Volksleben zwischen Zunft und Fabrik: Studien zu Kultur und Lebensweise werktätiger Klassen und Schichten während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus [Reprint 2022 ed.] 9783112619384, 9783112619377


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German Pages 556 [557] Year 1983

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Volksleben zwischen Zunft und Fabrik: Studien zu Kultur und Lebensweise werktätiger Klassen und Schichten während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus [Reprint 2022 ed.]
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Volksleben zwischen Zunft und Fabrik

AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR ZENTRALINSTITUT FÜR GESCHICHTE

Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte BAND 69

Volksleben zwischen Zunft und Fabrik Studien zu Kultur und Lebensweise werktätiger Klassen und Schichten während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus

Herausgegeben von Rudolf Weinhold

Mit 30 Abbildungen auf Tafel I - X V I , 3 Karten und 3 Figuren

AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1982

Erschienen im Akademie-Verlag, D D R - 1 0 8 6 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Lektorin: Hildegard Palm © Akademie-Verlag Berlin 1982 Lizenznummer: 202 . 100/148/82 Einband und Schutzumschlag: Annemarie Wagner Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", 7400 Altenburg Bestellnummer: 753 815 8 (2034/69) • LSV 0705 • P 255/80 Printed in G D R DDR 4 8 , - M

Inhalt Rudolf Weinhold Einleitung

7

Helmut Wilsdorf D a s Aufkommen der „Berg-Fabriquen" durch technische Innovationen in den Randbereichen des erzgebirgischen Montanwesens (Mit 19 Abbildungen auf Tafel I - X , 2 Karten und 2 Figuren)

21

Bernd Schöne Posamentierer - Strumpfwirker - Spitzenklöpplerinnen. Zu Kultur und Lebensweise von Textilproduzenten im Erzgebirge und im Vogtland während der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus (1750-1850) (Mit 4 Abbildungen auf Tafel X I - X I I )

107

Rudolf Weinhold Meister - Gesellen - Manufakturier. Zur Keramikproduktion und ihren Produzenten in Sachsen und Thüringen zwischen 1750 und 1830 (Mit 4 Abbildungen auf Tafel X I I I - X I V )

165

Siegfried Kube Im Schattenkreis der Residenz. Zu Lebensbedingungen und Lebensweise werktätiger Schichten in Dresden, insbesondere während des 18. Jahrhunderts (Mit 1 Abbildung auf Tafel X V , 1 Karte auf Tafel VIII und 1 Figur) . . .

251

Alfred Fiedler Vom Armen-, Bettel- und Räuberwesen in Kursachsen, vornehmlich während der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts

285

6 Rudolf Quietzsch Arbeit und Gerät altenburgischer Bauern zwischen 1700 und 1850

319

Anneliese Schmitt Die „Halberstädtischen gemeinnützigen Blätter zum Besten der Armen" (1785 bis 1810). Inhalte und Probleme einer Zeitschrift der Popularaufklärung in der Periode des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus

369

Brigitte Emmrich „Wir haben's Recht, ganz ungefragt". Zur Rolle antifeudaler und demokratischrevolutionärer Lieder und Gedichte des werktätigen Volkes in der Zeit der Französischen Revolution, dargestellt für das Gebiet des ehemaligen Kursachsen (Mit 2 Abbildungen auf Tafel XVI)

423

Abbildungsverzeichnis

483

Register Tafelteil

*

486

Einleitung Während der vergangenen zehn Jahre hat die Volkskunde in der D D R , vor allem im Rahmen der A k a d e m i e der Wissenschaften, durch die historische Vertiefung ihres Forschungsansatzes eine Präzisierung ihrer Arbeit erreicht. D i e s e Bemühungen fanden Niederschlag in einer Reihe von Veröffentlichungen, die sowohl als Buchpublikationen als auch in der Form von Abhandlungen in der neuen F o l g e des „Jahrbuchs für Volkskunde und Kulturgeschichte" und anderen Publikationsorganen erschienen sind. Erste, wichtige Impulse erhielt die Forschung durch ein im Zusammenhang mit dem Grundriß der Geschichte des deutschen Volkes 1 initiiertes Unternehmen, das 1972 als „Abriß zur Geschichte der Kultur und Lebensweise der werktätigen K l a s s e n und Schichten des deutschen Volkes vom 11. Jahrhundert bis 1 9 4 5 " erschien 2 . D i e s e D a r stellung war das Ergebnis des Zusammenwirkens von Ethnographen und Folkloristen. Sie war ein erster Versuch, den volkskundlichen Aspekt des historischen Gesamtprozesses in seiner Eigenwertigkeit, aber gleichzeitig auch in seiner Abhängigkeit und Bedingtheit von der geschichtlichen Entwicklung zu erfassen. D a b e i offenbarten sich die großen Möglichkeiten und Chancen, die sich unserem Fach grundsätzlich bieten. Zum anderen aber, und auch hier liegt der Nutzen dieses Unternehmens, wurden erhebliche Lücken iin Fundus der Erkenntnisse und Fakten sichtbar. Sie resultierten nicht allein aus mangelndem Wissen, sondern auch aus theoretischen und methodologischen Unzulänglichkeiten des traditionellen Forschungsansatzes und -Verfahrens und somit letztlich des Wissenschaftsverständnisses. Diese Mängel wurden in der Einleitung des „ A b r i s s e s " markiert, auf ihre Ursachen hingewiesen und - wenigstens in Ansätzen - Wege zu ihrer Behebung gewiesen 3 . In der Folgezeit wurden ganz erhebliche Anstrengungen im Sinne dieser Überlegungen und Anregungen unternommen. Ein Resultat solchen Bemühens ist der zum Gedenken an den 450. Jahrestag des Höhepunktes der frühbürgerlichen Revolution erschienene Studienband „ D e r arm man 1525" 4 , der den volkskundlichen Umkreis dieser „radikalsten 1

2

4

Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß. Berlin 1974 (im folgenden zitiert als „Grundriß"). = Wissenschaftliche Mitteilungen der Deutschen Historiker-Gesellschaft. Berlin 1972, Heft I—III (im 3 Ebenda S. 9 ff. folgenden zitiert als „Abriß"). Hg. Hermann Strobach, Berlin 1975 ( = Veröffentlichungen aur Voikskunde und Kulturgeschichte, Bd. 59).

8

WEINHOLD

T a t s a c h e d e r deutschen G e s c h i c h t e " 5 v o r 1 8 4 8 beleuchtet, i n s b e s o n d e r e auch hinsichtlich d e r Zeugnisse für p r o g r e s s i v e A k t i v i t ä t e n d e r w e r k t ä t i g e n K l a s s e n u n d Schichten. In d i e n e u e r e u n d n e u e s t e Z e i t führt eine auf m e h r e r e B ä n d e g e p l a n t e U n t e r s u c h u n g über d i e Kultur wobei

und Lebensweise der Agrarproduzenten d i e unterschiedlichen

im Gebiet

Schichten des sich f o r m i e r e n d e n

der Magdeburger und e n f a l t e n d e n

Börde, Land-

p r o l e t a r i a t s einen S c h w e r p u n k t d e r F o r s c h u n g bilden 6 . U n d schließlich b o t das H e r d e r jahr 1 9 7 8 A n l a ß u n d G e l e g e n h e i t , einige A s p e k t e u n d P r o b l e m e des V o l k s l e b e n s w ä h r e n d d e r z w e i t e n H ä l f t e des 1 8 . u n d zu B e g i n n des 1 9 . J h . , also w ä h r e n d d e r P e r i o d e des Ü b e r g a n g s v o m F e u d a l i s m u s z u m K a p i t a l i s m u s , kritisch zu e r ö r t e r n 7 . Die Arbeit am Abriß hatte besonders für den Kapitalismus gewichtige Probleme erkennen lassen, die im Text formuliert wurden, deren Lösung jedoch damals noch nicht in Angriff genommen werden konnte. Als Forschungsdesiderat wurde vor allem die Lebensweise und Kultur der Arbeiterklasse in Stadt und Land gekennzeichnet. Hier mangelte es an vielen wesentlichen Einsichten, aber auch noch an einer spezifischen Methodologie für die Gewinnung grundsätzlicher Erkenntnisse. Diese Feststellung läßt sich - in gewissen Grenzen - auch auf jene Ubergangszeit erweitern, die hier im folgenden volkskundlich untersucht werden soll. Denn in ihr entfalteten sich die Frühformen der Erscheinungen, die das Volksleben während der Epoche des Kapitalismus prägen sollten. Und gerade in dieser Hinsicht blieben die entsprechenden Passagen des Abrisses trotz vieler aufschlußreichen Feststellungen und Bemerkungen, manches schuldig. In Einsicht dieser Tatsache wurden drei Themenkreise ausdrücklich zur weiteren Bearbeitung empfohlen: D i e Lage der [städtischen] vorproletarischen Schichten8, die Lebensweise und Kultur der Landarmut 9 sowie die Veränderungen des Bewußtseins und Verhaltens einzelner Schichten des werktätigen Volkes in der Reaktion auf die Französische Revolution 10 . D e r hier v o r g e l e g t e S t u d i e n b a n d sucht nach A n t w o r t e n auch und b e s o n d e r s im B e r e i c h dieser F r a g e n k o m p l e x e . Seine A u t o r e n sind sich b e w u ß t , d a ß sie, v o n einigen inzwischen in dieser Richtung geleisteten T e i l u n t e r s u c h u n g e n abgesehen 1 1 , e r s t e Schritte a u f einem neuen T e r r a i n

unternehmen.

Dementsprechend

haben

diese A r b e i t e n t e i l w e i s e

einen

provisorischen C h a r a k t e r , u n d sie decken n e u e P r o b l e m e auf, d i e w e i t e r e , m o n o g r a p h i s c h e B e h a n d l u n g f o r d e r n . E i n e solche F o r t f ü h r u n g der U n t e r s u c h u n g ist auch beabsichtigt. Sie 5 6

M E W 1, S. 386. Der erste Halbband des 1. Bandes (Hg. Hans Jürgen Räch und Bernhard Weißel), Berlin 1978, erschien unter dem Titel „Landwirtschaft und Kapitalismus.

Zur Entwicklung der ökonomischen

und sozialen Verhältnisse in der Magdeburger Börde vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des ersten Weltkrieges" (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, 66/1). 7

S. die Aufsätze von Hermann Strobach, Brigitte Emmrich, Rudolf Weinhold, Ulrich Bentzien und

8

Abriß, S. 174, Anm. 1.

Ursula Adam im Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 21, 1978 ( N F Bd. 6). 9

Ebenda, S. 217, Anm. 1.

10

Ebenda, S. 199, Anm. 1.

11

Bernd Schöne, Kultur und Lebensweise Lausitzer Bandweber ( 1 7 5 0 - 1 8 5 0 ) . Berlin 1977. Weiteres s. Anm. 7, speziell die Aufsätze von Brigitte Emmrich, Muth! Muth! Franken . . . Die kursächsische Liedverbotsliste von 1802. Ein Beitrag zu den Liedverboten nach der Französischen Revolution; Rudolf Weinhold, Zwischen Handwerk und Manufaktur. Zur Geschichte einer Dresdner Töpferfamilie; Ulrich Bentzien, Fortschritte und Fortschrittsträger der deutschen Landwirtschaft im Spätfeudalismus.

Einleitung

9

steht in direktem Bezug zu der grundsätzlichen Forschungsorientierung des Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde im Zentralinstitut für Geschichte, die sich aus dem übergreifenden Thema „Soziale Revolution und Kulturfortschritt im historischen Wandel von Lebensweise und Kultur der werktätigen Klassen und Schichten des deutschen Volkes" ableitet. Eine erste Analyse in der vorgegebenen Richtung muß sich notwendigerweise in ihren Ansprüchen begrenzen. Dazu zwingen zunächst die Probleme der Stofferschließung. Die Materialbasis der hier vorgelegten Studien bilden zu einem nicht unerheblichen Teil Archivalien, deren Auswahl jedoch noch nicht in systematischem, breiten Ansatz vorgenommen werden konnte. Erforderlich ist auch, wie die Arbeiten erkennen ließen, ein weiteres intensives Literaturstudium, das insbesondere die älteren Reiseberichte und Landesbeschreibungen sowie nach Möglichkeit Biographien erfassen sollte. Schwierigkeiten ergaben sich auch aus der Tatsache, daß es an verwertbaren Forschungen zur hier behandelten Thematik mangelte. Diese Feststellung bezieht sich auf die entsprechende Materialaufbereitung etwa seitens der Wirtschaftswissenschaften, besonders der Wirtschaftsgeschichte und der Geschichte der Produktivkräfte. Rudolf Forbergers kenntnisreiche Untersuchung über die Manufaktur in Sachsen12 hat hier eine erste Bresche geschlagen. Aber auch er konnte, seiner Problemvorgabe entsprechend (die zudem das Verlagswesen weitgehend ausläßt) keineswegs alle jene Sachkomplexe behandeln, auf deren Darstellung der Volkskundler bei der Frage nach der Lebensweise der unmittelbaren Produzenten besonderen Wert legt - etwa die konkreten Arbeitsbedingungen, die Arbeitsteilung, die Lohnformen und die wechselnde Lohnhöhe, um nur einiges wesentliche zu nennen. Da solche, noch im Vorfeld unseres eigentlichen Gegenstandsbereiches zu lokalisierende Fakten oft nicht vorlagen, waren die Autoren gezwungen, sie für ihre Studien nach Möglichkeit selbst beizubringen. Daß ein derartiges Unternehmen mitunter nur Zwischen- und Teilergebnisse brachte, wurde bereits erwähnt. Aber ohne diese - einigermaßen tragfähige - Basis wäre es nicht möglich, weiteres, spezifisch volkskundliches Wissen zu erlangen. So erklärt sich auch die scheinbare Disproportion einiger Beiträge, bei denen die notwendigen Vorfelduntersuchungen einen auf den ersten Blick unverhältnismäßig großen Umfang aufweisen. Auf Grund dieser Gegegebenheiten war eine regionale und sachliche Eingrenzung des zur Behandlung stehenden Problemkomplexes erforderlich, wenn man zu aussagekräftigen, verwertbaren Ergebnissen kommen wollte. Dabei hing die Auswahl der Einzelthematik mit von den spezifischen Fachkenntnissen der Mitarbeiter des Bandes ab. Die Bestimmung des Untersuchungsterritoriums - Kursachsen und seine Nachbargebiete - erfolgte jedoch primär auf Grund einer vom Allgemeinen ins Spezifische gehenden Analyse des zu behandelnden Zeitabschnitts. Sie soll hier in ihren Hauptzügen resümiert werden 13 . 12

Rudolf Forberger, Die Manufaktur in Sachsen vom Ende des 1 6 . bis zum Anfang des 19. Jahr-

13

S. dazu Rudolf Weinhold, Konzeption für eine Untersuchung über Lebensweise und Kultur werk-

hunderts. Berlin 1 9 5 8 . tätiger Klassen und Schichten im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus unter besonderer Berücksichtigung des sich herausbildenden Manufakturproletariats. In: Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums f ü r Völkerkunde Dresden, Band 3 5 (Berlin 1 9 7 6 ) , S. 87 ff.

10

WEINHOLD

D i e neue E t a p p e der Entwicklung, die in der Geschichte des deutschen Volkes nach dem E n d e des Dreißigjährigen Krieges einsetzte und bis zur Französischen Revolution reichte 14 , war in ihrem Beginn gekennzeichnet durch eine katastrophale Situation in allen Bereichen des Lebens. haft hatten die jahrzehntelangen K ä m p f e die vordem in Landwirtschaft und Gewerbe Produktivkräfte vernichtet. Kapitalverluste, die Verdrängung der für den Fernhandel

Massen-

wirksamen arbeitenden

Berufsgruppen von ihren angestammten Absatzgebieten sowie die Abschnürung des Warenverkehrs vom sich ausbildenden Weltmarkt behinderten die weitere Entwicklung in hohem Maße. In der Folge des Krieges konnten die deutschen Territorialfürsten ihre Macht weiter festigen. Diese Stärkung - und im weiteren die der Feudalklasse überhaupt - sowie die damit in Zusammenhang stehende Förderung und Vertiefung der staatlichen Zersplitterung schränkten die Möglichkeiten für die Entfaltung einer kapitalistischen Entwicklung und der Herausbildung eines nationalen Marktes ganz erheblich ein. D i e Manufakturbourgeoisie konnte sich deshalb nicht - wie etwa in England

-

im nationalen Rahmen, sondern lediglich innerhalb der Grenzen der Territorialstaaten entwickeln. Etwa seit den 80er Jahren des 17. Jh. begann auf der Grundlage der Wiederaufbauarbeit besonders dei Bauern,

Handwerker und Gewerbetreibenden

ein erneutes Wachstum

kapitalistischer

Elemente. E s trat in Erscheinung speziell auf dem Gebiet der Textilproduktion und der Metallverarbeitung, und zwar in der Form einer Ausweitung der Verlagsbeziehungen sowie in der Gründung vor allem zerstreuter Manufakturen. Seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jh. verstärkte sich diese Entwicklung. Einige deutsche Territorien erlebten damit die Entfaltung ihrer

Manufakturperiode.

Solche lokale Zentren bildeten, trotz starker feudaler Hemmnisse, vornehmlich der rheinisch-westfälische Raum, die Kurmark Brandenburg und Kursachsen. Während jedoch das Handels- und Manufakturbürgertum der mittleren preußischen Provinzen wegen Mangels an ausreichendem Kapital noch stark in der Abhängigkeit seines Landesherren stand, begann

sich -

unter teilweise günstigeren

ökonomischen Voraussetzungen - in den rheinisch-westfälischen Gebieten und in Kursachsen eine von den Territorialfürsten

finanziell

und ideologisch weitgehend unabhängige Bourgeoisie zu entfalten.

Bereits vor der Mitte des 18. Jh. hatten hier in allen damals wichtigen Gewerbezweigen Verlag, zerstreute und zentralisierte Manufaktur einen spürbaren Anteil an der Gesamtproduktion errungen. D i e sich entfaltenden neuen Produktionsverhältnisse waren anfangs zum Teil stark durch feudale Vorbehalte und Eingriffe belastet 1 5 . D a z u kam, daß sich d a s zur kapitalistischen Wirtschaftsweise übergehende Bürgertum in den meisten Territorien - von den genannten Ausnahmen abgesehen - eng an die Fürstenmacht anlehnte. G a n z allgemein war die sehr zögernde Entwicklung bourgeoiser Elemente begleitet von einer zunehmenden Verelendung breiter Bevölkerungsschichten in Stadt und Land. Detailliertes Zeugnis dafür geben die hier vorgelegten Untersuchungen über die Armut und die von den herrschenden Umständen hervorgerufene Asozialität in Kursachsen während des 18. Jh. und die im wesentlichen fehlgeschlagenen Versuche zu ihrer Behebung, aber indirekt auch die Einblicke in das Dasein der vorstädtischen Bevölkerungsschichten Dresdens zu eben dieser Zeit. D i e ökonomische Entwicklung vieler deutscher Staaten wurde durch die Machtpolitik BrandenburgPreußens, besonders durch die Schlesischen Kriege, erneut stark gestört. Erst nach 1763 kam es wiederum zu einem Aufschwung kapitalistischer Elemente auf der Basis besonders der zerstreuten Manufakturen, aber auch des Verlagswesens, mit einer sich ständig verbreiternden Schicht von nur noch zum Teil handwerklich vorgebildeten Handarbeitern, die nun stärker als zuvor von dieser Entwicklung erfaßt wurden. Einblicke in den Ablauf und die Folgen dieses Prozesses für die Lebensbedingungen sowie die Lebensweise der unmittelbaren Produzenten vermittelt die Studie über das Schicksal der 14

S. Grundriß, S. 175 ff. Zur Rolle der Manufakturbourgeoisie: Hildegard Hoffmann und Ingrid Mittenzwei, D i e Stellung des Bürgertums in der deutschen Feudalgesellschaft von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis 1789. I n : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 22 (Berlin 1974), S. 190 ff.

10

Vgl. den Hinweis von Marx (unter Bezug auf eine Feststellung Mirabeaus) auf die sächsischen Verhältnisse in M E W 23, S. 785.

Einleitung

11

in einigen Zweigen der erzgebirgischen und vogtländischen Textilherstellung im 18. und zu Beginn des 19. Jh. Beschäftigten. Es mehren sich seit der Mitte des 18. Jh, die Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeitern und Manufakturunternehmern. Ursache dafür waren die sich häufenden Versuche der letzteren, die Arbeitszeit zu verlängern oder den Lohn zu kürzen. Beispiele dafür liefern die heftigen Streitigkeiten, die sich während des Siebenjährigen Krieges in der Meißner Porzellanmanufaktur ereigneten und bis zum Streik führten. Dieses spezifische, auch schon früher eingesetzte Mittel des ökonomischen Klassenkampfes sollte von da an eine immer wichtigere Rolle in den Auseinandersetzungen zwischen den Eigentümern der Produktionsmittel - in Meißen war es noch der Landesherr selbst - und denen spielen, die die Werte schufen. Sowohl die Möglichkeiten als auch die Grenzen solcher Kämpfe werden bei den S. 206 ff. geschilderten Meißner Ereignissen sichtbar. Insgesamt wurden mit der Entwicklung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und der dadurch vorangetriebenen Zersetzung der feudaltn Produktionsweise die Klassengegensätze komplizierter. Neben die sich zuspitzende Kontroverse zwischen den ökonomisch und sozial stark differenzierten ländlichen Produzenten und dem Adel trat zu dieser Zeit bereits der Widerspruch zwischen dem sich ausbildenden Manufakturbürgertum und den Vertretern des Feudalabsolutismus in Erscheinung. Gerade in Kursachsen16 sahen sich diese genötigt, Zugeständnisse zu machen. Die Entfaltung der neuen wirtschaftlichen Verhältnisse und, damit im Zusammenhang, einer relativ starken Schicht von Unternehmern war hier trotz der korrupten Regierungspolitik - der Name Brühl mag für viele stehen und trotz großer Kriegsschäden kontinuierlicher als in anderen deutschen Staaten verlaufen. Deshalb konnte das Manufakturbürgertum Einfluß auf die Entwicklung des Landes nehmen. Es gelang ihm, 1763/64 im Bündnis mit progressiven Kräften des Adels, Reformen durchzusetzen17, die neben anderem die Regulierung des Staatsschuldenwesens sowie die Handels-, Gewerbe- und Agrarpolitik betrafen. Eine besondere Rolle spielte bei diesem „Rétablissement" die an Stelle der 1735 aufgelösten „Commerden-Deputation" 1764 geschaffene „Landes-Oeconomie-Manufactur- und CommerdenDeputation" 18 . Während diese bürgerlichen Kräfte Kursachsens auf dem Gewerbesektor für eine Wirtschaftspolitik eintraten, die die manufakturkapitalistische Entwicklung durch Anwendung der freien Konkurrenz förderte, versagte ihr Reformwille im agrarischen Bereich. Das resultierte aus ihrer Rücksichtnahme auf die Interessen des Feudaladels. Insgesamt respektierten die Reformen die herrschende Ordnung, schufen jedoch in ihrem Rahmen einen größeren Spielraum für die weitere Entfaltung des Verlags- und Manufakturwesens. Man muß bei der Einschätzung solcher Bemühungen und ihrer ohne Zweifel bemerkenswerten Ergebnisse jedoch die Tatsache im Auge behalten, daß sich, trotz des auch in anderen deutschen Territorialstaaten während der zweiten Hälfte des 18. Jh. beachtlichen Aufschwungs kapitalistischer Elemente, der relative Abstand im ökonomischen gegenüber England weiter vergrößerte. Hier hatte bereits die industrielle Revolution begonnen. Die bürgerliche Umwälzung, deren erste Phase (bis 1830) 19 noch im Blickfeld unserer Studien liegt, wurde von Ereignissen eingeleitet, die den Einfluß der Französischen Revolution erkennen lassen. Wieder waren es — neben den linksrheinischen Gebieten, den südwestdeutschen Kleinstaaten, der Kmniark und Schlesien - große Teile Kursachsens und der sächsischen Oberlausitz, in denen die Bauern 1790 gegen die Adelsprivilegien und die Willkür der Beamten rebellierten. Eine der hier vorgelegten Studien reflektiert diese Ereignisse im subjektiven Ausschnitt, bei dem auch ideologische Hintergründe und daraus wirksam werdende Vorstellungen Kontur gewinnen. - Zu den Städten, 16 17

18 19

Grundriß S. 193. Horst Schlechte, Die Staatsreform in Kursachsen 1762-1763. Quellen zum Kursächsischen Rétablissement nach dem Siebenjährigen Kriege. Berlin 1958 (bes. S. 115 ff.). R. Forberger, a. a. O., S. 230, 241 ff. Grundriß S. 203, 206, 208, 213.

12

WEINHOLD

in denen sich Handwerksgesellen und Lohnarbeiter gegen die Starrheit und Rückschrittlichkeit des Zunftreglements und der städtischen Obrigkeit empörten, gehörte neben Aachen, Köln, Hamburg, Bremen, Breslau und Stuttgart auch Dresden. Hier traten rund 300 Gesellen aus diesen Gründen in einen Streik. Von seiten der bourgeoisen Kräfte traten im wesentlichen nur Angehörige der Intelligenz als Sprecher der antifeudalen Kräfte hervor. Sie organisierten Zirkel, gaben Zeitungen und Flugschriften heraus, in denen sie die Idee des bürgerlichen Fortschritts verbreiteten. Die Mehrheit dieser Schicht schreckte jedoch davor zurück, am revolutionär-demokratischen Kampf der Volksmassen teilzunehmen. Aussagen zu dieser Haltung liefert unsere Studie über den Halberstädter Kreis und seine „Gemeinnützigen Wochenblätter". In anerkennungswerten philanthropischen Bestrebungen „zum Nutzen der Armen" orientierte sich diese Gruppe ideologisch (sie ist damit repräsentativ für den überwiegenden Teil einer bürgerlichen Schicht) an der konstitionell-monarchistischen

Staatstheorie

Montesquieus

und in ihren politischen Zielvorstellungen auf das Beispiel der zum Ideal erhobenen englischen Monarchie. Ihre Vertreter lehnten es ab, die bürgerliche Umwälzung auf revolutionärem Weg zu erzwingen. Statt dessen sollten die Fürsten durch geduldige Aufklärung dazu bestimmt werden, die Interessen des Bürgertums am ökonomischen und sozialen Prozeß ihrerseits auf dem Weg von Reformen zu begünstigen. Die Mehrzahl der positiven Auswirkungen, die die napoleonische Fremdherrschaft in gewissem Maß mit sich brachte (Aufhebung der Leibeigenschaft - zum Teil sogar der auf dem bäuerlichen Besitz liegenden Feudallasten - , die Gewerbefreiheit, die Gleichheit der Staatsbürger vor dem Gesetz) kam in unseren Territorien nicht zur Geltung. Die Kontinentalsperre und die napoleonische Wirtsdiaftshegemonie befreiten zwar die deutsche Bourgeoisie von der Konkurrenz englischer Erzeugnisse und ermöglichten so örtlich, besonders in den linksrheinischen Gebieten und auch in Sachsen, einen Aufschwung der Produktivkräfte. In unserem Fall verdeutlicht sich dies besonders durch den zeitweisen Anstieg der Steinguterzeugung. Aber sie unterbanden andererseits auch die Ausfuhr wichtiger Produkte und brachten gebietsweise bestimmte Bereiche des Handels zum Erliegen. Auch und gerade die Angehörigen der unterdrückten Klassen und Schichten, und unter ihnen zunehmend die auf dem nichtagrarischen Sektor Tätigen, bekamen die Auswirkungen des Anstiegs der kapitalistischen Entwicklung und der Kriege besonders unmittelbar im negativen Sinn zu spüren. Die Aufhebung der Kontinentalsperre führte nach 1816 zu neuen Krisen. Viele Handwerksmeister verarmten, noch mehr Gesellen mußten die Hoffnung begraben, jemals in Besitz einer eigenen Werkstatt zu kommen. Drückend war, von den Zeiten konjunkturellen Aufschwungs abgesehen, auch die Lage derjenigen, die als Häusler oder zur Miete wohnend, ihre Verdienstmöglichkeiten im Verlag oder in der zerstreuten Manufaktur zu suchen hatten. Die Maßnahmen auf dem Weg zu einer endgültigen Gewerbefreiheit schufen wichtige Voraussetzungen für die weitere Entfaltung kapitalistischer Produktionsverhältnisse. Aber sie vermehrten gleichzeitig durch ruinierte Kleinmeister und deren Gesellen den Umfang der pauperisierten Überschußbevölkerung, die von den Manufakturen und auch von den ersten Fabrikunternehmen nicht absorbiert werden konnten. Zu dieser Zeit hatte die manufakturelle Produktionsform den Gipfel ihrer Entwicklung jedoch schon überschritten. Von verhältnismäßig wenigen Unternehmen abgesehen, deren Betrieb noch qualifizierte Handarbeit erforderte, reichte ihre Leistungsfähigkeit nicht mehr aus. Sie konnte „die gesellschaftliche Produktion weder in ihrem ganzen Umfang ergreifen noch in ihrer Tiefe umwälzen. Sie gipfelte als ökonomisches Kunstwerk

auf der Grundlage des städtischen Handwerks und der häuslichen

ländlichen Industrie. Ihre eigene technische Basis trat auf einem gewissen Entwicklungsgrad mit den von ihr selbst geschaffenen Produktionsbedürfnissen in Widerspruch" 20 . Erst der volle Durchbruch

20

M E W 23, S. 390.

Einleitung

13

der industriellen Revolution gab einem wesentlichen Teil der pauperisierten Bevölkerung, wenn auch unter den Bedingungen extensiver kapitalistischer Ausbeutung, erneut Arbeits- und Lebensmöglichkeiten. Ohne diese industrielle Reservearmee wäre der Aufbau einer kapitalistischen Industrie nicht zu vollziehen gewesen.

Dieser historische Überblick, der einige Hauptzüge vor allem der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Erinnerung bringen sollte, verwies mehrfach auf Prozesse, die sich im kursächsischem Territorium bzw. in den angrenzenden Landstrichen vollzogen. Es wurde ersichtlich, daß dieses Gebiet eines der regionalen Formierungszentren des Verlagswesens und der verschiedenen Formen der Manufaktur bildet. Schon seit dem 15. Jh. begann hier auf der Basis des Bergbaus und des Metallhandels die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Innerhalb der Textilproduktion entfaltete sich dann während des 16. Jh. ein besonders durch oberdeutsches Handelskapital forciertes Verlagswesen21. Diese ökonomischen Entwicklungen führten in Teilen des Erzgebirges, des mittelsächsischen Berglands und des Vogtlands, aber auch im sog. Oberland der 1635 an Sachsen gefallenen Lausitzen, zu Frühformen von Urbanisierungsprozessen. Das wirtschaftliche und politische Geschehen während der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jh., besonders aber der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen bremsten oder brachen diese Entwicklung ab, machten sie stellenweise sogar rückgängig. Die Bevölkerungsverluste während des Krieges - vor allem durch die Pest - lagen in den genannten Gebieten stellenweise bei zwei Drittel der Gesamtbewohnerschaft22. Erst während der letzten Jahrzehnte des 17. Jh. erlebte das Land auf Grund des sich in seinen Grenzen wieder entfaltenden Verlags- und Manufakturwesens, aber auch der sog. Bergfabriquen, erneut und stärker als viele andere deutsche Territorien einen ökonomischen und sozialen Differenzierungsprozeß. Die finanziellen Voraussetzungen dafür schufen einerseits in bürgerlicher Hand akkumulierte Mittel, wobei neben dem Leipziger auch Hamburger Handelskapital 23 zunächst eine wichtige Rolle spielte. Des weiteren beteiligten sich Unternehmer aus den Reihen der herrschenden Feudalklasse, voran der Landesherr. Der Zahl nach standen sie jedoch gegenüber der erstgenannten Gruppe weit zurück24. Die innerhalb der feudalen Umwelt heranwachsende neue Wirtschaftsweise war auf unserem Territorium von Beginn an vor allem eine Angelegenheit der Bourgeoisie25, die dabei allerdings in vielen Fällen mit staatlicher Förderung rechnen durfte und sie auch nutzte - eine für diese Übergangszeit durchaus kennzeichnende Erscheinung. Damit waren die Voraussetzungen gegeben, daß in verhältnismäßig rascher Folge zahlreiche neue Betriebe etabliert wurden. Zwischen 1670 und 1740 entstanden Woll-, Damast-, Seiden-, Samt-, Wachstuch- und Spiegelmanufakturen, Glashütten, Flanell- und R. Forberger, a. a. O., S. 15 ff., 21 ff. Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. Weimar 1967, S. 92 ff. u. Abb. 5. 2 3 Grundriß, S. 1 8 0 ; weiteres dazu in der Studie von H. Wilsdorf, S. 58 f. 2'' Von insgesamt 1 6 7 in der weiterverarbeitenden gewerblichen Produktion Sachsens zwischen 1700 und 1789 gegründeten Betrieben waren 10 Eigentum von Angehörigen des Adels (R. Forberger, a. a. O., S. 3 1 2 ff.). 2 5 R. Forberger, a. a. O., S. 302. 21

22

14

WEINHOLD

Golgasdruckereien, die sog. Gold- und Silberfabriquen, Verlags- und später manufakturmäßig betriebene Strumpfwirkereien, Werkstätten für Leinen- und Baumwollwaren sowie zur Herstellung von Fayence und Porzellan, aber auch Unternehmen, die sich mit der Anfertigung von Blechwaren, Gewehren und Schriftgut befaßten 26 . Der wirtschaftliche Rückgang um die Mitte des 18. Jh. hemmte den weiteren Aufschwung. Zwischen 1740 und 1762 sind nur 23 Neugründungen zu verzeichnen27. Zur „Blütezeit der sächsischen Manufaktur" wurde die Zeit zwischen 1763 und der Wende zum 19. Jh. 28 . Ein Merkmal der in dieser Periode zahlreich aufschießenden Betriebe ist der besonders in den Produktionsstätten des Erzgebirges und des mittelsächsischen Berglandes erfolgende Übergang zur Anfertigung von Massenbedarfsgütern, vor allem für Baumwollwaren und gedruckte Kattune. Dieses Territorium wurde ebenso wie die südliche Oberlausitz während des ersten Drittels des 19. Jh. von den Vorstufen der industriellen Revolution erfaßt. Die Lebensweise und Kultur jener Bevölkerungsschichten, die in diesen mehr als dreihundert Jahre währenden Prozeß einbezogen wurden und ihn durch ihre Arbeit mit vorantrieben, erfuhren tiefgehende Veränderungen. Bei der Einschätzung dieses Wandels muß man von der durch Marx charakterisierten Tatsache ausgehen, daß die Manufaktur in ihren verschiedenen Erscheinungen29 gegenüber früheren Produktionsformen die Arbeitsweise des einzelnen von Grund aus revolutioniert und „die individuelle Arbeitskraft an ihrer Wurzel [ergreift]. Sie verkrüppelt den Arbeiter in eine Abnormität, indem sie sein Detailgeschick treibhausmäßig fördert durch Unterdrückung einer Welt von produktiven Trieben und Anlagen . . . Die besonderen Teilarbeiten werden nicht nur unter verschiedene Individuen verteilt, sondern das Individuum selbst wird geteilt.. ."30. Dabei blieb jedoch das „Handwerksgeschick" die Basis aller manufakturellen Tätigkeit31, eine Tatsache, die weitreichende Folgen für das Arbeitsverhalten und schließlich für das gesamte Dasein der unmittelbaren Produzenten hat. Gemeinsam mit dem Umstand, daß der in der Manufaktur funktionierende Gesamtmechanismus - im Gegensatz zur Fabrik der großen Industrie - kein „von den Arbeitern selbst unabhängiges objektives Skelett besitzt", bewirkt sie, daß es „dem Kapital mißlingt, sich der ganzen disponiblen Arbeitszeit der Manufakturarbeiter zu bemächtigen, daß die Manufakturen kurzlebig sind und mit der Ein- und Auswanderung der Arbeiter ihren Sitz in dem einen Land verlassen und in dem anderen aufschlagen"32. Die hier vorgelegten Studien belegen dies am Beispiel einiger Bergfabriken und von keramischen Betrieben. Dabei wird auch versucht, die Konsequenzen solcher Erscheinungen für die Lebensweise der Betroffenen zu verdeutlichen. 26 27 28 29

30 31 32

Ebenda, S. 153 ff., 178 ff., 299. Ebenda, S. 300. Ebenda, S. 301. Zur Genese und zum Charakter der Manufaktur sowie zu ihren Formen s. MEW 23, S. 358 f., 362 ff. und Lenin, Werke Bd. 3 S. 392 f. MEW 23, S. 381. Ebenda, S. 389. Ebenda, S. 390.

Einleitung

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Doch damit ist nur einer der Vorgänge erfaßt - wenn auch ein charakteristischer und folgenreicher die zu jener Zeit die überlieferte, während des Feudalismus entfaltete und in erster Linie von den bäuerlichen sowie bestimmten stadtbürgerlichen Schichten, aber auch von spezifischen Berufsgruppen - z. B. den Bergleuten - getragene Volkskultur erschüttern und ihren Wandel einleiten. Für die im hier vorgelegten Band aufgeworfenen Fragestellungen ist dabei entscheidend, daß sich in der Folge der diesen Vorgang auslösenden ökonomischen Prozesse in zunehmendem Maß Elemente des Proletariats formieren, das sich als Klasse dann um die Mitte des 19. Jh. politisch konstituiert?3. Die ersten Schritte zur neuen sozialen Qualität vollziehen sich jedoch schon während der durch die manufakturelle Betriebsweise gekennzeichneten Übergangsperiode, in der das feudalabsolutistische System das Leben auch dieses Teils der werktätigen Klassen und Schichten noch in weiten Bereichen beeinflußte. Das hat zu einer Zwieschlächtigkeit vieler für die volkskundliche Forschung interessanter Erscheinungen geführt. So greift die obrigkeitliche Reglementierung oft noch tief in das Dasein der Verlags- und Manufakturarbeiter, besonders aber der „Bergfabriquanten" ein und diktiert ihre Lebensbedingungen mit. Wir treffen hier durchaus noch nicht überall den im Marxschen Sinne doppelt freien Produzenten an. Vielfach unterliegt er noch feudalen Bindungen und Verpflichtungen und ist dadurch in seiner Beweglichkeit ganz entscheidend behindert. Andererseits ist gelegentlich eine soziale Mobilität zu beobachten, bei der der Lohnarbeiter sich unter bestimmten Umständen als Kleinhändler etabliert oder auch in der Landwirtschaft sein Auskommen sucht. Solcher Wechsel kennzeichnet sowohl die Möglichkeiten des Einzelnen als auch die fließenden Grenzen, innerhalb deren sich die neue Klasse zu formieren beginnt. Noch mußte eine erhebliche historische Zeitspanne vergehen, ehe die industrielle Revolution jene in der Manufakturperiode immer wieder entstehenden, aber auch noch aus dem Zunfthandwerk kommenden „Ziwischenexistenzen" beseitigt und „eine wirkliche Bourgeoisie und ein wirkliches großindustrielles Proletariat erzeugt und in den Vordergrund der gesellschaftlichen Entwicklung" drängen sollte34. So nimmt es nicht wunder, daß da, wo Elemente der Lebensweise sichtbar gemacht werden können, sich in ihnen sowohl Überliefertes als auch Neues offenbart, wobei es oft auf den ersten Blick nicht leicht ist, das Vorwärtsgerichtete zu erkennen. Denn gar nicht so selten, und das ist eine normale Erscheinung, begegnet es in der Form des Traditionellen, an dessen Aufhebung es mit beteiligt ist. Immer im Auge behalten muß man bei solchen Einschätzungen auch, daß die in diese Umwälzungsprozesse auf irgendeine Weise hineingezogenen werktätigen Menschen solche Vorgänge - soweit sie das überhaupt tun konnten - subjektiv reflektierten und ihr daraus abgeleitetes Handeln noch immer unter dem Einfluß von gesellschaftlichen Traditionen und Wertvorstellungen stand, die sich im Feudalismus ausgeprägt und verfestigt hatten. Die Erkenntnis objektiver ökonomischer und sozialer Prozesse blieb auch jenen Vertretern des bourgeoisen Unter33

Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse, Berlin 1 9 7 8 , S. 3 1 9 f f . ; Hartmut Zwahr, Zur Herausbildung der deutschen Arbeiterklasse. Ein stadial-regionaler Vergleich (Wissenschaftliche Beiträge für den Geschichtslehrer, hrsg. von der Historiker-Gesellschaft der D D R , Nr. 13, Berlin 1 9 7 7 ) .

34

M E W 22, S. 5 1 5 .

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nehmertums verschlossen, die sie - wie etwa der Thüringer Porzellan-Nacherfinder und Fabrikant Greiner - im wohlverstandenen Eigeninteresse mit vorantrieben. D i e mangelnde Fähigkeit zur Differenzierung zwischen diesen objektiv, auf Grund historischer Gesetzmäßigkeiten verlaufenden Vorgängen und der subjektiven Einstellung, die der davon Betroffene zu diesen Entwicklungen ausbildete, ist - wenn auch auf anderer Ebene - heute noch für eine Reihe von Vertretern der bürgerlichen Sozialgeschichtsschreibung charakteristisch. Wolfram Fischer, einer ihrer führenden Vertreter, formulierte seinen diesbezüglichen Standpunkt 35 in Polemik gegen die marxistische Auffassung (die er im übrigen, oberflächlich simplifizierend, als „Zwei-Klassen-Theorie" zu etikettieren versucht) bezüglich der gesellschaftlichen Struktur des 19. Jh., in das die letzten Stadien unserer Untersuchungsperiode noch fallen. E r empfiehlt ihre Beschreibung eben auf Grund von - notwendigerweise subjektiv gefärbten - Selbstzeugnissen der Zeitgenossen, einschließlich der Arbeiter, und die „Messung" der auf diese Weise sichtbar werdenden „Feinschichtung" an Hand von Lohnskalen und überkommenen Statistiken. Als Ergebnis solcher Erhebungen zeigt sich seiner Meinung nach „schon für die frühindustrielle Welt deutlich, daß z. B. die oberen Arbeitsgruppen weit in den unteren Mittelstand hineinreichen . . . D i e Verzahnung des Bürgertums mit dem Proletariat ist deutlich, ebenso wie die des .gebildeten Bürgerstandes' mit den alten Oberschichten, z. B. dem Adel" 3 6 . Diese subjektivistische Grundposition bildet, wie der Protokollband des 18. Deutschen Volkskunde-Kongresses, der unter dem Leitthema „Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert" 37 stand, auch bei einigen Fachvertretern in der B R D direkt oder indirekt einen Ausgangspunkt der Forschung. Stellvertretend für ihre Auffassung sei hier die Meinungsäußerung Günter Wiegelmanns angeführt, daß - hinsichtlich der volkskundlichen Darstellung des fraglichen Zeitraums - die Möglichkeiten der biographischen Methode „in Deutschland bisher noch nicht genutzt würden. Durch solche Sammlungen könne man ein zeitfixiertes und gruppenspezifisches Bild des Wandels in den letzten 50 bis 80 Jahren erhalten" 38 . In die gleiche Richtung zielen letztlich auch die in diesem Zusammenhang vorgetragenen Empfehlungen von Arnold Niederer und Rudolf Braun, man solle doch „wichtige Begriffe, wie z. B. Bauernbefreiung' oder ,19. Jahrhundert - kapitalistisches und demokratisches Jahrhundert'.. . überprüfen, da sie die Forschungsproblematik verstellen" 39 . 85

36 37

38 89

Wolfram Fischer, Ökonomische und soziologische Aspekte der frühen Industrialisierung. In: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung, Berlin (W) 1968, S. 1 ff. ( = Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin, Band 1). Ebenda, S. 18. Kultureller Wandel im 19. Jahrhundert. Verhandlungen des 18. Deutschen Volkskunde-Kongresses in Trier vom 13. bis 18. September 1971. Hg. Günter Wiegelmann. Schriftleitung Dietmar Sauermann. Göttingen 1973 ( = Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im neunzehnten Jahrhundert, Bd. 5). Ebenda, S. 22 (Diskussion zum Referat von Rudolf Braun). Ebenda.

Einleitung

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Damit wird eine willkürliche Trennung vom geschichtlichen Erkenntnisprozeß postuliert. In der Konsequenz derartiger Aufforderungen liegt der Verzicht auf einen Teil des wissenschaftlichen Grundinstrumentariums der Volkskunde, die ihrem Wesen nach eine historische Disziplin ist. Unbestritten ist der Aussagewert von Biographien, Memoiren, Reiseliteratur und Briefen, um nur einige der hier akzentuierten Quellen zu spezifizieren. Ihrem Inhalt nach sind sie durchaus geeignet, wertvolle Detailkenntnisse zu vermitteln und ein Bild der untersuchten Periode zu vermitteln. Aber ebenso unbestritten ist der subjektive, aus einer persönlichen Meinung entspringende und durch die ihr zugrunde liegende soziale und ideologische Position bestimmte Charakter solcher Zeitdokumente. Ihre Interpretation bleibt ohne die Beachtung der geschichtlichen Zusammenhänge und der in ihnen wirkenden Gesetzmäßigkeiten unzulänglich, führt nur zu Erkenntnissen, die wiederum den Stempel der Subjektivität tragen und im Aussagewert begrenzt sind. Eine typische Folge der wirtschaftlichen Entwicklung während der Manufakturperiode bildet die wachsende Massenarmut. Ihre volkskundlichen und sozialen Aspekte werden in einer unserer Studien umrissen, wobei sich zugleich die prinzipielle Unfähigkeit der feudalen Institutionen verdeutlicht, eine solche Misere zu bewältigen. Das Phänomen dieses im Prozeß der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals wurzelnden Elends, das zunächst in der Zunahme seiner bereits während des Feudalismus existierenden Ausdrucksformen - Bettlertum, Vagabundiererei, dazu verschiedene Formen des Widerstandes gegen die Gesetze - zu Tage trat, hat auch die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Sozialgeschichtsschreibung erregt. Dabei gibt es hinsichtlich der Ursachen dieses „Pauperismus", wie das von England her eingebürgerte Schlagwort für die Erscheinung lautet, keine Klarheit. Die von Werner Conze dafür letztlich verantwortlich gemachte Überbevölkerung40 ist selbst schon Wirkung, mit ausgelöst von dem obengenannten ökonomischen Prozeß. Bei der generellen Einschätzung des Pauperismus, um die sich Conze bemüht, ist ihm allerdings verschlossen geblieben, daß das wachsende Massenelend nur die eine Seite jenes Prozesses repräsentiert, in dessen Verlauf sich das Industrie- und Landproletariat formierte. Der andere, wesentliche Aspekt des Vorgangs, nämlich die historische Leistung dieser Klasse für die eigene Befreiung und damit für den gesamtgesellschaftlichen Fortschritt, wird bewußt negiert. In einer solchen Einschätzung tritt, ebenso wie in den Auffassungen, die Fischer, Braun und Niederer formulieren, mehr oder weniger deutlich die Absicht hervor, das Proletariat von Beginn seiner Existenz an in die „Industriegesellschaft" zu integrieren, seine Position als Klasse zu verwischen und ihm damit sein Recht auf eigene, revolutionäre Zielvorstellungen abzusprechen41. 40

Werner Conze, Vom „Pöbel" zum „Proletariat". (Wiederabdruck) In: Die soziale Frage. Neuere Studien zur Lage der Fabrikarbeiter in den Frühphasen der Industrialisierung. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfram Fischer und Georg Bajor, Stuttgart 1967, S. 19 ff.

41

Charakteristisch für diese Auffassung ist Conzes Lob der politischen Zielstellung des reformistischen Flügels der SPD im letzten Drittel des 19. Jh. Es gipfelt in der Sentenz, daß „sich zum Wohl des Arbeiters in der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei das Ziel der Eingliederung in die bestehende Ordnung sowie der Durchdringung und Wandlung der bestehenden Gesellschaft stärker als die radikalen Folgerungen aus der Theorie der Revolution" erwiesen habe (W. Conze, a. a. O., S. 47).

2

Volksleben

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WEINHOLD

Die in unseren Studien behandelte Periode ist, meist im thematischen Ausschnitt, auch von Volkskundlern in der BRD untersucht worden. Dabei hat man bestimmte Fragenkreise verhältnismäßig ausführlich behandelt 42 und war nicht selten auch bemüht, auf historische Veränderungen hinzuweisen, die sich in der Volkskultur während des 18. und zu Beginn des 19. Jh. vollzogen. Die vorgelegten Ergebnisse jedoch lassen erkennen, daß die hier eingangs umrissene, durch den Anlauf einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Umwälzung bestimmte volkskulturelle Grundproblematik des Zeitabschnitts nicht erkannt oder aber umgangen wird. Das geschieht gelegentlich unter Berufung auf die Untersuchung von Kontinuität und Wandel als eines der primären Forschungsfelder der Volkskunde, wobei dann allerdings oft mehr oder minder aus dem Zusammenhang gelöste Einzelerscheinungen oder -komplexe ins Blickfeld rücken. Ein erheblicher Teil dieser Studien orientiert sich vorwiegend auf die traditionelle, im Feudalismus entstandene und verfestigte Volkskultur sowie deren „Überleben" bzw. „Verfall" unter den Bedingungen des sich entfaltenden Kapitalismus. Dabei spielt man die veränderten Bedingungen, die durch die Entstehung von Verlagswesen, Manufaktur und früher Fabrik wirksam werden, nicht selten zur Quantité négligeable herunter oder vermerkt sie nur am Rand. Und fast immer bleibt das sich im Zuge dieser wirtschaftlichen und sozialen Vorgänge herausbildende qualitativ Neue in Lebensweise und Kultur der davon direkt oder mittelbar betroffenen werktätigen Klassen und Schichten außerhalb der Betrachtung oder wird jedenfalls nicht in seinem veränderten Wesen gekennzeichnet. Ein weiterer Mangel solcher Arbeiten ist - resultierend aus der vorherrschenden neopositivistischen Wissenschaftsauffassung der Autoren dieser Richtung43 - das weitgehende Außerachtlassen bzw. die subjektiv-selektive Eingrenzung der Sicht auf den kulturellen Gesamtprozeß und den in ihm wirksamen Antagonismus. Damit begeben sich ihre Autoren weithin der Möglichkeit, die zwischen der Kultur der herrschenden und der 42

Zu Untersuchungen dieser Art - ihre Autoren vertreten keine in sich geschlossene Richtung von Auffassungen - gehören u. a. die auf einer umfassenden Auswertung von Archivalien fußenden Arbeiten Karl-Sigismund Kramers (Bauern und Bürger im nachmittelalterlichen Unterfranken, Würzburg 1 9 5 7 ; Volksleben im Fürstentum Ansbach ( 1 5 0 0 - 1 8 0 0 ) , Würzburg 1 9 6 1 ; Volksleben im Hochstift Bamberg und im Fürstentum Coburg ( 1 5 0 0 - 1 8 0 0 ) , Würzburg 1 9 6 7 ) ; ein großer Teil der Abhandlungen Georg Fischers (Zusammengefaßt in: Volk und Geschichte. Studien und Quellen zur Sozialgeschichte und historischen Volkskunde, Kulmbach 1 9 6 2 ; programmatisch in der wissenschaftspolitischen Grundtendenz neuerdings sein Aufsatz „Geschichte und Gegenwart" in: Volk und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger, Berlin (West) 1970, S. 1 - 1 3 ) , weiterhin Studien und Darstellungen aus der Feder Josef Dünningers (so Volkstum und Aufklärung in Franken. Beiträge zur fränkischen Volkskunde im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 1957, S. 2 9 - 4 2 ; Tradition und Geschichte. In: Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Berlin (West) 1969, S. 5 7 - 6 6 ) , die zu wesentlichen Teilen unseren Zeitraum einbeziehende Überblicksdarstellung „Deutsches Handwerkerleben" von Max Rumpf (Stuttgart 1955) sowie die - mitunter auf sehr überholten wissenschaftlichen Prinzipien beruhende - Arbeit Walter Borchers „Volkskunst in Westfalen" (Münster 1970).

43

Rudolf Weinhold, Zur Position der sog. historisch-archivalischen Richtung in der BRD-Volkskunde. In: Kultur und Ethnos, Berlin 1980, S. 295 ff.

Einleitung

19

der ausgebeuteten Klassen auf den verschiedensten Gebieten wirksamen Wechselbeziehungen zu erfassen und zu untersuchen. Dementsprechend erkennen sie letztlich auch nicht die Differenzierung und den inneren Wandel der Volkskultur sowie ihren historisch sich verändernden Stellenwert innerhalb der Gesamtkultur. In Auseinandersetzung mit dieser Art von Darstellungen, die hinsichtlich ihrer oft sehr reichen, in Archiv- und Literaturstudien gewonnenen Einzelangaben durchaus interessant und verwertbar sind, haben sich die Autoren des hier vorgelegten Studienbandes um eine wissenschaftliche Analyse ihres Stoffes bemüht, die von den Prinzipien des historischen Materialismus ausgeht. Die Untersuchungen zielen dabei vorzugsweise auf die ethnographische und folkloristische Problematik von Arbeit und Leben jener Klassen und Schichten, deren Dasein unter den Einfluß des noch in seiner manufakturellen Phase stehenden Kapitalismus geriet, und dessen Entwicklung sie durch ihren Fleiß objektiv mit vorantrieben - auch wenn sie die Leidtragenden dieses Prozesses waren. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem quantitativ Neuen, das sich während dieser Zeit in Lebensweise und Kultur jener Menschen herauszubilden begann. Damit werden - zunächst regional - einige der Wissenslücken geschlossen, die im Abriß noch zu konstatieren waren. Zugleich sollen die neu gewonnenen Einsichten helfen, spezifisch volkskundliche Aspekte bei der Herausbildung der Arbeiterklasse, im historischen Feld zwischen Zunft und Fabrik, zu erhellen. Der mit diesem Begriffspaar gekennzeichnete ökonomische, soziale und kulturelle Wirkungsbereich formt über das Leben des frühen, politisch noch nicht als Klasse konstituierte Proletariats hinaus zunehmend die Existenz breiter Teile auch der anderen werktätigen Klassen und Schichten dieser Zeit. Der Titel des Studienbandes soll Ausgangspunkt und Aufgabe aller Untersuchungen in diesem Sinn umreißen. Der im Rahmen der einzelnen Abhandlungen gewonnene Zuwachs des Wissens tritt zutage in unterschiedlichen Ebenen des sachlichen Einzugsbereichs der Volkskunde. Es gelang dabei zunächst eine mitunter recht detaillierte Erfassung der zum Teil bereits vorhandenen, zum anderen sich erst formierenden vor- und frühproletarischen sowie plebejischen Schichten. Die Skala reicht von den Handwerksgesellen über die Arbeiter in den verlegten Gewerben, den Manufakturen und „Bergfabriquen", die Tagelöhner, Dienstboten, Soldaten, (Militär-)Invaliden, -witwen und -waisen bis hin zu der sehr heterogenen Asozialität. Beziehungen zwischen diesen Gruppen werden nach Möglichkeit im Blickfeld behalten. Dargestellt werden spezifische Arbeits- und Lebensbedingungen repräsentativer Einheiten der Verlags- und Manufakturarbeiter in den keramischen und textilen Branchen sowie der Produzenten in den „Bergfabriquen". Die so gewonnenen Einsichten erlauben Schlüsse hinsichtlich bestimmter Züge der Lebens- und Denkweise. Damit in Zusammenhang stehenden Fragen gilt die Aufmerksamkeit auch bei der Untersuchung weiterer obengenannter Gruppen. Das für die Erschließung von Elementen der Lebensweise einzelner Kategorien der Textil- und Keramikproduzenten zur Verfügung stehende Material wird weiter hinsichtlich seiner Aussagefähigkeit über ihren Anteil am kulturellen Gesamtprozeß der Gesellschaft analysiert. Dabei stehen Möglichkeiten und Grenzen ihrer direkten Partizipation an diesem Vorgang einschließlich sozialer Aktivitäten mit 2*

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zur Erörterung. In diesem Problemkomplex eingebunden ist die Frage nach der aktiven Rolle bestimmter Bereiche der geistigen Kultur des Volkes im Klassenkampf. Sie wird belegt am Beispiel von antifeudalen und revolutionären Liedern und Gedichten bzw. von in diesem Sinne umfunktionierten Liedern, die während der sächsischen Bauerninsurrektion (August/September 1790) und in der Folge dieses Ereignisses spontan entstanden. Zwei Sonderstudien befassen sich mit indirekten, weitergehenden Auswirkungen der ökonomischen und sozialen Entwicklung. Sichtbar gemacht wird dieser Einfluß auf Arbeitsgerät und Arbeitsweise der bäuerlichen Produzenten im Kursachsen benachbarten Altenburger Gebiet, denen der Manufakturkapitalismus eine Prosperität mit ganz spezifischen kulturellen Ausdrucksformen zuteil werden ließ. In das am nördlichen Rand des bearbeiteten Territoriums gelegene Halberstadt und sein Umland führt die Darstellung der sozialen und volksaufklärerischen Bestrebungen einer gemäßigt-progressiven Gruppe des Bürgertums jener Zeit. Zu der Ausarbeitung des Bandes haben alle Autoren über ihre eigene Studie hinaus auch kollektiv beigetragen. Jeder von ihnen hat sich, ebenso wie weitere Angehörige des Wissenschaftsbereichs Kulturgeschichte/Volkskunde, an der Aussprache über die vorgelegten Studien durch Gutachten und Stellungnahmen unmittelbar beteiligt. Die Drucklegung des Manuskripts einschließlich des Abbildungsteils betreuten Dr. Siegfried Kube, Dr. Bernd Schöne und Dipl.-Ethn. Rudolf Quietzsch. Die Verfasser der Beiträge danken herzlich Dr. sc. Hermann Strobach, der ihrer Arbeit als verantwortlicher Abteilungsleiter stets aufmerksame Betreuung widmete, sowie Dr. Hildegard Hoffmann vom Wissenschafts bereich Feudalismus, Dr. Harald Müller vom Wissenschaftsbereich 1789-1917 des Zentralinstituts für Geschichte der AdW der DDR und Prof. Dr. Rudolf Forberger vom Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW der DDR, die durch ihre gutachtlichen Hinweise beim Zustandekommen dieses Studienbandes wesentlich geholfen haben. Ein gleicher Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen der Abteilung „Volkskultur in der Zeit der Nationalen Wiedergeburt" des Üstav pro etnografii a folkloristiku der CSAV unter Leitung von Prof. Dr. Antonin Robek und Dr. Josef Vafeka, mit denen ein anregender, ertragreicher Gedankenaustausch über beiderseitig interessierende Probleme der Thematik geführt wurde. Redaktionsschluß April 1979

Rudolf Weinhold

Helmut Wilsdorf Das Aufkommen der „Berg-Fabriquen" durch technische Innovationen in den Randbereichen des erzgebirgischen Montanwesens (Mit 1 9 Abbildungen auf Tafel I - X , 2 Karten und 2 Figuren)

Zum Begriff „Bergfabrique" Als am Ausgang des 18. Jh. der Ausdruck ,Bergfabrique die bis dahin übliche, auch im cameralwissenschaftlichen Schrifttum weitverbreitete Bezeichnung Bergmanufacture1 ersetzen sollte, zeichnete sich noch keine Strukturveränderung im Betriebsaufbau lang eingeführter Unternehmungen ab. Es fehlte auch eine Definition, die den neuen Begriff für die gleichen Werksanlagen gegen deren ältere Kennzeichnung als Bergmanufakturen abgegrenzt hätte. Nicht aus sachlichem Zwang, sondern als Konzession an den rein sprachlichen Modernismus schien es diesem oder jenem Autor angezeigt, als Fabrik anzusprechen, was man bisher als Manufaktur bezeichnet hatte. Zwar hatte 1758 der Bergrat J. G. H. von Justi - ein viel gelesener und auch durch neue Ideen bedeutender ,Cameralist' 2 - eine deflatorische Trennung von Manufaktur und Fabrik nach der etymologischen Ableitung in Handarbeit und Feuerarbeit versucht, die unendlich oft wiederholt worden ist. Allein er hatte selbst zugegeben, daß dieser Unterschied „in gemeiner Rede selten beachtet wird". Auch das mit einer Vorrede von Johann Beckmann 1781 erschienene achtbändige „Technologische Wörterbuch" von J. K. G. Jacobsson3 stellte resignierend fest, leider „wirft der Sprachgebrauch Fabrik und Manufaktur untereinander". Das hat im Band 81 (1801) der „ökonomisch-technologischen Encyclopädie" von J. G. Krünitz dazu geführt, das Stichwort als Manufacturen und Fabriken' zu formulieren. In diesem Stichwort ging die Enzyklopädie im Abschnitt über Sachsen - als „eine kleine 1

Das erste Auftreten dieses Begriffs ist noch nicht ermittelt. Man müßte ihn wohl in erster Linie bei kursächsischen Cameralisten suchen, wird aber auf Zufallsfunde angewiesen sein, da die Fülle der Möglichkeiten einen nicht vertretbaren Zeitaufwand zur Durchsicht erfordert.

2

Eine neue Zusammenfassung bot R. A . Koch, Der humanistisch-fortschrittliche Ideengehalt im Lebenswerk des Kameralisten J. H. G. von Justi. In: Protokollband der Gesellschaft für Geologische Wissenschaften - Tagung Görlitz 1 9 7 8 : Der Umbruch geologischen Denkens im Zeitalter der Aufklärung 1 7 2 0 - 1 7 9 0 [im Druck].

:i

J. K . G. Jacobsson, Technologisches Wörterbuch, Berlin 1 7 8 1 - 1 7 9 5 , Hg. O. L. Hartwig, V o r r e d e J. Beckmann. Der bemerkenswerte Lebenslauf des Verfs. bewegte sich im militärischen Dienst als Unteroffizier!

4

J. G. Krünitz, Ökonomisch-technologische Encyklopädie, Bd. 84, Hg. H. G. Flörke, Berlin 1 8 0 1 , S. 1 0 - 2 2 7 .

22

WILSDORF

Probe der Sächsischen Industrie-Geschichte" - auf Betriebe ein, die „Bergwaarenfabriken"° genannt werden. Dazu rechnete der Autor des Artikels an erster Stelle die „Porzellan-Fabrik zu Meißen", obwohl wir heute noch von der „Meißner Porzellanmanufaktur" sprechen. Aus nicht ersichtlichen Gründen zählte er die gesamte keramische Produktion zu den „Bergwaarenfabriken", in die er mit größerem Recht die Glashütten und infolgedessen auch die Spiegelfabriken sowie die Dresdener Poliermühle einschloß. Dann folgen mit Ortsangaben 1) Alaunwerke - 2) Vitriol- und Schwefelwerke - 3) Vitriolöl- und Scheidewasser-Laboranten - 4) weitere, chemische Produkte (Königswasser, Spirituosensorten, Liquor anodynus) produzierende Laboratorien. Gruppe 5) verzeichnet nur noch die Blaufarbenwerke und dann 6) das Arsenikal-Werk. Ausdrücklich ausgeschlossen werden „die Silberschmelzhütten, die Kupferhütten, die Eisenhütten und Messingwerke" . . . „da sie sich mehr mit der Gewinnung roher Erzeugnisse als der Veredlung der Produkte beschäftigen" 6 . Damit schränkte „der Krünitz" die noch viel weitläufigere Verwendung des Begriffs durch C. G. Rössig7 wieder ein; dieser hatte 1787 den Bergfabriken einen „Sonderstatus" zugebilligt, ohne ihn theoretisch zu begründen. Ihm genügte eine 20 Seiten lange Aufzählung in 42 §§, die eindeutig mehr integriert, als der Begriff tragen kann. Wir resümieren ihn daher kritisch: Auszuscheiden sind die folgenden Paragraphen, weil die genannten Branchen in fünf Gruppen (I-V) gehören, die I II III IV V

in keinem Zusammenhang mehr mit dem Montanbereich stehen, zu den althergebrachten Berufen gehören, Einzelmeister-Handwerke, Sonderberufe, reine Montanberufe umfassen.

§ Betriebsart ( = Gruppe) 2 irdene Waren ( = I) 3 Glashütten ( = I) 4 Granatschleiferey ( = IV) 5 Emaille ( = (IV) 6 mosaische [Mosaik] Arbeiten ( = IV) 11 Salpetersiedereyen - (außerhalb der Bergreviere) ( = I) 15, 16,17 Silber-, Kupfer-, Zinn-Hütten (V) 19 Münze (II) 20 Silberhammer (V) 21 a Gold- und Silbertressen-Manufaktur (I: Textilbereich) 22 Kupferhämmer (V) 5 6 7

Ebenda, S. 139 .Bergfabriken' resp. .Bergwaarenfabriken' fehlen als eigene Stichworte. Ebenda, S. 140-141, das traf aber gerade nicht zu (abgesehen von den Silberhütten)! Carl Gottlob Rössig, Die chursächsische Staatskunde, Leipzig 1787, Abschnitt 6: Bergfabriken, S. 121-141. Dort auch die Differenzierung bei der Berufsstatistik: 11014 .Bergarbeiter'; 25794 .Handwerker des Mineralreiches' [Fabrikarbeiter werden sie also nicht genannt!].

Das Aufkommen der Bergfabriquen 25 23 26 31 34 36 38 42

23

Hörner- und Trompetenfabrik (II) Stück- und Glockengießereyen (II) beide in Dresden u. Freiberg Bleykugel- und Schrotgießerey (II) Sayn-, Schaufel- und Waffenhämmer (meist V) Feilenhauer (III) Sporenmacherey (III) Zwecken- und Nagelschmiede (II, resp. III) mathematische, optische und physikalische Instrumente (IV)

Nur bedingt einzubeziehen sind die folgenden Paragraphen: 12 Pulvermühlen 18 Eisenhütten oder Hammerwerke (meist V, aber von den 51 aufgezählten Werken lieferten einige „Bergwaaren") 21 b Klöppelmädchen, die „Leonische Spitzen und Kanten fertigten", sind zum Teil den „Bergfabrikarbeiterinnen" zuzuzählen, wenn die Metallfadenproduktion sogleich durch Heimarbeit in Textilware umgewandelt wurde. 40 Nadelfabrik (zu Oberwiesenthal: Carlsbader Nadeln) Bergjabriken 7 8 9 10 13 14 21 24 27 28 29 30 32 33 35 39 37 41

im engeren

Sinne sind dann

zweifellos

Alaunwerke Vitriol- und Schwefelwerke Vitriolöhl- und Scheidewasserlaboratorien Boraxfabrik Biaufarbenwerke Arsenikalwerk Leonische Waare Messingwerk Blevglöthefabrik 1 beide zu Menning- und Bleyweißfabrik J Zschopau Eisenblechwerke Eisendrahtwerke Gewehrsfabriken Plattierwalzenfabrik Eisenblechwaarenfabriken Karbctschen- und Krempelmacherey Löfielschmiederey Policrmühle (bey Dreßden)

Darüber hinaus ist einzubeziehen Seipentinstein-Waarenfabrik in Zöblitz (soweit nicht IV) Weitere Autoren, die um 1 8 0 0 einen Versuch zur Abgrenzung oder zur Definition des Begriffs Bergfabrique (Bergwaarenfabrique) gemacht hätten, sind nicht bekannt, selbst Bergmanufactur wird nicht häufig gebraucht. D i e neue Wortprägung Bergfabrik erscheint demnach als ein gesuchter Modernismus, und vielleicht gerade deshalb hat der neue Terminus in die kursächsische Bergamts-

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WILSDORF

spräche kaum Eingang gefunden: Eine Aktenbezeichnung 8 Bergfabriken gibt es weder im Oberbergamt noch [mit Ausnahme von Loc. 42044 (Die erzgebürgische Löffel-Fabrique) 1743] bei den Finanzbehörden! Die zweifellos sehr anschauliche Wortprägung ist eigentlich erst von den Historikern des 19. Jh. aufgegriffen worden, die natürlich im Nachhinein wußten, daß am Ausgang des 18. Jh. im allgemeinen die Fabrik die Manufaktur abgelöst hat. Das macht jedoch die Überprüfung der Frage nicht entbehrlich: Stand nicht doch hinter der neuen Wortprägung das richtige Gefühl, daß die bisherigen Manufakturbetriebe auch bei äußerlich noch unveränderter Betriebsstruktur bereits in einen Umwandlungsprozeß hineingeraten waren, der unter Abstreifung der feudalen Ordnungen ihre wirtschaftlichen und sozialen Funktionen veränderte? Bei der bis jetzt bekannten, viel zu geringen Belegdichte für das neue Wort aus der Zeit vor 1800 ist diese Frage schwer zu beantworten. Die in den letzten Dezennien des 18. Jh. anerkannten Autoritäten der Montanwissenschaften 9 sind den Autoren der Cameralwissenschaften nicht gefolgt, das gilt für Sachsen wie für andere Territorien gleichermaßen. Ob aber diese sprachstatistisch kaum erschütterbare Feststellung den Schluß legitimieren kann, der neue Begriff sei „überflüssig" gewesen, ist äußerst fraglich. Zu fordern ist vielmehr die rein sachliche Prüfung der Fakten, ob nicht bereits die „BergManufactur" von vornherein Züge des Fabrikwesens trug und daher die Vertreter der Cameralwissenschaft sich veranlaßt sahen, dem auch sprachlich Rechnung zu tragen. Darum kann im folgenden eine zutreffende Merkmalsbestimmung für die ,Bergfabrique' nur auf dem einzig gangbaren Weg versucht werden: Für eine Auswahl von Beispielen haben wir möglichst exakte Angaben über die Arbeit - die Arbeiter - die Unternehmer in solchen Betrieben zu machen, die dann als ,Bergfabrique' bezeichnet wurden. Nur so wird zu entscheiden sein, ob die sprachliche Neuschöpfung tatsächlich auf neue, um 1780/1795 gewandelte oder sich wandelnde Betriebsverhältnisse zielte, oder ob der Historiker genötigt ist, auch zeitlich viel früher liegende Betriebsgründungen als Bergfabriken anzusprechen, weil sie diesen ihren Charakter schon von Anfang an trugen, der vielleicht am Ende unserer Untersuchungen etwas näher bestimmbar sein wird. Wenn wir - vorwegnehmend - feststellen, daß wir in den Bergfabriken auf Arbeiter stoßen, die nicht alle, aber wesentliche Merkmale der vorwiegend lohnabhängigen Früh8

Während scnst die 1 6 8 1 in Leipzig gegründete ,Gold- und Silber-Draht-Manufactur' stets als solche bezeichnet wird, trägt ein Aktenstück von 1750/51

(STA Dresden loc. 1 1 0 9 1 )

den (vielleicht

später eingesetzten) Aktenvermerk: „Acta, die Gold- und Silberfabriquen zu Leipzig betr." Außerdem gibt es nur noch Akten des Geheim-Kabinetts für die ,Concession zu Anlegung einer . . . Staniol . . . fabrik 1 7 7 7 (STA Dresden Loc. 1 4 1 b C A 6 5 3 ) . N. B.: Akten des Staatsarchivs Dresden (vormals Landeshauptarchiv L H A ) werden nur mit der Nummer des Locats und STA Dresden zitiert. 9

D a die Veröffentlichungen etwa von

Cancrinus,

Charpentier, Geliert,

Lampadius,

Langsdorf,

Lempe, Zimmermann keine Register haben, entfällt auch hier die Möglichkeit einer Überprüfung. Die drei wichtigsten „Bergwörterbücher" bieten das Stichwort nicht: a) Johann Samuel Schröter, Mineralogisches und bergmännisches Wörterbuch, Frankfurt a. Main 1 7 8 9 ; b) Carl Friedrich Richter, Neuestes Berg- und Hüttenlexikon, Leipzig 1 8 0 6 ; c) Swen Rinmann, Allgemeines Bergwerkslexikon, Leipzig 1 8 0 8 (Dt. Neubearbeitung der schwedischen Ausgabe Stockholm 1 7 8 8 ) .

25

Das Aufkommen der Bergfabriquen Proletarier 10

aufweisen,

dann

werden

wir

logischerweise

auch

auf

Unternehmer

und Betriebsleiter stoßen, die wesentliche Merkmale des frühen Fabrique-Herrn und Fabrique-Directors an sich tragen. Folglich werden wir prüfen, ob bei äußerlichem Habitus der differenzierten Werksanlagen als Fabrik auch die innere Struktur eines kapitalistischen Unternehmens jeweils gegeben ist. Denn es ist zumal bei lückenhafter Quellenlage durchaus denkbar, daß Betriebe und Betriebsgründer nur im Erscheinungsbild wie Fabriken und Fabrikherren wirken, ohne es zu sein. In seiner vor 20 Jahren erschienenen Gesamtdarstellung Die Manufaktur in Sachsen11 hat Rudolf Forberger ganz mit Recht die Sonderformen „bergmännischer" Manufakturen, die Erzeugnisse der berg- und hüttenmännischen Produktion meist zu Halbfabrikaten weiterverarbeiteten, als Bergfabriken herausgestellt. Erneut hat er12 sich 1965 zur Rolle und Bedeutung der Bergfabriken in Sachsen kurz geäußert und mit Fug und Recht in sachlicher Übereinstimmung mit den 1963 veröffentlichten Ergebnissen von H. O. Gericke herausgestellt: „Die Bergfabriken werden, wenn sie es nicht von Anfang an waren, vermutlich schon sehr früh den kapitalistischen Status angenommen haben . . . (und) es scheint, daß sie in viel höherem Maße als Manufaktur und Verlag bei der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise in Sachsen die Pionierrolle gespielt haben". Forbergers anregende und grundlegende Hinweise, die hier dankbar aufgegriffen sind, haben 1968 bei Hermann Freudenberger13 und 1969 bei Akos Paulinyi14 Resonanz gefunden und Forberger 1978 zur nochmaligen Zusammenfassung15 veranlaßt. Darin unterstrich er, daß die Bergfabriken „mit ihrer neuen Technik und Technologie, ihrer Arbeitsorganisation und dem gesellschaftlichen Charakter ihrer Arbeitskraft . . . ein neues Element in das nichtagrare feudale Produktionsgefüge gebracht und damit eine gewichtige Rolle als Wegbereiter und Mitgestalter des Kapitalismus gespielt haben". Damit ist auch angedeutet, was zunächst nicht im Vordergrund der Forschungen zum Industrialisierungsprozeß im 19. Jh. stand, daß man doch wohl sehr weit zurückgreifen muß, um den richtigen Ansatz für dieses Problem und für den Aufschluß über die Existenzbedingungen einer „Bergfabrique" zu finden. 10

11

12

13

15

Dessen Wesensmerkmale werden im Montansektor spezifische Züge tragen — und obendrein in Bergfabriken gegenüber Gruben und Hüttenwerken divergieren, wie in der Tat aus Ermittlungen zu den Arbeitern auf den Bergfabriken deduzierbar ist; der Begriff mag jedoch erlaubt sein. R. Forberger, Die Manufaktur in Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1958. R. Forberger, Zur Rolle und Bedeutung der Bergfabriken in Sachsen. In: Freiberger Forschungsheft D 48, S. 63-74. Leipzig 1965, S. 68. H. Freudenberger, Die Struktur der frühindustriellen Fabrik im Umriß (mit besonderer Berücksichtigung Böhmens). In: Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Probleme der frühen Industrialisierung. Hg. W. Fischer, Berlin 1968, S. 413-433. A. Paulinyi, Die Betriebsform im Eisenhüttenwesen zur Zeit der frühen Industrialisierung in Ungarn. In: Schriften des Vereins für Socialpolitik. NF 63. S. 215-237; Derselbe, Der technische Fortschritt im Eisenhüttenwesen der Alpenländer und seine betriebswirtschaftlichen Auswirkungen von 1600 bis 1869. In: Österreichisches Montanwesen. Wien 1974. R. Forberger, Zur terminologischen Problematik und zur Genesis der „Bergfabrik" am Ende des Feudalsystems und während der ersten Phase der Industriellen Revolution — demonstriert vornehmlich am sächsischen Beispiel. In: Tagungsband der ICOHTEC Freiberg 1978. Für die sehr liebenswürdige Überlassung des Vortragsmanuskripts danke ich meinem hochverehrten Kollegen Prof. Dr. habil. Rudolf Forberger ganz herzlich in alter Verbundenheit!

26

WILSDORF Notwendig ist dazu nach meiner Auffassung ein bereits im 16. Jh. ansetzender, zwar nicht viele

Einzelheiten erschließender, aber durchaus aufschlußgebender Einblick in die Struktur von metallurgischen Betrieben außerhalb des städtischen Handwerks, die unmittelbar Warencharakter annehmende Halbfabrikate wie Weißblech, Messingdraht, Arsenmehl u. a., herstellten und später auch tatsächlich als Bergfabriken bezeichnet wurden. Es läßt sich unschwer erkennen, daß unter technischen wie unter ökonomischen Aspekten die Produktionsweise auf einigen Werken, die 1538, 1564 oder 1 5 9 3 / 1603 gegründet wurden, bis um 1815 kaum verändert worden ist.

Die relativ gute Überlieferung über die Verlagerung der Weißblecherzeugung16 aus der Oberpfalz ins Erzgebirge zeigt, daß mit diesen Gründungen des Nürnberger Großunternehmers Andreas Blau die „Bergfabriken" 1537/38 faktisch ihren Einzug hielten. Das investierte Kapital von 13.000 fl. rh. stellte einen Wert dar, für den man damals hätte 5 200 Kühe kaufen können - es war also ein „Millionenobjekt". Die gezielte Abwerbung verschuldeter Arbeiter, die in ihrer Heimat nicht bleiben konnten, zeigt eine Unternehmerpolitik, die auf neuen Wegen war - auch wenn sie sich unvermeidbar einiger feudalabsolutistischer Mittel bediente, um die Werksabhängigkeit der aus hochqualifizierten Facharbeitern bestehenden Belegschaft zu sichern. Das konnte um 1538/1550 nicht anders geschehen als durch Einweisung der von ihren Gläubigern „losgekauften" Familien in werkseigene Siedlungshäuser und durch Unterwerfung der damit sozusagen „ansässig" Gewordenen unter eine „Patrimonialgerichtsbarkeit" feudaler Prägung. Der zweite Zweig der Bergfabriken, die von dem Nürnberger Techniker Hieronymus Zürich 1564 ins Leben gerufene, zur Textilfärbung immer wichtiger werdende Arsentnehlerzeugung17 forderte keine besonders aufwendigen Kapitalinvestitionen. Er glich aber in seiner Struktur den Weißblechhämmern, insofern die Arbeiter auch hier Träger der „Fabrikgeheimnisse" sein mußten und ebenfalls in einer einsam gelegenen Werkssiedlung mitten im ,Geyrischen Wald' zusammengefaßt waren. - Für das zweite seit 1581 in Geyer errichtete, anfangs als Kommunalunternehmen geplante Werk, die „Schwefelhütte" mit Vitriolsiederei, läßt sich der Charakter als Bergfabrik aus dem Produktionsziel ableiten, aber erst für spätere Zeiten nachweisen. Die arg lückenhafte Überlieferung über die Anfänge der Blaufarbenerzeugung18 zwischen 1520 und 1590 verbietet Aussagen und Schlußfolgerungen. Da aber in irgendeiner Form ein Glasschmelzofen Betriebsvoraussetzung ist, wird sich dieser (dann zum Musterbeispiel einer „Bergfabrik" werdende) „Industriezweig" vermutlich auch von vornherein nicht in rein handwerklichen Erzeugerformen bewegt haben. Für die vielleicht schon 1593 angestrebte, 1603 verwirklichte Gründung des Messingwerks19 Niederauerbach ist die Struktur als „Bergfabrique" völlig eindeutig. Hier wird 16

Diese ist mehrfach behandelt - vgl. auch H. Wilsdorf in Zusammenarbeit mit W. Quellmalz, Bergorte und Hüttenanlagen der Agricola-Zeit, Bd. I, S. 36, 510, Berlin 1973 [Agricola-Gedenkausgabe (AGA) Hg. H. Prescher - Ergänzungsband I].

17

Dazu liegt nur die Skizze von Siegfried Sieber vor.

18

Besser sind die späteren Stufen bekannt. Vgl. die „Einführung" von A. Lange zu August Fürchte-

S. Sieber, Gifthütten. In: Zs. Pharmazie 1948, Heft 4. gott Winckler, Das sächsische Blaufarbenwesen von 1790 in Bildern, Berlin 1959 Forsch. Heft D 25). 19

Vgl. unten S. 8 5 - 9 2 .

(Freiberger

27

Das Aufkommen der Bergfabriquen

auch wieder der Gründer Peter Ficker als Unternehmerpersönlichkeit in einigen markanten Zügen deutlich, die sich für die Arbeiter nicht wesentlich anders auswirkten als spätere Haltungen von „Fabrikbesitzern".

Das Verhältnis der Bergbehörden zu den Bergfabriquen Es beleuchtet die eigentümliche Sonderstellung dieser Betriebskategorie zur Genüge, daß sich die Bergbehörden recht unterschiedlich zu den einzelnen Unternehmen hinsichtlich ihrer Ansprüche auf Überwachung und .Direktion' von Amtswegen verhielten. Am wenigsten regierte man augenscheinlich in rein technische Belange hinein. Man war sich in den Bergämtern durchaus bewußt, davon nicht genug zu verstehen, und man sah auch keine Veranlassung, sich ein tieferes Verständnis zu verschaffen, da es ja „Arcana" waren, auf denen das jeweilige Betriebsprivileg beruhte. Nur dort, wo eine konzessionierte .Bergfabrique' die üblichen (niederen) Bergfreiheiten der privilegierten Bergorte -

Abgabefreiheit für das Backen, Brauen, Schlachten und das Schankrecht oder

gar den Salzverkauf -

innehatte, aber der Betrieb ins Stocken geriet, griff die Bergbehörde ein.

Meist erreichte sie durch die Drohung mit dem Entzug der Vorrechte und Begünstigungen, daß die Schäden behoben wurden - sei es durch Verkauf des Betriebes in kapitalkräftige Hände, sei es durch natürlich recht widerwillig investierte — Mittel aus dem sonstigen Vermögen 20 des Inhabers. Ein weiterer Eingriff der Bergbehörden erfolgte in jenen, gar nicht so seltenen Streitfällen 21 , in denen alte und neue Konzessionen in Widerstreit gerieten. Es konnte in der Tat zweifelhaft sein, ob das Monopol auf Arsenmehlproduktion nur für das von Hieronymus Zürich erfundene -

für die

habsburgischen Lande seinem Bruder Nicolaus patentierte - Verfahren gelten sollte. D i e kurfürstliche Regierung beharrte aber bis ins 19. Jh. hinein konsequent auf dem „absoluten Schutz" der Privileginhaber und konzessionierte 1780 nur vorübergehend ein anderes Verfahren.

So ergibt sich die Feststellung, daß die kursächsischen Bergbehörden eigentlich nur im Bereich der Blaufarbenwerke - die ohnehin zu zwei Fünftel kurfürstlicher Regiebetrieb waren - ein begrenztes Mitspracherecht geltend gemacht haben. Es bezog sich im wesentlichen auf Gruben, die Kobalterze22 lieferten und berührte kaum die betriebsinterne Produktion der ,Bergwaaren'. Wohl aber sollte durch Einkleidung der Beleg20

Das 1689 in Beierfeld gebotene amtliche Eingreifen zur baulichen Erneuerung der „Silberhoffnungshütte" wird dargelegt von G. Beyer, Geschichte von Beierfeld, Beierfeld (Selbstverlag des Pfarramts) 1923 S. 111.

21

Hierzu muß bemerkt werden, daß mehrfach Bergamtsentscheidungen in Streitfragen aus Privilegien durch Appellation an das Leipziger Oberhofgericht erfolgreich angefochten wurden. Das Unternehmertum betrachtete die Bergbehörden eben nicht mehr als „zuständig" - ein gewisses Indiz für die Eigenständigkeit der Bergfabrik liegt auch darin, ohne daß man es überbewerten sollte!

22

Mit dem Geheimverfahren der Blaufarbenherstellung hatte das Bergamt nichts zu tun. Jedoch hatte der Kurfürst 1649 die Ablieferung aller Kobalterze ausschließlich an die fünf Werke zugesagt und alle Gruben, in denen Kobalterze vorkamen, unter die Aufsicht des Schneeberger Bergamts und des „Kobaltüberreiters" gestellt, der eine berittene Polizei zur Verhinderung des Schleichhandels mit Kobalterzen befehligte.

28

WILSDORF

schaft mit der bergmännischen Paradetracht und der Verpflichtung zur Teilnahme bei solchen die Zugehörigkeit der fünf Blaufarbenwerke zum „königlich-polnischen, churfürstlich-sächsischen B e r g s t a a t " manifestiert werden. Schon rein zahlenmäßig waren diese fünf Belegschaften der einzig .lohnende' Bereich Belegschaft auf dem kurfürstlichen Kupferhammer

obendrein auch wohl neben der

Grünthal der einzige, der den Arbei-

tern eben wegen der Geheimhaltungsbesorgnis eine genügende Verdienstspanne über dem Existenzminimum 2 3 beließ, so d a ß die Anschaffung der teuren Paradetracht angeordnet werden konnte. Zugleich forderte das B e r g a m t - konsequenterweise - von den ,Privatbeamten' einen aus der Ideologie des feudalen Lehnseides abgeleiteten Diensteid auf den Landesfürsten und erzwang die Eidesleistung schließlich auch gegen den harten W i d e r stand der Angestellten und der Unternehmer 2 4 . D e r E i d , der Treue, Gehorsam und ,Fleiß' bekräftigen sollte, überlieferte den „Eidbrecher" nicht nur der öffentlichen Abneigung, sondern auch der .willkürlichen Strafe', für die es keinen Strafkodex gab. Sonst ist es vereinzelt vorgekommen, daß der Leiter oder der Inhaber einer .Bergfabrique' Zugang zu den Beamtenstellen der Bergbehörden fand. Der Aufstieg des Gürtlermeisters25 Thomas Weber zum Oberhüttenamtsassessor nach Aufgabe seiner Geschäftstätigkeit für die von ihm in Freiberg gegründete „Manufactur leonischer Waaren" ist einmalig, nicht aber die Verleihung von Titulaturen2® an erfolgreiche Manufakturinhaber - mehrere sind zum Hofkommissar oder zum Hofkammerrat ernannt worden. Umgekehrt beteiligten sich aber auch Bergbeamte finanziell an ihnen günstig erscheinenden ,Bergfabriquen' oder suchten durch technische Neuerungen sie in Gang zu bringen. So unternahm etwa der „Bergkommissionsrat" Paul Reinhold vor 1756 durchaus erfolgreiche Versuche zur Stahlschmelze auf dem ihm gehörigen Erlahammer. Schon 1662 hatte sich der auf sein Geheimverfahren sehr bedachte Berghauptmann Caspar von Schönberg seine in Geyer praktizierte - mit der Vitriolgewinnung kombinierte Schlackenschmelze privilegieren lassen; noch seine Erben waren als Inhaber der patentierten und privilegierten Schlackenhütte bis zum Jahre 1753 Mitgewerken der Vitriol- und Das ist deshalb wahrscheinlich, weil der Tagelöhner mit etwa der Hälfte vom Schichtlohn des Blaufarbenarbeiters auskommen mußte. 2/* Siegfried Sieber, Geschichte des Blaufarbenwerks Niederpfannenstiel, Schwarzenberg 1935, S. 17-18 (Streit 1670-1676 um die .Vereidigung' der Schicht- und Farbmeister). -'•> Er wurde der Gründer der Großfirma Thiele und Steinert, Freiberg, die um 1790 mit der Herstellung .leonischer Waren' fast 500 „Arbeiter" (in Heimarbeit) mit einem sehr hohen Anteil von weiblichen Kräften beschäftigte. 26 Interessant ist die Einstellung der Enzyklopädie von Krünitz: „Die Ertheilung der Ehrentitel ist in Deutschland ein wirksames Mittel, diejenigen, so nützliche Manufakturen und Fabriken anlegen, in Achtung zu setzen; der Titel eines Rathes, eines Commercienraths u. d. wird viele zu solchen Unternehmen anreitzen. Nur ist es nicht zu rathen, daß man Kaufleute oder große Manufacturiers, wie es wohl geschiehet, in den Adelsstand erhebe . . . Denn . . . Wenn auch der Vater bei seinem neuen Adel die Manufacturen und Fabriken fortsetzet, so sind doch die Kinder selten dazu geneigt." [Bd. 81 (1801) S. 42]. Zum Sozialprestige der „Arbeiter" äußert sich der gleiche Autor: „Die Achtung muß sich nicht allein auf die Anleger der Manufacturen und Fabriken, sondern auch auf die gemeinen Arbeiter erstrecken. Man kann sie . . . von der Werbung u. Soldatendiensten befreyen . . . Doch ist hierbey immer dahin zu sehen, daß die Manufacturen und Fabriken nicht zum Nachtheil des Ackerbaus und der Viehzucht zu sehr ausgezeichnet werden, weil diese immer, auch bey dürftigem Boden, die Hauptgrundlage des Wohlstandes bleiben." [Bd. 81 (1801) S. 43].

Das Aufkommen der Bergfabriquen

29

Sdvwcfelhütte Geyer. Hier sind auch die Betriebsleiter - nicht die kaufmännischen Direktoren 27 und Betriebsinhaber - in die Rangordnung der Bergbeamten eingegliedert worden. Anderwärts, wie in Buchholz (STA Dresden loc. 36092) bat 1752 der .Schichtmeister' beim Vitriol werk vergebens um den Titel .Bergfactor'.

Im Gegensatz dazu waren die 15 bis 20 Arbeiter auf der .Gifthütte' in Geyer armselige, von früher Krankheit gezeichnete, fernab vom Ort wohnende Gestalten. Die Bergbehörde war froh, daß die gut zahlenden Privileginhaber immer wieder genug Leute fanden, die zu der todbringenden Arbeit überhaupt bereit waren. Denn man kannte das landesfürstliche Interesse an den hohen Regalabgaben sehr wohl, wenn auch vielleicht nicht den Bilanzwert der dort erzeugten Handelsprodukte. Auch war der einzelne Beamte verständlicherweise darauf bedacht, mit den ,Giftarbeitern' nicht viel zu tun zu haben, und beschränkte sich auf seine Funktion bei Gruben, die arsenhaltige Erze lieferten. Darum kam es auch später nie zu einer administrativen Zusammenfassung der Arsenmehl herstellenden Betriebe in Beierfeld - Ehrenfriedersdorf - (Freiberg Geyer - Hohnstein) - oder der für den Schießpulverbedarf so wichtigen Schwefelhütten in Beierfeld, St. Christoph (1569), Breitenbrunn, Geyer, Johanngeorgenstadt, Schwefelhütte (d. i. Neidhardtsthal). Die Unterstellung wirklich großer Werke unter ein Bergamt setzte die Bergbeamten leicht nachdrücklichen Beschwerden aus, wenn sie einzugreifen suchten. Gelangten Einsprüche gegen Anordnungen durch den Einfluß der Kläger direkt an den Hof, zog das für den Beamten sehr unliebsamen Ärger nach sich, selbst wenn ihn die nächsten Vorgesetzten decken wollten. So zeigt sich, daß etwa das Altenberger Bergamt gegen die trustartige ¡Zwitterstocks gewerkschaft'^ stets machtlos gewesen ist. Diese betrieb ja nicht nur Zinnbergbau, Zinnverhüttung, Eisensteinbergbau, Eisensteinverhüttung, sondern besaß für das Werk Schmiedeberg die einmalig weitläufige Konzession für eine Rohrschmiede, einen Waffenhammer, zwei Blechhämmer, eine Gießerei - auch für Kunstguß und war für den 1697 erworbenen Rittergutsbereich Schmiedeberg Berggerichtsherr auf alle Metalle (außer Gold und Silber) und obendrein feudaler Patrimonialgerichtsherr, vertreten durch einen Fachjuristen als gewerkschaftlichen Gerichtsdirektor. Zum Komplex gehörte auch das Recht, Mahlmühle, Backhaus, Schlachthaus, Malz- und Brauhaus zu betreiben, sowie für die rittergutseigene Waldwirtschaft einen Förster und für den Floßrechen in der Weißeritz einen Rechenmeister einzustellen. Schon rein zahlenmäßig war die Anzahl der kurfürstlichen Bergbeamten geringer als die der gewerkschaftlichen Bediensteten, die folgende Betriebsteile zu dirigieren hatten: 27

38

Diese lebten in Leipzig, Dresden oder in anderen Städten - selbst die ortsansässigen Betriebsleiter (Faktor, Schichtmeister) sind immer nur fallweise dem Bergamt unterstellt gewesen. Die Quellen lassen jedoch nicht erkennen, ob das nur in erfolgreichen Perioden oder gerade in verlustreichen geschah. - Damit ist nicht gesagt, daß die als ,churfürstl. sächs. Industrieanlagen' betriebenen Werke am besten gediehen. Vgl. auch H. Frommhold, Spiegelschleife, Pulvermühle und Kanonenbohrwerk. Diss. TH Dresden. Dresden 1925. Vgl. dazu Quellmalz - Schlegel - Wilsdorf, Das erzgebirgische Zinn im Natur - Geschichte - Technik, Altenberg (1977) (dort Lit.-Verz.), aber auch: Barsch - Giegling - Stockei, Geising und seine Bergbau-Schauanlage Silberstollen. (Kamenz 1979) Geising, Rat der Stadt, Selbstverlag.

30

WILSDORF Konzession 7. 2 Hohe Öfen

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

2 1 1 2 1 1 2 1 1

Frisch feuer Zerrennfeuer kleiner Stichofen Stabhämmer Zainhammer Waffenhammer Blechhämmer Weißblechverzinnung Rohrschmiede

Baulichkeiten zu 1 — 3 nämlich Hütte für 2 Hochöfen, Pochwerk für Eisenstein, für Schlacken 2 = 2 Frischhütten 3 = 1 Zerrennhütte 4 = 1 Formhaus (.Eisengießerei') 5 = 2 nämlich oberes und unteres Stabfeuer 6 = 1 Zainhammer a. d. Roten Weißeritz 7 = 1 Schleifkotten 8 = 1 Blechhammerwerk mit 2 Hämmern 9 = 1 Zinnhaus 10 = - vgl. Hüttenschmiede dazu 2 Kohlhäuser (großer + kleiner Holzkohlenschuppen) 1 Hüttenschmiede als Anbau an das Formhaus (Nr. 4) 16 z. T. dislozierte Betriebstedle

Rittergut

und

1 1 1 1 1 1

Mahlmühle Backhaus Schlachthaus Malzhaus Brauhaus Brettmühle

1 Floßrechen in der Roten Weißeritz 23 Betriebsteile in Schmiedeberg

Kapitalistische und feudalistische Grundelemente im Aufbau der .Bergfabriquen' durch die Unternehmerinitiative und die Auswirkungen auf die Arbeiter An den .Bergfabriken' als vorbildgebenden Beispielen der frühen kapitalistischen Unternehmerinitiative und der lebenslang damit verbundenen Lohnarbeit in der vorindustriellen Produktion läßt sich die Situation der werktätigen Klassen und Schichten außerhalb der städtischen Lohnarbeit untersuchen. Für deren Situation war es nicht von Belang, ob die Bergfabrik Waren für den Markt oder den ambulanten Kleinhandel oder Halbfabrikate für das weiterverarbeitende Handwerk oder den Manufakturbetrieb erzeugte. Zu einer unumgänglichen Einschränkung der Relevanz aller Aussagen führen in der Regel zwei Faktoren: 1) Die durch Monopolisierung erreichte Singularität und die meist stadtferne Streulage der für ihren Energiebedarf an Wasserkräfte wie auf Holzvorräte angewiesenen Betriebe schließt Vergleiche29 aus. 2) Die vielfach mit Feudalbesitz ge29

Blaufarben- und Messingwerke oder Gifthütten lassen sich - auch bei vielen gemeinsamen Zügen wohl doch schlechter als ähnliche Textilbetriebe oder Papiermühlen untereinander vergleichen.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

31

koppelten Unternehmungen wiesen im Gegensatz zu den (meist städtischen) Manufakturen eine besondere, Vergleiche gleichfalls erschwerende Struktur auf. Die mit feudalen Rechtsbefugnissen30 ausgestatteten Betriebsinhaber bewegten sich also weitgehend im feudalen, nicht gerade einheitlichen Wirtschaftsdenken. Sie haben vielfach erst in eine kapitalistische Betriebsweise hineinfinden müssen. Wenn ihnen dies nicht gelang, scheiterte ihr Unternehmen kurzfristig - mindestens mußten sie sich dann mit städtischen Elementen assoziieren. Das ist eine für die .Bergfabriquen' typische Entwicklung, die in ähnlicher Weise auch für Bergbaubetriebe schon seit dem 14. Jh. 31 immer wieder zur Wechselwirkung zwischen Montanberufen, städtischem Kapital und feudalem Potential (gelegentlich unter Einbeziehung klerikaler Machtmittel) geführt hatte. Hinzu kam - je länger, je mehr - die Tendenz der Spitzen des kapitalstarken Bürgertums, sich auf ihren ländlich gelegenen Werken zu feudalisieren32. Dabei setzten sie sich ähnlichen 30

Zugebilligt wurde dem Betriebsinhaber in der Regel nur die niedere Patrimonialgerichtsbarkeit, wie sie von dem Erbrichter eines Dorfes wahrgenommen wurde - und auch nur dann, wenn zum Betrieb der Bergfabrik eine Gutswirtschaft gehörte.

31

Seit dem 13. Jh. sind Bargeldeinlagen als Lohnvorschüsse und für Materialkosten bei Bergwerken und Hüttenanlagen unvermeidlich gewesen und haben zu dem bekannten Interessentendreieck geführt:

Regalherr

GRUBE

Bergarbeiter Einseitiges Interesse

Berggewerken

Regalherr

[Bergwaaren-Fabriquen] (Landesfürst)

an hohen Abgaben Einseitiges Interesse

Berggewerken

(Fabrikunternehmer)

an hohem Profit Einseitiges Interesse

Bergarbeiter

(Fabrikarbeiter)

an hohen Löhnen Gemeinsame Interessen

Regalherr -f- Berggewerken

an geringen Lohnkosten Gemeinsame Front gegen

Berggewerken +

Bergarbeiter

die Regalbeamten Gemeinsame Interessen an ungemindertem Lohn 32

Bergarbeiter

Regalherr

contra Bergarbeiter contra Regalherrn contra Berggewerken

Diese Tendenz war in der Oberpfalz und in den Alpenländern stärker als im Erzgebirge. Dort gelang sie mitunter in drei Generationen vom Schmied zum Grafentitel (Grafen Christallnig). Im Erzgebirge sind nur die Schnorr von Carolsfeld erfolgreich gewesen.

32

WILSDORF

Fehlschlägen aus wie die „industrieusen" Feudalherren. Nicht zur Feudalisierung strebende bürgerliche Unternehmer blieben meist betriebsfern in den Städten wohnen und übertrugen die technische, vielfach auch die kommerzielle Leitung - mitunter durch Verpachtung - einem auf dem Werk und manchmal sogar im „Herrenhaus" wohnenden Faktor. Meist war dies ein aus der Zahl der Facharbeiter aufgestiegener Fachmann, der vielleicht sogar in der Fremde auf ähnlichen Werken Spezialkenntnisse erworben hatte; der Unternehmer mußte ihn relativ hoch bezahlen, denn er war zur Vermeidung technischer wie ökonomischer Fehlschläge unentbehrlich. Diese eigentlichen Fachleute, die auf dem Gebiet der mechanischen oder der chemischen Technologie empirische Kenntnisse besaßen und durch geduldige Erprobung ihre glücklichen Einfälle in „Erfindungen" umgesetzt hatten, waren zunächst die Patentinhaber und Unternehmer^. Allein sie kamen in einer Zeit, die dem Begriff des geistigen Eigentums wenig Beachtung schenkte und weder im Plagiat noch in der Patentverletzung ein Delikt sah, durchaus nicht immer zu Erfolgen. Sie blieben vielmehr auch als Patentinhaber infolge der Ohnmacht, die widerrechtliche Benutzung zu unterbinden, arme Erfinder. Kein Wunder, daß sie vielfach vorzogen, von den Unternehmern „angestellt" zu werden. Damit bildeten sie eine zahlenmäßig geringe, wesensmäßig aber ganz neue Zwischenschicht zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das „Unglück der Erfinder" lag an der besonderen Honorarform der ,Leistungswette zu der sich die frühen Ingenieure verstehen mußten: Der Auftraggeber versprach ein - meist extrem hohes - Honorar, a b e r nur für den Fall, daß die vereinbarte Leistung wirklich vollbracht wurde. Erreichte der Patentinhaber die Leistung nur teilweise, ging er nicht nur völlig leer aus, sondern verlor auch noch die Kostenvorschüsse, die er für den Aufbau oder Einbau seiner Anlage hatte leisten müssen! Zur Abschreckung bloßer Projektemacher und Scharlatane war diese Härte zwar verständlich, aber sie erhöhte das Risiko dermaßen, daß dem ehrlichen Erfinder und Unternehmer fortschrittliche Verfahren kaum Erfolg brachten, wenn damit nicht direkt Handelsgüter 35 , besser noch Kleinhandelsgüter, erzeugt wurden. Als erstaunlich frühe Erfassung der „Erfindertragik" entstand sogar bereits um 1556 in Schneeberg eine - beinahe noch der „reformatorischen Flugschriftenliteratur" zuzuzählende - Sozialkritik: das als Druck nicht mehr vorhandene, sondern nur abschriftlich in der Kollektaneenchronik des Petrus Albinus erhaltene „Gespräch zweier 83

34

35

Es ist natürlich immer schwer zu entscheiden, ob Erfinder und Patentinhaber identische Personen sind. Augenscheinlich waren in Kursachsen um 1700 „Patente" Handelsobjekte, auch wenn sie nur auf Frist erteilt waren. Ob das schon um 1600 der Fall war, bleibt fraglich, vgl. unten S. 58 u. A. 124. Das Problem ist gestreift bei H. Wilsdorf, Kulturelle Entwicklung im Montanbereich während der Zeit der frühbürgerlichen Revolution. In: Der arm man 1525, volkskundliche Studien hrsg. von H. Strobach, Berlin 1975, S. 1 0 3 - 1 7 4 , bes. S. 1 1 4 - 1 2 5 . Die Patentierung rein technischer Verfahren im eigentlichen Kernbereich war anfangs meist wirkungslos, wie die Beispiele (Naßpochwerke 1512, Pumpenkünste 1553) zeigen. Das 1564 patentierte Verfahren der Arsenmehlerzeugung hatte dagegen als erstes - für eine Bergfabrik - einen Dauererfolg und ist erst 1780 durch das neue Verfahren des Inhabers der Beierfelder „Silberhoffnungshütte" durchbrochen worden.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

33

Steiger über neue Pumpenkünste" 36 . Darin wird erzählt, der Steiger Bernhard Widmann in Schneeberg habe die von Balthasar Zeuner aus Ehrenfriedersdorf erfundene .Pumpenkunst mit dem krummen Zapfen' wesentlich verbessert. Kurfürst Moritz erteilte ihm auch 1553 ein Privileg, doch war 1556 festzustellen, daß die Erfinder leer ausgingen; denn die ironisch so genannten „ehrlichen Bergleute" bauten die Kunstgezeuge nach und „traten dem Privileg in die Fresse" [drohten solchergestalt die gnadung in (d) freß], wie im groben erzgebirgischen Dialekt 37 ungeniert gesagt wird. Diese bedenkliche Erscheinung im Kernbereich des Montanwesens mußte sich im Randbereich der Bergfabriken noch viel krasser auswirken. Wir können daher von vornherein nur mit einer geringen Anzahl markanter Bergfabriken rechnen. Diese Probleme - 1. Risikobereitschaft der Unternehmer, 2. „Erfinderfreudigkeit" der ,ingeniösen Köpfe', 3. Facharbeiterstolz und 4. Vertrauensposition der mit dem Fabrikationsgeheimnis bekannten „Arkanisten" 38 - sind natürlich vier bedeutsame Faktoren bei der Entwicklung der Bergfabriken gewesen und müssen daher eingangs Erwähnung finden, denn vom Bewußtsein einer Klassenauseinandersetzung und von der Voraussetzung dafür - der Erkenntnis der Klassenposition - konnte vor der Zeit um 1830 keine Rede sein. Von ihrer dörflichen Herkunft39 her lag vielen Lohnnehmern in den verschiedenen Werken die bäuerliche Arbeit im Stall und auf dem Feld nicht fern. Das landwirtschaftliche Betätigungsfeld in einer oft nur durch Pacht möglichen Kleinstlandwirtschaft gehörte daher existential in der Regel zum „Bergfabrique-Arbeiter". Dazu zwang, wie Untersuchungen 40 schon seit langem ergeben haben, die notwendige Abdeckung des Defizits zwischen dem Existenzminimum und dem darunter bleibenden Reallohn. Die eigene Erwirtschaftung der Grundnahrungsmittel war zwar möglichen Mißernten ausgesetzt, half aber auch, aperiodischen „Teuerungen" auszuweichen. Der verständliche Trend, so viel wie möglich selbst anzubauen, fand zwei relativ enge Grenzen: 1. Kleinstbesitz (und geringe Möglichkeit, ihn durch Pachtland zu erweitern) und 2. Leistungsgrenzen der Frauen- und Kinderarbeit. Für die Arbeiter ergab sich durch die übermäßig starke Belastung der Frauen mit der 30

37

88

Petrus Albinus, Schneeberger Collectaneenchronik = Ms d 51 der Sächsischen Landesbibliothek Dresden, fol. 6 - 1 0 , fol. 128-129. Vgl. dazu: H. Wilsdorf, „Was hölstu von den neien Kinsten?" Ein Gespräch zweier Steiger 1556 über die Erfindung der Ehrenfriedersdorfer Pumpenkunst. In: Festschrift des Museums für erzgebirgische Volkskunst und Bergbau in Schneeberg 1982 (im Druck). Der unbekannte Verfasser beabsichtigte offenbar, durch die Verwendung des Dialekts die einheimischen Bergleute anzusprechen, um dem Erfinder zu seinem „Recht" zu verhelfen. Die Entlehnung des alchemistischen Begriffs zeigt, daß ein „Geheimwissen" und ein „Eingeweihtsein" in das Fabrikgeheimnis zum Ausdruck gebracht werden sollte.

39

Auch bei den aus der Fremde angeworbenen Facharbeitern handelte es sich nur selten um Stadtleute - überall drängte die Abhängigkeit von Holz und Wasserkraft die Bergfabriken in mehr oder weniger isolierte Talsiedlungen. Dazu auch S. Sieber, Die Montanlandschaft um Schneeberg, Bl. 216 bis 253: Schmelzhütten und Vitriolsiedereien. [Ms.,].

40

Sie sind nicht sehr zahlreich - besonders ergiebig sind die Analysen von H. O. Gericke, Die Lage der Arbeiter des ehemaligen Messingwerkes von Niederauerbach/Voigtl. von 1600 bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Diss. phil. Leipzig v. 18. September 1967, [Maschinenschrift].

3

Volksleben

WILSDORF

34

Kleinlandwirtschaft bei unverhältnismäßig schwerer Arbeit im Gebirge durch den frühen Tod der Ehefrau vielfach die Notwendigkeit 4 1 einer zweiten und dritten Heirat. Damit erstreckte sich aber auch die Sorge für Kleinkinder im Haushalt über zwanzig und mehr Jahre! D i e Anzahl der geborenen Kinder ist unbegreiflich hoch - erst bei 20 und mehr Kindern sah sich der Ortsgeistliche zu einer Hervorhebung des .Kindersegens' bewogen. D i e Anzahl der ,groß Gewordenen' liegt so tief, daß man zur Begründung fast nur ungenügende Ernährung -

mit Rücksicht auf die Häufung der Todesfälle im harten

Winter, ungenügende Bekleidung -

geltend machen kann. Natürlich wird man den

Mangel an Heilmitteln und die Gefahr von Infektionen gebührend hoch einschätzen, allein sie erklären die Fakten nicht ausreichend. Mangelhafte Hygiene 42 wirkt sich vor allem im T o d durch das Kindbettfieber aus; es wäre vielleicht sogar möglich, aus der Statistizierung der Kirchenbucheinträge dessen epidemisches, periodisches Auftreten zu ermitteln. Freilich sind Vorbehalte insofern nötig, als jedes Herausgreifen einer Gruppe Resultate erbringt, die nach heutigen Normen erschütternd sind, früher jedoch vielleicht noch im Bereich der Norm lagen. Ob sich Feststellungen für die Bergfabrique-Arbeiter nicht sehr rasch relativieren würden, wenn man andere, etwa bäuerliche, Gruppen gleichfalls analysiert, steht dahin; zu einer demoskopischen Analyse reichen die Quellen einfach nicht aus. Unsere zwar sorgsam erwogenen, aber notgedrungen summarischen Schlüsse beruhen auf schwachem Material aus Beierfeld, Eibenstock, Ellefeld, Ehrenfriedersdorf, Jöhstadt und Sosa43, mithin nicht einmal aus Orten mit vorwiegend in Bergfabriken tätiger Bevölkerung. Sie können und wollen daher auch nur als Problemhinweis dienen. Im Hinblick auf den notorischen, aber lokal durchaus nicht einheitlichen und gleichmäßigen Bevölkerungsdruck nach 1530 (und dann wieder nach 1680) muß ein rascher Wechsel der Lebensverhältnisse von Dorf zu Dorf in Rechnung gestellt werden. Bald dieser, bald jener Ort litt - oder profitierte - vom Anstieg seiner Einwohnerzahlen. Doch soll hier auf die (natürlich auch mit dem Aufkommen der Bergfabriken verbundene) „Nachbesiedlung" im Erzgebirge nicht eingegangen werden; nur die punktförmige Durchsetzung der Gebirgslandschaft vor allem in den im 16. Jh. noch siedlungsfreien Tallagen muß uns beschäftigen. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich gerade darum vorzugsweise auf die Anfangsstadien. Allerdings bleiben die Verhältnisse im 16. Jh. oft dunkel und undurchsichtig, und Aussagen aus Einzelbefunden dürfen nicht verallgemeinert werden. E r s t für die 41

42

43

Es handelte sich vor allem um eine wirtschaftliche Notwendigkeit, nicht nur um ein sexuelles Bedürfnis der Werktätigen. In der vorliegenden Arbeit stütze ich mich mehrfach auf meine noch ungedruckte Arbeit (Referat auf der Jahrestagung 1973 der Gesellschaft für Geschichte der Medizin in der D D R ) : Bergmedici und Bergchirurgen in ihren Bemühungen um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Bergleute und Hüttenmänner im XVII. und im XVIII. Jahrhundert. (1. Pansa - 2. Ursinus - 3. Stockhausen 4. Siemens - 5. Suchland - 6. Fischer - 7. Kochlatsch, Bube, Neumann - 8. Moller - 9. Hezel 10. Henckel - 11. Dressler - 12. Scheffler - 13. Lentin - 14. Bartold - 15. Zückert - 16. Kortum (vgl. bes. die erzgebirgischen Ärzte Nr. 1, 7, 8, 10, 12). Umfassend ist nur Jöhstadt von dem Genealogen W. Maschke in Karl-Marx-Stadt durchgearbeitet worden; Material für andere Orte bieten z. T. die alten Ortschroniken des 18. Jahrhunderts, z. T. neuere Arbeiten, von Carl Langer (Ehrenfriedersdorf - noch unpubliziert), H. O. Gericke (Niederauerbach/Ellefeld), W. Beyer (Beierfeld). Eibenstock ist für 1589/1627 komplett erfaßt: E. Sachse in: Zs. Mitteldeutsche Familienkunde 10 (1969) 297-309.

35

Das Aufkommen der Bergfabriquen

Entwicklung nach dem Dreißigjährigen Krieg liegen genügend Unterlagen vor, um wenigstens ein einigermaßen konturenreiches Relief zu gewinnen. Dabei muß um so stärker unterstrichen werden, daß die nun deutlicher hervortretenden Erscheinungen keineswegs n e u e Entwicklungen sein müssen, sondern ebensogut bisher verdeckte und aus Quellenmangel unsichtbare sein können. Damit soll nicht etwa generell behauptet werden, daß v o r dem Krieg und n a c h dem Krieg keine Unterschiede in der wirtschaftlichen Struktur bestanden haben, - aber ebensowenig ist es richtig, aus dem Zeugnismangel zu erschließen, daß a l l e Entwicklungen, die vorher nicht klar ersichtlich sind, erst nach 1648 eingesetzt haben. Diese Voraussetzungen wird man beachten müssen, will man den Elementen von Kultur und Lebensweise der in den Bergfabriken Tätigen und an ihnen Beteiligten und diesen, im wesentlichen kapitalistisch arbeitenden, Unternehmungen selbst nachgehen. Standortprobleme aus der Sicht der Unternehmer wie der Arbeiter Komplexe Vorüberlegungen zur Standortwahl, wie sie für die industriellen Fabrikgründungen bereits unumgänglich waren, wird man für die ,Berg-Fabrique' des 16. und 17. Jh. und auch noch für die des 18. Jh. nicht voraussetzen dürfen. Zu berücksichtigen waren damals fast nur die beiden Elementarfaktoren: ausreichende Wasserkraft und billiger Holzbezug. Die Verkehrswege wurden weitgehend durch die feudalen Geleitseinnahmestellen .vorgeschrieben. Die wenigen Facharbeiter44, die zum Teil aus der Fremde angeworben werden mußten, ließen sich mit geringem Bauaufwand überall .angemessen' unterbringen. Das hieß nicht mehr als die Bereitstellung von Stube-Kammer-Küche pro Familie sowie - für alle - ein Backofen und für jede einzelne ein bißchen Vorratsraum, Getreideboden, Stall 45 , Holzplatz und ab 1710 eventuell ein Kartoffelkeller 46 . Die auf den neuen Werken sonst noch erforderliche Arbeiterzahl war so gering, daß sie nirgends zum Problem werden konnte. Gegebenenfalls mußte die Bergfabrik nicht anders als das Bergwerk auf die nächstgelegenen Ortschaften zurückgreifen. Der Mensch ist früher zu weiten Anmarschwegen bereit gewesen - das „Pendeln" ist kein neuzeitlicher Übelstand, sondern war schon eine feudalzeitliche Notwendigkeit. Es verlief freilich nicht einseitig in Richtung Dorf -*• Stadt, sondern eher in Richtung Richtung - > ,Berg-Fabrique'. 44

Die

Belegschaften

weisen branchenbedingt

erhebliche

Bergbau oder eben auch in Unterschiede

auf,

viele umfaßten

5 - 6 Facharbeiter; große Werke wie Schwefelhütten oder „Gifthütten" zählten 1 5 - 2 5 ;

nur

hinzu

kamen aber die dafür tätigen Bergleute - auch bei den Blaufarbenwerken I Wie das Messingwerk erreichten bedeutende Bergfabriken durch zusätzliche „nicht-ständige" Arbeiter, die z. T. als Facharbeiter

(Bergleute,

Köhler,

Fuhrleute)

entlohnt wurden,

eine Gesamtbelegschaft

von

etwa

100 Mann. 45

In der Regel genügte ein Kleinviehstall (Schwein, Ziege/Schaf, Hühner), doch zeigen um 1750 Beierfeld oder Niederauerbach eine begrenzte Rindviehhaltung durch .Bergfabrikarbeiter', wie Beyer und Gericke nachweisen. Im Bereich des Messingwerks Niederauerbach setzte der Kartoffelanbau befelts so früh ein! Aufgegriffen wurde das Vorbild des feldmäßigen Anbaus auf dem Rittergut Schönfeld/Vogtland seit 1 6 8 0 ; vgl. Anm. 210 auf S. 90.

3*

6R0NHAIN

-•CD

A



der Spiegelwold 777

Auerhammeri

Waschleithe ±

X

+Silberhoffnung

unterer Hammer i liiy® /'' Ich verweise auf meine knappen Angaben in Bd. 8 der Reihe „Werte unserer Heimat" - G. Müller, Zwischen Müglitz und Weißeritz, Berlin 1964, S. 106-115; c/d Hammerwerk - Gießerei und Maschinenbauwerk. 55 Das Brennholzquantum schwankte beträchtlich, 77 Schrägen dürfte ein Mittelwert sein. 36 Die bisherige Datierung auf 1586 konnte durch einen Aktenfund korrigiert werden (lt. brieflicher Mitteilungen von Herrn Prof. Dr. von Stromer-Reichenbach, dem ich dafür bestens danken möchte!). 57 W. Hentzschel, Kursächsischer Eisenkunstguß, Dresden 1955. S. 14-19.

WILSDORF

40

A l s .Konkurrent' d e s O s t e r z g e b i r g e s sind auch nicht d i e K l e i n a n l a g e n im E l b s a n d s t e i n gebiet aufgetreten -

d i e dort erbrachten L e i s t u n g e n i m E i s e n k u n s t g u ß in d e n Jahren

zwischen 1 5 2 0 u n d 1 5 8 5 s i n d künstlerisch, aber nicht nach Produktionsziffern beachtenswert. A u f f ä l l i g ist v i e l m e h r d i e Fabriquen

sachlich g a n z a b w e g i g e - Konzentration

von

Berg-

in der R e s i d e n z s t a d t 5 8 D r e s d e n .

E s ist fraglich, o b m a n d i e später v i e l f a c h als .Bergfabrique' b e z e i c h n e t e ( w e i l S c h w e f e l u n d Salpeter v e r a r b e i t e n d e ) Pulvermühle k a m der B e r g b a u -

nennen soll, d e n n bei ihrer G r ü n d u n g 1 5 7 6

später der H a u p t a b n e h m e r -

ü b e r h a u p t noch nicht in Betracht.

W e s e n t l i c h e K e n n z e i c h e n der B e r g - F a b r i q u e f e h l e n auch der 1 5 6 7 errichteten für Glocken

und, Geschütze,

Gießhütte

d i e in 9 Jahren d e n g e s a m t e n L a n d e s b e d a r f gedeckt hatte,

s o d a ß ihr Leiter M a r t i n H i l l i g e r ( 1 5 3 8 - 1 6 0 1 ) aus der Freiberger G l o c k e n g i e ß e r f a m i l i e sich n e u e A r b e i t in G r a z suchen m u ß t e , bis er nach 1 3 Jahren aus Österreich w i e d e r zurückgerufen w u r d e , u m das s t i l l g e l e g t e W e r k erneut in G a n g zu bringen, das d a n n (sozusagen i m E r b g a n g ) auch noch S o h n u n d E n k e l leiteten. E i n total f e h l g e s c h l a g e n e s U n t e r n e h m e n entstand in D r e s d e n aus kurfürstlicher W i l l kür, nämlich d i e 1 5 5 6 erbaute ,Alte

Schmelzhütte'59

und die 1581

errichtete

,Neue

Schmelzhütte'. Erstere lag im Schloßbereich vor der Elbbrücke an einem aus der Weißeritz Wasserkraft auch für Pochwerk und Erzwäsche heranbringenden Graben. Sie war mehr Laboratorium, wie die schon um 1520 im Schloß selbst eingerichtete „Probierstube", und weniger Produktionsbetrieb. Auch die ,Neue Schmelzhütte' wäre gar nicht erwähnenswert, hätte sie nicht 1581 die „Kupferkrise" ausgelöst. Nach alchimistischen Erfolgen strebende Versuche darin erzeugten das in ganz Mitteleuropa umlaufende Gerücht, man könne in Dresden Kupfer mit halben Kosten erzeugen. D e r Verdacht auf ein Geheimverfahren legte den gesamten Handel still, denn er konnte sich halten, weil damals mit ungeheurem Aufwand in fieberhafter Eile an einem neuen Graben aus der Weißeritz in einem eingefriedigten riesigen ,Schmelzhüttengarten' die Neue Schmelzhütte samt Saigerhütte gebaut wurde. Dort in der späteren Friedrichstadt sollte das - auf dem Schiffsweg über Saale und Elbe (!!) herantransportierte Kupfer aus Sangerhausen verhüttet und entsilbert werden. Zur Transporterleichterung erhielt die Neue Schmelzhütte sogar erstmalig eine gepflasterte, bis zum Elbufer führende „Fabrikstraße". Auch forderte der mißtrauische Kurfürst August am 8. Januar 1583 ein .Vorzaichnüs der Punct, darauff die Schmeltzer, Meister und Knecht sambt den Rostbrennern . . . von Hansen Jenitzen, Cammer Secretärien, Michel Schönleben Oberhüttenvorwaltern und Marcus Müllern Probationsmeistern, voreydet worden' 6 0 . Für unser Anliegen wäre ein solches, von vornherein unsinnig erscheinendes Projekt nicht beachtenswert, wir erwähnen es nur, weil Baurechnungen für 1582/83 vorliegen, die so horrende 58

59 60

Unvollständig ist die Aufzählung bei Schiffner - Gräbner, Alte Hütten und Hämmer in Sachsen, Berlin 1960 (Freiberger Forschungsheft D 14) S. 123-132. Besser ist die Übersicht bei P. R. Beierlein, Die Dresdener Schmelzhütten. In: Der Anschnitt 24 (1972) Heft 6, 23-27 (I), 25 (1973) Heft 1, 2 8 - 3 2 (II) H e f t 2, 2 0 - 2 6 (III) Heft 3, 2 1 - 2 6 (IV) 4, 2 8 - 3 3 (V). In beiden fehlt die Dresdener Bleyweiß-Fabrik, die 1767 der Oberbergwerksdirektor P. N. Freiherr von Gartenberg in der bemerkenswerten Form einer „Aktiengesellschaft" gründete - unter Mitwirkung der „Leipziger ökonomischen Sozietät". Vgl. dazu Helga Eichler, Die Leipziger ökonomische Sozietät. In: Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus 2 (1978) 357-386, vgl. S. 369, 373 Anm. 6 9 - 7 0 STA Dresden, loc 5357, Bl. 12. Vgl. Beierlein, a. a. O. I ( = Anm. 58), S. 25 (Alte Hütte); III S. 20 (Neue Hütten). STA Dresden, loc. 4486.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

41

Fronleistungen6i dafür nachweisen, daß es fast unfaßbar ist, wie die Bauerndörfer rings um Dresden die geforderten Lasten an Fronfuhren und Handarbeiten in der Dresdener Heide sowie auf dem Bauplatz ertragen konnten. Nach den bezeugten Lohnsummen für die Steinmetzen, Maurer, Zimmerleute und Elbkahnschiffer erhielten selbst die gelernten Kräfte nur 3 gr. am Tag, obwohl der beauftragte Hauptzeugmeister Paul Buchner sie aus dem ganzen Elbgau und dem Osterzgebirge bis Tharandt und Dippoldiswalde hatte anwerben müssen. In Dresden gab es nicht genug Maurer und Zimmerleute für einen damals als industriellen Großbau62 zu wertenden Gebäudetrakt, und der im Alter immer übellauniger werdende Herrscher trieb ganz sinnlos zu rasender Eile. Ihre Nutzlosigkeit erlebte er noch. Die werksnah vor der Stadt untergebrachten Facharbeiter vollends wanderten ab, als man schon nach 6 Jahren 1588 die mit enormen Verlusten schmelzende Anlage provisorisch zu einer Mahlmühle ausbaute und 1606 definitiv in eine Polier- und Schleifmühle umwandelte. Nach 100 Jahren war dann die Zeit der Harnische, Hellebarden, Spieße und Lanzen vorbei, so daß das schadhafte Gebäude 1706 erneut eine Mahlmühle aufnahm. Dann erhielt Dresden 1 7 0 6 / 1 2 eine mechanisch komplette Spiegelschleif

^ , die groß-

formatiges Tafelglas bis 100 Zoll = 2,54 m ( ! ) schleifen und polieren, daneben auch den Schliff von Halbedelsteinen besorgen konnte. Dazu besaß sie insgesamt 8 mit Wasserkraft angetriebene Schleifvorrichtungen und zum Formatschneiden wasserradgetriebene Sägen. D i e 1 7 1 2 vom August d. Starken in eigene Regie genommene Anlage war nach Angaben des bedeutenden Technikers Ehrenfried Walter Frh. v. Tschirnhaus gebaut und beschäftigte 19 Facharbeiter und 4 Frauen; letztere mögen vor allem die Belegung mit Folie besorgt haben, was eine ganz ruhige leichte Hand erforderte. Eine in den Akten kaum erwähnte ,Berg-Fabrique' mag die 1730 „im Erhardtschen Hauße der Zwinger-Brücke gegenüber" stehende Goldmühle64 gewesen sein. Die erhaltene Konstruktionszeichnung für die von einem hohen Wasserrad getriebene Mahleinrichtung ist zwar sehr sauber und kunstvoll ausgeführt, aber nicht eindeutig. Ich möchte vermuten, daß hier nicht so sehr Golderze wo wären die in Sachsen zu finden gewesen? - als vielmehr unbrauchbar gewordene Textilien mit echten Goldfäden aufgearbeitet werden sollten. Vor der Einführung der Amalgamierung (nach 1790) war die Rückgewinnung [durch Königswasser] recht schwierig, sobald die Textilien gemischte Fäden Gold, Silber, Messing — aufwiesen; man mußte möglichst kleine Flitter in die Säure bringen. Insofern könnte es sich schon um eine neuartige, für die spätere Entwicklung zur industriellen Rückgewinnung von teuren Rohstoffen wichtige Anlage gehandelt haben. Schließlich ließe sich noch das 1765 errichtete, mechanisch angetriebene Kanonenbohrwerlb65 anreihen, obwohl es kaum eine ,Berg-Fabrique' genannt werden kann. Es war jedoch technisch gut ausgestaltet, wobei die dem Bergwesen entlehnten Elemente auf der erhaltenen Konstruktionszeichnung sichtbar werden. Maschinenkonstruktionen haben sich verständlicherweise oft auf technische, im (Vgl. oben Anm. 48 Freiberger Forschungsheft D 28, Beitrag Löfflet). Erst 1960 ergaben Ermittlungen, in welchem Umfang Metallgewinnung und Metallverarbeitung von den Bauern durch Fronleistungen (Fuhren und Waldarbeit) finanziert werden mußten! Bergfabriken sind, wie auch W. Fröbe, Schwarzenberg, Schwarzenberg 1930, S. 309 fand, gleichfalls aus dem Überschuß der werkseigenen Agrarwirtschaft - wenn auch nicht durch direkte Fronleistungen - gestützt worden. 62 Schon Agricola errechnete für eine Kupferhütte um 1550 einen Gebäudetrakt von 264 Ellen ( = 148 m) Länge - vgl. AGA VIII, S. 610, Abb. 249 ( = 1556 fol. 399). 6 3 Dieses leistungsfähige Werk ist im Rahmen der Tschirnhaus-Forschung oft genannt worden, vgl. Anm. 123: Bibliographie der Tschirnhaus-Forschung mit 383 Titeln von R. Zaunick. 64 Vgl. Schiffner-Gräbner (wie Anm. 58) S. 128 f. 6 5 Vgl. Bildtext zu unseren Abb. 17, 18, 19.

61

42

WILSDORF

Montanbereich erprobte Lösungen gestützt. Das gilt in besonderem Maße für die Bergfabriken, deren technische Ausstattung durch Abwandlungen dann mitunter Vorbild für andere Fabrikanlagen wurde.

Unter den in der Residenzstadt am ehesten erwartbaren ,Bergfabriken' fehlt eine solche zur Herstellung ,leonischer Waren'. Das zeigt wohl recht deutlich, daß die Unternehmer den Standortfragen in der damaligen Zeit keine erhöhte Bedeutung beigemessen haben. Die Bergfabriken als frühindustrielle Innovationen Wenn man die Innovation als Voraussetzung für eine strukturbestimmende Neuentwicklung ansieht, dann genügt es nicht, sich auf einen Erfinder und auf ein Datum zu berufen - entscheidend ist ausschließlich, ob und wann sich die technische Erfindung durchsetzt. Die Rezeption des Neuen wird sich niemals allein im technischen Bereich auswirken, sondern auch Veränderungen der Lebensweise in entscheidenden Gestaltungen Arbeitsrhythmus, Nahrungsgewohnheiten, Fest und Feier, Lehrtraditionen - nach sich ziehen. Folglich ist eine r e g i o n a l e Untersuchung 66 nötig, die allein nachweisen kann, wie sich die Entwicklung der Bergfabriken als lebensvoller Einheiten vollzog, so daß sie unter den frühindustriellen Unternehmungen als eine e i g e n e K a t e g o r i e greifbar werden. Ich halte bei der Herausbildung der typologischen Eigenart der Bergfabrik die Innovation für entscheidend, nicht die Organisation oder die Kapitalform des Unternehmens, die in vergleichbarer Weise auch bei Manufaktur und Verlag auftreten müssen. Im Rahmen der Feudalepoche konnte an institutionierten Wirtschaftsorganisationen Handwerkerzünften, Bergbaugewerkschaften, Schiffsbodmereien, Rittergutswirtschaften, Bauerngütern, Kramer- und Gildenordnungen - keine wesentliche Abänderung durchgesetzt werden. Das war nur möglich bei Neugründungen, für die es kein Schema gab, weil das Produktionsziel neuartig und das dazu erforderliche Wissen und Können (samt den negativen Erfahrungen zur Vermeidung falscher Wege) nicht aus Traditionen erwerbbar war. Die Einordnung in einen Oberbegriff „Bergfabrik" hängt von der Voraussetzung ab, daß diese Kategorie eine Reihe Betriebe mit ungefähr einheitlichen Produktionszielen, aber mit verschiedenem Betriebsauf bau umfaßt. Wesentlich dafür waren: 1. Weiterführung der Verarbeitungsprozesse von berg- und hüttenmännischen Produkten - 2. Lohnarbeit der vielleicht noch nicht völlig expropriierten Fabrikarbeiter - 3. Gestellung der wesentlichen Produktionsanlagen oder, falls diese entbehrlich oder geringfügig waren, Absatzorganisationen (notfalls vielgliedrige) und kapitalistische Aneignung des Surplus®7. Die unterschiedlichen Ziele und Formen, die allgemein „Fabriken", Manufakturen und 66

Auf die Vergröberung durch globale Aussagen und auf die berechtigte Forderung nach r e g i o n a l e n Forschungen ist wiederholt hingewiesen worden - vgl. E. Seelig, D i e Entstehung des Direktionsprinzips, Diss. Clausthal 1971. Wir legen gleichfalls eine solche vor, meinen aber, daß sich darin die Thematik nicht erschöpft, sondern im wesentlichen - wohl zu überlegende - „Zusammenfassungen" aus den regional gewonnenen Ergebnissen anzustreben sind.

67

Die Aneignung eines Mehrwertes war nicht immer möglich, weil der Unternehmer Ressourcen aus feudalen Renten, aus staatlichen Zuwendungen oder anderen Fonds heranzog, um die „Fabrik" zu halten; man kann daher nur den allgemeineren Ausdruck benutzen.

43

D a s Aufkommen der Bergfabriquen

Verlagsunternehmen eigen sind, lassen sich schwer abgrenzen. Insgesamt sind sie wohl der von Rudolf Weinhold in seiner Einleitung zum vorliegenden Bande konzipierten Umgrenzung des Begriffs der „arbeitsteiligen Kooperation" unterzuordnen und darin zusammenzufassen. Die Lohnarbeit mußte noch nicht ausschließliches, aber hauptsächliches Einkommen sein, auch Werkzeuge und - in Sonderfällen 68 - selbst Arbeitsräume konnten sich noch im Eigentum der Arbeiter befinden, wie denn auch seit eh und je die Bergleute prinzipiell ungehindert waren, als Fachleute in Ausnutzung ihres Fachwissens mit eigenen Mitteln und Werkzeugen „unternehmerisch" Weilarbeit 69 neben Schichtarbeit zu leisten und sowohl auf eigene Rechnung als auch gegen Entgelt tätig zu sein. Faktisch waren sie zwar in der Regel ausschließlich vom Lohn lebende „Bergarbeiter", unterschieden sich aber bis zur Aufhebung der mittelalterlichen Bergrechtsordnung 1851 vom „Fabrikarbeiter" - mindestens bewußtseinsmäßig. Das Produktionsziel der Bergfabriken setzte in ähnlicher Weise wie im gesamten Montanwesen voraus, daß nicht bloße Tagelöhner, sondern Facharbeiter 70 gebraucht wurden. Diese mußten spezialisiert, jedoch nicht so hoch qualifiziert sein wie etwa ein Handwerksmeister, der das Gesamtsortiment seiner handwerklichen Produktion beherrschen mußte [oder sollte 71 !]. Dennoch war die neue Kategorie der BergwarenFabrikarbeiter von dem Status der Bergleute graduell verschieden: Selbständig konnten sie niemals arbeiten - sie waren auf die sie zeitlebens integrierende Fabrikorganisation angewiesen - und insofern waren sie eben durchweg „wirkliche" Fabrikarbeiter. Es wird begreiflich, daß die „Ernennung" zum „wirklichen Blaufarbenarbeiter" 72 den Farbburschen in eine neue Daseinsqualität, mindestens in einen neuen Lebensabschnitt versetzte, der demzufolge auch Anlaß zu feierlich-festlicher Ausgestaltung war. Schwieriger als die Umschreibung der Kategorie des Bergwaren-Fabrikarbeiters ist die der „Fabrikbesitzer". Ein solcher war unter dem dirigistisch-absolutistischen Regime noch kein freier Kapitalist, sondern in mancher Hinsicht weit weniger „frei" als seine 68

D a der Zuschuß aus der Kleinlandwirtschaft infolge der Erbteilungen sich verringerte, erhöhte sich der Lohnanteil automatisch. Soweit Heimarbeit möglich war, bestand diese Möglichkeit - die Sonderfälle sind zahlreich, was sich allein schon aus der sehr unterschiedlichen Struktur der S. 23 genannten 19 oder 20 verschiedenen Arten von Bergfabriken ergibt.

6!>

Weilarbeit

ist die ökonomisch genutzte Freizeit des Bergmanns. Sie konnte ein zweites Arbeits-

verhältnis bedeuten, konnte aber auch in der Hoffnung auf die Erschürfung eines Erzvorkommens „unternehmerisch" auf eigene Rechnung geleistet werden. D i e fachliche Qualifizierung war im gesamten Montanbereich nicht an eine (handwerksmäßige) Lehrzeit gebunden, sondern an einen sehr viel härteren Leistungsnachweis, ohne den es keinen Aufstieg in den nächsten Grad der vielstufigen Hierarchie gab. Letztere ist veranschaulicht bei H. Wilsdorf, Elemente der Montanethnographie. In: Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde Dresden Bd. 36 (1978) 3 7 - 7 2 , vgl. „Übersicht", S. 6 4 - 6 7 . 71

An nicht abreißende Klagen über untüchtige Handwerker muß nicht erinnert werden, sie waren im 18. Jahrhundert allgemein und begründeten geradezu die „Notwendigkeit" der Manufakturen und Fabriken.

72

D i e „Ernennung" bedeutete nach den damals herrschenden römisch-rechtlichen Begriffen eine Art emphytheutischen Kündigungsschutz auf Lebenszeit. Nur der Arbeiter, nicht das konnte das Arbeitsverhältnis aufsagen.

Unternehmen

WILSDORF

44

A r b e i t e r . D a s w i r d für das kurfürstliche Sachsen sofort ersichtlich, w e n n m a n d i e erschreckend zahlreichen „ M a n d a t e , R e s k r i p t e , D e k r e t e " und auch d i e

„Taxordnungen"

heranzieht, die um 1 5 8 0 7 3 einsetzten. Sie b e w i r k t e n im H ü t t e n - u n d H a m m e r w e s e n , a b e r auch

bei

der

Erzeugung

,Bergmaterialien'

von

für v o l l e

Kobaltfarben,

zwei

Draht,

Jahrhunderte

V e r s t ä n d l i c h ist, d a ß diese v i e l f a c h auf e i n e -

eine

Porzellan, nachhaltige

Vitriol

und

anderen

Produktionslenkung.

durch B r e n n s t o f f m a n g e l infolge d e r A b -

holzung d e r W ä l d e r b e d i n g t e - P r o d u k t i o n s b e s c h r ä n k u n g 7 4 hinauslief. Z u m T e i l w i d e r sprachen d i e s e gesetzgeberischen A k t e allerdings m ü h s a m g e w o n n e n e n E i n s i c h t e n ,

um

d i e „ B e r g ö k o n o m i e , Bergkamerai-

der

und

Bergpolizey-Wissenschaft"75

im Widerstreit

M e i n u n g e n l a n g e J a h r z e h n t e g e r u n g e n h a t t e n . Unbeachtlich ist d a b e i , d a ß in a d m i n i s t r a tiven A n o r d n u n g e n 73

d i e B e r g f a b r i k e n niemals als einheitliche G r u p p e e r f a ß t

worden

D a es nicht um die inhaltliche Substanz der (oft gänzlich wirkungslosen) Maßnahmen geht, genügt hier zur bloßen Veranschaulichung eine kleine Auswahl: 23. 04. 1583

Eisenhammerordnung

25. 02. 1594

Pirnische Hammerordnung

26. 01. 1613

Mandat über den Handel mit Alt-Kupfer

20. 12. 1613

Gießhübelische Hammerordnung

15. 11. 1614

Dekret über den Eisenhandel

23. 07. 1629

Drahtordnung

29. 09. 1655

Einfuhrverbot für Eisenerzeugnisse

26. 03. 1660

Blechhammerordnung, erneuert 23. 05. 1666

01. 05. 1663

Pirnische Eisenbesserung

30. 11. 1668

Ertz-Kauf-Ordnung

28. 07. 1670

Einfuhrverbot für Eiserne Waaren

22. 05. 1683

neues Kobalt-Mandat

15. 11. 1701

Kobalt-Mandat, erneuert 24. 09. 1723

1710

Schmelzadministrationsmandat

24.03.1743

Steinkohlenmandat (Freigabe!)

20. 03. 1745

Weißerden-Mandat (Neue Fassung, alte 1728) [vgl. STA Dresden, loc. 36224]

16. 09. 1745

Bergdekret über Gaarkupferproduktion

Nach dem Siebenjährigen Krieg wurden die Mandate fortgesetzt! ' 4 Sehr überraschende Tendenzen und Praktiken zur Produktionsbegrenzung durch

Abdrängung

der Bergleute aus dem Montanbereich zeigen sich beim berühmten Generalbergkommissar von Heynitz. Wolfhard Weber, Friedrich Anton von Heynitz, Innovationen im früh-industriellen deutschen Bergbau und Hüttenwesen, Göttingen 1976. Zu erinnern ist auch an die gleiche Tendenz in Oberpfälzer Hammerwerks-Ainigungen seit 1341. Der Unternehmerwiderstand war erheblich, aber letztlich erfolglos. Einzelbeispiele werden in der monographischen Behandlung einzelner Werke von der älteren Forschung immer wieder erwähnt. S. Sieber, Geschichte des Blaufarbenwerks Niederpfannenstiel in Aue im Erzgebirge anläßlich seiner Dreihundertjahrfeier, Schwarzenberg 1935, S. 1 7 - 1 8 . 75

Die bekannten Buchtitel einer sehr vielfältig zusammengesetzten Autorengruppe formulieren Ideologie und Tendenz der absolutistischen „Bergbaupolitik" und deren Kritik zur Genüge. Wilhelm Pieper, Bergökonomie, Bergkamerai- und Bergpolizeiwissenschaft im 18. Jahrhundert. In: Zs. Braunkohle 1935, Heft 8/9, S. 113/132. Eine Analyse der zwischen 1590 und 1790 entwickelten theoretischen Positionen zum Komplex „Montanwirtschaft" fehlt sehr!

Das Aufkommen der Bergfabriquen

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sind. Denn es ist leicht verständlich, daß es kaum einheitliche Maßnahmen geben konnte, mit denen man die Belange so verschiedenartiger Einzelbetriebe hätte steuern können. Es erschwert die Profilierung der Unternehmer 76 außerdem, daß sie kaum ausschließlich .Fabrikherren' waren, sondern unter Umständen Beamtenstellungen innehatten, meist aber große Handelshäuser besaßen. Als Handelsherren schlugen sie durchaus auch viele Waren um, die gar nicht auf den eigenen Produktionsbetrieben erzeugt wurden. Obendrein mußten stadtferne Betriebe durch einen unentbehrlichen technischen „Direktor" 77 (Faktor oder Schichtmeister genannt, wie im Bergwesen) geleitet werden, der zugleich für den Lokalbedarf einen Warenabsatz ab Werk auch kaufmännisch zu tätigen hatte. Es erleichtert die Darlegung der eigentlichen Funktionen dieser Unternehmergruppe als Fabrikherren keineswegs, daß dann noch die oben besprochene Funktion des Fabrikherren als feudaler Lehnsträger hinzukam, der mit Grund und Boden, nicht mit Hörigen, aber mit gehorsamspflichtigen und infolgedessen bei Rechtsverletzungen abstrafbaren Untergebenen belehnt war, für die er Gerichtsherr war. Die Entstehung eines Bergwarenfabrikbetriebs im Montansektor war zunächst in Randbereichen möglich, die mit den „extraktiven" 78 Zentralbereichen nur noch lose verbunden waren, ohne daß damit sogleich eine Ausgliederung aus dem Montansektor notwendig gewesen wäre. In unmittelbarem Anschluß an die Produktion der extrahierten Grundstoffe konnte einerseits deren Veredlung durch manufakturelle Verfeinerungsprozesse79 bei Aufwand intensiver Handarbeit zu erhöhter Nutzbarkeit führen, andererseits ließen sich aus eben diesen Verfeinerungsprozessen überhaupt neuartige 80 Produkte, mindestens neuartige Handelsgüter gewinnen. Das war jedoch nur möglich, wenn gleichzeitig über den bisherigen Rahmen der extraktiven Produktion hinausgehende neuartige

76

Selbst Andreas Blau und August Roth, denen man keine .Feudalisierungstendenzen' nachsagen kann, glaubten ohne Anträge auf Verleihung der Patrimonialgerichtsbarkeit nicht auskommen zu können. D a ihnen diese wiederholt abgeschlagen wurde, sind sie faktisch lange „reine Fabrikherren" gewesen - Blau allerdings mit eingeschränkter kaufmännischer Selbständigkeit durch den erzwungenen Anschluß an die Leipziger - den Kurfürsten am Geschäft beteiligende Blechhändlerassoziation. Die Diagonalstruktur tritt hier sogar im Dorf hervor und reicht vom Schulmeister bis zum Oberberghauptmann. Dazu meine in Anm. 70 zitierte Arbeit, S. 66, Tabelle II.

77

Ein handlungsbevollmächtigter Faktor der Fugger und Welser war noch kein .Fabrikdirektor', auch wenn er vielleicht wie der Hohenkirchner „Hüttenmatz" Matthias Lachenbeck .komplex' die Saigerhütte und den Kupferhammer und auch den Kupferhandel leitete; aber letztlich „dirigierte" nicht er, sondern die Zentrale den lokalen Betrieb.

78 79

8(1

Ein allgemein für die Position des .Direktors' markantes „erstes Beispiel" fehlt, wenn man nicht August Roth in Grünthal nennen will. Diese Terminologie war unter den Cameralisten noch nicht üblich, sie ist erst von Marx eingeführt. Der Ausdruck ist üblich, aber nicht treffend. Man müßte sagen, daß es sich um einen Arbeitsaufwand handelte, der den Weiterverarbeiter entlastete - „edler" oder „feiner" wurde das Produkt ja nicht. Dazu konnte es durch Zufall kommen; so ergab sich als völlig neues „Material" das Wismut um 1440, als man Silber (und Kupfer) von „Unreinheiten" befreien wollte; die nächste Stufe war dann die Erprobung des neuen Metalls auf seine Möglichkeiten. Solche ergaben sich sogleich als Zusatz zum Letternmetall und nach 120 Jahren als Ausgang für die Wismutfarben (und die auf Holz ausführbare Wismutmalerei). Auch sie hatte in Nürnberg ihr Zentrum.

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WILSDORF

Werksanlagen geschaffen wurden. Die entscheidende Frage ist nun, ob diese eine ähnliche oder wenigstens eine vergleichbare Struktur wie die Manufakturen und Fabriken anderer damaliger Wirtschaftsbereiche aufwiesen. Am nächsten liegt es, die Hammerwerke81 zu analysieren.

Die Hammerwerke und die Ausgliederung der Bergwaaren-Fabriquen aus dem feudalen Montansektor Während Siegfried Sieber82 alle Hammerwerke unbedenklich zu den ,Bergfabriken' gerechnet hat, folgen wir den sehr viel vorsichtigeren Einschätzungen von Roland Schmidt im Hinblick auf die .normalen', nur mit Rennfeuer oder Stückofen, seit 1570 auch mit Hochofen, Frischfeuer und Zainhammer ausgestatteten Werke ohne Weißblecherzeugung. Dieser althergebrachte Typ besaß, wie Schmidt mit Recht anerkannte, im Hammergut „ein stets zur feudalagrarischen Wirtschaftsform tendierendes Element" 83 , weil „die Feudalzeit keine .Unternehmen' gegründet hat, sondern die notwendigen Erzeugungsund Verarbeitungsbetriebe an den landwirtschaftlichen Betrieb angliederte; . . . damit ist zugleich erklärt, daß das Hammerwerk ein Saisonbetrieb war" 84 . Bei der Gründung der Weißblechhämmer stellte nun aber Andreas Blau dieses Verhältnis geradezu auf den Kopf: Das kapitalstark „neu gegründete" bürgerliche Unternehmen mußte natürlich infolge seiner Lage im unbewohnten Tal eine Siedlungsbasis erhalten, aber es ging nicht aus einem Gutsbesitz hervor. Dem Fabrikationsbetrieb ist vielmehr erst sekundär und erst später landwirtschaftlicher Besitz angegliedert worden; er zielte ja - soweit es die Klimaverhältnisse erlaubten - auf Dauerbetrieb. Wo das bisherige, all-round-Arbeit leistende Hammerwerk sich spezialisierte, unter Umständen sogar die unmittelbare Eisenerzeugung aus dem Erz 85 aufgab und nur noch für den Endverbraucher direkt verwendungsfähige Handelsgüter - wie Sensen oder Schaufeln - erzeugte, erhebt sich die Frage: Wurde es zur Bergwarenfabrik, indem es die Universalität aufgab und, unter notwendigem Verzicht auf alle über das Spezialerzeugnis hinausgehenden Aufträge, die Produktion dermaßen einengte, daß es mit konstant bleibender Routinearbeit auskam? Dann ist es daraufhin zu untersuchen, ob es

81

Daß wir uns hier kurz fassen können, verdanken wir der neuen, sehr eindringlichen Analyse von Roland Schmidt für Erla und Morgenröthe.

82

S. Sieber; Erzgebirgische Bergfabriken. In: Forschungen und Fortschritte 34 (1960) 2 9 2 - 2 9 7 , bes. S. 293.

83

R. Schmidt, Technik und Gemeinschaftsleben im erzgebirgischen Hammerwerk. Eine volkskund-

«

Ebenda, S. 177.

liche Studie. In: Sächsische Heimatblätter 23 (1977) 1 7 5 - 1 8 7 , vgl. S. 175. 85

Dieser Prozeß setzte in den verschiedenen Regionen zu unterschiedliche Daten ein. Zum Teil kam es - wie in L a u c h h a m m e r - zur Erschließung neuer Vorkommen, doch soll gerade auf dieses 1726 als Großunternehmen gegründete, weitgehend Fertigfabtikate erzeugende Werk nicht eingegangen werden, da die vierbändige Festschrift 250 Jahre Lauchhammer griffen ist.

noch im Erscheinen be-

Das Aufkommen der Bergfabtiquen

47

nunmehr auch kapitalistisch strukturiert w u r d e oder kleinbetriebsmäßig-handwerklich blieb. Eine Innovation, die nach ihrer Zielsetzung wie nach ihrer Organisation die Wesenszüge einer ,Bergwaaren-Fabrique' trug, fehlte den sonstigen spezialisierten Hammerwerken. Dazu zählen etwa der Sensenhammer^ in Einsiedel 87 , der Schaufelhammer 88 in Niederschlema oder in Wildenau, resp. der „Waftenhammer" 9® in Stützengrün oder in Olbersdorf/Erdmannsdorf. Leider liegen dazu bisher keine Einzelanalysen 90 vor, doch drängt sich schon bei der ersten Prüfung des Materials der Eindruck 91 auf, daß kleinere, mit etwa maximal 6 - 8 „Arbeitern" betriebene Spezialhammerwerke bei einem bescheidenen Mechanisierungsgrad 92 einen handwerksähnlichen Charakter nicht abgestreift haben. Sie erreichten den Status einer Bergwarenfabrik nicht, sondern blieben im reinen Montanbereich - schon durch die Bindung an die Holzkontingente innerhalb der Montanzuteilung - ganz abgesehen davon, daß sie auch mit der theoretisch geforderten, allerdings kaum beachteten Verpflichtung zum Tragen des .Berghabits' beim Bergwesen blieben. Einfache Gebrauchswaren herstellende Spezialwerke hatten keine vielteiligen Herstellungsprozesse zu bewältigen - selbst wenn sie ganz spezifische, lokal benötigte Erzeugnisse herstellten wie etwa der Scherenhammer zu Penig 93 , der die Tuchscherer der Schönburgischen Rezeßherrschaften 94 mit erstklassigen Tuchscheren belieferte. Ein .Sensenhammer' deutet im Gebirge nicht auf Getreideanbau, da zunächst nur Gras mit der Sense, Getreide aber mit der Sichel geerntet wurde. 87 Einsiedel Sensenhammer lag an der Natzschung - bei Schiffner-Gräbner, a. a. O., S. 133 Irrtum! 8 8 Ein .Schaufelhammer', den man richtiger als .Spatenhammer' bezeichnet, fand verstärkt nach 1710 Absatz bei jenen, die kleinste Ackerstücke für den Kartoffelanbau vorbereiten mußten. 89 Ein .Waffenhammer' stellte durchaus nicht vornehmlich .Waffen', sondern fast ausschließlich „schneidende Werkzeuge", also auch Beile und Hacken aller Art, her - er mußte zusätzlich mit einem Schleifkotten zum Schärfen der Produkte ausgestattet sein; dieser „Anbau" reiht ihn aber noch nicht unter die Bergfabriken ein. 90 Das einigermaßen komplett erhaltene Werkzeug im Frohnauer Hammer zeigt, wie schwierig es ist, die vielteilige Arbeit auf einem - sehr kleinen - Hammerwerk zu erfassen! Die Denkmalpflege hat hier bereits 1908 eingesetzt, sonst wäre auch diese einzigartige Übersicht verloren. Erstaunlich ist die Erhaltung der vielteiligen Ausstattung der ständig in Betrieb stehenden Schauanlage .Black smith & Harnessmaker' in Williamsburg/Virginia. 9 1 Um mehr als einen Überblick geht es hier nicht - für Einzelheiten sei auf R. Schmidt (vgl. Anm. 83) verwiesen, vgl. auch G. Diering, Vierhundert Jahre Eisenwerke Schönheiderhammer. Schönheiderhammer 1966 (Selbstverlag der GISAG). 92 Wasserradantrieb für Blasebälge, für Ofen/Schmiedefeuer/Frischfeuer, für Schleifstein, für Schlakkenpochwerk (allenfalls) war meist alles, was vorhanden war. Einen Schwenkkran für schwere Werkstücke gab es nur selten. 93 Der Hammer Penig besaß keine eigene Erzbasis, die ortsansässige Keramikproduktion brauchte wenig eisernes Gerät; aber die in der Gesamtherrschaft Schönburg-Waldenburg dichtgedrängten Tuchmacher benötigten - ziemlich einheitliche - Scheren, so daß hier ein „Fabrikationsprozeß" standardisierter Erzeugnisse möglich war. 94 Die zunächst reichsunmittelbaren Herren von Schönburg-Glauchau haben in allen vier Linien und Teilherrschaften durch „Rezesse" mit den wettinischen Landesfürsten ihre Landeshoheit nach und 86

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WILSDORF

,Sensenhämmer' spielten erst durch und nach der Mechanisierung des Produktionsprozesses, der um 1 5 8 5 in Scharnstein 95 gelang, w o er sich zum Exportbetrieb ausweitete, eine größere Rolle. Schaufelhämmer traten sogar erst am Ausgang des 17. Jh. auf. Schwer zu beurteilen sind nur die .Drahthämmer', die vielleicht auch heimgewerbliche Drahtzieher beschäftigten, um Feindraht mit der Hand ausziehen zu lassen. Das „Leirenziehen" 96 war ohne erhebliche körperliche Anstrengung bei geringem Raumbedarf im Wohnbereich möglich. Allerdings w a r die Nachfrage nach feinem Eisendraht recht gering; aber die erforderlichen Qualitätsansprüche an zähes, hochelastisches Eisen waren nur ausnahmsweise erreichbar. - Mit minderwertigem eisernem D r a h t ließ sich nicht viel anfangen, man mußte dann doch K u p f e r - und Messingdraht wählen. Darum ist wohl der kurfürstliche Monopolbetrieb in Lohmen 97 als geringfügige Manufaktur mit bescheidenem Mechanisierungsgrad anzusehen. D e r aus dem Muldenhammer stammende Ludwig (1) Kleinhempel .mechanisierte' sein Annaberger Kupferschmiedehandwerk 1 6 1 4 durch den Kauf des Hammerwerks im Dorf Königswalde für 5 0 0 fl., um Braupfannen und Kupferbedachungen besser liefern zu können. Nach der Hauschronik seines Sohnes Ludwig (2) bekam er 3 - 4 solche A u f träge binnen 2 - 3 Jahren; dafür mußte er, über Haindwerksusus hinaus, eine sehr modern anmutende „Gütegewähr" von 3 - 1 0 Jahren leisten. Das Beispiel illustriert den Übergangscharakter der Zeit zwischen Zunft und Fabrik wohl eindeutig.

nach weitgehend verloren, aber sie sind erst 1871 „inkorporiert" worden und besaßen selbst dann noch Reste von Regierungsfunktionen bis 1938. Ursprünglich besaßen sie auch dos Bergregal und gründeten ja auch die einstigen Freien Bergstädte Scheibenberg, Oberwiesenthal, während sie älteren Orten wie Hohenstein-Ernstthal und Elterlein Bergfreiheiten verliehen und auch dem Blaufarbenwerk Niederpfannenstiel. 95

96

97

Franz Rischer, Die blauen Sensen. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Sensenschmiedezunft zu Kirchdorf-Micheldorf, Graz-Köln 1966. Das mittelalterliche „Leirenziehen" ist technologisch verbessert im „Scheibenziehen" fortgesetzt worden; es erforderte mehr Geduld als Kraft, vor allem aber Geschicklichkeit, da brüchiger Draht (aus Eisen, Messing, Edelmetall) wieder zusammengefügt (gelötet oder geschweißt) werden mußte. Die Ansprüche der Drahtzieher an die Qualität des Rohmaterials waren der Hauptantrieb für die Bemühungen um die Erzeugung von Stahl! Gewerblichen Bedarf hatten die Tuchmacher, die an Kratzen und Krempel hohe Anforderungen stellten. So war 1. sehr elastischer und 2. sehr dünner Draht gefragt, der aus minderwertigem Eisen nicht herstellbar ist. Eine „Bergfabrik" für Kratzen, Krempel und Kardetschen etablierte sich in Zwickau - die übrige Produktion blieb handwerklich. Vom Regiebetrieb in Lohmen sind keine näheren Vorstellungen zu gewinnen - das Aktenmaterial ist makuliert, doch möchte ich es in die allgemeine Tendenz des Kurfürsten einordnen, jeden möglichen Unternehmergewinn in die kurfürstlichen Kassen zu lenken. Das allgemeine .Direktionsprinzip' wird ja nicht nur im Bergbau auf Edelmetalle, sondern auch beim Eisensteinbergbau deutlich, allein an der Vielzahl von .Hammerordnungen' für den Bereich der .Eisenkammer Pirna'. Im Jahrhundert von 1516 bis 1614 waren es acht (1516, 1538, 1541, 1570, 1589, 1594, 1614). Aus ihnen ist übrigens ersichtlich, daß dort keinerlei Anzeichen für eine Entwicklung zur .Bergfabrik' vorliegen.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

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Eine landesfürstliche „Bergfabrik": Grünthal und ihre Nachahmung ( 1 6 2 6 ) in Rothental Beachtung fordert der historisch schon mehrfach analysierte?8 Kupferhammer Grünthal, ein 1537 als Saigerhütte gegründetes Monopolunternehmen, das den Silbergehalt aus Schwarzkupfer gewinnen sollte, ehe es als Garkupfer (Rotkupfer) in den Handel kam. Wie alle Betriebe dieser um 1460 beginnenden, große Gewinne verheißenden metallurgischen Sparte39 benötigte es eine sehr hohe, genau bilanzierte Investition von 21 958 fl., die den Gründer zwang, sich mit einem Nürnberger Kapitalisten zu assoziieren. Gleichwohl haben auch die Nachfolger des oft den Besitzer wechselnden Unternehmens 30 Jahre lang - infolge der geringen Kupfererzvorkommen im Erzgebirge - keine Rentabilität erzielen können; zu unterhalten war ein Baubestand von: 1 Wohnhaus mit 4 Stuben 1 Badehaus 1 Schichtmeisterhaus 1 Schulgebäude (ab 1611) 8 Arbeiterhäuschen 1 Saigerhütte, darin 7 Paar Bälge 2 Kupferhämmer in einem Gebäude 1 Gießhaus (ab 1589) 1 Garmachhaus 1 Treibgebäude (ab 1589) 1 Erzwäsche mit Antrieb durch ein Kunstgezeuge 1 Bretmühle 4 Ställe für Pferde (und Vieh) 1 Scheune 1 Fischbehälter 1 Mahlmühle mit 3 Gängen 1 Ziegelscheune mit Brennofen 1 Bienenhaus im Obstgarten 1 Holz- und Kohlplatz 3 Schuppen für Holzkohle

98

Ich darf wohl auf den in Vorbereitung befindlichen Band .Olbernhau' der „Werte unserer Heimat" verweisen, in dem ich den gesamten Komplex aufgearbeitet habe. Eine gute Zusammenstellung bot kürzlich Hanns-Heinz Kasper, Die Gründung und die Anfänge der Saigerhütte und des Kupferhammers in Grünthal. In: Sächsische Heimatblätter 24 (1978) 1 5 5 - 1 6 4 .

99

Die labortechnische Ermittlung der Silbergehalte im Kupfer mag in Venedig gelungen sein, von wo die

Kenntnis

nach Nürnberg

kam. Die

Entwicklung hüttentechnisch

brauchbarer

Verfahren

glückte im Thüringer Wald um 1460, allerdings waren ungeheure Mengen Holzkohle für den acht- oder neunteiligen Umschmelzprozeß nötig. 4

Volksleben

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WILSDORF

Mit diesen 30 Anlagen insgesamt übernahm es 1567 für nur 8 000 fl. Kurfürst August als Regiebetrieb und beauftragte gut bezahlte, tüchtige 100 Betriebsleiter. Diese erweiterten den Betrieb durch ein dem H a n d w e r k der Kupferschmiede und dem der Rotgießer sehr unliebsames, wenn auch nur nichtalltägliche Produkte enthaltendes Warensortiment. Grünthal lieferte schließlich Kupferdachbleche und (später 101 ) Kupferdraht in allen Stärken sowie Kupferguß und Grobschmiedearbeit wie Grabplatten, Siedepfannen, Destillierapparate und Kesselpauken. Es ging also über die - durch geringe Erzvorkommen sehr begrenzte - Kupfererzeugung weit hinaus und muß als Bergfabrik angesehen werden, auch wenn der fürstliche Inhaber nicht als ,Fabrikherr', sondern als ,Bergherr' auftrat. Infolgedessen verblieben auch die Arbeiter im Montanbereich. Äußerlich manifestierte das ,Berghabit' noch fast 200 J a h r e den alten Status des feudalen Berg- und Hüttenwesens, als faktisch schon der des „Fabrikarbeiters" in der Bergwaarenfabrique Grünthal erreicht w a r . Das ergibt sich aus ihrer Gleichstellung mit den Bergleuten hinsichtlich der gleichen Befreiung von der Akzise und der Militärpflicht, hinsichtlich der Altersversorgung durch eine Knappschaftskasse und hinsichtlich des Schutzes vor Teuerung und Hungersnot durch das Bezugsrecht von Brotgetreide aus einem Hammermagazin. Für die Entwicklung ähnlicher Begünstigungen der Arbeiter auf anderen Bergfabriken 1 0 2 ist Grünthal ein wichtiges, nicht oft erreichtes Vorbild gewesen. Noch mehr Beachtung verdient, d a ß die Vorbildwirkung des Kupferhammers Grünthal 1626 den kurfürstlichen Faktor Roth 103 zur Gründung einer privaten „Bergfabrik" und zur Anlage der ,Drahthammerwerkssiedlung' Rothenthal an der Natzschung veranlaßte. Unter der Ausnutzung einer Konkurrenzgründung 1 0 4 in Böhmen erwirkte er sich zunächst die bescheidene, zugunsten des kurfürstlichen Regiebetriebes in Lohmen eingeschränkte Konzession eines Grob-Drahthammers. Zielstrebig und vorsichtig baute er dann nach und nach mitten im Krieg ein umfassendes Produktionsprogramm auf, das schließlich Eisenguß, Eisendraht fast aller Stärken (mit Ausnahme der Feindrahtsorten), Weißblech, Schwarzblech und auch noch manche Waren auf Kundenbestellung anfertigte. 100

Nicht immer leistete ein gutbezahlter Faktor gute A r b e i t - bis 1 5 8 9 w a r das W e r k arg herabgewirtschaftet, ehe es der Faktor Hans Heinze w i e d e r in d i e Höhe brachte.

101 £ ) e r B e g i n n dieses Fabrikationszweiges ist leider nicht genau festzulegen. 102

D i e Grünthaler Bruderlade

ist dann die älteste „Sozialversicherungskasse" auf Bergfabriken, wenn

man den Betrieb zu dieser K a t e g o r i e und nicht zum althergebrachten Montanbereich zählt. 1 6 0 3 • w a r f ü r das neue Messingwerk Niederauerbach ebenfalls eine Bruderbüchse

vorgesehen, ist aber

nicht verwirklicht w o r d e n , vgl. Gericke, a. a. O., S. 1 0 3 . D a ß die erhoffte Versorgung durch die Knappschaftskassen in der Ä r a Brühl, der d i e Barmittel an sich zog, unsicher w a r , ergeben A k t e n des Finanzarchivs ( 3 2 Rep. IX. b A b t . C Nr. =

S T A Dresden loc. 4 1 9 8 4 : Acta,

werken

bewilligten

Kobalt-Pfennig

den der

verarmten

Knappschaftskasse

von den

224)

Blaufarben-

betr. - Nach S T A Dresden 1 0 0 . 3 6 2 5 1 und 5 5 3 5 sah es sogar

in Freiberg böse aus, w o 1 7 4 4 / 1 7 4 7 ein Knappschaftskassendefizit v o n 8 0 Thlr. durch eine .Sonderschicht' gedeckt w e r d e n mußte, w ä h r e n d 1 7 5 1 / 1 7 5 3 ein neues Defizit durch eine ,Lotterie' eingebracht w e r d e n sollte. 103

Näheres darüber in „ W e r t e unserer Heimat" Bd. Olbernhau (im Druck).

104

Es ist merkwürdig, daß der Hinweis auf mögliche ausländische K o n k u r r e n z fast stets die sonst recht mangelhafte Initiative aller Regierungsstellen bis zum Landesfürsten selbst a k t i v i e r t e !

Das Aufkommen der Bergfabriquen

51

1656 erreichte die Belegschaft 66 Mann - und übertraf damit bei weitem einfache Eisen produzierende Hüttenwerke, die mit 6 - 8 Mann am Hochofen arbeiteten und am Frischfeuer auch nicht mehr als 4 - 5 Mann benötigten. Man wird nicht zögern, dieses unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg bereits so stark entwickelte Werk als Bergfabrik anzusprechen, die ihrerseits zum Vorbild wurde. Hier trat eine sprunghafte Erhöhung der Produktion und der Produktivität ein, die als wesentliches Merkmal den erreichten Bergfabrikstatus dokumentiert. Es scheint fast, als sei der Sprung zu groß gewesen, denn der Betrieb ließ sich nicht aufrechterhalten und erlag um 1675 mannigfachen Schwierigkeiten. Die Gruppe der Weißblechhämmer Auch den inneren Betrieb der Weißblechhämmer wird man daraufhin untersuchen müssen, ob er bereits eine differenziert gegliederte arbeitsteilige Kooperation besaß. In der Tat ist gerade diese mit etwa 11 Werken vertretene Branche von den Autoren des 18. Jh. als ,Bergmanufactur' bezeichnet worden. Die Frage nach Kriterien für den Charakter der Weißblechproduktion als Bergfabrik läßt sich relativ leicht beantworten. Formal war die für spätere Fabriken und schon für die Manufakturen den Ausgang bildende „Konzession" des Landesherrn unerläßlich; außerdem mußte die Hammerwerksanlage technisch und baulich - durch das Zinnhaus - erweitert werden. Die angeworbenen Arbeiter waren im wesentlichen expropriierte Lohnarbeiter 105 . Diese wurden was bis dahin nirgends üblich war, auch nicht in der ,Fuggerei' in Augsburg 106 - erstmalig in werkseigenen107 Wohnungen angesiedelt. Die relativ reiche Überlieferung berichtet, daß der Urheber dieser neuen erzgebirgischen „Industrie" die Belegschaft seiner fünf Hammerwerke im „Ausland" zusammenstellte - nämlich in der Oberpfalz und im Fichtelgebirge, in dem die Weißblecherzeugung erfunden worden war. Er gewann sie dank der Freizügigkeit auf dem Montansektor durch gezielte Abwerbung erstklassiger, von Agenten sorgfältig überprüftet Spezialisten. Deren Übersiedlung mit Familien bewerkstelligte er ohne viel Aufhebens. Infolge dieser Umsicht und Vorsicht gelang die technische Lösung verlustlos und einwandfrei. Der erforderliche freiwillige Zuzug von weiteren leistungsfähigen Fachkräften verstärkte die Belegschaft mühelos. Denn die neue Ware führte sich überraschend schnell108 ein und zog einen ungeahnten - 1667 zur 105

Blau beauftragte den in Bärnau a. d. Waldnaab amtierenden Bergmeister Erhart Tyrolf, tüchtige, aber irgendwie in Schulden geratene Arbeiter anzuwerben und ihm zuzuführen. - Vgl. S. 2 6 und H. Wilsdorf in Zusammenarbeit mit W . Quellmalz, Bergorte und Hüttenanlagen der Agricola-Zeit, Berlin 1 9 7 1 , S. 5 0 0 [Agricola-Gedenkausgabe ( A G A ) Hg. H. Prescher, Ergänzungsband I].

106 ]3i e „Fuggerei" in Augsburg ist 1 5 1 6 / 1 5 2 5 primär als „fromme Stiftung" erbaut worden - daß in ihr dann auch einige Bewohner für die Fugger mitunter textile Heimarbeit geleistet haben, ist sekundär. 107

D a Blau seine Neugründungen ortsfern anlegte, blieb ihm gar nichts anderes übrig, als eine Werkssiedlung zu schaffen. Das dazu angewiesene Holz von einheitlichen Abmessungen bewirkte „Einheitshäuser" oder doch mindestens einheitlich wirkende Behausungen.

108

4*

Über die Verwendung in Zwickau berichtete, 7 ]ahre

nach der Gründung des ersten Weißblechhammers, Georgius Agricola, vgl. A G A IV, S. 2 2 4 = de natura fossilium ( 1 5 4 6 ) VIII fol. 3 4 0 .

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WILSDORF

Industriespionage durch Andrew Yarranton führenden - Aufschwung der zunächst sehr bescheidenen Blechverwendung109 nach sich. Es kam zur - zeitweiligen - Verdrängung des Kupferblechs als Bedachungsmaterial. Das billig angebotene, rostabweisende verzinnte Eisenblech zu produzieren, war technologisch nicht schwierig. Über die Schwarzblecherzeugung hinaus waren zwar Zusatzprozesse erforderlich, die aber bei einiger Übung nicht mißlingen konnten. Gerade dadurch gab es - im Gegensatz zu den .normalen'110 Hammerwerken - Verwendung für unqualifizierte, weibliche und kindliche Arbeitskräfte bei den unerläßlichen Nebenarbeiten. Solche Nebenarbeiten entstanden vor allem für die Wischweiber im Zusatzbetrieb, im Zinnhaus. Dort mußten vor dem Eintauchen in das verflüssigte Zinn die Eisenbleche gescheuert und dann in einem sauren Brei aus Kleie 111 beidseitig angeätzt werden, der dann wieder mit Stroh abzuwischen war. Nach dem von Männern satzweise zu 200 Stück besorgten Eintauchen112 waren sie aufzustellen, damit das Zinn ablaufen konnte. Im nächsten Arbeitsgang mußte man sie erneut abwischen, denn aus Sparsamkeit entfernte man - zur Wiederverwendung - den anhaftenden Talg, der das geschmolzene Zinn bedeckte, damit es nicht verrauchte; abgesehen davon mußte man die Tafeln auch noch blankreiben, mehrfach abzählen, Ausschuß aussortieren und mit Strohseilen bündeln, soweit man sie nicht zu 400 oder 600 Tafeln in Fässer packen mußte, die der Fernhandel bevorzugte. Die hier ergologisch erkennbaren - weitgehend werkzeugfreien - Arbeitsgänge dürften einen Betriebsaufbau als Manufaktur stark begünstigt haben. D i e auf den einsam gelegenen kleinen Hammerwerkssiedlungen überschüssige Arbeitskraft der Frauen und Kinder - die Kleinstlandwirtschaft blieb eng begrenzt und beließ ,freie Zeit' - konnte 109

Eisenblech wurde im Haus allenfalls zur Braupfanne benötigt, wenn man Kupferblech nicht erschwingen konnte. Salzsiedepfannen waren lokaler Ausnahmebedarf, zudem meist aus Blei. Ofenbleche waren noch keine „Vorschrift", jedoch wurden Ofenrohre erforderlich, sobald man die „schwarze Küche" überwand und geschlossene Öfen statt offener Herdfeuer verwendete und Schornsteine baute. — Verzinntes Blech war als Bedachungsmaterial nicht so haltbar wie Kupferblech, aber leichter lötbar und wesentlich billiger - und das veranlaßte Yarranton 1667 zu seiner Spionagereise. Dazu zuletzt kurz: H. Wilsdorf, Zu einigen volkskundlichen Problemen der Kultur und Lebensweise im Montanbereich unter ethnischen Aspekten. In: Abhandlungen und Berichte des Staatlichen Museums für Völkerkunde zu Dresden, 35 (1976) 55-72, bes. S. 63, A. 26. Vgl. ferner Wolfhart Weber, Industriespionage als technologischer Transfer in der Frühindustrialisierung Deutschlands. In: Zs Technikgeschichte 42 (1975) 287-306.

110

Das althergebrachte, Luppeneisen erzeugende Hammerwerk wandelte sich nach 1550 durch den Übergang zum Hochofen, der Flußeisen erzeugte und darum das Frischfeuer zur Erzeugung schmiedbaren Eisens brauchte. Die technische Verbesserung änderte aber die Struktur nicht. Oszkär Paulinyi, Stand und Verbreitung des handwerklichen Eisengewerbes im Karpatenbecken 1500-1650. In: Schwerpunkte der Eisengewinnung und Eisenverarbeitung in Europa 1500-1650. Hg. H. Kellenbenz. Wien 1974, S. 346-396, bes. S. 394 f.

111

Wenn die Kleie nicht mehr genug Säure hatte, wurde sie den Wischweibern als Hühnerfutter überlassen. - D i e schwache Säure wirkte übrigens nur, wenn die Tafeln gut gescheuert waren, so daß der Anteil der Handarbeit auch bei diesem mit chemischen Prinzipien arbeitenden Teilprozeß entscheidend war, vgl. S. 71; statt Stroh dienten auch harzfreie Sägespäne.

" 2 Das Eintauchen dauerte etwa anderthalb Stunden, ehe das Zinn wirklich innig fest auf dem Eisen haftete (vgl. S. 71).

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zur Senkung der Lohnkosten herangezogen werden. Auch ließ sich deren Arbeitsleistung im Stücklohn113 bewerten, der ja fast stets den Unternehmer begünstigt. Die Arbeit änderte sich auch nicht, denn selbst die Blechformate (meist 30 X 15 cm) blieben konstant; allenfalls wurde eine stärkere Verzinnung durch längeres Eintauchen nötig oder es kamen Bleche verschiedener Stärke zur Verzinnung. Hier fiel also ein echtes Massenprodukt an - und der Betrieb konnte insofern eine Fabrik genannt werden, obwohl die einzelnen Schritte des Produktionsablaufs reine Handarbeit blieben und erst nach 1860 mechanisierbar wurden. Die Weißblechhämmer beschränkten sich übrigens im wesentlichen auf die Blechherstellung und nahmen mit Ausnahme der profilgebenden Falzung oder Biegung von Dachrinnen keinerlei Verarbeitung vor. Bis zu einem gewissen Grade überschritten sie also keineswegs den Rahmen der älteren Montanbetriebe - im Schwarzblech-Hammerwerksteil blieb die alte Eisenerzeugungsstruktur voll erhalten. Aus Stabeisen mußten unter dem Urwellhammer Urwellstürze breitgeschmiedet, dann in Pakete gepackt „gebreitet" werden, damit sie der „Gleicher" wieder einzeln unter dem Abrichthammer fertigschmieden konnte. Dagegen wird man in dem für das Produktionsziel ausschlaggebenden Betriebsteil, im Zinnhaus, ein Element sehen müssen, das den Weißblechhammer als echte Manufaktur ausweist. Damit bestätigt sich der Zeitansatz, den Karl Marx als den Beginn der Manufakturphase eingegrenzt hat. Über die Entlohnung erfahren wir nicht sehr viel mehr als ein paar recht nichtssagende Zahlen für den Nominallohn, der den verschiedenen Arbeitern im Blechhammer und im Zinnhaus gezahlt wurde. Oft war es ein Gruppenlohn, (manchmal auch ein Familienlohn) in den sich die 3 bis 4 oder 5 kooperierenden Arbeiter teilen mußten, wobei aus der Mentalität der damaligen Zeit das Alter und nicht das reine Leistungsquantum einen kleinen Vorsprung hatte. Allgemein bekannt ist jedoch, daß die Hammerwerksarbeit generell, nicht nur im Erzgebirge, infolge der langen Stillstandszeiten durch behördliche Produktionsbeschränkungen wie durch Witterungseinflüsse (Frost und Trockenheit) einen minimalen Barlohn brachte. Da es lange Wochen (wenigstens 12, oft aber 16, ja bis zu 26) überhaupt keine Arbeit gab, zahlte der Betrieb, hinter dem viele Jahrzehnte die kapitalstarke .Gesellschaft des weißen Blechhandels zu Leipzig' stand, ein WartegeldHi. Da dieses aber nicht nach dem üblichen Leistungslohn berechnet wurde, sondern nur etwa den halben Satz des Tagelöhners erreichte, mußten gerade die Hammerschmiede von den in der Kleinstlandwirtschaft erzeugten Lebensmitteln zehren. A b e r : wenn auf dem Hammer die Arbeit drängte, konnten sie sich nicht intensiv um Saat und Ernte kümmern - und wenn der Hammer stillstand, herrschte üble Witterung. Der Bergmann unter Tage war da beweglicher, der Hammerschmied teilte diese Streßzeiten mit dem Bergmann auf Pochwerken und dem Schmelzer in den Hütten. Der 1,3

114

Stücklohn ist freilich nicht erst eine Erfindung der Bergfabriken! „Gedinge" waren nicht nur im Montanbereich (Bergbau, Schmelzwesen, Glashütten) sondern auch im Handwerk als Entlohnungsform für die Gesellen üblich. Wartegeld oder Feiergeld zahlte auch die Grube bei unvorhergesehenen Ereignissen, vor allem auf den als Grubenzubehör betrachteten Pochwerken, die witterungsbedingte Stillstandszeiten hatten. Dafür verlängerte sich dann die Schicht bei normalen Arbeitsbedingungen im Pochwerk bis auf 15 Stunden!

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Weißblechhammer zahlte keineswegs besser als ein anderer Hammer, aber hier mag es leichter gewesen sein, Frau und Kind mit einzubeziehen und einen notdürftig ausreichenden ,Familienlohn - eine von der älteren Forschung kaum beachtete Erscheinung - heimzubringen. Aufstiegsmöglichkeiten bestanden selten, zumal die Schulbildung - die kurfürstliche Hammerwerksschule in Grünthal ist nur vereinzelt nachgeahmte Ausnahme seit 1611 bei meist weiten Schulwegen unzureichend war. Die auf Hammerwerken beinahe unvermeidliche Schwerhörigkeit muß natürlich auch das Familienleben behindert und vor allem den Austausch nach außen stark beeinträchtigt haben. D i e Arbeit im Hemd ohne Hosen schien ohnehin „sittlich bedenklich". D i e Benachteiligung aller dieser Familien war obendrein verschärft, weil das - unkompliziert erscheinende - Ausschmieden von Blech einen ungemein geschickten und hochkonzentriert arbeitenden „Gleicher" 115 voraussetzte. Sonst entstand ein ungleichmäßiges, minderwertiges Produkt, da oft ein einziger falscher Schlag des mechanischen, sehr schnell laufenden Hammers die fast fertige dünne Tafel verdarb und den Lohn kürzte. Die auf anderen Werken des Montanbereichs selten anzutreffende Frauenarbeit war auf Weißblechhämmern von vornherein dadurch mit veranlaßt, daß bei der abseitigen Lage Arbeitskräfte rar waren. Denn die Erstausstattung der Werkssiedlung, über die wir etwas besser als über die späteren Zeiten informiert sind, mit betriebseigenen Wohnhäusern für die aus der Ferne herangezogenen Facharbeiter war so gering wie möglich ( 1 - 5 Häuser werden erwähnt). Der Eigenbau aber kam bei den vielleicht nicht ganz schlechten, aber keineswegs die Rücklage von Sparsummen für einen Hausbau fördernden Löhnen nur langsam voran, war vielleicht auch mancherorts durch die Enge des Siedlungsraumes begrenzt. Die Situation der Arbeiterfamilie ist also hier dadurch gekennzeichnet, daß Mann und Frau - und soweit kräftig genug, auch Kinder - auf dem gleichen Werk Lohnarbeit verrichteten, aber räumlich getrennt an ganz verschiedenen Arbeitsplätzen standen. Im Zinnhaus war das Einsetzen der Gestelle mit den gescheuerten Blechtafeln in die Zinnpfanne die einzige Männerarbeit. Diese Situation hat sich bis ins 19. Jh. nicht verändert. Sie ist auch kaum als besondere Härte empfunden worden, da auch in der Landwirtschaft weitgehend getrennte Arbeit an verschiedenen Arbeitsaufgaben gang und gäbe war. Problematisch war freilich die Besorgung des Haushalts und die Beaufsichtigung der Kinder, denn damals mußte vom täglichen Bedarf das allermeiste selbst erarbeitet werden - vom Nähen, Schuheflicken, Flechten reparaturbedürftiger Körbe bis zum Herstellen der Leuchtspäne und dem Quetschen des Getreides, dem Brotbacken, Quarkmachen und all den einfachen Dingen, die heutzutage entweder gekauft werden oder durch Neuerungen entbehrlich geworden sind. Man wird zu überprüfen haben, ob nicht auch diese Faktoren mitgewirkt haben, die Ausgestaltung der .Dörfer' zu „frühen Industrie-Siedlungen" mit der Möglichkeit einer 115

Über die Funktionen der Hammerwerker sind wir gut unterrichtet, über die Entstehung der oft rätselhaften, noch immer nicht deutbaren Bezeichnungen jedoch nicht - der Sehmheißgleicher war der formgebende Blechschmied, der das grob „gebreitete", auf Rotglut erhitzte Blech gleichmäßig unter dem schnellaufenden Hammer auf einheitliche Stärke bringen mußte. Vgl. diazu die Arbeiten von Roland Schmidt oben Anm. 83.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

55

käuflichen Beschaffung solcher, besondere Geschicklichkeit voraussetzenden Artikel des täglichen Bedarfs zu fördern. Außerdem wird man auch einmal überprüfen müssen, ob die Bergleute und die Bergwaaren-Fabrikarbeiter auf Feldern in begünstigter Südexposition oder in benachteiligten Expositionen pachtweise oder auf eigener Scholle arbeiteten - denn die Mehrarbeit auf ungünstigen Feldern konnte den Zeitetat außerordentlich stark (mit 3, 4, 5fachem Zeitaufwand!) belasten. D i e Bergwarenfabrik in der komplexen dörflichen Ortsstruktur Auch bei der notwendigen Reduzierung des Faktenmaterials auf ein Minimum zeigten die konkreten Beispiele bereits die Schwierigkeiten einer Abgrenzung. Langfristig nachwirkend verdeckten äußere Faktoren die A u s g l i e d e r u n g einzelner weit fortgeschrittener Betriebe aus dem feudalen Montanbereich durch formal fortbestehende, mitunter ganz nebensächliche Bindungen. Die anschließende Thematik muß sich - durch eine exakte lokale Untersuchung - bemühen, die E i n g l i e d e r u n g der „BergwaarenFabrique-Arbeiter" in die erzgebirgische Dorfstruktur zu erfassen. Das auf den Weißblechhämmern entwickelte Prinzip der Schwarzblech-Verzinnung hat zwei oder drei Entwicklungen ausgelöst, von denen wir den handwerklichen Zusammenschluß der ,Flaschner' und der .Klempner' 116 hier nicht zu untersuchen haben. Verfolgen müssen wir dagegen die außerhalb des Handwerks bleibenden, sich als ,Löffelarbeiter' oder .Löffelziener' bezeichnenden Blechlöffelmacher, die vielfach ,Löffelfabrikanten' genannt wurden, ohne daß eine über Produktionsanlagen verfügende Löffelfabrik ihr Eigentum war, so daß sie mehr „Löffelhändler" gewesen sein dürften. Hier zeigt schon die Vielfalt der Begriffe an, daß nur eine l o k a l e Untersuchung weiterführen kann. Als dritte aus der Weißblechfabrikation abgeleitete, erst um 1775 entstandene Neuentwicklung oder als Nebenentwicklung muß man wohl die in der damaligen Vorstellung als „Verzinnung" angesehene Hinterlegung von Spiegelglas mit Zinnfolie statt der bisher dazu gebrauchten Bleifolie ansehen - wir werden daher den einzigen in Sachsen tätigen Zinnfolienhammer in Geising und seinen Gründer, den ,Spiegelfabrikanten' A. G. Pirnbaum, zu beleuchten haben, der ja nach der Begriffsordnung der damaligen Zeit eindeutig eine .Bergfabrik' geschaffen hat - und sich sogar dessen bewußt gewesen ist. Können die Weißblech als Handelsware (en gros) erzeugenden Hammerwerke als Bergfabrik gelten, so sind vielleicht Heimarbeiter, die verzinnte Blechlöffel (en gros) herstellen, als Glieder einer „zerstreuten" Manufaktur anzusehen. Hier erhebt sich die Frage, ob erst die ergologisch bedeutsame Neuerung 117 der Verfertigung des kräftigen 116 D e r Ausdruck „Flaschner" war im Erzgebirge fast unbekannt, allenfalls verstand man darunter einen Verfertiger von „Feldflaschen" für die sächsische Armee (aus Weißblech). .Klempner' sind hochgeachtete Handwerker. Wenn sie auf einem Dorf ansässig sind, liegt die Vermutung nahe, daß sie für den Messebedarf Klempnerware erzeugten, während sonst Klempnerarbeit weitgehend im Hause der Besteller zu verrichten war. 117

,Zaine' im Bereich der Löffelproduktion sind löffellange und löffelbreite dünne Eisenblechstreifen, die der normales Flacheisen liefernde „Zainhammer" als spezielle Löffelzaine produzierte, wie sie auch der spezialisierte Blechhammer herstellte. [Sonst ist Zain =

Flacheisen überhaupt].

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WILSDORF

eisernen Löffelzains durch den „Vlattenschmied" um 1710 die Manufaktur konstituierte. Denn als das Verfahren der kalten Austiefung vorgefertigter Zaine noch nicht bekannt war, mußte der Blechlöffelmacher den Löffelumriß mit einer Blechschere aus relativ dünnem Material herausschneiden, ehe er durch Gesenkschmieden die Formgebung einleiten konnte. Dabei erreichte er nur ein sich leicht verbiegendes Produkt, das stark verzinnt sein mußte. Es steht fest, daß das neue Verfahren zwei für den Konsumenten entscheidende Verbesserungen erlaubte: I. Als dauerhaftes, billiges, qualitätsvolles Produkt konnte der Blechlöffel den Holzlöffel ablösen II. Ein reiches, gefälliges, in jedem Stück .uniformes' 118 Sortiment veranlaßte viele Käufer, den teuren massiv gegossenen Zinnlöffel .einzusparen', der beim Gebrauch allzuleicht deformiert wurde, so daß man ihn immer wieder neu gießen lassen mußte. Die .Blechlöffelmacher' sind nie in einer Zunft organisiert gewesen; sie haben sich von vornherein 119 auf Dörfern niedergelassen; sie sind auch als .Löffel a r b e i t e r' bis etwa 1815 nie in zentralisierte Betriebe „auf Arbeit gegangen", sondern immer - scheinbar - selbständige Heimarbeiter geblieben. Auch als sie statt einer Blechtafel vom kleinbetrieblich arbeitenden Plattenschmied den vorgefertigten Löffelzain bezogen, haben sie ein eigenhändig erzeugtes Produkt bis zum Verzinnen [im dorfeigenen oder nachbarlichen Zinnhaus120 oder auch in einer eigenen kleinen, nicht sehr rentablen Zinnpfanne] hergestellt und mit Verpackung dem Händler abgeliefert. Man war noch anspruchslos und wickelte lediglich dutzendweise die fertigen, mit Lappen polierten Löffel in Papier. Soweit sie schuldenfrei 121 waren, besaßen sie in der Tat eine gewisse Selbständigkeit bei Vereinbarungen mit „ihrem", oft nahe verwandten Löffelhändler, der fallweise als Leiter einer zerstreuten Manufaktur oder als Verleger aufgetreten sein mag. Aber als stark an die Direktiven des Händlers gebundene Auftragnehmer sind sie bereits unselbständige Manufakturarbeiter, da sie nicht mehr selbst auf die Märkte zogen. O b sie noch eigene Muster anfertigten und die Stückzahlen selbst bestimmten, ist nicht mehr zu ermitteln; ebensowenig steht fest, wer ihnen die eingetieften Gesenke lieferte. Soweit 118

Erst das Gesenkschmieden verhinderte die kleinen Abweichungen der frei von Hand geformten Stücke untereinander, die bis dahin den Blechlöffel deklassiert hatten, weil der massive, in Gußformen hergestellte Zinnlöffel so sehr viel gleichmäßiger ausfiel.

119

Das geschah schon um 1 5 3 8 / 4 0 vgl. dazu S. Sieber: Zur Geschichte von Bernsbach. In: „Glückauf" (Aue - Kulturbund) 5 (1958) 7 6 - 7 7 , 8 5 - 8 7 , 1 2 9 - 1 3 1 und L. Walther: ebenda 7 (1960) 2 8 - 3 1 , 45-47;

ferner R. Scheithauer, Bernsbach -

Vergangenheit und Gegenwart. Bernsbach/Erzgeb.

• (1967) [Selbstverlag der Nationalen Front]. 120

In Beierfeld gab es erheblich weniger „Zinnhäuser" als Löffelziener, in Bernsbach scheint nur ein einziges Zinnhaus vorhanden gewesen zu sein. Sicher konnte jeder Hauswirt eine wenig Unkosten verursachende eigene Zinnpfanne in seinem Gebäude in Betrieb nehmen - doch geriet die Verzinnung wohl nur bei technisch einwandfreien Anlagen rentabel. Daß eine Arbeitsteilung bevorzugt wurde und der weniger spezialisierte Löffel m a c h e r es dem geschickteren Löffel z i e n e r überließ, die rohen Löffel mitzuverzinnen, um teures Material zu sparen, ist wahrscheinlich.

121

Dazu fehlen noch Ermittlungen! Verbriefte Hypothekenschulden wogen schwer, noch drückender mögen die kleinen Schulden im Anschreibbuch der Viktualienhändler und Kneipwirte gewesen sein.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

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ein Einblick in ihre näheren Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann er nur von einer lokalen Untersuchung - als Modellfall - erwartet werden, wie sich im folgenden Abschnitt zeigt. Als durchaus willkürliches Beispiel, das sich lediglich vom Quellenbestand her anbietet, wird Beierfeld 122 zeigen, daß man im Bereich der ,Bergfabriken' nicht eliminieren und isolieren kann, weil die direkte Fragestellung - nach der .Position der Löffelmacher' zu keinem Resultat führen würde. Der Löffelmacher hat eben dort gelebt und insofern sind alle „Beierfelder": Ihre Löffelmacherei betrieben sie bald unter diesem, bald unter jenem Aspekt, indem sie die Produktion - ebenso aber auch den Löffelhandel - bald aufgeben, bald erneut aufgreifen, zwischendurch als ,Landfuhrmann' oder als .Spitzenhändler' sich versuchen und immer wieder Lohn und Brot als .Hüttenarbeiter' oder als .Vitriollaborant' finden, mitunter .Arsenarbeiter', „Handarbeiter" und Tagelöhner werden müssen, mitunter aber auch „Bauern" und „Löffelfabrikanten" oder „Schwefelhüttenmeister" werden können. Dieses „Auf und Ab" dürfte für die .Position' der Arbeiter auf einer Bergfabrik nicht nur im individuellen, sondern auch im Familienleben und im Generationswechsel der wesentliche Faktor gewesen sein! Zu diesem Schluß führt auch die Analyse der in Beierfeld betriebenen, weit älteren Produktion, der wir uns zunächst kurz zuwenden. D i e Hütte „Silberhoffnung" in Beierfeld als .Bergfabrique' In die Beierfelder „Bergfabriken" einzureihen ist die alte ,Silberhoffnungshütte', mag auch das (seit 1484 belegte) anfangs (1576/1604) von den Herren von Elterlein entwickelte Unternehmen zunächst nur eine der üblichen Schmelzhütten für silberhaltige und kupferhaltige Erze gewesen sein. D a aber edle Erze niemals in nennenswerter Menge gewonnen werden konnten, ist vielleicht auch der fast 40 Jahre (1639-1679) als Besitzer nachweisbare Junker Rüdiger, dessen burggräfliche Familie um 1600 aus Thorn an der Weichsel ins Erzgebirge kam und Hammerwerke erwarb, dazu übergegangen, Kupferkiese auf Vitriol zu verarbeiten. Sein 1661 erlangtes Privileg bezog sich auf die Berechtigung, das dabei anfallende Rohkupfer selbst saigern zu dürfen. Das bedeutete die Aufhebung des Monopols der kurfürstlichen Saigerhütte Grünthal. Allerdings ist gerade daraus zu schließen, daß infolge der geringen Mengen dieses Recht bedeutungslos war - die neue Belehnung von 1668 erwähnt die Silbersaigerung auch nicht mehr. Nach seinem Tode trat obendrein die Konkurrenz der Schmelzhütte des Grünhainer Schulmeisters Stölzel (seit 1673) 1 2 3 so stark hervor, daß die .Silberhoffnung' die Lohnarbeit für die Gruben am Graul und in der Waschleithe, die bisher dort 122

123

Die folgenden Angaben für Beierfeld beruhen auf Quellengrundlagen, die Lic. theol. Gustav Beyer für seine fleißigen heimatgeschichtlichen, freilich mit manchen abwegigen Ideologien belasteten Forschungen benutzt hat. a) G. Beyer: Geschichte von Beierfeld, Beierfeld 1923 - vgl. oben Anm. 20. b) G. Beyer: 400 Jahre Siedlungsgeschichte von Beierfeld. Goslar 1939. Erhalten blieb das Originalprivileg für Hanns Rüdiger zu Beyerfeld: STA Freiberg, Bergarchiv, Akte HJ 390/1-4172/92 Lit. M. Nr. 8. Die Person des Christian Stölzel ist für die Heimatforscher ganz mit Recht mehrfach Gegenstand einer Darstellung geworden. Noch ungeklärt ist die mögliche Verwandtschaft dieses Schulmeisters mit dem „Arcanisten" der Meißner Porzellan-Manufaktur Samuel Stölzel, der als Berg- und

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hatten schmelzen lassen, verlor. Dadurch wurde eine einschneidende Betriebsumstellung notwendig. Zwar reichten die Mittel der Erben gerade noch, um die erforderlichen baulichen Anlagen für die Schwefelgewinnung und für das Vitriol wieder zu errichten [oder wieder herzurichten]. Die Absatzlenkung der Produkte und die Beschaffung der erforderlichen Mineralien mißglückte jedoch, so daß 1689 das Bergamt infolge des Verfalls der Werksanlagen mit der Entziehung des Betriebsrechts drohte. Die Besitzer verkauften 1692 das notdürftig wiederhergerichtete Werk an ein Konsortium, das zwar den Oberzehnter Lehmann und später sogar den Oberberghauptmann Abraham von Schönberg einschloß, aber sonst aus Hamburger Kaufleuten bestand. Die baulichen Anlagen umfaßten 1692 1 Silberhütte 1 Kupferhütte

1702 wurden diese drei Anlagen stillgelegt

1 Brennhaus (zum Silberfeinbrennen) Deren Betrieb war 1689 eingeschlafen, wurde

1 Rauschgelbhütte (für Malerfarbe)

aber bergamtlich zur Pflicht gemacht

1 Vitriolsiedehütte

1702 wurden von der 6 km entfernten Grube

1 Schwefelhütte 1 Läuterhütte (für Handelsschwefel)

zur Schwefelproduktion

.Stamm Asser' 10 000 Fuder Kies angefahren

2 Röststadel 1 Erzhaus 3 Kohlenschuppen 1 Vorratsgebäude A n s t e l l e d e r 1 7 0 2 stillgelegten T e i l e des H ü t t e n b e t r i e b s sollte d i e bei d e m steigenden Bedarf

der

Textilfärber

sehr g e w i n n v e r s p r e c h e n d e

aufgenommen

Arsenikproduktion

w e r d e n . D a z u w a r auch ein entsprechendes Betriebsrecht

angekauft worden, das

1658

d e m „ H a n d e l s m a n n " D a v i d Henzschel f ü r den B e t r i e b seiner „ G i f t h ü t t e " 1 2 4 h a r t a n d e r böhmischen

Grenze

bei „ W i e s e n t h a l " v e r l i e h e n w o r d e n w a r .

In diesem

Kleinunter-

n e h m e n h a t t e n d i e seit 1 5 6 4 privilegierten I n h a b e r des alten A r s e n w e r k s im G e y e r i s c h e n W a l d keine G e f a h r sehen müssen, nun a b e r klagten sie gegen d i e d r o h e n d e K o n k u r r e n z erfolgreich auf U n t e r l a s s u n g . D a m i t Versuch,

bloße

„Betriebsrechte"

kompletten Produktionsbetrieb)

scheiterte das e r s t e historische Beispiel

(zwar kaufen

nicht w i e eine H a n d e l s w a r e , und

zu

für

aber wie

den einen

verkaufen!

A l s d e r V e r s u c h m i ß l a n g , mit d e m A n k a u f eines Betriebsrechts d i e a n g e s t r e b t e A r s e n m e h l e r z e u g u n g in B e t r i e b zu bringen, w a r das K o n s o r t i u m w e n d i g genug, auf d i e produktion

Vitriol-

auszuweichen. E s k o n n t e d a b e i auf v o r h a n d e n e A n l a g e n zurückgreifen und

auch gegen - stets r e l a t i v klein g e b l i e b e n e - B e t r i e b e k o n k u r r e n z f ä h i g bleiben, d i e mit Hüttenmann Böttcher zugeteilt war. D i e umfangreichen Akten sind noch nicht ausgeschöpft, STA Dresden loc. 3 6 0 8 6 und 36134, dazu Coli. Schmid vol. I X Nr. 205 aus den Jahren 1 6 7 3 - 1 6 9 7 . Vgl. Ehrenfried Walther von Tschirnhaus: Medicina mentis. Hg. Leipzig 1963 =

J . Haussleitner und R. Zaunick,

Acta histórica Leopoldina 1963/1, [vgl. oben Anm. 63]. S. Sieber, Christian

Stölzel, ein Dorfschulmeister als Berg- und Hüttenherr.

In: Zs. Anschnitt 24

(1972)

Nr. 2

S. 1 8 - 2 1 [mehr Heinrich als Christian St.], 124

Die am 7. 1. 1658 erteilte Konzession zur „Gifthütte" Wiesenthal widersprach zwar dem 1564 erteilten Monopol, ist aber nicht angefochten worden, weil vorwiegend Arsenerze aus Böhmen verarbeitet wurden, auf die sich das Monopol ohnehin nicht erstreckte.

D a s Aufkommen der Bergfabriquen

59

billiger Steinkohle oder Braunkohle, welche Pyritausblühungen aufwiesen, arbeiteten. Diese Basis für „Chemiebetriebe", die Schwefelsäurederivate und Alaune für den Textilien und Leder liefernden Gewerbebedarf erzeugten, ist relativ früh entstanden und schon von Agricola 1546 erwähnt worden. Allein der Status einer ,Bergwarenfabrik' wurde wohl doch erst um 1700 erreicht, so daß Beierfeld ein gutes Beispiel ist. Nicht übersehen dürfen wir aber, daß Innovationen der Vorstufen und Ansätze nicht entbehren können. Dazu zählen ältere Bemühungen, die 1581 zur Gründung der - allerdings mehr auf Schwefel als auf Vitriol und Alaun zielenden - zweiten Bergfabrik in Geyer führten, die wir unten (vgl. S. 98 und Anm. 234) besprechen - gleichzeitig (belegt seit 1582) aber auch unter kurfürstlicher Regie eine Betriebsaufnahme im Steinkohlenbecken von FreitalDöhlen bewirkten, wie ich 1976 in den „Museumsschriften" Freital, H. 1, gezeigt habe. Wir erhalten dadurch Einblick in Anfänge des Konkurrenzkampfes von weitsichtigen Unternehmern und Unternehmerkonsortien mit richtigem Überblick über die Marktlage, die Werke mit einem breiten Sortiment von Beierfelder „Berg-Waaren" aufzubauen suchten. Das Scheitern des vom Hamburger Kapital versuchten .Großunternehmens' 1702 beschränkte dann zwar das Sortiment, nicht aber die Produktion von Vitriol und Schwefel. Schwer einzuschätzen ist die Auskaufung der ausländischen Unternehmer durch den König August den Starken 1706: Es ist möglich, daß es sehr hohe Profite waren, die einem Regiebetrieb zugewendet werden sollten - es ist ebenso denkbar, daß sehr geringe Profite infolge der Auswirkungen des Krieges gegen Karl XII. nahelegten, wenigstens die „kriegswichtige" Schwefelproduktion durch Rückgriff auf staatliche Mittel zu stützen. Es kennzeichnet übrigens die dürftige Quellenüberlieferung, daß man eine solche Frage nicht entscheiden kann! Freiberger Akten (Akten Nr. 36200/4976) zeigen, daß 1711 Gewerken aus Freiberg, Geyer und Beierfeld gemeinsam tätig waren, daß man aber 1712 die Pacht an die landesfürstliche Kasse nicht bezahlen konnte. D i e schwache Rentabilität des dann durch einen Faktor geleiteten Regiebetriebs will nicht viel besagen. Sie ist erst 1744 durch die Anstellung eines tüchtigen Mannes behoben worden, der praktizierender Wundarzt war und wohl seine Heilmittel aus diversen Bergbauprodukten selbst produzierte; er bewies, daß er auch die Großproduktion von „Chemikalien" leiten konnte. D i e s e ist dann durch einen Apothekerssohn mit den erforderlichen Fachkenntnissen 1760 wieder reprivatisiert worden ; er hat das Werk .Silberhoffnungshütte' auch durch ein neu entwickeltes Verfahren zur Arsenmehlherstellung zu einem bedeutenden Unternehmen gemacht. Es ist aber klar ersichtlich, daß der „Übergang" zur „Berg-Waaren-Fabrique" in die Jahre um 1 6 9 2 / 1 7 0 2 fällt.

Wenden wir uns nun den Werktätigen zu, die auf diesem Werk ihren Lebensunterhalt erwarben und vielleicht auch von ihm Anregungen empfingen, eine selbständige Existenz zu gründen. Erreichbar sind freilich nur die „ansässigen" Werktätigen - und das war nur der kleinere Teil. Obwohl für den Ort eine Einwohnerkartei angelegt wurde, gibt sie keine Auskunft über Lebensverhältnisse, die über Geburt und Tod, Zahl der Kinder und allenfalls eine Berufsangabe hinausgehen. Von den in Beierfeld ansässigen Arbeitern des Hüttenbereichs wird in der Zeit vor 1679 nur einmal ein Kohlmesser 1618 ( 2 1 4 ) * erwähnt und dann 1672 (53) der offenbar sehr wendige und befähigte * D i e in den folgenden Abschnitten in Klammern hinter einer Jahreszahl stehenden Ziffern bezeichnen die Seiten der in Anm. 122 b genannten .Siedlungsgeschichte' von Gustav Beyer.

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WILSDORF

Hüttenarbeiter Peter Paul Humann ( 1 6 4 1 - 1 7 1 7 ) , dessen Verwandter seit 1679 Teilhaber der Hütte Silberhoffnung war. D e r Hüttenarbeiter - der vielleicht in gehobener Stellung stand - erwarb damals für 519 fl. ein kleines Bauerngut (Halbhufe), blieb aber bei seinem Beruf und nahm sogar als einer der ersten die „Löffelzienerei" auf, auch fungierte er als Ortsrichter. Es zeugt für die relativ günstige Stellung der Metallhüttenleute, daß 1684 (74) die Tochter eines Hochofenarbeiters aus Waschleithe in ein Beierfelder Gut einheiraten konnte; doch wird man hinzusetzen müssen, daß gerade dieser Bauer 1699 den Hof zur Hälfte verlor, weil er .nicht länger hauszuhalten vermochte'. Der nächste Hüttenarbeiter tritt uns 1686 (215) entgegen, als sich die „Silberhoffnungshütte" im Niedergang befand; darum hat er vermutlich als Ausweichberuf das Drechseln von Klöppelhölzchen betrieben, doch konnte er offensichtlich auch dadurch den Verfall seines Hauses nicht abwenden, das im Besitz seiner Witwe 1728 einstürzte. Ein weiterer Hüttenarbeiter heiratete 1686 in ein Gut ein und erwarb sodann 1701

(39) mit

eigenen Mitteln ein größeres für 920 fl. Auch er war Ortsrichter, obwohl er ortsfremd aus Wiesenburg kam. Allerdings konnte er 1715 „bei itziger schwerer und nahrungsloser Zeit" das große Gut nicht halten - er wird dazu auch zu alt gewesen sein - und verkaufte darum die Hälfte. E r ist der erste, der als „Vitriol- und Schwefelarbeiter" bezeichnet wird. 1711 (261) erwarb der Hüttenarbeiter G. Friedrich - Ahnherr der bedeutenden Löffelfabrikanten ein Haus, zog aber dann von Beierfeld nach Schwarzbrunn und nach Kuttenplan in Böhmen, wohin er als Vitriol- und Schwefel-Meister berufen worden war. Es muß also angenommen

werden,

daß die sehr variable Produktion der Beierfelder Silberhoffnungshütte beispielgebend zeigte, wie aus fast „wertlosem" Material mit relativ einfachen technischen Mitteln und mit geringem Kapitaleinsatz allerlei gefragte Handelsgüter zu erzeugen waren. So ist es verständlich, daß geistig rege Hüttenarbeiter sich zum Nachdenken veranlaßt sahen, wie sie solche selbst liefern und somit „Vitriollaboranten" 1757 (264) werden könnten. Der Sohn des genannten G . Friedrich, der anfangs Löffelarbeiter war, wechselte zurück in den väterlichen Beruf und wurde gleichfalls Vitriol- und Schwefel-Meister -

seine Söhne aber wandten sich erneut der Löffelherstellung zu; der jüngste Gottfried Heinrich

Friedrich ( 1 7 6 3 - 1 8 3 5 ) gründete dann die „Löffelfabrik" 1787 (262). 1717 begegnen uns zwei Hauskäufe von Hüttenarbeitern - der eine war ein Schulmeisterssohn und erwarb (279) ein kleines Anwesen mit zwei Gärtlein, das etwa 40 fl. wert war; der andere (191) war zuvor als Bergbursche in einer Grube tätig gewesen - er bezahlte 50 fl. für sein „Häuslein mit Gärtlein". Bescheiden war auch das Haus, das 1719 (257) ein Hüttenarbeiter von seinem Vater erwarb; Vater und Sohn waren anfangs „Handarbeiter" gewesen, bis sich der Sohn der Hüttenarbeit zuwandte. Wir dürfen vermuten, daß es sich um einen intelligenten und charakterfesten Menschen gehandelt hat, dem ein bescheidener Aufstieg gelang. E r heiratete nacheinander drei Frauen, deren Väter Blecharbeiter - Hüttenarbeiter - Löffelarbeiter waren; keiner der Schwiegerväter besaß ein Haus, nur der letzte nannte ein paar Felder sein eigen. -

Es ist natürlich sehr schmerzlich, daß keine weiteren

Urkunden vorliegen, die den Lebensweg eines solchen Menschen, seine Lebenswelt und die näheren Bedingungen seiner Existenz beleuchten würden. Einen weiteren Aufstieg erkennen wir aus dem Hauskauf eines Mannes 1720 (211), der wie sein besitzloser Vater Hüttenarbeiter war, aber wohl durch die Mitgift seiner Frau in die Lage kam, sich wie sein Schwiegervater dem Spitzenhandel zuzuwenden, in dem er große Erfolge erzielte: Sein für 61 fl. erworbenes Bergmannshäusel -

es gehörte zuvor einem Bergmann, der Steiger hatte werden

können und der noch ein zweites Haus besaß -

erfuhr eine Wertsteigerung 125 durch Ausbau auf

450 Thlr. 1760. 125

Die Wertsteigerung kann unter Umständen täuschen, weil im Krieg der Wert der sächsischen Kassenscheine zu 10 Thalern zeitweilig auf IV2 Thlr. in Münze gesunken war und selten gesagt ist, ob in Münze oder in Kassenscheinen gerechnet wird.

Das Aufkommen der Bergfabriquen Der 1694

61

(175) geborene Sohn eines Hüttenarbeiters hat sich 1724 für nur 50 fl. als „Blech-

händler" ein sehr kleines Haus kaufen können -

der Regiebetrieb auf der Hütte bot offensichtlich

nicht sehr gefragte Arbeit, so daß selbst der beschwerliche Kleinhandel mit Blech (und Blechwaren?) vorgezogen wurde! Wir müssen jedoch hier abbrechen, ohne damit sagen zu wollen, daß es nicht noch weitere interessante Entwicklungen gegeben hat. Aber die „Sonderfälle" sind wohl nur durch nicht verallgemeinerbare Umstände zu erklären, etwa die beiden Angaben aus dem Jahr 1806, daß ein Hüttenarbeiter zugleich als .Strumpffabrikant' (182) tätig war und daß ein anderer (wie sein Vater und Großvater) zugleich als Kleindrechsler [wahrscheinlich für die ortsübliche Produktion von Klöppelhölzchen] (323) arbeitete. 1804 (173) hatte bei noch etwas ruhigeren Zeiten ein Hüttenarbeiter einen Neubau aufführen können - Besitznachfolger waren bis 1848 wieder Hüttenarbeiter. Doch auch unter den - bei unserer Materialgrundlage begreiflicherweise - selten genannten „Mietern" erscheint 1810 (41) ein Hüttenarbeiter.

Insgesamt ist zu sagen: Ein klares Bild für die Zuordnung der ersten greifbaren „Hüttenarbeiter" in ein Sozialgefüge ergibt sich nicht. Wohl aber zeichnet sich bereits um 1700 ab, daß die meisten zu den „kleinen Leuten" gehören, die sehr wohl als „BergWaaren-Fabrique-Arbeiter" angesprochen werden können. Wieweit sie de facto frühproletarischen Schichten angehört haben, wäre nur dann klarzustellen, wenn wir die Schulden für Viktualien und die Hypothekenschulden kennen würden, die auf den kleinen Anwesen lasteten. An Notizen über Zwangsverkäufe fehlt es in den Beierfelder Akten nicht, aber Hüttenarbeiter sind davon - im Gegensatz zu Löffelmachern oder „Blecharbeitern" - nicht betroffen. Die Verbindung des Beierfelder Hauptunternehmens, der ,Silberhoffnungshütte', zum Montanbereich ist schon stark gelockert - für die Hamburger Kaufleute war es eben ein Geschäftsunternehmen wie jede andere Beteiligung an Produktionsbetrieben auch. Beachtlich ist, daß die Übernahme des Werks in den königlichen Regiebetrieb keine erneute Rückgliederung in den Montansektor nach sich zog, denn die Leitung erhielt nicht das Bergamt oder ein Bergbeamter, sondern ein Faktor - vielleicht zum Schaden der auf montanistisch vorgebildeten Fachleute und nicht auf administrative Kräfte angewiesenen Produktion. Die spezialberufliche Differenzierung der „Arbeiterschaft" ist nicht erst im 19. Jh. erfolgt, sondern 1743 (166) wird ein Hüttenarbeiter als Schwefelmacher näher charakterisiert, 1815 (337) ein anderer als Arsenikarbeiter. Die Andeutung von Restformen der kleinen Warenproduktion im neu aufkommenden chemisch-technischen Bereich läuft über ein Jahrhundert in Beierfeld bis 1830/1837; selbst damals arbeitete noch auf bäuerlicher Struktur ein Vitriollaborant (65) und ein Hüttenarbeiter und Vitriolfabrikant (351). Auch kommt 1751 ein ,Vitriolöl-Träger vor, der zu Fuß einen Abnehmer in Linz a. d. Donau mit teurem Schwefelsäurekonzentrat (1 M kostete 1 Dukaten) belieferte.

Blechmacher - Löffelmacher - Vitriolmacher in Beierfeld Die Besitzstandsverhältnisse für - ansässige - Blechmacher, Blechhändler, Blecharbeiter für Löffelarbeiter, Löffelmacher, Löffelzinner, Löffelfabrikanten und auch für Hüttenarbeiter, Vitriolmacher, Schwefelarbeiter und Arsenikarbeiter sind durch umfassende

62

WILSDORF

Ermittlung der Hausbesitzer und ihrer Berufe 126 sowie ihrer Verwandtschaftsverhältnisse bekannt und sollen im folgenden ausgewertet werden. Eine Ortsanalyse von Beierfeld liegt natürlich nicht in der Zielstellung dieser Arbeit. Allein es sei mit allem Nachdruck darauf hingewiesen, daß Aussagen über die Struktur einer „Berg-Fabrique" ohne konkret belegbare Einzelbeispiele kaum möglich sind. Jedoch ist eine Verallgemeinerung aus solchen nur begrenzt statthaft, weil die Unangesessenen aus dem Dunkel nicht heraustreten. Allenz falls wird bei Heiratsangaben darauf hingewiesen, ob der Vater ,Löffelarbeiter' oder .angesessener Löffelmacher' oder .renommierter Löffelfabrikant' gewesen ist, was aber kein statistisch zuverlässiges Material ergibt.

Es zeigt sich, daß gerade die Bezeichnungen für „Löffelmacher" in geistlichen und weltlichen Urkunden nach Gutdünken „verliehen" wurden. Die Einstufung war willkürlich und oft auch geradezu falsch, wie die zusätzlichen Angaben ausweisen. Eine eindeutige Bezeichnung „Löffelhändler" fehlt anfangs (1705) fast ganz (145), klarer ist eine 1729 auftretende Bezeichnung Löffelziener und Handelsmann (228), während 1737 die Bezeichnung Löffelziener dann bis 1778 durch Löffelfabrikant abgelöst wurde; der Wechsel scheint nach 1760/62 (216) allgemein eingetreten zu sein. - Da der Hausbesitz um 100-150 Thlr. wechselte, kann von einem „Fabrikbesitzer" kaum gesprochen werden. Es scheint, daß die Spezialisierung eines Handelsmannes um 1760 auf den Löffelhandel Anlaß war, ihn Löffelfabrikant zu nennen (225), wie umgekehrt 1760 die Aufnahme des Handels durch einen Zinner (171). Terminologische Unsicherheiten belasten unvermeidbar auch unsere Darstellung, die sich mit der Frage der dezentralisierten Manufaktur beschäftigen muß. Lokale, betriebsgeschichtliche Ermittlungen darüber sind bisher nicht erfolgt. Ohne der Struktur der Löffelmacherei in Beierfeld genauer nachzugehen, hat sich die Forschung mit der sehr vagen Angabe begnügt, daß etwa seit 1778, verstärkt seit 1789 die Familie Friedrich einen erheblichen Aufschwung herbeigeführt habe. Schon 1778 (262) wird der Bruder des Gründers als Löffelfabrikant bezeichnet, ebenso 1772 ein weiterer Verwandter (285), dessen Vater 1739 noch Löffelarbeiter genannt wurde. 1811 wird notiert, daß der Löffelfabrikant zwei Zinnhäuser besaß, 1815 aber wurde sein Gesamtvermögen auf nur 1 550 Thlr. geschätzt (262).

Für unser Anliegen ist es wichtig, auf die Anfänge zurückzugehen. Sobald diese greifbar werden, ergeben sie sich als Ausgliederungen aus der bäuerlichen Struktur etwa um 1705 (145) von erblos bleibenden, montanberuflich irgendwie tätigen Söhnen und Schwiegersöhnen (1672 - 53), aber doch nicht ohne den Anstoß direkt durch einen Fachmann. Faßbar wird 1675 (181) als ein solcher der aus Eibenstock nach Beierfeld gezogener Georg Wapler, der im Kirchenbuch Meister der Blechverzienerei genannt wird. Schon 1672 (53) ist von einem Löffelziener die Rede, der von seinem sowohl als Bergmann wie als Bauern tätigen Schwiegervater das Gut übernimmt, aber seinen eigenen, zunächst im Hüttenwerk Silberhoffnung ausgeübten Montanberuf auf die Löffelherstellung spezialisierte und auch noch ,Handel' [doch wohl mit Löffeln] trieb. 1680 (319) erscheint dann ein unternehmerischer Bauer, der neben seinem landwirtschaftlichen Besitz von 126

D i e Vielzahl der vom Montanbereich abgeleiteten Berufe ist nicht nur Auswirkung der „Bergwarenfabrik" in der Silberhoffnungshütte meister.

es lebten im Dorf ja auch noch Bergleute und Schicht-

63

D a s Aufkommen der Bergfabriquen

IV2 Hufen auch noch Löffelziener ei und Handel aufgriff und außerdem als Ortsrichter fungierte. In der folgenden Generation scheinen Blecharbeiter, Handarbeiter, sogar Apotheker oder Bäcker zur offenbar rentablen Herstellung von verzinnten Löffeln übergegangen zu sein. Dies zeigen einige Beispiele aus den Jahren 1711 und 1718 (Blecharbeiter 252 und 206), 1714 (Handarbeiter 218), 1716 (Apotheker 104) - alle vier werden als Löffelziener bezeichnet, der gewesene Bäcker wird 1717 (163) nur Löffelmacher genannt, während 1737 sein Sohn als Löffelziener bezeichnet wird; vielleicht hat aber schon der Vater die notwendige Einrichtung eines Z i n n h a u s e s127 geschaffen, - die Wertsteigerung des Anwesens von 120 auf 250 fl. deutet darauf. Andererseits konnte 1719 (124) ein Löffelziener für 650 fl. ein Halbhufengut erwerben, er muß also recht erfolgreich gewesen sein. Im gleichen Jahr 1719 (258) erscheint dann ein einfacher - sonst nicht erfaßbarer - Löffelarbeiter, der nicht Hauseigentümer war, aber wenigstens ein Stück Feld besaß; in diesem Familienzusammenhang kommt auch 1735 (258) ein unehelich geborener Löffelarbeiter als Hausbesitzer vor, offensichtlich unbehindert von „Zunftvorschriften", die prinzipiell eheliche Abkunft forderten. „ L ö f f e l z i e n e r " waren also ein freies Gewerbe, das auch auf einem Dorf von jedermann betrieben werden durfte. Krisenfest war die Löffelherstellung nicht: ein 1 7 2 8 ( 3 1 3 ) Hausbesitz erwerbender

Löffelmacher

mußte 1 7 3 7 schuldenhalber sein Haus verkaufen; daß er sich a b e r später wieder seßhaft machen konnte, beweist seine persönliche Tüchtigkeit. E b e n s o ging es 1 7 3 0

(237/38) einem anderen,

der

schon im folgenden J a h r die Zwangsversteigerung über sich ergehen lassen mußte, aus der es der älteste Bruder erwarb. D a ß in beiden Jahrzehnten Söhne von ,Blecharbeitern' lieber „Löffelarbeiter" wurden, ist auch belegt (z. B . 1 7 3 7 - 1 9 1 ) . In dieser Zeit 1 7 3 5 / 1 7 4 2 sind wenig bemittelte Löffelarbeiter Hausbesitzer für 4 0 fl. oder 25 fl. ( 2 8 4 ) geworden, ein extremer Fall ist 1 7 4 2 verzeichnet, wo nur 5 T h . bezahlt wurden. V o n den Anfängen um 1 6 7 5 bis zum Ausbruch des Siebenjährigen Krieges 1 7 5 6 können wir insgesamt

46

wurden

und/oder

„Löffelarbeiter, Handel

Löffelziener, [mit

Löffeln]

Löffelmacher" trieben.

feststellen,

S i e waren

die

weitgehend

Hausbesitzer mit

waren

ebensolchen

oder

Berufs-

genossen verwandt, .vererbten' oft ihren Beruf auf Söhne und E n k e l (Urenkel nur selten). Ihr Besitz war sehr unterschiedlich und offenbar auch ihre Produktivität, denn ein Zinnhaus besaß keineswegs jeder

Löffelziener;

erleichternden

offenbar

haben

die Besitzer eines solchen

zweckgebundenen

und

produktions-

Gebäudes auch für andere gearbeitet oder auch anderen die Benutzung (gegen

gaben) gestattet. Hier liegen wohl auch die Arbeitsplätze 1 2 8 für die nicht mit Häusern

Ab-

begüterten

„Löffelarbeiter". Bemerkenswert erscheint, daß die Kriegsjahre offensichtlich den B e d a r f erhöhten - mancher Soldat hieß den Löffel mitgehen. So sind zwischen 1 7 5 6 und 1 7 6 5 nicht weniger als 16 Löffelhersteller zu Hausbesitz gekommen - den sie zum T e i l vom V a t e r übernahmen. E i n e n Neubau unternahm freilich 127

Um Löffel zu verzinnen, mußte man kein eigenes

7-innhaus

bauen -

erst 1 7 3 2 ( 3 2 0 ) wird das

erste, von einem Handelsmann nach 1 7 2 2 errichtete Spezialgebäude erwähnt. E i n Zinnhaus kann also als Zeichen erhöhter Produktion und - eventuell durch bloße besitzlose Löffel m a c h e t - verstärkten Betriebes gelten. 128

Arbeitsplätze muß man natürlich voraussetzen; nähere Angaben sind jedoch nicht zu gewinnen, da die Anzahl der Mieter und die Zuschreibung zu einzelnen Vermietern unerfaßbar bleibt - so daß uns vielleicht die Mehrzahl der Löffelarbeiter entgeht.

64

WILSDORF

nur ein Löffelarbeiter 1764 (310). Die Unsicherheit der Kriegsjahre ist insofern spürbar, als einige einen weiteren Beruf ausübten: Vitriollaborant 1757 (264), Schichtmeister auf einer Grube 1763 (333), freilich kommt das auch in späteren Kriegszeiten noch vor: Vitriolmeister 1808 (182/83), Hüttenarbeiter 1803 (264), Handelsmann [da er Bauer wurde, offenbar nicht mit Löffeln] 1782 (335) und ein weiterer 1802 (279), der in Konkurs geriet. Schwer einzuschätzen ist die Tätigkeit eines .Handelsmannes', der 1801 von seinem Vater, einem Löffelziener, das Grundstück mit Zinnhaus (für 600 Thlr.) übernahm, aber sich nicht mit der Löffelfabrikation beschäftigte - da nun ausdrücklich vermerkt wird, er habe in seinem Hause eine zweite „Stube" ( = Wohnung), kann geschlossen werden, daß er nach dem Tode seines 81 Jahre alt gewordenen Vaters einem „Mieter" das väterliche Produktionsmittel überließ. Auch umgekehrt wurde ein erfolgloser Handelsmann ,Löffelarbeiter' 1816 (283). Denn auch ein Löffelfabrikant konnte in sehr begrenzten Vermögensverhältnissen leben, wie aus der Kriegssteuererhebung 1815 hervorgeht, wo als geringste der für .Fabrikanten' gebuchten Summen nur 275 Th. (172) genannt werden. Andererseits beteiligten sich durch Neubau an der Fluraufschließung um 1800 auch einige Löffelhersteller: 1797 (Haus 59, 272), 1802 (Haus 88, 330), 1803 (Häuser 56/ 57/58, 265, 266/267-268), um die gleiche Zeit noch ein weiterer Neubau (Haus 60, 270). Allgemein wird zu sagen sein, daß bei dem Lärm des Gesenkschmiedens ein eigenes Haus erwünscht war. W e m das versagt blieb, der mußte bei einem Hausbesitzer einen Arbeitsplatz erbitten, mutmaßlich gegen die Verpflichtung, seine Produktion diesem zur Verwertung (Verzinnung, Handel) zu überlassen. Eine Arbeitsteilung konnte es kaum geben, allenfalls wird ein altgewordener Hausbesitzer die Übernahme der Gesenkschmiedearbeit gefordert und sich die leichteren Folgearbeiten (Entgraten, Verzinnen, Polieren, Verpacken) vorbehalten haben. D i e Technologie erschien keinem Geringeren als dem berühmten Johann Beckmann so bemerkenswert, daß er das in Beierfeld praktizierte Verfahren besprach 120 . D i e Herstellung erfolgte dadurch, daß man vom Plattenschmied einen „Zain" bezog, der 3 mm stark und 2 0 - 8 0 mm breit war. Diesen Streifen drückte man auf ein Form und Muster gebendes Gesenk aus Schmiedestahl, in das die Löffelform eingegraben war - es war entsprechend teuer. Dann konnte man mit einem etwa 1 0 0 0 g schweren Hammer den Streifen in die Form „eintiefen". Die überstehenden Ränder, die nicht von selbst an der scharfen Kante des Gesenks abbrachen, mußte man mit einer Blechschere (entfernen) .entgraten'. Ein Nachglätten mit einer Feile war mitunter nötig. Es gab auch Löffelmacher, die umgekehrt eine „erhabene" Form bevorzugten und den Löffel „über die Form" und nicht in die Form schlugen, vielleicht war dann das Entgraten leichter. Wie stark das Interesse an billigen Blechlöffeln war, gibt eine nicht autorisierte Zeitungsmeldung zu erkennen: Angeblich sollte der aus sächsischen Diensten nach dem Harz gegangene ,industrieuse' Berghauptmann v. Trebra 144 Blechlöffel für 1 Rthlr. liefern können [das waren im 24-GroschenFuß 288 Pfennige, im 30-Groschen-Fuß 360 Pf.]. Auf diese Meldung in dem 1794 erschienenen zweiten Jahrgang des „Reichsanzeigers"130 erfolgte dann eine Leserrückfrage, und nun bequemte man sich zu einer Richtigstellung: Die (nie eröffnete) Fabrik sei erst im Entstehen - den Preis beanstandete man nicht. Dabei forderte der einfache Löffel 30 (!) Arbeitsgänge. 129

130

Johann Beckmann, Beyträge zur Oekonomie und Technologie, Göttingen 1787, Theil IV, S. 139 bis 142. Er rückte einen - im Grunde sehr dürftigen - Bericht des .Landbauverwalthers Ziegler' ein, der 1775 Informationen eingezogen hatte. „Reichsanzeiger" 2 (1794) col. 212, 399, 751: Notiz - Rückfrage - .Dementi'. Zu beachten sind auch die „Bezugsnachweise" in den üblichen „Kaufmännischen Adreß-Lexika"! (wie dem Weimarischen von 1789).

Das Aufkommen der Bergfabriquen

65

Für bisher noch nicht erwähnte weitere 70 Löffelhersteller liegen Notizen vor, die in den 50 Jahren zwischen 1765 und 1815 Hausbesitz erwarben, ererbten oder einheirateten, doch reichen die spärlichen Angaben nicht aus, um sie zu profilieren. Diese Jahre dürften die Zeit der stärksten Entwicklung gewesen sein und es ist sehr schmerzlich, daß wir nicht Näheres erfahren. Freilich würden wir sehr irren, wollten wir Beierfeld nun einfach als „Löffelmacherdorf" deklarieren, wie das befremdlich oft bisher 131 geschehen ist. Denn neben den Löffelmachern behaupteten sich im Ort noch 1) die Blechmacher, 2) die zu allererst greifbaren Bergleute und 3) die Hüttenmänner, z. T. als Vitriolsieder. D i e seit 1 5 8 1 unter d e n Hausbesitzern e r w ä h n t e n B e r g l e u t e sind schnell a u f z u z ä h l e n u n d h a b e n g e w i ß nicht das O r t s g e f ü g e 1 3 2 geprägt, auch w e n n sie d i e für d i e B e r g f a b r i k nicht unwichtigen T r a d i t i o n e n d e s Montanbereichs vermittelten. U n t e r s c h ä t z e n

dürfen

w i r d i e s e s bergmännische E l e m e n t im O r t nicht, z u m a l sich d e u t l i c h e T r a d i t i o n e n abzeichnen in der .Erblichkeit' v o n H a u s u n d Beruf ( 1 5 8 1 / 1 6 4 0 - 3 5 5 ) o d e r im beruflichen A u f s t i e g v o m B e r g m a n n z u m Zehnter ( 1 6 1 9 - 2 9 5 ) resp. v o m B e r g m a n n z u m Steiger ( 1 6 3 4 - 3 0 0 ) ; das ist auch später noch belegbar, 1 7 1 2 ( 2 1 1 ) , 1 7 1 8 ( 2 4 2 ) . Mitunter war die Bergmannsarbeit mit Bauernarbeit verbunden wie 1640 (53), mitunter sogar mit der Geschäftsgewandtheit fordernden Funktion des Schichtmeisters 133 1626 (52). Das kam gelegentlich auch später noch vor 1660 (118), 1705 (89), 1750 (69), ohne daß wir alle bekannten Fälle aufzählen müssen. Ein solcher .Rechnungsführer' mußte über „Kredit" oder ein kleines Kapital verfügen und das hatte am ehesten ein Bauer. Interessanter ist die vereinzelte Betätigung eines zunächst dem väterlichen Bergmannsberuf folgenden Bergmanns 1699 (230) als Blechhändler; verständlich ist auch, daß gelegentlich ein „Bergbursch" zum Hüttenberuf 1717 (191) hinüberwechselte. D i e „ H ü t t e n l e u t e " h a b e n , w i e wir sahen, in B e i e r f e l d e i n e g r ö ß e r e R o l l e als d i e B e r g leute gespielt, treten aber doch zurück hinter d e n seit 1 6 7 3 greifbaren Blecharbeitern, Blechmachern u n d Blechhändlern, d e n e n wir uns a b s c h l i e ß e n d z u w e n d e n . H i e r entsteht d i e Frage, w a s wir unter dieser sonst selten b e l e g b a r e n K a t e g o r i e z u v e r s t e h e n h a b e n ; ganz offensichtlich w a r es ein gängiger B e r u f , d e r v o m V a t e r auf d e n S o h n u n d d e n E n k e l ü b e r g e h e n k o n n t e 1 6 7 3 - 1 7 0 8 - 1 7 3 9 ( 2 2 3 f.).

Blecharbeiter in B e i e r f e l d So v i e l w i r sehen, k a m der erste Blecharbeiter, der 1 6 7 3 (273) ein H a u s erwarb, aus Bernsbach; er hat H a u s u n d Beruf auf zwiei S ö h n e 1 6 9 4 ( 2 8 8 ) resp. 1 7 0 8 ( 2 2 4 ) u n d auch 131

Es liegt keine Veranlassung vor, die entsprechenden irrigen Darlegungen zu nennen - wichtiger sind zeitgenössische technologische Werke, die wie etwa der „Schauplatz sämdicher Künste und Handwerke" an bildlichen Darstellungen nicht gespart haben. Einzelangaben für „Blechherstellung und Blechverarbeitung" bot vor allem Sprengeis „Schauplatz" Sammlung 4-5-6, doch entziehen sich die Kupferstiche in zu kleinem Format der Reproduktion.

132

Das Ortsgefüge als Waldhufendorf ist um 1550 bereits gesprengt, der Anfang mag schon 1484 mit der „Bergbegnadigung" durch den Abt des Klosters zu Grünhain gelegt worden sein. Die Anzahl der 1593 erfaßbaren 17 Häusler deutet auf das beginnende, im Zusammenhang mit dem Montanbereich bleibende Erwerbsleben hin - der Anstieg nach 1680 auf 44 Häusler markiert dann das Einsetzen der Bergfabrik, vgl. Beyer, Siedlungsgeschichte (Anm. 122 b), S. 368.

133

„Schichtmeister": der neben dem (den technischen Betrieb leitenden) Steiger notwendige, bergamtlich geforderte Rechnungsführer auf jedem Bergwerk.

5

Volksleben

66

WILSDORF

noch auf den Enkel 1739 (229) vererbt. - Als diese Bezeichnung 1682 (312) wieder auftritt, ist sie durch den Zusatz Blechhändler erweitert, obwohl das dabei erwähnte Anwesen nur ein [ausgebautes] Badestubenhäuschen „mit einem Rändlein Garten" war und auch 1728 (313) für nur 55 fl. an seinen Sohn, einen Löffelmacher, überging, der 1737 in Konkurs geriet. 1689 erwarben ein weiterer Blechhändler aus Wildenau (191) und ein Blecharbeiter aus Bernsbach (237) ihre Häuser. Letzteres kaufte 1731 (238) der älteste Sohn seinem verschuldeten jüngsten Bruder in öfientlicher Versteigerung für 350 fl. ab; er sah offenbar die Löffelherstellung als rentabler an, so daß er bald als Blecharbeiter, Löffelarbeiter, Löffelziener bezeichnet wird. Ein Verwandter, der 1699 (221) ein stattliches Anwesen erwarb, betätigte sich gleichfalls „vielseitig" als Blecharbeiter, Löffelziener und Handelsmann, obendrein war er Kirchenvorsteher; er verkaufte 1735 sein Haus (Nr. 3 9 - 2 2 1 ) dem jungen Daniel Stiehler jun., den der ältere Bruder aus dem väterlichen Besitz (Haus Nr. 4) ausgekauft hatte. Bei der Begünstigung des Hausbaus nach dem Dreißigjährigen Kriege hatte ein „Handarbeiter" ein Haus 1662 erbaut, das sein als Blecharbeiter tätiger Sohn 1701 (199) übernahm, der früh starb, so daß es sein ebenfalls als Blecharbeiter tätiger Onkel 1710 (199) übernahm, der jedoch nach dem Berufswechsel zum Löffelarbeiter 1744 in Vermögensverfall und Schulden geriet. Wir können nicht erkennen, ob die Aufnahme des neuen Berufs ihn in Schwierigkeiten brachte oder ob die von ihm beherrschte „Blecharbeit" - angesichts der damals in Beierfeld aufkommenden „Klempner" (207)

-

veraltet war.

Es überfordert die Vorstellung etwas, das Warensortiment anzugeben, das die Beierfelder Blecharbeiter zwischen 1672 und 1824 (245), 1829 (317), ja 1850 (330) in Heimarbeit und Handarbeit hergestellt und die Beierfelder Blechhändler breitgetragen haben. Allein die Kameralisten haben die S c h w a r z b l e c h verarbeitenden Erzeuger der „Achsbleche, Kothbleche, Trittbleche, Schalbleche [für den Gepäckraum] an Wagen, Kutschen und Schlitten, die Topfstürzen, Ofenpfannen und Ofenrohre" ebenso ausführlich beachtet wie die W e i ß b l e c h verarbeitenden Erzeuger. Von letzteren erzeugten die F e i n b l e c h verarbeitenden Produzenten „Becken, Büchsen und Dosen, Laternen und Handleuchten, Blechteller, Eimer"; aus G r o b b l e c h wurden „Dachrinnen, Einlagen für hölzerne Dachrinnen, Dachbleche, Fensterbleche, Bottiche, tragbare Butten" und sogar Brückenpontons gemacht. Die Bearbeitung von starken schwarzen und weißen Blechen erfolgte vorwiegend durch Biegen und Falzen, feine Bleche wurden gelötet - und diese Arbeit des Lötens ist sozusagen das Wesensmerkmal134 des Blecharbeiters. Für Grobblechner waren also Blechschere, Biegestab und Hämmer zum Umschlagen der Falze sowie ein paar Feilen und ein Niet erforderlich, für Feinblechner war das Lötgerät wichtiger. Das Rohmaterial wurde in jedem Falle vom Hammerwerk beziehungsweise von dem Kontor der beiden privilegierten „Gesellschaften des schwarzen resp. weißen Blechhandels" bezogen. Ob die „Blechhändler" zugleich als „Verleger" der „Blecharbeiter" aufgetreten sind, ist sehr schwer zu sagen - auch sie sind, nach ihrem Hausbesitz zu urteilen, überwiegend kleine Leute. Allein das schließt nicht aus, das insgesamt bei Handel u n d Produktion durch die Aufteilung des Sortiments in Spezialgebiete eine 134

Nach dem Verwendungszweck des Blechartikels richtete sich die Benutzung von Hartlot oder Weichlot.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

67

„latente Bergfabrique" 135 entstand. Bei der geringen Gesamtzahl der Blecharbeiter und Blechhändler ist nämlich eine existenznotwendige Absprache über d i e Proportionen des Sortiments vorauszusetzen. Sehr schwierig zu beurteilen ist das nur zweimal belegbare Auftreten der Berufsbezeichnung Klempner 1 3 6 - der sonst genannte „Flaschner" fehlt ganz. D e r erste, der 1769 (231) diese Bezeichnung erhielt, stammte aus Sachsenfeld, w o vielleicht für den Blecharbeiter eine andere Terminologie üblich war. Sein Sohn ist dann 1792 (207) abermals als Klempner bezeichnet worden. Ein Blechhändler, der 1705 (97) die Hälfte des väterlichen Gutes übernahm, gab diese Viertelhufe nach 11 Jahren wieder auf - Gründe sind nicht erkennbar. Daß ein Bauer die Tochter eines Blecharbeiters heiratete, ist 1713 (40) einmal bezeugt. Daß Blecharbeiter und Löffelarbeiter untereinander (z. B. 1714 - 218) heirateten, ist natürlich, zumal wenn es Nachbarskinder waren; ebenso heirateten Blecharbeiter und einfache Handarbeiter (1719 - 258) untereinander. Es kam ebenfalls vor, daß ein Bauernsohn Blecharbeiter wurde; er konnte dann freilich 1718 (206) ein etwas anspruchsvolleres Anwesen für 95 fl. erwerben, was um so eher verständlich ist, weil er auch als Löffelmacher und Löffelziener tätig war. Daß Blecharbeiter und Löffelarbeiter etwa gleiche Aufstiegsmöglichkeiten hatten, bestätigt 1720 (297) der Hauskauf des Blechhändlers, der in seiner Jugend nur Handarbeiter gewesen war und sich dann als „Handelsmann" betätigt hatte; außerdem wird er als Vitriollaborant [und Gemeindevorstand] bezeichnet. Er konnte sein Haus so verbessern, daß der von ihm bezahlte Kaufpreis von 99 fl. 11 gr. für den als Löffelziener tätigen Sohn 1768 auf 225 Thlr. stieg. Manche Familien blieben in drei Generationen Blecharbeiter, auch wenn sie in der zweiten Generation zu Hausbesitz 1718 (182) kamen, das bei einem Preis von 130 fl. ganz stattlich war und offenbar so verbessert wurde, daß der im Beruf des Großvaters verbleibende Enkel 1743 bereits 160 fl. zu bezahlen hatte, der übrigens die Tochter eines Blechhändlers heiratete. Die „Vererbung" des Berufs ist kein Einzelfall, auch 1724 (171) erwarb ein Blecharbeiter das Haus seines ebenso tätigen Vaters. D e r Blechhandel beschäftigte übrigens den nur einmal greifbaren Beruf des Blechträgers - der als solcher tätige Sohn eines Handarbeiters konnte sich 1728 (216) für 50 fl. ein (kleines) Haus bauen. Noch 10 fl. billiger war das 1729 (279) erworbene Haus eines Blecharbeiters. D a ß ein Blecharbeiter 1724 (175) seinen N e u b a u für nur 5 0 fl. an seinen Schwager, einen Blechhändler, verkaufte, ist vermutlich ein „Familienpreis". D a ß 135

136

Der Begriff .latente Bergfabrik' ist ein Behelf: Er deutet aber m. E. an, daß die ökonomische Kooperation - wie sie in einer Fabrik Rentabilitätsvoraussetzung ist - erreicht war, auch wenn technisch noch selbständig in getrennten Werksanlagen gearbeitet wurde - also eine „zerstreute Bergwaaren-Manufaktur" vorlag. Ein Musterbeispiel dafür war die Serpentinstein-Verarbeitung in Zöblitz - die formal beim „Handwerk" blieb, auch als der damalige Marienberger Bergmeister W. von Trebra eine „Serpentinstein-Fabrik" durch Vereinigung der Handwerksmeister gründete. Die Klempner gehören einerseits zum Handwerk, andererseits zu den Bauleuten - sie waren meist unterbesetzt, überall sehr gesucht, infolgedessen auch recht selbstbewußte Leute, die sich ihre Geschicklichkeit so gut bezahlen ließen, daß die Regierung Taxen festlegte, um Käufer und Besteller abzusichern. Ob diese Einrichtung auf dem Dorf wegfiel, steht nicht fest: sonst ist nicht recht einzusehen, warum sich ein Klempner in Beierfeld etablierte. Das vielteilige Handwerkszeug der Klempner zählte man zu den „kostbaren" Werkzeugen.

68

WILSDORF

Blechhändler nicht zu den „begüterten Handelsherren" zählten, ergibt sich auch aus einem Hauserwerb 1715 (185): Die Schwiegermutter überließ für nur 38 fl. ihr neuerbautes „Häuslein" dem auch als Eisenhändler tätigen Mann ihrer ältesten Tochter, der es dann seinerseits wieder für nur 30 fl. seinem Schwiegersohn überließ. Hervorzuheben wäre noch, daß neben dem besprochenen Wechsel von der Blecharbeit zur Löffelherstellung ebenfalls der Wechsel vom Beruf des Löffelarbeiters zu dem des Blecharbeiters 1732 (247) - sozusagen als Ausnahme - belegbar ist - aber interessant ist dann doch die Rückwendung zur „Löffelfabrikation" und die Betätigung als „Löffelziener".

Zusammenfassung: Bergfabriken in Beierfeld Die in extenso hier vorgelegte Analyse von Beierfeld beschränkt sich auf die „Bergwaaren" und schließt die im Ort sonst noch vertretenen Berufe aus. Die Statistik ergibt, daß in erheblicher Anzahl „Händler" und ,Landfuhrleute' dort ihren Lebensunterhalt erwarben, was ebenfalls auf die schon stark zersetzte Dorfstruktur hinweist. Die Handelsobjekte - und damit auch die Ladung der Landfuhrleute - waren die am Ort gefertigten Löffel, die Blechartikel und die Vitriole sowie die Spitzen, die in der Umgebung geklöppelt wurden, wodurch sich der mehrfach vertretene Beruf der Kleindrechsler und Klöppelmacher erklärt. Man muß also konstatieren, daß Beierfeld keineswegs ein Dorf mit einseitiger Ausrichtung auf die Löffelherstellung gewesen ist! Für den Ort selbst ist das gewerbliche Element in einer Stärke wirksam gewesen, die wirklich überrascht und zur Schlußfolgerung zwingt, daß die .Industrialisierung' erstaunlich weit und rasch fortschritt, nachdem sie um 1660/1700 eingesetzt hatte. Der Nachbarort Bernsbach dürfte eine annähernd ähnliche Struktur gehabt haben; auch hier gab es um 1 5 2 5 / 2 6 als Ausgangsunternehmen des Montanbereichs die ,Schmelzhütte Unterbernsbach' sowie Eisen und Silber liefernde Bergwerke (Teufelsteiner Gruben und die am ,Krähl')- 1538 lebten im Ort 11 Hammerschmiede und Zinner, die im Weißblechhammer Sachsenfeld arbeiteten. Interessant ist der durch das Catastrum

1735 gegebene Befund, daß bereits 2 0 % Dorfbewohner proletarisiert waren und

wie in Beierfeld der bäuerliche Besitz zerstückelt ist:

Steuerbetrag 3 Hufengüter, jeder

mit 8 gr 9 pf

15 Halbhüfner, jeder

mit 5 gr 6 pf

4 Viertelhüfner, jeder

mit 4 gr -

21 Gärtner, jeder

mit 3 gr 2 pf

18 Gemeindehäuser, jedes

mit 2 gr 3 pf

38 „Mundhäuser", jedes

mit 1 gr 7 pf

25 Hausgenossen, jeder

mit 1 gr -

bis 7 gr 3 pf

69

D a s Aufkommen der Bergfabriquen

Ebenso interessant ist die Aufgliederung der Berufe bei 62 Hochzeiten in den 10 Jahren 1681/ 1690 - man möchte demzufolge fast meinen, d a ß Bernsbach w e i t e r entwickelt w a r als B e i e r f e l d : Montanberufe

Handel

16 6 2 1

15 Handelsmänner

Blecharbeiter Blechhändler Schmiede Köhler

„Sonstiges" 2 Bauern 3 Schneider 5 Tagelöhner

11 Spitzenhändler

1 Schichtmeister (im H a m m e r w e r k ) 2 6 (— 6 Blechhändler)

2 6 ( + 6 Blechhändler)

10

Ein für 1793 vorliegendes Verzeichnis der Berufe ist l e i d e r nur ungenügend spezialisiert. Es zeigt aber, d a ß neben den Schmieden und Schneidern, die 100 J a h r e zuvor d i e einzigen H a n d w e r k e r unter den Eheschließenden waren, nunmehr erscheinen: 4 Strumpfwirker 3 Zimmermeister 3 Maurermeister

2 Bäcker 2 Müller 1 Tischler

1 Drechsler 2 Schuhmacher Z Petschaft-Stecher - die sicher auch Löffel „stachen".

D i e ,Handelsstatistik' für 1 7 8 5 weist 16 „Unternehmer" aus, die fünf verschiedene Produkte in erstaunlich geringen Mengen handelten und wohl auch produzierten. Blechwaren

Eisenwaren

Schwefel

Spitzen

Strümpfe

Zentner

Zentner

Zentner

Schock

Dutzend

36 22 17 16 6

27 17 4 4 2









26 24





9 —











































17 10 10 8























12 8















- -







4 3 —

*



FIRMA

Höfer* Ficker 1 Ficker 2 Ficker 3 Schreier



Graf Ficker 4 Gerhardt Fickel Ficker 5 Ficker 6 Frau Schiibach Frau Stiehler**

15 12 4

Gothel Gräbner Schwarz

— —

15 J a h r e später bezifferte sich der Umsatzwert der auch d a m a l s noch größten auf 2 7 5 T h a l e r in 3 Posten, nämlich:

Schwarzblech Weißblech Spitzen * * 1 8 0 0 arbeitete diese Frau sie davon lebte, ist völlig

„Unternehmung"

160 T h a l e r (vermutbar 1785 = E i s e n w a r e n ) 100 Thaler (vermutbar 1785 = Blechwaren) 15 T h a l e r immer noch und bezifferte den Umsatz ihrer Spitzen auf 15 Thaler. W i e unklar.

70

WILSDORF

Die Zahl der Löffelschmiede/Löffelarbeiter, Blecharbeiter/Klempner, Bergleute verbirgt sich in einer summarischen Angabe: 45 gegen 20 .Handwerker'. Allenfalls zu ermitteln ist, daß 11 Löflelmacher 8 Zinnhäuser besaßen. Der Nachweis vom Jahr

1800

ergibt für .Blechwaren' 1 080

Thaler;

685 für

Schwarzblech

(Klempnerware) und 395 für Weißblech (Löffel?). Erheblich ist noch der Wert des von 3 Produzenten erzeugten und verarbeiteten Schwefels mit 145 Thalern. D i e 2 Löffelproduzenten

erzeugten

7 0 0 Dutzend, die 4 Spitzenhändler schlugen noch 55 Thaler um. Insgesamt sind 17 Handelsleute und Produzenten beteiligt. D i e Angaben wurden der Schrift .Bernsbach - Vergangenheit und Gegenwart' (Ortsausschuß der Nationalen Front, 1967) entnommen, vgl. S. 6 1 - 6 8 , 73/75, 81/82, 83/86. Freilich ist der „Industriebetrieb" noch im Aufbau, wie sich aus der Ergologie ergibt, zumal der Teilprozeß I, den der P l a t t e n s c h m i e d

leistete, oft außerhalb durchgeführt und das Ergebnis, die .Pla-

tine' nach Beierfeld gebracht wurde.

Fig. 1

Das vom Hammerwerk bezogene Kanteisen wurde in 5 Teilprozessen verformt. Zunächst brachte der (1) F e u e r a r b e i t e r

das Rohstück auf Rotglut und überlieferte es so dem (2)

Ausschläger

[Breitmacher], der den Löffelumriß (fig.) ausschmiedete. Den Löffelstiel (fig.) zog der (3)

Stielmacher

[Former] aus. Als Schluß der Tagesarbeit legten diese drei Arbeiter, die in Kooperation 300 große oder 600 kleine Rohlinge fertigten, je 1 0 - 1 1 Stück übereinander und bearbeiteten das Paket nochmals, damit die Platinen möglichst gut ausgeglichen waren. D i e Plattenschmiede mußten dann ihre Halbfabrikate auf Karren zu den Löffelmachern schaffen. Der Breitmacher brauchte zwei „Hitzen". Der II. Teil der Verarbeitung erfolgte in Beierfeld durch den (4)

Schwarzarbeiter

[schwarzer

Löffelmacher], dem die Kalt-Gesenkschmiedearbeit (mit Gehilfen, Weib oder Kind) oblag, indem er die Platinen in (oder über) das Gesenk schlug. So entstand in seiner als Werkstatt dienenden Stube die fertig ausgetiefte rohe Löffelform - er verfertigte etwa 70 Arten in vielen tausend Mustern. Hilfs-

Das Aufkommen der Bergfabriquen

71

kräfte benötigte er zum Entgraten, eventuell zur Nachbesserung mit verschiedenen Feilen und zum Zureichen. Sonst kam er nicht auf etwa 200-400 Stück Tagesleistung. Daraus ergibt sich, daß ein Plattenschmied mehrere schwarze Löffelmacher beliefern konnte. Im III. Teilprozeß kam der (5) Weiße Löffelmacher zum Zuge, der bei der „deutschen" Verzinnung ohne Vorarbeit den schwarzen Eisenlöffel beizte [mit Säure anätzte]. Bei der „englischen" Verzinnung mußte er ihn vorher noch mit Hammer und Sand polieren. Als Beize diente - wie auf dem Weißblechhammer - der ,Hahnenbrei' aus gesäuerter Kleie. Seit 1753 wurde Kartoffelbrei verwendet, den man sauer werden ließ; seit 1790 nahm man mineralische (schwefelsäurehaltige) Beize oder aber Holzessig. Damit das Zinn am Eisen haftete, mußte die Beize 3 - 4 Tage einwirken, dann konnte die Frau oder ein Kind sie abwischen - sie war drei- bis viermal verwendbar - den Löffel kalt abwaschen und ihn zum Trocknen aufstellen. Dann wurde er bemehlt und in Talg getaucht; so oxydierte die gebeizte Oberfläche nicht (vgl. oben S. 52). War der Löffelmacher nun zugleich (6) „Ziehner" dann brachte er den so vorbereiteten Löffel in sein Zinnhaus und setzte im IV. Teilprozeß für anderthalb Stunden eine Halterung mit 5 bis 15 Dutzend Löffeln (je nach Größe) in eine Wanne mit flüssigem Zinn; diese war mit geschmolzenem Talg bedeckt, damit das teure Zinn nicht verrauchte. Nach dem Herausnehmen ließ man Talg und Zinn auf schräggestellten Blechen ablaufen, die Reste sammelte man zur erneuten Verwendung ein, was wieder Frauen oder Kinder besorgten. Der Zinner selbst arbeitete die Stellen nach, an denen die Halterung den Zinnüberzug behindert hatte, resp. ein nicht abgelaufener Tropfen eine ,Nase' gebildet hatte (vgl. oben S. 52). Der V. Teilprozeß erstreckte sich auf das .Polieren'. Diese Hilfsarbeit übertrug der Zinner oft einem (7) Polierer. Dieser verwendete den die Gesenkform nachbildenden Polier s t o c k und den Polierh a m m e r mit spiegelblanker Bahn. Beim Schlagen wurde die Hohlseite vom Polierstock, der Rücken vom Polierhammer geglättet und blankgemacht. Ergänzt wurde diese Arbeit bei feineren Sorten durch Abreiben mit wollenen Lappen. Früh entwickelte man auch nach dem Vorbild der Zinngießerlade eine rotierende „Poliermaschine". Sortieren, Zählen, Einschlagen in Papier waren dann die wieder den Frauen und Kindern übertragbaren Abschlußarbeiten, sofern nicht das Stück noch eine besondere Ziselierung erfuhr, die der (8) Löffelstecher vornahm. Mit feinen Punzen schlug er Ornamente ein, mitunter trug er sogar Emaillemalerei auf und mußte dann manche Stellen nochmals nachverzinnen und nachpolieren. Dieser VI. Teilprozeß war eine durchaus volkskünstlerisch-schöpferische Leistung, nur wurde sie selten verlangt. Es gab allenfalls zwei (oder drei) Zinnstecher im Ort, die sicher nie vollbeschäftigt waren. Als bildliche Motive wurden gestaltet Christi Leiden und Geburt (Weihnachtslöffel), als textliche Motive das Vaterunser und Haussegensprüche. Mehrfach wurde eine Serie von 10 Löffeln gefertigt: (siehe Seite 72) 1799/1800 wirkten - vorwiegend in den Dörfern Sachsenfeld, Pöhla, Wildenau, Rittersgrün, Breitenbrunn, Bermsgrün und Crandorf 50 Plattenschmiede an 21 Plattenfeuern und belieferten 65 schwarze Löffelmacher 95 weiße Löffelmacher 8 Zinnhausbesitzer diese 220 „Facharbeiter" waren auf die Zuarbeit von jeweils 2 bis 3 bezahlten Hilfskräften neben Weib und Kind angewiesen. Besonders gut veranschaulicht die Löffelmacherarbeit das hervorragende Modell im Maßstab 1 : 12, das der verstorbene Modellbauer H. Ranft für das Museum in Schwarzenberg geschaffen hat. Es zeigt - zusammenfassend - die Werkstatt von Plattenschmied und Löffelmacher.

Ferner klärt die Analyse von Beierfeld m. E. die Frage nach dem ,Fabrikcharakter', den 1. die Vitriolsiederei - 2. die Löffelproduktion - 3. die Blechwarenherstellung in den Dezennien zwischen 1660 und 1815 erreichen konnte ebenso wie den, der unter den örtlichen Bedingungen mit diesen ,Bergwaren' unerreichbar blieb. 1. Nach heutigen Vorstellungen entspricht allenfalls die Silberhoffnungshütte mit ihrem Produktionsprogramm und ihren Produktionsanlagen in etwa einer .Fabrik' und die Belegschaft dem .Fabrikarbeiter' - obwohl gerade sie nie als Fabrik bezeichnet wird. Diese Bezeichnung wurde den erstaunlicherweise neben der Hütte existenzfähigen Kleinstbetrieben zuteil, die .Vitriollaboranten und Vitriolfabrikanten' Unterhalt boten. 2. Dagegen sind die seit 1760 vielfach als Löffelfabrikanten bezeichneten Unternehmer in dieser ortstypisch137 werdenden Branche schlechterdings nicht als Fabrikanten anzusehen. Selbst zu Beginn des 19. Jh. hatte der bedeutendste unter ihnen diesen Status noch nicht voll erreicht. Er war zwar in der Lage, ein Massenprodukt in hoher Stückzahl marktgerecht herzustellen, aber er verfügte nicht über bauliche Anlagen, die eine Fabrik darstellten; allenfalls wird man ihm den Aufbau einer „dezentralisierten Manu137

So scheint sie bereits Johannes Beckmann empfunden zu haben - vgl. oben Anm. 129.

D a s Aufkommen der Bergfabriquen

73

faktur" zuschreiben können - er war also mehr .Händler' geblieben als Fabrikant 138 geworden. Den Aufkauf der von ihm dirigierten, aber noch selbständig erarbeiteten Produktion hatte er zweifellos gut organisiert. Dabei bleibt offen, in welchem Grade der Abhängigkeit vom größten dieser zahlreichen Kleinunternehmer sich der .Manufakturarbeiter' befand. Angesichts der gleichzeitig auftretenden weiteren „Fabrikanten" ist es selbst bei besitzlosen Arbeitern wahrscheinlich, daß sie in der Wahl des Arbeitgebers ihre Unabhängigkeit wahren konnten. Das würde bedeuten, daß die Unternehmer mindestens um die tüchtigen Leute untereinander konkurrieren und relativ günstige Bedingungen anbieten mußten. Ein für die Arbeiter in Beierfeld förderliches Moment ergab sich auch daraus, daß die Erwerbsmöglichkeiten nicht auf diesen Hauptzweig unifiziert waren und ein Berufswechsel keine unübersteiglichen Schwierigkeiten machte. 1783 setzten sich die Löffelarbeiter gegen das Trucksystem der Händler - mehr oder weniger erfolgreich - zur Wehr. Der Versuch, eine Genossenschaft zu gründen, scheiterte aber. 3. Am schwierigsten ist es, die Blecharbeiter zu charakterisieren. Sie standen offenbar außerhalb des Handwerks, waren aber Vorstufen und späterhin Konkurrenz der Klempner. Sie hatten durch Blechhändler eine eigene Verkaufsorganisation über Land, auch wenn der Absatz vielleicht nur auf einem Hausierhandel beruhte. Da aber Beierfelds Spitzenhändler nicht etwa nur die 3 Leipziger Messen besuchten, sondern in Nürnberg sogar eigene Filialen besaßen, liegt es nahe, auch bei den Blech- und Löffelhändlern an Verbindungen mit dem Blechwarenzentrum Nürnberg zu denken. Damit wäre Regsamkeit, Betriebsamkeit, Handelserfahrung und kaufmännisches Geschick im Dorf als Niederschlag großstädtischer Einstellungen zu betrachten. Auffällig ist die Aufsplitterung der Bauernhöfe, denn in die gewerbliche Berufstätigkeit sind nicht nur die Hausbesitzer, sondern auch die Viertelhüfner und einige Halbhüfner als Löffelmacher oder Blechmacher einbezogen, während schon 1760 die Vollhüfner 139 bis auf einen verschwunden sind. Es verdient Beachtung, wie stark die ausgeübten Berufe wechselten: Man konnte zeitweilig ,Landfuhrmann', dann Vitriolarbeiter, dann wieder Bauer sein. Der Wechsel vom Handarbeiter zum Blecharbeiter und zum Löffelarbeiter ist nicht nur Ausnahme. Offensichtlich strebte der geistig bewegliche Einwohner allerdings lieber danach, ein ,Handelsmann' zu werden. Insgesamt entsteht der Eindruck, daß die Dorfbevölkerung schon seit dem Beginn des 18. Jh. mit allen Mitteln um die Sicherung ihrer bescheidenen Lebensbedürfnisse zu kämpfen hatte und dazu alle ihre Fähigkeiten - geistige Beweglichkeit, manuelles Geschick, Risikobereitschaft, Sparsamkeit (fürs Häuschen), Fleiß und Genügsamkeit, Anpassungsfähigkeit, Familienbeziehungen - einsetzte. Dabei mußte sie auf Lohnarbeit aller Art ausgehen, blieb aber stets bemüht, eine selbständige Existenz als Händler oder als kleiner 138

Es ist also bloße Eigenwilligkeit des Sprachgebrauchs in Beierfeld, durch die Bezeichnung

Löfjel-

fabrikant einen nicht erreichten Zustand der Betriebsorganisation vorzutäuschen. 139

E s kam zwar später vor, daß durch Zusammenkauf ein Bauer auf 1V2 H u f e n kam, aber sie lagen nicht beisammen! N u r d i e V . und VI. H u f e blieben noch im 18. Jahrhundert ungeteilt; aber zweimal verkaufte ein Bauet sein Gut, um als Handarbeiter (!) den Rest seiner T a g e zu verleben, vgl. Beyer, Siedlungsgeschichte, S. 63, 114 resp. 7 4 / 7 5 .

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WILSDORF

Produzent von Blechwaren, Löffeln und den Schwefelsäurekonzentraten (Vitriolen) zu erringen. Wenn wir uns ein Eingehen auf das Vitriolsieden hier versagen, ist dies dadurch bedingt, daß dieser Komplex früher .Chemiewerke' nicht direkt aus dem Montanbereich, sondern aus dem Apothekenlaboratorium mit seinen Destillierapparaten hervorging.

Der Eindruck, daß die selbständige Existenz in jedem Falle riskant war, verstärkt sich, wenn man die Zahl der Zwangsverkäufe [wegen Hypothekenüberschuldung] in Betracht zieht. D a es kein eindeutiges Hervortreten von Krisenzeiten gibt, scheinen die Zwangslagen noch individuell begründet gewesen zu sein. Dabei ist die Verschuldung an das Kirchenvermögen beachtlich, offenbar die einzige Stelle, von der ein Häusler Kleindarlehen erhalten konnte. Soweit ersichtlich, hat die Kirche niemals einen Zwangsverkauf betrieben. Viel eher klagten die Geschwister gegen den begünstigten (jüngsten) Erben bei Rückständen in den Erbauszahlungen - was dann meist den Verlust der selbständigen Existenz bedeutete. Es ist nicht ersichtlich, daß eine Witwe jemals von ihren Kindern zum Zwangsverkauf genötigt" 0 wurde, wobei wir natürlich nicht wissen können, ob nicht doch das Drängen der Kinder den freiwilligen Verkauf veranlaßte, zumal oft die überlebende Witwe als zweite oder dritte Frau nur die Stiefmutter war. Die Akten deuten aber auch bei vorsichtiger Beurteilung darauf hin, daß der Familienzusammenhalt intakt war und daß der unfreiwillige Besitzwechsel vergleichsweise selten vorkam. Die Vererbung auf den Sohn oder Schwiegersohn erfolgte mindestens im 18. Jh. ohne Berufswechsel ziemlich kontinuierlich, während bei Hausverkauf viel häufiger festzustellen ist, daß der Käufer einen anderen Beruf als der Vorbesitzer ausübte. Die bemerkenswerte, aber eigentlich auch selbstverständliche Ausnahme sind die Anwesen „mit Zinnhaus". Wer ein solches in Besitz hat, ist gewissermaßen per se Löffelfabrikant, mag er nun n u r Löffel z i e n e r oder a u c h Löffelmacher gewesen sein. Darin besteht die Schwierigkeit jeder Aussage über Beierfeld, daß bei der mangelhaften Quellengrundlage nie klar zu entscheiden ist, bis zu welchem Grad die Arbeitsteilung vorgeschritten war. Es ist nicht auszuschließen, daß die Blechhändler neben ihrem vom Blecharbeiter erzeugten Sortiment auch den Löffelproduzenten mit Löffelblech, den vom Hammerwerk vorgefertigten ,Löffelzainen' belieferten - denn niemals erscheint die Bezeichnung ,Zainhändler' oder .Löffelblechhändler'. Nun ist aber nicht wahrscheinlich, daß jeder Löffelmacher den zeitraubenden Einkauf auf einem entfernten Blechhammerwerk selbst tätigte. Ebenso ist möglich, daß der Löffelarbeiter sich nur mit dem Gesenkschmieden beschäftigte, wobei er durchaus selbständig produzieren konnte. Um sein eigenes Produkt zu verzinnen, genügte eine Zinnpfanne im Haus; er konnte freilich auch zum Zinnhausbesitzer gehen und dort,Miete' zahlen - oder aber diesem sein Rohprodukt zur weiteren Verarbeitung überlassen. All das wird vorgekommen sein. Und das konnte bei den Zeitgenossen die - schon in Hinblick auf die „Silberhoffnungshütte" ja nicht ganz unberechtigte - Meinung hervorrufen, ,ganz Beierfeld' sei eine ,Bergfabrik'. Daraus ergibt sich, daß der Begriff der Bergfabrik berechtigt - aber seine Anwendung recht schwierig und immer nur nach Zeit und Ort abzugrenzen ist. 149

Es ist möglich, daßi dies juristisch unterbunden war.

75

Das Aufkommen der Bergfabriquen

Lokale Ausprägungen innungsgebundener Bergwarenfabriken

1) Die Gewehr-Fabrique

zu Olbernhau

2) Die Manufactur für Serpentinsteinwaren

Zöblitz

Die Analyse von Beierfeld ergab, daß die dortigen Löffelmacher (und ähnlich die Blecharbeiter) nicht in einer Fabrik, aber im Ort „fabrikmäßig" ein billiges Massenprodukt weit über den lokalen Bedarf hinaus herstellten. Der millionenfach erzeugte Gebrauchsgegenstand fand Absatz, indem auf Fernhandel zielende Großeinkäufer ihn als „Messegut" in Leipzig aufkauften, ohne Beierfeld aufzusuchen, dessen mehrfach genannte Landfuhrleute die Verbringungen zur Messestadt und zu anderen Handelsplätzen bewerkstelligen mußten. Die Variantenbreite der Muster wird als schwindender Rest individuellen Gestaltens nicht mehr sehr erheblich gewesen sein. Die „Ortsproduktion" fabrizierte ohne mechanische Vorrichtungen, die über handwerksmäßige Hilfsmittel hinausgingen, und ohne namhafte Arbeitsteilung, aber nicht ohne Kooperation (beim Verzinnen) in Dimensionen, die von kaum einer anderen Bergwarenfabrik erreicht wurden. Das geschah bei einem minimalen Aufwand für den Arbeitsplatz und für die weitgehend durch Kreditgeber und Selbstlauf geregelte Arbeits- und Absatzorganisation durch Aufmerksamkeit auf ausreichende Anlieferung des benötigten, sicher vielfach mit Vor-

schüssen eingekauften Materials: Löffelzaine,

Gesenke,

1) Die Gewehr-Fabrique

Zinn.

Olbernhau

Ebenfalls auf einer ortsgebundenen, begrenzt kooperativen Fabrikation beruhte die Olbernhauer „Gewehr-Fabrique", die 1703 nach einem Vorlauf durch die 1681 konzessionierte Rohrschmiede141 „gegründet" wurde. Sie stellte ein hochwertiges Produkt in einer für den Gesamtbedarf der sächsischen Armee ausreichenden Dimension her. Hier regulierte jedoch kein Selbstlauf die Produktion, vielmehr organisierte eine zielgerichtete, individuelle Unternehmergründung durch den Olbernhauer Feudalherrn 142 C. G. von Leubnitz die Bedarfsdeckung des Staates - Suhl kam erst 1718 wieder zur Kurlinie. Im Nachhinein wurde der 1703 als Manufactur, 1706 als Gewehr-Fabrique bezeichnete, dezentralisierte Betrieb durch eine doppelte Handwerksinnung - die der Meister für die .Holzarbeit' beim Schäften und die der Meister für die Metallarbeiten beim Rohrbohren und Schloßmachen institutioniert. 141

142

Das Privileg erhielt der Lehns- und Erbrichter öhmichen; wie er es nutzte, ist nicht überliefert. Sein Sohn geriet in Konkurs und der Rohrhammer, der zur Konkursmasse gehörte, wurde von dem Landesjägermeister C. G. von Leubnitz übernommen. Das Olbernhauer Lehngut wurde für den adligen Beamten in ein Rittergut, aber ohne Fronleistungen, umgewandelt.

76

WILSDORF

Die Gründung ist im Dezember 1703 durch „allerhöchste" Ordre143 ins Werk gesetzt worden; man betonte dabei, daß sie durch Anwerbung ausländischer Fachkräfte17''' - unter Oberaufsicht eines Kriegszahlmeisters und eines ortsansässigen Jagdbeamten (Parforce-Jäger) - eingerichtet und durch Subsidien an die Zuzügler gestützt wurde. Der als kurfürstlicher Flößendirektor technisch vielleicht nicht ganz unbewanderte Rittergutsherr fungierte als „Verleger" und vor allem als Auftragnehmer (für die „Unterthanen seines Rittergutes") bei den Militärbehörden in Dresden. Von seinem Geschick hing die Existenz der durchweg auf Militäraufträge angewiesenen „Fabrikanten" ab, die eben keine unabhängigen Handwerker, sondern bloße Manufacturiers, Gewehr-Fabrique-Arbeiter waren. Formell blieben jedoch die 20-30 Handwerksbetriebe bis 1818 selbständig - damals baten (!) sie um die ihnen auch bewilligte Einrichtung einer wirklichen Fabrik. Das nicht aufgehobene Statut verlangte aber noch 1827 (!) volle handwerkliche Fertigkeiten beim Meisterstück - und im Streit darüber ging der Betrieb dann unter. Aus Olbernhau wurden von Anfang an gerade keine handwerklichen Einzelstücke145, sondern ein obendrein preisgebundenes Massenprodukt ohne Aufwand an Handwerkskunst nur nach technischen Kriterien mit ganz geringen Toleranzen abgefordert. Bei den hohen Stückzahlen war Kooperation unvermeidlich, die Innungsgründung also ein sachlich verfehlter, rein formaler Akt: Nur die Gesamtheit der Meister konnte das auferlegte Produktionsvolumen146 erbringen - gewiß nicht ohne vereinbarte Arbeitsteilung von Fall zu Fall, immer aber nur durch jedesmal peinlich genaue Nachbildung der vielteiligen Vorlage, die Gewehre, erstaunlich viele Pistolenpaare, Ladestöcke, Bajonette und Beschläge samt Lederhüllen umfaßte, was Arbeitsteilung geradezu voraussetzte. Obwohl historisch die Errichtung einer rein kapitalistischen Gewehrfabrik nicht möglich und die Schaffung zweier Handwerksinnungen zeitbedingt nahezu unumgänglich war, führte die Entwicklung - logisch und sogar sprachlich - von Anfang an dazu, daß die innerlich hohle Innung - de facto - eine latente Gewehrfabrik war, die - de jure nur deshalb nicht geschaffen werden konnte, weil „Büchsenmacher" eben ein gezwungenes Handwerk und kein freier Beruf, aber auch kein Montanberuf (!) war. D a ß dann diese hochqualifizierten „Fabrikarbeiter" beständig in innere Konflikte mit Normen und Traditionen des städtischen Büchsenmacherhandwerks gerieten, daß die beiden beteiligten Innungen mit dem Hauptbesteller, dem Zeugamt, als dem faktischen Träger des Unternehmens Differenzen über Normen und Qualität, Löhne und Sonderkosten auszutragen hatten, muß hier nicht dargelegt werden. Hervorzuheben ist dagegen, daß ein lokaler Konkurrenzkampf um das Rohmaterial H o l z einsetzte, als 1758 eine

143

144

14>

146

A. Diener von Schönberg, Geschichte der Olbernhauer Gewehrindustrie, Halle 1914 - [Diss. phil. Leipzig] - Beilage A S. 109. Wir wissen, daß die Fachleute aus Suhl und aus weiteren renommierten Orten der Gewehrproduktion kamen. - Vgl. auch S. Sieber, Gewehre aus Oberwiesenthal. In: Sächsische Heimatblätter 9 (1963) 534-36. Es gibt - weil die Militäraufträge oft jahrelang ausblieben - natürlich auch Einzelstücke, zum Teil von höchster Qualität - , vgl. die Tafeln bei Diener, a. a. O. Die interessanten - für eine „Manufaktur" charakteristischen - Stückzahlen mit einer Summenberechnung für den Wert des Gesamtauftrags bei Diener, a. a. O., S. 40, 41, 43, 48, 50, 57, 59, 60, 61, 63. Daraus ergibt sich aber auch, daß zwischen 1751 und 1773 nicht ein einziger Staatsauftrag erteilt wurde, nur Suhl wurde berücksichtigt.

77

Das Aufkommen der Bergfabriquen

andere Innung - die der in und um Olbernhau arbeitenden Strumpfstuhlbauerla - mit großen Produktionsziffern (vgl. die Ausführungen von B. Schöne dazu auf S. 129 dieses Bandes) auf die Märkte kam. Denn wenn auch die Büchsenschäfter vor allem Nußbaumholz aus Böhmen importierten, so brauchte man doch für Pistolengriffe und Ladestöcke eine griffige Holzart (Ahorn, Linde, Buche, Esche) - und die gleichen Sorten bevorzugten auch die Strumpfstuhlbauer, die offensichtlich günstiger dastanden und das Holz besser bezahlen konnten.

2) Die Manufactur

für Serpentinsteinwaren

Zöblitz

Die 1772 durch den Marienberger Bergmeister von Trebra ins Leben gerufene Gewerkschaft zur fabrique-mäßigen Bearbeitung des Chursächsischen Ophitsm sollte die in Zöblitz und Ansprang ansässige Serpentinsteinverarbeitung „modernisieren". Die Berufstradition von nahezu 300 Jahren hatte andere Wege genommen, sie war zunächst als Schnitzarbeit auf einer Primitivstufe und dann handwerklich betrieben worden, weil die Formgebung auf dem Prinzip des Drechseins M9 beruhte. Allerdings war die Gewinnung des Ausgangsmaterials Steinbrecherarbeit, stand also insoweit dem nicht-handwerklich organisierten Gewerbe der Steinbrecher im Elbsandsteingebirge recht nahe. Die Sandsteinbrüche waren dem Montansektor zwar nicht integriert, aber zugeordnet. Die seit 1529, resp. 1543 bekannten Bruchordnungen weisen im arbeitsrechtlichen Teil (nicht im Besitzrecht) weitgehend Ähnlichkeit mit den Bergordnungen 150 auf, auch im sozialökonomischen Bereich etwa in der Selbsthilfeorganisation der Werktätigen, der Bruderlade, die bei Invalidität und Tod „Gnadengroschen" 151 zahlte, wofür der Arbeiter vom baren Zeitlohn, Stücklohn oder Erfolglohn 1 Groschen pro Thaler einzuzahlen hatte. Einrichtungen dieser Art blieben dem Handwerk fremd; wir begegnen ihnen nur bei Gewerben, die an den Vorbild gebenden Montansektor angrenzen.

1,7

118 149

130

151

Diener, a. a. O., S. 62 unter Verweis auf 1 P. O. Pinder, Olbernhau und das Obererzgebirge Annaberg 1900, S. 9, vgl. P. O. Pinder, Geschichte der Kirchfahrt Olbernhau, Olbernhau 1925, S. 80.

A. Diener

-

H. Zabel, Chronik von Zöblitz, Annaberg 1890, S. 2 5 0 - 2 5 1 . Georgius Agricola, de natura fossilium (I fol. 178), Basel 1546 = Georgius-Agricola-Gedenkausgabe (AGA) Bd. IV, Berlin 1958, S. 31. Eine vergleichende Analyse ihres parallelen Aufbaus (Besitzrechte - Personenrechte - Arbeitsvorschriften) würde hier zu weit führen. Leider fehlen noch einschlägige Untersuchungen, auf die verwiesen werden könnte, um die Ausstrahlungskraft des Montansektors und seiner strukturbestimmenden Einrichtungen zu verdeutlichen. Allgemein informierte gut M. Sommer, Der Serpentin von Zöblitz. In: Zs. Glückauf! (Schwarzenberg) 46 (1926) 2 0 1 - 2 0 8 . Der „Handwerksgroschen", der dem keine Arbeit findenden Handwerksburschen vom Meister oder aus der Handwerkerlade gereicht wurde, war ein Zehrgeld, damit er weiterwandern konnte - der „Gnadengroschen" war eine Frühform der Invalidenrente (Hinterbliebenenrente) für Ansässige!

78

WILSDORF

Die erste Übersicht über das Warenangebot aus Zöblitzer Serpentin gab 1546 Georg Agricola152, ein schon etwas „erweitertes Sortiment" führte dann 1590 die Meißnische Bergk Chronica von Petrus Albinus153 auf, das seit 1665 auf kleinformatige Artikel reduziert wurde. Dem Bericht von 1590 ist zu entnehmen, daß lebhafte Nachfrage nach Serpentinsteinwaren aller Art herrschte. Die sonst erhaltenen Akten 154 bezeugen dies ebenfalls an konkreten Beispielen. Auch die vielgenannte Ordnung der Serpentbin Drechßelere ins Stättlein Zöblitz angeordnet und uffgericht am 4. May 1613 weist in die gleiche Richtung, obwohl nicht zu verkennen ist, daß Auftragsmangel befürchtet wird. Sie ist von der bisherigen Forschung155 nicht ganz richtig eingeschätzt worden, denn 6 von den 8 Artikeln behandeln keine Zunftfragen, sondern regeln ausschließlich die Arbeit in den Serpentinsteinbrüchen und die Aufsicht bei diesem Betriebsteil [oder Teilbetrieb]. Nur der Artikel 7 legt den Kreis derer fest, die künftig zum Serpentbin Handtwerge zählen und vom Schmied mit Werkzeug beliefert werden sollten - nach den Unterschriften waren es 20 Meister. Der Artikel 8 gewährt zusätzlich den interessanten Einblick, daß sich unter den Serpentinsteinarbeitern Leute befanden, die ein anderes Handwerk erlernt hatten; diesen wird verboten, nebenbei auch noch ihr früheres Handwerk - etwa als Bildhauer, Stukkateur oder Pflasterleger - zu treiben. Die Tendenz, den Personenkreis bey dem Handtwerge der Serpentbin Dreckßlere abzugrenzen und die Anzahl der auszubildenden Lehrlinge zu beschränken, ist klar. Damals besaß der Hofarchitekt Giovanni Maria Nosseni156 (1544-1620) das weitgehende Privileg, auch Serpentin „zu erschürfen, zu brechen, zu verarbeiten und außer Landes zu führen". Nosseni hat gern und viel Serpentin wirkungsvoll verwendet und hatte vor allem an großflächigen Stücken Bedarf, wenn auch keineswegs ein Vorrecht darauf. Ein solches beanspruchte seit 1620 oder bald darauf erst der Hof. Die entschädigungslose (!) Ablieferungspflicht157 für große Blöcke und selbst für flache Tafeln erlosch erst 1836 (!). Dazu kam obendrein noch das Verbot, den sehr seltenen roten und den auch nicht häufigen gelben158 Serpentin für Handelsartikel zu verwenden; alle daraus angefertigten Stücke groß und klein behielt sich der Hof vor. 152 153 154

155

156

157

158

Vgl. AGA IV Berlin 1958, S. 194 ( = de natura fossilium VII fol. 316, Basel 1546). Petrus Albinus, Meißnische Bergk Chronica, Dreßden 1590, S. 161. Am sorgfältigsten benutzt hat sie zu seiner von späteren Bearbeitern immer wieder ausgeschriebenen Dissertation Julius Schmidt, Geschichte der Serpentin-Industrie zu Zöblitz. - Ein Beitrag zur Culturgeschichte Sachsens, Dresden 1868, 50 S. [ = Mittheilungen des kgl. sächsischen Vereins für die Erforschung und Erhaltung vaterländischer Geschichts-und Kunst-Denkmale, Heft 19, Teil 33. 1869]. Das geschah auch noch in den letzten beiden Veröffentlichungen: a) Michael Seidel, Zur Geschichte der Zöblitzer Serpentinsteinverarbeitung. In: Sächsische Heimatblätter 14 (1968) S. 89-92. b) Gerhard Mathé, Die Serpentinit-Vorkommen bei Zöblitz und ihre Nutzung. In : Sächsische Heimatblätter 17 (1971) S. 224-228. Zu Nosseni ist zu vergi. Dieter Beeger, Giovanni Maria Nosseni. In: Abhandlungen des Staatlichen Museums für Mineralogie und Geologie zu Dresden 16 (1970) 1-8. Ganz eindeutig sind die Anordnungen von 1620 und 1624 nicht; als 1654 der „Regalschuppen" zur Aufbewahrung größerer Stücke auf Vorrat gebaut wurde, war die Ablieferung ohne jede Entschädigung Usus. 1665 wurde bewußte Zerschlagung größerer Stücke unter 10 Thaler Strafe gestellt ( = § 57 der neuen Ordnung). Der „rote Bruch" gehörte dem Kurfürsten; da sich aber auch anderwärts roter Serpentin fand, konnten ab und zu rote Objekte hergestellt werden, was 1665 verboten, 1681 aber wieder erlaubt wurde. Als die Meister 1682 gelben Stein fanden, durften sie diesen bis auf die ins „Steinhaus" abzuliefernden Großformate nutzen.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

79

Damit ist die mittelbare Installierung einer indirekten „Hof-Manufaktur" schon angebahnt, die 1624 bei der Berufung eines Serpentinstein-Aufsehers gleichfalls, wenn auch wiederum nur indirekt zum Ausdruck kommt. Der berufene „Beamte" war nämlich der geschickteste unter den damaligen Zöblitzer Drechslern, der seine gesamte Produktion erst dem Hof zum Ankauf anbieten mußte, ehe er Händler beliefern durfte. Sein Nachfolger, der den Titel „Inspektor" erhielt, hatte ab 1651 die Pflicht, die gesamte Zöblitzer Produktion aller Drechsler zu prüfen und jedes künstlerisch wohlgelungene Stück dem Hof zur Ansicht einzusenden. Materialknappheit veranlaßte 1661 die Meister zu einem sehr bemerkenswerten Innungsbeschluß. Unter Umgehung des (Marienberger) Bergamts vereinbarten die Drechsler untereinander die Einhaltung bergrechtlicher Grundsätze 159 bei der Nutzung der Vorkommen in Zöblitz und Ansprung. Jeder Meister sollte die Stelle, an der er im Verlauf des Jahres seinen Bedarf zu decken hoffte, bei dem Inspektor „muten" 1 6 0 ; der Finder eines neuen, meist rasch erschöpften Vorkommens sollte - wie der Fundgrübner im Bergbau - ein Vorrecht daran haben. Dieser ganz ungewöhnliche, in seiner juristischen Wirksamkeit auch sehr fragwürdige 161 Beschluß sollte wohl den Produktionssektor für den privaten Handel absichern. Die 1665 konzipierten und vom Kurfürsten bestätigten „Innungsartikel"162 machen offenkundig, in welcher schwierigen Lage sich die Meister befanden: Sie hatten Absatzsorgen durch gelernte Serpentinsteindrechsler, die außerhalb der Innung163 lebten, Händler bezahlten übernommene Ware nicht164, obwohl sie sogar v o r dem Hersteller selbst ein zweites Vorkaufsrecht nach dem des Inspektors ausnutzen durften, der das erste Vorkaufsrecht für den Hof wahrzunehmen hatte - erst die dritte Güteklasse (sozusagen) durfte der Meister selbst direkt an einen Kunden verkaufen! Es kam auch vor, daß Gesellen und sogar Lehrlinge - heimlich165 - direkt für einen Händler arbeiteten. Bei Aufträgen auf großformatige Stücke mußte der Inspektor den Rohstein vorher besichtigen, damit nicht etwa dem Hof ein „Regalstück" verlorenging. Schließlich mußten die Meister auf Verlangen des 159

Auf diese Besonderheit sind die bisherigen Darstellungen überhaupt nicht eingegangen. Dabei liegt ein bemerkenswerter Versuch vor, dem Serpentinsteindrechsler gewisse Vorteile der bergmännischen Berufe zuzuwenden - die später auch tatsächlich wirksam geworden sind wie etwa die Freistellung vom Militärdienst und von der Akzise. Bergrechtliche Grundsätze waren sehr wohl angebracht, da, anders als im Steinbruch auf Werksteine, die den Serpentin einschließenden Hüllgesteine das „Finden" geeigneter Stücke - und nicht das bloße Brechen - zum Hauptproblem machten.

160

Unter dem bergmännischen Ausdruck muten (sinnverwandt mit mieten) versteht man die an die Schriftform des Mutzettels gebundene Eingabe beim Bergamt, man wolle nach bergamtlicher „Bestätigung" an einer genau bezeichneten Stelle Bergbau treiben. Eine Eingabe der Mutzettel an den Inspektor (statt an den allein für Mutungen vorgesehenen, aber eben für Serpentin unzuständigen Bergmeister) mußte vom Bergamt als „ungültig" angesehen werden. Doch ist es zu keinen juristisch ausgetragenen Differenzen gekommen. Diese Artikel von 1665 enthalten immer noch vollinhaltlich (!) die alte, durchaus nicht „handwerksgemäße" Bruchordnung von 1613; sie sind aber stark erweitert, so daß man nun von einer Handwerksordnung sprechen darf. Es gab kaum Zwangsmittel, sie zum Beitritt zu zwingen - vgl. § 34 der Ordnung von 1665. Solche schloß § 46 der Ordnung von 1665 vom Handel durch Warensperre aus. § 47 der Ordnung von 1665 bezeichnet dies mit dem Ausdruck der Partirerei.

161

162

163 164 165

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WILSDORF

Hofes 166 jederzeit in den Brüchen - gegen Bezahlung - arbeiten, womit klar ist, daß sie weitgehend überhaupt vom Hof abhängig geworden sind. Daher ist es nicht verwunderlich, daß schon 1667 der Inspektor Iiiigen Johann Georg II. die Errichtung einer kurfürstlichen „Faktorei" 167 vorschlug. Damit wären Produktion und Vertrieb zentralisiert in die Hände des beamteten Inspektors gekommen, was durch die vorgeschlagene Investierung staatlicher Mittel den Schritt zur dezentralisierten Manufaktur unter Staatsregie bedeutet hätte.

Diese großen Zeiten sind natürlich nie vergessen worden und erklären zur Genüge, daß im folgenden Jahrhundert der .industrieuse' Bergmeister von Marienberg, der nachmalige Oberberghauptmann v. Trebra, den Versuch machte, ein „Fabrikunternehmen" ins Leben zu rufen. Er nannte es ausdrücklich „Fabrique", glaubte aber das erforderliche Gründungskapital doch auf dem alterprobten Wege über die kuxmäßige Beteiligung der „Gewerken" am sichersten aufbringen zu können. Er brachte in der Tat auch ein Unternehmen zustande - aber inzwischen hatte sich der Absatzmarkt durch Porzellan und englisches wie sächsisches (vgl. oben S. 179 ff. im Beitrag von R. Weinhold) Steingut total verändert. Schon nach einem einzigen Jahr war das Gründungskapital verbraucht, die damit erzeugte Ware stand unverkäuflich in Leipzig, und so ging die Gewerkschaft zur fabrique-mäßigen Bearbeitung des Chursächsischen Ophits in Konkurs. Wir haben die Unternehmensfreude des schon oben (S. 77) erwähnten Herrn v. Trebra jedoch zu bewerten als einen signifikanten Hinweis, daß - nach Wort und Sache - „Bergfabriquen" an der Tagesordnung waren, die „Bergwaaren" herstellten. Denn zwei Jahre nach der Fabrikgründung in Zöblitz (1772) definierte J. G. Krünitz in seiner .Ökonomischtechnologischen Encyklopädie': „Berg-Manufacturen, sind solche Manufacturen darinnen man Mineralien fabriciert, und zu Kaufmannsgut macht. Solche sind teils mechanische, teils chymische. Von jenen verdient Zimmermann, in seiner obersächsischen Bergacademie S. 50fgg, S. 120 fgg, von diesen aber Becher in seinem chymischen Glückshafen, nachgelesen zu werden. Dergleichen bereitete Fossilien werden gebraucht in äußeren Medicamenten, zu Farben, zu Leder und Tuchbereiten, zum Poliren in Eisen und Spiegelfabriken etc." (Bd. IV, Berlin 1774, S. 234). Eine ganz neue Konjunktur, der etwa seit 1675 jäh ansteigende168 Verbrauch von Kaffee, Tee, Tabak und „Chocolade" veranlaßte die Ausgestaltung von Tassen, Tellern, Kannen und Kännchen samt Zuckerbüchsen, Vorratsdosen, Tabatieren, Tabletts und Aschenbechern, eingelegten Tischchen. Diese tiefgreifende Erweiterung des Sortiments für bisher nicht aufgetretene Absatzmöglichkeiten fand ihren Niederschlag in einer 1694 festgelegten Preisliste. Es ist erfreulich, aus dieser mindestens dreierlei zu ersehen, nämlich daß 1. Zöblitz keineswegs „weltabgelegen" war, sondern die Möglichkeit einer Geschäftsbelebung richtig erkannte - daß 2. die Waren freilich sehr billig angeboten werden mußten, obwohl Meißner Porzellan noch nicht konkurrierte. Schließlich ist zu ersehen, daß 3. die Innung das „gemeinsame" Warenangebot als notwendig erkannt hatte.

166 167

Vgl. § 55 der Ordnung von 1665. Dazu Julius Schmidt, a. a. O., S. 21.

Das Aufkommen der Bergfabriquen

81

Natürlich ist eine Preisregulierung unter Berufskollegen im Rahmen einer Innung noch lange nicht gleichbedeutend mit einer Vereinigung von Produzenten zur Konstituierung einer dezentralisierten „Manufaktur". Aber es ist doch deutlich, daß der bloß genossenschaftliche Zusammenschluß hier eine neue Zielsetzung erfährt: Die gemeinsame Preisliste deutet an, daß die im Sortiment bezeichneten Waren „in Zöblitz" zu haben waren - sicher nicht bei jedem Drechsler, sondern eben nur im wirklich vielseitigen Gesamtangebot. Hierin zeigt sich aber gerade ein prinzipieller Unterschied etwa zu den sich auf eine amtlich genehmigte Brottaxe einigenden Bäckern1®9 oder zu den Fleischpreise verabredenden Fleischern: Diese liefern alle die gleiche Ware zum festgesetzten Preis - die Drechsler kooperieren, um ungleiche, sehr individuell gestaltete Ware zum festgesetzten Preis liefern zu können. Diese Tendenz ist auch in den beiden Erneuerungen der Preiskonvention von 1694 spürbar, die 1714 und 1738 erfolgten. D e r sehr tätige und umsichtige Inspektor Friedrich, der vor seiner Berufung (1726) selbst Vormeister der Innung gewesen war, fühlte sich durchaus als „Directeur" der 1 7 5 1 auf 72 Meister angewachsenen „Industrie" - er ließ 1 7 4 0 Bergleute 1 7 0 kommen, um die Brucharbeiten zu verbessern, er erschloß 1 7 2 7 den gelben Stein im Ansprunger Zuckerbruch, auch erreichten unter seinem Inspektorat die Serpentindrechsler die Gleichstellung mit den Bergleuten hinsichtlich der Befreiung vom Militärdienst und der Akzise; er suchte auch 1 7 4 0 - 1 7 5 1 von Zöblitz die durch den Limbacher Serpentin drohende Konkurrenz abzuwenden. Hier stieß er - als Beauftragter des Dresdener Berg- und Cammer-Collegiums - auf den Widerstand des Freiberger Oberbergamts 1 7 1 , das dem Limbach er Rittergutsbesitzer nach 1 0 Jahren Streit die Bruchkonzession erteilte. D e r Chronist von Zöblitz 172 , des von dem Edlen Serpentinstein weitbekannten Städtgens, schloß 1 7 5 0 das Kapitel „Von dem Serpentin-Stein" 173 mit dem frommen Wunsch Der Höchste lasse diese schöne Manufactur nebst dem gantzen Städtgen unverrückt im Seegen grünen und blühen m. Er empfand also den gesamten Betrieb - inmassen das gantze Städtgen seine meiste Nahrung daher hat - mit Einschluß des den weitbekannten Ruf des Ortes bewirkenden Versandhandels als einen einheitlichen Produktionsvorgang. A l s der Meister nicht mehr selbst auf die M ä r k t e zog, w u r d e es Sache des Serpentin168 y g i dazu etwa die Angabe bei Sombart, Der moderne Kapitalismus, München 3 1919, Bd. I, 1, S. 501 - er gibt die Jahre 1657, 1659 an. Sombart übersah offensichtlich die reiche Literatur im Artikel Chocolate in der Oeconomischen Encyclopädie von J. G. Krünitz, Bd. VII, S. 72-87, 88/89 Lit. Verz. - Berlin 1776. Abgesehen von vorangehenden spanischen Veröffentlichungen (1609, 1616, 1631) setzten die englischen, italienischen, niederländischen und französischen Veröffentlichungen schlagartig um 1675 ein. 109 Diese waren allenfalls von Stadtobrigkeiten abhängig. 170 Die Bergleute erschlossen den St. Johannes-Bruch in Ansprung - sie kamen vorwiegend aus Pobershau, dessen „Amtsseite" zum Amt Lauterstein gehörte, während die „Ratsseite" zu Marienberg zählte. 171 Das Oberbergamt schützte die Zöblitzer „Handwerker" nicht, sondern begünstigte trotz rechtlich fehlender Handhaben den Feudalherrn. Wir haben hier ein Beipiel mehr für die vielen Differenzen zwischen Oberbergamt und „Regierung": Freiberg contra Dresden! 172 Wilhelm Steinbach, Historie des von dem Edlen Serpentinstein weitbekannten Städtgens Zoeblitz im Meißnischen Obererzgebirge, Dresden 1750. 173 Ebenda, S. 14-27. 174 Ebenda, S. 27. 6

Volksleben

82

WILSDORF

steinhändlers, etwa für die Leipziger Messe oder für den Export nach Englandm ein Sortiment aus dem konkurrenzlosen Zöblitzer „Ophit" zusammenzustellen, mit dem er möglichst viele Interessenten beliefern konnte - vorausgesetzt, daß er Ware im Zeitgeschmack176 anzubieten hatte. Nach den großen Staatsaufträgen für die Dresdener Hofkirche177 - die den weniger leistungsfähigen Meistern vorenthalten wurden, aber die tüchtigen zwischen 1740 und 1753 voll beschäftigten - „reprivatisierte" sich die Produktion von Serpentinsteinartikeln. Noch immer aber erklärte sich die kurfürstliche Regierung durch die Ablieferungspflicht für allen roten und gelben Serpentin sowie für alle Stücke, die mehr als 45 X 45 X 8 cm maßen, zum Hauptauftraggeber aller Meister. In der Tat ist der Hof zeitweilig und auch für längere Fristen Hauptauftraggeber und auch noch Hauptabnehmer der nebenbei frei produzierten Serpentinerzeugnisse gewesen. Die Meister können daher nur bedingt als selbständige Handwerker gelten. Die Regierung hat sie mehr oder weniger als „Manufakturisten" angesehen, ohne jedoch einen Regiebetrieb178 aufzubauen. Sie setzte die Meister zwar durch Aufträge mit hohen Stückzahlen gemeinsam „in Nahrung", lieferte sie jedoch weitgehend den Konjunkturschwankungen aus, soweit die Regierungsaufträge nach Anzahl und Entlohnung zur Existenz nicht ganz ausreichten. Es ergibt sich also de facto eine - beinahe ein ganzes Städtchen erfassende - Manufaktur, die de jure ganz gewiß keine war. Ihrer arbeitsteiligen Struktur nach war sie gebunden an zwei gänzlich verschiedene Arbeiten, nämlich an die „Brucharbeit"m in den damaligen 23 Zöblitzer und in den 6 Ansprunger Brüchen unter Aufsicht eines „Obersteigers"180 und an die „Dreharbeit" in 69 Meisterhäusern. Das erhärtet die Auffassung, bei der komplexen bergmännisch-handwerklichen Struktur auch hier den Begriff der „Bergfabrik" anzuwenden. 175

Ebenda, S. 2 2 am Königl. G r o ß Britannischen Hoffe.

176

Das scheint sehr wichtig gewesen zu sein - Steinbach hörte, daß in England grüner Stein, der steinlicht ist, und mit Adern prangt „Mode" war, Steinbach, a. a. O., S. 22.

177

D e r Entschluß von Gaetano Chiaveri, reichlich Serpentin zu verwenden, brachte einen starken Auftrieb nach Zöblitz; 1 7 4 8 kam noch eine Nachbestellung auf 7 2 größere Säulen und auf weitere „plane" Ware. Aus dieser Zeit stammen die wervollsten erhaltenen Arbeiten, die durchweg unsigniert sind, so daß Stilanalysen und Meisternachweise ungemein schwierig sind. Zu diesen Erzeugnissen der sächsischen Volkskunst äußerte sich mit feiner Einfühlung Leopold Schmidt, Zöblitzer Serpentingefäße im Österreichischen Museum für Volkskunde. In Zs. Letopis, Reihe C Bd. 6/7 = Festschrift für Friedrich Sieber 1 9 6 4 (S. 1 4 7 - 1 5 1 ) .

178

Die mit dem verstärkten Einsatz von Serpentin um 1 5 8 0 einsetzende Entwicklung konnte nicht sogleich durch einen Regierungsbetrieb aufgefangen werden - der nächste Anstoß um 1 7 3 0 kam dagegen zu spät, da die Gleise schon eingefahren waren. Das bürgerliche Handwerk w a r stärker als die feudalabsolutistische Tendenz zur Regie!

179

Steinbach, der aus dem „Bergstädtlein" Thum stammte und zwar nicht Bergmannssohn aber Bergmannsenkel war, meinte, den Bruchbetrieb nicht als „bergmännisch" bezeichnen zu können; das hinderte ihn aber nicht, zur Entwässerung der Brüche einen bergmännischen Stollenbau vorzuschlagen, was sachlich ganz richtig w a r ; vgl. a. a. O., S. 1 8 .

180

Steinbach, a. a. O., S. 2 6 - leider fehlt hier eine genaue Datierung. Es ergibt sich, daß (wohl stets) mehrere Meister ihr Rohmaterial aus dem gleichen Bruch beziehen mußten,

Das Aufkommen der Bergfabriquen

83

D e r Zinnfolienhammer als Bergfabrik D i e 1776 „eigenmächtig fangene

Anlegung

von Herrn

einer Folien-

Pirnbaum

in Neu

und Spiegel-Fabrik"m

Geyßing

und Consorten

unter-

war von der Marktlage her ein

recht vielversprechendes Unternehmen, kam aber in den 3 0 Jahren ihres Bestehens in Geising nicht zu erheblichen Erfolgen. Immerhin gelang erstmalig in Sachsen auf dem nach 3 Jahren illegaler Produktion

1779 als Monopolbetrieb privilegierten

hammer die Herstellung von S t a n n i o l .

Ob die Verpackung von Tabak -

FolienTafel-

schokolade w a r nur in Schächtlein am Markt - mit Zinnfolie statt der bisher verwendeten gesundheitsschädlichen Bleifolie 182 geplant war, steht nicht fest. Verwendet wurde das auf einem umgebauten Pochwerk in Altgeising erzeugte Stanniol zur Belegung kleinerer Spiegel, -die in einer benachbarten, gleichfalls umgebauten

Schmelzhütte geschliffen

wurden. D i e Fabrik war in Erweiterung des Fabrikationsprogramms ingleichen einer

Schneide-

und Polir Maschine

zu Marmor

und anderen

Steinen

(mit)

ausgestattet, wie

es in der 1 7 7 8 angelegten Akte hieß. Der Gründer G. Pirnbaum (1721-1783), Ratsherr zu Neugeising, war wie sein Vater Fleischermeister, dann 7 Jahre lang (1754-1761) approbierter Schulmeister, Kantor und Organist; nach dem Verzicht auf dieses Amt handelte er abwechselnd mit Spitze, Leder und Zinn, war nebenbei als namhafter Kuxbesitzer (seit 1758) der Kommunschichtmeister183 und seit 1770 gräflich Bünau'ischer Berggeschworener. Der vielseitige Mann erreichte natürlich auch Vertrauensstellungen wie die des Stadtrichters oder des Tranksteuereinnehmers184. Sein Zinnhandel hatte ihn - er besaß 6 Pferde bis Regensburg und Triest geführt. Er erkannte richtig die vorhandene Marktlücke, es gelang ihm auch, die Voraussetzungen für die mechanisierte Produktion der Zinnfolie - die gleichwohl noch viel manuelle Arbeit wie das Säubern der vor der Hammerarbeit mit Ruß eingestäubten Blätter und das Polieren forderte, — zu schaffen. Ebenfalls löste er die organisatorische Aufgabe, die gehämmerten Folien formatgerecht mit Scheren zu beschneiden (und die Abfälle wieder einzuschmelzen). Ob das Polieren, Aussortieren, Beschneiden, Zählen, Bündeln auf dem Hammer erfolgte oder als Heimarbeit vergeben wurde, steht nicht fest, zumal unbekannt ist, welchen Produktionsanteil die Spiegelfabrik als Eigenbedarf 1 8 5 beanspruchte. D i e Belegschaft 181

Die Acta die von Hr. A. G. Pirnbaum in Neu Geyßing und Cons. unterfangene eigenmächtige Anlegung einer Folien- und Spiegel-Fabrik betr. des Bergamts Altenberg 1777 ist in Freiberg nur im Regest, Bergamt Altenberg - B - XIV - 48, erhalten. Für die Überlassung von Material zur Dokumentation des folgenden Abschnitts möchte ich den Herren Dipl. Geol. Wolfgang Barsch und Dipl.-Lehrer Wolfgang Stockei bestens danken. Vgl. auch deren oben in Anm. 28 bereits zitiertes Heimatheft für Geising.

Die Gefahr bestand, ist aber vielfach übertrieben worden. Der .Kommunschichtmeister' war der Rechnungsführer (vgl. oben Anm. 159) des auf Kosten der Gemeinde zur Aufrechterhaltung der Begünstigungen einer freien Bergstadt wohl stets mit Verlust betriebenen Bergwerks, vgl. Stadtarchiv Geising - Acta Commun Stollen 1753. 184 Ein solcher mußte der Regierung eine ansehnliche Kaution stellen. Der Posten, der nicht viel einbrachte, galt als besondere Vertrauensstellung. 185 Der Betrieb kann nicht sehr groß gewesen sein, denn er entging - wie unzählige andere leider auch - der o. a. S. 23 wiedergegebenen Statistik von C. Rössig, der 1787 auch den Zinnfolien. hammer nicht - oder schon nicht mehr ? - nannte. 182

183

6*

WILSDORF

84

wird mit über 2 0 Mann angegeben - das ist bei so frühen .Fabriken' eine durchaus beachtliche Gesamtzahl. Diese schließt aber unter Umständen Heimarbeiter für die FolieProduktion ein, für die Spiegelfabrik ist das weniger anzunehmen. Pirnbaum war also mit seinen in der weiten W e l t gesammelten Erfahrungen sehr wohl den Schwierigkeiten einer Innovation technisch und kaufmännisch gewachsen, obwohl nicht nur die Ersetzung der Handarbeit des Folienschlägers durch den Hammer, sondern auch der Einbau einer mindestens am O r t neuartigen Schleifmaschine zu tätigen war. E s ist möglich, daß er einige ortsfremde Spezialisten heranzog, doch konnte er sein neuartiges W e r k nur noch 4 Jahre leiten. Im Jahr vor seinem T o d vermochte er eine K o n kurrenzgründung des .Spiegel- und Folie-Fabrikanten' 1 8 6 Freiesleben im Plauenschen Grund (bei Freital) zu verhindern, obwohl dieser aus einer einflußreichen Familie Freiberger Bergleute stammte. Weniger erfolgreich war sein mit 19 Kindern beladener Sohn C. Pirnbaum (1749-1815), der als Markscheider tätig war, 1771 seinen Vater als Berggeschworener ablöste und als Fabrikinhaber 1786 Vicebergmeister wurde und schließlich in Böhmisch Zinnwald (Cinovec) als Berg- und Gerichtsschreiber sowie als Markscheider amtierte. Er wurde nie als Fabrikant, wohl aber 1795 als Bergnegotiantisl bezeichnet und verstand offenbar nicht, die von seinem Vater eingeleitete Herstellung von Ausgangsmaterial (Zinnfolie) mit der Weiterverarbeitung zu Handelsware (Spiegeln) geschickt fortzusetzen. Erhaltene Akten188 lassen erkennen, daß es ihm an Kapital und Wasserkraft mangelte. Da nun sein Sohn Immanuel (1771-1798), der gelernter Folienschläger189 war, zu früh starb, kam er offenbar in immer tiefere Schwierigkeiten, zumal er die verbotene Einfuhr von böhmischem Glas versuchte, unbearbeitetes Zinn verkaufte, was gegen die Metallhandelsvorschriften verstieß, und sich auch gegen die Konkurrenz anderer Spiegelfabrikanten nicht zu behaupten wußte. Nach dem Tode der Mutter wurde das Unternehmen 1805 für immerhin 5 750 Thlr. verkauft190 und noch im gleichen Jahr die Spiegelfabrik von einer Gewerkschaft als Zinnhütte erworben, während 1806 in den Folienhammer eine Mahlmühle eingebaut wurde. Bei dieser Fabrikgründung verdient die Motivierung volle Beachtung, die der Unternehmer zur Begründung seines Gesuchs ins Feld führte. Zur Befriedigung des Amtsschimmels benötigte er nicht weniger als vier .Begnadigungen', nämlich das für den Folienhammer, und drei Konzessionen:

Monopol

für die Spiegelfabrik, für die Polier-

maschine und die für schleifbare Steinarten, die nicht bereits in Mandaten 1 9 1 erfaßt und Acta die von dem Spiegel und Folien Fabricanten Hr. Freyesleben gesuchte Concession zur Anlegung eines Folien und Staniol-Hammers im Plauenschen Grunde - Ergangen 1782. 187 £)er für die Titelsucht jener Zeit sehr bezeichnende Ausdruck besagt, daß er eben kein angesehener Fabrikant war. 188 Vgl Acta, das von Hr. A. G. Pirnbaum''s Erben und Cons. wegen rückständiger Kosten erlassene Retardat und die von denenselben dagegen eingewandte unterthänige Appellation 1784, 1795-1802, 1803, 1805 = Freiberg, Bergamt Neugeising Sect. X X Nr. 22. 189 ^r a r

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00 -c Hatte Kassel das Vorbild von Wedgwood nur in einem spezifischen Verfahren der Massebehandlung kopiert, so trieb Hubertusburg die Sache ganz bedenklich weiter, indem es sein Geschirr zunächst einmal mit dem Naimen des englischen Unternehmens zeichnete. Das ist eine indirekte Bestätigung dafür, wie sehr man die britische Ware schätzte. Der sächsische Konkurrenzbetrieb nutzte diese Popularität als Starthilfe und scheint dabei ganz gut gefahren zu sein. Viel später erst (1817) legte er sich eine eigene Marke zu48. Die Nachahmung, aber auch das Ausbleiben und Wiedereinströmen des englischen Imports haben Schicksal und Leistung der Steingutproduktion unseres Gebietes bis ins erste Drittel des 19. Jh. ihrerseits entscheidend mitbestimmt. Abhängig waren diese Vorgänge von ökonomischen und politischen Prozessen, die sich vor allem im Zuge der napoleonischen Kriege vollzogen, wobei die Auswirkungen der Kontinentalsperre eine besondere Rolle spielten. Sie drosselten, ja unterbanden zeitweise die Zufuhr der englischen Ware auf den Kontinent. Diese Konstellation begünstigte Initiativen, die auf die Etablierung weiterer einheimischer Manufakturen gerichtet waren. Nachweislich entstanden zwischen 1790 und 1815 in unserem Gebiet 17 Unternehmen, die Steingut herstellten oder in den Rahmen ihrer Produktion aufnahmen (s. Tab. 5). Wahrscheinlich war ihre Zahl sogar noch größer, denn die zeit- und teilweise Umstellung von angeblich acht Königsbrücker Handwerkstöpfereien auf die neue vielbegehrte Ware dürfte ebenfalls in diese Periode fallen. Nur ein Betrieb (Hubertusburg) wurde früher gegründet, drei (einer in Steiermühle, zwei in Rochlitz) entstanden nach 1815. Von Riesa sind keine Daten bekannt. Die Lebensdauer der Unternehmen läßt sich meist nicht genau feststellen. Einige (Königsee, Neuhaus, Schaala) erloschen nach verhältnismäßig kurzer Zeit, andere hielten sich bis zur Jahrhundertmitte und länger (Hubertusburg, Gera-Kuba, Rochlitz, Steiermühle). Den Bedingungen der industriellen Revolution scheint kaum eines von ihnen gewachsen gewesen zu sein. Sie brachte den Sieg der mit modernen Produktionsmitteln ausgestatteten Fabrik, verkörpert durch die 1856 gegründete Dresdener Filiale der vereinigten Werke von Villeroy und Boch. Nur von wenigen Steingutmanufakturen ist uns der Personalbestand einigermaßen bekannt. Hubertusburg, sicher eine der größten, beschäftigte 1815 insgesamt 71 Personen. Davon waren 23 „Fabrikanten in Stückarbeit" (Dreher, Former), 3 Glasierer, 3 Cockerarbeiter (wahrscheinlich mit dem Guß in Gipsformen beschäftigt), 9 Brenner und ihre Gehilfen, 3 Masseschlämmer, 3 Massezurichter, 8 Lehrlinge, 2 Tongräber, 3 Holzspalter, 5 Handarbeiter (Tagelöhner für grobe Zuarbeit), je 1 Modellierer, Maler, Lackierer, Mühlenwärter, Fuhrmann und Hausmann. Dazu kamen - erstmals nachweisbar - drei administrativ Tätige: ein Inspektor (als hauptverantwortlicher Leiter), ein Buchhalter 1 und ein Kontorist''9. Demgegenüber waren die beiden anderen Betriebe schwächer besetzt. Zur Manufaktur in der Pirnaer Neumühle gehörten 12 Arbeiter. Die Buchführung und den VerStuttgart 1 9 2 1 , S. 4 3 ; Otto Riesebieter, Die deutschen Fayencen des 17. und 18. Jahrhunderts, Leipzig 1 9 2 1 , S. 3 3 1 ff. /l8

Berling, a. a. O., S. 17.

49

Ebenda, S. 1 9 .

182

WEINHOLD

kauf besorgte der Eigentümer noch selbst50. Dagegen beschäftigte der Inhaber der bei Nossen gelegenen Steiermühle, einer der jüngsten unserer Manufakturen, einen eigenen Buchhalter. In und bei seiner Werkstatt arbeiteten insgesamt 28 Personen51. Mit diesen Ziffern sind vermutlich auch die Maximal- und Minimalwerte des Arbeitskräftebesatzes gegeben. Man kann annehmen, daß er etwa zwischen einem Dutzend und rund siebzig Menschen lag. Schwierig ist es, aus solchen Angaben auf Mittelwerte pro Betrieb zu schließen. Vermutlich war das Hubertusburger Unternehmen mit seinem fiskalischen Hintergrund ein Extremfall. Die Durchschnittsziffer dürfte vielmehr zwischen den Angaben für die Neumühle und die Steiermühle liegen. Man wird um 1820 pro Betrieb einen Personalumfang von 15 bis 20 Menschen ansetzen dürfen, wobei, wie zwei unserer Fälle wahrscheinlich werden lassen, erstmals ein - wenn auch noch geringer Anteil von in der Verwaltung der Unternehmen tätigen Personen anzunehmen ist (3 bis 4%). Zeitlich noch vor dem Aufbau der Steingutunternehmen liegt die Entstehung eines beträchtlichen Teils unserer P o r z e l l a n manufakturen. Meißen produzierte, mit einem Dresdener Vorspiel, seit 1707 Steinzeug, dann ab 1708/09 die echte, zu Anfang mit Recht dem Golde fast gleichgesetzte Ware. Der Erfolg, mehr noch der erhoffte Gewinn, schloß die Geheimhaltung des Arkanums ein, der synthetischen Masse für den Scherben, deren Hauptbestandteil die zunächst bei Colditz erschlossene Kaolinerde war. Daß es nicht gelungen ist, dieses Wissen zu verbergen, beweisen die bereits während der ersten Hälfte des 18. Jh. vollzogenen Manufakturgründungen in Wien (1717/19), Venedig (1720), Vincennes/Sevres (1740/1756), Höchst (1746), Petersburg (1748) und Berlin (1751). Die meisten von ihnen verdanken ihre Existenz der Weitergabe der in Meißen vergeblich streng gehüteten Kenntnisse um Masse, Farben und Glasuren durch zeitweise dort Tätige oder auch durch die geheime Ausfuhr des sächsischen Kaolins. Gegenüber diesen skandalumwitterten Vorgängen, die nicht nur für die Frühzeit des Porzellans, sondern auch die des Steinguts52 und so manche andere Erfindung der Manufakturperiode symptomatisch sind, hat die Tatsache relativ wenig Beachtung gefunden, daß gar nicht allzuweit von Meißen entfernt mehrere zum Teil unabhängig voneinander experimentierende Adepten Böttgers und Tschirnhaus' Bemühungen erfolgreich nachvollzogen. Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre des 18. Jh. erfanden einerseits der in Sitzendorf arbeitende Georg Heinrich Macheleid, zum anderen - allerdings nicht immer in harmonischem Zusammenwirken - die miteinander verschwägerten Gotthelf und Gottfried Greiner sowie der vordem in Coburg als Hoftöpfer tätige Georg Dümmler auf der Greinerschen Glashütte in Limbach bei Sonneberg das Porzellan noch einmal. Vorgeschichte und Vollzug dieses Parallelereignisses sind ein besonderes Kapitel der Keramikproduktion, das hier nur teilweise (s. u. S. 202 f.) behandelt werden kann. 50

Staatsarchiv Dresden, Loc. 3 2 5 5 5 , Rep. XII, Nr. 4 4 8 Acta, Die Anlegung einer Steingutfabrik von Leyen zu Pirna betr. incl. von dem Besitzer der Steyermühle bei Nossen Steyer, fol. 3 1 ff. (s. a. Rudolf W e i n h o l d : Neumühle und Steyermühle. Zu den Anfängen zweier sächsischer Steingutmanufakturen. In: Sächsische Heimatblätter 2 3 ( 1 9 7 7 ) S. 1 1 2 ff.).

81

Staatsarchiv Dresden, Loc. 3 2 5 5 5 , Rep. XII, Nr. 448, fol. 6 1 .

52

Weiß, a. a. O., S. 2 1 2 .

Keramikproduktion und -Produzenten

183

Wir müssen uns hier damit begnügen, die Ergebnisse dieser geglückten Versuche in Form von Betriebsgründungen zu registrieren (s. Tab. 6). Vorstadien dazu stellen die Unternehmen in Katzhütte und Sitzendorf dar. Sie waren die Laboratorien, in denen die geeigneten Zusammensetzungen von Masse, Glasuren und wohl auch einigen Farben erprobt wurden. Im erstgenannten Ort hat der Besitzer des dortigen Eisenwerkes, Johann Wolfgang Hammann, Versuche zur Porzellanherstellung finanziert, die vermutlich aber erst durch das spätere Zusammenwirken mit den beiden Greiners und Dümmler zu rechtem Erfolg führten. Sitzendorf als Sitz des Macheleid'schen

„Präparationswerkes"

war der unmittelbare Vorläufer der ersten erfolgreich produzierenden Manufaktur, die 1762 in Volkstedt gegründet wurde und, wie das Schumannsche Lexikon hervorhebt, die „Mutter aller Porzellanfabriken im Umkreis von 14 Meilen ist" 53 . Diese Formulierung kann man nur unter Vorbehalt akzeptieren, denn eine direkte Filialbildung ist von hier aus nicht nachweisbar. Wenn von einem solchen Vorgang überhaupt zu sprechen ist, so in Zusammenhang mit den Aktivitäten der Greiners. Drei Gruppen dieses Namens - allesamt wahrscheinlich Nachfahren der seit Ende des 16. Jh. in Lauscha nachweisbaren, aus Schwaben zugewanderten Glasmachers Hans Greiner 5 4 - treten hervor. Die Limbacher kennen wir bereits. 1762 erhielten sie die Konzession für die Herstellung von Porzellan, die sie aber erst zehn Jahre später aufnehmen konnten. Mit Hammann und dessen Sohn gründeten sie in der Zwischenzeit (1764) den Betrieb in Wallendorf. Die Namen Johann Gotthelf Greiners und seiner Söhne tauchen im Zusammenhang mit weiteren Unternehmen (Groß-Breitenbach, Ilmenau, Kloster Veilsdorf, Schmiedefeld) auf. Die Glücksthaler Greiners werden im Zusammenhang mit den Manufakturen Kloster Veilsdorf, Hüttensteinach, Rauenstein und Tettau aktenkundig, die Lauschaer stehen ebenfalls für Rauenstein und Kloster Veilsdorf zu Buche. Diese kleine Zusammenstellung ist sicher noch nicht vollständig. Sie erfaßt keinesfalls alle Thüringer Greiners, die im 18. und zu Beginn des 19. Jh. auf diese oder jene Weise mit dem Porzellan zu schaffen hatten und deren Namen auch bei anderen als den im Vorangehenden gesamten Unternehmen zu finden sind. Stieda führt in seiner detaillierten Darstellung über die Anfänge der Porzellanfabrikation auf dem Thüringer Walde 32 Greiners auf, die damals in dieser Branche arbeiteten5^. Das soll natürlich nicht heißen, daß alle älteren Betriebe allein dieser weitverzweigten Sippe Entstehung und Bestand verdankten. Eine Reihe von Manufakturen, so Altenburg, Blankenhain, Eisenberg, Gotha, Pößneck und Schleiz, sind nicht mit ihr in Zusammenhang zu bringen. Andere, wie Kloster Veilsdorf und Ilmenau, kamen erst nach Jahren oder Jahrzehnten durch Kauf oder Pacht mit den Greiners in Verbindung. Doch bleibt ihre Rolle in der Thüringer Porzellanproduktion unbestritten. Sie haben ein gut Teil dazu beigetragen, sie bereits während des 18. Jh. in dieser Breite zu entfalten. Von 22 Manufakturen, die bis 1840 im Untersuchungsbereich - außer Meißen - über das Experimentieren hinaus zu erfolgreicher Arbeit kamen, waren sie bei 13 entweder als Gründer, Inhaber, Teilhaber oder Pächter engagiert.

Nach diesem Exkurs in den auch volkskundlich nicht uninteressanten Grenzbereich zwischen Familiengeschichte und Manufakturentwicklung soll die Aufmerksamkeit nun der Binnenstruktur, genauer gesagt, der Arbeitsteiligkeit dieser Betriebe gelten. Sie ist, 53

Schumann, a. a. O., XI, S. 169.

54

Lebensbeschreibung des Gotthelf Greiner zu Limbach, Erfinder des Thüringer Porzellans. 1732 bis 1797. In: Culturhistorische Bilder aus dem Meininger Oberlande, I.II., Hildburghausen 1876, S. 3 f. (im folgenden zit. „Leben Greiner").

55

Wilhelm Stieda, Die Anfänge der Porzellanfabrikation auf dem Thüringer Walde, Jena S. 4 0 6 f. Über die Erzeugnisse dieser Manufakturen

1902,

orientiert die umfangreiche Arbeit von

Richard Graul und Albrecht Kurzwelly, Altthüringer Porzellan. Beiträge zur Geschichte der Porzellankunst im X V I I I . Jahrhundert, Leipzig 1909.

WEINHOLD

184

das sei vorausgeschickt, im V e r g l e i c h zur a n d e r e n K e r a m i k p r o d u k t i o n unseres Territoriums am höchsten entfaltet. B e s o n d e r s deutlich w i r d d a s b e i m Spitzenbetrieb dieser Branche, in M e i ß e n . D e r a m 18. Januar 1 8 0 1 zu P a p i e r gebrachte Statutenentwurf

der V e r e i n i g t e n W i t w e n -

und

W a i s e n k a s s e n , deren F i n a n z i e r u n g d i e d o r t i g e n M a n u f a k t u r a r b e i t e r zu g r o ß e n T e i l e n selbst bestritten (s. u. S. 2 1 2 ff.), trägt d i e Unterschriften der in der M a n u f a k t u r Beschäftigten m i t genauer A n g a b e ihres Berufs 5 6 . A u s g e w i e s e n w e r d e n so i n s g e s a m t 4 6 0 Personen, d i e direkt o d e r mittelbar a m A r b e i t s p r o z e ß beteiligt w a r e n . 4 3 4 d a v o n sind M ä n n e r , 26 (beruflich nicht spezifizierte) Frauen. B ö h m e r t nennt für 1 8 0 0 d i e Z a h l v o n 5 3 7 B e schäftigten 5 7 . D i e D i f f e r e n z zu unseren A n g a b e n m a g sich e n t w e d e r aus einer g e w i s s e n F l u k t u a t i o n o d e r auch dadurch erklären, d a ß d i e a u s g e w e r t e t e L i s t e h e u t e nicht mehr kontrollierbare Lücken hat. Für d i e hier zur Erörterung s t e h e n d e F r a g e ist dies v o n minderer Bedeutung. Die unmittelbare Produktion, zu der auch die Arbeit der 26 im Bereich der Formgebung und der Malerei beschäftigten Frauen zu rechnen ist 58 , gliederte sich in vier Hauptabschnitte. Den ersten bildet die Massebereitung. Mit ihr waren 29 Personen befaßt. Insgesamt 123 Arbeitskräfte gaben dem zubereiteten Rohstoff die gewünschte Form. Dem Malerkorps gehörten 152 Personen an. Eine weitere große Gruppe bildeten jene 58 Arbeiter, die der Ware in einem mehrfachen, stufenweisen Brand die endgültige Qualität verliehen. D i e Stapelung des fertigen Gutes und seinen Verkauf besorgten 28 Kräfte. Des weiteren beschäftigte die Manufaktur 29 Leute, die für die Instandhaltung und die Bedienung von Anlagen, die Materialverwaltung sowie Zuarbeiten und Dienstleistungen verantwortlich waren. In der Administration des für die damalige Zeit sehr großen Betriebes waren 15 Beamte und Büroangestellte tätig. Damit ergibt sich für die Wende vom 18. zum 19. Jh. folgende zahlenmäßige Struktur der Meißner Manufaktur (wobei die Daten als Annäherungswerte gelten müssen). Mit der Porzellanherstellung direkt waren 388 Arbeitskräfte beschäftigt ( = 84,4%), davon 380 unmittelbar in der Produktion, während die restlichen 8 als Aufseher fungierten - was nicht heißt, daß sie damit ganz und gar von den Leistungen entbunden gewesen wären, die ihre Untergebenen zu bringen hatten. Doch ihre relativ hohen „Tractament"-(Zeit-)Löhne heben sie von der Masse der anderen Produzenten ab, die entweder in niedrigerem Zeitlohn oder in Stücklohn arbeiteten. Neben dieser großen Gruppe stehen die Kategorien Handel mit 28 ( = 6 % ) und - abgekürzt formuliert - Zuarbeit mit 29 Personen ( = 6,3%). Die Administration bildete mit 15 Beamten und Angestellten die kleinste Personaleinheit ( = 3,3%) des Betriebes. Eine im Prinzip ähnliche Gliederung und Arbeitsteilung) läßt sich aus den Daten erschließen, die etwa zur gleichen Zeit von einigen Thüringer Porzellanmanufakturen erhalten blieben. Allerdings sind 60

57

58

Staatsarchiv Dresden, Amtsgericht Meißen, Nr. 92 Acta Commissionis. Die von den Mahler - Former - Poussierer - und Diener-Corps, auch übrigen bey der Churfürstlichen Porcellaine-Manufaktur zu Meißen in Dienst und Pflichten stehenden Personen, unterthänigst gesuchte Confirmation Dreyer besonderer zu Versorgung ihrer nachgelassenen Wittben und Wayßen unter sich errichteten Institutionum charitativarum betr. (1766-1829), fol. 214 ff. Victor Böhmert, Urkundliche Geschichte und Statistik der Meissner Porzellanmanufactur von 1710 bis 1880 mit besonderer Rücksicht auf die Betriebs-, Lohn- und Kassenverhältnisse. In: Zeitschrift des K. Sächsischen Statistischen Bureaus (Dresden) 26 (1880) S. 62. Ebenda, S. 69 (nach der Lohnstatistik von 1778 waren damals bereits 10 Frauen in der Gestaltungsbranche und 22 in der Malereibranche tätig).

Keramikproduktion und -Produzenten

185

die Dimensionen dieser Betriebe nicht mit denen des Meißner Unternehmens zu vergleichen. So beschäftigte die Manufaktur in Rauenstein 5 9 im Jahre 1 8 0 2 ohne die „Holzmacher", Tagelöhner und Fuhrleute rund 1 2 0 Personen. D e r noch wesentlich kleinere Betrieb in Ilmenau 6 0 zählte 1 7 8 6 insgesamt 33 K ö p f e . Rund 1 0 0 Menschen gingen um 1815 in dem Limbacher Unternehmen der Porzellanproduktion nach. D a s Schumannsche Lexikon 6 1 spezifiziert 71 von ihnen nach Berufssparten. E i n e Reihe weiterer K r ä f t e waren im Vertrieb tätig oder arbeiteten als Holzspalter, Fuhrleute und Tagelöhner. E i n e spezifische Form des Arbeitsverhältnisses wird für die Thüringer Manufakturen erstmals in Wallendorf sichtbar. Aus ihr zogen die Hammanns als Betriebseigentümer Vorteil. Sie verkauften während der beiden letzten Jahrzehnte des 18. Jh. einen erheblichen Teil ihrer W a r e noch undekoriert an die zwei Wielandtschen Firmen in Regensburg. Diese gaben sie auf dem W e g e des Verlags an „Porzellanmalergesellschaften". D i e veredelte W a r e vertrieben sie dann auf eigene Rechnung donauabwärts nach Wien und in die türkisch beherrschten Gebiete 6 2 . D i e Hammanns aber sparten auf diese W e i s e Lohnkosten und (Farb-)Rohstoff. Ein solches Verfahren senkte die Zahl der Beschäftigten nicht unerheblich. O b möglicherweise schon damals auch andere, in gleicher Richtung wirkende Faktoren eine Rolle spielten, wird noch zu erörtern sein. Jedenfalls waren in Wallendorf mit seiner nachweisbar sehr umfangreichen Produktion 6 3 selbst während einer Konjunkturperiode zwischen 1 7 9 4 und 1 7 9 8 nicht mehr als 35 bis 5 0 Arbeiter in der Massenbereitung, beim Drehen, Formen, Malen und Brennen tätig 6 ' 1 . Kloster Veilsdorf beschäftigte 1809, ehe die bayerischen Konkurrenzunternehmen im Obermainkreis in vollen Gang kamen, 4 8 Produzenten 65 , Gotha etwa zur gleichen Zeit ( 1 8 0 3 )

deren

3S 6 6 . Im Jahre 1 8 2 9 war ihre Zahl auf 51 gestiegen 67 , lag also immer noch weit niedriger, als sie schon wesentlich früher in Rauenstein und Limbach betragen hatte. Diese beiden Betriebe dürften dementsprechend einen für den Thüringer Beieich überdurchschnittlichen Personalbesatz aufgewiesen haben. Einem Vergleich mit der hochdifferenzierten Meißner Manufaktur können sie sich

freilich

nicht stellen. Diese summierende Darstellung der Fertigung von verschiedenen Gattungen der w a r e im

Untersuchungsgebiet

soll in e i n i g e a b s c h l i e ß e n d e

Ton-

Ü b e r l e g u n g e n

münden. Eindeutig

e r k e n n b a r ist d i e T a t s a c h e ,

ersten Jahrzehnten

des

18. Jh.

d a ß auf dem gesamten Territorium

die m a n u f a k t u r e i l e

B e t r i e b s w e i s e

seit

den

in

die

keramische Produktion eindrang, und zwar auf d e m W e g e über die neuen G e n r e s :

die

F a y e n c e , d a s P o r z e l l a n u n d d a s S t e i n g u t . N u r d a s P o r z e l l a n ist e i n e g e n u i n e S c h ö p f u n g . D i e b e i d e n a n d e r e n V a r i a n t e n sind I m p o r t e - d i e F a y e n c e m i t e i n e r l a n g e n G e s c h i c h t e , die ihre W u r z e l n im alten V o r d e r e n Orient hat, das Steingut mit kurzer Ahnenreihe, die nach E n g l a n d führt. I m Unterschied zur F a y e n c e erfolgt d i e Steingutfertigung frühzeitig in M a n u f a k t u r e n .

D i e F a y e n c e h e r s t e l l u n g d a g e g e n w u r d e e r s t in e i n e m

geschichtlich s p ä t e n S t a d i u m v o n d i e s e r n e u e n , d i e k a p i t a l i s t i s c h e n M

Schumann, a. a. O., V I I I , S. 7 9 9 ; Stieda, a. a. O., S. 3 5 4 .

60

Stieda, a. a. O., S. 2 9 7 .

61

Schumann, a. a. O., V , S. 7 3 9 f.

61

Stieda, a. a. O., S. 110, 139 f.

61

Ebenda, S. 123 ff.

64

Ebenda, S. 108.

65

Ebenda, S. 190 f.

66

Ebenda, S. 2 5 3 f.

67

Ebenda, S. 2 5 7 .

entwicklungs-

Produktionsverhält-

186

WEINHOLD

nisse einleitenden B e t r i e b s w e i s e e r f a ß t . D i e s e r f o l g t e w ä h r e n d d e s 17. J h . in F r a n k r e i c h und den N i e d e r l a n d e n . M i t den F a y e n c e w e r k s t ä t t e n f a ß t d i e M a n u f a k t u r d a n n e r s t m a l i g F u ß i m k e r a m i s c h e n Schaffen unseres G e b i e t e s . P a r a l l e l d a z u ist sie v o n B e g i n n a n i m P o r z e l l a n e t a b l i e r t , ja, sie e n t f a l t e t sich d o r t z u m T e i l m i t f e u d a l s t a a t l i c h e r F ö r d e r u n g ( M e i ß e n ,

Kloster

V e i l s d o r f , G o t h a ) zu beachtlichen D i m e n s i o n e n . A l l e r d i n g s v o l l z o g sich d i e s e E n t w i c k lung, mit A u s n a h m e M e i ß e n s , erst seit der zweiten H ä l f t e des 18. J h . D e r F a y e n c e geschah d a d u r c h zunächst kein A b t r a g . D a s b e s o r g t e n d a n n seit 1 7 8 0 / 9 0 z u n e h m e n d d i e Steingutmanufakturen. -

N a c h d e m Prinzip d e r A r b e i t s t e i l i g k e i t w a r e n , d a s sei hier

ergänzt, wahrscheinlich auch einige „ F a b r i k e n " f ü r T a b a k s p f e i f e n ( A l t s t a d t - W a l d e n b u r g , G r i m m a , G ö r l i t z , D r e s d e n ) strukturiert. Die Zahl der in dieser neuen Betriebsform insgesamt Beschäftigten ist nur annähernd zu bestimmen. 1775 dürften es bei 8 Fayence- und 6 Porzellanmanufakturen und 12 Tonpfeifenfabriken etwa 900 bis 1 100 Personen 68 gewesen sein, wobei allerdings rund 600 auf Meißen entfielen69. Zwischen 1800 und 1810 arbeiteten noch drei Fayencemanufakturen sowie einige Königsbrücker Handwerksbetriebe, die eine Ware dieser Art (und wohl auch Steingut) herstellten, des weiteren 12 Steingutmanufakturen, von denen eine (die DöH'sche in Altenburg) zusätzlich Porzellan produzierte, und 16 Porzellanmanufakturen. Drei davon (Blankenhain, Eisenberg, Groß-Breitenbach) fertigten auch Steingut an. Dazu kommen rund 25 Tonpfeifenfabriken, die damals wahrscheinlich ihre Hochkonjunktur erlebten. Die Gesamtzahl der in allen diesen Unternehmen Tätigen mag etwa zwischen 1 300 und 1 900 gelegen haben, wobei der Anteil Meißens diesmal 500 beträgt. Das bedeutet gegenüber 1775 eine Steigerung um 45 bis 7 0 % . Setzt man die Zahl von Meißen ab, so liegt der Zuwachs für die anderen Manufakturen noch wesentlich höher, nämlich bei 1 6 5 - 1 8 0 % . Grundlage dieser Entwicklung ist, wie aus unseren Daten abzulesen ist, die Entstehung neuer Unternehmen. Trotz des Verfalls der Fayenceproduktion stieg die Gesamtzahl der Betriebe (ohne die Königsbrücker Werkstätten) von 26 im Jahre 1775 ( = 100%) auf 56 zwischen 1800 und 1810 ( = 2 1 5 % ) . Bis zur ersten Hälfte der dreißiger Jahre des 19. Jh., die die obere Grenze des uns interessierenden Zeitraumes markieren, verfiel die Fayenceproduktion nahezu vollständig. Lediglich der Messerschmidtsche Betrieb in Dresden arbeitete noch auf diesem Sektor. Doch produzierte er nebenher Steingut70, ein Zeichen, daß die Zeit der zinnglasierten Ware als Gebrauchsgut radikal zu Ende ging. Die Steingutmanufaktur hatte zwar ihre erste Blüte - in den Jahren der Kontinentalsperre — schon lange hinter sich, erwies sich aber mindestens bis 1835 noch recht lebenskräftig. Das zeigt die Zahl von 11 Betrieben, die damals nachweisbar sind. Sie wird allerdings von der der Porzellanmanufakturen (20) nahezu um das Doppelte übertroffen. Dagegen ist die Pfeifenfertigung absolut zurückgegangen. Man darf zu dieser Zeit wohl noch mit 5 Betrieben rechnen, die insgesamt kaum mehr als 30 bis 50 Menschen beschäftigten. Die Herstellung von Tabakspfeifenköpfen ist an die Steingut- und Porzellanmanufakturen übergegangen. Der Vertrieb dieser - nunmehr auch farbig dekorierten - Ware sicherte einen beachtlichen Aktivposten in ihren Bilanzen. Über die Zahl der Arbeiter dieser Unternehmen orientieren nur wenige Daten. Der Personalbesatz scheint im Durchschnitt gestiegen zu sein. Die 1821 gegründete Steingutmanufaktur in der Steiermühle 68

69 70

Dabei wird von folgendem Besatz pro Betrieb ausgegangen: Fayence 10-12 Personen; Porzellan 30-50 Personen; Pfeifenherstellung 5 - 1 5 Personen; Steingut 15-20 Personen. Böhmer, a. a. O., S. 62. Weinhold 1978, S. 120 f.

Keramikproduktion und -Produzenten

187

beschäftigte anfangs 28 Personen. Nach mancherlei Wechselfällen - der Gründer nahm sich nach einem Konkurs das Leben 7 1 - erfolgte die Reorganisation und Erweiterung des Betriebes. Sie spiegelt sich in der Zunahme des Arbeiterbestandes. Hubertusburg hat zu dieser Zeit kaum weniger Produzenten als 1815 (71) in Lohn gehabt. Man kann also nunmehr mit einem Durchschnitt von 25 bis 30 Personen pro Betrieb rechnen. Die Porzellanmanufakturen sind in dieser Hinsicht noch schwerer zu schätzen. Das liegt nicht nur an mangelnder Dichte der Information, sondern auch an dem frühzeitig üblichen Prinzip, die im Verlag tätigen Maler, die einen oft nicht unerheblichen Teil der geschrühten oder fertig gebrannten Ware übernahmen und dekorierten, nicht zur Belegschaft zu zählen. Denn sie übten ihre Tätigkeit nicht in den Fabrikationsräumen, sondern als Heimarbeit gegen geringen Lohn und mit allen dazu fähigen Familienangehörigen aus. Geschäftstüchtige Unternehmer, wie die bereits erwähnten Regensburger Wielandts, konnten dabei zu gutem Gewinn kommen. Erste Nachrichten, die diese Art der Ausbeutung im Produktionsgebiet selbst belegen, liegen aus Wallendorf vor. Hier besaß

Georg

Heinrich Hutschenreuter ein „Geschäft", in dem er weißes Porzellan aus der im gleichen Ort gelegenen Manufaktur dekorieren ließ 72 . Dieser Betrieb zählte 1797 laut Auskunft seiner Rechnungsbücher 50 Arbeitskräfte (s. o. S. 185). Eine Aufzeichnung in den Gerichtsakten im Wallendorfer Pfarrarchiv allerdings spricht bereits 1786 von 250 Menschen, die die „Fabrik" beschäftigt habe. 73 Der scheinbare Widerspruch -

Stieda als sachkundiger Geschichtsschreiber der älteren Thüringer

Porzellanproduktion hält diese Angabe „für völlig unzutreffend"7,4 -

löst sich höchstwahrscheinlich,

wenn man die Hutschenreuterschen Verlagsmaler zur Belegschaft der Manufaktur hinzuzählt. Inwieweit und wann dieses System noch bei anderen Betrieben üblich war, kann generell nicht festgestellt werden. Wallendorf ist vermutlich ein früher Fall. Wir zogen ihn deshalb nicht in unsere Berechnung ein. Hinweise aus der zweiten Hälfte des 19. Jh. jedoch lassen den Schluß zu, daß sich der „Malverlag"

damals verschiedenenorts

bereits seit längerer Zeit eingebürgert hatte. So

be-

schäftigte Volkstedt 1863 neben 8 Drehern, 12 Malern und 20 Formern „zahlreiche auswärtige Arbeiter" 75 . Dem Wesen der Produktion entsprechend - man kann im Heimwerk weder drehen noch brennen -

müssen dies Maler, wahrscheinlich mit ihren Familienangehörigen, gewesen sein. Einen

Einblick in die Relation zwischen dem Fabrikstamm und den im Verlag Schaffenden schließlich gibt die Nachricht, daß für die 1864 errichtete Porzellanfabrik Katzhütte um 1890 rund 300 Personen innerhalb des Betriebes werkten, während rund 600 Familien durch Verlagsarbeit an ihn gebunden waren7®. Man kann diese nach Vollendung der industriellen Revolution eingetretenen Verhältnisse nicht ohne weiteres, vor allem nicht mit solchen Dimensionen, in ältere Zeit zurückprojizieren.

Aber

Wallendorf dürfte damals nicht ganz allein gestanden haben. Die Vermutung liegt nahe, daß Gotha und Kloster Veilsdorf mit ihren gegenüber Rauenstein und Limbach niedrigen Beschäftigtenzahlen früher oder später ähnliche Wege gegangen sind. Aber auch für die beiden größeren Betriebe, zu denen 1816 Blankenhain mit 155 Arbeitskräften aufschloß 77 , bot sich der Malverlag als Profit71

Rolf Naumann, Zur Geschichte der Steingutfabrik Steyermühle bei Siebenlehn/Sa., Nossen 1977

72

Stieda, a. a. O., S. 107.

73

Ebenda, S. 106.

(Mskr., hektographiert), S. 18.

74

Ebenda.

75

Herbert Kühnert, Die thüringischen Fayencen-, Porzellan- und Steingutfabriken des 18. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte und Altertumskunde (Jena) 45 ( N F 37 [1943]) S. 276.

76

Ebenda, S. 257.

77

Ebenda, S. 242.

188

WEINHOLD

quelle an. D i e

ihnen benachbarten

W a l d d ö r f e r mit einer beständig in Nahrungssorgen

Bevölkerung garantierten Ressourcen

an Personal, das zudem nicht ohne Vorbildung

lebenden

(s. u. S. 1^92)

für die neue Tätigkeit war. Möglicherweise hat also ein erheblicher T e i l der 19 Thüringer Manufakturen, von denen

zwei

(Blankenhain, Groß-Breitenbach) nebenher auch Steingut produzierten, diese Art von Verlagsbeziehungen schon um 1 8 3 0 genutzt. D i e Zahl der auf solche W e i s e ausgebeuteten Männer, Frauen und K i n der bleibt im dunkeln. Sie könnte beachtlich gewesen sein, wenn die Beobachtungen über die Hutschenreuterschen

Praktiken

zu W a l l e n d o r f

verallgemeinerungsfähig

wären.

Bedauerlicherweise

ist

man

dieser Frage bei der Untersuchung der sogenannten Hausindustrien Thüringens 7 8 bisher kaum nachgegangen. D a s T h e m a Malverlag bleibt Forschungsdesiderat. E s hat deshalb keinen Sinn, die Zahl der in dieser W e i s e ausgebeuteten Arbeitskräfte zusätzlich in Rechnung zu stellen. W i r müssen uns vorläufig mit jenen Ziffern zufrieden geben, die aus konkreten Beobachtungen direkt oder indirekt zu schließen sind. D e r entsprechende Ansatz für die 11 Steingutmanufakturen (s. o. S. 1 8 6 ) beträgt pro Betrieb 2 5 bis 3 0 Personen. D e r Durchschnittswert für die 2 0 Porzellanmanufakturen 1 8 3 5 rund 3 6 0

dürfte bei 7 0 bis 8 0 Menschen gelegen haben (Meißen beschäftigte um

Personen). Dementsprechend hätte die zu dieser Z e i t nachzuweisende

Gesamtzahl

der in allen diesen Unternehmen als Arbeiter, Meister, Angestellte oder B e a m t e Tätigen zwischen 2 1 0 0 und 2 3 0 0 betragen. D i e s e Summe liegt um rund 3 5 % über den Werten kurz nach der Jahrhundertwende (ohne M e i ß e n sogar um reichlich 6 0 % ) , während die Zahl der B e t r i e b e im Vergleich zu dieser Zeit um 3 4 %

(von 5 6 auf 3 7 ) zurückging. D e n Hauptteil der erloschenen

Unternehmen

machen die Tonpfeifenfabriken aus. Dagegen nahmen die Porzellan produzierenden B e t r i e b e um vier zu. Wahrscheinlich lag bei ihnen, wie unsere die Verlagsbeziehungen betreffenden

Beobachtungen

vermuten lassen, die Beschäftigtenzahl noch erheblich höher, als sie hier im Durchschnitt angesetzt ist.

Offen blieb die Frage nach der beruflichen Herkunft und Vorbildung der Manufakturarbeiter. Man muß hier etwas nach Branchen differenzieren (obgleich sich zwischen ihnen gerade auf diesem Gebiet sehr interessante Beziehungen beobachten lassen). Am klarsten noch ist die Lage innerhalb der Fayenceproduktion. Hier liegen zum Teil recht eindrucksvolle Untersuchungsergebnisse vor, die die Zu- und Abwanderung qualifizierter Kräfte erkennen lassen. Sie zeigen, daß sich zwischen den einzelnen Manufakturen ein häufiger, in seiner Intensität jedoch wechselnder Personalaustausch vollzog, dessen Grundlage das Bestreben der Eigentümer war, ihrem Betrieb einen Fundus von ausgewiesenen Facharbeitern zu garantieren. Dabei hat die Abwerbung in verschiedener Form sicher eine erhebliche Rolle gespielt. Aber auch die Aktivitäten der begehrten „Meister" - so bezeichnen sie sich oft selbst, und die Spezialliteratur ist ihnen bis in die jüngste Zeit darin gefolgt 79 - selbst muß man in Rechnung stellen. Treibende Kraft für den oft mehrmaligen Werkstattwechsel war zum einen das Streben nach günstigerem Verdienst, dessen Akkumulation den Aufbau des erstrebten eigenen Unternehmens vorbereiten sollte, des weiteren aber auch die Hoffnung, am anderen Arbeitsort ver78

Emanuel Sax geht in seiner Abhandlung ( D i e Hausindustrie in Thüringen, T . 1 - 3 , J e n a 1 8 8 5 bis 1 8 8 8 ) auf diese Branche nicht ein. D i e Angaben Ernst R . Fugmanns ( D e r Sonneberger W i r t schaftsraum, Halle 1 9 3 9 , S. 2 0 9 ff.) über die „Winkelmaler" in der Porzellanindustrie

basieren

auf D a t e n vor allem aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie unterstützen in verschiedener Hinsicht die Vermutung,

daß das der Ausbeutung

dieser Arbeitskräfte zugrundeliegende

system schon vorher existierte (besonders S. 2 1 0 betr. die Malerfamilie E n z ) . 79

So etwa Hüseler, a. a. O . , I, S. 5 ff.

Verlags-

Keramikproduktion und -Produzenten

189

besserte oder neue technische bzw. künstlerische B e d i n g u n g e n anzutreffen, ja, vielleicht sogar eigene B e s t r e b u n g e n in dieser Richtung zu verwirklichen. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht der Lebensweg des Johann Samuel Friedrich Tännich80. Geboren wurde dieser bemerkenswerte Mann 1728 im ca. 10 km westlich von Lommatzsch gelegenen Dorfe Zschochau. Einen Teil der Grundkenntnisse seines Faches erwarb er sich als Maler in der Meißner Porzellanmanuiaktur. Von dort wechselte er in die Fayence. Mit dem neuen Metier machte er sich beim Hannongschen Unternehmen in Straßburg vertraut, wo er 1750 bis 1754 arbeitet. Im folgenden Jahr (1755) taucht sein Name jedoch wieder in den Meißner Akten auf 8 1 : Er ist Mitunterzeichner und Gründungsmitglied der Witwen- und Waisenkasse des Malercorps der Manufaktur. Doch besonders lange scheint es ihn dort nicht gehalten zu haben. 1757 wanderte er in Richtung Straßburg zurück, diesmal aber nach der in Frankenthal gelegenen Hannongschen Porzellanmanufaktur, wo er dann als Aufseher über das Malercorps eine leitende Stellung einnimmt. Dort blieb er bis 1759. In diesem Jahr zog es ihn erneut zurück zur Fayence. Er wird Mitbegründer der Manufaktur Wittmund/ Ostfriesland. Doch bereits Anfang 1760 schied er hier aus und wechselte ins nahe gelegene Jever, wo er wiederum einen Betrieb dieses keramischen Genres installiert. 1763 schließlich rief er die (vierte) Kieler Fayencemanufaktur ins Leben, der er bis zu seinem Weggang 1768 vorstand. Dann kehrt er Norddeutschland endgültig den Rücken und nimmt in Torgau Quartier. An diesem Orte nämlich sollten, wie aus einem unter dem 7 . 9 . 1768 datierten Schreiben des sächsischen Regenten Prinz Xaver an sein Geheimes Consilium hervorgeht, alle Vorkehrungen getroffen werden, um „eine mit der Meißner Porcelaine Manufactur gewißermaßen combinierte, und mit selbiger unter einer Direction stehende Fayence-Manufaktur anlegen zu lassen" 82 . Das Projekt wurde schon seit 1767 erörtert. Als Leiterin des Unternehmens war jene Christiane Sophie Hörisch im Gespräch, die sich zu eben dieser Zeit um den Erwerb der verwaisten Louayschen Manufaktur in Dresden bemühte. Das Geheime Consil hatte sie auf einen entsprechenden Antrag „dahin zu disponieren gesuchet, daß sie lieber an einem anderen Orte hiesiger Lande, und vornehmlich zu Torgau eine Fayence-Manufactur anlegen möchte"83. Die Hörisch wollte jedoch wegen familiärer Bedingungen lieber in Dresden bleiben und lehnte ab. Dafür trat nun als neuer Kandidat Tännich auf den Plan. Er erbot sich, den gewünschten Betrieb in Gang zu bringen und forderte dazu ein Anlagekapital von 12 500 Talern 84 , eine Summe, die zu erbringen die dafür ins Auge gefaßte Meißner Manufaktur sich außerstande erklärt. Überraschenderweise fand sich nun Tännich bereit, die Sache auf eigene Kosten in Gang zu bringen, sofern man ihm nur sein bis dahin gewährtes Salär von 400 Talern weiter zahle und die für eine Manufaktur geeigneten Räumlichkeiten im rund 30 km weiter südlich, nahe Oschatz gelegenen Schloß Hubertusburg zur Verfügung stellen würde. Dort seien Holz sowie Lebensmittel wohlfeiler und die Kosten für den Umbau geringer als beim Torgauer Projekt, für das Räumlichkeiten des Schlosses Hartenfels in Aussicht genommen worden waren. Auch hätte sich der am neuen Ort anstehende Ton als besser und brauchbarer erwiesen. Den - zunächst erfolgreichen — Fortgang von Tännichs Unternehmen wollen wir hier aus80

81 82

83 84

Berling, a. a. O., S. 4 ff.; Ulrich Thieme und Felix Becker, Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 32, Leipzig 1938, S. 400 f.; Hüseler, a. a.O., I, S. 143 ff.; II, S. 258 f. Staatsarchiv Dresden, Amtsgericht Meißen, Nr. 92 (9. 11. 1755). Staatsarchiv Dresden, Loc. 1419 (Schreiben des Regenten Xaver an die Geheimen Räte vom 7. 9. 1768). Ebenda, Vortrag des Consiliums vom 6. 8. 1767. Berling, a. a. O., S. 4 f.

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klammern. Uns interessiert vielmehr das abrupte Ende. In einem Schreiben, das der Oberstallmeister Graf von Lindenau am 28. 1. 1774 an seinen Landesherrn richtete, werden merkwürdige, ja peinliche Hintergründe sichtbar. Es zeigt sich, daß Tännich nur der Strohmann dieses feudalen Hofmannes war, der ihn zu diesem Zeitpunkt bereits „wegen mancherley Ungebürnisse" von seinem Posten abgeschoben hatte 85 . Worin diese Vergehen bestanden, erfahren wir nicht. Vermutlich waren die Fakten zu dürftig oder auch zu entlarvend für die gräflichen Machinationen, als daß sie offen anzuführen gewesen wären. Jedenfalls hatte der Mohr seine Schuldigkeit getan - seine Kenntnisse bei der Betriebsgründung umgesetzt - , nun konnte er gehen. Zwei Jahre darauf (1776) legte Lindenau „aus patriotischem Eifer und zur Beförderung des höchsten Interesses die Hubertusburger Fayencefabrik mit allem Zugehörigen ohne alles Entgelt dem Kurfürsten zu Füßen", der sie dann auch gnädigst annahm. Für den Höfling sprang dabei zum „gnädigsten Andenken" ein Porzellanservice heraus, sein Bruder erhielt eine Pension von 600 Talem 86 . Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß auch Lindenau nur eine vorgeschobene Figur war, die im Auftrage der Meißner Manufaktur und damit letztlich des Kurfürsten agierte. Der Betrogene jedenfalls war allein Tännich. Er hatte sein Wissen und seine technische Fähigkeiten gegeben und wurde gefeuert, als man alles Notwendige aus ihm herausgeholt hatte. Vom in der Kurpfalz gelegenen Mosbach aus, wo er 1776 wieder eine Fayencemanufaktur übernahm und auf eigene Rechnung, später dann als Direktor bis 1781 führte, konnte er das weitere Schicksal des Hubertusburger Betriebes verfolgen. Mit dem Übergang in kurfürstliche Hand, unter der Leitung des Meißner Manufakturdirektors Marcolini, etablierte sich das Unternehmen als erste sächsische Produktionsstätte für Steingut. Das Schicksal dieses Mannes w i r d in vieler Hinsicht kein Einzelfall gewesen sein. Er repräsentiert eine Gruppe der technischen Intelligenz, die wesentlich an der Entfaltung der neuen kapitalistischen Betriebsform mitwirkte, aber oft nur mit erheblichen Einschränkungen in den Genuß des Ertrages ihrer Bemühungen kam. Ihre objektiven Verdienste liegen in der Akkumulation und der Vervollkommnung des fachlichen Wissens. Der Mehrzahl dieser „Meister" gelang es jedoch nicht, eigene, stabile Manufakturen zu gründen. So mancher verlor sein Vermögen in kurzlebigen Unternehmen oder wurde, wie Tännich, von ökonomisch Stärkeren, die im vorliegenden Falle auch die politische Macht innehatten, um den Ertrag seiner Mühen geprellt. Der Fall Tännich ist jedoch auch in anderer Hinsicht aussagekräftig. W i r sahen ihn zeitweise pendeln zwischen Porzellan und Fayence. Solches Wechseln ist im 18. Jh. nichts besonderes. Ein geradezu klassisches Beispiel dafür liefern die Angehörigen der Familie von Löwenfinck, die, gleich Tännich aus der Meißner Malerwerkstatt kommend, wesentliches sowohl bei der Gründung und technischen Leitung von Fayencemanufakturen als auch in der Gestaltung des Dekors ihrer Erzeugnisse leisteten 87 . Und im Schatten dieser Großen der Keramik taten zahlreiche kleine „Fabrikanten" ähnliches. Stiedas Untersuchung über die frühen Thüringer Porzellanmanufakturen führt dazu zahlreiche Belege an. In diesen Betrieben lassen sich M a l e r und Bossierer, aber auch Dreher nachweisen, die aus alten Fayencezentren (Ludwigsburg, Kassel, Ansbach, Bayreuth, Hagenau, Magdeburg, Crailsheim, Rudolstadt) kommen 88 . Daneben vollzog sich auch im 85 86 87 88

Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 8. Hüseler, a. a. O., II, S. 274 ff.; Walcha, a. a. O., S. 67 ff. Stieda, a. a. O., S. 66, 272 f., 344, 362 f.

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Rahmen der Porzellanproduktion ein Austausch der Arbeitskräfte. Er scheint allerdings auf Grund des hier von den Unternehmern ausgeübten Trucksystems (s. u. S. 196) in Grenzen gehalten worden zu sein. Doch nirgendwo in diesen Manufakturen läßt sich ein Zugang aus Meißen belegen. Sicher ist das in erster Linie darauf zurückzuführen, daß man dort Abwanderungen nach Möglichkeit verhinderte. Erfolgten sie dennoch, so versuchten die vergleichsweise gut ausgebildeten Facharbeiter, wie wir bei Tännich und den von Löwenfincks sahen, anderwärts ihr Glück in leitenden technischen oder künstlerischen Funktionen zu machen auch und gerade in der Fayence. Die Thüringer Betriebe scheinen damals für solches Avancement nicht attraktiv genug gewesen zu sein - wohl einfach deshalb, weil sie zu wenig Chancen boten. Aber die Stiedaschen Listen der Porzellanarbeiter belegen neben der Fluktuation der Fachkräfte recht eindrucksvoll ein Zweites: den Prozeß der Qualifikation der neu in das Milieu der Manufaktur Eintretenden. Limbach, eines der ältesten Unternehmen, stützte sich von Beginn an auf einen Stamm von Arbeitern, die aus den Dörfern der Umgebung kamen - und zwar im eigentlichen Sinn des Wortes, denn sie nahmen Tag für Tag den Weg von ihrem Heimatort zum Betrieb und wieder zurück unter ihre Füße89. Das muß bei den teilweise erheblichen Entfernungen und den nicht selten zu überwindenden Höhenunterschieden besonders während der Wintermonate eine harte Sache gewesen sein. Wir finden diese Männer aus Lauscha, Alsbach, Friedrichshöhe, Siegmundsburg, Steinheid, Scheibe und Neumannsgrund nicht nur als Brenner, sondern auch als Maler, Former und Dreher unter den Personalzugängen des Unternehmens verzeichnet. Sie stellten also durchaus nicht nur die untere Kategorie der Manufakturarbeiter. Ihre Qualifikation erwarben sie zum Teil im Betrieb. Das betrifft vor allem die Dreher und Former für den Fall, daß bei ihnen nicht bereits in Handwerkstöpfereien erworbene Kenntnisse weiter zu spezialisieren waren. Aber solche Voraussetzungen dürften kaum die Regel gewesen sein. Beim einmal ausgebildeten Stamm vererbte sich der Beruf dann oft in der Familie, ging das technische Wissen vom Vater auf den Sohn über. Das ist in Thüringen ebenso wie in Meißen zu beobachten und ähnelt rein äußerlich dem im Töpferhandwerk Üblichen - nur, daß hier das Erbe der Kenntnisse meist mit einem ebensolchen der Werkstatt verbunden war, während der Manufakturarbeiter sich auf diese Weise günstigenfalls den Platz an der Drehscheibe sichern konnte. Nicht so deutlich wie bei den mit der Formgebung der Ware Befaßten erkennbar sind die Voraussetzungen und Vorgänge bei der Ausbildung der Maler. Es gibt in Thüringen ebenso wie in Meißen solche für Blau und andere für Bunt. Aber sicher durchliefen die Thüringer Maler keine solche strenge, lange Schule wie ihre Genossen von der Elbe. Trotzdem, das beweisen die Ergebnisse, brachten es viele von ihnen, sicher zunächst auch unter Anleitung von zugewanderten Fachleuten, zu hoher künstlerischer Fertigkeit90. Diese Beobachtung führt zur Frage, ob derartige Fähigkeiten nicht auch aus einheimischer Tradition haben wachsen können. 89 90

Schumann, a. a. O., V, S. 740 f.; Stieda, a. a. O., S. 65 ff. Stieda, a. a. O., S. 110 f.

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Eine sichere Antwort darauf ist nach dem derzeitigen Stand der Forschung nicht möglich. Aber es gibt einige Indizien, die solche Vermutungen stützen. Das erste ist das einer örtlich zeitweise recht engen Verbindung der aufkommenden Porzellanindustrie mit der alteingesessenen Glasproduktion. Ein Paradebeispiel liefert Gotthelf Greiner, der selbst aus dieser Branche komimt und ihr, wie seine Autobiographie (s. u. S. 202) erkennen läßt, zunächst mit Leib und Seele ergeben war 91 . Ohne das mit dem Betrieb der Limbacher Glashütte zusammengebrachte Kapital, zu dessen Erweiterung er auch das Erbteil seiner Frau einsetzte, hätte er die kostspieligen und zeitraubenden Versuche in Richtung Porzellan nicht finanzieren können92. Das Unternehmen selbst mit seinen Baulichkeiten bildete den Grundstock der späteren Manufaktur. Die Vermutung liegt nahe, daß mindestens ein Teil der Arbeiter, unter ihnen die Glasmaler, mit in den neuen Betrieb übergegangen ist. Leute dieser künstlerischen Qualifikation gab es aber nicht nur in Limbach, sondern während des 17. und 18. Jh. auch an vielen Orten, vor, auf und hinter dem Wald 93 . Möglicherweise bestand ihr Kontakt mit der Keramik schon, ehe sich die Porzellanproduktion eingebürgert hatte. Darauf läßt manche formale und inhaltliche Ähnlichkeit zwischen Glas- und Fayencedekor schließen. Neben dieser Bezugslinie wird man eine zweite wenigstens in Betracht ziehen müssen. Sie führt in einen Sektor der sogenannten Hausindustrie: die - meist in Wismuttechnik ausgeführte - Schachtelmalerei. Von Sonneberg aus, wo sie'um 1670 bereits innungsmäßig organisiert war, breitete sie sich während des 18. Jh. nach weiteren Orten, vorzugsweise auf dem Walde, aus94. Als die Eigentümer der neugegründeten Porzellanmanufakturen Ausschau hielten nach geeigneten künstlerischen Kräften, wird ihnen dieses Reservoir geübter Leute, die ebenso wie die Glasmaler ihr Werk oft über Generationen vererbten, nicht entgangen sein. Wir vermuten, daß sie nur einen Teil von ihnen in die Betriebe zogen, während andere, wie der Fall Hutschenreuter in Wallendorf nahelegt, der Ausbeutung geschäftstüchtiger Verleger verfielen. Sie wechselten dann im Rahmen des gleichen Abhängigkeitsverhältnisses nur das Metier und den Dienstherren. Zu dieser Gruppe gehörten mit Sicherheit auch Frauen und Kinder, die als Familienangehörige auf diese oder jene Weise ins Malerwerk einbezogen wurden. In Meißen lagen die Dinge etwas anders. Wir möchten uns, da Struktur, Ausbildungsverfahren und Personal dieser Manufaktur mehrfach eingehend behandelt worden sind95, auf einige Feststellungen beschränken. Zunächst rekrutierten sich die Angehörigen dieses Betriebes aus dem Handwerk und der Fayenceproduktion, dazu aus einigen künstlerischen Berufen und, soweit es den Abbau der Kaolinerde und den Umgang mit dem Arkanum betraf, zu einem Teil aus dem Berg- und Hüttenwesen. Doch bald sah man sich gezwungen, einen eigenen Arbeiterstamm heranzubilden. Die Dreher und Former 91

Leben Greiner, S. 1 2 ff.

92

Ebenda, S. 4 1 , 5 6 f.

93

Felix Pischel, Thüringer Glashüttengeschichte, Weimar 1 9 2 8 ; Schmolitzky 1 9 6 4 , S. 6 9 ff.

94

Schmolitzky 1 9 6 4 , S. 1 0 9 .

95

Böhmert, a. a. O-, S. 6 9 ; Helmut Gröger, Die Arbeits- und Sozialverhältnisse in der Staatlichen Porzellan-Manufaktur im 18. Jahrhundert. In: Forschungen aus mitteldeutschen Archiven. Zum 60. Geburtstag von Hellmut Kretzschmar, Berlin 1 9 5 3 , S. 1 6 6 ff.

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hatten eine Lehrzeit von 6 Jahren, die Maler, bei deren Ausbildung etwa seit 1732 zunehmend eine Verschulung zu beobachten ist, eine solche von 7 Jahren. In anderen großen Sektoren der Manufaktur Beschäftigte dagegen erhielten keinerlei systematische Qualifizierung. Zu ihnen zählen beispielsweise die Schlämmer, Masseschneider, Tontreter, Brenner, Verglüher, Materialarbeiter, Holzspeller, Kohleklopfer und Heizer. Hier wurde die Werkerfahrung in der täglichen Praxis vom Älteren zum Jüngeren weitergegeben. Es unterscheiden sich nach Form und Grad der Ausbildung also deutlich zwei große Gruppen von Werktätigen, die in sich wiederum mehrfach gegliedert sind. Dies widerspiegelt sich auch und gerade in der unterschiedlichen Höhe der Löhne. Während qualifizierte Maler nach einer Aufstellung von 1778 jährlich im Durchschnitt 188 bis 338 Taler, Bossierer, Former, Formenstecher und Dreher 178 bis 294 Taler verdienten, lag das entsprechende Einkommen eines Schlämmers bei 98, eines Gutbrenners bei 114 und eines Verglühers bei 90 Talern. Tagelöhner, wozu man die Materialarbeiter, Holzspeller und Kohlenklopfer rechnen muß, bilanzierten das Jahr mit durchschnittlich 55 Talern 96 . Ganz außerhalb unserer Überlegungen blieben bisher die Verhältnisse beim Steingut. Das hat seinen Grund im Stand der Forschungen über diesen Sektor der Keramik. Hier klaffen im Vergleich zu Fayence, Porzellan, aber auch zur Handwerksware ganz erhebliche Lücken. Man kann sich beim Studium der spärlichen Literatur des Eindrucks nicht erwehren, daß dieses Genre in seiner Geschichte, seiner künstlerischen Aussage, aber auch hinsichtlich seiner - sich wandelnden - Funktion und in seiner Stellung zu den anderen Gattungen ganz einfach unterschätzt worden ist. Die Kunstgeschichte, die sich des Porzellans und der Fayence recht liebevoll annahm, hat dieser Ware seit zwei Menschenaltern kaum noch Aufmerksamkeit geschenkt. Der Volkskunde schien das Steingut als „Fabrikprodukt" ebenfalls wenig beachtenswert. Und auch sozialgeschichtliche Untersuchungen, so die an sich materialreiche Studie von Stieda, behandeln das Thema nur an Rande. Eigentlich hat nimand so recht zur Kenntnis genommen, daß diese Ware nach ihrem Rokoko- und Empire-Stadium, als sie sich noch auf den Tischen des avancierten Bürgertums sehen lassen durfte, in vieler Hinsicht das Erbe der volkstümlichen Fayence des 18. Jh. übernommen und im ökonomisch-sozialen Wandel der Folgezeit zu neuem Ausdruck geführt hat. Eine Analyse der Fakten, Prozesse und Zusammenhänge dieser Entwicklung unter volkskundlich-kulturellem Aspekt steht aus. Sie könnte Einsichten vermitteln sowohl in bestimmte Bereiche der Lebensweise von Produzenten und Kosumenten des Steinguts als auch hinsichtlich der Ästhetik des volkstümlichen bildnerischen Schaffens im Vorfeld der industriellen Revolution. 96

Böhmert, a. a. O., S. 69. Vergleichbare Werte für Thüringen sind aus dieser Zeit nicht erreichbar. Lohnangaben bei Stieda, S. 1 9 6 f. (für Wallendorf) lassen erkennen, daß Dreher und Maler rund 20 Jahre später (1794/95) etwa den gleichen Verdienst erreichten. - Zu den Gründen für diese in damaliger Zeit teilweise sehr hohen Löhne und die erhebliche Lohndifferenzierung innerhalb der Manufaktur (s. Traute Scholz, Meißen, betriebsgeschichtliche Anregungen durch eine Festschrift. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1977, T. 4, S. 1 9 9 ff.). Die Verf. geht in ihrer sehr aufschlußreichen Stellungnahme (S. 205) auch auf die subjektiven Auswirkungen der manuell-künstlerischen Arbeit sowie der sozialen Privilegierung bestimmter Gruppen von Produzenten ein, speziell hinsichtlich ihrer Bewußtseinsbildung. Allerdings beziehen sich die entsprechenden Angaben vorwiegend auf die Situation im 19. Jh.

13 Volksleben

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Wir müssen uns also vorläufig, was die Hersteller dieser Ware betrifft, mit Vermutungen begnügen. Ein nicht unerheblicher Teil der mit der Formgebung und dem Brennen beschäftigten Arbeiter wird aus dem Handwerk sowie aus Fayencemanufakturen (diese Vermutung liegt insbesondere nahe für Hubertusburg, Abtsbessingen und Gera-Untermhaus) gekommen sein. Daneben muß man mit angelernten Hilfskräften rechnen, die vorzugsweise beim Gießen der Stücke eingesetzt wurden. Die Zurichtung von Holz und Kohle dürften, ähnlich wie im Porzellan, Tagelöhner besorgt haben. Dagegen verlangte die Herstellung der Masse Spezialkenntnisse, die sicher nur wenige beherrschten. Inspektor Förster, der als Nachfolger Tännichs die Umrüstung von Hubertusburg auf Steingut leitete, hat zwei Jahre gebraucht, ehe er das richtige Rezept dazu fand 97 . Solch langes Experimentieren konnte sich ein Privatunternehmer kaum leisten. Man muß deshalb annehmen, daß er versuchte, einen in der Sache erfahrenen Werkmeister zu gewinnen, wenn er nicht selbst etwas davon verstand. Ein reizvolles, leider beim derzeitigen Stand der Kenntnisse ebenfalls nicht zu lösendes Problem schließlich ist die Herkunft der Maler. Die auf uns überkommenen farbig dekorierten Stücke - vor allem die Teller - zeigen eine Vielfalt von Handschriften und Motiven. Dabei stehen neben unbeholfenen, steifen oder sichtlich von Schemata abhängigen Darstellungen (Abb. 24) nicht wenige, die erstaunlichen Geschmack und routiniertes Können verraten (Abb. 25, 26). Bevorzugtes Thema sind Blumen und Pflanzenwerk. Aber auch landschaftlich eingebundene Architektur findet sich gelegentlich (Abb. 27). Manche dieser Motive erinnern an die Auszier des Porzellans. Weitere Anregungen hat ohne Zweifel der im Umdruckverfahren aufgebrachte Dekor des englischen und französischen Steinguts vermittelt. Nicht zuletzt muß man schließlich an Vorlagen denken, die sich von außer-keramischen Bereichen anboten. So ist beispielsweise das Landschafts- und Architekturbild im ersten Drittel des 19. Jh. ein häufig frequentiertes Thema volkstümlichen Möbeldekors. Diese Beobachtungen zeigen, daß das Steingut-Malercorps recht unterschiedlicher Herkunft sein kann. „Verschult" im Sinne von Meißen war es bis zur industriellen Revolution mit Sicherheit nicht. Manches bei ihm könnte an die heterogenen Gruppen von Arbeitern erinnern, die das Thüringer Porzellan dekorierten. Aber das sind vorläufig nur Vermutungen. Klarheit kann nur eine intensive historische und vergleichende Untersuchung bringen, die sowohl Erzeugnis als auch Produzenten in ihre Betrachtungen einbezieht. Trotz der mitunter recht spärlich vorliegenden Informationen soll im weiteren versucht werden, einige Einblicke in die L e b e n s b e d i n g u n g e n der unmittelbaren Produzenten zu gewinnen. Dabei sei vorausgeschickt, daß quantitative Fragen der Löhne und ihrer Entwicklung hier ausgeklammert bleiben. Statistisches Material zu diesem Thema liegt teilweise vor. Seine Aufarbeitung würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Zwei qualitative Aspekte der E n t l o h n u n g sollen uns dagegen etwas näher beschäftigen, weil sie in einer Reihe von Manufakturen und wohl auch in vielen Hand-

97

Beding, a. a. O., S. 11

Keramikproduktion und -Produzenten

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werksbetrieben erheblichen Einfluß auf die Lebensweise der Arbeiter und ihrer Familien ausübten. Generell existierten in der keramischen Produktion unseres Territoriums nebeneinander der Zeit- und der Stücklohn. Letzterer dominierte seit alters im Handwerk, wo man das Arbeitsentgelt für das Drehen und Beschicken noch zu Beginn des 20. Jh. nach Brettern bzw. Spießen berechnete98. Meist war in dieses System auch das .Engobieren, Bemalen und Glasieren sowie Brennen der Ware direkt oder indirekt einbezogen, soweit für diese Tätigkeit keine Spezialkräfte beschäftigt waren. Aber das dürften zu unserer Zeit noch Ausnahmefälle gewesen sein. Über die entsprechenden Lohnverhältnisse bei den Fayencemanufakturen sind wir nicht unterrichtet. Sie werden im Prinzip ähnlich gelegen haben: Der Stücklohn dominierte bei der Fertigung. Dagegen waren die Leistungen der Brennhausarbeiter nur im Zeitlohn zu entgelten. Vielleicht kam er auch bei durch Form und Dekor herausragenden Sonderanfertigungen in Ansatz. Deutlich wird die Differenzierung beider Lohnformen - von den Verhältnissen beim Steingut müssen wir aus den oben angeführten Gründen vorläufig leider absehen - im Bereich des Porzellans. Hier liegen detaillierte Nachrichten aus Meißen 99 (für 1778) und Wallendorf 100 (aus den 90er Jahren des 18. Jh.) vor. Sie lassen gewisse Unterschiede erkennen. Zeitlohn (Tractament) erhielt in Meißen zum ersten das leitende Personal (Obermaler, Oberdreher, Aufseher bei den Formern und bei den Brennöfen). Des weiteren bezogen ihn diejenigen, deren Arbeit nicht oder nur teilweise nach einer Zahl von Objekten gemessen werden konnte: die Polierer, Buntglasierer, Ringler, Farbenreiber, Beschikker, Masse- und Maschinenarbeiter, Deckelreiber, Lagergehilfen und alle, die mit dem Brand der Ware zu tun hatten. In diese Kategorie gehörten weiter 25% der Bossierer, Former und Dreher sowie 7 % der Maler. Wahrscheinlich sind es diejenigen, die mit zeitaufwendigen Sonderanfertigungen beschäftigt waren. Schließlich rechneten hierzu die Lehrlinge an der Scheibe und reichlich die Hälfte derjenigen, die mit dem Pinsel arbeiten lernten. Sie bezogen ein kleines Salär, das sich im Laufe der Ausbildungszeit etwas steigerte. In Stücklohn stand die Mehrzahl jener, die der Masse auf diese oder jene Weise Form gaben, sowie die Maler aller Genres. Zu den letzteren gehörten auch einige Lehrlinge wahrscheinlich solche, die die Anfangsgründe ihres Werkes bereits beherrschten. Ihr Durchschnittseinkommen lag dementsprechend reichlich dreimal so hoch wie das ihrer Mitschüler im Tractament. Die etwa 20 Jahre jüngeren, auf Dreher und Maler bezüglichen Angaben aus Wallendorf zeigen ein teilweise anderes Bild. Die Dreher arbeiteten im Stücklohn. Eine Reihe von ihnen rechnete dabei nach „Compagnien" ab. Zu solchen Kooperationen schlössen sich jeweils 2 bis 4 Personen zusammen. Nicht selten werkten hier Vater und Sohn miteinander. Der Gesamtlohn wurde am Wochenende durch die Zahl der „Compagnie"98 99 100

13*

Weinhold 1958, S. 85. Böhmert, a. a. O., S. 69. Stieda, a. a. O., S. 1 1 3 ff.

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Mitglieder geteilt. Stand ein jüngeres Mitglied der Gruppe noch im Lehrverhältnis, so zog der ausbildende „Lehrherr" dessen Geld für sich ein und gab ihm nur einen Teil davon als Wochenlohn. Diese Regelung, eine Art verdeckte Ausbeutung, die den Manufakturarbeitern untereinander zugestanden wurde, galt auch bei den Blau- und Buntmalern, die ebenfalls wöchentlich nach Stück abrechneten. Solche vom Manufaktureigentümer legitimierte Ungleichheit, zu der noch die ihm erheblichen Vorteil bringende, auch in Meißen übliche Minderbezahlung der weiblichen Arbeitskräfte kommt (sie verdienten für die gleiche Tätigkeit im Durchschnitt 50% des Entgelts ihrer männlichen Kollegen), verblaßt jedoch beinahe vor einem Modus, der in einigen Thüringer Unternehmen sicher nachweisbar ist, aber wahrscheinlich eine größere Verbreitung fand: den Lohnbetrug durch das Trucksystem. Dieses Verfahren, nach dem den unmittelbaren Produzenten ein mitunter nicht unerheblicher Teil ihres Verdienstes in Form von Naturalien und Kleidungsstücken (Schuhwerk) ausgezahlt wurde, ist in Wallendorf seit der Betriebsgründung nachzuweisen101. Später kam dazu noch Porzellan. Der Vorteil des Manufaktureigentümers dabei liegt auf der Hand. Das angeblich „zur Bequemlichkeit der Arbeiter" - so Stieda, dessen Darstellung hier aufs Haar derjenigen der von Friedrich Engels102 bissig glossierten englischen Apologeten des Kapitalismus gleicht - eingerichtete System der Entlohnung verhalf dem Manufaktureigentümer zur doppelten Ausbeutung seiner Produzenten. Ähnliches geschah, wie eine Eingabe des Entrepreneurs Gräbner für sein Ilmenauer Unternehmen vom 17. 1. 1782 belegt103, auch in anderen Thüringer Manufakturen. So hatten neben dem bereits genannten Wallendorf auch Limbach, Veilsdorf und GroßBreitenbach mit ihrer Konzessionierung von der Feudalobrigkeit das - den niederen Bergfreiheiten (s. S. 27) entsprechende - Privileg erhalten, „für die Fabrik zu backen, schlachten und brauen, soviel als ihre Arbeiter davon brauchen". Zu wessen eigentlichem Nutzen dieses Vorrecht lief, wird sichtbar, wenn wir dann weiter lesen, daß der „ziemlich starke Lohn der Fabrikanten (d. h. der Manufakturarbeiter) . . . auf diese Consumtion und was dem Prinzipal davon wieder zu Gute kommt mit berechnet (ist); und eine Fabrick, die diese Freyheit nicht hat, und ihre Arbeiter baar auslohnen muss, arbeitet folglich immer mit weniger Vortheil . . . " . Gräbner erstrebte (und erhielt dann wohl auch) die Gleichstellung mit jenen Unternehmern, auf die er sich berief. Für Kloster Veilsdorf hat Renate Gauß entsprechende Erhebungen angestellt. Sie kann aus den Fabrikrechnungen zwischen 1766 und 1779104 die Teilentlohnung in Porzellan und den Verkauf der auf Grund der oben genannten „Freyheit" erzeugten Waren an die Arbeiter belegen. Eine weiter von ihr konstatierte, zusätzliche Quelle von Profit bedeutete für den fürstlichen Eigentümer des Unternehmens, Prinz Friedrich Wilhelm Eugen von Sachsen-Hildburghausen, die Herstellung von „Fabrikmünzen", wohl eine Art Porzellangeld. Ihre Verwendung in der Lohnauszahlung zwang die Produzenten, 101

Ebenda, S. 119.

102

M E W 2, S. 401.

103

Stieda, a. a. O., S. 312 f.

104

Renate Gauß, D i e Arbeiter der Porzellanmanufaktur Kloster Veilsdorf (1760 bis 1862). In: Kultur und Lebensweise des Proletariats. Kulturhistorisch-volkskundliche Studien und Materialien, Berlin 1973, S. 65.

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einen wesentlichen Teil ihres Verdienstes in der Manufaktur selbst umzusetzen, weil diese „Währung" nur mit Verlust außerhalb des Unternehmens eingelöst werden konnte. Insgesamt trug dieses Trucksystem „hier wie anderswo wesentlich dazu bei, die ökonomische Abhängigkeit und die Verschuldung der Porzellanarbeiter zu verstärken" 105 . Lohnprobleme ähnlicher Art hatten wahrscheinlich auch die Gesellen in den Handwerksbetrieben. Jedenfalls berichtet der Königsbrücker Hermann Neumann aus eigener Erfahrung in einer 1885 von ihm publizierten Broschüre, daß bis zum Anfang der 70er Jahre in den Töpfereien dieses Ortes das „in Kost Stehen" allgemein üblich war 106 . Dabei zog der Meister dem Gehilfen einen oft willkürlich hoch angesetzten Teil des Lohnes für die in seinem Hause eingenommenen Mahlzeiten ab. Auch dieses Verfahren festigte die wirtschaftliche Abhängigkeit der Gesellen von den Werkstattbesitzern, die sich dann entsprechend in ihrer persönlichen Stellung ausdrückte. Man betrachtete sie seitens des Meisters und seiner Familie als untergeordnete Hausgenossen, die ohne weiteres geduzt wurden. Wir dürfen diese Verhältnisse wohl ohne Bedenken in unsere Untersuchungsperiode zurückprojizieren und als weithin verbreitet voraussetzen. Neumann vermittelt auch einen Einblick in die zu seiner Gesellenzeit und sicher auch schon zwei bis drei Generationen früher herrschenden A r b e i t s b e d i n g u n g e n und beschreibt die Unterbringung der unverheirateten Gehilfen. Die Werkstätten seien „niedere, finstere Löcher" gewesen. Nach zwölfstündiger, beim Brennen aber rund um die Uhr währender Schinderei waren auch die letzten Kräfte verbraucht. Besonders verhaßt war das Treten des Tons, das in vierzehntätigem Abstand meist sonnabends ausgeführt wurde. Auch im Winter mußte die ohnehin kalte Masse mit den bloßen Füßen durchgearbeitet werden. Um den durchgefrorenen Körper aufzuwärmen, trank man billigen Fusel. Der Alkohol habe in der Töpferei oft eine unselige Rolle gespielt - wieviel Zank, Schlägerei und Krankheit seien auf seine Rechnung zu setzen. Man habe ihm oft zugesprochen, denn auch jede noch so unsinnige Werkstattstrafe wurde in Schnaps zugemessen: Vergaß einer der Gesellen beispielsweise, einen Topf zu henkeln, so war er einen Liter schuldig. Der gleichen Buße verfiel er, wenn er vom angefangenen Werkstück aufstand, ohne die Schiene (ein Formholz) hinein zu legen, weil dann ein anderer das Recht hatte, es fertig zu drehen. Vom W o h n e n , so Neumann, hätte in den meisten Fällen eigentlich gar nicht so recht die Rede sein können. Außer Werkstatt und Brennhaus standen den Gesellen für den Aufenthalt nur die Schlafräume, in der Regel kümmerliche Dachkammern, zur Verfügung. In diesen engen, niedrigen Gelassen, die nicht selten voller Ungeziefer steckten, standen manchmal sechs bis acht Betten. An Schlaf war oft kaum zu denken. Da die Decke des Raumes vom Dach gebildet wurde, verhinderte ihn im Sommer die von ihnen ausgestrahlte Hitze und im Winter die Kälte. Wenn dann die Ziegel von fingerdickem Reif überzogen waren, verbrachten die Gesellen die Nacht lieber im Brennhaus oder gar im Ofen, um nicht in die eisige Kammer steigen zu müssen, 105

Ebenda.

106

Hermann Neumann, Die Ursachen der gedrückten Lage der Scheibenarbeiter im Töpfereigewerbe und Vorschläge zu deren Abhilfe. (Die Flugschrift ist offensichtlich in keine öffentliche Bibliothek aufgenommen worden und deshalb nicht mehr aufzufinden. Hier zitiert nach Richter a. a. O. (s. Anm. 1), S. 37 ff.).

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Leider besitzen wir aus den Reihen der Manufakturarbeiter bisher kein Zeugnis, das in seiner Aussagekraft diesem Bericht gleichzustellen wäre. Die überkommenen Bilder und Beschreibungen informieren meist über die Betriebsgebäude, weniger schon über ihr Interieur. In gewissen Grenzen spiegelt sich in der Aufgliederung mancher Anlagen die Arbeitsteiligkeit des Produktionsprozesses wider. Nach einer Beschreibung aus dem Jahre 1781107 bestand das - wahrscheinlich 1840 durch Feuer vernichtete - Limbacher „Etablissement" aus einem Wohn- und Vorratshaus, das Gotthelf Greiner mit den Seinen bewohnte, einem „Fabrikhaus", in dem gedreht, geformt und gemalt wurde, einer Hütte zur Massebereitung, zwei Brennhäusern sowie einigen kleineren Wohn- und Wirtschaftsgebäuden. Schließlich gab es noch ein Wirtshaus, dessen Erträge vermutlich dem Betriebseigentümer zuflössen. Die meisten der damals 50 Arbeiter wohnten in sieben Häusern des Ortes, einige auch in den umliegenden Dörfern. Man muß also annehmen, daß die Limbacher Wohngebäude jeweils mehrere Haushaltungen beherbergten. Ein ähnliches Bild der Baulichkeiten ergibt sich aus dem Kaufkontrakt, der 1783 den Übergang der Wallendorfer Porzellanfabrik von Wolfgang Hammann auf dessen Sohn kodifizierte108. Der Gesamtwert des Betriebes läßt sich danach auf knapp 7 000 Reichstaler berechnen. Er setzte sich zusammen aus dem „Fabriquehaus", in dem die Massebereiter, Dreher und Maler tätig waren, einigen Brennhäusern, der Glasurmühle, der Einschmelzhütte mit einem Holzschuppen und einem Neubau, der „zur Fabrik und allenfalls zur Unterbringung von Arbeitern" bestimmt war. Weiter gehörte dazu ein Backhaus nebst Vieh- und Schweinestallungen - sachliche Voraussetzung für das bereits erwähnte Trucksystem. Im Zusammenhang damit ist interessant, daß Hammann senior an seinen Sohn gleichzeitig, zum Preis von 1 250 Reichstalern, das im benachbarten Lichte gelegene sogenannte Schwarzburgische Wirtshaus veräußerte. Es waren also alle Bedingungen dafür geschaffen, daß ein erheblicher Teil der Lohngelder über den Lebensund Genußmittelkonsum wieder in die Taschen des Manufaktureigentümers zurückfloß. Die Mehrzahl der Wallendorfer Arbeiter wohnte offenbar - im Gegensatz zu Limbach - nicht unmittelbar bei der Fabrik. Daran scheint sich auch in den folgenden 50 Jahren nicht viel geändert zu haben, denn in einer 1833 datierten Verkaufsurkunde des gleichen Betriebs109 - sein Wert ist inzwischen auf 72 000 Gulden (rund 41 150 Taler) angewachsen - werden unter den 11 Gebäuden lediglich zwei Wohnhäuser sowie „die sogenannte Schichtmeisterwohnung" aufgeführt. So muß man wohl annehmen, daß die meisten der unmittelbaren Produzenten in Wallendorf und Lichte hausten, in enger Nachbarschaft vielleicht mit den Heimarbeitern des Hutschenreutherschen Malverlages. Die Dichte der Hausbelegung müßte dann ganz erheblich gewesen sein. Man ist bei solchen Überlegungen geneigt, die Schilderung der menschenunwürdigen Wohnzustände bei den Sonneberger Heimarbeitern, die Sax um 1880 aus eigenem Erleben beschrieb110, auf die Verhältnisse zu übertragen, die in Wallendorf, Lichte und auch Limbach zwei bis drei Generationen vor dieser Zeit herrschten. 107 108 109 110

Stieda, a. a. O., S. 52 f. Ebenda, S. 92 f. Ebenda, S. 95. Sax, a . a . O . , T. 1, S. 38 f.

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„ D i e Wohnungen - so Sax - bestehen gewöhnlich aus Stube und Kammer, die Räume sind niedrig und von Haus- und Handwerksgeräthe vollgestopft. Schmucklos ist das Innere, ärmlich der Hausrat . . . A m Ofen ist eine Vorrichtung angebracht, um heißes Wasser zu halten; der aufsteigende Wasserdunst schlägt sich in der kälteren Schlafkammer nieder und vermehrt dort die natürliche Feuchtigkeit. D i e Arbeitsstube, zugleich Küche und Wohnstube . . . ist gewöhnlich licht, ihre Fenster gehen auf die G a s s e ; dagegen die Kammer ist selten ventilirbar und noch seltener ventiliert. Sie enthält gerade Raum genug für 2 oder 3 Betten, die so nahe beisammenstehen, daß zwischen ihnen kein Durchgang frei bleibt . . . Nachts dient jedes Bett 2 Personen zur Lagerstätte, oft schlafen 3, nicht selten 4 Personen beisammen in einem Bett, 2 mit dem K o p f e nach aufwärts und 2 nach abwärts. Man schaudert zurück vor dem Elend, das einem hier begegnet."

M a g sein, daß um 1800 manches noch nicht in dieser Schärfe ausgeprägt war. Aber die Verhältnisse sind prinzipiell sicher nicht viel anders gewesen. Denn schon 1845 kam ein hoher Staatsbeamter Sachsen-Meiningens nach der Lektüre von Friedrich Engels „ L a g e der arbeitenden Klasse in England" zu der niederschmetternden Feststellung, daß die in dieser. Untersuchung festgehaltenen Beobachtungen über die entsetzlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Proletarier ohne Zweifel im Meininger Land wiederholbar seien oder jedenfalls bald sein würden 111 . O b Meißen in diese Prognose einbezpgen werden kann, scheint einigermaßen fraglich. Die Manufakturarbeiter bildeten zusammen mit ihren Angehörigen einen nicht unerheblichen Teil der städtischen Gesamtbevölkerung. 1750 betrug er etwa ein Viertel. Erst nach der Jahrhundertwende ging er allmählich zurück. D i e Mehrzahl der Arbeiterfamilien lebte in den Dörfern Ober- und Niedermeisa sowie in den unter Kreisgerichtsbarkeit stehenden Amtsvorstädten Fischergasse, Vorbrücke, Hintermauer, vorm Lommatzscher Tor und „auf denen sogenannten Stuffen". D a s geht aus einem im Mai 1740 abgefaßten Verhandlungsprotokoll hervor, dessen Gegenstand die Weigerung dieser Leute bildet, Haus- und Schutzgenossengeld zu zahlen und Gerichtsfolge zu leisten 112 . Man will diese Sonderstellung seitens des Amtes aber offenbar nur jenen zur Miete Wohnenden gewähren, die als Arkanisten, Maler, Dreher oder in anderer Weise „zum innerlichen Wesen der Manufactur" gehören. Ausgenommen bleiben dabei ganz ausdrücklich die „ab- und zugehenden Handarbeiter, Tagelöhner, Holzspälter, auch . . . einige Weiber, welche das Mooß zum Einpacken bey der Fabrique zum Verkauf!" heranbringen. Diese Bemerkungen lassen erkennen, daß der überwiegende Teil der Manufakturarbeiter nicht innerhalb des alten Mauerringes wohnte. Sie saßen als Hausgenossen auf Miete in den Häusern der Vorstädte. Zu Grundstückseigentum hatten es damals erst 111

112

Wilhelm Engel, Wirtschaftliche und soziale K ä m p f e in Thüringen (insonderheit im Herzogtum Meiningen) vor dem Jahre 1848, Jena 1927 (Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde, N F , Beih. 11), S. 132. Staatsarchiv Dresden, Loc. 37999 Rentherey Acta, Derer bey der Porcelain Manufactur zu Meißen in Pflichten und Diensten stehenden Fabricanten und Handarbeiter angebrachte Beschwerde, sowohl wegen Erlegung eines gewissen Hauß- und Schutz Genoßen Gelder, wie auch wegen beschehenen Auffgeboths zur Gerichts Folge bey der Regerischen Exekution betr. Ao 1740/1741, fol. 1 f., 3 v, 5 v.

200

WEINHOLD

sehr wenige, beispielsweise Höroldt, gebracht. Denn dazu gehörte mehr Geld, als sich zunächst einmal selbst ein Arkanist auf die Seite legen konnte. Diese im ganzen negativen Verhältnisse - die Arbeitsbedingungen dürften sich im Prinzip bei der Manufaktur nicht grundlegend von denen des Handwerks unterschieden haben - trugen dazu bei, die L e b e n s e r w a r t u n g der unmittelbaren Produzenten relativ niedrig zu halten. Als weiterer Faktor in dieser Richtung wirkte die mangelhafte, einseitige E r n ä h r u n g , die sich nicht wesentlich von der Kost der Handwerkerfamilien und der Heimarbeiter unterschied. Kartoffelspeisen in verschiedener Form, dazu Brot, Brei, Hülsenfrüchte und Mehlklöße nennt ein aus Erinnerungen um die Wende vom 18. zum 19. Jh. schöpfender Bericht über die Situation im Thüringer Wald. In begrenztem Rahmen darf man dazu wohl auch Milchprodukte - mehr von der Ziege als von der Kuh - fügen. Sonntags kam noch „dürres" Fleisch, also Geräuchertes, auf den Tisch. Man kochte im Stubenofen und aß gemeinsam aus einer Schüssel113. Es nimmt deshalb nicht wunder, wenn frühe Berichte, die allerdings erst nach der Mitte des 19. Jh. von der Obrigkeit angefordert wurden, die Lungentuberkulose als die Krankheit schlechthin bei den Meininger Porzellanproduzenten konstatieren11'1. Sie hat sicher nicht erst seit dieser Zeit und nur in diesem Territorium zur hohen Sterblichkeitsquote der Manufakturarbeiter beigetragen115. Man versuchte zwar, wie ein amtsärztliches Gutachten über die Verhältnisse im Wallendorfer Unternehmen erkennen läßt, die Trunksucht und Ausschweifungen der Leute als Hauptgrund dafür vorzuschieben. Daß solche, ohne Zweifel vorhandene, Demoralisierung aus den Bedingungen entsprang, unter denen das gesamte Leben der Arbeiter stand, übersah man geflissentlich, wollte es wohl auch nicht zur Kenntnis nehmen. Ein Blick allein in die Produktionsstätten mit ihrer Feuchtigkeit, ihrem Staub, ihrem Wechsel von Hitze und Abkühlung hätte wesentliche Erkenntnisse über die wirklichen Ursachen dieses Mißstandes vermittelt - von den oben geschilderten Wohnverhältnissen ganz zu schweigen. Trotzdem sollte man jedoch unsere Manufakturarbeiter keineswegs als ganz und gar von Trauer umschattet sehen. Im Gegensatz zu den Handwerksgesellen, aber auch zur bäuerlichen Bevölkerung, fällt vor allem ihr relativ niedriges H e i r a t s alter auf. Diese Tatsache ist in erster Linie auf ihre relative ökonomische Unabhängigkeit zrückzuführen, die sie noch dazu meist ziemlich früh gewannen. Die lange Lehre der Meißner Maler ist hier kein Regelfall. Man kann annehmen, daß die Ausbildung zum Former, Beschicker oder Massebereiter, soweit sie überhaupt schon in zeitliche und sachliche Normen geronnen war, nicht mehr als drei bis vier Jahre umfaßte. Danach war der junge Mann ein Facharbeiter und, das ist von Bedeutung, unabhängiger als der dazumal noch zum Wandern verpflichtete Geselle. Wahrscheinlich stand er, wenigstens in Konjunkturperioden und bei florierenden Betrieben, sich zeitweise auch finanziell besser als jener. 113

Culturhistorische Bilder aus dem Meininger Oberlande, I (Auszug aus dem W e r k e „Industrie und Handelsgeschichte des Meininger Oberlandes"), Hildburghausen 1 8 7 6 , S. 6.

m

Gauß, a. a. O., S. 67.

115

In Meißen hat daneben die Silikose als Todesursache eine erhebliche Rolle gespielt (Böhmert, a. a. O., S. 7 1 ) .

Keramikproduktion und -Produzenten

201

So schritt er, wie eine zeitgenössische, ebenfalls aus dem Meininger Land stammende Nachricht vermeldet, „sehr jung zur Heirat, und die Ehe ist bald mit vielen Kindern gesegnet . . ," 116 . Dem Manufakturbesitzer konnte dies nur recht sein. Denn ein Arbeiter mit Familie war seltener als ein Junggeselle geneigt, die Stellung zu wechseln. Dabei förderte die sonst objektiv als Fessel der Produzenten wirkende Fabrikgerichtsbarkeit solches Bestreben, weil sie - konträr zur Auffassung vieler Landesgesetze - Vermögenslosen die Heirat nicht grundsätzlich untersagte. Diese ökonomische und soziale Sonderstellung konnte Vorteile bringen. Sie verlieh dem, der sie in normalen oder guten Zeiten genoß, ein S e l b s t b e w u ß t s e i n , brachte ihm mit zunehmendem Alter kritische Einsicht, die Weltoffenheit und, trotz vieler Mißstände, Lebensbejahung einschloß. Renate Gauß hat dies bei den „Fabrikanten" von Kloster Veilsdorf auf Grund zeitgenössischer Zeugnisse in treffender Weise herausgearbeitet117. Man wird die Gültigkeit ihrer Feststellungen auch auf andere damals existierende keramische Betriebe für Porzellan und Steingut erweitern dürfen. Doch mag diese Haltung, die einer bestimmten Lebensweise entsprach, besonders beim bäuerlich-dörflichen Nachbarn, der vielleicht den Manufakturarbeiter noch dazu als Hausgenossen beherbergte und seinen Mietzins kassierte, auf wenig Verständnis getroffen sein. Hier stießen zwei ökonomisch unterschiedlich fundierte Grundauffassungen zusammen. Der seit Jahrhunderten ausgeprägte Rhythmus der bäuerlichen Arbeit hatte, trotz mancher Neuerungen, die mit den bürgerlichen Agrarformen im ersten Drittel des 19. Jh., zum Teil auch schon vor ihnen einsetzten, dörfliche Lebensformen geprägt, zu deren Norm es beispielsweise gehörte, daß Geldeinnahmen, wenn sie überhaupt möglich waren, in Grund und Boden, Haus und Wirtschaftsgebäuden investiert wurden. Bestand auf Grund feudaler Vorrechte diese Gelegenheit nicht, so hortete der Bauer seinen meist bescheidenen Münzvorrat an vermeintlich sicherer Stelle. Diese Auffassung vom Umgang mit Erworbenem wurde jetzt mit einer Lebensweise konfrontiert, deren Basis der in Bargeld gezahlte Tage- oder Wochenlohn war und in der Vorstellungen vom Grundbesitz keine maßgebende Rolle spielten. Soweit zum Sparen im Auf und Ab ökonomischer Prozesse überhaupt Gelegenheit war, mag es auf lebensnotwendige größere Anschaffungen - Kleidung, Mobiliar - gerichtet gewesen sein oder einen Notpfennig gesichert haben. Das in einigen Betrieben nachweisbare Trucksystem wird solche Bestrebungen meist verhindert haben. Aber gerade von einem dieser Unternehmen, aus Wallendorf, sind uns Nachrichten überliefert, daß die Arbeiter auch unter solchen mißlichen Umständen ihre F e s t e feierten. Sie veranstalteten ihre Kindtaufen, Hochzeiten und Begräbnisschmäuse, sie gingen zum Sternschießen und gar nach Rudolstadt zum Vogelschießen - und ließen sich die zu erwartenden Ausgaben vom Manufaktureigentümer bevorschussen118. Damit gerieten sie freilich noch weiter in finanzielle Abhängigkeit. In diesen Vorgängen ein „Zeichen patriarchalischer Beziehungen" zu sehen, wie Stieda das in Auswertung solcher Informationen tut, heißt das Wesen der Sache verkennen. 11C

Gauß, a. a. O., S. 69.

117

Ebenda, S. 68. Stieda, a . a . O., S. 121.

m

202

WEINHOLD

Der bäuerlichen Mentalität allerdings mußte dieses Verhalten wider den Strich gehen. Nicht, daß man auf dem Dorf des Feierns ungewohnt gewesen wäre. Aber auf Borg tat man es keinesfalls. Wer nichts hatte, durfte über den Zaun oder durchs Fenster zusehen und konnte als Gemeindearmer höchstens mit einem Almosen rechnen. Und unter diesen Hungerleidern mögen nicht selten jene Manufakturarbeiter gestanden haben, die ganz oder zeitweise außer Lohn und Brot gekommen waren. Für den Bauern, dem sie benachbart waren oder bei dem sie einwohnten, bildeten sie aus solchem Grund eine reale oder potentielle Belastung der von ihm mitfinanzierten Armenkasse seiner Gemeinde. Sein Mißtrauen und seine Feindseligkeit gegenüber den nach seiner Auffassung in lockeren Sitten und über ihre Verhältnisse lebenden „Fabrikanten" resultierte wohl zuerst aus dieser Sorge. Das mag übrigens für den wohlbestallten Stadtbürger, der sich gegenüber den in seinem Orte ihrer Tätigkeit nachgehenden - oder nicht nachgehen könnenden - Manufakturarbeitern ähnlich verpflichtet sah, nicht anders ausgesehen haben. Hier keimen subjektive Widersprüche, die sich in der Folgezeit weiter entfalten und zu Faktoren auswachsen werden, die die Klassenauseinandersetzungen des 19. und 20. Jh. komplizieren und vor allem das Verhältnis der Bauern zur Arbeiterklasse belasten. Wir wollen im Zusammenhang mit den von uns charakterisierten Zügen des Verhaltens - die Forschung hat hier das Hauptsächliche erst noch beizubringen - versuchen, auch etwas zur D e n k w e i s e und zur V o r s t e l l u n g s w e l t dieser Menschen zu eruieren, die mitunter so bemerkenswerte Leistungen auf einzelnen Gebieten der Keramik vollbracht haben. Dabei soll diesmal über den Bereich der unmittelbaren Produzenten hinausgegriffen werden. Denn das einzige, aber sehr bemerkenswerte Zeugnis, das hier Auskunft geben kann, ist die Autobiographie jenes Gotthelf Greiner, der gemeinsam mit anderen das Porzellan noch einmal erfand und die Limbacher Manufaktur ins Leben rief. Diese Memoiren sind zwar im Original verloren gegangen. Doch wurde in der Familie beizeiten eine Abschrift angefertigt, die die Vorlage für eine 1877 erfolgte Veröffentlichung im Rahmen der „Culturhistorischen Bilder aus dem Meininger Oberlande" gab119. Die Darstellung umfaßt einen wesentlichen Teil seines Lebens (bis 1781). Greiner wurde am 22. Februar 1 7 3 2 zu Alsbach in der Herrschaft Rudolstadt geboren, w o sein Vater gemeinsam mit zweien seiner Brüder eine Glashütte betrieb. Im Herbst 1 7 3 2 siedelte die Familie zu einer neu errichteten Hütte nach Limbach um, deren Miteigentümer der V a t e r war. Dieser Vorgang bedeutete zugleich die Ortsgründung: Gotthelf Greiner w a r der erste Täufling der neuen Gemeinde, die damals ausschließlich aus dem Hüttenpersonal bestand. Das Glas hatte es ihm angetan, seine Herstellung nahm ihn gefangen. So lehnte er strikt jede andere Möglichkeit einer Ausbildung ab. Selbst als der Schwarzburger Landesfürst bei einer Schulvisitation auf ihn aufmerksam wurde und ihm höhere Bildungschancen eröffnen wollte, blieb der damals Zehnjährige gegen jedes entsprechende Zureden -

auch väterlicherseits -

fest. Noch nicht

zwölf Jahre alt, kann er an die Verwirklichung seines Planes gehen: Er beginnt als Einträger in der väterlichen Hütte und bringt es binnen vier Jahren bis zum Fertig- oder Garmacher. Damit beherrschte er sein G e w e r b e in allen Einzelheiten. W i r wollen seinem weiteren W e g nicht auf jedem Schritt folgen. Sein Anteil an der Wiedererfin119

Leben Greiner, S. 3, 7 ff.

203

K e r a m i k p r o d u k t i o n u n d -Produzenten

dung des Porzellans ist bekannt. Dem endlichen Erfolg gingen Jahre des Experimentierens voraus. Dabei war Gotthelf Greiner, wenn es darum ging, fremde Kenntnisse auszuspüren, in der Wahl der Mittel nicht zimperlich. Als er mit den Glasuren für seine neue Masse in Schwierigkeiten kommt, verschafft er sich kurzerhand Zugang zu den im eigenen Hause gelegenen Laboratorien seiner beiden Kompagnons (Dümmler und Gottfried Greiner). Er fühlt sich dazu im Recht, weil „alle Materialien dazu mein eigenes Geld mich kosteten. So ging ich eines Sonntags in ihre Stuben, dazu ich meinen Capitalschlüssel hatte, um von ihren Arbeiten Einsicht zu nehmen und mich zu überzeugen, ob sie mir darüber Wahres berichtet hätten. Ich nahm von einer jeden Glasur und strich sie auf eine Scherbe, setzte diese in den Glasofen ein, setzte auch einige der Glasuren zusammen und siehe, hieraus war eine Glasur geworden, die nicht zu verbessern war. Ich sprang in größter Freude nach Hause . . Der Vorgang ist typisch für eine Zeit, die den Schutz des geistigen Eigentums nur in Grenzen kannte. So müssen die beiden Mitexperimentatoren auch gute Miene zum bösen Spiel machen, als ihnen Greiner ihre Ergebnisse für ein „Douceur" von 50 Talern abkauft oder - bei seinem Schwager — ohne viel Federlesens einfach abnimmt. Es hat von diesem Ereignis an freilich noch Jahre gedauert, bis Greiner 1772 in Limbach sein erstes Porzellangeschirr brennen durfte. Dazwischen lagen Schwierigkeiten, die viel weniger technischer als administrativer Art waren. Denn die neue Manufaktur brauchte für jeden Brand erhebliche Mengen Holz, das in solchem Umfang nur aus den herrschaftlichen Wäldern zu beziehen war. Aber die gab es lieber in noch größeren Posten zur Flöße ab. Man muß die Ausdauer und' Energie bewundern, mit der Greiner trotz alledem sein schon lange konzessioniertes Porzellanprojekt verfolgte. Seiner Darstellung nach trug er noch 30 Taler bei sich, als der Tag des ersten Brandes heran war. Alles andere Vermögen, auch ein erheblicher Teil der Mitgift seiner Frau, war so oder so in das neue Unternehmen investiert worden. Wobei man nicht verschweigen darf, daß der Meininger Fiskus besonders an den Holzlieferungen für die Manufaktur ganz erhebliche Summen verdient hat - wenn es sein mußte, auch auf dem Weg völlig ungerechtfertigter Nachzahlungen 121 . Aber Greiner stand durch, selbst, wenn er dabei auf die Patentaler seiner Kinder zurückgreifen mußte 122 . Was er sich vorgenommen hat, das bringt er zu Ende, der Dorfbourgeois vom Rennsteig. Als er 1792 stirbt, hinterläßt er fünf Söhne und drei Töchter. Der Älteste - „Lieutenant zu Alsbach" - verwaltete das Erbe, bestehend aus den Manufakturen Limbach und Groß-Breitenbach. Wenig später kommt auch Kloster Veilsdorf noch in Familienbesitz ,2: l D o c h d i e s e D a t e n u n d F a k t e n zeigen nur d i e eine S e i t e d e r P e r s ö n l i c h k e i t G o t t h e l f G r e i n e r s . O h n e Z w e i f e l ist es d i e w e s e n s b e s t i m m e n d e , d i e s e i n e Ü b e r l e g u n g e n u n d sein H a n d e l n letztlich strukturiert u n d ihn zu b e m e r k e n s w e r t e n E r f o l g e n f ü h r t . A b e r D e n k e n d i e s e s zielstrebigen, letzten R i s i k o w a g e n d e n u n d gelegentlich

das

rücksichtslosen

V e r t r e t e r einer neuen G e s e l l s c h a f t s k l a s s e e r s c h ö p f t sich nicht a l l e i n in d e r B i l a n z i e r u n g seiner G e w i n n e u n d d e m A b s c h ä t z e n k ü n f t i g e r V o r t e i l e . N ü c h t e r n e s R e c h n e n v e r t r ä g t sich bei ihm durchaus m i t H a n d l u n g e n , E m o t i o n e n u n d P h a n t a s i e n , d i e v o n t r a d i t i o nellen V e r h a l t e n s w e i s e n ,

Bewußtseinsinhalten

und -formen der Bauern und

Häusler

seiner H e i m a t g e p r ä g t s i n d u n d d i e B e g r e n z t h e i t seines W e l t b i l d e s v e r d e u t l i c h e n .

Das

läßt, z u m T e i l in eigenartiger N a i v i t ä t , w i e d e r u m seine A u t o b i o g r a p h i e erkennen. W i r möchten hier - es lohnte sich d a z u eine S o n d e r s t u d i e - nur w e n i g e m a r k a n t e B e l e g e herausgreifen. 120 121 122 123

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. S. S. S.

41. 59. 60. 65; Stieda, a. a. O., S. 55.

204

WEINHOLD

E r ist erstaunlich sensibel. In der Jugend quälen ihn Visionen, und mit allem Ernst glaubt er damals an Wahrträume. So kommt ihm auf solche Weise das Wissen, daß „unter einem gewissen Baumstock, deren mein Vetter Martin bei Alsbach viele ausgraben und den Waldboden umrotten ließ, um ihn urbar zu machen, Geld vergraben liege. Als ich früh Morgens erwachte, übersann ich meinen Traum. Geld zu finden wäre mir eine Lust gewesen, auch war ich neugierig zu sehen, ob mein Traum zutreffe, obschon ich das Sprichwort „Träume trügen" wohl schon kannte. Stillschweigend begab ich mich an Ort. Die Rotter waren auch schon da, sie arbeiteten weiter, ohne sich um mich zu kümmern. Ich scharrte von dem im Traume bestimmten Holzstock das Moos und die Erde mit den Fingern weg und siehe, es kamen runde, verrostete Blättchen, vermischt mit vermoderten leinenen

Läppchen

zum Vorschein. Ich füllte damit meine Mütze und zeigte sie vorerst meinem Vetter, dem der Fundort gehörte. Dieser wusch einige Blättchen und erkannte sie als 1-, 2- und 4-Groschen-Stücke Mark Brandenburger Gepräges. Ich zeigte dies Geld nun auch meinem Vater, den ich an die Stelle führen mußte, wo er nun mit Hilfe der Holzmacher weiter nachsuchen ließ. Sie fanden noch eine Menge solcher Geldstücke und auch sechs Stempel vor, womit jene offenbar geprägt worden war. D a fiel mein Vater auf den Gedanken, daß diese falschen Münzen, - denn als solche erwiesen sie sich alle, - von dem berüchtigten Thomas Nicol herrühren würden, der vor zwanzig Jahren vom Churfürsten zu Brandenburg der Falschmünzerei überführt, auf dessen Befehl von Fürsten zu Schwarzburg gefänglich eingezogen werden mußte, um nach Berlin ausgeliefert zu werden. Thomas Nicol war ein angesehener Mann gewesen: er hatte sich durch sein Geldschlagen bereichert. Bei dem Fürsten stand er sehr gut und war, wenn dieser zu den Herbstjagden auf ,das neue Haus' kam, meist in dessen Gesellschaft" 124 . Vater Greiner lieferte Geld und Stempel ans Gericht. Einen Teil des Fundes jedoch erhielt Gotthelf „als Curiosität" zurück und verkaufte etwas davon. So gewann er schließlich noch Vorteil von seinem Funde, wie er befriedigt feststellt. Die nächste Offenbarung dieser Art beutet er auf Grund solcher Erfahrung dann auch ganz allein aus: „Ein Jahr darauf hatte ich wieder einen Traum, wonach ich in dem Hausgarten, unter einem gewissen Beet, Geld finden würde. Ich suchte nach und fand wirklich ein vermodertes Beutelchen voll sogenannter Petermännchen im Werth von sechs Gulden. D a ich niemals hörte, daß Jemand Geld dort verborgen oder dasselbe verloren habe, behielt ich den kleinen Schatz für mich und sagte Niemand nichts davon" 1 2 5 . Ein drittes Mal schließlich sieht er im Traum seine zukünftige Frau, die er nicht allzuviel später als Besuch in der elterlichen Wohnung antrifft. E r hat das nächtliche Bild wahrscheinlich den Eltern und Geschwistern so deutlich vermittelt, daß sie das Mädchen schon damit identifizieren, ehe er sie selbst zu Gesicht bekommt. Man kann sich beim Lesen seiner diesbezüglichen Erinnerungen allerdings des Eindrucks nicht erwehren, als ob die Jungfer Fröbel, so heißt die Zukünftige, wenigstens den Angehörigen nicht unbekannt gewesen sei 1 2 0 . Hier verschmolzen Traum und Wirklichkeit nachträglich miteinander. Ausführlich schildert Gottheit Greiner die Freuden und Nöte seiner Brautzeit. Dabei wird so recht deutlich, daß im Bäuerlichen geprägte Verhaltensnormen von der aufkommenden Dorfbourgeoisie

-

der Vater der Verlobten ist Fuhrunternehmer - übernommen wurden. Das geht vom Geschenk nach der erfolgreichen Werbung bis zur Übergabe des Brautschatzes und der Mitgift. Auch die Hochzeit selbst, sie füllt fünf Tage und zählt „zusammen an siebzig Gäste" 1 2 7 , unterscheidet sich nicht von einer solchen, die damals ein begüterter Landwirt ausrichten konnte.

114

Leben Greiner, S. 15.

125

Ebenda, S. 16.

128

Ebenda, S. 21.

127

Ebenda, S. 32.

Keramikproduktion und -Produzenten

205

Zu feiern verstand er schon, dieser Greiner. Seine musikalische Begabung mag ein Erbe des Vaters gewesen sein, der in Ilmenau zunächst „Musik gelernt hatte" 128 , ehe er sich der in der Familie traditionellen und sicher einträglicheren Glasmalerei zuwandte. Der Sohn kaufte sich, zunächst gegen den Willen des Familienoberhauptes, das „meinte, es passe nicht zum Geschäft", heimlich Zither und Baßgeige und erwarb das zu ihrem Spiel notwendige Grundwissen als Autodidakt. Später kamen weitere Instrumente hinzu, dabei auch eine Davidsharfe. Gemeinsam mit dem Alsbacher Lehrer sowie seinem Schwager und Mitarbeiter Gottfried Greiner brachte er ein Trio zustande, das sich bald „vor Jedermann hören lassen" konnte. „Wo in der Umgegendl eine Gesellschaft zusammen kam, da mußten wir hin, um Musik zu machen. Dadurch wurde ich dreist und mit Fremden bekannt. W i r gingen jedoch nie in schlechte Gesellschaft, sondern nur zu Bekannten an Sonn- und Feiertagen" 129 . Man blieb also auch hier unter sich und absentierte sich von den Vergnügungen der Kleinbauern, Glasund Heimarbeiter. Schatten werfen auf dieses dorfbürgerliche Idyll nicht nur geschäfdiche Schwierigkeiten, sondern auch Krankheiten. Greiner war seiner eigenen Aussage zufolge von außerordentlich zarter Konstitution,. Nach der Geburt wurde der nur 9 Zoll kleine Bursche zunächst in einem Fuchspelzhandschuh des Vaters verwahrt. Seine Winzigkeit „trieb alle Tage andere Menschen aus der Gegend bei", ihn anzustaunen 130 . Dieses anfängliche Handicap hinderte ihn jedoch nicht, später alle Arten derber Jungenstreiche zu vollführen. Es scheint jedoch eine besondere nervliche - von seinen Visionen erfuhren wir - und organische Empfindlichkeit zurückgeblieben zu sein. Letztere brachte ihn in eine der übelsten Situationen seines Lebens, deren Bewältigung uns einen schauerlichen Blick in die Dreckapotheke dieser Zeit, aber auch auf den Stand ihrer medizinischen Kenntnisse werfen läßt. Eine Verkühlung durch einen kalten Trunk bei der Arbeit gibt er als Ursache dafür an, daß ihm die Beine anschwollen, das Wasser in Nase und Augen drang, wenn er sich bückte, dazu der Atem kurz wurde. Kein Arzt schien ihm aus diesem Elend helfen zu können. Doch lassen wir ihn selbst berichten. „Da traf sichs, daß ein berühmter Doctor, Neß genannt, auf die Steinheide kam. Dem schickte ich durch einen meiner Glasmacher ein Gläslein voll von meinem Urin, ging aber voraus zu ihm blos zu hören, was er dazu sagen würde und ließ ihn nicht wissen, daß ich der Kranke sei. Als mein Glasmacher ihm mein Glas übergeben und wörtlich ausgerichtet hatte, wie ich ihm anbefohlen, sprach der Doctor: Lieber Freund, sag' er diesem Manne, es wäre schade um seine Frau und Kinder. Er soll sich vor seinem Ende noch etwas zu Gute thun, denn länger als ungefähr noch einen Monat wird er nicht mehr leben. Der arme Mann hätte in zu großer Erhitzung einen kalten Trunk gethan, das Wasser stünde ihm an der Lunge, diese müsse deswegen verfaulen. Doch ich will ihm ein Glas Arznei geben, diese soll er brauchen; er wird aber wohl keine Arznei mehr begehren. Ich blieb noch bei ihm in seinem Laboratorium, nachdem mein Glasmacher fort war, und sagte zu ihm, ich sei ein guter Bekannter dieses kranken Mannes, er möge doch etwas bessere als gewöhnliche Arznei ihm geben, damit er womöglich am Leben erhalten würde. D a sprach er zu mir: Ich wüßte keine andere, bessere Arznei als die in der großen Flasche vor ihm, womit er sich noch etliche Wochen hinflicken könnte. Nunmehr gestand ich ihm, daß ich der Patient selbst sei und nur hätte hören wollen, was er von meiner Krankheit hielte. Da fiel er mir um den Hals und sprach: Wahrhaftig, Sie seyn am Ende Ihres Lebens; aber noch ist einige Rettung möglich. Hier, dieses ist das einzige Mittel. Da Sie noch jung seyn, so müssen Sie täglich drei- bis viermal Menschenfett essen. Ich will Ihnen gleich ein Glas voll zurecht machen, gehen Sie einstweilen in die Stube. Er überbrachte mir auch ein Glas und sagte: So, dies gebrauchen Sie und sagen mir, ob Sie Besserung spüren. Darauf ging ich mit meinem Glasmacher nach Hause. - Dieser Doctor war auch ein Bruch128 129 130

Ebenda, S. 8. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 9.

206

WEINHOLD

Schneider, von dem die Leute sagten, daß jeder Mensch, den er curire, wieder genese, ausgenommen allemal der Neunte nicht, der müsse sterben" 1 3 1 . Es bedarf

keiner Phantasie, sich vorzustellen, mit welchem Gefühl Greiner diese grauenvolle

„Medizin" einnahm, zumal ihm der Quacksalber später auch noch in seiner Sudelküche die Überreste des unglücklichen Wesens zeigte, aus dem er dieses scheußliche Mittel gewann. Es war eine Kindesmörderin, die man mit dem Schwert gerichtet hatte. Dem Doktor Neß w a r ihr Leichnam durch den Herzog von Gotha übereignet worden, damit er „seinen Prinzen, der vom Pferd gestürzt die Brust sich gedrückt hatte, mit dem nämlichen Fett" kuriere. Greiner hat die entsetzliche K u r aus Ekel abgebrochen und es mit milderen Medikamenten, so Kräuterwein und schließlich Muttermilch weiter versucht. Daß er schließlich wieder gesund und arbeitsfähig wurde, hatte er wohl doch mehr seiner jugendlichen Widerstandskraft zu verdanken, die beides - Krankheit und Medizin — gleichermaßen überwand.

Der Fall selbst ist in seiner Widerwärtigkeit ein Lehrstück. Er zeigt das Ausgeliefertsein der Menschen dieser Zeit des wirtschaftlichen und auch sozialen Umbruchs an mittelalterliche Vorstellungen und Praktiken auf dem Gebiet der Heilkunde. Und dieser Beschränktheit sind nicht etwa nur die Leute auf dem Walde, vom Heimarbeiter über den Glasmacher und den Bauern bis hin zum Hüttenbesitzer ausgeliefert. Auch fürstliche Personen unterwerfen sich ihr, ja, fördern sie letztlich noch in eigenem Interesse. Und das Ganze des Lebens der sich in dieser Zeit heraubildenden arbeitenden Klasse wird nicht deutlich, wenn man diese Facette aus dem Blickfeld läßt. Sie hat solche Dinge zunächst nicht ändern können, aber durch ihren Fleiß, vor allem dann aber durch ihren organisierten Kampf mit dazu beigetragen, daß solcher mittelalterliche Mißbrauch schließlich gesamtgesellschaftlich überwunden werden konnte. Die direkten Aktivitäten der Manufakturarbeiter zur Ausbildung einer spezifischen Lebensweise lagen auf anderem Gebiet, nämlich dort, wo sie dieser oder jener Form zu eigener Aktion fanden. Die Anfänge dieses Prozesses sowie seine ersten sozialen Konsequenzen, die ihrerseits wichtige Bereiche der Lebensweise beeinflußten, sollen hier abschließend analysiert werden. „Das Proletariat macht verschiedene Entwicklungsstufen durch. Sein Kampf mit der Bourgeoisie beginnt mit seiner Existenz"132. Als Karl Marx und Friedrich Engels diese lapidaren Sätze 1847 im Kommunistischen Manifest niederschrieben, war solcher Beginn für unsere Manufakturarbeiter schon historisches Geschehen, das Generationen, im Falle Meißen rund ein Jahrhundert zurücklag. So erklärt sich auch, daß früheste Nachrichten, die von aus solchem einfachen Da-Sein herauswachsenden Aktivitäten sprechen, eben diesem unter landesherrlicher Regie stehenden Unternehmen entstammen. Ihrer Einschätzung sei vorausgeschickt, daß es sich möglicherweise noch nicht einmal um die allerersten handelt. Doch um dies festzustellen, müßte man noch erhebliche Aktenbestände prüfen - eine Arbeit, die in der dieser Untersuchung vorgegebenen Zeit nicht geleistet werden konnte. Überhaupt ist dieser sehr wichtige Aspekt in der Geschichte der Meißner Manufaktur bisher wohl etwas zu wenig beachtet worden. Unsere Akte, betitelt „Verschiedene von denen porcelaine-Fabriquanten währenden 131

Ebenda, S. 38.

132

M E W 4, S. 4 7 0 .

Keramikproduktion und -Produzenten

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Krieges unternommene Motus, samt was dene sonst anhängig betr."133 führt in die Ereignisse des 7-jährigen Krieges und damit in eine Periode, die die Manufaktur am Rande des Verfalls sah. Bald nach dem Eindringen der preußischen Truppen, für die Sachsen Operationsbasis werden sollte, beschlagnahmte die Berliner Regierung alle Porzellanvorräte, die der Geheimrat Schimmelmann dann für 120 000 Taler an sich brachte. Gleichzeitig zogen die Besatzungsbehörden eine erhebliche Zahl von Arbeitern durch Versprechungen, Überredung oder Zwang nach Berlin, wo sie ihre Produktionserfahrungen der 1751 vom Kaufmann Wilhelm Caspar Wegely ins Leben gerufenen Porzellanmanufaktur zur Verfügung stellen mußten. Es blieben jedoch genug in Meißen, um den Betrieb fortzusetzen, auf den der preußische König seine Hand gelegt hatte. Von ihm pachtete sie bis zum Ende des Krieges gegen jährlich 60 000 Taler ein Kommer•zienrat Heibig. Obwohl 1763 dabei eine Schuld von 260 000 Talern aufgelaufen war, brachte das Unternehmen Friedrich II. erheblichen Vorteil. Denn neben den Geldleistungen ließ er aus der laufenden Produktion „noch bedeutende Quantitäten Porzellanwaaren in natura unentgeltlich" entnehmen, insgesamt für mehr als eine halbe Million Taler 134 . Während Heibig seine Ausgaben teilweise mit Krediten abdeckte und sächsischerseits durch ein Versicherungsdekret vom März 1763 die Rückerstattung seiner eigenen Auslagen und der geborgten Summe garantiert wurde - jährlich sollte er 12 000 Taler Tilgungsrate erhalten - trafen die Ereignisse und ihre Folgen die Manufakturarbeiter ungleich härter. Der kriegsbedingte Verfall des Geldwertes schmälerte ihren Verdienst laufend. Dazu kam, daß der Lohn mitunter sehr unregelmäßig ausgezahlt wurde. Eine solche Situation führte am 21. März 1758, kurz vor dem Osterfest, zu einem Streik des gesamten Formercorps135. Man wartete vergeblich auf die Zahlung der Monatslöhne. Das Versprechen, diese am Sonnabend vor dem Fest durchzuführen, lehnte der Vertreter der im Ausstand Befindlichen mit dem berechtigten Hinweis ab, daß zu diesem Zeitpunkt kein Mensch mehr etwas für die Feiertage einkaufen könne. Als die Nachricht zu den Formern selbst gelangte, kam es zu heftiger Reaktion. Zwanzig von ihnen rückten dem Hofkommissar und Buchhalter Haustein auf sein Büro, weitere fünfzig warteten auf der Treppe. Die im Zimmer - so der Bericht des Justitiars Lorenz auf Grund der Aussage Hausteins - hätten „auf eine trotzige Art verlanget", daß man ihnen „ihr Geld auf den gantzen Monath geben möchte, sonst giengen sie nach Dreßden und beschwerten sich bei Ihro Hoheit, dem Chur-Printzen". Obwohl der hier ins Feld Geführte vermutlich kaum zur Hilfe bereit gewesen wäre, scheint die Drohung Haustein doch dazu bewegt zu haben, eine Abschlagzahlung anzubieten. Aber die Former blieben konsequent und verlangten - vertreten durch drei Wortführer - den gesamten Lohn. Den Vorschlag, nach Dresden zum Kommerzienrat Heibig zu schicken und ihn direkt um das Geld zu bitten, weil es dann vielleicht schneller nach Meißen käme, lehnten diese mit aller Schärfe ab. Heibig „ließe sie crepieren, es wären ihrer schon viele von ihnen gestorben und daran wäre der Hr. Commer133

Staatsarchiv Dresden, Amtsgericht Meißen, 1 1 2 9 ( 1 7 5 8 - 1 7 6 3 ) (Abgabe A).

134

Böhmert, a. a. O., S. 48, 68.

135

Staatsarchiv Dresden, Amtsgericht Meißen, 1 1 2 9 , fol. 1 ff.

208

WEINHOLD

zienrath schuld". Diese Feststellung ergänzt das Bild des Manufakturpächters durch eindeutige, bisher unbekannte Züge. Um die durch die Hinhaltetaktik aufgebrachten Arbeiter loszuwerden, schickte sie Haustein zu Kändler, dem Leiter des Formercorps. Der aber erklärte sich außerstande, etwas zu unternehmen, Daraufhin wurde der Ausstand beschlossene Sache. Es hat - so Lorenz - „keiner von ihnen gearbeitet . . . (sie sind) in den Arbeitszimmern theils auf und niedergelauffen, theils sonst unthätig dageseßen und sich wegen ihrer Reise nach Dreßden miteinander beredet". Die konsequente Haltung hatte Erfolg. Haustein beschaffte sich durch Borg 600 Taler und zahlte den Formern ihren Lohn. Eine zweite, spätere Aktion nahm einen weniger günstigen Ausgang. Anlaß war diesmal der durch den Verfall des Geldwertes unablässig sinkende Reallohn. Die Versuche der zuständigen Dresdner Kanzlei, diese Tendenz durch eine zehnprozentige Aufbesserung des jeweiligen Monatsverdienstes abzufangen, wurden von den Betroffenen mit Erbitterung zur Kenntnis genommen, da diese Zulage unter den gegebenen Umständen lächerlich niedrig war. Zuerst, am 28. Januar 1761, legten die Maler ihre Pinsel hin und erklärten „ferner nicht arbeiten" zu wollen. Das geringe Angebot einer Lohnerhöhung hätte - wir folgen hier dem Bericht, den Inspektor Auenmüller noch am gleichen Tag an den Justitiar Lorenz gab und der zum Teil auf den Informationen eines im Betrieb tätigen Spitzels fußt - „unter (den) genannten Mahlern einen Aufstand erreget, und sie waren in dem Mahlerhinterzimmer zusammengekommen . . . alle diese Leute hätten getobet und getrotzet, daß sie ihre Arbeit nicht weiterfortsetzen würden, wenn ihnen nicht 'der 3te oder wenigstens der vierdte Teil der taxa zugesetzt würd" 138 . Ein Streikbrecher, möglicherweise der erwähnte Denunziant, mußte die Mißbilligung der anderen handgreiflich erfahren. Auch der Versuch, die Arbeiter gegeneinander auszuspielen, mißlang. Als Auenmüller „einige der Vernünftigsten auf die Seite" zog und mit ihnen gesondert verhandeln wollte, bestanden diese wider Erwarten auf den allgemeinen Forderungen, die der Inspektor in Dresden vortragen sollte. Noch am gleichen Tag schlössen sich auch die Dreher und Former dem Ausstand an und erklärten sich für seine Ziele. Die Streikfront brach nach wenigen Tagen zusammen - nicht nurch Uneinigkeit der Arbeiter, sondern auf Grund der Drohungen des Generalmajors v. Ramin, seines Zeichens preußischer Stadtkommandant. Mit der Sprache der militärischen Gewalt wurden zunächst die Maler bedroht, die „sich der Arbeit unter allerlei Vorwand entziehen wollen . . . wodurch dann die königliche Arbeit liegen bleibt und nicht gefördert werden kann". Ramin befahl den Inspektoren, sämtliche „Fabriquanten und Manufakturiers" zu versammeln und ihnen klarzumachen, daß sie gefälligst wieder ans Werk gehen sollten. Im Weigerungsfall - so der Befehl des Kommandanten wörtlich - werde „ich alle dergleichen Müßiggänger ohne Unterschied aufheben laßen und sie als Recruten zur Preußischen Armee abliefern laßen . . ." a 7 . Den Streikenden blieb also nur die Wahl zwischen Hunger oder Korporalsstock und wahrscheinlichem Tod auf dem Schlachtfeld. 136 137

Ebenda, fol. 6 f. Ebenda, fol. 9.

Keramikproduktion und -Produzenten

209

Nicht alle haben das erstere vorgezogen. Einige suchten den dritten Weg, der in die Berliner oder eine andere Manufaktur führte138. Ob sie dort bessere Verhältnisse antrafen, möge dahingestellt bleiben. Versprechungen in dieser Richtung scheinen gemacht worden zu sein. Solche Fälle des Entweichens - sicher in der Hoffnung auf bessere Chancen anderwärts - waren weder in Meißen noch den übrigen Unternehmen eine Seltenheit. Nur ist diese niedere Form des Klassenkampfes wenig überliefert. Bekannt ist die spektakuläre Flucht des Arkanisten Stöltzel von Meißen nach Wien im Jahre 1720139, von wo er freilich wenig später mit Hörold zurückkam, den er gewissermaßen als Entlastung des eigenen Handelns der Manufaktur neu zuführte - sehr zu deren Vorteil, wie sich bald herausstellte. Auch der fürstliche Eigentümer des Unternehmens zu Kloster Veilsdorf hat diese Form des Widerstandes gegen sein recht willkürliches Betriebsregime zu spüren bekommen. Zwar sicherte er sich durch seine Fabrikgerichtsbarkeit das Recht, Widerspenstige im Halseisen am Pranger aufstellen zu lassen140. Doch trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, gingen ihm 1778 zwei seiner drei Former nach Großbreitenbach davon. Es gelang ihm auch nicht, diese „Deserteure" - so seine eigene Terminologie, zur Rückkehr zu bringen oder zu zwingen141. Diesen vermutlich sehr häufigen Äußerungen des individuellen Widerstandes durch Verlassen der Arbeitsstelle stehen entwickeltere Formen des Klassenkampfes, wie die obenerwähnten in der Meißner Manufaktur, gegenüber. Sie führten zur zeitweisen Solidarisierung einer oder mehrerer der in der Manufaktur auf Grund der arbeitsteiligen Kooperation existierenden Berufsgruppen, ein Vorgang, der sicher im Bewußtsein der an ihm Beteiligten haften geblieben ist, vor allem, wenn dieser Haltung Erfolg beschieden war. Aber auch das Scheitern einer derartigen Aktion nach unverhüllter Bedrohung der persönlichen Freiheit hat offenbar den Willen zum Widerstand nicht brechen können. Gerade das rücksichtslose Vorgehen des Generals von Ramin, dazu das durch die preußische Besatzung verursachte Elend, scheinen ihn noch verstärkt zu haben. Sonst hätten sich seit 1760 wohl kaum so „viele Manufakturisten von Seiten der kaiserlich Österreichnischen Armee zum Correspondieren und ähnlichen der preußischen Armee nachtheiligen Unternehmungen haben brauchen lassen", wie einer der ersten Chronisten des Betriebes feststellt1''2. Hier ergänzten sich also offensichtlich ökonomische Forderungen und politischer Widerstand. Ob und welche Aktionen daraus erwuchsen, sollte noch einmal genauer untersucht werden. Die Akten der Manufaktur scheinen da einiges herzugeben. Reichlich ein halbes Jahr nach Kriegsende, die Folgen waren noch nicht im entferntesten überwunden, trat erneut ein Teil der Arbeiter unseres Meißner Betriebes in den 138 139

140 141 142

Ebenda, fol. 19 ff., 22 f. Böhmert, a. a. O., S. 47. Eine literarische Würdigung erfuhr dieser bemerkenswerte Mann in Otto Walchas Buch „Rivalen. Die Lebenschronik des Bergknappen und Arkanisten Samuel Stöltzel", Berlin 1963. Stieda, a. a. O., S. 1 8 1 . Ebenda, S. 207. Heinrich Gottlob Kühn, Die Geschichte der Königlich sächsischen Porzellanmanufaktur zu Meißen . . . bearbeitet im Jahre 1 8 2 8 (zit. nach Böhmert, a. a. O., S. 68).

14 Volksleben

210

WEINHOLD

Lohnstreik. Diesmal waren es die untersten, ohnehin am schlechtesten bezahlten Schichten, die ihre Forderungen anmeldeten: die auf dem Holzhof tätigen Tagelöhner und Handlanger. Sie waren vor allem für die Bereitstellung des Brennmaterials und Bauholzes zuständig und sollten dafür nach einem im September 1763 gefaßten Beschluß der Manufakturdirektion täglich drei Groschen und drei Pfennige erhalten. Diesen Lohn lehnten sie als zu niedrig ab und legten am 5. Oktober die Arbeit nieder. Bei der Unterdrückung dieses Streiks tat sich der inzwischen in eine führende Position aufgerückte Hörold unrühmlich hervor. Nach seinem eigenen Bericht143 hielt er das Strafgericht an Ort und Stelle. Die drei Wortführer des Ausstandes, „Christian Patzer, ein Handlanger, welcher schon viele Jahre bei der Fabrique gestanden, und Gottlob Meink wie auch Johann Schultze" ließ er als „Aufwiegler" vom Hofe jagen, den anderen Beteiligten „aber habe er ernstlichste Vorstellung und Bedrohung gethan". Die Bitte Patzers um Wiedereinstellung lehnte er schroff ab. Er habe ihm, so seine Meinung, wenn er „sich nicht sogleich wegbegeben würde, mit der Schloßwache gedrohet". Das bedeutete Inhaftierung, der Patzer nur dadurch entging, daß er den Holzhof verließ. Der berühmte Begründer der Meißner Malerschule erscheint hier - nunmehr als Mitglied der Direktion des Unternehmens - in einem wenig günstigen Licht. Beim Ausstand seines eigenen Corps, knapp drei Jahre vorher, hatte er offenbar keine Stellung bezogen, denn die Akten erwähnen seine Person mit keinem Wort. Jetzt aber zeigt er sich von der energischen Seite, Meriten sammelnd, wo es gegen den Zusammenschluß der um ihre Existenzgrundlagen kämpfenden Ärmsten der Manufaktur geht. Lohnkämpfe haben die Geschichte der Manufaktur auch in der Folgezeit mitgestaltet. Sie werden in den Akten allerdings nur im Zusammenhang mit der Untersuchung anderer Vorgänge sichtbar, so etwa bei der 1815 durchgeführten „Revision der PorcellainManufactur zu Meißen, der Steingutfabrik zu Hubertusburg und der Fayencefabrik zu Döhlen" 144 . Die drei umfangreichen Faszikel des Protokolls belegen am Ende der für die Manufaktur außerordentlich abträglichen Marcolini-Periode wiederum die zeitweise schleppende Lohnzahlung sowie die willkürliche Senkung der Akkordsätze bei Drehern und Malern. Gleiche Probleme sollten den Arbeitern aller Sparten auch während der folgenden Jahre das Leben schwer machen. Besonders zwischen 1820 und 1824 wird wieder über „Unregelmäßigkeit und nicht selten anhaltende Verspätigung der Lohnzahlungen" berichtet, die „Mißmuth und Noth" erzeugten145. Ob es damals Streikaktionen gegeben hat, ist nicht festzustellen. Aber es ist wahrscheinlich, daß die Erfahrungen aller dieser Auseinandersetzungen mit einflössen in den revolutionären Fundus der sich 1875 auch in Meißen konstituierenden Sozialdemokratie, die dann bei der Wahl von 1898 als Partei erstmalig eine Mehrheit in der Stadt gewann. Doch an diesem Aufschwung waren neben den Arbeitern der Manufaktur auch diejenigen anderer Betriebe, so der 1834 entstandenen Eisengießerei und Zuckersiederei, den seit 1857 mächtig anwachsenden, in Privathand befindlichen weiteren keramischen Unternehmen und der 1872 gegründeten Jutespinnerei, sicher beteiligt. 143

Staatsarchiv Dresden, Amtsgericht Meißen, 1129, fol. 21.

144

Staatsarchiv Dresden, Loc. 36345, Vol. I/II/III (1815). Kühn zit. nach Böhmert, a. a. O., S. 71.

1,45

Keramikproduktion und -Produzenten

211

L e i d e r fehlen Informationen über Aktionen, die denen der Angehörigen d e r M e i ß n e r M a n u f a k t u r entsprechen, aus den a n d e r e n W e r k s t ä t t e n unseres G e w e r b e s n a h e z u völlig. D a s h e i ß t a b e r k e i n e s w e g s , d a ß sie nicht s t a t t g e f u n d e n h ä t t e n . D o c h d i e o f f i z i e l l e B e r i c h t e r s t a t t u n g h a t s i e v e r s c h w i e g e n o d e r , w e n n es sich nicht u m g e h e n l i e ß , Auf

die letztere A r t

ist e i n e e n t s p r e c h e n d e N a c h r i c h t ü b e r l i e f e r t ,

s t e l l u n g sich R e n a t e G a u ß v e r d i e n t g e m a c h t h a t :

der K a m p f

der

um

verfälscht.

deren

Richtig-

Manufakturarbeiter

v o n K l o s t e r Veilsdorf u m ihre Löhne. B e i S t i e d a , d e r d i e s e A f f ä r e in seiner u m f a n g r e i c h e n S t u d i e nicht g a n z v e r s c h w e i g e n k a n n , w i r d i h r A b l a u f in f o l g e n d e r W e i s e g e s c h i l d e r t : „Im Jahre 1 8 0 9 beschäftigte die Fabrik 4 8 Arbeiter . . . Dann aber kam eine für ganz Deutschland ungünstige Zeit, die auch in Veilsdorf sich verhängnisvoll zeigte. Nach Österreich,

Preußen,

Bayern, Frankreich und Rußland konnten die thüringischen Fabriken der Einfuhrverbote oder hohen Eingangszölle wegen gar keine Geschäfte mehr machen Porzellan,

das niedrigen

Zoll zahlte,

massenhaft in

...

Es

war die Zeit, wo

Deutschland

eindrang.

französisches

Schließlich

litten

die

Greiners" (die das Unternehmen 1797 für 15 0 0 0 Gulden an sich gebracht hatten und seitdem in der Familie hielten) „darunter, daß die Holzpreise in die Höhe gingen und sie mit den ihnen privilegienmäßig gelieferten 3 0 0 Klaftern nicht auskamen. Auch der Wettbewerb der nächsten Umgebung wurde fühlbarer. Lange Zeit hindurch war im bayrischen Obermainkreis nicht eine einzige Porzellanfabrik gewesen, dann tauchten nach und nach ihrer sechs auf, die alle schwunghaft in Gang kamen. So kam es, daß im Jahre 1811 die Fabrik wie viele andere wegen der Sperrung des Handels stillstand und im Jahre 1 8 1 4 nur 3 0 Mann arbeiteten. Selbst diese waren nicht einmal voll beschäftigt und beschuldigten die Unternehmer, mit Gefühllosigkeit dem Elend zuzusehen, dem sie allmählich anheixn fielen.

Noch im J a h r e 1 8 1 9 waren die Greiners genötigt zu erklären, daß sie in Veilsdorf nur mit

Opfern arbeiten ließen" 1 '* 6 . Stieda

vergißt

bei

der

Schilderung

der

allgemeinen

G r e i n e r s in i h r e n b e i d e n a n d e r e n M a n u f a k t u r e n -

daß

die

Limbach und Großbreitenbach -

Situation

allerdings,

die

P r o d u k t i o n k e i n e s f a l l s in d e r W e i s e g e f ä h r d e t s a h e n , w i e er d a s f ü r K l o s t e r darstellt.

Vielmehr

letzteren

Unternehmens

z i e l t e n sie in k a p i t a l i s t i s c h e r zugunsten

der beiden

Manier

darauf,

erstgenannten zu

Veilsdorf

die Produktion drosseln.

Die

des

Opfer

t r u g e n d a b e i nicht sie, s o n d e r n d i e A r b e i t e r . L a s s e n w i r d i e s e i h r e N o t - sie s c h i l d e r t e n sie 1 8 1 4 in e i n e r B e s c h w e r d e s c h r i f t a n d e n H e r z o g v o n S a c h s e n - H i l d b u r g h a u s e n ,

von

d e m sie H i l f e erhofften - selbst z u m A u s d r u c k bringen. „Als die allhiesige Porzellanfabrik vorhin den Gebrüdern Greiner käuflich überlassen wurde, haben sich dabei dieselben zugleich ausdrücklich verbindlich gemacht, uns Fabrikanten, die wir größtenteils Landeskinder und folglich auch herzogliche Untertanen sind, ausreichenden Unterhalt zu verschaffen; der

Erfolg

hat

jedoch

leider

unseren

Erwartungen

nicht

entsprochen,

angesehen

dieselben,

als

Fabrikbesitzer, uns äußerst abiret behandeln und nunmehro allbereits zwei Jahre und vier Monate lang ohne allen Verdienst uns in Hunger und größten Elend haben schmachten lassen, ohne daß die von uns und unseren unglücklichen Familien

bei denselben wiederholt angebrachten

beweglichen

Vorstellungen das mindeste Gehör finden können. Als Männer, unter welchen viele schwache Personen sich befinden, sind wir . . . nicht imstande mit einem anderen Verdienst außer unserem erlernten Metier uns zu ernähren; aller Credit ist verloren, das Betteln und Stehlen verboten, nicht die mindeste Rettung vorhanden, und wir ahnden bei der den hiesigen Fabrikbesitzern ganz eigen 146

14*

Stieda, a. a. O., S. 190 f.

212

WEINHOLD

gewordenen Gefühllosigkeit, im Falle wir ohne Hilfe gelassen werden sollten . . . W i r

bescheiden

uns zwar sehr genau, daß v o r kurzem noch jeder Handel und alles Gewerbe in ein gänzliches Stocken geraten ist; allein zu einer solchen Zeit, w o mit Porzellan kein allzu starker Absatz zu machen gewesen, ist wenigstens des Winters allhier, so wie es in anderen Fabriken auch immer zu geschehen pfleget, gearbeitet worden: und jedes bei der allhiesigen Fabrik angestellte Subjekt konnte hinsichtlich des Arbeitslohnes wöchentlich wenigstens auf 1 bis 2 Reichsthaler sichere Rechnung machen; aber in den neuen Zeiten, w o der Handel widerum aufzublühen beginnt, und alle anderen Fabriken sich bekanntlich in gutem Stande befinden, sind wir seit nunmehro 2 Jahre ohne allen Verdienst . . . Unter so höchst traurigen Umständen, w o unser Lohn bis auf den geringsten Tagelöhner abgerissen worden ist und w i r die wenigen rückständigen verbliebenen Gelder nicht einmal erhalten konnten, vielmehr diejenigen Personen in unserer Mitte, welche Forderungen hatten, mit den größten Unanständigkeiten behandelt worden sind, ist bei uns des öfteren der sehnlichste Wunsch entstanden, daß die allhiesige Fabrik, welche die beste Anlage, auch an Holz und Wasser nicht den geringsten Mangel hat, um einen erhöhten Preis, doch wieder an einen anderen K ä u f e r kommen möchte" 147 .

Dies klärt den Sachverhalt, zeigt aber gleichzeitig, mit welchen - historisch bedingten z. T. fehlerhaften Vorstellungen die Arbeiter um ihre Rechte kämpften. Daß in diesem Falle die Feudalobrigkeit schließlich doch erfolgreichen Druck auf die sich nach allen Kräften und mit allen Mitteln wehrenden Greiners ausüben konnte und diese die Produktion nach vielem Hin und Her wieder aufnehmen mußten, ist in erster Linie auf die Geschlossenheit des Widerstandes der Produzenten zurückzuführen. Nur - der Adressat ihrer Beschwerde war objektiv keinesfalls ihr potentieller Verbündeter. Solche romantischen Vorstellungen von der Möglichkeit, die ökonomische Bewegungsfreiheit des Manufaktureigentümers einzuschränken, zerstörte er selbst, als er nach Abschluß der Auseinandersetzung den Greiners eine schriftliche Versicherung ihrer Autoritätsrechte gegenüber den Arbeitern zukommen ließ148. Die im Vorausgegangenen dargestellten Fakten verdeutlichen auch die soziale Position des Manufakturarbeiters. Im Gegensatz zum Handwerksburschen, der im Bedarfsfall wenigstens notdürftige Hilfe entweder von den Mitgenossen seiner Gesellenschaft oder auch von der Zunft selbst - ihr jeweiliger Meister war angehalten, für sie Innungsund Krankengeld in die Innungskasse zu entrichten1"'9 - zu erwarten hatte, blieben sie zunächst einmal auf gegenseitige Solidarität angewiesen. Anders gesagt, in der Mehrzahl unserer Fayence-, Steingut- und Porzellanmanufakturen bestand keine institutionalisierte Form der Hilfe für solche, die ihrer in irgendeiner Weise bedürftig waren. Dieser neue Typ des Produzenten war frei im doppelten Sinn150: von allem Besitz an Produktionsmitteln sowie von den zünftigen Bindungen, Verpflichtungen und Rechten. Das unterscheidet ihn seit Beginn von den Gesellen - wiewohl sich deren Hoffnung, jemals Eigentümer einer Werkstatt zu werden, zu dieser Zeit nur noch, von Ausnahmen abgesehen, bei den Meistersöhnen erfüllte. Doch es gibt bereits aus dem 18. Jh. Nachrichten über die Existenz von H i 1 f s k a s s e n in einigen Porzellanmanufakturen. Was hat es mit ihnen für eine Bewandtnis? 1/'7

Gauß, a. a. O., S. 7 4 f.

i « Ebenda, S. 76. 1W

Stadtarchiv Dresden, I (No.) 28, fol. 4.

150

K a r l Marx, Formen, die der kapitalistischen Produktion vorangehen, Berlin 1 9 7 2 , S. 47.

Keramikproduktion und -Produzenten

213

Beginnen wir mit Meißen. Hier liegen die Anfänge einer solchen Einrichtung am weitesten zurück. 1736 beschlossen die Angehörigen dieses Unternehmens, eine allgemeine Sterbekasse einzurichten, „mittels welcher ihre dereinst zu Hinterlassenden auf den ersten Augenblick unterstützt und auch in den Stand gesetzt werden sollten, dem Verblichenen ein seinem Stande angemessenes Begräbnis zu verschaffen" 151 . Während der folgenden Jahrzehnte muß sich die Einsicht durchgesetzt haben, daß solche Fürsorge nicht ausreichte. So folgte ab 1756 die Konstituierung mehrerer Witwen- und Waisenkassen. Voran gingen die Maler. 1766 schufen sich die Dreher, Former und Bossierer eine gleiche Einrichtung. Im gleichen Jahre noch schlössen sich die Arbeiter bei der Massebereitung, die Kapseldreher und die an den Brennöfen Beschäftigten zu einer „Commun-Wittwenkasse" zu sammen. 1775 schließlich organisierten sich die Holzspalter und Hilfsarbeiter in der Holzhof-Sterbekasse. Die Mitgliedschaft in den Witwenkassen war für alle Pflicht, die monatlich mehr als sechs Taler verdienten. Das dürfte, von den Lehrlingen abgesehen, bei der übergroßen Mehrzahl der in diesen Branchen Tätigen der Fall gewesen sein. Ohne Zweifel haben diese Unterstützungseinrichtungen viel Elend gemildert. Denn die W i t w e eines Manufakturarbeiters hätte ohne einen solchen Zuschuß monatlich etwa einen Taler Pension zu erwarten gehabt. Mit der zusätzlichen Beihilfe konnte der Betrag auf das dreifache steigen - eine Summe, die bescheiden genug war. Gemessen an den bei anderen Manufakturen herrschenden Verhältnissen war sie freilich exzeptionell. Die Tatsache, daß die Manufaktur selbst diese Kassen durch einen jährlichen Zuschuß von 400 Talern stützte, belegt das Interesse des feudalen Eigentümers, durch gewisse - am Gewinn gemessen, sehr geringe - Sozialleistungen dem Betrieb einen Stamm von qualifizierten Arbeitern zu sichern. Die Witwenkassen dienten, ebenso wie die Sterbekassen, über ihren eigentlichen Zweck hinaus als Darlehensinstitute. A l l e diese Hilfsinstitutionen bestanden, trotz, mancher Versuche zu ihrer Verschmelzung, während des Untersuchungszeitraumes und auch noch später getrennt und unabhängig voneinander. Ihre Verwaltung erfolgte durch bezahlte Kassierer sowie Rechnungsführer und Vorsteher, die für ihre Tätigkeit ein nicht sehr bedeutendes Honorar erhielten und insgesamt zur jährlichen Rechnungslegung verpflichtet waren. Sie wurden von den Manufakturarbeitern direkt gewählt. Neben dieser durch monatliche Einlagen oder - in den Sterbekassen - durch Beisteuer von Fall zu Fall gesicherten Unterstützung, die im wesentlichen von den Arbeitern selbst getragen wurde, sicherte die Manufaktur bis zu Beginn des 19. Jh. jenen Arbeitern, deren Leistungsfähigkeit nachließ, eine leichtere Tätigkeit und zahlte ihnen dabei eine monatliche Unterstützung bis zur Höhe von zwei Dritteln ihres ehemaligen Einkommens 1 ' 2 . Diesem Vorgehen lagen Überlegungen zugrunde, die dem Schutz des .Wissens um die Porzellanherstellung und die Verfahren seiner künstlerischen Gestaltung gelten. Man wollte die „Pensionäre" auf diese Weise beim Betrieb und damit in der Verpflichtung halten, die entsprechenden Geheimnisse zu wahren. 151

Böhmert, a . a . O . , S. 8 3 ; weiteres auch Staatsarchiv Dresden, Amtsgericht Meißen, Nr. 9 2 , (1755)-1829.

152

Böhmert, a. a. O., S. 89.

1766

214

WEINHOLD

Nach dieser Zeit aber, als sich mehr und mehr herausstellte, daß die Interessierten in aller Welt vom Meißener Arkanum und den damit verbundenen Dingen Kenntnis hatten, kamen solche Vorteile in Wegfall. Jeder neue Arbeiter wurde nunmehr mit einmonatiger Kündigungsfrist eingestellt. Das Staatsdienergesetz von 1835 schließlich räumte ein für allemal mit den Vorstellungen der Manufakturarbeiter auf, unter den Bedingungen des Kapitalismus der freien Konkurrenz eine gesicherte Anstellung mit Pensionsberechtigung innezuhaben. Dieses Privileg blieb seit 1836 nur wenigen leitenden Angehörigen der Manufaktur vorbehalten, die damit in den Status des Staatsbeamten aufrückten. Der große Rest erhielt 1840 ein durch eigene Beiträge, Kapitalverzinsung und Zuschüsse des Finanzministeriums ausgestattetes „Localpensions-Institut", das ihn fürs Alter immerhin noch wesentlich besser stellte als die invaliden Arbeiter anderer Betriebe, auch solche aus der eigenen Branche. Ein Exempel dafür ist das Schicksal der Krankenkasse der Manufaktur Kloster Veilsdorf 153 . Sie war 1769 ins Leben gerufen und im wesentlichen von den Arbeitern finanziert worden. 1789, als die kaufmännische Leitung des Betriebes an Wilhelm H. I. Greiner überging, war ihr Bestand durch die Beisteuer der Produzenten auf 1 800 Gulden angewachsen, welche jährlich 90 Gulden Zinsen brachten. Die Arbeiter, die dem neuen Mann - wie zu berichten war, nicht ohne Grund - mißtrauten, fürchteten, daß ihrer Kasse seine Regie nicht recht bekommen würde. Außerdem waren sie der Meinung, daß der Zins des inzwischen angesammelten Kapitals ausreiche, um den bisherigen Mitgliedern auch ohne weitere Beitragszahlung eine Krankenunterstützung zu sichern. Sie sollte nach der - leider verloren gegangenen - Stiftungsurkunde bei „einem Officianten 20 Kreuzer, einem Fabrikanten 15 Kreuzer, einem Arbeiter 12 Kreuzer, einem Lehrjungen 9 Kreuzer" täglich betragen154. Greiner scheint diese Forderung, die letztlich auf eine Bevorrechtung der Stammkräfte des Betriebes hinauslief, als Hebel benutzt zu haben, um die Hilfe des herzoglichen Intendanten Römhild, der die durch diese Eingabe ausgelöste Untersuchung führte, die Arbeiter gegeneinander auszuspielen und jeden Gedanken an eine Solidarität aller Beschäftigten zu untergraben. Über das weitere Schicksal der Kasse ist nichts zu erfahren. Wahrscheinlich ist sie beim endgültigen Übergang des Betriebes an die Familie Greiner aufgelöst worden. Hatten die Arbeiter schon 1789 fürchten müssen, ihr feudaler Eigentümer werde sich eines Tages ohne viel Federlesens freizügig aus ihrem zusammengesparten Fonds bedienen155, so dürfte das neue Regime solche Sorge noch verstärkt haben. Damit begaben sie sich allerdings einer Organisationsform, die ihnen während der folgenden Krisenjahre von außerordentlichem Nutzen hätte sein können. Aber ihr Denken war zu dieser Zeit noch zu sehr vom Streben nach individuellem Nutzen geleitet. Die Einsicht, daß der Zusammenschluß der Interessen mehr wert sein würde als zeitweilige persönliche Vorteile, sollte erst am Ende eines langen, entbehrungsreichen Lernprozesses stehen, in dem die Manufakturisten von Kloster Veilsdorf hier ihre erste Lektion erhielten. 1813, als einer der ihren, der Blaumaler Ernst Eydt in Armut geriet und Hildburg153 154 155

Stieda, a . a . O . , S. 210 f. Zit. nach Stieda, a. a. O., S. 211. Ebenda, S. 212.

Keramikproduktion und -Produzenten

215

häuser Regierungsvertreter die Greiners aufforderten, ihn zu unterstützen, wiesen diese ein solches Ansinnen mit der Begründung von sich, daß keine Hilfskasse mehr bestehe 156 . Wenig später brachten sie dann für Jahre die gesamte Belegschaft an den Bettelstab, um ihren eigenen Geschäften anderwärts aufzuhelfen. E i n e weitere Hilfskasse, die nach Art der Meißner Sterbeunterstützung organisiert war, bestand gegen E n d e des 18. Jh. in der Manufaktur zu Wallendorf ^ Hier scheint auch eine für ihre Zeit human denkende Eigentümerin des Unternehmens ihren Arbeitern gelegentlich bei Krankheit oder Invalidität mit finanzieller Hilfe beigesprungen zu sein. Ihre Ausnahmestellung bestätigt sich übrigens auch durch die Tatsache, daß man in diesem Betrieb durchreisenden Fachgenossen ein „Viaticum" von einem Taler gab, das allerdings nur zu einem Drittel von der damaligen Manufaktureigentümerin aufgebracht wurde. Den Rest mußten die Produzenten dazulegen. Doch immerhin dürfte solch zum größeren Teil genossenschaftlicher Zuschuß das Zusammengehörigkeitsgefühl der Arbeiter zum Ausdruck gebracht und gestärkt haben. W i r möchten damit die - der Lage der Dinge nach notwendigerweise unvollständige Analyse der Lebensbedingungen und der Lebensweise unserer Keramikproduzenten schließen. D i e gewonnenen Teilerkenntnisse sollen in einer resümierenden Überlegung zusammengefaßt werden, die vor allem die Frage zu beantworten sucht, welche Leistungen die untersuchten werktätigen Schichten für die Gesellschaft ihrer Zeit, speziell für deren Kulturfortschritt vollbracht haben. E i n e solche Bilanz kann beim derzeitigen Stand der Kenntnisse allerdings nur in erster Annäherung erfolgen. Weitere Forschungen werden sie ergänzen und auch korrigieren müssen. Im Vergleich mit dem in anderen Bereichen der Manufaktur sowie des Handwerks Eruierten werden sie dabei einerseits an Kontur gewinnen, zum anderen aber helfen, kulturelle Prozesse und die ihnen innewohnenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. E i n e erste beachtliche Leistung unserer Keramikproduzenten ist ihr wesentlicher Anteil an der Tradierung der Arbeitserfahrungen in Handwerk und Manufaktur. E r umfaßt das Gesamtfeld des Herstellungsprozesses der Ware, vom Zubereiten der Masse bis zur künstlerischen Gestaltung in Form und Dekor. Von Bedeutung ist weiterhin der aktive Anteil der Manufakturarbeiter bei der Entfaltung einer neuen, progressiven Form der Produktion. Ihre Zahl stand während der ersten Hälfte des 18. Jh. noch weit hinter derjenigen der in unserem Territorium töpfernden Handwerksmeister und -gesellen zurück. Dieses Verhältnis ändert sich mit der Zunahme der Porzellan- und Steingutmanufakturen im letzten Drittel dieses Jahrhunderts. E t w a zwischen 1820 und 1830 wurde der personale Gleichstand erreicht. Rund 950 Handwerksbetrieben (einschließlich derer, die Steinzeug herstellten) mit 2 000 bis 2 500 Beschäftigten standen damals knapp 40 keramische Manufakturen gegenüber, in denen etwa 2 100 bis 2 300 Menschen arbeiteten. Allerdings befanden sich die letzteren beinahe ausnahmslos in Lohnabhängigkeit, während bei der erstgenannten Zahl 800 bis 900 Meister einzurechnen sind. Anders gesagt: E s gab zu jener Zeit auf unserem Sektor bereits mehr Manufakturarbeiter als m

Gauß, a. a. O., S. 74.

157

Stieda, a. a. O., S. 121 f.

216

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Handwerksgesellen. Beide Gruppen zusammengenommen umfaßten - als lohnabhängige Produzenten - rund 8 0 % aller in der Keramik Beschäftigten. D i e manufaktureile Betriebsweise führte zu einer erheblichen Steigerung der Produktivität - eine Tatsache, die hier lediglich resümierend festgestellt werden kann. D a ß sich trotz dieses mengenmäßigen Anwachsens der Erzeugnisse, abgesehen vom Wechsel zwischen Fayence und Steingut, keine Verdrängung einer Warengattung durch eine andere ergab, liegt einmal an den unterschiedlichen Ansprüchen der einzelnen Konsumentenschichten. Des weiteren spielen hier auch Vorgänge des Exports eine wesentliche Rolle. Mit der schrittweisen Ausbildung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse ging die Erschließung neuer Märkte einher. Bei der Fayence und dem Steinzeug hielt sich diese Bewegung noch ungefähr innerhalb der Grenzen unseres Territoriums und der ihm benachbarten Länder. Selbst das Steingut scheint diesen Umkreis im allgemeinen nicht überschritten zu haben. In einzelnen Städten partizipierten auch Handwerksbetriebe, die - primär für den lokalen Bedarf - bleiglasierte, bemalte Töpferware und/ oder Öfen herstellten, an der Erweiterung des Marktes, wobei die entscheidenden Anstöße sowohl von der besonderen Qualität ihrer Erzeugnisse als auch von der verkehrsgünstigen Ortslage her gekommen sein dürften. Alle diese Branchen übertraf in der Intensität des Exports von Beginn an das Porzellan. D i e während der ersten zehn Produktionsjahre noch weitgehend vom Hof und dem Hofstaat konsumierte Meißener Ware wurde bereits 1713 auf der Leipziger Messe angeboten und blieb seitdem, von handelspolitisch und durch Krieg bedingten Unterbrechungen abgesehen, gewinnbringender Ausfuhrartikel. 1774 stand die Manufaktur mit 105 europäischen Großeinkäufern in Kontakt 158 . Während der Folgezeit kristallisierten sich als Hauptabnehmer Rußland und die Türkei heraus. Der Südosten Europas war ein wichtiges Absatzgebiet auch für die meisten Thüringer Manufakturen. Vor allem vertrieb man dorthin kleine Kaffeetassen, die sogenannten Türkenköppchen. Ihre andere Ware nahm in steigendem Maße ein sich kräftig entfaltender Binnenmarkt auf, der seine konstitutive Bestätigung 1834 im deutschen Zollverein fand. Damit wuchsen - neben dem Export - auch Meißen neue Möglichkeiten zu, die dem Betrieb eben seit diesem Jahre regelmäßige Überschüsse sicherten159. Ausgeklammert aus der vorliegenden Untersuchung blieb eine detaillierte Analyse der Erzeugnisse. Bei der Fülle der vorhandenen Belege, aber auch der Probleme, die heute noch mit der Zuweisung vieler erhaltener Objekte - von Fayence und Porzellan einmal abgesehen - verbunden sind, wäre ein solcher Versuch im hier vorgegebenen Rahmen a priori zum Scheitern verurteilt. Auch müssen neue Materialerhebungen unser Blickfeld noch wesentlich erweitern, ehe eine Synthese möglich sein wird. Aber selbst ohne die Voraussetzung einer solchen Gesamtschau wird die Feststellung unbestritten bleiben, daß die zweite wesentliche Leistung unserer Produzenten in Handwerk und Manufaktur die k e r a m i s c h e n E r z e u g n i s s e selbst sind. Mögen zum Teil auch andere, besonders qualifizierte Kräfte die Formen und Dekore erdacht und entwickelt haben - ihre Umsetzung in die Serie, ihre Fortführung und Bewahrung lag 158 159

Böhmert, a. a. O., S. 50. Ebenda, S. 54.

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im wesentlichen in den Händen der vielen hundert unmittelbaren Produzenten. Ihre Arbeit erfüllte beim Konsumenten über die reine Zweckfunktion hinaus in vielen Fällen auch ästhetische Bedürfnisse und bereicherte seine unmittelbare Lebenssphäre. Das gilt für die malhornverzierte Töpferware ebenso wie für ein kostbares Porzellan. Bei der Einschätzung dieser Leistungen aber muß man auch jene Menschen vor Augen haben, die solche Stücke anfertigten, und sich die objektiven Grenzen vergegenwärtigen, die der Entfaltung des Individuums unter den gegebenen Voraussetzungen gezogen waren. Das beginnt mit den gesundheitsschädlichen Verhältnissen in den Drehstuben und Brennhäusern, setzt sich in den nicht nur unter heutiger Sicht zum Teil menschenunwürdigen Wohnverhältnissen fort und endet letztlich im Schablonendiktat einzelner Zweige der Malerei. Gerade deswegen gewinnt die mehr oder minder stark zu beobachtende individuelle Frische des Dekors bei der Töpferware, aber auch bei vielen Fayencen und in einzelnen Bereichen des Steinguts besonderes Gewicht und fordert unser weiteres, spezielles Interesse. Die objektive Beschränktheit des Daseins nahm eben denen, die hohe künstlerische Werke schufen, die Möglichkeit, ästhetische Qualitäten der von ihnen geformten und dekorierten Werke in ihrer eigenen Sphäre umzusetzen. Die Lebensbedingungen, denen sie unterworfen waren, schlössen eine solche Aneignung aus. Ihre Leistung war ihnen im weitesten Sinne entfremdet, denn sie kam Angehörigen anderer Klassen zugute und bildete ein integrales Element in deren Lebensweise. Diese Eigenart unterscheidet vor allem die Erzeugnisse der Porzellan- und der frühen Steingutproduktion grundsätzlich vom Töpfer- und Steinzeugwerk. Die engen Grenzen, die der Entfaltung der Persönlichkeit gesetzt waren, werden indirekt dadurch bestätigt, daß - im Vergleich etwa zu den Memoiren Greiners - ganz offenbar keine entsprechenden Aufzeichnungen aus der Feder von Arbeitern in den keramischen Manufakturen existieren. Wenn auch die Mehrzahl dieser Leute lesen und schreiben konnte, so verhinderte doch der relativ niedrige allgemeine Bildungsstand die Abfassung autobiographischer, die eigene Situation reflektierender Zeugnisse. Ein drittes Wirkungsfeld, auf dem positive Ergebnisse der Bemühungen unserer Keramikproduzenten, speziell in den Manufakturen, sichtbar werden, ist schließlich der Bereich der s o z i a l e n A k t i v i t ä t e n . Sie gingen in unterschiedliche Richtung. Zum einen sind Lohnauseinandersetzungen zu verzeichnen, die bis zum Streik führen konnten. Belege für die unterschiedlichen Ergebnisse eines derartigen Vorgehens liefert Meißen. Zum zweiten kämpfte die ganze Belegschaft erfolgreich um die Wiedereröffnung eines Betriebes. Das geschah in Kloster Veilsdorf. Und zum dritten gelang es den Arbeitern einiger Manufakturen, mit Einverständnis der Betriebseigentümer zeitweise oder für Dauer finanzielle Hilfsorganisationen zu schaffen. Diese Leistungen sind vor allem unter dem Gesichtspunkt der sozialen Konstituierung einer neuen Klasse hoch einzuschätzen. Sie repräsentieren gleichzeitig frühe Zeugnisse auf dem Wege der Bewußtseinsbildung des Proletariats. Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, daß einen solchen Prozeß unter den gegebenen Bedingungen Grenzen gesetzt waren. In subjektiver Hinsicht zeichnen diese sich am deutlichsten dort ab, wo von der feudalen Obrigkeit Hilfe gegen kapitalistische Machenschaften oder bei Lohnauseinandersetzungen erwartet wurde. Solche Hoffnungen wurden früher oder später von der

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ökonomischen Realität und den letztlich daraus resultierenden antagonistischen Klasseninteressen zerstört. Die Feudalherrschaft, aber auch Vertreter der Bourgeoisie waren bemüht, solche divergierenden Grundtendenzen auch von ideologischer Seite her zu überspielen und zu verschleiern. Bezeichnend für das Amalgan ökonomischer Interessen mit religiöser Überzeugung - eine Verbindung, die bei Manufakturkapitalisten protestantischen Glaubens häufig zu beobachten ist und geradezu eine Triebkraft ihres Handels bildet ist die Art und Weise, mit der Gotthelf Greiner seinen ersten Brand zu Limbach in Gang setzte. „Ich hielt zuvor eine Betstunde mit meinen Arbeitern im Brennhause, schilderte ihnen mein vieljähriges, unverdrossenes Streben trotz der bitteren Erfahrungen, stellte ihnen unverhohlen meine jetzige Lage dar und erflehte Gottes Segen für mein neues Werk, auf daß es nunmehr glücken möge, meiner Familie wie meiner Arbeiter Lebensunterhalt dauernd zu sichern. Dann stimmten wir einen Choral an"100. Als dann der Brand ausgezeichnet gelang und auf der Stelle für 40 Taler verkauft werden konnte, wird das freilich auch Greiner in erster Linie wohl seinem und seiner Leute Fleiß und Können zugeschrieben haben. Daß bei der Verwirklichung wirtschaftlicher Vorsätze andererseits religiöse Prinzipien auch zeitweise zurückgestellt werden konnten, beweist das Vorgehen des fürstlichen Gründers der Manufaktur von Kloster Veilsdorf. Viele seiner ersten Porzellangestalter und Arkanisten stammten aus katholischen Territorien. Prinz Eugen gestand ihnen die uneingeschränkte Wahrnehmung ihrer konfessionellen Belange zu, obwohl in SachsenHildburghausen das evangelisch-lutherische Bekenntnis Landesreligion war161. Solche Maßnahmen stützten die Illusionen von einer über allen Menschen waltenden Gerechtigkeit, die sich vornehmlich im Handeln der feudalen Obrigkeit verwirkliche. Aber auch hinsichtlich der Position der eigenen Person und den daraus entspringenden Möglichkeiten gaben sich die „Manufakturier" mindestens zu Beginn unserer Übergangsperiode vielfach falschen Vorstellungen hin. Wir konnten dies am Beispiel Tännichs studieren, obwohl dieser in seinem beruflichen Streben wenigstens zu Teilerfolgen kam. Wie viele andere mögen bei ähnlichen Vorhaben gescheitert sein - durch Übervorteilung, Konkurrenz oder wegen mangelnder eigener Mittel, oft wohl auch eigener Fähigkeiten. Sie blieben auf der Strecke, aber andere versuchten es immer wieder von neuem, wie etwa jener Caspar Grahl aus dem Limbach benachbarten Steinheid, der 1793 in seinem Dresdner Quartier eine Steingutproduktion beginnen wollte. Er scheiterte schon zu Beginn dieses Unternehmens am Einspruch der örtlichen Töpferinnung162, die solchen gewerblichen Alleingang argwöhnisch beobachtete und schließlich unterband. Er wird seine schmerzhaften Erkenntnisse kaum weitervermittelt haben. Am Glauben anderer Gründer, auf eigenen Füßen zum großen Erfolg zu kommen, hätten Lehren dieser Art wohl auch kaum rütteln können. Mindestens ebenso hemmend wie solche Illusionen wirkten auf den Prozeß der Ent160 161 162

Leben Greiner, S. 59. Gauß, a. a. O., S. 71 f. Weinhold 1978, S. 121.

Keramikproduktion und -Produzenten

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wicklung progressiver Bewußtseinsinhalte und der damit in Zusammenhang stehenden Solidarisierung der Produzenten die objektiven, strukturellen Bedingungen der Manufaktur, die aus ihrer Arbeitsteiligkeit entsprangen. Diese Betriebe vereinten zwar erheblich größere Zahlen von Menschen, als jemals in einer Handwerkstöpferei zusammen tätig gewesen waren. Aber jedes derartige Unternehmen unterwirft „nicht nur den früher selbständigen Arbeiter dem Kommando und der Disziplin des Kapitals, sondern schafft überdem eine hierarchische Gliederung unter den Arbeitern selbst"163. Diese Aufspaltung aber prägt auch und gerade fast alle der von uns verzeichneten sozialen Aktivitäten der unmittelbaren Produzenten. Man organisierte sich in Meißen nach Branchen zu gesonderten Hilfskassen. Selbst bei den Sterbekassen schlug dieses Prinzip letztlich darin durch, daß man den am schlechtesten Bezahlten, den Tagelöhnern des Holzhofs, nahezu vierzig Jahre die für alle anderen Manufakturarbeiter zugängliche Mitgliedschaft verweigerte und sie dann zu einer separaten Unterstützungsgemeinschaft mit minderen Mitteln verband. Ähnliches Denken in den Bahnen tradierter ständischer Vorurteile wurde auch bei dem Streit um die Hilfskasse in Kloster Veilsdorf sichtbar. Die Betonung und organisatorische Fixierung des Unterscheidenden, ob es nun der Differenzierung in Branchen oder - als deren Auswirkung - nach Lohngruppen entsprang, verhinderte eine übergreifende Solidarisierung, die die Voraussetzung für bleibende Erfolge sowohl in der Auseinandersetzung, aber auch für die Konstituierung als Teil einer neuen Klasse bildete. Ebensowenig, wie „die Manufaktur die gesellschaftliche Produktion in ihrem ganzen Umfang ergreifen, noch in ihrer Tiefe umwälzen" 164 konnte, waren deren Arbeiter in der Lage, im gesellschaftlichen Prozeß notwendige Stufen zu überspringen. Erst die volle Ausbildung und der Sieg der kapitalistischen Produktionsverhältnisse mit seinen sozialen, politischen und ideologischen Konsequenzen führte hier zu neuen, höheren Qualitäten der Aktion und damit auch zu entsprechenden Erfolgen.

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Augustin, a. a. O., S. 34, schreibt, daß allein in den Jahren zwischen 1 8 0 0 und 1 8 0 4 8 4 Beiträge zur Geschichte und Statistik des Fürstentums Halberstadt erschienen, in allen Jahrgängen zusammen weit über hundert.

67

G B 5 (1789/90) II, S. 3 7 7 - 3 7 8 . - Lieberkühn w a r Mediziner und lange Zeit Polizeibürgermeister. Kramer betont besonders seine Herkunft aus einer in einfachen Verhältnissen lebenden kinderreichen Familie. Lieberkühn wurde als Mediziner sehr geschätzt und trat als A n w a l t der Armen auf. Er galt als guter Naturwissenschaftler und vertrat eine „eigene" Religionsauffassung, auf die aber nicht näher eingegangen wird.

392

SCHMITT

rischer Zusammenhänge der Beitrag „Über Deutschland" 68 von Lucanus bemerkenswert. Er beschränkte sich nicht auf eine Beschreibung der geographischen Lage und der politischen Verhältnisse Deutschlands, sondern berücksichtigte auch soziale Fragen. Der Autor rügte den mangelnden Nationalstolz: der Deutsche kümmere sich viel mehr um die Dinge des Auslands und viel zu wenig um seine eigenen Angelegenheiten. Leider begnügte sich Lucanus mit einer derartigen Feststellung; Analysen der konkreten historischen Situation oder gar eine Zukunftsperspektive bleibt er schuldig, da dies, wie bei den meisten deutschen Aufklärern, den eigenen geschichtlichen Erfahrungshorizont überschritt. Er beschloß seinen Beitrag mit einem Abriß zur deutschen Wirtschafts- und Kulturgeschichte, die er der Kulturgeschichte Frankreichs gegenüberstellt. Von seinem kritischen Urteil zeugt auch der Hinweis, daß in Deutschland die Musen durch die Waffen verscheucht wurden 69 . Das Wochenblatt hat damit auch an der Schaffung eines Geschichtsbildes mitgewirkt, das auf der Erfassung von Grundzügen nationaler Geschichte zielte, wobei allerdings die Orientierung auf die Vergangenheit dominierte. Die Veränderungen der Produktionsverhältnisse im Übergangszeitalter vom Feudalismus zum Kapitalismus erkannte der Autor nicht. Die Rechtfertigung des preußischen Staates und die Orientierung auf Reformen zwang zur Hinwendung zur Geschichte, was aber auch neue Illusionen erweckte. Die soziale Breite und Tiefe der Widersprüche der feudalabsolutistischen Ordnung konnte auch Lucanus nicht erfassen. Diese ideologische Begrenztheit war historisch-klassenmäßig bedingt und in dieser Zeit unüberwindbar. Diesem Themenkomplex stehen zwei weitere inhaltliche Schwerpunkte sehr nahe. Insgesamt elf Beiträge über Preußen, über seine Geschichte und Staatsform, über seine Herrscher, vor allem über Friedrich II. finden sich, bedingt durch den Tod Friedrichs II., im zweiten Jahrgang. In den folgenden Bänden schwankt die Zahl zwischen sechs und zehn. Ausführliche Artikel über Friedrich II. erscheinen noch lange nach seinem Tode. Sie deuten ihn - wie auch seinen Nachfolger - apologetisch im Sinne des bürgerlichaufklärerischen Fortschritts oder befassen sich mit Meinungen ausländischer Persönlichkeiten über ihn70. Eine weitere Themengruppe bilden Reisebeschreibungen und Berichte über andere Länder, die gelegentlich so abgefaßt waren, daß sie zu einem kritischen Vergleich mit den preußischen Verhältnissen herausforderten. Die Zahl dieser Beiträge insgesamt ist 68

G B 6 (1790) I, S. 7 - 1 6 , 1 0 0 - 1 0 8 , 1 1 3 - 1 1 8 , 3 6 1 - 3 7 2 .

69

In der Beurteilung des Krieges kommt der Zwang des absolutistischen Staates, dem sich die Halberstädter Aufklärer zu beugen hatten, am schnellsten zum Ausdruck. 1786 war es noch relativ einfach zu schreiben, daß ungestörte Tätigkeit den Nationen mehr Gewinn bringe als Krieg und Eroberung (vgl. Fischer, in: H G B 2 ( 1 7 8 6 / 8 7 ) II, S. 1 2 9 - 1 4 0 ) . Seit den Interventionskriegen dann fühlen die Halberstädter sich verpflichtet, kriegsbejahende Beiträge zu veröffentlichen und die Notwendigkeit von Kriegen zu rechtfertigen.

70

Vgl. etwa Fischer, Über Friedrichs und des Preußischen Staats Einfluß auf den menschlichen Geist. In: N G B 9 (1793) I, S. 2 4 3 - 2 5 9 . - „Über die Empfindungen der Preußischen Nation bei Friedrichs Tode". In: N G B 10 (1794) I, S. 2 9 1 - 3 0 6 . Dieser Beitrag setzt sich mit der Feststellung Mirabeaus auseinander, daß bei Friedrichs Tode niemand trauerte und klagte oder den Toten rühmte.

393

.Halberstädtische gemeinnützige Blätter"

beachtlich. Etwa seit 1792 erscheinen in der Regel zwei Berichte pro Jahrgang, vorgestellt werden Holland, Türkei, England, Frankreich, Irland, Polen, Tunis, Schweden, China, Japan und Amerika. Solche Darstellungen sind aufschlußreich für das politische Denken der Halberstädter Aufklärer 71 . Was sie in den Berichten über Preußen nicht direkt aussprechen wollten, findet in der Gegenüberstellung mit dem Staats- und Kulturleben anderer Nationen kritischen Ausdruck: So begrüßen sie den historischen Fortschritt in Amerika, wecken Verständnis für die kulturhistorischen Besonderheiten anderer, vor allem der asiatischen Völker, wenden sich gegen politische und soziale Unterdrückung in den Kolonien. Die Länderbeschreibungen eigneten sich weitaus mehr als andere Themen dazu, dem deutschen Bürgertum Widersprüche zwischen den aufklärerischen Idealvorstellungen und den konkreten deutschen Verhältnissen wenigstens in Ansätzen bewußt zu machen. Sie werden damit auch zum Ausdruck für die Entwicklungsstufe bürgerlicher Weltanschauung. Bleibt auch der Konformismus mit der preußischen Monarchie bestimmend, zeigt auch das Weltbild der Wochenschrift einige aus dem Kompromißcharakter resultierende Widersprüche, das Publikum der Wochenschrift wurde auf diese Weise doch zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Umwelt angeregt. Auf jeden Fall gelang es der Intelligenz, aus fortgeschrittenen Ländern Anregungen zu rezipieren und ihrem Weltbild einzugliedern. Besonders von den Beiträgen der ersten fünf Jahrgänge gingen deshalb wichtige Impulse für die Herausbildung einer bürgerlichen Ideologie aus. Das war zugleich die produktivste Entwicklungsphase in der Geschichte des Wochenblattes. In den späteren Jahrgängen nahm man viel von der anfänglichen Bereitschaft zu kritischen Auseinandersetzungen zurück.

4. Thematische Schwerpunkte der Gemeinnützigen

Blätter

In den Gemeinnützigen Blättern deuten sich neue ideengeschichtliche Prozesse an, die durch den Bezug auf menschliche Tätigkeitsbereiche entstanden waren. Natürlich blieb auch bei den Halberstädtern, wie allgemein in Deutschland, das ökonomische Denken in der Übergangsphase vom Feudalismus zum Kapitalismus gegenüber dem in England und Frankreich zurück. Den publizistischen Beiträgen zu diesem Themenkreis mangelt es folglich an Tiefe. Doch „obwohl sich ein großer Teil der Handels- und Manufakturkapitalisten im Einvernehmen mit der feudalen Staatsmacht befand, trat jetzt selbst in solchen Staaten wie Preußen diejenige Gruppe unter den Manufakturunternehmern 71

In seiner Holland-Darstellung (HGB 1 ( 1 7 8 5 ) S. 1 6 3 - 1 7 3 , 1 7 7 - 1 8 0 ) spricht Diest davon, daß es ideal wäre, die vorzügliche holländische Wirtschaft mit der „Staatsleitung und Weisheit" Friedrichs II. zu verbinden. Diest spricht offen seine Bewunderung für das kapitalistische Wirtschaftssystem und den hohen Lebensstandard des holländischen Bürgers aus, bekennt sich als Anhänger der holländischen „freien" Verfassung und der Toleranz gegenüber den Konfessionen. Entsprechend der sicheren, auf der Ausbeutung der Kolonien beruhenden wirtschaftlichen Grundlage der Holländer seien auch genügend Mittel vorhanden, um eine großzügige Sozial- und Armenhilfe aufzubauen, die Diest im europäischen Maßstab als vorbildlich anerkennt. - Vgl. weiterhin J. F. Heyer, Über Archenholtzens England. In: H G B 3 ( 1 7 8 7 ) I, S. 1 9 - 3 6 , w o Justizwesen, Parlament, Preßfreiheit und andere bürgerliche Errungenschaften gerühmt werden.

394

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stärker in Erscheinung, die an einer freien, vom Staat unbeeinflußten Entwicklung interessiert war und deshalb auf die staatliche Wirtschaftspolitik im Sinne der in England und Frankreich entwickelten ökonomischen Lehren einzuwirken versuchten"72. So erklärt sich, daß man im Wochenblatt nicht nur Beiträge abdruckte, die die Leistungen des preußischen Staates für die Förderung der wissenschaftlichen und ökonomischen Kräfte priesen, es finden sich vereinzelt auch vom bürgerlichen Stolz auf die eigene Leistung zeugende Darstellungen. Ein bemerkenswerter Beitrag ist die wirtschaftsgeschichtliche Abhandlung über die Haeselersche Textilfabrik in Hannover73, bot sie doch den Herausgebern Gelegenheit, auf die Wichtigkeit von Fabriken dieser Größenordnung - sie beschäftigte 276 Arbeiter hinzuweisen. Der Beitrag ist angefüllt mit detaillierten Angaben über Betriebs- und Organisationsformen. Angeführt werden die Durchschnittsverdienste einzelner Berufsgruppen74, der Maschineneinsatz, die Produktionsergebnisse, die Material-, Herstellungsund Verkaufskosten, jeweils differenziert nach der Qualität der Produkte. Selbst der Jahresgewinn der Fabrik wurde berechnet75. Der Bürgerstolz gibt sich in dem Hinweis zu erkennen, daß der Fabrikant Haeseler vor 37 Jahren nur mit drei Webstühlen begann und es ihm trotz geringen eigenen Vermögens gelungen sei, eine wirtschaftlich so rentable Fabrik aufzubauen. Ähnliche Analysen der industriellen Entwicklung im Fürstentum Halberstadt fehlen leider; eine Untersuchung der Handwerkerberufe in Preußen 76 bleibt zu sehr historischer Überblick und erschöpft sich in einer allgemeinen Wertschätzung handwerklicher Berufe. Auch über die soziale Lage der Handwerker und Fabrikarbeiter geben die wenigen einschlägigen Artikel keine Auskunft. Jeweils in nur wenigen Sätzen wird z. B. die Notlage der Arbeiter in den Textilbetrieben erwähnt 77 oder auf Unruhen - „Zusammenrottierungen und sogenannte Gesellenaufstände" - unter den Handwerkern hingewiesen78. Letztere meinte man durch Abschaffung überlebter Handwerkerbräuche und durch bessere berufliche und sittliche Erziehung beheben zu können. Über die wirtschaftliche Situation des Bauern ist ebenfalls nicht viel mehr zu erfahren ; ein Beitrag über die Gliederung des Bauernstandes in Preußen79 z. B. ist histo72 73

Vgl. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus, a. a. O., S. 1 9 6 . Kolbe, Über die Haeselersche Zeugfabrik zu Clausthal und Herzberg. In: N G B 1 0 ( 1 7 9 4 ) I, S. 35 bis 46.

7'*

Die 2 7 6 Arbeiter verdienten z. B. pro Woche bei 9 Arbeitsstunden 1 9 4 R t h l r ; am besten bezahlt waren z. B. die Kettenscherer, die 2 Rthlr pro Woche erhielten. Die Spulenmacher verdienten nur 1 2 Groschen.

75

Der Jahresgewinn für den Fabrikanten wird mit 1 5 3 5 5 Rthlr angegeben, wovon allerdings noch

76

Eichholz, Etwas von Handwerkern; nebst einem Verzeichnis der bei den mehresten Gewerken der

77

Barkhausen, Rath und Bitte an meine Mitbürger. In: N G B 7 ( 1 7 9 1 ) I, S. 2 3 2 - 2 3 8 .

Materialkosten (Holz, Farben) abzuziehen sind, die dem Autor nicht bekannt waren. Chur- und Mark Brandenburg üblichen Meisterstücken. In: H G B 1 ( 1 7 8 5 ) S. 2 5 7 - 2 6 4 . 78

Heinrich Matthias, Über die Verbesserung verschiedener Verhältnisse des bürgerlichen Lebens. In: N G B 1 1 ( 1 7 9 5 ) I, S. 3 6 9 - 3 8 2 .

79

„Fragmente aus der Geschichte und Statistik der preußischen Monarchie, die Bestandteile derselben betreffend". In: N G B 1 6 ( 1 8 0 0 ) S. 4 6 5 - 4 8 0 .

„Halberstädtische gemeinnützige Blätter"

395

irisch, doch nicht sozial orientiert. Eine Zusammenstellung von Nahrungsmittelpreisen in Halberstadt und anderen größeren Städten, darunter Magdeburg, bleibt ohne gesellschaftliche Bezugspunkte80. Was im übrigen über den Bauern gesagt wird, hat mit seiner wirtschaftlichen Bedeutung im preußisch-absolutistischen Staate nicht unmittelbar zu tun. Das Bild des Bauern, das die Gemeinnützigen Blätter ihren Lesern vermitteln, ist durch die sentimentale Hochschätzung seiner Arbeit bestimmt. Im Rousseauschen Sinne stellte man sich den Landmann als reinen, naiven und unverdorbenen Bewahrer menschlicher Tugenden vor, doch tüchtig in seinem Beruf. Befangen von diesem Ideal, das sie durch die Vorstellung von der Demut gegenüber der Obrigkeit abwandeln, gelingt es den Aufklärern nicht, die Beziehung zur konkreten Wirklichkeit der landwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse herzustellen. Da es ökonomische Gesellschaften u. ä. in Halberstadt nicht gab, übernahm das Wochenblatt die Funktion, technische Fortschritte in der Industrie, Landwirtschaft und Wissenschaft an die Interessenten weiterzuvermitteln. Erreichten die Aufklärer auch keine tieferen Einsichten in die Sozial- und Wirtschaftsstruktur ihrer Epoche, so ist ihnen doch das Verdienst nicht abzusprechen, einiges für die Propagierung und Anwendung technischer Erkenntnisse getan zu haben. Beiträge über Technik, Bauwesen, Brandverhütung, landwirtschaftliche Kulturen (u. a. Tabakanbau, Obstpflanzungen) und fortschrittliche Produktionsmethoden, Viehzucht, Hauswirtschaft, über Medizin, Krankenpflege, Seuchenschutz (u. a. Schutzimpfung gegen Blattern), Kinderpsychologie, gesunde Lebensweise verteilen sich etwa gleichmäßig über alle Jahrgänge des Wochenblattes. Mit diesem Themenkomplex konnten, indem Vorbehalte gegenüber Neuerungen abgebaut wurden, sie für die Wirtschaft und Lebensweise der Menschen nützlich werden. Allerdings wird hinter allen Bestrebungen die Suche nach dem Nutzen vor allem für die bürgerliche Klasse deutlich. In ihrer Zielstellung haben sie hervor, daß sich derjenige die „Bürgerkrone" verdiene, der jährlich beachtliche Mittel durch bessere Technik, Materialverbrauch und Rationalisierung einsparen lerne81. Hinweise auf entsprechend gute Produktionsergebnisse und Erfolge einzelner Landwirte sollten dazu dienen, Initiative unter den werktätigen Volksschichten zu erwecken, die Voraussetzung war, um neue Produktionsmethoden zu übernehmen. Wenn auch, was noch zu zeigen sein wird, kaum Vertreter aus den kleinbürgerlichen und bäuerlichen Schichten zu den Lesern des Wochenblattes rechneten, so besteht auch die wesentliche Aufgabe der Zeitschrift in der Wegbereiterfunktion. Es wird wiederholt an Lehrer und Pfarrer appelliert, das hier vermittelte Wissen an die eigentlichen Adressaten weiterzugeben. Der Ausgangspunkt war die Überzeugung, daß die werktätigen Volksmassen in dem Maße an der Bildung und an wissenschaftlich-technischen Neuerungen partizipieren sollten, wie sie der bestehenden Gesellschaft nützlich werden konnten, für die als Perspektive eine allmähliche Umwandlung in eine bürgerliche Gesellschaft angestrebt wurde. Mit dieser inhaltlichen Konzeption erfüllten die Aufklärer ihren selbstgewählten Anspruch, „gemeinnützig" zu sein. 80 81

NGB 13 (1797) I, S. 4 0 9 - 4 1 5 . Martens, Über die Verbesserung der Stubenöfen. In: HGB 2 (1786) I, S. 3 5 3 - 3 8 3 .

396

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Nur erwähnt seien Themen wie Freiheit, Krieg und Frieden, Patriotismus, Religion, Gewissensfreiheit und Toleranz, Rousseau82 und Luther, Geschichte der Universitäten, Aberglauben und Hexenprozesse83, die den Halberstädter Kreis mit der deutschen und europäischen Aufklärung verbinden 84 . Die philosophischen Einsichten sind wenig selbständig und bieten kaum neue Aspekte. Doch zeugen die genannten Themendominanten von der Aufnahme geeigneter Ideen, um sie für den Halberstädter Kommunikationskreis zu erschließen und zu popularisieren. Da ihre Zielvorstellungen in erster Linie darauf orientierten, allgemeine Wertvorstellungen durchzusetzen und dabei gesellschaftliche Konflikte zu vermeiden, blieben ihre Erfolge bescheiden. Mit einer allgemeinen Wertschätzung bürgerlichen Selbstbewußtseins konnte es ihnen nicht gelingen, die vorherrschende Feudalideologie zu überwinden. Die Absicht, den Rang einer Akademie einzunehmen - von Villaume in den ersten Jahren des Bestehens der Literarischen Gesellschaft formuliert - konnte durch die z. T. freiwillige Entscheidung für das „Mittelmaß" nicht verwirklicht werden, und die geradezu unerschütterliche Selbstgewißheit der Herausgeber kann man nur damit erklären, daß sie ihre Interessen in Übereinstimmung mit denen des preußischen Staates hielten. Der entscheidende Antagonismus zwischen Bourgeoisie und Feudalsystem kommt in den Beiträgen nicht zum Ausdruck. So fehlt es ihren Themen an nationalen Aspekten. Mangelnde soziale Einsichten und lokale Gebundenheit verhindern - und darin bilden die Halberstädter keine Ausnahme85 - , daß sich diese Grundposition verändern konnte. Die weltanschauliche Grundhaltung, die Bevorzugung philosophischer und wissenschaftlicher Themen und die „gemeinnützige", auf Leistung und Tätigkeit orientierte Zielstellung der Aufklärer bewirkten eine Zurücksetzung der Unterhaltungsansprüche des Lesepublikums. In zahlreichen Jahresanalysen und Rechenschaftsberichten wiesen sie Einwände dieser Art zurück. Die Herausgeber lehnten eine konzeptionelle Änderung ab, obwohl sie sich dessen bewußt waren, dadurch einen großen Teil des potentiellen Publikums nicht gewinnen zu können. Obwohl das Unterhaltungsbedürfnis nicht als „gemeinnützig" empfunden wurde, verzichteten sie nicht ganz auf Beiträge unterhaltenden Charakters. In die Zeitschrift wurden Erzählungen86, Fabeln - u. a. von Lichtwer kleine dramatische Szenen, Lieder und Gedichte, Anekdoten, Rätsel, Scharaden und Sprüche aufgenommen. Häufig wurden sie lediglich genutzt, um die letzten Seiten einer 83

Sie übernahmen z. B. den Bericht von Archenholz in der „Minerva" über die Einweihung des Rousseau-Denkmals und schilderten vergleichbare Volksfeste im Halberstädtischen. Vgl. Weissei, a. a. O., S. 33.

83

Vgl. z . B . „Über eine im 1 7 . Jahrhundert im Halberstädtischen verbrannte Hexe (Ursel Hufner)".

8''

Im Rahmen dieser Untersuchung können diese Inhalte nicht durch einen Themenkatalog belegt

In: N G B 1 2 ( 1 7 9 6 ) I, S. 4 9 - 6 4 . werden. 85

Hans-Dietrich Dahnke, Literarische Prozesse in der Periode von 1 7 8 9 bis 1 8 0 6 . In: Weimarer Beiträge 1 7 ( 1 9 7 1 ) H. 1 1 , S. 4 6 - 7 1 .

86

Die meisten Erzählungen sind Übersetzungen aus dem Englischen, auch aus dem Französischen; häufig spielt die Handlung im Vorderen Orient. - Gegen Ende des Jahrhunderts werden Gespenstergeschichten abgedruckt, die alle eine rationale Lösung haben. Bei einigen handelt es sich um Volkserzählungen aus Orten der Umgebung.

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397

Nummer zu füllen. Die Auswahl jedoch nahmen die Herausgeber bewußt vor: Alle literarischen Beiträge dienten der Propagierung ihrer Vorstellungswelt. Die literarischen Texte werden als Popularerziehungsmittel eingesetzt. Man wählte deshalb nur solche Formen, die sich für die Vermittlung moralisierend-erbaulicher Inhalte eigneten. Intensiver als in philosophischen Abhandlungen drückt sich in ihnen das Ideal des zufriedenen, sich bescheidenden, gläubigen und arbeitsamen Menschen aus. Die historische Periode, in welche die Herausgabe der Gemeinnützigen Blätter fiel, war für die Literaturentwicklung in Deutschland eine Zeit der Überprüfung und Umgestaltung des ästhetischen Denkens und literarischen Schaffens, ausgelöst durch die Suche nach tragfähigen Neuansätzen zu produktiver Wirksamkeit infolge der Impulse, die man der Französischen Revolution verdankte. Die nun einsetzende Literaturepoche ist durch politisch engagierte Werke neuer Qualität gekennzeichnet und gipfelte im Schaffensbündnis von Goethe und Schiller sowie in der Literaturbewegung der Jenaer Frühromantik. Theoretisch waren ihre Vertreter durchaus auf der Höhe der historischen Situation; ihre ideologischen Grenzen jedoch erwiesen sich durch die historisch-klassenmäßige Bedingtheit als unüfeerwindbar. „Nur in Ausnahmefällen wurde es möglich, Epochenbewegung und Menschheitsgeschichte auf der Basis echter historischer Erkenntnis miteinander produktiv zu verbinden" 87 . Diese Entwicklung der progressiven zeitgenössischen Literatur, Kunst und Philosophie wurde in der Wochenschrift nicht reflektiert; vielmehr tendierten die Herausgeber zur Bevorzugung von meist trivialen und flachen Werken. Auch Herders durch die Beschäftigung mit dem Volkslied entstandene Programm für die Schaffung einer volksnahen, realistischen Nationalliteratur spielte in ihren Bemühungen z. B. keine Rolle. Den Volksmassen wird keine eigene literarische und künstlerische Leistung zugestanden, aber wiederholt wird der Wunsch nach einem Volksschriftsteller ausgesprochen (vgl. Kap. 7), wie er sich aber mit einem breiten funktionalen Wirkungsfeld erst im 19. Jh. entwickeln konnte. Die eigene literarische Leistung im Wochenblatt bleibt hinter den eigenen Forderungen zurück. Leistungen der älteren Generation, wie z. B. von Gleim, wiederholten sich nicht; auch fehlten volkspädagogische Werke, die wie Beckers oder Salzmanns Schriften populär wurden. Auf eine Besonderheit aber soll hingewiesen werden: in Halberstadt lebte der Bauernphilosoph David Klaus (f 1793), dem zu Ehren Streithorst sogar ein Volksfest begründete 88 . Streithorst schrieb auch die erste Biographie von David Klaus und propagierte dessen Dichtungen im Wochenblatt 89 . David Klaus, 1718 als Sohn eines Hirten geboren, arbeitete als Schäfer und zuletzt als „Hospitalist und Vorleser" im Armenhause. Es wurde ihm ermöglicht, die Schule 87

Vgl. dazu Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 7 : 1 7 8 9 bis 1 8 3 0 , Berlin 1 9 7 8 , bes. S. 24.

88

In dem Kommentar zur Beschreibung des David-Klaus-Festes ( 1 7 9 1 ) bekennen sich die Herausgeber zu solchen Festen, die alle Volksschichten aktiv einbeziehen und geben ihnen den Vorrang gegenüber passiven Kirchenfesten.

89

N G B 9 ( 1 7 9 3 ) I, S. 2 7 7 - 3 0 6 , 3 0 9 - 3 1 6 . Daran schließt sich eine Auswahl aus der Spruchsammlung an, die sich D a v i d Klaus als seine Leitsprüche aus Büchern ausgezogen hatte.

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zu besuchen; er hatte ein enges Verhältnis zum Buch und verwendete seinen kargen Lohn, um sich selbst Bücher zu kaufen. Seine Lieblingsbücher waren Schriften von Böhme, Weigel, Arnolds „Kirchen- und Ketzergeschichte", volksmedizinische Schriften und Jöchers Gelehrtenlexikon. Aus diesen Werken machte Klaus sich Notizen und, verbunden mit seiner eigenen Lebensauffassung und Philosophie, entstand daraus eine Sentenzensammlung, die durch Streithorst zum Druck befördert wurde. Streithorst unterhielt sich viel mit Klaus und sicherlich haben seine Weltanschauung und religiöse Haltung diesen sehr beeinflußt. Die Sentenzensammlung entwirft das Bild eines religiösen Menschen, dessen Quelle der Lebensfreude die Anspruchslosigkeit ist. Genügsamkeit und Zufriedenheit, Gewissenhaftigkeit und Wohltätigkeit, Arbeitsfreude und Fleiß, Naturverbundenheit und „ungeheuchelte Demut" sind die Eigenschaften, die die Aufklärer an diesem „Mann im groben Kittel" so sehr schätzten. Daß aus ihm „unter günstigem äußerlichen Umständen" ein „bedeutender Mann vom ersten Range" hätte werden können, zeugt wiederum von Selbstbewußtsein und der Überzeugung, daß sich „Feder und Pflug" durchaus vereinen lassen und Aufstiegschancen auch für Vertreter der unteren Schichten bestanden. Zur Propagierung protestantisch-orthodoxer Zufriedenheit trugen auch literarische Zeugnisse anderer „gelehrter Bauern" bei, z. B. Gedichte von Isaac Maus 90 . Immerhin beweisen diese publizistischen Beiträge, daß nicht nur der arbeitende, sondern auch der denkende und dichtende Bauer in das Blickfeld der Aufklärer gelangte. Der Einfluß der Rousseauschen Gesellschaftsauffassung auf die weltanschauliche Position der Halberstädter Aufklärer bereitete den Boden für diese Hinwendung zum Bauern, zu seiner Tätigkeit und Vorstellungswelt. Diese Auffassung ist ihrem Wesen nach antifeudal, und nicht ohne Berechtigung sah der preußische Staat diesen Erfolg der Popularaufklärung mit Besorgnis. Aber die Verhaltensleitbilder, die das Halberstädter Wochenblatt propagierte, waren so sehr auf den feudalabsolutistischen Staat zugeschnitten, daß sie über kritische Ansätze nicht hinausgelangten. Grundlegende Abhandlungen über Kunst und Literatur finden sich in den Wochenblättern nur wenige 91 . Die theoretischen Studien befassen sich mit Musikinstrumenten, Kirchenmusik, Analyse der Schauspielarbeit, deutscher Literatur in England, Geschichte der Faustsage, dem Werk von Rollenhagen, Wieland und einigen anderen Dichtern. 90

Vgl. H G B 2 (1786/87) I, S. 2 5 6 . Die Gedichte und Briefe von I. Maus, die 1 7 8 6 in Mainz erschienen, gehörten zu den von den Herausgebern im Wochenblatt empfohlenen Büchern. In diesem Zusammenhang sprechen sich die Herausgeber für die Bildung in den unteren Schichten aus.

91

Eine erwähnenswerte Ausnahme bildet u. a. Fischers Beitrag „Über Kirchenbaukunst". In: G B 5 (1789/90) II, S. 5 8 - 6 4 . - D i e von Fischer entwickelte Theorie entspricht dem klassizistischen Geschmack. D i e „Einfalt und Würde" der Formgestaltung stellt Fischer in den Zusammenhang des jeweiligen Zwecks des Bauwerks und der Kunstgegenstände. - Eine Analyse der Buchempfehlungen wäre unter diesem Aspekt sehr aufschlußreich. Sie zeigen, wie sehr die Zeitschrift auf die gebildeten bürgerlichen Schichten orientiert war. Einen breiten Raum nehmen Empfehlungen von Titeln der Erbauungsliteratur und Schriften von Popularaufklärern ein. Nur gelegentlich werden Neuerscheinungen von Goethe, Bürger oder Schiller angezeigt. - Wiederholt äußerten die Herausgeber, auf keinen Fall solche Literatur empfehlen zu wollen, die Unruhe ins Volk tragen könnte.

„Halberstädtische gemeinnützige Blätter"

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Mehr Aufmerksamkeit wird der.Volksdichtung gewidmet. D i e Zeitschrift enthält Abhandlungen über Volkslieder und Sprichwörter, über Volksfeste und -bräuche, Volksglauben, Volkslesestoffe, populäre Romane u. a.

5. Das Hauptanliegen des Wochenblattes: Förderung des Bildungswesens und Verbesserung der Armenfürsorge D i e sozialen Aspekte der weltanschaulichen Position der Halberstädter Aufklärer kommen weniger deutlich in literarischen und kunsttheoretischen Beiträgen zum Ausdruck, stärker hingegen in den beiden zentralen Anliegen des Wochenblattes: im Aufbau eines leistungsfähigen, „gemeinnützigen" Bildungswesens und in der Armenfürsorge. In seiner Abhandlung „Über das, was billig alle Menschen wissen sollten" begründete Fischer die Übereinstimmung zwischen Bildungsabsichten und Gemeinnützigkeit 92 . Nach Meinung des Verfassers gebe es Dinge im menschlichen Leben, die, wie z. B. Militärwissenschaft, Astronomie und Handschriftenkunde, nur wenige wissen müssen. Andere Kenntnisse hingegen müßte jedermann ohne Rücksicht auf sozialen Stand und Alter haben. Fischer bezeichnete diese Zielsetzung als „eine Erkenntnis unserer Zeit" und begründete seine Position zugleich historisch. E r verwies auf die Unbildung der Obrigkeit im Mittelalter, als von einem Bischof nur verlangt wurde, daß er lesen und ein paar Gebete sprechen konnte, also wesentlich weniger, als heute von einem Handwerker verlangt werde. „Von allen übrigen Leute glaubte man damals, es verstände sich von selbst, sie müßten dumm bleiben, denn wenn sie zu klug sein wollten, ließen sie sich nicht gut regieren". Fischer machte hiermit seinen Zeitgenossen den Zusammenhang zwischen Volksbildung und mündigem Staatsbürgertum klar. Folgende Grundkenntnisse waren nach seiner Meinung gemeinnützig: „richtige" Gotteserkenntnis, Selbsterkenntnis und Einsicht in die Wahrheit, allgemeine Menschenkenntnis, Verständnis für die soziale Umwelt, Stadt-, Heimat- und Vaterlandsgeschichte (einschließlich Naturgeschichte, Ökonomie, Verfassungs- und Rechtsgeschichte), allgemeine E r d - und Himmelsgeschichte, Rechenkenntnisse, Beherrschung der Muttersprache, Orthographie, kritische Haltung zum eigenen Wissensstand und Begriffsvermögen. E i n solches Programm für ein breites Publikum zu verwirklichen, mußte, darüber waren sich die Herausgeber im klaren, auf den Widerstand der herrschenden und überlieferten Ideologie stoßen. D i e Herausgeber beabsichtigten daher kein radikales Vorgehen. So betonten sie z. B., daß sie „Leser mit gewaltsamer und übelverstandener Aufklärung, besonders in Absicht der Religion, verschonen wollen". Religionskritische Beiträge sind daher in den Jahrgängen der Zeitschrift selten. Damit bezogen die Halberstädter eine deutliche Position: sie strebten nach der Verwirklichung ihres Bildungsprogramms, vermieden aber die politisch-weltanschauliche Konfrontation. Ebenso bemühten sie sich stets von neuem um eine Bestimmung des Begriffs „Aufklärung", ohne jedoch die Frage nach dem politischen Standpunkt aufzuwerfen und nach dem Ursprung zu fragen 93 . 92

HGB 1 (1785) S. 9 - 2 0 .

93

Vgl. Weissei, a. a. O., S. 2 9 0 u. ö.

400

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Der Begriff „gemeinnützig" bedeutete den Halberstädtern sehr viel. „Gemeinnützig seyn ist mehr als Fürst seyn"94, schreiben voller Stolz die Herausgeber. Sie forderten vom Menschen, seine gesellschaftliche Funktion zu begreifen, indem er seine Talente in den Dienst der Gesellschaft stelle. Voraussetzung für den Gemeinschaftssinn seien Bildung und Wissen, Erkenntnisdrang und Wahrheitssuche, Toleranz und Sozialempfinden. Mit dieser Auffassung vom Gemeinschaftssinn unterschieden sich die Halberstädter in keiner Weise von den durch die Aufklärer propagierten Auffassungen, die letztlich a l l e durch die Bedürfnisse der bürgerlichen Warenproduzenten bestimmt wurden. „Nachdem die sentimentalen und moralischen Paraphrasen, die bei den Franzosen den ganzen Inhalt der Nützlichkeitstheorie bildeten, erschöpft waren, blieb für eine fernere Ausbildung dieser Theorie nur noch die Frage übrig: wie die Individuen und Verhältnisse zu benutzen, zu exploitieren seien. . . . In den Bedingungen der Bourgeoisie befangen, blieben ihr zur Kritik nur diejenigen Verhältnisse, die aus einer früheren Epoche überkommen waren und der Entwicklung der Bourgeoisie im W e g e standen. . . . Der ökonomische Inhalt verwandelt die Nützlichkeitstheorie allmählich in eine bloße Apologie des Bestehenden, in den Nachweis, daß unter den existierenden Bedingungen die jetzigen Verhältnisse der Menschen zueinander die vorteilhaftesten und gemeinnützlichsten seien" 9 5 . Diesem Entwicklungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft unterlagen alle ethischen Werte, auf die sich auch die Halberstädtcr immer wieder bezogen. Das Bemühen um Wahrheit entsprach in dieser Phase der historischen Mission des Bürgertums, das in seiner welthistorischen Aufstiegsphase an der Aufdeckung von Wahrheiten noch interessiert war. Auch der Bildungsgedanke und das Sozialempfinden zeigen sich in ihren typisch bürgerlichen Wesenszügen. Gemeinschaftssinn hat in erster Linie der Gebildete, der auf dieser Grundlage für die Gesellschaft nützlich wird. Das Sozialempfinden erhält zugleich repräsentativen Charakter; jede Wohltätigkeitsveranstaltung wird zu einer Proklamation der Verdienste des Bürgers erhoben, der als Gebender namentlich genannt werden will. Zugleich verbirgt sich dahinter das Bemühen, Menschen unterschiedlicher sozialer Rangstufen als arbeitende Menschen, d. h. also als für die bürgerliche Gesellschaft nützliche Menschen zu sehen.

Die in entsprechenden Darlegungen angedeutete Kritik wandte sich gegen Verhältnisse der Vergangenheit, allerdings mit deutlich akzentuierter antifeudaler Stoßrichtung. Der an der Bildung wenig interessierte Adel sowie der Feudalstaat mußten sich Kritik selbst von den Halberstädtern gefallen lassen, die in der Regel auf Übereinstimmung mit dem preußischen Staat bedacht waren. Unter dem Aspekt, daß jeder Mensch, egal auf welcher sozialen Stufe der Gesellschaft er stehe, für die Gesellschaft nützlich werden müsse, erzielten die Halberstädter bei der Förderung eines Schulsystems Erfolge, das sich bereits seit Anfang des Jahrhunderts in Anlehnung an das hallische Muster entwickelt hatte. Die vorhandenen und neu zu gründenden Schulen mußten unterschiedlichen Berufen gerecht werden. Somit wurde das Schulsystem gleichzeitig zum Spiegelbild der sozialen Gliederung. Wenn deshalb die Aufklärer wiederholt von Bildungschancen für alle sprechen, so war das insofern berechtigt, da bis zum Ausgang des 18. Jh. tatsächlich für alle Sozialschichten ein entsprechender Schultyp geschaffen wurde. Die Programmschriften und Zustandsberichte, die dieser Entwicklung zu verdanken

95

Vgl. „Lob der Gemeinnützigkeit". In: GB 4 (1788) I, S. 5 - 9 . Karl Marx, D i e deutsche Ideologie. In: Marx/Engels, Über Kunst und Literatur, Bd. 2, Berlin 1976, S. 4 2 8 - 4 2 9 .

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sind, künden von der Führungsposition des Bürgertums in der Pädagogik. Es ist verständlich, daß die Halberstädter ihre Bemühungen nicht nur theoretisch popularisieren wollten, sondern durch konkrete Ergebnisse direkten Nutzen für sich und den Staat anstrebten. Von den im letzten Viertel des 18. Jh. gegründeten Schulen96 werden hier nur zwei ausführlicher beurteilt. Höhere Schulen, in denen zukünftige Beamte und Wissenschaftler ausgebildet wurden, gab es seit langem. Den Plan für eine Bürgerschule legten die Halberstädter vergleichsweise spät vor. 1794 wies Streithorst97 auf diese Lücke im Schulwesen der Stadt hin, daß gerade für die Ausbildung der „Bürger, Künstler, verständigen Kaufleute, klugen Landwirte" zu wenig gesorgt sei, obwohl das der Stand sei, der für die „Natur- und Kunsterzeugnisse" die größte Bedeutung habe. Streithorst beruft sich auf bekannte Publikationen über die Bürgerschulen; sein Lehrplan lehnt sich an positive Erfahrungen mit diesem Schultyp an. Zu den Lehrgebieten gehörten außer den Elementarkenntnissen „Beredsamkeit und Wohlredenheit", Schreibgeläufigkeit, um eigene Aufsätze verfassen zu können sowie Sprachkenntnisse. Außer auf Religion wurde auf Geschichte, Gesundheitslehre und praktische Fertigkeiten Wert gelegt. Als Erziehungsziel galten Eigenschaften wie Tätigkeitsdrang, Dienstfertigkeit, Patriotismus, Zufriedenheit, Subordination und Gehorsam, Gerechtigkeitsempfinden und Menschenfreundlichkeit. Die jungen Menschen sollten dazu erzogen werden, „das Glück des Mittelstandes empfinden zu lernen". Die Bürgerschule sollte einen preußischen Untertanen erziehen, der gegenüber den Einflüssen der Französischen Revolution immun war und die bestehenden Verhältnisse als die besten anerkannte. Ausgestattet mit den Vorzügen einer aufgeklärten Bildung, war der Schüler im Leben der preußischen Monarchie immerhin vielseitig einsetzbar und geeignet, das wirtschaftliche und kulturelle Leben zu fördern. Jedoch bedeutete die Beschränkung auf den bürgerlichen Alltag, auf das Ideal treuer Pflichterfüllung und begrenzten Wirkungskreis keine Alternative zu den Widersprüchen zwischen dem Feudalabsolutismus und dem wirtschaftlichen und kulturellen Wirkungsbereich des aufstrebenden Bürgertums. Einen entscheidenden Schritt voran gingen die Halberstädter - angeregt durch das Dessauer Beispiel - mit der Gründung von Industrieschulen98, die als typische Erscheinung in einer bestimmten Phase der kapitalistischen Produktionsverhältnisse anzusehen sind. Viele Handwerker wurden in dieser Zeit zu Lohnarbeitern für einzelne kapitalistische Warenproduzenten. Die Nachfrage nach Arbeitskräften war groß, z. T. mußten Zwangsmaßnahmen angewandt werden, vor allem um herumziehende Bettler zur Arbeit in Landarbeitshäusern und Armenanstalten zu zwingen. Es ist naheliegend, daß auch die Kinder - in Halberstadt besonders viele Soldatenkinder - zur Arbeit geholt wurden, wobei man versuchte, durch gleichzeitige Erziehungsmaßnahmen Einfluß 96

Ähnlich ausführlich wird z. B. das Lehrprogramm am neugegründeten Landschullehrerseminar vorgestellt. Vgl. G B 4 (1788/89) II, S. 3 5 3 - 3 6 8 .

97

„Über das Bedürfnis einer Bürgerschule für Halberstadt. Ideen für die Zukunft". In: N G B

10

( 1 7 9 4 ) I, S. 3 2 3 - 3 3 6 . 98

G. F. W . Pomme, Nachricht von der jetzigen Beschaffenheit der Halberstädtischen Industrieschule. In: G U 1 7 ( 1 8 0 1 ) S. 4 1 - 5 5 , 5 7 - 6 1 .

26

Volksleben

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auf sie zu nehmen, damit sie die Fleißforderung zum Nutzen des Bürgers erfüllten. Praktischer und theoretischer Unterricht sowie Arbeit für Jungen und Mädchen wechselten nach festgelegten Zeiten, die so abgestimmt waren, daß die materielle Produktion den Ausschlag gab. Der Prozeß der ursprünglichen Akkumulation, als Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktionsweise, schritt auch im Fürstentum Halberstadt unaufhaltsam voran. Daraus resultierende Begleiterscheinungen, wie z. B. die durch die ungenügenden Arbeitsmöglichkeiten bedingte Demoralisierung großer Teile der Bevölkerung, beschäftigte die Intelligenz sehr. Sie fanden Widerspiegelung in den Publikationsorganen jener Zeit, aber, wie das Beispiel der Halberstädter Wochenschrift zeigt, meist in einer solchen Form, daß Rückschlüsse auf die konkrete Situation der Volksklassen auf Grund der Artikel kaum möglich sind. Die Widersprüche, die sich mit der kapitalistischen Entwicklung, - „der Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte, daher des zwerghaften Eigentums vieler in das massenhafte Eigentum weniger"99 - und mit dem Ergebnis des Pauperismus herausbilden, erscheinen in den Abhandlungen der Aufklärer als abstrakte Wertbegriffe. Was als Nutzen für alle, als Gemeinwohl und Gemeinnutzen verbrämt wird, bezog sich letztlich allein auf eine nur vorgestellte Allgemeinheit, - die des Kapitals - , mit der Bestimmung des einzelnen zur Arbeit. Alle vorhandenen Arbeitskräfte unterlagen diesem Entwicklungsgesetz, im besonderen Maße die Kinder und ungelernten Arbeiter, die nun, teils durch Zwangsmaßnahmen, jahrelang ausgebeutet werden, ohne daß sie z. B. in den Industrieschulen tatsächlich einen Beruf erlernten. Der Teilzeitunterricht, den die Kinder hier bekamen, war stundenmäßig so bemessen, daß er zur Auffrischung der körperlichen Kräfte ausreichte. Mit der Gründung der Industrieschulen begann auch in Halberstadt die organisierte Kinderarbeit zum Nutzen der kapitalistischen Entwicklung. Die Schulen in Halberstadt zogen Arbeiter für das Textilgewerbe heran; sie produzierten Massenwaren (Garne, Wirkwaren) für den Markt, die ihnen guten Profit sicherten. Die „Schüler" erhielten ihren Lohn, der das Existenzminimum garantierte, nach der Zahl und Qualität der Produkte. Den Schulbetrieb mußten sie durch ihre Arbeit mitfinanzieren. Pomme führte in seinem Beitrag noch ein weiteres interessantes Argument an: „Wohl der größte Nutzen, den unsre Anstalt dem Publikum gewährt, ist daß darin gute Dienstboten gebildet werden, und wie angenehm muß dies sein, da die Klage über Mangel an Gesinde, mit jedem Tag größer wird". Die Herausgeber verstanden es, Proteste gegen eine Bildung für die „unteren Volksclassen" abzuwehren: „ . . . das hieße, den ärmeren Kindern nie Bildung zu geben und die Armut nicht zu unterstützen." Mit dieser Schule haben die Aufklärer tatsächlich „allen" sozialen Schichten eine Bildungschance eingeräumt, allerdings nur im Rahmen eines streng nach sozialer Rangordnung errichteten Schulsystems. Der Besuch einer höheren Schule kostete mit Vollpension immerhin 120 Thal er im Jahr 100 . Die in diesen 99 100

Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1969, S. 789 u. ö. Maaß, Was können und sollen Pensionsanstalten seyn? Beantwortet in Beziehung auf die Halberstädtische Domschule. In: G U 17 (1801) S. 3 3 - 4 3 .

.Halberstädtische gemeinnützige Blattet"

403

Schulen vermittelten praktischen Fähigkeiten waren zwar auch auf den Nutzen der herrschenden Klasse zugeschnitten, hatten aber einen anderen Charakter als die Arbeit in der Industrieschule: sie waren nicht unmittelbar für die wirtschaftliche Ausbeutung durch die Besitzer der Produktionsmittel gedacht. Diese Differenzierung ist Ausdruck der Gesetzmäßigkeit gesellschaftlicher Prozesse. Die Notwendigkeit bestimmter Berufsausbildungen zu sehen, bedeutete zugleich, wirtschaftliche Belange zu verstehen. Der Ausgangspunkt dafür waren aber nicht die Belange der Volksmassen, sondern die Interessen des wirtschaftlich immer mehr erstarkenden Bürgertums. Das geistige Niveau der werktätigen Volksmassen hat sich durch die Industrieschulen nicht erhöht. Die soziale Lage für die Armen änderte sich kaum, denn mittels der Industrieschulen konnte zwar die Ausbeutung auch der Ärmsten der Gesell-, schaft intensiviert, die Armut selbst aber nicht behoben werden101. Im Jahre 1789 druckte das Wochenblatt eine Armenpredigt ab102, mit der sich Streithorst um Verständnis für die öffentlichen Armenanstalten bemühte. Offensichtlich gab es über die in diesen Einrichtungen eingeführten Verhaltensvorschriften und über die schlechten Zustände sehr kritische Urteile. Die Einwohner zahlten nur geringe Beiträge, so daß es an Mitteln für den Unterhalt mangelte. Streithorsts öffentlicher Appell sollte die „Rechtmäßigkeit und Heilsamkeit" der Armenanstalten den skeptischen Bürgern nahebringen und die bestehende Auffassung widerlegen, daß derartige Anstalten nicht dem Sinne göttlicher Vorsehung entsprächen. D a es sich hierbei um ein ökonomisches Problem handelte, beließ es Streithorst nicht bei der Widerlegung religiöser Einwände. Er benötigte für diese Einrichtung die Unterstützung der Gesellschaft, denn die Zahl derArmen - Kranke, verwaiste Familien, verwahrloste Kinder und Arbeitslose - wuchs immer weiter an, so daß durch Armenanstalten überhaupt nur die schlimmsten Auswüchse unter Kontrolle gebracht werden konnten. Für die Linderung soziale Not dieses Ausmaßes genügte eine charitative Armenpflege schon lange nicht mehr 103 ; die Notwendigkeit einer ökonomischen Lösung dieses Problems meldete sich immer dringlicher an: Auch der preußische Staat selbst versuchte seit langem, dieser Entwicklung durch Verordnungen beizukommen104. Im Jahre 1797 erfolgte, wiederum durch Streithorst, ein weiterer Appell über „Wert und Wohlthätigkeit der Landarbeitshäuser" 105 . Strenge Zucht, schwere Arbeit, Mäßigkeit und notwendige Strafen wurden für geeignete Mittel angesehen, dem Bettelwesen beizukommen. Diese Einrichtungen sollten abschreckend wirken, um die Zahl der Robert Alt, Die Industrieschulen. Ein Beitrag zur Geschichte der Volksschule, Berlin, Leipzig 1948; Rudolf Forberger, Die Manufakturen in Sachsen vom Ende des 16. bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Berlin 1958. 1 0 3 „Über die Rechtmäßigkeit und Heilsamkeit öffentlicher Armenanstalten". In: G B 5 (1789/90) I, S. 417-425. H*3 Abdruck eines anonymen Briefes über die Not der Armen im Kältewinter 1788 („Gottfried, ein Armenfreund"). Die realistische Schilderung der Nöte sollte sicherlich zu Spenden anregen. Vgl. G B 4 (1788/89) II, S. 122-127. 1 0 4 C. Döhl, Die Armenpflege des Preußischen Staates, Berlin 1860; Krüger, a. a. O., S. 369-392. 1 0 5 Streithorst, Wert und Wohlthätigkeit der Landarbeitshäuser. In: N G B 13 (1797) I, S. 177-191, 193-204, 211-218. 101

26*

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Bettler zu verringern. Der Vertreter der Kirche forderte also keine Mildtätigkeit, sondern solche Maßnahmen, mit denen aus der verzweifelten Lage und Not der Armen noch Kapital zu schlagen war. Veranlaßt durch neue staatliche Verordnungen richteten die Halberstädter 1801 weitere Arbeitsanstalten ein106. Durch private Stiftungen kamen nur geringe Mittel für die Armenkasse zusammen. Das geplante neue Arbeitshaus war vor allem für Kinder gedacht, die am ehesten hier Unterschlupf suchten, denn die Erwachsenen fürchteten sich vor dem Freiheitsentzug. Mit dem Bau sollte eine Industrieschule verbunden werden. Auf sorgfältige Hygiene, Krankenpflege und ausreichende Nahrung bedacht zu sein, wurde in dem Artikel der Wochenschrift beteuert. Der Direktor der Einrichtung war der Stadtverwaltung gegenüber rechenschaftspflichtig, um der Veruntreuung von Geldern vorzubeugen. Mit dem Armenproblem haben sich die Herausgeber des Wochenblattes immer wieder auseinandergesetzt. Es kann ihnen nicht abgesprochen werden, durch Schilderung sozialer Zustände Mitgefühl geweckt und zum praktischen Handeln angeregt zu haben. Grundlegend wird ihr Standpunkt in einem Beitrag „Welches sind wahre Arme? Nebst einer fortgesetzten Nachricht von Verwendung der Wochenblatt-Gelder" erläutert 107 . Der Armenbegriff wird moralisierend dargestellt: als subjektiver Vergleich mit dem, der mehr oder weniger hat. Die als eingebildet bezeichnete Armut, bei der der Blick auf den Reicheren fällt und Habsucht als Ursache angenommen wird, lehnten sie strikt ab, denn ihren Auffassungen lag - bewußt oder unbewußt - die Absicht zugrunde, die bestehende Gesellschaft mit ihren Klassenunterschieden zu rechtfertigen und zu erhalten. Eine weitere Art von Armut, die „verstellte Armut", wird als arbeitsscheues Verhalten verstanden und gleichfalls abgelehnt. Die Autoren meinen, daß der Anteil der „verstellten Armen" - der Müßiggänger, Faulenzer, der „Wollüstlinge in den niedern Volksclassen, welche Armuth lügen" - sehr hoch sei. Als Verfechter der Nützlichkeitstheorie forderten sie sogar, daß ein solches Verhalten bestraft werden müsse. „Wer ist denn nun wirklich arm? Welches sind wahre Arme? Ohnstreitig nur diejenigen, welchen es an den ersten und unentbehrlichsten Erhaltungsmitteln fehlt und die nicht im Stande sind, sich dieselben durch ihre Arbeit zu verdienen". Mangel an Nahrungsmitteln, an Kleidung und Unterhalt seien Kennzeichen wirklicher Armut, wenn er bei sonst fleißigen, arbeitswilligen Menschen auftrete. In diesem Beitrag und auch in Abhandlungen aus späteren Jahren wird der „schamhafte Arme"108 wiederholt geschildert. Dieser sei durch Erziehung und ursprünglich günstigere Lebensumstände an einen gewissen Lebensstandard gewöhnt, der ihm zum Bedürfnis geworden sei, könne diesen jedoch nicht mehr halten und suche ihn nur noch 106

G U 1 7 ( 1 8 0 1 ) S. 1 7 - 4 0 . - Das Essen in der Arbeitsanstalt bestand früh und abends aus Brot mit Salz und Kümmel. Mittags gab es je nach Abteilung und Arbeitsfleiß Rumfordsche Suppe, deutschen Kartoffelbrei und Salat,

Buchweizengrütze,

Graupen,

Erbsen, Kohl,

Obst, gelegentlich

sogar

Fleisch. 107

H G B 2 (1786/87) II, S. 4 0 1 - 4 0 9 .

108 y g i

u.

a.

Albert Siebert, Ankündigung einiger diätetischer Vorlesungen zur Unterstützung und

Pflege schamhafter alter Kranker. In: G U 2 1 ( 1 8 0 5 ) II, S. 2 3 5 - 2 4 0 .

„Halberstädtische gemeinnützige Blätter"

405

vorzutäuschen. Solchen Menschen sei, so meinten die Herausgeber, die Armut viel bitterer als anderen, „die weniger Gefühl haben", ihre soziale Lage zu empfinden und zu beurteilen. Hier wurden vornehmlich Vertreter des Kleinbürgertums angesprochen, die in dem Maße, wie mit der Entwicklung manufakturkapitalistischer Verhältnisse die Verarmung der kleinen Handwerker voranschritt, in die Schicht der Mittellosen absanken und zu Lohnarbeitern wurden. Daß dieser Prozeß von den Herausgebern nicht nur 1786, sondern auch noch nach 1800 mit besonderem Interesse verfolgt Wurde, ist für das soziale Denken bezeichnend. Damit kamen sie mit ihrer Zeitschrift einem sozialen Problem nahe, das zu einer typischen Erscheinung des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus auch in Preußen wurde. Nach einer Erklärung für die wirklichen Ursachen der Armut sucht man in den zahlreichen Beiträgen der Wochenschrift vergeblich. 1805 schrieb Augustin, daß die Armut groß sei, was jeder sehen könne, der die jetzigen Preise der Lebensbedürfnisse mit dem vergleiche, was ein Armer brauche und bei angestrengtesten Fleiße zu verdienen imstande sei. Tatsächlich schritt der Verelendung von Manufakturarbeitern, Kriegsinvaliden, ganzen Familien durch sinkende Löhne, unregelmäßige Beschäftigungen, Teuerungen u. a. immer weiter fort109. Das soziale Mitgefühl und der Wille zu helfen gründete sich bei den Halberstädtern jedoch nicht auf ökonomische und gesellschaftliche Einsichten. Solche Erkenntnisse blieben immer isoliert und bildeten auch in ihrer Gesamtheit keine Gesellschaftsauffassung, die eine Veränderung der bestehenden sozialen Verhältnisse einschloß. Allerdings wurde in verschiedenen Artikeln immer wieder darauf hingewiesen, daß es vorrangig sei, den Armen Arbeit zu verschaffen. Damit hatten die Aufklärer eine wesentliche Voraussetzung zur Bekämpfung der Armut erkannt. Die Wertschätzung der Arbeit aber, die von den Autoren immer wieder herausgestrichen wird, hat mehr oder weniger proklamativen Charakter. Daß eine Veränderung der sozialen Zustände die tiefgreifende Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse voraussetzt, gehört nicht zu den theoretischen Überlegungen der Halberstädter Aufklärer. Das Wochenblatt sollte zugleich Mittel für die Armenhilfe erbringen, was allerdings nur eine geringe Linderung der Not einiger weniger Menschen bedeuten konnte und, wie fast alle Sozialaktionen jener Zeit, illusionäre Züge trug. Die Autoren verzichteten auf ein Honorar für ihre Beiträge. Von den Einnahmen durch den Verkauf der Zeitschrift waren nur die Druckkosten abzuziehen, so daß der größte Teil des Ertrages in eine „Wochenblattkasse" floß, die ein Kuratorium von drei Mitgliedern der Literarischen Gesellschaft verwaltete. Diese Mittel setzte man zur Einrichtung von Arbeitsplätzen ein, zur Unterstützung von sozialen Einrichtungen und Einzelpersonen. Letztere erhielten jedoch kein Bargeld, sondern z. B. Feuerung, Lebensmittel und bei Bedarf Arznei. In den Wochenblättern wurde jährlich über die Verwendung der Gelder Rechenschaft abgelegt. Diese Tätigkeit sowie die Schaffung von Bildungs- und Sozialeinrichtungen rechneten sich die Mitglieder der Gesellschaft als „bürgerliche Verdienste" an. 109

Leider ist es mangels Vorarbeiten vorerst nicht möglich, die historisch-demographische Problematik aufzuarbeiten, etwa in der Art, wie es für Sachsen geleistet wurde; vgl. Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution, Weimar 1 9 6 7 .

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Anläßlich der Rechenschaftslegung 1805 stellte Augustin die Ausgaben von 20 Jahren zusammen, ohne jedoch Zahlen über die einzelnen Empfänger der Sozialunterstützung zu geben110. Die Literarische Gesellschaft hatte danach jährlich zwischen 50 und 60 Taler ausgegeben111, im Winter 1787/88 69 Taler, 1803 68 und 1804 75 Taler. Insgesamt wurden in 20 Jahren etwa 1 800 Taler verausgabt, die der Vertrieb der Wochenblätter einbrachte. Als praktische Sozialhilfe verstanden die Aufklärer auch z. B. die Abschaffung der Trauerkleidung, die Verminderung der Begräbniskosten und die Abschaffung der üblichen Neujahrsglückwünsche (Umlaufzettel). Doch verbirgt sich dahinter bürgerliches Interesse an „Sparsamkeit", das sich hier gegen überlieferte Traditionen richtete. Eine tatsächliche Hilfe bedeuteten die Brennholzversorgung, die zeitweilige Einrichtung von Speiseanstalten112, die Unterstützung von schulischen Einrichtungen sowie die Schaffung eines Waisenhauses und eines Altersheims, die Schutzimpfung gegen Blattern, Schaffung einer Seuchenstation und eines Hebammeninstituts. Auch Sammlungen für Kriegs- und Katastrophengeschädigte sind ihr zuzurechnen. Bei diesen Unternehmungen engagierten sich übrigens auch Vertreter aus den gewerbetreibenden Berufen, Handwerker und Landwirte, die sonst nicht an der Arbeit der Literarischen Gesellschaft beteiligt waren oder im Wochenblatt das Wort nahmen. Sie gehörten nur der „Gesellschaft zur Versorgung der Armen" an. Der aus der Ohnmacht gegenüber den wachsenden Bettlerscharen resultierenden Auffassung, daß man den Armen kein Bargeld geben dürfe, weil sie dann nicht zur Arbeit angehalten würden, entsprang das Bemühen, regelmäßig im Winter wenigstens für ärmere Familien und Witwen durch Einrichtung einer Spinnerei113 einen zusätzlichen Erwerb zu schaffen. Man gedachte Armut hauptsächlich dadurch zu bekämpfen, daß jeder eine regelmäßige und ausreichende Erwerbsquelle erhalte. Aber auch durch direkte Zuwendungen setzten sich die Mitarbeiter der Gemeinnützigen Blätter das Ziel, Not wo möglich zu mindern oder zu verhüten. Sie verschafften sich mit Hilfe von Pfarrern, Lehrern und Beamten eine Übersicht, wer als arm zu bezeichnen war, um so für die mangelnde Armenfürsorge der Stadt einen Ausgleich zu schaffen. So genügte es in einigen Fällen, die Miete zu begleichen, andere benötigten darüber hinaus Heizung und Kleidung. Vor allem bemühte man sich dort, wo der Verdiener erkrankte, rechtzeitig einzugreifen. Die unzureichenden Leistungen des feudalen Staatsapparates für die Sozialfürsorge veranlaßten die Aufklärer, sich mit Hilfe der genannten Methoden praktisch zu betäti110

Augustin, Kurze Geschichte unseres Wochenblattes. In: G U 2 1 ( 1 8 0 5 ) I, S. 3 6 - 5 2 .

1,1

Z. B. wurden 1788/89 5 5 Taler für Feuerung ausgegeben; 5 5 Personen erhielten dafür je einen Taler. ( 1 8 0 1 erhielten 3 4 3 Familien diese Unterstützung). A n „schamhafte Arme", notleidende Lehrburschen

u. a.

wurden

25

Taler und an K r a n k e

f ü r Arznei

10

Taler

ausgegeben.

Gesellschaften zur Versorgung der Armen mit Holz und zur Einrichtung von Speiseanstalten existierten bereits in einigen größeren Städten. Auch die Halberstädter verwendeten das Rezept für die Rumfordsche Suppe. Der Andrang war so groß, daß jeder nur einmal in der Woche eine warme Mahlzeit erhalten konnte. ^

Hierbei ist auch die Kehrseite zu beachten. Durch Spinnerei und andere Tätigkeit wurde viel manufaktureile Teilarbeit geleistet, die der Wirtschaft und dem preußischen Staat Vorteile brachte. Auch in Arbeits-, Waisen- und Invalidenhäusern wurde viel dazu beigetragen.

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, Halberstädtische gemeinnützige Blätter"

gen. Da noch keine Städteselbstverwaltung existierte, war das Bürgertum der Stadt dazu gezwungen, sein Bedürfnis nach tätigem Wirken für die sozialen Belange auf die Interessen des Feudalstaates abzustimmen. 6. Zur sozialen Zusammensetzung

der Leserschaft des

Wochenblattes

Die „Halberstädtischen gemeinnützigen Blätter" enthalten ausführliche, genaue und regelmäßig erscheinende Pränumerandenlisten. Dadurch ist es möglich, einige Entwicklungstendenzen der Lesergeschichte dieser Zeitschrift über einen Zeitraum von 26 Jahren zu verfolgen 114 . Die Listen sind nicht nur Ausdruck bürgerlichen Selbstbewußtseins und Strebens, im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens zu stehen und soziale Hilfeleistungen einzelner gebührend in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Sicherlich spielte dabei auch das Moment der Werbung eine Rolle, denn öffentlich dem Kreis jener zugerechnet zu werden, der „zum Besten der Armen" seinen jährlichen Anteil leistete, galt als verdienstvoll. Für das Abonnement der Zeitschrift warben die Herausgeber regelmäßig in den Rechenschaftslegungen über Sozialleistungen, denn die Mittel, über die sie verfügten, standen in direkter Relation zur Zahl der Pränumeranden. Der Akzent in der Werbung änderte sich im Ablauf des Vierteljahrhunderts. In den ersten Jahrgängen wurde meist nur freundlich die Bitte ausgesprochen, das Abonnement regelmäßig, nach Möglichkeit für das ganze Jahr und nicht nur quartalsweise, zu erneuern. In den letzten Jahrgängen dann wird immer wieder die Hoffnung betont, daß sich die Zahl der Bezieher vermehren, die Einnahmen durch die Pränumeranden sich erhöhen und damit die Armut sich mindern lasse. Die Mittel für soziale Leistungen wurden ausschließlich durch den Vertrieb der Zeitschrift finanziert. Der finanzielle Fonds der Literarischen Gesellschaft wurde dafür nicht verwendet; man baute sich z. B. mit viel Aufwand gegen Ende des 18. Jh. ein repräsentatives Gesellschaftshaus. Der Kommunikationskreis der Zeitschrift war natürlich größer, als aus den Pränumerationslisten ersichtlich wird, denn die Zeitschrift wurde in den Buchhandlungen auch frei verkauft. Käufer und Leser, die die Zeitschrift auf diesem Wege erwarben, müssen hier unberücksichtigt bleiben. Das gilt auch für die Zirkulation einzelner Jahrgänge oder Stücke. Es war üblich, daß Zeitschriften innerhalb der Familie und im Bekanntenkreis von Hand zu Hand gingen, so daß die Zahl der wirklichen Leser mindestens das Dreifache der Zahl der Pränumeranten ausmachen dürfte. Der allmähliche Rückgang des Publikumszuspruchs drückt sich in der veränderten Höhe der Auflage aus. Wurden vom ersten Jahrgang noch 800 Exemplare gedruckt, so waren es in den nachfolgenden Jahren 700, 600, zuletzt nur noch 500 und 450. Die Auflagenhöhe mußte also annähernd um die Hälfte reduziert werden, da sich die Lesererwartungen nicht erfüllten 115 . 114 11

Vgl. Martens, a. a. O., S. 150. Danach bildet die Halberstädter Zeitschrift wieder eine Ausnahme.

' Dennoch ist die Relation zu Auflagenhöhen anderer Zeitschriften zu beachten. Danach ist eine Zahl von 500, auch noch von 300 Exemplaren recht viel. Vgl. Martens, a. a. O., S.

112/113.

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Die Gemeinnützigen Blätter waren zwar hinsichtlich ihrer Verbreitung nicht ausschließlich als Zeitschrift für das Fürstentum Halberstadt konzipiert, erfüllten aber doch im wesentlichen eine regionale Funktion. Außerhalb des Fürstentums gab es vergleichsweise nur wenige Leser, so daß die Zeitschrift kaum überregionale Bedeutung gewann. Leser außerhalb des Fürstentums abonnierten die Halberstädter Wochenschrift entweder aus wissenschaftlichen Gründen, wie z. B. die Mitglieder der Berliner Mittwochsgesellschaft Johann Friedrich Zöllner und Johann Erich Biester - letzterer als Herausgeber der Berlinischen Monatsschrift - oder wie Professor August Hermann Niemeyer aus Halle, Professor Johann Joachim Eschenburg aus Braunschweig, u. a. Oder sie waren Halberstadt persönlich verbunden, so daß sie auch in ihrem auswärtigen Wirkungskreis den Kontakt wahrten, wie z. B. Professor Villaume nach seiner Übersiedlung nach Berlin oder ein Herr Meyer aus Batavia (Ostindien). Der erste Jahrgang der Wochenschrift wurde in 85 verschiedenen Orten von insgesamt 575 Personen abonniert, von denen 365 in Halberstadt ansässig waren. 1804, nach zwanzigjährigem Erscheinen der Zeitschrift, hatte sich die Zahl der auswärtigen Orte auf 110 erhöht, die Zahl der Abonnenten aber war auf 409 zurückgegangen, worunter sich auch nur noch 211 Halberstädter befanden116. Der starke Rückgang der Abnehmerzahl in Halberstadt fällt auf. Machte ihr Anteil 1785 fast zwei Drittel aus, so betrug er 1804 annähernd nur noch die Hälfte. Das erweiterte Angebot von Zeitschriften und Zeitungen, deren Thematik aktueller war, trug sicherlich zu diesem Rückgang mit bei. Selbstverständlich konnte eine Zeitschrift in einem Jahrhundert, in dem das Lesen unter breiteren bürgerlichen Kreisen sich gerade erst als Freizeitbeschäftigung entwickelte, kein gleichbleibend starkes Publikum über 26 Jahre hinweg erwarten. Im Verlauf von 20 Jahren bleiben der Zeitschrift 44 Orte treu, 150 Leser abonnierten den ersten bis 20. Jahrgang. In den zahlreichen kleineren Orten und Dörfern überwog die Zahl der Leser, die nur einzelne Jahrgänge abonnierten. Leser aus größeren Städten außerhalb des Fürstentums pränumerierten selten, da sie in ausreichendem Maße durch Publikationen in den Heimatorten ihr Lesebedürfnis decken konnten. Für eine Untersuchung des Leserkreises nach soziologischen Gesichts punkten geben die Halberstädter Pränumerationslisten gute Anhaltspunkte, da sie regelmäßig Titel oder Beruf der Abonnenten verzeichnen. Die folgende Aufschlüsselung geht von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus. So wird die soziale Zusammensetzung der Leser in Halberstadt, in größeren Städten in- und außerhalb des Fürstentums - z. B. Aschersleben, Berlin, Braunschweig, Magdeburg, Halle Wien - sowie in Kleinstädten und Dörfern getrennt aufgeführt (vgl. die Tabellen 1-3). Die Tabellen veranschaulichen, daß aus dem Bürgertum vor allem die gebildete Beamtenschicht den entscheidenden Anteil des Lesepublikums ausmachte. In Halberstadt z. B. stellten das beamtete und gebildete Bürgertum sowie die Geistlichkeit mit über 100 Abonnenten denjenigen Leserkreis, der dem Wochenblatt über die Jahrzehnte hin116

Diese Zahlen nach Augustin, a. a. O., S. 4 f. - Im Vergleich zur Einwohnerzahl im Fürstentum Halberstadt ist die Verbreitung der Zeitschrift nicht sehr hoch. Auf ca 2 3 0 Einwohner kam ein Exemplar. Günstiger ist die Relation in Halberstadt selbst. 1 7 8 5 kam auf ca 3 0 Personen ein Exemplar, in späteren Jahren auf ca 57 Personen.

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weg die Treue hielt. Vertreter des Adelsstandes fallen nicht ins Gewicht. Angehörige des Militärs blieben ebenfalls in der Minderheit. Ebenso ist die Zahl der Leser aus dem Kleinbürgertum relativ klein. Der Anteil der Leser aus Kreisen der Handwerker und Kaufleute, die fortlaufend das Wochenblatt abonnierten, macht im Vergleich zum beamteten Bürgertum und zur Intelligenz noch nicht einmal ein Fünftel aus. Erst in den Jahren nach 1800 läßt sich ein Zuwachs an Lesern aus der Schicht der Kaufleute feststellen. Anders hingegen gliedert sich das Publikum, das nur einzelne Jahrgänge abonnierte. Hier sind die Zahlen der niederen Geistlichen, der mittleren und kleineren Beamten sowie der Handwerker und Kaufleute anfangs beachtlich hoch. Der dann auftretende Rückgang belegt, daß die inhaltliche Konzeption der Zeitschrift dem einfachen und wenig gebildeten Bürger offensichtlich nicht genügend zusagte. Am Ende des 18. Jh. gehörte ein einziger „Ackermann" zu den Pränumeranden 117 ; die Landbevölkerung zählte also nicht zum Abonnentenkreis der Zeitschrift. Die zweite Tabelle, die mit Halberstadt vergleichbare größere Städte erfaßt, bestätigt die gewonnenen Ergebnisse. Nach 1800 läßt sich in fast allen Gruppen ein geringer Anstieg in der Abonnentenzahl feststellen, was möglicherweise seinen Grund darin hat, daß während dieses Zeitraums zahlreiche andere Wochenschriften in anderen Städten ihr Erscheinen einstellten, ohne sie durch andere Publikationen zu ersetzen. Auch in dieser Tabelle fallen die hohen Leserzahlen für den ersten Jahrgang auf, was im Informationsbedürfnis über diese Zeitschrift eine Erklärung findet. Das soziologische Bild rundet sich durch die dritte Tabelle ab, in der das Lesepublikum aus vorwiegend im Fürstentum Halberstadt gelegenen Kleinstädten und Dörfern erfaßt wird. Hier tritt eine soziale Schicht deutlich hervor: der niedere Beamte, darunter zumeist Lehrer und Pfarrer. Für ihre Tätigkeit in ländlichen Gegenden war die Wochenschrift von großer Bedeutung. Hier bewährte sich der „gemeinnützige" Charakter der Wochenschrift am deutlichsten, da sie denen, die Wissen und aufklärerisches Denken weiterzugeben hatten, die nötigen Grundlagen dazu vermittelte. Die anderen Berufe und sozialen Schichten, die in den größeren Städten vertreten waren, gehörten nicht zur ländlichen Sozialstruktur. Die „Halberstädtischen gemeinnützigen Blätter" waren also nicht sehr populär. Als Vermittler von aufklärerischen Ideen und wissenschaftlichen Erkenntnissen wurden sie überwiegend von den Schichten gelesen, die Bildung von Berufs wegen zu vermitteln hatten. Die breiten bürgerlichen Schichten, die in die Bildungsbestrebungen einbezogen werden sollten und denen die gemeinnützigen Bemühungen in erster Linie gelten, machten den geringeren Teil des Publikums aus. Plebejische und bäuerliche Schichten fehlten gänzlich. Hier waren - wie überall in Deutschland - Lesefähigkeit und Bildungsbedürfnis noch kaum entwickelt118. 117

Vertreter der bäuerlichen Schichten vermißt man auch im Zusammenhang mit der sozialpraktischen Tätigkeit. Einen „Ackermann" fand ich lediglich unter den Organisatoren der Speiseanstalt erwähnt.

118 Vgl. Martens, a. a. O., S. 1 4 1 - 1 6 0 . - Mit diesem Thema befassen sich auch Rudolf Schenda, V o l k ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1 7 7 0 - 1 9 1 0 , Frankfurt/Main 1 9 7 0 ; Rolf Engelsing, Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1 5 0 0 - 1 8 0 0 , Stuttgart 1 9 7 4 .

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Das Wochenblatt wandte sich aber ausdrücklich an „alle", was in ihren programmatischen Beiträgen zu betonen die Herausgeber nicht müde wurden. Die Hauptursache dafür, daß ihnen die eigentliche Breitenwirkung versagt blieb, ist wohl darin zu sehen, daß man den wissenschaftlichen Charakter überbetonte, die Bildungsbestrebungen nicht genügend mit der unmittelbaren ökonomischen, gesellschaftlichen politischen Praxis der breiten Massen verknüpfte und den Unterhaltungserwartungen eines breiten Publikums zu wenig entgegenkam. Für das gehobene wissenschaftliche Niveau - auch in populärwissenschaftlichen Beiträgen - fehlten in den breiten bürgerlichen Schichten und erst recht in den Volksmassen aber noch die Bildungsvoraussetzungen und -bedürfnisse, die zu wecken ja gerade das Ziel der Aufklärer war. Es bleibt festzustellen, daß die Herausgeber ihr Ziel nicht erreichten. Die Wirkung der Zeitschrift blieb im wesentlichen auf den Kreis beschränkt, von dem sie initiert, getragen und gefördert wurde. Die Tatsache, daß es mehrere Leser- und Publikumsschichten mit unterschiedlicher Vorbildung und einer ständisch-religiösen Denkhaltung gab, weit entfernt also von geistiger Emanzipation, war den Herausgebern zwar bewußt, doch zeigten sie sich nicht in der Lage, ihr Programm darauf zu profilieren. Die Entwicklung des Literaturmarktes blieb generell an den städtischen Bereich gebunden und erfaßte nicht die Landbevölkerung. Diese Begrenzung jedoch minderte nicht ihr Verdienst, für die bürgerlichen Ober- und Mittelschichten Grundlagen für die Emanzipationsbestrebungen gelegt zu haben, auch wenn sich viele Pläne erst im 19. Jh. verwirklichen ließen. Zur Herausbildung einer bürgerlichen Klassenideologie trugen sie wesentlich bei. Viele Äußerungen lassen darauf schließen, daß den Herausgebern bewußt war, für eine Schicht der Gebildeten zu publizieren. Sie machten u. a. die Erfahrung, daß viele Menschen noch nie mit dem Buch in Berührung gekommen waren. Fischers Artikel „Über die Schwierigkeiten, ein Blatt für Alle zu schreiben", zeugt darüber hinaus von weiteren Einsichten der Herausgeber119. Die Möglichkeit, Gemeinnützigkeit in Lesefreudigkeit umzusetzen, sei für die Kollegen in größeren Städten wesentlich leichter, das sie freier über Personen und aktuelle Angelegenheiten urteilen, unbedenklich Schaden aufdecken, Verdienste loben und Fehler tadeln könnten, denn sie müßten niemanden zu beleidigen fürchten. Man könnte in einer Halberstädtischen Wochenschrift „nicht reden wie im englischen Parlament", meinte Fischer. Es sei schwer, für eine bestimmte Klasse von Lesern, am schwersten, für alle Klassen mit Beifall zu schreiben. „Bei periodischen Schriften und wöchentlichen Blättern, die für Leser aller Klassen bestimmt sind, besteht der Vorteil, daß man die Absicht nach und nach erreicht, aber eine Klasse ist an einem bestimmten Zeitpunkt immer enttäuscht". Eine Wochenschrift so gestalten zu wollen, daß sie sowohl Leser aus der Schicht des Adels als auch die Volksmassen anzusprechen vermochte, zeugt von einer illusionären Auffassung dieser Aufklärer, die durch die Realität des geringen buchhändlerischen Erfolgs bestätigt wurde. Fischer gibt zu, daß auch in der angestrebten Verbindung des Nützlichen mit dem Angenehmen letzteres zu kurz gekommen sei. Das hier gegebene Versprechen, sich unter Wahrung der Wissenschaftlichkeit der Unterhaltung mehr zu nähern, wurde aber weder in den folgenden Jahren noch nach der Jahrhundertwende eingelöst, so daß sich 119

HGB 2 (1786) I, S. 5 - 1 5 .

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der tatsächliche Leserkreis dem von den Herausgebern erwarteten auch im Laufe der Zeit nicht annäherte. Den Durchbruch bei einem breiteren Publikum erzielten sie nicht. Sie bemühten sich aber stets, über die traditionelle Erbauungsliteratur hinaus auch die wissenschaftliche Literatur zu popularisieren, naturwissenschaftliche, medizinische, geographische unid historische Themen so darzustellen, daß sie f ü r „niedere Volksklassen" als Lesebuch hätten dienen können 120 . Den Halberstädter Aufklärern kann man nicht nachsagen, daß sie nach anfänglicher Propagierung des Lesens später, vor allem nach 1789, diesen Standpunkt revidierten. N u r ist ihnen nie bewußt geworden, daß die Bildungsvoraussetzungen noch viel zu gering waren, um tatsächlich die Wochenschrift populärer zu machen. In der Bekämpfung von Erscheinungen aber, die ihren Interessen im Wege standen, erwiesen sie sich als typische Vertreter ihrer Klasse. So bekämpften sie die Literatur, die ihnen bei der Durchsetzung ihrer Ideologie und ihres Menschenbildes entgegenstand. D a viele der Aufklärer Pädagogen waren, ist es nicht verwunderlich, daß sie ihre Aufmerksamkeit dem populären Lesestoff zuwandten, der ihnen bei der Verwirklichung ihrer Erziehungsabsichten hinderlich schien.

7. Das Verhältnis

der Halberstädter

Aufklärer

zur

Volksliteratur

E t w a seit den 70er Jahren erschienen in den Wochenblättern ganze Artikelserien über die Volkslektüre, der die Aufklärer meist ablehnend gegenüberstanden. Sie entdeckten, daß die unteren Bevölkerungsschichten lasen und die Literatur ein Weg sein könnte, die Massen kulturell und somit ideologisch zu beeinflussen. Auch die Halberstädter Aufklärer wandten sich diesem Thema zu. Zwar rechneten sie es stets zu ihren wichtigen Aufgaben, geeignete Lektüre, wie z. B. Zacharias Beckers „Not- und Hülfsbüchlein für Bauersleute" immer wieder anzupreisen. Sie nutzten systematisch das Wochenblatt, um die Lektüre didaktisch-populärer Literatur zu propagieren und die Volksmassen dahingehend zu beeinflussen, dem Machtstreben des Bürgertums zwar nützlich, aber eben nicht gefährlich zu werden. Es war ihnen aber durchaus bewußt, daß sie mit ihren literaturpropagandistischen Mitteln nur Gleichgesinnte und Gebildete erreichten und nicht die Bauern, Handwerker, Lohnarbeiter, Soldaten und Bediensteten, die solche Literatur lasen, die die Aufklärer nicht nur ablehnten, sondern auch entschlossen bekämpften und zu vernichten suchten. Zwei Beiträge aus der Wochenschrift machen diese Bestrebungen deutlich. Wie bereits zahlreiche andere Vertreter der Popularaufklärung, haben auch Vertreter des Halberstädter Kreises die Volksliteratur abgelehnt und waren bestrebt, ihre Verbreitung einzuengen. Sie waren in ihrem Eifer nicht in der Lage, Zeugnisse des Volkshumors und volkstümlichen Erzähltalents 121 z. B. von Werken des Aberglaubens zu unterscheiden. Deshalb ist es ihnen auch nicht gelungen, sich von dem Kampf, den Feudalstaat und Kirche in den vorangegangenen Jahrhunderten gegen diese Literatur führten, zu distan120 121

„An Menschenfreunde". In: N G B 9 (1793/94) I, S. 4 9 - 5 6 . Hierfür kann besonders die Beurteilung des „Eulenspiegel" immer wieder als Gradmesser gelten.

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zieren und über diese Institutionen hinauszugelangen. Anfang des Jahres 1799 erschienen zwei Beiträge 122 , die diesen Standpunkt deutlich machen. Die Formulierung des Titels „Wie ist der bisherige Handel mit schlechten Liedern und schädlichen Volksschriften zu zerstören und wie könnte man statt dessen gute Lieder und belehrende Schriften verbreiten?" kündete ein ganzes Programm an, das in seiner Tendenz so deutlich in der Wochenschrift bisher noch nicht aufgegriffen wurde. Beide Beiträge gingen aus Vorträgen in der Literarischen Gesellschaft hervor. Der Autor Heinrich Matthias besaß eine der größten Druckereien Haiberstadts und druckte seit 1793 in der Nachfolge von Delius auch das Wochenblatt. Zu den „schädlichen Volksschriften" rechnete er Lieddrucke, Traum- und Planetenbücher, Liebesbriefe, Mordgeschichten „und andere in diesen sauberen Kram gehörige Artikel". Die Titel werden absichtlich nicht genauer beschrieben; aber es handelt sich eindeutig um solche Schriften, die von Hausierern auf den Märkten der Stadt, vorwiegend aber in ländlichen Gegenden mit großem Erfolg vertrieben wurden. Matthias wendet sich mit seinen Ausführungen und Vorschlägen an die Öffentlichkeit, d. h. an die Mitglieder der Literarischen Gesellschaft und die Leser des Wochenblattes, die er um Mithilfe bei der Bekämpfung dieser Schriften ersucht. Aus den Reihen der Beamten- und Intelligenzschicht erwartete er weitere Anregungen und Unterstützung; in ihnen sieht er Gleichgesinnte, um - und das nicht zuletzt aus persönlichen Geschäftsinteressen - seinen Kampf gegen die genannte „Buchhandelsware" aufnehmen zu können. Die Volkslesestoffe, die hier ins Blickfeld geraten, waren nicht allein im Fürstentum Halberstadt, sondern allenthalben im großen Umfang verbreitet. So mußte der Geschäftsmann Matthias mit Neid feststellen, daß, obwohl die Auflagen relativ hoch waren, sich die Drucke sehr schnell absetzen ließen. Bei den genannten Titeln kann man dem Autor z. T. zustimmen, daß sie den Aberglauben beförderten und die Bedenken der Aufklärer folglich der Berechtigung nicht entbehrten. Anders verhält es sich schon mit dem zweiten Argument: diese Literatur gefährde die Moralität ihrer Leser, behindere sie am Frohsinn und „mißleite" sie. Das in den unteren Schichten so beliebte Singen stellte sich ihm als „gedankenlos" dar. Seine Begründung ist interessant: es gab im Fürstentum Schwierigkeiten bei der Einführung neuer Gesangbücher, denn von den altvertrauten Kirchenliedern wollte das Volk sich nicht trennen. Wie stellt sich die Volksliteratur im Urteil von Matthias dar? 1. Die von Hausierern angebotene Literatur propagiert abergläubische und amoralische Vorstellungen, die im krassen Widerspruch zu den Bildungsbestrebungen des 18. Jh. stehen und diese Literatur gefährlicher als atheistische Schriften werden läßt123. 2. Die überaus niedrigen Preise 122

Heinrich Matthias, W i e ist der bisherige Handel mit schlechten Liedern und schädlichen Volksschriften zu zerstören, und wie könnte man statt dessen gute Lieder und belehrende Schriften verbreiten? In: N G B 1 4 (1789/99) II, S. 2 1 1 - 2 3 1 ; Weydemann, Fernere Vorschläge über die Ausrottung schlechter und Verbreitung guter Volkslieder und Volksbücher. In: ebenda, S. 2 5 7 bis

266. 123

Es wird nur von sittenverderbenden Schriften gesprochen. Der Hinweis auf die Ungefährlichkeit atheistischer

Literatur

darf

nicht darüber

hinwegtäuschen,

daß

sicherlich

auch

aufrührerische

Schriften im Umlauf waren, die sie aber vorsätzlich verschwiegen. Darauf läßt z. B. eine Anzeige über Flugschriften schließen, die 1 7 9 5 in den N G B erschien (II, S. 4 4 9 - 4 5 1 ) . Hingewiesen wurde

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garantieren eine sehr große Verbreitung. 3. Singen und Lektüre von Unterhaltungsliteratur in den unteren Schichten bewirken Verringerung des Pflichtbewußtseins und der Arbeitsleistung. 4. Die massenhafte Verbreitung dieser Schriften verhindert den Zugang zu besserer Literatur. Matthias ließ bezeichnenderweise die Frage offen, ob die genannten Lesergruppen überhaupt genügend geschult waren, um „bessere" Literatur - auch dafür werden keine Beispiele genannt - zu lesen. Er erwähnte als Konsumenten der Volksliteratur nur solche sozialen Gruppen, zu denen die Halberstädter Aufklärer, wenn auch nur indirekt, eine gewisse Beziehung hatten. Die Lesesituation unter den Lohnarbeitern und Handwerkern bleibt ihm völlig unbekannt. Um so mehr lehnte sich Matthias an Publikationen gleichgesinnter Popularaufklärer an, die im letzten Viertel des 18. Jh. in großer Zahl erschienen waren. Nicht nur ethische Gründe oder aufklärerische Anliegen waren der Anlaß für Matthias, dieses Thema aufzugreifen. Deutlich schimmern die Geschäftsinteressen durch, denn Matthias wurde in seiner Buchhandlung von den Käufern nach populären Druckschriften gefragt. Diese Schriften aber führte er nicht am Lager, obwohl er sich sonst bereit zeigte, „jedes dargebotene Erwerbsmittel zu ergreifen" 124 . Er versuchte aber auf andere Weise, diese potentiellen Käufer für seine Geschäftsinteressen zu nutzen. Matthias druckte „gute Lieder" nach bekannten Volksmelodien, aber mit neuen, besonders für den Landmann berechneten Inhalten. Aus der Kenntnis der Mentalität dieser Lesergruppen wahrte er die äußere Aufmachung populärer Schriften. Mordgeschichten und Traumbücher ersetzte er durch moralisierende und historische Erzählungen, deren Stil gleichfalls der populären Literatur angepaßt wurde. Matthias mußte aber, wie vor ihm schon andere Zeitgenossen, erleben, daß seine Bemühungen bereits bei den Hausierern scheiterten, die keine Bereitschaft zeigten, diese Drucke zu übernehmen und zusammen mit ihren eigenen anzubieten. Der Versuch, für diese Aufgabe arme Leute zu gewinnen und sie als Händler einzusetzen, scheiterte daran, daß das Publikum allem, was außerhalb des Gewohnten geboten wurde, skeptisch und meist ablehnend gegenüberstand125. Vor der Anwendung des schärfsten Mittels, dem Einsatz der Polizei, scheute Matthias noch zurück, auch wenn er dies in seine Überlegungen einbezogen hatte126. Als „zweckmäßigere und einfachere" Lösung schlug er vor, die Schullehrer, vor allem die auf dem auf eine in hoher Auflagenzahl verbreitete Schmähschrift über die Reichsstände, die, sobald sie in Halberstadt auftauche, einzuziehen sei.


n Rothenthal 1626) 4576 u - 77 , 50 Rousseau, Jean Jacques 299, 395, 396, 398 Rüdiger, Hanns (Junker, Besitzer der Silberhoffnungshütte Beierfeld 1639-1679) 57 Rumford, Benjamin Thompson, Graf von 406112 Rumfordsche Suppe RUMPF, MAX 18" Deutsches Handwerkerleben (1955) Salzmann, Christian Gotthilf 397 SANDER, HARTMUT III 2 2 Bevölkerungsexplosion im 19. Jh. (1911) SAUER, EBERHARD 43037 Franz. Revolution in Flugschriften (1913) SAUERMANN, DIETMAR 458158 Historische Volkslieder des 18. und 19. Jh. (1968) SAX, EMANUEL 18878 Die Hausindustrie in Thüringen (1885), 198 SEELIG, E. 42®® Entstehung des Direktionsprinzips (Diss. 1911) SEIDEL, MICHAEL 78