengesetzt, und darum, so wie das Seyn nur Leben ist, eben so ist das wahre und eigentliche Daseyn auch nur lebendig, und das Todte ist weder, noch ist es im höheren Sinne des Wortes, da" (WdG; GA 1,8,72). So verschärft sich der Gegensatz von Gott und Natur. Der Natur kommen weder absolutes Sein und Leben noch Dasein zu; sie bietet nicht das Bild, in welchem Gott sich in seiner Vernunft- und Lebensform darstellt. Unmittelbar betrachtet gilt der Teilsatz der „Thatsachen des Bewußtseins", 1813, die Natur sei durchaus nicht Bild Gottes (NW 1,515). Eine Vermittlung bringt der andere Hauptsatz der Lebens- und Erscheinungslehre mit sich: „Allein das menschliche Geschlecht ist da. So wie das Seyn aufgeht und erschöpft ist in dem göttlichen Leben, so gehet das Daseyn, oder die Darstellung jenes göttlichen Lebens auf in dem gesammten menschlichen Leben" (WdG; G A 1,8,72). Das eröffnet eine Unterscheidung: Unmittelbares Dasein oder Bild Gottes ist die perfektible Menschheit in geschichtlicher Fortentwicklung ihrer Vernunft- und Freiheitskraft. Vermitteltes Dasein aber kommt der Natur zu, sofern sie das Bild ist, das der Mensch, das unmittelbare Bild des Absoluten, seinerseits hinschaut und gestaltet. Auf diesem Vermittlungsstand kommt Natur als notwendige Bedingung für das Sichtbarwerden des Absoluten in der Wirklichkeit von Zeit, Raum und Geschichtlichkeit zutage. Gerade als das dem Leben Entgegengesetzte bildet sie eine Hemmung und Schranke, welche das menschliche Leben immerfort durchbrechen soll. Als das Hemmende vermittelt die Natur dem erscheinenden göttlichen Leben im Wirken des Menschengeschlechtes die Erstreckungen von Zeit und Raum. Die Schranke der Natur bildet Zeit; denn ohne ihre Widerständigkeit wäre das aus Gott unbegreiflicherweise ausbrechende Vernunftleben „plötzlich", „in einem Nu", „mit einem Schlage" (tout d'un coup) außer sich vollendet da. „Sie ist das, - das Zeitleben anhaltende, und hemmende; und allein durch diese Hemmung zu einer Zeit ausdehnende, was aus-

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serdem mit Einem Schlage als ein ganzes und vollendetes Leben hervorbrechen würde" (WdG; GA 1,8,73). Freilich bemißt sich Zeit als Wielange der Dauer so nicht mehr an der Bewegung des Himmels, sondern an der Arbeitszeit, die der Mensch braucht, um sich an der Schranke der Natur abzuarbeiten. So kann Natur die zeitgebende Sphäre vernunfttätigen Daseins heißen. Und die Naturschranke bildet den Raum als Sphäre für das sich in der Welt ausbreitende geistige Leben des Menschengeschlechtes vor. So gesehen, ist sie das Worin des sich bildenden Bildes göttlichen Daseins. Und damit hat sich der Widerspruch gelöst. Die Natur ist nicht und ist nicht da im eigentlichen Sinne von göttlichem Sein und menschlichem Dasein; sie ist und ist da als Mittel und Werkzeug dafür, daß die göttliche Idee vom Menschengeschlecht im geschichtlichen Zeit-Raum fortgebildet werden kann. Das wirft ein neues Licht auf den Stufenbau der Erscheinungslehre und die daraus erwachsenden, abgestuften Sinngebungen der Natur. Die „göttlichen Ideen" von Recht und Staat erschaffen eine neue Welt innerhalb der durch die Natur eingerichteten Vielheit einander widerstreitender und hemmender individueller Iche. Auf der Höhe des Rechts gewinnen Natur und Naturkräfte den Sinn, Material der Rechtsinstitutionen als Bild göttlicher Vernunft zu sein. Und sofern es für das Zeitalter der Französischen Revolution in Besinnung auf die allgemeine Vernunftform der Freiheit evident erscheint, daß der „Notstaat" des Zwangsrechts die streitenden Naturkräfte nur so lange brechen muß, bis ein Vernunftstaat als Gemeinschaft sittlicher Vernunftwesen entsteht, gewinnt auch die Natur das Ansehen, Material der Sittlichkeit als Darstellung göttlichen Lebens zu sein. Analog zur Elevierung der Naturkräfte in uns geht die Bearbeitung der „willenlosen" Natur außer uns vor sich. Seit der Rousseau-Debatte erklärt die Wissenschaftslehre die von keiner Vernunft gesteuerten Elementarkräfte der Natur ausdrücklich als beengend, beschränkend, bedrohend. Und durchgängig findet die Kultivierung (durch Technik und Naturwissenschaft) darin ihren Anstoß, durch Überwindung der Naturbedrohungen zur Wirksamkeit freier Selbsttätigkeit zu kommen. Das geschieht mit Hilfe einer Naturforschung, welche die Gesetzmäßigkeiten der Naturkräfte erkennt und deren Ausbrüche vorausberechnet, mit dem Ziel einer Naturherrschaft, welche die Naturkräfte technisch fördert und pragmatisch dienstbar macht. Aber das geschieht nicht, wie gesagt, in einem Unterjochungskrieg, sondern in schonungsvoller Pflege, so daß die Natur für den Menschen „das Gepräge seiner höhern Würde anneh-

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men und von allen Seiten dasselbe ihm entgegen stralen" soll (GA 1,8, 78). „Diese Herrschaft über die Natur lag in der göttlichen Idee" (ebd.). Natur ist Rohstoff für das Sichtbarmachen der (ökologischen) Freiheit als Bild und Erscheinung des Absoluten. Und schließlich erscheinen die Natur und das irdische Naturleben als Ort einer Freude und Seligkeit, die der religiösen Gewißheit entströmt. Auf dem Standpunkte der Religion schwinden alle Sinngebungen der sinnlichen Natur. Die Religion entreißt den Menschen radikal den Naturtrieben, d.i. allen Vergnügungen und allem Unfrieden der Sinnenwelt und macht die Erde zur Ortschaft seligen Lebens. Diese Aufschlüsse genügen, um den herangezogenen Leitsatz in seiner transzendental-kritischen Reichweite zu ermessen. Die Natur sei durchaus nicht Bild Gottes, sondern dasjenige, worin Gott zu bilden sei. Der vordringliche negative Bescheid, die Natur sei nicht Bild Gottes, negiert nicht nur die Schöpfungsmetaphysik, sondern auch eine scholastische Physikotheologie. Die Ordnung und Weisheit der Natur nämlich, von der aus eine unkritische reine Vernunft auf einen göttlichen Weltbaumeister und Weltenlenker schließt, läßt sich in transzendentaler Reflexion auf die Ordnung unseres endlich-menschlichen Denkens zurückführen. Ebensowenig braucht es für die Bildung der in sich übereinstimmenden, sich in Wechselseitigkeit produzierenden und reproduzierenden organischen Welt des wiederholten Prinzips einer Weltseele, welche die allbelebte Natur im Ganzen zum System bildet. Die Vorstellung des Natur-Organismus ist und bleibt, grundsätzlich gesagt, Bild und Bildung einer reflektierenden Urteilskraft nach den Vorstellungsgesetzen von Zweckhaftigkeit und Organisation unter der kategorialen Synthesis der Wechselwirkung. Folgerichtig verfällt eine „idealistische" Naturphilosophie im Sinne Schellings dem Zirkel. Ein „Idealismus" der Natur lehrt die Selbstkonstruktion des objektiven Subjekt-Objekt, d.h. die Hervorbringung der Intelligenz aus dem Geiste der Natur. Ist aber nun die Natur Bild und Produkt der Intelligenz, dann kann dem Produzierenden, der Intelligenz, wohl kaum sein eigenes Produkt, die Natur, als Ursprung und Anfangsgrund vorausgesetzt werden. Und schon gar nicht ist es zu billigen, die Natur pantheistisch als das Eine und Ganze und als Sein im einzigen Sinne des Wortes zu feiern. Das hieße eben, den Namen Sein an etwas wegzuwerfen, das weder seiend ist noch als Bild des Absoluten da ist. Dieses Veto trifft Schelling, insofern dessen Systembildungen zu einem dynamischen (nicht etwa ewig in sich ruhenden) Absoluten greifen, dessen Produkte unmittelbar Bilder und

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Darstellungen seiner Absolutheit seien. Solch metaphysische Hypothese enthalte den Widersinn einer alles umfassenden, urständigen Natur, aus der die Subjektivität einschließlich der Kräfte der Reflexion entspringe. So wäre die Natur der Urgrund, aus dem Nichtnatürliches, Freiheit und Ich-Vernunft, hervorgingen. Derartige Einsprüche verbieten, nebenbei bemerkt, auch den Weg, den Hölderlin auf der Hyperion-Stufe von der Position Fichtes (des „Wanderers") aus zum friedlichen Hen kai Pan gebahnt hatte, wonach in der Natur unserem Geiste ein verwandter Geist begegnet (vgl. StA 111,201). Dagegen stemmt sich das harte Wort Fichtes: Wer die Natur zum Absoluten wählt, verrät den Geist. Die Natur zum Absoluten zu machen, heißt für Fichte, auf die unterste Stufe der Weltansicht und in die Irrtümer des Dogmatismus und Eudämonismus zurückzufallen. Daher ist auch die Phrase der Religionsschrift in ihrer negativen Tendenz aufzufassen: „Mag es doch immer Gott selber seyn, der hinter allen diesen Gestalten lebet; wir sehen nicht ihn, sondern immer nur seine Hülle; wir sehen ihn als Stein, Kraut, Thier" (AsL; SW V.471). Hier findet die Hölderlinsche Paradoxie eines Gottes keinen Platz, der sich um so offener enthüllt, je mehr er sich im Fremden verhüllt. Hülle meint einfachhin Verschleierung und Verdeckung, welche die unverhüllte Wahrheit dem geistigen Auge entzieht. Glauben wir demnach auf dem Standpunkte eines naiven Pantheismus, in jedem Halme Gott zu sehen, dann fassen wir nicht sein Leben und Sein, sondern nur ein als Bild verkanntes Bild, eine Hülle, aber nicht die Wahrheit. Da helfen auch Hilfsbegriffe der Naturvergötterung wie Offenbarung, Spiegel oder Symbol nicht. Die Natur ist eben nicht eine Gestalt, in welcher sich die göttliche Übernatur unmittelbar offenbart. Die Welt spiegelt nicht direkt den Welturheber. Die Zeit symbolisiert nicht das Ewige. Das sind immer wieder verlockende Halbgedanken. Sie drücken aber nur die Hälfte der Wahrheit aus. „Auch ist die Welt nicht etwa ein Spiegel, ein Ausdruck, eine Offenbarung, ein Symbol - oder wie noch von Zeit zu Zeit man diesen Halbgedanken ausgedrükt hat - des Ewigen; denn das ewige kann sich nicht spiegeln in gebrochnen Stralen" (WL 1801/02 II § 32; G A 11,6,226). Die eine Hälfte des direkten oder symbolisch-indirekten Offenbarungsgedankens trifft zu: Die Natur hat ihren Grund auch in Gott und macht das Ewige sichtbar. Das ist in der Idee des Absoluten und dessen Äußerung Inbegriffen. Aber darum offenbart, spiegelt, symbolisiert sich nicht das Ewige und Göttliche unverhüllt in der Natur. Solche Ansicht begreift nicht das absolute Wissen

Natur und Gott

431

und dessen verendlichende Bildformen als Daseins- und Spaltungsprinzip des ewig in sich geschlossenen Einen. Vom Mittel- und Vermittlungspunkt des Wissens aus schauen wir die Welt so hin, wie sie in den Bild- und Reflexionsformen des Ich zur Erscheinung gebracht wird. Nun wandelt sich aber das lebendige Göttliche nach Gesetzen der Reflexion zum Vorhandenen, und das Ewig-Eine spaltet sich in unendliche Mannigfaltigkeit. Mithin ist ausgeschlossen, daß sich - um im Sprachbild zu bleiben - das ewige Licht in der Natur wiederfindet; dort nämlich ist seine Einheit aufgespalten in mannigfaltige Strahlen. Anders, in der Korrelation von Offenbarung und Verhüllung formuliert: Der Anblick der vorhandenen Natur enthüllt nicht seinen göttlichen Ursprung, er verhüllt ihn, weil er unmittelbar gar nicht Bild des Absoluten, sondern unser Bild ist. In keiner Hinsicht also ist die Natur selber Bild Gottes. „Wir sind das Bild Gottes, und die Natur ist unser Bild" (TdB-II; NW 1,515). Und eine durchdringende Analyse der Bildverhältnisse von unsichtbarem Sein des Absoluten, intelligiblem Dasein des Menschengeschlechts und den aufzuhebenden Schranken der Endlichkeit erbringt für die Bestimmung der Natur das entscheidende Resultat, sie sei „Mittel der Ersichtlichkeit des Unsichtbaren" (TdB-II; NW 1,457). Das hat der Wissenschaftslehrer mit der Selbstsicherheit transzendentaler Evidenz seinen Hörern in Jena, in Erlangen, in Berlin eingeschärft: „Dies, meine Herren, und schlechthin nichts weiter ist die Natur in der ausgedehntesten Bedeutung des Worts" (WdG; G A 1,8,73).

13. KAPITEL Anerkennung. Das Bild der rechtlichen Welt Alle tiefergehenden Bestimmungen der Natur stimmen in einem Punkte überein: Der Naturglaube verwickelt die freie, selbstbewußte Vernunft in einen Widerspruch mit sich selbst. Das kommt heraus, wenn die dreifache Konsequenz des Naturglaubens, nämlich Dogmatismus, Fatalismus, Eudämonismus, durchschaut ist. Eine an ihr selbst bestehende Natur verschließt sich mir gänzlich, ihr Kausalgesetz determiniert mich, ihr Grundtrieb treibt mich in sinnlosem Kreislaufe zur bloßen Selbsterhaltung und zum Genuß um des Genießens willen. Findet somit das Selbstbewußtsein in einer ihm voraus- und zugrunde gelegten Natur nichts als Widerspruch, dann geht es, um Halt und Stand zu gewinnen, notwendig auf sich selbst zurück. Die erste Rückwendung vom „stehenden Objekt" führt das Bewußtsein zum „stehenden Subjekt", der individuellen, empirischen Ichmannigfaltigkeit in zeitlich-geschichtlicher Mitwelt. Als deren Bestand und haltgebende Substanz bietet sich das Recht an. Die Einrichtung einer Rechtsordnung verspricht, ein freies Verhältnis unter Vernunftwesen zu stiften. Das geistige Element dieser rechtlichen Weltordnung heißt Anerkennung. Bekanntlich hat Kant die Frage „Was ist Wesen und Grund des Rechts?" klassisch beantwortet: der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach dem Gesetz freier gegenseitiger Einschränkung und Rücksicht zusammen bestehen kann. Neben Kant und vor ihm hat Fichte die Theorie des Rechts auf die Wechselbestimmung der Anerkennung gegründet („Meine Rechtslehre war früher denn die Kantische ,zum ewigen Frieden'"; RL; NW 11,498 - der Text folgt der Ausgabe von R. Schottky, Hamburg 1980). Fichte waren bei der ersten Grundlegung des Rechtsverhältnisses weder Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre" noch gar die umfangreichen Vorarbeiten dazu - sie sind erst in diesem Jahrhundert publiziert - bekannt. Ihm stand Kants Projekt „Zum ewigen Frieden", 1795 vor Augen, und er nahm in vermeintlichem Einverständnis mit

Anerkennung

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Kants Ethik den Begriff des Erlaubnisgesetzes als Beleg dafür, daß auch Kant das Rechtsgesetz strikt vom Sittengesetz unterscheide.141 Das genuine Element der Fichteschen Rechtslehre aber bildet die eigens dafür eingesetzte Anerkennungsstruktur. Einzig unter der Bedingung wechselseitiger Anerkennung löst sich das Gegeneinander willkürlicher Naturkräfte in das Rechtsverhältnis zwischen Rechtssubjekten auf. „Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen... Der aufgestellte Begriff ist höchst wichtig für unser Vorhaben, denn auf demselben beruht unsere ganze Theorie des Rechts" (NR § 4; G A 1,3,351). So steht es in der frühen „Grundlage des Naturrechts" von 1796 (vor Kants „Metaphysik der Sitten", 1797). Und so bleibt es auch in der Vertiefung der Wissenschaftslehre nach 1800 durch alle Veränderungen und Umbrüche von Fichtes Rechts- und Staatslehre hindurch. Wie aber kommt es zu solchem Ansatz? Warum baut Fichtes transzendental-kritische Theorie des Rechts trotz wachsender Hobbes-Nähe nicht auf der großen Gegenkonzeption, dem Naturrecht der Selbsterhaltung und Selbstbehauptung (conservatio sui, Self-Preservation) im Sinne von Hobbes, Mandeville oder Spinoza?142 Die Entscheidung darüber fällt in der Ersten Philosophie. Fichte jedenfalls nimmt von Anfang an

141

142

Eine abwägend klärende Vergleichung der Kantischen Grundsätze über das Recht mit Fichtes Naturrechtssystem unternimmt Wolfgang Bartuschat, Zur Deduktion des Rechts aus der Vernunft bei Kant und Fichte, in: Michael Kahlo (Hg. u.a.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis, Frankfurt a. M. 1992,173-193. Dabei wird Fichtes Rechtsbegriff als technisch-praktisch, als von zufälligen Bedingungen abhängig, als bloßes Mittel atomisierter Subjekte, eine Gemeinschaft einzurichten, wenn man sie überhaupt wolle, eingeschätzt und gegenüber dem unbedingt-praktischen, durchaus mit Pflichten verbundenen Rechtsbegriff Kants abgeschätzt. Fichte nehme dem Recht die Verbindlichkeit des Unbedingten, weil er mit dem Rechtsprinzip zugleich dessen Anwendbarkeit deduzieren wolle. - Aber bewährt sich nicht ein Grundsatz (des Rechts, der Sittlichkeit) gerade am Prinzip seiner Anwendbarkeit? Daß Fichte im Rahmen der neuzeitlichen praktischen Philosophie in die Cartesische Tradition einzuordnen ist und in John Locke einen Vorläufer darin hat, Begriff und Verbindlichkeit des Rechts auf die Gewißheit von Selbstbewußtsein und Willen zu gründen, und wie es mit der Entfaltung des Naturrechts aus Prinzipien der „Grundlage" und der „WL nova methodo" steht, untersucht Ludwig Siep, Naturrecht und Wissenschaftslehre, in: Michael Kahlo (Hg.), a.a.O., 71-91.

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die Wissenschaftslehre als prima philosophia für die Grundlegung von Natur, Recht, Moral, Religion, Wissenschaft in Anspruch. Und natürlich dringt noch die Rechtslehre 1812 darauf, den Rechtsgrund gegenseitiger Anerkennung „durch eine Deduktion auszumitteln, die in die WL gehört und die die Rechtslehre jener mit Recht überläßt. Denn jede besondere Wissenschaft geht aus von ihrem Grundgesetze als einem Faktum woher es sei als dem letzten Grunde" (RL; NW 11,500). Merkwürdigerweise hat nun Fichtes Systementfaltung die Ableitung der Anerkennung als Rechtsgrund aus dem Prinzip der Wissenschaftslehre zweimal unternommen. Klassische Dokumente dafür sind das 1. Hauptstück der „Grundlage des Naturrechts", 1796 und der 28. Vortrag der Wissenschaftslehre 1804, Zweite Fassung. Die erste „Deduktion des Begriffs vom Rechte" (NR §§ 1-4) hat Epoche gemacht. Sie gehört zu den meistdiskutierten Stücken der philosophischen Weltliteratur im Horizont des neuzeitlichen Idealismus. Die zweite wird kaum erwähnt. Und doch ist sie umfassender und tiefer. Das liegt einfach an der Vertiefung des Deduktionsgrundes, an der wachsenden Selbstdurchdringung des Ich bis in seine Wurzel und Grenze. Das Naturrecht von 1796 setzt ein beim sich selber wollenden Willen oder dem Trieb freier Wirksamkeit aus praktischer Vernunft. „Das praktische Vermögen ist die innigste Wurzel des Ich" (NR § 1; GA 1,3,332). Die spätere Wissenschaftslehre dagegen geht auf den Trieb des Ich zurück, sich selbst als Erstes Prinzip aus Sehnsucht nach dem Ewigen zu vernichten. Die Religionsschrift von 1806 erklärt: „Dieser Trieb, mit dem Unvergänglichen vereinigt zu werden und zu verschmelzen, ist die innigste Wurzel alles endlichen Daseyns" (AsL 2. Vorl.; SW V,407). Und die letzte Fassung einer Bild- und Lebenslehre wird die Freiheit des Ich-Willens als einzig reales Dasein des Absoluten erklären. Das hat Folgen für die Verfassung der Menschenwelt. Die erste Deduktion der Rechtsordnung unter Menschen schließt sich in den Horizont der Selbstmächtigkeit praktischer Vernunft ein. Sie thematisiert durchschlagend die bis dahin fast unberührten Problemkreise von Fremderfahrung (alter ego) und Intersubjektivität, Du-Anspruch und Erziehung, Individuum und Gemeinschaft und bringt die Eigenart der Rechtsgemeinschaft unter den Kategorien von freier Anerkennung, Rechtsgesetz, Zwang, Abschreckung, Friedenssicherung in Abhebung gegen Achtung, Sittengesetz, Nötigung und Gewissen des Einzelnen ins reine. Das sind weittragende Einsichten. Aber dieser erste Ansatz vermag die inneren Zusammenhänge der herausgegrenzten Weltansicht des Rechts mit

Anerkennung

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Natur und Religion nicht zu sehen und die Frage einer Sanktionierung des Rechts nicht zu lösen. Dazu müssen Natur und Menschenwelt aus einem Prinzip erörtert werden, welches den Sinn der Natur und die Liebe Gottes in die Grundstellung von Anerkennung und Achtung des Menschen gegenüber dem Menschen miteinbezieht. Und dafür ist die komplexe fünffache Weltansicht und Lebenshaltung von Naturglaube, Legalität, Moralität, Religion und Wissenschaft (Philosophie) aus einem Standpunkt der prima philosophia zu erhellen, der die Freiheit der praktischen Vernunft kritisch-besonnen auf das abgestufte Leben des Absoluten zurückstellt. Das geschieht in Fichtes Bild- und Erscheinungslehre.

13. l Anerkennung - Wortfindung und Begriffsprägung Das Kompositum „anerkennen" („Anerkenntnis") gehört mit Wendungen wie „seine Unterschrift, jemandes Eigentum, ein Kind, den König, seine Erfolge anerkennen" von Hause aus in die Geschäfts- und Rechtssprache. Dem entspricht lateinisch „filium, patrem agnoscere" in der vorphilosophischen Bedeutung: im Akt öffentlicher Zustimmung ein Rechtsverhältnis publik und festmachen. Im deutschen Sprachgebrauch wird diese Wendung erst in der Goethezeit gängig. Fichte ist dafür Kronzeuge.143 Bezeichnenderweise braucht Fichtes große Revolutionsschrift das Wort neben Wendungen wie „die Kirche nicht anerkennen", „jemanden als Eigentümer anerkennen" (BzR; SW VI.278) zur Definition der politischen Freiheit als „das Recht, kein Gesetz anzuerkennen, als welches man sich selbst gab" (BzR; SW VI,101 Anm.). Auf dem Boden der Wissenschaftslehre ist es zum philosophischen Grundwort geprägt worden. Es wird eingesetzt, um das Eigentümliche personaler Wechselbestimmungen in rechtlicher Welt auszudrücken. Jeman-

143

Vgl. Deutsches Wörterbuch der Brüder Grimm 1854, Neudruck München 1984 Bd. 1,320. Das Wort fehlt übrigens in dem für das philosophische Begriffsbewußtsein heute repräsentativen Ritterschen „Historischen Wörterbuch der Philosophie". Dort gibt es unter dem Stichwort „Anerkenntnistheorie" allein den Hinweis auf (Freges) Ansicht des Urteilens als „etwas in Gedanken als wahr anerkennen"; Albert Menne HWP, 1,300-301.

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den anzuerkennen heißt sonach definitiv, ihn in seinem Anspruch als ein ebenbürtiges Rechtssubjekt in Tat und Wirklichkeit gelten zu lassen. Bekanntlich hat Fichtes Leitwort Eingang in die Hegeische Begriffswelt gefunden: in den frühen Jenaer Schriften als Synthese von Liebe und Kampf, in der „Phänomenologie des Geistes" als Ringen um Prestige, als Bedingung für die Aufhebung der Knechtschaft des Arbeiters (A. Kojeve), durchgängig als Substantialität des Rechtszustandes im Wechselverhältnis von Rechtssubjekten, und in der „Enzyklopädie" auf der Stufe des anerkennenden, freien, allgemeinen Selbstbewußtseins wird Anerkennung die Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit der Familie, des Vaterlandes, des Staates; sowie aller Tugenden, - der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms (Enz. §§ 430-436 Zusatz; ThW X,227). Von früh an, seit der „Jenaer Realphilosophie" zeigt sich die Hegeische Tendenz, den Kampf um Anerkennung an Phänomenen sozialer Nichtanerkennung (Herr und Knecht) festzumachen, das Rechtliche mit der Sittlichkeit zu verknüpfen und die Wechselwirkung der Anerkennung auf die Dialektik der Liebe zurückzuführen. Auf die Autorität von Hegels Satz, das Selbstbewußtsein sei nur als anerkanntes, beruft sich eine theologische Anthropologie (W. Pannenberg): Alle Verbindung zwischen Menschen sei nur auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung möglich, von der notgedrungenen Anerkennung der Gewalt bis zur Anerkennung zwischen Freunden, Eheleuten und in personaler Gemeinschaft; Anerkennung und Recht ihrerseits aber wurzeln im Achten auf die Welt-Gottoffenheit des unverfügbaren Mitmenschen und der Liebe zwischen Personen vor Gott144. Der nötige Rückgang auf die Fichtesche Urprägung des Wortes aber 144

Vgl. Wolfhart Pannenberg, Was ist der Mensch? Göttingen 1962,58-61. - Hegels Begriff der Anerkennung aus Fichteschen Wurzeln als Grundlage praktischer Philosophie verfolgen zwei große Abhandlungen: Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes. Freiburg/München 1979 - in Rücksicht auf die Vermittlung von Selbsterfahrung und Institution; Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption. Stuttgart 1982 - unter dem Vorblick einer Revision der Hegeischen Moralitätskritik aus einer praktischen Weiterentwicklung von Fichtes Theorie der Selbstbeziehung, der Anerkennung und des Willens. Das zielt auf die Begründung der Gültigkeit moralischer Prinzipien durch den Aufweis einer transinstitutionellen wechselseitigen Anerkennung als Bedingung der Ich-Identität und deren Verknüpfung mit der spezifisch sittlichen Ebene der Moralität ab.

Anerkennung

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hat solche Überdehnung und Vermischung der Begriffssphären zu verhindern. Dabei bleibt die Verflechtung der Anerkennung mit Ehre, Lob, Prestige, Ruhm - in umgangssprachlichen Wendungen wie „seine Anerkennung aussprechen", „jemandem Anerkennung zollen" - beiseite. So spricht das gängige Wort nicht von Rechten oder Rechts- und Geltungsansprüchen, sondern von Meriten, Leistungen, Erfolgen, die „Anerkennung verdienen". Das hat seine Geschichte. Bekanntlich billigte Cicero (De re publica I,2;V,4) Anerkennung und Ruhm durchaus als ehrenhaften Lohn für das Streben der Besten, das Wohl des Gemeinwesens zu besorgen (adpetentia laudis et honestatis), aber Augustinus hat im Gegenzug die concupiscentia humanae gloriae verworfen: als Merkmal der Gott abgewandten weltlichen Leute und der civitas terrena (De civitate dei V, 12-19). Und die Verdächtigung, Streben nach öffentlicher Anerkennung sei ehrgeizig, eitel und korrumpierend, ist anscheinend unwiderruflich. - Der von Fichte zugrunde gelegte Sinn der Anerkennung spricht jedenfalls vorzüglich aus dem Vorblick dreier Kategorien: 1. des Handelns, 2. der Einschränkung oder Teilbarkeit, 3. der Wechselbestimmung. Er bringt diese im Gebiet der Mitwelt (Gesellschaft und Rechtsstaat) zu Gehör. 1. „Nur Handeln ist ein solches gemeingültiges Anerkennen" (NR § 4; GA 1,3,353). Einen Menschen anzuerkennen bedeutet etwas anderes, als ihn zu erkennen. Erkenntnisstreben geht auf die Gedanken des anderen, und die bleiben meinem Wissen ebenso verborgen wie meine dem anderen. Das Anerkennen dagegen vollzieht sich in einem äußeren Handeln. Dabei kommt handgreiflich heraus, was Menschen voneinander halten, nämlich ob sie einander wirklich als Personen respektieren oder nicht. Freilich ist dieses Handeln ein anderes Tun als einfach ein KundTun mit Worten. Nach neuen, aufschlußreichen Einsichten scheint eine rechtliche (vertragliche oder deklaratorische) Äußerung wie „Ich erkenne etwas oder jemanden an" vom Handlungsvollzug selbst nicht getrennt werden zu können. Also wäre das Anerkennen ein Handeln im Sinne eines performatorischen Sprechaktes, dessen „Glücken" Rechtsverhältnisse stiftet? Im Lichte von Fichtes sprachkritischer Unterscheidung zwischen praktischen Auswirkungen von Willenshandlungen und Erklärungen von Absichten im Redevollzug erfüllt sich die Praxis allgemeingültigen Anerkennens nicht schon in der Absichtserklärung eines Sprechaktes. Wirklich bezeugt und bewährt ist Anerkenntnis in einer

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sich frei äußernden Wirksamkeit des Willens, die auf die äußere Freiheit anderer Vernunftwesen in raum-zeitlicher Sinnenwelt einwirkt. „Diese Anerkennung muß eine tätige sein (nicht bloß mit Worten)" (RL; NW 11,606). Also anerkenne ich jemanden dadurch, daß ich ihn faktisch als Wesen, das Rechte hat, behandle und nicht als bloße Sache meiner Verfügungsgewalt unterwerfe. Das wird jedermann empfindlich in den Folgen der Nichtanerkennung, wodurch irgendwer mich an Leib, Eigentum oder Leben kränkt, stört, verletzt, beraubt, bekriegt, vernichtet. „Er raubt mir durch sein Handeln die mir zukommende Freiheit, und behandelt mich insoferne als Objekt" (NR § 4; GA 1,3,355). Nun scheint dieses Handeln eher ein Lassen denn ein Tun zu sein. Geht der Akt rechtlicher Anerkennung nicht darin auf, andere Eigenbereiche - gar aus bloßem Eigeninteresse der Individuen - nicht zu verletzen und die Freiheit der anderen nicht zu hemmen? Die negative Formel „Hemme niemandes Freiheit, insofern sie die deinige nicht hemmt" (BzR; SW VI, 130) taucht schon in der Revolutionsschrift 1793 auf, und noch am Ende, unter dem Einflüsse der Idee geschichtsphilosophischen Heilsfortschrittes formuliert die Staatslehre 1813 das äußere Recht negativ: „Es ist Vernunftgesetz, dass keiner die Freiheit eines Anderen und des Ganzen stören oder aufhalten soll" (StL; SW IV,432). Schmälert das nicht die Dignität solchen „Handelns"?145 Indes, die positiven Tendenzen und Effekte der Anerkennungshandlung dürfen nicht abgeschwächt oder gar unterschlagen werden. Gegenseitige Anerkennung verbindet sich elementar mit menschlicher Fremderfahrung und eröffnet die Möglichkeit friedlichen Miteinanderseins. Im Anerkennen schone ich den anderen. Ich unterlasse nicht nur Störungen gegen ihn, ich lasse ihn in seiner Individualität sein und als Gemeinschaftswesen gedeihen. Dieses „Verhalten" durchdringt die Fremde eines Nicht-Ich-Ich außer mir und überwindet die gleichgültige Indifferenz, die sich im bloßen Nicht-Lädieren durchaus ausdrücken kann. „Ausserdem bleiben wir geschieden und sind gar nichts für einander" (NR § 4; GA 1,3,352).

145

Das zuständige subtile Standardwerk von Hansjürgen Verweyen, Recht und Sittlichkeit in J.G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg/München 1975 fixiert die Anerkennung wohl doch zu einseitig auf ein Nicht-Lädieren aus Eigeninteresse und auf ein bloßes Abgrenzen ohne Vermittlung der einzelnen Wirksphären. Verweyen rechnet diesem Ansatz individualistische Verkürzung und verflachte Interpersonalität nach, worin die Einzelnen einander fremd bleiben.

Anerkennung

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2. Damit eine rechtliche Welt entsteht, muß die Enthemmung, durch welche die totale Freiheit der verschiedenen Willen einander stört, aufgehoben werden. Wollen nämlich alle unbedingt frei sein, dann entsteht Unfreiheit des Einzelnen. Was sich als seiend vorfindet, ist die Vielheit mehrerer und nicht schon die Einheit eines einzigen mit sich einigen Willens. Der Weg zur Einigkeit führt allein über die dauerhafte Einschränkung der Willkür des Einzelnen innerhalb der daseienden Vielheit mit sich streitender Willen. Der Rechtsgrund der Anerkennung untersteht der Kategorie der Schranke und Einschränkung. „Ich muß das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d.h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken" (NR § 4; GA 1,3,358). Einschränkung (Limitation) aufgrund der Teilbarkeit ist bekanntlich der reine kategoriale Begriff der ersten synthetischen Handlung des Ich überhaupt. Nun kommt die Einschränkung in rechtlicher Anerkennung als Bedingung des Zusammenbestehens meiner mit jedermanns Willkür zur Anwendung. Die Hypothesis eines „wahrhaft unendlichen", d.h. in Gegenstand und Schranke zu sich zurückkehrenden Willens als Geist des Rechts (vgl. Hegel, Rechtsphilosophie § 22) kann die Synthesis einschränkender Anerkennung nur als einfache Negation mißverstehen. Sie verkennt die Kraft der einschränkend-einteilenden Vermittlung. Eine Schranke grenzt ab. Sie bedeutet dem Ausgreifen der Willkür: Bis hierhin und nicht weiter! Aber sie vereinigt und versöhnt auch, nämlich durch aufteilende Abteilung. Im Vollzug der Selbsteinschränkung schreibe ich den Teil der äußeren Freiheitssphäre, den ich mir selbst versage, dem anderen zu, und mir widerfährt von der anderen Seite eine entsprechende Zuteilung. Also grenzt sich der „negative Wille" nicht nur von einem anderen ab, er vereinigt sich mit ihm aufgrund der Teilbarkeit des äußeren Freiheitsraumes. „Es geschieht hier eine Vereinigung entgegengesezter in Eins" (NR § 4; GA 1,3,354). 3. Freilich, solche Vereinigung steht unter einer Bedingung. Rechtlich zwingend wird meine Einschränkung lediglich unter der Voraussetzung der Gegenseitigkeit. Ich schmälere niemandem das Seine, solange er das Meinige nicht schmälert. Ich erhalte meine Rechte vom anderen, solange ich ihn durch Einschränken meiner Willkür als meinesgleichen anerkenne, und der andere erhält seine, so wie er den Teil meiner Freiheitssphäre schont. „Man hat Rechte, so weit man Rechte zugesteht" (RL; NW 11,507). Schrankenloses Recht, ein ius in omnia ist ein hölzernes Eisen. Gegen solche wechselhafte Bedingtheit könnte ein (Kanti-

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scher) Vorbehalt ins Feld geführt werden: Das Recht besitze seinem hypothetischen Charakter zum Trotz doch die Dignität eines unbedingten praktischen Begriffs. Er verbinde sich nämlich mit der Pflicht, ein rechtlich geordnetes Gemeinwesen einzurichten. Aber das gilt nach Fichte für die Versittlichung der „Gesellschaft" als Bestimmung des Menschen, nicht für die Ordnung und Einordnung als Bürger in die Institution eines Rechtsstaates. Einrichtung und Anordnung von Rechtsverhältnissen zwischen Bürgern in geschichtlich kontingenten Notstaaten stehen unter der Bedingung des Entschlusses, in dieser durch Wechselseitigkeit ausbalancierten Gemeinschaft leben zu wollen. Soweit ist der Begriff der Anerkennung in seiner kategorialen Verfassung als ein Handeln der Willkür im Modus der Einschränkung unter der Bedingung der Wechselseitigkeit beschrieben. Er hebt sich deutlich gegen die Akte interpersonaler Achtung und Liebe ab. Natürlich verlangt auch die Achtung, sich in den je eigenen Schranken zu halten und sich nicht über den anderen zu erheben, um ihm nichts an seinem Wert als Mensch zu entziehen (vgl. Kant, Met. d. Sitten II §§ 23 ff.). Aber sittliche Selbstbeschränkung stellt keine Bedingungen. Achtung sind sich Menschen unbedingt schuldig, und Liebe wendet sich auch und gerade den Verachteten und vom Recht Ausgeschlossenen zu. Zudem betrifft das Rechttun aus Anerkennung nur „äußere Handlungen", in denen pflichtgemäßes Tun mit der Triebfeder aus Pflicht nicht übereinzustimmen braucht. Rechtsobligationen sind keine Tugendpflichten. So verblaßt der Wert rechtlicher Anerkennung gegenüber einem Handeln in Achtung vor dem unbedingt verpflichtenden Sittengesetz, und die Reduktion auf die bei Kant sogenannte bloß juridische oder bürgerliche Legalität, die nur den Buchstaben, nicht den Geist des Gesetzes erfüllt, kann den trügerischen Schein rechtlichen Handelns bei ausbeuterischer Gesinnung verfestigen. Gleichwohl sollte das oft abgeschätzte legale Verhalten rehabilitiert werden. Es lebt aus der Wurzel von Anerkennung, Respekt und gegenseitiger Rücksicht. Der positive Sinn äußeren Handelns liegt eben darin, daß in ihm das Anerkanntsein greifbar wird. Recht verzichtet auf Innerlichkeit. Dadurch wird die Einhaltung seiner Grenzen überprüfbar und erzwingbar. Das wußten schon Hobbes (Leviathan XIV-XV) und die Kanonistik: Gesinnungen bleiben rechtlich irrelevant, allein Taten sind justitiabel; sie gehören vor den Gerichtshof des Rechts, nicht vor das Forum des Gewissens. Und mit dem Erzwingen der Handlung, in der sich die Freiheit eines unbedingten Willens in Rücksicht auf die äußere Freiheit anderer auf der Basis

1. Deduktion des Anerkennungsprinzips

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gegenseitigen Respekts tatsächlich einschränkt, stehen und fallen Koexistenz und Frieden in der Menschen weit.146

13.2 Einige Anmerkungen zur L Deduktion des Anerkennungsprinzips (Grundlage des Naturrechts 1796, §§ 1-4) Mag ein anerkanntes Recht auch im Bewußtsein vorkommen und faktisch eine eigentümliche Lebenshaltung der Rechtlichkeit konstituie-ren, fraglich ist immer noch, ob solche Eigenständigkeit der Menschheit wesensnotwendig zukomme. Das wird gerade im Zeitalter der Umwälzung des „Notstaates" und der „bürgerlichen Gesellschaft" zur brennenden Frage. Sind Rechtsstaatlichkeit und Zwangsgesetzlichkeiten vielleicht nur künstlich gesetzt und äußerlich oktroyiert? Sind sie, historisch wie systematisch betrachtet, kontingent? Haben sie vielleicht nur den einzigen Sinn, sich selbst aufzuheben und zum Verschwinden zu bringen? Solche Bedenken münden in die vielschichtige Problematik des Naturrechts ein. Im Horizont der Transzendentalphilosophie evozieren sie den Versuch, das Rechtsbewußtsein aus dem Prinzip des Selbstbewußtseins herzuleiten. Die erste „Deduktion des Begriffs vom Rechte" (NR §§ 1-4) leitet Recht und allseitige Anerkennung aus der praktischen Vernunft ab. So begründet sich die Annahme, der Boden des Rechts sei das Geistige, sein Ausgang der freie Wille, sein System ein Reich verwirklichter und 146

Die ebenso anregende wie scharfsinnige Studie von Andreas Wildt, Recht und Selbstachtung im Anschluß an die Anerkennungslehren von Fichte und Hegel, in: Michael Kahlo (Hg.), a.a.O., 127-172 sucht Fichtes Anerkennungstheorie in die Zusammenhänge von Menschenrechten, Würde und Selbstachtung fortzuentwickkeln. Sie schließt sich dabei an Joel Feinberg, The Nation and Value of Rights, in: Ders., Rights, Justice and the Bound of Liberty, Princeton 1980,143-158 an, wonach Rechte konstitutiv für die Selbstachtung von Personen und deren Menschenwürde seien; und er setzt sich mit John Rawls auseinander, um dessen Vermischung von self-respect und self-esteem zu klären. - Deutlich ist, daß solcher Anschluß an Fichte dessen originale Intention verkehrt, wenn Grundsatz und Syllogismus der Anerkennung durch den Begriff der Selbstachtung ersetzt werden. Dieser kommt im „Naturrecht" nicht vor, weil er eindeutig der Stufe der Moralität zugehört. Ich soll mich selbst achten und kann mich selbst verachten, Anerkennung dagegen kommt mir durch andere zu. Und der Trieb, „der mich zur Selbstachtung auffordert" und mich vor Selbstverachtung schützt, ist der reine Trieb, der als sittlicher in den Naturtrieb eingreift (SSL § 10; GA I,5,134ff.).

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ständig gefährdeter Freiheit als Vollzug gemeinschaftlicher Anerkennung und Selbstbeschränkung im zwischenmenschlichen Handeln. Fichte hat ausdrücklich klargestellt: Wer wie Spinoza die Willensfreiheit leugnet, muß auch die Realität des Rechtsbegriffs leugnen (NR §11; GA 1,3,409-410).147 Aber es tut not, hinzuzufügen: Menschliche Freiheit bedeutet Chance und Gefahr in eins, sie ist Auszeichnung und Last zumal. Wer in der Freiheit lebt, lebt mit der Sorge, daß die Selbstbeschränkung nicht vollzogen und der Frieden angegriffen werden kann. Die Sterne in ihrer Bahn können einander nicht angreifen, sie folgen dem Gesetz der Natur. Freie Vernunftwesen dagegen stören einander die Freiheitswege, bei aller Sicherheitsversorge kann das Prinzip der Anerkennung versagen. Das bringt das Leiden mit sich, Liberalität und Sicherheit niemals perfekt ausgleichen zu können. Wo solches Leiden nicht akzeptiert wird, wachsen Utopien total gesicherten Friedens, die in totalitäre Herrschaftsstrukturen umschlagen, weil sie das Risiko der Freiheit scheuen. Eine transzendentale Deduktion will die Idee des Rechts als rein apriorischen Begriff im System der Vernunft nachweisen. Dieser Anspruch geht über Kant hinaus. Kant beläßt es beim apagogischen Hinweis: Das Freiheitsgesetz einer potentiell feindseligen Willkür verlangt, soll es sich nicht widersprechen, gegenseitige Einschränkung und Rücksicht. Fichte dringt auf die transzendentale Einsicht: Das Rechtsverhältnis gehört unter die notwendigen Bedingungen wirklichen Selbstbewußtseins. Der Beweisgang durchläuft folgende Schritte: - Kein Ich ohne freie Wirksamkeit der praktischen Vernunft, - keine freie Wirksamkeit ohne Zeitigung der Zeit als Jetztfolge, - kein Wirksamwerden der Freiheit in einem Momente der Zeit ohne Aufforderung (Aufruf zu zukünftiger Selbsttätigkeit),

147

Diese Konsequenz hat Nietzsches Nihilismus gezogen. Aus der Entlarvung einer „Freiheit" der „Vernunft" als Trieb nach Macht folgt der Satz: „Es giebt weder ein Naturrecht noch ein Naturunrecht" (MsA IX,207). Im Ganzen wertet Nietzsche das Anerkennungsprinzip um, indem er Spinozas Erhaltungsrecht zu einem Wachstums- und Angriffsrecht radikalisiert (MsA XIX.164-165). Das über sich hinausdrängende Leben rechtfertigt es, sich seine Rechte zu rauben. „Die Rechte, die ich mir erobert habe, werde ich dem anderen nicht geben: sondern er soll sie sich rauben!" (MsA XIV,126). Das kehrt Fichtes Naturrecht in das Lebens- und Raubrecht gegenseitiger Nichtanerkennung um: Ich ,anerkenne' den anderen als Raubtier.

l. Deduktion des Anerkennungsprinzips

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-

keine Aufforderung an ein mögliches Ich ohne Koexistenz mit einem anderen Ich außer mir, - keine problematische Koexistenz ohne kategorische Anerkennung des anderen als Person, - keine kategorische Anerkennung ohne generelle Gegenseitigkeit. Also gilt: Kein Ich ohne wechselseitige Anerkennung oder ohne das Verhältnis des Rechts.148 Recht ist ein erfahrungsunabhängiger, rein apriorischer Begriff. Er stammt nicht aus der Erfahrung tatsächlichen Zusammenlebens von Menschen unter Menschen, er geht untrennbar mit der Vernunftnatur des Menschen mit. So lassen sich die Erschließungen Fichtes als transzendentale Deduktion lesen, d.h. als jene Rechtfertigung, die es unternimmt, dem reinen Begriff des Rechtsverhältnisses die ihm gebührende objektive Realität nachzuweisen. Bemerkenswert ist, daß so die rechtliche Welt als unausweichlicher Vernunftstandpunkt aus notwendigen Bedingungen der Selbst-Werdung praktischen Selbstbewußtseins freigelegt wird. Zugleich ist nicht zu übersehen, daß sich eine deduktive Ableitung einmischt, welche formal das Einzelne aus dem Allgemeinen herleitet: das Individuum in der Genese seines Selbstbewußtseins in der Zeit bei Einbeziehung interpersonaler Konkretionen von Freiheit und Wille überhaupt. Dabei zergliedert die transzendentale Deduktion genau das, was auf der Reflexionsstufe des werdenden Ich vor sich geht, wenn im Vollzug von Aufforderung und Anerkennung mit dem Selbst- das Rechtsbewußtsein erwacht. Nun sollen hier die Einzelschritte der Deduktion nicht geprüft und deren Probleme verfolgt werden: der merkbare Methoden Wechsel, die Untiefen im Ansatz der Interpersonalität, die logische Ungenauigkeit der Folgerungen, der Bruch im Zusammenspiel von erziehender Aufforderung und rechtlicher Anerkennung, die Divergenzen zwischen Ablei-

148

Diese Aufreihung akzentuiert und modifiziert die klassische Nacherzählung eines Kuno Fischer, Fichtes Leben, Werke und Lehre. Heidelberg41914,382 in einigen Gliedern. - Daß solche transzendentale Deduktion auf der Reflexionsstufe des analysierenden philosophischen Bewußtseins mit der Selbstreflexion des Individuums zusammengehalten ist, das sich zum realen Bewußtsein des Rechtsverhältnisses erhebt, indem es seine Genese versteht und sich dadurch einer Ich-Du-Beziehung auf der Vernunftstufe des Rechts öffnet, hat Rainer Zaczyk zum Leitfaden seiner Untersuchung genommen: Die Struktur des Rechtsverhältnisses (§§ 1-4) im Naturrecht Fichtes, in: Michael Kahlo (Hg.), a.a.O., 9-27.

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tung und Anwendung des Rechtsbegriffs 149, und es sind auch nicht die bedeutenden Anstöße für die Auffassung der Individualität (als Wechselbegriff der Gemeinschaft mit anderen), des Du (als notwendige Bedingung für die Genesis des Ich), der Fremderfahrung (über die Analyse zweckbestimmter Praxis) zu verfolgen.150 Die Erörterung betrachtet in einem Vor- und Überblick lediglich Anfang und Ende der ersten Deduktion, also die Dimension des Ersten Prinzips in Verknüpfung von reinem und zeithaftem Ich, und die Tragweite des Resultats, d.h. die Trennung von Legalität und Moralität. Am Anfang war das Wort Fichtes, die innigste Wurzel des Ich sei der Wille oder das Streben der praktischen Vernunft; „das Wollen ist der eigentliche, wesentliche Charakter der Vernunft" (NR § l Cor.; G A 1,3,332). Das Ich stellt vor, weil es willentlich handelt. Der Anfang der Wissenschaftslehre unmittelbar beim Willen ist vermittelt und Resultat der „Grundlage" von 1794/95. Die „Grundlage" nämlich hatte die Hauptantithesis herausgestellt: Das unbegrenzte (absolute) Ich der Tathandlung widerspricht in seiner schlechthin unbedingten Tätigkeit dem (theoretischen) Ich als objektbestimmter, begrenzter Reflexion; und sie hat die Hauptantithesis im Streben eines Willens aufgelöst, der Grenzen und Gegenständlichkeit setzt, um sie fortschreitend ins Unendliche zu entgrenzen. Sicherlich faßt die „Grundlage" 1794 noch nicht den Willen als Willkür im Stande der äußeren Freiheit und eine Wirksamkeit des Einzelwillens in der Mitwelt in den Blick, die auf andere Willenswesen und deren äußere Freiheit Rücksicht nimmt. Näher als die „Grundlage" 149

150

Über Brüche in der Systematik und Divergenzen zwischen den Teilen, z.B. zwischen dem zweiseitigen und zirkelhaften pädagogischen Verhältnis der Aufforderung und dem allseitigen, juridischen Verhältnis der Anerkennung vgl. Peter Baumanns, Fichtes ursprüngliches System, Stuttgart 1972,183ff. und Verweyen, Recht und Sittlichkeit passim. - Eine Metabasis der Methode, sofern sie in der „Grundlage des Naturrechts" über den Bereich des Transzendentalen im Sinne des NichtSinnlichen zur Individualität des Bewußtseins, seiner Leibgebundenheit und zur Interaktion leibgebundener Individuen hinausgeht, bemerkt Ludwig Siep, Begründung des Rechts bei Fichte und Hegel, in: Giornale di Metafisica V(1983)266. Eine letzte, ebenso gründliche wie beziehungsreiche Analyse hat Edith Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein, Köln 1986 für die „Grundlage des Naturrechts" und die WL nova methodo vorgelegt. Dabei ist Fichtes Theorie der Anerkennung zu Recht bis zur Thematik von Anerkennung und Leiblichkeit verfolgt (178-290) und Hegels Verknüpfung von Anerkennung und Selbstbestimmtsein von der Jenaer Erziehungskonzeption bis zur Anerkennung im Horizont einer trinitarischen Theologie (291-370) ausgefaltet worden.

l. Deduktion des Anerkennungsprinzips

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steht solche Mitwelt offenkundig deren Umarbeitung durch die Wissenschaftslehre nova methodo. Diese dringt auf einen intelligiblen Begriff der Individualität qua Interpersonalität als Grundmoment der Subjektivität selbstbewußten Wollens. Indessen lehrt die „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" den Primat der praktischen Vernunft und stellt die Anstrengung des Willens heraus, der dahin strebt, die Zusammenstimmung der Ich-Freiheit mit der durch Freiheit bestimmbaren Sinnenund Menschenwelt in fortgesetzten Willensakten zu erwirken. Daher tritt die Vernunft im Anfang des „Naturrechts" als freie Selbstbestimmung zur Wirksamkeit auf. Als Selbstbestimmung geht das Wollen auf sich als Prinzip zurück, als Wirksamkeit geht es darauf aus, die es hemmenden Objekte in der Sinnenwelt aufzuheben, als freie Willkür steht es ihm offen, ein Objekt anzugreifen oder vor ihm anzuhalten. Wie aber kommt diese freie Selbstbestimmung für eine Wirksamkeit-überhaupt zu Anerkennung und rechtlichem Handeln? Offenkundig im Medium interpersonaler Mitwelt. Recht ist Handeln aus praktischer Vernunft unmittelbar in der Vielheit unterschiedlicher Iche. Praxis und Wille der Anerkennung ordnen ursprünglich die Koexistenz empirisch-individueller Iche in zeitlich-geschichtlicher Mitwelt. Daher gibt es gar kein Naturrecht, welches natürlichen Einzelwesen inhäriert. Innerhalb dieser anfänglichen Verflechtung des Ich-will mit dem Aufforderungsimpuls des Du und dem Anerkennungsaustausch zwischen Rechtspersonen geschieht etwas Merkwürdiges. Die transzendentale Deduktion wechselt ihre Prinzipien. Grund ihrer Ableitung ist nicht mehr das reine zeitigende Subjekt-Objekt, sondern das in Zeit (und Raum) existierende und wirkende Subjekt inter subiectos.151 Der Ansatz des „Naturrechts" wiederholt die Herleitung der Zeit sukzessiver letzte im spatiierenden Schweben der zeitbildenden Einbildungskraft, und zwar als notwendige Bedingung der Wirksamkeit des Willens (§ 2). Von da wird das in Zeit und Werden seiende Selbstbewußtsein in den Zirkel des Vorher und Nachher versetzt. Es kann seine selbstbestimmte 151

Daß raum-zeitliche Verhältnisse und das Faktum der vernünftigen Begegnung in Raum und Zeit in den Bereich des Transzendentalen rücken, hat Ludwig Siep zu einer bemerkenswerten These geführt: Der Charakter der transzendentalen Methode verwandle sich ansatzweise zu einer Darstellung der Erfahrung des Bewußtseins; daraus erklärten sich die vermeintlichen Heterogenitäten in der ersten Grundlegung. Die Anerkennung trete dabei bruchlos als Konsequenz eines zunehmenden Bewußtwerdungsprozesses heraus: Methodische und systematische Probleme in Fichtes ,Grundlage des Naturrechts', in: TrG,290-307.

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Wirksamkeit in keinem Moment der Gegenwart anfangen, weil es zuvor immer schon durch das Objekt als vorgestellter Zweck bestimmt sein muß. Das Moment des Bewußt- und Freiwerdens entgleitet ständig in die Vergangenheit. Den Zirkel löst die Mäeutik erzieherischer Aufforderung. In diesem Akt der Geburtshilfe findet sich das Ich zur Selbstbestimmung in Dimensionen der Zeit bestimmt. Es wird im Moment des Noch-nicht-Tätigseins zum Selbsthandeln in künftiger Zeit herausgefordert. So verläßt die Deduktion gleichsam unvermerkt die zeitigende Ichheit und geht zur Existenz empirischer Iche in der Zeit über. Die Verknüpfung von Aufforderung, Anerkennung und Recht mit der Freiheit des Willens geschieht in transzendentaler Erwägung von Möglichkeitsbedingungen der Ichheit überhaupt. So wird das alter ego als letzte haltgebende Grenze des in sich haltlosen absoluten Ich im 2. Buch der „Bestimmung des Menschen", 1800 deduziert werden.152 Die Erörterung des Rechtsverhältnisses dagegen spielt sich auf der Ebene faktisch existierender Iche als unerklärter Vielheit in den Erstreckungen der Zeit unter dem Primat der Zukünftigkeit ab.153 So tritt zutage: Die wechselseitige Anerkennung von Rechtssubjekten ist nichts anderes als das unmittelbare Wirksamwerden menschlicher Freiheit und praktischer Vernunft in sinnlich-zeithafter, leibhafter Mitwelt.

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153

Das hat Walter Schulz einfach und prägnant herausgestellt: „Die Grenze, die das Ich als eine unbedingte anzuerkennen hat, ist das ihm gleiche Wesen, der Andere". Allein diese Grenze gibt dem in sich verschwebenden, grenzenlosen Ich Halt; J.G. Fichte. Vernunft und Freiheit. Pfullingen 1962,20. Ist das vielleicht ein Wink, Fichtes transzendentalen Ansatz durch eine daseinsanalytische Grundlegung des Rechts aus der Sorge des jemeinigen Ich um Recht und Frieden inmitten der Verfallenheit des Respekts durchschnittlichen Mitseins zu vertiefen? Bieten sich nicht Existenzialien an wie: In-rechtlicher-Welt-sein, Mitsein mit Rechtssubjekten, Jemeinigkeit des Eigentums, Verfallen in aufgescheuchter Furcht, Befindlichkeiten wie Besitzneid oder Mißtrauen gegen das Überholtwerden, Rücksicht und Anerkennung als wechselseitiges Seinlassen der Entwürfe des Daseins anderer in geschichtlicher Wirklichkeit und schließlich Zukünftigkeit als Erstreckung der Friedenssorge, Vorlaufen in Angst vor Völker- und Bürgerkrieg. Ein solcher Versuch ist, soweit ich sehe, noch nicht unternommen. Und selbst Fichtes exemplarische Verknüpfung der Koexistenz individueller Willenssubjekte mit Rechts- und Friedenssorge auf dem Boden der Zeitlichkeit und Zukünftigkeit blieb fast unbeachtet. Am nächsten vor solche Aufgabe führt die phänomenologisch wie ontologisch gleichermaßen erhellende Analyse von Wilhelm Weischedel, Der frühe Fichte. Stuttgart-Bad Cannstatt, 21973, § 33, 113-117.

Zwang, Selbstbehauptung, Abschreckung

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13.3 Eingrenzungen der rechtlichen Welt auf sich: Zwang, Selbstbehauptung, Abschreckung Am Ende trennt sich das legale, äußerlich-äußere Handeln des Ich vom moralischen; denn rechtliche Anerkennung konkretisiert sich unvermittelt unter der Bedingung wechselseitigen Sicheinschränkens in der Gemeinschaft individueller Iche. Die unbedingte moralische Anerkennung des anderen dagegen ist vermittelt, nämlich durch die Achtung vor dem Sittengesetz. Vor dem Anruf des Sittengesetzes steht die persona moralis mit ihrem Gewissen allein. „Da ist das Gesetz an mich allein gerichtet" (RL; NW 11,506). Achtung bildet ja auch primär nicht ein Gefühl für die Ebenbürtigkeit des alter ego, sie ist vernunfterwirkte Empfänglichkeit für die Unbedingtheit des sittlichen Gebotes überhaupt. Anerkennung dagegen fundiert unmittelbar die Bedingung förmlicher Wechselbestimmung inter subiectos, welche auf Gegenseitigkeit baut. Darum kann ihre Deduktion ethischer Maximen entbehren. So unleugbar das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimmt, so gewiß ist das Gesetz im Falle der Legalität nur Mittel sinnlicher Interessen an Folgen in unserem Zusammenleben. Also setzt die Herleitung der Moralität keineswegs die äußeren Bezüge zwischenmenschlichen, rechtlichen Mitseins voraus, und die Grundlegung des Rechtsgrundes führt nicht über die Moral. Und wie sollten sich auch, fragt Fichte, aus dem unbedingten Sollensgebot bedingte Erlaubnisgesetze herleiten (NR, Einl.; G A 1,3,324)? Zum Rechtsbegriff gehört es, daß sein Gesetz nur erlaubt, aber nicht verpflichtend gebietet, zugestandene Rechte auszuüben. Schon damit entzieht sich die Sphäre des Rechts und der realen Rechtsanwendung der Unbedingtheit kategorischer Nötigungen. Fichtes Auslegung des Erlaubnisgesetzes mag den Ansatz Kants mißverstehen; denn dieser rechnet das vom Gebot befreite Erlaubnisgesetz zum provisorischen Recht, das in ein endgültiges zu überführen sei; daher fallen Rechtssetzung und Erlaubnisgesetz nicht zusammen, die Erlaubnis geht vielmehr als Moment in die Verbindlichkeit des Rechts ein. Fichtes erste Grundlegung aber bemüht sich gar nicht darum, die Übergänge und Zusammenhänge der Rechts- und Moralstufe zu eruieren, es geht vorerst darum, die Eigenständigkeit der Deduktionsprinzipien im Lichte der Differenz zwischen einer hypothetischen Rechtsanerkennung und der unbedingten Achtung vor dem Sittengesetz freizulegen. Faktisch ist die Differenz zwischen rechtskonformem Vorgehen und

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dem Tun des Rechten unbestreitbar. Rechtliches und gerechtes, juridisches und ethisches Handeln laufen ja mitunter so weit auseinander, daß die Ausschöpfung eines Rechtstitels unmoralisch sein kann. Fichtes Vernunftrechtslehre macht dieses Faktum genetisch durchsichtig. Man mag das mit Hegel als Zerreißung von Legalität und Moralität und als Ablösung beider von der Sittlichkeit beklagen,154 aber vor solcher Anklage sind Berechtigung und Tragweite der transzendental-kritisch vorgetragenen Disjunktion zu ermessen. Bildet das Rechtswesen gegenüber der Moralität ein wohlbegründetes und unüberspringbares Weltverhältnis, dann dürfen seine beklagten Charaktere nicht durch inadäquate Moralisierungen denunziert werden: Das betrifft 1. die Dialektik des Zwangs, 2. die Rechtlichkeit der Selbstbehauptung, 3. die Berechtigung der Abschreckung. 1. Zwang gehört zum Recht. Nur das kann überhaupt Inhalt eines Rechtsgesetzes werden, was sich erzwingen läßt. Darum verliert der rechtliche Zwang im Gebiete der Moralität seine Macht. Gesinnungen, innere Freiheit, Menschenpflichten lassen sich nicht erzwingen. Das zwingende Recht ahndet das Übertreten der Rechtssphären und Zerstören von Urrechten. Der politische Moralist setzt jeden Zwang (übrigens auch den Selbstzwang der sittlichen Vernunft) mit Herrschaft, Repression und Fremdbestimmung gleich.155 Kritische Besonnenheit dagegen 154

155

Im Naturrechtsaufsatz von 1802/03 hebt Hegel die Trennung und Zerreißung von Moralität und Legalität als Schwäche des Fichteschen Systems heraus: Es gehen Einheit des Systems und Absolutheit des Prinzips verloren. Weil die Möglichkeiten der Moralität (Einessein des reinen Begriffs oder des Subjekts) und die Wirklichkeit der Legalität (Nichteinessein der Subjekte) notwendig entgegengesetzt sind, wird das Subjekt des Rechts und der Pflicht auseinandergerissen. Weil das Absolute (das reine Selbstbewußtsein) durch das reelle Bewußtsein der einzelnen Vernunftwesen in seiner Freiheit bedingt ist, verendlicht es sich. Und weil das Getrennte nur endlich äußerlich, durch Zwang, vereinigt wird, bleibt die Äußerlichkeit des Einesseins fixiert. Und die „Differenzschrift" macht gegen Fichte geltend: Seine Deduktion beleidige das Vorbild der Vernunfteinheit und ziehe den allgemeinen Willen auf die verselbständigte Sphäre der Individualität herab, statt ihn als objektiv-geistige Manifestation des Absoluten auszulegen. Solchen Einlassungen wird Fichtes Lehre vom Recht als Vernunftbild des Absoluten den Boden entziehen. So erscheint bei Bernhard Willms, Die totale Freiheit. Köln und Opladen 1967,90 jeder Zwang politisch als Herrschaft, d.h. als Fremdbestimmung. Aber das sind Vereinfachungen. Sie ignorieren nicht nur den moralischen Selbstzwang, der den

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anerkennt den Zwang unter guten Gesetzen und fordert seine Macht, um es uns allen für alle Zeit unmöglich zu machen, anerkannte Freiheiten angreifen zu wollen. Der Rechtszwang, beruhend auf der Anerkennung der vom Zwange Betroffenen, übt nicht von sich aus Gewalt, d.h. einen unrechtmäßigen physischen Übergriff aus, er überwältigt die Gewalt. Er verhindert die Verhinderung der Freiheit. Es darf eben das Rechtsverhältnis und seine Folgen, die Befugnis, den Rechtsverletzer notfalls mit physischer Gewalt zu zwingen, nicht auf die Stufe der Naturkräfte herabgezogen werden. Dann verkäme das Recht in der Tat zum Ausdruck einer physischen Übermacht, welche Gewalt besitzt und Rechte setzt, so weit ihre zwingende Kraft ausreicht, die Handlungssphäre der Schwächeren einzuschränken. Physische Gewalt ist und bleibt illegitim, und „Recht" ist nicht das, was ein organisierter Zwangsapparat als rechtens praktiziert. Selbstverständlich braucht es im Einklang mit dem Recht eine physische Einwirkung, um Unrechtshandlungen realiter einzudämmen; denn die Unrechtstat negiert die versprochene Anerkennung, wenn sie Gewalt anwendet, und das berechtigt den dazu Befugten, den anderen in solchen Fällen niederzuzwingen, d.h. ihn faktisch als Sinnenwesen zu behandeln, bis er wieder zur Vernunft kommt. Das schließt nicht aus, sondern gerade ein, mit dem Zwangshandeln die Aufforderung zur freien Eingliederung in die Rechtsgemeinschaft zu verbinden. Mithin steht es jedermann im Falle des Anerkennungsbruchs durch den anderen widerspruchslos frei, diesen als Naturkraft zu behandeln, ohne daß der andere sich auf das Recht berufen könnte. Er hat es ja selbst außer Kraft gesetzt, freilich nur solange er nicht zur Besinnung kommt. Und der Akt, in dem der so Be-

Neigungen Abbruch tut, sondern auch das Positive des Rechtszwanges, der das Negative, die Gewalt der Willkür, negiert. Freiheit manifestiert sich doch wirklich nicht in der Möglichkeit, ungestraft kriminelle Akte zu vollziehen, und die Einrichtung eines Rechts, das jede Gesetzesübertretung ahndet, schließt doch nicht jegliches freiheitliche Tun in einem Gemeinwesen aus (vgl. Verweyen, a.a.O., 126 ff.). - Theologisch formuliert: Weil auch die rechtsschöpferische Liebe nicht von der Sünde erlöst, bleibt der Zwang des Gesetzes unentbehrlich. Rechte müssen dem selbsterzogenen Menschen abgezwungen werden (W. Pannenberg, a.a.O., 71).

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fugte den anderen als Sinnenwesen behandelt, wird wohl zumeist vom Gezwungenen nicht bejaht, aber er ist doch im AnerkennungsVerhältnis vorgesehen. (Die faktisch versagte Zustimmung des Gezwungenen zu dem an ihm ausgeübten Rechtszwang gehört zu den Sophistifikationen unserer Rechtsvernunft.) Überdies ist es auch nicht recht einsichtig, warum Fichte vorgerechnet wird, das Rechtsverhältnis zur Zwangsanstalt zu pervertieren, wenn er das Zwangsrecht im Streben nach Sicherheit in Gegenwart und Zukunft einem übermächtigen Dritten überträgt. Eine sichernde Instanz ist nötig; denn es muß zweifelhaft bleiben, ob der andere mich aus Respekt oder nur zufällig rechtmäßig behandelt, ob er mich auch in der Zukunft nicht doch als Sache traktiert, und schon gar, ob sich eine sittliche Maxime mit dem Anerkennungshandeln verbindet. Und es ist eine Sicherung der sichernden Übergewalt - ein Überwachen der Wächter - dringlich. Sprechen hier nicht die Sorgen um einen Gewaltenmißbrauch und die Planungen eines Ephorats oder des Erziehungsstaates gegen einen „Hobbesianischen Absturz"? Wurzelt rechtlicher Zwang als Rechtsmoment in der apriorischen Einwilligung vernunftbefähigter Willenssubjekte zum tatsächlichen gegenseitigen Einschränken ihrer äußeren Freiheit, dann folgt daraus die Errichtung und Institutionalisierung von Gewalten zur Durchsetzung des Rechts unter guten Gesetzen gegen jeden möglichen Rechtsbrecher von selbst. Andererseits darf man das plane Rechtsverhältnis auch nicht höher heben und mit der Stufe der Moralität verquicken. Das ist immer noch aktuell und geschieht neuerdings da, wo das rechtliche Sichvertragen „konsensualistisch" in eine moralische Anerkennung herrschaftsfreier Diskursergebnisse verlegt wird. Das gefährdet die Rechtlichkeit durch solche, die sich einem praktischen Diskurs, seinen Bedingungen und Konsequenzen verweigern, wie durch jene, welche dem Recht doch durch äußere Sanktionen („repressiv") Geltung verschaffen wollen. Dagegen muß die unaufhebbare Differenz proklamiert werden: Recht ist nicht Moralität; beide sind Manifestationen der Vernunft und hängen als Vernunfterscheinungen zusammen, aber eben doch in auseinander zu haltender Abstufung. Darum ist es vorschnell, das Rechtsverhältnis auf Treu und Glauben zu stellen. Das Fundament aller Rechtssicherheit ist die Einwilligung, unter dem Rechtszwang stehende Anerkennung mit rechtlichen Mitteln zu wahren. Darum bildet die Stufe des Rechts nicht den geeigneten Ort, einen Mangel an Moralität im Umschlagen ethischen Vertrauens in allseitiges Mißtrauen oder im Abgleiten der Auto-

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nomie in Heteronomie innerhalb der Fichteschen Rechtskonzeption zu beklagen.156 2. Ebenso steht es mit Selbstbehauptung und Abschreckung. Selbstbehauptung auf dem Boden praktischer Vernunft ist nichts anderes als das Komplement der Anerkennung. Sie ergänzt das einander zugesagte Recht, indem sie die je eigene, freigelassene Leib-, Arbeits-, Eigentumssphäre gegen rechtswidrige oder unachtsame Übergriffe behauptet. Das durchstreicht jenes Naturrecht im Stile von Hobbes oder Spinoza, welches lehrt, seine Kräfte zum Zwecke der Selbsterhaltung nach dem Maße wesenseigener Kraft beliebig und ohne Einschränkung zu gebrauchen.157 Im Horizont allseitiger Anerkennung bedeutet Selbstbehauptung dagegen Wahrung und Durchsetzung des berechtigten Anspruchs auf die eigene Lebenssphäre gegen rechtswidrige Angriffe durch rechtmäßigen Zwang.158 156

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Michael Köhler, Zur Begründung des Rechtszwanges im Anschluß an Kant und Fichte, in: Michael Kahlo (Hg.), a.a.O., 93-125 geht umsichtig den fraglichen Begründungen der Zwangsbefugnis im Rechtsverhältnis nach. Freilich teilt diese Untersuchung bei aller Selbständigkeit des Urteils im einzelnen die drei generellen Vorurteile gegen Fichtes Naturrechtstheorie: die Überzeugung von der Stärke des frühen transzendentalphilosophischen Ansatzes gegenüber den „späteren, objektivistischen Bestimmungen", die Ansicht, Fichte habe keinen Begriff des freien Willens, der über die Willkür hinausginge - die Fichtesche Subjekt-Objekt-Synthesis des praktischen Selbstbewußtseins „changiere" in den Modus der äußeren Setzung und gleite in Heteronomie ab - und schließlich die Rede vom „Hobbesianischen Absturz". Die großen Paradigmata des ius naturale sind bekanntlich durch Hobbes und Spinoza vorgestellt worden. Hobbes fundiert das Naturrecht als die natürliche Freiheit des Menschen, seine Kräfte zum Zwecke der eigenen Erhaltung beliebig zu gebrauchen (Leviathan XIV), anthropologisch. Spinoza gründet das Naturrecht jeglichen Seienden, sich im Sein zu behaupten, so weit die Macht reicht, substanzontologisch auf die Macht und das Gesetz der „Natur" selber (Eth. III, 7. - TP II, 4. - TTP XVI). Zu den beiden Grundstellungen vgl. Wolfgang Schrader, Naturrecht und Selbsterhaltung, in: Spinoza und Hobbes, ZphF 31(1977) 574-583. Für Fichte dagegen bildet Selbsterhaltung ein Utrecht des Menschen (auf leibliche Fortdauer durch eigene Tätigkeit und Arbeit) im Kreise der Anerkennung. Mithin bestimmt nicht der Begriff der Selbsterhaltung Maß und Sinn von Recht und Unrecht, die Idee der Anerkennung trägt vielmehr das Urrecht der Selbsterhaltung. Gefährdet erscheint das komplementäre Verhältnis von freier Anerkennung und Selbstbehauptung im Völkerrecht, wie es die Macchiavell-Schrift Fichtes von 1807 darlegt. Im Verhältnis zwischen Nationen und Staaten gibt es keine Schutzgarantie und keinen Richter. Zudem gilt das Gesetz, sich vergrößern zu müssen,

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3. Und es ist die Abschreckung, welche die Sicherheit friedlichen Miteinander verbürgt. Sie macht die einmal beschlossenen Schranken der Willkür dauerhaft. „In diesen Schranken nun müssen die Bürger durch Zwang erhalten werden, und ein gewisses ihnen bevorstehendes Uebel, falls sie dieselben überschreiten, muß ihren Willen von der Entschliessung der Uebertretung abschrecken" (NR, Einl.; GA 1,3,327). Abschreckung wahrt, indem sie den malignen Willen vor dem Entschluß anzugreifen zurückschrecken läßt, den Status des Friedens. Übrigens hat die Einführung der Kategorie der Abschreckung nichts mit der geheimen Tendenz „Zurück zu Hobbes" zu tun. Dafür spricht eine charakteristische Bemerkung innerhalb von Fichtes Rettung des Macchiavell (NW 111,402-452). Nach Fichte lautet die Prämisse Macchiavells: Alle Menschen sind innerlich bösartig und lassen die Bösartigkeit bei jeder Gelegenheit aus. Das scheint zu Fichtes Maxime zu passen, Rechtsverhältnisse derart einzurichten, daß der bösartige Wille durch Abschreckung gezwungen wird, so zu wirken, „als ob Keiner bösen, sondern Alle nur guten Willen hätten" (NW 111,420). Entscheidend ist das Als-ob. Macchiavells Unterstellung durchgängiger Bösartigkeit und die Hobbessche Voraussetzung eines bellum omnium contra omnes bilden für Fichte eben nicht die Wirklichkeit des realen, naturgesetzlichen status naturalis, sondern den möglichen defizienten Modus der NichtAnerkennung, mit dem die Vorsorge in der Weise eines umfassenden Als-ob zu rechnen hat. Sicherlich verträgt sich Abschreckung in keinem Falle mit religiöser Nächsten- und Feindesliebe. Wer aber den Rechtsfrieden in ungerechter Welt sucht, muß wohl oder übel abschreckende Sicherungen (Sanktionen, Embargos) gegen die defizienten Modi der Anerkennung anerkennen. Die Gerechten mögen Zwang, Selbstbehauptung und Abschreckung unter dem Mantel strikten Rechts verurteilen, aber ist solcher Rigorismus nicht blind für das Böse und Brutale in der gegen Forderungen der Sittlichkeit resistenten Natur des Menschen? Fichtes erste Deduktion des Rechts aus dem Geiste menschlicher Selbstbestimmung trennt am Ende die Legalität in der Wurzel von aller

um nicht zu schwinden, wenn andere zunehmen. Freilich erwächst daraus nicht das brutale Recht des Stärkeren; denn die Expansion stammt aus dem Streben einer Nation, das ihr eigentümliche Gute dem ganzen Menschengeschlechte einzuverleiben (NW 111,423) und so das Recht des Stärkeren in eine höhere sittliche Ordnung zu erheben (NW 111,427)

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Moralität.159 Man hat von der Herausnahme der Sittlichkeit aus dem Bereich der Legalität her geschlossen, das Gebiet des Rechts werde von Fichte einer bloß zweckrationalen Rechtstechnik ohne wirkliche Freiheit ausgeliefert. Aber die klare Unterscheidung von der moralischen Freiheit macht die Rechtssphäre nicht zum Gebiet politischer Unfreiheit. Sie sichert doch gerade die Freiheitssphäre in Tat und Wirklichkeit, unabhängig vom schwankenden Erfolg des guten Willens. Rechtsbeziehungen müssen autark, sie dürfen nicht auf den guten Willen angewiesen sein. Moralität hat unmittelbar nichts mit äußerer Anerkennung unter Bedingungen und Zwang, Legalität nichts mit innerlicher Gesinnung zu tun. Daß die moralische Fürsorge in unserer Welt zur alles umfassenden Herrschaft kommt, das wäre nach Fichte „der größte Zufall aller Zufälle" (NR § 15; GA 1,3,432). Rechtsansprüche, z.B. das von Fichte deduzierte Grundrecht auf Arbeit für alle, erfüllten sich nie, wartete man auf ein nicht einklagbares, stetes Wohlwollen der Arbeitgeber und auf die unerzwingbare Liebe aller zu allen. Gerade um die Konfundierung von Recht, Moral und Religion vorzubereiten, müssen die tragenden Begriffe streng geschieden werden: Achtung heißt seit Kant die Würdigung des anderen als persona moralis im Vernunftgefühl einer unbedingten Verbindlichkeit des Sittengesetzes. Religiös verwurzelte Liebe mag sich in der bedingungslosen Entschlossenheit äußern, sich für den anderen als unterdrücktes Geschöpf Gottes zu opfern, Anerkennung sensu stricto ist bloß tätiges Respektieren anderer Rechtssubjekte auf Gegenseitigkeit. So wenig sich die Pflicht auf Gefühle stützen darf, so wenig das Recht auf Gesinnungen. Und diese Einsicht stammt nicht aus misanthropischer Erfahrung, daß der Mensch aus krummem Holze ist. Sie kann sich auf eine Deduktion berufen, welche den reinen Begriff der Anerkennung als Bereitschaft nachweist, die sich ungehemmt auslassende Willkür zu verneinen und den legitimen Zwang jenseits von

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Nun ist die Trennung des Naturrechts von der Moral nach Kant eine viel verhandelte Aufgabe der zeitgenössischen Rechtslehre. Das zeigen die rechts- und staatsphilosophischen Abhandlungen in Niethammers „Philosophischem Journal", die Fichte sicherlich kannte, z.B. Johann Benjamin Erhard, „Apologie des Teufels", Salomon Maimon, „Über die ersten Gründe des Naturrechts" oder Anselm Feuerbachs anonymer „Versuch über den Begriff des Rechts". Im Vergleich dazu aber geht Fichtes Trennung am weitesten und tiefsten. Vgl. Richard Schottky, Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert (Hobbes - Locke - Rousseau - Fichte), München 1962,210-258.

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Egoismus und Altruismus, Mißtrauen und Vertrauen (fides) zu bejahen.160

13.4 Charakterisierung des Rechtsstandpunktes als Stufe erscheinenden Vernunftlebens Wie umfassend die späteren Schriften Fichtes die frühe „Grundlage des Naturrechts" auch kritisieren und korrigieren, an zwei zentralen Bestandteilen halten sie fest, an der gegenseitigen Anerkennung als Rechtsidee und an der spezifischen Differenz von Recht und Moral. Diese Feststellung schränkt die These von einer schrittweisen, völligen Ablösung der Rechts- und Staatstheorie Fichtes von seiner Naturrechtslehre der Jahre 1795-1800 doch erheblich ein. Die Rechtslehre von 1812 legt kategorisch fest: „Das Recht jedes einzelnen ist dadurch bedingt, daß er die Rechte aller übrigen anerkennt: und außer dieser Bedingung hat niemand ein Recht" (NW 11,506; vgl. 606). - Dazu paßt Hegels Satz des Rechts in der Nürnberger Zeit: „Insofern jeder als ein freies Wesen anerkannt wird, ist er eine Person. Der Satz des Rechts läßt sich daher auch so ausdrücken: es soll jeder von den anderen als Person behandelt werden" (Rechts-, Pflichten-, Religionslehre, 1810. I.Abschnitt, § 4; ThW IV,233). Und in bezeichnender Zuspitzung erinnern „Die Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, Februar und März 1805" daran, daß „die Rechtslehre überhaupt kein Handeln, sondern ein Seyn, einen stehenden u. festen Zustand, zum Objekte hat: nemlich das stehende Verhältniß von mehrern vernünftigen Individuen, als Naturkräften, zueinander. Die Rechtslehre ist nach uns überhaupt nicht Sitten-Philosophie, sondern sie ist Naturphilosophie" (GSR; GA 11,7,379). Freilich, die genaue Trennung von Recht und Moral hatte die Frage ihrer Ver160

Natürlich spielen das Mißtrauensargument und der Verlust an Treu und Glauben in Fichtes Anwendung des formalen Anerkennungsprinzips und dessen Annäherung an Hobbes durch vollständige Kontrolle aus zerstörtem Vertrauen eine oft vermerkte Rolle; vgl. L. Siep, Methodische und systematische Probleme, a.a.O., 299. - H. Verweyen, a.a.O., 104. - Hegel, Naturrechtsaufsatz, ThW 11,472. Gleichwohl hält sich der Satz durch, Recht dürfe sich nicht auf moralische Instanzen, wie die Pflicht, das Vertrauen zu wahren, stützen. So hat das Recht davon zu abstrahieren, ob Menschen eine Gesellschaft von Teufeln oder ein corpus mysticum von Wohlgesinnten bilden; vgl. Kant, Zum ewigen Frieden; dazu Fichte: SW Vffl,434. -111,12 Anmerkung. - II,279ff.

Der Rechtsstandpunkt als Vernunfterscheinung

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mittlung und Sanktionierung offengehalten.161 Die erste Deduktion trägt der Aufspaltung, nicht aber zugleich der Verbindung der getrennten Weltansichten Rechnung. Das fördert nicht nur die Gefahr, daß das Rechtsleben die Moral ignoriert, die Moralität Rechtsverhältnisse verachtet und beide totalitär werden. Es hält auch die (Kantischen) Tendenzen in der Schwebe, einerseits Moralität nach dem Paradigma der Rechtsform (Gesetzlichkeit, Allgemeingültigkeit, Selbstzwang) aufzubauen und andererseits ein Recht, das andere verpflichtet, aus dem moralischen Imperativ zu entwickeln. Aber weder ist Moralität die ins Innere der Subjektivität zurückgenommene Rechtshaltung, noch ist Recht die sich in äußeren, Justitiaren Handlungen manifestierende Gesinnung. Also dürfen Recht und Moral weder zusammenfallen noch auseinandertreten und einander - im Zeitalter des Positivismus - fremd gegenüberstehen. Dieser Komplex läßt sich umfassend nur lösen, wenn die Anerkennung als Element einer genuinen Lebensform beibehalten und mit den anderen Grundstellungen des Naturglaubens, der Moralität, der Religion und der „Wissenschaft" radikaler synthetisiert wird. Genau das hat die Wissenschaftslehre qua prima philosophia im 28. Vortrag der 2. Vorlesungsreihe von 1804 vorgezeichnet. Dort rückt das Rechtsverhältnis als eigenstämmiges Wesensmoment inneren geistigen Lebens in den gehörigen Zusammenhang der sich fünffach spaltenden menschlichen Weltansicht und wird als Wesensmoment im Stufenbau einer bedeutenden Phänomenologie des Geistes ausgefächert. In der freien Lebensform des Rechts ist Welt primär die menschliche Gesellschaft im Ansichbestehen unterschiedlicher Iche. Damit verliert die Natur den Primat, sie wird in ihrem Sein zum Material der Rechtserfüllung sinnvoll herabgesetzt. Worum es eigentlich geht, ist das menschliche Subjekt, wie es sich vorfindet, nämlich als zu hemmende Naturkraft. Damit personales Zusammenleben überhaupt möglich wird, ist eine zwingende Gesetzlichkeit notwendig. Dieser Weltansicht kommen daher Recht und Zwangsgesetz als die Substanz vor Augen, welche 161

Dabei betont schon Heinz Heimsoeth, Fichte, München 1923, 165-175, daß die radikale Trennung von Recht und Sittlichkeit mit einer Vermittlung verträglich bleibt, bei welcher das Recht eine nicht zu überspringende, reale Vorstufe bildet, gerade weil die Rechtsbeziehungen in der Mitte zwischen dem bloß Natürlichen und der sittlichen Freiheit stehen. Und Heimsoeth sieht auch bei Fichte den Ansatz der Anerkennung bewahrt: Der andere bleibt in Staat und Staatsmacht als Freiheitswesen verstanden und in Rechnung gestellt.

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eine vernünftige menschliche Welt stiftet und Gemeinschaft ordentlich zusammenhält. Was in Wahrheit ist, das ist das gesellschaftliche Sein als das Einigende im menschlichen Miteinander- und Gegeneinanderhandeln durch das Wesen des Rechts. Für den Rechtsglauben bildet das für alle gleiche, verständig anerkannte Zwangsgesetz den Grundbestand und Boden, auf dem die Willkür mehrerer in einem Gemeinwesen gedeihlich zusammen besteht. „Ein Gesetz, und zwar ein ordnendes und gleichendes Gesetz für die Freiheit mehrerer, ist dieser Ansicht das eigentlich Reale und für sich selber Bestehende; dasjenige, mit welchem die Welt anhebt, und worin sie ihre Wurzel hat" (AsL S.Vorl.; SW V, 466). Daher charakterisiert der 28. Vortrag das Vernunftrecht als Prinzip ,4m stehenden Subjekte: Glaube an Persönlichkeit, und bei der Mannigfaltigkeit derselben, an die Einheit und Gleichheit der Persönlichkeit, Prinzip der Legalität" (WL 1804-11; GA 11,8,416). Solche Kennzeichnung wiederholt die Einsicht, das genuine Gebiet des Rechts sei die zu ordnende Mannigfaltigkeit vor dem Gesetz gleicher Personen als an sich vorhandener Iche in der gemeinschaftlichen, die Wirksamkeit aller fortpflanzenden Sphäre der Sinnenwelt. Es leuchtet ein, daß eine so weitgehende Anerkennung von Recht, Ordnung und Gleichheit zwischen empirischen Ichen unterhalb des Ethos von Moralität (Achtung) und Religion (Gottesliebe) steht. Sie veranschlagt nicht Autonomie: das schlechthinnige Sichmachen intelligibler Subjekte an sich in moralischer Freiheit unter dem Anspruch des Sittengesetzes. Und sie rechnet nicht mit einer „Höheren Moralität"; denn das ist der Standpunkt des Subjekts in seinem schöpferischen Nachmachen durch den Glauben an das erschaffende, weltbildende Ingenium, sofern es Ideen und Gesichte des Heiligen, Guten und Schönen hat. Davon sieht die Rechtsordnung ab. Und sie läßt sich von sich her nicht auf Ansprüche der Religion ein, d.h. eben auf das demütige Negieren des Ich-Prinzips und Sichversenken in Gott als der Urtätigkeit an sich, des sich selbst effizierenden Lichts, des wahren Lebens und Liebens. Der religiöse Glaube lebt liebend aus der Gewißheit, daß alles Wahre und Rechte in der Welt niemals Setzung und Satzung von Menschen, sondern stets Ausfluß göttlichen Lebens ist. Das bleibt dem puren Legali sten fremd und befremdlich. Soweit ist das Vernunftrecht im Stufenbau der fünffachen Weltansicht faktisch und genetisch aus dem Mittelpunkte reinen Wissens schematisch erörtert. Diese transzendentale Ortsanweisung schärft den Blick für die Gefahren des Rechtsverhältnisses. Die größte Gefahr liegt in der

Der Rechtsstandpunkt als Vernunfterscheinung

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Verabsolutierung auseinandergerissener Vernunftmomente. Sie betrifft nicht zuletzt die Grundstellung von Recht und Ordnung. Sicherlich, diese ist und bleibt Ausdruck der Vernunft und verbindet sich darum gleichsam mechanisch mit den anderen Weltansichten der Religion, Moral, dem Naturglauben und der Wissenschaft; denn jede der fünf Stufen ist doch Ausdruck der einen und ganzen Vernunft und hat darum die anderen Vernunftblicke an sich. Aufgebläht aber zum ersten Prinzip, verleibt sich der Rechtsstandpunkt alle anderen ein; er ordnet sie sich als Momente und Mittel unter. So kommt eben unter dem Primat der legalen Vernunft das Göttliche zur Macht einer „höheren Polizei, die über die Kraft der menschlichen Polizei hinaus liegt" (WL 1804-11, 28. Vortr.; G A 11,8,418) und Religion zur Anerkennung eines Richter-Gottes herab, der Vergehen unnachsichtig nach dem äußeren Tatbestand, nicht nach der inneren Gesinnung straft. Entsprechend droht die Pflichtethik hinter einer Tatethik zu verschwinden und die Achtung vor der Menschenwürde und Menschenpflicht hinter die Anerkennung von Rechtspersonen und das Einklagen des Menschenrechts zurückzutreten. Die Natur existiert hierbei ganz und gar „zum Behuf der bürgerlichen Industrie" (ebd.): gleichsam als Material des Bürgerfleißes unter dem zugestandenen Recht auf Eigentum und Arbeit, günstigstenfalls mit Ausschluß von Konkurrenz und Verelendung. Folgerichtig nimmt schließlich die fünfte Vernunftansicht der Welt, die Theorie und Wissenschaft, die Gestalt der Soziologie und politischen Ökonomie als philosophische Grunddisziplin an. Diese haben, ebenfalls konsequent, seit Comte und Marx die Erkenntnisstadien der Religion und Metaphysik durchstrichen. Alle diese Vereinseitigungen verbilden unser Weltverhalten dann, wenn Rechtssinn und Legalität sich als höchstes Gut und erstes Prinzip aufspielen. Das geschieht in einer gnadenlosen Gesellschaft, die sich ganz auf „Recht und Ordnung" stellt. Der gute Sinn des Rechts entgleitet aber auch da, wo er den anderen abgerissenen, sich totalitär gebärdenden Vernunftmomenten - Naturglaube, Moralität, Religion - eingepaßt wird. Unter dem Dogma eines Naturalismus, der seine Wurzeln in der Liebe zum Leben des Genusses hat, erscheint Recht als sozialverträgliche Zuteilung von Genußmitteln und Sicherung der „Lebensqualität". Vom Gesichtspunkt eines rigorosen Moralismus aus erscheint Legalität einfach als minderwertig. Hier wird die Herrschaft von „Law and Order" als unsittlich verworfen und der Zwangsherrschaft, der Unterdrückung und Repression angeklagt. Eine Welt, in welcher es Abschreckungen und Zwangsvollstreckungen ge-

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be, pervertiere das Reich der Freiheit. Und für den homo religiosus, der sich, in Gott versinkend, gänzlich von der Welt abkehrt, erscheinen Rechts- und Staatsgläubigkeit als Ausdruck eines gottabgewandten Lebens, in welchem sich die Welt der erscheinenden Liebe verhüllt. So lassen sich vier gefährliche Rechtsentstellungen herausrechnen: „Law and Order" als das Substantiale selbst, Recht als bloße Verwaltungszuteilung von Lebensqualität, Legalität als Minderung der Moralität, Rechtsgemeinschaft als Verhüllung des wahren Gottesreiches. Und solche Vernunftverwirrung kann jederzeit in mannigfaltig ausgeprägter Intensität und Extensität geschichtliche Realität werden.1"

13.5 Anzeige der Vermittlungsfunktion des Rechts im Lichte der Erscheinungswissenschaft Menschliche Weltansichten und Lebensformen kommen dadurch ins Lot, daß ihre Herkunft genetisch aufgeklärt wird. Das leistet die Erste Philosophie auf dem Stande einer vertieften Wissenschaftslehre. Sie erschaut und durchschaut alle fünf Abstufungen inneren geistigen Lebens; denn sie steht „schwebend" im Mittelpunkte der vier verabsolutierten Relationsglieder des Objekts an sich, des Subjekts an sich, des Nachmachens als Abbild und der Urtätigkeit als Urbild. Von daher versteht sie auch den genetischen Zusammenhang der Rechtsposition und gibt unserer Überzeugung von der Substantialität des Rechts einen angemessenen Sinn. Das Recht erscheint als Medium und Mittel im Übergang von der Stufe sinnlicher Natur zur moralischen Freiheit. Darum kommt dem Rechtsgesetz eine eigene Zwischengestalt zu (vgl. RL; NW II,496ff.): Es ist kein Naturgesetz wie die Fallgesetze von Körpern, und es ist kein praktisches Gesetz der Sittenlehre. Es gründet darum auch nicht auf Grundsätzen der Moral wie die Goldene Regel oder die Maxime „Neminem laede!"; der Rechtslehrer schreibt eben kein Kapitel der Sittenleh162

Fichtes Apriorismus ist nicht prinzipiell geschichtsabgewandt. Von einem geschichtsabgewandten Apriorismus unter Trennung von der sozialen und ökonomischen Ordnung spricht Ludwig Siep, Begründung des Rechts bei Fichte und Hegel, a.a.O., 278. Aber prägt sich nicht die Idee des Rechts in den defizienten Mustern des Verfallens geschichtlich mannigfaltig aus - jedenfalls solange das „Reich der Freiheit" noch fern ist?

Die Vermittlungsfunktion des Rechts

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re163 Offenbar sind Natur-, Rechts- und Sittengesetz im Sinne Kants analog (keineswegs identisch), und zwar im Hinblick auf die formale Gesetzlichkeit qua Allgemeingültigkeit. Im Blick auf den Fortgang der Geschichte und der Bildung aber bilden sie einen Vermittlungszusammenhang, in welchem das Rechtsgesetz vermittelnd, Natur- und Sittengesetz vermittelt sind. „Es scheint dies auf eine Vereinigung der Natur und der Freiheit im Fortgang der Geschichte und Bildung schließen zu lassen. Kurz: das Mittelglied zwischen beiden zu sein" (RL; NW 11,497). Also konstituiert das Vernunftrecht jene Weltansicht, in welcher sich Freiheit, wechselseitige Anerkennung und Intersubjektivität in der Sinnenwelt zu einer eigenen Lebensform versammeln, und zwar unter einer Gesetzlichkeit, die weder Naturgesetz noch Sittengesetz, sondern die Mittelinstanz zwischen Natur und Freiheit bildet. Gerade in dieser Vermittlung bestehen der Eigensinn des Rechts und die Vorläufigkeit des Staates.164 Recht dient zur Vorbereitung auf die Herrschaft der Moralität. Das Sittengesetz soll erscheinen. Es kann nur erscheinen, soweit die uns von der Natur auferlegten Zwecke - Selbsterhaltung durch Sicherung von Arbeit, Eigentum und Frieden im Habitus der Anerkennung - erfüllt sind. So zeichnet sich eine Konfundierung ab. Die Rechtsgemeinschaft bloß äußerer Anerkennung verkommt ohne Moralität und religiöse Liebe.165 Aber ohne den Bestand des Rechts können Moralität und Liebe 163

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165

Es ist immerhin bemerkenswert, daß die Religionsschrift Fichtes Legalität und negative Moralität, die nur darauf ausgeht, daß keiner dem anderen Unrecht tue, auf der Stufe einer niederen Moralität zusammenfaßt (AsL 5. Vorl.; SW V.466-468). Zu Fichtes wiederholter Kritik an der Goldenen Regel und zur möglichen Sanktion des Rechtsverhältnisses vgl. Verweyen, a.a.O., 93. - Zum einschlägigen Diskussionsstand bei Kant vgl. Friedrich Kaulbach, Moral und Recht in der Philosophie Kants. In: Jürgen Blühdorn u. Joachim Ritter (Hg.), Recht und Ethik. Frankfurt a. M. 1970,43-75. Eigentlich hält sich so die These der Revolutionsschriften, das Leben im Staate gehöre nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen und sei nur Mittel zur Förderung einer vollkommenen Gesellschaft, verwandelt durch. Sie wird eben - entgegen Manfred Riedel, Fichtes zweideutige Umkehr der naturrechtlichen Begriffsbildung, in: ZphF 31(1977)5-17 - in der „Grundlage des Naturrechts", 1796 nicht zurückgenommen; denn alle Anerkennung (des anderen, der Urrechte, des Staates) ist unter aufhebbare, vorläufige Bedingungen gestellt. Insofern kann man der theologischen Anthropologie W. Pannenbergs (a.a.O., 6776) zustimmen: Die Liebe schafft durch Akte der Anerkennung Recht, und ihre Treue verbürgt Dauer und Verläßlichkeit innerhalb einer schöpferischen Fortent-

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nicht gedeihen; das Recht des Stärkeren schlägt ihre Ansprüche nieder. Der Fortgang vom natürlichen zum ethisch-religösen Stadium braucht, sollen Sittengesetz und Liebe in der Welt erscheinen, die Fügungen der Dike. Vor allem aber soll die Klarheit des Wissens sein. Der Mensch soll sich und seine Welt als Dasein des Absoluten bis auf den Grund erschauen. Auch dazu ist das Recht gut. Selbstbeschränkung, Zwangsrecht, Staatsmacht finden am Ende ihre Rechtfertigung als Kulturstaat und Erziehungsanstalt, damit Schule und Muße seien: daß der Mensch zu sich komme als das, was er im Grunde ist, Dasein und Durchgangspunkt göttlichen Lebens.

wicklung positiven Rechts. Und Liebe entspringt, wo Menschen sich vor dem Angesichte Gottes finden (maßgeblich in der Religion Israels als Religion des Gottesrechts). Aber die Fundierung geschieht gegenseitig. Die rechtsbildenden Akte der Anerkennung schaffen (als Realgrund) Raum für die unbehelligte Gemeinschaft der Liebe und das ungestörte Sichzusammenfinden vor Gott.

14. KAPITEL Moralität - Gewissen: unmittelbares Bewußtsein absoluter Freiheit Die Stufe des Rechts läßt sich als Übergangs- und Vermittlungsstufe erweisen. Dabei bleibt deren Grundstellung unbeschädigt. Das Recht konstituiert ein Weltverständnis unter dem Primat der Bestimmung des Menschen in der Gesellschaft, deren Glieder „stehende" Subjekte sind. Freilich signalisiert der Charakter des „Stehens" als Gegenbegriff zum lebendigen Werden und Sichfortentwickeln die Starrheit einer bloß legalistischen Welt- und Selbstanschauung. Wird dieses Defizit bewußt, dann kommt das Selbstbewußtsein zu einer tieferen Sinngebung. Wie das Verstehen der Natur mit der Einsicht, Material der Pflichterfüllung zu sein, in die Weltauslegung der Moralität einrückt, so sucht das äußere Recht in der Sittlichkeit ein tiefer liegendes Fundament. Die äußere Freiheit unter Bedingungen der Anerkennung dringt auf innere Bestätigung in einer Gesinnung der Pflicht. Die Anwendung des Rechtszwanges fordert Gewissensentscheidungen in jedem einzelnen Fall. So scheint das Selbstbewußtsein erst auf dem höheren Standpunkt der Moralität in sein innerstes Wesen einer absoluten Freiheit und schlechthinnigen Selbsttätigkeit unter dem Anspruch des unbedingten Sittengesetzes einzukehren und die Interpersonalität in ihrem überirdischen Grund zu enthüllen. Für diesen Übergang sind noch einmal Tragweite und Grenze einer eigenständigen Rechtsbegründung zu markieren. Dafür geben Differenz und Relation von Rechts- und Gewissensentscheidungen einen Anhalt. Ausdrücklich hält sich die Verbindlichkeit des Rechtssatzes überhaupt von der Stimme des Gewissens fern. Das zeigt sich an der verlangten Beschränkung der Freiheit. In der Welt des Rechts fallen gehörige Einschränkungen in die Hände einer Bedingungen stellenden Willkür. Der Entschluß des Einzelnen, seine auf alles gerichtete Willkür einzuschränken, verlangt Gegenseitigkeit auf dem Grunde wechselbestimmter Anerkennung. So regiert am Ende der hypothetische Imperativ: Du brauchst deine Willkür nur zu begrenzen, wenn du in einer Rechtsgemeinschaft

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leben willst. Negativ formuliert: Wenn du deine Willkür nicht einzuschränken gedenkst, mußt du dich aus der menschlichen Gesellschaft entfernen. Bei dieser Rechnung finden Unbedingtheiten der Pflicht wie die kategorisch gebietende Stimme des Gewissens kein Gehör. „Ich bin im Gewissen, durch mein Wissen wie es seyn soll, verbunden, meine Freiheit zu beschränken. Von dieser moralischen Verbindlichkeit ist nun in der Rechtslehre nicht die Rede" (NR Einl.; GA 1,3,322). So scheinen die Bewußtseinsstufen klar getrennt. Die gegenseitige Anerkennung von Menschen untereinander als Rechtspersonen ist nicht eine Frage der Gesinnung des Subjekts „vor seinem eigenen Gewissen (das gehört in die Moral)" (NR I § 4; GA 1,3,352). Andererseits läßt sich zeigen: Gerade das Verhältnis von Recht und Gewissen bildet die Schwelle, an welcher Legalität zur Moralität übergehen muß. Dazu ist auf Prinzip und Anwendung einer für das Rechtswesen unverzichtbaren Konstante zu sehen, auf das Zwangsrecht. Am Begriff überhaupt ist nichts auszusetzen. Der Zwang komplementiert den Gedanken des Rechts, er widerspricht ihm nicht. Grundsätzlich ist es richtig, zu behaupten, als Rechtsgesetz lasse sich nur verordnen, was sich auch erzwingen läßt. Der Rechtszwang unter guten Gesetzen tut niemandem unrecht, weil die Einschränkungen der Willkür, die er erzwingt, von allen Rechtlichen grundsätzlich selber gewollt sind. „Ein Zwangsrecht überhaupt, als allgemeiner Begriff, läßt sich aus dem Rechtsgesetze ohne Mühe ableiten" (GA 1,3,394). Anders steht es dagegen im Hinblick auf die Anwendung. Hier tut sich ein Widerspruch auf. Die Rechtsausübung äußerer Freiheit findet ihren Anwendungsbereich innerhalb der sich geschichtlich wandelnden Welt und betrifft Individuen in ihren je anders bestimmten Lagen. Ob aber das Gesetz im Einzelfalle zu Recht zwingen darf, kann nicht aus der Allgemeinheit des Zwangsrechts folgen, ebensowenig wie die jeweiligen Wahrnehmungen aus den Bedingungen unseres Anschauens überhaupt entspringen. Damit widerspricht die Anwendbarkeit dem Prinzip. „Das Zwangsrecht, als anwendbarer Begriff, steht mit sich selbst in offenbarem Widerspruche; indem nie zu entscheiden ist, ob in einem bestimmten Falle der Zwang rechtlich sey, oder nicht" (NR I § 8; GA 1,3,394-395). Folglich bedarf die aufgestellte Autorität des Gesetzes der Überprüfung durch eine Instanz, die angibt, was in jedem Falle recht und billig ist. Als eine solche infallible Prüfungsinstanz meldet sich das Gewissen. Somit weist der unauflösliche Widerspruch des nicht recht anzuwendenden Zwangsrechts in die Dimension der Moralität, „weil der Entscheidungsgrund

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solcher Anwendung in der Sinnenwelt gar nicht gegeben werden kann, sondern in dem Gewissen eines jeden beruht" (GA 1,3,394). Also kann eine Stufenlehre des erscheinenden Geistes auch diesen Übergang von der Stufe des Rechts zur Stufe der Moralität wohl begründen. Der Aufstieg folgt mit Notwendigkeit aus einem Widerspruch im Bewußtsein des Rechtssubjekts. Das Rechtsbewußtsein muß sich eingestehen, daß sein Anspruch auf Absolutheit scheitert. Es muß sich ja im Falle der Erzwingung dessen, was jeweils recht und billig ist, auf eine Instanz außer ihm beziehen, die sich nicht aus dem Naturrechtsgesetz herleiten läßt und die schon gar nicht dem Zwange äußeren Rechts unterliegt. Mithin muß das Recht auf ein Prinzip hin überstiegen werden, das höher und allgemeingültiger ist, als es das empirische Ich und „stehende Subjekt" sein kann. Solches Selbst- und Weltbewußtsein hat sich im Gewissen angemeldet. Und das Gewissen wird sich als offenbares Bewußtsein absoluter Freiheit erweisen.

14. l Das Faktum des Gewissens und das Prinzip der Autonomie: Bewußtmachung unserer höheren Natur und absoluten Freiheit (System der Sittenlehre 1798, §11, §3) Die Frage nach dem Gewissen scheint im Gebiete einer Ethik des Sittengesetzes und des Vernunftgefühls der Achtung eher episodisch, wenn nicht abwegig zu sein. Jedenfalls gehört sie nicht zur Aufstellung und Rechtfertigung sittlicher Prinzipien. Sie taucht in Überlegungen auf, die sich der Anwendbarkeit der erhabenen Prinzipien von Ich-Autonomie und kategorischem Imperativ zuwenden, und drückt dabei geradezu die Verlegenheit einer formalistischen Ethik aus, materialiter für Entscheidungssituationen pflichthaften Handelns maßgebend sein zu sollen. Am Ende kommt eine Sittenlehre, die letztlich auf die Unbeirrbarkeit der Gewissensüberzeugungen pocht, ins schiefe Ansehen, die abstrakte Innerlichkeit des Selbstbewußtseins zu verabsolutieren und sich zum ironisch-bösen Herrn über Gut und Böse zu erheben. Das alles kann nur mitgängig geklärt werden. Für die Stufenlehre einer Phänomenologie des Geistes kommt es darauf an, die Zentralstellung des Gewissensphänomens dadurch plausibel zu machen, daß dessen eindringliche Erörterung sowohl den Zugang von Recht zur Sittlichkeit wie den Übergang von Moralität zur Religion aufschließt. Um auf dem schwankenden Boden der Gewissensproblematik Fuß

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zu fassen, dürfte es nötig sein, beide philosophische Elementarfragen an das Gewissen zu stellen: ob es ist und was es ist. Auskunft darüber gibt Fichtes Sittenlehre, 1798 in § 11. Jede Erörterung der Gewissensfrage sieht sich der Gegenrede ausgesetzt, das Gewissen (conscientia spuria) gehöre nicht ursprünglich und wesenhaft zur menschlichen Natur, sein Komplex fließe, skeptisch nachgeprüft, aus trüben Quellen, „etwa aus 1/5 Menschenfurcht, 1/5 Deisidämonie, 1/5 Vorurteil, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit" (Schopenhauer, Über die Grundl. d. Moral § 13). Und nährt sich die peinvolle Selbstprüfung im Spiegel historisch kontingenter kirchlicher Satzungen und Vorschriften nicht aus dem Aberglauben? Wird nicht das Gewi ssen-haben-Wollen durch Gewohnheit und Erziehung bei Verletzungen von Standesgesetzen und Vorschriften, „die sich gehören", künstlich am Leben erhalten? Von solcher durch Furcht und Schrecken erpreßten Gewissensqual redet Fichtes „Versuch einer Critik aller Offenbarung", 1792 (GA 1,1,122): Sie sei ein durch Zureden, Zunötigungen, Drohungen, moralische Bedrückungen entstandener Geisteszwang, welcher einer wahren Gewissensfreiheit im Wege stehe. Ist Gewissen mithin nur handfeste Furcht vor Strafe und seine eingebildete übersinnliche Stimme ein Echo vom Racheruf eines verletzten sinnlichen Du (Feuerbach)? Zeigt gar die selbstquälerische Zermarterung des Bewußtseins Züge einer Krankheit, die nach Nietzsche aus dem Rückstoß des Grausamkeitsinstinktes auf das eigene Ich in der Frühzeit des Menschen aufbrach? Oder gibt es das Gewissen sehr wohl als jenes Grundphänomen, das im Rahmen einer Ethik der Freiheit Stand und Ethos, Selbstbewußtsein und Selbstgewißheit des Menschen sichert? Nun ist eine Untersuchung, ob es ein eingeborenes oder ein künstliches, ein untrügliches oder ein falsches Gewissen gibt, ziellos, wenn sie sich nicht von einem einvernehmlichen Vorverständnis leiten läßt. Ein solches findet sich in der trefflichen Namensnennung der Sprache hinterlegt. „Die Benennung Gewissen ist trefflich gewählt; gleichsam das unmittelbare Bewußtseyn dessen, ohne welches überhaupt kein Bewußtseyn ist, das Bewußtseyn unserer höhern Natur und absoluten Freiheit" (GA 1,5,138). Bekanntlich ist das althochdeutsche Wort gewizzani eine Lehnübersetzung des Notker Labeo von lat. conscientia und das die Übernahme der griechischen Wortprägung syneidesis. Vorphilosophisch bedeutet syneidenai das Mitwissen eines belastenden oder entlastenden Augenund Ohrenzeugen, der um (verbotene) Handlungen eines anderen weiß. Bezeichnenderweise setzt Euripides, bei dem die alte Tragödie zum

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„subjektiv Rührenden" übergeht (Hegel), das Wort für die zehrende Qual und niederdrückende Betrübnis des Selbstbewußtseins ein, Schreckliches getan zu haben (Orest, 396). Aber es ist ebenso charakteristisch, daß der -Komplex nicht als Grundwort in die klassische Klugheitsethik der Griechen einging.166 Fichte hört das Wort anfänglich zusammen mit Wissen und Bewußtsein, und zwar als unmittelbares Innesein unserer höheren Natur und absoluten Freiheit - nicht sogleich als Stimme und ursprüngliche Offenbarung Gottes im Gemüt (Schleiermacher). Im Gewissen meldet sich unser menschlich-intelligibler Charakter in seiner Autonomie. Das Gewissen warnt. Es schlägt mir; da ich mich schuld an Handlungen weiß, die ich tun oder lassen sollte. Als Naturwesen bin ich jederzeit entschuldigt und das Gewissen los. Der Naturtrieb treibt mich zwingend dazu an, etwa meinen Hunger aus Selbsterhaltungsdrang auf Kosten anderer zu stillen. Als „höheres" Vernunftund Willenswesen aber steht es mir auch in der materialen Sorge für Leib und Leben jederzeit formaliter frei, anders und dem Sollensanspruch gemäß aus Pflicht zu handeln, dergestalt, daß ich mir ein Gewissen daraus mache, recht und billig zu handeln. Diese simple Anzeige erklärt bereits: Wer das Gewissen leugnet, lebt unfrei als ein Naturwesen unter anderen; wer eine „höhere Natur" im Menschen unterstellt, versteht die Stimme des Gewissens als Aufruf, das zu tun bzw. zu lassen, was wirklich recht bzw. unzweifelhaft unrecht und unbillig ist. Solche Vorklärung macht einsichtig, warum eine Ethik, die auf Autonomie und nicht auf Eudämonie als Prinzip der Sittlichkeit baut, auf das Gewissen als Grundphänomen menschlichen Bewußtseins stößt. Die Rede vom Gewissen-Haben bringt ein unmittelbares Bewußtsein zur Sprache, nämlich das untrügliche, unabweisbare Gefühl, recht oder

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Zur Wort- und Begriffsgeschichte vgl. die eingehenden Forschungen von JürgenGerhard Blühdorn, Gewissen, in: TRE XIII,192-213. - Hans Reiner, Gewissen, in: HWP 111,574-592. Fichtes These vom Gewissen ist in beiden großen Übersichten nur in der späteren Fassung als „Orakel aus der ewigen Welt" zitiert. - Diese vertiefte Explikation des Gewissens auf der Daseinsstufe des Glaubens erörtert die Vermittlungen des Einen unendlichen Willens mit dem endlichen Willen als Glied der Geisterwelt. Darauf geht die vorgelegte Untersuchung zunächst nicht ein; denn die ethisch-religiöse Gewissensanalyse in „Die Bestimmung des Menschen", 1800 reicht über das Grundbewußtsein von kategorischem Imperativ und bestimmter Pflicht hinaus.

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unrecht gehandelt zu haben. Die „Befindlichkeit" des Gewissens macht unfroh oder froh, sie beunruhigt oder befriedet unser Gemüt. „Das beschriebene Gefühlvermögen, welches sehr wohl das obere heißen könnte, heißt das Gewissen. Es gibt eine Ruhe oder Unruhe des Gewissens, Vorwürfe des Gewissens, ein Frieden desselben; keineswegs aber eine Lust des Gewissens" (ebd.). Das läßt sich als Tatsache des Bewußtseins beschreiben. „Es gibt" jene aufstörende Unruhe, welche die Gleichmäßigkeit unserer Stimmungslage unterbricht und den Frieden der Seele beeinträchtigt. Der Unfriede solcher Unzufriedenheit stammt aus dem nagenden oder beißenden Gewissen (Ciceros morsus conscientiae); denn das Gewissen läßt uns nicht in Frieden. Seine mißbilligenden Vorwürfe machen fühlbar, daß wir mit uns selber nicht im reinen sind. Sie entdekken den Frieden als verwirkt und einklagbar. Steht mithin im schlechten Gewissen der verlorene Friede im Zustand des „guten Gewissens" vor Augen, dann ist das gute Gewissen mehr als nur die Abwesenheit und Privation des schlechten. Für Luther bildet das unruhige, verzweifelte, zitternde, bebende, sich ängstende Gewissen den Ort, an welchem der Mensch seine Sündhaftigkeit und Schuldverfangenheit erfährt; eine bona conscientia gibt es allein durch den Glauben und nur als Freiwerden von der Gewissensqual. In Kants gelegentlichen, eher anthropologischen denn ethisch-religiösen Betrachtungen kommt das spezifisch gute Gewissen nicht vor. Primär ist das böse Gewissen; es regt sich unfehlbar, wenn pflichtwidrige Handlungen getan oder pflichtmäßige Handlungen unterlassen werden.167 Für Fichte dagegen dominiert bei aller Kantund Luthernähe das mutgebende gute Gewissen bei Erfüllung der Pflicht aus eigener Willenskraft. Es bildet die Grundbefindlichkeit einer Freudigkeit, die schwer zu erringen und je und je gefährdet, aber immer doch vom Menschen abgefordert ist. Und wenn diese belebende Freude an der „höheren Natur" des Menschen hängt, dann hat es mit dem Sinnengenuß nichts zu tun; denn der gehört als Ziel des Naturtriebes zur Ausstattung unserer „niederen Natur". Soweit ist beschrieben, daß es tatsächlich das Gewissen als Bewußtsein der Freiheit in der erhebenden Stimmung des Friedens bzw. einer 167

An diesen Unterschied zwischen dem Vorrang des guten Gewissens (Fichte) und dem Schwergewicht des bösen Gewissens (Kant) knüpft die Untersuchung von Jonas Friedmann, Die Lehre vom Gewissen in den Systemen des ethischen Idealismus. Budapest 1904,30ff. ihre historisch-kritische Erörterung idealistischer Gewissenstheorien an.

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bedrückenden Stimmung der Unruhe und des Unfriedens des Menschen mit sich selber gibt. Unklar bleibt, ob sich das Gewissen, das sich doch nur zu Zeiten und selten genug meldet, bloß zufällig oder doch wesensnotwendig einstellt, ob es die unabweisbare Stimme unserer höheren Natur oder doch nur ein Gemisch aus Vorurteil, Eitelkeit und Eingewöhnung ist. Der vorläufige, aber grundsätzliche Bescheid Fichtes ist eindeutig: Das Gewissen ist das unmittelbare Bewußtsein absoluter Freiheit, ohne welches es überhaupt kein Bewußtsein geben kann. Diese Formel will die Annahme des Gewissens als Wesensbestand der menschlichen Natur rechtfertigen, und zwar im Rahmen einer transzendentalen Deduktion. Sie deutet zwei Deduktionsschritte an. Ohne das Bewußtsein Schlechthinniger Freiheit gibt es kein menschliches Bewußtsein, und ohne Gewissen gibt es keine unmittelbare Vergewisserung unserer absoluten Freiheit. So wäre das Gewissen als Vergewisserungsbedingung von Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung überhaupt in der Tat das Allergewisseste. Sicherlich klingt diese aufs Ganze gehende Ankündigung wie eine großsprecherische und leere Behauptung. Indessen, für deren Stützung sollte der 1. Teil der Sittenlehre in Erinnerung gebracht werden. Weil in ihm das Prinzip der Sittlichkeit methodisch abgeleitet ist und weil das Gewissen unabtrennbar zur Anwendung dieses Prinzips gehört, können Resultate dieser Grundlegung eingeholt werden. Sonst bleibt die Rede vom Gewissen als dem unmittelbaren Bewußtsein absoluter Freiheit allerdings bodenlos. Absolute Freiheit ist Sache des Willens, und moralische Freiheit (im Unterschied zur kosmologischen Freiheit des Selbstanfangs, zur politischen Freiheit der verfassungsrechtlichen Selbstbestimmung oder zur ästhetischen Freiheit des Spiels mit dem schönen, sich selbst genügenden Scheine) ist Sache des guten Willens im Stande der Selbstgesetzgebung (Autonomie). Autonom heißt eine freie Intelligenz dann, wenn sie sich so dem Gesetz unterwirft, daß sie es selbsttätig zur unverbrüchlichen Maxime ihres Wollens macht. Inhaltlich herrscht dann Autonomie und keine Heteronomie, wenn nichts zum Inhalt des Sittengesetzes wird als das, was Ausdruck absoluter Selbsttätigkeit ist. Und dieser Gedanke der Selbstgesetzgebung entsteht „lediglich durch absolut freie Reflexion des Ich auf sich selbst in seinem wahren Wesen, d. h. in seiner Selbstständigkeit" (GA 1,5,67). Das erst rückt die sittliche Freiheit als Unterwerfung unter das Sittengesetz ins rechte Licht. Damit erscheint nämlich das Gesetz nicht als ein äußeres Gebot, dem sich die praktische

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Vernunft als einer fremden Macht zu unterwerfen hätte; ein selbstgesetztes Gesetz hat seine Wurzel im Ich-Wesen selber. Aus seiner IchNatur ist der Mensch sittlich frei und autonom. „Sonach ist es das Ich selbst, das sich in dieses ganze Verhältniß einer Gesetzmäßigkeit bringt" (ebd.). Eine Ableitung, die diese Fundierungsverhältnisse von Ichheit, Freiheit und Notwendigkeit im Prinzip der Autonomie aufhellt, übertrifft die verlegene Rede von der Freiheit als Faktum der Vernunft und die abwegige Auffassung des kategorischen Imperativs als einer dunklen Macht und qualitas occulta an Gründlichkeit. Sie müßte freilich wirklich nachweisen: Würde der Gedanke der Autonomie negiert, dann wären das Ich und damit der Einheits- und Anfangsgrund allen Bewußtseins aufgehoben. Solche Deduktion hat Fichtes Sittenlehre von 1798 (§ 3) in einem gedrängten Passus am entschiedensten ausgedrückt: „Ich bin Identität des Subjects und Objects = X. So kann ich mich nun, da ich nur Objecte zu denken vermag, und dann ein subjectives von ihnen absondere, nicht denken. Ich denke sonach mich, als Subject und Object. Beides verbinde ich dadurch, daß ich es gegenseitig durch einander bestimme (nach dem Gesetze der Kausalität). Mein objectives durch mein subjectives bestimmt, giebt den Begriff der Freiheit, als eines Vermögens von Selbstständigkeit. Mein subjectives durch mein objectives besümmt, giebt im subjectiven den Gedanken der Notwendigkeit... - Nun soll weder mein objectives als abhängig vom subjectiven, wie im ersten Falle, noch mein subjectives als abhängig vom objectiven, wie im zweiten Falle, sondern beides soll als schlechthin Eins gedacht werden. Ich denke es als Eins, indem ich es in der angeführten Bestimmtheit wechselseitig durch einander bestimme, (nach dem Gesetze der Wechselwirkung,) die Freiheit denke, als bestimmend das Gesetz, das Gesetz, als bestimmend die Freiheit" (GA 1,5,64). Die Herleitung geht ausdrücklich in die Tiefe des ganzen Systems zurück und knüpft an den Anfangsgrund von allem, die ursprünglich einigende Einheit der reinen Apperzeption in der Gestalt des obersten Grundsatzes „Ich bin Identität des Subjekts und Objekts", an. Dabei ist immer aufs neue einzuschärfen: Identität besagt nicht leere, tautologische Einerleiheit, sondern Selbigkeit von Unterschiedenem, nämlich des Ich in der Stellung des Subjekts und desselben Ich in der Gegenstellung eines Objekts. Und es sollte nach dem Erweis des Primats der praktischen Vernunft oder des Willens klar sein: Das reine Ich findet sich selbst niemals als vorhandenes, totes Sein vor, sondern immer nur wol-

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lend als sich selber wollender Wille oder als reiner Trieb schlechthinniger Selbsttätigkeit. Daher bleibt diese Identität in der Rechnung objektivierenden Vorstellens eine Unbekannte (= X). Per se notum: Was aller gegenständlichen Erkenntnis, sie ermöglichend, als primum subiectum vorausliegt, kann selbst niemals als Erkenntnisgegenstand eingeholt werden. Und natürlich entgeht uns die Ich-Identität in allen Bewußtseinseinstellungen, die auf der Aufspaltung von Subjekt und Objekt beruhen. Das ist in unserer direkten Intention auf Objekte ebenso der Fall wie in der Reflexion auf das Subjektive unter Absonderung vom Objektiven, das ich nicht bin, dem Nicht-Ich. Und auch daran muß der Transzendentalphilosoph erinnern: Ohne das Organon der intellektuellen Anschauung kann niemandem diese Subjekt-Objekt-Identität bewußt werden. Im Handhaben intellektueller Anschauung erst vermag das philosophierende Bewußtsein, das in der Identität Geschiedene als solches aufeinander zu beziehen und als Vereinigtes bewußt zu machen. Was dabei zu analysieren und auf den Begriff zu bringen ist, sind Denkgesetze, nach denen sich das Subjektive und Objektive im Ich zur Einheit des Selbstbewußtseins verbunden finden. Dabei drängt sich das Gesetz der Kausalität auf, dergestalt, daß sich zwei Begründungsverhältnisse herausheben lassen. Sie bilden, allgemein vorgestellt, zwei Urgedanken des Selbstbewußtseins, Freiheit und Notwendigkeit. Wird nämlich das Objektive, d.i. mein ursprüngliches Wollen, gedacht als bestimmt durch das Subjektive, das Sich-Wissen und Fürsichsein, dann bildet sich der Gedanke der Freiheit als vernunfthelles Sich-selber-Wollen. Wird andererseits das Subjektive, das SichWissen, durch das Objektive, das Nur-Tätigsein-Wollen bestimmt, dann entsteht der Urgedanke der Notwendigkeit und Gesetzlichkeit, nämlich das Gebot, immer so und niemals anders zu handeln. Die so geleistete Herleitung der Urgedanken von Freiheit und Notwendigkeit hat natürlich ihre Grenze. Sie vermag lediglich zu zeigen: Das ursprüngliche Selbstbewußtsein ist Freiheit und Notwendigkeit in Gestalt einer äußerlichen Zweiheit, welche die unterstellte Einheit und Identität nicht nur zu verfehlen, sondern sogar zu zerstören droht. Dringt so denn nicht der alte Widerspruch von Freiheit und Notwendigkeit in die Wurzel des Bewußtseins ein? Einerseits finde ich mich frei, sofern das absolute Wollen von der sich selbst wissenden Vernunft abhängt. Andererseits finde ich mich vom Objektiven abhängig, nämlich ursprünglich bestimmt von der Notwendigkeit ausschließlicher Selbsttätigkeit. Unter der Kategorie der Kausalität, welche Bestimmendes und

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Bestimmtes subordiniert, verfängt sich das Ichbewußtsein offenbar in einem Widerspruch. Der Schein des Widerspruchs löst sich dadurch auf, daß die einseitig-abstrakte Kausalität sich zur Wechselwirkung konkretisiert. Danach wirken Bestimmendes und Bestimmtes durcheinander. Indem etwas durch ein Bestimmendes bestimmt wird, bestimmt es seinerseits das es Bestimmende und umgekehrt. Danach läßt sich das eine nicht ohne das andere fassen, Freiheit nicht ohne Notwendigkeit, Notwendigkeit nicht ohne Freiheit. Und das ist phänomengerecht. Denke ich sittliche Freiheit - und nicht die sich auslassende Willkür, die sich frei dünkt, weil sie beansprucht, alles machen zu können, was sie will -, dann denke ich Bindung an das Gesetz. Denke ich umgekehrt die Notwendigkeit des sittlichen Gesetzes - und weder den Zwang des Rechtsgesetzes noch das Nezessitieren der Naturkausalität -, dann denke ich eine Freiheit, welche solcher Nötigung entspricht, mit. Der Urgedanke, der solches Konkreszieren von Gesetz (nomos) und Selbstsein (auto) unter der Kategorie der Wechselwirkung auf den Begriff bringt, ist die Idee der Autonomie. Überblickt man diese Ableitung, dann sollte die Behauptung einleuchten, wonach es ohne Bewußtsein Schlechthinniger Freiheit überhaupt kein menschliches Bewußtsein gebe; denn ohne wahre absolute Freiheit in der Gestalt der Autonomie ist keine Einigung von Freiheit und Notwendigkeit denkbar, ohne Einigung von Freiheit und Notwendigkeit keine Wechselbestimmung des Subjektiven und Objektiven im Ich, ohne diese keine widerspruchsfreie Erhellung der Identitätsbeziehung von Subjekt-Ich und Objekt-Ich, ohne diese kein reines Selbstbewußtsein. Fiele aber die ursprüngliche Einheit des Selbstbewußtseins dahin, dann zerfiele alles menschliche Bewußtsein in Stücke. Wenn das so ist, wie steht es dann mit der Eingangsthese, das Gewissen bilde jenes Bewußtsein absoluter Freiheit, ohne welches überhaupt kein Bewußtsein entstehen könne? Offenbar muß es einen Zusammenhang zwischen Autonomie und Gewissen geben. Und in der Tat bildet die Autonomie das Prinzip der Sittlichkeit überhaupt, das Gewissen aber die letzte Grundlage für die Anwendbarkeit dieses Prinzips. Das ist in der Erörterung der Autonomie der Selbstgesetzgebung mit angelegt. Zur Autonomie gehört das Vermögen, das Sittengesetz im besonderen Falle zu realisieren und täuschungsfrei anzugeben, was in jeder Lage meine bestimmte Pflicht ist. „Und hinwiederum, was in jedem besondern Falle dieses Gesetz erfordere,... muß die Intelligenz durch die Ur-

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theilskraft finden, und abermals frei sich die Aufgabe geben, den gefundnen Begriff zu realisiren" (GA 1,5,67). Tritt nun hierbei das Gewissen als unmittelbares Bewußtsein meiner bestimmten Pflicht hervor, dann legt sich nahe zu erklären: Ohne das Bewußtsein absoluter Freiheit gibt es kein Bewußtsein, und ohne Gewissen kann es keine unmittelbare Vergewisserung dieser Freiheit in der Entschiedenheit unseres sittlichen Handelns in der Sinnenwelt geben.

14.2 Unruhe und Zufriedenheit. Genetisierung des sittlichen Gefühls in einer Ethik der Freiheit Vom Prinzip der Selbstgesetzgebung her war das Gewissen als richterliches Urteilsvermögen in den Blick gerückt. Solch praktische Urteilskraft legt fest, was in bestimmten Lagen zu tun oder zu lassen recht und billig bzw. unrecht und unbillig heißt. Aber das Gewissen war doch als ein unmittelbar sprechendes Gefühl beschrieben und nicht als reflektierende Urteilskraft eingeordnet worden. Darüber dürfte Klarheit geschaffen werden, wenn die bisherige Beschreibung des Gewissens qua Tatsache des Bewußtseins zureichend genetisiert wird. Dafür ist die einfache Frage zu entfalten: Woraus entsteht und worin besteht das beschriebene Gefühl der nagenden Unruhe und Frieden gebenden Freudigkeit? Die Antwort läßt sich einer zusammengezogenen Wesensbestimmung entnehmen, Gewissen sei ein mit Interesse verknüpftes Gefühl der Billigung bzw. Mißbilligung bei Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung der Forderungen des reinen Triebes mit der Wirklichkeit in Erfüllung bzw. Nichterfüllung bestimmter Pflichten. Dasselbe, anders formuliert: Gewissen ist das Gefühl der Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit sich im Innewerden der Harmonie bzw. Disharmonie von idealem und empirischem Ich in Anwendung des menschlichen Grundtriebes. Eine genetisierende Betrachtung kann sich auf drei Aufbaumomente dieser Definitionsvorgabe aus der Sittenlehre 1798 konzentrieren: l. auf das dialektische Verhältnis von reinem Trieb, Naturtrieb und Grundtrieb (sittlichem Trieb), 2. auf den Erkenntnis- und Urteilsakt der Billigung bzw. Mißbilligung und 3. auf den Befindlichkeitscharakter von Unruhe und Zufriedenheit im Einschlag des Vernunftinteresses. 1. Herkunftsbereich des Gewissens ist das Bewußtsein unseres Grundtriebes. „Mein Grundtrieb, als reines und empirisches Wesen, durch welchen diese zwei sehr verschiedenen Bestandtheile meiner selbst zum Ei-

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nen werden, ist der nach Übereinstimmung des ursprünglichen in der bloßen Idee bestimmten, mit dem wirklichen Ich" (GA 1,5, 136). Wurzel und Ziel dieses Triebes decken sich offenbar mit der vertrauten Bestimmung des Menschen. Der Antrieb stammt aus unserer sinnlich-geistigen Doppelnatur und dringt darauf, deren Gegensätzlichkeit auszugleichen und zur Übereinstimmung zu bringen. Den offenbaren Widerspruch zwischen dem Naturtrieb, der auf Genuß um des Genusses willen abzielt, und dem reinen Trieb, der auf Selbsttätigkeit um der Selbsttätigkeit willen dringt, hebt die Synthesis des „gemischten" sittlichen Triebes aufgrund einer wechselseitigen Einschränkung auf. Im bestimmten Handeln aus Pflicht beschränkt sich der reine Trieb der Materie nach am Naturtrieb; denn jedwedes bestimmte Handeln in irdischer Welt kongruiert dem Inhalte nach mit den Besorgungen des Naturtriebs, freilich nur zu demjenigen Teil, der sich als Pflicht deklarieren läßt. In eins beschränkt sich der Naturtrieb der Form nach zum Teil am reinen Trieb; sittliches Handeln geht ja auf das, was die Form des reinen Triebes prägt, nämlich unabhängige Selbsttätigkeit um der Unabhängigkeit willen, freilich eben nur partiell in der Zeitreihe von Freiheitsakten. Nach diesem dialektischen Gesetz mischen sich reiner Trieb und Naturtrieb, und zwar so, daß der sittliche Trieb beide gedeihlich in Übereinstimmung bringt. Nun hört der Gewissenhafte auf die Stimme des reinen Triebes. Diese erhebt sich in einer Stille der Besinnung und im Schweigen egoistischer Einflüsterungen als Forderung. An das empirische Ich ergeht der Appell, seiner Überzeugung zu folgen und das zu tun, was es als recht und billig erachtet, um selbsttätig zu sein und nicht fremdbestimmt zu werden. Darin unterscheidet sich der reine Trieb vom Naturtrieb dem Beweggrunde nach. Während der reine Trieb ein Fordern ist, ist der Bildungstrieb unserer sinnlich-leiblichen Natur ein Sehnen. „Er äußert sich durch ein Sehnen" (ebd.). Sehnen meint nichts anderes als mein Verlangen, die Bedürfnisse des Leibes zu besorgen und in der Außenwelt zu befriedigen. Zwar zielt der Naturtrieb somit auch auf eine Übereinstimmung, nämlich von Ersehntem und Verwirklichtem, ab, aber das kann nicht abverlangt werden, weil solche Übereinkunft von der Gunst der Natur abhängt. In der Kälte und Dunkelheit des Winters sehnt sich das Leibwesen nach der Wärme und dem Lichte des Sommers, den die Natur im Umlauf des Sonnengestirns bringt und gewährt. Zur Sphäre des Gewissens dagegen gehört die Zusammenstimmung einer kategorischen Forderung mit der Wirklichkeit je-meinen Handelns.

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2. Mag so der allgemeine Herkunftsbereich des menschlichen Gewissens getroffen sein, es fehlt noch die Beibringung derjenigen Differenz, welche das Gewissen als unmittelbares Bewußtsein der Freiheit von der intellektuellen Anschauung unterscheidet. Während die intellektuelle Anschauung ein geistiges Sehen ist, ist das Gewissen ein sittliches Gefühl. Worin aber besteht und woher entsteht in der Sphäre des Grundtriebes das beunruhigende bzw. erlösende Gefühl des Gewissens? Das ergibt sich aus dem Zusammenhange des Gewissens mit dem Urteil der Billigung bzw. Mißbilligung. Zum Phänomen des Gewissens gehört die richterliche Stimme, welche ein bestimmtes Tun und Lassen billigt oder mißbilligt. Solches Urteil wird übrigens nicht erst nach der Tat gefällt. Das prüfende Gewissen spricht auch Warnungen aus, die vom unrechten Vorhaben abraten und unbilligen Plänen die Zustimmung versagen. So springt die Mißbilligung der Tat vor, indem sie den Überlegenden davon zurückhält, einen falschen Weg einzuschlagen. Dabei stellt das warnende Gewissen vorspringend die Tat als vollzogene Möglichkeit vor und antizipiert deren Mißbilligung. Nun hat das Bewußtsein, Unrecht zu tun bzw. billig zu verfahren, den Charakter der Unmittelbarkeit. Es kann weder andemonstriert werden, noch läßt es sich wegklügeln. Und diese Unmittelbarkeit ist ebensowenig von der Art einer theoretischen sinnlichen Anschauung wie das intellektuelle Sehen. Sie ist von der Art eines unmittelbaren Gefühls. Das läßt sich am deutlichsten durch Abgrenzung vom sittlichen Gefühl der Achtung bestimmen. Achtung, wie sie sich in Urteilen der Art ausdrückt „Diese Person verdient Respekt", basiert auf einer Empfänglichkeit für die unbedingte Verbindlichkeit des Sittengesetzes. Ihr Interesse liegt darin, den reinen Trieb des ursprünglichen Ich zu verwirklichen. Das selbsterwirkte Vernunftgefühl der Achtung wird allein durch das unmittelbare Bewußtsein der reinen Selbsttätigkeit in intellektueller Anschauung konstituiert.Das Gewissen dagegen entspricht der Zusammenstimmung von reinem und empirischem Ich zufolge des menschlichen Grundtriebes. Was dabei unmittelbar gefühlt wird, ist die Billigkeit bzw. Unbilligkeit des je-meinen Tuns im Fühlen der Harmonie bzw. Disharmonie, die aus der Wechselbestimmung von reinem und natürlichem Trieb im sittlichen Handeln entsteht. Mithin zeigt sich die spezifische Unvermitteltheit des Gewissens als „das unmittelbare Gefühl der Harmonie oder Disharmonie meines wirklichen Zustandes mit dem durch den Urtrieb geforderten" (ebd.). 3. Indessen erhebt sich gegen eine vorschnelle Verknüpfung des

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richterlichen Gewissens mit der Untrüglichkeit eines unmittelbaren Gefühls für das Rechte und Billige ein Einwand. „Könnte nun diese Billigung oder Mißbilligung auch kalt, ein bloßes Erkenntnisurtheil seyn; oder ist sie nothwendig mit Interesse verknüpft?" (GA 1,5,137). Es liegt ja nahe, den Spruch des Gewissens mit den Vorstellungen von Gericht, Anklage und Urteil zu verbinden, sei es, daß anklagende und richterliche Instanz in dem vom Gewissen Gepackten selber liegen oder sich auf den Sünder und einen Gott verteilen, der mich für alles Tun und Lassen zur Verantwortung zieht, oder auf den „Blick" des Anderen übergehen.168 Bekanntlich kann sich Kant nicht genug tun, das Phänomen des Gewissens in Worten der Gerichtssprache auszudrücken: als Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes, als eine über die Gesetze wachende Gewalt, als inneren Richter und sich selbst richtende Urteilskraft. In diesem Sog nennt Fichte das Gewissen einen „verständigen Richter" (RdN, 9. Rede) oder den „Richterstuhl der Moral" (NR § 4). So gesehen, beruhen Billigung und Mißbilligung des Gewissensrufes auf Urteilen oder Syllogismen einer reflektierenden, sittlichen Urteilskraft, die mit richterlicher Objektivität gefällt werden: gerecht, unbestechlich, kalt. Dann gehörte das billigende bzw. mißbilligende Gewissen gar nicht dem Vermögensbereich von Gefühl und Befindlichkeit, sondern dem von Intellekt, Urteilskraft und einer zwischen den Anblicken von Recht und Unrecht schwebenden Einbildungskraft an. Damit stellt sich die in der Gewissenspsychologie viel verhandelte Frage, ob der Vollzug des Gewissens ein gnoseologischer, voluntativer oder emotionaler Akt ist. Sie wird von Fichte in der Form folgender Al-

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Sartres atheistischer Existentialismus hat die Macht des Gewissens und die Peinigungen der Gewissensbisse in „Les mouches" enttheologisiert und in „L'etre et le neant" entinnerlicht. An die Stelle einer innerlichen Gewissensstimme tritt die Scham: das präreflexive Sich-Schämen über sich vor dem Blick des Anderen außer mir, den ich als den sehe, der mich sieht. Die Anderen, vor deren Blick ich mich schäme, bilden die bedingungslos anerkannte richterliche Instanz, die mich in meinem objektiven Versagen festnagelt: Die Anderen, das sind die in die Intersubjektivität versetzte Hölle; vgl. Huis clos, in: Theatre. Paris: Gallimard 1947, 122-182. - L'etre et le neant, Paris: Gallimard 1943,298-349. - Aber Sartres Gesamtkonstellation zeigt auch: Absolute Freiheit ohne regulierendes Gewissen verliert jede sichere Orientierung in den Situationen sittlicher Entscheidung; vgl. L'existentialisme est un humanisme, Paris: Nagel 1970,40ff.

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ternative behandelt: Entweder ist die Billigung bzw. Mißbilligung des Gewissens ein bloßes Erkenntnisurteil ohne Einmischung von Interessen, oder sie ist unabtrennlich mit Interessen verbunden. Das entscheidet über den Gefühlscharakter; dem („glühenden") Interesse nämlich opponiert („kühle") Gleichgültigkeit, die erklärt: „Das geht mich nichts an und läßt mich völlig kalt". Mithin ist zu untersuchen, ob beim Richterspruch des Gewissens Interesse im Spiele ist und wie sich Gewissen, Interesse und Gefühl miteinander verflechten. Der erste Schritt dieser Untersuchung führt vor die Relation von Interesse und Trieb. Im Unterschied zu dem, was mir gleichgültig ist, gilt: „Was mich interessirt, muß im Gegentheil eine unmittelbare Beziehung auf meinen Trieb haben" (SSL; GA 1,5,135). Mich interessiert (mini interest) besagt: Mir in meinem unteren bzw. oberen Begehrungsvermögen, der sinnlichen Begierde bzw. dem vernunfthellen Willen, ist an etwas gelegen. Woran mir gelegen ist, ist nichts anderes als die Verwirklichung und Existenz des vom Naturtrieb Ersehnten bzw. vom reinen Trieb Geforderten, letztlich die Übereinstimmung von Trieb und Wirklichkeit. Von welcher Art ist nun der Bewußtseinsmodus solcher Anteilnahme? Diesen Schritt der Analyse hat die Betonung der Unmittelbarkeit vorbereitet. Das Interesse bezieht sich unmittelbar auf den Trieb, da er selbst unmittelbar empfunden wird. „Die Harmonie oder Disharmonie desselben mit dem Triebe wird gefühlt, vor allem Raisonnement, und unabhängig von allem Raisonnement" (ebd.). Im unmittelbaren Innesein der geglückten Übereinstimmung entsteht das Gefühl der Freudigkeit, aus der mißglückten Übereinstimmung Betrübnis und Niedergeschlagenheit, die niemals andemonstriert und aus Vernunftgründen hergeleitet werden können. Die angezeigte Verflechtung von Gewissen und Gefühl durch Einbindung des Interesses zieht einen dritten Schritt in die Innerlichkeit des Gewissens nach sich. Alles Fühlen nämlich ist im Grunde ein Sich-selber-Fühlen; denn in der Freude über etwas freue ich mich an mir selbst. Zuletzt bedeutet ja die Freude über die Harmonie von Trieb und Wirklichsein die Freude über eine Übereinstimmung meiner (des reinen Ich) mit mir (dem empirischen Ich). Soweit ist aufgewiesen: Das Urteil der Billigung oder Mißbilligung aufgrund einer reflektierenden, sittlichen Urteilskraft ist unmittelbar mit einem Interesse auf dem Grunde des Selbstinteresses verknüpft und bekundet sich in einem Gefühl der Lust und Unlust, die der Mensch als sittliches Wesen empfindet, wenn er mit sich selbst im reinen oder im unreinen ist. Dieses Resultat erlaubt es, das merkwürdige Gefühl des Gewissens,

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die innere Zufriedenheit bzw. Unruhe, durch Abgrenzungen von aller ästhetischen Lust (am Angenehmen wie am Schönen) abschließend zu umgrenzen. Dabei sollte einleuchten, wie zum Verwechseln ähnlich alle drei Arten der Lust aussehen. Alle drei nämlich erwachsen aus dem unmittelbaren Innesein einer Harmonie oder Disharmonie im menschlichen Gemüt. Die Lust und Unlust der Sinne hält sich an die Zusammenstimmung bzw. Nichtzusammenstimmung des Naturtriebes mit der Wirklichkeit und wird, wenn der Naturtrieb erfüllt ist, zum Genuß (Wollust, voluptas). Das Lebensgefühl der Freude am Schönen wiederum ist jene geistige Lust, die im unmittelbaren Innesein des freien, harmonischen Spiels aller Erkenntniskräfte (Kant) - nach Schiller: der Harmonie von Stoff- und Formtrieb im Spiel mit der lebenden Gestalt des Schönen - besteht. Die Ausdifferenzierung des sittlichen Gefühls der Harmonie zwischen reinem Trieb und Naturtrieb im bestimmten Handeln in der Welt unter der Forderung der Pflicht ergibt sich, wenn Grund und Folge solcher Stimmungen betrachtet werden. Dabei zeigt sich im Respekt auf die Abhängigkeit: Die sinnliche Lust kann unfreiwillig heißen. Sie kommt ja nicht von einem Akte selbstbewußter Freiheit her, sondern hängt von der Gunst der Natur ab. Daher kann das Eintreten der Lust auch nicht aus dem bloßen Befolgen des Naturtriebs sicher erwartet werden. Dagegen hängen Freudigkeit und Verdrossenheit des Gewissens von mir selber ab. Ich bin ja formaliter frei, die Antriebe meines Naturtriebs gemäß den Forderungen des reinen Triebes zu regulieren. Daher läßt sich erwarten: Erfülle ich den sittlichen Trieb, dann werde ich mit Sicherheit froh sein, und umgekehrt: Handle ich pflichtwidrig, dann kehrt Freudlosigkeit ein. Eine ebenso einschneidende Differenz ergibt sich in Betracht des Effektes. Die Sinnenlust wirkt so, daß sie „mich von mir selbst wegreißt, mich mit mir selbst entfremdet" (ebd.). Sinnliche Lust und leibhafter Schmerz können jemanden außer sich bringen. Gesteigert zum Rausch, überwältigen sie die Fassung des Menschen. Dabei ist freilich nicht vom göttlichen, hellsichtigen Rausch der Seher, Dichter und Liebenden die Rede, der den Sterblichen über sich hinaus bringt, sondern von einer Selbstvergessenheit im Sinne der Entfremdung. Steht es so, dann können im Gefühl sinnlicher Unlust und körperlicher Schmerzen auch keine Selbstvorwürfe oder gar Selbstverachtung Platz greifen. Die Qual des Durstes etwa beim Entzug von Wasser durch die wüstenhafte Natur bringt keine Gewissenspein mit sich. Ganz anders regen sich Freude bzw. Leid des Gewissens. „Sie führt mich sonach nicht aus mir selbst

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heraus, sondern vielmehr zurück in mich. Sie ist Zufriedenheit; dergleichen zur Sinnenlust sich nie gesellt: weniger rauschend, aber inniger; zugleich ertheilt sie neuen Muth und neue Stärke" (GA 1,5,138). Zufriedenheit meint nicht untätig-saturierte Selbstgenügsamkeit, sondern einen hart errungenen und stets aufs neue bedrohten Frieden, die belebende, freudig gestimmte Ruhe in der Empfindung, das Seine getan zu haben.169 Entsprechend steht es mit der Unruhe des Gewissens. Auch die Gewissensqual führt mich zu mir selber zurück. Die peinigende Unzufriedenheit spricht sich in Selbstvorwürfen aus. In der Selbstverachtung bereut das empirische Ich, versagt zu haben. Zugleich aber entdeckt solcher Unfriede, daß jedermann eine höhere Natur besitzt und Forderungen verletzt hat, denen er mit ermutigter Kraft entsprechen kann. Ebenso strikt trennt sich das Fühlen des Gewissens vom ästhetischen Geschmack. In die Beurteilung des Schönen, sei es des Natur- oder Kunst-Schönen oder der lebendigen Schönheit des Menschen, haben sich das Gewissen und das Wirklichkeitsinteresse weder billigend noch mißbilligend einzumischen; denn die Erfüllung des ästhetischen Triebes kann ebensowenig kategorisch abgefordert werden wie die Erfüllung naturwüchsigen Verlangens. Das Erschaffen von Kunstwerken durch das Ingenium und das Sich-verhalten-Können des Menschen zum Schönen bedeuten Gunst. Genau genommen, kommt so dem ästhetischen Gefühl eine Mittelstellung zu. Es ist geistige Freude ohne Wollust, aber abhängig von Gunst ohne Freiheit170. Das Gewissen dagegen orientiert sich an 169

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Paradoxerweise enthält die Daseinsanalyse durchaus Parallelen. Das ließe sich anhand der These, das Gewissen reiße mich aus Verfallenheit und Entfremdung heraus, zeigen. Freilich kennzeichnet Heidegger die Selbstzufriedenheit als Gestimmtheit, welche das Gewissen „zum Knechte des Pharisäismus" mache (SuZ §59), während das Gewissen-haben-Wollen eigentlich entschlossene Bereitschaft zur Angst sei. Indessen bedeutet in Fichtes Sittenlehre gewissenhafte Zufriedenheit gerade den im Kampfe gegen das Genußleben (das „Man") errungenen Frieden des Selbst, das sich zur je-meinigen Handlung in der Welt aus freier Selbsttätigkeit entschlossen hat. (Gemeinsamkeit und Entgegensetzung in der Sinndeutung des Gewissensphänomens bei Kant und Heidegger hat Johannes Michael Hollenbach, Sein und Gewissen. Über den Ursprung der Gewissensregung, Baden-Baden 1954,307 ff. markiert.) Darum spielen der ästhetische Trieb und die Kunst für die Systemvermittlung und -begründung keine Rolle. Damit operiert aber bekanntlich Schellings „System des transzendentalen Idealismus" (S.W. 111,628-629): Die ästhetische Anschauung verbürge die intellektuelle; denn sie sei nichts anderes als deren Objektivation. Für den Schelling von 1800 besiegelt so erst die Urkunde der Kunst die Rechtmä-

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der absoluten Selbsttätigkeit des Ich und der kategorischen Forderung des reinen Triebs. Mit solchen Abgrenzungen beschließt sich der Aufschluß des Gewissensphänomens in § 11 der Sittenlehre, 1798. „Das beschriebene Gefühlvermögen, welches sehr wohl das obere heißen könnte, heißt das Gewissen" (ebd.).

14.3 „Das Gewissen irrt nie". Sicherung des unmittelbaren Bewußtseins bestimmter Pflicht (System der Sittenlehre 1798, § 15) Die Erinnerung an den spezifischen Gefühlscharakter, der den Bewußtseinsstand des Gewissens prägt, scheint diesen als Fundament einer Sittenlehre eher fraglich zu machen als zu empfehlen. Gerade neuzeitliche Ethik hat ein untrügliches und sicheres Fundament gesucht und in der Ableitung der Autonomie aus der Tiefe des Selbstbewußtseins auch gefunden. Nun aber liefert sich die Anwendung dieses Prinzips einem bloßen Gefühl aus. Aber „pathologische" Gefühle schwanken doch und bleiben dem Irrtum ausgeliefert, weil ihnen als bloß subjektiven Zuständlichkeiten gar nichts an sachorientierter Wahrheit als Übereinstimmung meiner subjektiven Vorstellung mit dem objektiven Sachverhalte liegt. Dagegen muß sich jede Gewissensethik absichern. Sie hat den Satz zu beweisen: „Das Gewissen irrt nie, und kann nicht irren" (GA I, 5,161). Fichtes Deduktion folgt dabei der Regel: „Soll überhaupt pflichtmäßiges Verhalten möglich seyn, so muß es ein absolutes Kriterium der Richtigkeit unsrer Ueberzeugung über die Pflicht geben" (GA I, 5,153). Davor war einsichtig gemacht worden: Gibt es keinen sicheren Prüfstein für die Überzeugung, daß ich meine mir aufgetragenen Obliegenheiten in rechter Weise verrichte, dann gerät die Moralität in ein Dilemma. Entweder regiert der Zufall in der Welt, da wir Menschen das Rechte je nur auf gut Glück treffen. Oder man muß sich jedweder sittlichen Entscheidung enthalten, da wir bei aller vermeintlichen Überzeugtheit in jedem Falle zweifelhaft darüber bleiben müssen, was uns zu tun obliegt. Mithin wäre ein Handeln aus Pflicht nicht gut möglich. Aber warum in aller Welt sollte Moralität möglich sein können? Begeht die einschlägige Folgerung „Soll - dann muß" nicht eine petitio principii?

ßigkeit philosophischer Systemansprüche. Gerade das leistet für eine Grundlegung des Bewußtseins absoluter Freiheit nach Fichte das Manifest des Gewissens.

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Könnte nicht richtiger aus dem Fehlen des erforderlichen Prüfsteins auf die Unmöglichkeit einer praktikablen Sittlichkeit geschlossen werden? Fichte kann sich für die Geltung der Voraussetzung auf das dargelegte Grundverhältnis von reinem Selbstbewußtsein, Sittengesetz, Freiheit und intellektueller Anschauung berufen. „Nun ist, zufolge des Sittengesetzes, ein solches Verhalten schlechthin möglich" (GA 1,5,154). Das hat eine Sittenlehre aus „gelehrter Erkenntnis" hinreichend sichergestellt (vgl. SSL § 3). Dabei läßt es eine gründliche Ethik nicht bei der Tatsache einer sittlichen „Zunötigung" des Sittengesetzes und dem Vernunftfaktum der Freiheit bewenden, sie leitet ab, wie mit der vernünftigen zugleich die sittliche Natur des Menschen entsteht. Abgeleitet ist das Prinzip der Sittlichkeit dadurch, daß die Autonomie des Menschen als Wechselbestimmung von Freiheit und Gesetz dargelegt und als notwendige Bedingung für die Subjekt-Objekt-Identität deduziert wird. Wäre freies sittliches Verhalten unmöglich, gäbe es sonach kein Ich. Das stellt die Methodenregel „Soll - dann muß" auf festen Boden. Soll es wirklich ein in der Welt praktizierbares Ethos geben, dann muß ein sicherer Prüfstein vorhanden sein, der unsere sittlichen Überzeugungen von Zweifel und Zufall absolviert. Aber wo wäre ein solches Kriterium zu finden? Solche Maßgabe liegt nicht als etwas objektiv Vorgegebenes außer uns vor, etwa in der Gestalt von religiösen, gesellschaftlichen, staatlichen Autoritäten. „Das Kriterium der Richtigkeit unsrer Ueberzeugung ist, wie wir gesehen haben, ein inneres. Ein äußeres, objectives, giebt es nicht, noch kann es ein solches geben" (GA 1,5,158). Ein äußeres, aus fremder Autorität aufgestelltes Entscheidungskriterium kann es gar nicht geben, insofern moralisches Handeln den Trieb nach Selbständigkeit und Selbstbestimmung zum Element hat. Abhängigkeiten von fremden Autoritäten widersprechen der Forderung nach Unabhängigkeit im sittlichen Urteil. Und es darf auch nicht nach äußeren Pflichtzuweisungen gehandelt werden. Darin spitzt sich Fichtes Vorbehalt gegen eine Sittlichkeit, die sich auf Manifestationen des objektiv-allgemeinen Geistes, den Staat vor allem, stützt, aufs äußerste zu. Wer auf Autoritäten hin handelt, handelt unmoralisch (vgl. SSL § 15, Cor.III). Pflicht ist es, Überzeugungen von dem, was ein officium ist, innerlich zu prüfen. So wird die Frage freilich noch strittiger; denn gründet sich so das Wissen von dem, was das Rechte ist, nicht auf das in sein Inneres zurückgehende, einseitige Selbstbewußtsein? Behauptet sich damit nicht eine schlechte Subjektivität als das Absolute, das sich die Macht anmaßt, moralisch

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zu binden und zu lösen und somit dem Bösen, d.h. der Gesinnung, böse Handlungen für sich als gut zu deklarieren, Tür und Tor öffnet? (Ist Fichte, wie Hegel behauptet, damit der Wegbereiter der Romantik?)171 Das fragliche Kriterium soll mithin nicht äußerlich, sondern innerlich, und es kann nicht theoretisch, es muß praktisch sein. Es prüft ja einen Glauben, d.h. ein subjektiv-überzeugtes Für-wahr-Halten in praktischer Absicht unter dem Primat der praktischen Vernunft.172 Fichte zieht dafür Kants Beispiel vom Glauben eines Ketzerrichters heran, der Andersgläubige auf den Scheiterhaufen schickt und moralisch in die Irre geht, weil er seine Überzeugung nicht prüft (vgl. Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft; Akad.Ausg. VI, 186). Die Frage ist: Kann es der überzeugteste Inquisitor wagen, für seine Überzeugung, Ketzer seien zum Tode zu verurteilen, das eigene Seelenheil daran zu setzen? Der probateste Prüfstein für die Festigkeit von Überzeugungen ist immer noch der „Wett"-einsatz bis zum Daransetzen der ganzen Existenz: Ich will verdammt sein, wenn mein Urteil nicht richtig und recht ist. Fichte hat das ethisiert. Mein Einsatz für sittliche Überzeugung liegt darin, meine Besserung auf alle Ewigkeit aufzugeben, d.h. mich alle Tage der Selbstverachtung auszusetzen. Das kann kein Mensch im Ernst wollen. Wird das ins Positive gewendet, so springt die Prüfungsfrage heraus: Hält meine Überzeugung, hier und jetzt das Rechte zu tun, für immer stand? Aber wie könnte sich das empirische, zeitlich-veränderbare Ich solchen Immerseins versichern? Worin hätte die immerwährende Unerschütterlichkeit einer sittlichen Meinung ihre Wurzel im Bewußt-

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Daß es sich bei Fichtes These von der Untrüglichkeit und Inappellabilität des Gewissens - in pietistischer Tradition und unter dem Einflüsse Rousseaus und Kants; vgl. Emanuel Hirsch, Fichtes Gotteslehre, in: Ders., Die idealistische Philosophie und das Christentum, Gütersloh 1926,141 - um ein Politikum handelt und daß Hegels Replik durch dieses politische Skandalen provoziert worden ist, sieht Holger Jergius, Fichte: Die Theorie des Gewissens. Göttingen 1976,74ff. völlig zu recht. Peter Rohs, Der materiale Gehalt des Sittengesetzes nach Fichtes Sittenlehre, in: FichteSt, 3, (1991)170-183 stößt im Rahmen der Leitfrage, wie dem formalen Grundgesetz der Sittlichkeit ein materialer Gehalt gegeben werden könne, auf ein Zweistufenmodell sittlicher Vergewisserung: 1. auf die primäre Metatheorie eines Gefühls (des Gewissens), 2. auf eine sekundäre, bloß gelehrte theoretisch-reflexive Klärung, und er plädiert für ein reflexives Überlegungsgleichgewicht zwischen der Intuition des Gewissens und der theoretischen Argumentation aus praktischem Interesse für das Leben.

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sein? Läßt sich die Unerschütterlichkeit der festen Überzeugung beweisen? „Der Beweis davon ist folgender: Eine solche Ueberzeugung versetzt in Harmonie mit dem ursprünglichen Ich. Aber dasselbe ist über alle Zeit und alle Veränderung in der Zeit erhaben; darum erhebt sich in dieser Vereinigung das empirische Ich gleichfalls über allen Zeitwechsel, und setzt sich als absolut unveränderlich. Daher die Unerschütterlichkeit der festen Ueberzeugung" (GA 1,5,158). Der Beweis pocht auf das Gewissen als höchste, inappellable Instanz für das Bewußtsein bestimmter Pflichten mit dem Gepräge unzweifelhafter Gewißheit. Das Gewissen hatte sich ja als unmittelbares Bewußtsein jener harmonischen Wechselbestimmung herausgestellt, in welcher sich das empirische Ich im Erfüllen bestimmter Pflichten dem reinen Ich angleicht. Liegt nun das ursprüngliche Ich als „zeitigender" Ursprung allem Zeitlichen zuvor und zugrunde, dann bleibt es selbst vom Anderswerden in der Zeit unberührt. Folglich fallen wahre sittliche Entscheidungen nicht für eine bestimmte Dauer in veränderlichen Situationen. Die sie tragenden Überzeugungen erstrecken sich unabänderlich auf die ganze Reihe der Zeit. Was erbringt solcher Beweisgang? Diese Frage ergeht nicht nur an die Gewissensethik, sondern an die Grundlegung eines ethischen Idealismus überhaupt. Sie zielt schließlich auf das Fundierungsverhältnis von intellektueller Anschauung und Gewissen. Zunächst dürfte die Hypothese von der Untrüglichkeit des Gewissens gesichert sein, obwohl dessen Gefühlscharakter im schiefen Ansehen einer bloß subjektiven Zuständlichkeit unter der Herrschaft der ins Innere zurückgegangenen, schlechten Subjektivität steht. „Dieses Gefühl täuscht nie, denn es ist, wie wir gesehen haben, nur vorhanden, bei völliger Uebereinstimmung unsers empirischen Ich mit dem reinen; und das leztere ist unser einziges wahres Seyn und alles mögliche Seyn, und alle mögliche Wahrheit" (ebd.). Nun hat sich mit dem allerersten Grundsatz der Wissenschaftslehre das absolute Ich und Subjekt-Objekt als Grund und Boden für alles reale Sein im Sinne von Tätigkeit, Leben, Bewußtsein wie als letzter Grund für alle mögliche Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung von Subjekt und Objekt qualifiziert. Wurzelt nun der Gewissensvollzug im Grunde der Wahrheit selber, dann ist er vom Scheinwesen der Täuschungen und Irrtümer absolviert. Anders stünde es, wenn sich unser Gewissen auf Regungen des veränderlichen und zeitgebundenen empirischen Ich stützte. Dann verfiele es ständig Irritationen und Selbsttäuschungen. So aber bewährt sich der Grundsatz: „Das Gewissen irrt nie,

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und kann nicht irren; denn es ist das unmittelbare Bewußtseyn unsers reinen, ursprünglichen Ich, über welches kein anderes Bewußtseyn hinausgeht" (G A 1,5,16l).173 Es scheint, als wäre damit eine Gewissensethik abgesichert und sogar ein Standpunkt gewonnen, der einen Abschluß des ganzen Systems theoretischer und praktischer Wissenschaftslehre unter dem Primat der praktischen Vernunft in Aussicht stellt. Das sollte sich auch in der durch den Atheismusstreit aufgerührten Frage nach Gott und dem religiösen Glauben bewähren. Im Anfang des Atheismusstreites, etwa in der gleichzeitig mit der Sittenlehre von 1798 publizierten Abhandlung „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung", findet sich die Kraft der sittlichen Gesetzgebung als lebendig wirkende moralische Weltordnung ohne Zusatz oder Abstrich mit Gott gleichgesetzt. So spitzt sich eine Moraltheologie zu, welche Moralität nicht auf die Theologie stützt, sondern umgekehrt den Glauben an Gott auf pflichtmäßige Gesinnung gründet, so daß Gott zu erkennen heißt, den sittlichen Willen in sich zu vollziehen. Gibt es mithin Gott für den Menschen in Wahrheit nur auf der Stufe der Moralität, oder weist die sittliche Gewißheit von sich aus auf ein erhabeneres Bewußtsein, welches das menschliche Streben in der allumfassenden Lebens- und Liebesgewißheit religiösen Glaubens aufhebt?174 Darauf deuten die Fortentwicklungen des Atheismusstreites. Ein sprechendes Zeichen dafür ist die Auslegung des Gewissens als Stimme Gottes in uns. Die Untrüglichkeit 173

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Franz Ungler, Zu Fichtes Theorie des Gewissens, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie 12(1979)212-235 legt einerseits dar, wie ein Gewissensbegriff auf der Grundlage der Wissenschaftslehre die durch Hegels Kritik hell erleuchteten Aporien des Kantischen Gewissensansatzes lösen kann, wie sich aber andererseits bei der problematischen Antizipation des Gewissens durch eine materiale Sittenlehre eine teleologische Zirkelhaftigkeit ergibt, welche die Theorie zwingt, den Weg der Reflexionsphilosophie zu verlassen. - Dagegen wird hier lediglich der behauptete Zirkel zwischen dem urspünglichen (sich intellektuell anschauenden) und endlichen (sich im Gewissen versittlichenden) Ich in seiner Zulässigkeit freigelegt. Georg Gurwitsch, Fichtes System der konkreten Ethik, Hildesheim. Zürich. New York,21984,11 Of f. hat die doppelte Gefahr skizziert, wonach während der „fürchterlichen Aufrüttelungen" des Atheismusstreites entweder Gott in der Moral oder das ethische Streben in einer Mystik passiver religiöser Beschaulichkeit untergehen und sich die Grenze zwischen Moral und Religion dadurch verwischt, daß sich die alogische Irrationalität des Ethischen zur vorbegrifflichen Irrationalität des Absoluten steigert.

Gehorsam - Guter Wille - Zweck des Daseins

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des Gewissens wird zur Gewißheit, daß der gute Wille mit seinen unfehlbaren Folgen in das Leben des Einen aufgehoben ist. Wie also verhält es sich mit einer Grundstellung des Geistes, für welche das Gewissen nicht mehr unmittelbares Bewußtsein bestimmter Pflichten, sondern Orakel der ewigen Welt heißt?

14.4 Gehorsam - Erfolg des guten Willens - Endzweck des Daseins. Vorbereitende Vertiefiing der Destination des Menschen (Die Bestimmung des Menschen 1800, 3. Buch) Die scheinbar popularisierende, in Wahrheit die Prinzipien der Wissenschaftslehre innovierende Erörterung des Gewissens im 3. Buche der Abhandlung „Die Bestimmung des Menschen" von 1800 nimmt prima facie den in der Sittenlehre herausgegliederten Gewissensbegriff einfach auf. Genauer zugesehen aber, hebt sie das Grundphänomen einer Ethik der Autonomie, den Willen und die selbsttätige Vernunft, verwandelnd in eine Mittelstellung, welche die ethische und religiöse Bestimmung menschlichen Daseins miteinander verknüpft. Das ist vorab zu verdeutlichen. Zunächst wiederholt sich die ethische Gewissensformel vom unmittelbaren Bewußtsein der bestimmten Pflicht. „Diese Stimme meines Gewissens, gebietet mir in jeder besondern Lage meines Daseyns, was ich bestimmt in dieser Lage zu thun, was ich in ihr zu meiden habe" (GA 1,6,261). Und es wird repetierend beteuert: Die Stimme des Gewissens begleitet mich durch alle Begebenheiten meines Lebens. Ich kann mich ihr verschließen, aber ich werde sie nicht los. Sie festigt mit unbeirrbarer Gewißheit meine Überzeugungen von dem, was recht und billig ist, und beruhigt Furcht und Zittern des Ethikers, böse Irrwege zu gehen. Ich kann gegen sie sophistisch klügeln, aber nicht im Ernste streiten. Das alles hat die Sittenlehre auf der Grundlage der Wissenschaftslehre deduziert und gerechtfertigt. Für die Bestimmung des Menschen aber ergibt sich daraus ein folgenschwerer Satz. „Auf sie zu hören, ihr redlich und unbefangen ohne Furcht und Klügelei zu gehorchen, dies ist meine einzige Bestimmung, dies der ganze Zweck meines Daseyns" (ebd.). Die Reichweite dieses Satzes dürfte erst deutlich werden, wenn das Ethos des Gehorsams, die Endlichkeit unseres Willens und der ganze Zweck menschlichen Daseins zureichend bedacht sind. Worin also liegt der ganze Zweck unseres Daseins, und inwiefern eröffnet er sich, wenn wir gehorsam auf den Ruf des Gewissens hören?

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Dafür ist an Zusammenhänge zwischen Wollen, Worum-willen und Gewissen zu erinnern. Wille, d.i. das Wirken nach Begriffen, ist ein zweckgeleitetes Handeln, das etwas als Ziel vorstellt und im Finden geeigneter Mittel zu verwirklichen sucht. So bereitet sich der Mensch Speisen, um seinen Hunger zu stillen. Hierbei setzt der Naturtrieb Zwecke. Unter dem Ansprüche des Gewissens bildet der sittliche Trieb das Ziel vor, nämlich jeweils in der Welt das Rechte zu verwirklichen, was mir zu tun obliegt. Dabei handle ich nicht so, wie ich handle, weil es vorgegebene Zwecke gibt. Etwas wird mir zum Zweck, weil ich - im Hören auf die Stimme des Gewissens - so handeln soll. Ich hungere ja auch nicht, weil Speise für mich vorhanden ist. Es steht umgekehrt: Etwas wird mir zur Speise, weil ich hungere. Die einschneidende Frage lautet nun: Worin besteht der ganze Zweck menschlichen Wollens unter dem Anruf des Gewissens? Und wie fest ist der im Gewissen verankerte Glaube, diesen verheißenen Zweck auch zu erreichen? Nun werden der dem Vernunftwillen gebotene Zweck als „Zustand einer anderen und besseren Welt", der Modus des Glaubens als unerschütterliche Überzeugung angekündigt (BdM; GA 1,6,266). Das zwingt dazu, die Frage nach der Bestimmung des Menschen neu aufzurollen, und zwar in Hinsicht auf den Endzweck wie auf die Mittel. Liegt im irdischen Zweck der Menschheit, auf Erden eine bessere und gerechtere Welt einzurichten, der ganze Sinn unseres Daseins, und: Sind dafür die vom Gewissensanruf verlangten Handlungen die geeigneten und einzigen Mittel? Die zweite Frage wird die Sache entscheiden. „Und dann, sind denn auch wirklich die durch die Stimme des Gewissens, durch diese Stimme, über deren Aussage ich nicht klügeln darf, sondern ihr stumm gehorchen muß - sind die durch sie gebotenen Handlungen auch wirklich die Mittel, und die einigen Mittel, den irdischen Zweck der Menschheit herbeizuführen?" (GA 1,6, 277). Der irdische Zweck ergibt sich zweifellos aus der sich aufdrängenden Forderung, die mangelhaften Weltzustände in zukünftiger Zeit auf dem Schauplatz der Geschichte zum Weltbesten zu verändern. Dazu gehört die energische Arbeit, die rohen Gewalten der Natur und die vorgesellschaftliche Wildheit des Menschen zu kultivieren, das Recht im Staate einzurichten, die Kriege zwischen den Völkern zu verhindern, den Egoismus der Gesinnungen aufzuheben, in summa: den inneren und äußeren Frieden fest zu gründen. Der mit sittlicher Gesinnung erfüllte Rechtsfriede ist das Ziel der Menschheit auf ihrer geschichtlichen Bahn.

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Nun kann schlechterdings niemand daran zweifeln, ob denn das ein sinnvoller Zweck sei. Fraglich bleibt lediglich, ob das der ganze Zweck unseres Daseins sein könne. Dagegen spricht - unter der Prämisse, daß Stillstand Tod, Tätigkeit Leben bedeutet - eine einfache hypothetische Überlegung. Das irdische Ziel ist endlich, d.h. ebenso begreifbar wie erreichbar. Die technische Kultur könnte eines fernen Tages die Unbändigkeit des Meeres wirklich eindämmen, gute Gesetze könnten sozialen Frieden erreichen. „Die Menschheit stände dann still auf ihrer Bahn; darum kann ihr irdisches Ziel nicht ihr höchstes Ziel seyn" (ebd.). Tiefer geht die Prüfung der Zweck-Mittel-Relation. Sind die vom Gewissen verlangten Handlungen unfehlbar für die geschichtlich zu erstrebenden Weltverbesserungen förderlich? Der redliche Bescheid ist eindeutig. Ein schlichtes gehorsames Befolgen der Gewissensbescheide taugt nicht recht dazu, die Welt tatkräftig zum Besseren hin zu verändern. Der beste Wille und die reinste Gesinnung scheitern ja oft genug an widrigen Umständen oder an der eigenen physischen oder politischen Kraftlosigkeit. Und nicht selten haben die Weltverbesserer reinen Herzens die Dinge nur verschlimmert. Umgekehrt erzeugen die Gewalt der Selbstsucht und das eigensüchtige Interesse fast gesetzmäßig das Gute, indem sie sich gegenseitig ruinieren oder in eine Herr-Knecht-Dialektik umschlagen und eine allseitige Anerkennung wachsen lassen (Hegel). Daraus scheint eine ausschließliche Disjunktion zu folgen. Entweder man unterstellt eine List der Vernunft. Darauf weist mit gehöriger Distanz schon Fichte hin: auf einen mächtigen „Weltgeist", der „mit Verschwendung oder durch Umwege" zum Ziele komme (GA 1,6,279). Oder man erklärt nihilistisch, es sei nichts mit den weltgeschichtlichen Kategorien von Endzweck, Einheit und Sinn; in der Weltgeschichte gehe es nicht vernünftig zu. Fichte akzeptiert keine Seite der Alternative. Es gibt (zwischen Hegel und Nietzsche) ein Drittes, die Einsicht nämlich, die Verbesserung der irdischen Weltzustände sei nicht der ganze Zweck unseres menschlichen Daseins; dieser erfülle sich in einer anderen, unsichtbaren Welt. Aber ist das nicht heillose Schwärmerei und Verrat am Ethos besonnener Vernunftkritik? Wird damit der Mensch gar der Erde untreu, indem er sich in eine „Hinterwelt" wegschleicht? Fichte beruft sich bei seinem Ausblick auf eine „überirdische Welt" auf die methodische Schlüssigkeit der Soll-Muß-Konsequenz im Gehorsam dem Gewissen gegenüber. „Soll ich jenen Gehorsam für vernünftig anzuerkennen vermögen, soll es wirklich die mein Wesen bildende Vernunft, nicht eine selbst erdich-

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tete, oder eine irgend woher angeworfene Schwärmerei seyn, welche mir den Gehorsam gebietet, so muß dieser Gehorsam doch irgend einen Erfolg haben, und zu irgend etwas dienen. Er dient offenbar nicht für den Zweck der irdischen Welt; es muß sonach eine überirdische Welt geben, für deren Zweck er diene" (GA 1,6,278). Der folgerichtige Übergang vom Sollen zum Müssen hängt an der Verbindlichkeit des Gesollten. Die Stimme des Gewissens soll nicht ein Irrlicht, sondern eine vernünftige Weisung sein. Das hat die Sittenlehre erwiesen. Unvernünftig und verstiegen kann nur eine falsche, durch falsche Autoritäten großgezogene, ungeprüfte Gewissensüberzeugung werden. Das wahre Gewissen wurzelt dagegen fest in der Übereinstimmung mit dem reinen Trieb unter dem kategorischen Gebot praktischer Vernunft. Mithin ist das folgsame Hören auf die Stimme des Gewissens vernunftgesättigt. Steht es so, dann muß der Gehorsam Erfolg haben. Das sichert das teleologische Axiom allen Idealismus. Zweckloses gebietet nur die bare Unvernunft. Herrscht Vernunft und wird ihr gefolgt, dann kann nichts Zweckwidriges herauskommen. „Die Vernunft kann nichts Zweckloses gebieten" (GA 1,6,283). Nun aber stellt sich der vernunftverbürgte Erfolg infolge der Gewissenhaftigkeit nicht sicher ein. Taten des guten Willens und der gewissenhaftesten Gesinnung laufen im irdischen Leben oft genug ins Leere oder verkehren sich gar zum Widersinn. Eben das macht den Bescheid schlagend, unser Dasein finde seine volle Bestimmung nicht schon in der irdischen und sichtbaren, sondern in einer überirdischen und nicht mit Händen zu greifenden Welt. Aber wie und wann steht mir diese „ewige Welt" offen? Eine Auskunft darüber hat die Kantische Rede vom Menschen als dem Bürger zweier Welten wohl vorbereitet. Ich bin Mitbürger des Reiches der Freiheit und Glied im „unsichtbaren Reich der Geister" dank der Konstitution meines Willens. „Mein Wille ist mein, und er ist das einige das ganz mein ist, und vollkommen von mir selbst abhängt, und durch ihn bin ich schon jetzt ein Mitbürger des Reichs der Freiheit und der Vernunftthätigkeit durch sich selbst" (GA 1,6,280). Mein Wille ist die Quelle meines wahren Lebens und ewigen Seins. Dasein ist Wille, und zwar in seiner vierfachen Auszeichnung als Selbstanfang, Selbstbestimmung, Selbstgenügsamkeit und Selbstzweck. Wille ist Selbstanfang, ein absolut Erstes, dem kein anderes Glied ursächlich vorausgeht. Wollend entschließe ich mich aus freiem Entschluß. Daß und wie der Wille will, liegt bei ihm selbst; denn er erwirkt sich selbst zum Wollen. Und der frei anfangende Wille bestimmt sich selbst; als Vernunfttätig-

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keit folgt er, indem er dem Gesetz der Vernunft folgt, nur sich selbst. Ferner kann der selbstbewußte Wille autark heißen; ihm genügt das Gutsein der Gesinnung. Was aus ihm in der heterogenen Sphäre der zeitlich-geschichtlichen Welt folgt, ist dem reinen Willenscharakter nicht zuzurechnen. Weil der Wille sich eben stets selber zum Wollen bestimmt, steht er immer am Anfang, unabhängig von Folgen in der Abfolge der Zeit. In der Wurzel ist der Wille somit zeitenthoben ewig. Und seine Würde findet ein Willenswesen darin, jederzeit Selbstzweck und niemals bloß Mittel für andere zu sein, in Fichtes Formel: selbsttätig zu wirken um der Selbsttätigkeit willen. Erhaben also über Naturkausalität, Zeitfolge und Zweckbestimmtheit der sinnlichen Welt, gehört der Wille der Vernunftwelt an, und zwar als dessen Lebenselement. „Der Wille ist das Wirkende, und Lebendige der Vernunftwelt" (ebd.). Das ist idealistisches Gemeingut der „Willensmetaphysik". Schillings Freiheitsschrift wird 1809 das Wollen als Ursein eben durch diese vier Prädikate der Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit und Selbstbejahung kennzeichnen. Transzendentale Besonnenheit aber bedenkt angesichts der Gefahr heilloser Schwärmerei die Endlichkeit des Willens im Dasein und Bilde des Selbstbewußtseins. Die zu wahrende Beschränktheit meines Willens manifestiert sich in einem zweifachen Respekt. Zum einen ist mein Wille nur ein Glied in der Ordnung der Geisterwelt, nicht etwa diese Ordnung selber. Zum anderen wirkt er, „ausbrechend" in materiale Tat, auch in der sinnlichen Welt und nicht etwa, darüber erhaben, allein im Ewigen. Die Endlichkeit willenhaften Selbstseins verleiht dem Menschen gerade den Sonderstatus, Bürger zweier Welten zu sein. Es bleibt die Scheinfrage übrig, wann ich Mitbürger der „Geisterwelt" werde. Eine alte, mythenschwere Antwort lautet: nach dem Tode, im Hades oder im Himmel. Und der philosophische Logos hat das nach Platon bestätigt, indem er den Tod als Freiwerden des Unsterblichen in der Seele für das Ewige durch Erlösung aus dem Kerker des Leibes erklärte. Also wäre der Mensch widerspruchslos Angehöriger beider Welten: jetzt, für die Dauer irdischen Lebens, als Bürger der Sinnenwelt, dann, im Lichte der Ewigkeit, als Glied in der Welt seliger Geister. Dagegen protestiert Fichtes Wendung, der Mensch sei dazu bestimmt, „jetzt schon" und nicht erst nach dem Tode Mitbürger im Reiche der Freiheit und im „Himmel" zu sein. „Nicht erst, nachdem ich aus dem Zusammenhange der irdischen Welt gerissen seyn werde, werde ich den Eintritt in die überirdische erhalten" (ebd.). Als Willenswesen, das mit

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Taten in die Sinnenwelt eingreift, gehöre ich der Zeit-Ordnung an, als Wille an und für sich bin ich zugleich, wie gezeigt, ewig. Diese Aussicht entkräftet einen pathologischen Nihilismus, der dem vom Gewissen aufgerufenen reinen Willen Erfolglosigkeit im Geschichtslauf attestiert und nur die Qual des ewigen Umsonst übrigläßt. Der gute Wille bleibt unverloren. Im Reiche der Geisterwelt, da keine fremde Macht meinen Willen scheitern läßt, wirkt er ewig fort; denn für die Sinnfrage bleibt entscheidend, nicht ob ich irdische Zwecke erfolgreich befördert habe, sondern daß ich sie frei und selbsttätig habe befördern wollen. Damit eröffnet sich für die Bestimmung des Menschen und die Weisungen des Gewissens vor dem geistigen Auge eine neue, unbegreiflich erhabene Dimension. Freiheit und Vernunft mit den Mitteln der Kultivierung und den Gesetzen des Kulturstaates in der Welt einzurichten, das erschöpft nicht den ganzen Zweck unseres Daseins. Das Gewissen macht mir nicht nur bewußt, was mir als Bürger einer vom Staube der Vergänglichkeit getrübten Sinnenwelt zu tun obliegt, es verkündet mir eigentlich, wie ich in die Ordnung der Geisterwelt passe. „Welche Bestimmung meines Willens - des einzigen, wodurch ich vom Staube herauf in dieses Reich eingreife, - in die Ordnung desselben passe, sagt mir in jedem Augenblicke mein Gewissen, das Band, an welchem jene Welt unablässig mich hält, und mit sich verknüpft" (ebd.).

14.5 „Orakel der ewigen Welt". Besinnung auf das „Einfließen " des Unendlichen: die Stimme des Gewissens und das Dasein göttlichen Willens „Die Stimme des Gewissens in meinem Innern, die in jeder Lage meines Lebens mich unterrichtet, was ich in ihr zu thun habe, ist es, durch welche Er hinwiederum auf mich einfließt. Jene Stimme ist das nur durch meine Umgebung versinnlichte, und durch mein Vernehmen in meine Sprache übersetzte Orakel aus der ewigen Welt, das mir verkündiget, wie ich an meinem Theile in der Ordnung der geistigen Welt, oder in den unendlichen Willen, der ja selbst die Ordnung dieser geistigen Welt ist, mich zu fügen habe" (GA 1,6,292). Es ist kaum zu bestreiten: Die Formel vom Gewissen als Orakel der ewigen Welt weist über die Sinn- und Bewußtseinsstufe der reinen Moralität hinaus. Das Gewissen bildet nicht mehr bloß das untrügliche Bewußtsein meiner bestimmten Pflicht im Achten auf die Zusammenstimmung mit dem intellektuell

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angeschauten reinen Trieb. Das Orakel aus der ewigen Welt spricht nicht als „Zunötigung" des kategorischen Imperativs, und „Er", der in der Stimme des Gewissens auf mich „einfließt", deckt sich nicht einfach mit dem Sittengesetz. Ein Orakel, z.B. an der Stätte des Apollon zu Delphi, erteilt billigend oder ablehnend die hermeneutischer Übersetzung bedürftige Auskunft eines göttlichen Willens darüber, was Sterbliche in persönlicher oder allgemeiner Not, z.B. bei Krankheit und Seuche, zu tun oder zu lassen haben. Bei Fichte spricht das Wort im Horizont einer protestantisch-lutherischen Gewissensreligion, wonach Gott unmittelbar im Gewissen sein Dasein beweist. Das Orakel ist ursprüngliche, religiöse Offenbarung als Stimme Gottes in der Tiefe des Bewußtseins geworden. Aber sind das nicht mythische Restbestände, welche vor dem Forum einer sich selbst prüfenden Vernunft nicht mehr bestehen, weil sie die Grenzen unserer Erkenntnis und unserer Sprache nicht beachten? „Gott" ist auf transzendentalem Erkenntnisstand das Unnennbare, vor dem alle objektivierende Sprache versagt, und das Absolute bleibt das Unbegreifliche, an dem sich der diskursive Begriff vernichtet. Das hat Fichtes Grenzbesinnung durchreflektiert. Mithin bleibt übrig, das als unbegreiflich und unaussprechlich vernommene Absolute in eine adäquate menschliche Sprache zu übersetzen. „Der Sterbliche muß sich der Worte aus seiner Sprache bedienen" (ebd.). Die Sprachgestalt, welche Übersinnliches mit sinnlichem Anschauungsgehalt lebendig vermittelt, ist eben die Sinnbildsprache. Sie kommt als hermeneutische Übersetzungsrede im Umkreis von Orakel und Stimme Gottes zu Wort, z.B. in der Wendung „Er fließt auf mich ein" oder im Gleichnis der GewissensStimme als „Strahl, an welchem wir aus dem Unendlichen ausgehen" (GA 1,6,293). Solcher Vorbehalt schließt die Anstrengung des Begriffs ein, auszumachen, was undenkbar ist und was im Blick auf Offenbarkeit und Dasein des Einen (des an sich selbst unnennbaren Gottes) eigentlich gedacht werden kann. Einen Ausgang dafür bietet die gesicherte Feststellung, daß der gute Wille notwendig Folgen in der überirdischen Welt hat. „Was denke ich doch, indem ich dies denke?" (GA 1,6,289). Was mir unausdenkbar verschlossen bleibt, ist die Ein- und Übersicht darüber, welche Folgen meine bloße Gesinnung in einer Welt hat, die nicht Objekt meiner Erkenntnis ist. Verstehbar dagegen ist der Modus des Daß: daß es notwendig und ohne Ausnahme Folgen pflichtmäßigen Willens gibt. Ausnahmslose Gültigkeit in der Abfolge von Ursache und

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Wirkung heißt Gesetz. Wie in der Welt der Körper das Gesetz der Naturkausalität herrscht, so gilt für Geister, d.h. freie, immaterielle, personenhafte Willenswesen, ein geistiges Gesetz. Zu bedenken ist damit das Verhältnis dieses Gesetzes zu meinem Willen. Und im Achten auf die Begrenztheit menschlicher Vernunft kann nur konstatiert werden, daß dieses Gesetz weder das Lebens- und Handlungsgesetz meines Willens noch die Summe aller endlicher Willen sein kann; denn die Gesetze des theoretischen Bewußtseins konstituieren das Bild der Sinnenwelt, und die Satzung der praktischen Vernunft versichert deren Realität. Daß endlicher Wille in einer Welt, deren Ordnung er nicht begreift und deren Folgen in der ewigen Reihe der Geister er nicht realisiert, zum Gesetzgeber wird, ist logisch unmöglich. Denkbar aber bleibt, daß mein Wille unter einem Gesetze steht, das alle endlichen Vernunftwesen ordnet, da diese in ihrer Wurzel allesamt ewiger Wille sind. „Was ist denn nun dies für ein Gesetz der geistigen Welt, das ich denke?" (GA 1,6,291) Das fragliche Wassein enthüllt sich in einer dreifachen Wesensbestimmtheit. Das Gesetz ist selber Wille. Es ist der Eine unendliche Wille. Und dieser ist das alles vermittelnde geistige Band der Vernunftwelt selbst. Zunächst: Im Blick auf Sein und Leben dieses Gesetzes hilft die Analogie mit dem Naturgesetz nicht mehr weiter. Einem Gesetz der Natur, z.B. dem Gravitationsgesetz, liegt Seiendes voraus, dessen Sein, das körperhafte In-Bewegung-sein, es mit ausnahmsloser Gültigkeit regelt. Das Gesetz der Geisterwelt dagegen erzeugt die Seinsordnung, deren Gültigkeit es verbürgt, aus sich selber. Das aber kommt allein dem Wesen selbsttätiger Vernunft zu, und selbsttätige Vernunft ist ein anderer Name für Wille. Mithin ist die Gesetzlichkeit dieses Gesetzes der unverbrüchliche Vollzug eines Willens. Dabei kommt alles darauf an, die Vorstellungen endlichen Willens fernzuhalten, um die Gesetzesverfassung des Unendlichen rein zu denken. Das betrifft vor allem die Verfassung menschlicher Willkür. Sie erkennt ja keine Verpflichtung an, sondern folgt wechselnden Launen und Einfallen. Der Gesetzeswille dagegen steht ewig fest. Und abzuwehren ist ebenso die Heterogenität von Entschluß und Tat, Forderung und Erfüllung, Wollen und tatsächlichem Geschehen im endlichen Etwas-Wollen. Der endliche Wille braucht, um wirksam zu werden, anderes außer ihm, Werkzeuge und materialen Stoff in der Sinnenwelt. Im unendlichen Willen dagegen koinzidieren Wollen und Geschehen, Gebieten und Herstellen, Forderung und Darstellung. Hier west ein Wille, „der absolut durch sich selbst zugleich That ist, und Produkt" (ebd.). Das wiederholt nicht die Darlegung der

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Tat-Handlung als Wesensmoment menschlichen Selbstbewußtseins, sondern denkt den Gott, der im Gewissen „einfließt". So wie Hölderlin in einer Lesart der Rhein-Hymne es von den Göttern zu sagen versucht: „Und immer ist gleich / die That und der Wille bei diesen" (StA 11,725). In die Zeit der Fichtestudien fällt Hölderlins Lehrbrief an den Bruder (aus Jena am 13. April 1795), der aus dem heiligen Gesetz eines unendlichen, in keiner Zeit auf Erden erreichbaren Fortschreitens zum sittlich Guten den Glauben an einen „Herrn der Natur" nachpostuliert. Dieser habe die Macht, das im Sittengesetz „Gewollte" wirklich zu machen. „Natürlich ist diß menschlich von ihm gesprochen, denn der Wille und die That des Unendlichen sind Eines" (StA VI, 163). Der unendliche, das Gesetz einer sittlichen Ordnung verlebendigende Wille ist göttlich und mehr als der Gott einer Ethikotheologie. Aber wie ist sein Verhältnis zur übrigen Vernunftwelt zu denken? Nicht abgesondert und getrennt von ihr, etwa so wie der Aristotelische Gott in der Sicht Hegels als in reiner, aber abstrakter Geisttätigkeit nur mit sich selber spielt. Der unendliche Wille oder Gott ist als das Absolute zu verstehen, und außer dem Absoluten ist nichts als dessen Dasein im Selbstbewußtsein und Willen endlicher Vernunftwesen, „Es ist zwischen ihm und allen endlichen vernünftigen Wesen ein geistiges Band, und er selbst ist dieses geistige Band der Vernunftwelt" (GA 1,6, 292). Der unendliche Wille ist überhaupt nur da, indem er mich mit sich und mich mit allen anderen endlichen Vernunft- und Willenswesen vermittelt. Für die thematische Behandlung des Gewissensphänomens kann die sich hier abzeichnende Vermittlung zwischen mir und den anderen Ichen abgeblendet werden. Sie gibt freilich bedeutende Winke für die länger gehegte Aufgabe, das System der intelligiblen Welt aufzustellen, um dadurch die Transzendentalphilosophie in ihren Prinzipien, dem ursprünglich einigenden Selbstbewußtsein und dem rein selbsttätigen Willen, auf eine Synthesis der Geisterwelt auszudehnen, die im unendlichen Willen gründet (vgl. den für die Grundlegungsproblematik wichtigen Brief an Schelling vom 27. Dezember 1800). Die im 3. Buch der „Bestimmung des Menschen" herausgehobene Vereinigung selbständiger und unabhängiger Willen unter dem Gesetz unmittelbarer Wechselwirkung als Dasein des unendlichen Willens gibt überdies auch einen Wink für die Lösung der von Fichte neu gestellten und vielseitig erwogenen Frage der „Fremderfahrung" und der Existenz vorgestellter Ich-Wesen außer mir: Geistige Wesen erkennen einander, weil sie eine gemeinsame

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geistige Quelle haben, eben den unendlichen Willen, der alle endlichen Geister in seiner Sphäre hält und trägt. So fuhrt die Verbindung von Ich und Du weder unmittelbar von meinem Ich zum anderen Ich noch unvermittelt vom anderen Ich zu mir. Solcher Übergang ist immer schon durch den vereinigenden Lebensgrund des unendlichen Willens vermittelt. So aufschluß- und folgenreich diese Winke auch sein mögen, bei dem Gewissensproblem unter dem Stichwort „Orakel der ewigen Welt" dreht es sich zentral um die Vermittlung meines menschlich-endlichen mit dem unendlich-göttlichen Willen. Die Realität dieses Bezuges bezeugt sich in zwei Grundbestandstücken meines unvergänglichen Seins, in der Stimme meines Gewissens und durch die „Tugend" des freien Gehorsams. In zulässiger Sinnbildsprache läßt sich das symbolischemanativ so ausdrücken: Durch die Stimme des Gewissens fließt Er auf mich ein; die geistige Welt neigt sich zu mir als einem ihrer Glieder herab. Im Gehorsam wiederum, im Hören auf die Weisung des Orakels, fließe ich auf den unendlichen Willen ein und erhebe mich aus dem Staube der zeit- und todverfallenen Erde hinauf ins ewige Reich. Freilich hat das nichts mit einer mystisch-meditativen Vereinigung der Seele mit Gott zu tun; im gehorsamen Hören auf das Orakel aus der ewigen Welt geht es darum, daß ich das Meine verrichten soll, und zwar mit einer Gesinnung, welche sich unentwegt und unentmutigt von den Widerständen der Sinnenwelt um den Fortschritt des Rechten müht, mit der Gewißheit, sichere, freilich unabsehbare Folgen in der Geisterwelt erreicht zu haben. „So stehe ich mit dem Einen, das da ist, in Verbindung und nehme Theil an seinem Seyn" (GA 1,6,293). Aus dem Geiste einer innerlichen Gewissensethik ist die Platonische Seins- und Erscheinungslehre in transzendentaler Mäeutik wiedergeboren. Was wahrhaft ist und da ist, hält unvergänglich stand, während das Unwahre und Nichtige kommt, um zu vergehen, und erscheint, um Sein vorzuspiegeln. Die Stimme des Gewissens wie mein freier Gehorsam machen die Wahrheit meines Seins und den unbegreiflichen, alles vermittelnden Grund unendlichen Willens offenbar. „Dies ist das einzige Wahre und Unvergängliche, nach welchem hin meine Seele aus ihrer innersten Tiefe sich bewegt; alles Andere ist bloße Erscheinung, und schwindet, und kehrt in einem neuen Scheine zurück" (ebd.).

15. KAPITEL Religion. Dasein Gottes in der Wirklichkeit lebendigen Glaubens 15.1 Panethischer Atheismus? Zur Ausfaltung der moraltheologischen Weltansicht durch Jacob Salat, Friedrich Karl Forberg und Fichte (Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten 1797/98) Religiosität bedeutet nicht Mystizismus. Der religiöse Mensch lebt nicht ein weitabgewandtes Leben mit der ruhigen Gelassenheit, die ganz von der Welt abläßt, und in zeitenthobener Seligkeit, die sich in mystischer Vereinigung mit Gott eins wähnt. Wahre Religion bewährt sich gerade als die menschengerechteste Weise, die „Eine bleibende Welt innerlich anzusehen, zu nehmen und zu verstehen" (AsL 5. Vorl.; SW V, 463). Aber hat nicht schon die Stufe der Moralität eine Höhe erreicht, von der aus die Realität der Welt zureichend verstanden ist, nämlich als Sphäre moralisch-praktischen Handelns oder als Material der Pflicht? Und eröffnet nicht allein der Primat der praktischen Vernunft implizit schon den Zugang zu einem religiösen Glauben, der ganz und gar auf Grundsätze und Forderungen der Sittlichkeit gebaut ist, so daß Religion moraltheologisch im sittlichen Ethos gründet und Gott mit der moralischen Weltordnung zusammenfällt? Weil diese Tendenz einer Auflösung der Religion naheliegt, sind in einem ersten systematischen Zugang zur Stufe der Religion innerhalb der Fichteschen Bildlehre Ausfaltungen der durch Kant inaugurierten Moraltheologie zu beschreiben, wie sie im Jena der Fichte-Zeit vorgenommen wurden. Diesen Vorgang beleuchten schlagartig drei Beiträge im „Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten": 1. Jacob Salat, „Geht die Moral aus der Religion, oder diese aus jener hervor? Einige Winke zur neuern Geschichte und Kritik der Religion" (5. Band, 3. Heft 1797; PhJG V, 197240), 2. Friedrich Karl Forberg, „Entwickelung des Begriffs der Religion" (8. Band, 1. Heft; PhJG VIII, 21-26), 3. Fichtes „Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung" (8. Band, 1. Heft;

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PhJG VIII, l-20 = G A 1,5,318-357). Diese zeittypischen Beiträge sollen hier nicht als Quellenbereich für den Strom der Schriften zum Atheismusstreit untersucht werden. Darum bleiben auch Fichtes Streitschriften, Appellationen, „Rückerinnerungen" und „Privatschreiben" in dieser Sache unberücksichtigt. Im Vorblick auf die Abstufungen von Moralität und Religion sind vielmehr folgende Fragen zu verfolgen: Löst sich in den moraltheologischen Traktaten nicht wirklich der personale Gott des Theismus ohne jeden Rest in die moralische Weltordnung auf? Bedeuten die immer rücksichtsloser vorgetragenen Konfessionen moralischer Aufklärung nicht doch den Anbruch eines panethischen Atheismus? Am vorsichtigsten drückt sich diese Tendenz in den Erwägungen von Jacob Salat (nachmals 1802 Professor der Moral und Pastoraltheologie am Lyceum in München) aus. Die Untersuchung hat die Frageform der zeitgenössischen Quaestio: „Geht die Moral aus der Religion, oder diese aus jener hervor?". Die Frage ist freilich eher rhetorisch. Der durch Kant gebildete theologische Zeitgeist hat das orthodoxe Fundierungsverhältnis von religiösem Glauben und sittlicher Gesinnung umgekehrt. Er plädiert entschieden für die vollständige Autarkie des sittlichen Prinzips; der Glaube kann und darf nicht mehr zum Grunde des Sittlichen werden. Die Moral hat absolut für sich zu stehen, unabhängig von aller Religion. Umgekehrt geht das nicht, da die moralisch-praktische Vernunft ihrerseits den einzig adäquaten Zugang zum Gebiete der Religion bietet. Was nicht moralisch behandelt werden kann, ist folglich aus der Sphäre der Religion und der Theologie auszuscheiden. Der katholische Priester Salat mutet damit einer thomasisch bestimmten Dogmatik und religiösen Tugendlehre (mit der Triade von Glaube, Hoffnung, Liebe) einiges zu. Seine Moraltheologie durchstreicht mit kritischer Konsequenz die Zuständigkeit der theoretischen Vernunft für den Gottesbezug und für die Gotteserkenntnis des endlich-menschlichen Subjekts. Er entkräftet insbesondere die Beweiskraft der kosmologischen Gottesbeweise - Säulen des thomasisch-katholischen Weltgebäudes bis heute. Und Salat kritisiert eine mystische Gefühlsreligion ebenso, wie er die religiöse Affektenlehre (Gottesfurcht, Dankbarkeit, Hoffnung wider alles Hoffen) depotenziert. „Auch im Gebiete der Religion muß alles moralisch behandelt werden: die Vorstellung des Sittlichen geht vorher, und verleiht erst jener Daseyn und innern Gehalt. Das Gebiet der Religion liegt also selbst im Kreise der Moral" (PhJG V.231). Wenn auch in vorsichtigen Distinktionen, zeichnet sich gleichwohl ein eindeutiger Bescheid ab: Die Sphäre der Religion wird gänzlich in die

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Sphäre der Sittlichkeit und praktischen Vernunft eingeschlossen. Diese Tendenz spitzt sich in der skandalumwitterten Neufassung der Ethikotheologie durch Friedrich Karl Forberg (1770-1848, Konrektor in Saalfeld) zu. Das vollendete Moralgesetz und nichts anderes sei als göttlicher Wille zu glauben. Das führt die Religion nicht nur auf die Moral als ihre Basis zurück, es löst Religiosität restlos in Elemente der Sittlichkeit auf. Jedenfalls erklärt der Anfangs- und Kernsatz der Forbergschen Explikationen unmißverständlich: Religion ist nichts anderes, als ein praktischer Glaube an eine moralische Weltregierung" (PhJG VIII, 21). Die absehbaren Konsequenzen fordern heraus. Sie provozieren jedwede theologia rationalis, sofern diese prinzipiell auf der theoretischen Beweisbarkeit eines Gottes als des (deistisch begreifbaren) übersinnlichen Urwesens beharrt. „Die speculativen Begriffe von Gott, als dem allerrealsten, unendlichen, absolutnothwendigen Wesen, sind der Religion fremd, wenigstens gleichgültig (PhJG VIII,22).175 Und dieser Abweis nimmt religionsgeschichtlich noch an Schärfe zu. Es sei egal, wie das Göttliche theoretisch ausgedacht und vorstellungsmäßig ausgemalt werde, ob polytheistisch oder monotheistisch, antropomorph oder spinozistisch, wenn nur die Bedeutungen von Weltregierung und Moralität miteinander verklammert blieben. Sogar ein (tugendhafter) Atheist könne 175

Verständlicherweise reibt sich denn auch die sofortige Anzeige des Dresdner Oberkonsistoriums nicht nur am Inhalt, wonach die Lehre vom einzigen, wahren (christlichen) Gott auf die Herrschaft des moralisch Guten über das Böse nivelliert werde, sondern auch an dem entschiedenen Ton, mit welchem der Glaube an Gott unverhohlen als überflüssig erklärt wird. (Zu den unterschiedlichen Stellungnahmen von Konsistorien, Ministerien und Regierungen in Kursachsen, Preußen und Hannover vgl. die zusammengestellten Quellen GA 1,5,331-345.) - Natürlich klingen in solcher Freistellung der Tugend vom Gottesglauben Grundsätze an, wie sie sich in einem neuzeitlichen Materialismus finden lassen. So hat La Mettrie entschieden erklärt: Der Glaube oder Unglaube an Gott vermag (staatsbürgerliche) Tugenden weder zu fördern noch zu schmälern; Prinzipien des Irreligiösen schließen ehrbares Verhalten ihrer Verfechter keineswegs aus; Theologischer Fanatismus und religiöser Aberglaube sind gefährlicher als ein aufgeklärter Atheismus; ein Gemeinwesen aus lauter Atheisten wäre glücklicher als alle anderen; Julien Offray de la Mettrie, Philosophie und Politik, hg. von Bernd A. Laska, Nürnberg 1987. - Sicherlich löst ein konsequenter Materialismus die Tugendlehre von der Religion ab, aber er denkt ebenso konsequent gar nicht daran, Religion auf Sittlichkeit zurückzugründen, wie es die Moraltheologie auf Kantischem Boden unternimmt.

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Religion haben, so wie ein Mann ohne Glauben (an einen Gott der Philosophen) rechtschaffen leben könne.176 Zwei Wege verschließen den Zugang zu einem moralischen Weltregenten, der Weg der Erfahrung und der Weg der rückschließenden Vernunft; denn beide Methoden werden mit einer Welt, die im argen liegt, nicht fertig. Und wieder formuliert Forberg eine provokante Frage. Sie zielt auf eine gedankliche Symmetrie von Theo- und Satanodizee: „Würde eine Vertheidigung des Satans wegen Zulassung des Guten wohl weniger gründlich ausfallen, als die Vertheidigungen der Gottheit wegen Zulassung des Bösen bisher ausgefallen sind?" (PhJG VIII,26). Nun gibt es nach Forbergs (unzulässiger) Prämisse ausschließlich drei Quellen der Religion, nämlich Erfahrung, Spekulation und Gewissen. Versagen Erfahrung und reine theoretische Vernunft, dann bleibt allein das Gewissen als Lebens- und Daseinsgrund der Religion übrig. Stellt aber das Gewissen die unmittelbare Instanz der Pflicht und eines Handelns aus gutem Willen dar, dann entspringt aus ihm die Religiosität als Frucht eines moralisch guten Herzens. So spricht sich Religion am Ende als Gebot aus, daran zu glauben, daß dem Laufe der Dinge von Ewigkeit her ein Plan zugrunde liegt, der auf das Gelingen des Guten berechnet ist. Das Gelingen des Guten aber bedeutet die Ankunft des Reiches Gottes, d.h. des Rechts und der Gerechtigkeit auf Erden. Das hält die Religiosität ebenso unbeirrbar für wahr, wie die Irreligiosität hoffnungslos darüber verzweifelt. „Es ist Pflicht zu glauben an eine solche Ordnung der Dinge in der Welt" (PhJG VIII,38). Der aus Noten zu Forberg entstandene Gelegenheitsaufsatz Fichtes „Ueber den Grund unsers Glaubens an eine göttliche Weltregierung" denkt nicht so sehr daran, sich vorsorglich lebensklug von Forbergs Überspitzungen des Religionsbegriffs zu distanzieren. Er konzentriert sich darauf, die moraltheologische Denkart transzendentalphilosophisch 176

Auf einem anderen Blatt, nämlich der ethisch-religiösen Stadienlehre Sören Kierkegaards, steht ein vergleichbares Paradox. Da entscheidet über die Wahrheit ethisch-religiösen Existierens allein die Subjektivität des existierenden „Einzelnen" unmittelbar vor Gott. Der Glaube lebt in unaufhebbarer objektiver Ungewißheit aus der Innerlichkeit, Leidenschaft und Entschiedenheit des existierenden Subjekts. Und das bedeutet etwa für die Wahrheit eines Gebetes: Wer in innerlicher, ethisch-religiöser Entschiedenheit zu Gott betet, der betet in Wahrheit, auch wenn er einen Götzen anruft (vgl. Unwissenschaftliche Nachschrift; 16. Abt., 192).

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zu begründen. So liegt der Eigensinn dieser vorläufigen und umrißhaften Behandlung des großen Themas Religion und Moral allein darin, den Gottesbezug des Menschen als Tatsache des Bewußtseins aus dem Grunde des Selbstbewußtseins aufzuklären; denn Gott besteht nicht an sich und ist nicht an sich zu erkennen. Er kann allein in transzendentaler Reflexion auf seine Beziehung zu uns als sittlichen Vernunftwesen bestimmt werden. Solches Programm kann und will den Toren, der verzweifelt in seinem Herzen spricht: „Es ist kein Gott", nicht des Selbstwiderspruchs überführen. Und es will und kann erst recht nicht Religiosität in die Herzen der Menschen einpflanzen. So wenig, wie eine transzendentale Ästhetik Raum und Zeit erschafft, sondern als reine Formen menschlichen An- und Hinschauens einsichtig macht, erzeugt die transzendentale Religionsansicht Glaubenshaltungen und Glaubensgewißheit. Sie geht aus vom Faktum lebendigen Glaubens, um dieses aus seinen Ursprüngen verstehbar zu machen und den verschütteten religiösen Sinn (wie das innere Wesen des Christentums) wieder ans Licht zu bringen. Freilich ist dafür erst einmal der angemessene Ausgang aufzufinden. Das verlangt eine Umkehr, nämlich die Abkehr von der Sinnenwelt und die Zukehr zum Übersinnlichen im menschlichen Gemüt. Das ist notwendig; denn die traditionellen kosmotheologischen Beweisgänge von sinnlich bezeugten Beschaffenheiten der Welt zu einem göttlichen Weltgrunde sind Holzwege, und zwar sowohl vom Standpunkt des natürlichen wie des transzendental aufgeklärten Bewußtseins her. Ein dogmatischer Naturglaube (in unheiliger Koalition mit einer reinen Naturwissenschaft) nimmt doch die Welt selber für das Absolute. Der Kosmos besteht an sich, fertig und in sich begründet, ein sich selbst organisierendes Ganzes. Und erscheinen nicht im Banne der Naturwissenschaften die deistischen Gottesformeln primum movens, ens necessarium, prima causa als welthafte Urkräfte (Gravitationskraft, elektrische, magnetische Kraft, Molekularkraft) einer sich selbst organisierenden „Materie"? Ebensowenig aber bietet die Sinnenwelt in transzendentaler Reflexion einen eigenständigen Ausgang für einen Gedankenweg zu Gott. Es gibt keine Welt an sich und für sich. Die sinnliche Welt ist unser Bild. Sie erscheint so, wie wir sie zur Erscheinung bringen. Mithin verschließen sich die herkömmlichen metaphysischen Wege von der gegebenen Sinnenwelt zum übersinnlichen Welturheber. Wie aber steht es, wenn das Motiv unseres Gottesglaubens gar nicht im Sinnlichen außer uns, sondern in etwas Übersinnlichem in uns selber liegt und wenn sich der su-

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chende Blick von der gnoseologischen Welterkenntnis ab- und auf eine moralische Weltordnung hinwenden muß? Wo aber finden wir ein allem Zweifel enthobenes Übersinnliches? Der Geist des Positivismus hat doch alles Metaphysische als abstrakte und sinnlose Unterstellung verschrieen. Der schlagende idealistische Beweis, welcher solche Zweifelshaltungen niederschlägt, lautet in moraltheologischer Weltsicht: „Ich selbst und mein nothwendiger Zweck sind das Uebersinnliche. An dieser Freiheit, und dieser Bestimmung derselben kann ich nicht zweifeln, ohne mich selbst aufzugeben" (GuG; G A 1,5,351). Jedermann findet in Betracht rechtlich-sittlicher Handlungen in sich das Gefühl des Gewissens, in welchem sich Freiheit und Selbstverantwortlichkeit bezeugen. Und eine gründliche Sittenlehre rechtfertigt die Annahme der Autonomie und Selbstgesetzgebung als Moralprinzip, das mich aller Antriebe und Zwänge der Sinnlichkeit enthebt. Freiheit (Selbstanfang, Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung) ist, gibt es sie überhaupt, etwas Übersinnliches. Und aus dieser Freiheit und meinem intelligiblen Charakter fließen der Zweck meines Daseins und die Bestimmung des Menschengeschlechts, nämlich mit gutem Willen, aus Pflicht, dem Sittengesetz gemäß wirkkräftig zu handeln. Natürlich bleibt ein dogmatischer Naturglaube, wenn er konsequent ist, auf der Stufe der Sinnenwelt, und das heißt bei einem Determinismus und Fatalismus stehen. Und er kann über das Freiheitsgefühl im Gewissen räsonnieren, um es für eine durchaus erklärliche Evidenztäuschung auszugeben. Indessen, die Überzeugung „Ich bin frei" resultiert nicht aus Klügeleien, sie wurzelt im Willensentschluß, mein ganzes Tun und Leben darauf zu setzen. Und der oberste Grundsatz „Das Jen bin frei' muß all mein Handeln begleiten können" ist so wenig dubios, daß er allein allen Zweifel, auch den theoretischen an der Realität der Außenwelt, auflöst. Wegweisend für den Fortgang der moralischen Überlegungen wird nun eine modalkategoriale Richtigstellung. Sie betrifft das Verhältnis des übersinnlichen Freiheitsprinzips zur Ausführbarkeit des Handlungszwecks unter der Hinsicht von Möglichkeit und Wirklichkeit bzw. von Können und Sollen. Es geht um die Frage, ob und wie das, was ein freier Wille als zu Verwirklichendes vorstellt, auch wirklich werden kann. Sie ruft das von Fichtes Sittenlehre entfaltete Problem der Anwendbarkeit des Prinzips der Autonomie in seiner moraltheologischen Dimension auf den Plan. Auf den ersten Blick scheint es so, als müßte hier logisch von der

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Möglichkeit zur Wirklichkeit übergegangen werden und als müßte moralisch-praktisch erst das Können geprüft werden, ehe der Sollensanspruch ergehen kann; denn der menschliche Wille überhaupt stellt etwas Mögliches als zu Verwirklichendes vor, und seine Absicht kann sich erfüllen oder auch nicht. Das moralische Streben, wie es auch nach Kräften das Gute zu verwirklichen sucht, scheitert nur allzu oft. Zwar begnügt sich der gute Wille nicht mit dem bloßen Wunsch, das Gesollte möge in Erfüllung gehen, oder mit der Hoffnung, es werde schon einmal eintreten, aber es scheint doch das mit allen Kräften Gesollte oft genug das Können des Menschen zu überfordern. Also wären tatsächlich erst die Möglichkeiten und das Können realistisch einzuschätzen, um darauf das Sollen abzustimmen? Herrscht in der moralischen Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit der Satz „Du sollst, denn du kannst"? Die ebenso berühmte wie paradoxe Antwort lautet: „Es heißt nicht: ich soll, denn ich kann, sondern: ich kann, denn ich soll" (GuG; GA 1,5, 352). Danach wird logisch von der Wirklichkeit auf die Möglichkeit gemäß der Regel zurückgegangen: Was wirklich ist, ist auch möglich. Das Gesollte nun ist wirklich und unzweifelhaft gewiß, folglich ist es auch möglich. Das sittlich Abgeforderte übersteigt nicht, es entspricht der Freiheitskraft des Menschen, so daß die Ausführbarkeit des Gesollten im Akt des Sollensanspruches analytisch enthalten ist. Indessen schärft sich diese Modal Verknüpfung moral theologisch zu. Zwar kann das, was ich soll, auch nach Kräften in Angriff genommen werden, aber muß das, was ich kraft meiner moralischen Freiheit vermag, auch Wirklichkeit gewinnen? Offenbar kann die sittliche Tat mißlingen und an Widerständen der Umwelt oder Mißstimmigkeiten der Mitwelt zunichte werden. Das lehrt die Lebenserfahrung. Aber die ergibt sich aus einem Standpunkte, der immer noch die Sinnenwelt für die maßgebliche Wirklichkeit und Realität ausgibt. Die Moraltheologie verlangt eine völlig andere Weise, die Welt anzusehen. Darin nimmt die Sinnenwelt keinen Einfluß auf Möglichkeit und Wirklichkeit der Freiheitsakte, weil Realität und unzweifelhafte Gewißheit zuerst der moralischen Welt und nur derivativ und vermittelt der Sinnenwelt zukommen. Mithin kann der moralischen Welt als Modalgesetz zugedacht werden: Das Wirken freier Wesen erreicht seinen Zweck ohne Wenn und Aber wirklich. Die Gretchenfrage aber bleibt: Wie hält es der Moraltheologe mit Gott? Auf der Ebene der Moraltheologie gefragt: Läßt sich aus den moralischen Zwecken vernünftiger Wesen und deren notwendiger Verwirklichung auf ein oberstes Wesen als Ursache und Garanten dieser Zuordnung schließen,

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oder ist jene moralische Ordnung selber das Göttliche? Und was hieße das? Die Position der Wissenschaftslehre auf dem Stande von 1798 lautet: „Jene lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines ändern Gottes und können keinen ändern fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen Weltordnung herauszugehen, und vermittelst eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen, als die Ursache desselben, anzunehmen" (GuG; GA 1,5,354). Diese Erklärung weist die traditionell gebaute Ethikotheologie ab. Und ihr Abweis betrifft sowohl den Beweisweg als auch das Beweisziel. Der Weg, der einem besonderen göttlichen Urgrund nachgeht, ist mit seinem ersten Schritt schon zu Ende. Nach einem Grunde zu fragen dürfte doch nur da nötig und sinnvoll sein, wo etwas Zufälliges vorliegt, das einen zureichenden Grund braucht, warum es so und nicht anders und warum es überhaupt seiend und nicht vielmehr nichts ist. Die Weltordnung des Reiches der Zwecke aber ist evidentermaßen aller Kontingenz enthoben und damit eines Bestimmungsgrundes außer ihr unbedürftig. Allein in einer Welteinstellung, bei welcher die Gewißheit der moralischen Weltordnung schwankt, stellt sich die Frage nach einer weiteren Festigung. Aber das ergibt keinen zwingenden Schluß, sondern labile Klügelei. Und ein ethikotheologischer Beweis führt auch vom Beweisertrag her in die Irre. Gesetzt, es wäre ein persönlicher, nach Begriffen wirkender, d.h. Willen und Bewußtsein besitzender Gott als moralischer Welturheber erweisbar, dann wäre nicht der Geist Gottes hinzugedacht, sondern nur das Ich verdoppelt. Zum Gedanken von Personalität, Willenhaftigkeit und selbstbewußtem Geist nämlich gehören unabtrennbar die Aufbaumomente Unterschied, Gegensatz und Schranke. In ihnen aber konstituiert sich nicht der göttlich-absolute, sondern allein der endlich-menschliche Geist. An die Verfechter eines persönlichen Gottes als Garanten einer moralisch-übersinnlichen Weltordnung richtet sich daher das Menetekel: „Ihr habt nicht, wie ihr wolltet, Gott gedacht, sondern nur euch selbst im Denken vervielfältigt" (GA 1,5,355).177 Das 177

Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese Wendung eine Schwäche der (christlichen) Religion aufdeckt, welche die Religionskritik Feuerbachs ausschlachten wird. Schon im „Wesen des Christentums" behauptet Feuerbachs Projektionstheorie, daß das religiöse Bewußtsein, indem es menschliche Prädikate verwendet, anstelle Gottes eine Projektion seiner selbst (als „Gattungswesen") vorstellt. Sonach wäre das Subjekt „Gott" nichts als das vergegenständlichte We-

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Göttliche ist nichts als der lebendige ordo ordinans einer moralischen Welt, welcher über die Kräfte unseres sittlichen Willens geht, weil etwas zusammengeordnet wird, auf das es der gute Wille des Einzelnen nicht einmal absehen darf, nämlich sittliche Willensabsicht und reale Willensfolge. Unübersehbar trägt die übersinnliche Weltordnung Züge des Göttlichen. Sie ist unbedingt, ewig, reine Wirklichkeit, an sich lebendes Leben. Sie ist das Alpha und Omega religiösen Glaubens. Bereitet nun solche Negation des Theismus einem ethisch-religiösen Pantheismus den Boden? Läßt sich die Differenz zwischen Forberg und Fichte in ihren moraltheologischen Auffassungen auf die apologetische Unterscheidungsformel bringen, Forbach lehre einen skeptischen Atheismus, Fichte dagegen einen religiösen Pantheismus?178 Sicherlich klingt bei Forberg ein radikaler Skeptizismus an. Auf die Frage ,Jsl ein Gott?" gibt er die verfängliche Antwort: „Es ist und bleibt ungewiß" (PhJG VIII,41). Solch skeptische Haltung verfliegt natürlich da, wo die Realität einer göttlichen Weltregierung ins Spiel kommt. Im Grunde vollendet sich hier auf neuzeitliche Weise die antike Ausgangsstellung der sogenannten „kosmologischen Gottesbeweise". Das Bedenken der griechischen Weltansicht seit Platon richtet sich nämlich gar nicht darauf, die Existenz eines zweifelhaft gewordenen Gottes aus den Beschaffenheiten einer wahren, an sich bestehenden Sinnenwelt zu demonstrieren. Eigentlich dreht es sich um „Kosmosbeweise". Zuerst und zuletzt nämlich geht es darum, dem seit Platon ontologisch abgewerteten Bestand der vergänglichen, bedingten, kontingenten Erdenwelt in der

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sen des Menschen selbst und das Bewußtseinswesen des Menschen nicht nur der Grund, sondern auch der Gegenstand der Religion. Solche Religionskritik hält Fichte darum nicht auf, weil er sie metakritisch teilt. Vgl. Kuno Fischer, Fichtes Leben, Werke und Lehre, Heidelberg 41914, 172-173 u. 511-512. Sicherlich haben sich, wie die „Verantwortungsschriften" zeigen, Fichtes Bedenken gegen Forberg an dessen Skeptizismus entzündet. Aber Fichte hat dagegen die unzweifelhafte Gewißheit des praktischen Glaubens gesetzt, nicht einen religiösen Pantheismus. - Freilich spricht schon Carl Philipp Conz (ehemals Repetent am Tübinger Stift, wo er Hölderlins Liebe zu Hellas maßgebend stärkte) in seinen „Rhapsodien moralischen und religiösen Inhalts", Tübingen 1801 - im Blick auf Fichtes „bekannte Vorstellungsweise vom Gott als moralischer Weltordnung" (130) und in Betracht der weitergehenden Spekulationen (in „Die Bestimmung des Menschen") - von Fichtes „einem verfeinerten Pantheismus ähnelnden Erklärungen über Gott" (133). Im übrigen hat Conz Fichte nobel gegen den Vorwurf des Atheismus verteidigt (134-135).

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Wirklichkeit (und reinen Energeia) des Göttlichen seinsmäßig Halt zu verschaffen. Und vermittelt nicht auf neuzeitlichem Boden die evidente Realität der Freiheit und moralischen Weltordnung (als göttliche Weltregierung) der Sinnenwelt jene objektive Realität, die ihr im Cartesischen Zweifel verlorenzugehen drohte? Freilich redet Fichtes Moraltheologie nicht von einem Gott, der deistische Namen und theistische Charakterzüge trägt. Das trennt sie von Kant, der Gott doch in der erhabenen Gestalt eines Weltenherrschers und eines Gesetzgebers der moralischen Welt sah. Ist damit aber bereits von einem religiösen Pantheismus die Rede? Ein theologisch-philosophischer Standpunkt, der nicht theistisch ist, ist darum noch lange nicht pantheistisch, so wie Fichtes Einlassung, der Begriff Gottes als einer besonderen Substanz sei unmöglich, nicht für einen spinozistischen, unendlichen Substanzozean plädiert. Was für einen Sinn machte es auch, eine Weltauslegung pantheistisch zu nennen, für welche die Natur nichts als die versinnlichte Ansicht unseres eigenen inneren Handelns unter dem Gesetze der menschlich-endlichen Vernunfttätigkeit ist? Eine noch offene Frage aber ist, wie es mit dem systematischen Zusammenhange in diesem Stufenbau von Moralität und Religion steht.

15.2 Zur religiösen Weltansicht im Stufengang der Moralität (Die Anweisung zum seligen Leben, 5. Vorlesung) Es ist unstatthaft, die Stellungnahme Fichtes „Ueber den Grund unseres Glaubens" in ihrem systematischen Gewicht zu überfordern. Eingestandenermaßen ist darin nur ein einziger Grundzug transzendentaler Religionsphilosophie ohne jeden weiteren systematischen Zusammenhang herausgestellt (vgl. an Johann Kaspar Lavater, 7. März 1799; GA 111,4,46). Freilich zeichnet sich dabei schon grundsätzlich die Differenz zwischen moralischem Willen und religiösem Glauben ab. Unaufhebbar nämlich findet Moralität ihre Schranke an der Reichweite unserer sittlichen Selbst- und Weltbestimmung. Sie baut einzig auf den guten Willen, und dessen Wert bemißt sich allein an der Güte seiner Maxime und nicht am Erfolg in der Welt. Sittliche Gesinnung soll nicht klüglich auf die Folgen schielen, und sie kann nicht zuverlässig mit Folgen des guten Willens rechnen. Das unterscheidet Religiosität von Sittlichkeit. Der sittliche Glaube baut fest darauf, daß sich an das moralische Wollen unfehlbar Folgen knüpfen, die in alle Ewigkeit fortwirken. Da solche Ver-

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knüpfung offenkundig nicht vom Menschenwillen abhängt, muß ein göttliches Wesen und infinites Tätigsein angenommen werden: als lebendige Ordnung, in welcher aus jeder pflichtgemäßen Willensbestimmung die Beförderung des Vernunftzwecks im allgemeinen Zusammenhange der Dinge sicher erfolgt. Der aufgeklärte Zweifel, gar das nihilistische Mißtrauen gegenüber solcher Weltordnung gelten daher als Ausdruck des eigentlichen Atheismus. Daß solche Stellungnahme eine schärfere Durchdringung der Religionsfrage bedeutet, läßt sich im Rückblick auf Jenaer Vorlesungsstücke eruieren.179 Hier finden sich Sätze, welche Forbergs Ansatz einer Verwurzelung des Glaubens in der moralischen Überzeugung teilen. „Wer nicht moralisch gesinnt ist, kann gar nicht glauben. Der Glaube führt zur Tugend, ist ein sehr verkehrter Satz, denn jeder Glaube, der nicht aus der moralischen Überzeugung fließet, ist ein Aberglaube" (IGU; 23). „Moralisch handeln ist das einzig wahre Glaubensbekenntnis" (IGU; 22). „Der Unmoralische kann also keinen Glauben haben" (IGU; 24). Das deckt sich mit Fichtes Platner-Kommentar: „Die Tugend reicht auch ohne den Glauben hin" (GA 11,4,295). „Gut handeln ist das einzige wahre GlaubensBekenntniß" (GA 11,4,299). Aber hier sind auch schon eigentümliche Grundlagen für die Aufstellung eines moralischen Gottes gelegt, und zwar in Gegenstellung zu einem Götzen, der als bloße Macht und unberechenbares Schicksal waltet. Der Platner-Kommentar weist eindringlich einen Tragizismus ab, der, von der Ohnmacht menschlicher Gewalt und der Abhängigkeit unserer Existenz niedergedrückt, ein unbegreifliches Schicksal über allem waltet. Und Fichte bekämpft jede Art Götzendienst, die darauf aus ist, diese furchterregende 179

Einblick in Stand und Entwicklung der moraltheologischen Frage bietet eine Kollegnachschrift, die wohl ein Johann Friedrich Penzenkuffer in Jena angefertigt und die dessen Bruder Christian Wilhelm Friedrich überarbeitet in seiner Streitschrift „Etwas von dem Herrn Professor Fichte und für ihn. Herausgegeben von einem Wahrheitsliebenden Schulmeister" unter dem Titel: „Des Herrn Professor Fichte's Ideen über Gott und Unsterblichkeit. Nach einem Kollegienheft herausgegeben" in Bayreuth 1799 publiziert hat. - Ernst Bergmann, J.G. Fichte, Über Gott und Unsterblichkeit. Aus einer Kollegnachschrift von 1795, Berlin 1914 vermutet fälschlicherweise eine Nachschrift der Montags Vorlesungen vom November 1794. - Die Herausgeber der Bayerischen Akademie-Ausgabe erkennen darin stark redigierte Aufzeichnungen der Fichte-Vorlesungen „Über Logik und Metaphysik", soweit sie die Platnerschen §§ 933ff. kommentieren (GA 11,4,6). - M.E. findet sich die Quelle in den durch die GA 11,4,291-303 publizierten Manuskripten.

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Majestät sich geneigt zu machen; denn es gilt, die schrecklichste aller Ideen, nämlich daß alles menschliche Ringen und Arbeiten umsonst sei, weil alles verhängnisvoll von einem unerbittlichen Gebieter abhänge, aufzuheben (GA 11,4,292-294). Es sind in Penzenkuffers Zusammenstellung zwei genuine Ansätze des frühen Fichte, die sich mit dieser Absicht religionsphilosophisch zusammenschließen, nämlich die Lehre vom Willen als der Wurzel des Ich und der Glaube an die fortschreitende Perfektibilität der Menschheit im Fortrücken der Sittlichkeit (vgl. GA 11,4,297). Weil die Realisierung dieses Zweckes nicht in der Macht eines Menschen liegt, der lediglich Gewalt über seinen eigenen Willen hat, ist ein moralischer Gott als Erste Ursache anzunehmen. Dieser ethikotheologische Gedanke bewegt sich durchaus in theistischen Schemata. Der Mensch ergibt sich in den Willen Gottes gemäß der Maxime: „Handle, wie dir geboten ist, und das Übrige überlasse Gott" (IGU; 25). Ein Gott herrscht über die Welt als heiliger und allmächtiger Wille. „Diesem Gott wird nach unseren Denkgesetzen, Substantialität, Willen, und zwar moralischer Wille, zugeschrieben, und da er Beförderer des Vernunftzwecks ist, so ist er der Alleinheilige und der Alleinvermögende (IGU; 24). Zwar lehnt der zugehörige Platner-Kommentar Personifikationen, die von einem persönlichen Gott sprechen, als Überbleibsel des Aberglaubens ab und verwirft die Bestimmung Gottes als Substantialität, Wille und Kraft als falsche Analogie zum Ich und dessen Gesetzen - hier irrt die Penzenkuffersche Redaktion -, aber er postuliert doch einen moralischen Gott als Ursache des Fortgangs der Moralität mit den Attributen der Allheiligkeit und des Allvermögens (GA 11,4,302-303). Solch mißverständlichen Gottesbegriff hat Fichte revidiert, und zwar in jener Systemerweiterung, welche die Synthesis der Geisterwelt und darüber hinaus den Ansatz der Religionsschrift von 1806 in die Grundlegung einer Erscheinungslehre des Absoluten einbegreift. Bekanntlich hat jene Problementfaltung, die zur „Synthesis der Geisterwelt" gelangte, eine neue Grundstellung der Gottesfrage und des religiösen Seins-, Selbst- und Weltverständnisses gefördert. Sie erwächst aus Verlegenheiten der noch nirgends zureichend gelösten Frage, wie ich von den Taten des alter ego weiß und wodurch ich überhaupt die Annahme einer Existenz anderer Vernunftwesen außer mir rechtfertigen kann. Das blieb den Lösungsansätzen in der 2. Vorlesung „Über die Bestimmung der Gelehrten" und in § 3 des Naturrechts von 1796 zum Trotz so lange offen, bis die höchste Synthesis, die der Geisterwelt, erwogen wurde.

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Denn wenn auch die Annahme von der Existenz der Anderen transzendental deduziert worden war, so blieb doch die drückende Frage offen, wie ein Ich von den freien, formal willkürlichen Handlungen Anderer wissen könne, da es doch immer nur von seinen eigenen Handlungen in innerer Selbstanschauung wisse. Im Grunde verlaufen die Anerkennung des Anderen im Rechtsverhältnis und die Einbeziehung aller Anderen durch den sittlichen Imperativ in einem Zirkel. Sie wollen den möglichen und wirklichen Zusammenhang der Individuen erklären, setzen ihn aber schon als bestehend voraus. Somit findet sich der sittliche Mensch auch noch auf dem Standpunkte der Moralität - ohne die religiöse Gewißheit eines tieferen Zusammenhangs der Geisterwelt - isoliert. Dabei bot sich aus der Leibnizschen Tradition eine anscheinend probate Lösung für die Frage an, wie die Freiheitstaten eines Individuum die Vorstellungswelt in allen Anderen wirklich verändern könnte, obgleich die objektive Welt nichts anderes als Vorstellung in den Subjekten ist: die Hypothese der prästabilierten Harmonie.180 Herrscht solche Synthesis einer abgestimmten Zusammenstimmung aller „monadischen" Lebenskurven auf sich vereinzelter Iche, dann erhält das, was einer tut, Bedeutung für alle anderen. Aber die Leibniz-Renaissance war episodisch. Der Versuch, eine Synthesis aller freien Vernunftwesen im Sinne der prästabilierten Harmonie zu denken, erwies sich als brüchig. Fichte hat sie bald wieder verworfen.181 Sind aber nun die freien Iche und ihre 180

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Joachim Widmann, denn wohlverstanden hat er recht". Gedanken zu Fichtes Jenaer Bemerkungen über Leibniz, in: EdT, 456-478 bezieht die im Titel zitierte Rehabilitierung von Leibniz aus dem Jahre 1797 zu recht auf die Systemidee des Ganzen, d.h. auf den Gedanken der prästabilierten Harmonie als notwendige Voraussetzung für die Gemeinschaft zwischen vernünftigen Individuen, und stellt klar, daß diese nach Fichtes Urteil „gute Hypothese" nicht etwa für die absolute Einheit göttlichen Seins, sondern nur als Einheitsprinzip der Erscheinungswelt in Betracht gezogen wird. - Daß Fichte mit seiner Abwandlung des dyadischen Prinzips für ein mathematisches Zeichensystem zur Entfaltung seiner Wissenschaftslehre an Leibniz anknüpft, scheint mir eine ebenso kühne wie verführerische Annahme zu sein. Fichte operiert bereits im Felde der Sittenlehre mit dem Leibnizschen Harmoniegedanken (vgl. SSL; GA 1,5,205-207). Im Brief an Reinhold vom 18.7.1800 bekennt er, diese Hypothese schon im Januar 1799 öffentlich auf dem Katheder revoziert zu haben. Es war zu offensichtlich, daß der Leibnizsche Weg einer Vorsehungs- und Vorbestimmungsordnung für Fichte unbegehbar war; das Ich-Subjekt ist, anders als die Monaden-Substanz, frei, und folgerichtig sind Prädetermination und Freiheit anders zu vereinigen. - Zur Problematik und Reichweite der Fichte-

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Wechselwirkung das einzig Reelle und bleibt diese wahre Realität undurchschaubar, dann verliert eine Wissenschaftslehre von dem, was wahrhaft ist, den Boden unter den Füßen. Wegweisendere Winke bietet „Die Bestimmung des Menschen" von 1800. Dort durchschlägt folgende These den gordischen Knoten von Solipsismus und Fremderfahrung: Eine menschliche Vernunft hat darum Kunde vom Wirken und Wollen einer anderen, weil beide Glieder einer alles verbindenden Vernunftwelt sind; das Eine aber, in dem alle endlichen Willenswesen zusammenhängen, ist der göttlich-ewige, unendliche Wille als das geistige Band, die gemeinschaftliche Quelle, die Urrealität der Geisterwelt. Von hier aus ist es nurmehr ein Schritt zur genuinen religiösen Vernunftansicht. Da der reine Wille des menschlichen Geistes Glied der lebendigen Ordnungskraft der moralischen Welt, d.h. eben des unendlichen göttlichen Willenswesens selber ist, weiß sich das religiöse Bewußtsein faktisch in der Wurzel mit Gott vereinigt. Darin gründet eine eigene, die Ansichten der Moralität übersteigende Weltansicht. Sie läßt sich auf dem Boden der transzendentalen Erscheinungslehre nach dem Gesetz der Fünffachheit ausfächern. Das hat die 5. Vorlesung der Religionslehre von 1806 schematisiert (SW V,461-475). Eine ergänzende Kommentierung kann darin die verbindliche Abstufung von niederer Moralität, höherer Moralität und reiner Religiosität verdeutlichen. Dafür ist eingangs an Einheit und Differenz der zweifachen Spaltung nach dem Reflexionsgesetz zu erinnern. Während die erste Spaltung die objektiv vorfindliche, eine und selbe Welt in ihrem Anblick der Vielheit und unendlichen Gestaltung erklärt, eröffnet die andere Spaltung unsere fünffache Vernunfteinsicht von der Welt. Sonach haben zwar alle menschlich-endlichen Vernunftwesen dieselbe zeitlich-geschichtlich ablaufende, sinnlich-objektiv vorhandene Welt vor sich, aber in vielfach verschiedener Weise, diese Welt anzunehmen und zu verstehen. Die Art, wie wir die Welt auslegen und verändern, differiert durchaus nach dem Maße an Klarheit oder Verworrenheit der inneren Ansicht, nach Tiefe oder Flachheit der Sinngebung wie nach Energie oder Trägheit des Willens, die Welt als Sphäre für die Bestimmung des Menschen zu sehen Annahme einer Prästabilierten Harmonie vgl. Emanuel Hirsch, Fichtes Religionsphilosophie im Rahmen der Gesamtentwicklung Fichtes, Göttingen 1914,6366. - Heinz Heimsoeth, Fichte, München 1923,179-185. „Das Ineinanderschweißen von Kants ,Reich der Sitten' und Leibnizens prästabliierter Harmonie konnte allein nicht dem Anspruch des Problems genügen" (a.a.O.,183).

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bearbeiten. Dabei kommt die Stufe der Religion zu einer Sichthöhe, welche die drei unteren Vernunftansichten an Innerlichkeit, Sinntiefe und Weltgestaltung überragt. Sie liegt nicht nur über einem platten Naturglauben und über dem Legalismus der Rechtsanerkennung, sondern erhebt sich auch über die Regionen der Moralität. Nun scheint es gerade im Horizont einer moral theologischen Weltauffassung dringend geboten, eine dreifache Erörterung durchzuführen, nämlich eine Ortsbestimmung der Vernunftansicht auf der Stufe der niederen Moralität, der höheren Moralität und der reinen Religiosität. Dabei kommt die Diskussion nicht um einen erneuten Rangstreit herum. Zwar scheint im Zeitalter von Aufklärung und Toleranz ein Vergleich nahezuliegen, der die strittigen Weltansichten friedlich nebeneinander gelten läßt. Aber das scheidet aus. Nach dieser Lösung im Streit strittiger Weltanschauungen verdiente der Eudämonismus, der allein am Sinnlichen und der Sinnenwelt hängt, die gleiche Billigung und Schätzung wie ein Idealismus der Freiheit, der das Übersinnliche und die moralische Welt als das Reale behauptet. Und eine Gleichsetzung von Religion und Moralität wäre ebenso zuzulassen wie ein Nebeneinander von Tugend und Frömmigkeit in der Sphäre von Gottesfurcht und Gottesliebe. Aber solches (oft hochmütig-tolerantes) Dulden und einander Seinlassen ist nichts als Konfusion und Energielosigkeit. Die Vernunft selbst will es anders. Jede Vernunftansicht nämlich bildet ihre Fünffachheit aus, und zwar dergestalt, daß die vorherrschende Ansicht die anderen eindeutig subordiniert. Sie läßt die anderen gar nicht neben sich gelten, sondern ordnet sie sich unter. Also bleibt uns die Frage nicht erspart: Wie sieht solche Zu- und Unterordnung auf den Stufen der niederen und höheren Moralität und wie auf der Stufe der Religion aus? Zuerst also ist die Stufe der niederen Moralität aufzusuchen, historisch wie systematisch zu beschreiben und mit einer ihr konformen Ansicht von Religion zu verknüpfen. Historisch deckt sich diese Vernunftansicht mit der Ausarbeitung der Kantischen Sittenlehre einschließlich der Kritik der praktischen Vernunft, ausschließlich der Konsequenzen, welche sich aus der Kritik der Urteilskraft und der Wissenschaftslehre ergeben. Systematisch betrachtet, behält diese Welteinstellung einen eigentümlich negativen Charakter bei. Sie folgt dem kategorischen Imperativ als einem Gebot, das verbietet, das Pflichtwidrige zu tun. Solche Nötigung erstreckt sich weiter als die Verbote des Rechtsstaats. Sie geht aber, insoweit sich dieses Moralgebot auf die Regel „Neminem laede!" reduziert, mit dem Rechtsbewußtsein konform. Darum hebt die niedere

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Moralität die Lebensweise und Weltansicht des „Mannes des Gesetzes" in sich auf, insofern legalistische Rechtlichkeit in eine Gesetzesmoral eingeht, die in Akten des Gehorsams gegenüber Ordnung gebietenden Geboten besteht. Die damit zu verknüpfende Frage lautet: Welche religiöse Weltansicht ordnet sich diesem Vernunftblick der niederen (halb-Kantischen) Moralität zu? Es ist wohl nicht völlig abwegig, dafür Fichtes Frühschrift „Versuch einer Critik aller Offenbarung", 1792 heranzuziehen. Sie war ja in Königsberg kühn und rasch während eines Monats im Geiste Kants entworfen, und sie komplementiert am ehesten systematisch die anfängliche Vernunftansicht der Sittlichkeit. Hier beansprucht die Theologie als Lehre vom Dasein und der Offenbarung Gottes einen moralischen Beweisgrund im Endzweck des Menschen nach den Postulaten des „höchsten Gutes". Danach erwächst aus der höchsten moralischen Forderung, der Zusammenstimmung von sittlicher Vollkommenheit und Glückseligkeit, die „Idee von Gott, als Gesetzgeber durch's Moralgesetz in uns" (CaO § 2; G A 1,1,33). So stellt sich Gott nicht nur als Ideal aller moralischen Vollkommenheit, sondern als oberster Weltregent nach moralischen Gesetzen und als Richter aller vernünftigen Geister dar. Dieser Gott der praktischen Vernunft, der richterliche Garant einer absolut gerechten Proportion von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit, scheint fugenlos zur Weltansicht der niederen Moralität zu passen. Indessen wird solche Verbindung von Moralität und Religion hinfällig, sobald ihre Basis, die Lehre vom höchsten Gut, wegfällt, sofern die Glückseligkeit im Sinne des Eudämonismus etwas ist, das nichtig und leer erscheinen muß, weil es sittlich nicht zählt. Dann sinkt Gott als Garant der Glückseligkeit zum Gott des Naturglaubens und der Abgötterei herab. So erscheint diese Stufe merkwürdig ambivalent. Natürlich erhebt sie sich hoch über alle dogmatischen Naturalismen. Nicht mehr die Sinnenwelt außer uns gilt als zuhöchst gewisse Urrealität, sondern der Freiheitsakt sittlichen Handelns, bezeugt durch die Offenbarung des Sittengesetzes in uns. Das macht die Sinnenwelt bedeutend und reell als Sphäre des freien Handelns der Menschen. Andererseits kann solche Weltsicht der Moralität „niemals als die höchste" (AsL; SW V,467) stehengelassen werden, so fest sie auch Recht und Sittlichkeit stützen mag. Sie birgt einen Mangel, der deutlich im Lichte einer gewachsenen Einsicht in Freiheit und Willen als Dasein Gottes heraustritt. Das Ich nämlich gibt unter dem Zeichen von sittlicher Autonomie und Autarkie sei-

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ne Selbstmächtigkeit nicht auf. Sein Glaube beschließt sich im Vertrauen, sich aus eigener Kraft sittlich machen und die Welt fortschreitend ganz unter die Gesetze seiner Freiheit aus eigener Machtvollkommenheit stellen zu können. Das aber ist eitler Stolz auf eigene sittliche Kraft und Unkenntnis gegenüber dem wahren Leben, das in der Freiheit als dem Bilde Gottes im Menschen ausbricht. „Dieser Glaube an eigenes Vermögen und Kraft, sich sittlich zu machen, ist vielmehr das sichere Zeichen, daß das göttliche Bild noch nicht herausgekommen sei; und das größte Hinderniß dagegen; denn es ist Widersetzlichkeit gegen das wahre Leben. Aller eitler Stolz muß niedergeschlagen, und rein erkannt werden, daß in uns als eigene Kraft gar nichts Gutes ist" (SL; NW III, 45-46).182 Das göttliche Bild tritt deutlich heraus auf der Stufe der „höheren Moralität". Hier redet das Sollen nicht mehr davon, was der Mensch in seiner reinen Selbsttätigkeit sei, sondern davon, was seine höhere Natur, d.h. das Göttliche in ihm, sein solle. „Und so ist denn der allererste Act der höhern Moralität, welche auch unausbleiblich, wenn nur der eigne Wille aufgegeben ist, sich findet, dass der Mensch... durchaus nichts anderes seyn wolle, als dasjenige, was er, und nur Er seyn kann" (AsL, 9. Vorl.; SW V,532). Das bildet einen sehr alten und doch gänzlich neuen, „dem Zeitalter so gut als ganz verborgenen Standpunct" (AsL; SW V,469). Um ihn überhaupt erst wieder ins Offene zu bringen, ist es notwendig, sein Profil genau zu umgrenzen. Das geschieht durch Abgrenzung gegen den Standpunkt der niederen Moralität sowie durch Eingrenzung auf die neue, eigentümliche Seinsansicht. „Das wahrhaft Reale und Selbstständige ist ihr das Heilige, Gute, Schöne" (ebd.). Nach diesen Feststellungen erst können Nähe und Ferne dieser moraltheologischen zu einer rein religiösen Weltsicht ermessen werden. 182

Theologisch weitergedacht, macht der Gedanke, daß das Ich sich absetzt, um das wahre, sich selbst machende Leben in sich aufzunehmen und auf ewig in sich wirken zu lassen, gegen das christlich-lutherische Sündenbewußtsein immun. Schon der Grundsatz „Du kannst, denn du sollst" legt fest, daß kein Mensch notwendig der Sünde verfällt; denn ist auch das Ideal der absoluten Übereinstimmung von empirischem und absolutem Ich unerfüllbar, die bestimmten Forderungen, die es an uns stellt, sind es nicht. Wird damit ethisch die Nicht-Notwendigkeit der Sünde versichert, so hat eine Erhebung zur ethisch-religiösen Stufe gar die Unmöglichkeit fernerer Sünden zur Folge. Ein Wille, der nicht aus dem endlichen Ich, sondern aus der göttlichen Freiheit wiedergeboren wird, trägt in sich die Bürgschaft der Ewigkeit (vgl. Emanuel Hirsch, Fichtes Religionsphilosophie, a.a.O., 111).

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Die Urrealität, die hier zur Sprache kommt, ist höher als die Gesetzesmoral des kategorischen Imperativs, insofern das Sittengesetz bloß negativ ist und gegebene Kräfte der Willkür einschränkend ordnet, die Ideen der höheren Moralität dagegen positiv und schöpferisch die Welt verwandeln. Dagegen fällt der Anspruch des normierenden Sittengesetzes ab. Er kann negativ heißen, da er den Neigungen Abbruch tut, die Kräfte der Willkür einschränkt und auf das Verbot verpflichtet, den Anderen in seiner Würde nicht zu lädieren und ihn nicht ausschließlich als Sache und Mittel zu brauchen und zu vernutzen. Mit diesen Regelungen bewährt sich das Sittengesetz als Ordnungsverbot. Es schafft Frieden in der bestehenden Gesellschaft freier Vernunftwesen. Dagegen stellt das Prinzip der höheren Moralität ein „erschaffendes Gesetz" mit dem Anspruch dar, das Weltalter umzuschaffen, ein neues Bild der Menschheit, eine andere, unerhörte Weltgestalt aufzubringen. Während sich die niedere Moralität ganz auf die Form der Idee, d.h. die unbedingte Gültigkeit und verbindliche Gesetzlichkeit des Allgemeinen als eines solchen stützt, geht das Streben der höheren Moralität auf das Materiale, die Inhalte der „Idee", ,3s strebt an, könnte man sagen, nicht bloß wie jenes (Vf.: das ordnende Gesetz), die Form der Idee, sondern die qualitative und reale Idee selber" (ebd.). Idee oder „Gesicht", ein Leitwort Fichtes vorzüglich zwischen 1804 und 1811, nimmt die Platonische Ausprägung in moral theologischer Aneignung auf. In der Sittenlehre von 1812 gibt es darüber eine Anmerkung. Platon bringt Klarheit über die Abstufungen des Wirklichen und Überwirklichen in die Welt; denn die Ansicht der Ideen als in reinem Wissen erschaute Ur- und Vorbilder der Dinge hat die Unterscheidung zur Welt der Dinge als Abbilder und Abspiegelungen an sich. Platon stiftet die Unterscheidung zweier Weltformen, doch so, daß die genetische Ableitung der Differenz aus unterschiedenen Gesetzen selbstbewußter Vernunft im Dunkel bleibt. „Nicht klar aber ist, ob ihm die Unterscheidung der beiden objektiven Weltformen, der Welt als Freiheitsprodukt, der praktisch zu erschaffenden, und der schlechthin ohne alle Beziehung auf Freiheit gegebenen empirischen, recht klar geworden ist" (SL; NW 111,43). Was das Sein der Idee „an sich" angeht, so mag Platon, der die Idee in ihrer paradigmatischen Wurzel als rein geistiges, in sich lebendes und auf sich selbst begründetes Sein mit der Bestimmung auffaßt, Ur- und Vorbild der Dinge in der Sinnenwelt zu sein, „eine Ahndung derselben zu haben" (AsL; SW V,470). Im Lichte der moralischen Freiheit, des Sollens, der Synthesis der Geisterwelt und der Erscheinung des

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Absoluten im Bilde reinen Wissens aber tritt die Idee Platons deutlich als Gestalt heraus, in der sich das Absolute im Ausdruck des Sollens offenbart. Sie fordert ein Handeln ab, das sich an eine Neuschaffung des Reiches der Freiheit, einer Gemeinde aller vernünftigen Wesen überhaupt, bindet. Damit bleibt die Idee Sorge einer höheren Moralität. Sie drückt ein strenges Sollen aus, solange die meisten im Naturglauben verharren, an der Sinnenwelt hängen und dem Genuß des Naturtriebes folgen. Also verlangt die höhere Moralität, die Welt umzuschaffen, und das heißt zuletzt, sie „zum getroffenen Abbilde, Abdrucke und zur Offenbarung des inneren göttlichen Wesens" zu machen (SW V ,469). Anders gesagt: Sie strebt danach, das wahrhaft Reale zur Geltung zu bringen, nämlich das Gute, Schöne und Heilige. „Gesichte" davon haben die Gelehrten, Dichter und Propheten. Dabei kommt dem Gelehrten oder Weisheitsliebenden die Idee des Guten zu. Den alten Gedanken von den Philosophenkönigen hat Fichte immer wieder in seinen Bestimmungsversuchen des Gelehrten variiert. Gelehrte haben kraft ihrer Gesichte die Aufgabe, das Werden des Menschengeschlechts zum Guten zu leiten. Entsprechend ist dem Dichter als Seher (vates) aufgegeben, die Idee des Schönen zu wahren und die Welt schöpferisch im Bilde des Kunstschönen so zur Sprache zu bringen, wie sie der natürliche Sinn und unsere profane Welterfahrung niemals sieht. Der Dichter wird von weltstiftenden Gesichten ergriffen, mythisch gesprochen: vom göttlichen Strahl getroffen. Solche Bestimmung der Dichter hat Hölderlin gedichtet (Wie wenn am Feiertage; StA 11,119120): Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern, Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen Des Vaters Stral, ihn selbst, mit eigner Hand Zu fassen und dem Volk ins Lied Gehüllt die himmlische Gaabe zu reichen. Bezeichnenderweise erweitert der Standpunkt der höheren Moralität in der Religionsschrift die platonisch-metaphysische Dreiheit des Guten, Wahren und Schönen um die Dimension des Heiligen. Unleugbar gibt es ja Auserwählte, welche Gesichte des Numinosen haben und Religionen begründen. So hat Jesus die christliche Religion gestiftet: ein Gottesbegeisterter, der das neue Gesetz ersehen und eine neue Zeitrechnung eröffnet hat. Aber es ist ebenso bezeichnend, daß selbst auf der

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Stufe der höheren Moralität das religiöse Ingenium im Banne des Sollens und im Horizont der Sittlichkeit einbehalten bleibt. So stuft Fichte Jesus als ein außerordentliches „sittliches Genie" (SL; NW 111,113) ein und faßt die wahrhaft reale Idee des Heiligen als ein Gesolltes auf, das in der Menschheit zur Darstellung kommen soll, wobei das ordnende Gesetz der niederen Moralität zum Mittel dient. Sein Zweck läßt sich kurz so angeben: „Es will die Menschheit in dem von ihm Ergriffenen, und durch ihn in ändern, in der Wirklichkeit zu dem machen, was sie, ihrer Bestimmung nach ist" (AsL; SW V,469), nämlich zum Abbild, zur Erscheinung und Offenbarung des Absoluten. „Die vierte Ansicht der Welt ist die aus dem Standpuncte der Religion; welche... beschrieben werden müsste als die klare Erkenntniss, dass jenes Heilige, Gute und Schöne keineswegs unsere Ausgeburt, oder die Ausgeburt eines an sich nichtigen Geistes, Lichtes, Denkens, - sondern, dass es die Erscheinung des inneren Wesens Gottes, in uns, als dem Lichte, unmittelbar sey" (SW V,470). Diese Beschreibung des religiösen Bewußtseins resultiert aus der Konjunktion mit dem Vernunftblick der höheren Moralität. Nun ist diese Konstellation zwar für das Dasein des gemeinen religiösen Bewußtseins nicht notwendig - um zu einem klaren religiösen Sinn zu kommen, braucht der Mensch nicht alle Stufen der Welteinstellung kontinuierlich zu durchlaufen -, aber die philosophische Nachkonstruktion des Übergangs beider Vernunftansichten kann exakt den Punkt markieren, an welchem die moralischen Prinzipien aufhören und Religiosität beginnt. Das ist der Moment, in welchem der Geist des Selbstbewußtseins seinen Stolz ablegt und sich demütig für an sich nichtig erklärt. Die wahre Religion nimmt Abschied vom Hochmut menschlicher Selbstbestimmung, welche auf die Autonomie eigener Freiheit pocht. In eins wird die Vorgabe Kants, Religion sei nichts anderes als die Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, aufgegeben. Religiosität nährt sich aus dem Gefühl absoluter Gebundenheit und der Einsicht, daß der Mensch ohne die Lebendigkeit Gottes nichts als Staub, der Schatten eines Schattens sei. Das verwandelt die Grundstellung der höheren Moralität. Diese glaubt immer noch, das Heilige und Gute seien Ausgeburten des sittlichen Ingenium und Ausdrücke eines sittlich Gesollten und zu Vollbringenden. Sie stützt sich daher auf eine moraltheologische Fundierung. „Durch höhere Moral allein... ist Religion" (SW V,469). Jetzt aber kehrt sich das Grundverhältnis in der Konstellation von Sittlichkeit und Religiosität um. Das Gute und Numi-

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nose ist nicht Erscheinung des inneren Wesens Gottes durch uns, es ist Erscheinung des absoluten Lichtes und Lebens in uns. Allgemein gesprochen und von solchen Konjunktionen der dritten und vierten Weltansicht abgesehen, baut der religiöse Glaube auf dieser Konfession: Unser Sein ist in Gott; wir selbst sind, sofern wir wahrhaft existieren und unverloren leben, dieses sein unmittelbares Leben selbst. Aus welchen Überzeugungen kommt diese Ansicht der Welt und des Seins? Es sind Einsichten über das absolute Sein und dessen welthafte Erscheinungen, wie sie wissenschaftlich in der transzendentalen Entfaltung von Sein, Dasein und Bild dargelegt werden können. Natürlich braucht der Gläubige solche Einsichten nicht philosophisch zu durchschauen und die Reflexionsgesetze absoluten Wissens zu begreifen. Gleichwohl muß der homo religiosus drei Grundsätze in praktischer Absicht, d.h. im Hinblick auf das, was er lebt und liebt, für wahr halten: daß Gott alles ist, daß Er in der Welt verhüllt bleibt, daß Gott das wahre Leben ist, in dem wir tätig sind, leben und lieben. „Gott allein, ist, und ausser ihm nichts" (SW V,470). Dieser ebenso einfache wie für den Begriff abgründige Satz formuliert die ausschließliche Bedingung religiösen Bewußtseins. Nichts ist außer Gott; alles, was ist, wird von Gott umhalten und lebt aus seinem Leben. Alle Gestalten der Welt sind (nach Gesetzen der Reflexion) verwandeltes göttliches Leben. Auch der Mensch verdankt seine Freiheit und seinen freien Willen nicht sich selbst, sein wahres Sein und Dasein ist Äußerung Gottes; denn außer Gott ist nichts als seine Äußerung. „Mag es doch immer Gott selber seyn, der hinter allen diesen Gestalten lebet; wir sehen nicht ihn, sondern immer nur seine Hülle; wir sehen ihn als Stein, Kraut, Thier, sehen ihn, wenn wir höher uns schwingen, als Naturgesetz, als Sittengesetz, und alles dieses ist doch immer nicht Er" (SW V,471). Das prägt die eigentümlich religiöse Ansicht von der Welt. Gott kann niemals als er selbst in der Welt erkannt werden. Er enthüllt sich nicht in den Gestalten der Natur. Der Stein oder ein Tier als Gott ist Fetischismus (Tierdienst, z.B. Apisdienst; GA 11,4,294), das Kraut und alles organische Leben als Abdruck Gottes ist schlechte Physikotheologie, das Sittengesetz als das Allgöttliche ist verabsolutierter Moralismus. Das Verhülltsein Gottes in der Welt äußert sich in der Klage derer, die Gott suchen. Sie wollen Gott irgendwo in sinnlicher oder übersinnlicher Welt über den Wolken unverhüllt erkennen, und sie stoßen überall nur auf ihre eigenen Vorstellungen. Sie sehnen sich danach, das göttliche Leben in der Welt zu fassen, und ergreifen nur tote Vor-

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handenheit; „denn mit dem ersten Schlage des Bewußtseyns schon verwandelt es sich in eine todte Welt" (ebd.). Aber die Klage verstummt, und die Welt erscheint in neuem Licht, wenn dem Bewußtsein eine dritte Einsicht evident wird. Gott ist nicht in der Welt, sondern einzig in uns selber unmittelbar da. Wir sind DaSein. „Wir selbst sind dieses sein unmittelbares Leben" (ebd.). Es ist der unerschütterliche Glaubenssatz einer Erscheinungslehre auf der Stufe der Religionsgewißheit: Unser Lebensvollzug, d.i. unser absolutes Tätigsein und Wollen und das ewige Licht und Leben Gottes sind in der Wurzel eins. Und daraus entspringt jene Wiedergeburt, in welcher die Welt mit ihrem toten Prinzip vergeht und die Gottheit selbst ins Innerste des Menschen eintritt. Solche Umkehr verfällt freilich nicht dem Heiligkeitsdünkel, als würde das menschliche Bewußtsein die Vorstellungen einer an sich bestehenden, objektiv vorhandenen Welt los und als sollte der von Gott Begeisterte in meditativer Andacht der Welt gänzlich entsagen. Wahre Religion verliert sich nicht in einem mystizistisch-schweigenden Brüten über das wurzelhafte Vereinigtsein mit Gott. Sie bleibt notwendig und unentgehbar im Gebiet moralischen Handelns tätig. Allein dieses Tätigsein wird nun vom Bewußtsein getragen, daß Gott in uns wirklich lebt und tätig ist, und daß er, indem wir sittlich handeln, sein Werk vollbringt. So erst gewinnt die Welt ihren tiefsten Sinn, nämlich diejenige Sphäre zu sein, in welcher das Göttliche, durch das Tun, Leben und Lieben des von Gott Ergriffenen wirklich sichtbar werden soll. „In dem, was der heilige Mensch thut, lebet und liebet, erscheint Gott nicht mehr als ein Schatten, oder bedeckt von einer Hülle, sondern in seinem eigenen, unmittelbaren und kräftigen Leben" (ebd.). Damit erhebt sich Fichtes Stufenlehre über die Stufen der niederen und höheren Moralität zu einem Standpunkt, in welchem die falsche Liebe zur Welt endgültig untergeht und ausschließlich die Liebe Gottes waltet. „Dies E.V. ist die Ansicht der Welt und des Seyns vom Standpuncte der Religion" (SW V.472).

15.3 Liebe und Haß, Hoffnung und Furcht. Aufriß einer Affektenlehre auf der Basis religiöser Menschenliebe Religion bedeutet ein tiefes Verstehen der Welt. Wir sehen die Welt als Offenbarung Gottes, die Geisterwelt als seine Manifestation, die

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Sinnenwelt als Sphäre der Geisterwelt. Alles, was in tote Vorhandenheit verhüllt war, enthüllt sich als lebendiges Erscheinen des Reiches Gottes. Es gibt faktisch keine erhabenere Ansicht der Dinge. Gerade solcher Zusammenhang von Gott, Bewußtsein und Welt aber bringt die Religionsphilosophie vor ihre kritische Grundfrage. Gott oder das absolute Leben soll in die Form der Glaubensgewißheit eintreten; aber die Bewußtseinsform vermag das in sich geschlossene göttliche Sein niemals adäquat in sich aufzunehmen. Öffnet sich mithin ein Abgrund zwischen der heiligen Gottheit und dem weltbezogenen und selbstbefangenen Ich, so daß die Einheit des Ganzen auseinanderfällt? „Wie hängt denn nun das, in die Form schlechthin nicht rein eintretende Seyn dennoch mit der Form zusammen?" (AsL, 10. Vorl.; SW V,539). Die Wissenschaftslehre gibt einen wahrhaft beziehungsvollen Bescheid: „Es giebt schlechthin ein solches Band ... Liebe, und, da es das Band des reinen Seyns ist und der Reflexion, die Liebe Gottes" (AsL; SW V, 540). Solche Rede von einer Liebe des Menschen zu Gott, die in Wahrheit der alles durchströmende Urakt ist, in welchem Gott sich in uns selbst liebt, steht in Gefahr, vorschnell einem Mystizismus zugeschlagen und als religiöse Schwärmerei abgetan zu werden: als seliges Genießen der unbeschreiblichen Vereinigung mit Gott im weltlösenden Ergriffensein von der absoluten Liebe Gottes. Um solch weitabgewandter, mystizistischer Perspektive zu entgehen, braucht man nur die Gottesliebe als Prinzip der Menschenliebe ins Auge zu fassen. (Die Nächstenliebe von der Gottesliebe abzuleiten, liegt ja durchaus in der Tendenz der christlich-augustinischen Tradition.) In Fichtes Erscheinungslehre öffnet sich die Gottesliebe in der Liebe des Menschen zu Menschen. In Tat und „Gesinnung des Religiösen gegen andere" (AsL; SW V,546) bezeugt das Band der Liebe seine einigende Kraft in der Erscheinung. Hier kommen nicht der Eros der Geschlechterliebe, das Pathos der Vaterlandsliebe oder die Pietät der Elternliebe vordringlich in Betracht, sondern die Liebe zum Menschengeschlecht. Dabei werden ethische Philanthropie und Philia von einer religiösen Grundstimmung getragen. Philantropie als Liebe zum Menschen und dem menschlichen Geschlecht hat den Grundzug des Wohlwollens. So bestimmt die Ethik des Aristoteles als jene Gesinnung gegen Andere, die dem Freunde wohl will. heißt der Wille, der für den Befreundeten das Gute will, und zwar allein um dessen Wohlergehens und nicht um des eigenen Vorteils willen. Religiös gestimmt, fühlt sich der Menschenfreund darüber hinaus mit Anderen vereint, die aus der Liebe Gottes handeln,

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und es ist seine Freude, wenn das Menschengeschlecht in der Liebe Gottes lebt. Um die Liebe als Gesinnung religiösen Daseins gegen Andere in ihrer eigentümlichen Befindlichkeit, der Seligkeit, festzustellen, sind vorab im Schema der Fünffachheit die Abstufungen der Liebe zu beschreiben, die sich als Wesensmöglichkeiten der menschlichen Vernunft ergeben, Sein, Leben und Lieben zu verstehen. Gleichsam im Hintergrund dieses Stufenganges zeichnet sich die Einsicht des Augustinus von der Suche nach einer Liebe ab, welche die Unruhe des Herzens stillt. Wie also steht es mit der Liebe und ihrem Glücksgefühl auf der Stufe des Naturglaubens? Dem Wesen der Liebe haftet hier der ontologische Makel an, wandelbar, unstet, täuschend zu sein, und ihrem Glück eignet die Begrenzung, allein in der „wollüstigen" Befriedigung des Genußtriebes zu liegen. So bleibt eine eudämonistische Seligkeit selbst bei intensivster, extensivster und dauerhaftester Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse ein Wahn. Das Suchen nach dem Glück erschöpft sich in der Liebe zum Endlichen und Hinfälligen. Wer nur so zu lieben vermag, ängstet sein Leben hin in Angst vor dem Verlust seiner Glücksgüter, im uneigentlichen Sein zum Tode, in Furcht vor dem Nichts. Darum findet sich die Liebe zu dem, was in und mit der Zeit vergeht, von einer unbestimmten Sehnsucht nach dem Ewigen und Haltgebenden durchstimmt, die nicht weiß, wo sie das wahre Glück suchen soll. Solch transzendierende Tendenz spricht übrigens selbst Schopenhauers Pessimismus der Liebe zu. Was die erotische Geschlechterliebe angeht, so kann sie nur als ein Spiel blinder Triebe oder als Trick der Natur verstanden werden. Zugleich aber erscheint dem tieferen metaphysischen Blick in der naturhaften Liebe der Weltwille, der den Fortbestand der Gattung durch fortgehende Zeugung will und die Liebe des Individuums als ein „Stratagem" der Natur benutzt. Das Ethos des Menschen gebietet, sich vom Blendwerk der geschlechtlichen Liebe zu lösen. Höher gehoben auf die Stufe der Moralität, waltet die Liebe als allumfassende Kreatur- und Menschenliebe, deren Wurzel das Mitleiden ist. Freilich kommen auf der Stufe von Recht, niederer und höherer Moralität unbedingte Menschenliebe und wahre Seligkeit nicht vor. Die Gesinnung des rechtlichen Mannes gegen Andere ist anerkennender Respekt unter der Bedingung der Gegenseitigkeit, und sein Glück besteht in der Sorglosigkeit des Rechtsfriedens, sofern und solange die Furcht vor der Bedrohung durch Andere, zumal im Schrecken der Bürger- und Völkerkriege, endgültig gebannt scheint. Die Gesinnung des pflichtge-

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treuen Mannes wiederum ist der gute Wille, der die Anderen aus Achtung vor dem Sittengesetz achtet, und das Grundgefühl sittlich geglückten Lebens besteht in der Zufriedenheit des Gewissens, d.h. im Bewußtsein inneren Friedens, nichts Böses gewollt zu haben. Dagegen ist die Empfindung des von der Idee (des Guten, Wahren, Schönen) Ergriffenen auf der Stufe der höheren Moralität die Begeisterung des vom „Geist" Erfaßten. Dieser Enthusiasmus von Auserwählten mag das Moment des Entrückt- und Berücktseins enthalten, welches die Platonische Eroslehre der Liebe zum Schönen zuerkennt, aber er deckt sich nicht mit der Menschenliebe und jener Seligkeit, die auf der Stufe der Religion jedermann einnehmen soll und kann. Wie also steht es genau mit dem Glück religiöser Liebe unter dem Titel Seligkeit? Seligkeit erfüllt ein geglücktes Leben „in der ewigen Befriedigung der Liebe" (AsL; SW V,549). Die sinnliche Glückseligkeit bereitet sicherlich einen Vorgeschmack davon, aber doch eben in Verwirrungen des Taumels. Die „erotische" Befriedigung der sinnlichleiblichen Liebe verbreitet den Schein einer Seligkeit, die forttaumelt von Begierde zu Genuß und von Genuß zu Begierde. Die Seligkeit auf der abgeklärten Stufe der Religion währt dagegen ewig. Darum heißen die Toten und Verewigten im Volksmund die Seligen. Was aber die in der ewigen Verbindung des Liebenden mit dem Geliebten empfundene Seligkeit ausmacht, ist schwer zu fassen. Solch absolute Einheit, die unentzweibare, selbst von Zeit und Tod nicht zertrennbare innigste Einheit von Liebendem und Geliebtem, entzieht sich der Reflexion, da diese ja Trennung und Bindung von Unterschiedenem zu ihrem Elemente hat. Darum halten wir die Seligkeit für unbeschreibbar und unfaßlich. Sie läßt sich allein negativ prädizieren. Selig heißt uns, wer aller Schmerzen enthoben, aller Plagen und Mühe des Lebens entledigt ist. Selig ist, wer im Gefühl ewiger Vereinigung mit Gott alle Zweifel und Entzweiungen der Welt hinter sich hat. Eine so geartete Liebe und Seligkeit soll nun der thematischen Vorgabe zufolge zuerst als Gesinnung des ethisch-religiösen Menschen Anderen gegenüber bewährt werden. Das betrifft die Liebe zum Menschengeschlecht, wie sie mit anderen Affekten zusammenhängt: mit der Hoffnung als Hoffen auf den Menschen und die Kraft der humanitas, mit dem Haß als heilige Indignation über den Zustand der geschichtlichen Menschheit und mit der Furcht als Angst vor dem selbstverschuldeten Ende des Menschengeschlechts. Offenbar zeichnet sich damit ein „Vierklang" von Urregungen und Grundbefindlichkeiten ab: Liebe und Haß,

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Furcht und Hoffnung. Es lohnt sich, diesen Hinweisen Fichtes in der Absicht nachzugehen, den Grundriß einer Affektenlehre auf der Basis religiöser Menschenliebe nachzuzeichnen. Dafür bieten der stoische „Tetrachord" und die Vierheit der passiones principales in der Affektenlehre des Thomas von Aquin ebenso eine Vorlage wie deren Ableitung in der Ethik Spinozas. (Die Dreiheit der christlichen Tugenden von Hoffnung, Liebe und Glaube und deren Konfundierung bleiben aus methodischen Gründen beiseite.) Bekanntlich bestätigt Thomas von Aquin (S.th. I-II qu.25 a.4) den aus stoischer Tradition (Cicero, Tusc. Disp. V,6) überlieferten Vierklang in den Hauptregungen der menschlichen Seele: gaudium, tristitia, spes, timor und disponiert das Schema nach den Hinsichten auf Gegenwart und Zukunft bzw. auf Zuträgliches (bonum) und Abträgliches (malum). Die komplizierte Deduktion der Vierheit aus der Seelenlehre Aristotelischer Scholastik braucht in dieser planen Erinnerung nicht verfolgt zu werden. Ebensowenig ist die geometrische Ableitung der vier Grundformen der Leidenschaften als notwendige Folge aus der begehrenden Menschennatur, die sich im Dasein erhalten will, in der Ethik des Spinoza zu verfolgen. Hingewiesen werden aber kann auf die dort herausgestellte Vierheit in den Gegenspannungen von Liebe und Haß, Hoffnung und Furcht. Und es ist lehrreich, die Definition von amor und odium zu wiederholen. Liebe bedeutet auf dem Boden der Spinozistischen Affektentheorie Freude, verbunden mit der Vorstellung einer äußeren Ursache, mit welcher sich der Wille zur Selbsterhaltung zu vereinigen trachtet; Haß dagegen ist Trauer, verbunden mit der Vorstellung einer äußeren Ursache, die der Wille zur Selbsterhaltung fortzuschaffen sucht (Eth. Ill prop. 12,13 schol.). Die je eigentümliche Beschränktheit dieser Formulierungen freilich ist hier nicht zu diskutieren. Es genügt, die Vierfachheit der passiones principales im Gebiet religiöser Menschenliebe wiederzufinden: die Freude im höchsten Grad ihrer beschwingenden Belebung als Seligkeit erfüllter Liebe, das Kontrarium der niederdrückenden Betrübnis als Unseligkeit des Menschenhasses, das freudige Ausgespanntsein der Hoffnung auf ein schwer erreichbares, zukünftiges „Steilgut" (bonum arduum) als Hoffen auf ein gutes Ende der Menschheit und das bange Erwarten des auf uns zukommenden Furchtbaren als Furcht vor einem möglichen apokalyptischen Ende des Menschengeschlechts. So beginnen sich die Stichworte zu klären, die in der 10. Vorlesung der Religionslehre fallen, nämlich Liebe und Haß, Furcht und Hoffnung als Hauptregungen, die den Menschen in seinem Verhalten

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zur Menschheit aus religiöser Gesinnung durchsümmen. Und es ist hinzuzufügen: Alle vier Hauptleidenschaften der Seele kommen als „Grundbefindlichkeiten", nicht als intentionale Gefühlsäußerungen zum Austrag. Liebe macht nämlich nach Fichte die Wurzel der Existenz aus und durchstimmt somit unsere Seele ganz. Liebe als Grundbefindlichkeit ist etwas anderes als die intentionale Gerichtetheit und Erfüllung der Liebe zu bestimmten Menschen, einer Frau, einem Kind, einem Freund. Menschenliebe als passio principalis im Sinne der Grundbefmdlichkeit bedeutet, in der Liebe zu sein, ganz erfüllt von ihr zu existieren, aus ihr zu leben und zu handeln und durch ihre erschließende Kraft den Menschen überhaupt als ein Liebenswertes zu verstehen. Dementsprechend kommen Haß, Hoffnung und Furcht als Grundbefindlichkeiten religiöser Existenz zum Austrag. Radikal, eingewurzelt in das Dasein, nimmt der Haß den Menschen ganz und gar ein, so daß er an nichts anderes mehr denkt, als alles Hassenswerte zu vernichten. Religiöse Menschenliebe tilgt solchen Haß, aber so, daß sie eine heilige Indignation rege hält. Und schließlich kommt die Hoffnung nicht im Spielraum bestimmter Hoffnungen auf zweifelhafte Güter im Schweben zwischen froher Erwartung und banger Furcht zum Zuge, sondern in der Grenzbefindlichkeit unenttäuschbaren In-der-Hoffnung-Seins. Im Lichte dieser Vorklärungen läßt sich nun der erste Problemkomplex der religiösen Menschenliebe eingehender erörtern. Dabei geht es um das Verhältnis von Liebe, Haß und „heiliger Indignation". Hier lehrt das Affektenschema des Vierklangs: Liebe und Haß sind als einander ausschließende Gegensätze zusammengespannt. Darum entsteht äußerster Haß aus seinem äußersten Gegenteil, dann nämlich, wenn enttäuschte Liebe umschlägt. Und für die Entscheidung zwischen Grundmöglichkeiten unserer zwischenmenschlichen Existenz spricht immer noch das Sophokleische Urwort der Humanität (Antig. 523): „ , ". Woran aber zeigt sich die Kontrarietät von Liebe und Haß? Haß bedeutet weit mehr als bloße Antipathie. Das zeigt sich im Verhalten. Von Menschen, die mir aus unerklärlichen Gründen unsympathisch sind, halte ich mich fern. Menschen, die gegeneinander Abneigungen hegen, vermeiden es, etwas miteinander zu tun zu haben. Und odium qua passio principalis ist auch etwas anderes als „Anthrophobie" im Kantischen Sinne, in welcher Menschen einander scheuen und meiden, weil sie glauben, das Naturell der Menschheit zu kennen: krummes Holz, aus dem nie etwas Gerades zu zimmern ist. Haß bringt den Anderen als Hassenswertes und „Häßliches" vor Augen.

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Er heftet sich an jemanden, der mich durch eine häßliche Tat irreparabel gekränkt und geschädigt hat. Der Haß sagt Nein. Er will vernichten um jeden Preis. Dem steht die Liebe entgegen. Sie will den Anderen sein lassen und findet darin ihre Freude, daß der Andere gedeiht. Die Liebe sagt Ja. Sie will erhalten und mit dem Anderen zusammen sein über den Tod hinaus. Die religiöse Menschenliebe gar ist himmelweit entfernt von menschenvernichtendem Haß. Fichte erklärt in Anspielung auf das Johannes-Evangelium: Wer vorgibt, Gott und seinen Nächsten zu lieben, und haßt seinen Bruder, belügt sich selbst und die Welt (AsL; SW V,544). Absoluter Haß will die Menschheit vernichten, vorbehaltlose Liebe sorgt sich um deren Heil. Der maßlose, menschenfeindliche Haß und die bedingungslose, religiöse Menschenliebe schließen einander aus. Die Spannung zwischen Liebe und Haß erweist sich indessen dann als komplexer, wenn Liebe und heilige Indignation zusammengesehen werden. Diese Synopse erhellt in den Augen Fichtes geradezu die Gesinnung gegenüber Anderen. „Wiederfindend ihr Seyn in Gott, wird er ihr Seyn lieben; ihr Seyn ausser Gott hasset er innig, und dies ist eben seine Liebe zu ihrem eigentlichen Seyn, dass er ihr beschränkendes Seyn hasset" (AsL; SW V,546). Menschenliebe darf um Gottes willen nicht mit jenem „gepriesenen gut seyn und immer gut seyn und immer wieder gut seyn und alles gut seyn lassen" (ebd.) verwechselt werden. So findet sich ein Lobpreis der allduldsamen Liebe ( ) im 1. Korintherbrief (13,5-7): „Die Liebe sucht nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie duldet alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie erträgt alles". Aber Menschen zu lieben bedeutet keineswegs, all das unbesehen gutzuheißen, was sie tun und wie sie existieren. Liebe ist nicht alles hinnehmende Gutherzigkeit. Und schon gar nicht redet der Liebende dem Geliebten schmeichelnd nach dem Munde. Aber verträgt sich Liebe mit Haß und Indignation? Fordert religiöse Liebe (caritas) nicht gerade, den Anderen mit allen Fehlern und Schwächen anzunehmen und ihn in seinen Unzulänglichkeiten zu stützen und zu tragen? Verlangt eine religiöse Gesinnung gegen Andere nicht die Vergebung von Schuld, die Menschen vor Gott entstellt und häßlich macht? Gleichwohl, Liebe verträgt sich nicht mit Herzensträgheit und einer flachen, indifferenten Toleranz, die weder liebt noch haßt. Die begehrende Liebe will des Geliebten Heil; sie bejaht dessen Wesen, indem sie sein Unwesen verneint. Vergeben tut sie solches, was sie niemals gutheißen kann. Mithin denkt die annehmende und vergebende Menschenliebe

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nicht daran, sich mit einem schlimmen, gottverlassenen Zustand der Menschheit abzufinden. Das hat eine geschichtsphilosophische Komponente. Liebe zur Menschheit braucht den Haß gegen die Prinzipien der herrschenden Denkart im Zeitalter der Irreligiosität. Über das Zeitalter des vollendeten Eigennutzes macht sich die religiöse Menschenliebe nichts vor; denn wahre Liebe macht nicht blind, sondern sehend. „Auch ist der religiöse Mensch weit entfernt von dem gleichfalls bekannten und oft empfohlenen Bestreben derselben erwähnten Flachheit, sich über die Zeitumgebungen etwas aufzubinden, damit man eben in ihrer behaglichen Stimmung bleiben könne; sie umzudeuten ins Gute, ins Schöne hierüber zu erklären. Er will sie sehen, wie sie sind in der Wahrheit, und er sieht sie so, denn die Liebe schärft auch das Auge" (AsL; SW V,546-547). In den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" hat Fichte die herrschende Denkart im Zeitalter der Aufklärung als entfesselte Freiheit, die nichts Bleibendes anerkennt und sich gegen alle Gattungszwecke auflehnt, charakterisiert und heilsgeschichtlich als Stand der vollendeten Sündhaftigkeit eingeordnet. Der berechtigte Kampf der Aufklärung gegen allen Aberglauben zerstört den religiösen Sinn, wenn er auf flachste Weise Religion mit Superstition gleichsetzt, indem der Geist des aufgeklärten Positivismus, sich klammernd an den Maßstab sinnlicher Erfahrungsdaten, jegliche Rede vom übersinnlichen Sein und Dasein für sinnlos erklärt. Diese Gesinnung wurzelt in der Liebe zur Sinnenwelt und dem Streben nach Wohlergehen in der Welt unter der Maxime ganz persönlichen Wohlseins; denn das Zeitalter des vollendeten Eigennutzes wendet das wachsende Widerstreben gegen Vernunftautoritäten im Zweiten Zeitalter blinder Vernunftherrschaft zum Widerwillen gegen alles um, das der Willkür und Selbständigkeit des Einzelnen Abbruch tut und Eingliederung in eine sittlich-religiöse Einheit verlangt. In dieser Lage wird religiöses Dasein zutiefst von einer Gemütsregung der tristitia durchherrscht, dem Haß im Modus heiliger Indignation. „Sehend auf das, was die Menschen seyn könnten, ist sein herrschender Affect eine heilige Indignation" (AsL; SW V,547). Es gibt andere, mildere Stimmungen, welche den Menschenfreund überkommen, wenn er sich die absurde Lage der Menschheit, d.h. das himmelschreiende Mißverhältnis zwischen dem, was Menschen hätten sein können und was sie geworden sind, ohne Beschönigung klar macht: „die innigste Wehmuth und der tiefste Jammer" (ebd.). Wehmut ist Trauer über ein glückbereitendes Gut, das unwiederbringlich verloren ist, z.B. die

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unschuldig-glückliche Kindheit. Innigste Wehmut als Ausdruck religiöser Liebe trauert über die Verlorenheit der Menschheit, die ihr Seligseinkönnen dem Prinzip des Eigennutzes überantwortet hat. Herzergreifender Jammer überfällt uns, wenn geliebte Menschen ins Elend geraten. Jammer als Ausdruck religiöser Menschenliebe tritt ein, wenn die Menschheit ins Elend, den Stand selbstverschuldeter Entfremdung, kommt. Wehmut und Jammer aber schärfen sich in der entrüsteten Empörung und Indignation des homo religiosus über die Kräfte der Verkehrung zu einem heiligen Haß. „Seinen eigentlichen Hass erregt lediglich der Fanatismus der Verkehrtheit, welcher sich nicht damit begnügt, selbst in seiner eignen Person nichtswürdig zu seyn, sondern, soweit er zu reichen vermag, alles ebenso nichtswürdig zu machen strebt, als er selbst ist, und den jeder Anblick eines Bessern ausser ihm innig empört und zum Hasse aufreizt" (SW V,547). Heilige Indignation wächst sich zur Feindschaft wider den satanischen, aus dem Neid geborenen Haß gegen das Gute aus, einen Haß, der mit der Kraft wertloser Begeisterung alles ins Unwesen verkehrt. (Geschichtlich taucht wohl das Bild Napoleons als ein von seiner Sendung begeisterter, unsittlicher Agent der Weltgeschichte auf, der alles und alle zum Diener seines Eigenwillens macht.) Jedenfalls bewährt sich darin die religiöse Gesinnung, daß ihre Menschenliebe den Gegenhaß erzeugt, welcher die Menschheit aus den Fesseln der Nichtswürdigkeit zu lösen sucht. Es bleibt übrig, den anderen Problemkomplex innerhalb einer Affektenlehre religiöser Welterschließung durchzumustern. Dabei dreht es sich, das Schema der vier passiones principales religionsphänomenologisch ausweitend, um die nie ermüdende, in Jahrtausende ausgreifende Hoffnung für das Menschengeschlecht. Und das impliziert das Kontrarium, die Furcht vor der Zukunft der Menschheit. Unenttäuschbare Hoffnung gehört unabtrennbar zur Erscheinung religiöser, durch nichts ins Wanken zu bringenden Menschenliebe. „Endlich, ganz entschieden, unveränderlich und ewig sich gleich bleibend, offenbaret im Religiösen die Liebe zu seinem Geschlechte sich dadurch, dass er schlechhin nie und unter keiner Bedingung es aufgiebt, an ihrer Veredlung zu arbeiten, und, was daraus folgt, schlechthin nie und unter keiner Bedingung die Hoffnung von ihnen aufgiebt" (AsL; SW V,548). Hoffnung (spes) nennt die Schulüberlieferung das freudige Aussein auf ein bonum futurum arduum, d.h. auf ein noch in der Zukunft verborgen liegendes, sich uns näherndes Gut, das nicht alltäglich und leicht zu erwerben ist, so als brauchte man nur die Hand danach auszustrecken. Worauf der Religiöse

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sein Hoffen setzt, ist, daß die fortschreitende Veredelung des Menschengeschlechts glückt. Nach Kant eröffnen sich in dieser Menschheitsfrage drei Möglichkeiten, die unsere Furcht und Hoffnung erregen. Entweder es gibt einen beständigen Aufstieg des menschlichen Geschlechts oder einen kontinuierlichen Niedergang oder ein Verharren auf stets derselben Stufe. Die Furcht, die das Atomzeitalter in Atem hält, die Menschheit verfalle ins Arge, schließt Kant aus: So würde das menschliche Geschlecht sich selbst aufreiben. Die Hoffnung, das menschliche Geschlecht schreite beständig zum Besseren fort, nährt Kant aus der erregendsten Erfahrung des Zeitalters, der allgemeinen Teilnehmung an den Ideen der Französischen Revolution. Fichte dagegen glaubt an die in den Niedergang geführte Selbstsucht und die Dialektik der vernichtenden Niederlage (kriegsgeschichtlich: die Schlacht bei Jena und Auerstädt), welche zur Selbstbesinnung treiben. Jedenfalls zeigt der Geschichtsgang eine vielfache Überwindung des Geistes der Eigennützigkeit und den Aufstieg zur moralisch-politischen Gesinnung der Uneigennützigkeit an. Aber haben sich solche Hoffnungen auch nur annäherungsweise erfüllt? Werden - wie Kant erhoffte - Gewalttätigkeiten der Mächtigen weniger? Wächst wirklich die Folgsamkeit gegenüber den Gesetzen? Werden Kriege menschlicher, seltener, gar unmöglich? Oder bestätigt sich immer wieder die frühgriechische Welterfahrung, Elpis, d.i. trügerische Hoffnung, sei eine schwankende Daseinsmacht voller Täuschungen? Wider solchen Skeptizismus gegenüber menschlichem Hoffen vertraut der moralisch-religiöse Sinn auf einen eschatologischen Glauben, daß nach Jahrtausenden über Jahrtausenden endlich doch das göttliche Reich heraustreten muß.183 Er bindet sich an die Konstruktion der moralischen Ordnung einer Synthesis der Geisterwelt, in welcher kein Handeln aus gutem Willen verlorengeht, sondern sich in einem kommenden Reich der Freiheit auswirkt. Er findet Sicherheit in der religiösen Gewißheit, daß der Wille, die innerste Wurzel unseres Lebens, ewig fort aus der 183

Im Ausgange von Kants Erörterung „Ob das menschliche Geschlecht in beständigem Fortschreiten zum Besseren sei" weist Josef Pieper, Hoffnung und Geschichte. München 1967 darauf hin, daß in den Konzeptionen geschichtlichen Fortschreitens zu Moralität und Religiosität der Menschheit nahezu alle Elemente der großen überlieferten Eschatologie im Hintergrund stehen: Zeit und Ewigkeit, Reich Gottes und Vorsehung, die selbst verursachte Last der menschlichen Existenz, die Herrschaft des Antichrist, der Neue Himmel und die Neue Erde.

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Gottheit strömt. Und er festigt sich endlich in einem unenttäuschbaren Hoffen, da beides, das ewige Sein und das welterschaffende Dasein, im Bande der Gottesliebe verbunden sind. Das ermöglicht eine existenzialontologische Schlußbetrachtung. Sie zielt auf den Stand endlich-menschlichen Daseins im Schweben zwischen Furcht und Hoffen, im Einströmen der absoluten Liebe und in der religiösen Grundbefindlichkeit unbeschreiblicher Seligkeit. Hoffnung wie Furcht scheinen unaufhebbar vom Zweifel geplagt und von Ungewißheit durchdrungen. So hat Spinozas Ethik die Hoffnung als unbeständige Freude definiert, die aus der Vorstellung eines auf uns Zukommenden entsteht, an dessen Ankunft wir zweifeln. Und Furcht heißt entsprechend eine unbeständige Trauer angesichts eines Übels, von dem zweifelhaft ist, ob es eintritt oder nicht (vgl. Eth. Ill prop.18 schol.2). Solcher Zweifel, der den Regungen von Furcht und Hoffnung ihre zitternde Angespanntheit eingibt, läßt das ganze Dasein hin und her schwanken, verschleiert ihm Wege des Fortschrei tens und verbreitet Furcht vor der Zukunft und dem Scheitern menschlicher Entwürfe. Das macht unselig. „Unselig macht der Zweifel, der uns hierhin reisset und dorthin, die Ungewissheit, welche eine undurchdringliche Nacht, in der unser FUSS keinen sichern Pfad findet, vor uns her verbreitet" (AsL; SW V,549). Wo der Zweifel, die Grundstimmung der neuzeitlichen Weltauslegung, herrscht, da sind Verzweiflung und unselige Angst. Wo die Seligkeit, die Grenzbefindlichkeit der Liebe, zum Vorschein kommt und ins Dasein tritt, da hören Zweifel, Ungewisses Hoffen, zitternde Furcht und Angst vor der Ungewissen Gewißheit des sich nähernden Todes auf. „Der Religiöse ist der Möglichkeit des Zweifels und der Ungewissheit auf ewig entnommen" (ebd.). „In ihm ist keine Furcht über die Zukunft" (AsL; SW V,550). In ihm waltet das unenttäuschbare Hoffen, das, immer wieder zurückgeworfen, immer wieder neu aus der „Wurzel seiner Existenz" (AsL; SW V,549) geschöpft wird. Das ist die absolute Liebe, welche die Menschheit im Aufscheinen religiöser Menschenliebe am Ende das sein läßt, was sie in Wahrheit ist, nämlich Bild des Absoluten.

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15.4 „Die Liebe ist höher denn alle Vernunft". Ermittlung der absoluten Liebe als Quelle aller Gewißheit und Realität in der Religionslehre Eine gründliche Lebens- und Liebeslehre muß vom Prinzipiat zum Prinzip zurückgehen, um von der Erscheinungsform zur ewigen Wahrheit, die in der verendlichenden Form erscheint, vorzudringen. Prinzipiat der wahren, ewigen Liebe ist die Menschenliebe aus religiöser Gesinnung. Ohne der Liebe Tun im zwischenmenschlichen Handeln als Ausprägung umfassender Humanität wäre die Gottesliebe nichts als ein von außen herangetragenes Bild ohne Lebenswirklichkeit. Aber gerade deren Realität verweist auf ihre Quelle, die absolute Liebe. Seit der Preisrede des Agathon und deren dialektischer Widerlegung durch Sokrates-Diotima im „Symposion" folgt die Darlegung des alles verbindenden, dämonisch-göttlichen Eros den zwei Fragen, was er ist und was er vermag. Beide schließen sich in Fichtes Frage nach der „Bestimmung" (definitio, destinatio) der absoluten Liebe zusammen (AsL, 10. Vorl,; SW V.539-544). Was also ist die Liebe im Gesichtskreis der transzendentalen Seinsund Erscheinungslehre? Diese Frage führt auf den obersten ontologischen Grundsatz zurück: „Das Seyn - ist da" (AsL; SW V,539). Sein im Sinne des aus sich selbst lebenden Lebens ist da, es erscheint unmittelbar außer sich als Willens- und Wissensleben menschlichen Bewußtseins. Dieses Dasein würde todverfallen ins Nichts versinken, wäre es nicht Offenbarung des ewig bleibenden aktuosen Seins. Soll aber dieser ontologische Satz nicht zu dogmatischen Spekulationen verleiten, muß er mit dem obersten transzendentalen Grundsatz verknüpft werden: Das Sein ist da in den Wissensformen und unter den Wissensgesetzen menschlich-endlicher Reflexion. Daraus folgt triplizitär ein dritter Satz, nämlich das Axiom transzendentaler Ontologie: Das rein unbestimmbare Sein erscheint unter den Formen und Gesetzen reinen Wissens immer nur als stehende Bestimmtheit im Modus der Vorhandenheit. Daraus erwächst eine Aporie. Das Wissen lebt als „Seyn des Seyns", als lauterer Willensakt - und es stößt das Sein, aus dem es lebt, von sich ab. Es stellt das Sein im Sinne objektiver Realität und gegenständlicher Vorhandenheit gleichsam vor sich hin. Andererseits tritt das Sein doch innerlich rein und absolut in das Wissen ein. Absolutes Sein und vergegenständlichtes Sein im Wissen scheinen einander abzustoßen und durch einen Abgrund voneinander getrennt zu sein. Dann aber wäre die

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reine Wissensform seinslos und das Absolute weltlos. Folglich muß die Aporie aufgelöst werden können. „Wie hängt denn nun das, in die Form schlechthin nicht eintretende Seyn dennoch mit der Form zusammen?" (ebd.) Der Bescheid wird mit einer Aufforderung zu kritischer Bescheidenheit eingeleitet: „Setze nur statt alles Wie ein blosses Dass" (AsL; SW V,540). Dieses Gebot warnt vor aller emanatistisch-ontologischen Überschwenglichkeit, die sich zum Standpunkt des Absoluten aufschwingt und sub specie aeterni erfassen will, wie und nach welchem Gesetz sich das Absolute selber öffnet und in die Zweiheit von Nous und Noumenon, von Subjektivität und Objektivität, von Idee und Natur zerteilt. Das absolute Sein liegt aller Reflexion als deren Quelle und Ursprung voraus; es kann daher in den Wissensformen kein Gesetz geben, welches lehrt, wodurch und weswegen das Absolute mit seinem Dasein zusammenhängt. Zur Evidenz zu bringen ist allein die faktische Vereinigung von Sein und Dasein in ihrem Lebensbestand ohne spekulatives Wie und theosophisch.es Warum. Es gibt ein Band zwischen dem lebenverbürgenden Sein und der welterschaffenden Wissensform; denn eins ohne das andere wäre nicht das, was es ist, nämlich offenbares Sein bzw. offenbares Sein. Welche Bestimmungen aber kommen diesem faktisch evidenten Band als Verbindung von Sein und Wissen zu? Die Religionslehre macht eine dreifache Charakterisierung von Seiten der Reflexion deutlich. Das anzusetzende Band ist höher als alle Reflexion; es quillt aus keiner Reflexion; es erkennt den Richterstuhl der Reflexion nicht an. Zuerst: Es ist dem Seinsrange nach - an „Alter und Würde" - früher als die Reflexion; denn diese schuldet ja ihr Licht und Leben der Verbindung mit dem Sein. Sodann: Das notwendig anzunehmende Band entspringt nicht aus der ursprünglichen Einigungskraft selbstbewußter Reflexion; es ist ja selber die Lebensquelle, aus der sich der dihairetischsynthetische Lebensakt der Reflexion nährt. Und schließlich: Dieses Band hat sich nicht vor dem Gerichtshof der Vernunft dafür zu verantworten, mit welcher Befugnis das von ihm Verbundene Anspruch auf Realität erhebt. Da es alle Realität ermöglicht, fällt es nicht unter die Kompetenz eines Richters mit dem Gesetzbuch der Ich-Formen. Der befindet allein über die Berechtigung von Ansprüchen apriorischer Denkformen auf objektive Realität und gegenständliches Sein. Gleichwohl bleibt die Frage zu beantworten, in welcher Gestalt sich das schlechthin absolute, die Verbindung von Dasein und Sein, von

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Gott und Mensch stiftende Band bezeugt; denn der fragliche Zusammenhang steht zwar über der Reflexionsform, aber nicht außerhalb des Bewußtseins. Das Bewußtsein des Bandes geht vielmehr, gleichsam als ständiger Begleiter, mit dem reflexiven Selbst- und Weltbegreifen mit. Die Religionslehre gibt hierfür eine aufs äußerste zusammengedrängte Antwort: „In dieser Begleitung der Reflexion ist dieses Band - Empfindung; und, da es ein Band ist, Liebe, und, da es das Band des reinen Seyns ist und der Reflexion, die Liebe Gottes" (ebd.). Das Bewußtsein dieses Bandes besitzt offenbar eine Evidenz, die weiter reicht als alle Reflexionen der Verstandeserkenntnis. Ihr kommt eine tiefe Erschließungskraft zu, zwar nicht im Respekt auf die Erkenntnis bestimmter „Wesenheiten", wohl aber in Respekt auf die innigste Wurzel menschlichen Daseins. Sie ist von der Art einer tiefen Empfindung. Empfindung meint in diesem Kontext nicht etwa das Gefühl empfundener Sinnesdaten, wie z.B. die Rotempfindung des Augensinnes, sondern ein unmittelbares Sichbefinden in der Grundbefindlichkeit der Liebe. Das ursprünglich-stimmungshaft Empfundene ist nichts anderes als das allverbindende Band. Das, was Getrenntes zutiefst verbindet, heißt seit alters Liebe. Aber die seit den Alten verbreitete Rede von der Liebe als kosmischem Prinzip, welches das All durchwaltet, muß transzendental präzisiert werden. Sie redet vom ersten Prinzip, welches reines Sein und Reflexion zusammenbindet und dessen Prinzipiat die Menschenliebe in der geschichtlichen Wirklichkeit der Welt ist.184 Und da in dieser anfänglich Sein und Dasein, Gott und Mensch völlig verschmelzen und verfließen, trägt dieses Lebensprinzip den problembeladenen Namen der Gottesliebe. Unleugbar ist diese Annahme der Gottesliebe durch Vorbehalte belastet, die aus der Kritik des Theismus im moraltheologischen Ansatz stammen. Gott ist kein personales Wesen. Ihm kommt kein verendlichendes Selbstverhältnis zu. Von ihm kann der Gott liebende Mensch keine personale Zuwendung und Gegenliebe erwarten. Und letztlich 184

Bekanntlich bedeutet die Liebe seit Empedokles die kosmische Macht der Vereinigung aller getrennten Elemente und Gestalten gegenüber dem alles auflösenden Streit. Noch bei Giordano Bruno bildet sie die das Universum allgegenwärtig durchdringende Kraft. Wie sich dieser Ansatz zum Motiv der Selbstüberschreitung des Menschen verinnerlicht und wie die Liebe zum geistig-sinnlichen Totalakt einer Du- und Seinserfahrung (z.B. in der Darlegung der „oblativen Liebe" bei Gabriel Marcel) wird, hat Georg Scherer problemgeschichtlich und systematisch verfolgt; vgl. Liebe: TRE XXI,188-191).

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dürfte eigentlich auch nicht von einer Selbstliebe gesprochen werden, in der Gott sich selbst liebt. Mithin hat diese absolute Liebe einen Stand weder im Menschen, der auf Gottes Liebe hofft, noch in Gott, der sich selbst liebt. Folgerichtig läßt sich die absolute Liebe nur als Wechselliebe zwischen Gott und Mensch angeben. Sie ist „nicht die seinige, noch die unsrige, sondern diese erst uns beide zu zweien scheidende, so wie zu Einem bindende Wechselliebe" (ebd.). Das stellt klar: Gottesliebe heißt nicht Liebe des Menschen zu Gott; denn mag Menschenliebe auch unbedingt sein, sie ist nicht das Unbedingte. Aber Gottesliebe meint auch nicht die Liebe Gottes zu sich selbst; auch das würde ein Absolutes verendlichen und in die Schranken eines Selbstverhältnisses weisen. Das Sein und Dasein ursprünglich einigende Band heißt Wechselliebe. Natürlich muß von dieser Angabe wiederum die Kategorie der Wechselbestimmung ferngehalten werden; diese ist ja eine Denkform unseres Wissens. Die vermeinte Wechselliebe, in welcher Gott sich liebt in uns, erschließt sich allein in jener Urempfmdung der Freude, welche das wurzelhafte Einigsein von Sein und Dasein, von Gott und Mensch als geheimnisvolles Band erschließt. Empfunden wird das Geheimnis der Liebe, deren Prozeß zwei Glieder zu Liebenden und Geliebten scheidet, dergestalt, daß der Eine nur im Sein beim Anderen sein offenbares DaSein findet. Und nur unter diesen Vorbehalten läßt sich der Topos einer theologia mystica zitieren, z.B. das Epigramm des Cherubinischen Wandersmanns von Angelus Silesius „Ich tue es Gott gleich": Gott liebt mich über sich: lieb ich ihn über mich, So geb ich ihm so viel als er mir gibt aus sich. Soweit hat sich ergeben, was die absolute Liebe ist: der Durchkreuzungspunkt zwischen dem Absoluten und dem weltbildenden Bewußtsein, anders gesagt: das Einheits- und Spaltungsprinzip der Urrealität des Seins und der Form des Daseins. Solche Festlegung dessen, was die Liebe ist, leitet die transzendental-ontologische Untersuchung dessen an, was die absolute Liebe vermag. Diese Nachforschung stellt sich in vier Fragen auf: „Was ist es denn, das uns hinausführt über alles erkennbare und bestimmte Daseyn?" (ebd.); „Was ist es denn, was uns Gott gewiß macht?" (ebd.); „Was giebt denn für diese Welt ... den eigentlichen Grundstoff her?" (AsL;SWV,541);

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„Was ist es, das die Reflexion nirgends stillstehen lässt?" (ebd.). Das sind Grundfragen. Sie fragen grundsätzlich nach dem Aufstieg zum göttlich Absoluten, nach der Wahrheit als Vergewisserung des Absoluten, nach der Realität der Welt als Erscheinung des Absoluten im Medium der Reflexion, nach der Erscheinung des Absoluten im unendlichen Streben des Willens. Die prinzipielle Antwort sei vorausgeschickt: „Nicht die Reflexion, E.V., welche vermöge ihres Wesens sich in sich selber spaltet und so mit sich selbst sich entzweit; nein, die Liebe ist die Quelle aller Gewissheit, und aller Wahrheit, und aller Realität (ebd.). Dieser generelle Bescheid ist im Eingehen auf die vier Leitfragen auszufallen. Was zuerst den Überstieg über die ganze Welt der Reflexion, d.i. das Gebiet der theoretischen und praktischen Vernunft, der Sinnen- und Freiheitswelt betrifft, so gilt die kritische Mahnung, die Schranken menschlichen Verstehens nicht zu überfliegen und die Erkenntnis des Übersinnlichen nicht ungebührlich zu erweitern. Gibt es ein Vermögen, das über die in Anschauung und Begriff, Subjektives und Objektives zerteilte Welt der Reflexion zum ununterscheidbaren Einen aufsteigt, sich mit ihm verbindet, ohne sich ein spekulatives Begreifen des Absoluten anzumaßen? „Unsere, durch kein Daseyn auszufüllende Liebe ist es" (AsL; SW V,540). Immer bleibt die Liebe zum Vergänglichen und Endlichen unerfüllt, denn unabwendbar entgeht im Elemente der Zertrenntheit das Geliebte, mit dem wir uns für immer vereinigen wollten. Daher eignet der endlichen Liebe der Grundzug der Unruhe und einer Sehnsucht nach dem Ewigen. Diese sucht im Aufgange der absoluten Liebe, im Ascensus, dem Aufstieg zum wahrhaft Seienden, ihre Erfüllung. Gegenüber der Liebe kommt der Begriff stets zu spät. Er vermag nämlich das, worin die Liebe aufgeht, immer nur negativ als Unbegreifliches zu begreifen, „nichts ihm lassend, als die reine Negation aller Begreiflichkeit, nebst der ewigen Geliebtheit" (ebd.). Also ist die Liebe höher denn der Begriff. Gesetzt, die Empfindung der Liebe erschließt ein absolut Eines oder den Gott der Philosophen, was verbürgt die Gewißheit dieser unmittelbaren Empfindung? Warum erliegt dieses Gefühl nicht dem metaphysischen Zweifel? Und wenn die Reflexion, welche sich in der selbsteröffneten Differenz des esse in intellectu und des esse in re bewegt, mit Recht die Quelle des Zweifels heißen kann, was hebt die Ungewißheit auf, da weder die alles bezweifelnde Reflexion noch gar das dubiose, schweifende Gefühl die Vorstellung oder Empfindung Gottes zu sichern

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vermag? Die höchste Gewißheit Gottes gründet in der Seligkeit der Liebe; die absolute Liebe schwankt und fällt nicht, wie die Gestalten unseliger Liebe, die sich an Vergängliches und Zweifelhaftes binden. Absolute Liebe ruht in sich. Sie ist ja der Vereinigungsprozeß, in welchem das Absolute sich im Dasein mit sich selbst unvermittelt zusammenhält. Und diese alle Zweifel hebende Gewißheit, unzweifelhaft zu sein, d.i. mit Gott verbunden zu existieren, bezeugt sich im Gefühl der Seligkeit, die alles schwankende Hoffen und Fürchten überstimmt. So bewährt sich die absolute Liebe als Quelle der Wahrheit im Sinne der Gottesgewißheit. Das vermag sie im Aufstieg der Wahrheitsliebe zum Einen, alles unauflöslich vereinigenden Sein. Was aber vermag sie im Abstieg zur Erscheinung des Seins in den Formen der theoretischen und praktischen Vernunft? Der grundsätzliche Bescheid lautet: Sie gibt den Grundstoff für diese Welt her. Ontologischer gesagt: Sie ist der erste Anfangsgrund aller Realität. Kritisch bedacht ist klar, daß die Reflexion leer und ein Nichts an Realität ist. Sie bringt nur Formen auf, in denen wahre Realität zur welthaften Erscheinung gebracht werden kann. Die einzige Realität nun, wie sie sich unzweifelhaft im Freiheitsakt bekundet, ist der Lebensvollzug absoluten Wollens. Und eben in den Vollzügen solchen Willens ist das Sein da und im Bande der Liebe mit dem Dasein verbunden. Nicht die Reflexion, die Liebe ist das Prinzip aller Realität. Gleichwohl, gesetzt, die absolute Liebe durchstimme den Willen und die praktische Vernunft, wie prägt sie sich nun wirklich im Prozeß der Reflexion aus? Die merkwürdige Antwort erklärt, die Liebe sei „die einzige Schöpferin des Lebens und der Zeit" (AsL; SW V.542). Leben meint hier nicht den übergängigen Prozeß des theoretischen Vorstellens von einer Perzeption zur anderen im Nacheinander der Jetztfolge, sondern primär das Fortgehen von einem Erstrebten zum anderen unter der Maßgabe der Ideal-bildenden Einbildungskraft. Indem die Einbildungskraft zwischen dem je und je Erreichten des Willens und dem unerreichbaren Ideal schwebt, wird sich die Reflexion des Ungenügens im Erfolg des Lebens bewußt. Aber was treibt sie dazu, die Abfolge der Willenstätigkeiten immer wieder fortzusetzen und die Zeit in die Ewigkeit als das Immer-Wieder eines neu auftretenden Wollens auszudehnen? „Die unaustilgbare Liebe ist es zu dem, der Reflexion nothwendig entfliehenden, hinter aller Reflexion sich verbergenden, und darum nothwendig in alle Unendlichkeit hinter aller Reflexion aufzusuchenden, reinen und realen Absoluten; diese ist es, welche sie forttreibt durch die Ewigkeit,

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und sie ausdehnt zu einer lebendigen Ewigkeit" (AsL; SW V,541). So verkündet Fichte die absolute Liebe als die Quelle der Wahrheit, die Wurzel der Realität und die Schöpferin der Zeit als Abbild der Ewigkeit. Damit dringt philosophische Prinzipienforschung tiefer in die Grundlagen einer philosophischen Theologie ein.185 Das erste Grundgesetz allen Wissens gebot im Verhältnis zum Absoluten den Akt der Selbstvernichtung des Ich. Die axiologischen Ichbezüge und Reflexionsformen haben sich als höchstes Prinzip von Wahrheit, Gewißheit und Realität zu negieren. Weder die sich wissende Selbstsetzung der theoretischen noch der sich selbst wollende Wille der praktischen Vernunft bilden die innerste Wurzel des Ich. Die Betrachtung menschlichen Daseins vom Standpunkt der Religion aus entdeckt die Sehnsucht nach dem Ewigen als innigste Wurzel des Ich; denn der bloß negative Akt einer Selbstvernichtung und Selbstabsetzung bringt ja ein positives Verhältnis zum Absoluten nicht auf. Aber natürlich bleibt bloße Sehnsucht unbestimmt und unwirklich, wenn sie sich nicht erfüllt. Das geschieht im Vollzug der absoluten Liebe. Und diese Liebe nun darf nicht weiter als schwankendes, verschwimmendes Gefühl abgetan werden. Sie ist philosophisch als ein in die Tiefe schauendes Verstehen zu erwägen, welches das Erste Prinzip aller Wahrheit und Realität als das alles Sein und Dasein liebend Zusammenhaltende erschließt. Das ist Ausdruck transzendental besonnener Spekulation: „der höchste reale Gesichtspunct einer Seyns- und Lebens- und Seligkeitslehre" (AsL; SW V,542).

185

Die übergreifende Dokumentation der philosophischen Theologie bei Fichte durch Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen. München 21972, Bd. 1,221-244 endet mit kritischen Erwägungen: Die Bemühungen Fichtes seit 1801, Wesen und Dasein Gottes durchsichtig zu machen und damit eine philosophische Theologie zu begründen, scheitern; Fichte versichert seine Rede von Gott weder durch Aufweisung des Denkens noch der Anschauung und Intuition, sondern am Ende einfach im Hinweis auf die Existenz religiöser (gottbegeisterter) Menschen. Und er begehe einen Zirkel, in welchem das Absolute im absoluten Wissen begründet werden soll, das seinerseits im Absoluten begründet ist. - Aber das verkennt seltsamerweise 1. die ursprüngliche Erschließungskraft von Grundbefindlichkeiten, 2. die Vermittlungsposition der prima philosophia zwischen dem unmittelbar erscheinenden Absoluten und seinen vermittelten Erscheinungen, 3. die absolute Wechselliebe als Wurzel der Existenz. So wird nicht ontisch auf das Vorkommen eines homo religiosus verwiesen, sondern „existenzialontologisch" menschliches Dasein zwischen mundaner und numinoser Liebe aufgewiesen.

AUSBLICK Abschließende Nachschrift über den Primat einer transzendentalen Metaphysik und Daseinsontologie Wie bestätigt und erfüllt sich am Ende die Leitthese von der dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus? Gemeinsam ist dabei der Anspruch, die Entzweiungen und Gegensätzlichkeiten der Reflexion in einem versöhnenden Prinzip der Alleinheit aufzuheben. Strittig dagegen werden die Grundbestimmungen von Sein und Dasein (Existenz), Absolutem und absolutem Wissen, welche die systematische Vollendung der Metaphysik versprechen. In solchem Rangstreit - paradigmatisch und in geschichtlicher Aktualität mit Spinozas Substanzmetaphysik und Schellings Identitätssystem - tritt die Wissenschaftslehre ein. Sie erhebt ihrerseits ausdrücklich den Anspruch, „in der Schulsprache die tiefste Metaphysik und Ontologie" (AsL; SW V,416) zu sein. Ihre Systementfaltung will natürlich nicht eine dogmatische metaphysica generalis als Fundament einer dreifachen metaphysica specialis im Sinne der Leibnizschen Schulphilosophie restaurieren - Kants Vernunftkritik hat diesen Systembau in Trümmer gelegt. Aber Kant hinterlegt auch das Programm einer tieferen Metaphysik der Metaphysik als transzendentale Methode, die empirisch gegebene Physis zu übersteigen, um die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit für die Welt der Erscheinung durch den Nachweis, wie synthetische Urteile a priori möglich sind, freizulegen. Dieser erkenntnistheoretische Ansatz verknüpft sich bei Fichte von Anbeginn mit der Aufgabe, den Sinn der Natur und Menschenwelt aus der Bestimmung des Menschen als Erscheinung des Übersinnlichen verstehbar zu machen. So lehrt eine metaphysische Wahrheits- und Erscheinungslehre, das Physische als Sphäre zu durchdringen, worin Metaphysisches - sittliche Freiheit und moralische Ordnung einer Geisterwelt - zum Austrag kommt. Eine aufs Ganze des Seienden gehende, transzendental eingerichtete Metaphysik kann den Namen einer Ontologie annehmen: als Lehre von Sein und Dasein, Einessein und Vielessein, Wahrsein und Scheinhaftsein. Und sie will das

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Versprechen einer jeden Seins- und Einheitslehre erfüllen, alle ontologisch relevanten Zwei- und Vielheiten auf das unzerteilbare Eine zurückzuführen und aus ihm entspringen zu lassen, von der Wahrheit her formuliert: das wahre Sein vollständig in seinen Haupterscheinungen im absoluten Wissen abzuleiten. Sofern nun „das Absolute" bzw. „das absolute Sein" der philosophische Name für Gott ist, kann Fichtes Transzendentalphilosophie sich auch „Gottes- oder Wissenschaftslehre" (SL; NW 111,30) nennen. Und weil das göttliche Sein lauteres, aus sich lebendes Leben bedeutet, nimmt diese Theologie nicht zuletzt den Titel einer Lebenslehre an. Jedenfalls schärft eine transzendentale Grenzbesinnung, welche prinzipiell zwischen dem toten Sein des bloß objektiv Vorhandenen und dem reinen Akt absoluten Wissens unterscheidet, immer wieder ein: „Die wahre, in sich selbst zu Ende gekommene und über die Erscheinung hinweg wahrhaft zum Kern derselben durchgedrungene Philosophie hingegen geht aus von dem Einen, reinen, göttlichen Leben" (RdN; SW VII.362). Unter diesen Vorzeichen spielt sich die Auseinandersetzung der Wissenschaftslehre mit dem System Spinozas als Ringen um die tiefste Metaphysik ab. Nach Fichtes Einschätzung bleibt aller Materialismus konsequentermaßen bei der Erfahrung stehen, so wie aller Dualismus inkonsequenterweise an der Empirie haftet. Dagegen ist Spinoza (und seinen spekulativen Vollendern) zu attestieren: Hier ist wirkliche Metaphysik. Das bestätigt eine philosophiegeschichtliche Darstellung der Platner-Vorlesung (§ 754): „Der Spinozismus ist wirkliche Metaphysik; er stellt nicht blos die bekannte Erfahrung auf, sondern er fragt nach dem Grunde derselben u. giebt ihn an. Unsre Darstellung wird sich blos auf den Geist des Systems beziehen" (VLM; GA IV,l,366). Was Fichtes Darstellung herausstellt, ist der Geist der Alleinheit, wie er sich in zwei Axiomen ausspricht. „Alles, was existirt, ist absolut eins, durch sich selbst eins, ist demnach schlechthin weil es ist, u. was es ist, weil es einmal ist. Das ist das ens a se" (VLM; G A IV, l,367). Das andere Axiom formuliert das Losungswort, das die Tübinger Stiftler begeisterte: „Das Einzige, was besteht, ist eben das Alles u. das Eins, " (ebd.). Diese Sätze, die für Hölderlin, Schelling und Hegel wegweisend waren, hält auch eine transzendental eingestellte Wissens- und Seinslehre durchaus für richtig. Zum Streitpunkt wird freilich die Gretchenfrage: Wie halten es die großen spekulativen Ausarbeitungen einer Spinozistischen Hen-kai-Pan-Metaphysik mit dem kritischen Geiste der Transzendentalphilosophie und dessen Prinzip der Freiheit und Selbstbestim-

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mung des Ich? Die Plainer-Vorlesung hat diesen kritischen Punkt genau markiert. „Gegen dieses System läßt sich folgendes einwenden: Es liegt darinn etwas unerklärtes u. unbegreifliches; es läßt sich nicht erklären, wie die unendliche Substanz übergehe zu den Bestimmungen, die sie im endlichen hat. Dieses ist die Crux aller Metaphysik; in der Wissenschaftslehre ist der Uebergang gezeigt" (VLM; GA IV,l,370). Der Spinoza-Einwand wendet einen Prüfstein an, der dazu taugt, den Vollendungsanspruch eines jeden Systems, welches die substantial Einheit (Identität, Indifferenz) von Unendlichem und Endlichem durchkonstruiert, zu prüfen. Bleibt der fragliche Übergang dunkel, dann ergibt sich ein Dilemma. Entweder wiederholt sich bloß das Absolute, da es sich als endlich Faktisches noch einmal setzt. Oder das Absolute ist unvermittelt in sich selbst ein Mannigfaltiges und endlich Welthaftes. Beides, daß das endlich Faktische in einem verdoppelten Absoluten einfach verschwindet oder daß das Absolute selber als Natur vorhanden ist, ist gleichermaßen unsinnig. Im ersten Falle wäre das All im Einen, im entgegengesetzten Fall wäre das Eine im All verloren. Die Welt und die Sphäre des Endlichen kämen gar nicht zu einer eigenen Bestimmtheit. In solche Ausweglosigkeiten gerät eine Metaphysik des Eins und Alles, welche die kritische Grundfrage der Vermittlung und des Übergangs zwischen Unendlichem und Endlichem nicht zureichend, d.h. in den Formierungen des Selbstbewußtseins, stellt.186 186

Peter Baumanns, J. G. Fichte. Kritische Gesamtdarstellung seiner Philosophie. Freiburg/München 1990, 344ff. diskutiert im Blick auf das Spinozaproblem der Aufspaltung der einzig-einen Substanz in ihre Attribute die Entzweiung des Absoluten in die Dualität der Form eines Seins in sich und eines Seins außer sich im Verhältnis von Sein und Dasein. Eine der Fragen zielt auf das Motiv der Sichentäußerung und Offenbarung, gesetzt, diese Grundentzweiung unterliege nicht einer schicksalhaften Notwendigkeit. Dabei ergeben sich Aporien für den Fall, das Absolute sei selbst Adressat der Offenbarung und Erscheinung. Wie nämlich steht es mit dem vorauszusetzenden Willen eines Absoluten, das erscheinen soll? Und warum sollte sich das Absolute (der reine Wille) ins Dasein setzen, um selbst eine Offenbarkeit zu erzeugen, deren es „menschlich gesprochen" gar nicht bedarf? Bescheide darüber bleiben bei Fichte in die Dunkelheit des Begriffs Gottes gehüllt. Aber ist nicht Fichtes Lehre vom Bilde des Absoluten gegen die Hyperbolic solcher Fragen gefeit? Machen denn die Selbstvernichtung des Begriffs und die Grenzbesinnung auf die Reichweite von Reflexion und Sprache nicht einsichtig, warum jede genetische Erklärung, welche Beweggrund und Gesetz einer Selbstoffenbarung des Göttlichen darzulegen sucht, unmöglich ist, gerade weil solche Ontotheologie in die nämlichen Aporien führt, welche Fichtes methodologisch redu-

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Nun wendet sich das Dilemma-Argument expressis verbis gegen Spinoza. Aber es richtet seine Spitze auch gegen Schellings Identitätssystem. Im Brief an Schelling vom 15. Januar 1802 wiederholt Fichte seine Bedenken gegen die Dilemmatik von Systemen, welche den transzendentalen Mittel- und Wendepunkt verfehlen. „So ergeht es Spinoza. Das Eine soll Alles (bestimmter das Unendliche, denn es giebt hier keine Totalität) seyn, und umgekehrt; was denn ganz richtig ist: Aber wie das Eine zu Allem, und das All zu Einem werde - den UebergangsWende- und realen IdentitätsPunkt derselben kann er uns nicht angeben, daher hat er das Eine verlohren, wenn er aus dem All greift, und das All, wenn er das Eine faßt" (BrW; GA 111,5,112). Diese hartnäckig zierter Rede von der Inkludenz angelastet werden? Die Wissenschaftslehre bleibt in der „Emanationsfrage" bei einem Daß ohne Wie und Warum. Daß es außer dem in sich geschlossenen Absoluten ein reines Wissen davon gibt, ist eine unhintergehbare Letztgegebenheit. Daß das reine, nicht-intentionale Wissen seine urreale Lebendigkeit nicht dem Durchgang der Reflexion sfonn verdankt, sondern als Dasein des Lichts und Lebens durch ein aus sich selbst lebendes Leben gehalten wird, ist gleichfalls ein nichtgenetisierbares Urfaktum. Wie aber dieses absolute Wissen, das sich als Dasein und Bild des Absoluten weiß, aus sich die Dreiheit von absolutem Sein, Sein als Erscheinung und Erscheinung bzw. Bild als Nichtsein entwickelt, ist die widerspruchsfrei lösbare Aufgabe einer Phänomenologie. Freilich zählt P. Baumanns gerade auch den Gedanken der Selbstvernichtung vor dem Absoluten, der in allen Strukturmomenten unbestimmt bleibe, zu den Dunkelheiten an den metaphysischen Rändern des Systems; am Ende sei unklar, wie die absolute Reflexion als De-Flexion, d.h. als Wegkehrung der „Reflexibilität" (von Natur, Empirie, Faktizität) mit dem Absoluten Eins sein kann, zumal sich überhaupt die Rede von unserem Ergriffenwerden durch ein sich selbst effizierendes Licht kaum mit dem Grundansatz der Freiheit als tätiger Urheberschaft vereinbaren lassen. Das ist der rote Faden dieser kritischen Erörterung: Fichtes Ausgang, die Absolutsetzung des Selbstbewußtseins und der Freiheit des Individuums, ende mit einem verschwiegenen Verlust der Freiheitsidee. - Die Herausforderung dieser kraftvoll konzentrierten Gesamtdarstellung der Fichteschen Philosophie, welche die Wissenschaftslehre ernst nimmt - und die geläufigen Abschätzungen als „Wissenschaftsleere" (Schopenhauer), als Botschaft eines Messias nach dem Königsberger Täufer (Jacobi) oder „humorvoller" als Philosopie des Teufels, dessen Großmutter die Philosophie Kants sei (Jean Paul), ebenso abwehrt, wie die heutigen Variationen der Phrase von „der abscheulichsten Ausgeburt des Aberglaubens" (Anselm Feuerbach) - , kann die Fichtediskussion neu beleben. Im Rahmen einer Darstellung, der es um Grundzüge der Erscheinungslehre und nicht um ein sukzessives Durchmustern der einzelnen Werkgruppen geht, kann eine nötige und fruchtbare Auseinandersetzung Punkt für Punkt nicht mehr geleistet werden.

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verfolgte Verlegenheit verwirrt ein System, das, wie im Falle Spinozas, der Freiheit keinen Platz einräumt, das überhaupt den Primat der praktischen Vernunft verkennt, die Urrealität des freien Willens für chimärische Einbildung erklärt und kein Organ für die Ewigkeit eines Geisterreiches hat. Aber sie sollte ebenso Schellings Identitätssystem beunruhigen. Auch das Identitätssystem will die Metaphysik vollenden, indem es die ontologische Frage nach der Konstruktion von Einheit und Vielheit, Idealität und Realität, Subjektivem und Objektivem, Endlichkeit und Unendlichkeit löst. Aber es verfehlt wie Spinoza den Übergangspunkt, den die Wissenschaftslehre gerade gefunden hat: die ichhafte Form des Sichverstehens absolut daseienden Wissens in der Schwebe zwischen dem Einen in sich geschlossenen, unendlichen Sein und dessen endlicher Erscheinungs viel fall als Durchgangspunkt für die absolute Liebe qua Wechselbestimmung zwischen dem unendlichen Leben und dessen Erscheinungen im Endlichen. Ohne den Einsatz bei diesem Mittel-, Schwebe- und Durchkreuzungspunkt, der dem absoluten Sein wie dessen Erscheinen gemeinsam ist, bleibt es bei Dualismus und Dogmatismus, oder es kommt zu einem Unitismus, der ein Prinzip proklamiert, in welchem alle Gegensätze so zusammenfallen, daß der Übergang zur Zweiheit und Vielheit im Endlichen unerklärlich wird, weil er nur unbegreifliche Worte von der Selbstdifferenzierung des Indifferenten, nicht aber die Realität des Bewußtseinslebens auf seiner Seite hat. Ins Zwielicht der Unbegreiflichkeit dürfte auch Schellings Freiheitsschrift rücken.187 In ihr herrscht das Dogma, das jede Gestalt eines abso187

Aufschlußreich, ja aufregend ist ein Vergleich der Fichteschen „Ontotheologie" mit den theokosmischen Spekulationen Schellings (Weltalterentwürfe, Philosophie der Offenbarung) bei Peter Baumanns, J.G. Fichte, 352-358. Er weist auf die fundamentale Gemeinsamkeit hin, den Anfangsgrund in einen Ungrund lauteren Willens bzw. lauteren Lichts und Lebens jenseits der Entzweiungen des Selbstbewußtseins zu setzen. Und er beharrt auf einem beiden Systemen gemeinsamen Mangel, nämlich die Verbindungslücke zwischen dem Ur-Absoluten und seiner Offenbarung und Erscheinung nur durch Hilfskonstruktionen zu schließen. - Dagegen sollte ein noch stärkerer Akzent auf die Gemeinsamkeit der Selbstvernichtung bzw. der Ekstase des Vernunftwissens vor dem rational unerkennbaren Unvordenklichen gelegt und die Vorzüglichkeit der Fichteschen Offenbarungs- und Erscheinungslehre behauptet werden. Der Prozeß der Selbstnegation der Vernunft bei Fichte läßt keiner Art von Ontotheologie Raum. Fichtes Erscheinungslehre bleiben die theokosmischen Versuche der „Weltalter", die ursprüngliche Zeitlich-

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luten Idealismus in sich hat. Höchste Einheit sei die unendliche Einheit des Absoluten, und diese lasse sich so begreifen, daß allein aus ihr ohne prinzipiellen Respekt auf das Fürunssein alles Vielheitliche und Endliche entspringe. Die Grund-Existenz-Ontologie kennt solche Einheit als „Wille der Liebe". Der „Ungrund" liegt vor aller Zweiheit und Vielheit in einer Indifferenz, in der weder der Grund als Grund noch die Existenz als solche herausgetreten sind, die sich aber „aus Liebe" von sich her in eine Zweiheit zerteilt, obwohl solche Differenz weder der Potenz noch gar der Wirklichkeit nach in ihr zu konstatieren ist. Kritische Vorsicht aber hat zu scheiden. Die Einsicht, vom Urgrund sei allein die Nichtprädizierbarkeit zu prädizieren, muß streng festgehalten werden. Schon der Satz, der Ungrund sei weder das eine (nämlich Grund als Basis) noch das andere (nämlich Existenz als Ins-Offene-Treten), stammt aus der Form des Wissens; denn die Konstitution des Lichts als das Dunkel Aufhellende wie des Dunkels als der Lichtung zugehörigen Verschlossenheit verdankt sich der Reflexionsform des Als (in Einheit mit den Übergangsverhältnissen des Von und Durch). Mit einem Wort: Schellings „Erfahrung" des Ungrundes und des Willens der Liebe verkennt, daß das eine Erfahrung des Menschen ist, der sich als Da-Sein und Bild des Absoluten erfährt.188

188

keit göttlicher Trinität aus den Verwicklungen eines Ja und Nein sagenden zweifachen Urwillens zu entfalten, oder die christologische Unternehmung der Offenbarungsphilosophie, das urständig Seiende über Erfahrungen der Freiheitstaten Gottes mythologisch-heilsgeschichtlich der Vernunft zugänglich zu machen, fremd. In Fichtes Wahrheits- und Erscheinungslehre wird die Ichform eben als oberstes Lebens- und Seinsprinzip abgesetzt, um als Prinzip der Erscheinung in Formen des Als und Durch wieder eingesetzt zu werden, und zwar im Kontext der Vermittlungsglieder von Urlicht, Von und Soll, die mehr sind als untaugliche Hilfsmittel für die Konziliation der beiden Seinsformen des Absoluten. Auch Heideggers „Destruktion" und „Verwindung" der Schellingschen Metaphysik setzt bei der Unsäglichkeit der Einheit des Ungrundes an. „Die absolute Indifferenz ist das Nichts in dem Sinn, daß ihr gegenüber jede Seinsaussage nichts ist"; Schellings Abhandlung Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809). Tübingen 1971, 195. Schelling sehe ferner nicht, daß von hier aus ein dreifacher Schritt unumgänglich sei; denn aus der Einsicht, das Sein könne in Wahrheit nicht vom Absoluten gesagt werden, folge: 1. Das Wesen allen Seins sei die Endlichkeit. 2. Nur das endlich Existierende habe das Vorrecht und die Schwere, im Sein als solchem zu stehen. 3. Nur das endlich Existierende könne das Wahre als Seiendes erfahren. Das eröffnet eine neue Erfahrung des Menschen. „Der Mensch wird in dem erfahren, was ihn über sich hinaustreibt... Der Mensch -jener Andere, als

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Aber gelten nicht längst Fichtes Subjektivismus und Ethizismus als abstrakt und einseitig, überholt durch das wahrhaft „konkrete" Hegelsche System des absoluten Geistes? Oder sollte gerade auch diese geistvollste Vollendung des abendländischen Idealismus an der Crux aller Metaphysik außer der Wissenschaftslehre leiden, nicht recht erklären zu können, wie das unendliche Sein, das nicht nur als Substanz sondern ebensosehr als Subjekt aufzunehmen ist, in jene endlichen Bestimmungen übergeht, die es im Zustande absoluten Andersseins annimmt? Das ist tatsächlich das Kreuz der Hegelinterpreten. Der Übergang von der absoluten Idee der Logik zur Natur der Naturphilosophie muß dialektisch vollbracht werden, sonst bleibt der Systembau unvollendet. Die Onto-Theo-Logik vollendet zwar die Übergänge des Geistes in die konkrete Gedankenfülle der absoluten Idee, aber sie behält das Wahre eingeschlossen in die Sphäre der reinen „Gedanken". Andererseits findet sich für den erforderlichen Fortgang aus der logischen Sphäre der Idee zur ganz andersartigen Realität der Welterscheinungen keine passende Kategorie. Weil es sich dabei eben nicht mehr um eine der gängigen Übergangsformen handelt, wie sie innerhalb der Seins-, Wesens- und Begriffslogik vorkommen, spricht Hegel von „Andeutungen". Das gilt für die bekannteste Formel: „Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie nicht bloß ins Leben übergeht, noch als endliches Erkennen in sich scheinen läßt, sondern in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt,- sich als Natur frei aus sich zu entlassen" (Enz. § 244; ThW VIII,393). Selbstverständlich ist der Übergang aus dem Elemente des sich mit sich vermittelnden reinen Denkens im Stande absoluter Wahrheit in die unmittelbare Daseinsform der Natur im Außereinander von Raum und Zeit nicht selber ein phasenhafter Umschlag im Moment zeitlicher Jetztfolge. Aber er bildet ebensowenig eine Gestalt zeit- und phasenlosen „logischen" Werdens und In-sich-Scheinens. „Das Übergehen ist also hier viel mehr so zu fassen, daß die Idee sich selber frei entläßt', ihrer absolut sicher und in sich ruhend" (Logik; ThW VI,573). Das Gemeinte ist deutlich. Das Übergehen als Sichentlassen ins absolute Anwelcher er der sein muß, kraft dessen der Gott allein sich offenbaren kann, wenn er sich offenbart" (a.a.O., 198). -Nähe und Ferne solcher Deutung einer (geschicklichen) Fügung von Sein, Gott und menschlichem Dasein zu Hölderlins Oden- und Hymnendichtung wie zu Fichtes Daseinslehre auszuloten, wäre nicht bloß ein beliebiges philosophiegeschichtliches Thema, sondern eine im dürftigen Zeitalter der Seins- und Existenzvergessenheit notwendige Aufgabe.

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derssein aus Freiheit ist Selbstbestimmung im Modus einer Vernunftgewißheit, die darüber beruhigt sein kann, auch im absolut Anderen bei sich selbst bleiben zu können. Der fragliche Übergangspunkt ist Entschluß der Idee, welche die Freiheit hat, ihre Ewigkeit in die Zeit zu schicken, weil sie gewiß ist, gerade in dieser Selbstentäußerung ihre volle Konkretion zu gewinnen, insofern Natur und Menschenwelt (Recht und Staat, Kunst und Religion) Stufen der Selbsterkenntnis Gottes bilden. Aber ist solche Freiheit zur Selbstrealisierung Gottes im „versöhnenden" Eingehen in die Welt-Zeit auch zu begreifen und im Lichte des Selbstbewußtseins evident zu machen? Das evoziert die Frage nach dem zureichenden Begriff des Begriffs. Nach Hegels Logik meint „Begriff nicht einfach unser Vorstellen von etwas in seiner wesenhaften Allgemeinheit, sondern die Form und das Leben der absoluten Idee selber. Deren Sichbegreifen enthält ein solches Vermögen von Gedanken, das seinen Inhalt selbst erzeugt (und darum allem metaphysischen Zweifel, ob es das im Denken Gedachte auch als wirkliches Wesen gibt, enthoben ist). Ein Begriff nun, in welchem die absolute Idee sich selbst begreift, ist göttlich und der Logos des Seins selbst. Damit prallt die kritische Logik der Fichteschen Bildontologie zusammen. „Der Begriff. Was ist er? Das Sein selbst? nein sein Schema und Bild, Erscheinung. Sein ausser seinem Sein, Entäussertes u.s.f." (WL 1812; NW 11,332). Auch dieser kritische Bescheid entspringt einer Auseinandersetzung mit Spinozas System, das sich auf Schelling und Hegel ausdehnen läßt. Es dreht sich um den Widerspruch, daß außer dem Sein auf der Höhe des Hen kai Pan nichts ist - außer dem Begriff. Ausser ihm ist seinem Begriffe nach kein Seyn: aber der Begriff ist, und ist ausser ihm. Protestatio facto contraria! Indem gesagt wird, es sei Nichts ausser ihm, ist Etwas, eben dieses Sagen, ausser ihm" (NW 11,327). Spinoza übersieht diesen Widerspruch, Schelling bestreitet ihn, Hegel hebt ihn auf. Der Begriff erhebt sich danach zu einem Sichbegreifen des Seins selbst, welches auch das Übergehen des Allgemeinen in das Besondere aus sich selbst erklärlich macht. Fichtes transzendentale Scheidung von Sein und Begreifen dagegen macht den zu erklärenden Übergang lediglich als unbegreiflichen begreiflich. Zuletzt kann nur das Daß des Übergegangenseins konstatiert, aber niemals dessen Wie evident werden. Anders gesagt: Die Äußerung des in sich geschlossenen Seins ins absolute Wissen ist das Urfaktum, das nur als Faktum in seiner Nichtgenetisierbarkeit zu konstatieren ist; denn dem Menschen in seinem endlichen Bewußtsein eignet unaufhebbar jene Re-

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flexionsform, die, indem sie Sein objektiviert, das sich enthüllende Sein selbst wesensnotwendig verhüllt. Am Ende bewährt sich die transzendentale Seins- und Bildlehre als eine tiefe Ontologie des Menschen. Sie achtet nicht bloß auf die Schranken menschlicher Erkenntnis oder auf die bloß approximative Erfüllbarkeit des vom Willen Gesollten, sie macht ernst damit, den alles genetisch durch-nehmenden Begreifen als oberstes Prinzip abzusetzen und die Vernichtung des Begriffs als Bedingung für eine Evidenz einzusetzen, in welcher das Sein als Unbegreifliches einleuchtet und sich ins Dasein übergegangen findet. So hat die Wissenschaftslehre die Crux der Metaphysik gemeistert. Der Übergang aus der unendlichen Substanz, dem Ungrunde oder der absoluten Idee, zu deren Bestimmungen im Endlichen kann gar nicht aus dem Absoluten begriffen und erklärt werden. In Wahrheit kommt dem Absoluten der Charakter des in sich geschlossenen Seins und Einen zu. Daher wird der Versuch einer positiven Ontotheologie, den Übergang ins Endliche als freie Selbstentzweiung des Absoluten selbst zu deuten, im Überschwange konstruierenden Begreifenwollens hyperbolisch. Transzendentale Besonnenheit hält sich an das im selbstbewußten Wissen Ausweisbare, an das absolute Sein außer sich als Dasein absoluten Wissens in denjenigen Formen und Gesetzen, in denen ein ichhaftes Sehen das Schema und Bild des Seins ersieht und in der Fülle dieses Vernunftblicks geschlossen zur Erscheinung bringt. Die transzendentale Grundstellung ist unumkehrbar, und es tut im Zeitalter von Positivismus und Nihilismus not, das transzendentale Prinzip in Respekt auf die Bestimmung der menschlichen Existenz zu ergänzen. Nur so hat die Metaphysik eine Chance, wieder mehr als der bloße Feindbegriff eines Zeitalters wissenschaftlicher Weltorientierung (und inhumaner Weltpräzisierung) zu werden, das alles metaphysische Gerede satt hat. Und vielleicht kommt gegen die verbreitete Meinung, das Zeitalter der philosophischen Systeme sei endgültig vorbei, doch wieder ein fruchtbares Fragen nach der Einheit aller Erscheinungsformen und nach einem alles einigenden Systemprinzip zum Austrag. Fichte bietet für solche Aufgaben einen unübergehbaren Rückhalt. Die transzendentale Bildlehre hat ja antizipativ durch ihre Verbindung von Sein, Leben, Dasein und Bild im Wissen die Krise eines „Nihilismus" überwunden, der verkündet: Es ist nichts mit der Realität von Bildern eines sich selbst bespiegelnden Ich-Subjekts; und es ist nichts mit den Vernunftkategorien von Einheit, letztem Sinn und übersinnlichem Sein. Fichtes Dringen auf die Realität des absoluten Wissens

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selbst vertreibt den Nihilismusverdacht. „Was wäre denn das wahre Mittel, diesem Sturze der Realität, diesem Nihilismus zu entgehen? Das Wissen erkennt sich selbst als bloßes Schema: darum muß es doch wohl irgendwo auf reiner Realität fußen" (WL 1812; NW 11,325-326). Und Fichtes Bestimmung des Menschen als Sein verstehendes Dasein bannt eine Existenzvergessenheit, welche über der Ideendialektik das Existieren des empirischen Ich in seinem fünffach entwerfbaren In-der-WeltSein (den Sinnbezügen der umweltlichen Natur wie des mitweltlichen Rechts, der Geisterwelt moralischer Ordnung wie dem numinosen Reiche der Religion in Einheit mit der Seins- und Weltdeutung philosophischer Wissenschaft) nicht vergißt. Auch deshalb ist die Wissenschaftslehre der einzige Systementwurf des Idealismus in der Phase seiner Vollendung, der bei transzendentaler Besinnung bleibt, weil menschliches Dasein (Inter-esse) an seinem gehörigen Orte steht: zwischen Sein und Nichtsein, Wissen und Nichtwissen, Wirklichkeit und Überwirklichkeit, Zeit und Ewigkeit, empirischem und reinem Ich. Darum kann Fichtes These vom menschlichen Da-Sein über Hegels hochgespannte Logik einer Gedankenexistenz des Endlichen und Schellings tiefsinnigtheosophischer Grund-Existenz-Ontologie des Menschen und dessen Freiheit zum Bösen hinaus auf einem Wahrheitsweg lebendig bleiben, wie er von Kierkegaard wieder eröffnet wurde;189 denn in der Bestimmung des Menschen als Aufgabe, das Existieren zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit, Schranke und Sol189

Bekanntlich stürmt Kierkegaards entschlossenes Fragen nach Wirklichkeit und Existenz (des Einzelnen unmittelbar vor Gott) auf Hegels Ansatz einer Seinslogik ein. Es findet dort nur Antworten im Elemente reinen Denkens vor. „Werden", „Dasein", „Wirklichkeit", „Existenz" haben im luftigen Gewebe der Seins- und Wesenslogik die Schwerelosigkeit eines Gedanken-Werdens und einer GedankenExistenz sub specie aeterni an sich. Gewicht gewinnen Existenz und Wirklichkeit dagegen erst im Inter-esse des Subjekts zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit, Leibhaftigkeit und Geisthaftigkeit wie zufolge der Aufgabe, aus unendlichem Interesse am je eigenen Heil in unendlicher Leidenschaft und ethisch-religiöser Entschiedenheit das Selbst-Werden vollbringen zu müssen. Nun bildet die Maßgabe der Ideenlogik für Hegel die adäquate Basis für eine systematische, „wissenschaftliche" Vollendung des Idealismus. Unter dem Kriterium existierender Subjektivität dagegen charakterisiert Kierkegaards „Unwissenschaftliche Nachschrift" diese Vollendungsgestalt als ins Äußerste gekommene Existenzvergessenheit. Diese begann da, wo der Weg zur Wahrheit vom Sokratisch-entschiedenen Existieren abbog, um in die Richtung der Platonischen Gedankenlogik einzuschwenken.

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len, Zeit und Ewigkeit im Selbst-Werden endlichen Geistes zu vollbringen, konnte Kierkegaard sich mit Fichte einig wissen. Ein welterschließender und existenzerhellender Rückgang auf das Prinzip existierender Subjektivität jedenfalls würde die vorschnelle Rede vom gewärtigten Tod des Subjekts mundtot machen, die Wissenschaftsgläubigkeit, welche die „wahre Welt" nurmehr als Korrelat der vollendet gedachten positiven Wissenschaften versteht, relativieren und den Zustand einer von der Technik gezeichneten Zeit ohne verbindliche Sittlichkeit, Religion und Metaphysik beenden. Dann wäre Fichtes Lehre vom Bilde des Absoluten keine vergangene Gestalt zerbrochener idealistischer Systembildungen, sondern Geburtsstätte einer erneuerten transzendentalen Besinnung auf die ontologische Verfassung menschlichen Daseins.

Verzeichnis der zitierten Schriften1 /. Siglenverzeichnis Fichte SW NW GA

FiG AP AsL CaO BdG BdG-1811 BdM BrW BzR E-WL 1813

J.G. Fichtes sämmtliche Werke I-VIII, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845/46 = Berlin 1965 J.G. Fichtes nachgelassene Werke I-III, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1834/35 = Berlin 1962 J.G. Fichte - Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hg. von Reinhard Lauth, Hans Jacob und Hans Gliwitzky, Stuttgart 1962ff. Fichte im Gespräch. Berichte der Zeitgenossen I-VI, hg. von Erich Fuchs, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1978ff. Appellation an das Publicum, Jena u. Leipzig: Gabler -Tübingen: Cotta 1799 Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre, Berlin: Realschulbuchhandlung 1806 Versuch einer Critik aller Offenbarung, Königsberg: Härtung 1792 Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten, zur Michaelis-Messe Jena und Leipzig: Gabler 1794 Fünf Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten. Gehalten zu Berlin 1811 Die Bestimmung des Menschen, Berlin: Vossische Buchhandlung 1800 Briefwechsel, in: AG Beiträge zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, Danzig: Troschel 1793/94 Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre. Vorgelesen im Herbste 1813 auf der Universität zu Berlin

Die Verzeichnisse registrieren nur jene Werke, Sachen und Namen, welche in den Gedankengängen der Untersuchung vorkommen. Auskunft über den kompletten Forschungsstand geben: Hans Michael Baumgartner u. Wilhelm G. Jacobs, J. G. Fichte Bibliographie. Stuttgart-Bad Cannstadt 1968. - Sabine Doye, Fichte Bibliographie 1968 - 1992 = Fichte-Studien Suppl. Den Haag 1993

544 GdE GgZ GSR GuB GuG GWL IGU

NR PD RdN RL SB

SL SSL StL SuU TdB-I TdB-II TL VnD

WdG

Verzeichnis der zitierten Schriften Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen, Jena u. Leipzig: Gabler 1795 Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Vorlesungen, gehalten zu Berlin im Jahre 1804-05. Berlin: Realschulbuchhandlung 1806 Die Principien der Gottes- Sitten- und Rechtslehre, Vorlesungen Berlin Februar und März 1805 Über Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen, in: PhJG 9(1800) Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: PhJG 8(1798) Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, als Handschrift für seine Zuhörer, Leipzig: Gabler 1794 Ideen über Gott und Unsterblichkeit, in: J.G. Fichte, Über Gott und Unsterblichkeit, Aus einer Kollegnachschrift von 1795. Mitgeteilt von Ernst Bergmann, Berlin 1914, 17-32 Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Jena u. Leipzig: Gabler 1796 Der Patriotismus und sein Gegentheil. Patriotische Dialogen vom Jahre 1807 Reden an die deutsche Nation, Berlin: Realschulbuchhandlung 1808 Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812 Sonnenklarer Bericht an das größere Publikum über das eigentliche Wesen der neuesten Philosophie. Ein Versuch, die Leser zum Verstehen zu zwingen. Berlin: Realschulbuchhandlung 1801 Das System der Sittenlehre. Vorgetragen von Ostern bis Michaelis 1812 Das System der Sittenlehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Jena u. Leipzig: Gabler 1798 Die Staatslehre oder über das Verhältnis des Urstaates zum Vernunftreiche. Vorlesungen auf der Universität zu Berlin im Sommer 1813 Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache, in: PhJG l (1795) Die Tatsachen des Bewußtseins. Vorlesung an der Universität zu Berlin im Winterhalbjahre 1810-11. Stuttgart u. Tübingen: Cotta 1817 Die Tatsachen des Bewußtseins. Vorgetragen zu Anfang des Jahres 1813 Über das Verhältnis der Logik zur Philosophie oder Transcendentale Logik. Vorlesung von Oktober bis Dezember 1812 Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Vorerinnerung, Erste und Zweite Einleitung, Erstes Kapitel, in: PhJG 5 u. 6 (1797), 7(1798) Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete

Verzeichnis der zitierten Schriften

WL 1801/02 WL 1804-11 WL 1810 WL 1813

WL n.m.

545

der Freiheit. Vorlesungen Erlangen, Sommer-Halbjahr 1805 Darstellung der Wissenschaftslehre aus den Jahren 1801/02 Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni Die Wissenschaftlehre in ihrem allgemeine Umrisse dargestellt, Berlin: Hitzig 1810 Die Wissenschaftslehre. Vorgetragen im Frühjahr 1813 an der Universität zu Berlin, aber durch den Ausbruch des Krieges unvollendet geblieben. Wissenschaftslehre nova methodo. Kollegnachschrift K.Chr.Fr. Krause 1798/99

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich ThW

Werke I-XX. Auf der Grundlage der Werke von 1832-1845 neu edierte Ausgabe, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a.M. 1969ff. (Theorie Werkausgabe: Suhrkamp)

Hölderlin, Friedrich StA

Große Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe, I-VII, hg. von Friedrich Beissner und Adolf Beck, Stuttgart 1943-77

Humboldt, Wilhelm von W

Werke I-V, hg. von Andreas Flitner u. Klaus Giel, Stuttgart 1960-81

Jacobi W

Werke I-VI, hg. von Friedrich Roth und Friedrich Koppen, Darmstadt 1976

Kant, Immanuel Akad.Ausg.

Gesammelte Schriften I-XXVIII, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, ab Band von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1902ff.

Kierkegaard, Sören GS, 1-36 Abt. Gesammelte Werke 1-36 Abteilung, übersetzt und kommentiert von Emmanuel Hirsch, Hajo Gerdes und Hans Martin Junghans. 36 Abtei-

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Verzeichnis der zitierten Schriften lungen in 26 in Bdn., Düsseldorf/Köln 1950-1966

Maimon, Salomon GW

Gesammelte Werke I-VII, hg. von Valerio Verra. Nachdruck Hildesheim 1970

Marx/Engels MEW

Karl Marx, Friedrich Engels Werke Iff., hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus Berlin 1956ff.

Nietzsche, Friedrich MsA

Gesammelte Werke I-XXIII, Musarionausgabe, hg. von Richard Oehler, Max Oehler u. Friedrich Würzbach, München 1922-29

Novalis Seh

Novalis. Schriften I-III. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Darmstadt 31977-1983

Schiller, Friedrich NA

Werke, Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen XX-XXI, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962-63

Sinclair, Isaak von PhR

Philosophische Räsonnements, in: Hannelore Hegel, Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel. Frankfurt a.M. 1971, Anhang I, 244-283

Zeitschriften/Wörterbücher/S ammeibände ABG AGPh AZPh EdT

FichteSt

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Verzeichnis der zitierten Schriften HegelSt HJb HWP KantSt PhJ PhJG

TaS ThPh TRE TrG ZphF ZThK

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Verzeichnis der zitierten Schriften

Volkmann-Schluck, Karl-Heinz: Novalis' magischer Idealismus, in: Hans Stoffen (Hg.), Die Deutsche Romantik. Göttingen 21970,45-53 Wallner, Nico: Fichte als politischer Denker. Werden und Wesen seiner Gedanken über den Staat. Halle/Saale 1926 Walz, Gustav Adolf: Die Staatsidee des Rationalismus und der Romantik und die Staatsphilosophie Fichtes. Berlin 1928 Weischedel, Wilhelm: Der Zwiespalt im Denken Fichtes. Berlin 1962 Ders.: Der Gott der Philosophen. München 21972 Ders.: Der frühe Fichte. Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft. Leipzig 1939=Stuttgart-Bad Cannstatt 21973 Weiß, Christian: Fragmente über Sein, Werden und Handeln. Leipzig 1797 Wenk, Hans: Fichtes Lehre vom Wesen der Sprache, in: Deutsche Grenzlande 13 (1934)97-101 Widmann, Joachim: Die Grundstrukturen des transzendentalen Wissens nach J.G. Fichtes Wissenschaftslehre 18042. Hamburg 1977 Ders.: „...denn wohlverstanden hat er recht". Gedanken zu Fichtes Jenaer Bemerkungen über Leibniz, in: EdT, 456-478 Wienbruch, Ulrich: Dasein, in: HWP 11,15-22 Wildt, Andreas: Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption. Stuttgart 1982 Ders.: Recht und Selbstachtung im Anschluß an die Anerkennungslehren von Fichte und Hegel, in: Michael Kahlo (Hg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Frankfurt a.M. 1992, 127-172 Willms, Bernhard: Die totale Freiheit. Köln und Opladen 1967 Wundt, Max: Fichte-Forschungen. Stuttgart 1929=Stuttgart-Bad Cannstadt 21976 Zaczyk, Rainer: Die Struktur des Rechtsverhältnisses (§§ 1-4) im Naturrecht Fichtes, in: Michael Kahlo (Hg.), Fichtes Lehre vom Rechtsverhältnis. Frankfurt a.M. 1992, 9-27 Zahn, Manfred: Die Idee der formalen und transzendentalen Logik bei Kant, Fichte und Hegel, in: Anton M. Koktanek (Hg.), Schelling-Studien. FS für Manfred Schröter. München u. Wien 1965 Ders.: Fichtes Sprachproblem und die Darstellung der Wissenschaftslehre, in: TrG, 155-167 Ders.: Zeichen, Idee und Erscheinung, in: Manfred Lurker (Hg.), Beiträge zu Symbol, Symbolbegriff und Symbolforschung. Baden-Baden 1982, 217-228 Zinkernagel, Franz: Die Entwicklungsgeschichte von Hölderlins Hyperion. Straßburg 1907

Namenverzeichnis Aguirre, Antonio F. Anm. 55 Altenstein, Karl Freiherr vom Stein zum 41 Angelus, Silesius (Johannes Scheffler) 528 Appia (Paul Joseph?) 385 Arendt, Hannah Anm. 69 Aristoteles 68, 139,224,248,395,515 Arndt, Ernst Moritz 184-Anm. 69 Augustinus 349,437,515 Bachmaier, Helmut Anm. 21 Bacon, Francis 298 Baggesen, Jens Immanuel 367 Bardili, Christoph Gottfried 44 Bartuschat, Wolfgang Anm. 141 Baum, Manfred Anm. 3, 6, 36, 75 Baumanns, Peter Anm. 4, 58, 149, 186,187 Beck, Jacob Sigismund Anm. 124 Beissner, Friedrich 80,91, 107-Anm. 37, 39

Bergmann, Ernst 173-Anm. 179 Beyme, Karl Friedrich 41 Binder, Wolfgang 76, 113-Anm. 38 Bloch, Ernst Anm. 10 Blühdorn, Jürgen-Gerhard Anm. 166 Böhm, Max Hildebert Anm. 139 Broch, Hermann 366 Bröcker, Walter Anm. 39 Brosses, Charles de Anm. 50 Brüggen, Michael Anm. 9 Bruno, Giordano Anm. 184 Büssow, Charlotte Anm. 110 Cicero, Marcus Tullius 437,466,518 Claesges, Ulrich Anm. 112 Condillac, Etienne B. de Anm. 50 Con z, Carl Philipp Anm. 178 Corssen, Meta Anm. 27

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Namenverzeichnis

Delbrück, Johann Friedrich Gottlieb 41 Descartes, Rene 193, 205, 248, 259, 346-347, 368 Dick, Manfred Anm. 114 Dietrich, Ottmar 173 Dinkel, Bernhard Anm. 25 Drechsler, Julius 26 - Anm. 126 Düsing, Edith Anm. 150 Düsing, Klaus Anm. 2, 17, 23, 75, 106

Fleischer, Margot Anm. 74 Forberg, Friedrich Karl 493, 495-496, 501, 503 Frank, Manfred 10 Franz, Michael Anm. 18, 21, 23 Freyer, Hans Anm. 138 Friedmann, Jonas Anm. 167 Fuchs, Erich Anm. 69 Fuhrmans, Horst 7

Ebel, Johann Gottfried Anm. 30 Empedokles Anm. 184 Engels, Friedrich 54 Erhard, Johann Benjamin Anm. 159 Euklides von Megara 189 Euler, Leonhard 365 Euripides 465

Gadamer, Hans-Georg Anm. 74, 75 Gaier, Ulrich Anm. 27 Gawoll, Hans-Jürgen Anm. 19 Gerstenberg, Heinrich Wilhelm von 41 Giel, Klaus Anm. 46 Girndt, Helmut Anm. 8, 133, 135 Gloy, Karen Anm. 43, 100 Gobineau, Joseph Arthur Graf von Anm. 69 Goethe, Johann Wolfgang von 52, 184, 365-Anm. 67 Gogarten, Friedrich Anm. 57 Görland, Ingtraud Anm. 102 Grassi, Ernesto Anm. 109

Feinberg, Joel Anm. 146 Feuerbach, Anselm Anm. 159, 186 Feuerbach, Ludwig 464-Anm. 177 Fichte, Immanuel Hermann 7,10 Fischer, Kuno Anm. 104, 148, 178

Namenverzeichnis Griesebach, Eberhard Anm. 57 Grimm, Jacob 156 Gueroult, Martial 25, 238 - Anm. 4, 41 Gurwitsch, Georg Anm. 174 Habermas, Jürgen 10-Anm. 10 Hahn, Karl Anm. 69 Hamann, Johann Georg 15, 156, 159 Hammacher, Klaus Anm. 77, 81, 89, 93 Hardenberg, Karl August, Freiherr von 41 Hartkopf, Werner Anm. 76, 79 Hartmann, Nicolai Anm. 4, 119 Haugwitz, Christian Heinrich Kurt, Graf von 41 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2-5, 13, 17-19, 23. 29-30, 32-41, 45,46,49-59, 121, 133, 140, 188, 202-204, 249, 299, 365, 399, 436, 439, 465, 485, 491, 538-539, 541 -Anm. 5, 11,22,75, 154 Hegel, Hannelore Anm. 28 Heidegger, Martin l, 121-123, 349 - Anm. 12, 44, 45, 108,123, 169, 188 Heimsoeth, Heinz 7-Anm. 161, 181 Heinrichs, Johannes Anm. 8, 70

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Held, Klaus Anm. 55 Hellingrath, Norbert von 107 Hemsterhuis, Franz 74 Hennigfeld, Jochern Anm. 59, 61, 65 Henrich, Dieter Anm. 19, 23, 28, 29, 33, 34, 35, 108 Herder, Johann Gottfried 156 - Anm. 50 Herz, Henriette 41 Hesiod Anm. 38 Heydenreich, Karl Heinrich Anm. 19 Hildebrandt, Kurt Anm. 18 Hirsch, Emanuel Anm. 91, 171, 181, 182 Hobbes, Thomas 145,433,440, 451 -Anm. 157 Hoffmeister, Johannes Anm. 18 Hohler, Thomas P. Anm. 76 Hölderlin, Friedrich 11, 40, 46, 75-96, 105-113, 195, 252, 273, 430, 491, 511 - Anm. 20, 39, 48 Hollenbach, Michael Anm. 169 Holz, Harald Anm. 79 Homann, Karl Anm. 107 Homer 189, 321-Anm. 51

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Namenverzeichnis

Hufeland, Christoph Wilhelm 41 Humboldt, Wilhelm von 144, 158, 296-Anm. 53, 61 Hüpges, Theodor Anm. 70 Husserl, Edmund Anm. 55 Inciarte, Fernando Anm. 111 Ivaldo, Marco Anm. 140 Jacobi, Friedrich Heinrich 43, 44, 73, 76, 83, 126, 187, 254, 392 - Anm. 52, 89, 124, 186 Jamme, Christoph Anm. 19, 26, 33 Jergius, Holger Anm. 59, 171 Jung, Franz Wilhelm 98 - Anm. 30 Kalb, Charlotte von 41,79 Kant, Immanuel 52, 138, 164-165, 189, 191, 193, 200, 206, 253-259, 276, 295, 297298, 319, 340, 351, 415, 432-433, 439-440, 442, 447, 453, 466, 475, 476ff, 480, 486, 532 Kaulbach, Friedrich, Anm. 163 Kierkegaard, Sören 56, 110, 282, 541-542 - Anm. 176, 189 Kirchner, Werner 97 Köhler, Michael Anm. 156

Kondylis, Panajotis Anm. 19, 79 Kotzebue, August Friedrich Ferdinand, von 41 Krause, Friedrich Christian 149 Kroner, Richard Anm. 4, 76, 83, Kudszus, Winfried Anm. 40 Kues, Nikolaus von 118-Anm. 43 Kumamoto, Chukei 25-Anm. 122 Kurz, Gerhard Anm. 17 La Mettrie, Julien Offray de Anm. 175 Lammers, Wilhelm Anm. 61 Lask, Emil Anm. 88, 138 Lauth, Reinhard 12-Anm. 7, 8, 72, 96, 101, 125, 132 Leibniz, Gottfried Wilhelm 70, 167, 236, 247, 368, 373,505 Anm. 180, 181 Leon, Xavier Anm. 73, 96 Lewin, Rahel 41 Levy, Salomon 41 Locke, John Anm. 142 Lorenz, Konrad Anm. 99 Lübbe, Hermann Anm. 68

Namenverzeichnis Luther, Martin 110, 112, 169,466 Lütterfelds, Wilhelm Anm. 84 Macchiavelli, Nicolo 452-Anm. 158 Maimon, Salomon 138, 299-300-Anm. 159 Mandeville, Bernhard de 433 Marcel, Gabriel Anm. 184 Marquard, Odo Anm. l Meckenstock, Günter 238-Anm. 91, 129 Meinecke, Friedrich Anm. 71 Menne, Albert Anm. 143 Menze, Clemens Anm. 24, 61 Mesmer, Franz Anton Anm. 131 Metz, Wilhelm Joachim Anm. 95, 108 Müller, Ernst Anm. 18, 25 Müller-Vollmer, Kurt Anm. 60, 64 Napoleon 184-185 Naylor, Joseph G. Anm. 92 Newton, Isaak 365 Niethammer, Friedrich Immanuel 91-92, 94-Anm. 20 Nietzsche, Friedrich 464, 485 - Anm. 147

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Novalis 11, 139, 195, 252, 314-323, 397 Anm. 20, 35, 50, 51 Oesterreich, Peter 10 Oisermann, Teodor Anm. 76 Pagnoni-Sturlese, Marita Rita Anm. 105 Pannenberg, Wolfhart 436-Anm. 144, 155, 165 Parmenides 112. 115-116-Anm. 14 Paul, Jean Anm. 186 Paulus (Apostel) 59, 108 Pellegrini, Alessandro Anm. 18 Penzenkuffer, Christian Wilhelm Friedrich und Johann Friedrich 504-Anm. 179 Philonenko, Alexis Anm. 97 Pieper, Josef Anm. 183 Pindar 108-109-Anm.36 Plainer, Ernst 138, 159, 294-295-Anm. 50 Platon 90, 127-128, 144, 166, 171, 189191, 213-214, 235, 336, 340, 349, 375, 395, 510-511, 525 - Anm. 17, 74, 75, 78 Plotin 349-Anm. 118 Pöggeler, Otto Anm. 18, 27, 29, 34

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Namenverzeichnis

Proklos 349 Radermacher, Hans Anm. 88 Radrizzani, Ives Anm. 72 Reiner, Hans Anm. 166 Reinhold, Karl Leonhard 85, 140, 193, 252 - Anm. 81, 101 Riedel, Manfred Anm. 164 Rilke, Rainer Maria Anm. 11 Rohs, Peter Anm. 172 Römelt, Johannes Anm. 98 Röttgers, Kurt Anm. 79 Rousseau,Jean-Jacques 139,406, 408-Anm. 171 Ryan, Lawrence 96 - Anm. 27 Salat, Jacob 493-495 Sallis, John Anm. 108 Sartre, Jean-Paul 399-Anm. 168 Schäfer, Dorothea Anm. 110 Schelling, Friedrich Wilhelm 5-10, 13-14, 19-23, 43, 58, 85-88, 92-93, 101, 118-119, 156, 252, 272-275, 319, 325, 398, 487, 535537 - Anm. 25, 42, 94, 128, 170, 187 Scherer, Georg Anm. 184

Schiller, Friedrich von 30, 84, 94, 195, 476 - Anm. 2, 65 Schlegel, August Wilhelm 41, 296-Anm. 73 Schlegel, Friedrich 149-Anm. 69, 117 Schlosser, Johann Georg 254 Schmidlin, Guido Anm. 23 Schopenhauer, Arthur 188, 464, 516-Anm. 186 Schottky, Richard Anm. 71, 159 Schrader, Wolfgang H. Anm. 72, 118, 119, 157 Schulte, Günter Anm. 47, 86, 104, 132 Schulz, Walter Anm. 31,42,45, 56, 152 Schurr, Johannes 26-Anm. 85, 127 Schurr-Lorusso, Anna Maria Anm. 73 Schwarz, Hermann 172 Siep, Ludwig Anm. 8, 142, 144, 149, 151, 160, 162 Sieyes, Emmanuel Josef Anm. 30 Sinclair, Isaak von 11,84, 97-98-Anm. 30, 33 Solger, Karl Wilhelm 41,224 Sophokles

519 Spinoza, Baruch 68, 76, 79, 247, 293. 315, 331, 433, 442, 451, 518, 524, 533-534 -Anm. 157

Namenverzeichnis Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum 204 Stenzel, Julius Anm. 74 Stolzenberg, Jürgen Anm. 95, 120 Strack, Friedrich Anm. 17, 18, 24, 27 Strauß, Ludwig 104 - Anm. 30, 33 Struensee, Karl August von Karlsbach 41 Summerer, Stefan Anm. 115 Thomas von Aquin 15,203,518-519 Tilliette, Xavier 6, 10-Anm. 96, 126 Ungler, Franz Anm. 173 Varnhagen von Ense, Karl August 41 Vater, J. Severin Anm. 73 Verweyen, Hans Jürgen Anm. 13, 145, 163 Volkmann-Schluck, Karl-Heinz Anm. 116 Wallner, Nico Anm. 69 Walz, Gustav Adolf Anm. 69 Weischedel, Wilhelm Anm. 57, 103, 153, 185 Weisse, Christian H. 7

Weiß, Christian 76, 81-Anm. 19 Wenk, Hans Anm. 70 Widmann, Joachim 25, 238-Anm. 41,90, 180 Wienbruch, Ulrich Anm. 44 Wildt, Andreas Anm. 144, 146 Willms, Bernhard Anm. 71, 155 Wittgenstein, Ludwig Anm. 84 Wolfart, Karl Christian Anm. 131 Wolff, Christian 206, 295-Anm. 44, 81 Wundt, Max Anm. 87, 118 Zaczyk, Rainer Anm. 148 Zahn, Manfred Anm. 63, 65, 66, 67, 87 Zelter, Karl Friedrich 41 Zinkernagel, Franz 88 Zwilling, Jacob 11,97, 104-106-Anm. 33, 35

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Sachverzeichnis Absolute, das 1-14, 23, 42-44, 67-69, 97, 98, 105, 119, 126-134, 161162, 245-246, 273, 282, 314-317, 426, 534, 540 Abstraktion, absolute 23, 106 -(Sinclair) 102-103 -(Zwilling) 104-105 Achtung 440,447-448, 453,473 Affektenlehre 514-524 Ahnung 322-323 Als, das 125, 222, 266-267, 354-355 Anerkennung 432-446, 454. - Anm. 56 Angst 60-61, 66, 70,517 Anschauung 276-278, 280, 311 - ästhetische 88, 91, 93, 273 - contemplative 272-275. - Anm. 103 -intellektuelle 20-21, 85-88, 9296, 230-231, 250-275, 281-289, 443.-Anm. 95, 96, 97 - inutitus derivativus 253-254 - des Soll 276-283 Anstoß 145, 309, 352 Antinomie 197, 415 Atheismus 493-502 Athesis 99 Attention 360, 364, 370 Aufforderung 153-155, 369, 373 Auge - für sich 222 - in sich geschlossenes 288, 326327 -sterbliches 21, 274

Autonomie 414,468,470,479, 512 Bahn, exzentrische - Anm. 24 Begriff, Begreifen 19-20, 42-43, 226228, 235, 236, 539-540 - empirischer 226-229, 311 -göttlicher 5 39 - des Unbegreiflichen 242-246 -eigentlicher Weltschöpfer 352358 Bestimmung 344-345, 366-367, 373374, 396-397 Bild 124, 125-129, 236, 238-241, 278, 280, 297, 336-337, 378, 389. Anm. 126 -Gottes 128-130, 279, 282-283, 325,425 -Naturbild/übersinnliches Bild 373-384 - Potenzen des Bildes (B^B^B3) 130-132 - "spekulatives" 128. - Anm. 48 Billigung 473-475 Böse, das 7,421-423, 464, 480, 541. Anm. 139, 140 causa sui 268, 350. - Anm. 100 Chaos 318-319, 322-323 Communikation 139, 143-149 Dasein 120-126,354,427 - ontologisches 51, 121-122, 202203

Sachverzeichnis - fundamentalontologisches 122123 Denken 226-229, 281 - Denkform 232 Dialektik 187-201. - Anm. 94 -limitative 198-201, 213 -megarische 189 - platonische 189-190,379. - Anm. 74 -spekulative 190-192, 202-204. Anm. 75, 76 -transzendentale 188-192 Dichter 113, 164, 171, 320-321, 476, 511 Ding 300, 310, 378 - an sich 254-255 Durch, das 11-12, 42, 102, 213-223, 236, 242, 355, - lebendiges 246-249, 339-345 Durchheit 246, 333, Egoismus, philosophischer 367 Einbildungskraft 293-334 - dichtende 295-297. - Anm. 106 -produktive 297-298, 313. Anm. 108 - reproduktive 295, 297 Einheit, absolute 117-120, 242 - parmenideische 335, 372 -systematische 193, 204-212 Einschränken 196-197, 201, 418, 439 Ekstasel3, 21-23, 275 Empfindung 140-141, 255, 362-363, 527 Endlichkeit 35-36, 351 - spekulative 50-59 - und Unendlichkeit 35, 308-313 Ephorat 450 Erinnerung 294,322-323

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Erkenntistheorie, evolutionäre — Anm. 99 Erscheinungslehre 25, 45-49, 66-73, 337-338, 376, 492 Ethiko-Theologie 508 Etwas/Anderes 202-204 Evidenz 199, 245, 289 Faktizität 56 Farbenlehre 365-366 Freiheit 22, 154-156, 326-328, 442, 468, 498, 538-539 -erscheinende 360-361. - Anm. 130 -formale 327-331 - moralische 328, 467 Fremderfahrung 145-146, 367-369, 491-492, 506.-Anm. 55 Fünffachheit 234-242, 283-288, 333 -materiale 237, 341-342, 384392, 456-458. - Anm. 129 - formale 237-242, 384-392 - historische - Anm. 91 - methodologische 237-238 Furcht 62, 65, 518, 524 Gefühl, der Abhängigkeit 327-328, 334 Geisterwelt 70, 72, 183-184, 365, 374, 379, 487, 490-492, 504. - Anm. 55,72 Gewissen 461-484. - Anm. 166 - Orakel der ewigen Welt" 488492 Gewißheit 18, 24, 345-351 Gott 12, 19, 20, 38, 43, 44, 50-51, 58, 65, 68-69, 73, 248, 315, 338, 389, 425-431,495

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Sachverzeichnis

-der persönliche 107, 500-502, 504, 527-528 -der unbildliche 170-171 - der unbekannte 74-75, 107-113 - vestitus/nudus 110, 112 Grenze 33, 52, 310 Grund/Existenz 58, 537 Harmonie, prästabilierte 70, 373, 505. -Anm. 181 Haß 62, 518-519 -heiliger 519-5 22 Hen 315, 336, 349 -kai Pan 10, 75, 87, 89, 533-535 Hiatus, irrationalis 339, 347-351 Hoffnung 62, 65, 518-519, 522-523, 524 Humanismus, ästhetischer 93-94 Ich 10, 12, 29, 72, 76, 79, 82-83, 91, 104, 150-151, 169, 267-271, 276, 280, 387-388, 444-445, 475, 481. - Anm. 84 - absolutes 85-87, 193, 205, 208212 - das andere 328, 369, 446, 505. Anm. 152 - und Du 154, 369, 444. - Anm. 57 Ideal 313 Idealismus 1-14, 43-44, 101, 195-196, 241,346-347,351,532-542 - magischer 318-323 - quantitativer 60 Idee l, 109, 169-170,510-511 -absolute5, 249, 538-539 Identität, absolute 16, 80, 117, 536 Imaginationskraft, produktive 314-317

Imperativ, kategorischer 47, 257, 329, 507,510 Indifferenz 17-18, 117-118, 536 Inividualität/Individuum 151-152,370374,444 - Individuen-Welt 424 Inkludenz 12, 68, 119-120, 335-336 Interesse 475 Interpersonalität 143-144, 366-374, 445-Anm. 125 Johannesprolog 352 Judenfrage - Anm. 69 Kategorien, Deduktion der 305 Kausalität/Gesetz der Wirksamkeit 301-303,304-305,469 Koinzidenz 118-119. - Anm. 43 Konstruktion - des Unkonsturierbaren 242-245 Kosmopolitismus 176, 178-188. Anm. 71 Kosmotheologie 406, 497-498, 501 Kultur 407-412,460 Leben 42, 53-54, 63-65, 66-73, 102, 217-219, 315-316, 426-427, 514, 530.-Anm. 15 Licht 245, 338, 349 — sich selbst effizierendes 350 - Lichtung 349 Liebe 62-66,436, 440, 515-517 -absolute 65-66, 525-531 - Wille der 58, 537 Linienziehen 67, 345, 362, List der Vernunft 485 Logik - formale 224, 227-228

Sachverzeichnis - spekulative 4-5, 224-225, 229. Anm. 189 - transzendentale 224-226. Anm. 87 Magnetismus 400. - Anm. 131 Mannigfaltiges 333, 343, 371-372, 412 Materie 280, 362-363 Mensch 59-62, 63, 122, 144-145, 209210, 331, 408-410, 483-488, 540542 -Menschengeschlecht 427, 523. Anm. 163 - Menschenliebe 65, 515-524 Metaphysik l, 26, 61, 340, 351, 375, 532-534 Methode 192-198, 247, 284-285, 293294 Monade 70, 153,368,505 Moralität 390, 401-402, 405-406, 447.448, 454-455, 459-460, 462492 - niedere 47, 507-509 -höhere456, 509-512 Moraltheologie 482-483, 493-502, 503-504. - Anm. 179 Mystizismus 65, 162, 318-321, 338339,415,493,514 Mythos 78, 96, 111-113. - Anm. 39 Nation 163, 168, 172, 177 Natur 71, 89-90, 97, 319-321, 377, 395-431 - Herrschaftsauftrag über die 410411, 429.-Anm. 137 - Kultivierung der 407-412, 428429 -Material der Pflicht 401, 405-

567

406, 412-425.-Anm. 138 - Material des Bürgerfleißes 404 - Worin der Bildung Gottes 425431 Naturglaube 47, 215, 240, 391, 402404 Naturphilosophie 40, 47, 429-430. Anm. 117, 132 - spezielle 400 Naturprodukt 396. - Anm 136 Naturrecht 441-443. - Anm. 159 Naturwille 282-283 Nichts, das 56, 157, 215. - Anm. 12 Nihilismus 14. 24, 215, 280, 541 - pathologischer 448, 540 Objekt 305, 389-390 Ontologie 532, 540-541 Paideia 144, 214. - Anm 86 Paradox 109-110,430 Paralogismus 256-257 Patriotismus 176, 178-181 -Schollenpatriotismus 177 Pflicht 461, 470-471, 478-480, 507 - Materiale der 412-425 Phänomenologie 45-48, 346, 375 - des Geistes 3^1, 375-376 Philosophie 9, 26, 45, 72-73, 91, 100, 242, 258-259, 284, 392-393 - positive/negative 2, 5-10 - Vereinigungsphilosophie 74, 79, 95.-Anm. 17 - der Vision 254 Physik, transzendentale 319-320, 397. - Anm. 116 Physikotheologie 429 Poetik, transzendentale 318-323 Preußen 179-180, 184. - Anm. 92

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Sachverzeichnis

Qualität 51 Quantitabilität 209, 343-344 Raum 227, 280, 362 Realismus 12,44, 101, 196, 241 - hypothetischer - Anm 99 Recht 47, 390-391, 404-405, 428, 433-460 Rechtslehre 432-433, 462 Reflexion 260, 261-271, 359, 366 -Grundgesetz der 48, 361-362, 506 - und Liebe 526-527, 529, 531 Regel, goldene 458. - Anm. 163 Religion 47, 389-390, 406-407, 494531 Repräsentation 236-237 Revolution - französische 184, 428, 523 -der Seele214 Schönheit 88-94, 476, 509, 511 Schranke 35-39,201-204,338 Schwärmerei 65, 252-254, 485-486 Schweben 239, 308-313, 314-317, 324-334. -Anm 121 Sehen 69, 70-71, 219-223 Sehnsucht 62, 64-65, 472,516 Sein 13, 67, 160-161, 314, 525-526. Anm. 62 - im einzigen Sinne des Worts 82-83, 87 -in sich geschlossenes 12-13, 114-120 - parmenideisches 51, 115, 116 Seinsetzen 214-223 Selbstbewußtsein 12, 83, 256, 258265.-Anm. 112

Selbstbewußtseinstheorie 265-271. Anm. 100 Selbsterhaltung 433, 451-452, 518 Selbstverleugnung 75, 97-103 Selbstvernichtung 23, 49, 129, 242246, 330-331 Seligkeit 65-66, 517 Sichverstehen 131-132 Sittengesetz 447, 479. - Anm. 172 Skeptizismus 16, 92-93, 501 Soll, das 12,43, 283, 353-354 - absolute/hypothetische Anm. 9 - aletheuische 31-32, 124-125, 338-339, 353-354 - du kannst; denn du sollst 499500 Sollen 23, 29-49, 352-353 - und Schranke 35-39, 201-202 Sollenskritik 30, 32-39. - Anm. l, 10 Spaltung 385 - in Denken und Sein 46-47, 243, 337,339-340,345-351 - in sinnliche und intelligible Welt 47, 243, 337, 340-342 - in unendliche Vielheit 48, 342345 Spätidealismus 7 Sprache 138-186 - Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen 138143 - Durchströmungspunkt der Sinnenwelt und der Geister 166 - Erzeugerin der Vernunft 159 - Mittel der Verständigung 146147, 168 - Sinnbildsprache 162-171, 489 -Ursprung der 150, 156-158, 182-183.-Anm. 59

Sachverzeichnis Sprachkritik 147-149, 158-163, 166, 170-171, 187,489. - Anm. 52, 53, 54,63 Sprechakte 142-143, 155, 437-438. Anm. 52, 53, 58 Streben 62, 79,91,312-313 Subjekt/Objekt 10, 17, 82, 93, 273 Subjektivitätsvorwurf 2-3, 33-34, 41. - Anm. 4 Substanz 76, 79, 301, 303-304, 305307 Symbol 164-165, 430.-Anm. 65, 67 Synthesis 193-194 - post factum 243, 387

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Urraum 345, 362 Ursprache 181-186. - Anm. 73 Urständige, das -9 Urteil 80-85, 206 -thetisches 10, 193, 204-212. Anm. 83, 84 - unendliches Anm. 82 Ur-teilung 80-81, 84. - Anm. 22 Urteilsformen, qualitative 205-208 Urvolk72-186 Urvon, das 44, 348, 349-350 Veränderung 2-53 Vielheit, unendliche - der Dinge 358-366 - der Iche 70, 366-374 Volk 67-168, 175-177 Von, das 345-351, 353 Vorhandensein 355-357. - Anm. 123

Tathandlung 83, 264, 278, 387, 444, 491 Tod 53-55, 59-62, 66-73, 247-248, 472. - Anm. 12 Trägheit 422-423 Trauer 50, 53-55, 57-59. - Anm. 11 Trieb 280 - ästhetischer 477. - Anm. 170 -Grundtrieb 47M72 -Naturtrieb 415-417, 420, 465, 472,476 -reiner 415, 417-418, 472 - sittlicher 415, 419-420, 472, 476 Triplizität 2, 95-96, 198, 329. - Anm. 76,79

Wahrheit 14-26, 61-62, 117, 530 Wechselbestimmung 194-199,301,470 Welt 351-358, 359, 365, 425, 513-514 -übersinnliche/sinnliche 375-384 Weltseele 380, 396, 429. - Anm. 128 Wille 280-282,382-383,444-445, 485, 486-488, 492 -der Liebe 58, 537 Wissen, absolutes 3-4, 23, 69, 121134,282,325-334,354

Unendlichkeit - abstrakte 37-38 - affirmative 39, 55, 202-204 -schlechte 37-39, 48-49, 202. Anm. 6 Ungrund 537 Unsterblichkeit 54, 69-70, 72 Urbegriff 223-224, 232-233, 236- 239

Zeichen 112-113, 138-140, 154-155, 166-167, 187.-Anm. 66 Zeit 64, 273-274, 306-308, 364, 427428,445-446,530,531 Zwang 448-451, 452, 462^63 Zweifel, metaphysischer 299, 346-347 Zufriedenheit 466, 475-477. - Anm. 169

WOLFGANG JANKE

Fichte, Sein und Reflexion Groß-Oktav. XVI, 428 Seiten. 1970. Ganzleinen DM 104, ISBN 3110064367

Historische Dialektik Groß-Oktav. XI, 533 Seiten. 1977. Ganzleinen DM 185, ISBN 3110072866

Existenzphilosophie Oktav. 237 Seiten. 1982. Kartoniert DM 24,80 ISBN 3110082462 (Sammlung Göschen, Band 2220)

JOACHIM WIDMAN

Johann Gottlieb Fichte Einführung in seine Philosophie Oktav. 288 Seiten. 1982. Kartoniert DM 19,80 ISBN 3 110077832 (Sammlung Göschen, Band 2219)

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NICOLAI HARTMANN

Die Philosophie des deutschen Idealismus l. Teil: Fichte, Schelling und die Romantik — 2. Teil: Hegel 3., unveränderte Auflage. Groß-Oktav. VI, 575 Seiten. 1974. Ganzleinen DM 116,- ISBN 3 11 004878 7

Zur Grundlegung der Ontologie 4. Auflage. Groß-Oktav. XX, 296 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 86,ISBN 3110001489

Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis S.Auflage. Groß-Oktav. XVI, 572 Seiten. 1965. Ganzleinen DM 156,ISBN 3110001500

Philosophie der Natur Grundriß der speziellen Kategorienlehre 2., unveränderte Auflage. Groß-Oktav. XXIV, 713 Seiten. 1980. Ganzleinen DM 194,- ISBN 3110047497

Ethik 4., unveränderte Auflage. Groß-Oktav. XXII, 321 Seiten. 1962. Ganzleinen DM 168,- ISBN 311 0001411

Ästhetik 2., unveränderte Auflage. Groß-Oktav. XII, 477 Seiten. 1966. Ganzleinen DM 98,- ISBN 3 11 0001462 Preisänderungen vorbehalten

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