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German Pages 343 [346] Year 2023
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Band 36
Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit Unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Peter Hilpold
Duncker & Humblot · Berlin
Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit
Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Gilbert H. Gornig, Christian Hillgruber, Peter Hilpold, Hans-Detlef Horn, Bernhard Kempen, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Adrianna A. Michel, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning †
Band 36
Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit Unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg
Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Peter Hilpold
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Bände 1 – 19 der „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2024 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p Gmbh, Rimpar Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 978-3-428-18999-1 (Print) ISBN 978-3-428-58999-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson forderte in seiner Botschaft an den Kongress vom 11. Februar 1918, „daß Völker und Provinzen nicht von einer Staatsoberhoheit in eine andere herumgeschoben werden, als ob es sich lediglich um Gegenstände oder Steine in einem Spiel handelte…“. Jede Gebietsfrage müsse „im Interesse und zugunsten der betroffenen Bevölkerung“ getroffen werden. Er postulierte also bereits die Zustimmung der Bevölkerung zu einer Gebietszession. In den Friedensverträgen von Rijswijk vom 30. Oktober 1697 und von Utrecht vom 30. Oktober 1697 hatten sich die Bewohner der abzutretenden Gebiete innerhalb einer bestimmten Frist für die Aufrechterhaltung der bisherigen Loyalitätsbeziehungen zu entscheiden und konnten, falls sie sich anders entschieden, unter Mitnahme ihres Guts auswandern. Auch wurden in Avignon und im Venaissin 1791, in Savoyen 1792 und Nizza 1793 Plebiszite abgehalten, um über den weiteren Status der Gebiete zu befinden. Ferner wurde aufgrund des französisch-sardinischen Vertrags von Turin vom 24. März 1860 in Savoyen und Nizza eine Abstimmung darüber durchgeführt, ob die Gebiete an Frankreich fallen sollen. In den Friedensverträgen von Versailles und Saint Germain wurde die Zession von sechs deutschen bzw. österreichischen Grenzgebieten, nämlich Nordschleswig, die preußischen Gebiete von Allenstein und Marienwerder, Oberschlesien, Burgenland, Kärnten und Saar, von der Durchführung von Plebisziten abhängig gemacht. Zudem sah der Versailler Friedensvertrag eine „consultation populaire“ zur Bestätigung der Zession von Eupen und Malmedy vor. Eine weitere in den Friedensverträgen nicht vorgesehene Abstimmung wurde in Ödenburg durchgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden im französisch-italienischen Grenzgebiet von Tenda und Briga und im Saargebiet Volksabstimmungen abgehalten. Es ist allerdings schon hier festzuhalten – viele weitere Informationen dazu finden sich in diesem Band –, dass zahlreiche dieser Referenden in rechtlich bedenklicher Form vonstatten gegangen sind. Zudem ist nicht zu verkennen, dass in den meisten Fällen eines Gebietswechsels die Bevölkerung nicht gefragt wurde, man denke an die Zuordnung der deutschen Ostgebiete, in denen ursprünglich deutsche Bevölkerung lebte, zu Polen und zur Sowjetunion im Zwei-plusvier-Vertrag, die Auflösung der südafrikanischen Homelands und die Zuweisung der Walfischbucht an Namibia. Diese Beispiele können zwar als Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker qualifiziert werden. Ob aber eine völkergewohnheitsrechtliche Verpflichtung besteht, Gebietswechsel regelmäßig einem Volksentscheid durch die betroffene Bevölkerung zu unterziehen, ist in der Lehre umstritten. Könnte ein Staat ohne Berücksichtigung des Willens der Bevölkerung über ein Gebiet verfügen, würde das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes auf jeden Fall zur Farce werden. Im Übrigen könnte jeder vom Volk unter Berufung auf das Selbstbestimmungs-
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Vorwort
recht erfolgte Anschluss an einen anderen Staat ohne weiteres wieder in einem völkerrechtlichen Vertrag der Regierungen rückgängig gemacht werden. James Crawford vertritt die Auffassung, dass das Selbstbestimmungsrecht auf Territorien Anwendung findet, die als separate politische Einheiten etabliert und anerkannt sind. Er nennt beispielhaft Bundesstaaten, mandatierte Territorien, non-selfgoverning territories und solche, die eine deutliche politisch-geographische Abgrenzung vorweisen und deren Bewohner willkürlich von der staatlichen Mitwirkung abgehalten werden. Bei den Referenden in Mazedonien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, in Südossetien, auf der Krim, in Eritrea, Kanada, Puerto Rico ging es weniger um die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts eines Volkes oder einer Volksgruppe als um Gebietstransfers. Gerade die in Osteuropa, in Afrika und Mittelamerika anlässlich von Gebietsveränderungen durchgeführten Referenden könnten es als vertretbar erscheinen lassen, von einer Übung auszugehen, auch wenn lediglich eine nicht als Volk oder Volksgruppe zu qualifizierende Einwohnerschaft einem anderen Staat zugewiesen wird. Einer in der Zukunft obligatorischen Volksabstimmung widmet sich die „European Commission for Democracy through Law“, auch bezeichnet als „Venice-Commission“, näher. Sie wurde am 10. März 1990 durch das Ministerkomitee des Europarates gegründet und besteht aus 62 Vollmitgliedern. Es handelt sich um eine unabhängige beratende Einrichtung des Europarates. Im Jahr 2002 veröffentlichte die Kommission einen Verhaltenskodex für Wahlen und im Jahr 2007 den „Code of Good Practice on Referendums“. Die Vorgaben über die Abhaltung von Referenden sind aber lediglich Empfehlungen, da die Venedig-Kommission nur beratende Funktion hat. Der vorliegende Band der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht widmet sich den Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg. Peter Hilpold setzt sich allgemein mit dem Gebietsreferendum im Völkerrecht auseinander. Jørgen Kühl widmet sich Grenzziehungen und Minderheiten. Es erfolgt eine Rückschau auf die zahlreichen Grenzreferenden nach dem Ersten Weltkrieg, die dann im Folgenden detailliert behandelt werden. Holger Kremser beschäftigt sich mit der Volksabstimmung in Schleswig nach dem Ersten Weltkrieg 1920, Barbara Kämpfert mit der Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen 1920, Karsten Eichner mit der Volksabstimmung 1921 und der Teilung Oberschlesiens und Dennis Traudt mit den Volksabstimmungen an der Saar 1935 und 1955. Die dann folgenden Ausführungen sind Österreich gewidmet. Wilhelm Brauneder behandelt die Anschlussbefragung im Land Salzburg 1921, Gunda Barth-Scalmani die Volksabstimmungen in Tirol über den Anschluss an das Deutsche Reich, Günther Rautz die Neuordnung Europas mit besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmung in Kärnten 1920 und Richard Lein die Burgenlandfrage 1919 – 1924 als bilateralen wie internationalen Problemfall der Europäischen Union. Schließlich werden Volksabstimmungen außerhalb des deutschsprachigen Bereichs diskutiert. Gian Luca Fruci behandelt die ple-
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biszitären Praktiken in den alten italienischen Staaten vor der Vereinigung, Carolin Gornig widmet sich den Volksabstimmungen auf der Krim und in der Ostukraine im Jahr 2014 und Stefan Oeter der Abstimmung in Westpapua 1969 als Beispiel eines Zerrbildes eines Gebietsreferendums. Die Herausgeber danken erneut Frau Heike Frank und den Mitarbeitern des Verlages Duncker & Humblot für die stets gute Zusammenarbeit. Die Herausgeber danken ferner dem Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat für die erneute großzügige finanzielle Förderung. Marburg, im Sommer 2023
Gilbert H. Gornig Peter Hilpold
Foreword In his message to Congress on 11 February 1918, US President Woodrow Wilson demanded “That peoples and provinces are not to be bartered about from sovereignty to sovereignty as if they were mere chattels and pawns in a game, even the great game, now forever discredited, of the balance of power; …”. Every territorial question had to be decided “in the interest and for the benefit of the populations concerned”. He thus already postulated the consent of the population to a territorial cession. Already in the peace treaties of Rijswijk of 30 October 1697 and of Utrecht of 30 October 1697, the inhabitants of the territories to be ceded had to decide within a certain period of time to maintain the previous loyalty relations and, if they decided otherwise, could emigrate taking their property with them. Plebiscites were also held in Avignon and Venaissin in 1791, in Savoy in 1792 and Nice in 1793 to decide on the further status of the territories. Furthermore, as a result of the Franco-Sardinian Treaty of Turin of 24 March 1860, a vote was held in Savoy and Nice on whether the territories should fall to France. In the Versailles and Saint Germain Peace Treaties, the cession of six German and Austrian border territories respectively, namely Northern Schleswig, the Prussian territories of Allenstein and Marienwerder, Upper Silesia, Burgenland, Carinthia and Saar, was made conditional on the holding of plebiscites. In addition, the Versailles Peace Treaty provided for a “consultation populaire” to confirm the cession of Eupen and Malmedy. Another plebiscite not provided for in the peace treaties was held in Ödenburg. After the Second World War, referendums were held in the French-Italian border areas of Tenda and Briga and in the Saar region. However, it should be noted here – much more information on this can be found in this volume – that many of these referendums took place in a legally questionable form. Moreover, it should not be overlooked that in most cases of a change of territory the population was not consulted; one thinks of the allocation of the German Eastern territories, where originally German people lived, to Poland and the Soviet Union in the Two Plus Four Treaty, the dissolution of the South African homelands and the allocation of the Bay of Whales to Namibia. These examples can be qualified as disregard for the right of self-determination of peoples. Whether there is an obligation under customary international law to regularly subject territorial changes to a referendum by the affected population is a matter of debate among scholars. If a state could dispose of a territory without taking into account the will of the population, the right of self-determination of a people would in any case become a farce. Moreover, any annexation to another state made by the people on the basis of the right of self-determination could easily be reversed in an international treaty between the governments.
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James Crawford argues that the right of self-determination applies to territories that are established and recognised as separate political entities. He cites as examples federal states, mandated territories, non-self-governing territories and those that have a clear political-geographical demarcation and whose inhabitants are arbitrarily excluded from state participation. The referenda in Macedonia, Montenegro, BosniaHerzegovina, South Ossetia, Crimea, Eritrea, Canada, Puerto Rico were less about the exercise of the right of self-determination of a people or an ethnic group than about transfers of territory. Especially the referendums held in Eastern Europe, Africa and Central America on the occasion of territorial changes could make it appear justifiable to assume an exercise, even if only a population that does not qualify as a people or ethnic group is assigned to another state. The “European Commission for Democracy through Law”, also known as the “Venice Commission”, is taking a closer look at a mandatory referendum in the future. It was founded on 10 March 1990 by the Committee of Ministers of the Council of Europe and consists of 62 full members. It is an independent consultative body of the Council of Europe. In 2002, the Commission published a Code of Conduct on Elections and in 2007 the Code of Good Practice on Referendums. However, the guidelines on holding referendums are merely recommendations, as the Venice Commission only has an advisory function. This volume of the Study Group on Politics and International Law is devoted to referendums on territorial affiliation, with special reference to the referendums after the First World War. Peter Hilpold deals generally with the territorial referendum in international law. Jørgen Kühl is dedicated to border demarcations and minorities. There is a review of the numerous border referendums after the First World War, which are then dealt with in detail below. Holger Kremser deals with the referendum in Schleswig after the First World War in 1920, Barbara Kämpfert with the referendum in East and West Prussia in 1920, Karsten Eichner with the referendum in 1921 and the partition of Upper Silesia, and Dennis Traudt with the referendums in the Saar in 1935 and 1955. The following comments are devoted to Austria. Wilhelm Brauneder deals with the Anschluss referendum in the province of Salzburg in 1921, Gunda Barth-Scalmani with the referendums in Tyrol on the Anschluss to the German Reich, Günther Rautz with the reorganisation of Europe with special reference to the referendum in Carinthia in 1920 and Richard Lein with the Burgenland question 1919 – 1924, a bilateral as well as international problem case of the European Union. Finally, referendums outside the German-speaking area are discussed. Gian Luca Fruci deals with plebiscitary practices in the old Italian states before unification, Carolin Gornig is dedicated to the referendums in Crimea and eastern Ukraine in 2014, and Stefan Oeter to the vote in West Papua in 1969 as an example of a distorted image of a territorial referendum. The editors would again like to thank Ms Heike Frank and the staff of the publishing house Duncker & Humblot for their consistently good cooperation. The editors
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would also like to thank the Federal Ministry of the Interior, for Construction and Home Affairs for its renewed generous financial support. Marburg, in summer 2023
Gilbert H. Gornig Peter Hilpold
Inhaltsverzeichnis Peter Hilpold Das Gebietsreferendum im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jørgen Kühl Grenzziehungen und Minderheiten: Eine Rückschau auf die Grenzreferenden nach dem Ersten Weltkrieg und deren Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Holger Kremser Volksabstimmung in Schleswig nach dem Ersten Weltkrieg 1920 . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Barbara Kämpfert Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Karsten Eichner Die Volksabstimmung 1921 und die Teilung Oberschlesiens . . . . . . . . . . . . . . . 107 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Dennis Traudt Das Volk befindet über die Zugehörigkeit des Saarlandes: Die Volksabstimmungen an der Saar 1935 und 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Wilhelm Brauneder Die Anschlussbefragung im Land Salzburg 1921 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Gunda Barth-Scalmani Volksabstimmungen in Tirol 1920/1921 über den Anschluss an das Deutsche Reich: medialer Druck und politisches Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Günther Rautz Die Neuordnung Europas mit besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmung in Kärnten 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Richard Lein Die Burgenlandfrage 1919 – 1924. Ein bilateraler wie internationaler Problemfall 207 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
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Inhaltsverzeichnis
Gian Luca Fruci Plebiszitäre Praktiken in den alten italienischen Staaten vor der Vereinigung (1797 – 1870) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Carolin Gornig Volksabstimmungen auf der Krim und in der Ostukraine im Jahr 2014 . . . . . . . 275 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Stefan Oeter Die Abstimmung in Westpapua 1969 – Zerrbild eines Gebietsreferendums . . . . 293 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Table of Contents Peter Hilpold The Territorial Referendum in International Law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jørgen Kühl Boundary Drawings and Minorities: A Review of Border Referenda after the First World War . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Holger Kremser Referendum in Schleswig after the First World War 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Barbara Kämpfert Referendum in East and West Prussia 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Karsten Eichner The 1921 Referendum and the Partition of Upper Silesia . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Dennis Traudt The People Decide on the Affiliation of the Saarland: The Referendums in the Saar in 1935 and 1955 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Wilhelm Brauneder The Anschluss Referendum in the Province of Salzburg 1921 . . . . . . . . . . . . . . 153 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 Gunda Barth-Scalmani Referenda in Tyrol 1920/1921 on Annexation to the German Reich: Media Pressure and Political Event . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Günther Rautz The Reorganization of Europe with Special Reference to the Referendum in Carinthia in 1920 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Richard Lein 207 The Burgenland Question 1919 – 1924. A Bilateral and International Problem Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Gian Luca Fruci Plebiscitary Practices in the Old Italian States before Unification (1797 – 1870) 245 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
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Table of Contents
Carolin Gornig Referendums in Crimea and Eastern Ukraine in 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 Stefan Oeter The ‘Act of Free Choice’ in Westpapua 1969 – Parody of a Territorial Referendum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 The Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 List of Names . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Subject Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations a. F. A/Res. Abb. ABl. Abs. ADÖ AEUV AJIL Anm. Art. Aufl. AVR Bd. BDFA BGBl. BVerfG BVerfGE B-VG bzw. CDU CDU-Saar CVP d. h. DBFP ders. Dipl. Arb. DPS DSP ebda. EGKS EJM EuGH EurYB EUV f. (ff.) FAZ Fn. FO FS FW FYROM
alter Fassung Resolution der Generalversammlung Abbildung Amtsblatt Absatz Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918 – 1938 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union American Journal of International Law Anmerkung Artikel Auflage Archiv des Völkerrechts Band Britisch Documents on Foreign Affairs Bundesgesetzblatt Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (österr.) Bundes-Verfassungsgesetz beziehungsweise Christlich Demokratische Union Christlich Demokratische Union Saar Christliche Volkspartei das heißt Documents on British Foreign Policy derselbe Diplomarbeit Demokratische Partei Saar Deutsche Sozialdemokratische Partei ebenda Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäisches Journal für Minderheitenfragen Europäischer Gerichtshof European Yearbook Vertrag über die Europäische Union folgende (Seiten) Frankfurter Allgemeine Zeitung Fußnote Foreign Office Festschrift Die Friedenswarte (Zeitschrift) The former Yugoslav Republic of Macedonia
18 Hrsg. HuV i. V. m. ibid. ICJ Rep. IGH IK Ka Kap. KPS m. w. N. MA. Arb. MPEiPro MPEPIL MSG N.N. Nr. NSDAP O.J. OeStA OPM Ost/Mag österr. ParlDebHC Res. Rn. S. s. SFID SHS-Staat SPS StGBl. SVerf TPNPB u. a. U.K. UdSSR UN Univ. UNRWI UNTEA VBG Vf. VfGH VfGH vgl. vol. WEU
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations Herausgeber Humanitäres Völkerrecht (Zeitschrift) in Verbindung mit ibidem International Court of Justice Reports Internationaler Gerichtshof Interalliierte Kommission Kriegsarchiv Kapitel Kommunistische Partei Saar mit weiteren Nachweisen Magisterarbeit Max Planck Encyclopedia of International Procedural Law Max Planck Encyclopedia of Public International Law Melanesian Spearhead Group nomen nominandum Nummer Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Official Journal Österreichisches Staatsarchiv [OeStA] Organisasi Papua Merdeka OSTpunkt Magazine österreichisch Parliamentary Debates House of Commons Resolution Randnummer Seite siehe Société française pour le droit international Staat der Slowenen, Kroaten und Serben (Kraljevina Srba, Hrvata i Slovenaca) Sozialdemokratische Partei des Saarlandes Staatsgesetzblatt Saarländische Verfassung West Papuan National Liberation Army unter anderem United Kingdom Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations Universität United Nations Representative in West Irian United Nations Temporary Executive Authority Volksbefragungsgesetz (ital.) Verfassung (österr.) Verfassungsgerichtshof (ital.) Verfassungsgerichtshof vergleiche volume Westeuropäische Union
Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations z. B. ZaöRV ZNR ZSHG
zum Beispiel Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte
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Das Gebietsreferendum im Völkerrecht Von Peter Hilpold* I. Einführung Dass die betroffenen Menschen und Völker selbst über den Verlauf von Grenzen, über die Hoheitsgewalt entscheiden sollen, der sie unterworfen sind, müsste eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Sind staatliche Grenzen, die Aufteilung von Herrschaftsräumen und Jurisdiktionsgewalt, doch einerseits rechtliche Fiktion, andererseits aber auch Schutz und Ausformung individueller Selbstbestimmung1. Nach der Überwindung theokratischer Herrschaftsstrukturen, der Ablehnung autoritärer, diktatorischer Gewalten, dem ständig wachsenden Bedürfnis an Legitimation von Macht und Vorrecht, erscheint es geradezu zwingend, die Abgrenzung von Herrschaftsräumen an Willensäußerungen der jeweiligen Völker zu binden. Das Instrument dazu wäre das Gebietsreferendum oder auch Plebiszit genannt.2 Bei näherer Betrachtung ergibt sich aber – wie nachfolgend zu zeigen sein wird – ein komplexes Bild. Die Sachlage ist – selbst aus moderner Warte – keineswegs so eindimensional, wie sie sich auf den ersten Blick darstellen mag. Vor allem aber: Was wir heute in diesem Zusammenhang als rechtlich geboten erachten, ist keine Erkenntnis der jüngsten Zeit, sondern lässt sich weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Ebenso alt ist aber auch, zumindest ansatzweise, die Einsicht in die Schattenseiten und ungelösten Fragen, die mit solchen Abstimmungen zusammenhängen. Neuere Untersuchungen werfen zusätzliche Fragestellungen auf. * Dieser Beitrag wurde vorabveröffentlicht unter dem Titel „Referenden und Minderheitenschutz“, in: 78 Europa Ethnica 3 – 4/2021, S. 127 – 138. 1 So vollendet vertieft von J. Isensee, Grenzen, Zur Territorialität des Staates, Duncker & Humblot: Berlin 2018. Siehe nur einführend (S. 20 f.): „Der Mensch ist in seiner Wesensverfassung nach auf Grenzen angewiesen […]. Die Grenze ist der Anfang der Zivilisation, indem sie der Willkür Schranken setzt, das gegenseitige Verhalten berechenbar macht und so soziales Grundvertrauen stiftet. Durch Grenzen wird das Chaos gebändigt und eine bürgerliche Verfassung hergestellt. Grenzen tragen dazu bei, Aggressionspotential zu entschärfen, Widersprüche in ein friedliches Nebeneinander und ein gedeihliches Miteinander zu überführen, Solidarität zu führen und knappe Güter planvoll zu verteilen.“ 2 In der Literatur gibt es vielfältige Versuche, diese beiden Konzepte zu differenzieren. Überzeugen können diese aber nicht wirklich. Nachfolgend wird dem Begriff des „Gebietsreferendums“ der Vorrang eingeräumt. Zu den verschiedenen Differenzierungsversuchen vgl. bspw. F. Biagi, Plebiscites: An Old But Still Fashionable Instrument, in: University of Illinois Law Review 2017, S. 713 – 737 (714 ff.).
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Im Folgenden soll die Entwicklung dieses Instituts nachgezeichnet werden, seine oft uneinheitliche, oft parteiische Anwendung, die Alternativen dazu, die zu schweren Menschenrechtsverletzungen führen, so die Vertreibungen und das Verhältnis des Gebietsreferendums zu einem modernen Selbstbestimmungsbegriff, der den Menschen, das Individuum, in den Mittelpunkt rückt. Eine Beurteilung des Gebietsreferendums darf nicht isoliert für sich allein erfolgen, sondern muss in einem Gesamtkontext geschehen, unter Berücksichtigung der Zeit davor, der Zeit danach, der Alternativen dazu. Die Beurteilung dieses Instruments wird auch stark von seiner Handhabung abhängen, von der Art seiner Durchführung. Das Ergebnis wird häufig – wenngleich nicht immer – vom politischen Gestaltungswillen bestimmt, der den Rückgriff auf dieses Verfahren veranlasst hat. So groß ist dementsprechend auch die Spannbreite der Resultate: von einem genuinen Konfliktlösungsansatz über eine „Komödie“ oder Farce bis hin zu einem Akt eines umfassenderen Verbrechens. Die Beschäftigung mit diesem Instrument ist aber nicht allein von historiographischer Bedeutung, nicht allein ein Versuch einer Systematisierung zu didaktischen Zwecken, eine Rückblende, die Wesen und Folgen vergangener Befragungen sinnstiftend erfassen soll. Es wird vielmehr zu zeigen sein, dass dieses Institut eine kontinuierliche Wandlung erfahren hat, durch welche eine laufende Anpassung an aktuelle Bedürfnisse erfolgt ist, so dass es auch gegenwärtig – und in noch verstärktem Maße – zur Lösung grundlegender territorialer Konflikte herangezogen werden kann. Eine kontextbezogene, die historische Entwicklung mitberücksichtigende Betrachtung verdeutlicht aber auch, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Verfahren dieser Art den Erfordernissen des Völkerrechts der Gegenwart gerecht werden können. Auf der Grundlage eines derart umfassenden Ansatzes ist das Gebietsreferendum in breiterer Form richtungsweisend; stellt es das Schicksal des Individuums in den Mittelpunkt, ist es Markstein und Richtschnur für die Entwicklung des Völkerrechts der Zukunft. II. Das Gebietsreferendum als Instrument der Selbstbestimmung In seinem berühmten Sondervotum zum West-Sahara-Fall hat Richter Hardy Cross Dillard aus den USA die Essenz des Selbstbestimmungsrechts mit einem Satz auf den Punkt gebracht: „It is for the people to determine the destiny of the territory and not the territory the destiny of the people.“3
In diesem Satz kommt das traditionelle US-amerikanische Demokratie-Verständnis, noch mitgeprägt vom früheren Präsidenten Woodrow Wilson, zum Ausdruck: Das Volk ist der absolute Souverän. Es kann daneben keine anderen Elemente, Einflussfaktoren, Bindungen geben, die dem Volk die Gestaltungsbefugnis über staatliche Jurisdiktion, und damit auch über Grenzen, entziehen könnten. Dementsprechend hat Richter Dillard „historischen Bindungen“, die von Marokko in der 3
IGH-Gutachten, West-Sahara-Fall, 16. 10. 1975, S. 122.
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West-Sahara systematisch ins Spiel gebracht worden sind, um eigene Ansprüche auf dieses Territorium zu begründen, wenn überhaupt, nur marginale Bedeutung zuerkennen wollen.4 Aber die Menschen, Individuen, Völker wurden für die Frage der Bestimmung der Staatsgrenzen schon viel früher in den Mittelpunkt gerückt, nämlich unmittelbar von US-Präsidenten Woodrow Wilson in seiner Ansprache vor dem US-Kongress vom 8. Januar 1918, gegen Ende des 1. Weltkrieges. Dabei forderte der Präsident, „dass Völker und Provinzen nicht von einer Souveränität zur anderen verschachert werden dürfen, gerade als ob sie bloße Gegenstände oder Steine in einem Spiele wären, sei es auch in dem nunmehr für immer diskreditierten Spiele des Mächtegleichgewichts; sondern […] dass jede durch den Krieg aufgeworfene territoriale Regelung im Interesse und zugunsten der beteiligten Bevölkerungen getroffen werden muss, und nicht als Teil eines bloßen Ausgleiches oder eines Kompromisses der Ansprüche rivalisierender Staaten“.5
Eine für die damalige Zeit revolutionäre Erklärung. Obwohl Wilson hier nicht explizit Gebietsreferenden erwähnte, machen diese Ausführungen doch deutlich, dass er dieses Instrument meinte. Erneut bekräftige Wilson dieses politische Programm in seiner „Mount-Vernon“Ansprache vom 4. Juli 1918: „There can be but one issue. The settlement must be final. There can be no compromise. No halfway decision would be tolerable. No halfway decision is conceivable. These are the ends for which the associated peoples of the world are fighting and which must be conceded them before there can be peace: I. The destruction of every arbitrary power anywhere that can separately, secretly, and of its single choice disturb the peace of the world; or, if it cannot be presently destroyed, at the least its reduction to virtual impotence. II. The settlement of every question, whether of territory, of sovereignty, of economic arrangement, or of political relationship, upon the basis of the free acceptance of that settlement by the people immediately concerned, and not upon the basis of the material interest or advantage of any other nation or people which may desire a different settlement for the sake of its own exterior influence or mastery.“6
Die Umsetzung dieses Programms war, wie nachfolgend zu zeigen sein wird, enttäuschend und möglicherweise musste dieser Ansatz, selbst wenn die Umsetzung besser vorbereitet worden wäre und die Siegermächte nicht derart voreingenommen und von Rachegedankten getragen gewesen wären7, in vielem Utopie bleiben. Zu4
Ibid. http://www.versailler-vertrag.de/27Punkte-Wilson-i.htm. 6 https://www.mountvernon.org/preservation/mount-vernon-ladies-association/mount-ver non-through-time/mount-vernon-during-world-war-i/woodrow-wilsons-july-4 - 1918-mount-ver non-speech/. 7 Den Vertrag von Versailles dagegen verteidigend Serge Sur, Le traite de Versailles, une tape de la paix par le droit, in: E. Castellarin/A. Hamann (Hrsg.), The Versailles Treaty: 5
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mindest war aber eine neue Denkweise hoffähig geworden, wenngleich ihre konkrete Realisierung noch lange auf sich warten lassen sollte und bis zum heutigen Tag nicht vollständig Wirklichkeit geworden ist. III. Erste historische Vorläufer des Gebietsreferendums – die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg Hinter dem Institut des Gebietsreferendums steht letztlich die Frage der Legitimation von Herrschaftsgewalt. Solange das „Recht zu herrschen“ dynastisch abgeleitet und mit transzendenten Referenzen verbrämt wurde, so dass sich dieses Recht einer rationalen Begründung entzog (es war schlicht und einfach „gottgewollt“), bot sich für ein Mitspracherecht des Volkes kein Platz. Schon seit den Anfängen des Völkerrechts und der damit einsetzenden säkularen Argumentation in der Begründung von Souveränitätsansprüchen wurde aber deutlich, dass dem Volk in dieser Frage eine zentrale Rolle zukommen musste. So ist bezeichnend, dass schon die großen Klassiker des Völkerrechts, die gemeinhin als die „Väter der Völkerrechtswissenschaft“ gesehen werden, Hugo Grotius (1583 – 1645) in „De Jure Belli ac Pacis“, Samuel von Pufendorf (1632 – 1694) in „De jura naturae et gentium“ (1672) sowie Emer de Vattel (1714 – 1767) in „Le droit des gens“, 1758, für die Abtretung von Souveränitätsrechten die Zustimmung der betroffenen Bevölkerung verlangten.8 War der Grund dafür bei Grotius noch in der beginnenden Säkularisierung des völkerrechtlichen Denkens zu sehen, die sich von einer Letztbegründung völkerrechtlicher Regeln im Transzendenten zu lösen begann, so war für Pufendorf das vernunftgeleitete Naturrechtsdenken prägend, das die Interessen aller betroffenen Bevölkerungsgruppen (also sowohl jener, die beim jeweiligen Souverän verbleiben sollten als auch der Bevölkerung der abzutretenden Gebiete) nicht ignorieren konnte, auch zumal Pufendorf schon stark vom aufklärerischen Gedankengut geprägt war. Diese Überlegungen führte Vattel in seinen vorrangig an der Praxis orientierten Studien fort. So nahm er auf die Befragung der Bevölkerung von Burgund 1527 Bezug, als eine Abtretung dieses Territoriums an Spanien zur Diskussion stand – und von der betreffenden Bevölkerung erfolgreich abgelehnt wurde.9 Weitere historische Beispiele für Gebietsreferenden dieser Ära bezogen sich auf Verdun, Toul und Metz. Es wäre jedoch verfehlt, in diesen Äußerungen maßgeblicher Autoren am Beginn der modernen Völkerrechtswissenschaft bereits eine Beschreibung der damals gängigen Völkerrechtspraxis zu sehen. Es handelte sich wohl mehr um politisch-philoFrench and German Perspectives in International Law on the Occasion of the Centenary, SFDI, 11émes Journées franco-allemandes, Paris: Pedone 2020, S. 47 – 60. 8 Vgl. M. Qvortrup, The History of Referendums and Direct Democracy, in: L. Morel/ M. Qvortrup (Hrsg.), The Routledge Handbook to Referendums and Direct Democracy, Routledge: London 2018, S. 11 – 26 (13). 9 Ibid.
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sophische Postulate, denen konkret nur sehr vereinzelt entsprochen wurde – und auch dies mehr aus politisch-strategischem Kalkül, denn aufgrund ehrlicher Obsorge für die betroffenen Menschen. Die genannten Autoren nahmen mit der Ausformulierung dieser Prinzipien aber Entwicklungen vorweg, die in weiterer Folge in immer deutlicherer Form politisch handlungsleitend werden sollten. Der Scheidepunkt war die Französische Revolution 1789: Das aufklärerische Gedankengut wurde nun – ausgehend von Frankreich – mit einem Schlag vom Gegenstand philosophischer Dispute zum Verfassungsprinzip ganzer Staatsordnungen, die – zumindest formal – das Individuum und seine Rechte in den Vordergrund rückten, einen radikalen Bruch mit dynastischen Legitimationsmustern staatlicher Autorität vornahmen und nach einer völligen Trennung von Staat und Kirche suchten. Das revolutionäre säkulare Frankreich zeigte allerdings eine verblüffende Kontinuität zum monarchisch-katholischen Vorgängerregime in seiner national-imperialistischen Expansionspolitik, ja, diese Politik wurde sogar noch forciert. Sowohl nach innen als auch nach außen bedurfte es dazu allerdings völlig neuer Legitimationsmuster, auch um die Kohärenz dieser Politik sowie ihre politisch-moralische Überlegenheit zu begründen und ihr damit auch weiteren Schub zu verleihen. So erfolgte die Annexion der zuvor unter päpstlicher Herrschaft stehenden Stadt Avignon im Jahr 1791 nicht schon im Gefolge der gewaltsamen Besetzung, sondern erst nach einem Referendum. Auch Savojen (1792) und Nizza (1793) kamen auf der Grundlage eines Referendums zu Frankreich, doch war dieser Erwerb nicht von Dauer und endete mit der Herrschaft Napoleons. Mit Napoleons Macht- und Expansionspolitik waren genuine Gebietsreferenden nicht vereinbart, und mit dem Wiener Kongress, der zu Restauration und Re-Etablierung dynastischer Herrschaftssysteme führte, wurde grundsätzlich die Etablierung eines prä-revolutionären europäischen Regimes angestrebt, das in klarem Gegensatz zum Selbstbestimmungsgedanken stand. Grenzen wurden durch die europäische Hocharistokratie festgelegt und darüber sollte gerade nicht die Plebs in Form von Plebisziten entscheiden. Jedes Wiederaufflammen revolutionärer Tendenzen sollte bei nachfolgenden Änderungen der Herrschaftsgewalt das Instrument des Referendums wieder aktuell werden lassen. Dies war 1848 der Fall, als sich Piacenza, Modena, Parma und die Lombardei per Referendum an das Königreich Piemont-Sardinien angliederten, wobei die Niederlage der piemontesischen Truppen gegen Österreich bei Custoza und Novara all diese Bemühungen wieder hinfällig machten.10 Das revolutionäre Instrumentarium blieb allerdings politisch präsent und vermischte sich im präunitären Italien mit nationalistischen, irredentistischen und – ausgehend von Piemont-Savojen – expansionistischen Tendenzen. Dass gerade Italien eines der wichtigsten Experimentierfelder des Gebietsreferendums im Europa des 19. Jahrhundert werden sollte, ist einmal auf die enormen territorialen Umgestaltun10
Vgl. F. Biagi (Anm. 2), S. 718.
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gen in dieser Region zurückzuführen, die einer politisch vertretbaren Legitimierung bedurften, und zum anderen auf den äußerst weitreichenden politisch-kulturellen Einfluss Frankreichs auf diese Region. Die schrittweise Einigung ab 1860 war ein von Referenden begleiteter Prozess: Am 11. März 1860 stimmten die Emilia und die Toskana, am 21. Oktober 1860 Sizilien und Neapel, am 4. November 1860 die Marken und Umbrien und 2. Oktober 1878 der Kirchenstaat einer Vereinigung mit Italien zu.11 Umgekehrt wurde die Abtretung von Savojen und Nizza von Piemont-Sardinien an Frankreich im Jahr 1860 (Vertrag zwischen Frankreich und Italien v. 24. 3. 1860) – zuvor schon als Gegenleistung für den Kriegseintritt Frankreich auf der Seite Piemont-Sardiniens gegen Österreich im Zweiten italienischen Unabhängigkeitskrieg 1859 vereinbart – ebenfalls durch ein Referendum abgesegnet. „Es war ein Lieblingsmittel Napoleons III. […] und Cavours“.12 In Einzelfällen fanden Gebietsreferenden auch außerhalb Italiens Anwendung, so auf den ionischen Inseln, die 1867 zu Griechenland kamen, auf der karibischen Inseln Barthélemy, die von Schweden im Jahr 1877 an Frankreich abgetreten wurde. Für Nordschleswig war ein Referendum zwischen Preußen und Österreich 1866 vereinbart worden, doch letztlich annektierte Preußen dieses Gebiet im Jahr 1867 ohne Volksbefragung.13 Die umfangreiche historische Literatur zu diesen Referenden14 zeigt sehr deutlich auf, dass diese Befragungen unseren aktuellen Anforderungen an eine rechtsstaatlichen Erfordernissen genügenden Volksbefragung schon in prozeduraler Hinsicht bei weitem nicht entsprechen würden: Zum Teil war die Abstimmung nicht einmal geheim, beteiligen konnte sich nur die männliche, besitzende Bevölkerung, die neue Herrschaftsgewalt war bereits etabliert und an eine Wahlaufsicht war nicht zu denken. Zustimmungsergebnisse teilweise über 99 % sind oft nicht glaubwürdig. Überwiegend legitimierten die Referenden eine Entwicklung, die ohnehin nicht zu verhindern gewesen wäre. Bspw. hätte Napoleon III. wohl kaum eine Ablehnung der Angliederung Nizzas, die Frankreich für den äußerst kostspieligen Kriegseintritt auf der Seite Piemont-Sardiniens (sowohl was Menschenleben anbelangte als auch in materieller Hinsicht) forderte, akzeptieren können.
11
Vgl. A. Peters, Das Gebietsreferendum im Völkerrecht, 1995, S. 50, unter Verweis auf P. Goodhart, Referendums and Separation I, in: A. Ranney (Hrsg.), The Referendum Device, 1981, S. 138 ff. (139): „It is fair to say that the modern state of Italy was built by a series of referendums.“ 12 So J. Kunz, Plebiszit, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 2, 2. Aufl. 1961, S. 770 ff. (771). 13 Vgl. für weitere Details H.-J. Uipopuu, Plebiscite, in: R. Bernhardt (Hrsg.), MPEPIL, Bd. III (1995), S. 1049 – 1054 (1050). 14 Siehe nur Sarah Wambaugh, La pratique des plébiscites internationaux, in: RdC, Bd. 18 (1927 III), S. 149 – 258, sowie E. Gonssollin, Le Plebiscite dans le droit international actuel, 1921.
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Dass aber die Einigung Italiens einen starken Rückhalt in der Bevölkerung auf der italienischen Halbinsel fand, davon ist ebenfalls auszugehen. Die – mit überwältigender Mehrheit (99 %) ausgegangene – Volksabstimmung über die Abspaltung Norwegens von Schweden im Jahr 1905 dürfte ebenfalls einem klaren und genuinen Willen der norwegischen Bevölkerung Ausdruck verliehen haben. Interessant ist in diesem Zusammenhang vielleicht noch ein Schwenk auf die Entwicklungen in Nordamerika in dieser Periode: Wie bereits die gemeinhin bekannte, starke US-amerikanische Befürwortung von Gebietsreferenden im 20. Jahrhundert, beginnend mit Präsident Woodrow Wilson, vermuten lässt, hat dieses Institut im amerikanischen Einigungsprozess eine lange Tradition, die bis auf den Unabhängigkeitskrieg zurückreicht.15 Selbst die Südstaaten ließen sich die – militärisch letztlich erfolglose – Sezession zuvor durch ein Referendum absegnen.16 Auch die USA waren diesbezüglich aber nicht völlig konsequent: Keine Volksabstimmungen lagen dem Kauf von Louisiana 1803, dem Erwerb von Florida 1819, dem Kauf Alaskas 1867, der Annexion Texas 1845, von New Mexiko und Kalifornien 1848 sowie von Hawaii, Puerto Rico und den Philippinen 1898 zugrunde.17 IV. Die Pariser Vorort-Verträge und Gebietsreferenden Das Gebietsreferendum erreichte mit den Pariser Vorortverträgen nach dem Ersten Weltkrieg einen historischen Höhepunkt – und sollte dabei aber gleichzeitig auch all seine Unzulänglichkeiten, seine Pfadabhängigkeit, seine Anfälligkeit für Manipulation und Missbrauch an den Tag legen. Im Anschluss an die erwähnten Proklamationen des US-Präsidenten Wilson gegen Ende des Ersten Weltkrieges wäre die Einführung eines genau durchdachten, umfassend friedensstiftenden Instruments zu erwarten gewesen, doch war dies z. T. nicht möglich, z. T. auch nicht gewollt, da es in den Friedensverhandlungen vielfach nicht möglich war, eine Balance zu finden zwischen fairer Friedenssicherung und gezielter Einhegung der Mittelmächte, zwischen angemessener Reparationsforderung und offenem Revanchismus, zwischen Berechtigung in der Vergangenheit unterdrückter Völker ohne Diskriminierung und Entrechtung anderer, zwischen hehrem Anspruch in den Proklamationen und nüchterner Wirklichkeit in Europa.
15 Vgl. M. Qvortrup, The History of Ethno-National Referendums 1791 – 2019, in: ders., Nationalism, Referendums and Democracy, 2. Aufl. 2020, S. 9 – 30 (15 f.). 16 Ibid. 17 Vgl. F. Biagi (Anm. 2), S. 720, unter Verweis auf Y. Beigbeder, International Monitoring of Plebiscites, Referenda and National Elections: Self-Determination and Transition to Democracy 1994, S. 79.
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Die Volksbefragung in Eupen und Malmedy 1920 degenerierte zur „petite farce belge“18 ; die für 1920 vorgesehenen Befragungen in Teschen, Zips und Arwa wurden nie abgehalten, ebensowenig die für dasselbe Jahr vorgesehene Befragung in Vilnius. In den Friedensverträgen von Versailles und Saint-Germain waren insgesamt sechs Volksabstimmungen vorgesehen.19 Geordnet und friedlich liefen die Volksabstimmungen in Schleswig (Art. 109 – 111 des Friedensvertrags von Versailles) und in Ostpreußen (für Allenstein gemäß Art. 94 des Versailler Vertrags, für Marienwerder gemäß Art. 96) ab. Zu problematischen Entwicklungen führte die Abstimmung in Oberschlesien (vorgesehen aufgrund von Art. 88 des Versailler Friedensvertrages) – auch durch das Versagen der zur Durchführung eingesetzten Inter-alliierten Kommission und darin den Machtdemonstrationen des französischen Vertreters, wodurch Freiraum für polnische Interventionen geschaffen wurde.20 Die Abstimmungsergebnisse wurden zum Teil nicht anerkannt und Oberschlesien durch Beschluss der Botschafterkonferenz vom 20. Oktober 2021 schließlich geteilt.21 Die Volksabstimmung in Kurdistan, die in Art. 64 des Vertrags von Sévres vorgesehen war, wurde ebenfalls nicht durchgeführt, da dieser Vertrag 1923 durch den Vertrag von Lausanne ersetzt wurde. Elsass-Lothringen wurde gemäß den Forderungen Frankreichs ohne Gebietsreferendum annektiert, da darin allein eine Revision der deutschen Annexion dieses Gebiets nach dem deutsch-französischen Krieg 1871 gesehen wurde („re-annexion“).22 Keine Volksabstimmung gab es zudem über die Ab18 Vgl. dazu in diesem Band Günther Rautz, Volksabstimmungen in Eupen-Malmedy. Eine Geschichte der Region bis 1945. 19 Vgl. dazu J. Kunz (Anm. 12), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, S. 772, der diese Plebiszite als überzeugend qualifizierte, da sie so ausgefallen seien, wie objektiv zu erwarten gewesen war, „in vielen Fällen – entgegen früheren Plebisziten – sogar zugunsten des verlierenden Staates“. 20 Vgl. dazu den Beitrag von Karsten Eichner, Volksabstimmung in Oberschlesien und Teilung Oberschlesiens, in diesem Band. 21 Vgl. J. Kunz (Anm. 12), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, S. 773. 22 Zum Schicksal der deutschsprachigen Volksgruppe in Elsass-Lothringen nach dem Ersten Weltkrieg vgl. H. Thoß, „Purifier – centraliser – assimiler“ – Reannexion and Vertreibung im Elsass und in Lothringen nach 1918, in: F. L. Kroll/M. Niedobitek (Hrsg.), Vertreibung und Minderheitenschutz in Europa, Duncker & Humblot: Berlin, 2005, S. 281 – 296. Vgl. auch Holger Kremser, Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: Gilbert Gornig/Adriana Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, Duncker & Humblot 2017, S. 99 – 111, der in seinen Schlussbetrachtungen Folgendes ausführt: „Es fällt auf, dass in Elsass-Lothringen im Gefolge des Ersten Weltkriegs, anders als zum Beispiel in Nord- und Mittelschleswig, keine Volksabstimmungen durchgeführt wurden. Ursächlich hierfür sind folgende Zahlen aus französischer Herkunft: 1919/1920 gab es 1.082.000 Altelsass-Lothringer, 183.000 Abkömmlinge aus Mischehen und 513.000 Altdeutsche. Eine Volksabstimmung in Elsass-Lothringen hätte zugunsten Deutschlands ausgehen können oder sie hätte unter internationaler Beobachtung das Bestehen einer starken deutschen Minderheit in Elsass-Lothringen amtlich manifestiert. Beides lag nicht im Interesse Frankreichs.“
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tretung der sudetendeutschen Gebiete sowie in Bezug auf Südtirol.23 Ebenso wenig wurde der Forderung Schwedens nach einer Volksabstimmung für die Aland-Inseln stattgegeben. Die Volksabstimmung in Südkärnten24 brachte ein überwältigendes Ergebnis zugunsten des Verbleibs bei Österreich – was nur aufgrund der mehrheitlichen Zustimmung auch der slowenischen Bevölkerung möglich war. Gemäß der bekannten Bevölkerungsverteilung wurde das Abstimmungsgebiet in zwei Zonen unterteilt, wobei die erste, südliche Zone von jugoslawischen Truppen besetzt wurde. Das dort zuerst durchgeführte Referendum ergab eine Mehrheit für Österreich, wodurch in Einklang mit dem Vertrag von Saint Germain eine Abstimmung in der zweiten Zone hinfällig wurde. Erfolgreich und dauerhaft befriedend verlief die Volksabstimmung in Schleswig im Jahr 1920, in deren Rahmen sich im nördlichen Teil eine Mehrheit für den Anschluss an Dänemark ergab, während sich der südliche Teil für einen Verbleib bei Deutschland aussprach. Die Trennlinie der Abstimmungsgebiete in Schleswig, gezogen nach der überwiegenden Siedlungsgröße der jeweiligen Volksgruppen, nahm das Abstimmungsergebnis schon vorweg. Unterschiedliche Erwartungen bestanden bezüglich des mittleren Bereichs, doch stimmte schließlich auch die dort gelegene Stadt Flensburg klar für Deutschland. Die Saar-Abstimmung25 wurde auf das Jahr 1935 verlegt – und sie fiel zugunsten Deutschlands aus. 20 Jahre später, 1955, unter völlig veränderten politischen Verhältnissen fand eine weitere Volksabstimmung statt, in der sich der weit überwiegende Teil der Bevölkerung (mehr als zwei Drittel) gegen eine „Europäisierung“ des Saarlands und nach allgemeiner Auffassung für die Wiederangliederung an Deutschland aussprach, die dann 1957 vollzogen wurde.
23 Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Südtirol 155.000 Unterschriften zugunsten einer Wiederangliederung an Österreich gesammelt, doch blieben diese Unterschriften von den Alliierten unbeachtet. Vgl. Helmut K. Ramminger, Dolomiten und Alto Adige, Inn-Verlag: Innsbruck 1983, S. 55. Vgl. Michael Gehler, Verspielte Selbstbestimmung? Die Südtirolfrage 1945/46 in US-Geheimdienstberichten und österreichischen Akten. Eine Dokumentation (Schlern-Schriften 302), Innsbruck 1996, S. 642. 24 Siehe die Art. 49 – 51 des Staatsvertrags von Saint Germain. Vgl. dazu auch Günther Rautz, Volksabstimmung in Kärnten 1920, in diesem Band sowie Jürgen Kühl, Grenzziehungen und Minderheiten: Eine Rückschau auf die Grenzreferenden nach dem Ersten Weltkrieg und deren Folgen, in diesem Band. Ders., The Making of Borders and Minorities. Revisiting the Plebiscites after World War I, in: 19 European Yearbook of Minority Issues19 2020, Brill: Leiden 2022, S. 49 – 74. 25 Vgl. dazu Laura Katharina Woll, Das Volk befindet über die Zugehörigkeit des Saarlandes, in diesem Band.
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Die auf den Philippinen in den 1920er Jahren erhobenen Forderungen nach einer Volksabstimmung über den weiteren Verbleib bei den USA wurden von den USA abgelehnt; im Jahr 1935 aber zugelassen.26 Das Instrument der Volksabstimmung fand somit nach dem Ersten Weltkrieg in nur sehr eingeschränkter Form Anwendung. Keineswegs ist es zu jener maßgeblichen Entscheidungsregelung über die Neuziehung der Grenzen in Europa geworden, die die Ankündigungen von US-Präsidenten Wilson hätten vermuten lassen und die die weitreichenden Einschnitte in die territoriale Ordnung Europas durch die Siegermächte nahegelegt hätten. Der Hauptgrund dafür war sicherlich im Umstand zu sehen, dass Selbstbestimmung keineswegs das zentrale Ordnungsprinzip für das Nachkriegs-Europa wurde, sondern Revanchegedanken und territoriale Ambitionen von Seiten der Siegermächte einen zumindest ebenso großen, wenn nicht sogar höheren Stellenwert hatten. Damit musste das Gesamtergebnis aber notwendigerweise unausgewogen und aus einer globalen Perspektive auch unfair ausfallen. Dazu kamen aber auch erhebliche praktische Probleme, insbesondere bei Gebieten mit ethnischer Gemengelage. Die Festlegung des Abstimmungsgebiets schuf hier enorme Herausforderungen bzw. war damit zuweilen auch schon das Ergebnis prädeterminiert. Weitere (oft allerdings nur vorgeschobene) Überlegungen waren bspw. strategischer Natur, wenn bspw. die Verlegung der Grenze zwischen Italien und Österreich auf den Brenner als unabdingbar für die Gewährleistung der italienischen Sicherheit dargestellt wurde. In anderen Fällen spielte die Überlebensfähigkeit der neugeschaffenen Staaten eine zentrale Rolle, bspw. was die Tschechoslowakei betraf, die ohne sudetendeutsche Gebiete nicht als bestandsfähig erachtet wurde. All diese Gesichtspunkte verliehen einem Entwicklungsstand des Völkerrechts Ausdruck, der weit hinter den Proklamationen zurückstand, die nach außen wegleitend für den Ersten Weltkrieg und für die während dieser Auseinandersetzung ins Auge gefassten Nachkriegsregelungen waren. Menschenrechte waren keineswegs das bestimmende Kriterium für die Nachkriegsordnung, ja, es gab nach dem Ersten Weltkrieg nicht einmal einen internationalen Menschenrechtsschutz im modernen Sinne. Das für das traditionelle Völkerrechtsdenken so prägende „Verhaften auf das Territorium“, die vom großen französischen Völkerrechtler George Scelle (1878 – 1961) so prägnant zum Ausdruck gebrachte „obsession du territoire“27, war gerade auch für die Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg bestimmend.
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Vgl. M. Qvortrup, Voting on Independence and National Issues: A Historical and Comparative Study of Referendums on Self-Determination and Secession, in: Revue Française de Civilisation Britannique, XX-2/2015, S. 1 – 12 (3). 27 Georges Scelle, Obsession du territoire, in: Symbolae Verzijl 1958, S. 347.
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Gleichzeitig wurde schon auch wahrgenommen, dass die von Grenzverschiebungen, von der Einführung neuer Herrschaftsgewalten betroffenen Völker ein Mitbestimmungsrecht wahrnehmen wollten und dass sich möglicherweise dieser Anspruch immer weiter verfestigen würde, ja auch über kurz oder lang zwangsweise etablierte Herrschaftsgewalten rechtlich in Frage gestellt werden könnten. Die Folge war aber, dass verschiedene autoritäre Regime zu noch radikaleren Maßnahmen griffen und mit Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen, großflächigem „Bevölkerungstausch“ die eigentliche Grundlage für die Geltendmachung eines solchen Selbst- bzw. Mitbestimmungsanspruchs zum Wegfall bringen suchten. Nach der Niederlage der griechischen Truppen in Anatolien, der „kleinasiatischen Katastrophe“, die selbst nach einem Jahrhundert das griechische Geschichtsdenken prägt28, kam es zu einer humanitären Katastrophe enormen Ausmaßes. Durch britische Unterstützungszusagen ermutigt, die letztlich nicht erfüllt wurden, waren griechische Truppen 1919 nach Anatolien übergesetzt und wurden schließlich 1922 durch türkische Verbände, unterstützt bspw. von Italien und von der Sowjetunion, vernichtend geschlagen. Während und nach dieser Auseinandersetzung geschahen menschenrechtliche Verbrechen enormer Dimension – für die bis dahin relativ große griechische Bevölkerungsgruppe, die seit byzantinischen Zeiten dort lebte, gab es keine Zukunft mehr. Für Smyrna (das heutige Izmir) war die Möglichkeit eines Gebietsreferendums (mit eventuellem Anschluss an Griechenland) vorgesehen gewesen. Nach der Rückeroberung der Stadt durch türkische Truppen wurden die griechischen und armenischen Stadteile niedergebrannt und die betreffenden Volksgruppen fielen (ähnlich wie die Pontus-Griechen am Schwarzen Meer), soweit sie nicht zuvor fliehen konnten, Massakern zum Opfer, während die britische Flotte – da Großbritannien um jeden Preis einen direkten militärischen Konflikt mit der Türkei vermeiden wollte – nicht intervenierte. Am 30. Januar 1923 wurde zwischen Griechenland und der Türkei bilateral die Zwangsumsiedlung von über einer Million Griechen aus der Türkei und von 350.000 Muslimen von Griechenland vereinbart29, und dieses Abkommen wurde anschließend dem Vertrag von Lausanne v. 24. Juli 1923 beigefügt.30 Die Schutzzusagen gemäß dem Vertrag von Sévres 1920 zugunsten von Kurden und Armeniern, die bis zu einer möglichen Autonomie oder gar Unabhängigkeit reichten, blieben toter Buchstaben und wurden im Vertrag von Lausanne
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Vgl. Renée Hirschon, Heirs of the Greek Catastrophe, OUP: Oxford 1998, der aufzeigt, dass in Griechenland diese Niederlage als schwerwiegender empfunden wird als der Fall Konstantinopels 1453. 29 Obwohl der griechische Premierminister Eleftherios Venizelos (1864 – 1936) Anhänger der „Megali-Idee“ war, die auf die Wiedererrichtung des Byzanz der Antike gerichtet war, stimmte er dem Bevölkerungstausch wohl angesichts der veränderten politisch-militärischen Konstellationen zu. 30 Vgl. Eric D. Weitz, From the Vienna to the Paris System: International Politics and the Entangled Histories of Human Rights, Forced Deportations, and Civilizing Missions, in: 113 American Historical Review 2008, S. 1313 – 1343 (1336).
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nicht mehr erwähnt.31 Der ethnisch-religiös homogene Staat, in dem kein Ansatz für eine Infragestellung von Grenzen mehr gegeben sein sollte, wurde hoffähig. Die Diskriminierung der deutschsprachigen Südtiroler durch die Faschisten führte in der Zwischenkriegszeit zu weltweiter Empörung.32 Die italienische faschistische Regierung versuchte dieser zuerst durch eine Entnationalisierungspolitik zu begegnen, die die Heterogenität durch eine Vernichtung der kulturellen Identität der Minderheit überwinden sollte. Als dies nicht bzw. nicht schnell genug gelang, wurde im Optionsabkommen 1939 mit Hitler-Deutschland eine Umsiedlung der Südtiroler vereinbart. Formal freiwillig, aber tatsächlich unter enormem Druck der Faschisten und der Nationalsozialisten. Nur die Kriegsereignisse konnten eine nahezu komplette Zerstörung der deutschen Nationalität in Südtirol verhindern. V. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg 1. Die Vertreibungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit Anders als vielfach dargestellt, lebte dieser Konflikt zwischen den Tendenzen, die einerseits auf eine Stärkung der Mit- und Selbstbestimmung des Individuums und der Völker abstellten, andererseits aber gerade eine solche Aufwertung und Mitsprache des Individuums über die Bestimmung der territorialen Hoheitsgewalt durch Vertreibung und Entnationalisierung im Keim ersticken wollten, weiter fort. Formal erlebte die Berechtigung des Individuums durch die Satzung der Vereinten Nationen aus 1945 eine enorme Aufwertung; ein wahrer Paradigmenwechsel schien sich abrupt abzuzeichnen: Die Charta der Vereinten Nationen erwähnt Menschenrechte und Selbstbestimmung und schon 1948 gelang mit der einstimmigen Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein epochaler Erfolg. Allerdings ist auch zu beachten, dass das Ende des Zweiten Weltkrieges das definitive Ende des Minderheitenschutzsystems des Völkerbundes bedeutete33 und dass 31 Dass der Vertrag von Sèvres nicht umgesetzt werden konnte, war im Wesentlichen auf die Uneinigkeit der Alliierten zurückzuführen. Vgl. Hüseyin I. Cicek, Der Friedensvertrag von Sèvres 1920 und die osmanische Haltung, in: Michael Gehler et al. (Hrsg.), Der Vertrag von Saint Germain im Kontext der europäischen Nachkriegsordnung, Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs, 2/2019, S. 444 – 455, sowie Roland Banken, Der Vertrag von Sèvres 1920 und seine Änderungen durch den Vertrag von Lausanne 1923, in: Gilbert Gornig/ Adriana Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Bd. 3, Duncker & Humblot: Berlin 2020, S. 13 – 47. 32 Zur zeitgenössischen Literatur vgl. bspw. Lucy C. Mayr, The Protection of Minorities, Christophers: London 1928, S. 207 ff.; Josef L. Kunz, Italian Rule in German South-Tyrol, 5 Foreign Affairs 3/1927, S. 505 – 505 sowie Eduard Reut-Nicolussi, Tyrol under the Axe of Italian Fascism, George Allen & Unwin: London 1930. 33 Vgl. Peter Hilpold, The League of Nations and the Protection of Minorities – Rediscovering a Great Experiment, in: 17 Max Planck Yearbook of United Nations Law 2013, S. 87 – 124, sowie ders., Minority Protection Within the System of the League of Nations – Under Particular Consideration of the Position of the United States, France, and Germany, in:
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mit der Vertreibung von 12 Millionen Deutschen aus Mittel- und Osteuropa von Grund auf jede Basis für Gebietsreferenden durch Volksgruppen abhandenkam, die seit vielen Jahrhunderten auf den Gebieten gesiedelt hatten, von denen sie nun vertrieben worden sind.34 Nach der Stimson-Doktrin 1932 dürfte ein gewaltsamer Gebietserwerb keine Anerkennung finden. Und doch wurden im Potsdamer Abkommen Vertreibungen besiegelt, die vollendete Tatsachen für die Durchführung dieser Annexionen schaffen sollten. 2. Nachfolgende Gebietsreferenden Trotz der Vertreibungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit war das Institut des Gebietsreferendums damit noch nicht tot35, sondern im Gegenteil erlebte es im System der Vereinten Nationen nachfolgend eine neue Blüte. In diesem Sinne zeigen sich durchaus auch Parallelen zum Minderheitenschutz. Ein vollumfänglich ausgebauter Menschenrechtsschutz müsste Grenzziehung und Verteilung staatlicher Hoheitsgewalt in den Hintergrund rücken lassen. Ebenso sollte ein wirksamer Menschenrechtsschutz Minderheitenschutz erübrigen. Zumindest war dies – was den Minderheitenschutz betraf – die vorherrschende Vorstellung auf UN-Ebene.36 Beides hat sich als Illusion erwiesen: Die Einführung des Menschenrechtsschutzes hat Minderheitenschutz nicht überflüssig gemacht und für Menschen und Völker kann es
E. Castellarin/A. Hamann (Hrsg.), The Versailles Treaty: French and German Perspectives in International Law on the Occasion of the Centenary, SFDI, 11émes Journées franco-allemandes, Paris: Pedone 2020, S. 207 – 219. 34 F. v. Braun, Germany’s Eastern Border and Mass Expulsions, in: 58 AJIL 3/1964, S. 747 – 750, stellt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen diesen Vertreibungen und der Intention her, ein Gebietsreferendum über die ostdeutschen Gebiete zu verhindern, das er als völkerrechtlich geboten ansah. 35 Ein Gebietsreferendum, das noch als Fortwirkung der Ereignisse der Vergangenheit im Verhältnis zwischen Frankreich und Italien angesehen werden kann, war jenes von Tenda und Briga am 12. 10. 1947 an der französisch-italienischen Grenze. Piemont-Sardinien hatte schon 1858 die Abtretung dieser Gemeinden an Frankreich versprochen und im Referendum von 1860 hatte sich eine Mehrheit der Bevölkerung in diesen beiden Gemeinden dafür ausgesprochen. Tatsächlich ist die Abtretung jedoch nicht erfolgt, da Piemont-Sardinien die strategische Bedeutung dieser Gemeinden hervorgehoben hat. Im Friedensvertrag zwischen Frankreich und Italien 1947 war jedoch erneut die Abtretung dieser Gemeinden an Frankreich vereinbart worden. Das nachfolgende Referendum musste schon allein deshalb erfolgen, da die französische Verfassung dies zur Vorbedingung eines jeglichen Gebietserwerbs machte. Die Durchführung dieses Referendums, in dem sich die Bevölkerung von Tenda und Briga mit überwältigender Mehrheit für eine Angliederung an Frankreich aussprach, stieß in Italien auf Kritik; wo man von einer „Annexion“ sprach. Beide Gemeinden waren bereits von französischen Truppen besetzt. Vgl. Romain H. Rainero, L’opinon publique italienne et l’annexion de La Brigue et de Tende à la France, in: 62 Cahiers de la Méditerranée 2001, S. 215 – 232. 36 Vgl. Peter Hilpold, UN Standard-Setting in the Field of Minority Rights, in: 14 International Journal on Minority and Group Rights 2 – 3/2007, S. 181 – 205.
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nach wie vor entscheidend sein, für die Wahrung ihrer kulturellen Identität, ja für ihr physisches Überleben, unter welcher staatlichen Hoheitsgewalt sie stehen. Die Vereinten Nationen haben seit 1945 zahlreiche Gebietsreferenden administriert, überwacht, begleitet, insbesondere im Entkolonialisierungskontext.37 Sie haben in diesem Kontext detaillierte Verfahrensregeln entwickelt. Auf regionaler Ebene ist die Europäische Kommission für Demokratie durch Recht zu erwähnen, die einen „Good-Practice“-Katalog von Regeln über die Durchführung von Referenden erarbeitet hat.38 Es gab des Weiteren unilateral verfügte oder veranlasste Referenden, also außerhalb eines spezifischen völkerrechtlichen Rahmens, so bspw. das Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands vom Vereinigten Königreich vom 18. September 2014, das 55,3 % Nein-Stimmen und 44,7 % Ja-Stimmen ergab. Eine Unabhängigkeit Schottlands wurde somit mehrheitlich von der Bevölkerung abgelehnt.39 Bereits zwei Abstimmungen gab es über eine eventuelle Unabhängigkeit Quebecs von Kanada. Im Jahr 1980 scheiterte diese Initiative mit 59,56 Nein-Stimmen, während im Jahr 1995 die Nein-Stimmen nur mehr 50,58 % ausmachten, und sich die JaStimmen auf 49,42 % beliefen. Dabei verlief die Grenze zwischen Gegnern und Befürwortern einer Unabhängigkeit deutlich entlang den ethnisch-sprachlichen Trennlinien der Volksgruppen mit einer deutlichen Unterstützung einer Unabhängigkeit durch die frankophone Bevölkerung und einer klaren Ablehnung durch die englischsprachige Bevölkerung sowie durch die Ureinwohner. Ein knappes Ergebnis für eine Unabhängigkeit hätte damit weitere Fragen hinsichtlich des Minderheitenschutzes aufgeworfen. Im Jahr 1982 entschied sich die Bevölkerung Grönlands für einen Ausstieg aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die dann, aufgrund des positiven, bejahenden Ausgangs der Volksabstimmung im Jahr 1985 vollzogen wurde. Interessanterweise sind verschiedene Referenden im kolonialen Kontext zugunsten eines Verbleibs bei der Kolonialmacht ausgegangen, wobei wirtschaftliche Überlegungen oft von zentraler Bedeutung waren.40 37
Beispiele sind Togo, Britisch-Kamerun, Westsamoa, Ruanda-Urundi, Äquatorialguinea, Nieu, Gilbert- und Ellis-Inseln, Marianen-Inseln, Französisch-Somaliland, Trust-Territorium der Pazifik-Inseln, Marshall-Inseln, Palau, Föderierte Staaten von Mikronesien, Eritrea, Osttimor und Süd-Sudan. Vgl. Yves Beigbeder, Referendum, in: MPEPIL online edit., 2011, sowie Antonio Cassese, Self-determination, CUP: Cambridge 1995, S. 76 ff. 38 CDL-AD(2007)08rev-cor, 25. October 2018, Study Nr. 371/2006. 39 In den 1980er Jahren ist die Auffassung vertreten worden, das unilateral verfügte Referendum sei in Europa, seinem Ausgangspunkt, wieder außer Gebrauch gekommen, da in stabilen Demokratien Gebietsreferenden nicht mehr erforderlich seien. So Achille Chiappetti, Plebiscito, in: XXXIII Enciclopedia del Diritto, Giuffré: Mailand 1983, S. 945 – 956 (948). Tatsächlich haben die realen Entwicklungen durch das Aufkommen von national motivierten Sezessionsbestrebungen einen anderen Lauf genommen. 40 So sind die französischen Überseegebiete weiterhin bei Frankreich verblieben. Bei der Volksabstimmung auf den Komoren v. 22. 12. 1974 sprach sich auf der Hauptinsel Mayotte
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VI. Exkurs: Der Krim-Fall Das Thema der Gebietsreferenden hat im letzten Jahrzehnt eine besondere Aktualität im Krim-Fall41 erlangt, der durch die geballte Präsenz von Elementen, die bei solchen Referenden nicht gegeben sein dürfen, im Umkehrschluss – und verdeutlicht durch die Reaktion der Staatengemeinschaft sowie der Wissenschaft – vor Augen geführt hat, welche Eigenschaften eine völkerrechtskonforme Abstimmung über die staatliche Zugehörigkeit eines bestimmten Territoriums kennzeichnen müssen. Während die Abspaltung der Krim von der Ukraine durch Russland als gewaltsam und völkerrechtswidrig qualifiziert wird (und dementsprechend auch Sanktionen gegenüber Russland zur Folge hatte, die nach wie vor aufrecht sind), wird von russischer Seite wird immer wieder betont, dass die Abspaltung der Krim durch ein Referendum vom 16. März 2014 demokratisch legitimiert worden sei. Zu recht wurde gegen diese Argumentation eingewandt, dass sie schon im Ansatz verfehlt sei, da ein Referendum an sich keinen territorialen Statuswechsel rechtfertigen, sondern allenfalls dazu dienen kann, einen auf anderem Wege herbeigeführten Wechsel zusätzlich und abschließend zu legitimieren.42 Wenn aber ein Referendum organisiert wird, dann ist die Achtung rechtsstaatlicher Kriterien absolut verpflichtend. Diese Bedingungen sind im letzten Jahrzehnt von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats sowie der Venedig-Kommission ausformuliert worden.43 eine Mehrheit für den Verbleib bei Frankreich aus, worauf – unter vielfachem internationalem Protest – allein die übrigen Inseln in die Unabhängigkeit entlassen wurden. Ähnliches gilt für eine Reihe von britischen Überseegebieten. So lehnte die Bevölkerung der Bermudas in einer Volksabstimmung 1995 die Unabhängigkeit ab. 41 Dieser Abschnitt entspricht weitgehend den spezifischen Ausführungen in Peter Hilpold, Die Ukraine-Krise aus völkerrechtlicher Sicht: Ein Streitfall zwischen Recht, Geschichte und Politik, in: 25 SZIER 2/2015, S. 171 – 181 (176 ff.). Vgl. zu dieser Thematik auch ders., Ukraine, Crimea and New International Law: Balancing International Law with Arguments Drawn from History, in: 14 Chinese Journal of International Law 2/2015, S. 237 – 270, sowie Caroline Gornig, Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht, Duncker & Humblot: Berlin 2020. 42 Vgl. Dazu auch Antonello Tancredi, Crisi in Crimea, referendum ed autodeterminazione dei popoli, in: 8 Diritti umani e diritto internazionale 2014, pp. 480 – 490. 43 Es handelt sich dabei überwiegend um Best-Practice-Regeln, was aber ihre Relevanz nicht mindert. Vgl. insbes. Venedig-Kommission, Code of Good Practice in Electoral Matters: Guidelines and Explanatory Report, 5 – 6 June and 18 – 19 October 2002, CDL-AD(2002) 023-e; Council of Europe, Parliamentary Assembly Recommendation 1704 (2005), Referendums: towards good practices in Europe, 29 April 2005 sowie Venedig-Kommission, Code of Good Practices on Referendums, Code of Good Practice on Referendums (CDL-AD(2007) 008, 19 March 2007. Daneben gibt es noch anlassbezogene Äußerungen des Europarats bzw. der Venedig-Kommission, die aber auch zum Teil verallgemeinerungsfähig sind (vgl. insbes. Venedig-Kommission, Opinion on the Compatibility of the Existing Legislation in Montenegro concerning the Organization of Referendums with Applicable International Standards (CDL-AD(2005)041; 19. 12. 2005 sowie Venedig-Kommission, Gutachten betreffend die Frage „Whether the decision taken by the Supreme Council of the Autonomous Republic of Crimea in Ukraine to organize a Referendum on Becoming a Constituent Territory of the
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Unmittelbar nach dem Krim-Referendum vom 16. März 2014 hat sich die Venedig-Kommission mit diesem Vorgang beschäftigt und das Urteil war vernichtend: Das Referendum stand in klarem Widerspruch zur ukrainischen Verfassung; die Fragestellung war mehrdeutig; es gab Berichte über extensiven Wahlbetrug; eine neutrale, unabhängige Wahlwerbung war im Vorfeld nicht möglich gewesen; die Zeitspanne von zehn Tagen zwischen Ankündigung des Referendums und tatsächlicher Abhaltung war zu kurz und eine unabhängige Wahlbeobachtung war nicht möglich gewesen.44 Die wohl gravierendste Beanstandung betraf aber den Umstand, dass das Referendum in einem „nicht befriedeten Gebiet“ stattgefunden hat. Sarah Wambaugh, eine der führenden Expertinnen der Zwischenkriegszeit zum Thema des Gebietsreferenden, meinte dazu: „[A] plebiscite in a country not effectively neutralised is a crime against the inhabitants of the area“.45 Welche Überlegung liegt dieser doch sehr pointierten Formulierung zugrunde? Die missbräuchliche Verwendung eines Instituts, das die demokratische Legitimierung eines Gebietswechsels bestätigen soll, in Wirklichkeit aber gerade gegen das betreffende Volk eingesetzt wird, stellt ein Verbrechen dar. Das betreffende Volk wird nämlich bevormundet und diesem soll gleichzeitig jegliche Möglichkeit genommen werden, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Ein solches Referendum kann nicht nur eine Verhöhnung eines zur Abstimmung aufgerufenen Volkes darstellen, sondern auch darauf ausgerichtet sein, diesem in Zukunft das Selbstbestimmungsrecht vorzuenthalten, und zwar unter Verweis auf eine Willensäußerung, die keine freie, sondern eine erzwungene war. Ein solches Referendum (und umso mehr jene in der Ostukraine, die eine noch groteskere Gestalt angenommen haben) kann somit eine Völkerrechtsverletzung durch Russland nicht heilen, sondern verkörpert selbst einen weiteren Völkerrechtsverstoß. VII. Schlussbemerkungen Eine zusammenfassende Analyse über den aktuellen Stellenwert des Gebietsreferendums im Völkerrecht muss differenziert erfolgen. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass das Gebietsreferendum im Völkerrecht mittlerweile fest etabliert ist. Ohne dass mit letzter Sicherheit gesagt werden Russian Federation or Restoring Crimea’s 1992 Constitution is compatible with constitutional principles“, 1. März 2014, Opinion 762/2014, CDL-AD(2014)0002. 44 Venedig-Kommission, Opinion on „Whether the decision taken by the Supreme Council of the Autonomous Republic of Crimea in Ukraine to organize a Referendum on Becoming a Constituent Territory of the Russian Federation or Restoring Crimea’s 1992 Constitution is compatible with constitutional principles“, 21. März 2014, Opinion 762/2014, CDLAD(2014)0002. 45 Sarah Wambaugh, Plebiscites Since the World War, Bd. 1, Washington Carnegie Endowment of Peace 1933, S. 507, zitiert nach A. Peters, The Crimean Vote of March 2014 as an Abuse of the Institution of the Territorial Referendum, in: Ch. Calliess (Hrsg.), Liber Amicorum Torsten Stein, 2015, S. 255 – 280 (274).
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könnte, dass eine Gebietsabtretung im modernen Völkerrecht zwingend ein Referendum der betroffenen Bevölkerung voraussetzt46, kann dennoch überzeugend argumentiert wird, dass zahlreiche völkerrechtliche Grundsätze und Rechtsnormen, insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Abhaltung einer solchen Abstimmung nahelegen. Ob jeglicher Gebietswechsel durch ein Referendum abgesegnet werden muss, ist in der Literatur umstritten: In der Vergangenheit wurde dies verneint; gegenwärtig gibt es Stimmen, die sich dafür aussprechen.47 Wie dem auch sei: Wenn ein Referendum tatsächlich abgehalten wird, dann sind verschiedenste Bedingungen und Voraussetzungen zu beachten.48 Mit anderen Worten: Ein Referendum ist für einen Gebietswechsel möglicherweise (noch) kein Muss, wenngleich sehr wünschenswert. Ein manipuliertes Referendum stellt hingegen einen Affront gegenüber der betroffenen Bevölkerung und auch gegenüber der Weltöffentlichkeit dar, die solche Vorgänge mit immer größerer Aufmerksamkeit verfolgt.49 Die legitimatorische Kraft der Verfahren gebietet eine transparente, faire Durchführung, die die Willensäußerung der betroffenen Bevölkerung nicht zu behindern, zu beeinflussen oder gar zu manipulieren versucht.50 Die Dichte der dazu anzuwendenden Kriterien ist in den letzten Jahren immer größer geworden, wobei das Bewusstsein für diese Problematik weit in die Vergangenheit zurückreicht; auch in dieser Hinsicht ist eine historische Betrachtung dieser Volksabstimmungen auch für das Völkerrecht der Gegenwart von großem Nutzen.51 46 In der weiter zurückliegenden Vergangenheit wurde dies verneint. Vgl. dazu Henn-Jüri Uibopuu („Plebiscites“, in: MPEPIL, Bd. III, 1997, S. 1049 ff. (1053), „contemporary international law does not demand the consent of the population to every territorial change“. Laut James Crawford (Brownlie’s Principles of Public International Law, 2012, S. 243) „there is insufficient practice to warrant the view that a transfer is invalid simply because there is no sufficient provision for expression of opinion by the inhabitants“ (bezugnehmend auf Ratner, 2006, 100 AJIL 808, 811). In jüngerer Zeit wird aber auch die Ansicht vertreten, dass völkerrechtlich eine solche Verpflichtung gegeben sei. Vgl. insbesondere Anne Peters, Das Völkerrecht der Gebietsreferenden, in: 64 Osteuropa 5 – 6/2014, S. 101 – 133 (113). 47 Vgl. insbesondere Anne Peters, Das Völkerrecht der Gebietsreferenden, in: 64 Osteuropa 5 – 6/2014, S. 101 – 133 (113). Laut A. Tancredi verlangt die Rechtmäßigkeit einer Sezession die Durchführung eines Referendums, Vgl. A. Tancredi, A Normative „Due Process“ in the Creation of States through Secession, in: M. G. Kohen (Hrsg.), Secession: International Law Perspectives, CUP: Cambridge 2006, S. 171 – 207 (190 f.). 48 A.A. C. Santulli, La Crise Ukrainienne: Position du Probleme, in: RGDIP 4/2014, S. 799 – 820 (808). 49 In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist sogar die Auffassung vertreten worden, die missbräuchlich gestalteten Gebietsreferenden der Vergangenheit hätten dieses Institut delegitimiert. Vgl. Rolando Quadri, Diritto internazionale pubblico, Liguori: Neapel 1968, S. 716. 50 Vgl. dazu grundlegend N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Suhrkamp: Frankfurt a. M., 6. Aufl. 2001; Th. Franck, Fairness in International Law and Institutions, OUP: Oxford 1998 sowie A. Tancredi, A Normative „Due Process“, 2006. 51 Bspw. sind die Volksbefragungen des 19. Jahrhunderts schon von zeitgenössischen Kommentatoren massiv kritisiert worden. Die Volksbefragungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg waren hingegen – trotz aller aufgezeigten Schwächen – doch von einem Bemühen
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Noch im Jahr 1961 hatte Josef Kunz geschrieben: „Das Plebiszit als rechtliche Voraussetzung des Erwerbs der Gebietshoheit war und ist keine Norm des allgemeinen Völkerrechts.“52 Wie gezeigt, lässt sich dies heute so nicht mehr sagen; die Entwicklung geht eindeutig in die gegenteilige Richtung.53 Es verbleibt allerdings die Problematik, dass sich Gebietsreferenden in vielen Fällen – insbesondere bei ethnischer Gemengelage – gar nicht für definitive Statusentscheidungen eignen, wenn tatsächlich das Los und das Wohl der betroffenen Bevölkerung im Mittelpunkt stehen sollen. Ein „winner-takes-it-all“-Ansatz, eine 50 + 1Regel, die zwischen Siegern und Verlierern unterteilt, ist mit einer modernen Völkerrechtsordnung nicht mehr vereinbar. Eine Statusentscheidung in einem modernen rechtsstaatlichen Kontext, die zu Änderungen in der Grenzziehung und der Hoheitsgewalt führt, muss parallel dazu umfangreiche Schutzmaßnahmen zugunsten der „unterlegenen“ Gruppe zur Folge haben, so dass diese Gruppe nicht nur schadlos gehalten wird, sondern sogar Anspruch auf Bevorzugung hat. In diesem Sinne sind wohl Autonomieregelungen, wie sie bspw. im Südtiroler Kontext verwirklicht worden sind und die eine vollständige Gleichbehandlung und Gleichberechtigung aller Volksgruppen vorsehen, zu bevorzugen. In wie weit Geschichte in Entscheidungen über Volksabstimmungen eine Rolle spielen soll, ist eine komplexe Fragestellung. In gewisser Hinsicht ist jede Volksabstimmung von geschichtlichen Ereignissen prädeterminiert; sie ist aber – ganz abgesehen von ihrer Vieldeutigkeit54 – kein Instrument zur Korrektur weiter zurückliegender Ereignisse ohne Bezug zur Gegenwart. Dieser Umstand verdeutlicht auch die Gefährlichkeit der Vertreibung. Sie ist klar völkerrechtswidrig55, kann aber Fakten getragen, Verfahrensgerechtigkeit zu garantieren und eine Beeinflussung insbesondere durch militärische Kräfte auszuschließen. Vgl. Sarah Wambaugh, Plebiscites since the World War, Carnegie 1933, S. 506. Vgl. auch Giulia Landi, Secession and Referendum, Firenze University Press: Florenz 2019, S. 126 f. 52 Vgl. J. Kunz (Anm. 12), in: K. Strupp/H.-J., Schlochauer, S. 774. 53 Wie D. Moeckli und N. Reimann aufzeigen, ging in den letzten Jahren allen Aufnahmen von Neustaaten in die Vereinten ein (befürwortendes) Unabhängigkeitsreferendum voraus: Osttimor 1999 (Aufnahmeentscheidung UNGA Res. 57/3, 27. September 2002), Montenegro 2006 (Aufnahmeentscheidung UNGA Res. 60/2064, 28. Juni 2006) sowie Südsudan 2011 (Aufnahmeentscheidung UNGA Res 65/308, 14. Juli 2011). Vgl. D. Moeckli/N. Reimann, Independence Referendums in International Law, in: J. Vidmar et al. (Hrsg.), Research Handbook on Secession, Edward Elgar: Cheltenham 2023, S. 92 – 111 (102 ff.). 54 Vgl. dazu Peter Hilpold, Ukraine, Crimea and New International Law: Balancing International Law with Arguments Drawn from History, in: 14 Chinese Journal of International Law 2/2015, S. 237 – 270. Im Krim-Streit hat dazu der französische Vertreter im UN-Sicherheitsrat zu den russischen, historisch unterlegten Rechtfertigungen folgende Erklärung abgegeben: „After all, Crimea was Russian for 170 years but a vassal of Turkey for three centuries. We know only too well that anything can be justified by history, particularly the unjustifiable.“ See S/PV.7138, 15. März 2014, Fn. 354, zitiert nach Giulia Landi, Secession and Referendum, 2019, S. 97. 55 Vgl. dazu auch Holger Kremser, Vertreibung und Bevölkerungsaustausch nach dem Ersten Weltkrieg, in: Gilbert Gornig/Adriana Michel (Hrsg.), Der Erste Weltkrieg und seine
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schaffen, die im Sinne des Effektivitätsgrundsatzes unumkehrbar sind.56 Auch aus diesem Grunde müssen Vertreibungen soweit irgendwie möglich verhindert, geahndet, rückgängig gemacht werden. Es kristallisiert sich immer deutlicher ein Bewusstsein heraus, wonach in allen Statusentscheidungen der Mensch in den Vordergrund gerückt werden muss und das Territorium nur mehr zweitrangige Bedeutung haben kann. Im letzthin vom IGH entschiedenen Chagos-Fall57, in dem die Frage zu beurteilen war, ob die Abtrennung der Chagos-Inseln im Zuge der Verselbstständigung von Mauritius zurecht erfolgt sei, wird diese Komponente wohl noch zu wenig berücksichtigt. Der IGH hat Mauritius recht gegeben, aber dabei das Los der Chagossians weitgehend außer Acht gelassen. Ein Selbstbestimmungsrecht der Völker, das im 21. Jahrhundert Bestand haben will, muss aber das Schicksal der unmittelbar betroffenen Völker zentral berücksichtigen. In diesem Sinne wäre gerade diese deportierte Volksgruppe, die jetzt als Randgruppe, verarmt und verwahrlost primär auf Mauritius lebt, zu befragen und zu berücksichtigen gewesen. Die Selbstbestimmung, die ein den Ansprüchen des 21. Jahrhunderts genügendes Referendum im Auge haben muss, hat primär jene der betroffenen Bevölkerung zu sein, der Bevölkerung, der in zentraler Form Unrecht widerfahren ist. Im Chagos-Fall wären dies in erster Linie die vertriebenen Chagossians und weniger die angestammte Bevölkerung von Mauritius.58 Der Ausdruck „Gebietsreferendum“ ist damit – mag er auch technisch nicht falsch sein – immer noch zu stark auf den staatlichen Territorialanspruch und damit auf einen Nebenaspekt der eigentlichen Problematik gerichtet: Im Mittelpunkt muss im Völkerrecht der Gegenwart der Mensch stehen! *** Abstract Peter Hilpold: The Territorial Referendum in International Law (Das Gebietsreferendum im Völkerrecht), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Duncker & Humblot: Berlin 2019, S. 223 – 246. 56 Vgl. Eugene Kontorovich, The Jus Post Bellum of Illegally Transferred Settler Populations, in: Carsten Stahn/Jens Iverson, Just Peace After Conflict, OUP: Oxford 2020, S. 235 – 251, der, bezogen auf die Suche nach Lösungen für Post-Konfliktsituationen schreibt: „No resolution to conflicts involving settlers has involved their removal from previously occupied territorries“. Ibid., S. 251. 57 Legal Consequences of the Separation of the Chagos Archipelago from Mauritius in 1965 (Chagos case) Advisory (Advisory Opinion) [2019] ICJ General List No 169. 58 Vgl. auch Peter Hilpold, „Humanizing“ the Law of Self-Determination – the Chagos Island Case, 91 Nordic Journal of International Law 2/2022, S. 189 – 215.
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besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 21 – 40. The territorial referendum is an institute of international law that goes back far into the past and originally had the purpose of (additionally) legitimising the power to rule over a certain territory and the population settling on it. This instrument was frequently used in revolutionary France after 1789 and in the Italian unification process of the 19th century. These referendums would not meet modern requirements. This instrument was partly used in the territorial settlements after the First World War. In the process, rules were created that are still observed today in modern international law. After the Second World War, the United Nations applied the territorial referendum on a broad scale. Thereby, increasingly demanding criteria were developed to ensure that territorial referendums were an expression of genuine self-determination. Within the framework of the Council of Europe and the Venice Commission, these criteria were further refined. In many cases, however, such referendums have been characterised by fraud and manipulation, and there have been repeated expulsions, massacres and even genocide to prevent the exercise of the right to self-determination through a referendum. A more human-centered international legal order (of course also in its collective identity) – rather than one centered on the state, territory and collectives – could prevent this.
Grenzziehungen und Minderheiten: Eine Rückschau auf die Grenzreferenden nach dem Ersten Weltkrieg und deren Folgen Von Jørgen Kühl Die Friedensverträge von Versailles and Saint-Germain 1919 nach dem Ersten Weltkrieg legten die Durchführung von Referenden fest, um die Grenzen zwischen Deutschland und Dänemark in Schleswig (1920), Deutschland und Polen mit Abstimmungen in Oberschlesien, West- und Ostpreußen (1920) sowie zwischen Österreich und dem zukünftigen Jugoslawien in Kärnten (1920) zu bestimmen. 1921 wurde ein Referendum in West-Ungarn durchgeführt, um die Grenze zwischen Österreich und Ungarn festzulegen. Die Grenzen zwischen Deutschland und Dänemark, Österreich und Slowenien und Österreich und Ungarn konnten 2020 und 2021 ihr hundertstes Jubiläum feiern. 1935 wurde nach fünfzehnjähriger Völkerbundverwaltung im Saargebiet ein Referendum über den zukünftigen Status der Region durchgeführt, das zum Anschluss an Deutschland führte. Schließlich wurde 1920 eine Konsultation oder vielmehr öffentliche Willensbekundung in den Kreisen Eupen und Malmedy zum Grenzverlauf zwischen Belgien und Deutschland durchgeführt. In diesem Beitrag werden die Formate, Kontexte und Ergebnisse der Referenden vorgestellt. Analysiert werden ferner die Langzeitwirkungen der nach den Grenzziehungen gefundenen Minderheitenregelungen in Schleswig, Kärnten und Burgenland/West-Ungarn, die oft als gute oder beste Beispiele hervorgehoben werden. Schließlich wird erörtert, ob Referendum als zweckdienliches Mittel bei der Lösung des gegenwärtigen russischen Angriffs- und Eroberungskrieges in der Ukraine dienen können – mit dem Fazit, dass Grenzreferenden vermutlich weiterhin eine Klammer der modernen europäischen Geschichte verbleiben werden. I. Einleitung In den Jahren 2020 und 2021 konnten drei europäische Grenzen ihr hundertstes Jubiläum feiern: Die deutsch-dänische Grenze von 1920, die österreichisch-slowenische Grenze von 1920 sowie die österreichisch-ungarische Grenze von 1921.1 Allen drei ist gemeinsam, dass sie auf der Grundlage der Friedensschlüsse am 1 Eine frühere englischsprachige Fassung der Abschnitte I.–V. dieses Beitrags ist erschienen in J. Kühl, The Making of Borders and Minorities. Revisiting the Plebiscites after World War I, in: European Yearbook of Minority Issues Vol. 19 2020, Koninklijke Brill NV, Leiden 2022, S. 49 – 74.
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Ende des Ersten Weltkriegs festgelegt wurden. Alle drei Abstimmungen erfolgten auf der Grundlage des Rechts auf nationale Selbstbestimmung umgesetzt in Referenden, begleitet von intensiver und aggressiver nationaler Agitation und Propaganda.2 Alle drei Grenzen wurden mehrfach nach den international festgelegten Verläufen angefochten. Alle drei teilten historisch gewachsenen und zusammenhängende Regionen und erschufen Grenzregionen mit einer ethnokulturellen Diversität. Alle drei produzierten Mehrheiten und Minderheiten: In Schleswig symmetrisch, in Kärnten asymmetrisch und in Burgenland/Westungarn eine ethnokulturell mannigfaltige, aber zu einem gewissen Grad symmetrischen Übergangszone, in denen mehrere ethnokulturelle Gemeinschaften heimisch sind. Alle drei gemischten Grenzregionen entwickelten sich schließlich von Konfliktzonen zu Arenen der Begegnung, des Austauschs und der Kooperation – Schleswig profitierte vom, Burgenland und Kärnten wurden in Mitleidenschaft gezogen während des Kalten Krieges, aber alle drei blühten ab 1989 als grenzüberschreitende Regionen auf. Alle drei Regionen mussten lange Schatten der Konflikte und Friktionen überwinden und durch viele Schritte und Initiativen eine Aussöhnung zwischen den Gruppen erreichen. Alle drei Regionen schätzen in der Gegenwart den Mehrwert der Zwei- und Mehrsprachigkeit und versuchen diese sowie die Potenziale der Minderheiten konstruktiv als Mehrwert zu nutzen. Alle drei Regionen sind heute interne EUGrenzen. Mit der Ausnahme der umfassenden Covid-19-Restriktionen, die temporär im März 2020 erfolgten und auch zu Grenzschließungen führten, sind die Grenzen offen innerhalb der Europäischen Union und erhalten substanzielle EU-Förderung für grenzüberschreitende Integration. Alle drei Regionen sehen sich heute als positive Beispiele für Zusammenarbeit, die zudem Kooperation zwischen den beiden Staaten fördern. Zwei weitere Grenzen, die infolge von Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg entstanden, verschwanden mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Die deutsch-polnische Grenzen in West- und Ostpreußen und in Schlesien. In der Zwischenkriegszeit erzeugten auch diese Grenzen Minderheiten mit einer symmetrischen Konstellation. Aufgrund von Vertreibungen, Grenzverschiebungen und schließlich Aussiedlung nach 1945 verblieben signifikant weniger Deutsche als Minderheitengemeinschaften in diesen Regionen des heutigen Polens. Schließlich wurde auch das Saarland zwei Mal in Deutschland inkorporiert. Im Saarland bewahrten die Abstimmungen 1935 und 1955 die Zugehörigkeit zu Deutschland, allerdings ohne nationale Minderheiten beiderseits der Grenze zu produzieren. So ist das Saarland die einzige Abstimmungsregion ohne nationale Minderheiten. In diesem Beitrag werden sie Grenzziehungen sowie die Erschaffung von nationalen Minderheiten durch Referenden auf der Basis der Friedensverträge der Pariser Vororte nach dem Ersten Weltkrieg vorgestellt. Der Beitrag bietet eine kurze Beschreibung aller sechs Referenden und deren Ergebnisse. Er zeichnet auf, wie infolge 2 N. Jebsen, Als die Menschen gefragt wurden. Eine Propagandaanalyse zu Volksabstimmungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg, Waxmann, Münster/New York 2015.
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der Grenzziehungen nationale Minderheiten entstanden und welche Bedeutung sie erhielten. Zuletzt bietet er eine vergleichende Analyse der Bedeutung der Geschichte für die Beziehungen zwischen Minderheiten und Mehrheiten in der Gegenwart in Regionen, die aufgrund der Referenden Anfang der 1920er zu Grenzregionen wurden. II. Das Plebiszit-Instrument Plebiszite, Volksabstimmungen oder Referenden wurden durch die Wiedereinführung des Prinzips vom Recht auf nationale Selbstbestimmung durch den US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson während des Ersten Weltkriegs ein Instrument der internationalen Politik.3 Im Januar 1918 erklärte der britische Premierminister David Lloyd George, das nationale Selbstbestimmungsrecht und keine Annexionen sei von zentraler Bedeutung für jedweden Friedensschluss.4 Tatsächlich wurde das Prinzip als Lösungsansatz für Nationalitätenfragen in mehreren europäischen Regionen erwogen.5 Plebiszite waren nicht unbekannt bei der Lösung territorialer Auseinandersetzungen. So sind Referenden mehrfach vorgeschlagen oder praktiziert worden seit der Französischen Revolution, z. B. auf der Italienischen Halbinsel 1848 – 1870 oder bei der Trennung Norwegens von Schweden 1905.6 Während der Pariser Friedenskonferenz wurde das Prinzip ebenfalls teilweise in Anwendung gebracht.7 So wurden Referenden in den 1919 geschlossenen Friedensverträgen von Versailles mit dem Deutschen Reich und Saint-Germain mit Österreich verankert. Allerdings wurden in beiden Fällen Referenden unter internationaler Überwachung nur in weniger Regionen vorgesehen (Schleswig, Oberschlesien, West- und Ostpreußen betreffend die zukünftigen deutschen Grenzen sowie Kärnten für Österreich), während die weitaus meisten territorialen Veränderungen ohne Befragung der betroffenen Bevölkerungen erfolgten. Die weitaus meisten neuen Grenzen wurden ohne Referenden festgelegt.
3 J. Kühl, „Die Volksabstimmungen in Schleswig im Jahre 1920 im Europäischen Kontext“, in: T. Wegener Friis/M. F. Scholz (Hrsg.), Ostsee. Kriegsschauplatz und Handelsregion. Festschrift für Robert Bohn, Gotland University Press, Visby 2013, S. 317 – 329. Siehe zur Gesamtthematik des nationalen Selbstbestimmungsrechts P. Hilpold, Self-determination and autonomy: between secession and internal self-determination, in: P. Hilpold (Hrsg.), Autonomy and Self-Determination. Between Legal Assertions and Utopian Aspirations, Edward Elgar, Cheltenham 2018, S. 7 – 55. 4 B. Karch, Plebiscites and Postwar Legitimacy, in: M. M. Payk/R. Pergher (Hrsg.), Beyond Versailles, Indiana University Press, Bloomington, Indiana 2019, S. 16–37, S. 18. 5 B. Karch (Anm. 4), S. 17. 6 S. Wambaugh, The Doctrine of National Self-Determination. A Study of the Theory and Practice of Plebiscites. With a Collection of Official Documents, Oxford University Press, New York 1919; S. Wambaugh, A Monograph on Plebiscites. With a Collection of Official Documents, Oxford University Press, New York 1920. 7 M. M. Payk, Frieden durch Macht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2018.
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Das Habsburgerreich löste sich Ende des Ersten Weltkriegs auf. Teile des Imperiums wurden selbständige Staaten oder bildeten gemeinsam mit Teilen anderer Imperien, die ebenfalls verschwanden, neue Staaten. Österreich-Ungarn verlor den größten Teil des Vorkriegsterritoriums. In Mitteleuropa entstanden neue unabhängige Staaten: die Tschechoslowakei, Polen, anfangs auch Ukraine (das bald darauf zwischen Polen und schließlich der 1922 entstandenen Sowjetunion geteilt wurde), Rumänien sowie das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Königreich Jugoslawien). Während mehrere der Nationalitäten des untergegangenen Habsburgerreiches in einem gewissen Umfang das Recht auf nationale Selbstbestimmung durch die Bildung eigener Staaten ausüben konnten, hatten die meisten der deutsch- und ungarischsprachigen Bevölkerungen außerhalb der verbliebenen Kernländer Österreich und Ungarn nicht die Möglichkeit, ihre Präferenzen für einen Staat Ausdruck zu verleihen. Die überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols wurde im Oktober 1920 ohne Befragung in Italien inkorporiert.8 Die deutschsprachigen Bewohner in Böhmen, Mähren oder Siebenbürgen erhielten keine Möglichkeit, ihr nationales Selbstbestimmungsrecht in Referenden über die staatliche Zugehörigkeit auszuüben. Der Trianon-Friedensvertrag mit Ungarn von 1920 sah keine Referenden vor in Gebieten mit substanzieller ungarischer Bevölkerung, die an die neuen Nachbarstaaten fielen.9 Die Ungarn in den Gebieten um das heutige Ungarn wurden unfreiwillig zu nationalen Minderheiten in neuen Staaten. Die Folgen sind noch immer fassbar: Ungarische zum teil kompakte Siedlungsgebiete finden sich noch immer in der Slowakei, Ukraine, Rumänien und Ex-Jugoslawien und führen auch mehr als 100 Jahre nach Trianon weiterhin regelmäßig zu politischen Friktionen. Somit wurde das Instrument des Plebiszits nur in wenigen Fällen angewendet und wurde kein allgemeines Instrument für die Festlegung internationaler Grenzverläufe. Die Implikationen einer systematischen Anwendung von Referenden wären zu schwerwiegend und komplex gewesen. Jeder der neuen Staaten in Mitteleuropa war multinational und hatten Minderheiten, deren Angehörige sich mit dem Nachbarstaat identifizierten. „Saubere Grenzen“ waren unmöglich, die Gemeinschaften lebten oftmals miteinander verwoben. Ferner fanden Plebiszite nur in Gebieten statt, die weitere territoriale Verluste für Deutschland und Österreich ermöglicht hätten. So waren Plebiszite die Ausnahme, während eine Region wie Elsass-Lothringen ohne Referendum an Frankreich fiel. Jedes erfolgte Plebiszit führte nicht nur zu einer neuen Grenzziehung, sondern auch zur Bildung neuer nationaler Minderheiten, die sich häufig mit dem Nachbarstaat oder wie im Falle der Sudetendeutschen mit einem weiteren sprachlich-kulturell nahestehendem Staat identifizierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgten nirgends in Europa Plebiszite über die Grenzverläufe nach 8
B. Mazohl/R. Steininger, Geschichte Südtirols, C.H. Beck, München 2020, S. 230–231; S. F. Kellerhoff, Als in Südtirol der Karfreitag im Herbst stattfand, Die Welt, 12.10.2020. 9 J. Galántai, Trianon and the Protection of Minorities, Social Sciences Monographs, Boulder, Colorado 1992.
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dem Muster von 1919. Die Grenzen wurden nach 1945 vielmehr durch Annexionen, Bevölkerungsaustausch und Vertreibungen festgelegt statt anhand des nationalen Selbstbestimmungsrechts. III. Die Grenzreferenden nach dem Ersten Weltkrieg 1. Schleswig: Referenden über die deutsch-dänische Grenze In Schleswig, in der 1000 Jahre alten ethnokulturellen Übergangszone zwischen Deutschen und Dänen im Raum zwischen den Wasserläufen Königsau und Eider sowie zwischen Nord- und Ostsee, die bis 1864 als Herzogtum zum dänischen Reich gehörte, fanden zwei Referenden laut den Bestimmungen in den Artikeln 110 – 114 im Versailler Friedensvertrag vom 28. Juni 1919 statt.10 Der Abstimmungsbereich wurde vom 10. Januar bis 15. Juni 1920 unter Kontrolle einer Internationalen Kommission gestellt, die gewissermaßen bis zur offiziellen Grenzziehungen einen „Staat Plebiszit“ regierte.11 Dabei wurde das Abstimmungsgebiet in zwei Zonen unterteilt: Die erste Zone umfasste das nördliche Schleswig, die zweite das mittlere Schleswig von der Flensburger Förde bis einschließlich der Nordfriesischen Inseln. Laut Versailler Vertrag hatte jede Frau und jeder Mann das Stimmrecht, die mindestens 20 Jahre alt waren und a.) in einer der beiden Zonen geboren wurden, b.) dort in einem Zeitpunkt vor dem 1. Januar 1920 gewohnt hatten oder c.) von den deutschen/ preußischen Behörden ausgewiesen worden waren, ohne weiterhin einen Wohnsitz im Abstimmungsgebiet zu haben. Dies sollte gewährleisten, dass insbesondere Dänischgesinnte, die von den preußischen Behörden im Kaiserreich des Landes verwiesen worden waren, oder aus anderen Gründen wie z. B. Emigration nach Übersee Schleswig verlassen hatten, die Möglichkeit erhielten, an der Abstimmung teilzunehmen.12 Aus diesem Grund versuchten beide Seiten u. a. durch kurze Filme in Kinos und Presseberichte möglichst viele Wahlberechtigte, die außerhalb der Abstimmungsgebiete wohnhaft waren, zu mobilisieren und die Wahlteilnahme zu organisieren. In der Zone I wurde en Bloc abgestimmt, wobei das Gesamtergebnis für die zukünftige Zugehörigkeit zu Dänemark oder Deutschland entscheidend sein sollte. In der Zone II wurde en Detail in den jeweiligen Gemeinden abgestimmt, wobei eine Mehrheit für Dänemark z. B. in der Stadt Flensburg eine Vereinigung mit Dänemark ermöglichte. Die unterschiedlichen Abstimmungsregeln erklärten sich dadurch, dass 10 J. Schlürmann, 1920. Eine Grenze für den Frieden. Die Volksabstimmung zwischen Deutschland und Dänemark, Wachholtz, Kiel/Hamburg 2019; H. Schultz Hansen, Genforeningen, Aarhus Universitetsforlag, Aarhus 2019. 11 U. Danker, Der Abstimmungsstaat „Plebiscit Slesvig“ 1920, in: P. Fransen/J. Mikkelsen/ L. Hansen Nielsen (Hrsg.), Over grænser. Festskrift til Hans Schultz Hansen, Historisk Samfund for Sønderjylland, Aabenraa 2019, S. 208 – 234. 12 https://danmarkshistorien.dk/vis/materiale/afstemningskampen-op-til-folkeafstemningeni-mellemslesvig-14-marts-1920/ (Zugriff am 25. 12. 2022).
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die dänische Bewegung im ländlichen Bereich Nordschleswigs stärker war als in den Städten. Mit dem Mehrheitsprinzip wurde eine dänische Mehrheit in der gesamten Abstimmungszone ermöglicht. Dies wurde auf deutscher Seite heftig kritisiert, änderte jedoch nichts an den Modalitäten. In den Vorwegen der Abstimmung entfalteten pro-dänische und pro-deutsche Kräfte eine umfassende nationale Agitation. Am 10. Februar 1920 fand die Abstimmung in der Zone I statt. Die Wahlbeteiligung lag bei 91,5 % oder 100.000 abgegebenen Stimmen. Im Ergebnis votierten 74,9 % für eine Vereinigung mit Dänemark, während 25.1 % den Verbleib bei Deutschland wünschten. Allerdings gab es in mehreren Gemeinden und Städten eindeutige Mehrheiten für Deutschland, so auch in drei der vier großen Städte: Tønder/ Tondern (23 % für Dänemark), Aabenraa/Apenrade (45 % für Dänemark) and Sønderborg/Sonderborg (44 % für Dänemark).13 Aufgrund des Abstimmungsmodus, wobei das Gesamtergebnis der Abstimmungszone entscheidend war, spielten diese lokalen Mehrheiten für Deutschland keine Rolle. Umso größer war die Verärgerung bei den Deutschgesinnten, die zukünftig in Dänemark einer nationalen Minderheit angehören würden, obwohl sie bei Deutschland verbleiben wollten. Hier war wie in den anderen Abstimmungsgebieten die Frage, welche Gruppe zukünftig eine Minderheit im Staat der anderen werden sollte, von zentraler Bedeutung. In der Zone II fand die Abstimmung am 14. März 1920 statt. Nach dem eindeutigen Gesamtvotum für Dänemark in der Zone I konzentrierten sich die Bemühungen beider Seiten insbesondere auf Flensburg/Flensborg. Dabei wurde intensiv versucht, Wahlberechtigte von außerhalb zu mobilisieren. Wahlberechtigte aus Dänemark konnten mit Schiff oder Bahn kostenlos anreisen, während Deutsche von Süden kommend mit der Bahn nach Flensburg gebracht wurden. In Flensburg wurden 10.287 zugereiste Stimmberechtigte registriert, von denen letztendlich 9.042 ihre Stimme abgaben. Davon kamen jedoch knapp 80 % oder 7.949 aus Deutschland, die vermutlich eher für den Verbleib bei Deutschland als die Vereinigung mit Dänemark votierten.14 Im Ergebnis votierte nicht nur Flensburg, sondern die ganze Zone II eindeutig für den Verbleib bei Deutschland. 91,1 % oder 64.524 der 70.854 Wahlberechtigten ihre Stimme ab. 51.724 gleich 80,2 % votierten für Deutschland, 12.800 oder 19,8 % für Dänemark. In der umkämpften Stadt Flensburg stimmten 75 % für Deutschland, 25 % für Dänemark. Lediglich in drei kleinen Abstimmungsbezirken Goting, Hedehusum und Utersum auf der friesischen Insel Föhr/Fee/Før gab es Stimmenmehrheiten für Dänemark.15 Allerdings führte dies nicht zur Bildung dänischer Enklaven, als die Grenze festgelegt wurde. Die Abstimmungsergebnisse ermöglichten es der Internationalen Kommission, ein eindeutiges Ergebnis festzustellen. Die heutige Grenze zwischen Dänemark und Deutschland wurde festgelegt, anschließend in der Landschaft mit Grenzsteinen 13
H. Schultz Hansen (Anm. 10), S. 59. https://danmarkshistorien.dk/vis/materiale/afstemningskampen-op-til-folkeafstemningeni-mellemslesvig-14-marts-1920/ (Zugriff am 25. 12. 2022). 15 H. Schultz Hansen (Anm. 10), S. 61. 14
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und Grenzpfählen markiert. Am 15. Juni 1920 fand die offizielle Gebietsübergabe statt.16 Somit wurde die bisherige deutsche Mehrheit in Nordschleswig zur nationalen Minderheit, obgleich sie ungefähr 30.000 Angehörige zählte und von der Anzahl her die folgenden 30 Jahre stabil verblieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte in den 1950er Jahren teils eine durch die Umstände verstärkten freiwillige Assimilation ein, teils gab es eine Abwanderung aus Nordschleswig, sodass mittlerweile seit vielen Jahrzehnten die Gesamtzahl der deutschgesinnten Nordschleswiger auf 10 – 15.000 geschätzt wird. Die in Deutschland verbliebenen dänische Minderheit zählte anfangs vielleicht 10.000 Angehörige, schrumpfte jedoch in der Zwischenkriegszeit schnell auf 6.000.17 In beiden Referenden wurde intensiv auch nationalistisch, aber dennoch gewaltlos für die jeweilige Seite agitiert, wobei beide Seiten einen extensiven Gebrauch von mehr als 100.000 pro-dänischen und 200.000 pro-deutschen Plakate, aber auch Notgeld in ihrer Propaganda machten.18 In den Abstimmungen gab es keine Mittelposition, kein Raum für eine Bindestrichidentifikation oder gar eine eigenständige regionale Option, obgleich große Teile der Bevölkerung vor der Polarisierung im Abstimmungskampf oftmals eine fluide Identifikation mit der Region Schleswig hatten. Gerade die fluiden Identifikationen konnten durch die nationalen Agenden beeinflusst werden, so auch in den Jahrzehnten nach der Grenzziehung.19 2. Kärnten: Die Grenze zwischen Österreich und SHS-Staat Das Schicksal Kärntens war infolge der Auflösung des Habsburger Imperiums nach 1918 umstritten. Im November 1918 besetzten Truppen des neuen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) die Region in der Absicht ein fait accompli zu vollziehen. Dies stieß unter den deutschgesinnten Kärntnern auf bewaffneten Widerstand. Angriffe, Abwehr und Gegenangriffe fanden monatelang statt.20 Die Kärntner organisierten einen sogenannten „Abwehrkampf“, der erfolgreich gegen die süd-
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J. Schlürmann (Anm. 10), S. 162. L. N. Henningsen (Hrsg.), Sydslesvigs danske historie, Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig, Flensborg 2013. 18 N. Jebsen (Anm. 2); E. Aasted Schanz/N. A. Sørensen, Grænsen er nået. Afstemningsplakater fra grænselandet 1920, Dansk Plakatmuseum i den Gamle by/Gads Forlag, Aarhus 2020. 19 M. Andersen, Den følte grænse. Slesvigs deling og genopbygning 1918 – 1933, Historisk Samfund for Sønderjylland, Aabenraa 2008; P. Thaler, Of Mind and Matter. The Duality of National Identity in the German-Danish Borderlands, Purdue University Press, West Lafayette, Indiana 2009; M. Bo Thomsen, Danskhed under pres. Dansksindede sydslesvigere 1919 – 1933, Syddansk Universitetsforlag, Odense 2021. 20 E. T. A. Kühl, Folkeafstemningerne i Slesvig og Kärnten efter 1. Verdenskrig, nicht publizierte Bachelorarbeit, Institut for Kultur and Samfund, Aarhus Universitet/Aarhus University 2020, S. 8–9. 17
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slawischen Truppen kämpfte.21 Im Januar 1919 wurde ein Waffenstillstand vereinbart, verhandelt von einer US-amerikanischen Kommission, die vor Ort die Thematik untersuchte. Eine Demarkationslinie wurde festgelegt, wobei das Gebiet unter südslawischer Kontrolle kam.22 Im April 1919 brachen südslawischer Truppen den Waffenstillstand, wurden jedoch von Kärntner Milizen zurückgedrängt. Im Juni 1919 sicherten italienische Truppen den Frieden,23 nachdem die Pariser Friedenskonferenz im Mai 1919 beschlossen hatte, dass ein Referendum den zukünftigen Status des Klagenfurter Beckens entscheiden sollte. Im Friedensvertrag von Saint-Germain mit Österreich vom 10. September 1919 wurde in Artikel 49 – 50 das Referendum festgelegt, während das bisher österreichische dreisprachige Kanaltal an Italien und das Mießtal ohne Referendum an den SHS-Staat abgetreten wurden.24 Die Klagenfurter Region wurde in zwei Abstimmungszonen unterteilt: Die Zone A umfasste den südlichen Teil, der durch den SHS-Staat beansprucht wurde. Laut der Volkszählung von 1910 sprachen dort 73.000 gleich 69 % der Bevölkerung Slowenisch. Die Zone B umfasste Klagenfurt und Umgebung, wo laut der Volkszählung von 1910 nur 8 % Slowenisch sprachen. Zunächst sollte in der Zone A abgestimmt werden. Falls die Zone A für den SHS-Staat votieren sollte, würde anschließend ein Referendum in der Zone B durchgeführt werden. Ansonsten würde die Zone B ohne Referendum bei Österreich verbleiben.25 Wie in Schleswig wurden auch in Kärnten die Referenden von internationalen Truppenkontingenten überwacht, wobei Zone A jedoch unter südslawischer, Zone B unter österreichischer Kontrolle war und somit kein eigenständiger „Staat Plebiszit“ errichtet wurde. Zone A konnte beinahe ein Jahr lang keinen Kontakt mit Österreich pflegen, pro-österreichische Agitation wurde verboten, viele deutschgesinnte Staatsbedienstete wurden entfernt, was jedoch zu Protesten unter örtlichen Slowenen führten, die um das Ansehen des SHS-Staats bedacht waren.26 Als die Abstimmung in der Zone A am 10. Oktober 1920 stattfand, war die Wahlbeteiligung überwältigend. 95,76 % von 39.291 Stimmberechtigten nahmen teil, davon waren 37.304 Stimmen gültig. Das Ergebnis war eine Überraschung im Vergleich mit der Volkszählung von 1910: Während 1910 nach 31,4 % als deutsch- und 68,6 % als slowenischsprachig gezählt wurden, stimmten im Referendum 1920 59,04 % für Österreich und 40,96 % für das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. In Zahlen stimmten 22.025 für Österreich und 15.278 für den SHS-Staat.27 21 C. Fräss-Ehrfeld, Geschichte Kärntens 1918–1920, Verlag Johannes Heyn, Klagenfurt am Wörthersee 2010). 22 N. Jebsen (Anm. 2), S. 49; E. T. A. Kühl (Anm. 20), S. 9. 23 E. T. A. Kühl (Anm. 20), S. 9. 24 E. T. A. Kühl (Anm. 20), S. 9. 25 E. Aasted Schanz/N. A. Sørensen (Anm. 18), S. 108 – 109. 26 N. Jebsen (Anm. 2), S. 50 – 51; E. T. A. Kühl (Anm. 20), S. 9. 27 S. Wambaugh, Plebiscites Since the World War, Carnegie Endowment for International Peace, New York 1933, S. 198.
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Somit zogen beinahe die Hälfte der slowenischsprachigen Einwohner vor, bei Österreich zu verbleiben. Das zweite Votum in der Zone B war obsolet. Der Grenzverlauf wurde auf der Basis des Abstimmungsergebnisses in der Zone A festgelegt. Am 22. November 1920 wurde Kärnten wieder offiziell Teil Österreichs.28 Die Abstimmungen führten zur Entstehung der slowenischen Minderheit in Kärnten. Auch in anderen Teilen des neuen Staats Österreich gab es slowenische Minderheiten, aber die höchste Konzentration fand sich in Kärnten unweit der Grenze. Nach 1918 entstand ferner eine deutsche Minderheit in Slowenien im SHS-Staat, allerdings nicht in der Nähe der neuen Grenze. Laut Volkszählungsergebnis von 1910 leben ca. 106.000 Deutschsprachige im heutigen Slowenen: Die meisten in Marburg/Maribor (22.653) und Umgebung (18.221) sowie in der Gottschee/Kocevje (13.608) weit entfernt von der Grenze.29 In der südlichen Steiermark fand kein Referendum statt, das Gebiet kam zum SHS-Staat. Somit produzierte die neue Staatsgrenze keine symmetrische Minderheitenkonstellation, wie es in Schleswig und in West-Ungarn/Burgenland der Fall war und wo zudem beiderseits der Grenze kroatische Minderheiten lebten. Vielmehr entstand eine asymmetrische Konstellation von Mehr- und Minderheiten mit einer slowenischen Minderheit in Kärnten. 3. Burgenland/West-Ungarn: Die Grenze zwischen Österreich und Ungarn Burgenland bzw. West-Ungarn war der einzige Teil Vorkriegs-Ungarns, in dem die Bevölkerung die Möglichkeit erhielt, ihren nationalen Zugehörigkeitsinteressen in einem Referendum Ausdruck zu verleihen. Zunächst war dies jedoch nicht vorgesehen. Vielmehr erfolgten Aufruhr und bewaffnete Kämpfe ungarischer Gruppen, bevor letztendlich als Befriedungsoption ein Referendum in der Stadt Ödenburg/ Sopron sowie den umliegenden Dörfern am 14. und 16. Dezember 1921 stattfinden konnte. Drei Jahre lang war West-Ungarn ein Brennpunkt zu einer Zeit, als sowohl Österreich als auch Ungarn den Übergangsprozess vom Imperium zur Republik durchliefen. So war die Geburt des Burgenlandes ein langwieriger und sehr schwieriger Prozess.30 In der Volkszählung 1910 zählte die Region insgesamt 815.000 Einwohner. Mehr als die Hälfte waren Ungarischsprecher, 35,6 % sprachen Deutsch, 13,5 % Kroatisch oder andere slawische Sprachen.31 Die kroatische Minderheit lebte verstreut in der ganzen Region, u. a. mit Dörfern unweit der Stadt Bratislava im neuen Staat Tschechoslowakei. Als das Habsburgerreich zerfiel, kam West-Ungarn in den Fokus österreichischer und ungarischer Interessen. Österreich gründete ein West-Ungarisches 28
E. T. A. Kühl (Anm. 20), S. 11. S. Karner, Die deutschsprachige Volksgruppe in Slowenien, Verlag Hermagoras/Mohorjeva, Klagenfurt/Ljubljana/Wien 1998, S. 21. 30 T. Székely, The Agony of Historic Western Hungary and the Birth of Burgenland (1914–1921), in: Studies on National Movements 6 (2020), S. 1–38, S. 2. 31 T. Székely (Anm. 30), S. 3. 29
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Bureau in Wien, das die Annexion West-Ungarns vorbereitete, österreichische Agenten verbreiteten anti-ungarische Propaganda unter der deutschsprachigen Bevölkerung.32 Während der kurzen kommunistischen Regierungszeit in Ungarn erhielten die Deutschen in West-Ungarn im April 1919 territoriale Autonomie,33 um den österreichischen Aktivitäten entgegenzuwirken. Im Friedensvertrag mit Österreich von Saint-Germain vom 10. September 1919 wurde der größte Teil West-Ungarns mit 350.000 Einwohnern, davon 250.000 Deutschsprachigen, Österreich zugeschlagen – einschließlich der Stadt Ödenburg/Sopron. Dies war ein kleiner territorialer Gewinn Anbetracht des Umstands, dass Österreich 60 % seines Vorkriegsterritoriums verlor. Im Trianon-Friedensvertrag vom 4. Juni 1920 musste Ungarn gar auf 71 % seines Vorkriegsterritoriums verzichten.34 Ungarn weigerte sich jedoch, West-Ungarn aufzugeben, woraufhin die Alliierten Mächte eine Interalliierte Mission nach Ödenburg/ Sopron schickten. Am 28. August 1921 erreichten österreichische Beamte die Stadt. Hier stießen die Österreicher jedoch auf Widerstand, der Westungarische Aufstand mit Guerillakriegsmethoden entfaltete sich bis zum 14. Oktober 1921 in der ganzen Region.35 Die Aufständischen riefen einen eigenen Ministaat Leitha-Banat aus, der de facto in der Zeit 4. Oktober bis 5. November 1921 existierte. Der Konflikt konnte schließlich mit dem vom Österreich und Ungarn unterzeichneten und von Italien vermittelten Venedig-Protokoll vom 13. Oktober 1921 gelöst werden.36 Der größte Teil West-Ungarns wurde am 5. Dezember 1921 Teil von Österreich und wurde am 1. Januar 1922 zum Burgenland.37 Im Venedig-Protokoll wurde ein Referendum im Ödenburger Gebiet vereinbart, während der restliche Teil ohne Abstimmung an Österreich fiel. Österreich akzeptierte ein Referendum auch angesichts des Umstandes, dass im Abstimmungsgebiet im der Volkszählung 1910 die Deutschsprachigen mit 55,75 % die Mehrheit gegenüber 36 % Ungarischsprachigen und 6,35 % Kroatischsprachigen ausmachten.38 Österreich verwaltete den größten Teil des Gebiets, während Ungarn Ödenburg/Sopron und Umgebung kontrollierte. Ein 1920 vorgenommener Zensus ergab, dass im Abstimmungsgebiet 50.000 Personen lebten, davon 55 % Deutsche, 39 % Ungarn, 5 % Kroaten sowie 1 % andere ethnische Gruppen. In der Stadt Ödenburg/Sopron war die eine Hälfte Deutsche, die andere Ungarn.39 Stimmberechtigt waren 26.879; 89,5 % nahmen an der Wahl teil.40 Das Ergebnis zeigte eine überwältigende Mehrheit für den Verbleib bei Ungarn: 65,2 % der abgegebenen Stimmen, während nur 34,8 % 32
T. Székely (Anm. 30), S. 20. T. Székely (Anm. 30), S. 22. 34 T. Székely (Anm. 30), S. 23 – 24. 35 T. Székely (Anm. 30), S. 26. 36 T. Székely (Anm. 30), S. 27. 37 G. Schlag, „Aus Trümmern geboren: Burgenland 1918–1921“, Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland (WAB), Band 106, Burgenländisches Landesmuseum, Eisenstadt 2001. 38 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 273. 39 T. Székely (Anm. 30), S. 29. 40 T. Székely (Anm. 30). 33
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zu Österreich wollten. In Ödenburg/Sopron votierten 72,8 % für Ungarn.41 So zogen viele Deutschsprachigen die Zugehörigkeit zu Ungarn vor. In fünf von acht Dörfern stimmte die Mehrheit mit insgesamt 3.607 Stimmen für Österreich und 3.007 für Ungarn.42 Insgesamt wurden 15.334 Stimmen für Ungarn und 8.227 für Österreich abgegeben. Da der Abstimmungsmodus wie in der Zone I in Schleswig mit dem Mehrheitsprinzip „the winner takes is all“ operierte, fiel das Abstimmungsgebiet an Ungarn. Am 23. Dezember 1921 zertifizierten die Alliierten Mächte das Ergebnis und befahlen die Übertragung des Gebiets an Ungarn.43 Dies erfolgte, obgleich Österreich behauptete, dass es während der Abstimmung ungarische Einschüchterung und Terror gegen Österreichischgesinnte gegeben hatte. Am 1. Januar 1922 wurde Ödenburg/Sopron wieder Teil Ungarns.44 Allerdings wurde lange Zeit das Ergebnis von österreichischer Seite angezweifelt und bestritten. Einerseits vergaß Ungarn nicht die einst ungarischen Gebiete, die nunmehr das Land Burgenland in Österreich bildeten; andererseits gab es in Österreich Phantomschmerzen mit Bezug auf Ödenburg/Sopron. Noch 2011 wurde in einem Begleitkatalog zu einer Ausstellung über 90 Jahre Burgenland, mit einem Geleitwort des Landeshauptmanns, behauptet, dass das Referendum „nur eine politische Inszenierung“ war.45 Mit der Einverleibung und Transformation des größten Teiles des West-Ungarn zum österreichischen Burgenland, entstand eine ungarische Minderheit sowie Minderheiten von Kroaten und Roma. Zunächst waren die Rahmenbedingungen für das ungarische Leben unverändert. Die ungarische Minderheit war unterteilt nach Konfessionen mit jeweils eigenem Unterrichtssystem: Katholiken, Evangelische des Augsburger Bekenntnisses sowie Reformierte Gemeinden. Dennoch schrumpfte die Anzahl der Ungarn substanziell von ca. 25.000 im Jahr 1920 bis knapp 10.000 im Jahr 1934.46 In der Volkszählung 1951 wurden 5.200 Ungarn gleich 1,9 % der regionalen Bevölkerung gezählt. Die Zahl scheint seitdem ziemlich konstant verblieben zu sein.47 Nachdem Österreich 1938 an das nationalsozialistische Deutschland angeschlossen wurde, wurden die konfessionelle Schulen geschlossen und durch Volksschulen ersetzt. Dies hatte einen negativen Effekt auf die ungarische Minderheit. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die ungarische Minderheit nicht im österreichischen Staatsvertrag von 1955 im Artikel 7 über Minderheiten-/Volksgruppenrechte erwähnt. Der Eiserne Vorhang verhinderte Kontakte mit Ungarn und erschwerte die Sprach- und Kulturpflege.48 Erst 1968 organisierte die Minderheit 41
S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 291. S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 291. 43 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 292. 44 E. Aasted Schanz/N. A. Sørensen (Anm. 18), S. 109. 45 Burgenland 90 Jahre – 90 Geschichten, Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland (WAB), Band 137, Burgenländisches Landesmuseum, Eisenstadt 2011, S. 20. 46 R. Henke, Leben lassen ist nicht genug. Minderheiten in Österreich, Kremayr and Scheriau, Wien 1988, S. 124–126. 47 https://bukv.at/burgenlaendische-ungarn/ (Zugriff am 26. 12. 2022). 48 R. Henke (Anm. 46), S. 127. 42
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sich im Burgenländisch-Ungarischen Kulturverein,49 Er forderte, dass die Ungarn auch im Artikel 7 berücksichtigt werden sollten. Ferner wollte der Kulturverein die Interessen der autochthonen ungarischen Minderheit vertreten angesichts der vielen 10.000 Ungarn, die nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes 1956 nach Österreich geflohen waren.50 Im Jahr 1976 wurden die Ungarn im neuen Volksgruppengesetz aufgenommen, anschließend wurde ein sogenannter Volksgruppenbeirat beim Bundeskanzleramt in Wien gebildet.51 4. Andere Referenden und Konsultationen an deutschen Grenzen Neben diesen drei Abstimmungsgebieten, deren Grenzziehungen noch heute Gültigkeit besitzen, gab es weitere Referenden, in denen die Grenzen zwischen Deutschland und den Nachbarstaaten im Osten und Westen festgelegt wurden. In drei Fällen wurden Referenden durchgeführt, in einem Fall erfolgte die Willensbekundung in Form einer öffentlichen Konsultation, die nicht als Referendum zu bezeichnen ist. Die polnisch-deutsche Grenze in West- und Ostpreußen wurde am 11. Juli 1920 auf der Grundlage von Referenden in den Gebieten Allenstein/Olsztyn (Ostpreußen) mit einer Bevölkerung von 558.000 sowie in Marienwerder/Kwidzyn (Westpreußen) mit einer Bevölkerung von 161.000 bestimmt.52 In der preußischen Volkszählung von 1910 lebten im Gebiet Marienwerder 136.000 Personen gleich 84,5 % Deutsche und 22.500 gleich 14 % Polen, während die Restbevölkerung sich als Kaschuben, Masuren oder Litauer identifizierten. Im Gebiet Allenstein identifizierten 1910 sich 292.000 oder 52,3 % als deutsch, 72.000 oder 2,9 % als polnisch sowie 172.000 oder 30,8 % als kaschubisch, masurisch oder litauisch.53 Die beiden Plebiszite erfolgten auf der Grundlage der Artikel 94 – 96 im Versailler Vertrag. Wie in Schleswig wurden auch die west- und ostpreußischen Abstimmungsgebiete unter der Kontrolle einer Internationalen Kommission gestellt. Wie in der Zone II in Schleswig wurde das Schicksal der Gemeinden in Allenstein und Marienwerder einzeln entschieden, wobei die Wahlberechtigten zwischen Polen und Deutschland wählen konnten. Die Mehrheit sollte die zukünftige Zugehörigkeit in jeder Gemeinde entscheiden.54 Auf den Stimmzetteln wurden jedoch, vermutlich als Geste an Polen, nur die Optionen Ostpreußen oder Polen genannt.55
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https://bukv.at/ueber-den-bukv/ (Zugriff am 26. 12. 2022). R. Henke (Anm. 46), S. 128. 51 R. Henke (Anm. 46), S. 129. 52 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 99. 53 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 101. 54 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 107. 55 C. Fräss-Ehrfeld (Hrsg.), Volksabstimmungen und andere Grenzlösungen nach dem Ersten Weltkrieg, Verlag des Geschichtsvereines für Kärnten, Klagenfurt am Wörthersee 2020, S. 37. 50
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Als die Wahllokale am 11. Juli 1920 geschlossen wurden, zeigte sich, dass die meisten Stimmen für Deutschland abgegeben worden waren. In Marienwerder votierten 368 von 396 Gemeinden für Preußen, 28 für Polen. 105.071 oder 84 % der 125.090 Wahlberechtigten beteiligten sich am Referendum. 96.923 gleich 92,3 % stimmten für Preußen, während 8.018 gleich 7,6 % ihre Stimme für Polen abgaben. Da 15 % der Bevölkerung Polnisch sprach, hatten nur die Hälfte davon sich für Polen entschieden.56 In Allenstein votierten 1.694 der 1.704 Gemeinden für Ostpreußen, neun für Polen, in einer waren die Stimmen gleichmäßig verteilt. 363.209 stimmten für Deutschland, 7.980 für Polen.57 Somit wollten 97,86 % der Stimmen bei Deutschland verbleiben, nur 2,14 % wollten zu Polen. Die Wahlbeteiligung lag deutlich unter der in Marienwerder: nur 112.152 gleich 71,4 % der möglichen 157.074 Stimmen wurden abgegeben. Im Ergebnis hatten die Masuren in ihrer Mehrzahl für den Verbleib bei Preußen und somit Deutschland gestimmt. Polen protestierte über die Ergebnisse, aber die Inter-Alliierte Kommissionen erklärten, dass die Referenden fair verlaufen waren.58 Letztendlich fielen nur drei Gemeinden mit 4.786 Einwohnern im Gebiet Allenstein zu Polen, der Rest verbleib bei Deutschland. In Marienwerder gingen am 16. August 1920 fünf Ortschaften an Polen.59 Durch die Teilung der Abstimmungsgebiete entstanden beiderseits der neuen Grenze nationale Minderheiten. Letztendlich betrafen die Grenzänderungen nur wenige Ortschaften, ansonsten wurde die ehemalige deutsch-russische Grenze zur neuen deutsch-polnischen. Die Grenze verschwand Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Deutschen und Deutschland nach Westen verschoben wurden. Die Festlegung der deutsch-polnischen Grenze in Oberschlesien wurde von Konflikten und bewaffneten Aufständen sowie schwierigen Verhandlungen begleitet nach der Kapitulation des Deutschen Reichs am 11. November 1918.60 Laut dem preußischen Zensus von 1910 waren die Sprachgemeinschaften in der Region ungleichmäßig verteilt. In Oberschlesien lebten 1.245.000 Polen, die 65 % der Gesamtbevölkerung ausmachten. 672.000 oder 35 % identifizierten sich als Deutsche. Im kleinen Mittelschlesien, dass Teil des Abstimmungsgebiets wurde, lag der polnische Bevölkerungsanteil bei 75 % bei einer Bevölkerung von 4.000; die übrigen 25 % waren Deutsche.61 Oberschlesien war von großer wirtschaftlicher Bedeutung mit Bergbau und Industrie. Deshalb wollten sowohl Deutschland als auch Polen die Region kontrollieren. Die polnische Gemeinschaft war gut organisiert, deren politische Partei konnte Anfang des 20. Jahrhunderts ca. 30 % der Stimmen bei Wahlen errei56
S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 132 – 133. S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 134. 58 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 136. 59 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 138. 60 D. Smolorz/M.Kordecki, Schauplatz Oberschlesien. Eine europäische Geschichtsregion neu entdecken, Ferdinand Schöningh 2019, S. 35–52. 61 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 211. 57
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chen.62 Das schlesische Regionalbewusstsein wuchs nach dem Ersten Weltkrieg, woraufhin beide Länder umfassende Autonomie nach dem Referendum versprachen, um Stimmen für sich zu gewinnen.63 Nach schweren Spannungen begleitet von Gewalt und intensive nationaler Agitation auf beiden Seiten, wurde das Referendum am 20. März 1921 durchgeführt. Das Ergebnis anhand der Abstimmungen in den Gemeinden wurde am 7. Mai 1921 veröffentlicht. Wambaugh hat berechnet, dass 844 oder 54 % von 1.522 Gemeinden für Deutschland votierten. 678 oder 42.5 % stimmten mehrheitlich für Polen, weitere 73 waren uneindeutig. Insgesamt gaben 1.190.846 gleich 97.6 % der 1.220.514 Stimmberechtigten ihre Stimme ab. Davon stimmten 59,6 % für Deutschland und 40,3 % für Polen.64 Wie in der Zone II in Schleswig sah der Versailler Vertrag im Artikel 88, §§ 4 – 5 vor, dass in Oberschlesien in jeder Gemeinde abgestimmt werden sollte, sodass jeweils für jede Gemeinde eine Entscheidung über die zukünftige staatliche Zugehörigkeit vorzunehmen war. Die Alliierten sollten anschließend die endgültige Grenzziehung anhand der Abstimmungsergebnisse, Geografie und wirtschaftliche Faktoren festlegen. Tatsächlich erwies sich die Grenzfindung als schwieriges Unterfangen. Ein weiterer polnische Aufstand, der dritte seit 1918, erfolgte im Mai 1921. Schließlich schlug der Völkerbund eine Teilung der Region vor: 75 % des Territoriums, in dem 57 % der Bevölkerung lebte, sollte an Deutschland fallen, während Polen den größten Teil der industrialisierten Region erhalten sollte.65 Das Polen zugeschlagene Gebiet umfasste 76 % der Kohleschächte, 90 % der Kohlevorkommen, 97 % des Eisenerzes sowie 82 % der Zinkvorkommen.66 Im September 1922 entschied der deutsche Teil Oberschlesiens in einem Sonderreferendum sich dagegen, ein eigenständiger Teil des Deutschen Reichs zu werden. Die Mehrheit wollte Teil Preußens verbleiben.67 In der Folge der Abstimmungen und der Grenzziehung zogen ca. 150.000 Oberschlesier nach Deutschland, während 60 – 70.000 Polen nach Polen umzogen.68 Die neue Grenze produzierte neue Minderheiten mit eigenen Organisationen. In der Zwischenkriegszeit erregte die Lage der nationalen Minderheiten wiederholt internationale Aufmerksamkeit. 1922 schlossen Polen und Deutschland eine Minderheitenkonvention auf der Basis der nach der Grenzziehung entstandenen symmetrischen Konstellation. Nach 1945 wurde ganz Schlesien Teil Polens, als die Deutschen und deutschen Grenzen zu den Flüssen Oder und Neiße verschoben wurden. Dennoch verblieben mehrere 100.000 Deutsche in Schlesien.69 62
E. Aasted Schanz/N. A. Sørensen (Anm. 18), S. 107. E. Aasted Schanz/N. A. Sørensen (Anm. 18), 108. 64 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 249–250. 65 E. Aasted Schanz/N. A. Sørensen (Anm. 18), S. 108. 66 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 259. 67 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), 261. 68 B. Karch (Anm. 4), S. 28. 69 J. Kühl, Tyskere i Øst, Aarhus Universitetsforlag, Aarhus 1997. 63
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Das Saargebiet an Deutschlands Grenze zu Frankreich wurde nach dem Ersten Weltkrieg zunächst unter die Verwaltung des Völkerbundes gestellt mit der Aussicht auf ein Referendum 15 Jahre später. Am 13. Januar 1935 fand das Referendum im Kontext heftiger nationalsozialistischer Propaganda unter internationaler Aufsicht statt. 90,3 % der Saarländer stimmten für die Rückkehr nach Deutschland, das zwei Jahre zuvor eine nationalsozialistische Diktatur geworden war. Die Wahlbeteiligung lag bei 528.000 von 540.000 möglichen Stimmen. 477.000 (90,3 %) votierten für Deutschland, 46.600 (8,7 %) zogen den Status Quo vor, während 2.100 (0,4 %) für die Angliederung an Frankreich stimmten.70 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Saargebiet von einem französischen Hochkommissar regiert und hatte eine enge wirtschaftliche Anbindung an Frankreich mit gemeinsamen Zöllen und Währung. 1954 verhandelten die Regierungen Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland ein Saarstatut, das das Saargebiet unter der Hoheit der Westeuropäischen Union stellen sollte, bis ein Friedensvertrag geschlossen werden würde. Am 23. Oktober 1955 konnten die Bevölkerung des Saargebiets über den Vorschlag abstimmen. Bei einer Wahlbeteiligung von 96,6 % votierten 67,7 % gegen das Saarstatut. Die Abstimmung wurde zugleich aus Referendum über die zukünftige staatliche Zugehörigkeit aufgefasst. In der Folge wurde das Saargebiet Teil der Bundesrepublik Deutschland, wo es seit 1. Januar 1957 das Bundesland Saarland bildet.71 Anders als bei den anderen Referenden entstanden durch die Grenzveränderung an der Saar keine nationalen Minderheiten. Das Saarland ist das einzige Gebiet, dass zweimal und jeweils nach den Weltkriegen Teil Deutschlands wurde. Schließlich fand 1920 in den Bezirken Eupen und Malmedy westlich von Aachen eine andere Art von Referendum über die neue deutsch-belgische Grenze statt.72 Laut Versailler Vertrag Artikel 34 galt in diesem Gebiet: „Während sechs Monaten nach Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrags werden von der belgischen Behörde in Eupen und Malmedy Listen ausgelegt; die Einwohner dieser Gebiete sind berechtigt, darin schriftlich den Wunsch auszudrücken, dass diese Gebiete ganz oder teilweise unter deutscher Souveränität verbleiben.“ Dies war eine öffentliche Willensbekundung, die im ersten Halbjahr 1920 stattfand. Beide Bezirke kamen im Zuge des Wiener Friedensvertrags von 1815 zu Preußen. Belgien hatte das Gebiet nach Kriegsende 1919 besetzt und inkorporiert. Dort lebten 64.000 Menschen. Laut Angaben in der preußischen Volkszählung von 1910 sprach die Bevölkerung überwiegend Deutsch. Im Bezirk Eupen mit 27.000 Einwohnern hatten lediglich einige Hundert Einwohner Französisch oder Wallonisch als Muttersprache angegeben. In Malmedy mit 37.000 Einwohnern hatten 10.000 sich entweder 70
S. Wambaugh, The Saar Plebiscite. With a Collection of Official Documents, Greenwood Press, Publishers, Westport, Connecticut 1940, S. 304. 71 W. Busemann (Hrsg.), Saarabstimmungen: 1935 und 1955, Universaar, Universitätsverlag des Saarlandes, Saarbrücken 2016. 72 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 518–538.
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als Französisch- (169) oder Wallonischsprecher (9.579) registriert.73 So wäre ein Votum zugunsten Deutschlands zu erwarten gewesen. Am 23. Januar 1920 wurden zwei öffentliche Register geöffnet, jeweils eines in Eupen und Malmedy.74 Die Bevölkerung konnte in den folgenden sechs Monaten in einem öffentlich einsehbaren Register ihr Interesse an einer Rückkehr des Gebiets zu Deutschland bekunden. Dabei mussten sie ihren Namen, Wohnort, Geburtsort und Geburtsdatum eintragen. Die Wahlberechtigten hatten zwei Optionen: 1. Den Wunsch äußern, dass ganz Eupen und Malmedy unter deutscher Souveränität gehören sollten; 2. Den Wunsch, dass nur Teile von Eupen und Malmedy zu Deutschland gehören sollten.75 Aufgrund der Umstände der öffentlichen Registrierung und der Gefahr, dass ein Bekenntnis zu Deutschland Folgen haben konnten, registrierten sich nur wenige. Es war kein geheimes und faires Referendum, das Ergebnis wurde in den Modalitäten vorweggenommen. Trotz Deutschlands Einspruch gegen die Modalitäten wurden die Register, wie im Versailler Vertrag vorgesehen, sechs Monate lang ausgelegt. Anschließend teilten die belgischen Behörden am 19. August 1920 das Ergebnis dem Völkerbund mit: Bei einer Gesamtbevölkerung von 63.940 hatten 30.000 ihre Willensbekundung registriert. Lediglich 271 hatten bekundet, dass die Bezirke als Ganzes oder teilweise bei Deutschland verbleiben sollten, davon 209 in Eupen und 62 in Malmedy.76 Trotz Proteste seitens Deutschlands wurde das Gebiet Belgien zugesprochen, einschließlich einem bedeutenden deutschsprachigen Bevölkerungsteil. Das Gebiet wurde zunächst „Neu-Belgien“ benannt, nach 1945 als „Die Ost-Kantone“ oder „Ost-Belgien“.77 Die Frage der territorialen Zugehörigkeit wurde dennoch weiterhin gestellt. 1940 griff Deutschland Belgien an, besetzte es und annektierte ganz Eupen-Malmedy, welches von der deutschen Minderheit begrüßt wurde. Die jungen Männer mussten sich jedoch in die Wehrmacht mobilisieren lassen, von 8.700 Kriegsteilnehmer starben 3.200.78 Nach Kriegsende kehrte das Gebiet 1945 zurück zu Belgien, die deutsche Gemeinschaft musste sich sehr harten Strafmaßnahmen und Assimilation stellen.79 Die Minderheit verhielt sich passiv und identifizierte sich nicht mit der Bundesrepublik Deutschland, sondern als deutschsprachige Belgier. Erst spät organisieren sie sich 1971 in der Partei Deutschsprachiger Belgier. Der Flämisch-Wallonische Konflikt in Belgien wurde jedoch zum Vorteil für die deutschsprachigen Einwohner, nunmehr in den Bezirken Eupen und St. Vith. 1970 konnten die Deutschsprachigen 73
S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 520. S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 526. 75 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 527. 76 S. Wambaugh, Plebiscites since the World War (Anm. 27), S. 532. 77 J. Dewulf, O liebes Land, o Belgiens Erde: The Development of the German-Speaking Community in Belgium Reflected in the Light of the Flemish Struggle for Autonomy, 32 (1) German Studies Review (2009), S. 65–81, S. 70. 78 https://ostbelgienlive.be/desktopdefault.aspx/tabid-6021/1532_read-45663/ (Zugriff am 27. 12. 2022). 79 J. Dewulf (Anm. 77), S. 72. 74
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territorial Autonomie in ihrem Sprachgebiet erreichen, das offiziell als Deutschsprachige Gemeinschaft ihr eigenes Parlament und Regierung bilden konnten.80 Die Regierung umfasst einen Ministerpräsidenten und drei Minister. Die Selbstbezeichnung des Gebiets lautet seit 2017 Ostbelgien.81 Die Deutschsprachigen sind neben den Flämisch- und Wallonischsprachigen heute eine von drei Sprachgemeinschaften, die in Belgien über eine Autonomie verfügen. Zugleich ist das Gebiet Teil der Region Wallonien. Seit Jahren wird die Situation der ca. 73.000 Personen zählenden Deutschsprachigen Gemeinschaft als eine der am besten geschützten Minderheiten in Europa bezeichnet.82 Das Gebiet arbeitet eng in grenzüberschreitender Kooperation mit Bezirken auf der deutschen Seite der Grenze zusammen. Die Angehörigen bezeichnen sich jedoch nicht als Deutsche, sondern bewusst und selbstbewusst als deutschsprachige Belgier und identifizieren sich eindeutig mit Belgien.83 IV. Minderheitenregelungen in umstrittenen Grenzregionen Die Plebiszite in Schleswig, Allenstein und Marienwerder waren die einzigen, die ohne Gewalt, Aufstände und Blutvergießen durchgeführt werden konnten. Obgleich die nationale Agitation polarisierend und aggressiv war und der Bevölkerung jeweils nur die Wahl zwischen zwei Optionen ermöglichte trotz dem Vorhandensein hybrider, transnationaler und indifferenter Identifikationen, wurde politische Gewalt nie angewendet. In Oberschlesien, West-Ungarn und Kärnten kam es zu bewaffneten Auseinandersetzungen, die Gewalterfahrung hinterließ einen langen Schatten und machte es weitaus schwieriger, Minderheitenregelungen zu finden. Obgleich die neuen nationalen Minderheiten überall enttäuscht, unzufrieden und desillusioniert waren, musste sie sich mit den neuen Grenzen abfinden und sich in den neuen Realitäten zurechtfinden. Sie wurden nationale Minderheiten in einer Nachkriegswelt, in der die Bildung zahlreicher neuer heterogener Staaten den Völkerbund dazu veranlasste, die Situation der Minderheiten durch Schutzverträge und neuen Mechanismen zu beobachten.84
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J. Dewulf (Anm. 77), S. 74. https://ostbelgienlive.be/desktopdefault.aspx/tabid-72/186_read-448/ (Zugriff am 27. 12. 2022). 82 https://www.deutschlandfunk.de/deutschsprachige-in-belgien-die-bestgeschuetzte-minder heit-100.html (Zugriff am 27. 12. 2022). 83 J. Dewulf (Anm. 77), S. 75. 84 Dazu M. Scheuermann, Minderheitenschutz contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren, Verlag Herder-Institut, Marburg 2000. 81
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1. Schleswig In Schleswig wollten beide Minderheiten zum Nachbarstaat gehören, obgleich liberale Minderheitenschutzregelungen eingerichtet wurden.85 Die Dänen in Deutschland hofften auf eine neue Abstimmungsoption zu einem späteren Zeitpunkt. Diese Hoffnung war die treibende Kraft hinter der Gründung von Organisationen und somit zur Verfestigung der dänischen Minderheit als organisierte Einheit. Dennoch war die Hoffnung ohne Aussicht auf Erfolg. In der liberalen Weimarer Verfassung wurden im Artikel 113 Minderheitenrechte zugesichert: „Die fremdsprachigen Volksteile des Reichs dürfen durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht, sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden.“ Dies ermöglichte es den Dänen, eine de facto funktionale Autonomie mit öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen zu erreichen. Außerhalb der Stadt Flensburg wurde die dänische Minderheit sogar geformt, dänische nationale Praxen wurden mit aktiver ideeller und materieller Hilfe aus Dänemark gefördert.86 Zunächst definierten die preußischen Behörden eine Reihe objektiver Kriterien, insbesondere die Beherrschung der dänischen Sprache, wenn Eltern die Aufnahme ihrer Kinder in dänischsprachige Schulen beantragten. Erst 1928, nachdem Deutschland das subjektive Bekenntnis als fundamentales Kriterium für den Besuch deutschsprachiger Schulen im polnischen Oberschlesien behauptete, änderten die preußischen Behörden ihre Maßnahmen gegenüber der dänischen Minderheit.87 Während des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland 1933 – 45 verhielt die dänische Minderheit sich weitestgehend passiv. Sie wurde nicht systematisch verfolgt, litt dennoch unter Schikanen und Diskriminierung. Die Kapitulation des sogenannten Dritten Reichs im Mai 1945 wurde begeistert begrüßt, die verbliebenen 5 – 6.000 Angehörige der Minderheit erwarteten eine Grenzverschiebung nach Süden. Allerdings stellte die dänische Befreiungsregierung bereits am 9. Mai 1945 fest, dass die Grenze zu Deutschland festliegt, dennoch sicherte Dänemark substanzielle Förderungen und Hilfe für die dänische Minderheit zu. Auch aus der dänischen Zivilgesellschaft gab es umfassende Hilfeleistungen, um ein engmaschiges Netzwerk an Institutionen und Schulen zu errichten. Die dänische Minderheit wurde für die einheimische Bevölkerung sehr attraktiv, die nationale Minderheit wurde zu einer Massenbewegung. Die Schülerzahlen wuchsen um das 32-fache von 436 in neun Schulen 1945 auf 14.121 Schülern in 58 Schulen 1948, davon die Hälfte der Schüler an öffentlichen Schulen für die dänische Minderheit in Flensburg und Schleswig. Bei politischen Wahlen 85 J. Kühl, The National Minorities in the Danish-German Border Region, Institut for Grænseregionsforskning-Danish Institute of Border Region Studies, Aabenraa 2003, S. 32– 34. 86 M. Bo Thomsen (Anm. 19). 87 S. Harck, Von Bonn nach Straßburg. Die Minderheitenrechte der Dänen, Deutschen und Friesen, in: J. Kühl/R. Bohn (Hrsg.), Ein europäisches Modell? Nationale Minderheiten im deutschdänischen Grenzland 1945–2005, Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2005, S. 324–340, S. 327.
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konnten dänische Kandidaten bei den Kommunalwahlen 1946 insgesamt 82.100 Stimmen erreichen, bei der Landtagswahl 1947 sogar 99.500.88 Die dänische Minderheit forderte und pochte auf die Umsetzung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung, falls möglich anhand eines Referendums, Diesem Wunsch wurde nie entsprochen. Im September 1949 sorgte die Kieler Erklärung zu den Rechten der dänischen Minderheit zunächst für eine Beruhigung der Lage. Erst die Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 markierten das Ende der Grenzverschiebungshoffnungen. Die erneut enttäuschte Minderheit musste sich letztendlich mit den Realitäten abfinden und als Minderheit außerhalb Dänemarks leben.89 Seit der Grenzziehung 1920 forderte die deutsche Minderheit in Dänemark eine Revision der Grenze. Anfangs war das Ziel, die Gemeinden mit deutscher Stimmenmehrheit 1920 an Deutschland rückzuführen. Ab 1933 radikalisierte sich die Minderheit zeitgleich mit einer Selbst-Nazifizierung und Selbstgleichschaltung und forderte, dass ganz Nordschleswig Teil Deutschlands werden sollte. 1933 versuchten schleswig-holsteinische Nationalsozialisten im sogenannten „Ostersturm“ vergeblich, die Grenze nach Norden zu verschieben. Ab 1935 wurde die Minderheit vom Nationalsozialismus dominiert, die kleine Anzahl Angehöriger anderer Meinung verhielten sich passiv. Als deutsche Truppen am 9. April 1940 die Grenze überschritten und ganz Dänemark besetzten, wurde die Wehrmacht von Angehörigen der deutschen Minderheit begeistert begrüßt und zeigten ihnen den Weg.90 Trotz der Hoffnungen der deutschen Minderheit wurde die Grenze jedoch nicht verändert – als einzige der neuen Grenzen, die nach 1919 infolge des Versailler Friedens festgelegt wurden. Deutschland garantierte am 9. April 1940 paradoxerweise sogar die territoriale Integrität Dänemarks.91 Dennoch gab es umfassende Kollaboration seitens der deutschen Minderheit mit den deutschen Besatzern, wodurch die Minderheit sich zunehmend von den dänischen Nachbarn entfremdete. Erst nach Kriegsende erkläret die deutsche Minderheit ihre Loyalität gegenüber dem dänischen König und Staat und erkannte die Grenze von 1920 an. Dies erfolgte auf der Grundlage einer 1943 im Geheimen von einer Gruppe demokratisch gesinnter Angehöriger der deutschen Minderheit in Haderslev/Hadersleben sogenannter Haderslebener Erklärung, die erst nach der deutschen Niederlage veröffentlicht wurde. Seit 1920 entstand in Dänemark eine liberale Minderheitenregelung, die es der deutschen Minderheit erlaubte, innerhalb der Rahmenbedingungen einer funktionalen kulturellen Autonomie mit einem dualen System privater und kommunaler 88
L. N. Henningsen, Sydslesvigs danske (Anm. 17), S. 356 – 357. Dazu J. Kühl (Hrsg.), København-Bonn Erklæringerne 1955–2005. De dansk-tyske mindretalserklæringers baggrund, tilblivelse og virkning, Institut for Grænseregionsforskning-Syddansk Universitet, Aabenraa 2005. 90 J. Kühl, The National Minorities (Anm. 85), S. 35. https://www.nordschleswiger.dk/de/nord schleswig-sonderburg/ausstellung-zeigt-so-jubelte-deutsche-minderheit-besatzern-zu (Zugriff am 29.12.2022). 91 H. Schultz Hansen (Anm. 10), S. 81. 89
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deutschsprachiger Bildungseinrichtungen, Verbänden, politischen Parteien, staatskirchlichen und freikirchlichen religiösen Gemeinde ihre Sprache und Kultur zu pflegen. Zentral stand die Anerkennung des individuellen Rechts auf nationale Selbstbestimmung, das heißt das freie Bekenntnis zur deutschen Minderheit. Dies umfasste auch das Recht der Erziehungsberechtigten, eine Minderheitenschule für ihre Kinder zu wählen.92 Als nach dem Zweiten Weltkrieg statt etwaiger Vertreibungen oder systematischer Ausweisung Angehöriger der deutschen Minderheit vorzunehmen, wie es zeitgleich mit den umfassenden Vertreibungen in Mittel- und Osteuropa der Fall war, eine sogenannte Rechtsabrechnung vor dänischen Gerichten erfolgte, wurden zugleich die deutschen Schulen geschlossen und deutsches Eigentum beschlagnahmt. Erst 1946 konnten erste private deutsche Schulen wieder den Unterricht aufnehmen, allerdings mit der diskriminierenden Maßgabe, dass Abschlussprüfungen nicht anerkannt wurden. Insgesamt 3.500 erwachsene Angehörige der deutschen Minderheit wurden im Zuge der Rechtsabrechnung nach der deutschen Besatzung 1940 – 45 vorübergehend eingesperrt, davon wurden 3.000 letztendlich wegen Kollaboration auf der Grundlage rückwirkender Strafgesetze verurteilt.93 Die neuen demokratische Organisation Bund deutscher Nordschleswiger reorganisierte die deutsche Minderheit. 1953 konnte die Partei der Minderheit, Schleswigsche Partei, aufgrund einer Grundgesetzänderung im selben Jahr mit 9.700 Stimmen ein Mandat im dänischen Parlament Folketinget erreichen. Die Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. März 1955 brachten neben der Anerkennung der Abschlussprüfungen der deutschen Schule auch den Ausgangspunkt für eine positive Entwicklung und Reintegration in die dänische Gesellschaft in den folgenden Jahrzehnten.94 Langsam, behutsam und mit vielen kleinen und einigen größeren Schritten wurden im deutsch-dänischen Grenzland die beiden Minderheiten, die durch die Grenzziehung entstanden waren, in die jeweiligen Gesellschaften integriert. Die Transformation von Feinden zu Nachbarn, vom Grenzkonflikt zur symbiotischen Koexistenz war zwar nicht einfach und musste immer wieder Rückschläge erleiden; letztendlich war er dennoch erfolgreich. Dies wurde symbolisch immer wieder hervorgehoben. Seit Mitte der 1980er Jahren wurde dabei von einer positiven Entwicklung zwischen Mehrheiten und Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzland gesprochen: Vom Gegeneinander über das Nebeneinander zum Miteinander mit der Perspektive des Füreinander.95 Dänemark und Deutschland einschließlich Schleswig-Holstein bemühen sich, das gelungene deutsch-dänische Minderheitenmodell auch international zu promovieren. Am 31 März 2020 stellen die Regierungen Dänemarks und der Bundesrepublik 92
S. Harck (Anm. 87), S. 327. J. Kühl, The National Minorities (Anm. 85), S. 38. 94 J. Kühl, The National Minorities (Anm. 85), S. 45 – 46. 95 Z. B. https://www.shz.de/lokales/eckernfoerde/artikel/deutsche-und-daenen-vom-gegen einander-ueber-das-miteinander-zum-fuereinander-41439465 (Zugriff am 28. 12. 2022). Siehe ferner Becker-Christensen 2015. 93
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Deutschlands einen gemeinsamen Antrag an die UNESCO mit dem Vorschlag, das deutsch-dänische Minderheitenmodell als immaterielles Weltkulturerbe anzuerkennen. Die offizielle Unterzeichnung des Antrags musste um zwei Wochen verschoben werden, weil am ursprünglich geplanten symbolträchtigen Datum 14. März 2020, am 100. Jahrestag des Referendums in der Zone II, beschloss Dänemark im Zuge der Covid-19-Schutzmassnahmen die Grenze zu Deutschland zu schließen. Erst am 15. Juni 2020, genau 100 Jahre nach der offiziellen Grenzziehung, wurde die Grenze wiedereröffnet. In einer gemeinsamen Pressemitteilung hoben die Regierungsvertreter sowie die Vorsitzenden der kulturellen Hauptverbände der beiden Minderheiten das Minderheitenmodell, die friedliche Koexistenz zwischen Minderheiten und Mehrheiten und das positive Ergebnis der Grenzziehung von 1920 hervor.96 Die dritte Minderheit im Grenzraum, die Nordfriesen, verblieben hingegen unerwähnt, da sie nicht am deutsch-dänischen, sondern nur am schleswig-holsteinischen Minderheitenmodell teilhaben. Das deutsch-dänische Modell bezieht sich auf die symmetrische Konstellation zweier Staaten mit jeweils einer Minderheit im grenznahmen Nachbarland. Trotz großer Erwartungen und Vorfreude im Grenzland, wurde dem Antrag nicht entsprochen. Am 16. Dezember 2021 teilte die UNESCO mit, dass der Antrag den Kriterien nicht entsprechen würde.97 Am 15. Juni 2020 hielt die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen auf dem aufgrund der geltenden Corona-Restriktionen menschenleeren Schlachtfeld von 1864 auf den Düppeler Schanzen bei Sønderborg/Sonderburg, wo 1920 die dänische Wiedervereinigungsfeier durchgeführt wurde, eine Rede anlässlich des 100. Grenzjubiläums. Sie sicherte beiden Minderheiten zu, dass sie nicht vergessen werden würden und bestätigte somit das Versprechen der dänischen Regierung hundert Jahre zuvor an die dänische Minderheit in Deutschland. Sie sprach direkt die deutsche Minderheit in Dänemark an und sagte auf Deutsch: „Auch ihr gehört zu Dänemark“.98 Dies war ein symbolischer Abschluss der positiven Entwicklung und Inklusion der deutschen Minderheit seit der Grenzziehung.99 Die Wertschätzung des Zusammenlebens wird immer wieder auch von der dänischen Königin betont.100 In ihrer Silvesteransprache am 31. 12. 2022 hob sie angesichts des Krieges in der Ukraine das positive Beispiel des deutsch-dänischen Grenzlandes hervor: „In unruhigen Zeiten 96 https://www.schleswig-holstein.de/DE/Landesregierung/III/Presse/PI/2020/Maerz_2020/ III_UNESCO.html (Zugriff am 30. 12. 2022). 97 https://www.nordschleswiger.dk/de/nordschleswig-daenemark-kultur-deutschland-kulturinternational/grenzland-wird-nicht-weltkulturerbe (Zugriff am 30. 12. 2022). 98 Zitiert nach H. Hallmann (Hrsg.), Grenzland 2020, Bund Deutscher Nordschleswiger, Aabenraa 2021, S. 213. 99 J. Kühl, „Auch Ihr gehört zu Dänemark“. Die deutsche Minderheit in Dänemark 1995 – 2020, in: R. Bohn/J. Weber (Hrsg.), Wortmeldungen zur Zeit- und Regionalgeschichte. Festschrift für Uwe Danker, Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 2022, S. 131 – 140. 100 Dazu J. Kühl, „Ihr seid nicht vergessen worden.“ Königliche Neujahrsgrüße 2001 – 2017 und Vorstellungen von der dänischen Minderheit in Südschleswig, in: J. Kühl (Hrsg.), Klaar kiming. Festschrift für Thomas Steensen, Nordfriisk Instituut , Bredstedt/Bräist 2018, S. 100 – 116.
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stellt unser Grenzland ein leuchtendes Beispiel dafür dar, dass verschiedene Sprachen, Kulturen und Traditionen friedlich nebeneinander leben können. Darauf können sowohl die dänische als auch die deutsche Minderheit stolz sein.“101 Somit ist heute das offizielle deutsch-dänische Narrativ zu den Folgen der Referenden nach dem Ersten Weltkrieg durchweg positiv. Sowohl Mehrheiten als auch Minderheiten zelebrieren die Grenzerfahrungen als Erfolg und projizieren dabei die beinahe symbiotische Koexistenz der Gegenwart zurück in den fernen Spiegel in Versailles 1919. Allerdings ist dies eine retrospektiver Zugang, der mehr oder weniger die schwerwiegenden Konflikte, das schwierige Zusammenleben und die Unzufriedenheit mit der Grenze bis Mitte der 1950er Jahre ignoriert. Hundert Jahre später ist die Erzählung durchweg positiv und sieht ohne umfassende Reflexion in den Referenden von 1920 zugleich ein vermeintliches Modell für andere Grenzregionen mit Minderheiten – einschließlich der Ukraine. 2. Kärnten In Kärnten dauerte der Prozess der Inklusion und Aussöhnung länger als in Schleswig und erfolgte unter dem Eindruck der Erfahrungen von Kriegen und blutigen Auseinandersetzungen. Die slowenische Minderheit in Österreich musste sich vielen Herausforderungen stellen. Die Grenzfrage war weiterhin wichtig, das Zusammenleben viele Jahrzehnte lang von den zeitgeschichtlichen Erfahrungen belastet. Nach der Grenzziehung wurde seitens Österreichs eine Assimilationspolitik betrieben, die darauf abzielte, die slowenische Gemeinschaft zu spalten in einem eher nationalistischen slowenischen und einem eher pro-deutschen sogenannten „windischem“ Segment.102 Die Windischen waren angeblich diejenigen Slowenen, die 1920 für Österreich gestimmt hatten und später assimiliert wurden.103 Unter der nationalsozialistischen Herrschaft 1938 – 45 wurden die Slowenen verfolgt, exkludiert und assimiliert, während Kärnten ein Schwerpunkt der Nationalsozialisten wurde, der die Germanisierung vorantrieb.104 Im April 1942 wurden 171 slowenische Familien mit 917 Angehörigen in Lager ins Dritte Reich deportiert.105 Es wurde geplant, die Slowenen mit Deutschen aus den italienisch besetzten Teilen Sloweniens, dem Kanaltal und Südtirol auszutauschen.106 101
https://www.nordschleswiger.dk/de/daenemark-gesellschaft/koenigin-hebt-vorbildlicherolle-des-grenzlandes-hervor (Zugriff am 01. 01. 2023). 102 J. Pirker, Geschichte(n) im Konflikt. Der Konsens- und Dialogprozess in Kärnten: Vom nationalen Konflikt zur Friedensregion Alpen-Adria, Facultas, Wien 2018, S. 25. 103 S. Löwenstein, Rückbesinnung auf die slowenischen Wurzeln, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.10.2020. 104 R. Knight, Slavs in Post-Nazi Austria. Carinthian Slovenes and the Politics of Assimilation, 1945–1960, Bloomsbury Academics, London/New York/Oxford/New Delhi/Sydney 2018, S. 19– 22. 105 R. Knight (Anm. 104), 21; J. Pirker (Anm. 102), S. 26. 106 J. Pirker (Anm. 102), S. 21.
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Ende des Zweiten Weltkriegs erhob Jugoslawien Anspruch auf Teilen Kärntens, was jedoch von den Alliierten abgelehnt wurde.107 Im österreichischen Staatsvertrag 1955 wurden Minderheitenrechte gewährleistet, jedoch nicht immer umgesetzt. Die slowenische Minderheit forderte kontinuierlich die Umsetzung der Rechte ein.108 Slowenischunterricht wurde mit einem Minderheitenschulgesetz im März 1959 ermöglicht. Somit konnten Eltern zweisprachige Bildungsgänge für ihre Kinder wählen.109 1959 – 60 erhielten 1.994 Schülerinnen und Schüler Unterricht in zweisprachigen Volksschulen. Die niedrigste Schülerzahl wurde 1979 – 80 mit 1.065 registriert.110 In den 1970er Jahren forderten slowenische Aktivisten zweisprachige Ortstafeln. In den folgenden Jahrzehnten stand die Thematik der zweisprachigen Schulbildung und zweisprachiger Ortstafeln im Mittelpunkt des Konflikts. Österreich unterstützte Sloweniens Unabhängigkeit von Jugoslawien 1991. Dies hatte einen positiven Effekt auf die interethnischen Beziehungen in Kärnten. Österreichische Firmen investierten zudem massiv in Slowenien.111 1995 wurde ein slowenischer Vertreter eingeladen, eine Rede anlässlich der Feier des 75. Jahrestages des Referendums zu halten. Noch 1980 wäre dies undenkbar gewesen.112 Hier besteht eine Parallelität zwischen Kärnten und Schleswig, wo ebenfalls erst nach 75 Jahren ein Vertreter der deutschen Minderheit bei einer Feierlichkeit in Dänemark reden konnte. Seit 1997 wurden die Themen, die zwischen den österreichischen nationalen Verbänden und der slowenischen Minderheit immer wieder zu Auseinandersetzungen geführt hatten, im Rahmen von Runden Tischen und Konsenskonferenzen sowohl auf bundesstaatlicher als auch Kärntner Ebene diskutiert. Der Ortstafelstreit konnte 2011 gelöst werden, welches zur weiteren Aussöhnung und vertiefter Zusammenarbeit beitrug.113 2011 wurden zweisprachige Ortstafeln in 164 Gemeinden aufgestellt.114 So trug der Dialog und gute Wille auf beiden Seiten zu einer erfolgreichen Lösung bei. Dennoch schrumpft die Anzahl der Slowenen weiter von einst 100.000 auf gegenwärtig 10.000.115 Im Schuljahr 2018 – 2019 wurden insgesamt 4.110 Schü-
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B. Karch (Anm. 4), S. 29. M. Klemencic/V. Klemencic, Die Kärnter Slowenen und die Zweite Republik. Zwischen Assimilierungsdruck und dem Einsatz für die Umsetzung der Minderheitenrechte, Hermagoras Verlag/ Moherjeva zalozba, Klagenfurt/Celovec-Ljubljana/Laibach-Wien/Dunaj 2010. 109 R. Knight (Anm. 104), S. 119. 110 Das Minderheitenschulwesen 1958/59 – 2018/19, Bildungsdirektion Kärnten, Klagenfurt 2019, S. 65. 111 S. Karner, Mehrheiten – Minderheiten: Die Deutschen in Slowenien, in: P. Karpf et al. (Hrsg.), Kärnten Dokumentation. Band 30. Dialog und Kultur. Beiträge zum Europäischen Volksgruppenkongress 2013 und Sonderthemen, Land Kärnten, Klagenfurt am Wörthersee 2014, S. 26. 112 J. Pirker (Anm. 102), S. 31. 113 J. Pirker (Anm. 102), S. 31. 114 S. Löwenstein (Anm. 104). 115 S. Löwenstein (Anm. 104). 108
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lerinnen und Schüler an zweisprachigen Schulen unterrichtet, davon 2.238 an Volksschulen.116 Am 10. Oktober 2020 hielt der österreichische Präsident Alexander van der Bellen eine bemerkenswerte Ansprache aus Anlass des 100. Jubiläums des Referendums. Die Veranstaltung fand unter Covid-19-Maßnahmen in Klagenfurt statt, woran auch der slowenische Präsident Borut Pahor teilnahm. Die Veranstaltung wurde im Internet live gestreamt und von 200.000 Zuschauern verfolgt, was auch damit zusammenhängen durfte, dass der 10. Oktober in Kärnten ein Feiertag anlässlich des Abstimmungsjubiläums war.117 Präsident van der Bellen sprach in slowenischer Sprache bei der slowenischen Minderheit eine Entschuldigung aus für das erlittene Unrecht und die erst spät erfolgte Umsetzung der verfassungsmäßig abgesicherten Rechte. Er unterstrich, dass die slowenische Minderheit ein selbstverständlicher Teil Österreichs sei, gleichwohl haben die Behörden nicht immer die im Staatsvertrag von 1955 gegeben Versprechen eingehalten. Van der Bellen fügte hinzu, dass das gemeinsame Gedenken und Feiern Mut erfordere, aber auch Beweis für die heute guten Beziehungen sind: „In Kärnten wurde vieles erreicht, manche offen Wunde ist verheilt. Aber Volksgruppenpolitik muss jeden Tag weiterentwickelt werden – überall, nicht nur in Kärnten.“118 Der slowenische Präsident Pahor unterstrich, dass er seine Rede an die österreichische und slowenische Bevölkerung hielt. Der Wunsch sei, dass das Fest verbindet, gemeinsames Feiern sei für ihn in europäischen Werten wie Respekt, Frieden, Integration und Zusammenarbeit begründet. Der gemeinsame Festakt entspricht diesen Werten, wobei er auch die Schattenseiten des Zusammenlebens seit 1920 erwähnte. „Der EU-Beitritt ließ die Grenzen zwischen unseren Ländern weiter schwinden. Daher können wir eine friedliche und sichere Zukunft aufbauen. Das können wir nur gemeinsam“, und weiter: „Die Vielsprachigkeit gibt uns allen Weite. Wir leben in der Besten aller Zeiten, wir leben in Frieden, womit Fortschritt möglich wird. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können die Zukunft gestalten.“119 Wie in Schleswig wurde also auch in Kärnten das heutige positive, von Inklusion und Zusammenarbeit geprägte grenzüberschreitende Zusammenleben unter Miteinbeziehung der infolge des Referendums 1920 entstandenen Minderheit gefeiert. Gleichwohl ist das Alltagsleben noch immer hin und wieder von Belastungen im interethnischen Kontakt geprägt, wobei Vorurteile und Unwissenheit weniger optimistische Erfahrungen erzeugen, als die wohlwollenden Einschätzungen der StaatsFrauen und Männer, hat eine positive Entwicklung dennoch stattgefunden. In einst konfliktreichen Grenzregionen, wo nationale Interessen kollidierten und zu Herab116
Das Minderheitenschulwesen (Anm. 110), S. 171. https://www.5 min.at/202010319198/fast-200 – 000-kaerntner-verfolgten-10-oktoberfeier-online/ (Zugriff am 10. 1. 2022). 118 https://www.ktn.gv.at/Service/News?nid=31931 (Zugriff am 30. 12. 2022). 119 https://www.ktn.gv.at/Service/News?nid=31931 (Zugriff am 30. 12. 2022). 117
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setzung, Hass, sogar Gewalt, Diskriminierung und Unrecht führten, können Mehrheiten und Minderheiten heute gemeinsam der Vergangenheit feierlich erinnern. Dies ist keine vorhersehbare Folge der Grenzziehungen, obgleich in Schleswig die Selbstspiegelung in den Referenden von 1920 von den dunklen Seiten der Zeitgeschichte absieht, um eine direkte Linie zur gegenwärtig friedlichen und positiven Situation rhetorisch herzustellen. Das friedliche, manchmal symbiotische Zusammenleben ist Ergebnis einer langen und schwierigen Reise mit etlichen Verhinderungen, Umwegen und Rückschlägen. Ethnonationaler Friede in Grenzregionen benötigen kontinuierliche Aufmerksamkeit und Pflege, wobei Interessen auszubalancieren sind, um Toleranz, Akzeptanz und Gleichstellung zu gewährleisten. 3. Burgenland Im neuen österreichischen Bundesland Burgenland und dem bei Ungarn verbliebenen Gebiet produzierte die neue Grenze von 1921 mehrere nationale Minderheiten: Deutsche, Kroaten und Roma auf ungarischer sowie Ungarn, Kroaten und Roma auf österreichischer Seite. Die neuesten Zensus-Ergebnisse indizieren, dass auf der österreichischen Seite 16.000 Kroaten (allerdings schätzen Minderheitenverbände 40.000) und 5.000 Ungarn (die Minderheitenverbände schätzten 25.000) leben. Die Minderheit der Roma in der Region wird auf 2.500 – 5.000 geschätzt.120 Im Gebiet Sopron/Ödenburg lebten laut ungarischem Zensus von 2011 2.893 Deutsche, 2.062 Kroaten und 379 Roma.121 Allerdings hat sich die Bevölkerungszusammensetzung seit 1921 grundlegend verändert.122 In der Zwischenkriegszeit wurden zahlreiche Angehörige der deutschen Minderheit Mitglied im November 1938 gegründeten nationalsozialistisch kontrollierten „Volksbund der Deutschen in Ungarn“. In Sopron/Ödenburg und Umgebung hatte der Volksbund ca. 5.000 Mitglieder. Der Volksbund war von entscheidender Bedeutung für die nationalsozialistische Kontrolle der deutschen Minderheit. Die interethnische Situation wurde gestört, viele Ungarndeutsche meldeten sich zur Waffen-SS. Nach 1945 wurden große Teile der deutschen Minderheit vertrieben. Im April 1946 wurden 6.600 Deutsche aus Sopron/Ödenburg und weitere 8.300 aus den umgebenden Dörfern vertrieben. Farkas 2010 hat berechnet, dass 70 % aller Deutschen, die in und um Sopron/Ödenburg lebten, vertrieben wurden.123 Neu angesiedelt wurden ethnische Ungarn aus anderen Landesteilen oder ungarische Vertriebene bzw. Umsiedler aus der Tschechoslowakei. Erst 1993 wurde ein deutscher Kulturverein in Sopron/Ödenburg gegründet. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Abbau des Eisernen Vorhangs har sich der Kontakt und die Zusammenarbeit über die Grenze stark entwickelt. Burgenland/ 120
R. Olt, Entgrenztes Burgenland, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2011. http://www.nepszamlalas2001.hu/hun/kotetek/06/08/data/tabhun/4/load01_11_0.html (Zugriff am 30. 12. 2022). 122 Die folgende Darstellung basiert auf A. Farkas, Die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung in Ödenburg, VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2010. 123 A. Farkas (Anm. 122), S. 39. 121
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West-Ungarn war der erste Ort, an dem Ungarn die Grenzbefestigungen öffnete und entfernte. Dies erfolgte während des sogenannten Paneuropäischen Picknicks am 19. August 1989, woraufhin mehrere Hundert DDR-Bürger nach Österreich flüchteten. Seitdem ist die sichtbare Grenze beinahe verschwunden, beide Staaten sind Mitglied der Europäischen Union geworden und die Region erhält europäische Fördermittel von der EU für grenzüberschreitende Projekte. 2011 stellte die bundesdeutsche Zeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung fest, dass eine Entwicklung vom Konflikt über Zusammenleben zur Kooperation stattgefunden habe: „Mit Fug und Recht lässt sich sagen: Aus dem Gegeneinander nach dem Ersten Weltkrieg ist ein Nebeneinander und schließlich ein Miteinander geworden.“124 So findet sich auch im Burgenland die positive Erzählung, die in Schleswig ein Bonmot geworden ist. Das Bundesland Burgenland feierte 2021 seinen 100. Geburtstag mit einer Vielzahl von Programmpunkten und Veranstaltungen. Eine von der EU gesponsorte Homepage wurde erstellt.125 Die Burgenlandkroatische Minderheit wurde dabei ebenfalls berücksichtigt, der ORF hatte in seinem Programm für die ungarischen und kroatischen Minderheiten Sendungen zu 100 Jahre Burgenland produziert.126 Anders als in Schleswig und Kärnten gab es jedoch keine gemeinsame Feier zwischen Österreich und Ungarn, um der Grenzziehung im positiven Geiste zu begehen. Ungarn hatte hingegen 2020 in großem Maßstab das 100. Jubiläum des noch immer als ungerecht empfundenen Trianon-Vertrags begangen, wobei das empfundene Unrecht, der Verlust ehemaliger Territorien sowie die enge Verbundenheit mit den verbliebenen Ungarn in den 1920 abgetretenen Gebieten wie ein intensiver Phantomschmerz immer wieder hervorgehoben wurde.127 Die Abtretung West-Ungarn war und ist Teil des Erbes von Trianon und wird deshalb in Ungarn ausschließlich unilateral begangen. V. Zusammenfassung In den Pariser Friedensverträgen von 1919 wurden Referenden in einem begrenzten Umfang für die Festlegung der Nachkriegsgrenzen Deutschlands und Österreichs instrumentalisiert. Drei der damals durch Volksabstimmungen festgelegten Grenzen bestehen noch heute. Die Referenden der Jahre 1920 und 1921 führten zur Festlegung der neuen Grenzen zwischen Deutschland und Dänemark, Österreich und Ungarn sowie Österreich und dem heutigen Slowenien. Es handelte sich jeweils um schwierige und langwierige Prozesse mit heftiger nationaler Agitation auf allen Seiten. In Burgenland/West-Ungarn und in Kärnten wurde der Prozess von Gewalt begleitet. Das blutige Erbe war wichtig für die jeweilige nationale Erinnerung. In Schleswig 124
R. Olt (Anm. 120). https://www.wirsind100.at/ (Zugriff am 28. 12. 2022). 126 https://volksgruppen.orf.at/hrvati/%3E%20and%20 %3Chttps://volksgruppen.orf.at/ magyarok/ (Zugriff 10. 12. 2021), nicht mehr aktiver Link. 127 O. Nyeng, 100 års fantomsmerter, Weekendavisen, 04.06.2020. 125
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hatte die Erfahrung des Verlustes von 5 – 6.000 von 30.000 aus Nordschleswig einberufenen dänischgesinnten Soldaten in den deutschen Heeren im Ersten Weltkrieg 1914 – 1918 einen großen Einfluss auf das Abstimmungsergebnis in der Zone I, aber auch auf die dänisch-nationalen Aktivitäten nach der Grenzziehung von 1920. Seit Kriegsende 1918 wird alljährlich am 11. November in Nordschleswig den Gefallen des Ersten Weltkriegs gedacht. An jeder Gemeindekirche finden sich Gedenktafeln oder Gedenksteine, wobei in der Regel dänische Gefallene auf Dänisch, deutsch auf Deutsch erwähnt sind. Dabei gedachten Dänen und Deutsche in Nordschleswig 100 Jahre lang den Gefallenen in separaten Veranstaltungen. Erst seit 2018 gedenken Dänen und Angehörige der deutschen Minderheit in Dänemark gemeinsam den Gefallenen des Krieges.128 Die Erfahrung von Gewalt und Krieg spielt in allen drei Grenzregionen eine Rolle. Alle drei durch Referenden festgelegten Grenzen sind Produkte des Ersten Weltkriegs. Dennoch sind alle drei im Laufe von hundert Jahren zu Symbolen für Friede und Zusammenarbeit geworden, ungeachtet des Ursprungs in Gewalterfahrungen. Ohne Ersten Weltkrieg gäbe es die drei Grenzen nicht. Das Ende des Ersten Weltkriegs führte zur Aktualität der Grenzfragen. Wahrscheinlich gäbe es nationale Minderheiten, da die noch heute gegebene ethnonationale Vielfalt in den drei Regionen tiefe historische Wurzeln hat, aber sie wären kaum zu Grenzregionen im modernen Sinne geworden, indem eine Grenze zwischen zwei Staaten Regionen teilt und zugleich als gemeinsamer Grenzraum vereint. Das friedliche Miteinander 100 Jahre nach der Grenzziehung ist auf dem Hintergrund dieser Umstände zu verstehen. In allen drei Grenzregionen produzierten die Grenzen nationale Minderheiten. Die Entwicklung von nachhaltigen Minderheitenregelungen war voller Hindernisse und dauerte etliche Jahrzehnte. Nicht die Grenzziehungen schufen gute Minderheitenregelungen und Grenzfrieden, aber führten nach vielen Spannungen letztendlich nach langer Unzufriedenheit zur allseitigen Anerkennung der Grenzen. Noch heute ist Gleichheit und effektive Teilhabe der Minderheitenangehörigen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nicht vollends erreicht worden, erfahren Minderheitenangehörige tatsächliche oder empfundene Benachteiligungen. Dennoch ist der gute Wille ein sehr wichtiger Faktor. Dazu gehört aber auch teilweise historische Amnesie, die notwendig ist, um Gemeinsamkeiten über die teilenden Erfahrungen der Vergangenheit zu pflegen. Die Festreden von Politikern, aber auch Minderheitenvertreterinnen und -vertretern spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Miteinbeziehung in Erinnerungsveranstaltungen setzt wichtige symbolische Signale. Aber manchmal führt der gute Wille und die Freude über das heute Gelebte auch zu Verkürzungen der Geschichte – und einer Idealisierung der Bedeutung der Referenden von 1920 – 21. So sagte des deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, anlässlich der Dreharbeiten für eine Weihnachtssendung im Fernsehsender ZDF im De128 Vgl. L. N. Henningsen, Kampen om de faldnes minde. 100 års strid om mindesmærker og mindekultur i Sønderjylland efter Første Verdenskrig, Historisk Samfund for Sønderjylland, Aabenraa 2019.
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zember 2022, dass die Stadt Flensburg ein Wahrzeichen sei für mehr als 100 Jahre Grenzfrieden.129 Dabei wurde übersehen, dass erst 1955 die Grundlage für das friedliche Zusammenleben geschaffen wurde, als die Grenze von 1920 nicht mehr angezweifelt werden konnte. In den 35 Jahren zwischen den Referenden und den BonnKopenhagener Erklärungen prägten vielmehr Unzufriedenheit und Unfriede das Verhältnis zur Grenze. Erst die gemeinsamen Interessen im Kalten Krieg ermöglichten letztendlich eine Aussöhnung auf der Grundlage der Grenzziehung von 1920.130 Die internationalen minderheitenrechtlichen Normen, die insbesondere im Rahmen des Europarats nach Ende des Kalten Krieges vereinbart wurden, haben Minderheitenrechte erweitert und neue Optionen für Inklusion und Teilhabe ermöglicht. Dänemark, die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Ungarn und Slowenien haben jeweils die Minderheitenschutzkonventionen des Europarats: das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten sowie die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ratifiziert und stellen sich dem regelmäßigen Monitoring der international besetzten Expertenausschüsse.131 Dadurch ist die praktizierte Minderheitenpolitik regelmäßig Gegenstand einer internationalen Evaluation und Bewertung, wodurch die tatsächliche Wahrnehmung der Rechte durch die Minderheiten gestärkt wird. Hundert Jahre nach den Referenden ist das Verhältnis zwischen den Mehrheiten und Minderheiten in allen drei Grenzregionen so gut wie nie zuvor. Es wird ein Bild von Erfolgsgeschichten gepflegt. Dennoch zeigt ein zweiter, genauerer, kritischer Blick, dass die Situation im Alltag jenseits der Erklärungen und Reden nicht immer idyllisch ist. Die Aussöhnung zwischen den Hauptakteuren und die Gemeinsamkeiten zwischen gewählten Vertretern reflektiert nicht immer die Erfahrungen einzelner Minderheitenangehöriger, die nach wie vor über Vorurteile und auch tatsächliche oder empfundene Feindseligkeiten berichten können. Die Minderheiten sehen sich in allen drei Grenzregionen von der schwindenden Identifikation mit den jeweiligen Minderheiten und dem abnehmenden Gebrauch der Minderheitensprache herausgefordert. Sie müssen neue Wege finden, um die Angehörigen kontinuierlich zu mobilisieren, um einer friedlichen Assimilation vorzubeugen. Die EUMitgliedschaften, die gemeinsamen demokratischen Werte und Ideen, das Interesse an grenzüberschreitender Kooperation gefördert durch EU-Zuwendungen, der erfahrene Mehrwert der Grenzen und die Vorteile der ethnokulturellen und sprachlichen Diversität sind dabei treibende Kräfte. Dabei spielt es heute eine überwiegend posi129 J. Wittenkamp, Frivillige i fokus under forbundspræsidentens besøg, Flensborg Avis, 22. 12. 2022. 130 Siehe dazu J. Kühl, Skæv erindring om grænselandets fredeliggørelse, Flensborg Avis, 02. 02. 2023. 131 Vgl. S. Boysen/P. Hilpold/C. Langenfeld et al. (Hrsg.), Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Handkommentar, Dike Verlag/Nomos Verlag/facultas.wuv Verlag, Zürich/St. Gallen/Baden-Baden/Wien 2011; R. Hofmann/D. Angst/E. Lantschner/ G. Rautz/D. Rein (Hrsg.), Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, Dike Verlag/Nomos Verlag/facultas.wuv Verlag, Zürich/St. Gallen/Baden-Baden/Wien 2015.
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tive Rolle, dass es in allen drei Grenzregionen sogenannte Kin-States oder „Mutterländer“ gibt, die sich in den symmetrischen und asymmetrischen Konstellationen von Mehrheiten und Minderheiten für Aussöhnung und Zusammenarbeit einsetzen. Die Minderheiten werden dabei zunehmend als wichtige und verbindende Akteure wahrgenommen, die Brücken bauen können statt wie zeitgeschichtlich Konfliktpunkte bildeten. Dabei sind es die gemeinsamen Interessen der Staaten innerhalb der EU und westlichen Wertegemeinschaft, die wichtige Impulsgeber sind. Die drei in diesem Beitrag untersuchten Grenzen wurden alle in Folge des ersten Weltkriegs festgelegt. Sie basieren auf Friedensverträge und die Befragung der Bevölkerungen in umstrittenen Grenzregionen. Die Bedeutung der Geschichte für die letztendlich positiv verlaufenden, aber über viele Jahrzehnte konfliktträchtigen Beziehungen von Minderheiten und Mehrheiten kann nicht überschätzt werden. Die Entscheidung, Referenden abzuhalten, wirkte wie ein Trigger, der auf allen Seiten nationalistische Ambitionen und Agitation gegen die andere zur Wahl stehenden Option freisetzte. Dadurch wurden jedoch bestehende interethnische Beziehungen schwer belastet, zum Teil wurden Familien polarisiert und unversöhnlich geteilt. Die Ergebnisse der Referenden und die darauf basierende Festlegung der neuen Grenzen produzierten nationale Minderheiten und zugleich den festen Willen der zum Teil neuen Mehrheiten die Kontrolle über die Gebiete zu sichern. Dadurch entstanden neue Friktionen und Konflikte. Die Erinnerung und das Gedenken an die Kriege und die Abstimmungsergebnisse erhielten eine konstitutive Bedeutung für das Selbstbild von Mehrheiten und Minderheiten. Zunächst führten die Lösungen zu neuen Problemen: Als Nordschleswig in Dänemark inkorporiert wurde, konnte dies die sogenannte Nordschleswigsche Frage, die durch die Abtrennung von Schleswig nach dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864 entstand, zwar lösen; aber zugleich entstanden neue Fragen der neuentstandenen deutschen Minderheit im nunmehr dänischen Nordschleswig sowie der stark reduzierten verbliebenen dänischen Minderheit im weiterhin deutschen Südschleswig. Die Grenzthematik spielte viele Jahrzehnte eine signifikante Rolle. Die Gemeinschaften der Abstimmungsverlierer pflegten, mit Hilfe nationalgesinnter Akteure im jeweiligen Kin-State, nach 1920 die Hoffnung auf eine zukünftige Grenzrevision. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und unter Eindruck des Kalten Krieges konnten seit 1955 im deutsch-dänischen Grenzland nachhaltige Minderheitenregelungen entstehen. Das Ende des Kalten Krieges und die europäische Integration mit der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten ermöglichten mit substanzieller finanziellen Förderungen Aussöhnungsprozesse und Kooperation an den österreichisch-ungarischen und österreichisch-slowenischen Grenzen. Die neuen Grenzen führten nach 1918 zur Bildung nationaler Minderheiten. Grenzüberschreitende und damit zum Teil auch grenzüberwindende Kooperation fördert den interethnischen Austausch und trägt dazu bei, die Nachteile der Peripherie zu vorgestellten Symbolen europäischer Integration zu transformieren. Staatsoberhäupter und Regierungschefs können heute Themen aufgreifen, die lange Zeit tabuisiert wurden: Die Anerkennung der Geschichte und das Eingeständnis von Unrecht, Entschuldigungen für erlittenes Un-
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recht aussprechen sowie die Leistungen der Gegenwart hervorheben. Die Minderheiten haben aufgrund ihrer Zweisprachigkeit und bikulturellen Kompetenzen einen Vorteil und können sich aktiv in die grenzüberschreitende Kooperation einbringen. Dennoch sind die Themen der Beziehungen zwischen Mehrheiten und Minderheiten weiterhin relevant und bedürfen kontinuierliche Aufmerksamkeit, um das Wiederaufbrechen vergangen geglaubter Verwerfungen vorzubeugen. So wuchs die friedliche Koexistenz in allen drei Regionen mit Grenzreferenden aus der Erfahrung von Krieg, Konflikt, Unfriede, Unzufriedenheit und bitterer Enttäuschung. Heute sind die Schlachtfelder zu Kooperationsräumen geworden, Abstimmungszonen sind heute Arenen für Dialog und Verständigung. Dennoch gibt es bei allem Optimismus keine Garantie, dass aktuelle Zustandsbeschreibungen nicht durch einen neuen Kontext oder veränderten Rahmenbedingungen umkehrbar sind. VI. Perspektiven: Sind Referenden ein Element der Konfliktlösung in der Ukraine? In den drei vorgestellten Regionen setzten die Referenden und daraus folgenden Grenzveränderungen nach dem Ersten Weltkrieg in der Rückschau betrachtet wichtige Koordinaten für das allerdings erst nach konfliktreichen Jahrzehnten erreichte beispielhafte Zusammenleben. Kann daraus abgeleitet werden, dass Grenzreferenden auch in anderen Konflikten nützlich sein könnten? Als am 24. Februar 2022 der Präsident der Russländischen Föderation, Vladimir Putin, den völkerrechtswidrigen Angriffs- und Eroberungskrieg gegen Ukraine begann, die laut Putins Motivation insbesondere den Schutz der „russischen“ Bevölkerung (wobei mehrere BruttoDefinitionsansätze anhand von ethnischer Identifikation, gesprochener Sprache, Konfession und angeblicher gemeinsamer russischen Identität aufgrund der mittelalterlichen Kyiver Rus ungenau konnotiert werden) gewährleisten sollte, wurde zügig im Westen von besorgten Beobachtern der Vorschlag gemacht, den Konflikt durch Referenden zu lösen – wie in Schleswig, Burgenland/West-Ungarn und Kärnten vor mehr als 100 Jahren. In Dänemark gab es kurz nach Kriegsbeginn mehrere Hinweise auf die positive Referendumserfahrung von 1920 als vermeintlicher Lösungsansatz. Dabei fällt auf, dass die Vorschläge auf die (unzutreffende) Annahme beruhen, dass der Ukrainekrieg genuin als Minderheitenkonflikt zu verstehen ist, wodurch der Krieg jedoch verzerrt aufgefasst wird und die neokoloniale Dimension übersehen wird. Der ehemalige konservative dänische Außenminister der Jahre 2001 – 10, Per Stig Møller, sagte im Mai 2022 in der dänischen Zeitung Kristeligt Dagblad: „Der einzige Weg, wie Putin sich zurückziehen unter teilweiser Bewahrung seiner Ehre kann, ist, wenn die Bevölkerung die Möglichkeit erhält, darüber abzustimmen, wohin sie gehört. Das wäre wie die Lösung in Schleswig 1920, als Dänemark Südschleswig verlor, aber Nordschleswig behielt. Dies würde die Bevölkerung entscheiden lassen, wohin sie ge-
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hört, statt mit Waffengewalt den Konflikt zu entscheiden. Vielleicht werden die Gebiete mit dem Willen der Bevölkerung bei Ukraine verbleiben.“132
Der US-amerikanische Militärstratege Edward Luttwalk hat ebenfalls und mehrfach auf die Referendumserfahrung des Versailler Friedens verwiesen.133 Dieser Vorschlag führte dazu, dass Luttwalk auf eine schwarze Liste der ukrainischen Regierung gesetzt wurde; dennoch hielt er an seiner Überlegung fest.134 Im Oktober 2022 meldete sich auch der US-amerikanische Multi-Milliardär und Tesla-Gründer Elon Musk auf Twitter zu Wort und stellte darin fest, dass die Krim zu Russland gehöre, und dass in den russischbesetzten Gebieten durch die Vereinten Nationen zu überwachende Referenden anzusetzen seien. Auch dieser Vorschlag wurde von der ukrainischen Regierung umgehend abgelehnt.135 Bei den Vorschlägen scheint übersehen zu werden, dass bereits 2014 erfolgte, aber international nicht anerkannte Referenden in russischbesetzten Gebieten der Ukraine gerade nicht zur Konfliktlösung beigetragen haben, sondern den Konflikt vielmehr verstärkten. 2014 erfolgten manipulierte unilaterale Referenden, die zur Loslösung von Teilen der ukrainischen Regionen Luhansk und Donezk zwecks Bildung eigener sogenannter Volksrepubliken sowie der gesamten Krim-Halbinsel und der Hafenstadt Sewastopol zwecks Anschlusses an die Russländische Föderation führten. Dadurch wurde der Konflikt nicht gelöst, sondern führte im Donbass zu einem acht Jahre währenden Stellungskrieg, wobei die internationale Gemeinschaft die Ergebnisse der Referenden nicht anerkannte. Die Ukrainer und andere nationale Minderheiten in den russisch kontrollierten Regionen, insbesondere die Krimtataren auf der Krim, wurden unterdrückt. Bereits kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 deuteten russische Verlautbarungen auf weitere Referenden in den damals zügig besetzten ukrainischen Gebieten. Aber erst nach der ukrainischen Rückeroberung des Gebiets um Charkiw im September 2022 wurde zeitgleich mit einer Teilmobilisierung in Russland die Durchführung von Referenden über die Aufnahme in die Russländische Föderation in den Regionen Donezk, Luhansk, Cherson and Saporischschja angesetzt. Dort erfolgten in der Zeit 23.–27. September 2022 Pseudo-Referenden, die jeweils völkerrechtswidrig und nicht frei waren, sondern unter einschüchternder Aufsicht bewaffneter Soldaten und mit gläsernen Abstimmungsurnen erfolgten, die von
132 Freden nås gennem folkeafstemning, Kristeligt Dagblad, 20. 05. 2022. Übersetzung des Autors. 133 https://www.rferl.org/a/ukraine-war-luttwak-interview-putin-russia-plebiscite/31893485. html (Zugriff am 30. 12. 2022). 134 Ich, Putin-Propagandist, Die Welt, 03. 08. 2022. 135 https://www.wsj.com/articles/elon-musk-draws-criticism-from-ukraines-zelensky-overrussia-tweets-11664831256 (Zugriff am 11. 10. 2022).
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Haustür zu Haustür getragen wurden und zu dem von Putin gewünschten Ergebnis der überwältigenden Zustimmung führten.136 In Donezk stimmten angeblich 99,23 % bei einer Wahlbeteiligung von 97,51 %, in Luhansk votierten 98,42 % bei einer Wahlbeteiligung von 94,15 % für den Anschluss der 2014 selbsternannten Volksrepubliken an Russland. In Cherson stimmten angeblich 87,05 % bei einer Wahlbeteiligung von 76,86 % für den Anschluss an Russland, während 12,05 % dagegen waren. In Saporischschja stimmten angeblich 93,11 % bei einer Wahlbeteiligung von 85,4 % für Russland.137 Daraufhin unterzeichnete Putin bei einer Zeremonie im Moskauer Kreml trotz internationaler Proteste am 30. September 2022 Dekrete über die Aufnahme der vier Regionen.138 Er erklärte, dass die Regionen für ewig russisch sein würden.139 Russlands einseitige Annexion ukrainischer Gebiete wurde umgehend international verurteilt. Am 12. Oktober 2022 stimmte die Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York mit einer Mehrheit von 143 von 193 Staaten für eine Resolution, in der die Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit und territoriale Integrität der Ukraine innerhalb der international anerkannten Grenzen bestätigt wurden.140 Lediglich fünf Staaten votierten dagegen: Russland, Syrien, Nicaragua, NordKorea und Belarus, während 35 Staaten einschließlich China und Indien sich der Stimme enthielten. Bieten Referenden überhaupt einen Lösungsansatz? Tatsächlich handelt es sich um einen Trugschluss, der übersieht, dass Putins und Russlands Kriegsziele nicht nur Grenzregionen mit gemischter Bevölkerung im Osten und Süden der Ukraine umfassen, sondern auf die Negation der Existenz der ganzen Ukraine abzielen. Ferner ist festzuhalten, dass die Referenden aufgrund der Pariser Friedensschlüsse von 1919 in einem international anerkannten multilateralen Friedensvertrag erfolgten. Abstimmungen setzten den Frieden zwischen den Staaten voraus, obgleich es durchaus in mehreren Abstimmungsgebieten bewaffnete Auseinandersetzung vor Ort gab. Dabei fanden Referenden nur in einer kleinen Anzahl und ausschließlich in Gebieten statt, die vorher zu den Kriegsverlierern Deutschland und Österreich-Ungarn gehörten. Die Referenden erfolgten unter internationaler, bewaffneter Kontrolle, in Schleswig in einem entmilitarisierten Abstimmungsbereich. Die Abstimmungen erfolgten 136
Abstimmen unter Soldatenaugen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 09. 2022. Zu den Ergebnissen siehe https://en.wikipedia.org/wiki/2022_annexation_referendums_in_Russian-oc cupied_Ukraine (Zugriff am 12. 10. 2022). 137 Daten laut https://en.wikipedia.org/wiki/2022_annexation_referendums_in_Russian-oc cupied_Ukraine (Zugriff am 12. 10. 2022). 138 https://www.nytimes.com/video/world/europe/100000008560357/putin-signs-decree-an nexation-ukraine-russia.html?searchResultPosition=1 (Zugriff am 12. 10. 2022). Internationale Empörung über Annexion ukrainischer Gebiete, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1. 10. 2022. 139 https://www.nytimes.com/2022/09/30/briefing/russia-ukraine-war-annex.html?searchRe sultPosition=2 Zugriff am 12. 10. 2022). 140 https://www.reuters.com/world/united-nations-condemns-russias-move-annex-partsukraine-2022 – 10 – 12/ (Zugriff am 13. 10. 2022).
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frei nach einem intensiven Wahlkampf, der beiden Seiten die Möglichkeit der Agitation bot. Es erfolgten keine Vertreibungen oder Deportationen aus den Abstimmungsgebieten. Der Kreis der Wahlberechtigten wurde weit definiert. Stimmberechtigte, die zwar in den Gebieten geboren, aber später aus unterschiedlichen Gründen verlassen hatten, konnten teilweise an den Referenden teilnehmen. Diese und weitere Rahmenbedingung sind in der Ukraine derzeit nicht gegeben. Vielmehr würden Grenzreferenden den Aggressor Russland „belohnen“, da in diesem Lösungsansatz nur Abstimmungen auf ukrainischem Territorium vorgesehen wären. Somit hätte sich der Angriffskrieg für Russland gelohnt. Die zum Teil gewaltsame russifizierende Assimilationspolitik gegenüber Ukrainern, Krimtataren und weiteren Nationalitätengruppen in Donezk, Luhansk und auf der Krim seit den Scheinreferenden 2014 verhindert ein faires Referendum. Die massive Flucht der Einwohner aus den Regionen Cherson and Saporischschja, wobei sehr viele insbesondere Frauen und Kinder außerhalb der Ukraine Zuflucht gesucht haben, sind ein weiterer hinderlicher Umstand. Die umfassenden Zerstörungen der Städte und der Infrastruktur bilden ein weiteres Hindernis. In keinem der Abstimmungsgebiete nach dem Ersten Weltkrieg waren die Infrastruktur und Städte systematisch und umfassend zerbombt worden. Die Idee, in der Ukraine „wie in Schleswig, Burgenland und Kärnten“ vorzugehen, scheint nur beim ersten Blick relevant und zielführend. Die in der Rückschau zu wertenden Erfolgsgeschichten der Abstimmungen von 1920 und 1921 werden als geeignetes Instrument retrospektiv gespiegelt; aber dabei wird übersehen, dass die Grenzziehungen nach 1918 zu neuen Konflikten führten und viele weitere Jahrzehnte einschließlich dem Zweiten Weltkrieg mit Krieg und Besatzung vergingen, bevor die gemeinsamen Interessen der implizierten Staaten zu einer nachhaltigen Befriedung der Grenzregionen geführt haben. Das Unruhepotenzial war noch lange gegeben, Spannungen manifestierten sich noch etliche Jahrzehnte. Grenzreferenden in der Ukraine – ungeachtet der vielen ungelösten Fragen, die vor einer etwaigen praktischen Umsetzung zu lösen wären – würden tatsächlich mehr Probleme produzieren als lösen. Referenden in Gebieten mit kompakten russischen Minderheiten im Osten und Südosten der Ukraine könnten die Forderung nach Grenzreferenden im Westen des Landes insbesondere zu Ungarn, aber womöglich auch Rumänien provozieren. So bieten die Erfahrungen mit Grenzreferenden nach dem Ersten Weltkrieg keine Blaupause für etwaige praktische Lösungsansätze, um Russlands Krieg gegen die Ukraine zu beenden. Grenzreferenden machen nur Sinn, wenn alle implizierten Staaten sich darauf verständigen, sie in einem völkerrechtlichen Rahmen eingebunden und Minderheitenrechte anschließend effektiv gewährleistet werden. Angesichts der Kriegs- und Besatzungserfahrungen ist dies derzeit keine konstruktive Option in der Ukraine. So werden Grenzreferenden vermutlich weiterhin eine Klammer der modernen europäischen Geschichte verbleiben – durchaus interessante Studienobjekte, aber keine Anleitung für Friedenslösungen, da sie jeweils Ergebnis der Friedensschlüsse waren.
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Jørgen Kühl Referenden in Europa nach dem Ersten Weltkrieg
Region/Vertrag
Datum
Grenze zwischen
Ergebnis
Eupen-Malmedy Januar–Juli 1920 [Kein Referendum aber öffentliche Registrierung / Willensbekundung] Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919, Art. 34
Deutschland/Belgien Deutschland: 271 von 30.000 Wahlberechtigten sprachen sich für eine Wiedervereinigung mit Deutschland aus Grenzveränderung: Belgiens Annektierung der Region 1919 wurde bestätigt
Schleswig 10. Februar und Versailler Vertrag 14. März 1920 vom 28. Juni 1919, Art. 110 – 114
Dänemark und Preu- Zone I: 74,9 % Dänemark, ßen/Deutschland 25,1 % Deutschland
Oberschlesien 20. März 1920 Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919, Art. 88
Preußen/Deutschland und Polen
59,6 % Preußen/Deutschland, 40,3 % Polen; 844 Gemeinden für Deutschland, 678 Gemeinden für Polen, 73 Gemeinden unklar Teilung: 75 % des Gebiets mit 57 % der Bevölkerung verbleibt bei Preußen/ Deutschland, 25 % des Gebiets mit 43 % der Bevölkerung an Polen
Allenstein und Ma- 11. Juli 1920 rienwerder Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919, Art. 84 – 98
Preußen/Deutschland und Polen
Allenstein: 97,86 % Preußen/Deutschland, 2,14 % Polen Marienwerder: 92,3 % Preußen/Deutschland, 7,6 % Polen Status Quo/Teilung: Allenstein verbleibt bei Preußen/Deutschland außer 3 Gemeinden Marienwerder verbleibt bei Preußen/Deutschland außer 5 Gemeinden
Kärnten
Österreich und Staat Zone A: 40,96 % SHS, der Serben, Kroaten 59.04 % Österreich
10. Oktober 1920
Zone II: 80,2 % Deutschland, 19,8 % Dänemark Teilung: Zone I an Dänemark, Zone II verbleibt bei Deutschland
Grenzziehungen und Minderheiten Region/Vertrag
Datum
Vertrag von Saint-Germain 10. September 1919, Art. 49 – 50
Grenze zwischen und Slowenen (SHS/ Jugoslawien)
75 Ergebnis Zone B: Keine Abstimmung Status Quo: Verbleibt bei Österreich
Burgenland/West- 14.–16. Dezember ungarn 1921 [Sopron/Ödenburg] Venedig-Protokoll 13. Oktober 1921
Österreich und Ungarn
65 % Ungarn, 35 % Österreich Status Quo: Verbleibt bei Ungarn
Saar-Region 13. Januar 1935 Versailler Vertrag vom 28. Juni 1919, Art. 49
Deutschland und Frankreich
90 % Deutschland Eingliederung: Wird Teil Deutschlands nach 15 Jahren Völkerbundverwaltung
*** Abstract Jørgen Kühl: Boundary Drawings and Minorities: A Review of Border Referenda after the First World War (Grenzziehungen und Minderheiten: Eine Rückschau auf die Grenzreferenden nach dem Ersten Weltkrieg und deren Folgen), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 41 – 75. The peace treaties following World War I agreed on in Versailles and Saint-Germain in 1919 provided for referendums to determine the borders between Germany and Denmark in Schleswig (1920), Germany and Poland with votes taking place in Upper Silesia, East and West Prussia (1920), and Austria and future Yugoslavia with a referendum held in Carinthia (1920). In 1921, a referendum was held in Western Hungary to determine the border between Austria and Hungary. In 2020 and 2021, the borders between Denmark and Germany, Austria and Slovenia, and Austria and Hungary turned hundred years. In the Saar Region, a referendum held in 1935 after 15 years of administration by the League of Nations determined to future status of the region, eventually joining Germany. Finally, in 1920, a consultation or rather a public expression of intention was held in the provinces of Eupen and Malmedy on the border between Belgium and Germany. This chapter introduces the format, context and outcome of the referendums. It describes and analyses the long-term effect of minority regimes established in three contested border regions after the drawing of post-World War I borders: Schleswig, Carinthia, and Burgenland/Western Hungary. Nowadays, all three border regions are regularly described in terms of good and even best practice. Finally, the chapter discusses, whether referendums are a useful tool in solving the ongoing Russian war of aggression and conquest in Ukraine, concluding that referendums on borders between states will probably remain a parenthesis in modern European history.
Volksabstimmung in Schleswig nach dem Ersten Weltkrieg 1920 Von Holger Kremser I. Einführung Aufgrund des Versailler Vertrags kam es 1920 in Nord- und in Mittelschleswig jeweils zu getrennten Volkabstimmungen über die Frage, ob das jeweilige Abstimmungsgebiet zu Dänemark oder zum Deutschen Reich gehören möchte. Die Frage der nationalstaatlichen Zugehörigkeit des früheren Herzogtums Schleswig hatte lange Zeit eine beachtliche internationale Relevanz. Sie wurde im englischsprachigen Ausland als „The Schleswig-Holstein Question“1 und im französischsprachigen Raum als „La question du Slesvig“2 ausführlich thematisiert. Dass die SchleswigFrage Gegenstand des Versailler Vertrags wurde, überrascht gleichwohl. Denn Dänemark war nicht am Ersten Weltkrieg beteiligt. Die Gründe, warum Schleswig zum Gegenstand der Friedensverhandlungen in Versailles und am Ende auch Gegenstand des Versailler Vertrags wurde, hängen mit dem staats- und verfassungsrechtlichen Sonderstatus von Schleswig und Holstein einerseits und mit Ereignissen andererseits zusammen, die wesentlich weiter zurückliegen als der Erste Weltkrieg, weshalb zunächst die geschichtliche Entwicklung von Schleswig und Holstein beleuchtet werden soll. II. Geschichtliche Entwicklung Schleswig-Holsteins von 1460 bis zum Ersten Weltkrieg Die Landstände von Holstein und Schleswig wählten am 5. März 1460 in Ripen (dänisch Ribe) König Christian I. von Dänemark zum gemeinsamen Landesherrn.3 Dies geschah, weil Herzog Adolf VIII., zugleich Graf von Holstein und Storman sowie Herzog von Schleswig keinen unmittelbaren Erben hinterließ, der Herrschaftsrechte in beiden Gebieten beanspruchen konnte.4 Der Vertrag von Ripen 1460 enthält die Zusage, dass Schleswig und Holstein für immer ungeteilt („Up ewig ungedeelt“)
1
L. D. Steefel, The Schleswig-Holstein Question, 1932. P. Verrier, La question du Slesvig, 1919. 3 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts und Minderheitenschutzes. Quellen zur Verwaltungsgeschichte Nr. 10, 1948 und 1995, S. 19. 4 R. Bohn, Geschichte Schleswig-Holsteins, 2006, S. 39. 2
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bleiben sollen. Holstein blieb ein deutsches und Schleswig ein dänisches Lehen.5 Auch nach der „tapferen Verbesserung“ vom 4. April 1460 sollen Schleswig und Holstein ewig ungeteilt bleiben („dat se bliven ewig tosamende ungedelt“). Staatsrechtlich bildeten Schleswig und Holstein aufgrund des „Riepener Privilegs“6 eine Realunion.7 Mit der dänischen Krone war die Realunion Schleswig und Holstein in Personalunion mit Dänemark verbunden.8 Der König von Dänemark war als Herzog von Schleswig und Holstein (letzteres wurde 1474 ebenfalls ein Herzogtum9) für das deutsche Holstein Mitglied des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation.10 Entsprechend galt das auch für den Deutschen Bund. Im Jahr 1848 dekretierte Dänemark unter Verletzung der Vertragspflicht „Up ewig ungedeelt“ die Einverleibung Schleswigs in den dänischen Staatskörper, was auf deutscher Seite zu der Forderung führte, Schleswig in den Deutschen Bund aufzunehmen.11 Es kam in der Folgezeit zu einem Konflikt zwischen Dänemark einerseits und dem Deutschen Bund, Österreich, Preußen und weiteren Bundesstaaten andererseits. Zudem griffen später auch das Vereinigte Königreich, Russland und Schweden ein.12 Durch das Zweite Londoner Protokoll von 1852 verpflichtete sich Dänemark, den staats- und verfassungsrechtlichen Sonderstatus von Schleswig und Holstein zu respektieren.13 Im November 1863 verkündete der neu im Amt befindliche dänische König Christian IX. unter dem Einfluss des dänischen Nationalismus eine umfassende Gesamtstaatsverfassung und die Inkorporierung Schleswigs in den dänischen Staat.14 Preußen und Österreich sahen darin einen Verstoß gegen die in London eingegangenen Verpflichtungen.15 Es kam zu einem Krieg zwischen Preußen und Österreich einerseits und Dänemark andererseits, der 1864 mit einer Niederlage Dänemarks endete. Dänemark trat im Wiener Frieden von 1864 seine Rechte an Schleswig 5
H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 19. D.-E. Khan, Die deutschen Staatsgrenzen, 2004, S. 352. 7 H. Krüger, Schleswig-Holstein, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 3, 2 Aufl. 1962, S. 210. 8 Das entspricht zumindest der ganz herrschenden Meinung, so auch H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 19 und D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 352; H. Krüger (Anm. 7), Schleswig-Holstein, S. 210; Hoog beschreibt demgegenüber das Verhältnis zwischen den Herzogtümern Schleswig und Holstein einerseits und Dänemark andererseits als das eines gegliederten Gesamtstaates, G. Hoog, in: AVR 1996, S. 482 ff. (483). Er begründet dies damit, dass bis 1864 die holsteinischen und schleswigschen Schiffe die allgemeine Handelsflagge des dänischen Gesamtstaates führten, G. Hoog, Deutsches Flaggenrecht, 1982, S. 240. 9 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 352. 10 H. Krüger (Anm. 7), Schleswig-Holstein, S. 210. 11 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 357. 12 H. Krüger (Anm. 7), Schleswig-Holstein, S. 211. 13 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 358. 14 H. Krüger (Anm. 7), Schleswig-Holstein, S. 211; M. Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, Rn. 1863. 15 H. Krüger (Anm. 7), Schleswig-Holstein, S. 211. 6
Volksabstimmung in Schleswig nach dem Ersten Weltkrieg 1920
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und Holstein sowie Lauenburg an Österreich und Preußen gemeinsam ab. Daraufhin verwalteten Preußen und Österreich die Herzogtümer Schleswig und Holstein als völkerrechtliches Kondominium gemeinsam.16 In der Folgezeit nahmen die Verfeindungen zwischen Preußen und Österreich so stark zu, dass es 1866 zum österreichisch-preußischen Krieg kam. Im Prager Frieden vom 23. August 1866 übertrug Österreich seine Rechte an Schleswig und Holstein an Preußen, das sich die Herzogtümer 1867 einverleibte.17 Preußen erlangte durch den Prager Frieden die uneingeschränkte Souveränität über Schleswig und Holstein.18 In der Folgezeit gab es sowohl auf deutscher als auch auf dänischer Seite Pläne, Nord-Schleswig als Tauschobjekt zu benutzen.19 Die Äußerung Bismarcks, NordSchleswig könne einmal ein gutes Trinkgeld abgeben, ist allerdings nicht belegbar.20 Jahrzehntelang diente den Dänen Art. 5 des Prager Friedensvertrags vom 23. August 1866 als Begründung für die Legalität ihrer Ansprüche hinsichtlich NordSchleswigs.21 Dieser Artikel lautet: „Seine Majestät der Kaiser von Österreich überträgt auf Seine Majestät den König von Preußen alle seine im Wiener Frieden vom 30. Oktober 1864 erworbenen Rechte auf die Herzogtümer Holstein und Schleswig mit der Maßgabe, dass die Bevölkerungen der nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollen.“22 Die Aufnahme einer Regelung über eine Volksabstimmung in Schleswig im Prager Friedensvertrag geht auf Kaiser Napoleon III. zurück, der sich die Gunst Dänemarks erhalten und als Friedensvermittler zugunsten kleiner Nationen auftreten wollte.23 Art. 5 des Prager Friedensvertrags bot schon aufgrund seines Wortlauts keinen Anlass dafür, einen echten Vertrag zugunsten Dritter anzunehmen. Denn das hätte Dänemark ein Einmischungsrecht für Nord-Schleswig eingeräumt, was die Vertragskontrahenten Österreich und Preußen gerade nicht wollten.24 Möchte man dennoch Art. 5 Prager Friedensvertrag hinsichtlich der Volksabstimmungsoption als einen Vertrag zugunsten Nord-Schleswigs interpretieren, hätte Nord-Schleswig als Drittbegünstigter aus Art. 5 des Prager Friedensvertrags keine Rechte ableiten können, da die dänische Minderheit kein Völkerrechtssubjekt war und da damals nur Staaten Subjekte des
16
Ebenda. H. Krüger (Anm. 7), Schleswig-Holstein, S. 211. 18 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 364 Fn. 76. 19 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung), S. 62. 20 So H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 62, unter Hinweis auf K. Alnor, Handbuch zur Schleswigschen Frage, Bd. II, 1929, S. 121. 21 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 38. 22 Der Text des Prager Friedensvertrags vom 23. August 1866 ist unter wikisource.org abrufbar. 23 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 42. 24 Ebenda, S. 46. 17
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Völkerrechts sein konnten.25 Im Jahr 1878 vereinbarten Österreich und Preußen eine Revision des Art. 5 Prager Friedensvertrag, und zwar wurden die Worte „mit der Maßgabe, dass die Bevölkerungen der nördlichen Distrikte von Schleswig, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollen“ ersatzlos gestrichen.26 Diese 1878 getroffene preußisch-österreichische Vereinbarung über die Streichung der Volksabstimmungsoption in Nord-Schleswig in der ursprünglichen Fassung des Art. 5 des Prager Friedensvertrags wurde 1907 auch von Dänemark anerkannt. Streng genommen hatte Dänemark auf kein Recht verzichtet, sondern es hatte lediglich anerkannt, dass es nie Rechte aus dem zuvor genannten Artikel des Prager Friedensvertrags ableiten konnte.27 Im Gegenzug versprach Preußen eine mildere Politik in Nord-Schleswig und Dänemark eine Dämpfung der Irredenta.28 Damit war das Thema einer Volksabtstimmung in Nord-Schleswig im Verhältnis zwischen Dänemark und Deutschland an sich endgültig erledigt. Der Erfolg der deutschen Diplomatie hinsichtlich der Aufhebung der Volksabstimmungsklausel in Art. 5 Prager Friedensvertrag hatte allerdings bei den Verhandlungen über den Versailler Vertrag keinen Bestand. Denn die alliierten Siegermächte sorgten mit Dänemark dafür, dass das Thema der Volksabstimmung in Schleswig auf die Tagesordnung kam und Eingang in den Versailler Vertrag fand. Die dänische Seite trug am 21. Februar 1918 in Paris vor, dass die Volksabstimmung in Art. 5 Prager Friedensvertrag zwar beseitigt wurde, jedoch Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts und „Kampfbasis für die Nordschleswiger“ war.29 Der dänische Gesandte in Paris erwähnte allerdings nicht, dass Dänemark gegenüber Deutschland 1907 anerkannt hatte, dass es keine Rechte aus Art. 5 Prager Friedensvertrag ableiten kann.30 III. Die Schleswig-Frage auf der Versailler Friedenskonferenz 1. Allgemeines Im Gefolge der militärischen Niederlage Deutschlands im Herbst 1918 setzte sich auch in Deutschland zögernd die Ansicht durch, dass die Regelung der nord-schleswigschen Grenzfrage aus der Zeit von 1864/66 nur provisorischen Charakter haben könne und dass eine Regelung unter Achtung des Selbstbestimmungsrechts der dänischen Bevölkerung gefunden werden muss.31 Unter Hinweis auf den Kriegsverlauf und auf das von US-Präsident Woodrow Wilson im Februar 1918 proklamierte 25
Ebenda, S. 47. Art. 1 der Vereinbarung vom 13. 4. 1878 ist abgedruckt in: H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 53. 27 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 55. 28 Ebenda. 29 Ebenda, S. 88. 30 Ebenda unter Hinweis auf A. Tardieu, Le Slesvig et la Paix, 1928, S. 13. 31 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 380. 26
Volksabstimmung in Schleswig nach dem Ersten Weltkrieg 1920
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Selbstbestimmungsrecht der Völker32 regte Deutschland im Oktober 1918 eine NordSchleswig Initiative an, und zwar mit dem Ziel, die Schleswig Frage ausschließlich zwischen Deutschland und Dänemark zu regeln.33 Dänemark und namentlich der nord-schleswigsche Reichstagsabgeordnete Hans Peter Hanssen als Vertreter der dänischen Minderheit erkannten allerdings durchaus zutreffend, dass die Verbindung der Schleswig-Frage mit den alliierten Friedenszielen auf der Versailler Friedenskonferenz und die Regelung der deutsch-dänischen Grenze im Rahmen des Versailler Vertrages für Dänemark im Vergleich zu einer bilateralen Regelung mit Deutschland einen Vorteil sichert.34 Der nord-schleswigsche Abgeordnete Hanssen stellte die Nord-Schleswig-Frage auch in eine Verbindungslinie zur elsass-lothringischen und zur deutsch-polnischen Frage.35 Ende 1918 gegründete sich der „Deutsche Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“. Sein Ziel war die Vertretung der deutschen Interessen in Schleswig und die Lösung der Nord-Schleswig-Frage im möglichst deutschen Interesse.36 Am 11. März 1919 protestierte der „Deutsche Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“ „gegen jede Abtretung schleswig-holsteinischen Bodens“ sowie gegen eine Abtretung im Wege des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Schleswig, weil „die Voraussetzungen des Wilson’schen Programms dafür nicht vorliegen“.37 Zu dieser Schlussfolgerung gelangte der „Deutsche Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“, weil er Schleswig als ein Mischgebiet ansah, das als wirtschaftliche und kulturelle Einheit nicht auseinander gerissen werden sollte.38 Wenn eine Volksabstimmung nicht zu vermeiden sei, sollte diese nach Ansicht des „Deutschen Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“ im ganzen ehemaligen Herzogtum Schleswig durchgeführt werden.39 Falls die alliierten Siegermächte in Versailles eine Volksabstimmung auf Nord-Schleswig beschränken würden, sollte nach dem „Deutschen Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“ gemeindeweise abgestimmt werden und die Abstimmung nur dann als für die Abtretung stimmend gezählt werden, wenn zwei Drittel für die Abtretung gestimmt hatten.40 Der „Deutsche Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“ versuchte zwar durch Eingaben und Petitionen direkt bei den Siegermächten sowie durch intensive Pressearbeit auf die öffentliche Meinungsbildung in seinem Sinne einzuwirken, jedoch führten die Bemühungen des Deutschen Ausschusses nicht zu dem gewünschten Ziel.41 32
Siehe hierzu H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 71. D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 381. 34 Ebenda, S. 384. 35 Ebenda, S. 381 Fn. 144. 36 H. D. Lehmann, Der „Deutsche Ausschuss“ und die Abstimmung in Schleswig 1920, 1969, S. 302 ff. 37 Ebenda, S. 32. 38 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 82. 39 H. D. Lehmann (Anm. 36), Abstimmung in Schleswig, S. 32. 40 Ebenda, S. 32 f. 41 Ebenda, S. 76 ff. 33
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Die Dänen und die nicht im „Deutschen Ausschuss für das Herzogtum Schleswig“ mitwirkende SPD42 forderten demgegenüber in Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts ein Recht auf Abstimmung für die Nord-Schleswiger.43 Dänemark war an den Friedensverhandlungen in Versailles hinsichtlich der Schleswig-Frage ein Teilnahmerecht zugestanden worden, von dem es in umfassender Weise Gebrauch machte.44 Demgegenüber wurde Deutschland in das Konferenzgeschehen nicht einbezogen.45 Im Grunde genommen sind die Regelungen des Versailler Vertrags hinsichtlich der Schleswig Frage – wie Ernst Rudolf Huber46 zu Recht meint – ein „Frieden ohne Verhandlungen“. 2. Regelungen des Versailler Vertrags Der Versailler Friedensvertrag wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet. Die verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung erließ ein Zustimmungsgesetz zum Versailler Friedensvertrag, das am 16. Juli 1919 im Reichsgesetzblatt47 verkündet wurde. Völkervertraglich trat der Versailler Friedensvertrag erst mit dem Austausch der Ratifizierungsurkunden am 10. Januar 1920 in Kraft.48 Die Schleswig betreffenden Regelungen befinden sich im Abschnitt XII des Vertrags von Versailles. Es handelt sich um die Art. 109 bis 114. Art. 109 Abs. 1 Versailler Vertrag regelt, dass die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark „in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Bevölkerung festgesetzt“ wird. Zusammengefasst kann man sagen, dass das Gebiet von der deutsch-dänischen Grenze bis zum Fluss Eider vom Versailler Vertrag als national strittig qualifiziert wurde.49 Das strittige Gebiet wurde in zwei Zonen – und nicht wie ursprünglich geplant in drei Zonen – aufgeteilt, nämlich Nord-Schleswig (1. Zone)50 und Mittelschleswig (2. Zone)51. Diese Regelung entspricht den Forderungen Dänemarks und ist wie Daniel-Erasmus Khan52 aufgrund seiner gründlichen Untersuchung zu den deutschen Staatsgrenzen zu Recht hervorhebt, eine machtpolitisch motivierte Entscheidung der Versailler Friedenskonferenz zu Lasten Deutschlands. Denn Art. 109 Versailler Friedensvertrag stellt keine dem Grundsatz 42
Ebenda, S. 25. H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 3), S. 82 unter Hinweis auf K. Alnor, Handbuch zur schleswigschen Frage, Bd. III, 1934, S. 183. 44 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 386. 45 Ebenda. 46 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. V, 1978, S. 1157 f., und auch D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 386. 47 RGBl. 1919, Nr. 140. 48 B. Schwensen/I. Adriansen, Von der deutschen Niederlage zur Teilung Schleswigs 1918 – 1920, S. 20. 49 H. Krüger (Anm. 7), Schleswig-Holstein, S. 211. 50 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 106. 51 Ebenda, S. 107. 52 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 390 f. 43
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des Selbstbestimmungsrechts vollumfänglich Rechnung tragende Regelung dar.53 Sie berücksichtigt nicht, dass eine Bevölkerungsverschiebung in erster Linie die Städte und nicht den ländlichen Raum betraf.54 Ferner ordnete Art. 109 Versailler Vertrag an, dass mit dem Inkrafttreten des Vertrags „die deutschen Truppen und Behörden (einschließlich der Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräte, Amtsvorsteher, Oberbürgermeister)“ das schleswigsche Abstimmungsgebiet zu räumen hatten. Die allgemeine Verwaltungsbefugnis wurde nach Art. 109 Versailler Vertrag einer internationalen Kommission mit dem Namen „Commission Internationale de Surveillance du Plébiscite Slesvig“ – abgekürzt CIS – übertragen.55 Art. 109 Versailler Vertrag legt fest, wer an der Volksabstimmung in Schleswig teilnehmen durfte. Danach galten Personen als stimmberechtigt, die folgende Bedingungen erfüllten: Sie mussten am 10. Januar 1920 das 20. Lebensjahr vollendet haben. Ferner konnte nur abstimmen, wer im Abstimmungsgebiet geboren war oder dort vor dem 1. Januar 1900 Wohnsitz genommen hatte. Darüber hinaus waren auch diejenigen stimmberechtigt, die von deutschen Behörden ohne Beibehaltung des Wohnsitzes ausgewiesen worden waren.56 In Art. 111 Versailler Vertrag wurde festgelegt, dass ein Grenzausschuss mit Stimmenmehrheit die endgültige Grenzlinie zwischen Deutschland und Dänemark auf der Grundlage des Abstimmungsergebnisses festlegt.57 Dem gemeinsamen Grenzausschuss gehörten Vertreter Dänemarks, Deutschlands, des Vereinigten Königreichs, Frankreichs, Italiens und Japans an.58 Nach Art. 111 Abs. 2 Satz 1 Versailler Vertrag konnte der gemeinsame Grenzausschuss mit einfacher Stimmenmehrheit entscheiden. „Seine Entscheidungen sind“ nach Art. 111 Abs. 2 Satz 2 Versailler Vertrag „für die Beteiligten bindend“. Art. 112 und Art. 113 Versailler Vertrag regeln die Staatsangehörigkeit hinsichtlich der Einwohner des an Dänemark zurückfallenden Gebietes. Diese Regelungen erlangten aufgrund der Volksabstimmungsergebnisse eine praktische Relevanz. IV. Hintergründe für die Entstehung der Abstimmungszonen 1. Erste Abstimmungszone Die erste Abstimmungszone erstreckte sich auf das Gebiet Nord-Schleswig (siehe Abb. 1). Es handelt sich hierbei um die damaligen Landkreise Hadersleben, Apenrade, Sonderburg, Tondern (nördlicher Teil), Flensburg (nördlicher Teil). Welcher 53 Ebenda, S. 390 unter Hinweis auf E. Hoffmann, Historische Voraussetzungen für die Herausbildung der heutigen deutsch-dänischen Staatsgrenze, ZSHG 106 (1981), S. 22 f. 54 E. Hoffmann, Historische Voraussetzungen (Anm. 53), S. 22 f. 55 Siehe hierzu: B. Schwensen/I. Adriansen, Von der deutschen Niederlage (Anm. 48), S. 19 ff.; H. D. Lehmann, Abstimmung in Schleswig (Anm. 36), S. 221 ff. 56 B. Schwensen/I. Adriansen, Von der deutschen Niederlage (Anm. 48), S. 28 und Fn. 55. 57 Ebenda, S. 65 ff. 58 K. Alnor, Handbuch zur schleswigschen Frage, Ergänzungsheft, 1934, S. 5.
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Abb. 1: Bennet Schulte (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Abstimmung-schleswig1920.png), „Abstimmung-schleswig-1920“, https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/legal code. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/1/1 f/Abstimmung-schleswig1920.png/640px-Abstimmung-schleswig-1920.png.
Abstimmungszone der Gebietsstreifen mit den Städten Hoyer, Tondern, Rapstedt und Rinkenis zugeordnet werden sollte, war höchst umstritten. Dieser Gebietsstreifenwurde nach der Clausen-Linie Bestandteil der ersten Abstimmungszone (siehe Abb. 2). Der Begriff Clausen-Linie geht auf den dänischen Historiker Hans Victor Clausen zurück. Die Clausen-Linie entsprach etwa der seit der Reformation verlaufenden Grenze zwischen den Gebieten mit deutscher und dänischer Kirchensprache, wobei zu berücksichtigen ist, dass das Dänische und Nordfriesische als Umgangssprachen bis zum Sprachwechsel im 19. Jahrhundert noch weiter nach Süden reichten.59 Im 19. Jahrhundert führte der zunehmende Nationalitätenkonflikt dazu, dass in Teilen Schleswigs einheimische dänische und friesische Dialekte sukzessive vom Hoch- und Niederdeutschen abgelöst wurden.60 Der Sprachwechsel war dem Einfluss des holsteinischen Adels, den wirtschaftlichen Verbindungen nach Süden und der Etablierung des Deutschen als Schul- und Kirchensprache im südlichen Schleswig geschuldet.61 Die Folge dieser Entwicklung war die 59 Volksabstimmung in Schleswig – Clausen- und Tiedje-Linie, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 60 Ebenda. 61 Ebenda.
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Abb. 2: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Tiedje-Linie.svg
Entstehung einer sprachlich-kulturellen Heterogenität, die teilweise bis in die schleswigschen Familien hineinreichte.62 Auf lange Sicht trugen die Pastoren und die Gemeinden in Südschleswig dazu bei, dass sich das Deutsche dort durchsetzte, wo das Dänische einst dominierte.63 Die Clausen-Linie verläuft nahe der Demarkationslinie während der schleswig-holsteinischen Erhebung im Jahr 1849/50 zwischen skandinavischen Truppen einerseits und preußischen Truppen andererseits nördlich von Tondern und südlich von Flensburg.64 Der deutsche Gegenvorschlag für die Bildung der ersten Abstimmungszone ist die Tiedje-Linie. Sie geht auf den Ministerialbeamten, Pfarrer und Landrat von Flensburg Johannes Tiedje zurück. Diese Linie verläuft nördlich der Städte Hoyer, Tondern, Rapstedt, Tingleff und Rinkenis (siehe Abb. 2). Tiedje beabsichtigte mit seinem Vorschlag, dass die deutsche Minderheit in Dänemark und die dänische Minderheit in Deutschland etwa gleich groß in absoluten Zahlen sein sollten.65 Nach der Tiedje-Linie wäre der Gebietsgürtel mit den Städten Hoyer, Tondern und Tingleff bei Deutschland verblieben.66 Aus heutiger Sicht wird gegen die deutsche Forderung nach der Berücksichtigung von 18.000 deutschen Stimmen im nördlichen Grenzgürtel gemäß der Tiedje-Line kritisch angemerkt, dass sie die ungleichmäßige Verteilung der deutschen Stimmen im sogenannten Tiedje-Gürtel nicht hinreichend beach62
Ebenda. L. N. Henningsen, Unter Dänemark, in: L. N. Henningsen (Hrsg.), Zwischen Grenzkonflikt und Grenzfrieden, 2011, S. 23. 64 Volksabstimmung in Schleswig – Clausen- und Tiedje-Linie, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 65 Johannes Tiedje – Tiedje-Linie, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 66 Volksabstimmung in Schleswig – Clausen- und Tiedje-Linie, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 63
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tete.67 Allerdings entsprach die Tiedje-Linie dem kurz vor der Volksabstimmung in Bern 1919 aufgestellten Prinzip der gleichverteilten nationalen Opfer, das ebenso viele Deutsche bei Dänemark wie Dänen bei Deutschland gelassen hätte, nämlich ca. 18.000, was von den Siegermächten in Versailles aber abgelehnt wurde.68 2. Zweite Abstimmungszone Die zweite Abstimmungszone erstreckte sich auf das Gebiet Mittelschleswig (siehe Abb. 1). Es handelt sich dabei um die damaligen Landkreise Tondern (südlicher Teil), Flensburg (südlicher Teil), Husum (nördlicher Teil) und die Stadt Flensburg. Hinsichtlich der territorialen Zuordnung der Stadt Flensburg gab es unterschiedliche Vorstellungen im dänischen Lager. Die dänisch gesinnte Flensburg-Bewegung und die dänisch gesinnte Danewerk-Bewegung wiesen darauf hin, dass die Stadt Flensburg bei der ersten Reichstagswahl 1867 noch eine dänische Mehrheit gehabt habe und man folglich die Stadt Flensburg für Dänemark nicht abschreiben dürfe.69 Denn das würde auf eine Belohnung der 50-jährigen preußischen Beeinflussung und Einwanderung hinauslaufen.70 Der dänisch gesinnte Mittelschleswigsche Ausschuss und die dänisch gesinnte Danewerk-Bewegung wollten verhindern, dass die Stadt Flensburg der Abstimmungszone II zugeschlagen wurde.71 Dieses Ziel sollte nach der Vorstellung der zuvor genannten prodänischen Vereinigungen durch die Forderung nach einer Internationalisierung Flensburgs gemäß Danziger Vorbild erreicht werden.72 Auf diese Weise hoffte man, die Grenzfrage für die Zukunft offen zu halten.73 Die dänisch gesinnte Flensburg-Bewegung favorisierte demgegenüber, Flensburg der Abstimmungszone I zuzuschlagen, weil sie davon ausging, dass aufgrund der allein maßgeblichen zonenweiten Ermittlung des Ergebnisses der Abstimmungen in der 1. Zone Flensburg zu Dänemark gekommen wäre.74 3. Ursprünglich angedachte dritte Abstimmungszone Hinsichtlich der Anzahl der Abstimmungszonen gab es namentlich auf dänischer Seite einerseits und auf französischer Seite andererseits unterschiedliche Auffassun67
B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 48), Von der deutschen Niederlage, S. 37. H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 106 f. 69 R. Rasmussen, Unter Preußen, in: L. N. Henningsen (Hrsg.), Zwischen Grenzkonflikt und Grenzfrieden, 2011, S. 80. 70 Ebenda. 71 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 392 Fn. 177. 72 Ebenda. 73 Ebenda. 74 Die Flensburg-Bewegung, in: http://vimu.info/fb.jsp?id=for_4_5_7_fb_flensborgbevae gelsen_dk_doc&lang=de&u=general&flash=true (aufgerufen am 13. 07. 2021). 68
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gen. Zunächst war vorgesehen, eine dritte Abstimmungszone in den Versailler Vertrag zu verankern.75
Abb. 3: (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:ZoneindelingenSlesvig1920.png), https:// creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode
Diese Zone sollte geographisch bis zu einer Linie Husum-Schlei oder EiderSchlei reichen (siehe Abb. 3).76 Die dänische Regierung war gegen eine 3. Abstimmungszone, weil sie eine sichere Niederlage und eine daraus resultierende moralische Stärke Deutschlands fürchtete.77 Der französische Diplomat und Politiker André Tardieu äußerte, dass für ihn als national denkender Franzose das Verhalten 75
H. Hecker(Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 94 ff. Volksabstimmung in Schleswig – Abstimmung Zone III, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 77 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 94.
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Dänemarks undenkbar sei.78 Im Gefolge einer anderen Meinungsverschiedenheit zwischen dem Briten Lloyd George und dem Franzosen Georges Clemenceau wurde die 3. Abstimmungszone am 14. Juni 1919 innerhalb von fünf Minuten gestrichen, nachdem sie zuvor ein Dreivierteljahr auf dem Papier existiert hatte.79
V. Durchführung der Abstimmungen unter der Internationalen Abstimmungskommission Bereits fünf Tage nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags wurde am 15. Januar 1920 im gesamten Abstimmungsgebiet von Schleswig die Proklamation veröffentlicht, wonach die Internationale Abstimmungskommission mit der Bezeichnung „Commission Internationale de Surveillance du Plébiscite Slesvig“ – CIS – die Verwaltung in dem Abstimmungsgebiet übernimmt80. Der Vorsitzende der Internationalen Abstimmungskommission war der Brite Sir Charles Marling. Die obersten deutschen Behörden und das deutsche Militär verließen aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags das Abstimmungsgebiet.81 Dem Bericht Marlings an den britischen Außenminister Lord George Curzon ist zu entnehmen, dass sich der Übergang von der deutschen Verwaltung auf die Internationale Abstimmungskommission ohne ernste Schwierigkeiten vollzog.82 Anordnungen der Internationalen Abstimmungskommission zur Vorbereitung der Wahlen mussten in dänischer und in deutscher Sprache erfolgen, was in der Regel beachtet wurde.83 Damit die auswärtigen Abstimmungsberechtigten in das Abstimmungsgebiet gelangen konnten, wurden sogar Sonderzüge der Bahn eingesetzt. Die Ankunft der auswärtigen Wahlberechtigten in der Abstimmungszone I stärkte das deutsche Selbstbewusstsein sehr.84 In Hadersleben und Sonderburg kam es wegen der prodänischen Haltung der französischen Besatzungstruppen zu kleineren Zusammenstößen, die die nationale Begeisterung der Deutschen allerdings nicht störte.85 Der Abstimmungstag als solcher verlief sowohl in der 1. Zone86 als auch in der 2. Zone87 überall ruhig. Die deutsche Seite wurde in der 2. Zone intensiv durch Maßnahmen des Deutschen Reichs und durch den nicht besetzten Teil Schleswig-Holsteins unterstützt.88 Zur Besänftigung der dänischen Minderheit wurde von deutscher Seite während des 78
Ebenda, S. 104. Ebenda, S. 105 unter Hinweis auf A. Tardieu (Anm. 30), Le Slesvig et la Paix, S. 255. 80 H. D. Lehmann (Anm. 36), Abstimmung in Schleswig, S. 221. 81 Ebenda. 82 Ebenda, S. 222 unter Hinweis auf British Documents X, Nr. 418, S. 569. 83 Ebenda, S. 222. 84 Ebenda, S. 232 m. w. N. 85 Ebenda, S. 233. 86 Ebenda, S. 234 m. w. N. 87 Ebenda, S. 267 m. w. N. 88 Ebenda, S. 261 m. w. N. 79
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Abstimmungskampfes besonders darauf hingewiesen, dass Schleswig und Holstein möglichst weitgehende Selbständigkeit in Provinzial- und Gemeindeangelegenheiten in den Grenzen der Reichsverfassung erhalten sollen.89 Stellungnahmen Einzelner, die eine völlige Loslösung der früheren Herzogtümer Schleswig und Holstein von Preußen verlangten, wurden allerdings rasch zurückgenommen.90 Der KappPutsch und der am 13. März 1920 einsetzende Generalstreik im Deutschen Reich blieb nicht ganz ohne Auswirkungen auf die Abstimmung in der 2. Zone am 14. März 1920. Aufgrund des lahmgelegten Zugverkehrs konnten etwa 1.500 auswärtige Abstimmungsberechtigte das Abstimmungsgebiet nicht erreichen.91 Der Präsident der Internationalen Abstimmungskommission Marling meldete gleichwohl – nicht zu Unrecht – nach London, dass der Kapp-Putsch keinen nennenswerten Effekt auf das Wahlergebnis hatte.92 VI. Ergebnisse der Volksabstimmungen von 1920 1. Volksabstimmung in Nord-Schleswig (Abstimmungszone I) Zunächst fand in der Abstimmungszone I, also in Nord-Schleswig, am 10. Februar 1920 die Volksabstimmung statt. Hier stimmten insgesamt 74,2 % für Dänemark und 24,9 % für Deutschland.93 Für die Stimmabgabe reisten 28.247 ehemalige Bewohner in die Abstimmungszone I.94 Davon kamen 16.638 aus dem Norden und 11.609 aus dem Süden.95 Von den Besuchern stimmten ca. 62 % für Dänemark und 38 % für Deutschland.96 Rund 7.500 vermutlich vorwiegend deutschgesinnte Bewohner wurden von der Abstimmung ausgeschlossen, weil sie erst ab dem 1. Januar 1900 in das Gebiet gezogen waren.97 Bemerkenswert ist, dass bei der Abstimmung im Gebiet der 1. Zone in den Städten Tondern, Apenrade, und Sonderburg sowie in dem Flecken Hoyer und in weiteren drei Dutzend nord-schleswigschen Gemeinden die Mehrheit für Deutschland stimmte.98 Gemäß Art. 109 Ziffer 3 Versailler Vertrag bestimmte sich allerdings das Wahlergebnis nach der Mehrheit der in der 1. Zone abgegeben Stimmen. Zugespitzt formuliert waren die deutschen Mehrheiten in den zuvor genannten Städten und Ge89
Ebenda, S. 263. Ebenda, S. 263 m. w. N. 91 Ebenda, S. 260. 92 Ebenda, S. 266, unter Hinweis auf British Documents X, Nr. 426, S. 585: Marling an Curzon am 20. 03. 1920. 93 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 106. 94 Volksabstimmung in Schleswig – Abstimmung, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 95 Ebenda. 96 Ebenda. 97 Ebenda. 98 B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 48), Von der deutschen Niederlage, S. 34 f. m. w. N. 90
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meinden nach dem Versailler Vertrag als irrelevant anzusehen, weil die Stimmenmehrheit in der 1. Zone nicht gemeindeweise, sondern zonenweit en bloc zustande kommen musste. Deutschland konnte sich mit der Forderung nach der Aufrechterhaltung der deutschen Souveränität über die mehrheitlich für Deutschland abgestimmten Gebiete in der 1. Zone nicht durchsetzen.99 Folglich musste das gesamte Gebiet der Abstimmungszone I an Dänemark abgetreten werden. Für das schlechte Abschneiden der deutschen Seite wurden die geringen Aktivitäten der deutschen Regierung verantwortlich gemacht, die das negative Abstimmungsergebnis vorausgesehen habe.100 Zudem existierte in der 1. Zone angesichts der dänischen Übermacht eine Niedergeschlagenheit bei der deutschen Bevölkerung.101 2. Volksabstimmung in Mittelschleswig (Abstimmungszone II) Am 14. März 1920 fand die Abstimmung in der Abstimmungszone II, also in Mittelschleswig statt. In dieser Zone wurde gemäß Art. 109 Ziffer 4 Versailler Vertrag das Abstimmungsergebnis gemeindeweise festgestellt. In Mittelschleswig stimmten 80,2 % für Deutschland und 19,8 % für Dänemark.102 In keiner Gemeinde stimmten über 50 % für Dänemark.103 Lediglich in drei winzigen Stimmbezirken auf der Nordseeinsel Föhr (Goting, Utersum und Hedehusum) stimmte jeweils eine Mehrheit für Dänemark.104 Die zuvor genannten Bezirke blieben bei Deutschland, weil sie nicht direkt an der späteren deutsch-dänischen Grenze lagen; vor 1864 waren Goting, Utersum und Hedehusum Teil der dänischen königlichen Enklave Westerland Föhr.105 In der Stadt Flensburg stimmte etwa ein Drittel der Abstimmungsberechtigten für Dänemark, was auf deutscher Seite trotz der großen Freude für das Gesamtergebnis mit Ernüchterung aufgenommen wurde.106 Aber auch die dänische Seite war über die Abstimmungsniederlage in der 2. Zone sehr enttäuscht. Am Tage nach der Abstimmung reiste eine Delegation mit Ernst Christiansen an der Spitze nach Kopenhagen, um trotz des Abstimmungsergebnisses eine Volksabstimmung für die Eingliederung Flensburgs in den dänischen Staat herbeizuführen.107 Die dänische Regierung Zahle II108 stellte allerdings klar, dass sie sich an das Ergebnis der Volksabstimmung hal99 H. Hecker, Schleswig und die Entwicklung (Anm. 3), S. 106 f.; D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 392. 100 H. D. Lehmann (Anm. 36), Abstimmung in Schleswig, S. 239. 101 Ebenda, S. 240. 102 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 392 Fn. 176; B. Schwensen/I. Adriansen (Anm. 48), Von der deutschen Niederlage, S. 35. 103 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 107. 104 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 392 Fn. 177. 105 Utersum – Geschichte, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 106 H. D. Lehmann (Anm. 36), Abstimmung in Schleswig, S. 267 f. 107 R. Rasmussen (Anm. 69), Unter Preußen, S. 85. 108 Benannt nach dem linksliberalen Ministerpräsidenten Carl Theodor Zahle.
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ten wird.109 Kurz darauf stürzte die dänische Regierung Zahle II und es wurden nach mehreren kurzen Interimsregierungen Neuwahlen ausgerufen. Niels Neergaard von den Liberalen wurde nach den Neuwahlen mit Unterstützung von den Konservativen zum neuen Ministerpräsidenten gewählt.110 Auch die Regierung Neergaard fand allerdings keinen Grund, das Abstimmungsergebnis der Abstimmungszone II anzufechten.111 VII. Proteste und Eingaben bei der Internationalen Abstimmungskommission Sowohl die Deutschen als auch die Dänen wandten sich mit Protesten und Eingaben an die Internationale Abstimmungskommission. Die deutsche Seite protestierte erfolglos dagegen, dass die Internationale Abstimmungskommission den Beamten im Abstimmungskampf die politische Tätigkeit untersagte.112 Ferner beklagten sich die Deutschen bei der Internationalen Abstimmungskommission darüber, dass sich die Polizei in Flensburg von dänischen Sympathien leiten lasse.113 Tatsächlich wurde der Polizeipräsident in Flensburg durch einen schwedischen Polizeioffizier ersetzt.114 Auch das Fehlverhalten der französischen Soldaten führte zu Protesten und Eingaben der deutschen Seite bei der Internationalen Kommission. Die französischen Soldaten mussten deshalb am Abstimmungstag in der Kaserne bleiben.115 Die Dänen richteten im Gefolge ihrer Wahlniederlage in der Stadt Flensburg über 300 Protestschreiben an die Internationale Abstimmungskommission, in denen sie sich über Wahlunregelmäßigkeiten und Einschüchterungsversuche beschwerten.116 Das französische Mitglied der Kommission machte sich die dänischen Argumente zu eigen.117 Der Vorsitzende der Internationalen Abstimmungskommission Marling bestritt allerdings die Berechtigung der dänischen Vorwürfe und vertrat die Ansicht, dass die Abstimmungsergebnisse „ziemlich wahrheitsentsprechend“ sind und dass Flensburg wirklich eine deutsche Stadt ist.118
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R. Rasmussen (Anm. 69), Unter Preußen, S. 85. Ebenda, S. 86. 111 Ebenda. 112 H. D. Lehmann (Anm. 36), Abstimmung in Schleswig, S. 244 ff. 113 Ebenda, S. 247. 114 Ebenda, S. 248. 115 Ebenda, S. 251. 116 Ebenda, S. 269. 117 Ebenda, S. 269 f. 118 Ebenda, S. 270, unter Hinweis auf British Documents X, Nr. 429, S. 595 – 597: Marling an Curzon am 02. 04. 1920. 110
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VIII. Die Rechtsfolgen der Volksabstimmungen Deutschland wurde durch Art. 110 Abs. 3 Versailler Vertrag verpflichtet, „endgültig zugunsten der alliierten Hauptmächte auf alle Souveränitätsrechte über die Gebiete Schleswigs zu verzichten, die … nördlich der festgesetzten Grenzlinie liegen“. Diese nördliche Grenzlinie wurde nach Art. 110 Abs. 1, 2. Halbsatz Versailler Vertrag unter Zugrundelegung des Volksabstimmungsergebnisses und unter der Berücksichtigung der „besonderen geographischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Ortschaften“ festgelegt. Die endgültige rechtsverbindliche Grenzfestsetzung war nach Art. 110 Abs. 1, 1. Halbsatz Versailler Vertrag der Entscheidung der alliierten und assoziierten Hauptmächte vorbehalten.119 Während der Zeit vom 16. Januar 1920 bis zum 15. Juni 1920 übte in Nord-Schleswig die Internationale Abstimmungskommission die Hoheit aus.120 Die Ausübung der Souveränität durch die Internationale Kommission in Nord-Schleswig diente dazu, die Übergabe von NordSchleswig an Dänemark vorzubereiten.121 Dänemark konnte aufgrund der Abstimmung in Nord-Schleswig nach Art. 110 Abs. 3 Versailler Vertrag von den Alliierten verlangen, dass die Souveränität auf Dänemark im Wege einer Weiterzession übertragen wird.122 Dies geschah durch den am 5. Juli 1920 abgeschlossenen Zessionsvertrag zwischen Japan, Frankreich, Italien, dem Vereinigten Königreich und Dänemark.123 Die Souveränität hinsichtlich Nord-Schleswigs wurde mit Rückwirkung auf den 15. Juni 1920 auf Dänemark übertragen, um ein rechtliches Vakuum in den deutsch-dänischen Beziehungen zu verhindern.124 In Art. 2 des Zessionsvertrags125 verpflichtete sich Dänemark, das Gebiet Nord-Schleswig nur mit Zustimmung des Völkerbundrats abzutreten. Aufgrund des Ergebnisses der Volksabstimmung in der 2. Zone ist dieser Gebietsabschnitt deutsches Staatsgebiet geblieben. IX. Schlussbetrachtung In der Rückschau ist zu konstatieren, dass die 1920 im Gefolge der Volksabstimmungen in Schleswig vorgenommene Festlegung des Grenzverlaufs zwischen Deutschland und Dänemark bis zum heutigen Tage aktuell ist. Weder während der Zeit der Weimarer Republik noch unter der Herrschaft des NS-Regimes wurde offiziell von deutscher Seite die Forderung einer Grenzrevision gegenüber Dänemark in 119
D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 391. H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 109. 121 Ebenda. 122 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 393. 123 H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 109; D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 393 f. 124 D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 393 f. 125 Abgedruckt in: H. Hecker (Anm. 3), Schleswig und die Entwicklung, S. 110. 120
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formeller Art erhoben.126 Die 1920 festgelegte deutsch-dänische Staatsgrenze ist somit überaus stabil. Die Volksabstimmungen in Schleswig im Jahr 1920 hatten und haben folglich eine befriedende Wirkung. Dass dem so ist, ist auch das Ergebnis eines effektiven Minderheitenschutzes der dänischen Minderheit in Deutschland127 und der deutschen Minderheit in Dänemark.128 X. Zusammenfassung Im Jahr 1920 kam es in Nord- und Mittelschleswig zu getrennten Volksabstimmungen über die Frage, ob das jeweilige Abstimmungsgebiet Dänemark oder dem Deutschen Reich angehören möchte. Obwohl Dänemark nicht am Ersten Weltkrieg beteiligt war, konnte es hauptsächlich mit Unterstützung Frankreichs durchsetzen, dass Deutschland durch den Versailler Friedensvertrag gezwungen wurde, die Volksabstimmungen in Nord- und Mittelschleswig unter der Aufsicht einer Internationalen Abstimmungskommission stattfinden zu lassen. Art. 109 Absatz 1 Versailler Friedensvertrag bestimmt, dass die Grenze zwischen Deutschland und Dänemark „in Übereinstimmung mit dem Wunsche der Bevölkerung festgesetzt“ wird. Hierfür wurden zwei Abstimmungszonen (siehe Abbildung 1) gebildet, in denen jeweils an einem unterschiedlichen Tag eine Volksabstimmung stattfand. Ursprünglich war auch noch eine dritte Abstimmungszone geplant (siehe Abbildung 3). Im Gefolge einer Meinungsverschiedenheit zwischen dem Engländer Lloyd George und dem Franzosen Georges Clemenceau wurde die 3. Abstimmungszone am 14. Juni 1919 innerhalb von 5 Minuten gestrichen, nachdem sie zuvor ein Dreivierteljahr auf dem Papier existiert hatte. Die erste Abstimmung fand am 10. Februar 1920 in der 1. Zone (Nord-Schleswig) statt. 74,2 % stimmten für Dänemark und 24,9 % für Deutschland. Daraufhin wurde das gesamte Gebiet der 1. Zone an Dänemark abgetreten, obwohl in den Städten Tondern, Apenrade, Sonderburg und in etwa drei Dutzend Gemeinden die Mehrheit für Deutschland stimmte. Der Versailler Friedensvertrag begnügte sich damit, dass in der gesamten 1. Zone eine Mehrheit für Dänemark zustande kam. Die zweite Abstimmung fand am 14. März 1920 in der 2. Zone (Mittelschleswig) statt. 80,2 % stimmten für Deutschland und 19,8 % für Dänemark. In der 2. Zone verlangte der Versailler Friedensvertrag, dass in jeder Gemeinde eine Mehrheit der Bevölkerung für den Verbleib beim Deutschen Reich stimmen muss. Das war der Fall. Zu der 2. Zone gehörte auch die bedeutende Stadt Flensburg. Hier stimmte etwa ein Drittel der Bevölkerung für Dänemark. Die Dänen richteten im Gefolge ihrer Wahlniederlage in der Stadt Flensburg über 300 Protestschreiben an die Internationale Ab126
D.-E. Khan (Anm. 6), Staatsgrenzen, S. 397. Siehe hierzu: H. Kremser, Die dänische Minderheit in Deutschland, europa ethnica 2020, S. 149 ff. 128 Siehe hierzu: Deutsche Minderheit in Dänemark, in: Wikipedia-Enzyklopädie. 127
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stimmungskommission, in denen sie sich über Wahlunregelmäßigkeiten und Einschüchterungsversuche beschwerten. Das französische Mitglied der Kommission machte sich die dänischen Argumente zu eigen. Der Vorsitzende der Internationalen Abstimmungskommission war der Brite Sir Charles Marling. Marling bestritt die Berechtigung der dänischen Vorwürfe und vertrat die Ansicht, dass die Abstimmungsergebnisse „ziemlich wahrheitsentsprechend“ sind und dass Flensburg wirklich eine deutsche Stadt ist. Aufgrund des Ergebnisses der Volksabstimmung in der 2. Zone ist dieser Gebietsabschnitt bis zum heutigen Tag deutsches Staatsgebiet. *** Abstract Holger Kremser: Referendum in Schleswig after the First World War 1920 (Volksabstimmung in Schleswig nach dem Ersten Weltkrieg 1920), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 77 – 94. In 1920, separate referendums were held in Northern and Central Schleswig on the question of whether the respective voting area wanted to belong to Denmark or the German Reich. Although Denmark was not involved in the First World War, Germany, mainly with the support of France, was forced by the Versailles Peace Treaty to allow the referendums in Northern and Central Schleswig to take place under the supervision of an International Voting Commission. Article 109(1) of the Versailles Peace Treaty stipulates that the border between Germany and Denmark “shall be fixed according to the will of the people”. To this end, two voting zones (see figure 3) were formed, in each of which a referendum was held on a different day. Originally, a third voting zone was also planned (see figure 3). In the wake of a disagreement between the Englishman Lloyd George and the Frenchman Georges Clemenceau, the 3rd voting zone was cancelled within 5 minutes on 14 June 1919, having previously existed on paper for 3/4 year. The first referendum took place on 10 February 1920 in the 1st zone (North Schleswig). 74.2 % voted for Denmark and 24.9 % for Germany. As a result, the entire area of the 1st Zone was ceded to Denmark, although in the towns of Tønder, Apenrade, Sonderburg and in about three dozen municipalities the majority voted for Germany. The Versailles Peace Treaty was content with a majority for Denmark in the entire 1st Zone. The second vote took place on 14 March 1920 in the 2nd Zone (Central Schleswig). 80.2 % voted for Germany and 19.8 % for Denmark. In the 2nd Zone, the Versailles Peace Treaty required that a majority of the population in each municipality vote for Germany. This was the case. The 2nd Zone also included the important city of Flensburg. Here about a third of the population voted for Denmark. After the defeat in Flensburg, the Danes sent over 300 letters of protest to the International Voting Commission, complaining about voting irregularities and intimidation attempts. The French member of the Commission agreed with the Danish arguments. The chairman of the International Voting Commission was the Englishman Sir Charles Marling. Marling disputed the validity of the Danish accusations and took the view that the voting results were “quite truthful” and that Flensburg was in fact a German town. Due to the result of the vote in the 2nd zone, this part of the territory is still German territory today.
Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen 1920 Von Barbara Kämpfert Um die Volksabstimmung 1920 für West- und Ostpreußen in den Zusammenhang ihrer Zeit zu stellen, ist es sinnvoll, chronologisch zu den Friedensverhandlungen in Paris zurückgehen. Am 18. Januar 1919 begann in Paris die Friedenskonferenz – am Jahrestag der Konstituierung des Deutschen Reiches von 1871, sicherlich ein bewusst gewähltes Datum. Vertreter von 32 Staaten waren anwesend, deutsche Vertreter waren nicht darunter. Die wesentlichen Entscheidungen fielen aber im Kreis von vier Personen. Das waren der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau, der britische Premierminister Lloyd George und der italienische Ministerpräsident Vittorio Orlando, wobei letzterer eher wenig Einfluss gehabt hat und die wesentlichen Absprachen zwischen den drei Erstgenannten getroffen worden sein dürften. Wilsons berühmter 14-PunktePlan vom Januar 1918 bildete die Grundlage der Verhandlungen. Allerdings standen manche Wünsche der beteiligten Staaten im Widerspruch zu diesen Punkten. Wilson selbst war die Gründung des Völkerbundes besonders wichtig.1 Er wollte eine dauerhafte Friedensordnung für Europa erreichen, weit über die Pariser Konferenz hinaus. Dafür war Wilson bereit, an anderen Stellen Kompromisse einzugehen – in der Hoffnung, dass ein Völkerbund künftig anstehende Streitfragen friedlich lösen würde. Häufig wird Wilson vorgeworfen, dass er die europäischen Verhältnisse nicht ausreichend gekannt habe – dass er nicht erkannt habe, dass die anstehenden Fragen in der vorgeschlagenen Weise nicht zu lösen waren. Das mag der Fall gewesen sein, war aber wohl nicht das Hauptproblem. Wichtiger Punkt im Zusammenhang mit den Volksabstimmungen war das geforderte Selbstbestimmungsrecht der Völker bzw. das nationale Selbstbestimmungsrecht. Die im 19. Jahrhundert entstandenen Großreiche wie Österreich-Ungarn, Russland und auch die Türkei bzw. das Osmanische Reich vereinten unter ihrem Dach Menschen aus einer Reihe verschiedener Völker. Auch im Deutschen Reich war das der Fall: Diese Menschen lebten allerdings nicht räumlich getrennt voneinander, sondern meist in Gebieten mit gemischter Bevölkerung. Zu beantworten waren daher die Fragen: Wie geht man damit um? Nach welchen Kriterien etwa trennt man die Ethnien? Wessen Wünschen gibt man nach?
1 K. D. Erdmann, Die Weimarer Republik, in: B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19, 9. Aufl., hrsg. v. H. Grundmann, 1988, S. 99.
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Frankreichs Sicherheitsbedürfnis erforderte einen neuen starken Verbündeten im Osten Europas, der das zerfallene und in den Wirren der Revolution befindliche Russische Reich ersetzen und potenziellen Revanchebestrebungen Deutschlands entgegentreten sollte.2 Das musste Polen sein, das als Staat wiederbegründet werden sollte. Nach dem Wunsch Wilsons, der von George und Clemenceau unterstützt wurde, war Polen auch ein freier und sicherer Zugang zum Meer zu gewähren. Dieser Staat sollte die „von unbestritten polnischer Bevölkerung bewohnten Gebiete einschließen“3. Dabei hielt Lloyd George als Engländer am Gedanken des europäischen Gleichgewichts fest, der im Vereinigten Königreich Tradition hatte4. Deutschland sollte also aus britischer Sicht ein handlungsfähiger Partner bleiben, um eine Vormachtstellung Frankreichs nicht zu sehr zu fördern. Außerdem sollte Europa vor dem Bolschewismus geschützt werden. Deshalb benötigte man den sogenannten „cordon sanitaire“ aus den ostmitteleuropäischen Staaten und deshalb musste auch Deutschland so lebensfähig bleiben, dass die Bevölkerung nicht dem Bolschewismus den Vorzug geben würde.5 Polnische Politiker unter Führung von Roman Dmowski, Leiter der Delegation zur Friedenskonferenz, hatten sich im Zuge der Verhandlungen für die Zugehörigkeit Danzigs, Westpreußens, der Provinz Posen, Masurens und Oberschlesiens zum polnischen Staat eingesetzt. Auch die Zugehörigkeit des übrigen Ostpreußens zum Reich wurde in Frage gestellt.6 Die ethnische Problematik dürfte den beteiligten polnischen Politikern dabei überwiegend bewusst gewesen sein genau wie die wirtschaftliche und kulturelle Zugehörigkeit der betroffenen Regionen. Der Danziger Hafen war aber natürlich von großem wirtschaftlichem Interesse für Polen. Diese gegensätzlichen Interessen konnten nur durch Kompromisse ausgeglichen werden. Die Staaten Ostmitteleuropas sollten auf der einen Seite Europa vor dem Bolschewismus schützen, auf der anderen Seite Deutschland „in Schach“ halten7. Dazu wurden zwischen Deutschland und diesen ostmitteleuropäischen Staaten im Grunde planmäßig Gegensätze geschaffen. Ob diese Staaten überhaupt die Chance hatten, ihrer zugedachten Rolle gerecht zu werden, darf man bezweifeln.
2 Vgl. H.-W. Rautenberg, Ost- und westpreußische Volksabstimmung vom 11. Juli 1920, in: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Ostdeutsche Gedenktage 1995, 1994, S. 303 ff. Auch auf: www.kulturstiftung.org, Zeitstrahl, 11. Juli 1920 (Fassung 4. 7. 2021). 3 H. G. Marzian, Selbstbestimmung für Ostdeutschland. Eine Dokumentation zum 50. Jahrestag, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), 1970, S. 16. 4 K. D. Erdmann (Anm. 1), in: B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19, S. 100. 5 K. D. Erdmann (Anm. 1), in: B. Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19, S. 101. 6 H. G. Marzian (Anm. 3), Selbstbestimmung für Ostdeutschland. Eine Dokumentation zum 50. Jahrestag, in: Göttinger Arbeitskreis (Hrsg.), S. 17. 7 K. D. Erdmann (Anm. 1), in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 19, S. 102.
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Im Mai 1919 wurden die Bedingungen für den Frieden der deutschen Delegation übergeben und anschließend öffentlich bekannt gemacht. Es interessiert dabei natürlich die Festlegung der Grenzen bzw. die Abtrennung einiger Gebiete vom Deutschen Reich. Im Osten fiel das Memelgebiet, das nördlichste Ostpreußen, an die Staaten der Entente. Bis 1923 stand es dann unter französischer Besatzung, im Januar 1923 besetzten die Litauer das Gebiet, im März 1924 erkannte die Entente die litauische Oberhoheit an und sicherte im Memelstatut dem überwiegend deutsch bewohnten Land eine autonome Verwaltung. Den größeren Teil der Provinz Westpreußen, sozusagen die Mitte, und den größeren Teil der Provinz Posen sowie einen Teil des ostpreußischen Kreises Neidenburg um Soldau erhielt Polen. Das überwiegend deutsch bewohnte Soldauer Gebiet war wegen der Eisenbahnlinien für Polen wichtig. Im betroffenen Teil Westpreußens war die Bevölkerung etwas stärker gemischt, ein einheitliches Ergebnis für Polen im Falle einer Abstimmung wäre aber nicht sicher gewesen und ein durchgehender Zugang zum Meer für Polen damit ebenfalls nicht. Dieser war so nordwestlich von Danzig möglich, dort entstand später der Hafen Gdingen, polnisch Gdynia. Danzig wurde – auf Einspruch des britischen Premiers George, wegen seiner deutschen Bevölkerung – entgegen den Wünschen Polens eine Freie Stadt unter einem Hohen Kommissar des Völkerbunds. Polen erhielt dort umfangreiche Rechte, im Hafen, an Eisenbahn und Wasserwegen, bei der Zollhoheit und der außenpolitischen Vertretung, und damit sozusagen noch einmal den versprochenen Zugang zum Meer. Dabei entsprach der Wasserweg über die Weichsel zur Ostsee dem über Jahrhunderte entstandenen und genutzten Handelsweg. Die drei westlichen Kreise Westpreußens Deutsch Krone, Flatow und Schlochau blieben beim Deutschen Reich. Zunächst gehörten sie zur Provinz Pommern, später wurde mit einigen Posener Kreisen die neue Provinz Grenzmark Posen-Westpreußen gebildet. Schließlich sollten Abstimmungen über die Zugehörigkeit von Gebieten im südlichen Ostpreußen bzw. Masuren und im östlichen Westpreußen jenseits der Weichsel entscheiden. Die Protestwelle, die nach den Bekanntmachungen durch Deutschland lief, konnte die Unterzeichnung des Vertrages nicht verhindern, da bei Nicht-Unterzeichnung die Weiterführung des Krieges angedroht wurde. Die Unterzeichnung erfolgte am 28. Juni 1919. Am 9. Januar 1920 unterzeichneten zwei Vertreter Deutschlands und Polens einen Vertrag über die Durchführung der Volksabstimmung. In 15 Kreisen West- und Ostpreußens sollte über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder Polen abgestimmt werden, genauer gesagt: über die Zugehörigkeit zu Ostpreußen oder Polen. Eine Abstimmungskommission setzte als Termin den 11. Juli 1920 fest. Jede Gemeinde bildete dafür einen Wahlbezirk, in jedem Wahlbezirk gab es einen Abstimmungsausschuss
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aus je zwei Deutschen und zwei Polen, unter alliierter Kontrolle. Stimmberechtigt waren Personen über 20 Jahre, - die im Abstimmungsgebiet geboren waren und dort wohnten, - die dort geboren waren und nicht dort wohnten, - die dort nicht geboren waren, aber seit dem 1. Januar 1905 dort wohnten. Deutsches Militär und deutsche Behörden bzw. die obersten Beamten wie etwa der Regierungspräsident mussten das Abstimmungsgebiet bis zum 5. Februar verlassen. Die Grenze zum restlichen Ostpreußen wurde geschlossen, für die Ein- und Ausreise brauchte man einen Pass. Das Abstimmungsgebiet wurde in die Bezirke Allenstein und Marienwerder geteilt und je einem Ausschuss von fünf Mitgliedern der Alliierten unterstellt; sie wurden als Interalliierte Kommissionen bezeichnet, die jeweils in den genannten Städten ihren Sitz hatten. Diese Kommissionen hatten die Befugnis zur Verwaltung, sollten die Abstimmung durchführen und die sichere Stimmabgabe gewährleisten (Versailler Vertrag, Abschnitt IX, Art. 958). Es waren in Marienwerder in dieser Kommission z. B. zwei Italiener, ein Franzose, ein Brite und ein Japaner. Außerdem rückte britisches und italienisches Militär ein. Es gab zwei deutsche Kommissare, die den Kontakt zwischen alliierter Kommission und deutscher Verwaltung halten sollten, Wilhelm Freiherr v. Gayl in Allenstein und Regierungsrat Hans Kutter bzw. später Theodor Christian Graf von Baudissin in Marienwerder, zuvor Landrat im Kreis Neustadt in Westpreußen.9 Dazu sollten sie die Interessen der deutschen Bevölkerung vertreten, Kontakte zu den deutschen Behörden halten und die Beeinflussung der Abstimmung verhindern. In Masuren gründeten sich nach Bekanntwerden der Versailler Bestimmungen zügig verschiedene Gruppen zur Abwehr der polnischen Wünsche, die im Juli 1919 den Masuren- und Ermländerbund unter Leitung von Max Worgitzki bildeten.10 Zur Unterstützung wurden die Ostdeutschen Nachrichten begründet. Schnell entstanden in fast jedem Ort Heimatvereine, so dass der Bund im Juni 1920 bereits 225.000 Mitglieder hatte.11 Auch auf polnischer Seite entstanden patriotische Vereinigungen. In Warschau etwa wurden das Masurische und das Ermländische Abstimmungskomitee gebildet. Sie erhielten Geld von der Regierung und führten zunächst Schulungen für Agitatoren durch12. Besonders erfolgreich waren sie nicht, da das fragliche Gebiet überwie8 Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen/Bayern (Hrsg.), Die Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen am 11. Juli 1920, 2010, S. 25. 9 B. Schumacher, Geschichte Ost- und Westpreußens. 6. Aufl., 1977, S. 299. 10 Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen/Bayern (Anm. 8), Die Volksabstimmung in Ostund Westpreußen, S. 32. 11 Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen/Bayern (Anm. 8), Die Volksabstimmung in Ostund Westpreußen, S. 32. 12 Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen/Bayern (Anm. 8), Die Volksabstimmung in Ostund Westpreußen, S. 39.
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gend deutsch geprägt war. Außerdem führte Polen zu der Zeit Krieg mit der Sowjetunion, so dass die Politik sich vor allem mit Kriegsfragen und der Stabilität des Landes beschäftigte. In Westpreußen war die polnische Nationalbewegung stärker. Hier lebten polnische Adelsfamilien, die die Bewegung unterstützten, wie Graf Stanislaw von Sierakowski und seine Frau Helena, die polnische Kindergärten und Schulen gründeten. Polnische Heimatorganisationen entstanden und hielten Kundgebungen ab. In Stuhm fand am 13. Mai 1920 der Polnische Tag statt, mit Festumzug und ca. 2500 Teilnehmern.13 Vier Tage später, am 17. Mai 1920, fand in Stuhm der Deutsche Tag statt, mit ca. 12.000 Teilnehmern, denn natürlich gab es auch hier deutsche Organisationen – alle bemühten sich, ihre Anhänger zur Abstimmung zu mobilisieren. Etwa 35.000 Deutsche versammelten sich am 10. Juni in Marienburg. Deutsche Kundgebungen fanden in fast allen größeren Orten des Abstimmungsgebiets statt. Es gab Trachtenumzüge, Sportveranstaltungen und Jahrmärkte. So sollte der deutsche Charakter des Landes gezeigt werden. Eine anspruchsvolle Aufgabe dürfte es gewesen sein, die Anreise der Stimmberechtigten aus dem übrigen Reichsgebiet zu organisieren, die z. B. wegen Ausbildung, Studium, Heirat oder Arbeitsplatz umgezogen waren. Über 160.000 Personen reisten bis zum 11. Juli ins Abstimmungsgebiet, da vor Ort abgestimmt werden musste. Nicht alle Reisewilligen konnten reisen, die Kapazitäten reichten nicht aus.14 Circa 7500 Menschen reisten z. B. allein aus Gelsenkirchen nach Ost- und Westpreußen.15 Vorbereitet wurden diese Reisen von eigens gegründeten Arbeitsgemeinschaften. Kostenlos war die Anreise mit dem Seedienst Ostpreußen, der Ende Januar 1920 den Betrieb aufgenommen hatte. Von Häfen an der westlicheren Ostseeküste, Swinemünde z. B., brachten Schiffe Tausende von Menschen nach Pillau, von dort fuhren sie mit Zügen in ihre Heimatorte. Zusätzlich fuhren auf dem Landweg Sonderzüge aus dem Reichsgebiet nach Ostpreußen. Dafür benötigte man übrigens mehrere Erlaubnis-Scheine oder -Stempel für den Transit durch das dazwischenliegende polnische Gebiet oder die Einreise in das Abstimmungsgebiet. Dabei traten Schwierigkeiten auf: Die Bahnlinien durch Polen bzw. das nun polnische Gebiet Westpreußens – den sogen. Korridor – wurden zum Teil gesperrt oder Zügen mit Wählern die Durchfahrt verweigert. Aufgrund dieser Hindernisse reisten die meisten mit dem Schiff. Zudem wurde eine Art Luftbrücke eingerichtet, Flüge gingen von Stolp nach Elbing, wo nicht abgestimmt wurde – Elbing sollte künftig aber auch zu Ostpreußen gehören, jedenfalls der größere, östlich der Nogat gelegene Teil des Kreises. Die Flüge mussten aber bald 13
Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen/Bayern (Anm. 8), Die Volksabstimmung in Ostund Westpreußen, S. 45. 14 H.-J. Schuch, Rückblick nach 80 Jahren. Historische Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen, in: Der Westpreuße, 13/2000, S. 4 ff. Auch: www.thorn-wpr.de. 15 H.-J. Schuch (Anm. 14), in: Der Westpreuße, 13/2000, S. 4 ff. Auch: www.thorn-wpr.de.
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wieder eingestellt werden, da sie über polnischem Staatsgebiet bzw. Korridorgebiet beschossen wurden und ein Flugzeug abstürzte.16 Zahlreiche private Unterstützer, aber auch etwa das Deutsche Rote Kreuz versorgten die Anreisenden mit Essen, sorgten für Musik zur Unterhaltung auf den Bahnhöfen oder brachten die Menschen mit Pferd und Wagen in ihre Heimatdörfer. Am Abstimmungstag waren Straßen und Plätze in den betroffenen Orten in den Farben des Deutschen Reiches geschmückt. Auch wenn die meisten Einwohner mit dem Verbleib des südlichen Ostpreußens beim Deutschen Reich rechneten, war die Erleichterung groß, nachdem am Abend die ersten Ergebnisse bekannt geworden waren, nicht nur im Abstimmungsgebiet, auch in Berlin. Noch in der Nacht fanden Fackelzüge u. ä. statt; man demonstrierte so der deutschen und der internationalen Presse das Ergebnis. In Ostpreußen stimmten insgesamt 97,5 % für Deutschland, in Westpreußen, wo die Ergebnisse offensichtlich gemeindeweise erfasst wurden, 92,4 %.17 Natürlich waren die Polen im Abstimmungsgebiet und auch die Öffentlichkeit in Polen enttäuscht von dem Ergebnis. Man hatte die Chancen zuvor deutlich falsch eingeschätzt. Das südliche Ostpreußen hatte über Jahrhunderte erst zum Ordensstaat, dann zu Preußen und schließlich zu Deutschland gehört – zu eindeutig war offensichtlich die Prägung der Einwohner. Auch etliche der polnisch-sprachigen Personen stimmten für Deutschland, die Sprache war nicht zwingend mit dem nationalen Bewusstsein gleichzusetzen. Viele der evangelischen Masuren fühlten sich wohl auch dem katholischen Polen nicht verbunden. Und die aus dem Reich, vor allem aus dem Ruhrgebiet, angereisten Menschen hatten – anders als von der Polnischen Delegation erhofft, die deren Stimmrecht gefordert hatte – ebenfalls überwiegend nicht für Polen gestimmt. Allerdings hätte ihre Zahl nicht ausgereicht, das Ergebnis zu ändern. In einigen Dörfern hatte es allerdings eine Mehrheit für Polen gegeben. Diejenigen davon, die im Grenzgebiet lagen, mussten auf Anweisung des Obersten Rates in Paris an Polen abgetreten werden.18 Es waren drei an der Grenze gelegene Dörfer in Ostpreußen und fünf Weichselanrainerdörfer in Westpreußen, dazu wurde bestimmt, dass der Hafen von Kurzebrack und der Brückenkopf der Münsterwalder Eisenbahnbrücke abzutreten seien. Außerdem sollte die Grenze unüblich und anders als zuvor festgehalten nicht in der Strommitte der Weichsel verlaufen, sondern auf deren rechtem Ufer, westlich der Deiche. Das hieß auch, da mancherorts zwei Deiche vorhanden waren, dass die Grenzlinie mehrfach die Deichlinie querte und einen einheitlichen Deichschutz unmöglich machte. Ostpreußens Zugang zur Weichsel bestand damit aus einem wenige Meter breiten Streifen bei Kurzebrack, der durch Schlagbaum und Grenzposten abgetrennt war. 16
H.-J. Schuch (Anm. 14), in: Der Westpreuße, 13/2000, S. 4 ff. Auch: www.thorn-wpr.de. Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen/Bayern (Anm. 8), Die Volksabstimmung in Ostund Westpreußen, S. 70. 18 Kulturzentrum Ostpreußen in Ellingen/Bayern (Anm. 8), Die Volksabstimmung in Ostund Westpreußen, S. 73. 17
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Insgesamt aber sprach am 12. August die Botschafterkonferenz in Paris das Gebiet der Abstimmungen Deutschland zu.19 Die Interalliierte Kommission übergab das Abstimmungsgebiet wieder der deutschen Verwaltung, in Allenstein am 16. August 1920, die Besatzungstruppen rückten ab. Truppen der Reichswehr rückten am 18. August in Allenstein ein. Später wurden in mehreren Orten große Denkmäler zur Erinnerung an die Abstimmung errichtet, so in Marienburg, Allenstein und auf dem Weißen Berg am Dreiländereck. Gedenksteine wurden fast in allen Orten aufgestellt. Im Reichsgebiet wurden Vereine heimattreuer Ost- und Westpreußen gegründet. Außerdem wurden allerlei kleinere Andenken verkauft wie Abzeichen, Aschenbecher, Sammeltassen. Etliche Personen wurden für ihren Einsatz ausgezeichnet. Das zeigt uns heute noch, wie sehr die Abstimmung die Menschen aufgewühlt hatte, wie sehr die Einzelheiten der Grenzziehung als Ungerechtigkeit empfunden wurden. In Presse und Politik wurden die Ergebnisse noch lange diskutiert, auch die Frage, ob diese Abstimmung überhaupt notwendig gewesen war – zu deutlich war die Zustimmung zu Deutschland ausgefallen. Eine Berliner Zeitung spottete z. B., dass eine solche Abstimmung in Berlin sicher anders ausgehen würde als im Kreis Johannisburg in Ostpreußen, in dem mit 100 % für Deutschland gestimmt worden war. Das Abstimmungsergebnis warf auch erneut die Frage auf, wie wahrscheinlich in den ohne Abstimmung vom Deutschen Reich getrennten Gebieten eine Abstimmung eine Mehrheit für Deutschland ergeben hätte und so erschienen die Bestimmungen von Versailles umso unverständlicher und ungerechter. In Zeitungen und Büchern wurde immer wieder auf Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten hingewiesen bzw. Korrekturen angemahnt, nicht nur in Deutschland, auch im Ausland. Die neuen Grenzziehungen und besonders die Einrichtung des Korridors blieben hier nicht unbeachtet. Zahlreiche Kommentare zur Lage wurden den Friedensmächten übermittelt. Frederik Lienfeld, Mitglied des englischen Unterhauses, kritisierte beispielsweise im Februar 1928 in einem Artikel in der amerikanischen Zeitschrift „Current History“ die Grenzziehung mit dem Korridor aus wirtschaftlichen Gründen und bezeichnete sie auch als mögliche Ursache eines neuen Kriegs.20 Lienfeld, der das Korridorgebiet selbst bereiste, führte detailliert einige Beispiele für unsinnige Maßnahmen auf, u. a. die um 1900 errichtete Weichselbrücke von Münsterwalde bei Marienwerder, die in gesamter Länge an Polen abgegeben werden musste. Der Bahnverkehr wurde eingestellt, die Brücke wurde vorübergehend für Wagen- und Fußgängerverkehr genutzt, dann wurde sie abgetragen (und bei Thorn wieder aufgebaut). Auch sah er Probleme für die Schifffahrt auf der Weichsel und beim Hochwasserschutz – für deutsche und für polnische Flussanrainer.21 19
B. Schumacher (Anm. 9), Geschichte Ost- und Westpreußens, S. 300. H. Dombrowski, Fort mit dem Weichselkorridor!, 1930, S. 4 – 6. 21 H. Dombrowski (Anm. 20), S. 7.
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Bücher wie „The Polish Corridor and the Consequences“ von Robert Donald 1929 beschäftigten sich mit dem Problem, das vor allem in der britischen Presse breit diskutiert wurde. Besonders hier waren die Befürchtungen groß, durch die Maßnahmen einen neuen Krieg zu verursachen. Auch englische Parlamentsmitglieder bereisten das Weichselland. In einem Artikel für den „Daily Express“ kritisierten sie ebenso die Auswirkungen der Grenzziehung. In der englischen Presse wurde immer wieder die Grenzziehung als Kriegsursache in der Zukunft geradezu beschworen. Dieselbe Gefahr sahen auch US-amerikanische Politiker, die die Region bereisten.22 Ihnen ging es dabei u. a. um den Freistaat Danzig, der wahrscheinlich ohne finanzielle Zuschüsse nicht würde überleben können. Amerikanische Journalisten sorgten für die Diskussion dieses Punktes in der heimischen Presse. Und auch französische Publizisten kritisierten den Korridor und beschäftigen sich mit den Bevölkerungsverhältnissen; sie diskutierten beispielsweise die Einreisebestimmungen – z. B. mehrere Visa für Danzig. Die italienische Presse schloss sich diesen Ansichten an.23 Alle waren sich einig in dem Wunsch, die Weichsel besonders aus wirtschaftlichen Gründen schiffbar zu halten. Sie kritisierten, es sei unsinnig, wie Ostpreußen vom Fluss abgeschnitten sei, da die Grenze unüblich am Flussufer verlief. Dadurch würden z. B. bei Hochwasser Polen zugesprochene Dörfer von Polen abgeschnitten. Zusammenfassend heißt das, dass die Probleme der Grenzziehung und die damit verbundenen Schwierigkeiten, wie etwa die neu entstandenen Minderheiten, und wirtschaftliche Fragen nicht unbeachtet blieben. Im Gegenteil waren sie einer gewissen europäischen und US-amerikanischen Öffentlichkeit bewusst, die zudem davon ausging, dass Deutschland auf die Revision etlicher Regelungen hinarbeiten müsse. Zugleich aber war man sich auch bewusst, dass Verhandlungen über Revisionen zu Streitigkeiten zwischen den Siegermächten führen würden: Die USA hatten sich aus Europa nahezu zurückgezogen, das Vereinigte Königreich mahnte Korrekturen an, um einem erneuten Krieg vorzubeugen, Frankreich lehnte solche Korrekturen ab, hielt die getroffenen Maßnahmen gar für zu schwach, um einer erneuten Kriegsgefahr zu begegnen. Man war sich aber wohl auch bewusst, dass im Grunde keine Regelungen möglich waren, die Deutschland und Polen zugleich zufrieden stellen würden. Hatten die Pariser Friedensverhandlungen noch mit der Vorstellung begonnen, Krieg dauerhaft aus Europa fernzuhalten, so war der Wille zum konstruktiven Neubeginn nach dem Ersten Weltkrieg nicht stark genug, um entsprechende Lösungen zu finden. Wenn auch die Hohen Kommissare des Völkerbunds in Danzig sich vielfach mit Streitfragen zwischen Polen und Danzig befassten und sich bemühten, Lösungen zu vermitteln, so konnte der zum Lösen strittiger Fragen gegründete Völkerbund in 22 23
H. Dombrowski (Anm. 20), S. 14. H. Dombrowski (Anm. 20), S. 27.
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Bezug auf die hier geschilderten Probleme jedenfalls keine Lösung bieten – die Frage bleibt, wie weit die europäische Politik in den 1920er und Anfang der 1930er Jahre überhaupt in der Lage gewesen wäre, eine Lösung herbeizuführen. Die Frage, wie man in Gebieten mit ethnisch gemischter Bevölkerung mit dem Selbstbestimmungsrecht umgeht, das heute, anders als damals, fest im Völkerrecht verankert ist, haben wir jedenfalls bis heute nur in wenigen dieser Regionen zufriedenstellend beantworten können. *** Abstract Barbara Kämpfert: Referendum in East and West Prussia 1920 (Volksabstimmung in Ostund Westpreußen 1920), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 95 – 105. The negotiations for a treaty of peace starting in Paris in January 1919 were based on the Fourteen Points of US-President Woodrow Wilson, which concerned also redrawing the boundaries of European nations. The new boundaries should reflect the right of self-determination. Most important to Wilson was the creation of a League of Nations, which would in future settle disputes between nations. In many parts of Europe people of different nationalities lived mixed together and it was difficult to decide how to separate them. Moreover the interests of the British and the French premier contradicted each other. France wanted to weaken Germany and needed an ally in Eastern Europe: This had to be the new Poland as the Russian Empire suffered from the revolution. Great Britain favored a balance between the European powers, for which Germany had to be a counterweight to France. The Polish delegation, led by Roman Dmowski, demanded the German Empire‘s territories of Danzig (pol. Gdan´sk), West Prussia, the province of Posen, Masuria and Upper Silesia. Therefore compromises were necessary and conflicts between Germany and the new states in Eastern European were created. The League of Nations was expected to solve them. The clauses for peace, handed over to Germany in May 1919, included the ceding of the northernmost part of East Prussia, the middle part of West Prussia (which gave Poland access to the sea according to one of Wilson’s Points), the greater part of the province of Posen, a southern part of East Prussia around Soldau because of a railway line. After the objections of the British Prime Minister Danzig (pol. Gdan´sk) and the delta of the river Vistula was to become a Free City, where Poland gained several rights. The western part of West Prussia remained German. A referendum was to decide about the sovereignty of the Eastern part of West Prussia and the south of East Prussia (Masuria; and later also about Upper Silesia). This meant, that East Prussia would be separated from the Western territories of Germany. A treaty settled the regulations. The referendum had to take place under Inter-Allied control on July 11th 1920. Two commissions were built for the two referendum areas of Allenstein (pol. Olsztyn) and Marienwerder (pol. Kwidzyn). They consisted of members from Italy, France, Britain and Japan, had administration powers and were to arrange the referendum. German administration and army had to leave the areas. Troops of the Allies moved in.
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In Masuria and elsewhere German and Polish associations were built to support campaigns for East Prussia (Germany) or Poland. The Polish campaign was not so successful in Masuria as Poland was in war with Russia at that time and as Masuria‘s attitude was mainly German. In West Prussia the polish national movement was more successful. There were German and Polish demonstrations for example in Stuhm (pol. Sztum) in West Prussia with 2500 participants for Poland on May 13th and for Germany on May 17th with 12.000 participants. German demonstrations were held in nearly every town to show the German character of the country. A problem was the organization of the journey of more than 160.000 voters into the two referendum areas: They had to vote there, but lived, for reasons of job, marriage a. o. in the western parts of Germany. The journey by train lead through the new Poland and met often obstacles like closed routes. Moreover it needed a lot of paperwork. So most people travelled by ship, for which the so-called “Seedienst Ostpreußen” was established. The result of the referendum was 97, 5 % for East Prussia / Germany in the area of Allenstein and 92, 4 % in the area of Marienwerder. In some villages there was a majority for Poland: If they were situated along the borderline they had to be ceded to Poland (eight villages). Unusually the border was to be on the right bank of the Vistula, not in the middle. This caused some problems with the care for the dykes and it meant, that East Prussia had only some meters access to the river. But most of the referendum area remained German and was given back to the German administration in August. Later monuments were erected and souvenirs sold, which shows us still today, how troubled people felt about the referendum and the other decisions of the Paris Conference. Politicians and journalists debated for years about the decisions concerning East and West Prussia (and others, of course). Corrections were demanded, not only in Germany, but also in other countries. Some of the decisions like the borderline at the Vistula were feared to be reason of a further war. Especially British politicians were interested in this question. American politicians occupied themselves more with the problem of the Free City (Danzig/Gdan´sk) and if it could exist in its circumstances. So the public was partly aware of the problems of borderlines, minorities and economy. But it was also aware of the fact, that correcting the decisions would mean risk new conflicts between the former Allies. Even if they had wanted to withdraw further wars from Europe by the decisions of the Paris Conference, they were not able to realize this wish. The League of Nations did not offer solutions. But still today it is difficult to realize the use of the right of self-determination.
Weiterführende Literatur W. Hubatsch, Die Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen 1920, 1980. B. Jähnig (Hrsg.), Volksabstimmung 1920. Voraussetzungen, Verlauf und Folgen. Tagungsberichte der Historischen Kommission 17, 2002.
Zeitzeugenbericht (LeMo) www.dhm.de/lemo/Zeitzeuge/dr-siegfried-g-lion-volksabstimmung-in-ostpreußen-1920.
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Abbildungen von Fotos, Plakaten, Handzetteln, Abzeichen, Fahrplänen, Liedertexten, Zeitungsartikeln, Notgeld u.v.m. V. Schmidt/W. Freyberg, Die Volksabstimmung in Ost- und Westpreußen 1920. Hrsg. Landsmannschaft Ostpreußen. Hamburg 1990. https://ostpreussen.de/uploads/media/Die_Volksabstimmung_am_11._Juli_1920_in_Ost-_und_ Westpreussen.pdf.
Die Volksabstimmung 1921 und die Teilung Oberschlesiens Von Karsten Eichner Es war ein völkerrechtliches Novum, ein internationaler Großversuch ohne vergleichbares Vorbild: Nicht die Staatenlenker am Verhandlungstisch, sondern die Bevölkerung selbst sollte zum ersten Mal in der Geschichte über ihr Schicksal und über ihre künftige staatliche Zugehörigkeit entscheiden. Und das kurz nach Ende des blutigen Ersten Weltkriegs in einer industriellen Schlüsselregion im Herzen Europas – in Oberschlesien. Rund 1,2 Millionen Oberschlesier – Frauen wie Männer – durften im März 1921 in einer freien und geheimen Abstimmung darüber abstimmen, in welchem Staat sie künftig leben wollten: in Deutschland oder in Polen.1 Die Grundlage dafür – nämlich das freie Selbstbestimmungsrecht der Völker – leitete sich aus den bekannten „14 Punkten“ des US-Präsidenten Woodrow Wilson ab. Doch wie kam es überhaupt dazu, dass der oberschlesischen Bevölkerung tatsächlich dieses Entscheidungsrecht zugestanden wurde, ähnlich wie in anderen umstrittenen Grenzgebieten des Deutschen Reiches? Und welche Folgen ergaben sich daraus für die internationalen Beziehungen und das fragile europäische Sicherheitsgefüge nach dem Ersten Weltkrieg? Was in den anderen, deutlich kleineren und wirtschaftlich weniger wichtigen Grenzabstimmungen etwa in Schleswig, Allenstein und Marienwerder trotz einzelner Konflikte weitgehend reibungslos und friedlich verlief, geriet im hart umkämpften oberschlesischen Industriegebiet – dem wirtschaftlich wichtigen „zweiten Ruhrgebiet“ des Deutschen Reiches – zum langwierigen und blutigen Debakel und führte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Wie aber konnte es überhaupt so weit kommen? Der vorliegende Beitrag zeigt, wie die Oberschlesienfrage schon von Beginn an Spielball der hohen Politik war und es im Folgenden immer stärker wurde. Insbesondere die konträren britischen und französischen Nachkriegsinteressen in Europa 1 Dieser Beitrag beruht auf den Ergebnissen der Dissertation des Autors, die 2002 unter dem Titel „Briten, Franzosen und Italiener in Oberschlesien 1920 – 1922. Die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission im Spiegel der britischen Akten“ im Verlag Scripta Mercaturae, St. Katharinen, als Beiheft XIII zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau erschienen ist, sowie auf einem Würzburger Tagungsbeitrag zur Volksabstimmung aus dem Jahr 2004.
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führten dazu, dass das Ergebnis der freien Willenskundgebung der Bevölkerung in die Mühlen der internationalen Politik und Diplomatie geriet.2 Dabei ist auffällig, dass Oberschlesien überhaupt erst sehr spät in den Blickpunkt britischer Politik geriet, dann jedoch umso eindrücklicher. Doch im Gegensatz zu Paris verfolgte London in Oberschlesien keine geradlinige und konsequente Politik: Zwar hoffte man durchgängig auf ein Fair Play, war aber kaum bereit, dies auch mit nachdrücklich eigenen Mitteln durchzusetzen. Andere innen- wie außenpolitische Themen schienen dringlicher, was immer wieder zu überhasteten Ad-hoc-Aktionen – mitunter erst auf Druck der öffentlichen Meinung – und einem diplomatischen Tauziehen auf allen Ebenen führte. Ein etwaiger Bruch mit dem Bündnispartner Frankreich allein aufgrund der Oberschlesienfrage sollte dabei aber unter allen Umständen vermieden werden – kühle Realpolitik schlug in London somit ein ums andere Mal eine „Politik der Herzen“. Doch der Reihe nach. I. Oberschlesien wird zunächst Polen zugeschlagen Auf der Pariser Friedenskonferenz, die am 18. Januar 1919 begann, war die Frage der generellen Neuordnung sowie der neuen Grenzen im Nachkriegseuropa, insbesondere die des neuen polnischen Staates, ein wichtiger Diskussionspunkt. Zwar gingen der britischen Seite die ausufernden polnischen Gebietsforderungen schon bald zu weit, was im März 1919 im so genannten „Fontainebleau Memorandum“, einer Art Forderungskatalog an die Bündnispartner, auch heftig kritisiert wurde. Eine von den Alliierten angenommene prinzipielle Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen zog London aber auch in diesem Stadium der Verhandlungen noch nicht in 2 Die Oberschlesienfrage – speziell aus britischem Blickwinkel – ist wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtungen gewesen. Zu nennen sind vor allem die Beiträge von Angela Bertram-Libal (Die britische Politik in der Oberschlesienfrage, in: Vierteiljahreshefte für Zeitgeschichte, 20 [1972], S. 105 – 132), Joachim Kuropka (Von London bis Oppeln. Zur britischen Politik in Oberschlesien 1919 – März 1921, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 20 [1979], S. 184 – 210) – allerdings nur bis März 1921 – sowie Angelika Kaiser (Lord D’Abernon und die britische Deutschlandpolitik 1920 – 1926, Frankfurt am Main 1989). Auf amerikanischer Seite ist die Arbeit von Patricia A. Gajda (Postscript to Victory. British policy and the German-Polish borderlands, 1919 – 1925. Washington 1982) zu nennen, auf britischer von David G. Williamson (The British in Germany, 1918 – 1930. New York, Oxford 1991). Eine sehr gute ältere Darstellung aller Plebiszite in der Nachkriegszeit findet sich bei Sarah Wambaugh (Plebiscites since the World War, 2 Bde., Washington 1933). Eine umfassende Darstellung, speziell aus dem italienischen Blickwinkel, findet sich bei Andreas Kiesewetter (Die italienische Politik in der Frage des Plebiszits in Oberschlesien 1919 – 1921, in: Dokumente zur italienischen Politik in der Oberschlesischen Frage 1919 – 1921. Würzburg 2001, S. 1 – 90). Quellenmäßig ist das britische Engagement in Oberschlesien sehr gut erschlossen. Zu nennen sind hier vor allem die Documents on British Foreign Policy 1919 – 1939 (DBFP), Serie 1, London 1947 ff., sowie die Britisch Documents on Foreign Affairs (BDFA), Teil II, 1989 ff. Bei den ungedruckten Quellen seien vor allem die Bestände im Public Record Office genannt, in erster Linie FO (Foreign Office) 371 „General Correspondence“ sowie FO 890 „Upper Silesia (British Section)“.
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Zweifel. Selbst im Foreign Office, wo die gesammelte Expertise zu allen europäischen Fragen gebündelt war, hatte man die Verhältnisse in Oberschlesien offenbar lange Zeit falsch eingeschätzt.3 Eine Abtretung Oberschlesiens wurde so Bestandteil des vorläufigen Vertragstextes. Erst als sich in Deutschland nach Bekanntwerden der Vertragsbedingungen ein allgemeiner Proteststurm erhob und es in Oberschlesien zu Massenkundgebungen gegen die Abtretung kam, setzte in Großbritannien ein Stimmungsumschwung ein – kräftig gefördert durch massive Kritik von Teilen der britischen Presse. Zudem nahm Oberschlesien in dem schriftlichen Protest der Reichsregierung vom 29. Mai einen zentralen Stellenwert ein. Darin wurde argumentiert, dass es im Eigeninteresse der Alliierten sei, Oberschlesien dem Reich zu belassen, da dieses nur so die Reparationsforderungen erfüllen könne. Vor allem das wirtschaftliche Argument schien den britischen Premierminister massiv zu beunruhigen.4 Lloyd George rechnete sogar mit der Möglichkeit, dass Deutschland die Vertragsunterzeichnung gänzlich ablehnen könne. Da das Vereinigte Königreich seine Kriegsziele weitgehend erreicht hatte und diese nun möglichst rasch absichern wollte, schien in der Oberschlesienfrage eine gewisse Kompromissbereitschaft geboten – zumal diese London nur nützen, aber keinesfalls schaden konnte. So entstand in der britischen Delegation ad hoc der Plan, für Oberschlesien eine Volksabstimmung ins Feld zu führen.5 Lloyd George bekam dafür weitgehende Vollmachten.
3 Ein von einem anonymen Verfasser erstelltes Memorandum vom 09. 12. 1918 bezeichnete das Odertal bis nördlich von Oppeln als überwiegend polnisch und empfahl die Abtretung der Kohlendistrikte an Polen – vgl. hierzu Kay Lundgren-Nielsen, The Polish Problem at the Paris Peace Conference, Odense 1979, S. 64. 4 In einem Gespräch mit dem britischen Pressevertreter George Allardice Lord Riddell äußerte Lloyd George sich am 30.5. besorgt über den Zusammenhang von Reparationen und dem Verbleib Oberschlesiens bei Deutschland. Der Premierminister befürchtete, dass die Alliierten mit der Übergabe der oberschlesischen Kohlegruben an Polen sich gewissermaßen „ins eigene Fleisch schneiden würden“ („may be cutting off their noses to spite their faces“) – Lord Riddell’s intimate Diary of the Peace Conference and after, 1918 – 1923, London 1933, S. 85. Einen Tag später bekamen Lloyd Georges Bedenken zusätzliche Nahrung: In einer Note drängte der britische Lordsiegelbewahrer Andrew Bonar Law den Regierungschef, einen Verlust Oberschlesiens für Deutschland zu verhindern, da sonst die deutsche Wirtschaftskraft und die deutsche Zahlungsfähigkeit beeinträchtigt würde – vgl. Gajda, Postscript, S. 24. 5 Gegenüber dem britischen Delegationsmitglied James Wycliffe Headlam-Morley äußerte Lloyd George, dass es ihm vor allem darauf ankomme, dass die Deutschen den Vertrag unterzeichneten. Auf die Frage des Premierministers nach gerechtfertigten Vertragsänderungen schlug Headlam-Morley deswegen eine Volksabstimmung für Oberschlesien vor. Lloyd George verständigte sich daraufhin intern rasch auf die Forderung nach Durchführung eines Plebiszits. Headlam-Morley räumte dabei zugleich indirekt das bisherige Versäumnis der britischen Politik ein, als er betonte, dass die politische Zuordnung eines Gebietes sich nicht zwangsläufig aus der Sprache und der ethnischen Herkunft seiner Bevölkerung ergebe. Vgl. J. Headlam-Morley, A memoir of the Paris Peace Conference 1919, London 1972, S. 135.
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II. Lloyd Georges Einsatz für die Volksabstimmung Im Obersten Rat kam es dann vom 2. bis zum 11. Juni zum „Showdown“6 in der Oberschlesienfrage. Wie nicht anders zu erwarten, traf Lloyd George auf massiven Widerstand des US-amerikanischen Präsidenten, vor allem aber auf den des französischen Ministerpräsidenten Clemenceau. Der rhetorisch gewandte Premier kämpfte in mehreren Sitzungen „wie ein walisischer Terrier“7 für eine Volksabstimmung in Oberschlesien, führte mit Blick auf Frankreich in einem wahren Argumentationsfeuerwerk das warnende Beispiel von Elsass-Lothringen 1871 an, wies auf die 800-jährige nicht-polnische Zugehörigkeit Oberschlesiens hin und machte schließlich geschickt das in Wilsons „14 Punkten“ genannte Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für Oberschlesien geltend, womit er den US-amerikanischen Präsidenten argumentativ geschickt auf seine Seite zog. Damit war die Entscheidung im Grundsatz zugunsten der britischen Linie gefallen. Zugleich versuchte Lloyd George aber, seine überrumpelten Verhandlungspartner zu beschwichtigen und stellte die Abstimmung als reine (und durchaus noch ergebnisoffene) Formalität dar, um insbesondere den verärgerten Clemenceau sein Gesicht wahren zu lassen. Beim Abstimmungsmodus freilich, den eine gemischte alliierte Kommission8 festzulegen hatte, konnte sich die britische Seite nicht durchsetzen. Während Lloyd George das Gesamtergebnis im Abstimmungsgebiet als Basis für eine Entscheidung bevorzugt hätte (also gewissermaßen ein klares „alles oder nichts“), konnten sich die Experten unter hohem Zeitdruckt und bei höchst gegensätzlichen Meinungen lediglich auf eine Abstimmung auf Gemeindeebene einigen. Da neben der Willenskundgebung der Einwohner auch die geographische und wirtschaftliche Lage der Ortschaften mit einfließen sollte,9 ließ der Art. 88 des Versailler Vertrages – wie sich später nur zu deutlich zeigen sollte – sehr viel Raum für unterschiedliche Interpretationen zu. Der spätere Streit um das Ergebnis der Volksabstimmung und die entscheidende Frage, wem das wirtschaftlich wichtige, aber 6 Harold J. Nelson, Land and Power: British and Allied policy on Germany’s frontiers, 1916 – 1919. London, Toronto 1963, S. 356. 7 H. Nicolson, Peacemaking 1919, London 1933, S. 294 (… „fighting like a welsh terrier“…). 8 Der Commission on the Eastern Frontiers of Germany, die am 4. Juni 1919 ins Leben gerufen wurde, gehörten neben dem französischen General und späteren Präsidenten der Plebiszitkommission Henri Le Rond (Vorsitz) auch Dr. Robert Howard Lord (USA), James Wycliffe Headlam-Morley (Großbritannien) und Pietro della Torretta (Italien) an. 9 Lloyd George hatte sich dafür eingesetzt, als Entscheidungsgrundlage für die Zukunft des Gebietes allein das Gesamtergebnis der Abstimmung heranzuziehen und hatte HeadlamMorley in diesem Sinne instruiert. Dieser fand in der Kommission aber keinen Rückhalt für den Vorschlag und unterließ es daraufhin, auf seiner Position zu bestehen. Die Stimmung unter den Experten war schon allzu angespannt. So blieb es schließlich bei der Abstimmung auf Gemeindeebene, die später zu langen Streitigkeiten über die Interpretation des Ergebnisses führen sollte.
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stimmenmäßig höchst uneinheitliche Industriegebiet zufallen sollte, war somit bereits vorprogrammiert. Die Formulierungen liefen faktisch bereits auf eine Teilung Oberschlesiens hinaus. Es war gewissermaßen der entscheidende Geburtsfehler der Volksabstimmung, der sich aber erst mit zeitlicher Verzögerung rächen sollte. Wermutstropfen für die deutsche Seite war auch der Zuschnitt des Abstimmungsgebietes: Während die mehrheitlich deutsch gesinnten oberschlesischen Kreise Neiße Stadt und Neiße Land, Falkenberg, Grottkau und Neustadt-West nicht mit einbezogen wurden (was vermutlich für eine noch deutlichere deutsche Mehrheit gesorgt hätte), kam überraschend ein Teil des mittelschlesischen Kreises Namslau hinzu. Das Hultschiner Ländchen (der Südteil des Kreises Ratibor) fiel hingegen ganz ohne Abstimmung an die Tschechoslowakei. Dennoch: Während die Zulassung einer Volksabstimmung für die polnische Seite eine äußerst unangenehme Überraschung darstellte, wurde sie von deutscher Seite einhellig begrüßt, als eine Art Hoffnungsschimmer am Horizont. Die übrigen Bestimmungen des Vertrages bleiben jedoch unverändert hart. Am 28. Juni 1919 unterzeichnete die deutsche Delegation den Vertrag im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles.
III. Britische Zurückhaltung, französische Führungsrolle So vehement sich der britische Premierminister für eine Volksabstimmung in Oberschlesien eingesetzt hatte, so wenig tat die britische Seite nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages, um die sich daraus ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Weder das Foreign Office noch das War Office und schon gar nicht das Schatzamt (Treasury) legten hier in der Folge besonderen Enthusiasmus an den Tag. So konnte das Foreign Office nach einigem Hin und Her mit dem Obersten Harold Percival zwar einen designierten britischen Plebiszitkommissar präsentieren, der die formalen Anforderungen für dieses Amt erfüllte. Aber er war keineswegs die erste Wahl und hatte zudem das Handicap, als Oberst im militärischen Rang unter seinem französischen und italienischen Kommissionskollegen – den Generälen Henri Le Rond und Alberto de Marinis – zu stehen. Noch schwerer wog freilich, dass man von einer massiven Truppenpräsenz, wie sie ursprünglich von allen vier alliierten Mächten für nötig erachtet wurde, auf britischer Seite jetzt zur großen Verblüffung von Paris und Rom plötzlich Abstand nahm. Hier setzte sich das War Office durch, das aufgrund der allgemeinen Demobilisierung und des Truppenbedarfs an anderen weltweit verstreuten Brennpunkten keine Reserven mehr sah. Andere aktuelle Probleme schienen mittlerweile dringlicher als ein Engagement im fernen Oberschlesien, für das man auf britischer Seite überzeugt war, mit der Grundsatzentscheidung für eine Volksabstimmung ja schon genug getan zu haben. So überließ man den militärischen Schutz des Abstimmungsgebietes hauptsächlich den Franzosen (anfangs 12.000 Mann) und zu einem kleineren Teil den Italienern (3.000 Mann). Die USA hatten sich mittlerweile ganz aus den
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europäischen Angelegenheiten zurückgezogen, beteiligten sich also auch nicht mehr an der geplanten Oberschlesien-Mission. Auch bei der personellen und finanziellen Ausstattung der Kommission setzten die britischen Ministerien mehrfach die Kostenschere an. Zwar sollten die finanziellen Lasten der Besatzung vom Abstimmungsgebiet getragen werden. Da aber zunächst einmal der britische Steuerzahler in Vorlage treten musste, war die Tendenz zu sparsamem Wirtschaften nachvollziehbar. Damit gab die britische Seite allerdings auch von vornherein in den Ressorts der Kommission10 sowie bei den – erstmalig in einem Abstimmungsgebiet eingeführten – 21 Kreiskontrolleuren11 von Anfang an freiwillig die Führungsrolle an die Franzosen ab. Dieser Schritt sollte sich auf längere Frist für Oberschlesienpolitik des Vereinigten Königreichs als fatal erweisen. IV. Die Kommission: Zunächst einig, dann gespalten Am 11. Februar 1920 nahm die Interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission für Oberschlesien (kurz: Interalliierte Kommission, IK) ihre Arbeit auf. Die Zusammenarbeit der drei Kommissare war in den ersten Wochen und Monaten von Kollegialität und einträchtigem Handeln geprägt, was zum Teil auch daran lag, dass sich die ersten Bestrebungen fast ausschließlich darauf richteten, den Einfluss der deutschen Seite zurückzudrängen und der polnischen Seite gleiche Startbedingungen einzuräumen. So errichtete man eine eigene Justiz, etablierte eine alliierte Kontrolle über alle staatlichen Vorgänge, entfernte einige deutsche Beamte aus Schlüsselstellungen und trennte das Abstimmungsgebiet politisch, wirtschaftlich, und militärisch praktisch komplett vom Reich ab. Diese grundlegende vorbereitende Phase, zugleich eine Art Einarbeitungszeit für die meisten Beamten, ging mit einer gewissen Informalität in der Zusammenarbeit der Kommissare einher – so wurden viele Vorgänge ad hoc entschieden, und Sitzungsprotokolle der IK gab es überhaupt nicht, was die tatsächliche Umsetzung von Entscheidungen schwer kontrollierbar machte. Dennoch überwog in London die – durch die Berichte Percivals genährte – Zuversicht, dass man trotz personeller 10
Von den sieben Ressorts übernahmen die Franzosen die Leitung der vier wichtigsten (Inneres, Finanzen, Militär, Wirtschaft); auch das Generalsekretariat war französisch dominiert. Die Italiener beschränkten sich auf ein Ressort (Justiz) und die Briten zunächst ebenfalls auf eines (Verkehr); nach Ausscheiden der USA kam noch das Ressort Ernährung mit hinzu. Insgesamt stellten von den anfangs 128 Mann der Kommission die Franzosen mit 69 den Löwenanteil; die Briten kamen auf 33 und die Italiener auf 26 – vgl. FO 371/8810: Abschlussbericht F. B. Bourdillons, S. 21. 11 Den französischen Kontrolleuren unterstanden elf Kreise vornehmlich im wichtigen Industriegebiet, nämlich Kattowitz Stadt und Land (gemeinsam verwaltet), Gleiwitz Stadt, TostGleiwitz, Kreuzburg, Zabrze/Hindenburg, Beuthen Stadt, Königshütte, Cosel (inclusive des Ostteils des Kreises Neustadt), Oppeln Stadt sowie Oppeln Land. Den Briten unterstanden die fünf Kreise Rosenberg, Lublinitz, Beuthen Land, Tarnowitz und Groß Stehlitz, den Italienern die fünf Kreise Ratibor Stadt und Land (gemeinsam verwaltet), Rybnik, Pless und Leobschütz – vgl. FO 371/4778.
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Knappheit in einem gedeihlichen alliierten Miteinander die Oberschlesienfrage rasch und effizient lösen könne. Dies sollte sich mit dem Zweiten Aufstand in Oberschlesien Mitte August 1920 grundlegend ändern. Die Tatsache, dass es polnischen bewaffneten Aufständischen innerhalb weniger Tage gelang, große Teile des Abstimmungsgebiets in ihre Hand zu bekommen und dort de facto die Regierungsgewalt zu übernehmen, führte nicht nur zu einem tiefen und bis zum Ende der Besatzungszeit nicht mehr gänzlich zu kittenden Riss innerhalb der Kommission mit dem Präsidenten General Le Rond auf der einen, Oberst Percival auf der anderen Seite und dem italienischen Kommissar de Marinis meist irgendwo dazwischen lavierend, in der Regel jedoch Percivals Position zuneigend. Der Aufstand, in dessen Folge vier britische Offiziere aus Protest ihren Rücktritt einreichten, öffnete spätestens jetzt den Londoner Verantwortlichen die Augen für die tatsächlichen Verhältnisse in Oberschlesien. Empörung über den polnischen Coup ging einher mit Wut über die französische Untätigkeit bei der Wiederherstellung von Recht und Ordnung und die stillschweigende französische Anerkennung der jetzt deutlich zu Tage tretenden polnischen Dominanz. Im Foreign Office mischte sich daher die Verärgerung über den Verlauf der Dinge mit dem Gefühl, von den Repräsentanten vor Ort bisher unzureichend informiert worden zu sein. Sündenbock war in den Augen der Londoner Beamten Oberst Percival, der die Dinge angeblich zu lange hatte schleifen lassen. Allerdings mussten sich die Verantwortlichen nach näherer Betrachtung der Dinge auch eingestehen, dass Oberst Percival unter den gegebenen schlechten Startbedingungen und angesichts der dünnen Personaldecke das Möglichste getan hatte. Ein Rücktrittsangebot des überarbeiteten und demoralisierten Percival12 nahm der britische Außenminister Curzon nicht an. Waren alle administrativen Dinge in der Oberschlesienfrage hauptsächlich von der in Oppeln ansässigen Kommission behandelt worden – weitgehend autonom, wenn auch in ständiger Abstimmung mit den jeweiligen Ministerien – sah man sich im Foreign Office in Folge des Zweiten Aufstands dazu genötigt, in der Oberschlesienfrage die Zügel anzuziehen. Dem Außenminister kam es darauf an, möglichst rasch einige grundlegende Weichen zu stellen, um die Volksabstimmung reibungslos durchführen zu können. Diese Weichenstellungen sollten dazu nötigenfalls auch auf höherer diplomatischer Ebene erfolgen, also der Botschafterkonferenz in Paris. Wie sich alsbald zeigen sollte, war dann sogar als dritte und letzte Instanz der Oberste Rat – also die Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs – mit grundlegenden Entscheidungen konfrontiert. Damit wurde die Oberschlesienfrage wie schon ein gutes Jahr zuvor auf der Pariser Friedensverhandlung wieder zur Chefsache.
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Vgl. FO 371/4816: Brief Percivals an Curzon vom 31. August 1920.
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V. London wird Le Rond nicht los Ziel der britischen Politik war es zunächst einmal, eine grundlegende Reform der IK zu erreichen und dabei in erster Linie eine Ablösung des französischen Kommissionspräsidenten Le Rond zu erreichen, der sich in britischen Augen als offen propolnisch erwiesen hatte. Nötigenfalls sollte dies durch eine Auswechselung aller drei Kommissare erfolgen, wozu Außenminister Curzon schon im Vorfeld Percival um Verständnis bat.13 Der britische Vertreter in der Botschafterkonferenz, Lord Derby, bekam nun den Auftrag, bei passender Gelegenheit einen Vorstoß zu unternehmen. Diese Gelegenheit schien gekommen, als Le Rond im September 1920 einen aktuellen Lagebericht abgeben und sich zu den Vorgängen vom August äußern sollte. Doch der General wusste die Verhältnisse geschickt zu verharmlosen, zugleich mit Hinweis auf die mangelnde Truppenpräsenz der Briten den Spieß sogar umzudrehen und seine eigene Leistung in einem derart positiven Lichte darzustellen, dass Derby anschließend keine Möglichkeit mehr sah, gegen Le Rond vorzugehen. Sicherlich nicht zu Unrecht fürchtete der Brite nach dieser gelungenen Präsentation eine Abstimmungsniederlage, falls er zu diesem Zeitpunkt eine Ablösung des Generals gefordert hätte.14 Diese Chance war vorbei. Auch der anschließende Versuch, Paris auf diplomatischem Wege dazu zu bringen, Le Rond gewissermaßen „wegzuloben“, war letztlich zum Scheitern verurteilt. Le Rond – von spöttischen Zungen wegen seiner herrischen Art inzwischen „Napolerond“ betitelt – blieb bis zum Ende der alliierten Besatzung die entscheidende politische Größe in Oberschlesien. Immerhin kam es zumindest zu einer moderaten Reform der IK, die jetzt dem Vereinigten Königreich und Italien mehr Einfluss in den Kreisen sicherte und mit einem neu eingerichteten Kommissions-Kabinett auch alle Entscheidungen schriftlich dokumentierte. Auch im Offizierskorps der neu gegründeten, paritätisch mit deutschen und polnischen Oberschlesiern besetzen „Abstimmungspolizei“ (APO) sicherte sich das Vereinigte Königreich ein Drittel aller Stellen. Dies bedeutete zwar ein zusätzliches personelles wie finanzielles Engagement, schien aber vor dem Hintergrund der anstehenden Aufgaben gerade noch vertretbar. Zu einem militärischen Engagement Großbritanniens kam es hingegen noch immer nicht. VI. Fehlgeschlagener Versuch einer Ausweisung Korfantys Das neue, verstärkte Engagement des Vereinigten Königreichs in Oberschlesien sollte alsbald einer ersten Bewährungsprobe unterzogen werden – nämlich bei dem Versuch, den polnischen Plebiszitkommissar Wojciech Korfanty auszuweisen und damit ebenfalls loszuwerden. Ihn hatte man auf britischer Seite – zunächst zögerlich, aber durchaus begründet – als Drahtzieher des Zweiten Aufstands in Oberschlesien
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Vgl. FO 890/16: Telegramm Curzons an Percival vom 13. September 1920. Vgl. DBFP XI, No. 56: Memorandum Derbys vom 22. September 1920.
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ausgemacht.15 Seine Entfernung aus dem Abstimmungsgebiet war daher letztlich nicht nur eine Frage der politischen Hygiene, sondern auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der gesamten Oberschlesienpolitik. Für eine Entfernung Korfantys standen der britischen Seite prinzipiell drei Wege offen: • ein Beschluss der Kommission, • diplomatischer Druck Londons auf Warschau • oder eine politische Entscheidung der Botschafterkonferenz. Zunächst schien London eine Kombination aus den letztgenannten Wegen zu favorisieren und über die Botschafterkonferenz Warschau zur Abberufung veranlassen wollte. Lord Derby schätzte die Chancen allerdings als gering ein, da offiziell keine Beschwerde der IK über Korfanty vorlag, nicht einmal seitens des britischen Kommissars.16 Inzwischen – es war Anfang November – hatte Percival jedoch den offiziellen Auftrag aus London erhalten, gegen Korfanty vorzugehen und damit auch das Machtgefüge innerhalb der IK zu testen. Dort waren die Meinungen über Korfanty naturgemäß gespalten. Le Rond verteidigte ihn regelmäßig und schmetterte alle Beschwerden Percivals ab. Erst als Korfanty am 23. November in einer Rede in Rosenberg dazu aufrief, die so genannten „Outvoter“ (gebürtige Oberschlesier, die nicht mehr im Lande ansässig waren, aber das Recht zur Abstimmung bekommen sollten) zu erschlagen, sah Percival eine Handhabe. Da aber Korfanty seine Aussagen rasch dementierte und für einige Wochen moderatere Töne anschlug, konnte sich Percival erneut nicht mit seiner Position durchsetzen. In de Marinis fand er trotz mehrerer Vorstöße Ende 1920 keine Unterstützung für eine Ausweisung, da der Italiener bei einem solchen Schritt erhebliche neue Unruhen befürchtete. Er hätte es lieber gesehen, wenn Warschau Korfanty abberufen hätte. Der enervierte Percival wandte sich daraufhin an die Botschafterkonferenz, der allerdings fast zeitgleich auch der de-Marinis-Vorschlag sowie die Empfehlung Le Ronds, nichts gegen Korfanty zu unternehmen, zugingen. Hier wiederholte sich gewissermaßen die Pattsituation der Kommission. Der wenig erfreute britische Repräsentant, Lord Hardinge, versuchte deswegen, von Außenminister Curzon ein wirkungsvolles Druckmittel an die Hand zu bekommen, nämlich die Drohung, sich nötigenfalls aus der Oberschlesienkommission ganz zurückzuziehen. Davor scheute der Außenminister jedoch zurück – wohl auch deswegen, weil sich das Vereinigte Königreich damit aller Einflussmöglichkeiten in Oberschlesien beraubt hätte. Ohne diese politische Rückendeckung aus London erschien Hardinge jedoch ein erneutes diplomatisches Vorgehen sinnlos. Nach einigem Hin und Her wurde der Plan, den unbequemen Korfanty loszuwerden, deswegen stillschweigend fallengelassen. 15
Vgl. DBFP XI, No. 35: Schreiben Curzons an Henderson vom 31. 08. 1920: „I am reluctantly forced to the conclusion that M. Korfanty and the Polish plebiscite organization have been in large part responsible for these disturbances.“ 16 Vgl. DBFP XI, No. 72: Schreiben Derbys an Curzon vom 14. November 1920.
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Diese offensichtliche Niederlage wurde jedoch überdeckt vom praktisch einzigen größeren diplomatischen Erfolg dieser Tage: der Entscheidung, bei der Abstimmung auch die so genannten „Outvoter“ zuzulassen. VII. Die Gretchenfrage: Wer darf überhaupt abstimmen? Die Teilnahme der Outvoter an der Abstimmung war umstritten, der Vertragstext an dieser Stelle unklar. Ursprünglich hatte sogar die polnische Seite deren Teilnahme befürwortet, nach schlechten Erfahrungen aus den Wahlen in den Abstimmungsgebieten von Allenstein und Marienwerder aber eine Kehrtwendung vollzogen. Auch General Le Rond sprach sich unter einer sehr engen Auslegung des Vertragstextes dezidiert für einen Ausschluss der Outvoter aus, Percival und de Marinis waren hingegen unter Hinweis auf das Geburtsrecht, auf die Präzedenzfälle Allenstein und Marienwerder und auf mögliche Proteste auf deutscher Seite dafür. Da sich die Kommissare auf keine gemeinsame Linie verständigen konnten, überwiesen sie das Problem Ende Oktober 1920 an die Botschafterkonferenz. Auch dort war allen Beteiligten klar, dass in dieser Frage eine ganz grundlegende Entscheidung für die Zukunft Oberschlesiens lag, denn man ging anfangs von deutlich überhöhten Zahlen – bis zu 300.000 Personen, also rund einem Viertel aller Stimmberechtigten – aus. Auf der Sitzung der Botschafterkonferenz am 18. November verstand es der französische Vorsitzende, Jules Cambon, dann aber geschickt, die Outvoter-Frage an eine durchaus berechtigte und vernünftige, aber praktisch unerfüllbare Bedingung zu knüpfen: Wegen der Gefahr eines Bürgerkriegs müssten mindestens 60.000 Mann alliierter Truppen (statt wie augenblicklich rund 15.000) die Abstimmung schützen.17 Dass Oberst Percival selbst kurz zuvor eine massive Verstärkung gefordert hatte, schwächte in diesem Augenblick die britische Verhandlungsposition natürlich nachhaltig. Da aus Prestigegründen ein Nachgeben in der Outvoter-Frage für London aber nicht in Frage kam, wuchs der Druck, sich nun doch militärisch zu engagieren, beträchtlich. Zunächst aber versuchte es das Foreign Office mit einem Kompromiss: nämlich dem Vorschlag, dass die Outvoter geschlossen im Raum Köln – also unter Aufsicht der britischen Besatzungsmacht am Rhein – ihre Stimme abgeben sollten. Mit diesem Vorschlag ging das Vereinigte Königreich Ende November während der Zweiten Konferenz von London in die Gespräche im Obersten Rat, also auf höchster diplomatischer Ebene. Dort stimmten der britische Premierminister wie der französische Ministerpräsident zwar prinzipiell einer Abstimmungsteilnahme der Outvoter zu, waren sich aber über den Weg uneins: Jean Leygues plädierte für getrennte Abstimmungstage in Oberschlesien, Lloyd George präsentierte die Rheinland-Lösung. Nach zähen Verhandlungen verständigte man sich auf den Kompromiss, zunächst
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Vgl. DBFP XI, No. 77: Telegramm Derbys an Curzon vom 18. November 1920.
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der britischen Linie zu folgen, im Falle einer deutschen Ablehnung aber den französischen Weg zu beschreiten.18 Da die deutsche Seite jedoch peinlich genau auf einer Gleichbehandlung aller Wahlberechtigten bestand, torpedierte sie damit die Rheinland-Lösung, was auf britischer Seite Kopfschütteln hervorrief. Doch auch die französische Lösung ließ sich nicht umsetzen, da von der IK zu viele Detailprobleme ins Feld geführt wurden: So mussten die Wahlurnen bewacht und die Wahlergebnisse so lange geheim gehalten werden, bis die Outvoter ebenfalls abgestimmt hatten. Alternativmodelle, nach denen zeitversetzt in mehreren Zonen abgestimmt werden sollte, wurden ebenfalls als unpraktikabel verworfen. Zudem protestierte die deutsche Regierung nun auch gegen die zeitlich auseinanderliegenden Wahltermine, da diese ebenfalls keine Gleichbehandlung darstellten. Beim britischen Kommissar wie auch im Foreign Office setzte sich nun die Erkenntnis durch, dass ein gemeinsamer Abstimmungstermin wohl die beste Lösung sei. Schützenhilfe erhielt der britische Kommissar diesmal von seinem italienischen Kollegen, der einen ähnlichen Sinneswandel vollzogen hatten. Gemeinsam plädierten sie daher Anfang Februar 1921 bei der Botschafterkonferenz für einen einheitlichen Termin, während Le Rond ein Festhalten am Status quo forderte. Obwohl das britische Kabinett nach langem Zögern mittlerweile beschlossen hatte, ein Signal zu setzen und zum Schutz der Abstimmung vier Bataillone – rund 2.000 Mann – nach Oberschlesien zu entsenden, kam es in der Botschafterkonferenz zu keiner Annäherung. So landete die Outvoterfrage erneut vor dem Obersten Rat. Und hier endlich – Ende Februar 1920 – konnte der britische Premierminister mit Schützenhilfe seines italienischen Amtskollegen einen gemeinsamen Abstimmungstermin durchsetzen.19 Nun musste plötzlich alles sehr schnell gehen, denn als Termin wurde von den Politikern, die ursprünglich gern eine Abstimmung noch vor dem Winter gesehen hätten, der 20. März 1921 festgelegt. Glücklicherweise hatten, unabhängig vom Gezerre um die Teilnahme der Outvoter und den Abstimmungstermin, die Vorbereitungen längst begonnen. In enger Zusammenarbeit von IK und den beiden Plebiszitkommissariaten wurden die Abstimmungsberechtigten zur Registrierung aufgerufen, Wahllisten erstellt, Abstimmungsbezirke festgelegt und Wahlbüros eingerichtet. Auch wenn die Zusammenarbeit im Großen und Ganzen reibungslos funktionierte, setzte sich der britisch-französische Interessenkonflikt auch hier bis in Detailfragen fort.20 18
Vgl. DBFP VIII, No. 96: Verhandlungen vom 27. November 1920. Vgl. DBFP XV, No. 16: Mitschriften (Notes) der Alliierten Konferenz vom 21. 02. 1921. 20 Ein Beispiel ist das Gezerre um die Gutsbezirke, also große landwirtschaftliche Einheiten, die sich im Besitz von Großgrundbesitzern befanden. Während der französische Kommissar eine Eingliederung in die umliegenden Wahlkreise favorisierte (was tendenziell der polnischen Seite genützt hätte), war der britische Kommissar für eine Zählung als separate Einheit (was wegen der überwiegend deutsch gesinnten Einwohner dieser Gutsbezirke zahlreiche zusätzliche Gemeinden mit deutscher Stimmenmehrheit bedeutet hätte). Nach zähen 19
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VIII. Eine Abstimmung – aber kein klares Ergebnis Mit dem Eintreffen der vier britischen Bataillone zeigte das Vereinigte Königreich dann im März 1921 wie erhofft Flagge. Auch wenn das militärische Gewicht gering blieb, wog doch der symbolische Akt umso mehr. Sicherlich ist es auch der Anwesenheit der Briten mit zu verdanken, dass die Anreise der fast 200.000 Outvoter vergleichsweise glimpflich erfolgte und es am Wahltag selbst zu keinen größeren Komplikationen kam. Rund 1,2 Millionen Stimmberechtigte gaben an diesem vorfrühlingshaften Sonntag ihr Votum ab. Bereits am Abend stand ein vorläufiges Ergebnis fest, das sich rasch herumsprach: Knapp 60 Prozent hatten für Deutschland, gut 40 Prozent für Polen gestimmt. Daraufhin kam es in den Gebieten mit überwiegend polnisch gesinnter Bevölkerung zu mehrtägigen Ausschreitungen gegenüber tatsächlich oder auch nur vermeintlich deutsch Gesinnten. Nur durch massive Truppenpräsenz und die Verhängung des Ausnahmezustandes konnte die Lage relativ schnell wieder unter Kontrolle gebracht werden. Da sich die Situation vordergründig beruhigt hatte, zog London seine Bataillone schon Anfang April wieder ab – ein nationaler Notstand im eigenen Land mit einer Streikwelle schuf hier andere Prioritäten.21 Der britische Kommissar protestierte vergebens. Was das Abstimmungsergebnis anging, so waren die Interpretationen naturgemäß sehr unterschiedlich: Deutschland beanspruchte ganz Oberschlesien für sich, Polen favorisierte eine Teilung entlang der so genannten „Korfanty-Linie“, nach der das gesamte Industriegebiet polnisch geworden wäre. Ähnlich unterschiedlich waren die Meinungen bei den alliierten Regierungen wie auch innerhalb der IK, die das Abstimmungsergebnis zu bewerten hatte und daraus eine Handlungsempfehlung ableiten sollte. Während die französische Seite – repräsentiert durch General Le Rond – sich an den polnischen Forderungen orientierte, favorisierte das britische Kabinett eine komplette Übergabe des Abstimmungsgebietes an Deutschland. Solcherart wurde Oberst Percival instruiert. Allerdings waren sich sowohl der britische Premierminister als auch das Foreign Office darüber im Klaren, dass diese Haltung eher Wunsch als Wirklichkeit war und schwer durchzusetzen sein würde. Tatsächlich kam es in der IK mehrere Wochen lang zu keiner Entscheidung, da General Le Rond die Verhandlungen zu verschleppen wusste. Ende April aber konnte der britische Kommissar dann gemeinsam mit seinem italienischen Kollegen einen Kompromissvorschlag ausarbeiten, der auf eine Abtrennung der überwiegend polnischen Kreise Rybnik und Pless hinauslief, das wichtige Industriegebiet aber bei Deutschland beließ.22 Dieser offenkundigen Mehrheitsentscheidung der zwei Kommissare setzte der französische Kommissionspräsident sofort den „Le Rond-Plan“ entgegen, der praktisch den polnischen Forderungen entsprach. So kamen – als Manifestation des britisch-französischen Gegensatzes in der Oberschlesienfrage – zwei diametral entgeVerhandlungen gab es auch hier einen Kompromiss: Bis 100 Einwohner wurden sie dem umliegenden Wahlkreis zugeschlagen, ab 101 Einwohnern bildeten sie separate Einheiten. 21 Vgl. Gajda, Postscript, S. 86. 22 FO 371/5897.
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gengesetzte Vorschläge auf den Tisch der Botschafterkonferenz. Bei ihr lag nun die schwierige Entscheidung über das Schicksal Oberschlesiens. Doch bevor es dazu kam, hatte die Realität längst alle Überlegungen überholt. IX. Der Dritte Aufstand und seine Folgen Am 3. Mai 1921 – General Le Rond weilte gerade zu Gesprächen in Frankreich – kam es zum Dritten Aufstand in Oberschlesien. Propolnische Freischärler, unterstützt durch reguläres polnisches Militär, besetzten innerhalb weniger Tage weite Teile Oberschlesiens praktisch bis hin zur „Korfanty-Linie“. Zum Führer des Aufstands ernannte sich Korfanty, der damit seine Befugnisse endgültig überschritt. Widerstand französischer Einheiten gab es kaum. Lediglich die Italiener lieferten sich einige erbitterte Gefechte, brachen diese jedoch schließlich ab, als ihre Verluste zunahmen und ein weiterer Widerstand sinnlos erschien. Oppeln selbst wurde von einigen zuverlässigen APO-Polizeitruppen verteidigt. Auch die mit großen alliierten Garnisonen besetzten Städte im Industriegebiet wie etwa Kattowitz konnten von den Insurgenten nicht eingenommen werden, wurden aber von ihnen umzingelt. Ob dieses offensichtlichen Bruchs des Völkerrechts ging ein gewaltiger Aufschrei durch die britische Presse und Öffentlichkeit. Man entrüstete sich dabei ebenso über die Polen wie über das offensichtliche Laisser-faire der Franzosen. Der Ruf der Alliierten, insbesondere der Briten, als Garanten von Ruhe und Ordnung wie auch von fairen und gleichen Bedingungen stand nun praktisch zur Disposition. Der öffentliche Druck auf die Regierung, endlich einzuschreiten, wuchs. Auch jetzt versuchte das Foreign Office, ein militärisches Engagement überflüssig zu machen, indem es die sofortige Übergabe unstrittiger Teilgebiete vorschlug, um das Besatzungsgebiet zu verkleinern. Dieser Plan scheiterte jedoch innerhalb der Kommission am französischen Widerstand. Selbst am 13. Mai, als Premierminister Lloyd George in einer Rede die Zustände öffentlich anprangerte, war von einer Truppenentsendung noch keine Rede. Erst als sich die Dinge zuspitzten, der deutsche Selbstschutz zum Gegenangriff blies und das Foreign Office nun nachdrücklich ein militärisches Eingreifen empfahl, setzte sich Lloyd George über die Bedenken des War Office wie des Generalstabschefs hinweg und stimmte am 22. Mai im Kabinett dem Einsatz zu. Diesmal waren es sogar gleich sechs Bataillone, die Anfang Juni 1921 nach Oberschlesien geschickt wurden. Mit dieser schlagkräftigen, 3.000 Mann starken Truppe erhöhte sich auch das politische Gewicht Großbritanniens im Abstimmungsgebiet deutlich. Mit dem militärischen Eingreifen bahnte sich auch ein Wechsel in der Kommission an: Der völlig demoralisierte Percival hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und war damit praktisch dienstunfähig geworden. Zu seinem Nachfolger bestellte das Foreign Office den pensionierten Verwaltungsbeamten Sir Harold Stuart, einen erfahrenen und durchsetzungsfähigen Praktiker, der zudem als Zivilbeamter keine Rücksicht auf militärische Hierarchien nehmen musste.23 Zwar versuchte Le Rond 23
Vgl. Gajda, Postscript, S. 110, 122.
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sofort, Stuart ähnlich wie seinen Vorgänger an die Wand zu spielen, hatte damit aber keinen Erfolg. Stuart war natürlich entsprechend instruiert worden und durchschaute sehr rasch die Situation. Zu Le Ronds Glück stieß er aber keine tiefgreifende Reform der IK mehr an, da er davon ausging, dass sich die alliierte Präsenz sowieso dem Ende zuneigte: ein Trugschluss, wie sich bald zeigen sollte. Zunächst einmal kam es aber darauf an, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Hier halfen sehr die direkten Verhandlungen zwischen dem Chef der britischen „Upper Silesian Force“, General William Heneker, und dem Führer des Selbstschutzes, General Karl Hoefer. Zwar war das Misstrauen auf deutscher wie polnischer Seite groß, aber in zähen Verhandlungen wurde schließlich doch ein stufenweiser Rückzugsplan erreicht, der Anfang Juli 1921 in die Tat umgesetzt werden konnte. Diesmal blieben die britischen Truppen im Land und wurden, eingedenk bisheriger schlechter Erfahrungen, auch im oberschlesischen Industriegebiet stationiert. Den sofortigen Abzugswunsch des Generalstabschefs, Feldmarschall Sir Henry Wilson, konnte das Foreign Office erfolgreich abwehren, ging man doch in optimistischer Weise von einer nur noch kurzen Präsenz aus. X. Willenskundgebung versus Wirtschaft: Wie sieht eine faire Teilung aus? Dies war, wie sich zeigen sollte, jedoch nur Wunschdenken. Zu einer Lösung in der Grenzfrage kam auch weiterhin nicht. In der Botschafterkonferenz gelang es dem Vereinigten Königreich nicht, Italien auf seine Seite zu ziehen. Der als Kompromiss gedachte Teilungsvorschlag des italienischen Außenministers, Carlo Graf Sforza („Sforza-Linie“), stieß auf wenig Gegenliebe und verschwand schnell wieder in der Schublade. Dennoch begann sich auch die britische Außenpolitik inzwischen mit einer Teilung des Industriegebietes abzufinden.24 Die in britischen Regierungskreisen kurz aufflackernde Idee, Frankreich weitgehende Sicherheitsgarantien gegen ein Einlenken in der Oberschlesienfrage zu geben, wurde hingegen nicht weiter verfolgt.25 Ebenso wenig drang die Auffassung durch, dass das Mehrheitsvotum von zwei Kommissaren bereits eine Entscheidung darstelle. Hier pochte die französische Seite auf die Entscheidungskompetenz des Obersten Rates.26 An dessen baldiger Zusammenkunft hatte Frankreich jedoch vorerst kein Interesse. Einerseits wollte man das Vereinigte Königreich hinhalten und so gewissermaßen
24 Schon nach einem Gespräch mit Briand am 19. Mai hatte Außenminister Curzon empfohlen zu prüfen, ob eine Teilung des Gebietes einem Bruch der Allianz mit Frankreich vorzuziehen sei – vgl. Bertram-Libal, Politik, S. 123. Auf der Kabinettssitzung vom 25. Mai wurde dann auch erstmals eine Teilung erwogen. 25 Vgl. Lothar Steinbach, Revision oder Erfüllung. Der Versailler Vertag als Faktor der deutsch-britischen diplomatischen Beziehungen, Freiburg i. Br. 1970, S. 429 – 431. 26 Vgl. DBFP XVI, No. 200: Note Hardinges an Briand vom 27. Juni 1921.
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weichkochen27, andererseits zusätzliche französische Truppen ins Abstimmungsgebiet verlegen, was in der augenblicklichen Situation eine Provokation für die deutsche Seite dargestellt hätte. Da das Vereinigte Königreich verständlicherweise Protest einlegte, wollte Paris einen ,Kuhhandel‘ schließen: Der Oberste Rat sollte erst zusammenkommen, wenn die Truppen im Lande wären. Eine handfeste Krise im britisch-französischen Verhältnis war die Folge. Insbesondere dem britischen Botschafter Lord Hardinge ist es zu verdanken, dass schließlich ein Kompromiss gefunden wurde, der beide Seiten das Gesicht wahren ließ: Auf einer möglichst baldigen Sitzung des Obersten Rates sollte nun über alliierte Truppenverstärkungen gesprochen werden.28 Aber auch dort kam es im August 1921 zu keiner Einigung. Als alle Bemühungen scheiterten, schlug der britische Premierminister auf Initiative des italienischen Außenministers eine Überweisung des Problems an den Völkerbundrat vor – ein für alle gesichtswahrender Schritt, der aber die endgültige Entscheidung über Oberschlesien erneut verzögerte. War dieser Schritt ein „Pyrrhussieg“29 für die britische Seite? Vom Ergebnis sicherlich ja, denn die gemischte Kommission des Völkerbundrates – ihr gehörten je ein Vertreter Belgiens, Brasiliens, Spaniens und Chinas an – entschied sich im Oktober 1921 für eine Teilung des Industriegebietes. Aus der damaligen Sicht – vom Premierminister bis hin zum britischen Kommissar – gab es jedoch kaum eine Alternative, wollte man nicht den Bruch mit Frankreich riskieren. Man muss in diesem Kontext allerdings auch festhalten, dass die britische Seite nichts mehr unternahm, um die anstehende Völkerbundrats-Entscheidung in irgendeiner Weise in ihrem Sinne zu beeinflussen. So entsprach das Ergebnis letztlich in keiner Weise den Vorstellungen der britischen Regierung, auch wenn man sich nach außen hin betont zweckoptimistisch gab. Sehr zum Leidwesen aller Beteiligten blieb die Situation in Oberschlesien auch danach und bis zur faktischen Umsetzung der Teilung ein Pulverfass. Auf der britischen Seite war man jedenfalls ausgesprochen erleichtert, Anfang Juli 1922 das Abstimmungsgebiet endgültig verlassen zu können. Letzte Querelen gab es schließlich noch um die Frage der Besatzungskosten. Erneut wurde in der Botschafterkonferenz erbittert gerungen, bis endlich eine Aufteilung von 63 Prozent für Polen und 37 Prozent für Deutschland vereinbart war.30 Für das Vereinigte Königreich war das insgesamt wenig erfreuliche Kapitel Oberschlesien damit abgeschlossen; längst standen andere Probleme im Vordergrund.
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Vgl. Kiesewetter, Italienische Politik, S. 80. Der Oberste Rat verständigte sich dann schließlich darauf, dass jede der drei Mächte jeweils zwei Bataillone entsenden sollten – vgl. Gajda, Postscript, S. 134. 29 So die Einschätzung bei Kiesewetter, Italienische Politik, S. 86. 30 Zu den Ergebnissen vgl. DBFP XVI, No. 420. 28
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XI. Fazit War die von den alliierten Mächten begleitete Volksabstimmung in Oberschlesien 1921 nun ein Erfolg – oder doch ein Fehlschlag? Zumindest auf britischer Seite hatte man zwischenzeitlich längst den Eindruck gewonnen, sich hier militärisch-finanziell ein Fass ohne Boden und politisch einen Klotz am Bein eingehandelt zu haben. Als derartig langwierig und schwierig hatte man sich in London die Einlösung der Zusage, eine freie Willenskundgebung der Bevölkerung zu ermöglichen und für ein Fair Play zu sorgen, nicht vorgestellt. Ein vorzeitiger Ausstieg aus Oberschlesien und damit die Preisgabe eigener Interessen erschien jedoch nicht denkbar, wollte man nicht gänzlich das Gesicht verlieren und dem französischen Bündnispartner komplett freie Hand in dieser Schlüsselregion lassen. Zudem bestand in London über lange Zeit die klare politische Hoffnung, dass das Abstimmungsergebnis den Verbleib des kompletten oberschlesischen Industriegebiets bei Deutschland zur Folge haben würde. In Paris sah man die Sache grundlegend anders: Ein stabiles und dank der oberschlesischen Industrie wirtschaftlich potentes Polen war geplant als wichtigstes Kettenglied eines Cordon sanitaire mittelosteuropäischer Staaten, die nach Frankreichs Vorstellung sowohl Sowjetrussland als auch Deutschland in Schach halten sollen. Dem oberschlesischen Industriegebiet kam damit eine Schlüsselstellung in den geopolitischen Planungen zu. Dementsprechend propolnisch war die französische Politik – und zwar auf allen Ebenen, von der hohen Diplomatie bis hinunter zu den Repräsentanten vor Ort. Diese offensichtliche Diskrepanz in den Vorstellungen und Wünschen der beiden Schlüsselmächte konnte nicht lange gut gehen und war von Anfang an eine schwere Hypothek für den interalliierten Einsatz in Oberschlesien. Die divergierenden Mitteleuropa-Interessen führten so ein ums andere Mal zu einer Zerreißprobe, die die britisch-französische Allianz bis aufs Äußerste strapazierte. Die gewollte Balance zwischen der Wahrung eigener Interessen, den öffentlich proklamierten politischmoralischen Maßstäben, der Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung sowie den Bemühungen um ein Fortbestehen der engen Abstimmung zwischen London und Paris wurde immer mehr zum gefährlichen Drahtseilakt. Mehr noch: Am Ende ging es gar nicht mehr um Oberschlesien per se, sondern um die Frage, wie ein zukünftiges Mitteleuropa aussehen sollte. Was sich in Oberschlesien 1921 eklatant zeigte: Ein „gut gemeint“ bedeutet noch längst nicht ein „gut gemacht“ – erst recht in einer Premierensituation mit unabsehbaren Anlaufschwierigkeiten. Zudem wurde offenbar, dass auch das hier angewandte Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht automatisch klare und eindeutige Verhältnisse schaffen kann. Erschwerend kam hinzu, dass die Vorstellungen der beiden Großmächte Vereinigtes Königreich und Frankreich bezüglich Oberschlesiens höchst unterschiedlich waren – und somit die Arbeit vor Ort wie auch auf diplomatischem Parkett stark belasteten und eine gemeinsame Linie fast unmöglich machten.
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London hatte zwar die Volksabstimmung durchgesetzt – jedoch an ihrer konkreten Durchführung alsbald das Interesse verloren. Die sprunghafte und häufig durch Ad-hoc-Entscheidungen gekennzeichnete britische Politik war somit nicht in der Lage, stringent und mit Nachdruck ihre geopolitischen Interessen in Oberschlesien durchzusetzen. Gewinner waren damit die polnische und so letztlich die französische Seite. Eklatant vor Augen geführt wurde in Oberschlesien auch die Problematik einer multi-nationalen Truppenpräsenz: Es zeigte sich deutlich, dass eine von Grenzkonflikten geprägte und von nationalistischen Tendenzen aufgeheizte Unruheregion nicht ohne einen entsprechenden massiven militärischen Einsatz zu sichern ist, der jederzeit die Lage unter Kontrolle halten kann. In dieser Hinsicht haben die Alliierten Lehrgeld bezahlt – insbesondere die Italiener, die im Dritten Aufstand etliche Tote zu beklagen hatten. Immerhin: Oberschlesien hat 1921 ein Stück Europa- und Weltgeschichte geschrieben und mit der Volksabstimmung wie auch der Grenzentscheidung durch die Völkerbundrats-Kommission staats- und völkerrechtlich Neuland betreten. Auch über einhundert Jahre später lohnt daher eine nähere Beschäftigung mit den Vorgängen in Oberschlesien rund um die Volksabstimmung 1921. *** Abstract Karsten Eichner: The 1921 Referendum and the Partition of Upper Silesia (Die Volksabstimmung 1921 und die Teilung Oberschlesiens), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 107 – 124. On March 20, 1921, about 1.2 million Upper Silesians – women as well as men – were allowed to vote in a free and secret ballot on which state they wanted to live in in the future: in Germany or in Poland. This article shows how the Upper Silesian question was a plaything of high politics from the very beginning and how it became increasingly so in the following. In particular, the conflicting British and French postwar interests in Europe led to the result of the free expression of the will of the population being caught up in the mills of international politics and diplomacy. For although British Prime Minister David Lloyd George was the driving force behind the holding of a referendum, British interest in holding it quickly waned again. Other current problems now seemed more urgent than involvement in Upper Silesia. The result was a French dominance in the Interallied Commission (IC) in Upper Silesia and in the military units stationed there from the beginning. While the cooperation of the three Allied victorious powers, France, Great Britain and Italy (the USA had meanwhile withdrawn), was initially still characterized by harmony, ever new tensions soon arose between the French Commission President, General Le Rond, and the British Commissioner, Colonel Percival. This ever-deepening divisiveness also became visible at
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the higher political-diplomatic levels, up to and including the heads of state and government. However, a British-French rift over the Upper Silesia question was always avoided as far as possible – due to overriding interests. The British-French discrepancy became especially apparent after the Second Uprising in Upper Silesia in mid-1920. Great Britain not only tried to get rid of the inconvenient and increasingly pro-Polish Commission President Le Rond, but above all also wanted to have the Polish plebiscite commissioner Korfanty, who was seen as the main instigator of unrest, expelled. Both attempts failed because of French resistance. The commission also disagreed on the mode of voting and the eligible electorate, especially the nearly 200,000 “outvoters” – Oberschlesians who now lived in the Reich. Consequently, the preparations, which included the creation of a separate voting police force (APO), dragged on longer than planned until the spring of 1921. In the vote, just under 60 percent of eligible voters opted for Germany, and a good 40 percent for Poland. However, the votes were distributed very differently from region to region. The economically important industrial area in particular resembled a patchwork quilt. On the basis of the overall result in the voting area, Germany claimed all of Upper Silesia for itself, while Poland demanded partition along the so-called “Korfanty Line”, according to which at least the entire industrial area was to become Polish. While the Third Uprising in Upper Silesia was to create facts by military means, the Allies continued to strive for a political-diplomatic solution. Since no compromise seemed possible between the British view (which would have left the industrial area largely with Germany) and the French (based on the “Korfanty Line”), and since a further éclat threatened, the question was finally referred to the League of Nations Council. Its commission finally worked out a border demarcation at the Green Table that cut up the industrial area, with the economically more important part falling to Poland. With the tug-of-war that lasted for several years, Upper Silesia wrote a piece of European and world history. At the same time, with the referendum and the border decision by the League of Nations Commission, it broke new ground in terms of state and international law.
Das Volk befindet über die Zugehörigkeit des Saarlandes: Die Volksabstimmungen an der Saar 1935 und 1955 Von Dennis Traudt I. Einleitung Am 1. Januar 1957 wurde das Saarland das elfte Bundesland der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Dass das kleinste Flächenbundesland im äußersten Südwesten der Republik erst durch diese sog. „Kleine Wiedervereinigung“1 dem heutigen Bundesstaat beitrat, gerät gerne in Vergessenheit, versteht man doch unter Wiedervereinigung gemeinhin das deutlich geschichtsträchtigere Ereignis des Jahres 1990 in Form des Beitritts der fünf östlichen Bundesländer, die zuvor die Deutsche Demokratische Republik bildeten, sowie Berlins (Ost). Dabei kann auch das Gebiet am namensgebenden Fluss Saar, welcher in den Vogesen entspringt und kurz vor Trier in die Mosel mündet, auf eine sehr wechselreiche Geschichte und auch insbesondere eine ereignisreiche erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zurückblicken. So durchlebte eine Person, die um das Jahr 1900 im Gebiet des Mittellaufs der Saar geboren wurde, fünf verschiedene Politiksysteme. Im schnellen Wechsel folgte auf die Zeit des Kaiserreichs und den Ersten Weltkrieg die Internationale Verwaltung durch den Völkerbund, ab 1935 der Nationalsozialismus inklusive des Zweiten Weltkriegs, danach die französische Besatzung, sowie anschließend die Zeit des autonome Saarstaats und schließlich der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland. Jeweils nach den humanitären Katastrophen beider Weltkriege entstanden als Versuch zur Lösung der deutsch-französischen ,Erbfeindschaft‘ visionäre Vorhaben einer Verwaltung des Saargebiets, die sich vom Konzept des Nationalstaats weitestgehend entkoppelten. Als Ausgleich für diese ,Experimente‘ aufgrund der wirtschaftlichen Attraktivität des Gebiets im Montanzeitalter wurden die Regierungsformen jeweils in Form von Plebisziten der Bevölkerung zur Disposition gestellt.2 Bei diesen beiden Abstimmungen der Jahre 1935 und 1955 stand nicht nur die Zugehörigkeit des Gebiets zu einem Nationalstaat, sondern jeweils auch die Ver1
G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), Ja und Nein. Das Saarreferendum von 1955, Historisches Museum Saar, 3. 10. 2005 bis 19. 2. 2006 (Ausstellungskatalog), S. 6. 2 Vgl. die Analyse bei N. Berman, But the Alternative is Despair, Harvard Law Review 108 (1992 – 93), S. 1792 ff. (1878 ff.).
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selbstständigung des Saargebiets zur Wahl. Die jeweiligen Sonderentwicklungen beeinflussten den Fortgang der europäischen Geschichte und schweißten die Bewohner an der Saar zu einer soziopolitischen Einheit zusammen.3 Nichtsdestotrotz entwickelten sich in dieser Regionalbevölkerung, die sich weit überwiegend als deutsch empfand, keine Separationsbewegungen. Im Gegenteil fielen beide Volksabstimmungen über das Gebiet jeweils mit großer Mehrheit für eine Einheit mit Deutschland aus. Der vorliegende Beitrag legt den Schwerpunkt auf diese Volksabstimmungen, deren Ausgang die saarländische, die deutsche aber auch die europäische Geschichte nachhaltig prägten. Zunächst soll jedoch eine historische Einordnung gegeben werden (II.). Die Abstimmung von 1935 wird dann insbesondere auf ihren völkerrechtlichen Hintergrund hin analysiert. Zudem sollen die politische und gesellschaftliche Ausgangslage als mögliche Gründe für das Abstimmungsverhalten betrachtet werden. Das Kapitel schließt mit einer knappen Untersuchung der Abstimmung selbst sowie den Folgen (III.). Nach der gleichen Methode wird die Abstimmung von 1955 untersucht (IV.). II. Historische Einordnung 1. Geographische Grundlage Das linksrheinische Gebiet an der mittleren Saar war als solches schon immer ein umstrittenes Grenzland zwischen den beiden europäischen Großmächten Frankreich und Deutschland.4 Zusammen mit dem benachbarten Großherzogtum Luxemburg bot das Land an der Saar von den Mittelgebirgen der Ardennen sowie dem Rheinischen Schiefergebirge im Norden und den Vogesen im Süden begrenzt ein relativ flaches Truppenaufmarschgebiet vom Rhein bis zur Île-de-France mitsamt Paris. Somit stellte das Gebiet in deutscher Hand schon immer ein Sprungbrett für einen Angriff auf das französische Machtzentrum dar.5 Diese militärstrategisch außerordentlich bedeutsame Lage6 führte unter anderem dazu, dass entscheidende Schlachten in dem Gebiet stattfanden, das Gebiet während des Ersten Weltkriegs in der Etappe lag oder auch die sog. Kaiserstraße Napoleons den südlichen Teil des Saargebiets durchzog.
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L. Linsmayer, Gründervisionen: Politik und Kultur im Saarstaat (1947 – 1955), in: L. Linsmayer (Hrsg.), Die Geburt des Saarlandes: Zur Dramaturgie eines Sonderweges, 2007, S. 19 ff. (19). 4 Vgl. E. J. Patterson, The Saar Referendum, in: EurYB 1958, S. 226 ff. (226). 5 S. Wambaugh, The Saar Plebiscite, 1940, S. 8. 6 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 6.
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2. Kurze Chronik bis 1918 In der Zeit vom Westfälischen Frieden bis zum Ende des Ersten Weltkriegs fiel das Gebiet an der Saar zweimal in seiner Gesamtheit unter französische Herrschaft. Beide Phasen addierten sich zwar nur zu insgesamt knapp 40 Jahren. Doch sollten diese Epochen prägend sein für den weiteren Verlauf der Geschichte, insbesondere ab 1920. Die restliche Zeit befand sich das Gebiet unter deutschen Territorialherrschaften. Die erste französische Epoche an der Saar wurde durch die Reunionspolitik von König Louis XIV. um 1680 eingeleitet. Bis zum Frieden von Rijswijk 1697 existierte mit Verwaltungssitz in der neugegründeten Garnisonsstadt Sarre-Louis (heute Saarlouis) die Verwaltungseinheit Province de la Sarre im Königreich Frankreich. Diese umfasste das Gebiet, das wir heute als Saarland bezeichnen sowie weitere Teile von der Mosel bis in die südliche Pfalz. Nach dieser Zeit bis zum Ausbruch der französischen Revolution setzte sich der kleingliedrige Flickenteppich des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation auch auf dem Gebiet an der mittleren Saar fort: Das Gebiet umfasste insgesamt 15 Reichsherrschaften und 2 Provinzen des Königreichs Frankreich, nachdem sich 1766 das Herzogtum Lothringen mit Frankreich vereinigte.7 Noch das heutige Wappen des Bundeslandes Saarland lässt die wichtigsten Territorialherrschaften dieser auch „Fürstenzeit“ genannten Epoche8 erkennen: Einflussreich und direkt an der Saar gelegen herrschten in Saarbrücken, St. Johann sowie dem Oberamt Ottweiler die Grafen von Nassau-Saarbrücken. Die Gebiete links der Saar und vom Warndt nordwärts waren unter der Herrschaft des Herzogtums Lothringen, welches im Jahr 1766 im Wege der Erbfolge an Frankreich fiel. Darüber hinaus sind noch das Erzstift und Kurfürstentum Trier sowie das Herzogtum Pfalz-Zweibrücken im heutigen Wappen des Bundeslandes verewigt. Auch das Saargebiet war also durch den Partikularismus des Heiligen Römischen Reichs geprägt. Eine Besonderheit stellte dabei die Garnisonsstadt Sarre-Louis dar, die 1680 nach Plänen des berühmten Festungsbauers Sébastien Vauban erbaut wurde und in der gesamten Zeit von 1682 bis 1815 zu Frankreich gehörte.9 Von 1766 bis zu den Koalitionskriegen bildete der Fluss Saar von Saargemünd bis Merzig die Ostgrenze Frankreichs.10 Die zweite Phase französischer Herrschaft an der Saar begann zunächst mit dem Verzicht der gesamten linksrheinischen Gebiete durch Österreich in geheimen Artikeln des Vertrags von Campo Formio 1797 und durch Preußen im Sonderfrieden von 7
R. Brosig, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Saarland – Ein Abriss, in: R. Wendt/R. Rixecker (Hrsg.), Verfassung des Saarlandes, 2009, S. 2 f. 8 R. Brosig (Anm. 7), S. 4. 9 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 20. 10 S. Wambaugh (Anm. 5). S. 24; Paul Vidal de la Blache, „La Frontière de la Sarre“, Travaux du Comité d’Études, I: L’Alsace-Lorraine et la frontière du Nord-est, 1918, S. 83 ff.
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Basel 1795. Dieser Zustand als Folge der Eroberungen Napoleon Bonapartes wurde durch den Vertrag von Lunéville dann auch 1801 völker- und staatsrechtlich formal bestätigt. Innerhalb des napoleonischen Reiches entstand das Département de la Sarre mit Verwaltungssitz in Trier. Diese Verwaltungs- als auch Wirtschaftseinheit umfasste beinahe das gesamte Gebiet des heutigen Saarlandes und darüber hinaus weite Teile am Oberlauf der Saar und der Mosel.11 Nach dem Ersten Pariser Frieden vom 30. Mai 1814 verblieben Saarbrücken und weite Gebiete des heutigen Saarlandes in Frankreich. Die europäischen Großmächte wollten Louis XVIII. als neuen Herrscher Frankreichs stabilisieren und gingen großzügig auf seine Forderungen ein. So wurden nicht nur die Gebiete an Frankreich geschlagen, die sich schon 1792 unter französischer Herrschaft befanden, sondern auch weitere Gebiete im südöstlichen Teil des Landes, die insgesamt dreiviertel des damaligen Saarkohlereviers abdeckten. Vor allem die Saarbrücker Bürgerschaft, geführt von dem Kaufmann Heinrich Böcking, drängte aber auf eine Vereinigung mit Preußen. Er brachte eine Petition mit 345 Unterschriften nach Paris, in der gefordert wurde Saarbrücken und die umliegenden Gemeinden mit der Preußischen Krone zu vereinigen.12 Nachdem Napoleons „Herrschaft der Hundert Tage“ durch die Niederlage bei der Schlacht von Waterloo beendet war, wurden im Zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 weitere Gebietsabtretungen Frankreichs festgeschrieben, die durch die Schlussakte des Wiener Kongresses bestätigt wurden. Die deutsch-französische Grenze verlief nun wieder westlich der Saar in einem ähnlichen Verlauf zu heute. Das gesamte Saartal nördlich von Saargemünd geriet somit unter preußische Herrschaft. Dieses Gebiet an der Saar stellte zu diesem Zeitpunkt die erste und einzige Erwerbung Preußens dar, bei der die Forderung zum Erwerb ihren Ursprung im Volk des Gebiets hatte.13 Obwohl kein Plebiszit stattfand und das Ergebnis wohl eher auf eine kleine engagierte Gruppe der Saarbrücker Bürgerschaft zurückzuführen ist, lässt sich darin schon eine Tendenz der saarländischen Bevölkerung erkennen, die für die Volksabstimmungen im darauffolgenden Jahrhundert prägend sein wird. Nach dem Zweiten Pariser Frieden teilten sich also zunächst vier Staaten das Gebiet an der Saar, wobei der größte Teil unter die Herrschaft Preußens gelangte.14 Das Fürstentum Birkenfeld umfasste einen kleineren Teil bei Nohfelden und gehörte zum Großherzogtum Oldenburg. Angrenzend daran lag das Fürstentum Lichtenberg mit der Stadt St. Wendel, das unter der Herrschaft des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha stand. Ein Gebiet im Südosten, das ungefähr dem heutigen Saarpfalzkreis entspricht, wurde dem Königreich Bayern zugeschlagen. Als dann 1834 das Fürstentum Lich11
R. Brosig (Anm. 7), S. 4. S. Wambaugh (Anm. 5), S. 30 f. 13 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 31. 14 R. Brosig (Anm. 7), S. 7.
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tenberg an Preußen fiel, verblieben bis zur Reichsgründung 1871 noch drei Territorialherrschaften im Raum der Saar. Durch den am 10. Mai 1871 geschlossenen Friedensvertrag von Frankfurt, der die Friedensbedingungen für Frankreich nach der Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg formulierte, verlor das Gebiet an der Saar seinen Status als Grenzland aufgrund der Angliederung Elsass-Lothringens an das neugegründete Deutsche Reich. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs entwickelte sich das Gebiet an der Saar zum drittgrößten Schwerindustrierevier im Deutschen Reich und bildete als solches zusammen mit dem angrenzenden Lothringen eine wirtschaftliche Einheit.15 3. Fazit Unter deutscher Herrschaft war das Gebiet an der Saar bis 1920 also durchgehend in verschiedenste Territorialherrschaften unterteilt. So zunächst innerhalb des Flickenteppichs des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation und später dann unter den Herrschaften Preußens, Bayerns und Oldenburgs. Erst mit der Reichsgründung war das gesamte Gebiet Teil eines einzigen Territorialstaates. In dessen innerstaatlichem System stellte der Raum um die Saar zusammen mit dem angrenzenden Lothringen aber auch lediglich eine wirtschaftliche Einheit dar. Politisch und administrativ herrschte auf Landesebene immer noch eine Separierung in die preußische Rheinprovinz und die dem Reichsland Bayern zugehörige Pfalz sowie den Landesteil Birkenfeld. Die Landesgewalt über das Gebiet lag also primär in Berlin und München. Unter deutscher Herrschaft existierte somit nie eine Verwaltungseinheit, dessen Zentrum an der Saar lag oder die gar die Bezeichnung des Flusses in ihrem Namen trug. Dies steht in Kontrast zu den Zeiten französischer Herrschaft: Schon unter Louis XIV. wurde die Province de la Sarre gegründet, ebenso später das Department de la Sarre unter Napoleon Bonaparte. Beide Einheiten gingen weit über die Grenzen des späteren Saargebiets hinaus, deuteten aber schon durch ihren Namen die Fokussierung auf das Gebiet um die Saar an. Dabei hatte sogar die Province de la Sarre ihren Verwaltungssitz in der neugegründeten Stadt Sarre-Louis am Westufer der Saar.16
15 Vgl. H. W. Herrmann, The Saar Basin under the Administration of the League of Nations, in: The League of Nations 1920 – 1946: Organization and Accomplishments, 1996, S. 55 ff. (55). Die Region des östlichen Lothringens wies ein reichhaltiges Eisenerzvorkommen auf. Dieses aufgrund seines geringen Eisengehalts genannte Minette-Erz und die Kohle aus dem Saarrevier waren die Grundstoffe für eine prosperierende Montanindustrie an der Saar. Durch den politischen Zusammenschluss 1871 (die Grenzziehung durch das Deutsche Reich richtet sich maßgeblich nach den Ergebnissen des Geologen Wilhelm Hauchcorne über genau diese Erzvorkommen) und den Ausbau der Transportkapazitäten mittels der Eisenbahn wuchsen Lothringen und das Saargebiet wirtschaftlich zusammen; H. Frühauf, Eisenindustrie und Steinkohlenbergbau im Raum Neunkirchen/Saar, 1980, S. 52 f. 16 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 22.
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III. Die Volksabstimmung 1935 1. Die Ausgangssituation aus rechtlicher Perspektive a) Die Saarfrage auf der Pariser Friedenskonferenz Die Saarfrage führte zu einer der stärksten Krisen im Rat der Vier während der Pariser Friedenskonferenz von 1919.17 Frankreich erhob weitreichende Forderungen, die auf den wirtschaftlichen sowie politischen Anschluss des Saargebiets zielten. Eine völkerrechtliche Begründung für diese Forderung suchte Frankreich in den historischen Rechten und Ansprüchen aus den Abkommen über den Ersten Pariser Frieden.18 Wie zuvor aufgezeigt, verlief die dort festgelegte „Einjahresgrenze von 1814“ deutlich weiter östlich als die Grenze ab 1815 und umfasste weite Teile des saarländischen Kohlereviers. Bei dem Vertreter des Vereinigten Königreichs, Premierminister Lloyd George, und dem US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson stieß der von Georges Clemenceau vorgetragene Plan Frankreichs jedoch auf Widerstand. Beide stellten sich gegen eine politische Angliederung des Gebiets um die Saar aus Rücksicht auf den „deutschen Charakter der Saarbevölkerung“.19 Einig war man sich jedoch, dass zumindest die Wiederherstellung in den Grenzen von 1870 erfolgen sollte, um das Unrecht an Frankreich aus dem Jahr 1871 wiedergutzumachen.20 Das wiederum bedeutete, dass die französische Grenze westlich der Saar verlaufen würde und nur die Teile Lothringens, die völkerrechtswidrig durch das Deutsche Reich annektiert wurden, an Frankreich zurückfielen. Das eigentliche Interesse der Franzosen lag jedoch vornehmlich in der wirtschaftlichen Bedeutung der Saarbergwerke und der Eisenhütten. Das zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs zusammengewachsene hochindustrialisierte Revier Lothringen-Saar drohte durch eine Zollgrenze zu zerfallen. Vor dem Hintergrund, dass der östliche Teil Lothringens unstrittig an Frankreich zurückgegeben werden sollte, lag es im französischen Interesse das interdependente Montangebiet zu erhalten.21 Insbesondere sollten die saarländischen Kohlegruben als Reparation für die zerstörten Werke in Nordfrankreich dienen. Auf französischer Seite herrschte 1919 die berechtigte Befürchtung, Deutschland könnte Frankreich bei der Produktion der wichtigsten Rüstungsgüter Kohle und Stahl schnell hinter sich lassen, wenn es auf die Ressourcen des Ruhrgebiets, Schlesiens und des Saargebiets zurückgreifen könnte und 17
S. Wambaugh (Anm. 5), S. 49 f. R. Brosig (Anm. 7), S. 8. 19 R. Brosig (Anm. 7), S. 8. 20 Vgl. Punkt VIII des 14-Punkte-Programms, Woodrow Wilson, 56. Congressional Record (8. Januar 1918), S. H691; https://www.govinfo.gov/features/fourteen-points-speech (zuletzt abgerufen am 01. 09. 2021); für dieses Kriegsziel sprachen sich im Laufe des Ersten Weltkriegs alle Alliierten aus; vgl. S. Wambaugh (Anm. 5), S. 37. 21 H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 55; S. Wambaugh (Anm. 5), S. 46. 18
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Frankreich zeitgleich mehrere Jahre benötigte, die Kapazitäten im Norden des Landes wieder aufzubauen.22 Schon vor dem Krieg hatte Frankreich ein jährliches Kohledefizit zu verzeichnen.23 Hinsichtlich dieser wirtschaftlichen Reparationsforderungen war man sich im Rat der Vier einig.24 Zusammenfassend führten die verschiedenen Verhandlungspositionen zu der Notwendigkeit eines Sonderregimes als Kompromiss zwischen den politischen und wirtschaftlichen Ansprüchen sowie einer nachhaltigen Friedenssicherung auf dem europäischen Kontinent.25 Dieser Kompromiss fand sich schließlich im ersten Saarstatut von 1920 wieder. b) Das (erste) Saarstatut Als Saarstatut werden die Art. 45 bis 50 (Kapitel IV Abschnitt III) des Versailler Friedensvertrags vom 10. Januar 1920 bezeichnet. Sie bildeten die Grundlage für das sog. Territoire du Bassin de la Sarre und gaben dem Gebiet somit zum ersten Mal ein gewisses staatsrechtliches Eigenleben.26 In der Zeit von 1920 bis 1935 stellte das Statut als Teil des Versailler Friedensvertrags quasi die Verfassung des auf Deutsch als Saarbeckengebiet oder einfach nur Saargebiet bezeichneten neuen politischen Territoriums. Somit wurde der 10. Januar 1920 zur Geburtsstunde eines eigenständigen Saargebiets in den Grenzen des Art. 48 Versailler Vertrags, in dessen Rechtsnachfolge auch noch das heutige Saarland steht.27 Die Schaffung eines eigenen Saargebiets kann in einer Linie mit den historischen französischen Verwaltungsbezirken (s. o.) gesehen werden, stellt als solches aber eine Erfindung des Völkerrechts verkörpert durch den Versailler Vertrag dar.28 In Art. 45 des Friedensvertrags trat Deutschland das unbeschränkte und unbelastete Eigentum inklusive einem ausschließlichen Ausbeutungsrecht an den Kohlegruben des Saargebiets an Frankreich ab. In Art. 49 Abs. 1 wurde die Regierungsform des Gebiets und der völkerrechtliche Status festgelegt und in Abs. 2 die Verpflichtung zur Abhaltung einer Volksabstimmung über den Status des Gebiets nach Ablauf von 15 Jahren nach dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags integriert. Art. 50 führte schließlich noch eine Anlage ein (im Folgenden: Saar Annex), die in ihren drei Kapiteln dezidierte Regelungen zur französischen Bergwerksverwaltung (Kapitel I),
22
S. Wambaugh (Anm. 5), S. 45, 48. S. Wambaugh (Anm. 5), S. 37. 24 S. Wambaugh (Anm. 5), S, 51. 25 Vgl. H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 55; R. Brosig, (Anm. 7), S. 8. 26 R. Brosig (Anm. 7), S. 2. 27 R. Brosig (Anm. 7), S. 10; vgl. die Feierlichkeiten zum sog. Saarhundert im Jahr 2020, Themenseite der Landesregierung, abrufbar unter: https://www.saarland.de/stk/DE/portale/saar hundert/programm/feierstunde/feierstunde_node.html (zuletzt aufgerufen am 01. 09. 2021). 28 N. Berman, (Anm. 2), 1879. 23
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zur Regierung des Saargebiets (Kapitel II) und zur Volksabstimmung (Kapitel III) enthielt. c) Völkerrechtliche Einordnung: Das Saargebiet als eigener Staat? Nach Art. 49 Abs. 1 Versailler Vertrag verzichtete das Deutsche Reich zugunsten des Völkerbunds auf die Regierung des Saargebiets. Somit verblieb die Souveränität über das Gebiet bei Deutschland, lediglich die Staatsgewalt wurde nicht ausgeübt.29 Diese übernahm vielmehr der Völkerbund30 im Rahmen einer Internationalen Treuhänderschaft.31 Anders als die Freie Stadt Danzig erhielt das neu geschaffene Saargebiet dadurch gerade keine völkerrechtliche Eigenständigkeit. Vielmehr lässt sich das Saargebiet während der Völkerbundzeit als suspendierter Gliedstaat des Deutschen Reiches mit beschränkter Völkerrechtssubjektivität im Rahmen des Saarstatuts qualifizieren.32 Mittels dieser partiellen Völkerrechtsfähigkeit trat es verschiedenen internationalen Organisationen wie beispielsweise der Universal Postal Union bei.33 Somit bestand eine enge Verbindung mit dem Deutschen Reich weiterhin fort. Gemäß § 27 Saar Annex verblieb auch die deutsche Staatsbürgerschaft der Einwohner des Saargebiets unberührt. Auch blieb durch dieses Sonderregime das Recht der Saarbevölkerung, kommunale Vertretungen zu bilden, ihren Glauben frei auszuüben sowie die Stellung des Deutschen als offizielle Sprache unberührt (§ 28 Abs. 1 Saar Annex). Lediglich das Wahlrecht zum Reichstag wurde entzogen (§ 28 Abs. 2 Saar Annex). 29
J. Schwietzke, Saar Territory, in: R. Wolfrum (Hrsg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law (MPEPIL), 2008, Rn. 14; www.mpepil.com (zuletzt aufgerufen am 01. 09. 2021). 30 Wird vereinzelt auch als Völkerbundsmandat bezeichnet. Dennoch ist die Verwaltung des Saargebiets von 1920 – 1935 vom zeitgleich installierten Mandatssystem abzugrenzen, da beim Saargebiet der Völkerbund als Treuhänder direkt auftrat und das Mandat gerade nicht auf einen anderen Nationalstaat als Treuhänder übertragen wurde. Dies war gängige Praxis, obwohl es theoretisch auch dem Völkerbund selbst möglich gewesen wäre innerhalb des Mandatssystems i. S. d. Art. 22 Völkerbundssatzung das Mandat zu übernehmen. Vgl. R. Caplan, International Governance of War-Torn Territories: Rule and Reconstruction, 2005, S. 33. 31 Art. 49 Abs. 1 Versailler Vertrag bezeichnet den Völkerbund als Treuhänder. Eine explizite Nennung des Treugebers unterbleibt jedoch. Daraus abzuleiten, das Deutsche Reich hätte somit auch seine Souveränität über das Gebiet aufgegeben, wäre aber nicht mit einer systematischen Auslegung des Art. 49 Abs. 1 vereinbar. Vgl. dazu J. Schwietzke (Anm. 29) Rn. 14. Grundlegend zum Konzept territorialer Internationalisierung: C. Stahn, The Law and Practice of International Territorial Administration, 2008, S. 50 ff. 32 R. Brosig (Anm. 7), S. 10. 33 League of Nations O. J. 1 (1920), S. 67; Deutschland widersprach der Völkerrechtsfähigkeit des Saargebiets unter Bezugnahme auf die bestehende eigene Souveränität über das Gebiet; S. Wambaugh (Anm. 5), S. 79.
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d) Die Verwaltung durch den Völkerbund: Verfassungsrealität im Saargebiet Das im Saarstatut festgelegte Mandat des Völkerbunds umfasste im Wesentlichen drei Aufgabenfelder.34 Zunächst sah Art. 48 Versailler Vertrag die verbindliche exakte Grenzziehung vor, da das Gebiet als politische Einheit ein durch das Völkerrecht künstlich geschaffenes Novum35 darstellen sollte. Die schon im Vertrag abstrakt vorgegebene Grenze orientierte sich an den Kohlegruben und Wohnorten der Bergleute.36 Das Saargebiet setzte sich so aus den ehemaligen preußischen und bayerischen Landesteilen zusammen, ließ aber die nördlichen Teile des ehemaligen Herzogtums Oldenburg aus. Der zweite Auftrag umfasste das Aufstellen einer funktionsfähigen Regierung und Verwaltung für die Dauer von 15 Jahren. Dazu wurde die sog. Regierungskommission eingerichtet. Dieses aus fünf Mitgliedern bestehende Gremium, dem gemäß § 17 Abs. 1 Saar Annex ein Franzose, ein Repräsentant des Saargebiets sowie drei weitere Entsandte des Völkerbunds, die weder Franzosen noch Deutsche sein durften, angehörten, wurde durch den Völkerbundrat beauftragt und war auch nur diesem gegenüber verantwortlich. Die Regierungskommission war also nicht demokratisch legitimiert, sondern stellte als eine Art „supranationaler Technokratie“37 eine frühe Form des Instituts der direkten Internationalen Gebietsverwaltung dar.38 Die Kommission vereinte beinahe die gesamte Staatsgewalt in sich.39 Primär übte sie, wie der Name schon andeutet, eine Exekutivfunktion aus. Dazu waren in der Kommission alle Regierungsbefugnisse gebündelt, die zuvor dem Reich sowie den Reichsländern zugestanden haben (§ 19 Saar Annex). Darüber hinaus nahm die Regierungskommission jedoch auch weitreichende Legislativfunktionen wahr. Zwar enthielt § 23 Abs. 1 Saar Annex den Grundsatz, dass alle Gesetze, die zum 11. September 1918 in Kraft waren und nicht aufgrund des Kriegsnotstands erlassen wurden, auch weiterhin Bestand hatten. Diesen aquis der Reichsgesetzgebung konnte die Regierungskommission jedoch soweit modifizieren, als dieser in Einklang mit dem Saarstatut gebracht werden musste oder die Kommission dies aus allgemeinen Gesichtspunkten für opportun erachtete (vgl. § 23 Abs. 2 Saar Annex). Gleiches galt für das Abgabenerhebungsrecht gemäß § 26 Saar Annex. Auch im Bereich der Judikative spielte die Regierungskommission eine nicht zu vernachlässigende Rolle. So lag bei ihr das Auslegungsmonopol des Saarstatuts (§ 33 34
H. W. Herrmann (Anm. 15), 1996, S. 55. Vgl. N. Berman (Anm. 2), S. 1879. 36 T. Giegerich/L. K. Woll, Tribunal of International Composition in the Saar, MPEiPro, (2021), Rn. 3. 37 So N. Berman (Anm. 2), S. 1886. 38 Grundlegend dazu und m. w. N.: C. Stahn (Anm. 30), S. 43 ff. 39 Vgl. auch R. Caplan (Anm. 29), S. 30. 35
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Saar Annex) und auch das Recht wurde im Saargebiet in ihrem Namen gesprochen (§ 25 Abs. 4 Saar Annex). Diese Bündelung von Herrschaftsgewalt erscheint insbesondere vor dem Hintergrund problematisch, dass die Regierungskommission nur gegenüber dem Rat des Völkerbundes verantwortlich war. Der Präsident der Regierungskommission nahm als ausführendes Organ der Kommission eine zentrale Rolle ein (§ 18 Abs. 2 Saar Annex). Erster Präsident der Regierungskommission war der Franzose Victor Raoult. Er verstand sich vornehmlich als Agent Frankreichs und nicht als Repräsentant des Völkerbunds und sicherte gemeinsam mit den weiteren bis 1926 mehrheitlich profranzösischen Mitgliedern der Kommission Frankreichs Einfluss an der Saar.40 Diese erste Zeit war folglich auch von einer schrittweisen Annäherung an Frankreich geprägt. So erklärte die Regierungskommission beispielsweise 1923 den Franc zur einzig anerkannten Währung, obwohl § 32 Saar Annex nur den ungehinderten Umlauf der französischen Währung voraussetzte und es auch erlaubt hätte die Reichsmark beizubehalten.41 Gemeinsam mit der besonderen wirtschaftlichen Stellung Frankreichs aufgrund der Bergwerksverwaltung und dem Zollregime ähnelte diese neuartige Form der neutralen Internationalen Verwaltung unter diesen Vorzeichen dem Mandatssystem des Völkerbunds. Das Saargebiet war zwar de jure noch Teil des Deutschen Reichs, kann aber als faktischer Protektoratsstaat Frankreichs angesehen werden.42 In der Theorie wurde die Souveränität über das Saargebiet durch das Saarstatut in drei Teile aufgespalten: Die wirtschaftlichen Interessen an dem Gebiet wurden an Frankreich abgetreten; die Regierungsgewalt ging auf den Völkerbund über und Deutschland verblieb der formelle Titel der Souveränität.43 Als sich jedoch zu Beginn der Zwanzigerjahre der wirtschaftliche Teil und die faktische Regierungsgewalt in französischer Hand vereinigten, verblieb der formelle Titel als leere Hülse.44 Ab 1926 führten die Zusammensetzungen der Regierungskommission zwar zu einer neutraleren Verwaltung des Gebiets im Sinne des Saarstatuts. Das Verhältnis der Bevölkerung zur Regierungskommission war nichtsdestotrotz von einem Misstrauen gegenüber dieser landfremden Regierung, bestätigt durch die Erfahrungen der Anfangsjahre, geprägt.45 Auf Betreiben der saarländischen Bevölkerung wurde schon 1922 per Dekret der sog. Landesrat gegründet.46 Dieser wurde eingeführt, um das Verfahren der gemäß 40 H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 56; R. Brosig (Anm. 7), S. 11; N. Berman (Anm. 2), 1885. 41 J. Schwietzke (Anm. 29), Rn. 9. 42 N. Berman (Anm. 2), 1885; H. Coursier, Le Statut International du Territoire de la Sarre, 1925, S. 107 f. 43 N. Berman (Anm. 2), 1879. 44 Vgl. auch S. Wambaugh (Anm. 5), S. 78. 45 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 119 ff. 46 League of Nations, O. J. 3 (1922), S. 414 f.
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§§ 23 und 26 Saar Annex obligatorischen Beteiligung der lokalen Volksvertreter vor der Änderung bestehender oder der Einführung neuer Gesetze und Abgaben durch die Regierungskommission zu vereinfachen. Der Landesrat bestand aus 30 Mitgliedern, die über eine landesweite Liste nach den Grundsätzen der Verhältniswahl für eine Amtszeit von drei Jahren gewählt werden konnten.47 Damit gab es zwar ab 1922 eine direkt gewählte Volksvertretung. Dennoch lässt sich dieses Organ nur schwerlich als Parlament bezeichnen, fehlten doch alle klassischen Eigenschaften eines solchen. Der Landesrat besaß weder ein Interpellations- oder Vetorecht gegenüber der Regierungskommission noch ein Initiativrecht im Gesetzgebungsverfahren. Stellungnahmen, die außerhalb seines Aufgabenbereiches lagen oder insbesondere den politischen Status des Saargebiets betrafen, galten als nichtig.48 So stellte er ein reines Beratungsgremium ohne Beschluss- und Entscheidungskompetenz dar. Die Regierungskommission konnte sich ohne besonderes Verfahren über die Stellungnahmen des Landesrats hinwegsetzen. Dies geschah auch regelmäßig, da der Landesrat beinahe allen Rechtsakten der Regierungskommission widersprach, dies aber ohne rechtliche Bedeutung blieb.49 Jedoch darf der durch die Stellungnahmen ausgeübte politische Druck auf die Kommission und die Funktion der Volksvertretung als Sprachrohr der Bevölkerung nicht unterschätzt werden.50 Letztendlich konnte der Landesrat aber das demokratische Legitimationsdefizit als ,Geburtsfehler‘ der Internationalen Verwaltung nicht überwinden. Darüber hinaus wäre eine Unterordnung der Kommission unter den demokratisch legitimierten Landesrat aus Sicht des Völkerbundes völkerrechtswidrig gewesen.51 2. Die Ausgangssituation aus politischer Perspektive a) Der Abstimmungskampf Die Politik im Saargebiet von 1920 bis 1935 war von einer anhaltenden Divergenz der auf kommunaler und später im Landesrat agierenden politischen Versammlungen und Parteien auf der einen Seite und der Regierungskommission auf der anderen Seite geprägt.52 Der Abstimmungskampf, der zwar offiziell erst 1934 beginnen durfte, aber schon zuvor die Politik maßgeblich bewegte,53 war als solcher durch Vorgaben des Völkerbunds und des Saarstatuts reglementiert. 47
R. Brosig (Anm. 7), S. 12. Art. 8 des Dekrets v. 24. 03. 1922, League of Nations, O. J. 3 (1922), S. 414 f. 49 J. Schwietzke (Anm. 29), Rn. 8; S. Wambaugh (Anm. 5), S. 89. 50 R. Brosig (Anm. 7), S. 13. 51 Minutes of the 25th Session of the Council, League of Nations, O. J. 4 (1923), S. 909 ff. (913). 52 Vgl. grundlegend hierzu M. Zenner, Parteien und Politik im Saargebiet unter dem Vo¨ lkerbundsregime 1920 – 1935, Saarbru¨ cken 1966. 53 Vgl. die Beschlüsse des Landesrats, die regelmäßig zu diesem Thema ergingen, obwohl sie als ultra vires-Akte von der Regierungskommission als nichtig angesehen wurden (s. o.). 48
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Bis 1933 sprachen sich alle im Saargebiet agierenden Parteien für eine Rückkehr nach Deutschland aus.54 Dazu verbanden sie sich mit Ausnahme der Sozialdemokraten und der Kommunistischen Partei Saar zur sog. Deutschen Front.55 Diese Einheitspartei verfolgte das alleinige Ziel der Angliederung an das Deutsche Reich. Aufgrund des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland änderte zunächst nur die Saar-SPD ihren Kurs und trat ab 1933 für die Erhaltung des Status quo auf, auch wenn alle Parteien mit Ausnahme der NSDAP von den Ereignissen in Deutschland im Frühjahr 1933 erschüttert waren.56 Erst sechs Monate vor der Abstimmung schloss sich die Kommunistische Partei Saar, die zuvor das Völkerbundregime vehement bekämpfte, der Saar-SPD an und gemeinsam mit einer Minderheit der christlich geprägten Zentrumspartei (unter ihnen auch Johannes Hoffmann) bildeten sie als sog. Einheitsfront eine Gegenbewegung. Zahlenmäßig und auch unter propagandistischen Gesichtspunkten war die Einheitsfront der Deutschen Front, die bedeutende Unterstützung aus dem Deutschen Reich bekam, jedoch deutlich unterlegen. b) Die Abstimmung am 13. Januar 1935 Nach Art. 49 Versailler Vertrag sollte 15 Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags und somit der Installation des Sonderregimes an der Saar eine Volksabstimmung über die weitere Zugehörigkeit des Gebiets stattfinden. Bei dieser war die Bevölkerung des Saargebiets dazu aufgerufen sich für eine der drei folgenden Varianten auszusprechen: - die Erhaltung des durch den Versailler Vertrag eingeführten Regimes (Status quo), - die Vereinigung mit Frankreich, - die Vereinigung mit Deutschland. Die Erhaltung des Status quo als Antwortmöglichkeit wurde auf Vorschlag des britischen Premierministers Lloyd George schon am 10. April 1919 in die Verhandlungen über das Saarstatut eingeführt. Maßgeblich war die zu diesem Zeitpunkt bestehende Unsicherheit, welche Regierungsform in Deutschland entstehen würde. George selbst befürchtete einen Sieg des Spartakusbundes und somit das Entstehen einer kommunistischen Räterepublik auf deutschem Boden. Er wollte vermeiden, dass die Saarländer 1935 nur die Wahl hätten zwischen einer Angliederung an FrankSchon ab 1920 sahen die politischen Parteien im Saargebiet jede Frage als eine mit dem politischen Schicksal des Gebiets und letztendlich mit der Abstimmung verknüpft an. Vgl. S. Wambaugh (Anm. 5), S. 79 f. 54 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 120 ff. 55 Dieses Bündnis setzte sich aus der Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die Zentrumspartei, die Deutsch-Saarländische Volkspartei, die Wirtschaftspartei und die NSDAP zusammen. 56 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 121.
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reich oder an ein kommunistisches Deutschland.57 Man kommt nicht umher diese bittere historische Ironie festzuhalten, bedenkt man, dass die KP Saar ab 1934 für den Status Quo kämpfte, um einen Anschluss an das faschistische Hitler-Deutschland zu verhindern. Schon am 26. September 1922 hatte der Völkerbundrat einen ,Provisional Records Commissioner for the Saar Basin Plebiscite‘ bestellt, der schnellstmöglich Listen der Abstimmungsberechtigten anfertigen und beim Völkerbund in Verwahrung bringen sollte.58 Die Diskussion über die akribische Zusammenstellung der Berechtigten entbrannte sogar schon vor dem Inkrafttreten des Versailler Vertrags, da § 34 Abs. 3 Saar Annex auf den Zeitpunkt des Unterzeichnens des Vertrags abstellte, um die Abstimmungsberechtigten zu bestimmen und gerade nicht auf den Zeitpunkt der Abstimmung selbst.59 Im Januar 1934 wurde dann eine Abstimmungskommission bestehend aus vier Mitgliedern durch den Völkerbundrat eingesetzt, die insbesondere den Abstimmungsprozess organisieren und den Ablauf der Abstimmung überwachen sollte.60 Außerdem wurde ein „Supreme Plebiscite Court“ errichtet, der sich zunächst mit Anträgen und auch strafrechtlich relevanten Fällen bzgl. der Volksabstimmung befasste, aber auch noch ein Jahr nach der Abstimmung sicherstellen sollte, dass es nicht zu Verfolgungen aufgrund des Abstimmungsverhaltens Einzelner kommen würde.61 Insgesamt war der Völkerbund sehr darauf bedacht, Wahlmanipulationen zu verhindern: Die Stimmen wurden alle zentral gesammelt und unter strikter Bewachung ausgezählt und sodann nach Genf überführt und dort vernichtet.62 Für die damalige Zeit nicht selbstverständlich und insbesondere im Vergleich zu anderen Volksabstimmungen über Gebietszugehörigkeiten nach dem Ersten Weltkrieg genügte die Abstimmung demokratischen Grundsätzen und erfolgte frei von Gewalt, Zwang oder Manipulation. Das Abstimmungsergebnis vom 13. Januar 1935 ergab eine überwältigende Mehrheit von über 90 Prozent für die Vereinigung mit Deutschland, bei einer Beteiligung von beinahe 98 % aller Abstimmungsberechtigten. Auf die Möglichkeit der Vereinigung mit Frankreich (für die keine der nennenswerten politischen Gruppierungen im Abstimmungskampf eintrat) entfielen sogar weniger Stimmen als die ungültigen Stimmen. In keinem Abstimmungskreis ergab die Auszählung weniger als 83 % für die Vereinigung mit Deutschland.63 57
S. Wambaugh (Anm. 5), S. 56 f. League of Nations, O. J. 3 (1922), 1213 f. 59 Vgl. das ,Memorandum of the Political Parties of the Saar Basin‘, League of Nations, O. J. 3 (1922), S. 239 f.; S. Wambaugh (Anm. 5), S. 89. 60 H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 58. 61 H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 59. 62 H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 59. 63 H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 58. 58
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Prozentzahl
Status quo
46.613
8,87 %
Vereinigung mit Frankreich
2.124
0,40 %
Vereinigung mit Deutschland
477.089
90,73 %
ungültig
2.161
–
Summe
527.987
97,99 %
Registrierte Abstimmungsberechtigte
539.542
100 %
c) Mögliche Gründe für das Abstimmungsergebnis Die Verfassungsrealität führte insbesondere zu Beginn der Zwanzigerjahre schnell zu einem Gefühl von „französischer Besatzungspolitik“ in der Saar-Bevölkerung. Dieser Vorwurf setzte sich aus mehreren Faktoren zusammen: Zunächst sorgten französische Garnisonstruppen für die öffentliche Sicherheit, da noch nicht genügend lokale Polizeikräfte zur Verfügung standen. Auch wenn die Besatzungszeit der Franzosen offiziell mit dem Beginn der Arbeit der Regierungskommission endete, lag es im Interesse Frankreichs die Eisenbahnlinien sowie die Bergwerke durch eigene Truppen zu schützen bis genügend ,Saarlandjäger‘ als lokale Gendarmerie rekrutiert werden konnten.64 Saarländische Politiker und die Regierung des Deutschen Reichs protestierten auf Grundlage von § 30 Abs. 2 Saar Annex gegen dieses Vorgehen, da dieser explizit nur lokale Truppen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vorsah.65 In der Bevölkerung herrschte durch die Präsenz der französischen Truppen weiterhin ein Gefühl der Besatzung. Von Februar bis Mai 1923 kam es dann zu einem 100-Tage-Streik der saarländischen Bergleute aus Solidarität zur Arbeiterschaft im Ruhrgebiet nach der Besetzung desselbigen durch französische und belgische Truppen.66 Die Regierungskommission erklärte das Kriegsrecht und versuchte per Notverordnung67 für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu sorgen. Diese führte zu einer starken Einschränkung der Versammlungs- und Pressefreiheit, sah rigorose Strafen für politisch motivierte Vergehen vor und wurde vor allem durch die französischen Garnisonstruppen durchgesetzt. Das Vorgehen der Regierungskommission wurde in einem Ausschuss des Unterhauses des Vereinigten Königreichs zu dieser Zeit als außergewöhnlichster legislativer Machtmissbrauch eines durch den Völkerbund eingesetzten Gremiums bezeichnet68 und führte dazu, dass alle Mitglieder der Kommission nach Genf vor
64
League of Nations O. J. 1 (1920), S. 104; dies konnte erst im Jahr 1926 erreicht werden. Ab diesem Zeitpunkt wurden die französischen Truppen dann auch graduell abgezogen, s. S. Wambaugh (Anm. 5), S. 85. 65 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 84. 66 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 91. 67 League of Nations, O. J. 4 (1923), S. 421 ff. 68 House of Commons, ParlDebHC (1923) 163, column 2627.
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den Völkerbundrat geladen wurden, um Rechenschaft abzulegen.69 Das Vertrauen in die Kommission erlitt dadurch einen weiteren Verlust und die pro-deutschen Kräfte sahen sich als moralische Sieger. Ein Versuch die französische Kultur und insbesondere Sprache an der Saar zu etablieren, der stark von deutscher Seite kritisiert wurde, war die Öffnung der sog. Dominalschulen auch für Kinder deutscher Bergleute und für Kinder von Personen, die gar nicht der Bergwerksverwaltung unterstanden. Die französische Bergwerksverwaltung war gemäß § 14 Saar Annex dazu ermächtigt an den Bergwerken im Saargebiet französische Schulen zu errichten, um die Kinder französischer Bergleute zu unterrichten. In diesen Schulen wurde auf Deutsch und Französisch unterrichtet. Auch wenn Deutschland dies als Versuch französischer Propaganda wertete und ab 1922 die saarländische Politik, Presse und sogar Kirche diesen als Verstoß gegen § 28 Abs. 2 Saar Annex bekämpften, war die Öffnung der Schulen doch auf Anfragen einiger Saarländer selbst zurückzuführen, die ihren Kindern das Privileg einer zweisprachigen Ausbildung zukommen lassen wollten.70 Darüber hinaus stellt es ein inhärentes Problem der Internationalen Verwaltung dar, dass die Bevölkerung ohne Möglichkeit der politischen Partizipation auf Landesebene diese als Fremdherrschaft wahrnahm. Die proaktive Frankreichpolitik der Anfangsjahre unter Präsident Raoult verstärkte dieses Problem zusätzlich. Schließlich betrieben das Deutsche Reich und die pro-deutschen Parteien des Saargebiets von Tag eins an eine weitreichende Propaganda für eine Rückkehr nach Deutschland. Auf der Seite des Reichs gab es exemplarisch den Bund der Saarvereine bestehend aus Saarländern, die im Deutschen Reich sesshaft waren und der sich zum Ziel setzte, die Rückkehr des Saargebiets nach Deutschland zum erst möglichen Zeitpunkt umzusetzen.71 Die Ressentiments der Saarbevölkerung gegenüber der Internationalen Verwaltung durch die Regierungskommission und der französischen Bergwerksverwaltung wurden durch eine aus Deutschland finanzierte prodeutsche Presse verstärkt und durch eine extensive Kulturpropaganda unterstützt.72 Nach verbreiteter Ansicht war diese Propaganda aber nur möglich aufgrund der Identität der Saarländer als Deutsche. Dies stellt wahrscheinlich den ausschlaggebenden Grund für das sehr eindeutige Ergebnis des Plebiszits dar. Die saarländische Bevölkerung verstand sich immer als deutsch. Identitätsstiftend war vor allem die deutsche Sprache.73 Der Landesrat, das Sprachrohr der Bevölkerung, stellte gar in seiner ersten Sitzung fest, dass das Saarland und seine Bevölkerung schon immer 69
S. Wambaugh (Anm. 5), S. 92. Siehe zu dem gesamten Problem ausführlich S. Wambaugh (Anm. 5), S. 93 ff. sowie League of Nations, O. J. 4 (1923), S. 414 ff. 71 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 79. 72 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 79. 73 Die Sprachgrenze verschob sich zwar auch aufgrund der wechselhaften Geschichte, verblieb aber immer westlich des Saarlandes; S. Wambaugh (Anm. 5), S. 12. 70
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deutsch waren und es auch immer so bleiben wird.74 Im Saarland gab es weder ernst zu nehmende separatistische Bewegungen noch ein Minderheitsproblem, sondern es herrscht eine für Industriereviere außergewöhnlich homogene Bevölkerungsstruktur vor, die sich größtenteils als deutsch verstand.75 Die Schaffung einer eigenen saarländischen Identität war vielmehr eines der Ziele der Regierungskommission um das künstlich geschaffene Gebilde „Saargebiet“ zu festigen.76 Insoweit kann die Einschätzung französischer Experten von 1919, dass es eine latente frankophile Gesinnung bei der Saarbevölkerung gab, die in den fünfzehn Jahren der Völkerbundverwaltung geweckt werden könnte,77 historisch betrachtet als eine eklatante Fehlbewertung angesehen werden.78 3. Folgen Aufgrund des Abstimmungsergebnisses beschloss der Völkerbundrat nach den Vorgaben des § 35 Saar Annex am 17. Januar 1935 die Vereinigung mit dem Deutschen Reich zum 1. März 1935.79 Gemäß § 35 Saar Annex war der Rat nur verpflichtet das Ergebnis bei seiner Entscheidung zu berücksichtigen. Das Saarstatut sah also gerade nicht vor, dass das Ergebnis des Plebiszits ipso jure über den Status entscheidet. Bei einer Mehrheit von über 90 % wäre eine gegenteilige Entscheidung durch den Rat jedoch nicht mehr zu vertreten gewesen.80 Darüber hinaus ist zu beachten, dass es sich bei der Vereinigung mit Deutschland trotz der Terminologie völkerrechtlich nicht um eine Inkorporation handelte, da die Souveränität Deutschlands über das Gebiet ununterbrochen bestand. Vielmehr beschloss der Rat des Völkerbundes die Rückübertragung der Regierungsgewalt auf das Deutsche Reich.81 Innerhalb des Deutschen Reichs verblieb das Saargebiet dann als eigenständige Verwaltungseinheit und wurde nicht der preußischen Rheinprovinz und dem Reichsland Bayern zugeordnet. Es kam also nicht zu einer vollständigen Naturalrestitution auf administrativer Ebene. Durch das „Gesetz über die vorläufige Verwaltung des Saarlandes“ vom 30. Januar 193582 wurde erstmals die Bezeichnung „Saarland“ für dieses Gebiet eingeführt. Dabei überrascht, dass das Saarland als eigene Verwaltungseinheit erhalten blieb, ist doch dieses Gebilde historisch betrachtet eine franzö-
74
S. Wambaugh (Anm. 5), S. 88. E. Menzel, The Saar Problem, 1952, S. 3. 76 N. Berman (Anm. 2), 1876. 77 S. Wambaugh (Anm. 5), S. 67. 78 Schon 1922 wuchs das Bewusstsein in Frankreich, dass die Volksabstimmung nicht zugunsten Frankreichs ausfallen würde. S. Wambaugh (Anm. 5), S. 93. 79 League of Nations, O. J. 16 (1935), S. 133 ff. (461). 80 So auch: R. Caplan (Anm. 30), S. 30. 81 Vgl. H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 59. 82 Reichsgesetzblatt 1935 Teil I, S. 66 ff. 75
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sische Erfindung.83 Das Saargebiet selbst fand seinen Ursprung im Versailler Vertrag.84 Als solches wurde es vom Reichsminister des Auswärtigen noch im Januar 1935 als „das in Versailles künstlich geschaffene Gebilde“ bezeichnet, das als solches „ohne jeden Rest aus der Geschichte verschwinden“ sollte.85 Der Verpflichtung aus § 36 Saar Annex folgend wurden die Bergwerke an der Saar für 900 Millionen Franc von Frankreich zurückgekauft.86 Die weitere wirtschaftliche Angliederung an Deutschland erfolgte durch die Wiedereinführung der Reichsmark und der Verschiebung der Zollgrenze nach Westen. Schon am Tag der Bekanntmachung des Abstimmungsergebnisses flohen schätzungsweise 3300 Saarländer und 800 Deutsche, die schon zuvor aus dem Reich ins Saarland emigrierten, über die Grenze nach Frankreich.87 Insgesamt flüchteten ca. 8000 Emigranten aus dem Saargebiet in Folge der Abstimmung. Darunter auch einige deutsche Exilanten, die so ein zweites Mal emigrierten. Der Völkerbund sah sich als ehemaliger Treuhänder über das Saargebiet in der Pflicht die Geflüchteten zu unterstützen und verhandelte mit Frankreich und anderen Mitgliedsstaaten über die Aufnahme und Integration der Saaremigranten. Die Hilfe des Völkerbunds hielt bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an, wurde aber teilweise als nicht ausreichend angesehen.88 IV. Volksabstimmung am 23. Oktober 1955 1. Die Ausgangssituation aus rechtlicher Perspektive a) Besatzungszeit und Verhandlungen im Alliierten Kontrollrat: Notwendigkeit einer sui generis-Lösung der Saarfrage Die Kampfhandlungen des Zweiten Weltkriegs wurden im Saarland am 21. März 1945 durch den Einmarsch US-amerikanischer Truppen beendet. Diese richteten sodann ein provisorisches Regierungspräsidium ein und übergaben dieses am 6. Juni 1945 an die französische Besatzungsmacht.89 Im Februar 1946 separierten die Franzosen das Saargebiet in den Grenzen von 1920 von der restlichen Besatzungszone und setzten sodann am 8. Oktober 1946 eine „(Einstweilige) Verwaltungskommission für die Saar“ ein, die einen Tag später 83
So auch R. Brosig (Anm. 7), S. 8. E. J. Patterson (Anm. 4), S. 226. 85 R. Brosig (Anm. 7), S. 15. 86 Deutsch-Französisches Abkommen über die Übertragung des Eigentums des französischen Staates an den Gruben, Eisenbahnen und anderem unbeweglichen Vermögen im Saarland, RGBl. 1935 II, S. 135 ff. (142). 87 H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 60. 88 H. W. Herrmann (Anm. 15), S. 60. 89 E. J. Patterson (Anm. 4), S. 227. 84
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ihre Arbeit aufnahm.90 Nach drei weiteren Gebietsänderungen in den Jahren 1946, 1947 und 1949 erhielt das Saarland seine noch heute gültigen Grenzen.91 Die französische Saarpolitik war jedoch nicht mehr wie noch 1919 offen auf eine politische Annexion ausgerichtet, sondern vielmehr forcierte man ab 1946 nur noch die Herauslösung aus der Zuständigkeit des Alliierten Kontrollrates und die wirtschaftliche Eingliederung sowie die Verwaltungskontrolle über das Gebiet inklusive der Stationierung französischer Truppen an der Saar.92 Dieser Vorschlag, der dem Regime des Versailler Vertrags stark ähnelte, scheiterte 14 Mal an einem Veto der Sowjetunion im Alliierten Kontrollrat.93 In dieser Zeit blieb die Saarfrage völkerrechtlich in der Schwebe. b) Die saarländische Verfassung als staatsrechtliche faits accomplis Obwohl die Nachkriegszeit an der Saar im Vergleich zu den Entwicklungen in den anderen Besatzungszonen somit wieder einmal von einem Sonderweg bestimmt war,94 begann auch die Verwaltungskommission im Laufe des Jahres 1947 mit Vorbereitungen zur Ausarbeitung einer saarländischen Verfassung. Dazu wurde eine Verfassungskommission einberufen. Der ausgearbeitete Verfassungsentwurf wurde durch den erstmals 1947 gewählten Landtag des Saarlandes als verfassungsgebende Versammlung am 15. Dezember 1947 verabschiedet.95 Das frühe Verabschieden einer Verfassung lässt sich auf das Drängen Frankreichs zurückführen, auf staatsrechtlicher Ebene Tatsachen schaffen zu wollen, die Frankreich auf völkerrechtlicher Ebene im Gegensatz zu 1920 nicht erreichte. Eine sui generis-Lösung96 war erforderlich, die man in dem Verabschieden einer Landesverfassung für ein autonomes Saarland sah. Die Westalliierten billigten dieses Vorgehen, auch wenn es völkerrechtlich nicht verbindlich festgeschrieben wurde. Sie machten aber zur Voraussetzung für dieses Gentlemen’s Agreement, dass die finale Lösung der Saarfrage mittels eines völkerrechtlichen Vertrags erfolgen sollte. Die Verfassung des Saarlandes und die von ihr etablierte Regierungsform stellten also erneut ein Provisorium dar. Die Saarländische Landesverfassung wurde mit Frankreich gemeinsam vereinbart und kann daher als derivative im Gegensatz zu einer originären Verfassung angesehen werden, war als solche aber trotzdem nicht oktroyiert wie noch das Saarsta-
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R. Brosig (Anm. 7), S. 18. R. Brosig (Anm. 7), S. 17. 92 BVerfGE 15 (1955), S. 157, 158. 93 R. Brosig (Anm. 7), S. 19. 94 Vgl. L. Linsmayer (Anm. 3), S. 19. 95 ABl. des Saarlandes, 67 (1947), S. 1077 ff. 96 E. J. Patterson (Anm. 4), S. 227.
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tut von 1920.97 Nichtsdestotrotz wies sie wesentliche Merkmale einer Protektoratsverfassung auf.98 Primäres Verfassungsziel war der wirtschaftliche Anschluss an Frankreich, der naturgemäß die politische Unabhängigkeit von Deutschland bedeutete (vgl. Präambel). Dieser Verfassungsauftrag führte dazu, dass politische Parteien, die sich für eine Wiedervereinigung mit Deutschland aussprachen als verfassungswidrig betrachtet und 1951 schließlich verboten wurden.99 Auch auswärtige Angelegenheiten und die Landesverteidigung wurden, wie für ein Protektoratsverhältnis üblich, von Frankreich wahrgenommen. Frankreich unterhielt außerdem einen Hohen Kommissar, der die französischen Interessen an der Saar vertrat und die Einhaltung der Verfassung überwachte.100 c) Völkerrechtliche Einordnung: Zwischen Autonomie und Protektorat Im Gegensatz zu dem Saargebiet von 1920 handelte es sich gemäß der Saarländischen Verfassung um einen von Deutschland losgelösten und autonomen Staat, der aber sowohl ökonomisch als auch in Bezug auf die Außenvertretung und Landesverteidigung mit Frankreich verbunden war.101 Das Saarland wurde von der Staatengemeinschaft und insbesondere der Bundesrepublik Deutschland nicht als souveräner Staat anerkannt.102 Damit sollte verhindert werden die unilaterale Lösung der Saarfrage völkerrechtlich zu manifestieren.103 Weiter wurde die Nichtanerkennung des Saarlandes als souveräner Staat damit begründet, dass aufgrund des Verbots der saarländischen Parteien, die sich für eine Rückkehr nach Deutschland aussprachen, die saarländischen Landtagswahlen nicht als demokratisch angesehen werden konnten und somit der Regierung des Saarlandes die demokratische Legitimität abgesprochen wurde.104 Somit konnte dieses Staatsgebilde im Gegensatz zu dem Saargebiet von 1920 auch nicht Mitglied internationaler Organisationen werden.105 97
R. Brosig (Anm. 7), S. 23. S. Bezüge zu Frankreich in der Präambel, Art. 60, Art. 61 (Landesfarben waren gem. Abs. 1 blau, weiß, rot), Art. 63, Art. 129 SVerf; R. Brosig (Anm. 7), S. 24 ff. 99 T. Giegerich/L. K. Woll (Anm. 36), Rn. 4; J. Schwietzke (Anm. 28), Rn. 19. 100 BVerfGE 15 (1955), S. 157, 159. 101 Vgl. die Präambel der Verfassung des Saarlandes v. 15. 12. 1947, ABl. des Saarlandes 67 (1947), 1077 f. 102 Als einziger Staat erkannte Frankreich das Saarland als eigenständiges Völkerrechtssubjekt an; J. Schiwetzke (Anm. 29), Rn. 21. 103 Vgl. die Ausführungen des Bundeskanzlers in der Sondersitzung der Bundesregierung vom 30. 05. 1951; //www.bundesarchiv.de/cocoon/barch/1021/k/k1951k/kap1_2/kap2_40/para 3_1.html (zuletzt abgerufen am 10. 09. 2021). 104 BVerfGE 15 (1955), S. 157, 159. 105 Das Saarland wurde zwar 1950 assoziiertes Mitglied des Europarates. Als solches nahm es aber nur in der Beratenden Versammlung und nicht im Ministerkomitee teil. Hervorzuheben 98
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Im Gegensatz zu 1920 verloren die deutschen Einwohner des Saarlandes auch durch das „Gesetz betreffend die saarländische Staatsangehörigkeit“ vom 15. Juli 1948106 ihre deutsche Staatsbürgerschaft, wenn sie die saarländische Staatsangehörigkeit erhielten. Französische Staatsbürger, die im Saarland wohnhaft waren, durften hingegen ihre Staatsbürgerschaft behalten. Zusammenfassend war das Saarland ab 1947 zwar formell ein autonomer Staat, der auf einer sich selbst gegebenen und gerade nicht oktroyierten Verfassung basierte, die die Eigenstaatlichkeit explizit hervorhob. Die Abhängigkeit von Frankreich war jedoch stärker ausgeprägt als in der Zeit von 1920 bis 1935. War das Saargebiet damals unter Internationaler Verwaltung, so stellte es nun einen Protektoratsstaat Frankreichs dar.107 d) Das Europäische Saarstatut: Europäisierung der Saar? Die Verfassung selbst sah die geschaffene Ordnung als Dauerlösung an, die Internationale Gemeinschaft jedoch nicht. Insbesondere die Westalliierten waren mit Blick auf den aufkommenden Kalten Krieg an einer endgültigen Befriedung der deutsch-französischen Spannungen interessiert, um Westeuropa zu stabilisieren.108 Die Saarfrage, die nur provisorisch geregelt wurde und die deutsch-französischen Beziehungen belastete, stand dem Friedensprozess der Europäischen Einigung im Weg.109 Die Zustimmung zu den Pariser Verträgen, die das Besatzungsregime in Deutschland beenden würden und den Grundstein für die Westintegration der Bundesrepublik bildeten, koppelten die Franzosen an eine Lösung der Saarfrage.110 Dies führte schließlich zur Unterzeichnung eines zweiten, europäischen Saarstatuts am 23. Oktober 1954, das das Problem lösen und final die deutsch-französischen Beziehungen
ist die frühe Unterzeichnung der EMRK schon im Jahr 1950. Für die EGKS regelte Art. 79 EGKS-Vertrag mit Bezugnahme auf einen Briefwechsel der französischen und der deutschen Regierung die Behandlung des Saarlandes explizit. S. zu diesem Briefwechsel: ABl. 1952, S. 316 f. In diesem Briefwechsel wurde auch festgehalten, dass der deutsche Beitritt zur EGKS nicht die Anerkennung der Saar als souveränen Staat impliziere; T. Giegerich/L. K. Woll, (Anm. 36), Rn. 5. 106 ABl. des Saarlandes 1948, S. 947 f. 107 R. Brosig (Anm. 7), S. 24 f. 108 J. Hoffmann, Das Ziel war Europa, 1963, S. 293. 109 Vgl. BVerfGE 15 (1955), S. 157, 159 f. 110 K. Altmeyer, Die Volksbefragung an der Saar vom 23. Oktober 1955, Europa-Archiv 11 (1956), S. 9049 ff. (9049); Hoffmann selbst bezeichnete dies als ,Saar-Junktim‘ in: J. Hoffmann (Anm. 108), S. 293 f.
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fördern sollte. Dieses Europäische Saarstatut stellte ein bilaterales Vertragswerk zwischen Frankreich und Deutschland dar.111 Dieses sah in Art. I die Billigung des Statuts durch eine Volksabstimmung vor. Sollte sich die saarländische Bevölkerung für das Saarstatut aussprechen, wäre das dort vorgesehene Regime für die Saar festgeschrieben und bis zum Abschluss eines Friedensvertrags unveränderlich für die Vertragspartner. Das Europäische Saarstatut sah als Regierungsform vor, dass ein Europäischer Kommissar die Außenvertretung des europäisierten Saarstaates übernimmt (Art. II), der auch Mitglied des Europarats und der EGKS geworden wäre (Art. III). Zu der wirtschaftlichen Verflechtung mit Frankreich, die seit 1947 bestand, hätte eine parallele Integration mit der Bundesrepublik erfolgen sollen. Dies wäre faktisch nur über die Realisierung eines europäischen Binnenmarkts machbar gewesen. Die erstaunlichste und wahrscheinlich auch weitreichendste Änderung für das Saarland hätte die in Art. XII vorgesehene Verlegung der Hohen Behörde der EGKS und somit auch Sitz der Montanunion nach Saarbrücken bedeutet. Die Landesregierung und die Stadt Saarbrücken hatten schon konkrete Pläne zur Bebauung des Saarufers mit repräsentativen Gebäuden.112 Befürworter des Saarstatuts hegten die Hoffnung, das Saarland könnte sich zu einem „District of Columbia“ für ein zukünftiges vereinigtes Europa entwickeln.113 2. Die Ausgangssituation aus politischer Perspektive a) Der Abstimmungskampf Vor der Abstimmung am 23. Oktober 1955 fand ein dreimonatiger Abstimmungskampf statt, der von einer durch den Ständigen Rat der WEU eingesetzten Europäischen Kommission für das Saar-Referendum (auch Internationale Kontrollkommission genannt114), überwacht wurde. Auf Anraten der Kommission wurde am 23. Juli 1955 ein Volksbefragungsgesetz (VBG) verabschiedet, das weitreichende Regelungen zum Abstimmungskampf sowie zur Abstimmung selbst enthielt.115 Auch weitere Änderungen des Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsrechts mussten durch den Landtag angenommen werden, um den Anforderungen des Art. VI Europäisches 111
Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über das Statut der Saar; Zustimmungsgesetz v. 24. 3. 1955 (BGBl. 1955 II, S. 295); ABl. des Saarlandes 87 (1955), S. 1023. 112 H. Grandmontagne, Das Saarland als Modellfall für die deutsche Einheit und die europäische Integration, in: R. Hudemann/R. Poidevin (Hrsg.), Die Saar 1945 – 1955, 2. Aufl., 1995, S. 312 ff. (315); G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), (Anm. 1), S. 56 f. 113 J. Hoffmann (Anm. 108), S. 454, 460; Das Europäische Saarstatut: Die Saar auf dem Weg zu einer Europäisierung; http://www.saar-nostalgie.de/Saarstatut.htm (zuletzt abgerufen am 06. 09. 2021). 114 J. Hoffmann (Anm. 108), S. 413. 115 Gesetz Nr. 457 betreffend die Durchführung der Volksbefragung über die Billigung des Europäischen Statuts für das Saarland; ABl. des Saarlandes Nr. 87 (1955), S.1024 f.
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Saarstatut gerecht zu werden.116 Insbesondere der Genehmigungszwang für politische Parteien wurde abgeschafft. So konnte neben der 1951 verbotenen DPS, auch die bis dato nicht zugelassenen CDU-Saar sowie die Deutsche Sozialdemokratische Partei (DSP) erstmals an die Öffentlichkeit treten. Das VBG enthielt in seinen §§ 26 ff. ausführliche Regelungen zum Abstimmungskampf. Außerdem zog man Lehren aus 1935 und jeglicher ausländische Einfluss in Form von finanzieller Unterstützung an politische Parteien, Organisationen oder die lokale Presse wurde verboten.117 Trotz der strikten Vorgaben durch das VBG, basierend auf dem Saarstatut selbst und unter Überwachung durch die eingesetzte Kommission, entwickelte sich der leidenschaftlich ausgetragene Abstimmungskampf im Jahr 1955 zu einer Propagandaschlacht, die an anderer Stelle als das größte Medienereignis der saarländischen Geschichte bezeichnet wurde.118 Für das Europäische Saarstatut sprachen sich insbesondere die Regierungsparteien Christliche Volkspartei (CVP) um Ministerpräsident Johannes Hoffmann und die Sozialdemokratische Partei des Saarlandes (SPS) aus. Unter ihren führenden Mitgliedern fanden sich viele Remigranten wieder, die auch 1935 für die Erhaltung des Status quo plädierten. Sie wollten mit dem Nationalsozialismus auch den Nationalstaat hinter sich lassen und sahen in der Europäisierung der Saar die einzige Lösung, um nicht den gleichen Fehler wie 1935 zu begehen.119 Gegen das Statut wandten sich die zuvor als verfassungsfeindlich verbotenen (DPS) oder nicht anerkannten Oppositionsparteien (CDU-Saar, DSP), die sich schon seit Inkrafttreten der saarländischen Verfassung für eine Wiedervereinigung mit Deutschland aussprachen. Nachdem sie zunächst ihre Strategien und Argumentation untereinander abstimmten, verbanden sie sich ab September 1955 im sog. Deutschen Heimatbund. Ihr „Nein“ zum Europäischen Saarstatut begründete dieses Aktionsbündnis damit, dass die Europäisierung der Saar tatsächlich eine endgültige Separation von Deutschland bedeutete und Frankreich mit seiner wirtschaftlichen Übermacht die neutrale Verwaltung des Gebiets durch die WEU und die politischen Freiheiten, die das Statut garantierte, ähnlich wie schon zu Völkerbundzeiten, illusorisch mache.120 Darüber hinaus lehnte auch die Kommunistische Partei Saar (KPS), als einzige oppositionelle durchgehend zugelassene Partei, das Europäische
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S. Gesetze Nr. 458, 459, 460 v. 8. 7. 1955, ABl. des Saarlandes Nr. 87 (1955), S. 1030 ff. Vgl. T. Giegerich/L. K. Woll (Anm. 36), Rn. 10. 118 G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), (Anm. 1), S. 7. 119 G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), (Anm. 1), S. 8; J. Hannig, Separatisten – Nationalisten? Zum Abstimmungskampf 1955, in: R. Hudemann/R. Poidevin (Hrsg.), Die Saar 1945 – 1955, 2. Aufl., 1995, S. 381 ff. (384 ff.). 120 K. Altmeyer (Anm. 110), S. 9052. 117
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Saarstaut ab, wenn auch aus anderen Gründen als die ,neuen‘ pro-deutschen Parteien.121 Viele Plakate und auch der Abstimmungskampf insgesamt in personeller und inhaltlicher Hinsicht erinnerten an 1935.122 Es gab über hundert verschiedene Plakatmotive, die oftmals deutlich überzeichnet waren und den politischen Gegner diffamierten.123 Der Abstimmungskampf brachte eine tiefe politische Spaltung der Gesellschaft hervor, die sich schon daran zeigte, dass sich zwei christlich-konservative Parteien genauso gegenüber standen wie zwei sozialdemokratische Parteien. Durch das öffentliche Auftreten der pro-deutschen Parteien kam es zu einer Eruption von Spannungen, die zuvor unterdrückt wurden.124 Die in dieser Form seit 1950 im Saarland nicht mehr bestandene Meinungsfreiheit mutierte dabei zu einer gewissen „Missbrauchsfreiheit“125 und die eigentliche Frage nach Annahme oder Ablehnung des Statuts rückte in diesem „überhitzten Dampfkessel“ in den Hintergrund.126 Die Gegner des Statuts bezeichneten den aufgrund seiner Statur als „Der Dicke“ diffamierte Johannes Hoffmann als Separatisten und erhoben anknüpfend an 1935 gegenüber der Landesregierung den Vorwurf des Vaterlandverrats. So spielten auch persönliche Fehden der Parteispitzen eine tragende Rolle während des Abstimmungskampfs.127 Anzumerken ist insoweit jedoch, dass nicht alle Gegner des Europäischen Saarstatuts auch gleichzeitig Gegner der Europäischen Idee waren. Vielmehr gab es auch Stimmen für den Weg nach Europa, die diesen aber nicht als autonomer Saarstaat, sondern gemeinsam mit Deutschland beschreiten wollten.128 b) Die Abstimmung am 23. Oktober 1955 Die Frage, die an die saarländische Bevölkerung am 23. Oktober 1955 gestellt wurde, lautete: „Billigen Sie das mit Zustimmung der Regierung des Saarlandes zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik am 23. Oktober 1954 vereinbarte Europäische Statut für das Saarland?“129
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Der Landesverband Saar der KP lehnte die Pariser Verträge und die damit einhergehende Westbindung der Bundesrepublik im Gesamten ab. K. Altmeyer (Anm. 110), S. 9052. 122 J. Hannig, Separatisten – Nationalisten? Zum Abstimmungskampf 1955, in: R. Hudemann/R. Poidevin (Hrsg.), Die Saar 1945 – 1955, 2. Aufl., 1995, S. 381 ff. (382). 123 G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), (Anm. 1), S. 7, S. 109, 119. 124 Vgl. K. Altmeyer (Anm. 110), S. 9053: „Ein gestauter Drang nach Freiheit entlud sich nun mit einem Male.“ 125 E. J. Patterson (Anm. 4), S. 230 (Übersetzung durch den Autor). 126 J. Hannig (Anm. 122), S. 382. 127 Vgl. E. J. Patterson (Anm. 4), S. 227. 128 E. J. Patterson (Anm. 4). S. 233. 129 J. Hoffmann (Anm.), S. 413 f.
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Es handelte sich also um eine Ja/Nein-Frage, die keine konkreten Handlungsoptionen enthielt wie noch 1935. Es ging gemäß Art. I Europäisches Saarstatut primär um die Billigung desselbigen durch die Bevölkerung und gerade nicht um die Zugehörigkeit des Saarlandes zu Deutschland oder Frankreich. Bei wiederum umfassender Beteiligung (97,55 %) sprachen sich knapp 68 % der Befragten gegen das Europäische Statut aus. Nur knapp über 32 % antworteten mit ,Ja‘. Das Ergebnis fiel also nicht mehr so deutlich wie noch 1935 aus. Dennoch lehnte eine Zweidrittelmehrheit der saarländischen Abstimmungsberechtigten die Europäisierung der Saar ab. Stimmen
Prozentzahl
Ja
201.973
32,29 %
Nein
423.434
67,71 %
ungültig
15.725
–
Summe
641.132
97,55 %
Registrierte Abstimmungsberechtigte
662.849
100 %
c) Mögliche Gründe für das Abstimmungsergebnis Auch bei der zweiten Volksbefragung innerhalb von 20 Jahren war das Ergebnis somit mehr als deutlich. Daher lässt sich auch hier nach den möglichen Gründen für das Abstimmungsergebnis fragen. Zum einen wird auf eine mögliche kollektiv-psychologische Überlastung aufgrund der Historie verwiesen, die dazu führte, dass sich der Großteil der Bevölkerung nach einer gewissen Stabilität sehnte und sich vor einem erneuten ,Experiment‘ der Regierungsform i. S. d. Europäischen Saarstatuts scheute.130 Diese Stabilität sahen viele in der Bundesrepublik des prosperierenden Nachkriegsdeutschland der fünfziger Jahre.131 Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Zukunft für den Fall einer Ablehnung des Statuts mindestens ebenso verschwommen aussah. Die pro-deutschen Parteien propagierten die Wiedervereinigung mit Deutschland jedoch als unweigerliche Alternative zur Annahme des Saarstatuts,132 auch wenn dies formal keine Stütze im Vertragstext fand. Hinzu kam, dass die Franzosen als Besatzungsmacht die Saarbevölkerung in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Vergleich zu den anderen Besatzungszonen überdurchschnittlich gut versorgten, dann aber sukzessive das wirtschaftliche Interesse verloren.133 Auch die saarländische Regierung um Johannes Hoffmann erlitt einen Vertrauensverlust, indem sie polizeistaatliche Methoden anwendete und Meinungsund Pressefreiheit nicht garantiert waren (s. o.). Während des Abstimmungskampfes schien die Entscheidung schon gefallen: Die Veranstaltungen der pro-deutschen Par130
Vgl. J. Hannig (Anm. 122), S. 383; G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), (Anm. 1), S. 7 f. G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), (Anm. 1), S. 7 f. 132 Vgl. J. Hoffmann (Anm. 108), S. 414. 133 G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), (Anm. 1), S. 7. 131
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teien waren gut besucht und von tosendem Beifall begleitet, während die Kundgebungen der Regierungsparteien von Unruhen durch Gegendemonstranten gestört wurden und über die eigenen Parteimitglieder nur wenig Zuspruch fanden.134 Dies entfaltete im Laufe des Abstimmungskampfes eine verstärkende Wirkung für die „Nein“-Sager. Die Ablehnung des Statuts kann vor allem auch als Abwahl der Regierung Hoffmann interpretiert werden. Zusammenfassend wurden die Saarländer mit einer noch nicht geklärten Identitätsfrage durch den Europagedanken überfrachtet. Eine politisch undurchsichtige Zukunft mischte sich also mit der unbewältigten Vergangenheit.135 3. Folgen Unmittelbar nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses trat Ministerpräsident Hoffmann zurück und schon am 29. Oktober 1955 nahm eine Übergangsregierung bis zu den Landtagsneuwahlen, welche am 18. Dezember 1955 stattfanden, die Geschäfte auf. Bei diesen Wahlen triumphierten die Heimatbundparteien. Sie formten anschließend die neue Regierung unter Hubert Ney, dem Vorsitzenden der CDU-Saar.136 Um die durch den Abstimmungskampf eingeführten demokratischen Freiheiten – insbesondere sollte niemand aufgrund seines Abstimmungsverhaltens nachteilig behandelt werden – zu sichern, wurde zunächst das Mandat der Abstimmungskommission verlängert137 sowie anschließend ein Internationaler Gerichtshof im Saarland durch die WEU eingerichtet.138 Die Folgen einer Ablehnung des Europäischen Saarstatuts wurden durch dieses selbst nicht geregelt. Auch wenn das Referendum nicht explizit danach fragte, so wurde das Ergebnis dennoch als Willen der Saarbevölkerung interpretiert, nach Deutschland zurückzukehren.139 Dies war auch die Verhandlungsposition der neuen Saarregierung, die ab Mitte Januar mit Frankreich und Deutschland in Konsultationen über die Lösung des weiterhin bestehenden Saarproblems trat.140 Während dieser Verhandlungen revidierte Frankreich seine Saarpolitik und stimmte schließlich im Luxemburger Vertrag vom 27. Oktober 1956141 gegen bestimmte wirtschaftliche Entschädigungen völkerrechtlich der Rückgabe des Saarlan134
K. Altmeyer (Anm. 110), S. 9054. G. Ames/L. Linsmayer (Hrsg.), (Anm. 1), S. 8. 136 K. Altmeyer (Anm. 110), S. 9058. 137 E. J. Patterson (Anm. 4), S. 239; K. Altmeyer (Anm. 110), S. 9057. 138 Siehe dazu grundlegend: T. Giegerich/L. K. Woll (Anm. 36), Rn. 2. 139 N. N., Le referendum en Sarre et les elections legislative du 18 Decembre 1955, in: Chronique de politique e´trange`re 9 (1956), S. 605 ff. (645). 140 K. Altmeyer (Anm. 110), S. 9058. 141 Zustimmungsgesetz v. 24. 3. 1955, BGBl. 1955 II, S. 295. 135
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des an die Bundesrepublik Deutschland zu.142 Somit endete die Zeit der engen Bindung an Frankreich an zweites Mal143 und auch letztendlich der lange Sonderweg des Saarlandes mit seinen wechselnden staatsrechtlichen Zuordnungen, der die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Saar-Bevölkerung charakterisierte.144 Der politische und staatsrechtliche Beitritt zur Bundesrepublik gem. Art. 23 GG a. F. erfolgte am 1. Januar 1957, nachdem der saarländische Landtag am 14. Dezember 1956 offiziell den Beitritt erklärte145 und in Deutschland der Bundestag das Gesetz über die Eingliederung des Saarlandes erließ.146 V. Resümee Die Saar-Historie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war geprägt von Überschneidungen der regionalen, europäischen und auch internationalen Geschichte. Das Grenzland diente zweimal als Laboratorium für Regierungsformen, die über das Prinzip des Nationalstaates hinausgingen.147 Auch wenn beide Internationalisierungsversuche letztlich am Willen der Bevölkerung scheiterten, ebneten sie doch jeweils den Weg für weitergehende Entwicklungen im Völker- und Europarecht: Das Saargebiet unter Internationaler Verwaltung wurde als „unbestreitbarer Fortschritt in der Geschichte des Völkerrechts“ beschrieben.148 Die Erfahrungen der Regierungskommission des Völkerbundes in den Jahren von 1920 bis 1935 legten den Grundstein für die völkerrechtliche Institution der Internationalen Gebietsverwaltung, die von den Vereinten Nationen während der Dekolonialisierung und zum Ende des 20. Jahrhunderts auf dem westlichen Balkan vermehrt Anwendung fand.149 Die Europäisierung des Saarlandes als Idee des Statuts von 1954 lässt sich auf den frühen Willen zurückführen, eine Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) zu gründen. Die Hoffnung bestand darin, dass sich die Saarfrage in einem Integrationsprozess, der nationale Grenzen obsolet werden lässt, quasi von alleine löst.150 Das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung und mit ihr verbunden das Scheitern der EPG rückte die Saarfrage 142
J. Schwietzke (Anm. 29), Rn. 23. T. Giegerich/L. K. Woll (Anm. 36), Rn. 2. 144 R. Brosig (Anm. 7), S. 2. 145 ABl. des Saarlandes 88 Bd. 2 (1956), S. 1645. 146 BGBl. 1956 Teil 1, S. 1011. 147 Die direkte Verwaltung durch den Völkerbund wurde schon zu dieser Zeit als „extraordinary experiment“ bezeichnet; s. N. Berman (Anm. 2), S. 1874. 148 Aus dem Französischen übersetzt durch den Autor; H. Coursier (Anm. 42), S. 139 f. 149 N. Berman (Anm. 2), S. 1878. S. dazu ausführlich, R. Caplan (Anm. 30), R. Wilde, International Territorial Administration, 2008. 150 K. Altmeyer (Anm. 110), S. 9049. 143
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jedoch wieder in den Vordergrund. Umso erstaunlicher erscheint es, dass man sich trotzdem für eine Europäisierung entschied. Nun sollte das Saarland ein Modellprojekt für die weitere Integration im Rahmen der EGKS und der WEU sein. Die Ablehnung des Europäischen Saarstatuts im Rahmen der WEU durch die Saar-Bevölkerung lässt sich insoweit auch als weitere Bestätigung – neben dem Scheitern der EPG – der funktionalen Methode Jean Monnets, manifestiert im Schuman-Plan,151 deuten. Zu einer Supranationalisierung des gesamten Gemeinwesens auf einem Gebiet um somit das tradierte Konzept des Nationalstaats als Herrschaftsordnung hinter sich zu lassen war die saarländische Bevölkerung, ggf. repräsentativ für Europa insgesamt, noch nicht bereit. In diesem Kontext darf aber nicht vergessen werden, dass eine Kumulation an verschiedenen Gründen zu der Ablehnung des Europäischen Saarstatuts geführt hat (s. o.) und eine singuläre Betrachtung als Ablehnung des visionären Konzepts zu kurz greift. Auch die Abstimmungen selbst verliefen jeweils unter internationaler Aufsicht in fortschrittlicher Art und Weise. Den heißgeführten und teilweise demagogisch geführten Abstimmungskämpfen folgten keine gewalttätigen Unruhen und die Saarländer äußerten ihre Wahl zwar in großer Zahl aber dennoch geordnet. In diesem Zusammenhang hervorzuheben sind die jeweils eingesetzten (teilweise internationalisierten) Tribunale, die die politische Verfolgung aufgrund des Abstimmungsverhaltens verhindern sollten. Mit beiden Voten für eine Vereinigung mit Deutschland, die maßgeblich von der Identität, Kultur und Sprache der saarländischen Bevölkerung geprägt waren, bestimmten die Saarländer nicht nur ihr eigenes Schicksal, sondern beeinflussten ebenso die europäische Geschichte. Das Saar-Problem als Ausdruck der Divergenz wirtschaftlicher und geostrategischer Interessen auf der einen und der Lebenswirklichkeit und Identität der Bevölkerung auf der anderen Seite, konnte nie isoliert, sondern nur durch den Fortschritt der Europäische Einigung bewältigt werden. Nicht die Lösung der Saarfrage war der Schlüssel für die Beendigung der deutsch-französischen ,Erbfeindschaft‘, sondern das aufeinander Zugehen beider Nationen im Sinne des Schuman-Plans führte letztendlich zu einer nachhaltigen Antwort für die Saar. *** Abstract Dennis Traudt: The People Decide on the Affiliation of the Saarland: The Referendums in the Saar in 1935 and 1955 (Das Volk befindet über die Zugehörigkeit des Saarlandes: Die Volksabstimmungen an der Saar 1935 und 1955), in: Referendums on Territorial Affiliation with 151 Erklärung des franz. Außenminister Robert Schuman v. 9. 5. 1950, abrufbar unter: https://europa.eu/european-union/about-eu/symbols/europe-day/schuman-declaration_de (zuletzt abgerufen am 10. 9. 2021).
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Dennis Traudt
Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert. H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 125 – 152. The history of the Saar Territory in the 20th century reflects the struggle to find a compromise solution between economic claims towards an economically attractive area and the right to selfdetermination of the inhabitants of this area. After both World Wars the Saar Territory was detached from Germany and put under special regimes which depended heavily on the support of France. Those regimes were unique creations of international law: From 1920 to 1935 one of the early forms of International Territorial Administration was established at the Saar under the auspices of the League of Nations. In 1954 a half-autonomous Saarland, which was in fact a protectorate of France, should be ‘Europeanized’ as a District of Columbia-style capital region for a future, fully integrated European State. This vision was never realized due to the negative vote of the referendum hold in 1955. Already in 1935, the populace of the Saar rejected nearly unanimously the continuation of the administration by the League of Nation, instead returning to now-fascist Germany. This contribution briefly analyses the legal as well as the political background of both plebiscites and asks the question, why the Saar populace gave a negative vote for visionary concepts twice in 20 years.
Die Anschlussbefragung im Land Salzburg 1921 Von Wilhelm Brauneder I. Deutschösterreich: Neugründung, Sezessionen, Anschluss 1. Einführung Die Anschlussbewegung1 ab der Gründung der Republik Deutschösterreich, insbesondere mit ihrer verfassungsgesetzlichen Fixierung am 12. November 19182 als Staatszielbestimmung, beruht auf mehreren Gründen. Dazu zählt ganz vorrangig der Umstand, dass der neue Staat sowohl in seinem von den Gründern beabsichtigten Gebietsumfang wie sodann in dem aufgrund des Vertrags von St. Germain als Republik Österreich eine absolut neue Erscheinung ohne historisches Vorbild war. Dieses Gebilde hatte es – ebenso wie die junge Tschechoslowakei und ähnlich den später Jugoslawien genannten Staat – in der Geschichte nie gegeben. Die kulturell-geografische Bezeichnung Deutschösterreich, in einer ähnlichen Vorform schon um 1685 gebraucht und dann gängig ab dem Vormärz, umfasste wesentlich mehr, nämlich im nichtungarischen Teil der Habsburgermonarchie, gerne Cisleithanien genannt, die rein oder auch deutschsprachigen Länder. Zu ihnen zählten neben etwa Niederund Oberösterreich besonders Böhmen und Mähren. Die nun 1918 für den neuen Staat zentral gewordenen Alpenländer aber hatten die Peripherie gebildet. Wiens größte Bahnhöfe, der Nordbahnhof und der Nordwestbahnhof, mit ihren Strecken nach Böhmen, Mähren, Galizien und darüber hinaus bis Berlin sanken nahezu zur Bedeutungslosigkeit herab und verschwanden schließlich ganz. Der Westbahnhof, von dem man nach Salzburg und Tirol in die Sommerfrische fuhr, stieg zum Hauptbahnhof auf. Der 1918 offiziell Deutschösterreich benannte Staat berief sich denn auch keineswegs auf eine historische, sondern auf eine ganz andere Grundlage, nämlich das eben vom US-Präsidenten Woodrow Wilson proklamierte Selbstbestimmungsrecht der Völker, und zwar ausdrücklich gleich eingangs der Staatsgründung3 am 30. Oktober 1918. In ihrem Zug entstanden daher auch zwei neue Länder, nämlich „Deutschböh1 Die Literatur dazu ist nahezu uferlos; u. a. jüngst A. Pelinka, Die gescheiterte Republik, 2017, S. 92 ff.; L. Höbelt, Die Erste Republik Österreich (1918 – 1938), 2018, S. 50 ff.; W. Brauneder, Geschichte der österreichischen Staaten, 2019, S. 178 ff. 2 StGBl. 5. 3 Zu den Ereignissen ab 1918 im Staat/Bund und in den Ländern W. Brauneder, Die Republik entsteht: Österreich 1918 – 1925, 2018.
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men“ und aus Teilen von Böhmen, Mähren und Schlesien „Sudetenland“. Sie vor allem gaben dem neuen Staat ein eigenartiges Aussehen, da beide von den übrigen Ländern das tschechoslowakische Staatsgebiet trennte, das deutsche aber zur Gänze benachbart war. Diese Gestaltung zwang dem neuen Staat nahezu nur zwei Perspektiven auf. Die eine bestand in einer neuen föderativen Vereinigung mit Teilen der untergegangenen Habsburgermonarchie vor allem wegen des gemeinsamen, sich ideal ergänzenden Wirtschaftsraums. Die zweite Alternative bestand in einer Staatlichkeit zusammen mit dem Deutschen Reich zufolge des gemeinsamen, ja vielfach identen Sprach- und Kulturraums mit regem Austausch. Bereits just um die Staatsgründung mehrten sich aber die Anzeichen, dass die erstere Variante bei allen übrigen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie strikte Ablehnung fand, was sich vor allem sogleich an deren wirtschaftlicher Abschottung drastisch zeigte. Über Nacht darbte Deutschösterreich buchstäblich an Kohl und Kohlen. Das betraf vor allem die Versorgung der Zwei-Millionen-Stadt Wien und die steiermärkische Hauptstadt Graz. Beide Städte hingen von teils erheblichen Zufuhren aus dem nunmehrigen slawischen Ausland ab, Wien von solchen aus der Tschechoslowakei, Graz von Südslawien, die vor allem für Wien zeitweise so gut wie vollkommen ausfielen. So blieb die zweite Variante – der Anschluss. Bis zum erwähnten 12. November hatte sich die Nationalversammlung entschlossen: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik“4, den aber erst weitere Gesetze herbeizuführen hatten. Gespräche über diese Zusammenführung fanden mehrfach statt. Schließlich unterzeichneten am 2. März 1919 Staatssekretär Otto Bauer und Reichsaußenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau ein Protokoll betreffend den „Abschluss eines Staatsvertrages über den Zusammenschluss des Deutschen Reichs und Deutsch-Österreichs“. Noch war in beiden Staaten die Verfassungsgestaltung zu keinem Abschluss gekommen und die Friedensverträge standen noch aus. So konnte man zahlreiche Details festlegen wie etwa Wien als zweite Reichshauptstadt und eine umfassende Rechtsangleichung. Jedenfalls sollte Deutschösterreich „als selbständiger Gliedstaat in das Reich“ eintreten, nicht also seine einzelnen Länder. Eine Prussifizierung Deutschösterreichs war mit diesem „Zusammenschluss“ in keiner Weise beabsichtigt wie auch nicht die Aufgabe seiner Staatlichkeit, die neben der Bayerns, Preußens, Sachsens im Deutschen Reich mit erheblicher Sonderstellung in vielen Belangen fortgedauert hätte. Schon bisher hatte es beispielsweise eine eigene österreichische Außenpolitik und Währungspolitik zufolge der Realunion mit Ungarn in der Habsburgermonarchie nicht gegeben, man konnte also nicht verlieren, was man ohnedies nicht besessen hatte. Die unverhoffte Situation des neuen Staates zeigte sich auch darin, dass für manche Länder die Zugehörigkeit zu ihm keineswegs selbstverständlich war. Am konsequentesten trat dies in Vorarlberg zutage. Die Landesverfassung vom März 1919 sprach vom „Bundesstaat“, dem das Land angehöre, benannte aber diesen nicht: Deutsches Reich oder Schweiz, Deutschösterreich war ja Einheitsstaat. Bereits An4
StGBl. 5/1918 Artikel 2.
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fang 1919 hatte die „Schweizer Anschlussbewegung“ begonnen und führte im Mai 1919 zur Volksabstimmung im Land, ob dessen Regierung mit jener der Schweiz in Verhandlungen über einen Anschluss an diese eintreten solle: Rund 80 % der abgegebenen Stimmen bejahten es. In Tirol befassten sich mehrere Pläne mit einer Sezesssion von Deutschösterreich um die Landeseinheit zu wahren. Sie reichten vom Beschluss der Landesversammlung eine selbständige und neutrale (!) „Republik Tirol“ auszurufen über derartige Kombinationen mit anderen Alpenländern bis zum Kirchenstaat unter päpstlicher Hoheit. Der Anschlussgedanke5 ging weit über das Staatsrechtliche hinaus. Ihm widmeten sich zahlreiche Vereinigungen vor allem auch aufgrund praktischer Gesichtspunkte. Im Rechtsbereich gab es die „Österreichisch-deutsche“ beziehungsweise die „Deutsch-österreichische Arbeitsgemeinschaft“ mit nahezu offiziösem Charakter durch hochrangige Mitglieder aus beiden Justizbereichen, welche in einzelnen Kommissionen die Rechtsangleichung vorbereiteten. Derartiges war nicht ohne Traditionen. Seit 1860 behandelte der „Deutsche Juristentag“ gemeinsam interessierende Rechtsprobleme mit Jahrestagungen auch in Österreich wie 1923 in Salzburg. Zum kulturellen Bereich sei beispielhaft das Zehnte Deutsche Sängerbundesfest zum einhundertsten Todestag von Franz Schubert 1928 in Wien erwähnt, an dem 160.000 Sänger vor allem aus Deutschland, aber auch deutscher Sprachinseln und Deutschamerikaner teilnahmen. Hier sprachen Bundespräsident Michael Hainisch und Reichstagspräsident Paul Löwe, der hervorhob, das Fest sei „zur größten Anschluss- und Einheitskundgebung der Deutschen geworden, die die Welt je gesehen hat“. Zur Zeit der Vorbereitungen bis zu den dann stattgefundenen Anschlussabstimmungen erst in Tirol und sodann in Salzburg, also im Zeitraum von etwa Jahresanfang bis Ende Mai 1921, waren zwar in der Diktion des Tiroler Landtags die Länder durch den Vertrag von St. Germain „in den staatsrechtlichen Verband der Republik Österreich gezwungen worden“, doch ward dieser Zwang keineswegs allseits und auf Dauer hingenommen. Die Sezessionspläne wie besonders in Vorarlberg und in Tirol wirkten noch nach. In Kärnten hatte erst im Oktober 1920 die Volksabstimmung das von ihr betroffene Gebiet bei Österreich belassen, das Burgenland war noch von Ungarn besetzt, das die für den 27. August 1921 vorgesehene Übergabe an Österreich gewaltsam hintertrieb und schließlich vereitelte, die Volksabstimmung um Stadt und Umgebung von Ödenburg (Sopron) sollte erst im Dezember 1921 stattfinden. Und noch 1923 hielt Hans Kelsen zu der von ihm mitgestalteten Bundesverfassung von 1920 in seinem Buch „Österreichs Staatsrecht“ fest: „Stärker als Oesterreich selbst ist sein Wunsch: aufzugehen im deutschen Vaterland“. Eingebettet in diese Stimmungen eines noch keineswegs etablierten, weitgehend traditionslosen und von manchen Ländern als provisorisch angesehenen Staatswesens liegen die Anschlussabstimmungen in Tirol und Salzburg von 1921, wie überdies in Oberösterreich und in der Steiermark geplant. Vorweg sei festgehalten, dass es 5
Brauneder (Anm. 1), S. 178 ff.
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sich bei diesen im Gegensatz zu den erwähnten Plänen von Sezessionen nicht darum handelte, die Abstimmungsländer von Österreich zu trennen. 2. Die unterschiedlichen Kraftfelder: Staat, Land, Ausland Auf die staatliche Willensbildung wirkten mehrere Kräfte ein6. Noch vor der offiziellen Staatsgründung am 30. Oktober 1918 – plakativ Staatsgesetzblatt Nummer 1 – hatte sich eine Art Ausschusslandtag der autonomen Landesverwaltungen am 22. Oktober bereit erklärt die künftige Staatsgewalt zu unterstützen7, was sogleich dadurch begann, dass die kaiserlichen Statthalter ihre Befugnisse dem Landesausschuss übertrugen und dies am 14. November ein Gesetz als „Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern“ sanktionierte. Damit war die gesamte allgemeine staatliche Verwaltung funktional zur Angelegenheit der Länder geworden, was deren Position über ihre bisherige Stellung als bloße „Kommunalverbände höchster Ordnung“ weit hinaushob und die künftige bundesstaatliche Struktur mitbestimmte. Gerade auch in der Verfassungsfrage traten die Länder als Partner des Staates auf, und zwar in entsprechenden „Länderkonferenzen“ zu diesem Thema. Andererseits hielt der Staat an der Außenpolitik fest, was sich besonders darin manifestierte, dass der Staatskanzler die Verhandlungen zu St. Germain führte. So bestimmten alsbald trotz der einheitsstaatlichen Staatsgründung sowohl der Staat, ab der Bundesverfassung 1920 der Bund, und auch die Länder das innenpolitische Geschehen. Die innere Entwicklung überschatteten allerdings wie ein Damoklesschwert die ehemaligen Kriegsgegner, die „Alliierten und Assoziierten“, zu denen nun etwa auch die Tschechoslowakei und der südslawische Staat zählten. Vor allem haftete Deutschösterreichs eigener Festlegung seiner Außengrenzen schon mit der Staatsgründung große Ungewissheit und angesichts der vielfältigen Besetzungen Unmöglichkeit an, sie war vom künftigen Friedensschluss abhängig. Diese Situation verfestigte sich durch den Vertrag von St. Germain, der den Vertragspartnern Überwachungs- und Eingriffsmöglichkeiten bot, welche diese gerade in der Anschlussfrage drastisch nutzten. Bund und Land standen unter nahezu entgegengesetzten Einflüssen. Auf die Landespolitik wirkten die Strömungen in der Bevölkerung direkt ein, sie sah und verspürte diese in unmittelbarer Nähe vor ihrer Haustüre nahezu täglich in den verschiedensten Erscheinungen. Die Bundespolitik wieder stand unter dem dauernden Einfluss, ja Druck der Alliierten, die auf die penible Einhaltung des Vertrags von St. Germain pochten. Sie hatte diesen an die Landesregierungen weiterzugeben. Umgekehrt konnte sie nur wenig nachhaltig auf die Stimmung im Land einwirken, zumal es ja noch zufolge des Fehlens jeglichen Rundfunks an einer prompten Kommunikation fehlte. Die Landesregierung geriet so unter zweierlei Druck: den der Bevölkerung
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Dazu mehrfach im Folgenden. Brauneder (Anm. 1), S. 170 ff.
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„von unten“ und den der Bundesregierung „von oben“, die ihrerseits dem der Alliierten ausgesetzt war. II. Vorbereitungen und Grundlagen Initiativen zu Anschlussabstimmungen setzten noch vor dem Inkrafttreten der Bundesverfassung 1920 ein8. So bildete der Tiroler Landtag im Mai 1920 eine Anschlusskommission. Vor allem beschloss am 1. Oktober 1920 die Konstituierende Nationalversammlung in ihrer letzten Sitzung nicht nur einstimmig das entsprechende Bundes-Verfassungsgesetz9 – es trat am 10. November 1920 mit der ersten Sitzung des von ihr vorgesehenen Bundesparlaments, des Nationalrats, in Kraft –, sondern auch ebenso einstimmig einen Resolutionsantrag, mit dem sie die Bundesregierung aufforderte eine Anschlussabstimmung durchzuführen, allerdings ohne dafür einen Termin zu bestimmen. Zufolge des Vorrangs des Parlaments seit der Staatsgründung kannte die Verfassungsordnung vor der Bundesverfassung 1920 allerdings keine Einrichtungen der direkten Demokratie, mit deren Inkrafttreten solche nur für Verfassungsänderungen sowie das Volksbegehren als Aufforderung zur Gesetzesinitiative der Bundesregierung gleich einem Resolutionsantrag des Nationalrates; die Landesverfassungen kannten derartige Einrichtungen überhaupt nicht10. So fehlte es an allgemeinen rechtlichen Grundlagen für die geplanten beziehungsweise in Tirol und in Salzburg tatsächlich durchgeführten Abstimmungen. Sie waren dafür ad hoc zu schaffen. Die zeitgenössische Terminologie wie die in der Sekundärliteratur schwankt daher auch zwischen den Ausdrücken „Befragung“ und „Abstimmung“. Für Salzburg ersetzte Anfang Mai 1921 in einer Kundmachung „Volksbefragung“ das Wort „Volksabstimmung“11. Am 23. November entsprach der Salzburger Landtag dem Vorbild Tirols und setzte gleichfalls eine Anschlusskommission ein. In Tirol folgte am 20. Januar 1921 der nächste bereits konkretere Schritt mit einem Resolutionsantrag des Landtags, der die Landesregierung aufforderte, die Bundesregierung zu einer Anschlussabstimmung spätestens am ersten Sonntag im Mai 1921 zu bewegen und falls diese nicht zu Stande 8 Zum Folgenden besonders M. F. Polaschek, Die „platonische Volksabstimmung“, in: ZNR 1 – 2/1998, 50 ff., mit weiterer Literatur und aufgrund von Archivmaterial stark chronologisch mit oft fehlenden sachlichen Zusammenhängen; R. Voithofer, Drum schließt euch frisch an Deutschland an …, 2000, S. 158 ff.; E. Bielka, Salzburger Volksabstimmung 1921 – auch manipuliert!, in: Saint-Germain 1919 (= Wissenschaftliche Kommission / Veröffentlichungen 11), 1989, S. 327 ff., detailreich aber mit misslungener Fixierung auf das Titelthema in Fortsetzung von ders., Die Volksabstimmung in Tirol und ihre Vorgeschichte, in: ebda., S. 303 ff. Bielkas Manipulationsthese fand bei so gut wie allen Historikern keinen Anklang; diese angeführt bei W. Wiltschegg, Österreich – der „Zweite deutsche Staat“?, 1992, S. 85 f. 9 B-VG: BGBl. 1/1920. 10 W. Brauneder, Österreichische Verfassungsgeschichte, 11. Aufl., 2019, S. 229. 11 Bielka (Anm. 8), S. 335.
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käme eine Landesabstimmung durchzuführen. Die Bundesregierung hegte außenpolitische Bedenken und teilte dies Ländervertretern im Februar 1921 bei einer Besprechung in Wien mit. Dies zu Recht, denn Frankreich hatte bereits den Resolutionsantrag vom 1. Oktober als Bruch des Vertrags von St. Germain angeprangert. Die Ländervertreter sahen die Bedenken der Bundesregierung ein und einigten sich auf länderweise Abstimmungen in konzertierter Vorgangsweise. Aber auch der Nationalrat blieb weiterhin tätig. Der Antrag vom 10. Februar 1921 auf Erlass eines Gesetzes zur Durchführung einer Anschlussvolksabstimmung kam in den Verfassungsausschuss, wurde hier modifiziert und am 12. Mai 1921 vom Nationalrat als „Anschlussbefragungsgesetz“ beschlossen – ohne einen Termin festzulegen. Dies sollte besonders der Beschwichtigung der Entente dienen. Als besonders gewichtig sah man zweitens den Gegenstand der Befragung an. Es hieß nämlich: „Die den Bundesbürgern vorzulegende […] Frage lautet: ,Soll die Bundesregierung beim Rate des Völkerbundes um die Zustimmung zum Anschlusse der Republik Österreich an das Deutsche Reich ansuchen?‘“ Mit dieser Fragestellung sahen sich die Bundesregierung und der beschließende Nationalrat ausdrücklich als handelnd „im Sinne des Art. 88 des Staatsvertrages von Saint-Germain“ an12. Er versah das Anschlussverbot mit der einschränkenden Klausel, „dass der Rat des Völkerbunds einer Abänderung zustimmt“. Damit stand man, wie die österreichische Bundesregierung gegenüber Entente-Mächten mehrfach erklärte, voll auf dem Boden dieses Vertrags, achtete das Anschlussverbot, was aber insbesondere von Frankreich nie so gesehen wurde13. Stets bremste die Bundesregierung in berechtigter Befürchtung außenpolitischer Maßnahmen wirtschaftlicher Natur wie der Einstellung von Lebensmittel- und Kohlelieferungen seitens der Entente, womit etwa Frankreich ausdrücklich durch seinen Gesandten in Wien am 14. April 1921 drohte, dem sich das Vereinigte Königreich und Italien anschlossen. Das Anschlussbefragungsgesetz wurde allerdings wegen eines rechtstechnischen Fehlers nicht kundgemacht.14 Zu einer bundesweiten Anschlussbefragung konnte es daher mangels gesetzlicher Grundlage nicht kommen. Das Volksabstimmungsgesetz wurde erst gemeinsam mit dem Anschlussbefragungsgesetz am 12. Mai 1921 vom Nationalrat beschlossen, das Volksbegehrensgesetz erst am 24. Juni 192115. III. Die Abstimmung im Land Salzburg Die Abstimmung im Land Salzburg zählt zu den von Ländervertretern im Februar 1921 vereinbarten aufeinander abgestimmten länderweisen Anschlussbefragungen. Den Vorreiter bildete Tirol aufgrund eines Landtagsbeschlusses vom 25. Februar 1921, am 11. März 1921 folgte ein solcher des Salzburger Landtags, am 8. April 12
Polaschek (Anm. 8), S. 58 Fn. 78. Polaschek (Anm. 8), S. u.a. 52 f., 55, 57, 60. 14 Polaschek (Anm. 8), S. 66 f.; Voithofer (Anm. 8), S. 167 f. 15 Polaschek (Anm. 8), S. 59 f.
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1921 ebenso die Steiermark, Oberösterreich am 27. April 192116. Sie alle standen unter der Voraussetzung des Nichtzustandekommens einer bundesweiten Befragung; bekanntlich war diese Voraussetzung gegeben. Festzuhalten ist insbesondere, dass keine dieser Länderbefragungen allein auf den Anschluss des befragten Landes abzielte, sondern sämtliche stets ganz Österreich betrafen17. Schon allein deshalb riefen sie alle jene Reaktionen hervor wie auch eine bundesweite Anschlussabstimmung. Die interessierten europäischen Entente-Staaten differenzierten politische Aktionen in Österreich natürlich nicht nach ihrer Herkunft aus Bund oder Land zumal sie als Einheitsstaaten für föderalistische Strukturen kein Verständnis haben konnten. Innerstaatlich kam dazu ferner das Argument, Außenpolitik sei kompetenzgemäß keine Länder-, sondern allein Bundessache, zusätzlich bei den Sozialdemokraten der Wunsch nach einem gesamtstaatlichen Vorgehen. Das Kompetenzargument gebrauchte sogleich im März 1921 zur geplanten Tiroler Abstimmung Bundeskanzler Michael Mayr, übrigens ein Tiroler; den Beschluss des Tiroler wie dann des Salzburger Landtags beanspruchte die Bundesregierung, diesen am 5. April. Daraufhin fasste erst der Tiroler, dann der Salzburger Landtag am 27. April eine Art Beharrungsbeschluss, und dieser setzte die Anschlussbefragung für den 29. Mai 1921 fest18. Mangels landesverfassungsrechtlicher Regelungen argumentierte die Landesregierung nahezu rechtstheoretisch-naturrechtlich: „Wie der Wille des Salzburger Volkes zum Ausdruck kommt, beurteile sich nicht nach der Bundesverfassung, sondern ist durch die Salzburger Landesverfassung […] zu regeln“, was aber nicht der Fall war. Ein Landtagsbeschluss wie über die Anschlussbefragung sei „eine interne gliedstaatliche Willenskundgebung“, sie „zu verwehren, hieße seine Gliedstaatlichkeit und damit auch den Bundesstaat leugnen“19. Zuvor hatte am 24. April 1921 die Abstimmung in Tirol stattgefunden und mit 98,6 % Ja-Stimmen ein überwältigendes Ergebnis für eine aktive Anschlusspolitik der Bundesregierung erbracht, was den Salzburger Bestrebungen großen Auftrieb gab und sich in einer Spendenbereitschaft niederschlug, die „außerordentlich groß“ war: Innerhalb der ersten zehn Tage gingen 11.460 Kronen ein, eine Volksschulklasse hatte 50 Kronen beigetragen20. Nun21 bemühten sich in der zweiten Maihälfte vor allem Bundeskanzler Mayr letztlich mit einer Weisung an den Landeshauptmann als Organ der mittelbaren Bundesverwaltung, ferner Innenminister Rudolf Ramek, selbst ein Salzburger, auch Friedrich Adler für die Sozialdemokraten die Salzburger Abstimmung ihres offiziellen Charakters zu entkleiden. Die Bemühungen hatten Erfolg. Am 18. Mai lag 16
Polaschek (Anm. 8), S. 52 ff., 57. Unrichtig daher u. a. Voithofer (Anm. 8), S. 172: Volksabstimmung „über den Anschluss Salzburgs an das Deutsche Reich“. 18 Polaschek (Anm. 8), S. 52 f., 56; Voithofer (Anm. 8), S. 163. 19 Voithofer (Anm. 8), S. 163. 20 Voithofer (Anm. 8), S. 165 f. 21 Polaschek (Anm. 8), S. 60 ff.; Voithofer (Anm. 8), S. 169 ff., insbes. 172. 17
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eine Parteieneinigung vor: „Da die Landesregierung als Bundesbehörde [in der mittelbaren Bundesverwaltung] durch die Vorstellung der Bundesregierung in der Durchführung der Volksbefragung am 29. Mai behindert ist, übernehmen laut der im Verfassungsausschusse abgegebenen Parteienerklärungen die im Landtag vertretenen Parteien selbst die weitere Durchführung dieser Volksbefragung und haben hierfür einen permanenten Sonderausschuss aus diesen Parteien bestellt, dessen Aufgabe es ist, das Ergebnis der Volksbefragung den kompetenten Behörden zur verfassungsmäßigen Weiterleitung an den Völkerbund zur Kenntnis zu bringen“. Bundeskanzler Michael Mayr hielt in einem Telegramm an den Salzburger Landeshauptmann fest, die „Volksbefragung“ müsse „als eine private Veranstaltung erscheinen“. Die Landesregierung widerrief im Landesgesetzblatt22 die Abstimmung und erteilte den nachgeordneten Behörden entsprechende Weisungen, beispielsweise dass keine Amtsräume verwendet werden dürften, der Landtag beschloss, sie von den politischen Parteien durchführen zu lassen und diese setzten den erwähnten „Sonderausschuss“ ein. Die Entente-Staaten zeigten sich davon allerdings keineswegs beeindruckt. Die Bundesregierung sah sich von ihnen mit mehreren Reaktionen konfrontiert, die sie an die Landesregierung weitergab: Schwierigkeiten beim bevorstehenden faktischen Erwerb des von Ungarn an Österreich zu übergebenden Burgenlandes, Besetzung österreichischer Gebiete durch die Tschechoslowakei und Jugoslawien, immer wieder wirtschaftliche Restriktionen. Die Vorbereitungen im Land Salzburg ließen sich aber nicht mehr rückgängig machen23. „Die Tage vor der Abstimmung waren von einer Volksfeststimmung geprägt. Die Häuser wurden beflaggt, die Stadt Salzburg war übersät von Plakaten und Flugblättern“, Abstimmungsberechtigte aus anderen Bundesländern „wurden am Bahnhof von Musikkapellen empfangen“, im Land gab es zahlreiche Veranstaltungen. Am 29. Mai 1921 fand die Abstimmung statt und brachte ein Ergebnis wie in Tirol: in den einzelnen Landesteilen zwischen 98,51 % (Flachgau) und 99,76 % (Lungau) Ja-Stimmen, landesweit 99,07 %. Es mag auffallen, dass in dem an Deutschland angrenzenden Flachgau die Zustimmung niedriger ausfiel als im deutschlandfernen Lungau – allerdings bei einer Differenz von nur gut einem Prozent. Muss zwar wegen mancher Mängel „die korrekte Abwicklung der Volksabstimmung im Sinne des Wahlgesetzes bezweifelt werden“, kann doch „die Aussagekraft des Ergebnisses dadurch nicht geschmälert werden“. Zur Abstimmung kam die Frage:24 „Soll die Bundesregierung beim Rate des Völkerbundes um Zustimmung zum Anschluss der Republik Österreich an das Deutsche Reich ansuchen?“. Damit folgte man dem vor etwa zwei Wochen am 12. Mai 1921 im Nationalrat beschlossenen Bundes-Anschlussbefragungsgesetz. Die rechtlich an 22
LGBl. 64/1921. Zum Folgenden Voithofer (Anm. 8), S. 173 f. 24 Brauneder (Anm. 1), S. 182. Die Sekundärliteratur geht auf die Abstimmungsfrage nicht ein: Polaschek, wie Fn. 1, 62; Voithofer (Anm. 8), S. 163, 174; Bielka (Anm. 8), S. 330, erwähnt die Festsetzung der Frage „Wird der Anschluss an Deutschland gefordert?“ in der Landtagssitzung vom 27. 04. 1921, nicht aber die weitere Entwicklung. 23
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sich reichlich harmlose Frage berücksichtigte wie dieses den Vertrag von St. Germain (Artikel 88) und wahrte überdies auch die außenpolitische Bundeskompetenz. Sie hatte die ursprünglich vorgesehene Frage „Wird der Anschluss an Deutschland gefordert?“ ersetzt, die sowohl völkerrechtliche wie verfassungsrechtliche Probleme eklatant hervorgerufen hätte. IV. Ausblick Ergänzend sei noch auf die Steiermark verwiesen25. Hier stand die Abstimmung mit 3. Juli 1921 nahe bevor, doch leitete der Rücktritt von Bundeskanzler Michael Mayr am 1. Juni 1923 eine Wende ein. Mit ausschlaggebend für diesen war die anfängliche Weigerung der Steiermark die Volksabstimmung abzusagen. Sein Nachfolger Johannes Schober erreichte das Ende der Anschlussbefragungen in den Ländern um das vom Völkerbund gestützte Sanierungswerk nicht zu gefährden, das 1922 die „Genfer Protokolle“ verwirklichten26. Wie auch in anderen Fragen, etwa den Grenzziehungen gegenüber der Tschechoslowakei und in der Untersteiermark, war Österreich wirtschaftlich erpressbar geworden. Die Anschluss-Euphorie flaute allmählich ab, wenngleich der Anschluss für alle Parteien zumindest ein Fernziel blieb27. Der Versuch28 einer Zollunion mit dem Deutschen Reich von 1931 scheiterte besonders am Widerspruch Frankreichs, der Haager Gerichtshof hielt ihn für unvereinbar mit den Genfer Protokollen 1922. Vor allem die ständisch-autoritäre Verfassung 1934 erteilte sodann dem Anschlussgedanken eine Absage mit der Wertung Österreichs als „zweiter deutscher Staat“. Für Deutschland galt beispielsweise 1934, es sei „der Anschluß für den kommenden [deutschen] Großraum nicht notwendig“, es genüge „ein selbständiges Österreich mit bewusster deutscher Führung“29. Das „Juli-Abkommen“ von 1936 zwischen dem Deutschen Reich und Österreich stand auf etwa diesem Standpunkt, wurde aber von Österreich nicht voll umgesetzt. Das folgende „Abkommen von Berchtesgaden“ vom Februar 1938 suchte Österreich mit einer in seiner Verfassung nicht vorgesehenen Volksabstimmung zu unterlaufen, was hier zu heftigen Gegendemonstrationen, zum deutschen Einmarsch und schließlich zum Anschluss führte.
25
Polaschek (Anm. 8), S. 62 f.; Voithofer (Anm. 8), S. 175. Brauneder (Anm. 10), S. 215 ff. 27 Höbelt (Anm. 1), S. 55 ff.; bei den weder im Nationalrat noch in den Landtagen vertretenen Kommunisten absorbiert durch das Ziel einer künftigen Welt-Sowjetunion. 28 Zum Folgenden bezüglich Österreichs Brauneder (Anm. 10), S. 217, 236 f. 29 E. Lauber, Österreich im Deutschen „Großraum“, 1934, S. 13. 26
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*** Abstract Wilhelm Brauneder: The Anschluss Referendum in the Province of Salzburg 1921 (Die Anschlussbefragung im Land Salzburg 1921), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 153 – 163. The Anschluss movement from the founding of the Republic of German Austria is based on several reasons. The state officially named Deutschösterreich in 1918 invoked the right of selfdetermination of peoples proclaimed by U.S. President Wilson, explicitly at the very beginning of the founding of the state on October 30, 1918. This design imposed only two perspectives on the new state. One consisted in a new federal union with parts of the defunct Habsburg Monarchy, mainly because of the common, ideally complementary economic area. The second alternative consisted in a statehood together with the German Reich because of the common, indeed in many cases identical language and cultural area with lively exchange. However, already at the time of the foundation of the state, there were increasing signs that the first option was strictly rejected by all other successor states of the Habsburg Monarchy, which was immediately and drastically demonstrated by their economic isolation. This left the second option – annexation to the German Reich. On March 2, 1919, State Secretary Otto Bauer and Reich Foreign Minister Ulrich von Brockdorff-Rantzau signed a protocol concerning the “conclusion of a state treaty on the union of the German Reich and German Austria”. The constitutional process in both states had not yet been completed and the peace treaties were still pending. Internal developments were influenced by the former wartime enemies, the “Allies and Associates”, which now included Czechoslovakia and the South Slavic state. This situation was consolidated by the Treaty of St. Germain, which offered the contracting parties opportunities for monitoring and intervention, which they used drastically, especially in the follow-up question. In the second half of May, politicians tried to strip a vote on an annexation in Salzburg and other provinces of its official character. The efforts were successful. According to the party declarations made in the Constitutional Committee, the parties represented in the provincial parliament alone will take over the further conduct of this referendum. The task is then to bring the result of the referendum to the attention of the competent authorities for constitutional forwarding to the League of Nations. The referendum in the province of Salzburg was one of the coordinated state-by-state annexation referendums agreed upon by state representatives in February 1921. On May 29, 1921, the vote took place in Salzburg and produced a result similar to that in Tyrol: in the individual parts of the province between 98.51 % (Flachgau) and 99.76 % (Lungau) votes in favor, and 99.07 % nationwide. The question “Should the Federal Government apply to the Council of the League of Nations for approval of the annexation of the Republic of Austria to the German Reich?” was put to the vote. This followed the Federal Annexation Questionnaire Act passed in the National Council about two weeks earlier on May 12, 1921. The question, which in itself was legally quite harmless, took into account the Treaty of St. Germain (Art. 88) and also preserved the federal competence in foreign policy. It had replaced the originally intended question “Is annexation to Germany demanded?” which would have caused glaring problems under both international law and constitutional law.
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The Anschluss euphoria gradually subsided, although it remained at least a distant goal for all parties. The attempt at a customs union with the German Reich in 1931 failed, especially because of France’s opposition, and the Hague Court considered it incompatible with the Geneva Protocols of 1922. Above all, the 1934 constitution, which was based on the authority of the estates, then rejected the Anschluss idea, with Austria being regarded as a “second German state”. The Anschluss was then carried out by the National Socialists.
Volksabstimmungen in Tirol 1920/1921 über den Anschluss an das Deutsche Reich: medialer Druck und politisches Ereignis Von Gunda Barth-Scalmani Gleich eingangs sind zwei mögliche Missverständnisse zu klären. Die Willenskundgebung der Tiroler Bevölkerung war nicht im Friedensvertrag von St. Germain vorgesehen, resultiert also nicht direkt aus den Pariser Friedensbestimmungen. Indirekt ist sie freilich mit der politischen und mentalen Gemengelage des Kriegsendes und der Nachkriegszeit in Verbindung zu bringen, in der das nationale Argument als politisches Ordnungsprinzip immer gewichtiger wurde. Nicht zuletzt schien dies auch im Vierzehn-Punkte-Plan des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilsons (1856 – 1924) von Januar 1918 zu liegen, wenngleich Wilson erst einen Monat später den Begriff der self-determination wortwörtlich verwendete. Damit war der Geist semantisch aus der Flasche und flirrte durch die damaligen politischen Diskussionen. Heute kann darauf hingewiesen werden, dass self-determination für Wilson nicht ausschließlich das Recht nationaler Unabhängigkeit und Staatsbildung auf der Basis eines ethnischen oder kulturellen nationalen Selbstverständnisses bedeutete, sondern in der Tradition der amerikanischen Verfassung auch als ein Recht der Selbstregierung (self government) verstanden werden konnte, das nicht zwangsläufig mit nationaler Homogenität verbunden war.1 Offiziell wurde in Tirol eine Volksabstimmung am 24. April 1921 durchgeführt und ist damit mit der in Salzburg am 29. Mai desselben Jahres abgehaltenen Befragung und dem in der Steiermark aus außenpolitischen Gründen dann später untersagten Referendum in einen Zusammenhang zu stellen. Im Titel wird allerdings der Plural von Volksabstimmung ganz bewusst gesetzt, weil es bereits ein Jahr vor dieser offiziellen Volksabstimmung eine durch ein Printmedium lancierte Willenskundgebung gab. Diese erzeugte ganz wesentlich jenen Druck, der dann zum offiziellen Referendum führte, so zumindest die These dieses Beitrages. Denn gerade in unserer Zeit ist die Sensibilität für ein Agenda-Setting jenseits der engeren politischen Sphäre gewachsen, weshalb in diesem Beitrag der von einem Printmedium „gepushten“ – wie man heute wohl sagen würde – Volksabstimmung ihr Platz im Ablauf der Ereignisse gegeben werden soll und daher von zwei Volksabstimmungen im Titel gesprochen wird.
1 E. Conze, Die Große Illusion. Versailles 1919 und die Neuordnung der Welt, 2018, S. 411.
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Werfen wir eingangs auch noch einen Blick auf zeitgenössische Wahrnehmungen, wie sie etwa Besucher und Besucherinnen eines gut sortierten Kaffeehauses machen konnten. Die wöchentlich erscheinende Karikaturzeitschrift Wiener Caricaturen nahm in ihrer Titelseite vom 1. Mai 1921 auf die Ereignisse in Tirol Bezug (Abb. 1).
Abb. 1
Unter dem Titel „Anschluß“ sah man einen ärmlich gekleideten Mann, von Alter (gebeugte Haltung und Stock) und Hunger (leerer Brotbeutel) gezeichnet, der für Österreich stand und sich der etwas besser genährten Figur des deutschen Michel zuwandte, die – angebunden an eine schwere Eisenkugel – auf einem Stockerl saß: „Österreicher zum (Reichsdeutschen): Ich bin ein Bettler, du ein Sträfling – wir sind reif zum Anschluß“. Eine der ältesten überregionalen illustrierten Wochenzei-
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tungen, Das Interessante Blatt,2 widmete am Donnerstag, 5. Mai 1921, dem zurückliegenden Tiroler Ereignis den ganzseitigen bildlichen Aufmacher am Titel3, einen Zweispalter im Inneren und davon getrennt drei Fotos von jener Kundgebung, die am Vortag der Abstimmung stattgefunden hatte (Abb. 2).
Abb. 2
Die zum gleichen Verlag gehörenden Wiener Bilder – Illustriertes Familienblatt4 hatten bereits am 1. Mai im Inneren eine kleine Bildstrecke mit kurzem Text gebracht, jedoch war in dieser Ausgabe das Begräbnis der deutschen Exkaiserin Viktoria Auguste (1858 – 1921)5 der wichtigere bildliche Aufmacher der Titelseite. Auf diese Orientierung „ins Reich“ auf der Ebene der Bildberichterstattung ist hinzuweisen, denn es wäre für das Titelbild auch der Bericht über den hohen Sieg (4:1) Österreichs beim Fußballländerspiel gegen Ungarn am 24. April möglich gewesen. Ver2 Vgl. Lisl Glück, Das Interessante Blatt und Der Kuckuck. Ein Beitrag zur Wiener Zeitschriftengeschichte. Dissertation. Universität Wien, Wien 1953. 3 Offenbar der einzige Bildbericht darüber in Österreich. 4 Die nachfolgend genannten Printmedien sind alle digital über ANNO (AustriaN Newspaper Online), das Repositorium der historischen Zeitungen der ÖNB einzusehen. 5 Viktoria Auguste war am 11. 04. 1921 im Exil in Doorn in den Niederlanden verstorben und würde am 19.d.M im Antikentempel vor dem Neuen Palais im Park von Schloss Sanssouci in Potsdam öffentlich aufgebahrt.
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bleiben wir noch bei dem Erfahrungshorizont der zeitgenössischen Medienkonsumenten, indem wir uns auch die Titelseiten einiger Tageszeitungen von Montag, 25. April 1921, vergegenwärtigen, also unmittelbar nach der Tiroler Volksabstimmung. Hier überlagerten sich mehrere Ereignisse. Denn am Sonntag hatte es im überwiegend agrarisch geprägten Bundesland Niederösterreich nach der administrativen Trennung von Wien (1. Oktober 1920) erstmals eine Landtagswahl gegeben und bei einem Trachtenumzug zum Auftakt der Bozner Frühjahrsmesse hatten erstmals Schlägertruppen der faschistischen Schwarzhemden Terror ausgeübt (sogenannter „Bozner Blutsonntag“6). In der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung vom 25. April 1921 dominierte ausschließlich die Berichterstattung über die Landtagswahl in Niederösterreich. Die christlich-soziale Reichspost hatte dazu ebenfalls eine gewichtige Schlagzeile, brachte aber bereits die Meldung über die Vorfälle in Bozen („Mordüberfall auf Deutschsüdtirol! Die Eroberer mit Bomben und Revolvern gegen unsere unterjochten Volksgenossen – Ein Toter und viele Schwerverletzte“),7 die großbürgerlich-liberale Neue Freie Presse vermeldete auf der Titelseite kurz das Tiroler Ergebnis und die Bozner Ereignisse und widmete beiden einen langen Leitartikel („Die Volksabstimmung in Tirol – Blutige Zusammenstöße in Bozen“). Auf der regionalen Ebene wurde auf beide Tiroler Ereignisse eingegangen, nur die Gewichtung war unterschiedlich. Die bürgerliche, zu diesem Zeitpunkt schon überwiegend deutschnationale Zeitung Innsbrucker Nachrichten titelte „Ein Freudentag in Nordtirol – ein Trauertag in Südtirol/Das Volk hat gesprochen!“ und „Ein blutiger Sonntag in Bozen“, während beim christlich-sozial orientierten Allgemeinen Tiroler Anzeiger die Meldung über das Bozner Ereignis („Ein Faszistenüberfall auf der Bozner Messe/Bomben und Revolverschüsse gegen die Deutschen. Oberlehrer Joh. Innerhofer8 erschossen. 43 Schwerverletzte“) rein optisch die Ergebnisse des Referendums („Anschluß an das Deutsche Reich/nahezu mit Einstimmigkeit gefordert“) im unteren Seitendrittel dominierte. Soweit alles klar, die Volksabstimmung geriet zu einem ungeheuren Erfolg, und die Medien reagierten dementsprechend darauf, nur in Nuancen sind aufgrund der politischen Einordnung der Blätter Unterschiede in der Art der Titelblattgestaltung feststellbar. Umso erstaunlicher ist es, dass ein derartiges Ereignis hundert Jahre später in der öffentlichen Erinnerungskultur gar keine Rolle mehr spielt, was seine Erklärung wohl nur darin findet, dass durch den sogenannten „Anschluss“ des Jahres 1938 und die daraus resultierende Verstrickung 6 St. Lechner, Der „Bozner Blutsonntag“: Ereignisse, Hintergründe, Folgen, in: H. Obermair/S. Michielli (Hrsg.), Erinnerungskulturen des 20. Jahrhunderts im Vergleich – Culture della memoria del Novecento a confronto (Hefte zur Bozner Stadtgeschichte/Quaderni di storia cittadina 7). Bozen 2014; S. 37 – 46. 7 Die wichtigsten Meldungen bzw. Überschriften befinden sich dem Lesefluss von links nach rechts folgend in Zeitungen meistens unter dem Titelkopf bzw. in der rechten Spalte und nehmen über die mittlere bzw. linke Spalte dann ab. 8 Das Opfer, ein Volksschullehrer aus Marling bei Meran, hieß allerdings Franz Innerhofer (1884 – 1921).
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Österreichs in das nationalsozialistische Unrechtsregime das Wort Anschluss und die damit verbundenen Gefühlslagen und Illusionen zu einem erkalteten „lieu de mémoire“ im Sinne von Pierre Nora geworden sind. In diesem Beitrag geht es um die Entwicklung der Anschlussfrage in Tirol im Kontext der Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Welche politischen Gruppierungen verhielten sich wie in der Zeit vor dem April 1921 zu dieser Frage? Beides sind Fragen, die bis dato vor allem von der Politikgeschichte behandelt wurden, gar kein Interesse hat hingegen bis jetzt die Mobilisierung der Bevölkerung durch die Printmedien gefunden. Ein paar Worte zur Literatur- und Forschungssituation: In Handbüchern zur Tiroler Landesgeschichte oder zur Geschichte der Ersten Republik wird die Volksabstimmung und ihr Ergebnis erwähnt, aber kaum eingehender behandelt. Eine Ausnahme stellten die Beiträge von Hermann J. W. Kuprian9 und Erich Bielka-Karltreu10 dar. Letzterer ist der einzige österreichische Autor, der Dokumente des Auswärtigen Amtes einbezieht. Auffallend ist, dass die Volksabstimmung als politisches Ereignis untersucht wird, der mediale Aspekt in zeitgenössischen Printmedien oder die Abschlusskundgebung als politische Manifestation aber kaum ausführlich behandelt wird. Als Schlaglicht auf die Zeit muss angemerkt werden, dass der die Volksabstimmung 1921 betreffende Aktenbestand des Tiroler Landesarchiv „in einer künstlerisch ausgeführten Mappe dem Führer und Reichskanzler anläßlich seines Besuches in Innsbruck am 5. April 1938 vom Landeshauptmann11 überreicht” wurde, in die die angefertigten Kopien, im Jahre 1975 die Originale aber wieder eingefügt wurden.12 I. Ausgangssituation: Kriegsende, fragile Staatsgründung, Friedensvertrag Wenn man heute vom Ende der Habsburgermonarchie spricht und damit auf Kaiser Karls (1887 – 1922) Verzicht auf die Ausübung der Staatsgeschäfte am 11. November 1918 sowie die am Folgetag erfolgte Proklamation der Republik Deutschösterreich verweist, so wird natürlich ein komplexes Geschehen zwischen der ge9 H. J. W. Kuprian, Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Th. Albrich/K. Eisterer/ R. Steininger (Hrsg.), Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen und Rahmenbedingungen, 1918 – 1938, (=Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte. 3), Innsbruck 1988. 10 E. Bielka, Die Volksabstimmung in Tirol und ihre Vorgeschichte, in: Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979, 1989, S. 303 – 326. Bielka war 1974 – 1976 parteiloser Außenminister unter Bundeskanzler Bruno Kreisky. Der Beitrag dürfte seine einzige historische Arbeit sein, als ehemaliger Berufsdiplomat wertete er bis dato als einziger auch Akten des Auswärtigen Amtes in Berlin aus. 11 Edmund Christoph (1901 – 1961) war von 13.3. bis 24. 5. 1939 kommissarischer Landeshauptmann, Otto Stolz (1881 – 1957) war Direktor des Landesarchivs. 12 TLA Präsidiale 1921, Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g, S. 190 – 194.
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samtstaatlichen Ebene und der Länderebene holzschnittartig verknappt. Das den meisten Österreicherinnen und Österreichern heute vertraute System eines republikanischen Staates mit neun Bundesländern und einer Bundesverfassung aus dem Jahr 1920 war in den ersten Jahren ihres Bestehens ein viel fragileres Gebildes als gegenwärtig angenommen. Um dies zu verstehen muss ein Blick auf die Situation in den letzten Wochen des Krieges geworfen werden. Durch die Ankündigung von Kaiser Karl am 16. Oktober 1918, die österreichische Reichshälfte in einen Bundesstaat umzuwandeln, wurden noch vor dem militärischen Ende der Monarchie am 3./4. November 1918 Zentrifugalkräfte freigesetzt und das politische Momentum verlagerte sich auf die historischen Länder. Die nichtdeutschen Nationalitäten riefen neue Staaten aus, am 28. Oktober wurde in Prag die Tschechoslowakische Republik proklamiert, einen Tag später löste der kroatische Sabor (Parlament) in Agram (Zagreb) seine staatsrechtlichen Beziehungen zum Königreich Ungarn und zu Österreich und rief den Staat der Slowenen, Kroaten und Serben aus, am 30. Oktober kündigte das Königreich Ungarn seine Realunion mit Österreich und Galizien schloss sich an das wiederbegründete Polen an. Bereits am 21. Oktober 1918 hatten sich die deutschsprachigen Abgeordneten aller Parteien des Reichsrats als Provisorische Nationalversammlung Deutschösterreichs konstituiert und am 30. Oktober 1918 die Errichtung eines Staates Deutschösterreich proklamiert, der alle deutschen Siedlungsgebiete Cisleithaniens einschließen sollte. All dies passierte während der Kaiser und seine Regierung noch im Amt waren, da ja der Verzicht auf die Ausübung der Regierungsgeschäfte erst am 11. November 1918 erfolgte. Das heißt noch bei Bestehen der k. k. Einrichtungen bildete sich auf ihnen das Fundament des neuen Staates, ohne dass seine Konturen schon scharf gewesen wären.13 In Tirol hatte davor, am 20. Oktober, der Tiroler Landesausschuss, bestehend aus dem Landeshauptmann und sechs Landesräten, einen „Nationalrat der deutschtiroler Landtagsabgeordneten“ ins Leben gerufen. Bezugnehmend auf Beschlüsse der deutschösterreichischen Nationalversammlung vom 25. Oktober bildete sich einen Tag später, am 26. Oktober, die Tiroler Nationalversammlung, die deutschtiroler Abgeordnete des Tiroler Landtages und des Reichsrates umfasste. Diese setzte einen 20köpfigen Ausschuss ein, den Tiroler Nationalrat (Landesausschuss und 13 Parteienvertreter: drei Christlichsoziale, drei Katholisch-Konservative, drei Sozialdemokraten, vier Deutschnationale), der sich als „Vollzugsorgan des deutsch-österreichischen Staatsrats“ am 1. November offiziell konstituierte.14 Allerdings zeigte sich bei dessen Eröffnungssitzung bereits, dass die Orientierung auf das in Entstehung begriffene neue Staatsgebilde nicht die einzige Option war. Denn Landeshauptmann Josef Schraffl (1855 – 1922), zugleich Obmann des Tiroler Bauernbundes, erklärte, dass er prinzipiell „für den Anschluß an Deutschland sei, da es für die deutschen Bauern 13
Vgl. dazu W. Brauneder, Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht, 2000, S. 121. J. Riedmann, Das Bundesland Tirol (1918 bis 1970); Bd. 4/II der Geschichte des Landes Tirol hrsg. von J. Fontana et al., S. 777 – 778. 14
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nichts Günstigeres geben könne, als den Anschluß an das Deutsche Reich“, doch sei es im Moment ungünstig, den Anschluß zu forcieren, weil der „Feind vor den Toren stehe“.15 Die Tiroler Behörden vollzogen bereits in den ersten Novembertagen den Treueid auf die „Regierung des Staates Deutschösterreich und der Verfassung dieses Staates“, obwohl es diesen formal noch gar nicht gab. Der Tiroler Nationalrat entschied sich schon am 11. November 1918 ohne Gegenstimme für die Annahme der republikanischen Staatsform.16 Bereits am 8. November hatte der Rektor der Universität Innsbruck die Professoren auf „den neuentstandenen Staat Deutsch-Österreich“ vereidigt.17 Daran zeigt sich, dass der neue Staat schon als existent erachtet wurde, obwohl es formal auch noch die Monarchie gab. Folgerichtig sprachen sich die Tiroler Christlichsozialen am 12. November in Wien im Parlament trotz Vorbehalten bei manchen Abgeordneten für die Errichtung der Republik aus, lehnten allerdings den zugleich proklamierten Anschluss Deutschösterreichs an das Deutsche Reich ab und verweigerten erstaunlicherweise zwei Tage später auch ihre Zustimmung zum Staatsgesetz, das die Übernahme der Staatsgewalt in den Ländern betraf.18 Trotzdem deponierte Ämilian Schöpfer (1885 – 1936), christlichsozialer Tiroler Politiker und Priester in Wien eine „Wohlmeinung“, es möge der deutschösterreichische Staatsrat den Anschluss an das Deutsche Reich vorbereiten. Um diese verwirrenden, auf den ersten Blick widersprüchlichen Befunde genauer einordnen zu können, müssen wir einen Blick auf die politischen Lager und ihre Milieus im Land Tirol werfen. Die Großdeutsch-Nationalliberalen waren bis zu Kriegende habsburgloyal, auch wenn sie sich aus wirtschaftlichen Gründen schon vor 1918 an Deutschland orientieren wollten. Die Deutschnationalen hatten nach den Vorfällen um die Italienische Rechtsfakultät 1904 – die Fatti di Innsbruck – Aufwind erhalten.19 Mit einem nationalen Schutzverein wie dem antiitalienischen Tiroler Volksbund20 erreichten sie auch die Honoratiorenschicht in den ländlichen Gemeinden, schon während der zweiten Kriegshälfte wurde ihre Absage an eine gemeinsame Politik mit Slawen und Ungarn immer deutlicher. Nach dem Krieg vertraten sie eine eindeutige Pro-Anschluss-Haltung. Darin bestand eine Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten, die gerade unter dem Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer 15 H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/ Eisterer/Steininger, S. 47. 16 Nach J. Riedmann (Anm. 14), Bundesland Tirol, S. 781 ff. 17 W. Brauneder, Deutsch-Österreich, S. 64. 18 H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/ Eisterer/Steininger, S. 47. 47. 19 Vgl. dazu M. Gehler, Michael, Die Fatti di Innsbruck oder Der Sturm auf die italienische Rechtsfakultät am 4. November 1904. Universität und Nationalismus, Trento 2013 und G. Barth-Scalmani, Universität Innsbruck 1900 – 1918. Vom Glanz des Fin de Siècle zum Trauma des verlorenen Krieges, in: M. Friedrich/D. Rupnow (Hrsg.), Geschichte der Universität Innsbruck 1669 – 2019. Bd. I/1: Phasen der Universitätsgeschichte: Von der Gründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Innsbruck 2019, S. 471 – 594, hier S. 500 – 517. 20 Vgl. dazu A. Thaler, Der Tiroler Volksbund. Wollen und Wirken, Dissertation Univ. Innsbruck 1962.
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(1881 – 1938), im Winter 1918/19 – allerdings unter anderen ideologischen Gründen – eine ganz dezidierte Anschluss-Politik verfolgten. Widersprüchlich, zumindest aber komplex war die Haltung gegenüber dem Anschluss bei den Christlichsozialen. Das hing auch damit zusammen, dass die Tiroler Volkspartei erst Ende Oktober 1918 aus dem Zusammenschluss des älteren katholisch-konservativen Lagers mit den jüngeren Christlich-Sozialen unter Aemilian Schöpfer entstanden war. Innerhalb der Volkspartei stellten die Vertreter des Bauernbundes die geschlossenste Gruppe dar.21 Zu diesen inneren Spannungen im Parteiengefüge kam im November 1918 auch die besondere Situation in Tirol: Das Land musste den Rückmarsch von rund einer halben Million Soldaten aus Oberitalien über Eisenbahnlinien und entlang der Straßen über sich ergehen lassen, die aus Hunger mit Gewalt Nahrung requirierten, sodass die Ernährungssituation ausgesprochen angespannt war. Ende November rückte in Nordtirol die italienische Besatzung ein, die zusätzlich aus dem Land verpflegt werden musste.22 Dazu kam ein zunehmender Gegensatz zu der in Wien amtierenden ersten republikanischen Regierung. Diese setzte sich aus Vertretern aller Parteien zusammen, wurde aber durch Staatskanzler Karl Renner (1870 – 1950) und den Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer, die die beiden ideologischen Flügel der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs verkörperten, als eine Regierung wahrgenommen, die mehr die Interessen der Zentrale als der Länder im Auge hatte. Insbesondere die von Bauer im Herbst vehement betriebene Anschlusspolitik wurde nicht von allen geteilt.23 Denn aus Tiroler Perspektive rückte der Erhalt der Landeseinheit des deutschsprachigen Tirols sehr bald in den Vordergrund, da seit dem Waffenstillstand italienische Truppen nicht nur bis zum Brenner, sondern auch in Innsbruck standen. Ohne auf Wiens Hilfe zu warten setzte das Land auch eigene außenpolitische Initiativen, um in der Schweiz und in München Lebensmittelhilfen zu erlangen.24 Im Januar 1919 kam es im Tiroler Landtag zu einer Erklärung hinsichtlich der gefährdeten Landeseinheit: „Die Frage der ungeteilten Erhaltung der gesamten deutschen und ladinischen Gebiete Tirols erfüllt das ganz Volk mit schwerer Besorgnis. Wir Tiroler erklären, daß wir unter gar keiner Bedingung in eine Abtretung Deutschsüdtirols willigen und lieber alle, auch die schwersten Opfer bringen, bevor wir auf die Zusammengehörigkeit mit unseren Brüdern in Deutschtirol verzichten. […] Zugleich soll eine Kommission in die Schweiz gesendet werden, welche Erhebungen 21 J. Riedmann (Anm. 14), Bundesland Tirol, S. 792; H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/Steininger, S. 49. 22 Vgl. dazu M. Lahner, Der Feind in der Heimat. Die Erfahrungen der Nordtiroler Zivilbevölkerung mit der italienischen Besatzung (1918 – 1920), Diplomarbeit Univ. Innsbruck 2012. 23 Vgl. dazu E. Hanisch, Der große Illusionist: Otto Bauer (188 – 1938), 2011, S. 157 – 161. 24 H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/ Eisterer/Steininger, S. 48.
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pflegen soll, [wie] das Volk von Tirol von seinem Selbstbestimmungsrecht entsprechend der durch den Krieg geschaffenen Lage Gebrauch machen kann“.25 Diese Debatte um eine Ausrufung einer selbständigen Republik Tirol von Kufstein bis zur Salurner Klause wurde im Frühjahr 1919 immer heftiger. Eine Tiroler Delegation besprach dies mit Staatskanzler Renner. Dieser erklärte zunächst, dass im November 1918 der Anschluss Deutschösterreichs wegen „drohender feindlicher Invasionen, wegen der Selbständigkeitsbestrebungen einzelner Länder und um gegenüber der Entente eine vollendete Tatsache zu schaffen und das österreichische Problem in den Vordergrund zu stellen, so rasch beschlossen wurde“.26 Selbständigkeitstendenzen der Länder würden natürlich die Anerkennung des Staates Deutschösterreich erschweren, weswegen Renner auch bat, das Thema nicht in der Öffentlichkeit breit zu treten. Je klarer in Österreich wurde, dass bei den Pariser Vororte-Gesprächen eigentlich gar keine Verhandlungen möglich waren, desto mehr hatte dies Rückwirkungen auf die Diskussion im Lande selbst und führte zu weiteren Verhärtungen. Am 12. März 1919 ließ Tirol in den Verhandlungen zur Bundesverfassung in Wien – als Deutschösterreich noch einmal in Artikel 2 zum Teil der Deutschen Republik erklärt wurde – eine Rechtsverwahrung deponieren, indem es diesbezüglich auf das Selbstbestimmungsrecht und die freie staatsrechtliche Entscheidungsgewalt des kommenden Landtags verwies.27 Durch eine Erklärung des US-Präsidenten Wilson vom 24. April 1919 musste zur Kenntnis genommen werden, dass Deutschsüdtirol Italien zugesprochen werden sollte, weil damit auch die italienischen Wünschen nach einer territorialen Erweiterung auf Kosten Jugoslawiens zurückgewiesen werden konnten.28 Dies führte zu einem Memorandum der Tiroler Landesregierung an die Pariser Konferenz vom 3. Mai 1919, „daß Tirol entschlossen ist, von dem vom Präsidenten Wilson als Grundlage eines gerechten Friedens wiederholt zugesicherten Selbstbestimmungsrecht Gebrauch zu machen und das geschlossene deutsche und ladinische Landesgebiet bis zur Salurnerklause als selbständigen, demokratischen und neutralen Freistaat Tirol ausrufen, falls nur dadurch die Einheit dieser Gebiete erhalten bleiben kann“. Andernfalls bliebe keine Alternative als sich an die deutsche Republik
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Stenographische Berichte der provisorischen Tiroler Landes-Versammlung vom 21. Dezember 1918 bis 13. Juni 1919, 3. Sitzung vom 20. Jänner 1919, S. 85, zitiert bei H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/ Steininger, S. 52. 26 Protokoll der Konferenz vom 14. März 1919, Tiroler Landesarchiv, landständisches Archiv, Obmännerkonferenzen 1918/19, zitiert nach H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/Steininger, S. 53. 27 H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/ Eisterer/Steininger, S. 53, bei J. Riedmann, Bundesland Tirol, S. 784 28 O. Überegger, Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918 – 1920, Paderborn 2019, S. 114 und 120.
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anzuschließen, damit die wirtschaftliche Lebensfähigkeit bewahrt werde.29 Dieser Zusatz hatte es den deutschfreiheitlichen30 Abgeordneten ermöglicht zuzustimmen, obwohl die Idee eines neutralen Freistaats Tirol überwiegend von den Vertretern der Tiroler Volkspartei31 getragen wurde. Einzig die Sozialdemokraten verweigerten ihre Zustimmung und unterstützten die Linie Bauers, der den Anschluss an Deutschland als Hauptziel verfolgte. Allerdings wollte man in der dominierenden Tiroler Sicht auch nicht wahrhaben, dass die Frage der Selbstbestimmung nicht nur Tirol betraf, sondern auf der Ebene der jungen Republik nur eine von mehreren offenen Fragen war: die deutschbesiedelten Gebiete Böhmen und Mährens, das überwiegend deutsch besiedelte Westungarn, die Frage der Gebietsansprüche des SHS-Königreiches Jugoslawien gegenüber Kärnten und Steiermark. Jedenfalls hatte man in Innsbruck den Eindruck, dass Tiroler Interessen von der jungen Staatsregierung nicht genügend vertreten würden.32 Wegen der nüchternen Aussichten auf die in Paris laufenden Verhandlungen geriet im Frühsommer die Diskussion um eine Selbständigkeit Tirols ebenso in den Hintergrund wie verschiedene Anschlussvarianten, darunter jene an Bayern, die im Verlauf des April 1919 solange dort eine Räteregierung das Sagen hatte, – ganz ins Abseits geriet. Die am 11. Mai in Vorarlberg stattfindende Volksabstimmung über die Aufnahme von Verhandlungen für einen Eintritt in die Schweizer Eidgenossenschaft wurde von der Mehrheit (81 %) bejaht, wohingegen sich 19 % der Stimmen, die der wirtschaftlichen, politischen und religiösen Elite zugerechnet wurden, dagegen aussprachen.33 Dies zeigte nur, dass die Zustimmung zum neuen Staat, ein halbes Jahr nach seiner Gründung, noch immer höchst fragil war. Während seine Vertreter in St. Germain-en-Laye auf die Entscheidungen der Alliierten warten mussten, intensivierten sich innenpolitisch die Diskussionen um die Verfassung, denn die Ausarbeitung derselben war die deklarierte Aufgabe der Koalitionsregierung unter Renner. Mitte Mai trafen sich Vertreter der sogenannten Alpenländer Salzburg, Tirol, Oberösterreich und Kärnten und waren sich darin einig, dass das Vertrauen zwischen Ländern und Staat nur hergestellt werden könne, wenn „die Verfassung so schnell als möglich festgelegt und darin die Kompetenzen genau ab29 J. Riedmann (Anm. 14), Bundesland Tirol, S. 784; H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/Steininger, S. 54 30 Die deutschfreiheitliche Partei war eine Tiroler Spielart unter den ursprünglich nationalliberalen, dann deutschnationalen Parteien, im städtischen Bürgertum an der Wende vom 19. Zum 20. Jahrhundert stark verankert und im Gegensatz zur Tiroler Volkspartei für eine strikte Trennung von (katholischer) Kirche und Staat. Vgl. zum heterogenen Hintergrund des sog. Dritten Lagers L. Höbelt, Kornblume und Kaiseradler. Die deutschfreiheitlichen Parteien Altösterreichs 1882 – 1918, Wien 1993. 31 Die Tiroler Volkspartei entstand am 27. Oktober 1918 durch den Zusammenschluss der bis dahin divergierenden älteren Bewegung der Katholisch-Konservativen mit den jüngeren Christlich-Sozialen. 32 J. Riedmann (Anm. 14), Bundesland Tirol, S. 784. 33 Die Eidgenossenschaft sprach sich, nicht zuletzt aus konfessionellen Gründen, für die Beibehaltung des Status-Quo aus.
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gegrenzt würden“.34 Zentrale Frage war dabei wie schon auch in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts die Machtbalance zwischen der Zentralregierung in Wien und den föderativen Interessen der Länder. Der Tiroler Delegierte Franz Stumpf (1876 – 1935)35 machte deutlich, dass sich die Landesregierung in der Anschlussfrage nicht präjudizieren lassen und gegebenenfalls ein Referendum durchführen wolle.36Am 14. Mai 1919 stellte der Tiroler christlichsoziale Abgeordnete Michael Mayr (1864 – 1922)37 in der Konstituante dementsprechend einen Verfassungsantrag, dessen Präambel ganz deutlich die föderativen Absichten der Alpenländer – und ihre konfessionelle Orientierung – widerspiegelten: „Wir freien Völker der selbstständigen Länder Österreichs [unter] der Enns, Österreich ob der Enns, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Tirol, Vorarlberg, Heinzenland38 und der Freistaat Wien schließen uns aus eigenem Antrieb und aus freiem Entschluß zum deutschen Bundesfreistaat Österreich zusammen und geben uns im Vertrauen auf Gottes gnädigen Beistand nachstehende Verfassung“.39 Mayr, der bis dahin den Tiroler Separationskurs vertreten hatte wurde im Oktober 1919 in einem geschickten Schachzug der Koalitionsregierung zum „Staatssekretär mit der persönlichen Aufgabe zur Ausarbeitung der Verfassungs- und Verwaltungsreform“ ernannt und hatte damit die schwierige Aufgabe, nun zwischen der Wiener Regierung mit ihren zentralen Absichten und den Ländern mit ihren föderativen Interessen sowie den dazu oft noch querliegenden Interessen der Parteien zu vermitteln. Diese Arbeit an der Verfassung wurde auch dadurch erschwert, dass sich die wirtschaftlich schwierige Lage Österreichs nicht besserte (Inflation, Mangel an Nahrungsmitteln und Heizstoffen), sodass es zu Beginn des Winters 1919/20 zu zahlreichen Hungerkrawallen kam. Auch in Innsbruck gab es Anfang Dezember (4. bis 6. 12. 1919) Plünderungen von Geschäften und Klöstern, die nur mit Hilfe der italie34 Konferenzprotokolle der alpenländischen Delegierten vom 13. 05. 1919 in Salzburg, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, NPA-Präs., Liasse Deutschösterreich 15/3, kt. 5, Länderkonferenzen, fol. 561 zitiert in H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/Steininger, S. 55. 35 Für die Christlich-Sozialen Reichsratsabgeordneter 1907, Abgeordneter zum Tiroler Landtag 1908, Mitglied der Tiroler Landesregierung 1918 – 1919, 1918/19 Mitglied der provisorischen Nationalversammlung, 1919 Mitglied der konstituierenden Nationalversammlung; Landeshauptmann-Stellvertreter von Tirol 1919 – 1921, Landeshauptmann von Tirol 1921 – 1935. 36 Vgl. H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/ Eisterer/Steininger, S. 55. 37 Vgl. dazu H. J. W. Kuprian, Bundeskanzler Michael Mayr Und Tirol: Historiker – Archivar – Politiker, Phil. Diss. Univ. Innsbruck 1989. 38 Das war eine zeitgenössische Bezeichnung für die deutschsprachigen Komitate WestUngarns. 39 Stenographischen Protokolle über die Sitzungen der Konstituierenden Nationalversammlung der republik Österreich (4. März 1919 bis 9. November 1920), 15. Sitzung vom 14. Mai 1919, S. 326 (Beilage 231) zitiert bei H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/Steininger, S. 56.
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nischen Besatzungstruppen unterbunden werden konnten.40 Dies führte zu einem überparteilichen Dringlichkeitsantrag im Tiroler Landtag „über die Rettung des Landes Tirol aus dem gegenwärtigen wirtschaftlichen Elend“ mit dem die Landesregierung beauftragt wurde „zur Errettung des Landes vor dem gänzlichen Zusammenbruche“ sofort mit der Staatsregierung in Wien in Verhandlungen einzutreten, damit diese beim Obersten Rat in Paris erwirke, daß Tirol mit dem Deutschen Reiche zu einem gemeinsamen Wirtschaftsgebiete zusammengeschlossen werde“.41 Da sich Staatskanzler Renner am Weg nach Paris befand und kurz in Innsbruck Station machte,42 wurde er von den Landespolitikern darüber informiert. Der Allgemeine Tiroler Anzeiger, die Zeitung der Christlichsozialen, formulierte ungeschminkt die Lage: „Das Land kann aus sich selbst die Lebensmittel, Bedarfsartikel und Rohstoffe nicht beschaffen; der Staat kann sie nicht liefern, weil ganz Österreich selbst sich in ärgster Not befindet (…)“.43 Die Zeitung wusste auch schon, dass es in Salzburg ähnliche Überlegungen gab, sprach allerdings von einem „Anschluß an Bayern“. Für das Jahresende 1919 ist also festzuhalten, dass in Tirol – nachdem in St. Germain klar geworden war, dass Südtirol an Italien abzutreten war – einzelne Vertreter aus allen politischen Lagern immer vehementer aus wirtschaftlichen Gründen den Anschluss forderten. Dabei lehnten sich die Christlichsozialen mehr in Richtung eines Anschlusses an Bayern, die Deutschfreiheitlichen (also das großdeutsch/nationalliberal/deutschnationale Lager)44 sowie Sozialdemokraten an Deutschland. Sie brachten dadurch aber die Mitglieder der Landesregierung in Schwierigkeiten, da diese offen nicht nur Landesinteressen verfolgen konnten, sondern an die bisherigen Erklärungen gegenüber dem neuen Gesamtstaat gebunden waren. Jedenfalls wurden die Vertreter der politischen Lager, die in gesamtstaatlicher Verantwortung waren, dadurch in eine schwierige Lage gebracht. Das Gleiche galt übrigens auch für die Parteien in Salzburg und ihre Anschlussdiskussion. So meinte der Vorsitzende der Deutschnationalen im Parlament, Franz Dinghofer (1873 – 1956), in Richtung seiner ideologischen Weggefährten, „die Länder würden einen schweren Rechnungsfehler (begehen), denn sie denken immer nur an die nächsten Monate“.45 Schließlich hatte das österreichische Parlament am 17. Oktober 1919 den Vertrag46 von St. Germain 40
M. Lahner (Anm. 22), Der Feind in der Heimat, S. 45 – 47. Innsbrucker Nachrichten, 12. 12. 1919, S. 1. „Denkwürdige Sitzung des Landtages“, der Bericht zieht sich über drei Seiten. 42 Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 11. 12. 1919, S. 1. 43 Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 12. 12. 1919, S. 1. 44 Die nach den Wahlen 1919 im Nationalrat verbliebenen 26 deutschliberalen und deutschnationalen Abgeordneten schlossen sich zur Großdeutschen Vereinigung zusammen, aus der im September 1920 die Großdeutsche Volkspartei entstand. 45 57. Verhandlungsschrift der Großdeutschen Vereinigung vom 12. Dezember 1919, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Großdeutsche Volkspartei, Kt. 1 zitiert bei H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/Steininger, S. 58. 46 Dieser wird meist als Staatsvertrag und nicht als Friedensvertrag bezeichnet, weil die Regierung unter Renner den Standpunkt vertrat, dass Österreich nicht Rechtsnachfolger der Monarchie sei und auch keinen Krieg begonnen habe. 41
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nolens volens ratifiziert, der ein ausdrückliches Anschlussverbot vorsah. Er sollte am 16. Juli 1920 in Kraft treten. Dieses Zeitfenster sollte offenbar genützt werden. II. 1920: Kanalisierung der Stimmung mittels Pressekampagne In diesem Zeitraum ging die Initiative von den Parteien und ihren Landes- oder Bundesvertretern in schnellem Tempo auf außerparteiliche Gruppen über. Erstmals in der jungen republikanischen Tiroler Landesgeschichte übernahm ein auflagenund reichweitenstarkes Printmedium die Agenda des Anschluss-Themas und forcierte dies mit allen Mitteln, die einem Printmedium damals zur Verfügung standen. Es lohnt sich darauf einen genaueren Blick zu werfen. Im Frühjahr 1920 preschte eine „deutsch-demokratische Gesinnungsgemeinschaft“, nach Selbsteinschätzung der „gemäßigte Flügel der Deutschfreiheitlichen Partei in Tirol“47 mit einem Aufruf zu einer freiwilligen Volksabstimmung vor, und bediente sich dabei der ihr ideologisch nahestehenden Tageszeitung Innsbrucker Nachrichten. Dieses seit 1854 bestehende Printmedium hatte im ausgehenden 19. Jahrhundert eine großdeutsche Ausrichtung und mutierte während der Auseinandersetzung um die italienische Rechtsfakultät, den Fatti d’Innsbruck 1904, bereits deutlich zu einem deutschnationalen Blatt und war vor und nach dem Krieg die auflagenstärkte Tageszeitung in Tirol.48 In der Wochenendausgabe vom 6. März 1920 erfolgten die ersten Aufrufe, eine Volksabstimmung durchzuführen und am Montag wurden auf der Titelseite der Innsbrucker Nachrichten und im dazugehörenden Abendblatt49 diese Abstimmungszettel nochmals prominent geschaltet. Die Unterzeichner verlangten von der Tiroler Landesregierung die „sofortige Ausschreibung einer freiwilligen Volksabstimmung für den Anschluß Tirols an das Deutsche Reich“50. Dies wurde als „die einzige Rettung Tirols, wie Österreichs überhaupt aus dem politischen und wirtschaftlichen Chaos erachtet“. Die Proponenten sahen in ihrer Forderung „das Gemeingut des Tiroler Volkes (…) und dies muß eben nicht nur der Landesregierung, sondern auch der Staatsregierung in Wien, den Ententemächten und nicht zuletzt auch dem deutschen Brudervolke durch eine imponierende Willensäußerung des Tiroler Volkes kundgetan werden.“51 Namen von Personen, die hinter dieser „deutsch-demokratischen Gesinnungsgemeinschaft“ standen, werden zunächst nicht greifbar, nur selten sind die Leitartikel 47 Zitiert nach Abendblatt der Innsbrucker Nachrichten vom 8. 3. 1920 Titel, weil Ausgabe vom 6. 3. 1920 in ANNO fehlt. 48 Nannte sich seit Kriegsende 1918 dezidiert „demokratisches Tagblatt“, ab 1921 „unabhängige demokratische Tageszeitung; H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/Steininger, S. 58. 49 Untertitel mit interessantem Hinweis auf en Verbreitungsraum: „Unabhängige Tageszeitung für die Landeshauptstadt Innsbruck“. 50 So der Wortlaut auf dem Stimmzettel, vgl. Abb. 51 Abendblatt der Innsbrucker Nachrichten, 8. 3. 1920, Titelblatt.
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mit Buchstaben gekennzeichnet. Die Anregung ging – wie die Zeitung mehrmals schrieb, so etwa am 12. März 1920 – auf den Schulleiter von Thaur, Alois Wurnig52, zurück.53 Er erwies sich in seiner Zusendung als genauer politischer Beobachter, wenn er darauf aufmerksam machte, „daß die beiden anderen Parteien des Landes sich endlich der Aktion anschließen. […] Denn Bauern und Arbeiter bilden als Beiseitestehende eine große Gefahr für den Erfolg. Man soll die Schriftleitungen darauf aufmerksam machen, daß aus ländlichen Kreisen vielseitig das Befremden geäußert wird, daß sich die Christlichsozialen und Sozialdemokraten der volksrettenden Unternehmung noch nicht angeschlossen haben.“54 Die nachfolgenden Ausgaben der Zeitung zeigen, wie die Aktion in den kommenden zwei Monaten in die Breite getragen wurde. So konstatierte man etwa am 9. März 1920 – ähnlich wie auch Wurnig wenige Tage später –, dass sich „trotz fehlender Unterstützung durch die Tiroler Parteiblätter, die Bevölkerung ohne Unterschied der Parteien zahlreich daran beteilige“.55 Allerdings waren die ersten publizierten Unterstützungserklärungen der Vereine (samt Stimmenanzahl) für das Spektrum der Deutschfreiheitlichen doch recht typisch wie etwa das Corps Rhätia (98) und der Fußballklub Germania (50). Doch bald wurde das Vereinsspektrum der städtischen Mittelschichten erfasst: Männergesangsverein Wilten (900), Werkmeister- und Industrie-Beamten-Verein (35), Kriegerverein für Innsbruck und Umgebung (336), Verein der Versicherungsangestellten Österreichs, Ortsgruppe Innsbruck (215) Reichsverband der städtischen Angestellten (28)56 und verbreiterte sich nach rund einer Woche immer weiter aufs Land hinaus wie die Beispiele der Eisenbahnarbeiter aus St. Anton am Arlberg (60)57, diverse Heimkehrerverbände, Gemeinden (etwa Seefeld) und dörfliche Organisationen (etwa die Freiwillige Feuerwehr in St. Johann) zeigen.58 Am 10. März 1920 wurde zwar berichtet, dass die eingegangenen 11.530 Zustimmungen überwiegend aus „Innsbruck und Umgebung“59 stammten, was zu den unterstützenden Vereinen passt und dem Umstand, dass die Innsbrucker Nachrichten in der Stadt ihre größte Leserschaft hatte. Doch einen Tag darauf verwies die Zeitung in der Abendausgabe bereits auf eine Zunahme vom Lande und wertete die „25.000 Kundgebungen“ aus, „2000 Erklärungen von Arbeitern, 800 von Bauern, 52
Der Lehrer wird in den Zeitungsmeldungen immer nur mit seinem Nachnamen genannt, mit einer genauen Recherche in ANNO lassen sich seine beruflichen Stationen und sein Vorname Alois herausfinden. Einer Meldung in den Salzburger Nachrichten, 7. 7. 1949, S. 3, ist von seinem Ableben im 90. Lebensjahr zu lesen, womit sein Geburtsjahr 1859 sein müsste. 53 Wurnig verweist an diesem Tag auf die Zuschrift einer Frau: sehr emotional und antisemitisch. 54 Innsbrucker Nachrichten, 12. 3. 1920, Titelseite. 55 Innsbrucker Nachrichten, 9. 3. 1920 Titelseite linke Spalte. 56 Als Kuriosum: am 10. 3. 1920 wurde die erst jüngst gegründete „nationalsozialistische Partei“ Unterstützer der Initiative. 57 Innsbrucker Nachrichten, 11. 3. 1920, Titelseite. 58 Innsbrucker Nachrichten, 16.31920, S. 2. 59 Innsbrucker Nachrichten, 10. 3. 1920, Titelseite.
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[…] 500 von Militärpersonen und Gendarmen, 3000 von Beamten und öffentlichen Angestellten, 4000 von Gewerbetreibenden, zirka 8000 Erklärungen sind von Frauen, teils verheiratet, teils in Berufen tätig“.60 Grundsätzlich ist hier zu fragen, wie ernst derartige Erfolgsmeldungen eines Printmediums über seine eigene Kampagne zu nehmen sind. Kamen wirklich alle Voten nur aus Tirol, brachte die Unterschrift eines Vereinsobmannes gleich alle Mitglieder, eines Vaters alle seine Familienmitglieder ein?61 Da die Zeitung aber auch in einer wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit anderen Printmedien stand, wären unplausible Nennungen von zustimmenden Rücklaufquoten sicher von den Mitbewerbern aufgegriffen worden. Daher werden hier die angegebenen Zahlen trotz dieses Vorbehalts als Hinweis auf eine insgesamt erfolgreiche Medienkampagne verwendet. Wenn die Zeitung sogar meinte, die Stimmen von Frauen nach ihrem Zivilstand oder ihrer Berufstätigkeit differenzieren zu können, dann muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass derartige Interpretationen aufgrund des verwendeten, mehrmals in der Zeitung abgedruckten Unterstützungserklärungsformulars nicht möglich waren (Abb. 3). Denn auf dem Abstimmungsformular waren der Name, die genaue Adresse, bei Vereinen, Körperschaften und Familien die Anzahl der Mitglieder anzugeben, höchstens in der Rubrik Allfälliges hätten Frauen ihren Zivil- oder Berufsstand eintragen können, was aber doch ungewöhnlich scheint. Es war Teil dieser geschickt angelegten Kampagne, dass jeden Tag Berichte von unterschiedlichen Vereinen oder Berufsverbänden über ihre Teilnahme publiziert wurden. Das erhöhte den Authentizitätsgrad der Kampagne gab, da ja Leserbriefe sonst nie auf den vorderen Seiten einer Zeitung, geschweige denn am Titelblatt erschienen. Nach einer Woche gab es am 13. März 1921 40.000 Zustimmungen. An diesem Tag fällt auf, dass dezidiert Frauen angesprochen wurden. So wurde auf der Titelseite unter der Überschrift „Frauen, Mütter, Mädchen!“ in der Einsendung einer Frau, die wie viele mit Namen zeichnete62, an die menschlichen Verluste während des Krieges erinnert und das Stereotyp des antisemitischen Kriegsgewinnlers angesprochen („Aus blutgetränktem Tiroler Boden schossen die Giftpflanzen des Wuchers und des Schleichhandels immer üppiger hervor. Wir Frauen, Mütter und Mädchen waren mit unseren Nahrungssorgen […] bedingungslos diesen Parasiten ausgeliefert. […]), ehe sehr gefühlsbetont („Nun regt sich Hoffnung, Rettung kann nahen […] Deutschland ist unser Heimatland: die Mutter von Tirol“) die politische Lösung genannt wurde. Eine derartige emotionale Komponente findet sich in vielen Einsendungen damaliger Testimonials, wie man heute sagen würde. Gleich unter diesem Aufruf findet sich eine Meldung vom „Verband deutscher weiblicher 60
Abendblatt der Innsbrucker Nachrichten, 11. 3. 1920, S. 1. So skeptisch H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/Eisterer/Steininger, S. 59. 62 Innsbrucker Nachrichten, 13. März 1920 Titelseite Spalte. Die für den Aufruf an „Frauen, Mütter, Mädchen“ zeichnende „Maria Wtw. Kopp-Ortner“ lässt sich nicht genau identifizieren. Eine „Maria Kopp, Private“ ist im fraglichen Zeitraum im digitalen Repositorium der Innsbrucker Adreßbücher in der Saggengasse 4 nachweisbar. 61
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Abb. 3
Angestellter“, Ortsgruppe Innsbruck, namens 240 Mitglieder: „Durch die endlich erreichte politische Gleichstellung können auch wir uns frei und offen äußern und stimmen wir freudig und begeistert ein in den stürmischen Ruf: „Sofortiger Anschluß an Deutschland“.63 Das Wahlrecht hatten Frauen bis zum Zeitpunkt zwei Mal ausüben können, am 16. Februar 1919 bei der Wahl zur konstituierenden Nationalversammlung und am 15. Juni dieses Jahres bei der Wahl zum Tiroler Landtag. Frauen verfügten also erstmals über die Erfahrung sich in das politische Geschehen einbringen zu können, wie die Zuschrift berufstätiger Frauen zeigt. Zugleich wurden sie aber eine bewusst zu adressierende Zielgruppe der Wahlwerbung. Beides lässt sich auch bei dieser Pressekampagne zeigen. Nach zehn Tagen wurden am 16. März 1920 der Eingang von 60.000 Unterstützungserklärungen gemeldet und auch gleich eine Interpretation bezogen auf die rund 300.000 Einwohner des Bundeslandes geliefert, wonach sich „bereits jeder fünfte Tiroler bzw. jede fünfte Tirolerin für die Volksabstimmung und für den Anschluß an 63
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Deutschland ausgesprochen“ habe.64 Zugleich wurde aber auch auf die zu diesem Zeitpunkt noch in Ausarbeitung befindliche Bundesverfassung Bezug genommen, wenn es hieß: „eine der wichtigsten Errungenschaften der demokratischen Verfassung soll ja sein, daß dem Volke zur Entscheidung lebenswichtiger Fragen das Plebiszit, die Volksabstimmung zur Verfügung steht“ […] Die bisher durchgeführte Probeabstimmung hat ferner auch gezeigt, daß das Volk die Möglichkeit, seinen Willen offen zu zeigen, freudig und dankbar aufgegriffen hat und sich fast einmütig von jeder Art Parteidiktatur zu befreien sucht, wenn es auch die Grundsätze der Parteirichtung nicht verläßt.“ Dem christlichsozialen Lager wurde unterstellt, an einer Donaukonföderation bzw. einer Wiederkehr der Habsburger zu arbeiten und sich deswegen abwartend zu verhalten. Doch offenbar war man auf Seiten der Tiroler Volkspartei von dem raschen unerwarteten Erfolg der Pressekampagne überrascht, denn am 11. März erfolgte eine „Mitteilung der Landesregierung“. Im Allgemeinen Tiroler Anzeiger wurde sie auf der Titelseite unter die Überschrift gestellt „Zur Frage des Anschlußes Tirols an das Deutsche Reich“, in den Innsbrucker Nachrichten mit dem Titel „Die Landesregierung sagt mit ,Wenn‘ und ,Aber‘ eine Volksabstimmung zu“ versehen. Der Anschlussgedanke sei „ein Gemeingut des ganzen Tiroler Volkes“ hieß es und gestützt auf den Beschluss der Landesregierung vom 11. Dezember 1919 arbeite man auch in Übereinstimmung mit allen Parteien darauf hin. Der Kommentar der beiden Zeitungen fiel natürlich unterschiedlich aus, im Anzeiger wurde vor übertriebenen Hoffnungen gewarnt und auf das folgenlos gebliebene Vorarlberger Referendum verwiesen, während die Nachrichten gestützt auf das Echo ihrer Kampagne ein energischeres Vorgehen verlangten. Rund zehn Tage nach dem Beginn der Themenkampagne, wurde der Sprecher der Deutschdemokratischen Gesinnungsgemeinschaft, der an der Realschule tätige Dr. Armin Gaßner,65 am 16. März 1920 bei Landeshauptmann Schraffl vorstellig und seine Rede am nächsten Tag vollständig publiziert. Er stieg mit wirtschaftlichen Überlegungen ein, dass etwa trotz Erholung der Krone-Währung noch immer hohe Inflation herrsche und daher wirtschaftliche Not. Dann folgte die Tiroler Skepsis gegenüber der Bundesregierung („Und zu unserer Verzweiflung lehrt uns ein Blick nach Osten, daß uns Wien nicht helfen kann“) und eine Darstellung der in Deutschland als besser wahrgenommenen Verhältnisse. („in dem – von vereinzelten episodenhaften Störungen abgesehen – trotz all der Folgen der kriegerischen Ereignisse jene musterhafte Ordnung herrscht, die wir in Österreich so schmerzlich vermissen. Dank dieser Ordnung herrschen im Deutschen Reich auch Lebensverhältnisse, die im Vergleich mit den unseren geradezu glänzend zu nennen sind. Nur der deutsche Norden vermag uns Rettung zu bringen!“). Es konnte die Rückbindung an den 64
Innsbrucker Nachrichten, 16. 3. 1920, Titelblatt. Aufgrund eines Hinweises im Allgemeinen Tiroler Anzeiger, 14. 7. 1932, auf eine 40-jährig Maturafeier muss er Jahrgang 1874 gewesen sein, in den Innsbrucker Adreßbüchern ist er 1940 das letzte Mal gemeldet. 65
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im zeitgenössischen Narrativ wichtigsten Referenzpunkt der Tiroler Vergangenheit nicht unterbleiben (60.000 Unterschriften „mit einer Begeisterung und Wucht, die an die Heldentaten des Jahres 1809 erinnern“). Gaßner ging dann auf die internationale Situation ein. Man wolle durch diese Volksabstimmung die Entente nicht vor eine vollzogene Tatsache stellen. „Nicht den tatsächlichen Anschluß soll unser Volk in diesem Augenblick vollziehen, wohl aber soll es an die Gewalthaber im Westen den Wunsch, die Bitte, die Forderung gelangen lassen, die Lebensmöglichkeit des wackeren Tiroler Volks nicht länger zu unterbinden! Eine solche einstimmige Bitte bereitet weder der Regierung in Innsbruck, noch der in Wien oder Berlin auch nur die geringste Verlegenheit, wohl aber bietet sie denjenigen, die berufen sein werden, mit Paris zu verhandeln, eine Stütze von überwältigender Kraft“. Danach kam ein Vorwurf an die Tiroler Landesregierung, deren „unbegreifliche[m] Zaudern“ man völlig verständnislos gegenüberstehe, gefolgt von einer Drohung: „Um unsererseits alles zu vermeiden, was die Volksleidenschaften aufzupeitschen vermöchten, haben wir selbst im Kreise unserer vertrautesten Anhänger Tag und Stunde unseres heutigen Ganges geheim gehalten. Sollte derselbe jedoch vergeblich gewesen sein, so sind wir jeder Verantwortung für kommende Ereignisse frei und ledig – die ganze schwere Verantwortung trifft in diesem Falle Sie, Herr Landeshauptmann und die Mitglieder der Tiroler Landesregierung insgesamt und einzeln.“66 In den täglich publizierten Meldungen über die in der Redaktion einlaufenden Unterstützungserklärungen lässt sich gut verfolgen, wie die Initiative vom Großraum Innsbruck, der Stadt und den umliegenden Dörfern aus immer stärker Zuspruch auch am Land erhielt. Ab dem 15. März kam es auch in der Bauernzeitung zu Aufrufen, diese Kampagne zu unterstützen, wie die Nachrichten nicht ohne Häme berichteten.67 Einem Bericht über die Tagung des Tiroler Bauernbundes am Wochenende ist am 22. März – als rund 100.000 Unterschriften vorlagen – zu entnehmen, dass alle Bezirke einstimmig den wirtschaftlichen Anschluss an Deutschland forderten, auch Landeshauptmann Schraffl, dessen politische Basis ja der Bauernbund war, sprach sich nunmehr eindeutig dafür aus: „Man solle der Regierung klipp und klar sagen, dass der Bauernbund und die Städter den Anschluß kategorisch verlangen und alle Zweifel darüber beiseite lassen.“68 Am Ende des Monats März, das heißt nach rund drei Wochen der Medienkampagne sprach sich die Tiroler Volkspartei auf einer Vollversammlung dafür aus, dass „durch eine ehestens vorzunehmende offizielle Volksabstimmung der Wille des Tiroler Volkes in unzweideutiger Weise festgestellt werde, sich an das Deutsche Reich als selbständiges Bundesland anzuschließen.“69 Spätestens damit war das Thema einer Volksabstimmung über den Anschluss aus dem deutschnationalen Lager herausgewachsen. Das in den Innsbrucker Nachrich66
Innsbrucker Nachrichten, 17. 3. 1920, S. 1. Innsbrucker Nachrichten, 15. 3. 1920, S. 2. 68 Innsbrucker Nachrichten, 22. 3. 1920, S. 3. 69 Innsbrucker Nachrichten, 30. 3. 1920, S. 3. 67
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ten täglich behandelte Thema, eine klassische Methode des Agenda-Setting, brachte die anderen Zeitungen ebenfalls dazu, darauf einzugehen, wenn dies auch nicht in derselben Intensität erfolgte. Am 10. April wurde auf 173.620 Unterschriften verwiesen.70 Doch selbst wenn man dieser Zahl aus den oben angesprochenen quellenkritischen Bemerkungen mit Vorbehalt gegenübersteht, zeigt sich eine gewisse Plausibilität, wenn man sie mit der Zahl der Wahlberechtigten bei der ersten Landtagswahl in Beziehung setzt (172.282). Nachdem der Besuch des Sprechers der Initiative zumindest offiziell ohne Reaktion geblieben war, wurde rund drei Wochen später – und gestützt auf 117.820 Unterschriften – angekündigt am 6. April einen „Volksausschuss“ einzusetzen, zu dem sich Fachleute für Finanz-, Handels- und Zollwesen, Beamtenfrage melden sollten. Offenbar machte sich durch dieses basisdemokratische Vorgehen – bottom up würde man heute sagen – die Landesregierung nun doch Sorgen, dass ihr das Heft aus der Hand genommen würde und schickte eine dreiköpfige Delegation nach Wien zu Renner.71 Diese konnte allerdings nichts erreichen, der Kanzler verwies sie an den Völkerbund. Deshalb wurde vom Landtag Ende April beschlossen, eine Anschlusskommission mit sechs Unterausschüssen einzurichten und alle denkbaren Schritte zu machen, die einer Revision der Friedensverträge förderlich sein konnten.72 Allerdings war die Animosität der Christlichsozialen und Sozialdemokraten so stark, dass dies erst nach langen Debatten am 4. Mai gelang.73 Kuprian weist in seiner Untersuchung auf eine Aussage Schraffls hin, dass die Kampagne der Innsbrucker Nachrichten „als Konkurrenz-Manöver gegenüber dem demnächst hier erscheinenden Tagblatte Alpenland“74 zu betrachten sei. Das mag von einem Mitbegründer der christlichsozialen Tiroler Volkspartei, die gerade durch ihre zielgruppenspezifische Pressearbeit erfolgreich geworden war, richtig erkannt sein. Doch wenn man sich die Zeitung Alpenland im Jahre 1920 anschaut, ist zu erkennen, dass sie zwar eine radikale Agenda verfolgte, doch wohl noch keine große Verbreitung hatte. Die Innsbrucker Nachrichten reagierten auf Artikel der christlichsozialen und sozialdemokratischen regionalen und Wiener Blätter sehr genau, indem sie etwa Argumente zitierten, um ihnen dann zu widersprechen. Das neugegründete Alpenland wurde hingegen weitgehend ignoriert. Selbst wenn dies aus einer Damnatio-Memoriae-Haltung geschah, so ändert dies nichts daran, dass die von den Innsbrucker Nachrichten im Frühjahr 1920 geführte Kampagne für die Einleitung eines 70
Innsbrucker Nachrichten, 10. 4. 1920, S. 1: 152.303 Voten in deren Redaktion, dazu wurden dann auch noch jene in der Zeitschrift Tirol und vom Tiroler Bauernbund gezählt. 71 Innsbrucker Nachrichten, 30. 3. 1920 Franz Stumpf, Landeshauptmannstellvertreter, Friedrich Schmidt (1874 – 1943) Großdeutsche Volkspartei, Landeshauptmannstellvertreter, Simon Abram (1871 – 1940) Sozialdemokratische Arbeiterpartei; Vorsitzender der Landesparteileitung, Mitglied des konstituierenden Nationalrates. 72 Abendblatt der Innsbrucker Nachrichten, 10. 4. 1920, S. 1. 73 Innsbrucker Nachrichten, 5. 5. 1920, S. 2. 74 H. J. W. Kuprian (Anm. 9), Tirol und die Anschlußfrage 1918 bis 1921, in: Albrich/ Eisterer/Steininger, S. 59.
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Anschlussreferendums erstmals im regionalen Tiroler Kontext ein erfolgreiches Agenda-Setting eines Printmediums darstellte. III. Anschlussabstimmung 1921: Druck aus Tirol – Hinhaltungen aus Wien Zwar hatten die USA in der Zwischenzeit eine Getreidehilfe in Aussicht gestellt, doch die internationale Hilfe blieb weiter aus, die wirtschaftliche Situation Österreichs war prekär, die Alltagssorgen der Bevölkerung dramatisch. In dieser Situation grenzt es fast an ein Wunder, dass nach dem Scheitern der Koalitionsregierung Renner im Juli am 1. Oktober 1920 das Bundesverfassungsgesetz verabschiedet werden konnte, das bei der Kompetenzabgrenzungsfrage zwischen Bund und Ländern natürlich einen Kompromiss darstellte. Bei der Nationalratswahl am 17. Oktober 1920 drehten sich die Mehrheitsverhältnisse, die Christlichsozialen erhielten 42 Prozent (79 Mandate) und die Sozialdemokraten 36 Prozent der Stimmen (62 Mandate), zum Bundeskanzler wurde der christlichsoziale Tiroler Michael Mayr75 ernannt. Sein Ziel war eine wirtschaftliche Sanierung durch in- und ausländische Kredithilfen, erst dann wollte er über den Völkerbund, dem Österreich am 16. Dezember beitrat, die Anschlussfrage behandeln. Diese lässt sich um die Jahreswende 1919/21 nach Norbert Schausberger76 folgendermaßen charakterisieren: Die offizielle deutsche Politik blieb bei ihrer Linie, den Anschluss zu unterstützen, aber dabei die Initiative den Österreichern zu überlassen und auf die Bundesländer zu setzen. Von Bayern aus gab es weiter Initiativen mit Einbeziehung Österreichs, ein stärkeres „Abwehrzentrum gegen den Marxismus“ zu schaffen. Der Regierung unter Bundeskanzler Mayr ging es allerdings mit Blick auf den Gesamtstaat vorrangig um eine wirtschaftliche Sanierung, die zunehmende Anschlusseuphorie in den westlichen Bundesländern konnte dies gefährden. Die alliierten Machte ärgerten sich über die Anschlussaktivitäten, die die österreichische Regierung nicht unterbinden konnte oder wollte und vermuteten deutsche Konspirationen dahinter. Noch in der letzten Sitzung des konstituierenden Nationalrates hatte Sepp Straffner (1875 – 1952)77, Tiroler Abgeordneter der Großdeutschen Partei, folgenden Antrag eingebracht: „Die Staatsregierung wird aufgefordert, spätestens innerhalb von sechs Monaten, womöglich gelegentlich der Wahlen in die Nationalversammlung am 17. Oktober 1920, eine Volksabstimmung bezüglich des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich anzuordnen“, was ohne den mit „womöglich“ beginnenden Zwischensatz angenommen wurde.78 Weil die neue Bundesregierung 75
Er hatte bereits seit 7. Juli 1920 eine Proporzregierung geführt. N. Schausberger, Der Griff nach Österreich: der Anschluss, 1979, S. 97 – 98. 77 Deutschfreiheitlicher Politiker der deutschnationalen Richtung, 1919 Mitbegründer des Tiroler Antisemitenbundes, im Nationalrat für die großdeutsche Partei. 78 E. Bielka, (Anm. 10), in: Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979, 1989, S. 309. 76
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keine Vorbereitungen einleitete, beschloss der Tiroler Landtag am 20. Januar 1921 auf Antrag der Großdeutschen Wilhelm Greil (1850 – 1928)79, Josef Dillersberger und Sepp Straffner einstimmig, von der Bundesregierung die Durchführung einer Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs an Deutschland für den 27. Februar zu erwirken.80 Doch gab es ja mittlerweile die neue Bundesverfassung seit gut fünf Monaten, womit beide Ebenen des Geschehens, jene in Wien und in Tirol, nicht nur über die Vertreter der Parteien, sondern nun auch institutionell miteinander verzahnt waren. Anfang Februar 1921 fragten die Landeschefs beim Kanzler wegen einheitlicher Richtlinien für eine Durchführung nach und mussten zur Kenntnis nehmen, dass dieser keine Abstimmung haben wollte. Allerdings dürfte Mayr wie andere Bundeskanzler vor und nach ihm „ein gewisses Maß an Anschlußbewegung als eine Bereicherung der sonst sehr schwachen Verhandlungsposition Österreichs“ gegenüber den Entente-Mächten angesehen haben.81 Am 10. Februar 1921 brachten die Großdeutschen im Nationalrat einen Antrag über eine Volksabstimmung über den Anschluss ein, doch konnte sie Bundeskanzler Mayr im Hinblick auf seine Bemühungen um Wirtschaftshilfe bei den Westmächten überreden, diesen aufzuschieben. Gegenüber seinen Tiroler Parteikollegen verfing diese hinhaltende Taktik jedoch nicht mehr. Die Tiroler Landesregierung hatte wegen der noch fehlenden Durchführungsbestimmungen den Termin bereits auf den 24. April verschoben, als sie – was die Dringlichkeit zeigte – am 11. März ein Telegramm aus Wien erreichte: „Die Bundesregierung hat mit Beschluss vom 4. März 1921 die Durchführung […] der Volksabstimmung […] als unzulässig erklärt, weil diese Frage […] ausschliesslich in den Wirkungskreis des Bundes fällt. Die zulässige Form eines derartigen Willensausdruckes des Bundesvolkes ist ausschließlich in Art. 41, Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes niedergelegt. Die Landesregierung wird daher ersucht von Maßnahmen zur Durchführung des Landtagsbeschlusses über die Volksabstimmung Abstand zu nehmen“.82 In einem ausführlichen Schreiben, das am 19. März eintraf, wurde klargestellt, dass eine Volksabstimmung über diese Frage das gesamte Bundesgebiet betreffe und daher keine Angelegenheit eines Bundeslandes sei, überdies eine eminent außenpolitische Frage darstelle, die dem Land gar nicht zustünde und daher aus verfassungsrechtli-
79 Bürgermeister von Innsbruck 1896 – 1923, deutschfreiheitlicher Politiker der (national) liberalen Richtung, Abgeordneter zum Landtag. 80 Genaue Berichte über die heftigen Auseinandersetzungen finden sich in den Innsbrucker Nachrichten vom 19. bis 21. 2. 1921, jeweils auf den S. 1 und 2. Der christlichsoziale Abgeordnete Schöpfer hatte vor der Abstimmung den Saal verlassen, da der Anschluss eine Wiedervereinigung mit Südtirol gefährde und er Berlin skeptisch gegenüberstand. Vgl. dazu auch Tiroler Landesarchiv (=TLA) Präsidiale 1921 Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g, 21, S. 4. 81 E. Bielka, (Anm. 10), in: Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979, 1989, S. 311. 82 TLA Präsidiale 1921 Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g, 21, S. 10.
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chen Gründen abzulehnen sei.83 Diesen rechtlichen Klarstellungen mit Verweis auf die neue Bundesverfassung entgegnete die Landesregierung – fast möchte man sagen patzig –, dass diese Interpretation nicht ihre Auffassung sei. Wohl sei „jede auf den Anschluß zielende Maßnahme eine äußere Angelegenheit“, aber gegenwärtig ginge es lediglich darum, den Willen des Volkes zu erkunden“. Auch die Landesregierung konnte spitzfindig sein, wenn sie in Hinblick auf die Argumentation der Bundesregierung, die in ihrem Schreiben quasi eine Nachhilfestunde zur neuen Bundesverfassung gegeben hatte, meinte: „Der Landtag befragt das Volk um seine Meinung (Volksbefragung), ein Vorgang der in der BVG gar nicht vorgesehen, aber deswegen nicht verfassungswidrig ist. Da somit der Beschluss des Landtages weder der Bundesverfassung widerstreitet, noch auch in den Wirkungskreis einer Bundesinstitution eingreift, da ferner die öffentliche Meinung in Tirol dringend die Vornahme dieser Volksabstimmung verlangt, die übrigens wie nochmals betont sei, in keinerlei Weise den Entschließungen der Bundesregierung und der Bundesgesetzgebung in der Anschlussfrage vorgreift und da überdies sich auch die Obmännerkonferenz für die Durchführung des Landtagsbeschlusses ausgesprochen hat […]“.84 Der Tiroler Landtag beharrte also auf seinem Standpunkt und setzte die Abstimmung für den 24. April ein.85 Dafür wurde der ursprüngliche Text der Befragung („Ist Deutschösterreich an das Deutsche Reich anzuschließen?“) auch noch verändert zu „Wird der Anschluß an das Deutsche Reich gefordert?“ Dies verfehlte seine Wirkung auf andere Bundesländer nicht, denn auch Salzburg und die Steiermark planten nun Volksabstimmungen. Interessanterweise wandte sich Landeshauptmann Schraffl auch an das Auswärtige Amt in Berlin, teilte die beabsichtigte Volksabstimmung mit und versicherte zugleich, dass „die Tiroler Landesregierung selbstverständlich alles vermeiden will, was irgendwie dem Deutschen Reiche Schwierigkeiten oder Unannehmlichkeiten bereiten könnte“ und bat „mir die dortige diesbezügliche Auffassung gütigst mitzuteilen“.86 Ein Antwort hat sich im Aktenbestand nicht erhalten, doch zeigt dieses Schreiben, dass man in Tirol – diplomatisch ausgedrückt – sensibel gegenüber der offiziellen Haltung Deutschlands war. Die internationalen Reaktionen, die Bundeskanzler Mayr befürchtet hatte, blieben jedenfalls nicht aus. Der französische Gesandte erklärte, man werde die Hilfsaktionen einstellen, wenn die Regierung nicht imstande sei, die gegenwärtigen Anschluss-Umtriebe abzustellen, sein italienischer und britischer Kollege drohten ebenfalls.87 Diese Proteste leitete Bundeskanzler Mayr kommentarlos nach Tirol weiter.88 83
TLA Präsidiale 1921 Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g, 21, S. 13 – 15. TLA Präsidiale 1921 Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g, 21, S. 17. 85 E. Bielka, (Anm. 10), in: Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979, 1989, S. 313 Die Sozialdemokraten enthielten sich dabei, weil sie die Volksabstimmung mit der Landtagswahl im Frühsommer verbinden wollten. 86 TLA Präsidiale 1921 Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g, 21, S. 17. 87 Wiedergegeben in Obmänner-Konferenz vom 15. 4. 1921, TLA Präsidiale 1921 Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g, 21. 84
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Als nun behördlicherseits alle Vorkehrungen für die Volksabstimmung vorbereitet waren,89 hatte sich die Obmänner-Konferenz am 15. April 1921, also gut eineinhalb Woche vor dem Termin, noch einmal mit dem Einspruch der Entente-Vertreter zu beschäftigen: ein Telegramm des Bundeskanzlers sowie ein Telefonat während der Besprechung verdeutlichten den Ernst der Lage. Denn am darauffolgenden Tag waren in Wien Kreditverhandlungen mit der Entente angesetzt, die durch Anschluss-Abstimmungen in den Bundesländern nicht behindert werden sollten. Die Parteienvertreter in Tirol konnten und wollten allerdings nicht mehr zurück und wiederholten bekannte Standpunkte: Martin Rapoldi (1880 – 1926) von der Sozialdemokratische Arbeiterpartei wollte der Abstimmung in einem Bundesland nicht jene Bedeutung zugestehen, wie einer im gesamten Bundesgebiet. Interessant ist nun dass die „ungünstige Stimmung in der Bevölkerung“ von allen Anwesenden geteilt wurde.90 Hans Peer (1875 – 1945)91 von der Volkspartei hielt ein „günstiges Ergebnis der Abstimmung [für] sehr fraglich“, Rapoldi verwies hingegen darauf, dass die Agitation der Sozialdemokraten noch bevorstehe und er aus „ihren Reihen“ mit 25.000 Stimmen rechne, Richard Steidle (1881 – 1940)92 verwies auf den Landesbauernrat, der für eine „rege Beteiligung eintrete“ und dass bei weiterem zeitlichen Zuwarten die Gegnerschaft nur zunehmen werde. Der Deutschfreiheitliche Wilhelm Greil glaubte, dass „die Bevölkerung, wenn sie jetzt auch flau ist“, im letzten Augenblick doch mittun werde. Die Tiroler Landesregierung blieb damit bei dem ursprünglichen Termin. IV. Anschluss-Agitation im Frühjahr 1921 – Volksabstimmung Wie ist die Frage des Stimmungsumschwunges zu bewerten? Hatte sich wirklich etwas verändert oder war das Thema aufgrund der immer schwierigeren Situation in den Hintergrund getreten? Solche Zweifel hegte auch Gilbert In der Maur (1887 – 1959), im Weltkrieg gewesener Berufsoffizier der Kavallerie, der am 3. März 1920 die Zeitschrift Alpenland gegründet hatte, eine im Vergleich zu den anderen Innsbrucker und Tiroler Printmedien dünne Zeitung ohne einen kosteneinspielenden Annoncenteil.93 Als Herausgeber und wohl auch Hauptverfasser der meisten Beiträge seiner Zeitung zeigte er sich 88 E. Bielka, (Anm. 10), in: Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979, 1989, S. 315 – 316. 89 Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 21.3. 1921, Titelblatt. 90 TLA, Präsidiale 1921, Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g 21. 91 Landeshauptmannstellvertreter 1921 – 1928, Tiroler Volkspartei. 92 Steidle gehörte im Mai 1920 zu den Gründern der Tiroler Heimatwehr und war ein wesentlicher Akteur der Tiroler Volkspartei. 93 Im Editorial der Zeitung wird das Eintreten für den Anschluss betont. Die Finanzierung dieser Zeitung wird wohl aus Deutschland gekommen sein. So Bielka, Volksabstimmung, S. 321.
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als vehementer Anschlussbefürworter. Er entwarf bereits in einem Schreiben vom 2. März 1921 an das Auswärtige Amt eine Art Generalstabsplan, wie unter Führung des „Deutschen Schutzbundes“ die Propagandamaßnahmen ablaufen sollten. Dessen Vorsitzenden, Christian von Loesch (1880 – 1951)94 wurde aber vom Auswärtigen Amt beschieden, dass es „im Hinblick auf die politische Gesamtlage“ und „in Berücksichtigung der von der Bundesregierung in Wien dem Tiroler Volksentscheid gegenüber eingenommen Stellungnahme“95 keine finanziellen Zuwendungen geben könne. Bielka und auch Kerekes sind allerdings der Meinung, dass diese aus anderen Quellen in Deutschland doch gekommen seien und die Finanzierung der Zeitung erklärten.96 Nimmt man die amtlichen Meldungen aus den unterschiedlichen Bezirken zur Kenntnis, dann war nach der Bekanntgabe, wie die Abstimmung vorzubereiten sei und dann abzulaufen habe, die Begeisterung bei den Gemeinden durchwachsen. „Kolossale Geldauslagen“ seien damit verbunden, die Vorbereitungen sei „eine nicht zu verkennende große Last“, die Bevölkerung sei nach den vielen Wahlgängen seit 1919 wahlmüde, ohne Wahlpflicht würde nicht viele teilnehmen, auch herrschte die Ansicht vor, dass auch ein gutes Abstimmungsergebnis „nicht vermögen würde, den kundgegebenen Willen durchzusetzen“. Gleichwohl gab es auch Berichte von Wirtshausversammlungen, die sich klar für die Abstimmung aussprachen.97 Jedenfalls wurde die amtliche Kundmachung am 12. April 1921 dahingehend verändert, dass nunmehr alle Personen, welche Deutschösterreicher waren oder ihre Option nachweisen konnten, auch ohne Rücksicht darauf, ob sie im letzten Wählerverzeichnis eingetragen waren, abstimmungsberechtigt waren, wenn sie in einer Tiroler Gemeine den ordentlichen Wohnsitz und zu Jahresbeginn das 20. Lebensjahr erreicht hatten. Am 9. April traten die Mitglieder der Obmännerkonferenz mit einem Wahlaufruf an das „Tiroler Volk“ und danach schwoll die Thematisierung der bevorstehenden Abstimmung in den Printmedien rasant an. In der vergleichsweise nicht sehr reichweitenstarken Zeitung Alpenland wurde zwar ständig pro-Anschluss geschrieben, ganz programmatisch aber am 9. April ein Leitartikel mit dem Titel „An die Arbeit!“ versehen und ab dem 12. April von erfolgreichen Veranstaltungen auch am Land berichtet.98 Das Engagement deutscher Politiker ist in dieser Zeitung zu greifen, so etwa
94 Seit 1922 Vorsitzender des Deutschen Schutzbundes für das Grenz- und Auslandsdeutschtum. 95 E. Bielka, (Anm. 10), in: Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979, 1989, S. 318. 96 E. Bielka, (Anm. 10), in: Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979, 1989, S. 319, ohne Bezifferung; L. Kerekes, Von St. Germain bis Genf. Österreich und seine Nachbarn 1918 – 1922, 1979, S. 289, spricht von 750.000 RM. 97 Berichte aus Bezirkshauptmannschaften, zitiert bei R. Runggaldier, Die Tiroler Volksabstimmung im April 1921. Vorgeschichte und Motivation. Hausarbeit aus Geschichte Univ. Innsbruck 1981, S. 83 – 86. 98 Alpenland, 9. 4. 1921, S. 1; 12 und 14. April jeweils S. 2.
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mit Artikeln von Gustav Stresemann,99 aber auch Historiker wie Otto Stolz, der an der Universität Innsbruck und im Landesarchiv tätig war, betätigten sich publizistisch.100 Die etablierten Tiroler Zeitungen wie die Innsbrucker Nachrichten und der Allgemeine Tiroler Anzeiger forcierten erst nach dem Aufruf der Obmännerkonferenz die bevorstehende Abstimmung auf ihren Titelseiten. Gut eine Woche vor dem Abstimmungstermin ist eine massive Stimmungsmache dafür zu beobachten, wobei der kirchennahen Tiroler Volksbote von Ämilian Schöpfer wieder die große Ausnahme bildet. Ähnlich wie in der Kampagne des Vorjahres wurden nun einzelne Berufsgruppen (etwa Ärzte, Lehrer und Lehrerinnen, Eisenbahner, sogar Künstler) direkt angesprochen. Zwei Tage vor der Abstimmung fand im Stadtsaal eine „große Frauenversammlung“ statt, in der die Frauen verschiedener Politiker, an ihrer Spitze jene von Landeshauptmann Schraffl, sprachen.101 Haupttenor aller Argumentation war die Hoffnung auf die wirtschaftlichen Vorteile und ein Ende der gegenwärtigen Not. Interessanterweise findet sich im Bestand des Tiroler Landesarchivs ein einziges Dokument, das diesen Erwartungshaltungen widersprach: Ein mehrseitiges Schreiben eines Mannes, der aus Salzburg stammte, in Tirol aufgewachsen war, offenbar nach dem Weltkrieg aus wirtschaftlicher Not nach Oberschwaben gegangen war und sich selbst als „besseren Arbeiter“102 bezeichnete. Es wurde am 21. April verfasst und langte zwei Tage später beim Landeshauptmann, an den es adressiert war, ein. Er wollte seine Erfahrungen als Österreich in Deutschland zur Kenntnis bringen und vor dem Anschluss warnen: „[…] die grosse Mehrzahl des Deutschen Volkes ist gegen den Anschluß an das Deutsche Reich vom einfachsten Arbeiter bis zum höchsten Beamten, nur ein ganz geringer kaum nennenswerter Teil begrüßt den Anschluss. Wir Oesterreicher sind in Deutschland verachtet […]“.103 Diese Ansicht war unmittelbar vor dem Anschlusstag ein Ton, der nicht gehört wurde, sondern im Archiv quasi einfror. Seine historische Bedeutung liegt allerdings darin, dass in den Erfahrungen dieses Mannes viele Differenzerfahrungen vorweggenommen waren, die Österreicher und Österreicherinnen zwischen 1938 und 1945 erlebten, was langfristig zur österreichischen Identitätsbildung nach 1945 beitrug. Wenige Tage vor der angesetzten Abstimmung wurde in den Printmedien heftig um Quartiere für jene Tiroler und Tirolerinnen gebeten, die auswärts arbeiteten und zur Abstimmung extra anreisten.104 In den Straßen wurden Objekte des politischen
99 E. Bielka, (Anm. 10), in: Saint-Germain 1919. Protokoll des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979, 1989, S. 321. 100 Alpenland, 18. 4. 1921, Mittagsblatt, S. 5 und Fortsetzung im Abendblatt: „Liegt der Anschluß Tirols an Deutschland im Sinne seiner Geschichte“. 101 Alpenland, 23. 4. 1921, Mittagsblatt S. 2. 102 Abgefasst in Biberach an der Riß, in klarer Schrift mit lateinischen Buchstaben, nur einige Rechtschreibfehler. 103 TLA, Präsidiale 1921, Stammzahl 89, Reg. Zeichen II 11-g 21, S. 133 – 135. 104 Was bei einem „ordentlichen Wohnsitz“ eigentlich nicht das Problem sein konnte.
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Merchandizing wie Postkarten und Handzettel (auch Abstimmungszettel) verteilt.105 Mit Plakaten im öffentlichen Raum und deren Wiedergabe in den Zeitungen wandten sich die Parteien an die Wähler und Wählerinnen.106 Da durfte dann auch die Figur von Andreas Hofer nicht fehlen, der sowohl vom christlich-sozialen Franz Stumpf, wie auch vom deutschnationalen Andreas Hofer-Bund eingesetzt wurde. Auch die Meinung der Südtiroler wurde indirekt durch einen Flugzettel der Tiroler Volkspartei eingebracht, indem ausführlich aus einem Brief von Eduard Reut Nicolussi (1888 – 1958)107 zitiert wurde, der nach Selbsteinschätzung der 1919 der erste Mandatar der Volkspartei gewesen sei, mit der öffentlichen Äußerung, „daß nach der Zerreißung Tirols für Nordtirol keine andere Politik übrig bleibe als die, mit aller Kraft nach dem Anschluß nach dem deutschen Vaterland zu streben“.108 Sowohl die Sprache der Plakate als auch die in den Innsbrucker Nachrichten und dem Allgemeinen Tiroler Anzeiger wiedergegebenen Stellungnahmen sind in einer – für heutige Verhältnisse – ungewöhnlichen Emotionalität verfasst. Einen Höhepunkt dieser Emotionalisierung stellte die Kundgebung am Vormittag des Samstags, 23. April 1921, dar. Trotz schlechten Wetters säumten viele Schaulustige den Platz vor der Hofburg und dem Stadttheater, dem schon in Kaiserzeiten zentralen Ort für öffentliche Kundgebungen. Quer über die Maria-Theresienstraße hing auf der Höhe der Annasäule ein Spruchband „Heim ins Reich“.109 Zuerst zogen Vereine auf (etwa Turnvereine, Freiwillige Feuerwehr, Verband der städt. Angestellten, Staats- und Südbahnangestellte, Postbedienstete) mit ihren Fahnen und zum Teil auch mit Musikbegleitung. Die Fahnenabordnungen wurden auf den Stufen des Theaters postiert. Ungefähr 120 Meter entfernt nahmen vor der Hofkirche die sozialdemokratischen Abgeordneten Rapoldi und Abram mit ihren Anhängern Platz. Mehrere Politiker hielten Reden (eingangs Landeshauptmannstellvertreter Stumpf), als letzter Richard Steidle, der die Anwesenden aufforderte, „zu schwören, daß sie als Tiroler nicht ruhen, noch rasten werden, bis der Anschluß vollzogen sei“, was “unter brausenden Heilrufen“110 geschah. Anschließend wurde zur Melodie der ehemaligen Kaiserhymne von Joseph Haydn (1732 – 1809) das „Lied der Deutschen“ („Deutschland, Deutschland über 105 Vgl. dazu die Sammlung im Stadtarchiv Innsbruck. In vielen Motiven dürfte es eine Übereinstimmung mit oder ikonographische Anleihe an Materialien der Schlesischen Volksabstimmung vom 15. März 1921 gegeben haben. Eine vergleichende Untersuchung wurde offenbar noch nicht unternommen. 106 Vgl. deren Wiedergabe in F. H. Hye, Innsbruck im Spannungsfeld der Politik 1918 – 1938. Berichte – Bilder – Dokumente (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs NF Bd. 16/17), 1991, S. 103 – 121. 107 Südtiroler Jurist, der kurze Zeit als Abgeordneter im konstituierenden Nationalrat in Wien saß und am 15. Mai 1921 ins italienische Parlament gewählt wurde. 108 F. H. Hye (Anm. 106), Innsbruck im Spannungsfeld, Foto, S. 110. 109 F. H. Hye (Anm. 106), Innsbruck im Spannungsfeld, Foto, S. 111. 110 Innsbrucker Nachrichten, 25. 4. 1921, S. 2 und 3. Dazu eine Abb. bei Hye, Innsbruck im Spannungsfeld, Foto S. 116.
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Abb. 4
alles“) mit dem Text von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 – 1874) gesungen. Es war zu diesem Zeitpunkt noch nicht die offizielle Nationalhymne der Weimarer Republik, galt aber als politisches Bekenntnislied, ebenso wie das abschließend von allen intonierte Andreas Hofer-Lied („Zu Mantua in Banden“).111 Die Eidesleistung und das gemeinsame Singen hatte religiöse Züge und stiftete im Moment eine Gruppenidentität, politische Einstellungen wurden gewissermaßen performativ erlebt. Der öffentliche Raum wurde mit Spruchbändern und beflaggten Häusern zu einer politischen Bühne. Dieses performative Element dürfte auch am Sonntag entlang der Eisenbahnlinien zu erleben gewesen sein, mit denen viele zur Volksabstimmung kamen. Denn die Lokomotiven, die von München oder aus Saalfelden nach Tirol fuhren, waren „mit Reisig, Fähnchen und Anschlußforderungen auf Tafeln“ geschmückt wie die meisten Stationsgebäude. Ein Sonderzug mit 1.000 Ti111
Ausführlicher Bericht in allen Zeitungen, hier Innsbrucker Nachrichten, 24. 4. 1921
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rolern, die aus Bayern hereinkamen, wurde von den Musikkapellen Mühlau und Hötting zu einer Kundgebung am Bergisel zum Hofer-Denkmal geleitet.112 Das Hochamt einer kollektiven Begeisterung führte zu folgendem amtlichen Endergebnis: 145.302 Ja- und 1805 Nein-Stimmen, 364 ungültig.113 Rund 25.800 Wahlberechtigte hatten nicht teilgenommen. Vergleicht man das Ergebnis der offiziellen Abstimmung mit jener der Innsbrucker Nachrichten 1920, dann lag man mit rund 26.00 Stimmen darunter, was im Nachhinein noch einmal das Potenzial dieser Pressekampagne unterstreicht. Diese Stimmungserhebung in Tirol blieb bekanntlich folgenlos, ebenso wie jene in Salzburg im Juni 1921. Denn wie von Bundeskanzler Mayr eingeschätzt, verlangten die Entente-Mächte die Beendigung derartiger massenwirksamer Bewegungen um den Preis der in Aussicht gestellten Kredite. Als sich die Steiermark nicht daranhielt, Mayr also sichtbar mit seinen Argumenten gegenüber seinen Parteikollegen in den Bundesländern nicht mehr durchkam, trat er am 1. Juni 1920 von seiner Funktion zurück. Der parteilose, aber deutschnational orientierte Polizeipräsident von Wien, Johann Schober (1874 – 1932) folgte ihm im Amt nach und unterband weitere Abstimmungen. Mit den Genfer Protokollen, die Österreich mit Großbritannien, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei im Herbst 1922 unterzeichnete, wurde ein Anschlussverbot für 20 Jahre fixiert, eine Anleihe von 650 Millionen Goldkronen zugesagt und die Staatsfinanzen unter die Kontrolle eines Generalsekretärs des Völkerbundes gestellt. Damit begann zaghaft die wirtschaftliche Sanierung der jungen Republik. Doch rund ein Jahrzehnt später kam es im Zuge der Weltwirtschaftskrise und des Zusammenbruchs der Credit-Anstalt zu schweren wirtschaftlichen Problemen und ab 1933 zur Errichtung einer autoritären Kanzlerdiktatur. Die Idee eines Anschlusses an das nationalsozialistische Deutschland gewann danach aus unterschiedlichen Motiven, zu einem guten Teil freilich mit Rückbindung an die Gefühlslage von 1938 wieder an Zustimmung. Im März 1938 mündete so „der österreichische Sonderweg scheinbar unumkehrbar in die großdeutsche Hauptstraße“.114 In den darauffolgenden Wochen wurden Stadt und Land wieder zu einer Bühne auf der ein riesiges Spektakel ablief, abgehalten von einer Partei, die wie ihr Vorbild im faschistischen Italien alle Register moderner Publikumsbeeinflussung noch subtiler und technisch moderner einzusetzen verstand: „ein Mysterienspiel, bei dem die Mächte des Bösen (die Volksverräter und Neinsager) mit den Mächten des Guten (den ehrlich schaffenden Volksgenossen und Jasagern) besiegt“115 werden mussten. Am 10. April 1938 fand dieser Anschlussabstimmung im Deutschen Reich und in Österreich statt. Weil man in Österreich nach 1945 diesen Anschluss jedoch vergessen machen wollte, fiel auch über die Anschlussreferenden der Jahre 1920 und 1921 ein Schatten des 112
Alpenland, 24. 4. 1921, Sonntagsblatt, S. 2 und 25. 4. 1921, S. 2. F. H. Hye (Anm. 106), Innsbruck im Spannungsfeld, Foto, S. 120. 114 E. Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, 1994, S. 337. 115 E. Hanisch (Anm. 114), Der lange Schatten, S. 346. 113
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Vergessens. Doch auch diese beiden zeigen bereits, in welchem Ausmaß in Zeiten wirtschaftlicher Not politische Vorgänge stärker als jemals zuvor emotionalisiert wurden: Printmedien setzten Themen, denen sich die Akteure der politischen Parteien mit ihren Rücksichten auf Landes- und Bundespolitik nicht entziehen konnten. *** Abstract Gunda Bart-Scalmani: Referenda in Tyrol 1920/1921 on Annexation to the German Reich: Media Pressure and Political Event (Volksabstimmungen in Tirol 1920/1921 über den Anschluss an das Deutsche Reich: medialer Druck und politisches Ereignis), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 165 – 193. The article deals with the political causes of the referendum in Tyrol on 24 April 1921, its prehistory and its implementation. The focus is also on a referendum organised by the Tyrolean daily newspaper with the highest circulation, the Innsbrucker Nachrichten, in 1920. In this way, the print medium successfully pursued the agenda-setting of this topic, first in the urban area, but soon also in the countryside. This put local politics under pressure. The referendum in Tyrol, unlike the one in Southern Carinthia, did not result from the provisions of the Treaty of St. Germain-en-Laye of September 1919. It shows that the Republic of German Austria, founded in November 1918, stood on an uncertain foundation, since it had vaguely declared itself to be part of a “German Republic” at the time of its foundation. In Tyrol, there was a reservation about this new foundation as long as there was still a hope of preserving South Tyrol. As the federal government attempted to alleviate the economic hardship in 1920/21 through international credit aid, efforts to annex came at an inopportune time. However, there are also indications that a certain amount of pressure could be built up with reference to this. Since the new federal constitution was adopted in the autumn of 1920, the question also arose as to whether a federal state could initiate such a referendum at all. At the beginning of the year, the provincial government took the decision to hold the referendum. From 10 April onwards, the state government issued calls for participation, which were reinforced in the print media, by posters and advertising materials in public spaces. The result was unambiguous, but had no political relevance because otherwise the successful League of Nations bond would not have been passed (Geneva Protocols 1922). The emotionalisation of a political issue that was evident in the press campaign of 1920 and the voting agitation of 1921 was surpassed in the voting propaganda of April 1938 with the means of a dictatorship.
Die Neuordnung Europas mit besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmung in Kärnten 19201 Von Günther Rautz I. Kurze einleitende Vorbemerkung Vor inzwischen hundert Jahren zerfielen in Folge des Ersten Weltkrieges die großen Kaiserreiche: das zaristische Russland, das deutsche Kaiserreich, das osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Vor allem auf dem Gebiet des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn entstanden viele neue Nationalstaaten. Die Landkarte Europas veränderte sich für immer. Aus den Trümmern des Krieges und der untergegangenen Großreiche wuchsen Nationalstaaten, also sprachlich, kulturell und ethnisch homogenere Gebilde. Zentrale Forderung war das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Einem von 14 Punkten des US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der die Nachkriegsordnung in Europa grundlegend mitbestimmen sollte. Vor allem die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich-Ungarn mussten die in den Pariser Vorortverträgen ausverhandelten Friedensbedingungen bedingungslos akzeptieren. Ungarn verlor zwei Drittel seines vorherigen Territoriums, das mehrheitlich von Ungarn besiedelt war. Österreich verlor fast rein deutschsprachige Gebiete wie Südtirol und das Sudentenland. Deutschland musste als Kriegsverlierer beispielsweise Westpreußen, Danzig und Eupen-Malmedy abtreten. Die Verlierer sahen die Friedensverträge somit vielfach als Diktat und als Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Nur bei wenigen der Gebietsabtretungen fand ein Referendum statt, bei der die Bevölkerung über ihr Zugehörigkeit entscheiden konnte. Eines davon war die Volksabstimmung in Kärnten. II. Staatsgründung und Grenzfragen in Kärnten Aufgrund des Selbstbestimmungsrechts der Völker war am 21. Oktober 1918 eine provisorische Nationalversammlung für den Staat Deutsch-Österreich gebildet worden. Der von der provisorischen Nationalversammlung gewählte Staatsrat übernahm 1
Der vorliegende Beitrag folgt der Gliederung und basiert im Wesentlichen, was Inhalt und Quellen betrifft, auf der Einleitung des Katalogs zur Dokumentationsausstellung im Völkermarkter Stadtmuseum „Kärntner Abwehrkampf 1918/1919. Volksabstimmung am 10. Oktober 1920“, Gesamtgestaltung der Dokumentation: Friedrich Wilhelm Leitner, Landesmuseum für Kärnten, 1984, S. 9 – 30.
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am 30. Oktober 1918 die Regierungsgewalt und am 12. November 1918 verkündete die Nationalversammlung als Staatsform die einer demokratischen Republik, welche Bestandteil der Deutschen Republik sein sollte. Zwischen der Bildung der provisorischen Nationalversammlung und der Ausrufung der Republik ging der Erste Weltkrieg nach dem Waffenstillstand mit Italien am 3. November 1918 mit dem Zusammenbruch der Mittelmächte zu Ende. Parallel dazu erklärte noch am 25. Oktober 1918 der kaiserliche Landesausschuss in Kärnten dessen Unteilbarkeit, da die Slowenen nicht in geschlossenen Siedlungen leben und das Land durch die Gebirgskämme eine natürliche Grenze hätte. Mit der Demission des kaiserlichen Landtages am 11. November 1918 beschloss die vorläufige Landesversammlung eine vorläufige Landesverfassung, die den Beitritt Kärntens zum Staat Deutsch-Österreich erklärte. Somit trat Kärnten der Republik bei und bekannte sich zur ihr bereits einen Tag vor der offiziellen Gründung. Wiederum parallel dazu wurde in Agram (heute Zagreb) am 6. Oktober 1918 ein „Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben“ gegründet, der Gebietsansprüche auch auf die gemischtsprachigen Gebiete Kärntens und der Steiermark stellte. Im Gegensatz zum Beitritt Kärntens oder Tirols zum Staat Deutsch-Österreich verkündete der slowenische Nationalrat am 29. Oktober 1918 die Loslösung vom bisherigen Staatenverbund der Monarchie und den Anschluss an den SHS-Staat (SlowenenKroaten-Serben). Der Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben berief sich auf das nationale Selbstbestimmungsrecht bei der Loslösung vom Königreich Ungarn und dem österreichischen Kaiserreich. Aufgrund des modernen Nationalitätenprinzips und aufgrund der Nationaleinheit der Slowenen, Kroaten und Serben wurde ein souveräner Nationalstaat auf dem ganzen ethnographischen Raum dieses Volkes, ohne Rücksicht auf die bisherigen territorialen und staatlichen Grenzen ausgerufen. Die Gründung eines alle Südslawen der ehemaligen Habsburgischen Monarchie umfassenden Staates wurde am 31. Oktober 1918 den Entente-Mächten angezeigt. Aber erst die Gefahr von Gebietsverlusten gegenüber Italien im Westen und der offene Grenzverlauf im Norden führte zur formellen Konstituierung des SHS-Staates mit dem Ziel der Vereinigung mit dem serbischen Königreich, die am 1. Dezember 1918 vollzogen wurde, woraufhin erst das einheitliche Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen entstand. Auf europäischer oder weltpolitischer Ebene war das Selbstbestimmungsrecht der Völker den widerstreitenden strategischen und politischen Interessen der Alliierten Mächte untergeordnet, aber auch zu vage und unklar hinsichtlich Träger, Inhalt und Umfang angesichts der Bevölkerungsverhältnisse in den Staaten Zentral- und Osteuropas.2 Das Programm zur Friedensordnung in Europa von US-Präsident Woodrow Wilson 1918 sah für die Habsburger Monarchie vor:3
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M. MacMillan, Paris 1919. Six Month That Changed The World, 2003, S. 12 – 16. H. Konrad, Drafting the Peace, in: Jay Winter (Hrsg.), The Cambridge History of the First World War, vol. 2: The State, 2014, S. 606 – 637. 3
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X. The peoples of Austria-Hungary, whose place among the nations we wish to see safeguarded and assured, should be accorded the freest opportunity of autonomous development.
Diesen wie auch den anderen Punkten IX. bis XIII fehlte es wie in Wilsons USKongressrede an Definitionen und Kriterien für die Begriffe „Nationalität“, „autonome Entwicklung“, „Völker“ oder für das nicht expliziert genannte „Selbstbestimmungsrecht“.4 Zum zentralen Marker ethnischer Zugehörigkeit und zur wesentlichen Trennlinie wurde mit dem Sprachnationalismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Sprache – in Kärnten: Deutsch oder Slowenisch.5 Im Fall von Kärnten beriefen sich beide Seiten auf das von Präsident Wilson erklärte Prinzip des nationalen Selbstbestimmungsrechts für die Neuordnung Europas, wobei der Standpunkt Österreichs nicht einheitlich war:6 Die Ansprüche auf Deutsch-Böhmen und Deutsch-Mähren wurden mit dem ethnischen Prinzip begründet, in Kärnten verwies man auf die historische Landeseinheit unter Einbeziehung slowenischsprachiger Gebiete, sofern dies die ansässige Bevölkerung wünsche. Aber auch von Seiten des SHS-Staates waren die Forderungen nicht ganz klar. Beanspruchte man zuerst noch ganz Kärnten mit ähnlichen Argumenten wie von österreichischer Seite, nämlich mit der Unteilbarkeit des Landes, reduzierte man schließlich die Ansprüche auf Gebiete mit slowenischer Bevölkerung, was etwa ein Drittel der Landesfläche ausmachte. Da auch für die slowenischsprachige Bevölkerung wichtige Städte Klagenfurt und Villach außerhalb dieser ethnischen Grenze lagen, wurden auch diese über die ethnische Grenze hinaus beansprucht. Innerhalb dieser wirtschaftlichen Grenze mit den beiden Städten Klagenfurt und Villach lebten laut der noch in der Monarchie durchgeführten Volkszählung 1910 eine Gesamtbevölkerung von 194.000 Einwohner, wovon 114.000 Deutschsprachige und 80.000 Slowenischsprachige waren.7 Mit Ende Oktober/Anfang November 1918 bildeten sich in größeren Gemeinden slowenische Volksräte und der slowenische Vormarsch begann mit der Besetzung des Mießtals durch SHS-Truppen. Bereits zu diesem Zeitpunkt am 31. Oktober 1918 verfasste die deutsch-österreichische Nationalversammlung eine Note an Präsident Wilson mit der Forderung einer allgemeinen Volksabstimmung für Südkärnten. Auch in der Konstituierungsurkunde der Kärntner Landesversammlung vom 11. November umfasst das Land Kärnten das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet des ehemaligen Herzogtums Kärnten und jene gemischtsprachigen Siedlungsgebiete dieses Herzogtums, die sich auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes ihrer Bewohner dem Staatsgebiet des Staates Deutsch-Österreich verfassungsgemäß anschließen. Trotz 4 H. J. Schröder, Woodrow Wilson und der Vertrag von St. Germain 1919 – 1920, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs Nr. 9 (2019) 2, S. 332 – 351. 5 J. Pirker, Staatswerdung, Grenzziehung und Minderheitenschutz: Der 10. Oktober 1920 im (inter-)nationalen Kontext, in: Institut für die Geschichte der Kärntner Arbeiterbewegung, Arbeit & Demokratie. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, 2020, S. 25. 6 H. Valentin, Der Sonderfall. Kärntner Zeitgeschichte 1918 – 2004/08, 2009, S. 20. 7 M. Wutte, Kärntens Freiheitskampf 1918 – 1920, 1943, S. 73.
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der am 7. November 1918 erfolgten Einberufung aller geeigneter Männer vom 18. bis zum 36. Lebensjahr, die nur wenige Tage später wieder zurückgenommenen wurde, und der Aufstellung von Volkswehrkompanien versuchte man, einem bewaffneten Konflikt aus dem Weg zu gehen und auf dem Verhandlungsweg eine von den alliierten Mächten kontrollierte Volksabstimmung zu erreichen. III. Vom Abwehrkampf bis zur Volksabstimmung Bei der Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen am 1. Dezember 1918 in Belgrad waren bereits größere Städte und Orte im Kärntner Lavanttal, Jauntal und Rosental besetzt. Da alliierte Truppen aufgrund des Waffenstillstandes vom 3. November 1918 das Recht hatten, sich auf deutsch-österreichischem Staatsgebiet zu bewegen, kam es zu keinem Widerstand gegen die angreifenden Truppen des SHS-Staats. Seitens der Laibacher Landesregierung drohte man auch mit dem Vormarsch alliierter serbischer Truppen, weshalb man am 23. November 1918 übereinkam, dass das gesamte Gebiet südlich der Drau vorläufig vom SHSStaat verwaltet werden sollte, um ein weiteres Vorrücken und einen bewaffneten Konflikt zu vermeiden. Allerdings wurde die Bedrohung eines Vormarsches auch nördlich der Draulinie immer größer, weshalb die vorläufige Landesversammlung am 5. Dezember 1918 beschloss, dass angesichts des Selbstbestimmungsrechts der Völker dem Eindringen jugoslawischer Truppen in Kärnten mit allen Kräften entgegenzutreten sei. Nachdem Verhandlungen mit der Nationalregierung in Laibach am 9. Dezember 1918 scheiterte, lag die Verantwortung der folgenden bewaffneten Auseinandersetzungen ganz bei der vorläufigen Landesversammlung und der Landesregierung von Kärnten, da eine offizielle Teilnahme der Staatsregierung an den Abwehrkämpfen unweigerlich zu einem Konflikt mit dem SHS Königreich und den Ententemächten geführt hätte.8 Nach der Besetzung Grafensteins am 14. Dezember 1918 wurde seitens der Kärntner Truppen erstmals Widerstand geleistet und so der Vormarsch auf Klagenfurt verhindert. Die Laibacher Nationalregierung protestierte gegen das Vorgehen der Kärntner Truppen, da die in den Gefechten involvierten serbischen Soldaten eine Ententegruppe gewesen wäre. Alle Vermittlungsversuche seitens der Regierung in Wien blieben erfolglos und auch der für die Weihnachtsfeiertage geschlossene Waffenstillstand wurde mit der Besetzung weiterer Teile des Lavanttals gebrochen. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht vom 18. bis zum 41. Lebensjahr in Österreich und die große Zahl der freiwilligen Bürgerwehren in Kärnten erhöhte die Schlagkraft des Widerstands. Nachdem das untere Lavanttal am 27. Dezember 1918 zurückerobert werden konnte, kündigte der Landesbefehlshaber Oberstleutnant Ludwig Hülgerth im Einvernehmen mit dem Landesverweser Arthur Lemisch am 2. Ja8 A. Falle, Die volkspolitischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Volksabstimmung in Kärnten, in: H. Lagger (Hrsg.), Abwehrkampf und Volksabstimmung in Kärnten 1918 – 1920, 1930, S. 10.
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nuar 1919 das Übereinkommen über die Demarkationslinie, sodass bei einer Großoffensive ab 5. Januar 1919 das ganze besetzte Gebiet bis auf die Stadt Völkermarkt befreit werden konnte, worauf am 14. Januar 1919 eine beiderseitige Waffenruhe vereinbart wurde. Kurz darauf, am 16. Januar 1919, begannen die Waffenstillstandsverhandlungen in Graz, bei denen es in erster Linie um eine für alle Parteien akzeptable Demarkationslinie ging. Da von Seiten der Laibacher Nationalregierung der ausgearbeitete Kompromissvorschlag abgelehnt wurde, stimmten die Verhandlungspartner einer Studienkommission zu, die das umstrittene Gebiet bereisen und eine Demarkationslinie bestimmen sollte.9 Auf Wunsch von Präsident Wilson wurde bereits im Dezember 1918 eine US-amerikanische Studienkommission eingerichtet, um der US-amerikanischen Friedensdelegation über die politischen Verhältnisse in der ehemaligen Habsburger Monarchie zu berichten und Lösungsvorschläge für mögliche Grenzziehungen von Deutsch-Österreich auszuarbeiten. Benannt nach dem US-amerikanischen Offizier Sherman Miles, bereiste eine vierköpfige Kommission unter dessen Leitung vom 25. Januar bis 5. Februar 1919 die umstrittenen Gebiete Kärntens. Bereits am 7. Februar verabschiedete die Miles-Kommission einen Mehrheitsbericht mit einer Gegenstimme, wonach Kärnten eine geographische und wirtschaftliche Einheit wäre und die Bevölkerung sich mehrheitlich für den Verbleib bei der Republik Deutsch-Österreich aussprechen würde. Ganz im Sinne des Berichts beschlossen die Siegermächte am 30. Mai 1919 die Abhaltung einer Volksabstimmung, die nach Ende der Abwehrkämpfe am 21. Juni 1919 nochmals bekräftigt wurde. Zwischen April und Juni gab es von beiden Seiten Offensiven und Gegenoffensiven, bei denen auf die gänzliche Befreiung der besetzten Gebiete der Vormarsch der SHS-Truppen bis Klagenfurt und die Sicherung der Bahnlinie Tarvis-Villach-St. Veit durch italienische Einheiten folgte.10 Alles in allem forderte der Kärntner Abwehrkampf 273 Menschenleben auf österreichischer sowie 156 auf jugoslawischer Seite und endete in einer militärischen Niederlage für Kärnten und die Republik Deutsch-Österreich, andererseits ebnete er den Weg zur Volksabstimmung.11 IV. Die Volksabstimmung und eine Ergebnisanalyse Bereits vor dem Beschluss der Siegermächte, am 30. Mai 1919 in Kärnten eine Volksabstimmung abzuhalten, hielt der US-amerikanische Präsident Wilson eine entscheidende Rede, in der er darauf hinwies, dass im Klagenfurter Becken die wirtschaftlichen Grenzen nicht mit den ethnographischen übereinstünden und überdies 9
M. Wutte, Die amerikanische Kommission, in: Carinthia I, 125, 1935, S. 192 f. H. Hütter, Die Rolle Italiens im Kampf und Kärntens Freiheit, in: Carinthia I, 150, 1960, S. 605 ff. 11 E. Steinböck, Die Verluste im Kärntner Abwehrkampf, in: Carinthia I, 160, 1970, III ff. 10
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eine Bergkette eine äußerst wichtige Scheidewand sei, wodurch die Grenzfestlegung des Klagenfurter Beckens in jeder Hinsicht der Grenze Italiens ähneln würde.12 Das umstrittene Gebiet wurde in zwei Zonen geteilt. Am 20. Juli 1919 wurde der deutsch-österreichischen Delegation der Vertragsentwurf der Friedensbedingungen überreicht, deren Artikel 49 und 50 vorsahen, dass die südliche Zone I (A) unter jugoslawische Verwaltung und die nördliche Zone II (B) unter deutsch-österreichische Verwaltung gestellt werden sollten, und beide Zonen wiederum unter Kontrolle einer interalliierten Kommission des Völkerbundes. Nach Ablauf einer bestimmten Frist sollte in Zone A abgestimmt werden. Sollte die Abstimmung mehrheitlich für Jugoslawien ausgehen, hätte dies die Abtretung des Gebietes zur Folge gehabt und eine zweite Abstimmung in der Zone B notwendig gemacht. Bei einer Mehrheit für Deutsch-Österreich in der Zone A wäre eine zweite Abstimmung in der Zone B nicht nötig und das gesamte Abstimmungsgebiet verbliebe bei Deutsch-Österreich. Am 28. Juli 1919 wurde die Demarkationslinie und somit die Zoneneinteilung endgültig festgelegt und die letzten SHS-Truppen verließen die Zone B und somit auch die Landeshauptstadt Klagenfurt innerhalb 31. Juli 1919. Mit Unterzeichnung des Friedensvertrags von Saint-Germain verlor Kärnten ohne Volksabstimmung das deutsch-slowenischsprachige Kanaltal an Italien und das Seeland und Mießtal mit der Stadt Unterdrauburg an den SHS-Staat. Diese Gebietsverluste machten immerhin 8 % des damaligen Kärntner Landesgebietes und 6 % der Bevölkerung aus. Mit Festlegung der Zoneneinteilung und Abzug der SHS-Truppen aus der Zone B begann im Sommer 1919 bis zum Termin der Abstimmung, dem 10. Oktober 1920, eine Propagandaschlacht um jede Stimme. Die Zone A, die bis zu 70 % slowenischsprachig war, blieb bis zur Volksabstimmung unter jugoslawischer Verwaltung. Auf Seiten der Deutschkärntner wurde eine von allen Parteien getragene Landesagitationsleitung gegründet, die später im Kärntner Heimatdienst aufging. Bei der Propaganda auf Deutschkärntner Seite betonte man erstmals das Kärntner Heimatbewusstsein. Österreich wurde bewusst nicht ins Zentrum der Kampagne gestellt, um auch slowenischsprachige Kärntner für die Landeseinheit zu gewinnen. Und auch mit Deutschland konnte aufgrund des Anschlussverbots nicht geworben werden. Dieser taktische Schachzug schien aufzugehen, weil man auch in der mehrheitlich slowenischsprachigen Zone A ein in der Habsburger Monarchie über Jahrhunderte hinweg ausgebildetes Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner unabhängig von deren Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Sprachgruppe hatte. Natürlich spielte auch die geographische Lage mit dem Karawanken-Bergzug als natürliche Grenze zum Süden hin und die Einheit mit dem Klagenfurter Becken und der für die bäuerliche Bevölkerung so wichtige Wirtschaftsstandort Klagenfurt eine bedeutende Rolle.
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L. A. Marescotti, Der Krieg der Diplomaten, 1940, S. 533.
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Die slowenische Propaganda trat dagegen auf den Flugblättern während der Abstimmungskampagne mit dem Namen „Jugoslawien“ auf, womit auch auf Seiten des SHS-Staates der offizielle Name nicht betont wurde, um wohl bewusst das Königreich nicht zu erwähnen, das noch dazu an erster Stelle einen serbischen Namen hatte.13 Aber auch die slowenische Elite, die noch vor dem Zerfall der Habsburger Monarchie für einen panslawischen Staat kämpfte, war schon bald vom zentralistischen großserbischen Königreich enttäuscht, in dem sich sehr schnell soziale, kulturelle und religiöse Unterschiede manifestierten. Trotzdem waren die katholischen Priester in der Zone A eine Hauptstütze für die jugoslawische Seite. Die einfache bäuerliche Bevölkerung, die sechs Jahrhunderte in der Habsburger Monarchie lebte, sah in der Republik Deutsch-Österreich den Nachfolgestaat des untergegangenen Kaiserreichs. Das serbische Königreich dagegen wurde als ständiger Kriegsführer am Balkan eingestuft. Nach Einführung des Frauenwahlrechts am 12. November 1918 wurde dies auch geschickt von der Deutschkärntner Propaganda ausgenützt, worin Mütter aufgerufen wurden, für Kärnten zu stimmen, da sonst ihre Söhne für den serbischen König einrücken müssten.14 Neben dem eben erwähnten historisch gewachsenen Zusammenleben, der tradierten sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen, den Glaubens- und Mentalitätsunterschieden, der demokratischen Staatsform mit einem allgemeinen Wahlrecht oder der Wehrpflicht im SHS-Staat spielte sicher auch der größere Wohlstand, die Ansätze einer Sozialgesetzgebung bis hin zur Schulpflicht eine wichtige Rolle für das Ergebnis bei der Volksabstimmung.15 Mitentscheidend war auch die Öffnung der Demarkationslinie durch die interalliierte Kommission am 3. August 1920, womit die durchgehend zweisprachig oder auch nur slowenischsprachige Propaganda von Deutschkärntner Seite in der Zone A verstärkt verbreitet werden konnte. Und gleichzeitig wurde die jugoslawische Verwaltung von der lokalen Bevölkerung in der Zone A immer mehr als Besatzer und nicht als Befreier wahrgenommen. Auf den weißen Stimmzetteln stand „Jugoslawien“, auf den grünen Stimmzetteln „Österreich“, was von Deutschkärntner Seite kritisiert wurde; zu einer Änderung mit den offiziellen Namen „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ und „Republik Österreich“, womit klar geworden wäre, dass man zwischen einer Monarchie und einer Republik zu wählen hätte, kam es aber nicht.16
13 A. Rahten, Die Kärntner Volksabstimmung im Lichte der ersten slowenisch-österreichischen Auseinandersetzungen auf der internationalen Ebene, in: Institut für die Geschichte der Kärntner Arbeiterbewegung (Hrsg.), Arbeit & Demokratie. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, 2020, S. 51. 14 M. MacMillan (Anm. 2), S. 255. 15 J. Pirker (Anm. 5), S. 23. 16 A. Rahten (Anm. 13), S. 51.
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Am 13. Oktober 1920 wurde von der interalliierten Abstimmungskommission das zugunsten Österreichs eindeutige Ergebnis präsentiert: 22.025 (59,04 %) der wahlberechtigten Bevölkerung der Zone A stimmte für Österreich und 15.279 (40,96 %) stimmte für Jugoslawien. Woraufhin die Verwaltung der Abstimmungszone wieder Österreich übertragen wurde und eine weitere Abstimmung in der Zone B hinfällig war. So mancher slowenische Teilnehmer an der Kärntner Volkabstimmung wählte deswegen Österreich, weil er nicht in Jugoslawien leben wollte, und nicht deshalb, weil er sich seiner slowenischen Identität entsagen wollte.17 Die Volkszählungsergebnisse von 1910 untermauern diese Analyse, da im Abstimmungsgebiet der Zone A 68,8 % der Bevölkerung Slowenisch und 31,4 % Deutsch als Umgangssprache angegeben hatten. Insofern müssten neben der deutschsprachigen Bevölkerung rund 27,6 % mit slowenischer Umgangssprache, also rund 40 % der Slowenischsprachigen 1920 für Österreich gestimmt haben. V. Schlussbemerkung und Kontextualisierung Nach dem Zerfall der Habsburger Monarchie war es schwierig, die Grenzen des Nachfolgestaates festzulegen. Erst mit dem Beitritt der heutigen Bundesländer, wie zum Beispiel schon oben erwähnt Kärntens zum Staat Deutsch-Österreich, konnte das Staatsgebiet genauer umrissen werden. Die aus der zerfallenen Habsburger Monarchie neu entstandenen Nationalstaaten stellten im Norden, Osten und Süden Gebietsansprüche. Dabei handelte es sich in der Südsteiermark und in Südkärnten um gemischtsprachig slowenisch-deutsche Gebiete, in den Komitaten Westungarns um ein mehrheitlich deutschsprachiges und im heutigen Südtirol um fast ein 100 % deutsch-ladinischsprachiges Gebiet. In der Steiermark lag es vor allem – im Gegensatz zum Abstimmungsgebiet in Kärnten – am mangelnden Gemeinschaftsgefühl der deutsch- und slowenischsprachigen Bevölkerung, sodass ein gemeinsamer Abwehrkampf kaum organisiert werden konnte und ein bewaffneter Widerstand – anders als in Kärnten – von der Steirischen Landesregierung abgelehnt wurde, was schlussendlich zur Einverleibung der Untersteiermark mit der Stadt Marburg in den SHS-Staat führte. Gegen die Besetzung Südtirols durch Italien gleich nach Kriegsende wurden vor allem in Österreich und Bayern Solidaritätskundgebungen abgehalten, und eine Denkschrift für den Verbleib bei Österreich aller Südtiroler Gemeinden an Präsident Wilson blieb ungehört. Denn bereits mit dem Kriegseintritt Italiens auf Seiten des Vereinigten Königreichs, Frankreichs und Russlands im Jahr 1915 wurde Italien die Brennergrenze zugesichert. Womit genau am 10. Oktober 1920, am Tag der Kärntner Volksabstimmung, Südtirol endgültig dem italienischen Königreich ohne Kampfhandlungen angegliedert wurde.
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A. Rahten (Anm. 13), S. 54.
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Im Gegensatz zu den großen Gebietsverlusten mit deutschsprachiger Bevölkerung an die Tschechoslowakei schlossen die alliierten Siegermächte die mehrheitlich deutschsprachigen Komitate Westungarns mit der Stadt Ödenburg Österreich an. Ungarn weigerte sich allerdings das Gebiet zu räumen, was im Jahr 1921 zu lokalen Kämpfen zwischen der österreichischen Exekutive und ungarischen Milizen führte. Schließlich verpflichtete sich Ungarn zum Abzug aus dem Gebiet, unter der Bedingung einer Volksabstimmung in der Stadt Ödenburg. Die am 14. Dezember 1921 in Ödenburg durchgeführte Wahl ergab eine über 72 % Mehrheit für Ungarn. Von österreichischer Seite reichten die Vorwürfe von gefälschten Wählerlisten, von Wahlbehinderung bis hin zu Stimmabgaben von Toten. Die endgültige Grenzziehung erfolgte erst 1923, wobei Ödenburg bei Ungarn verblieb, und das restliche Gebiet das heutige österreichische Bundesland Burgenland umfasst. In der Kärntner Geschichtsschreibung gibt es bei der Frage eines unmittelbaren Zusammenhanges zwischen Abwehrkampf und Volksabstimmung aufgrund dieser Beispiele eine differenzierte Position: „Es hieße die Mechanismen der Politik zu ignorieren, wenn man meinte, die Kärntner Abwehrkämpfe hätten die verantwortlichen Politiker in Paris unbeeindruckt gelassen. Nach dem jahrelangen, blutigen Völkerringen konnte nicht darüber hinweggegangen werden, wenn in einem Teil Europas ein ,Krieg nach dem Krieg‘ ausgebrochen war. Wäre es in Kärnten zu keinen Widerstandshandlungen gekommen, hätte dies den Anschein erweckt, die südslawischen Gebietsansprüche würden akzeptiert werden. Auch die Volksabstimmung in Ödenburg/Sopron Ende 1921 wurde im Besonderen auf Grund des bewaffneten Widerstandes ungarischer Freischärler verfügt.“18 Das slowenische Volk mit seiner damals überwiegend dem Serbischen zugeneigten politischen Elite fand sich im Gegensatz zu den Kärntner Slowenen ohne Referendum in dem neuen Staat Jugoslawien wieder.19 Mit dem Referendum vom 23. Dezember 1990, also über 70 Jahre nach der Kärntner Volksabstimmung bekam das slowenische Volk erstmals die Möglichkeit über die eigene Zukunft und für einen unabhängigen Staat abzustimmen. Erst diese Unabhängigkeit Sloweniens und der europäische Integrationsprozess mit dem EU-Beitritt Sloweniens im Jahr 2004 ist mit ein Grund, dass alte Wunden aus den Zeiten des Abwehrkampfs und der Volksabstimmung verheilen können.20 Und auch dass der Jahrzehnte andauernde Assimilierungsdruck auf die slowenische Volksgruppe in Kärnten, trotz großer Versprechen seitens der Deutschkärntner nach der erfolgreichen Volksabstimmung – die allesamt unerfüllt blieben, nun ein Ende hat.
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H. Valentin (Anm. 6), S. 33. A. Rahten (Anm. 13), S. 55. 20 J. Feldner/M. Sturm, Kärnten neu denken – Zwei Kontrahenten im Dialog, in: W. Graf/ G. Kramer/J. Feldner (Hrsg.), Kärnten neu denken: Zwei Kontrahenten im Dialog, 2007, S. 62 ff. 19
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VI. Zusammenfassung Vor inzwischen hundert Jahren zerfielen in Folge des Ersten Weltkrieges die großen Kaiserreiche. Das zaristische Russland, das deutsche Kaiserreich, das osmanische Reich und die Habsburgermonarchie. Vor allem auf dem Gebiet des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarn entstanden viele neue Nationalstaaten. Die Landkarte Europas veränderte sich für immer. Aus den Trümmern des Krieges und der untergegangenen Großreiche wuchsen Nationalstaaten, also sprachlich, kulturell und ethnisch homogenere Gebilde. Zentrale Forderung war das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Einem von 14 Punkten des US-amerikanischen Präsidenten Wilson, der die Nachkriegsordnung in Europa grundlegend mitbestimmen sollte. Vor allem die Kriegsverlierer Deutschland und Österreich-Ungarn mussten die in den Pariser Vorortverträgen ausverhandelten Friedensbedingungen bedingungslos akzeptieren. Ungarn verlor zwei Drittel seines vorherigen Territoriums, das mehrheitlich von Ungarn besiedelt war. Österreich verlor fast rein deutschsprachige Gebiete wie Südtirol und das Sudentenland. Deutschland musste als Kriegsverlierer Westpreußen, Danzig und Eupen-Malmedy abtreten. Die Verlierer sahen die Friedensverträge somit vielfach als Diktat und als Missachtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Nur bei wenigen der Gebietsabtretungen fand ein Referendum statt, bei der die Bevölkerung über ihr Zugehörigkeit entscheiden konnte. Eines davon war die Volksabstimmung in Kärnten. In der Kärntner Geschichtsschreibung gibt es bei der Frage eines unmittelbaren Zusammenhanges zwischen Abwehrkampf und Volksabstimmung aufgrund dieser Beispiele eine differenzierte Position: „Es hieße die Mechanismen der Politik zu ignorieren, wenn man meinte, die Kärntner Abwehrkämpfe hätten die verantwortlichen Politiker in Paris unbeeindruckt gelassen. Nach dem jahrelangen, blutigen Völkerringen konnte nicht darüber hinweggegangen werden, wenn in einem Teil Europas ein ,Krieg nach dem Krieg‘ ausgebrochen war. Wäre es in Kärnten zu keinem Widerstandshandlungen gekommen, hätte dies den Anschein erweckt, die südslawischen Gebietsansprüche würden akzeptiert werden. Am 13. Oktober 1920 wurde von der interalliierten Abstimmungskommission das zugunsten Österreichs eindeutige Ergebnis präsentiert. 22.025 (59,04 %) der wahlberechtigten Bevölkerung der Zone A stimmte für Österreich und 15.279 (40,96 %) stimmte für Jugoslawien. Neben der deutschsprachigen Bevölkerung stimmten rund 27,6 % mit slowenischer Umgangssprache, also rund 40 % der Slowenischsprachigen 1920 für Österreich.
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* Abstract Günther Rautz: The Reorganization of Europe with Special Reference to the Referendum in Carinthia in 1920 (Die Neuordnung Europas mit besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmung in Kärnten 1920), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert. H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 195 – 205. One hundred years ago, the great empires collapsed as a result of the First World War. Tsarist Russia, the German Empire, the Ottoman Empire and the Habsburg Monarchy. Many new nation-states emerged, especially in the territory of the multi-ethnic Austro-Hungarian Empire. The map of Europe changed forever. Out of the ruins of war and the vanished great empires grew nation-states, i. e. linguistically, culturally and ethnically more homogeneous entities. The central demand was the right of nations to self-determination. One of 14 points of the American President Wilson, which was to have a fundamental influence on the post-war order in Europe. Above all, the war losers Germany and Austria-Hungary had to unconditionally accept the peace terms negotiated in the Paris Preliminary Agreements. Hungary lost two-thirds of its previous territory, the majority of which was populated by Hungarians. Austria lost almost purely German-speaking territories such as South Tyrol and the Sudentenland. Germany, as the loser in the war, had to cede East Prussia, Danzig and Eupen-Malmedy. The losers thus often saw the peace treaties as dictates and as a disregard for the peoples’ right to self-determination. Only in a few of the territorial cessions did a referendum take place in which the people could decide on their allegiance. One of these was the referendum in Carinthia. In Carinthian historiography, there is a differentiated position on the question of a direct connection between the defensive struggle and the referendum on the basis of these examples: ”It would be to ignore the mechanisms of politics if one thought that the Carinthian defensive struggles had left the responsible politicians in Paris unimpressed. After years of bloody wrestling among nations, it was impossible to ignore the fact that a ’war after the war’ had broken out in one part of Europe. If there had been no acts of resistance in Carinthia, this would have given the appearance that the South Slav territorial claims would be accepted. On October 13, 1920, the interallied voting commission presented the result, which was unambiguous in favor of Austria. 22,025 (59.04 %) of the eligible population of Zone A voted for Austria and 15,279 (40.96 %) voted for Yugoslavia. In addition to the German-speaking population, about 27.6 % with Slovenian colloquial language, i. e. about 40 % of Slovenian speakers in 1920, voted for Austria.
Die Burgenlandfrage 1919 – 1924. Ein bilateraler wie internationaler Problemfall Von Richard Lein I. Einleitung Die Auseinandersetzung um die staatliche Zugehörigkeit der später als Burgenland1 bezeichneten Gebiete Westungarns stellte für die beiden Hauptakteure des Konflikts, also Österreich und Ungarn, ein schwerwiegendes Problem dar. Als Überbleibsel der Habsburgermonarchie und zu „Verliererstaaten“ gestempelt, befanden sich beide Staaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowohl im Kampf um ihre territoriale Integrität als auch ihre politische Stabilität. Die enge Verbindung dieser beiden Fragen führte letztlich dazu, dass sich der Streit zwischen den beiden Staaten um die zweckmäßige Ziehung der neuen gemeinsamen Grenze zu einem Konflikt auswuchs, der den brüchigen Frieden in Mitteleuropa ernstlich bedrohte. Die Auseinandersetzung Wiens und Budapests um das Burgenland war jedoch auch aus gesamteuropäischer Sicht von besonderer Brisanz. Einerseits zielten vor allem die ungarischen Bestrebungen in dem Streit auf eine, wenn auch nur teilweise Revision der Pariser Friedensordnung ab, was einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen drohte. Zum anderen manifestierte sich in dem Konflikt auch erstmals die aufkommende Rivalität der neuen, aufstrebenden Machtblöcke um wirtschaftlichen und politischen Einfluss im mitteleuropäischen Raum, der bis 1918 von der Habsburgermonarchie beherrscht und in dem nach ihrem Zerfall ein Machtvakuum entstand. Dieser Umstand führte zur wiederholten Einschaltung externer Akteure in die Angelegenheit, was die Situation zusätzlich verkomplizierte. Ungeachtet seiner Brisanz fand der Konflikt jedoch weder in der zeitgenössischen Publizistik noch in der nationalen wie internationalen Historiographie jenen Niederschlag, den man aufgrund seiner Bedeutung erwarten hätte können. Zu dominierend waren die Auseinandersetzungen um die Grenzziehung in West- und Osteuropa sowie die anderen bilateralen Konflikte, in die Österreich und Ungarn nach 1918 verwickelt waren, um die auf den ersten Blick wenig bedeutende Burgenlandfrage als ein lohnenswertes Forschungsgebiet erscheinen zu lassen.2 Erst das 100-Jahr-Jubiläum der Angliederung des Burgenlands 1
Der Ursprung des Namens „Burgenland“ als Bezeichnung für die westungarischen Gebiete ist umstritten. Siehe: G. Schlag, Aus Trümmern geboren. Burgenland 1918 – 1921, 2001, S. 164 – 165. 2 Die Burgenlandfrage wird auch in rezenten, ansonsten ausgezeichneten Werken zur Pariser Friedenskonferenz sowie zur europäischen Nachkriegsordnung nicht erwähnt. Siehe exemplarisch: M. MacMillian, Peacemakers. The Paris Conference of 1919 and its Attempt to
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hat insbesondere in Österreich zu einer erhöhen Forschungs- und Publikationstätigkeit geführt, deren Ergebnisse auch in diesen Beitrag eingeflossen sind.3 Er setzt sich zum Ziel, die Burgenlandfrage auch auf internationaler Ebene, wo sie bislang weitgehend unbeachtet geblieben ist, bekannt zu machen. II. Zwischen Idee und Forderung Als Ausgangspunkt für die formaljuristischen Ansprüche Österreichs auf die überwiegend mit Personen deutscher Umgangssprache besiedelten Komitate Westungarns4 – also Wieselburg (Moson), Eisenburg (Vasvár), Preßburg (Pozsony/Bratislava) und Ödenburg (Sopron)5 – gilt allgemein die „Staatserklärung Deutschösterreichs über Umfang, Grenzen und Beziehungen Deutschösterreichs“ vom 22. No-
End War, 2002; R. Gerwarth, Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, 2017; A. Tooze, Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916 – 1931, 2015. Erwähnenswerte Ausnahmen bilden folgende Werke: J. Berlin, The Burgenland Question 1918 – 1920. From the Collapse of Austria-Hungary to the Treaty of Trianon, PhD thesis, Wisconsin 1974; Z. Steiner, The Lights that Failed. European International History 1919 – 1933, 2007, S. 91 – 93; J. Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918 – 1923, 2018, S. 1055 – 1066, 1207; A. Suppan, Imperialist Peace Order. Saint-Germain and Trianon 1919 – 1920, 2019, S. 137 – 150. 3 Vgl. G. Egry, Nationale Selbstbestimmung – ohne Nationen? Territoriale Neugliederung und nationalstaatliche Legitimation in Westungarn/Burgenland 1918 – 1922, in: O. J. Schmitt/ R. Stauber (Hrsg.), Frieden durch Volksabstimmungen? Selbstbestimmungsrecht und Gebietsreferenden nach dem Ersten Weltkrieg, 2022, S. 221 – 248; I. Murber, Grenzziehung zwischen Ver- und Entflechtungen. Eine Entstehungsgeschichte Deutsch-Westungarns und des Burgenlandes, 2021; O. Rathkolb/G. Polster/S. Steiger-Moser/J. Kirchknopf/R. Burgstaller (Hrsg.), Burgenland schreibt Geschichte 1921 – 2021, 2 Bde., 2021; S. Horvath, Die westungarische Frage. Das Ringen um einen schmalen Landstrich im Spiegel der Presse 1918 – 1921, Univ. MA. Arb., Wien 2020; B. Scheidl, Hände weg vom deutschen Gut! Adalbert Wolf und die Autonomiebestrebungen in Deutschwestungarn (1912 bis 1919), Univ. Dipl. Arb., Wien 2019; A. Reismüller, Revolten und Revolutionen in Westungarn. Deutsch-Westungarn zwischen dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und dem Ende der ungarischen Räterepublik, Univ. MA. Arb., Wien 2019; M. Hemza, Von Deutsch-Westungarn zum Burgenland, Univ. MA. Arb., Wien 2018. 4 Zu dieser Frage siehe die Denkschrift: „Das geschlossene deutsche Sprachgebiet in WestUngarn nach der Volkszählung 1910“, in: Österreichisches Staatsarchiv [OeStA]/Kriegsarchiv [Ka]/Nachlässe, B/874, Nachlass Eichhoff, Faszikel 39. Darüber hinaus vgl. A. Wotawa (Hrsg.), Deutsch-Westungarn nach dem Friedensvertrag. Verglichen mit dem gesamten deutschen Sprachgebiet Westungarns auf Grund der ungarischen Volkszählung 1910, 1919; H. Rumpler/M. Seger (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Bd. IX/2. Soziale Strukturen. Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild, 2010, S. 60 – 66. Zur politischen und administrativen Organisation Westungarns vor der Abtretung an Österreich vgl. G. Klötzl, Die Verwaltungsgliederung des späteren Burgenlandes 1848 – 1921, 2001, S. 67 – 114. 5 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 106. Die Forderung auf Angliederung des Komitats Pressburg erwies sich aufgrund der diesbezüglichen Ansprüche der Tschechoslowakei rasch als nicht verwirklichbar. Vgl. I. Murber (Anm. 3), Grenzziehung, S. 36.
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vember 1918,6 in der das erste Mal von Seiten der jungen Republik die Angliederung des späteren Burgenlands per Gesetz gefordert wurde. Tatsächlich ging die Diskussion um die verwaltungstechnische Zugehörigkeit des Gebiets jedoch bereits auf die Zeit um das Jahr 1900 zurück. Hier war vor dem Hintergrund des immer stärker zu Tage tretenden Nationalismus sowie der Assimilierungspolitik der ungarischen Behörden gegenüber den nicht-magyarischen Nationalitäten des Königreichs Ungarn7 die Forderung aufgekommen, die deutsch besiedelten Gebiete Ungarns an die österreichische Reichshälfte anzugliedern.8 Ausgangspunkt dafür sollte bei den entsprechenden Ideen und Projekten – zu nennen ist hier insbesondere das aus dem Jahr 1906 stammende Reformkonzept des Juristen und Politikers Aurel Constantin Popovici9 – eine grundlegende Reform der Habsburgermonarchie bilden, im Zuge derer die Verwaltungsgebiete des Staates neu zu gliedern waren. Dies betraf auch die von Personen deutscher Umgangssprache besiedelten westungarischen Gebiete, die zeitgenössisch auch als „Heinzenland“ bezeichnet wurden10. Neben der sprachlichen Komponente wurde hier vor allem deren enge wirtschaftliche und kulturelle Bindung an Wien ins Treffen geführt und damit die Notwendigkeit ihres Anschlusses an Cisleithanien11 bzw. eine neu zu schaffende, deutschsprachige Verwaltungseinheit begründet.12 Vor dem Hintergrund der politischen Lage in Österreich-Ungarn am Vorabend des Ersten Weltkriegs hatte letztlich keines der Konzepte eine reale Chance auf Umsetzung. Die bezüglich Westungarns 6
Staatsgesetzblatt für den Staat Deutschösterreich (StGBl.) Nr. 41 ex 1918, Staatserklärung vom 22. November 1918 über Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebiets Deutschösterreichs, Artikel 5. 7 Vgl. A. Leitner, Die Auswirkungen der Magyarisierungspolitik Ungarns auf das Gebiet des heutigen Burgenlandes, Univ. Dipl. Arb., Wien 2007; D. Javorics, Staatliche Repression und Terror in Westungarn, Univ. Dipl. Arb., Wien 2008, S. 45 – 65. 8 I. Murber (Anm. 3), Grenzziehung, S. 16 – 23; G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 38. 9 Zu Popovici siehe: W. Hlousa, Das Föderalisierungskonzept von Aurel C. Popovici „Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich“, Univ.-Diss., Wien 1989. Zu dem Reformkonzept Popovicis vgl. A. C. Popovici, Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich. Politische Studien zur Lösung der nationalen Frage und staatsrechtlichen Krisen in Österreich-Ungarn, 1906. 10 G. Schlag, Die Entstehung des Burgenlandes, in: E. Weinzierl/K. Skalnik, Österreich 1918 – 1938, Bd. 2, 1983, S. 747 – 800, hier: S. 747 – 748; G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 39 – 40. 11 Der Begriff „Cisleithanien“ bezeichnet jene Gebiete der Habsburgermonarchie, die nach dem Ausgleich von 1867 nicht zum Königreich Ungarn gehörten. Die offizielle Bezeichnung für das in Frage stehende Gebiet lautete „Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“, umgangssprachlich bürgerte sich für das Territorium die Bezeichnung „Cisleithanien“ oder „österreichische Reichshälfte“ ein. Zur Problematik der Begriffe siehe E. Zöllner, Perioden der österreichischen Geschichte und Wandlung des Österreich-Begriffs bis zum Ende der Habsburgermonarchie, in: A. Wandruszka/P. Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848 – 1918, Band III/1: Die Völker des Reiches, 1980, S. 1 – 32, hier: 29. 12 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 43 – 49, S. 62 – 63.
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vorgebrachten Argumente und Ideen blieben jedoch in den Köpfen der handelnden Personen präsent und wurden später rasch wieder aufgegriffen.
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Tatsächlich geriet die Frage der territorialen Zugehörigkeit Westungarns bald nach Ende des Ersten Weltkriegs erneut auf die politische Tagesordnung. Bei den Interessensgruppen handelte es sich nunmehr freilich um zwei voneinander unabhängige Staaten, die Republik (Deutsch-)Österreich und die (Volks-)Republik Ungarn. Die Initiative ging dabei von Wien aus, hatte doch bereits in der konstituierenden Sitzung der provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs am 21. Oktober 1918, also noch vor dem eigentlichen Kriegsende und der mit diesem einhergehenden Auflösung der Habsburgermonarchie, der Abgeordnete Ferdinand Pank in einer Erklärung gefordert, „alle in der vormaligen Donaumonarchie diesseits und jenseits der Leitha lebenden Deutschen in unserem Staatswesen zu vereinigen“.13 Ähnlich argumentierte der Abgeordnete Alois Heilinger, der in der Sitzung der Nationalversammlung am 30. Oktober forderte, den Bewohnern der Komitate Wieselburg, Ödenburg, Eisenburg sowie der Stadt Preßburg (Bratislava) das Recht einzuräumen, selbst über ihren Anschluss an den österreichischen Staatsverband zu entscheiden.14 Der Vorschlag fand in dem Gremium großen Zuspruch, wobei in der Diskussion auch die Bedeutung des Gebiets für die Lebensmittelversorgung der Stadt Wien hervorgehoben wurde.15 Das Präsidium der Nationalversammlung wies die Angelegenheit in Folge dem Staatsrat und dem Verfassungsausschuss zur weiteren Bearbeitung zu, die auf Basis dieser und anderer Vorschläge zur Grenzziehung Entwürfe für ein Gesetz und eine Staatserklärung betreffend „Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebiets von Deutschösterreich“ ausarbeiteten. Diese Dokumente unterscheiden sich insofern, als der Gesetzestext nur die Ansprüche auf Gebiete der ehemaligen österreichischen Reichshälfte erhob, während in der Staatserklärung explizit die Angliederung des von Personen deutscher Umgangssprache bewohnten Gebiets Westungarns, also von zum Königreich Ungarn gehörendem Territorium, an Österreich gefordert wurde.16 Die ungarische Regierung reagierte auf diesen als unfreundlich betrachteten Schritt mit einer Drosselung der Lebensmittelausfuhren nach Österreich,17 was die kritische Ernährungslage in Wien weiter zu verschlechtern drohte. Dies zwang die österreichische Regierung unter Staatskanzler Karl Renner18 zurück13
Stenographische Protokolle der Provisorischen Nationalversammlung, 21. 10. 1918 (1. Sitzung), S. 9. 14 Stenographische Protokolle der Provisorischen Nationalversammlung, 30. 10. 1918 (2. Sitzung), S. 30. 15 Zur Bedeutung Westungarns/des Burgenlandes für die Lebensmittelversorgung Wiens nach 1918 siehe: R. Sandgruber, Die österreichische Ernährungssituation und die burgenländische Landwirtschaft, in: R. Kropf (Hrsg.), Burgenland 1921. Anfänge, Übergänge, Aufbau, 1996, S. 191 – 198. Durch die Annexion Westungarns mit Ausschluss des Ödenburger Abstimmungsgebiets vergrößerte sich die landwirtschaftliche Anbaufläche Österreichs letztlich um rund 178.000 Hektar. Siehe: Statistisches Handbuch für die Republik Österreich, VII. Jg. (Wien 1926), S. 34. 16 Stenographische Protokolle der Provisorischen Nationalversammlung, Beilage 3. 17 I. Murber (Anm. 3), Grenzziehung, S. 25; Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 110 – 111. 18 Zur Innenpolitik Österreichs in der Zwischenkriegszeit siehe rezent: J. W. Boyer, Austria 1867 – 1955, 2022, S. 585 – 758.
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zurudern und eine in der Abendausgabe der Tageszeitung „Neue Freie Presse“ vom 22. November 1918 veröffentlichte Stellungnahme abzugeben, der zufolge Österreich keineswegs vorhabe, Westungarn zu annektieren, sondern lediglich für das Recht der dortigen Bevölkerung eintrete, selbst über ihre staatliche Zugehörigkeit zu entscheiden.19 Auch auf staatsrechtlicher Ebene sah sich Wien vor gezwungen, den Rückzug anzutreten. So wurden am 22. November zwar sowohl das zuvor erwähnte Gesetz als auch die Staatserklärung über die Grenzen des österreichischen Staatsgebiets von der Nationalversammlung verabschiedet, beide Dokumente waren jedoch textlich abgeändert worden. So wurde in der Staatserklärung nunmehr lediglich die geographische, wirtschaftliche und nationale Zugehörigkeit Westungarns zu Österreich betont, seine Bedeutung für die Lebensmittelversorgung Wiens unterstrichen und die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts für die dort ansässige Bevölkerung verlangt. Mit dieser Erklärung hatte Österreich die Forderung auf den sofortigen Anschluss Westungarns aufgegeben. Die gleichzeitig bekundete Absicht, sich bei den Friedensverhandlungen für ein Plebiszit in dem Gebiet einsetzen zu wollen, zeigte jedoch, dass man seitens der Wiener Regierung nicht bereit war, auf den territorialen Anspruch an sich zu verzichten. Ähnliche Probleme wie im Fall des späteren Burgenlands zeichneten sich jedoch auch in Zusammenhang mit den Ansprüchen der Republik auf die von der Tschechoslowakei, dem Königreich SHS und Italien besetzten Teile des von Wien beanspruchten Staatsgebiets, namentlich Südböhmens, Südmährens, der Untersteiermark und Südtirols, ab. Auch hier war klar, dass eine Konfrontation mit diesen Staaten aufgrund der militärischen und politischen Schwäche Österreich sowie seiner Abhängigkeit von Lebensmittel- und Kohlelieferungen aus dem benachbarten Ausland aussichtslos war.20 In Folge dessen unternahm die österreichische Regierung in der Frage der Grenzziehung keine weiteren Schritte mehr und äußerte sich in ihren Stellungnahmen dazu nur noch in betont unverbindlicher Weise. Auch ein im Frühjahr 1919 diskutierter Plan, das Burgenland durch Einheiten der österreichischen Volkswehr zu besetzen21 und so ein fait accompli zu schaffen, wurde aufgrund der außenpolitischen Lage fallen gelassen.22 Die Entscheidung
19 Neue Freie Presse, 22. November 1918 (Abendausgabe); G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 111. Vgl. auch: Staatsrat – Beschlussprotokoll zur 42. Sitzung, in: K. Koch/W. Rauscher/A. Suppan (Hrsg.), Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918 – 1938. Bd. 1: Selbstbestimmung der Republik 21. Oktober 1918 bis 14. März 1919 (kurz: ADÖ 1) 1993, S. 173. Die aus zwölf Einzelbänden bestehende, wissenschaftliche Dokumentenedition ist auch online verfügbar: https://hw.oeaw.ac.at/adoe (abgerufen 20. August 2022). 20 ADÖ 1, S. 34 – 35. 21 K. Glaubauf, Die Volkswehr 1918 – 1920 und die Gründung der Republik, 1993, S. 81 – 88. 22 Das Unternehmen wurde nach mehreren Verschiebungen schließlich im August 1919 endgültig abgesagt. Vgl. Gesandter Ippen an Staatskanzler Renner (Saint Germain) – Telegramm Nr. 379 (in Ziffern, geheim), in: K. Koch/W. Rauscher/A. Suppan (Hrsg.), Außenpo-
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über den zukünftigen Grenzverlauf Österreichs sollte vielmehr der Friedenskonferenz überlassen werden, von der sich Wien die Anhörung und Berücksichtigung seiner nach eigener Ansicht berechtigten territorialen Forderungen erhoffte. III. Der Standpunkt Österreichs Der Ablauf der Friedenskonferenz von Saint Germain, an der ab 12. Mai 1919 auch eine österreichische Delegation unter der Führung von Staatskanzler Renner teilnahm,23 ist in der Historiografie mehrfach erläutert worden24 und wird daher hier nicht im Detail erläutert. Festzuhalten ist, dass ein Nachverhandeln des von den Siegermächten vorbereiteten Vertragstextes durch die österreichische Delegation nicht möglich war, da sich das Dokument eng an den am 28. Juni 1919 unterzeichneten Vertrag von Versailles anlehnte.25 Somit bestand nur in jenen Fragen, die nicht bereits im Vertrag mit dem Deutschen Reich präjudiziert worden waren, die Möglichkeit, die für Österreich vorgesehenen Bestimmungen noch zu modifizieren. Dies betraf unter anderem die Grenzziehung der Alpenrepublik zu seinen Nachbarstaaten, wobei jedoch die meisten der diesbezüglichen Fragen bereits im Vorfeld zu Ungunsten Wiens entschieden worden waren.26 Dies war der österreichischen Delegation freilich bis zur Überreichung des ersten Entwurfs des Friedensvertrags unbekannt. Diese hatte viel mehr gehofft, die einzelnen Gebietsansprüche gegenüber den Vertretern der Siegermächte im Detail darlegen zu können, wofür die österreichischen Diplomaten detaillierte Instruktionen des Staatsamts für Äußeres erhalten hatten.27 Dabei ist augenfällig, das die westungarische Frage in ihrer Bedeutung merklich hinter den Ansprüchen auf Südtirol, Kärnten, die Untersteiermark sowie den deutsch besiedelten Gebieten Böhmens und Mährens zurücktrat,28 jedoch trotzdem litische Dokumente der Republik Österreich 1918 – 1938. Band 2: Im Schatten von Saint Germain 15. März 1919 bis 10. September 1919 (kurz: ADÖ 2), 1994, S. 410 – 411. 23 ADÖ 2, S. 15. 24 A.Suppan (Anm. 2), Imperialist Peace Order; Z. Steiner (Anm. 2), The Lights that Failed; H. Haas, Österreich und die Alliierten 1918 – 1919, in: I. Ackerl/R. Neck (Hrsg.), Saint Germain 1919. Protokolle des Symposiums am 29. und 30. Mai 1979 in Wien, Wien 1989; F. Fellner, Vom Dreibund zum Völkerbund. Studien zur Geschichte der internationalen Beziehungen 1882 – 1919, 1994; N. Almond/R. H. Lutz (Hrsg.), The Treaty of St. Germain. A Documentary History of its Territorial and Political Clauses, 1935; F. Fellner, Der Vertrag von St. Germain, in: E. Weinzierl/K. Skalnik, Österreich 1918 – 1938, Bd. 2, 1983, S. 85 – 106. Für einen vollständigen, wissenschaftlich kommentierten Abdruck des Vertragstexts siehe: H. Kalb/T. Olechowski/A. Ziegerhofer (Hrsg.), Der Vertrag von St. Germain. Kommentar, 2021. 25 ADÖ 2, S. 10. 26 Vgl. ADÖ 2, S. 11. 27 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 225 – 237; ADÖ 2, S. 15 – 16. 28 ADÖ 2, S. 16 – 17. Zur Frage Kärntens und der Untersteiermark auf der Friedenskonferenz vgl. A. Suppan, Jugoslawien und Österreich 1918 – 1938, 1996, S. 468 – 656; zur Frage Südtirols vgl. M. Dotter/S. Wedrac, Der hohe Preis des Friedens. Die Geschichte der Teilung Tirols 1918 – 1922, 2018; zur Frage Südböhmens und Südmährens vgl. S. Eminger/O. Konrad/
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nachdrücklich verfolgt werden sollte. Der Grund dafür war, dass man seitens Wiens bereits befürchtete, dass die Frage Westungarns schlimmstenfalls einer der wenigen Punkte sein könnte, in dem es Österreich gelingen würde, seine Forderungen durchzusetzen. Konkret heißt es in den Instruktionen des Staatsamts für Äußeres an die Friedensdelegation: „[…] Für Westungarn ist mit großer Entschiedenheit einzutreten. Es ist klar, dass das der einzige Punkt ist, wo wir für die Verluste an anderer Seite eine Kompensation bekommen können, und dass die wirtschaftliche Zukunft Wiens in hohem Maß von der Entscheidung darüber abhängt. […] Eine Annexion ohne Volksabstimmung ist nicht zu fordern, aber mit großem Nachdruck muss hervorgehoben werden, dass diese Volksabstimmung nur erfolgen kann unter neutralem Schutz und Kontrolle. […] Da das Problem in der Entente nur wenig bekannt ist, ist es notwendig, dass sich die Delegation nicht nur mit dem wirtschaftlichen, sondern auch mit dem historischen Material ausrüstet.“29
Tatsächlich war der Frage von Seiten der Entente nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, was jedoch auch darauf zurückzuführen war, dass die Thematik Westungarn in den Memoranden, welche Wien im Vorfeld der Konferenz den alliierten Mächten übersandt hatte, zumeist nur am Rande zur Sprache gebracht worden war.30 Dieses Informationsdefizit schlug sich direkt in den am 2. Juni 1919 der österreichischen Delegation überreichten, vorläufigen Friedensbedingungen31 nieder, in denen festgelegt wurde, dass zwischen Österreich und Ungarn der bisherige Grenzverlauf, sprich die Leithagrenze, beizubehalten war.32 Gegen diese und andere ungünstige Entscheidungen formulierte die österreichische Delegation innerhalb der nächsten Wochen zahlreiche Einwendungen, Verwahrungen und Denkschriften.33 Darunter befand sich auch die am 16. Juni 1919 von Staatskanzler Renner an das Präsidium der Friedenskonferenz abgesendete „Note über die Grenzen Deutschösterreichs“, der eine umfangreiche Denkschrift über die Frage der Grenzziehung34 J. Sebek, Österreich und die Tschechoslowakei 1918 – 1938, in: N. Perzi/H. Schmoller/ O. Konrád/V. Sˇ midrkal (Hrsg.), Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch, 2019, S. 87 – 122; W. Reichel, Selbstbestimmungsrecht im Widerstreit. Von der nationalen Kontroverse zum militärischen Kräftemessen. Grenzkonflikt zwischen Deutschösterreich und der Tschechoslowakei 1918/1919, 2021. 29 Instruktion Staatsamt für Äußeres an die Delegation zum Pariser Friedenskongress, in: ADÖ 2, S. 163 – 164. 30 Staatssekretär für Äußeres Bauer an alle in Wien vertretenen Mächte und Regierungen der Ententestaaten und der Vereinigten Staaten von Amerika-Denkschrift, in: ADÖ 1, S. 316 – 328. 31 ADÖ 2, S. 17. Der Text des ersten Entwurfs des Vertrags von St. Germain, welcher der österreichischen Delegation am 02. 06. 1919 überreicht wurde, findet sich abgedruckt in: Österreichische Staatsdruckerei (Hrsg.), Bericht über die Tätigkeit der deutschösterreichischen Friedensdelegation in Saint Germain en Laye, Bd. 1, 1919, 44 – 70. 32 Staatsdruckerei, Bericht über die Tätigkeit der Friedensdelegation, Bd. 1, S. 47; A. Suppan (Anm. 2), Imperialist Peace Order, S. 138. 33 ADÖ 2, S. 18 – 19. 34 Staatsdruckerei, Bericht über die Tätigkeit der Friedensdelegation, Bd. 1, S. 135 – 141.
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sowie zahlreiche weitere Dokumente, wie etwa eine Liste mit den Namen aller mehrheitlich von Personen deutscher Nationalität bewohnten Ortschaften der westungarischen Komitate35 und der Entwurf eines Übereinkommens betreffend die Abhaltung einer Volksabstimmung in den von Österreich geforderten Gebieten,36 beilagen. Auch wenn in dem Dokument wiederum die Frage der zukünftige Grenzziehung Österreichs zur Tschechoslowakei, zu Italien sowie zum Königreich SHS im Vordergrund stand, ging Renner in seiner Denkschrift auch auf Westungarn ein. Dabei wies der Staatskanzler vor allem auf den Umstand hin, dass die Grenze zwischen Österreich und Ungarn zuletzt nur noch eine administrative Bedeutung gehabt hätte, da sich das Gebiet und seine Bewohner wirtschaftlich an Wien orientiert hätten.37 Außerdem, so Renner, würde man das Gebiet ja nicht annektieren wollen, sondern lediglich für die ortsansässige Bevölkerung das Recht auf eine Volksabstimmung einfordern.38 Dass die Burgenlandfrage letztlich doch zu Gunsten Österreichs gelöst wurde, hatte freilich wenig mit der Tätigkeit Renners und seiner Mitarbeiter zu tun. Viel mehr war es Italien, das in der Angelegenheit Druck auf die anderen Ententemächte ausgeübt hatte.39 Rom hatte bei seiner Intervention vor allem das von der Tschechoslowakei in Spiel gebrachte Projekt eines „slawischen Korridors“ auf westungarischem Gebiet im Auge. Die Umsetzung dieses Plans, der auf ein Aufteilung Westungarns zwischen der Tschechoslowakei und dem Königreich SHS hinausgelaufen wäre, hätte Österreich und Ungarn physisch voneinander getrennt, was von einigen Diplomaten als notwendige Maßregel zur Verhinderung einer Restauration der Habsburger in den beiden Ländern angesehen wurde. Auf diese Weise wäre jedoch auch eine direkte Landbrücke zwischen der Tschechoslowakei und dem Königreich SHS entstanden, über die beide Staaten rasch Truppen zu ihrer gegenseitigen Unterstützung verschieben hätten können.40 Gerade aufgrund der sich abzeichnenden politi35 Die Liste mit den Ortsnamen scheint auf einer Studie zu basieren, die vom österreichischen Diplomaten Johannes Eichhoff im Dezember 1918 erstellt worden war. Eichhoff war Mitglied der österreichischen Friedensdelegation in St. Germain. In dem Dokument schlüsselte Eichhoff die Verteilung der Nationalitäten in den einzelnen Ortschaften Westungarns auf und schlug, basierend auf diesen Daten, drei Varianten für eine mögliche Grenzziehung vor. Vgl. OeStA/Ka/Nachlässe, B/874, Nachlass Eichhoff, Faszikel 36. 36 Staatsdruckerei, Bericht über die Tätigkeit der Friedensdelegation, Bd. 1, S. 145 – 152. 37 Staatsdruckerei, Bericht über die Tätigkeit der Friedensdelegation, Bd. 1, S. 131. 38 Staatsdruckerei, Bericht über die Tätigkeit der Friedensdelegation, Bd. 1, S. 139. 39 Zur entscheidenden Rolle, die Italien in der Burgenlandfrage einnahm, siehe vor allem: S. Malfer, Wien und Rom nach dem Ersten Weltkrieg. Österreichisch-italienische Beziehungen 1919 – 1923, 1978, S. 67 – 88. 40 Vgl. G. Schlag (Anm. 10), in: E. Weinzierl/K. Skalnik, Österreich 1918 – 1938, S. 750 – 751; B. Vranjesˇ-Sˇ oljan, Die Frage des sogenannten slawischen Korridors aus kroatisch/südslawischer Sicht, in: R. Kropf (Hrsg.), Burgenland 1921. Anfänge, Übergänge, Aufbau, 1996, S. 39 – 50; L. Fogarassy, Die Volksabstimmung in Ödenburg (Sopron) und die Festsetzung der österreichisch-ungarischen Grenze im Lichte der ungarischen Quellen und Literatur, in: Südost-Forschungen, Bd. XXXV (1976), S. 150 – 182, hier: 155; I. Lindeck-Pozza, Zur Vorgeschichte des Venediger Protokolls, in: Burgenländisches Landesarchiv (Hrsg.), 50 Jahre
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schen und militärischen Annäherung Prags und Belgrads sowie der anhaltenden Spannungen zwischen Italien und dem Königreich SHS wollte Rom ein solches Projekt um jeden Preis verhindern. Der Zuschlag des Gebiets an Österreich im Rahmen des Friedensvertrags schien die beste und einfachste Option zu sein, diesen Plan zu vereiteln, weshalb Italien letztlich in diese Richtung intervenierte. Wien war in diesem Machtspiel der lachende Dritte. So sah der zweite Teil der Friedensbedingungen, welcher der österreichischen Delegation am 20. Juli 1919 überreicht wurde,41 die Abtretung Westungarns mit Ausnahme des östlichen Teils des Wieselburger Komitats an Österreich vor.42 Der Umstand, dass die übrigen Gebietsforderungen mit Ausnahme der Abhaltung eines Plebiszits in Kärnten nicht erfüllt worden waren, schmälerte die Freude der Delegationsmitglieder über den Verhandlungserfolg zwar erheblich, den Beteiligten war jedoch wohl bewusst, dass man vor dem Hintergrund der machtpolitischen Realität das absolute Maximum erreicht hatte. Als negativ wahrgenommen wurde lediglich der Umstand, dass die Abtretung des Burgenlandes ohne die Volksabstimmung erfolgen und ein Teil des Wieselburger Komitats bei Ungarn verbleiben sollte.43 Entsprechende Einwendungen in diesen beiden Punkten bei den alliierten Mächten blieben jedoch letztlich erfolglos.44 Stattdessen rieten einzelne alliierte Diplomaten der österreichischen Delegation, in Westungarn proösterreichische Demonstrationen zu organisieren und so das Ergebnis einer Volksabstimmung vorwegzunehmen.45 Nachdem die alliierten Mächte auch in den anderen Territorialfragen, die von der österreichischen Delegation beeinsprucht worden waren, keine Kompromissbereitschaft signalisierten, sondern nachdrücklich die Annahme des Friedensvertrags drängten,46 musste man schließlich den Widerstand aufgeben. Nach einer kurzen Debatte im Österreichischen Nationalrat wurde das Friedensabkommen schließlich am 10. September 1919 von Staatskanzler Renner in Saint Germain unterzeichnet.47 Auch wenn die Auswirkungen des Vertragswerks für die junge Republik schwerwiegend waren, konnte die österreichische Delegation zumindest die Durchsetzung des Anspruchs auf Westungarn für sich als Erfolg verbuchen, Burgenland. Vorträge im Rahmen der Landeskundlichen Forschungsstelle am Landesarchiv, 1971, S. 15 – 44, hier: S. 16 – 17. 41 ADÖ 2, S. 21. 42 Staatsdruckerei, Bericht über die Tätigkeit der Friedensdelegation, Bd. 2, S. 410 – 411. 43 ADÖ 2, S. 21. 44 ADÖ 2, S. 23 – 24. Siehe auch die umfangreichen Materialien und Memoranden zur westungarischen Frage, die im Nachlass des Diplomaten Johannes Eichhoff einliegen. Dazu gehören auch detaillierte Karten zur Verteilung der einzelnen Sprachgruppen in dem Gebiet, die auf den Ergebnissen der Volkszählung des Jahres 1900 basieren. Vgl. OeStA/Ka/Nachlässe, B/874, Nachlass Eichhoff, Faszikel 37 und 39. 45 Deutschösterreichische Friedensdelegation an Staatskanzler Renner – Telegramm Nr. 231 (Chiffre), in: ADÖ 2, S. 396. 46 ADÖ 2, S. 24 – 25. 47 ADÖ 2, S. 28 – 29. Der Text des Vertrags wurde offiziell publiziert als: StGBl 303 ex 1920 (Staatsvertrag von Saint Germain en Laye vom 10. 09. 1920).
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Abb. 2: Der Grenzverlauf nach den Bestimmungen des Friedensvertrags von St. Germain Quelle: Einzelpubliziertes Kartenblatt, Copyright Freytag & Berndt
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auch wenn dieser Umstand von der Öffentlichkeit zunächst negiert wurde.48 Wie und vor allem mit welchen Mitteln das Gebiet durch den österreichisch Staat in Besitz genommen werden sollte, war zu diesem Zeitpunkt jedoch unklar. Dies war auch darauf zurückzuführen, dass im September 1919 noch kein Friedensvertrag zwischen den Ententemächten und Ungarn existierte, ein Umstand, der einer umgehende Inbesitznahme des Burgenlandes durch Österreich entgegenstand. Vor diesem Hintergrund schien es für Wien die beste Option zu sein, eine Einigung zwischen den alliierten Mächten und Ungarn abzuwarten und dann nachdrücklich die Durchsetzung der im Friedensvertrag von Saint Germain festgelegten Grenzen zu fordern. IV. Der Standpunkt Ungarns Ähnlich wie Wien war auch Budapest keineswegs bereit, auf seinen Anspruch auf Westungarn kampflos zu verzichten. Allerdings befand sich Ungarn im Herbst 1919 jedoch in einer innen- wie außenpolitisch schwierigen Lage. Grund dafür war, dass sich Ungarn auch nach dem Zusammenbruch der Räteregierung Béla Kuns, der das Land von März bis August 1919 mit diktatorischen Mitteln geführt hatte,49 immer noch in einem Zustand völliger außenpolitischer Isolation befand. Auch hatten die militärischen Aktionen der Regierung Kun gegen die Tschechoslowakei und Rumänien zu einer Reihe von Niederlagen für Ungarn geführt, in Folge derer nun noch größere Teile des Landes besetzt waren als dies unmittelbar nach dem Waffenstillstand 1918 der Fall gewesen war.50 Diese Ereignisse hatten Ungarn vor allem innenpolitisch völlig destabilisiert, ein Zustand, der sich erst mit dem Sieg der gegenrevolutionären Kräfte von Miklós Horthy im November 1919 zu bessern begann.51 Diese Entwicklung wurde von Seiten der Ententemächte, die Verhandlungen mit dem Räteregime stets abgelehnt hatten,52 wohlwollend zur Kenntnis genommen. Ungarn befand sich jedoch im Herbst 1919 in einer wesentlich schlechteren Verhandlungsposition als noch ein Jahr zuvor. Vor allem der Umstand, dass Budapest erst im Dezember 1919 zur Friedenskonferenz nach Paris eingeladen wurde,53 war für das Land von Nachteil, da zu diesem Zeitpunkt die meisten Entscheidungen über die territoriale Neuordnung Europas bereits gefallen waren. Seitens der ungarischen Regierung nahm man die Einladung dennoch gerne an, weil man trotz der harten Friedensbedingungen, welche dem Deutschen Reich, Österreich und Bulgarien auferlegt wor48 Vgl. die Ausgaben der Tageszeitungen „Reichpost“, „Wiener Zeitung“ und „Neue Freie Presse“, die nach 10 September 1919 publiziert wurden. 49 H. Fischer, Eine kleine Geschichte Ungarns, 1999, S. 168 – 174; I. Romsics, Weltkrieg, Revolution, Trianon (1914 – 1920), in: I. Toth (Hrsg.), Geschichte Ungarns, 2005, S. 601 – 627, hier: 612 – 617. 50 H. Fischer (Anm. 49), Eine kleine Geschichte Ungarns, S. 173 – 174. 51 I. Romsics (Anm. 49), in: I. Toth, S. 617 – 623; H. Fischer (Anm. 49), Eine kleine Geschichte Ungarns, S. 174 – 176. 52 I. Romsics, Der Friedensvertrag von Trianon, 2005, 117 – 138. 53 I. Romsics (Anm. 52), Trianon, S. 144.
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den waren, hoffte, unter Hinweis auf das von Seiten der Alliierten propagierte Selbstbestimmungsrecht der Völker zumindest alle mehrheitlich von Ungarn besiedelten Teile des ehemaligen Staatsgebiets Transleithanien mit Erfolg beanspruchen zu können. Ähnlich wie im Fall von Österreich erwies sich diese Annahme jedoch als Irrtum, da in den bereits abgeschlossenen Friedensverträgen der überwiegende Teil der Grenzen der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie bereits festgeschrieben worden war.54 So sahen die am 15. Januar 1920 der ungarischen Delegation erreichten Friedensbedingungen die Abtrennung flächenmäßig großer, bevölkerungsreicher Gebiete vor, darunter neben der Slowakei, der Karpato-Ukraine, dem Banat, der Batschka und Siebenbürgen auch Westungarn55. Die übrigen Bestimmungen betrafen primär wirtschaftliche, juristische und finanzielle Fragen, die jedoch, trotz ihrer schwerwiegenden ökonomischen Implikationen,56 von Seiten der ungarischen Öffentlichkeit nur am Rande wahrgenommen wurden. Insbesondere die geplante Abtretung Westungarns rief große Erbitterung hervor, da man nicht einsehen konnte, dass gerade Österreich, das aus Budapester Sicht den Krieg überhaupt erst verursacht hatte,57 auf Kosten des bereits ausgebluteten Ungarns noch belohnt werden sollte. Dem Beispiel seines Nachbarlandes folgend formulierte auch die ungarische Delegation Gegenvorschläge und Einsprüche, die an das Leitungsgremium der Friedenskonferenz übersendet wurden. Ähnlich wie im Fall Österreichs spielte die westungarische Frage vor dem Hintergrund der anderen, wesentlich umfangreicheren Gebietsabtretungen, die der Vertragsentwurf vorsah, in dem Notenwechsel nur eine geringe Rolle.58 Dies hing jedoch auch damit zusammen, dass die ungarische Delegation in diesem Fall nicht mit dem Selbstbestimmungsrecht argumentieren konnte, da der Umstand, dass das Gebiet überwiegend von Personen deutscher Umgangssprache bewohnt war, den alliierten Mächten inzwischen bekannt war. Vor diesem Hintergrund schlugen die Vertreter Ungarns lediglich vor, dass die in Westungarn wohnhafte Bevölkerung selbst über ihre staatliche Zugehörigkeit entscheiden sollte.59 Diese Forderung, die dem ursprünglichen Vorschlag der österreichischen Delegation in Saint Germain entsprach, war für Ungarn jedoch nicht so ungünstig, wie es auf den ersten Blick erscheint. So war die Bevölkerung des späteren Burgenlandes in der Anschlussfrage tief gespalten,60 da sie sich zwar mehrheitlich kulturell, 54
Vgl. StGBl. 303 ex 1920, Art. 88. H. Fischer (Anm. 49), Eine kleine Geschichte Ungarns, S. 178; I. Romsics (Anm. 49), in: I. Toth, S. 623. 56 I. Romsics, (Anm. 52), Trianon, S. 154 – 162; H. Fischer (Anm. 49), Eine kleine Geschichte Ungarns, S. 178 – 179. 57 Vgl. ADÖ 2, S. 16. 58 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 327 – 328; I. Romsics (Anm. 52), Trianon, S. 165 – 182. 59 I. Romsics (Anm. 52), Trianon, S. 174. 60 A. Ernst (Anm. 60), Geschichte des Burgenlandes, S. 188 – 189; K. Koch/W. Rauscher/ A. Suppan (Hrsg.), Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918 – 1938. Band 3: 55
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sprachlich und wirtschaftlich an Wien gebunden fühlte, andererseits jedoch davor zurückscheute, sich an das wirtschaftlich und politisch schwache Österreich zu binden.61 Auch die Räteregierung, das die drei Komitate zum „Gau Deutsch-Westungarn“ zusammengefasst hatte,62 hatte zunächst größere Sympathien in Westungarn genossen als ihr Pendant am Ballhausplatz. Erst die Gewalttaten, die zunächst von Repräsentanten der Räteregierung und später von den gegenrevolutionären Kräften Horthys verübt worden waren und die in der Literatur als „roter“ und „weißer“ Terror bezeichnet werden,63 hatten zu einem dramatischen Stimmungsumschwung geführt.64 Ungeachtet dessen existierte jedoch weiterhin eine zahlenmäßig nur schwer zu erfassende Personengruppe in Westungarn, die eine staatliche Zugehörigkeit zu Ungarn einem Anschluss an Österreich vorzog. Ungarischerseits hegte man daher die Hoffnung, dass es durch gezielte Propaganda gelingen würde, die Mehrheit der örtlichen Bevölkerung von den Vorzügen eines Verbleibs im ungarischen Staatsverband zu überzeugen. Diese Überlegungen waren vorerst belanglos, da die Ententemächte auf der Annahme des Vertragsentwurfs ohne die gewünschte Abänderung von dessen territorialen Bestimmungen beharrten. Dies bewegte die ungarische Delegation letztlich dazu, den Friedensvertrag in der vorliegenden Form anzunehmen, dessen Unterzeichnung am 4. Juni 1920 in Schloss Trianon stattfand.65 In Ungarn wurde der Staatsakt mit Verbitterung aufgenommen und ließ sowohl in der Bevölkerung als auch in der politischen Führung des Landes den Willen entstehen, zumindest einzelne Bestimmungen des verhassten Vertragswerks zu revidieren. Die westungarische Frage schien dabei vor dem Hintergrund der machpolitischen Verhältnisse in Europa den aussichtsreichsten Ansatzpunkt für solche Bemühungen zu bieten. V. Konfrontation Der ungarische Revisionismus, der Österreich unmittelbar nach der Unterzeichnung des Vertrags von Trianon in der Burgenlandfrage entgegenschlug, traf das Land Österreich im System der Nachfolgestaaten 11. September 1919 bis 10. Juni 1921 (kurz: ADÖ 3) 1996, S. 20. Zur Haltung der Lokalpresse in den westungarischen Territorien siehe: Z. Brunner, Der Anschluss des Burgenlandes im Spiegel der Lokalpresse, Univ. Dipl. Arb., Wien 2001. 61 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 119 – 164. 62 I. Murber (Anm. 3), Grenzziehung, S. 43 – 45; G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 190 – 196. 63 D. Javorics (Anm. 7), Staatliche Repression und Terror in Westungarn, S. 107 – 123; I. Murber, Grenzziehung, S. 57 – 67. 64 O. Guglia, Das Werden des Burgenlandes. Seine Angliederung an Österreich vor 40 Jahren im Lichte teilweise unbekannten Materials, 1921, S. 24 – 25; G. Schlag (Anm. 10), in: E. Weinzierl/K. Skalnik, Österreich 1918 – 1938, S. 750; G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 286 – 324. 65 I. Romsics (Anm. 49), in: I. Toth, S. 623 – 626; I. Romsics (Anm. 52), Trianon, S. 185 – 187.
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nicht unvorbereitet. So hatte sich die Wiener Regierung vor dem Hintergrund der zu erwartenden Reaktion Ungarns schon bald nach der Ratifizierung des Vertrags von Saint German bemüht, in der Burgenlandfrage Verbündete zu finden. Die am nächsten liegende Option für Österreich war es dabei gewesen, sich an die Tschechoslowakei anzunähern, deren Verhältnis zu Ungarn in Folge des Konflikts um die Donaugrenze gleichfalls angespannt war. In Folge hatte Renner am 12. Januar 1920 mit dem tschechoslowakischen Außenminister Edvard Benesˇ ein Abkommen unterzeichnet, das unter anderem eine wechselseitige politische und diplomatische Unterstützung der beiden Staaten im Fall einer ungarischen Bedrohung sowie eine Garantie der Einhaltung der Friedensverträge, vor allem in Hinblick auf die westungarische Frage, vorgesehen hatte.66 Das zunächst positiv rezipierte Abkommen brachte Renner jedoch innenpolitisch unter Druck, da in Artikel 4 des Dokuments die Problematik der nationalen Minderheiten der beiden Staaten zu einer „rein internen Frage“67 erklärt worden war, was dem aus Südmähren stammenden Staatskanzler den Vorwurf eintrug, die deutschsprachige Bevölkerung der Tschechoslowakei verraten zu haben.68 Gleichzeitig bestand für Österreich, trotz des betont defensiven Charakters des Übereinkommens, nunmehr die Gefahr, in den immer noch schwelenden ungarisch-tschechoslowakischen Konflikt hineingezogen zu werden, was Wien, nicht zuletzt aufgrund seiner Abhängigkeit von Lebensmittellieferungen aus seinem östlichen Nachbarland, tunlichst vermeiden wollte. Auch der Leiter der politischen Abteilung des Staatsamtes für Auswärtige Angelegenheiten, Alfred Rappaport, warnte in einer Denkschrift vor einer zu engen Bindung an Prag und einer Teilnahme an der „Einkreisungspolitik“ gegenüber Ungarn, da er für den Fall einer Intervention der Siegermächte in der Burgenlandfrage ein Wiederaufleben der Pläne rund um den „Slawischen Korridor“ befürchtete. Stattdessen regte er an, sich um gute Beziehungen mit allen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie zu bemühen und eine Verständigung mit Italien anzustreben, da insbesondere dieses Land im Hinblick auf seine Rivalität mit dem Königreich SHS eine „Einkreisung“ Ungarns nicht dulden würde.69 Tatsächlich begann sich zu diesem Zeitpunkt bereits die Bildung zweier Machtblöcke bzw. Einflusssphären in Mitteleuropa abzuzeichnen, deren Interessen gegenläufig waren. Zum einen schlossen sich bald nach der Unterzeichnung des Vertrags von Trianon die Tschechoslowakei, Rumänien und das Königreich SHS zur sogenannten „Kleinen Entente“ zusammen. Im Prinzip als militärisches Bündnis gegen Ungarn gerichtet, zielte die kleine Entente jedoch auch auf eine engere wirtschaftliche und politische Vernetzung ihrer 66
G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 324 – 326; ADÖ 3, S. 17. Politische Verhandlungen zwischen Staatssekretär Renner und Außenminister Benesˇ (Prag) – Protokoll (geheim), in: ADÖ 3, S. 207 – 208. Zu den Verhandlungen im Vorfeld sowie während des Treffens siehe: „Prager Entrevue und Bildung von beiderseitigen Kommissionen zwecks Durchführung des Staatsvertrags von Saint Germain“, ohne Datum, OeStA/AdR/ Neues politisches Archiv [NPA]/Liasse Tschechoslowakei, Faszikel I/II, Kt. 673. 68 ADÖ 3, S. 18. 69 Denkschrift Generalkonsul Rappaport, in: ADÖ 3, S. 217 – 218. 67
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Mitgliedsländer und damit die Etablierung einer Interessenssphäre in Mitteleuropa ab. Zum anderen verfolgte auch Italien wirtschaftliche und politische Interessen auf dem Gebiet der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, die allgemein als „Donauraumpolitik“ bezeichnet werden.70 Neben seiner Gegnerschaft zum Königreich SHS und dem Wunsch, das Land möglichst zu isolieren, verfolgte Rom jedoch auch Pläne zum Aufbau einer eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessenssphäre im mitteleuropäischen Raum, was der Strategie der Kleinen Entente diametral entgegenstand. Österreich war in dieser sich abzeichnenden machtpolitischen Konfrontation in Mitteleuropa lediglich Zuschauer und musste danach trachten, sich beiden Seiten gegenüber abzusichern, um so seinen Forderungen in der Burgenlandfrage möglichst Nachdruck zu verleihen bzw. unerwünschten Interventionen von außen vorzubeugen. Wohl vor diesem Hintergrund schloss Staatskanzler Renner am 12. April 1920 auch mit Italien ein Abkommen, das sowohl gegen ungarische als auch südslawische Revisionsbestrebungen gerichtet war.71 Auch dieses Bündnis wurde in Österreich heftig kritisiert72 und erwies sich letztlich – ähnlich wie die Übereinkunft mit Prag – in der Burgenlandfrage als so gut wie nutzlos. Hinzu kam, dass Budapest über all diese Vorgänge gut informiert war73 und daher abschätzen konnte, dass Wien ungeachtet der ungarischen Verhandlungsbemühungen74 offenbar auf der Angliederung Westungarns beharren wollte. Nicht zuletzt als Folge dessen begann Budapest bald damit, Vorsorge für den Fall eines österreichischen Einmarsches in Westungarn zu treffen, was wiederum Wien nicht verborgen blieb.75 Trotzdem war sich die österreichische Regierung im Frühjahr 1920 in Hinblick auf die von ihr gewonnene, internationale Unterstützung sicher, die Burgenlandfrage bereits zu ihren Gunsten entschieden zu haben.76 In Wirklichkeit brach jedoch nun der Konflikt, der lange Zeit geschwelt hatte, mit voller Härte aus. Tatsächlich erwies sich der ungarische Widerstand gegen die geplante Abtretung des Gebiets als stärker, als die österreichische Regierung vorausgesehen hatte, während die Unterstützung der Alliierten, von denen man sich Hilfe bei der Umsetzung des Vertrags von Saint Germain erhofft hatte, weitestgehend ausblieb. Grund dafür war, dass die Ententemächte nach dem Sturz der Räteregierung kein Interesse an einer weiteren Destabilisierung Ungarns hatten und gleichzeitig gegenüber Öster-
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I. Lindeck-Pozza (Anm. 40), in: Burgenländisches Landesarchiv, S. 16 – 17. ADÖ 3, S. 21; I. Lindeck-Pozza (Anm. 40), in: Burgenländisches Landesarchiv, S. 18 –
G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 335 – 340; ADÖ 3, S. 21. ADÖ 3, S. 17; G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 325. 74 ADÖ 3, S. 20. 75 Staatskanzler Renner an rumänischen Gesandten Diamandi – Memorandum, in: ADÖ 3, S. 155 – 156. 76 ADÖ 3, S. 20. 73
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reich, wo trotz eines entsprechenden Verbots im Friedensvertrag77 der Plan eines Anschlusses an Deutschland von Teilen der politischen Führungseliten weiterverfolgt wurde, ein Druckmittel in der Hand behalten wollten. So reagierten die Pariser Botschafterkonferenz zunächst zurückhaltend auf die Forderung Österreichs, sich in der Frage zu engagieren und entsandte erst nach mehrfacher Aufforderung Wiens am 3. Februar 1920 eine aus ranghohen Offizieren bestehende Militärkommission nach Ödenburg, die sich vor Ort über die Lage in Westungarn orientieren sollte.78 Seitens der Wiener Regierung begegnete man dem Schritt mit Misstrauen, da man nicht ganz zu Unrecht befürchtete, dass die ungarische Seite versuchen könnte, auf die Mitglieder der Kommission in ihrem Sinn Einfluss zu nehmen. In Wirklichkeit sollte die Kommission, die später tatsächlich noch um zwei österreichische Mitglieder erweitert wurde,79 jedoch nur wenig Einfluss auf die weiteren Ereignisse haben. Den Ausgangspunkt für den folgenden, gewaltsamen Konflikt bildete zunächst die subversive Tätigkeit rechtskonservativer Kreise innerhalb der politischen Führung Ungarns, die für den Fall, dass die Entente auf die Abtretung Westungarns bestehen sollte, dies mit einem Volksaufstand in dem Gebiet zu verhindern planten. Nachdem jedoch trotz intensiver Propaganda sowohl ungarischer als auch österreichischer Medien80 der Großteil der Bevölkerung des Burgenlandes nicht für die Sache der Nationalisten einer der beiden Seiten zu gewinnen war, mobilisierte man in Budapest und anderen ungarischen Großstädten Studenten und Veteranen der von Horthy gegen die Räteregierung mobilisierten, paramilitärischen Kräfte, darunter auch die ehemaligen Freikorpsführer Paul Prónay und Iván Héjjas.81 Aufgabe der Freischärler war es, den Versuch einer Übernahme des Gebiets durch die österreichischen Behörden mit Gewalt zu verhindern und so Wien dazu zu zwingen, einer für Ungarn günstigen Verhandlungslösung zuzustimmen. Die Budapester Regierung war zwar nicht direkt an der Organisation der Paramilitärs beteiligt, unterstützte sie jedoch sowohl logistisch als auch materiell. In Österreich war man über die Massierung radikaler ungarischer Nationalisten in den Gebieten Westungarns informiert,82 sah sich jedoch zunächst nicht in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen. Erst nach der Unterzeichnung des Vertrags von Trianon durch Ungarn im Juni 1920, der die in Saint Germain festgelegte, österreichisch77
StGBl. 303 ex 1920, Artikel 88. Bevollmächtigter Eichhoff an Staatsamt für Äußeres – Telegramm Nr. 1035, in: ADÖ 3, S. 249. 79 Bevollmächtigter Eichhoff an Staatsamt für Äußeres – Telegramm Nr. 1064, in: ADÖ 3, S. 292. 80 G. Schlag, Die Kämpfe um das Burgenland 1921, 1970, S. 2. 81 D. Javorics (Anm. 7), Staatliche Repression und Terror in Westungarn, S. 120; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 2. Zur Organisation der irregulären ungarischen Verbände im Gebiet Westungarns siehe: J. Borus, Freischärler in Westungarn (1921), in: R. Kropf (Hrsg.), Burgenland 1921. Anfänge, Übergänge, Aufbau, Eisenstadt 1996, S. 51 – 63; G. Schlag (Anm. 10), in: E. Weinzierl/K. Skalnik, Österreich 1918 – 1938, S. 753 – 754. 82 Staatskanzler Renner an rumänischen Gesandten Diamandi – Memorandum, in: ADÖ 3, 155 – 156. 78
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ungarische Grenzlinie bestätigte,83 sah man in Wien wieder die Möglichkeit, in der Sache aktiv zu werden. Als problematisch erwies sich dabei jedoch, dass die österreichische Regierung, die von einer Koalition aus Sozialdemokraten und Christlichsozialen getragen wurde,84 in der Burgenlandfrage uneinig war. So spielte etwa der monarchistische Flügel der Christlichsozialen recht offen mit dem Gedanken, zu Gunsten einer Verständigungspolitik mit Ungarn, die den Grundstein für eine spätere Wiedervereinigung der beiden Länder legen sollte, auf Westungarn zu verzichten.85 Aus diesem Grund beteiligten sich Teile der christlich-sozialen Presse auch an den Propagandaaktionen der Budapester Regierung gegen Österreich.86 Trotzdem gelang es der Regierung, sich auf einen gemeinsamen Vorschlag für eine den Bestimmungen des Vertrags von Saint Germain entsprechende österreichische Bundesverfassung zu einigen, die am 1. Oktober 1920 im Wiener Nationalrat beschlossen wurde. Diese war für die weitere Entwicklung der westungarischen Frage insofern von großer Bedeutung, als in Artikel 2 des Dokuments das Burgenland offiziell zu einem der neun österreichischen Bundesländer erklärt wurde.87 Dieser Vorgang ist von Rechtshistorikern als sogenannter „Hoffnungskauf“ bezeichnet worden88, da die Republik zu diesem Zeitpunkt keinerlei Gebietshoheit über das Burgenland ausübte und seine tatsächliche Abtretung durch Ungarn keinesfalls als sicher galt. Dieser Umstand fand unter anderem dadurch seine Berücksichtigung, dass, ungeachtet der Bestimmungen des Verfassungsgesetzes, in § 12 des am gleichen Tag beschlossenen Verfassungsübergangsgesetzes festgelegt wurde, dass das Burgenland als gleichberechtigtes Land in den Bund aufgenommen würde, sobald es seinen diesbezüglichen Willen zum Ausdruck gebracht habe, wobei die Details des Vorganges in einem separaten, noch zu beschließenden Verfassungsgesetz zu regeln waren.89 Diese Formulierung ließ Spielraum für Interpretationen offen, sahen doch weder der Vertrag von Saint Germain noch jener von Trianon eine Volksabstimmung im Burgenland vor. Daher ist anzunehmen, dass sich die österreichische Regierung durch die Formulierung des oben genannten Paragraphen eine Hintertür für den Fall offenlassen wollte, dass es mit Ungarn zu einer Verhandlungslösung kommen 83
Vgl. http://www.versailler-vertrag.de/trianon/index.htm (zuletzt abgerufen am 22. September 2022), Art. 27. 84 Vgl. W. Goldinger/D. Binder, Geschichte der Republik Österreich 1918 – 1938, 1992, S. 84 – 94. 85 ADÖ 3, S. 19; G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 373 – 378. 86 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 374; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 2. 87 Bundesgesetzblatt für die Republik Österreich (BGBl.) Nr. 1 ex 1920 (Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird [BundesVerfassungsgesetz]), Art. 2. 88 H. Widder, Verfassungspolitische und verfassungsrechtliche Fragen bei der Angliederung des Burgenlandes an Österreich, in: R. Kropf (Hrsg.), Burgenland 1921. Anfänge, Übergänge, Aufbau, 1996, S. 27 – 37, hier: 30. 89 BGBl. 2 ex 1920 (Verfassungsgesetz betreffend den Übergang zur bundesstaatlichen Verfassung) § 12.
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sollte. Tatsächlich bemühte sich insbesondere Ungarn nach der Unterzeichnung des Vertrags von Trianon, mit Österreich zu einer Übereinkunft über die westungarischen Gebiete zu gelangen, wobei das erste Verhandlungsangebot die Zuerkennung eines Autonomiestatuts für die umstrittenen Gebiete sowie den Abschluss eines überaus günstigen Handelsvertrags als Entschädigung für den Verzicht Österreichs auf seine territorialen Ansprüche vorsah.90 Auch Italien bemühte sich im Wege seines Botschafters in Wien, Pietro della Torretta, im Herbst 1920 intensiv darum, Wien und Budapest zu einem Kompromiss in der Burgenlandfrage zu bewegen. Das neuerliche Eingreifen Italiens in der Angelegenheit war dabei vor allem darauf zurückzuführen, dass Rom Österreich und Ungarn als potentielle Partnerländer im Rahmen seiner Donauraumstrategie betrachtete und daher großes Interesse daran hatte, dass der Konflikt zwischen den beiden Staaten nicht eskalierte.91 Seitens der neuen österreichischen Bundesregierung unter Kanzler Michael Mayr lehnte man sowohl die ungarischen als auch die italienischen Vorschläge auf bilaterale Verhandlungen jedoch rundweg ab. Dies überrascht nicht, da Mayr bereits am 26. Oktober 1920 in seiner Funktion als Staatssekretär für Äußeres92 in einem Zirkularerlass die Burgenlandfrage als „res judicata“ bezeichnet und dabei auf den Umstand hingewiesen hatte, dass die Budapester Regierung den Ungarn den Verlust Westungarns als Folge des Vertrags von Trianon relativ leicht erklären könne, während „unser Volk einen auch nur teilweisen Verzicht auf das Burgenland (…) der Regierung als eine Kleinmütigkeit und als nationalen Verrat nie verzeihen würde“.93 Es bestünde daher, so Mayr, gar kein Anlass, in Verhandlungen mit Ungarn einzutreten, da solche den österreichischen Rechtsanspruch nur kompromittieren würden. Die Entente habe sich im Friedensvertrag verpflichtet, Österreich Westungarn zu verschaffen, Verhandlungen mit Ungarn könne es daher erst geben, wenn man das umstrittene Gebiet in Besitz genommen habe.94 Der Standpunkt Mayrs gründete vor allem auf der Überzeugung, dass Ungarn die Ratifizierung des Vertrags von Trianon nicht unbegrenzt hinauszögern konnte, wodurch sich Budapest letztlich gezwungen sehen würde, die auf der Pariser Friedenskonferenz festgelegten Grenzen anzuerkennen. Tatsächlich wurde der Friedensvertrag am 18. November 1920 vom ungarischen Parlament ratifiziert, was jedoch für die Burgenlandfrage zunächst folgenlos blieb, da weder Budapest noch Wien bereit waren, von ihrem jeweiligen Standpunkt abzu90
ADÖ 3, S. 25. I. Lindeck-Pozza (Anm. 40), in: Burgenländisches Landesarchiv, S. 23 – 25. 92 S. Malfer (Anm. 39), Wien und Rom, S. 69. Ebenso wie sein Vorgänger Renner und sein Nachfolger Schober bekleidete auch Mayr neben seinem Amt als Staatskanzler/Bundeskanzler auch das Amt eines Staatssekretärs/Ministers für auswärtige Angelegenheiten. Vgl. ADÖ 1, S. 20 – 23. 93 Staatssekretär für Äußeres Mayr an Gesandten Cnobloch (Budapest), Bevollmächtigten Eichhoff (Paris) und Legationssekretär Hauenschield (Ödenburg) – Zirkularerlass (streng vertraulich), in: ADÖ 3, S. 443. 94 Staatssekretär für Äußeres Mayr an Gesandten Cnobloch (Budapest), Bevollmächtigten Eichhoff (Paris) und Legationssekretär Hauenschield (Ödenburg) – Zirkularerlass (streng vertraulich), in: ADÖ 3, S. 444. 91
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rücken.95 So betonte Bundeskanzler Mayr in einem Schreiben vom 17. Januar 1921 gegenüber den österreichischen Gesandten in Paris und Budapest, dass man den ungarischen Politikern begreiflich machen müsse, dass es keine Partei in Österreich geben würde, die bereit sei, auch nur auf ein Stück des Burgenlandes zu verzichten. Ziel müsse es daher sein, „die für beide Staaten unvermeidliche Lösung“ unter möglichst geringen Schwierigkeiten herbeizuführen.96 Das wurde in Budapest, auch wenn man sich der Uneinigkeit der österreichischen Regierung in der westungarischen Frage bewusst war, als Kampfansage aufgefasst. Ungemach drohte Ungarn zudem auch auf internationaler Ebene, forderte doch die Botschafterkonferenz, die seit dem Ende der Friedenskonferenz über die Einhaltung der in Paris geschlossenen Verträge wachte, das Land am 22. Dezember 1920 deutlich auf, das Burgenland an die in Ödenburg stationierte Interalliierte Kommission zu übergeben.97 Diese Haltung entsprang jedoch keineswegs einer gestiegenen Sympathie der Ententemächte für Österreich. Vielmehr konnte man es sich nicht leisten, durch ein Nachgeben gegenüber Ungarn einen Präzedenzfall zu schaffen, der von anderen Staaten herangezogen werden konnte, um gleichfalls eine Revision der Pariser Friedensverträge zu fordern.98 Tatsächlich eingreifen wollte und konnte die Botschafterkonferenz in den Konflikt jedoch nicht, war sie doch Ende 1920/Anfang 1921 primär mit den Konflikten bzw. den Volksabstimmungen in Kärnten und Oberschlesien beschäftigt, sodass sie der Burgenlandfrage kaum Aufmerksamkeit schenken bzw. Truppen zur Durchsetzung der Vertragsbestimmungen bereitstellen konnte. In Folge dessen forderte man Österreich und Ungarn lediglich auf, durch bilaterale Verhandlungen eine gütliche Lösung für das Problem zu suchen.99 Erwartungsgemäß blieben die bilateralen Verhandlungen, die am 23. Februar 1921 in Wien begannen,100 in Folge der divergierenden Standpunkte beider Parteien jedoch ohne Ergebnis.101 Der österreichischen Regierung war nun klar, dass die die Botschafterkonferenz nicht in den Konflikt eingreifen konnte oder wollte; die ungarische Seite versuchte in Kenntnis dieses Umstandes auf Zeit zu spielen. In Folge dessen schuf Wien ein weiteres fait accompli, indem man am 25. Januar 1921, wie im Verfassungs-Übergangsgesetz angekündigt worden war,102 per Verfassungsgesetz die Stellung des Burgen95
Bundesministerium für Äußeres an Gesandte Eichhoff (Paris), Cnobloch (Budapest) und Legationssekretär Hauenschield (Ödenburg) – Zirkularerlass (dringend), in: ADÖ 3, S. 455. 96 Bundesministerium für Äußeres an Gesandte Cnobloch (Budapest), Eichhoff (Paris) und Sektionschef Davy – Weisung und Schreiben (dringend, streng vertraulich), in: ADÖ 3, S. 489. 97 ADÖ 3, S. 25; A. Suppan (Anm. 2), Imperialist peace order, S. 143. 98 A. Ernst, Geschichte des Burgenlandes, S. 193. 99 ADÖ 3, S. 25. 100 Besprechung österreichischer und ungarischer Regierungsvertreter – Protokoll zur 1. bis 3. Sitzung, in: ADÖ 3, S. 516. 101 Vgl. dazu die Protokolle der Sitzungen der bilateralen Kommission, abgedruckt in: ADÖ 3, S. 516 – 573. 102 BGBl. 2 ex 1920, § 12.
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landes als „selbstständiges und gleichberechtigtes Land innerhalb des Bundes“ proklamierte. In dem Gesetz wurde unter anderem festgelegt, dass im Burgenland, als dessen Hauptstadt Ödenburg festgelegt wurde, bis zur Wahl eines Landtags und der Bestellung einer Landesregierung eine Verwaltungsstelle eingerichtet werden sollte, die im Namen des Bundes sämtliche hoheitlichen Rechte auszuüben hatte. An der Spitze dieser Behörde sollte ein Landesverwalter stehen, der das Land unter Mitwirkung von Vertrauensmännern aus der Bevölkerung zu regieren hatte. Das bisher angewendete, ungarische Rechtssystem sollte in Geltung bleiben und österreichische Gesetze nur dann Anwendung finden, wenn seitens der Bundesregierung die ausdrückliche Anordnung erlassen wurde, dass sie auch im Burgenland gelten würden.103 Gleichzeitig erinnerte das österreichische Außenministerium seine Diplomaten in einem Rundschreiben vom 17. Februar 1921 daran, dass das Burgenland bereits mit dem Bundesverfassungsgesetz (B-VG) von 1920 zu einem Teil des Bundesstaates erklärt worden war und dass eine Änderung des Bundesgebiets gemäß Art. 3 Abs. 2 B-VG nur dann erfolgen konnte, wenn seitens des Bundes und des betroffenen Landes ein übereinstimmendes Verfassungsgesetz beschlossen werden würde.104 Man könne daher über ungarische Territorialforderungen erst dann verhandeln, wenn das Burgenland von Österreich in Besitz genommen und eine burgenländische Landesregierung sowie ein Landtag eingerichtet worden seien.105 Vor diesem Zeitpunkt habe man hingegen aus juristischen Gründen keinerlei Handhabe. Dieser staatsrechtlich gesehen sehr weitreichende Schritt wurde von der Regierung in Budapest kurzerhand ignoriert. So ließ der ungarische Außenminister Gusztáv Gratz den österreichischen Botschafter in Budapest, Hans Cnobloch, wissen, dass es zur Aufrechterhaltung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Nachbarländern notwendig wäre, dass sich Österreich und Ungarn in der Burgenlandfrage einigen würden.106 Gleichzeitig, so Cnobloch in seinem Bericht nach Wien, habe ihn Gratz wissen lassen, dass die Räumung des Gebiets durch Ungarn keinesfalls so glatt vor sich gehen würde, wie Wien sich das vorzustellen scheine. Immerhin sei man nicht in der Lage, den Teil der ortsansässigen Bevölkerung, der gegen die Abtretung des Gebiets an Österreich sei, davon abzuhalten, die Übergabe zu sabotieren, weshalb man schwere, eventuell sogar gewaltsame Konflikte für un-
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BGBl. 85 ex 1921 (Bundesverfassungsgesetz über die Stellung des Burgenlandes als selbstständiges und gleichberechtigtes Land im Bund). Diese Bestimmung hatte weitreichende Folgen, wurde doch nach dem Jahr 1922 offenbar vergessen, das Gesetz über die Aufhebung des Adels und seiner Vorrechte (StGBl. 237 ex 1919) im Burgenland in Geltung zu setzen. Diese Gesetzeslücke, die niemals ausgenützt wurde und weitestgehend unbekannt war, wurde erst 2008 durch die Inkraftsetzung des Gesetzes im Burgenland geschlossen. Zur Einführung des österreichischen Rechtssystems im Burgenland siehe: W. Dax/C. Dax, Die Besonderheiten des burgenländischen Rechts. Ein historischer Rückblick, 2022. 104 Vgl. BGBl. 1 ex 1920, Art. 2, Paragraph 2. 105 Pro Memoria Bundesministerium für Äußeres, in: ADÖ 3, S. 512. 106 ADÖ 3, S. 514.
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vermeidlich hielte.107 Der Entschluss Budapests, in der Angelegenheit auf Zeit zu spielen, war dabei kein Akt der Verzweiflung, sondern politisches Kalkül. So war evident, dass sich die Beziehungen zwischen Ungarn und den Ententemächten seit der Unterzeichnung des Vertrags von Trianon stetig verbessert hatten, während sich die österreichische Regierung zunehmendem Druck seitens der Botschafterkonferenz ausgesetzt sah, da Teile der politischen Führung des Landes immer noch Sympathien für einen Anschluss an Deutschland hegten. Zugleich geriet die Regierung Mayr auch innenpolitisch immer stärker unter Druck, da der monarchistische Flügel der Christlichsozialen weiterhin auf eine Verhandlungslösung mit Ungarn in der Burgenlandfrage drängte und auch die österreichische Bevölkerung des Konflikts zunehmend müde wurde.108 Diplomatische Hilfe hätte sich Österreich höchstens von der Tschechoslowakei erwarten können. Im Hinblick auf die Gefahr, in den auf die Grenzziehung entlang der Donau zurückgehenden Konflikt zwischen Budapest und Prag hineingezogen zu werden, ging Mayr jedoch auf ein entsprechendes Angebot des tschechoslowakischen Außenministers Benesˇ vom Februar 1921 nicht ein.109 Vor diesem Hintergrund schien Budapest nur abwarten zu müssen, bis Österreich bereit sein würde, an den Verhandlungstisch zurückkehren und einen für Ungarn günstigen Kompromiss in der westungarischen Frage zu akzeptieren. Der erste Restaurationsversuch Kaiser Karls I. (in Ungarn König Karl IV.110), der am 26. März 1921 in Budapest eintraf und von dem am 1. März desselben Jahres zum Reichsverweser ernannten Miklós Horthy111 die Wiederherstellung seiner Herrschaftsrechte forderte, änderte die politische und militärische Lage ebenso überraschend wie plötzlich. Auch wenn sich Karl letztlich nicht durchsetzen konnte,112 waren die Folgen seines Restaurationsversuchs weitreichend. So rückte einerseits die Entente merklich von ihrer bisherigen Unterstützung für Ungarn ab, hatten doch die Ereignisse erneut die alte Angst vor einer Restauration der Habsburger in einem der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie geschürt. Dass Ungarn von der Staatsform her weiterhin eine Monarchie war und Reichsverweser Horthy offiziell nur als Stellvertreter des Königs regierte,113 tat dabei sein Übriges. Aber auch in Österreich hatte der missglückte Umsturz weitreichende politische Folgen. So sah sich der monarchistische Flügel der Christlichsozialen vor dem Hintergrund der Ereignisse gezwungen, seine Forderung auf Verständigung mit Ungarn in der 107 Gesandter Cnobloch an Bundesministerium für Äußeres – Bericht Nr. 38/Pol, in: ADÖ 3, S. 515. 108 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 4. 109 Entrevue Bundeskanzler Mayrs mit Außenminister Benesˇ – Hausnotiz Bundesministerium für Äußeres, in: ADÖ 3, S. 495. 110 I. Romsics (Anm. 49), in: I. Toth, S. 605. 111 H. Fischer (Anm. 49), Eine kleine Geschichte Ungarns, S. 176; I. Romsics (Anm. 49), in: I. Toth, S. 620 – 621. 112 I. Romsics (Anm. 49), in: I. Toth, S. 635. 113 H. Fischer (Anm. 49), Eine kleine Geschichte Ungarns, S. 176; I. Romsics, (Anm. 49), in: I. Toth, S. 621.
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westungarischen Frage fallen zu lassen, was die Regierung Mayr wieder auf die Linie eines baldmöglichsten Anschlusses des umstrittenen Gebiets einschwenken ließ. Für das Burgenland selbst hatten die Ereignisse die wohl am weitesten reichenden Folgen. So zeigten sich die Anhänger des ehemaligen Monarchen, darunter auch hohe ungarische Regierungsfunktionäre wie Antal Sigray und Anton Lehár, überzeugt, dass ein neuerlicher Restaurationsversuch des Königs erfolgreich sein würde, wenn man über einen entsprechenden militärischen Rückhalt verfügte. Folglich begannen sie unter dem Deckmantel der Vorbereitung des militärischen Widerstands gegen Österreich, in Westungarn eine größere Zahl paramilitärischer Verbände aufzustellen, die dem ehemaligen Monarchen bei seinem nächsten Versuch die Übernahme der Staatsmacht ermöglichen sollte. Diese Vorgänge blieben den regierungstreuen, antihabsburgischen Vertretern innerhalb des Staates nicht verborgen, die nun ihrerseits ihre Untergebenen in Westungarn anwiesen, ihre Kräfte zu verstärken, um so vor Ort die Einheiten der „Karlisten“ in Schach halten zu können.114 Damit stieg die Zahl der im Burgenland stationierten, paramilitärischen Verbände innerhalb kurzer Zeit auf fast 10.000 Mann an,115 was weit über der Größenordnung jener Verbände lag, die Österreich selbst im günstigsten Fall für die Besetzung des umstrittenen Territoriums aufbieten konnte. Nachdem das Ultimatum, das die Botschafterkonferenz am 22. Dezember 1920 an Ungarn gerichtet hatte,116 folgenlos verstrichen war, verschärften die Ententemächte im Frühjahr 1921 ihr Auftreten. Da die bilateralen Verhandlungen zwischen Österreich und Ungarn im Mai ohne Ergebnis zu Ende gingen,117 forderten die Alliierten Anfang Juni 1921 Ungarn erstmals nachdrücklich auf, seine militärischen Kräfte aus dem Burgenland abzuziehen.118 Österreich konnte die sich nun bietende Chance, in der Angelegenheit die Initiative zu ergreifen, jedoch nicht nützen, da sich das Land just zu diesem Zeitpunkt innenpolitisch selbst in eine Krise manövriert hatte. So war nicht zuletzt vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Notlage des Landes die Frage eines Anschlusses an Deutschland wieder auf die politische Tagesordnung gelangt, wobei die Landesregierungen Tirols, Salzburgs und der Steiermark sogar dafür votierten, im Frühsommer desselben Jahres in dieser Frage Plebiszite abzuhalten.119 Dies hatte eine heftige Reaktion der Botschafterkonferenz zur Folge, die 114 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 396 – 397; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 2 – 3. 115 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 4. 116 ADÖ 3, S. 25. 117 Vgl. die Protokolle der Sitzungen der bilateralen Kommission, abgedruckt in: ADÖ 3, S. 516 – 573; K. Koch/W. Rauscher/A. Suppan (Hrsg.), Außenpolitische Dokumente der Republik Österreich 1918 – 1938. Bd. 4: Zwischen Staatsbankrot und Genfer Sanierung 11. Juni 1921 bis 6. November 1922 (kurz: ADÖ 4) 1998, 9; Bundeskanzler Schober an Gesandten Eichhoff (Paris) – Weisung, in: ADÖ 4, S. 45. 118 Gesandter Eichhoff an Bundesministerium für Äußeres – Telegramm Nr. 117 (Chiffre, geheim), in: ADÖ 3, S. 653. 119 ADÖ 3, S. 27.
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Österreich für den Fall, dass Wien nicht gegen die Anschlussbewegung vorging, offen mit der Einstellung der Wirtschafts- und Finanzhilfe sowie im äußersten Fall mit militärischer Gewalt drohte.120 Nachdem es Kanzler Mayr nicht gelang, sich in der Frage gegenüber den Ländern durchzusetzen, trat er schließlich am 1. Juni 1921 zurück, ihm folgte Johannes Schober nach.121 Dessen neuer Regierung gelang es zwar, die Anschlussbewegung abzuwürgen, der durch die Aktion angerichtete außenpolitische Schaden war jedoch enorm. Vor allem Frankreich und England zeigten sich verstimmt und schraubten in Folge die diplomatische Unterstützung für Österreich merklich zurück. Zwar konnte sich Wien sicher sein, dass die Alliierten ihre Forderungen in der Burgenlandfrage weiter unterstützen würden, um das System der Pariser Friedensverträge nicht zu kompromittieren, mit tatkräftiger Unterstützung war jedoch nicht mehr zu rechnen. VI. Eskalation Trotz der außenpolitischen Krise schien für Österreich jedoch zunächst noch alles wunschgemäß zu verlaufen. Mit der Festschreibung des Vertrags von Trianon als Artikel XXXIII des ungarischen Gesetzbuches am 29. Juli 1921122 schien der Weg für die Lösung der westungarischen Frage frei zu sein. Tatsächlich forderte die Botschafterkonferenz Ungarn daraufhin auf, bis zum 27. August 1921 seine Truppen aus dem Gebiet abzuziehen. Anschließend sollte es die drei Komitate formell an die in Ödenburg stationierte Interalliierte Kontrollkommission übergeben, welche sie anschließend an Österreich weiterzureichen hatte.123 Tatsächlich zog Budapest in den folgenden Wochen den Großteil der regulären Truppen und Sicherheitskräfte aus Westungarn ab, die paramilitärischen Verbände, die zahlenmäßig wesentlich stärker waren als die bisher in dem Gebiet stationiert gewesenen Einheiten der ungarischen Armee, blieben jedoch zurück. Zugleich entfachte man in dem abzutretenden Gebiet eine rege Propagandatätigkeit, die zum Ziel hatte, in der Bevölkerung die Angst vor dem österreichischen Bundesheer zu schüren, von dem man behauptete, es sei eine plündernde, disziplinlose Truppe, die in dem Gebiet den „roten Terror“ wieder aufleben lassen würde. Dieses Täuschungsmanöver gelang so gut, dass die Botschafterkonferenz auf die sich in der burgenländischen Bevölkerung ausbreitende Besorgnis reagierte und Österreich den Einsatz des Bundesheeres in Westungarn untersagte. Stattdessen sollten zunächst nur Gendarmen und Angehörige der Zollwache in das Gebiet einmarschieren,124 was vor dem Hintergrund, dass diese nur leicht bewaffnet waren, den Freischärlern in die Hände spielte. 120
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W. Goldinger/Binder, Geschichte der Republik Österreich, S. 79 – 81; ADÖ 3, S. 27 –
J. W. Boyer (Anm. 18), Austria, S. 666; ADÖ 4, S. 9. I. Murber, Grenzziehung, S. 75 – 76. 123 ADÖ 4, S. 10. 124 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 5 – 6.
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Dass es zu einem Konflikt kommen würde, war für Wien inzwischen absehbar, da Budapest zwar offiziell verkündete, die Abtretung des Burgenlandes zu akzeptieren, gleichzeitig jedoch auf diplomatischem Wege für die Belassung von Ödenburg sowie einiger Umlandgemeinden bei Ungarn zu werben begann. Entsprechende Vorschläge wurden an Bundeskanzler Johann Schober und den Gesandten Cnobloch herangetragen,125 wobei sich die ungarischen Forderungen, je nach Lesart, auf ein Achtel126 bis ein Viertel127 des westungarischen Gebiets beliefen. Schober wies diese Vorschläge zurück, da er, ebenso wie sein Vorgänger, darauf vertraute, dass die Botschafterkonferenz Ungarn letztlich dazu zwingen würde, die Bestimmungen des Friedensvertrags zu erfüllen. Auch die Option, die Tschechoslowakei um Rückendeckung in der Angelegenheit zu bitten, wollte die österreichische Regierung nicht zuletzt aus diesem Grund nicht wahrnehmen. So wurden die österreichischen Diplomaten etwa im Vorfeld eines im August 1921 in Hallstatt stattfindenden Gipfeltreffens der Staatsoberhäupter Österreichs und der Tschechoslowakei128 angewiesen, die Burgenlandfrage möglichst nicht zur Sprache zu bringen und allfällige Angebote Prags auf diplomatische oder militärische Unterstützung mit dem Hinweis darauf höflich zurückzuweisen, dass eine Intervention Dritter in den Konflikt nicht nötig sein würde.129 Die Wiener Regierung stand hier offensichtlich unter Zugzwang, da sie befürchten musste, dass der tschechoslowakische Außenminister Benesˇ plante, unter dem Deckmantel einer Intervention für Österreich den schwelenden Konflikt Prags mit Ungarn neuerlich eskalieren zu lassen. Das Treffen in Hallstatt beunruhigte jedoch auch die Budapester Regierung, da diese befürchtete, Österreich plane, sich auf die Seite der Tschechoslowakei zu schlagen und gemeinsam mit der kleinen Entente gegen Ungarn vorzugehen.130 Dies steigerte die Überzeugung Budapests, in der westungarischen Frage keinesfalls nachgeben zu wollen, weiter. Zunächst schienen sich die Hoffnungen der Wiener Regierung auf eine friedliche Übernahme des strittigen Gebiets jedoch noch zu bestätigen. Nach Rücksprache mit der Botschafterkonferenz wurde verfügt, dass am 28. August 1921 Verbände der österreichischen Gendarmerie und Zollwache mit dem Einmarsch in Westungarn beginnen und unter der Führung von Ententeoffizieren bis zur Linie Heiligenkreuz – St. Michael – Kohfidisch – Stadtschlaining – Deutsch Gerisdorf – Oberpullendorf – Agendorf – Mörbisch – Frauenkrichen – Halbturn – Zurndorf – Kittsee vorrücken 125
ADÖ 4, S. 10; Gesandter Cnobloch an Bundesministerium für Äußeres – Telegramm Nr. 143 (Chiffre), in: ADÖ 4, S. 53. 126 Bundeskanzler Schober an Gesandte Eichhoff (Paris) und Cnobloch (Budapest) – Telegramm Nr. 106 und 33 (in Ziffern), in: ADÖ 4, S. 53 – 54. 127 Geschäftsträger Hornbostel an Bundesministerium für Äußeres – Bericht Nr. 105/Pol., in: ADÖ 4, S. 57. 128 ADÖ 4, S. 10. 129 Äußerung der politischen Sektion im Bundesministerium für Äußeres, 12. August 1921, OeStA/AdR/NPA/Liasse Tschechoslowakei, Faszikel I/III, Kt. 673. 130 Gesandter Conbloch an Bundesministerium für Äußeres – Fernspruch Nr. 3823, 12. August 1921, OeStA/AdR/NPA/Liasse Tschechoslowakei, Faszikel I/III, Kt. 673.
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sollten.131 Am folgenden Tag hatte der Vormarsch auf die in den Verträgen von Saint Germain und Trianon festgelegte Grenzlinie und in Ödenburg die formale Übergabe des Gebiets durch die Interalliierte Kommission an Österreich zu erfolgen.132 Zusätzlich zu den etwa 1.500 Gendarmen133 wurden von Seiten der österreichischen Regierung auch Einheiten des Bundesheeres in Bereitschaft gehalten, die jedoch auf Anweisung der Botschafterkonferenz hin nicht die Leithagrenze überschreiten durften und daher nur als Eingreifreserve dienten. Wie vorausgesehen trafen die am 28. August 1921 ins Burgenland einmarschierenden Gendarmen auf zum Teil heftigen Widerstand. Problemlos gestaltete sich das Vorrücken der österreichischen Verbände nur im Norden des Gebiets, da die ungarischen Paramilitärs fürchteten, das Kämpfe in der Umgebung von Bratislava der Tschechoslowakei den Grund für eine Intervention bieten könnten.134 Weiter südlich kam es jedoch zu heftigen bewaffneten Auseinandersetzungen. So erreichten die Gendarmen zwar zunächst ungehindert ihre Marschziele entlang der Linie Agendorf – Siegendorf – St. Margareten, mussten sich jedoch wenig später aufgrund heftiger Angriffe ungarischer Paramilitärs wieder zurückziehen. Zwar gelang es, durch den sofortigen Einsatz von 200 Mann Verstärkung die verloren gegangenen Positionen wieder zurückzugewinnen, mit weiteren Angriffen der ungarischen Kräfte war jedoch zu rechnen.135 Noch schwieriger entwickelte sich die Lage im Süden des Gebiets, wo die von Hartberg, Burgau und Fürstenfeld aus aufgebrochenen österreichischen Verbände unmittelbar nach dem Überschreiten der Grenze unter schweres Feuer genommen wurden und sich zurückziehen mussten. Kaum besser erging es den von Fürstenfeld und Fehring aus vorgegangenen Gendarmen, die zunächst ihre Einsatzziele erreichten, jedoch bereits am 29. August aufgrund heftiger Angriffe ungarischer Paramilitärs den Rückzug antreten mussten.136 Die Regierung in Wien alarmierte umgehend die Botschafterkonferenz, welche jedoch zunächst keine Anstalten machte, sich zugunsten Österreichs in den Konflikt einzuschalten.137 Diese Passivität spielte Budapest in die Hände, das Wien relativ unverblümt wissen ließ, dass sich das Problem durch eine Belassung von Teilen des Gebiets bei Ungarn, dar-
131 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, 401; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 5 – 6. 132 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 6. 133 Hinsichtlich der genauen Stärke und Zusammensetzung der einzelnen Marschgruppen, ihrer Ausrüstung sowie des Ausbildungsstandes der Gendarmen siehe: P. Walder, Die Organisation der Gendarmerie im Burgenland von 1919 bis 1921, Diplomarbeit Wien 1998, S. 83 – 91. 134 A. Ernst, Geschichte des Burgenlandes, S. 194; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 6. 135 G. Schlag (Anm. 10), in: E. Weinzierl/K. Skalnik, Österreich 1918 – 1938, S. 754 – 755; L. Fogarassy (Anm. 40), Volksabstimmung in Ödenburg, S. 161. 136 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 8, sowie Beilage V. 137 ADÖ 4, S. 11.
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unter auch Ödenburg, lösen lasse.138 Eine direkte Verantwortung für die Ereignisse lehnte Ungarn jedoch mit dem Hinweis ab, dass man alle eigenen Truppenverbände aus dem Gebiet abgezogen habe und daher nicht in der Lage sei, gegen die „revoltierende Bevölkerung“ Westungarns vorzugehen. Inzwischen verschärfte sich in Westungarn die Lage zunehmend weiter. Nach den Gefechten in den ersten Tagen des Einsatzes hatte das österreichische Heeresamt am 1. September 1921 den Einsatz der in Reserve gehaltenen Verbände des Bundesheeres zur Grenzsicherung verfügt,139 um so ein Übergreifen der Kämpfe auf niederösterreichisches und steirisches Gebiet zu verhindern. Dass ein derartiger Kordon benötigt wurde, zeigte sich bereits am 5. September, als ungarische Paramilitärs die österreichischen Gendarmerieposten im Großraum Deutsch-Gerisdorf – Pilgersdorf – Lebenbrunn angriffen und die Beamten auf die österreichisch-ungarische Grenze zurückdrängten.140 Teile der ungarischen Kräfte überschritten dabei auch die Grenzlinie und drangen gegen die niederösterreichische Ortschaft Kirchschlag vor, wo sie sich ein mehrstündiges Gefecht mit Teilen des dort zur Grenzsicherung in Stellung gegangenen Infanterieregiments 5 des österreichischen Bundesheeres lieferten, bei dem mehrere Seiten Verluste an Toten und Verwundeten erlitten.141 Das Bundesheer verstärkte daraufhin seine an der Grenze stationierten Truppen, die noch in Westungarn verbliebenen Gendarmen konnte man hingegen nicht unterstützen. Als am 8. September erneut starke ungarische Verbände den Gendarmerieposten in Agendorf angriffen und die Beamten in die Flucht schlugen,142 reagierte die Regierung in Wien und verfügte am 10. September 1921 den Rückzug aller österreichischer Verbände hinter die alte Staatsgrenze143. Damit fiel das das strittige Gebiet erneut in ungarische Hände zurück, die Verluste der österreichischen Gendarmerie, der Zollwache und des Bundesheeres während der Operation betrugen insgesamt 13 Tote und 45 Verwundete.144 VII. Vermittlung Trotz der eindeutig den Bestimmungen der Friedensverträge zuwiderlaufenden Vorgänge war die Pariser Botschafterkonferenz zunächst nicht in der Lage, in der Angelegenheit zu einer gemeinsamen Linie zu finden. So berichtete der österreichische Gesandte in Prag, Ferdinand Marek, im September 1921 nach Wien, dass ein italie138
Gesandter Cnobloch an Bundesministerium für Äußeres – Telegramm Nr. 237 (Chiffre), in: ADÖ 4, S. 79 – 80; ADÖ 4, S. 11. 139 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 9. 140 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 404 – 406; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 10 – 11. 141 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 12 – 13. 142 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 421 – 426; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 15 – 16. 143 Ministerrat – Protokoll Nr. 117 (vertraulich), in: ADÖ 4, S. 80 – 81. 144 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 16 – 17.
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nischer Diplomat ihm gegenüber bemerkt habe, dass Frankreich durch sein Verhalten Ungarn erst zu seinem Vorgehen ermutigt habe, England scheinbar nicht wisse, auf welche Seite es sich in dem Konflikt stellen solle und Italien folglich alleine dastehe.145 Wenig später berichtete auch Bundeskanzler Schober im Ministerrat, dass die Ententemächte offiziell zwar weiterhin politischen Druck auf Ungarn ausüben würden und sogar die Verhängung eines Wirtschaftsembargos in Aussicht gestellt hätten, jedoch gleichzeitig keinerlei Anstalten machen würden, sich aktiv in den Konflikt einzuschalten. Stattdessen erwarte man, dass Österreich und Ungarn den Konflikt auf friedliche Weise lösen würden, was freilich, so räumte Schober ein, den Verzicht auf einen Teil der österreichischen Ansprüche bedeuten würde.146 Tatsächlich begann man sich vor dem Hintergrund der Ereignisse auch in Wien langsam mit dem Gedanken eines Kompromisses in der Burgenlandfrage anzufreunden, da man ansonsten Gefahr lief, das Gebiet zur Gänze an Ungarn zu verlieren. In dieser Situation war es wiederum Rom, das seine Vermittlung in der Angelegenheit anbot. Nach entsprechender Sondierung durch die diplomatischen Vertreter Italiens in Wien und Budapest kam es schließlich am 12. September zu einem Treffen zwischen Schober und Torretta, der inzwischen zum italienischen Außenminister avanciert war. Schober lehnte zwar zunächst einen zu weit gehenden Kompromissvorschlag Budapests, der weitgehende territoriale Zugeständnisse für Ungarn enthielt, ab, deutete jedoch seine weitere Verhandlungsbereitschaft an. Die folgenden, auf der Zusage Schobers aufbauenden Bemühungen der diplomatischen Vertreter Italiens in Österreich und Ungarn führten schließlich zum Erfolg. Budapest erklärte sich bereit, ganz Westungarns mit Ausnahme Ödenburgs und seines Umlandes zu räumen, wobei in dem bei Ungarn verbleibenden Gebiet eine Volksabstimmung abzuhalten war. Diesem Vorschlag stimmte Schober in einem Schreiben an Torretta vom 17. September zu, indem er auch seine prinzipielle Zustimmung zur Abhaltung der Volksabstimmung in Ödenburg erklärte.147 Dass die österreichische Regierung, die in der Vergangenheit immer auf den in den Friedensverträgen verbrieften Grenzen bestanden hatte, nun im September 1921 eine Kehrtwende machte, hatte mehrere Gründe. Einerseits war spätestens nach dem Gefecht bei Kirchschlag klar, dass Österreich nicht über die notwendige militärische Stärke verfügte, um sich das ihm zugesprochene Gebiet notfalls mit Gewalt anzueignen. Ein Überfall ungarischer Freischärler auf Bruck an der Leitha am 24. September 1921, der vom Bundesheer nur mit einiger Mühe abgewehrt werden konnte, unterstrich diesen Umstand zusätzlich.148 Andererseits zeigte die Botschafterkonferenz wenig Interesse daran, aktiv in den Konflikt einzugreifen. Vor diesem Hintergrund bestand für Wien die Gefahr, dass Ungarn versuchen würde, den Kon145
Geschäftsträger Marek an Bundesministerium für Äußeres – Bericht Nr. 517/Pol. (vertraulich), in: ADÖ 4, S. 82 – 83. 146 Ministerrat – Protokoll Nr. 119 (vertraulich), in: ADÖ 4, S. 83. 147 S. Malfer, Wien und Rom, S. 74 – 77; I. Lindeck-Pozza (Anm. 40), in: Burgenländisches Landesarchiv, S. 32 – 34. 148 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 17 – 19.
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flikt auszusitzen, was für Österreich, das über keinerlei diplomatische Druckmittel verfügte, den Verlust ganz Westungarns bedeuten hätte können.149 Um dies abzuwenden, war es für Wien im Spätherbst 1921 die beste Option, den Verhandlungsweg zu bestreiten, auch wenn klar war, dass ein Kompromiss mit Ungarn möglicherweise nur durch den Verzicht auf Teile des Burgenlands zu erzielen sein würde. Zwischenzeitlich forderte die Botschafterkonferenz am 22. September 1921 Ungarn nochmals auf, das Gebiet bis spätestens 4. Oktober desselben Jahres zu räumen und an die Interalliierte Kommission in Ödenburg zu übergeben. Budapest kam dieser Aufforderung nach, was allerdings wiederum nur bedeutete, dass noch die letzten regulären Truppenverbände abgezogen wurden, während die Paramilitärs zurückblieben. Deren Anführer nutzten das entstehende Machtvakuum und riefen das Gebiet am 4. Oktober, also dem Tag nach der offiziellen Übergabe, zum unabhängigen Staat Lajta Banság (Leitha-Banat) aus.150 Zwar konnte sich der Kleinstaat aufgrund der immer stärker zu Tage tretenden Konflikte zwischen den habsburg- und den regierungstreuen ungarischen Verbänden nicht konsolidieren, seine Gründung machte allen Beteiligten jedoch deutlich, dass der Konflikt endlich gelöst werden musste, um den drohenden Ausbruch von Anarchie in der Region zu verhindern. Zwar wird angenommen, dass die Regierung in Budapest die Gründung des Leitha-Banats stillschweigend geduldet hatte,151 diese war jedoch gleichfalls nicht an der Schaffung eines permanenten Unruheherdes an ihrer Westgrenze interessiert. Zudem war zu befürchten, dass die Tschechoslowakei die Ereignisse zum Anlass nehmen würde, in das Gebiet einzumarschieren und Österreich sich zur Wahrung seiner Interessen gezwungen sehen würde, sich an die Kleine Entente anzugliedern, was eine Einkreisung Ungarns mit sich gebracht hätte. Vor diesem Hintergrund war auch Budapest in weiterer Folge bemüht, mit Österreich rasch zu einer Übereinkunft zu gelangen.152 Tatsächlich zeigte die Tschechoslowakei bald nach Bekanntwerden der italienischen Vermittlungsbemühungen ernste Ambitionen, sich gleichfalls in den Konflikt einzubringen, was in Wien mit großer Besorgnis betrachtet wurde. So hatte unter anderem der tschechoslowakischen Außenminister Benesˇ in einem Gespräch gegenüber dem österreichischen Gesandten Marek angekündigt, das Ergebnis der italienischen Mediation noch abwarten zu wollen. Würde diese jedoch nicht zum Erfolg führen, werde „die kleine Entente sofort und ganz entschieden Ordnung machen und ganze Arbeit verrichten, indem die strikte Anwendung des Vertrags von Trianon erzwungen wird“.153 Da man in Österreich ein Eingreifen der Tschechoslowakei um jeden Preis verhindern wollte, stieg auch das Interesse Wiens, mit Ungarn rasch 149 W. Goldinger/D. Binder, Geschichte der Republik Österreich, S. 70; G. Schlag, Kämpfe um das Burgenland, S. 19. 150 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 430 – 439; I. Murber, (Anm. 3), Grenzziehung, S. 79 – 80. 151 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 22 – 23. 152 S. Malfer, Wien und Rom, S. 79 – 80. 153 Geschäftsträger Marek an Bundesministerium für Äußeres – Telegramm Nr. 35 (Chiffre), in: ADÖ 4, S. 118.
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zu einer Verhandlungslösung zu gelangen, erheblich an. Auch die Haltung Italiens, das Österreich für den Fall der Erzielung eines Kompromisses in der Burgenlandfrage Unterstützung für sein Kreditansuchen an den Völkerbund in Aussicht stellte, bestärkte Wien in seinem neuen außenpolitischen Kurs.154 VIII. Kompromiss Die dargelegten innen- und außenpolitischen Entwicklungen waren letztlich ausschlaggebend dafür, dass die mit Genehmigung der Botschafterkonferenz155 am 11. Oktober 1921 in Venedig begonnenen Verhandlungen zwischen Österreich und Ungarn bereits nach zwei Tagen abgeschlossen werden konnten. Die daraus hervorgehende, als „Venediger Protokoll“ bekannt gewordene Übereinkunft sah die Übergabe des Großteils Westungarns mit der Ausnahme Ödenburgs vor, das unter ungarischer Kontrolle zu verbleiben hatte. In der Stadt sowie in den Umlandgemeinden Kroisbach, Agendorf, Wandorf, Harkau, Kohlnhof, Wolfs, Holling und Zinkendorf sollte in Folge eine Volksabstimmung abgehalten werden, in der die Bewohner über die staatliche Zugehörigkeit des Gebiets zu entscheiden hatten. Österreich und Ungarn verpflichteten sich dabei, das Ergebnis anzuerkennen und das Gebiet, je nach Ausgang des Plebiszits, der anderen Partei zu überlassen. Ungarn verpflichtete sich darüber hinaus, das Burgenland zuvor von den im Protokoll wörtlich als „Banden“ bezeichneten paramilitärischen Verbänden zu säubern und es ordnungsgemäß an die Interalliierte Kommission zu übergeben. Diese wiederum hatte es anschließend, mit Ausnahme des Abstimmungsgebiets, an Österreich weiterzureichen.156 Die sich aufdrängende Frage, wie Ungarn auf die Paramilitärs Einfluss nehmen wollte, blieb dabei unberührt und löste in Österreich erneut Diskussionen aus, ob diese nicht in Wirklichkeit von der Budapester Regierung gesteuert würden.157 Das Problem löste sich letztlich überraschenderweise von selbst, da am 22. Oktober 1921 König Karl IV. zum zweiten Mal in diesem Jahr in Ungarn eintraf, um von Ödenburg aus mit seinen Getreuen den Marsch auf Budapest anzutreten.158 Der angeblich mit dem Wissen von Teilen der französischen Regierung erfolgte159 zweite Restaurationsversuch hatte vorläufig den Zusammenbruch des militärischen Widerstands im Burgenland zur Folge, da die habsburgtreuen Paramilitärs mit ihrem Monarchen gegen Budapest zogen, während sich die regierungstreuen Verbände gleich154
G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 23. L. Fogarassy (Anm. 40), Volksabstimmung in Ödenburg, S. 163. 156 BGBl. 138 ex 1922 (Venediger Protokoll betreffend die Regelung der westungarischen Frage); A. Suppan (Anm. 2), Imperialist Peace Order, S. 146. Ein Transkript der Protokolle der Verhandlungen in Venedig findet sich abgedruckt in: E. Hochenbichler, Republik im Schatten der Monarchie. Das Burgenland, ein europäisches Problem, 1971, S. 143 – 160. 157 Ministerrat – Protokoll Nr. 138 (vertraulich), in: ADÖ 4, S. 139. 158 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 23. 159 L. Kerkes, Von St. Germain bis Genf. Österreich und seine Nachbarschaft 1918 – 1922, 1979, S. 279 – 283. 155
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Abb. 3
falls in Richtung der Hauptstadt aufmachten, um dort die Truppen Horthys zu unterstützen. Doch selbst nach dem Ende des dilettantisch vorbereiteten Abenteuers, das mit einer erneuten Niederlage und der Verbannung Karls endete,160 gelang es den Paramilitärs nicht mehr, das Gebietwieder unter ihre Kontrolle zu bringen. So ließ die ungarische Regierung die habsburgtreuen Freiwilligenverbände entwaffnen und auflösen, wodurch die Zahl der in Westungarns stehen Truppen um die Hälfte schrumpfte.161 In dieser Situation griff die ungarische Regierung ein, erklärte das Leitha-Banat per 4. November 1921 für aufgelöst und wies die Führer der paramilitärischen Verbände an, ihre Einheiten bis spätestens 6. November aus dem Gebiet abzuziehen, widrigenfalls würden sie von regulärem Militär vertrieben werden.162 Tatsächlich besetzten die Paramilitärs das strittige Gebiet bis zum 10. November 1921 vollstän-
160
ADÖ 4, S. 12 – 13. G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 3 – 24. 162 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, 454; I. Murber (Anm. 3), Grenzziehung, S. 83 – 84. 161
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dig,163 womit Ungarn den ersten Teil seiner Verpflichtungen aus dem Venediger Protokoll erfüllt hatte. Wien verhielt sich während der Krise, die durch den Restaurationsversuch Karls ausgelöst worden war, weitgehend passiv. Diesen Umstand kritisierte vor allem der tschechoslowakische Außenministers Benesˇ, der Kanzler Schober vorwarf, die sich durch die Mobilisierung der tschechoslowakischen Armee164 gebotene Gelegenheit nicht genutzt und damit eine Vorentscheidung zu Gunsten Österreichs in der Ödenburger Frage verhindert zu haben.165 Gleichzeitig machten auch die oppositionellen Sozialdemokraten Schober den Vorwurf, er habe die sich bietende Möglichkeit, gemeinsam mit der Kleinen Entente entschieden gegen Ungarn vorzugehen, verstreichen lassen, da die Christlichsozialen insgeheim auf einen Sieg Karls gehofft hätten.166 Tatsächlich war der monarchistische Flügel innerhalb der Christlichsozialen Partei im Jahr 1921 immer noch autark; für die Entscheidung der Regierung, die Krise nicht zu einem Vorgehen in der Burgenlandfrage zu nutzen, waren jedoch andere Gründe ausschlaggebend. Einerseits musste Österreich es vermeiden, sich zu eng an die Kleine Entente zu binden, da man sonst in die Gefahr gelaufen wäre, zum Spielball ihrer von Benesˇ geprägten Mitteleuropapolitik zu werden, was die Beziehungen Wiens zu Rom gefährdet hätte. Aus dem gleichen Grund konnte man es nicht riskieren, die in Venedig erzielte Übereinkunft durch einen Einmarsch in Westungarn zu brechen, hätte man doch damit die außenpolitische Glaubwürdigkeit Österreichs aufs Spiel gesetzt. Darüber hinaus war die Regierung in Wien recht zuversichtlich, was den Ausgang der Volksabstimmung anging, hatte doch bei der Volkszählung von 1910 die Mehrheit der Bewohner des Abstimmungsgebiets Deutsch als ihre Umgangssprache angegeben.167 Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sich Österreich, wie man später auch immer wieder betonte,168 während der Restaurationskrise in der Burgenlandfrage auffallend zurückhielt, war man doch davon überzeugt, das umstrittene Gebiet auch auf „legalem“ Weg erwerben zu können. Tatsächlich trafen die Verbände des österreichischen Bundesheeres, die am 13. November 1921 mit ihrem Einmarsch im Burgenland begannen, auf keinerlei Widerstand mehr, sodass die Besetzung bis zum 30. November abgeschlossen werden konnte.169 Mit der Übergabe des Gebiets durch die Interalliierte Kommission an 163
ADÖ 4, S. 14. Vgl. den Bericht der österreichischen Gesandtschaft in Prag über die Mobilmachung in der Tschechoslowakei, einliegend in: OeStA/AdR/ NPA/Liasse Tschechoslowakei, Faszikel 4/ I, Kt. 692. 165 Geschäftsträger Marek an Bundesministerium für Äußeres – Telegramm Nr. 48 (Chiffre), in: ADÖ 4, S. 135. 166 ADÖ 4, S. 14. 167 A. Wotawa, Deutsch-Westungarn nach dem Friedensvertrag; ADÖ 4, S. 14. 168 Bundeskanzler Schober an italienischen Außenminister Torretta – Schreiben, in: ADÖ 4, S. 134. 169 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 456 – 466; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 25 – 27. 164
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den österreichischen Landesverwalter am 6. Dezember 1921 wurde die Operation abgeschlossen,170 die Vorbereitungen für die Volksabstimmung begannen. Das Ödenburger Plebiszit gehörte unter Historikern lange zu den wohl umstrittensten Themen der jüngeren österreichischen Geschichte.171 Wichtig ist es an dieser Stelle daher, jene Eckpunkte des Ereignisses zu rekapitulieren und darzustellen, die in der Vergangenheit oft kontrovers diskutiert wurden. Hervorzuheben ist dabei zunächst, dass Ungarn tatsächlich eine rege Werbetätigkeit im Abstimmungsgebiet entfaltete, an der sich auch zahlreiche Angehörige der ehemaligen paramilitärischen Verbände beteiligt haben dürften. Dass diese für den Fall, dass das Plebiszit zu Gunsten Österreichs ausgehen sollte, die Absicht hatten, den Partisanenkampf in dem Gebiet wiederaufleben zu lassen, um so zumindest die Abtretung Ödenburgs zu verhindern, wie gelegentlich behauptet wird,172 ist heute jedoch nicht mehr nachweisbar. Zu bemerken ist auch, dass das von der Botschafterkonferenz zur Überwachung der Abstimmung bereitgestellte Truppenkontingent, etwa 500 Mann, die aus dem oberschlesischen Okkupationsgebiet abgezogen worden waren,173 viel zu klein war, um einen reibungslosen Ablauf der Volksabstimmung, die am 14. Dezember 1921 in Ödenburg und am 16. Dezember 1921 in den Umlandgemeinden stattfinden sollte,174 zu garantieren. Die größten Probleme bereiteten jedoch die Wählerlisten, da diese aufgrund der Tatsache, dass in Ungarn erst 1918 das allgemeine Wahlrecht eingeführt worden war, zum Teil noch unvollständig waren. Hinzu kam, dass die Listen noch erweitert werden mussten, da im Gegensatz zu den ungarischen Bestimmungen, die ein Wahlrecht ab dem 24. Lebensjahr vorsahen, an dem Plebiszit alle Personen beiderlei Geschlechts teilnehmen sollten, die das 20. Lebensjahr bereits vollendet hatten.175 Die österreichische Regierung befürchte vor diesem Hintergrund bereits früh, dass es im Zusammenhang mit den Wählerlisten zu Problemen und Unregelmäßigkeiten kommen würde,176 was sich später tatsächlich bewahrheiten sollte.177 Dieser Umstand, so der nach Ödenburg entsandte Generalkonsul Egon Hein in einem Bericht an das Außenministerium in Wien, sei umso schwerwiegender, „als gerade den ungarischen Autoritäten eine reiche Erfahrung in der Gewinnung geneh-
170
G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 27. Vgl. L. Fogarassy (Anm. 40), Volksabstimmung in Ödenburg, S. 150 – 182; I. Romsics, (Anm. 52), Trianon, S. 201 – 205; I. Murber (Anm. 3), Grenzziehung, S. 85 – 88. 172 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 27. 173 Gesandter Eichhoff an Bundesministerium für Äußeres – Telegramm Nr. 1322, in: ADÖ 4, S. 165; G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 27; L. Fogarassy (Anm. 40), Volksabstimmung in Ödenburg, S. 169. 174 ADÖ 4, S. 14. 175 P. Talos, Das Werden des Burgenlandes. Von der Landnahme zur Landwerdung, Dipl. Arb. Wien 2001, S. 98; L. Fogarassy (Anm. 40), Volksabstimmung in Ödenburg, S. 173. 176 Ministerrat – Protokoll Nr. 138 (vertraulich), in: ADÖ 4, S. 139. 177 Generalkonsul Hein an Bundesministerium für Äußeres – Bericht Nr. 314, in: ADÖ 4, S. 166 – 167. 171
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mer Wahlergebnisse nachgesagt wird“.178 Tatsächlich protestierte die österreichische Regierung umgehend sowohl bei der Botschafterkonferenz179 als auch bei der Interalliierten Kommission in Ödenburg180 und bat um Verschiebung der Abstimmung bis zur Klärung der offenen Fragen,181 wenngleich ohne Erfolg. Schließlich zog sich die österreichische Delegation, trotz einer gegenteiligen Empfehlung des Gesandten in Rom,182 aus Protest aus der Abstimmungskommission zurück, was den Lauf der Ereignisse freilich nicht änderte. Das für Ungarn günstige Ergebnis der Abstimmung verwunderte die politischen Entscheidungsträger in Österreich kaum, rief jedoch in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung hervor.183 „Das Ergebnis der ,Volksabstimmung‘ von Ödenburg“ titelte etwa die „Reichspost“ in ihrer Ausgabe vom 18. Dezember 1921, wobei im Leitartikel ausführlich auf die Unregelmäßigkeiten sowie den Rückzug der österreichischen Delegation aus der Wahlkommission eingegangen wurde.184 Auch andere Zeitungen äußerten sich abfällig über das Plebiszit und legten den Schluss nahe, dass das Ergebnis nur durch massive Einschüchterung und Wahlbetrug zustande gekommen sei.185 Demgegenüber ist zu bemerken, dass, auch wenn die im Vorfeld von der österreichischen Delegation aufgezeigten Manipulationen an den Wählerlisten tatsächlich nicht von der Hand zu weisen sind, das überaus deutliche Ergebnis – in Ödenburg hatten 72 % der Wahlberechtigten für einen Verbleib der Stadt bei Ungarn gestimmt186 – nicht alleine durch Manipulation erklärt werden kann. So ist zu berücksichtigen, dass die meisten in Ödenburg ansässigen Bürger und Kaufleute zwar deutschsprachig waren, sich jedoch wirtschaftlich und kulturell schon seit längerer Zeit an Budapest orientiert hatten. Zudem erblickten sie wohl in einem Anschluss ihrer Stadt an das ihrer Meinung nach verarmte Österreich keine Vorteile, was für den Großteil von ihnen ausschlaggebend dafür gewesen sein dürfte, für Ungarn zu stimmen.187 In den Umlandgemeinden hingegen, wo eine bäuerliche Bevölkerung, die ihren Absatzmarkt in Wien hatte, die Mehrheit bildete, hatten 178
ADÖ 4, S. 166 – 167. Bundeskanzler Schober an Gesandten Eichhoff (Paris) – Telegramm Nr. 221 und 222, in: ADÖ 4, S. 168 – 169. 180 Generalkonsul Hein an Kommission der Generäle (Ödenburg) – Schreiben Nr. 363 (sofort), in: ADÖ 4, S. 186. 181 Generalkonsul Hein an Kommission der Generäle (Ödenburg) – Schreiben Nr. 364 (heute), in: ADÖ 4, S. 188. 182 Gesandter Kwiatkowski an Bundesministerium für Äußeres – Telegramm Nr. 117, in: ADÖ 4, S. 189. 183 Zur Reaktion der Medien auf das Ergebnis der Abstimmung in Ödenburg vgl. Horvath, Die westungarische Frage, S. 123 – 128. 184 S. Malfer, Wien und Rom, S. 86 – 87; Reichspost, 17. Dezember 1921, S. 1. 185 Die Neue Zeitung, 18. 12. 1921, S. 1. 186 A. Ernst (Anm. 60), Geschichte des Burgenlandes, 197. 187 A. Suppan (Anm. 2), Imperialist Peace Order, 149 – 150; L. Fogarassy (Anm. 40), Volksabstimmung in Ödenburg, S. 174 – 175. 179
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54,6 % der Wahlberechtigten für Österreich gestimmt,188 was jedoch vor dem Hintergrund, dass gemäß den Bestimmungen des Venediger Protokolls die Ergebnisse beider Abstimmungsgebiete addiert werden mussten,189 an dem Gesamtergebnis – eine Mehrheit von 65,08 % für Ungarn190 – nichts änderte. Auch ein geharnischter Protest, den Österreich am 19. Dezember 1921 an die Pariser Botschafterkonferenz richtete und in dem nochmals auf die vor und während der Abstimmung vorgefallenen Unregelmäßigkeiten verwiesen wurde,191 blieb ohne Ergebnis. Nach der Vereitelung eines letzten verwegenen Plans des „Ödenburger Heimatdienstes“, das Abstimmungsgebiet mit Freiwilligen im Handstreich zu besetzten,192 lenkte schließlich die Regierung in Wien ein und bestätigte am 30. Dezember offiziell das Ergebnis der Volksabstimmung, sodass das Gebiet von Seiten der Interalliierten Kommission am 1. Januar 1922 offiziell an Vertreter Ungarns übergeben werden konnte. Die Regelung der im Venediger Protokoll in einem Zusatzartikel behandelten Frage des Korridorverkehrs193 auf der über Ödenburg führenden Bahnstrecke Deutschkreuz – Wr. Neustadt erfolgte wenig später mit einem zwischenstaatlichen Vertrag, der am 12. Januar 1922 von Vertretern beider Staaten unterzeichnet wurde.194 Unmittelbar nach der Übergabe Ödenburgs nahm die aus Delegierten Österreich, Ungarns und der zur Botschafterkonferenz gehörenden Staaten bestehende Grenzbestimmungskommission, die sich bereits im Juni 1921 konstituiert hatte und deren Aufgabe nun in der genauen Festlegung des Grenzverlaufs sowie der Beilegung allfälliger Streitfälle lag, ihre Tätigkeit auf.195 Ihre Aufgabe war nicht einfach, da beide Seiten auf die Berücksichtigung all ihrer wirtschafts- und verkehrspolitischen Forderungen drängten, was naturgemäß nicht immer möglich war.196 Die Tätigkeit der Grenzziehungskommission dauerte vor diesem Hintergrund wesentlich länger als ursprünglich geplant und endete letztlich erst mit ihrer abschließenden Sitzung, die am 2. Au-
188
ADÖ 4, S. 14 – 15. BGBl. 138 ex 1922, S. 271. 190 G. Schlag (Anm. 10), in: E. Weinzierl/K. Skalnik, Österreich 1918 – 1938, S. 758. 191 Memorandum der Bundesregierung, in: ADÖ 4, S. 199 – 208. Für die genauen Abstimmungsergebnisse in den Umlandgemeinden Ödenburgs vgl. L. Fogarassy, (Anm. 40), Volksabstimmung in Ödenburg, S. 173. 192 G. Schlag (Anm. 80), Kämpfe um das Burgenland, S. 28. 193 BGBl. 138 ex 1922, S. 273. 194 L. Zwickl, GySEV – die Raaberbahn. Betriebsgeschichte der österreichischen Linien, 2011, S. 78. 195 G. Schlag (Anm. 1), Aus Trümmern geboren, S. 486. Zur Grenzziehungskommission und ihrer Tätigkeit vgl. P. Talos (Anm. 175), Werden des Burgenlandes, S. 103 – 111; O. Guglia (Anm. 64), Werden des Burgenlandes, S. 67 – 69; P. Haslinger, Der ungarische Revisionismus und das Burgenland 1922 – 1932, 1994, S. 45 – 60. 196 I. Murber (Anm. 3), Grenzziehung, S. 90 – 91; Ernst (Anm. 60), Geschichte des Burgenlandes, S. 198 – 199. 189
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gust 1924 in Ödenburg stattfand.197 Mit diesem Tag konnte die Burgenlandfrage von Wien und Budapest endgültig ad acta gelegt werden. Tabelle 1 Das Ergebnis der Volksabstimmung in Ödenburg/Sopron und acht Umlandgemeinden Ortsname
Wahlberechtigte Abgegebene Stimmen
Stimmen für Österreich
Stimmen für Ungarn
Ungültige Stimmen
Ödenburg/Sopron
19164
17298
4616
12331
351
Wandorff/Sopronbánfalva
1539
1177
925
217
35
Holling/Ferto˝ boz
349
342
74
257
11
Wolfs/Balf
655
595
349
229
17
Kroisbach/Ferto˝ rákos
1525
1370
812
525
33
Agendorf/Ágfalva
1175
848
682
148
18
Harkau/Harka
680
581
517
55
9
Kohlenhof/ Kópháza
941
813
243
550
20
Zinkendorf/ Nagycenk
1041
1039
5
1026
8
Quelle: L. Fogarassy (Anm. 40), Volksabstimmung in Ödenburg, S. 173.
IX. Schlussbemerkung Abschließend ist zu bemerken, dass die Burgenlandfrage letztlich einen Modellfall für die praktische Anwendbarkeit des Systems der Pariser Friedensverträge darstellt. So zeigte sich an diesem Beispiel deutlich, dass, wenn sich Botschafterkonferenz nicht nachdrücklich für die Einhaltung der Bestimmungen der Verträge einsetzte, diesen nur beschränkt praktische Bedeutung zukam. Auch ist deutlich zu erkennen, wie sehr die mühsam etablierte Nachkriegsordnung in Mitteleuropa bereits Anfang der 1920er Jahre von den gegenläufigen Interessen Italiens und der Kleinen Entente in Frage gestellt wurde. Dies führte letztlich dazu, dass beide Machtblöcke, die um die Hegemonie im Donauraum rangen, sich mehrfach in die Burgenlandfrage einschalteten bzw. auf diese Einfluss zu nehmen versuchten, was den Konflikt zusätzlich verkomplizierte. Dieser Kampf um politischen und wirtschaftlichen Einfluss im 197
G. Schlag, Die Grenzziehung Österreich-Ungarn 1922/23, in: Burgenländisches Landesarchiv (Hrsg.), Burgenland in seiner pannonischen Umwelt. Festgabe für August Ernst, 1984, S. 333 – 346; B. Rásky, Vom Schärfen der Unschärfe. Die Grenze zwischen Österreich und Ungarn 1918 bis 1924, in: H. Konrad/W. Maderthaner (Hrsg.), Der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Bd. 1, 2008, S. 139 – 158, hier: 155 – 158.
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Abb. 4: Der Grenzverlauf nach Abschluss der Kommissionsverhandlungen, 1924 Quelle: Eigene Grafik, Copyright Richard Lein
Donauraum, der in der Burgenlandfrage erstmals offen zu Tage trat, bestimmte vor allem ab den 1930er Jahren zunehmend die europäische Tagespolitik bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Konflikt um das Burgenland hatte hier ein freilich nur wenig beachtetes „Wetterleuchten“ der sich anbahnenden Konfrontation dargestellt. Evident ist jedoch auch, dass der zwischen Wien und Budapest in der Frage letztlich erzielte Kompromiss nicht nur für den Frieden in Mitteleuropa, sondern auch für
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beide Staaten von größter Bedeutung war. So konnten beide Seiten aus dem Konflikt als Sieger hervorgehen, was vor allem die Herausbildung eines möglicherweise langjährigen, erbitterten Konfliktes zwischen den beiden Staaten verhinderte. Österreich konnte für sich verbuchen, den größten Teil des Burgenlandes zugesprochen bekommen zu haben, womit man sich letztlich zufrieden gab. Ungarn auf der anderen Seite hatte sowohl sein Ziel, den Friedensvertrag von Trianon teilweise zu revidieren, erreicht, als auch das Vorhaben, zumindest einen Teil des westungarischen Gebiets nicht abtreten zu müssen, realisieren können. Dies stellte auch Budapest letztlich zufrieden. Die in Wien wie Budapest empfundene Genugtuung über den erzielten Kompromiss legte letztlich den Grundstein für die guten Beziehungen Österreichs und Ungarns, die bis zum heutigen Tag andauern.
*** Abstract Richard Lein: The Burgenland Question 1919 – 1924. A Bilateral and International Problem (Die Burgenlandfrage 1919 – 1924. Ein bilateraler wie internationaler Problemfall), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 207 – 244. The question of border demarcation between Austria and Hungary after 1918 is mostly mentioned only in passing in the historiography on the Paris Peace Conference and on the European post-war order. This does not surprise since other territorial conflicts of the immediate post-war period in East-Central and Southeast Europe appeared too important for researchers to pay greater attention to the dispute over the West Hungarian territory. In fact, however, the Burgenland question, later referred to as such, proved to be exceedingly conflictual from both the bilateral as well as the international perspective. Thus, Hungary’s refusal to cede the territory granted to Austria at the Paris Peace Conference not only strained bilateral relations between Vienna and Budapest. What is more, Hungary’s behaviour, which contradicted the provisions of the Treaty of Trianon, was a test for the entire system of the Paris Peace Treaties. The victorious powers of the First World War, attempting to keep the system intact, struggled visibly trying to find a peaceful solution for the Burgenland question. However, the conflict was also shaped by the active intervention of Italy and Czechoslovakia. With their interferences, Rome and Prague were primarily pursuing the goal of gaining political and economic influence in Central Europe. In view of the diverging interests of the two powers in the region, this tended to fuel the conflict rather than resolving it. In the end, however, international mediation succeeded in brokering a compromise between Austria and Hungary in the Burgenland question. This compromise represents the starting point for the good neighbourly relations between the two countries to this day.
Plebiszitäre Praktiken in den alten italienischen Staaten vor der Vereinigung (1797 – 1870)* Von Gian Luca Fruci I. Das Plebiszit, eine französisch-italienische Leidenschaft Im italienischen Raum haben die Praktiken der „Ja-oder-Nein“-Abstimmungen auf der Grundlage des allgemeinen männlichen Wahlrechts, die wir als „Plebiszit“ bezeichnen, eine lange Geschichte; sie strukturierten die Sozialisierung der Bürger (und einer gewissen Anzahl militanter Bürger) zu demokratisierten und direkten Wahlverfahren, und zwar von Anfang an und dann während des gesamten Verlaufs des Risorgimento, das nicht nur als Prozess der nationalen Einigung, sondern im weiteren Sinne als italienisches Szenario des Zeitalters der Revolutionen verstanden wurde. Auf der italienischen Halbinsel wurden diese Wahlpraktiken zunächst zwischen 1797 und 1805 erprobt, um die Gründung von „Militärrepubliken“, den Schwestern der revolutionären Ersten Französischen Republik, zu sanktionieren oder die Entwicklungen und Umwandlungen von Satellitenstaaten des napoleonischen Reiches zu billigen. Später wurden sie von 1848 bis 1870 angewandt, um den schrittweisen Aufbau des konstitutionellen Königreichs Italien unter der Monarchie Savoyens zu bestätigen. Die zahlreichen Konsultationen von 1797 – 1805 und 1848 – 1870 (insgesamt achtzehn) riefen dazu auf, die neuen territorialen und institutionellen Regelungen, die Verfassungschartas und, direkt oder indirekt, die neue Verfassung zu ratifizieren, ohne die (wirksame) Alternative der monokratischen persönlichen Befugnisse (zunächst von Napoleon Bonaparte und seinen französischen „konstituierenden Generälen“, den Nachfolgern im Kommando der Armée d’ Italie, dann von Carlo Alberto und Viktor Emanuel II.) durch den Rückgriff auf die Volkssouveränität sowie durch eine weitreichende ausnahmsweise oder außergesetzliche Einbeziehung von Subjekten, die normativ vom Wahlrecht ausgeschlossen waren, wie Diener, Minderjährige und Frauen, ins Auge zu fassen. Es handelt sich also – und das ist eine italienische Besonderheit im Vergleich zum französischen Fall – um Abstimmungen, die sowohl ein öffentlich-rechtliches als
* Aus dem Italienischen übersetzt von Gilbert H. Gornig.
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Gian Luca Fruci
auch ein völkerrechtliches Profil haben.1 Eine idealtypische Definition von plebiszitären Verfahren, die als reines Arbeitsinstrument skizziert werden kann, sieht aus konzeptioneller Sicht wie folgt aus: eine Institution des öffentlichen Rechts und/ oder des Völkerrechts, die als demokratisierte Konsultation zur nachträglichen Ratifizierung konfiguriert werden kann, nicht-deliberativ, einsilbig (ja/nein) und faktisch ohne Option, deren positives Ergebnis nicht am (erzielten) Abstimmungsergebnis gemessen wird, sondern an der Wahlbeteiligung (und damit an der Mobilisierungsfähigkeit), am mehr oder weniger einstimmigen Grad des zum Ausdruck gebrachten Konsenses und schließlich an den (institutionellen und anderen) Strategien der öffentlichen Kommunikation der Zahlen- oder Prozentzahlen des erzielten Erfolgs. Diese idealtypische Definition des plebiszitären Verfahrens bildet einen Gegensatz zu der demokratischen Institution, die in Anlehnung an ein anderes lateinisches Wort in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Referendum bezeichnet wurde und bei dem im Gegensatz zur plebiszitären Praxis die Wahlentscheidung die politischen und institutionellen Prozesse tatsächlich lenkt und bestimmt, anstatt nachträglich sanktionierend einzugreifen. Und doch beruhen die plebiszitären Praktiken mit einer ähnlichen revolutionären und demokratischen Matrix ebenfalls auf der Volkssouveränität, von der sie durch Verabsolutierung und Polarisierung als einzige Quelle politischer Legitimation anerkannt sind. Es ist kein Zufall, dass sowohl in Frankreich als auch in Italien die Ausdrücke „votation universelle“, „vote universel“ und „suffrage universel“ genau zur gleichen Zeit und im Zusammenhang mit der Erprobung von Wahlverfahren, die später als plebiszitär bezeichnet wurden, in die politische Sprache des späten 18. Jahrhundert eingingen. Die Geschichte des allgemeinen Wahlrechts und die Geschichte der plebiszitären Praktiken sind also von Anfang an eng miteinander verwoben und verbunden, und zwar lange bevor sie „Plebiszite“ genannt wurden. Zwischen der Revolutionszeit und 1848 wurden diese Praktiken als „libres votes“/ „freie Abstimmungen“ bezeichnet, wie sie in Frankreich anlässlich der Volksbefragungen zur Ratifizierung der Verfassungen von 1793 und 1795 eingeführt und dann während der republikanischen und demokratischen Dreijahresperiode 1796 – 1799 in das politische Vokabular des italienischen Raums übertragen wurden. Das der römischen Rechtssprache entlehnte Lemma „plébiscite/plebiscito“ (wörtlich: plebis scitum – Dekret, Befehl – Beratung der Plebs) wurde vom Prinzregenten Louis Napoleon Bonaparte im Hinblick auf die am Tag nach dem Staatsstreich vom 2. Dezember 1851 einberufene Volksbefragung offiziell in das Wahlrecht eingeführt. Zunächst gibt es jedoch den Wortlaut der Formel an, die dem Volk zur Billigung vorgelegt wurde, nach einem nicht antiken Verständnis des Begriffs, der bereits im Mai 1805 vom französischen Außenminister Talleyrand in seinem Briefwechsel mit Cristophe Saliceti, dem mit der Organisation der Abstimmung über den Anschluss der Ligurischen Republik an das französische Kaiserreich beauftragten Abgesandten, verwendet wurde. Das Wort „Plebiszit“ tauchte jedoch erst mit Giuseppe Man1 E. Fimiani, „L’unanimità più uno“. Plebisciti e potere, una storia europea (secoli XVIII–XX), Le Monnier, Firenze, 2017, S. 66 – 77, 90 – 100, 106 – 123.
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fredi, dem provisorischen Gouverneur von Parma, in der italienischen Wahlgesetzgebung auf, der es in seinem Dekret vom 8. August 1859 verwendete, um die den Wählern im September desselben Jahres vorgelegte Formel für die Angliederung an das Königreich Sardinien zu bezeichnen. Nach einer schrittweisen und parallelen semantischen Verschiebung wurde um 1870 sowohl in Italien als auch in Frankreich der Begriff „plébiscite/plebiscite“ schließlich mit dem gesamten Abstimmungsverfahren gleichgesetzt, obwohl das Wort auch in inoffiziellen Quellen während des Ersten Kaiserreichs ausführlich vorkommt – zum Beispiel 1807 unter der Feder des genialen Graphomanen wie ersten Historiker der Französischen Revolution, Antoine Fantin Desodoards – oder vor 1848 durch den romantisch-antibonapartistischen Schriftsteller François-René de Chateaubriand und den philosophisch-sozialistischen Schriftsetzer Joseph-Pierre Proudhon.2 Trotz ihres alternativlosen adeliberativen Charakters und der (mehr oder weniger rigiden) Kontrolle, die direkt oder indirekt zunächst von der französischen Armee und der neuen republikanischen und napoleonischen Macht, dann von den nationalpatriotischen und liberal-monarchischen Eliten ausgeübt wurde, stellten die plebiszitären Abstimmungen in den alten italienischen Staaten und insbesondere die Einigungskonsultationen von 1848 bis 1870 – an denen insgesamt mehr als vier Millionen Wähler (und Tausende von „Bürgern ohne Staatsbürgerschaft“ und männliche Minderjährige unter 21 Jahren) teilnahmen – eine bedeutende Gelegenheit für eine beschleunigte und weit verbreitete politische Bildung der Volksmassen dar und formten ganz allgemein die Hauptseite des Einigungsprozesses, der als „politische Massenbewegung“ verstanden wurde. So lautete die analytische Lesart, die von der neuen und jüngsten Geschichtsschreibung zur italienischen Politik des 19. Jahrhunderts verwendet wird.3 Aus diesem Grund stellt die Analyse des langen plebiszitären Zeitraums von 1797 bis 1870 zweifellos einen privilegierten Blickwinkel dar, um die ursprünglichen Merkmale der Konstruktion des italienischen politischen Raums zu untersuchen, der einerseits als stark partizipatorisch und inklusiv und andererseits als personalistisch, konsensual und antipluralistisch gestaltet ist.4 Im ersten Teil des Aufsatzes wird die revolutionäre und napoleonische Zeit behandelt, im zweiten die plebiszitäre Zeit von 1848 bis 1870 und zum Schluss wird ein vergleichender Blick auf diese beiden Erfahrungen geworfen.
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G. L. Fruci, Alle origini del momento plebiscitario risorgimentale. I liberi voti di ratifica costituzionale e gli appelli al popolo nell’Italia rivoluzionaria e napoleonica (1797 – 1805), in Vox populi? Pratiche plebiscitarie in Francia, Italia e Germania (XVIII-XX secolo), a cura di E. Fimiani, CLUEB, Bologna, 2010, S. 138 – 140. 3 A. M. Banti, P. Ginsborg, Per una nuova storia del Risorgimento, in Storia d’Italia, „Annali“ 22, Il Risorgimento, a cura di A.M. Banti e P. Ginsborg, Einaudi, Torino, 2007, S. XXIII–XXIV. 4 G. L. Fruci, Democracy in Italy. From Egalitarian Republicanism to Plebiscitarian Monarchy, in Re-imagining Democracy in the Mediterranean, 1780 – 1860, edited by J. Innes and M. Philp, Oxford University Press, Oxford, 2018, S. 25 – 50.
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II. Abstimmungen und Appelle an das Volk im revolutionären und napoleonischen Italien (1797 – 1805) Nach dem siegreichen Abmarsch der italienischen Armee unter der Führung des jungen Generals Napoleon Bonaparte nahmen zwischen dem Frühjahr 1797 und dem Herbst 1798 Hunderttausende von Bürgern – und inoffiziell auch einige Tausend Frauen und Minderjährige – an den Wahlkundgebungen oder alternativ an den föderativen (Ersatz-)Festen teil, die in den von den französischen Armeen geschaffenen oder wiederhergestellten Republiken für die Annahme einer Reihe von „Schwesterverfassungen“ nach dem Vorbild der thermidorianischen aus dem Jahr III waren. Am 19. März 1797 wurden die ersten Versammlungen der Cispadanischen Republik erlassen, um die vom Kongress in Modena unter der Aufsicht Bonapartes angenommene Charta zu bestätigen, während in Mailand am 9. Juli desselben Jahres die erste Verfassung der Cisalpinischen Republik erlassen und von einem großen Publikum aller Geschlechter und Altersgruppen während des Föderationsfestes, das auf dem Platz des alten Lazzaretto stattfand, der in Campo di Marte umbenannt wurde, bejubelt wurde. Am 2. Dezember 1797 fanden in den Gemeinden der Ligurischen Republik Kundgebungen statt, um die von Bonaparte selbst überarbeitete Verfassung zu bestätigen, nachdem die Konterrevolution am Vorabend der ursprünglich für den 14. September 1797 angesetzten Abstimmung ausgebrochen war. Die cisalpinische Zeremonie wurde am 20. März 1798 auf dem Petersplatz wiederholt, wo General Louis Alexandre Berthier, der neue Oberbefehlshaber der italienischen Armee, die kollektive Verkündung der Verfassung der römischen Republik vornahm. Am 25. Oktober 1798 schließlich, auf Initiative des Botschafters Joseph Fouché und des neo-jakobinischen Generals Guillaume-Charles-Marie Brune, Nachfolger von Bonaparte und Berthier an der Spitze der französischen Armee auf der Halbinsel und Protagonist des demokratischen Staatsstreichs vom 19. Oktober zuvor, wurden die Bezirksversammlungen der Cisalpinischen Republik für die Sanktionierung einer Änderung der Verfassung eröffnet, die der damalige Botschafter Claude-Joseph Trouvé mit dem konservativen Staatsstreich vom 31. August 1798 durchgesetzt hatte und die später vom transalpinen Direktorium aufgehoben wurde. Diese Wahlverfahren, die im Vokabular des revolutionären Italiens als „freie Annahme- und Ratifizierungsabstimmungen“ („liberi voti di accettazione e ratifica“) bezeichnet werden, werden sowohl als Gründungsakte noch nie dagewesener staatlicher Strukturen verstanden (die, selbst wenn sie, wie im Fall Liguriens, die Grenzen früherer aristokratischer Republiken zurückverfolgen, durch die Annexion zuvor autonomer Lehen und Gemeinden vergrößert wurden), als auch als Gesten der Zustimmung des Volkes zur Gestalt und zum politischen Handeln der französischen „konstituierenden Generäle“, die als die wahren Väter und Beschützer der neuen Tochterrepubliken anerkannt werden. Schließlich dienen diese Abstimmungen in manchen Zusammenhängen auch dazu, das „italienische“ patriotische Personal demokratisch zu legitimieren, das von eben diesen „konstituierenden Generälen“ für Führungspositionen ernannt oder vorgeschlagen wird. Obwohl er nicht ausdrücklich in den dem
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Volk zur Abstimmung vorgelegten Vorrichtungen auftaucht, monopolisiert Bonapartes Name – vor Frankreich – die Wahlbühne und spielt eine grundlegende Rolle im politischen Diskurs, der die Verfassungsratifizierungen von 1797 begleitet, während 1798 ein Teil der demokratischen Presse eine ähnliche Anerkennung für Brune reserviert, der nicht zufällig sein treuester Nachahmer und zukünftiger Marschall des Reiches ist, kurzum ein Bonaparte in sechzehnter Form. Darüber hinaus ist Bonaparte, wie die Ikonographie ebenfalls unmittelbar und nachträglich bezeugt, der absolute Protagonist der Zeremonie der cisalpinen Föderation vom 9. Juli 1797, und zusammen mit Berthier ist er auch in Abwesenheit beim gleichzeitig stattfindenden römischen Fest vom 20. März 1798 anwesend, wo er mit dem Befehlshaber der französischen Truppen in Rom, Claude Dallemagne, von den Höhen der Bildnisse und Flachreliefs aus um die Bühne ringt, die die Triumphbögen aus Pappmaché zieren, die für diesen Anlass nach den rituellen Gepflogenheiten der damaligen Zeit vorbereitet wurden.5 Die freien Abstimmungen von 1797/98 zeigen die Profile, die für das plebiszitäre Institut klassisch werden sollten und die zuvor in idealtypischer Form umrissen wurden (wir erinnern uns kurz daran: eine nachträgliche Ratifizierungskonsultation, nicht-beratend und in der Tat ohne die Fähigkeit der Wahl, deren positives Ergebnis daher am Grad der Wahlbeteiligung und dem Grad der Einstimmigkeit des Ergebnisses gemessen wird). Die Ratifizierungen des republikanisch-demokratischen Dreijahreszeitraums 1796 – 99 sind ebenfalls partizipatorische Prozesse, die von Undurchsichtigkeit geprägt sind und ständig zwischen einer ganzheitlichen demokratischen Lehre und einem Laboratorium der Zwangskontrolle des Wahlrechts schwanken, wenn nicht sogar direkt der nachträglichen Korrektur des Wahlergebnisses dienen, wenn die von den republikanischen (und französischen militärischen) Behörden geforderten Stimmen nicht mit den tatsächlichen Stimmen der Bürger übereinstimmen; kurz gesagt, es handelt sich um kollektive Rituale der politischen Erneuerung, die durch ein ständiges Schwanken in Richtung einer illiberalen und manipulativen Lösung gekennzeichnet sind, um das antipluralistische Bestreben zu verwirklichen, das der langen Geschichte der Wahlverfahren innewohnt.6 Im Gegensatz zu dem, was man mit den Augen der Gegenwart denken könnte, hat das allgemeine Wahlrecht strukturell einen ganzheitlichen konzeptionellen und materiellen Horizont, der nicht Konflikt und Zwietracht, sondern Übereinstimmung und Einstimmigkeit privilegiert. Die freien Abstimmungen von 1797/98 liegen also nicht nur chronologisch, sondern auch genealogisch zwischen den jakobinischen und thermidorianischen Grund5 G. L. Fruci, Un laboratoire pour les pratiques plébiscitaires contemporaines: les libres votes constitutionnels et les „appels au silence“ dans l’Italie révolutionnaire et napoléonienne (1797 – 1805), in Consentement des populations, plébiscites et changements de souveraineté, contributions réunies par M. Ortolani et B. Berthier, P.R.I.D.A.E.S. IV, Serre, Nice, 2013, S. 65 – 78. 6 O. Christin, Vox populi. Une histoire du vote avant le suffrage universel, Seuil, Paris, 2014.
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gesetzberatungen und der Abstimmung über die Konsularverfassung des Jahres VIII, die Bonaparte im Winter 1799/1800 nach dem Staatsstreich von 18 Brumaire dem Volk zur Annahme vorlegte. Kurzum, die plebiszitären Beratungen der italienischen Tochterrepubliken orientierten sich an den Jahren 1793 und 1795, kamen aber den Jahren 1799/1800 nahe und bereiteten das napoleonische „appels au peuple“ vor. Die Appelle an das Volk werden nicht nur im Sommer 1804 auf der Insel Elba und in den an Frankreich angegliederten piemontesischen Departements erprobt, um die Vererbung der Kaiserwürde für die männliche Linie der Familie Bonaparte zu sanktionieren, sondern erfuhren ein Jahr später eine spezifische italienische Ablehnung. Zwischen Mai und Juni 1805 wurden die Bürger der alten, wiedererstandenen und dann brumairisierten (brumairisées) Republiken Genua und Lucca zum ersten Mal dazu aufgerufen, ihre Zustimmung zur Wiedervereinigung mit dem französischen Kaiserreich bzw. zur Umwandlung in ein Vasallenfürstentum unter Pasquale Baciocchi und seiner Frau Elisa (der Schwester Napoleons) durch Eintragung in öffentliche Register (oder durch den Mechanismus der „bestätigenden Enthaltung“ [„astensione convalidante“]) zu bekunden. Sie sollten dann dem neuen Kaiser der Franzosen und dem Königshaus Italiens Tribut zollen und feierliche Begrüßungs- und Dankbarkeitsrituale, deren Modalitäten „eines alten demokratischen Regimes“ dem plebiszitären Moment von 1848 – 1870 vermacht werden, ableisten. Zur Veranschaulichung dieses Interpretationsansatzes, der auf der Idee beruht, dass der italienische Raum als eigenständiges Laboratorium moderner plebiszitärer Praktiken parallel zu und zusammen mit Frankreich zu betrachten ist und man daher von einem französisch-italienischen Laboratorium moderner plebiszitärer Praktiken sprechen sollte, sind vier Punkte zu nennen: die neue Form der demokratischen Personalisierung der Macht, die von Napoleon Bonaparte verkörpert wird, der als „konstituierender General“ und Vater der von ihm erfundenen oder erneuerten neuen Republiken eine zentrale Rolle in den Diskursen wie auch in der Wahlpraxis von 1797 – 98 spielt und eine Kultur und einen politischen Modus einführt, die dann seinen gesamten weiteren – französischen und europäischen – Weg als „Napoleon der Verfassungen“ begleiten7: die Symmetrie zwischen dem Gebot der größtmöglichen Vergrößerung der Wählerschaft durch die Definition einer „außerordentlichen Ratifizierungsbürgerschaft“ („cittadinanza eccezionale di ratifica“) und der fortschreitenden Verkleinerung des Wahlraums (zunächst durch überwachte Primärversammlungen, dann, wie jenseits der Alpen, durch die – im Übrigen in der republikanischen und demokratischen italienischen Dreijahresperiode weithin erprobte – Einführung des Systems der Eintragung von Einzelpersonen oder Unternehmen in öffentliche Register); die systematische geheime Korrektur von Wahlergebnissen, nicht so sehr, um das Ergebnis der Konsultationen zu ändern, sondern um die Größe des Erfolges unverhältnismäßig zu übertreiben, gerade als die Manifestation der Volkssouveränität begann, sich in Zahlen und Fakten auszudrücken (und in den Medien darzustellen), 7 L. Colley, The Gun, the Ship and the Pen. Warfare, Constitutions and the Making of the Modern World, Profile Books Ltd, London, 2021, S. 168 – 182.
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bis zur idealen Krönung dieser Dynamik, die durch die offizielle Annahme des Prinzips des „Schweigens der Zustimmung“ („silenzio assenso“) im Jahr 1805 dargestellt wurde; das Erbe der Volksaufrufe von 1805 bis zum plebiszitären Moment des Risorgimento von 1848 – 1870: ihr Profil als Akte kollektiver Hingabe an den Monarchen und die Rituale der Weihe der Macht im Anschluss an die Wahlvorgänge. 1. Im Jahr 1797 wird im offiziellen öffentlichen Diskurs, der den Prozess der Verabschiedung der Grundgesetze der italienischen Tochterrepubliken begleitet, die Teilnahme der Bürger an den Wahlversammlungen oder kollektiven Eiden, die der öffentlichen Akklamation der Verfassungen vorausgehen, als Zeugnis tiefer Dankbarkeit für die „verfassungsgebende Großzügigkeit” („magnanimità costituente“) des Generals Bonaparte, dessen Name in großen Lettern auf den Wandplakaten und Flugblättern für die Annahme der Verfassungen immer wieder genannt wird, zwanghaft dargestellt und gefordert. Der junge Oberbefehlshaber der italienischen Armee wird als neuer Lykurg dargestellt, während seine zahlreichen Interventionen auf dem Verfassungskongress der Cispadanischen Republik, in der ligurischen Verfassungsrevisionskommission und in der cisalpinen Redaktionskommission sowohl in den Medien als auch in Proklamationen und Broschüren, in denen Pro-Memoria, Briefe oder Briefauszüge veröffentlicht werden, stark hervorgehoben werden, um ihn als authentischen direkten oder indirekten Mitverfasser der den italienischen Patrioten und ihren neuen Republiken großzügig verliehenen Urkunden darzustellen. Auf diese Weise werden die verfassungsrechtlichen Konsultationen und Ovationen zu einem Akt der nachträglichen Legitimierung des politischen Handelns und der verfassungsgebenden Macht von „Bonaparte, dem Italiener“8, und in der Tat zu einer Abstimmung über seine monokratische Figur als Gründervater und Beschützer der neuen Tochterrepubliken. Individuelle und kollektive Anzeichen für eine solche personalistische Interpretation des Prozesses der Verfassungsannahme sind auch in der Praxis vielfältig, sowohl während der Wahlvorgänge als auch nach deren Abschluss bei den Feierlichkeiten zur Annahme oder Akklamation der Grundgesetze. Diese Hinweise finden sich in einem breiten Repertoire öffentlicher und privater, individueller und kollektiver Huldigungen an die Französische Republik und gerade an den Mann, der sie auf der Halbinsel verkörpert: Napoleon Bonaparte, der oft Adressat frenetischer Jubelrufe und Beifallsbekundungen von Wählern oder Bürgern beiderlei Geschlechts sowie von Minderjährigen ist, die an den Feierlichkeiten der Föderation teilnehmen. Die zentrale Stellung der Person Bonapartes erhält eine emblematische physische und diskursive Dimension in der cisalpinen Feier vom 9. Juli 1797, die im Einvernehmen mit dem französischen Direktorium anstelle der freien Abstimmungen nach dem als unbefriedigend empfundenen Test der Volkskonsultationen von Cispadane vom 19. März 1797 organisiert wurde. Während der grandiosen Mailänder Verfassungsfeier wurde das quasi-monarchische Bild seiner (militärischen und politischen) Macht, das in jenen Jahren gerade außerhalb Frankreichs aufgebaut und vermittelt wurde, gepriesen, wo hingegen vor dem 18. Brumaire die (beruhigen8 P. Dwyer, Napoleon. The Path to Power, Yale University Press, New Haven & London, 2007, S. 304 – 329.
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den) Darstellungen des siegreichen Generals, des tugendhaften Republikaners und des Friedensstifters des Kontinents vorherrschten.9 Für die protokönigliche Repräsentation Bonapartes bietet das Mailänder Fest auf dem Champ de Mars ein eindrucksvolles Schaufenster, das in den folgenden Jahren Ikonographie und Literatur inspirieren sollte. Bonaparte ist (omni)präsent und steht im Mittelpunkt und verdichtet die Darstellungen des Helden, des obersten Richters und des Souveräns, die später in der transalpinen Vorstellungswelt unterschiedlich erscheinen sollten. Am Morgen trifft er zu Pferd und in Begleitung seiner Mitarbeiter ein, lange vor Beginn der politischen Veranstaltung, die um neun Uhr mit einem Kanonenschuss angekündigt wird. Anschließend schreitet er die cisalpinische Miliz ab und nimmt an der Vereidigung des von ihm ernannten Direktoriums teil, wobei er sich auf einem eigens dafür reservierten und eingerichteten Platz niederlässt und die Haltung eines monokratischen Führers an den Tag legt. Am Abend schließlich, im Zuge der nächtlichen (und beleuchteten) Verlängerung des Spektakels, umkreist Bonaparte symbolisch dreimal den Freiheitstempel in der Mitte des großen Platzes der Föderation unter dem Beifall und den Jubelschreien von Hunderttausenden von Schaulustigen, Nationalgardisten, wie „Il Termometro politico della Lombardia“ vom 12. Juli 1797, die wichtigste neo-jacobinische Zeitung in Mailand, berichtet, die es allerdings nicht versäumt, auf die enthaltenen „Transportbewegungen“ („movimenti di trasporto“) der Teilnehmer für die Gesamtvorrichtung des Festes hinzuweisen. Der lange Schatten, den Bonaparte auf das cisalpine Fest wirft, ist in einem Stich, den der berühmte vedutische Maler Domenico Aspari diesem politischen Ereignis widmet, ikonisch festgehalten. Der Druck in Form einer Ansicht zeigt die Esplanade des ehemaligen Lazaretts, das in Campo-di-Marte umbenannt wurde, wo am 9. Juli 1797 eine große Menschenmenge an der feierlichen Parade teilnahm, die um den in den „Altar des Vaterlandes“ umgewandelten „Tempel der Freiheit“ stattfand. Im Vordergrund sind deutlich die schwarzen Schatten einer Gruppe von Reitern zu erkennen, die sich neben einem weiteren Mann zu Pferd aufreihen, der einen Federhut trägt und mit ausgestrecktem Arm zu ihnen spricht. Die Bildunterschrift legt nahe, dass es sich um Bonaparte handelt, da die Feierlichkeiten hauptsächlich in seiner Anwesenheit stattfanden (der Oberbefehlshaber ist die einzige Person, die ausdrücklich namentlich erwähnt wird), während die Widmung in großen Buchstaben die Souveränität des cisalpinen Volkes preist, das symbolisch in der Einheit von Zeit und Ort vereint ist, um die vom neuen franko-cisalpinen Lykurg gestiftete Verfassung zu empfangen und zu bejubeln.10 9 B. Backo, Napoleone e Washington. Bonaparte e il modello americano dal Consolato all’Impero, Donzelli, Roma, 2009, S. 62 – 66. 10 Paris, Bibliothèque nationale de France, Domenico Aspari, Festa della Federazione della Repubblica Cisalpina Celebrata a Milano nel Campo di Marte alla presenza del Generale Bonaparte, dell’Armata Francese, e Cisalpina, del Direttorio Esecutivo, delle Autorità costituite, e di un immenso Popolo il giorno 21. Messidoro an. V Rep.no 9 luglio 1797 Dedicata al popolo sovrano cisalpino, incisione all’acquaforte, 1797, 37 x 63,5 cm, https://gallica. bnf.fr/ark:/12148/btv1b69450616, consultato il 18 luglio 2022.
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„C’était la première fois depuis la Révolution que j’entendais un nom propre dans toutes bouches“, schrieb Madame de Staël im Herbst 1799 über Frankreich und fasste die Rückkehr zur Personifizierung der Macht nach der revolutionären Zäsur auf ikastische Weise zusammen.11 Die Abstimmung über die Verfassung des Jahres VIII, in der ausdrücklich auf die Ernennung Bonapartes zum Ersten Konsul Bezug genommen wird, macht die Konsultation zu einer Abstimmung über seine Person (und bestätigt den Staatsstreich, den er am 18. Brumaire gegen das Direktorium verübte). Doch wie wir gesehen haben, war ein ähnliches Phänomen bereits in den beiden Jahren vor 1797 bis 1798 anlässlich der freien Abstimmungen und der föderativen Feste in den italienischen Tochterrepubliken zu beobachten, wo direkt oder indirekt über Bonaparte abgestimmt und sein Name immer wieder genannt, beschworen, bejubelt und gepriesen wurde, im Diskurs und in den Praktiken des konstitutionellen (Wahl-) Moments, in dem das revolutionäre Italien in ihm seinen idealen „patriotischen Führer“ („capo patriota“) identifiziert und feiert, ein zugleich populäres, konsensuelles und charismatisch-militärisches System der modernen Politik im italienischen Raum konfiguriert, im Einklang mit ähnlichen Prozessen, die das Zeitalter der Revolutionen im euro-atlantischen Raum kennzeichnen.12 2. Nach dem radikalen Staatsstreich vom 22. Januar 1798 in der Batavischen Republik wurde die neue Verfassung am 23. April desselben Jahres vom Volk mit großer Mehrheit angenommen, dank einer vorherigen Säuberung der Wahllisten, die linke (ultrarevolutionäre) und rechte (konterrevolutionäre) Gegner der neuen politischen Ordnung von den Kundgebungen fernhielt.13 In den italienischen „Militärrepubliken“ hingegen wird das Ziel der Akzeptanz der Grundgesetze nicht durch die Verkleinerung des Wahlorgans verfolgt, das im Gegenteil radikal demokratisiert ist, und zwar im Hinblick auf das Wahlrecht, das in den Verfassungen vorgesehen ist, die der Volksabstimmung unterliegen und die die Zahlung eines Beitrags verlangen, um aktiver oder passiver Bürger zu sein (d. h. Wähler ersten oder zweiten Grades und wählbar). In der Ligurischen Republik und der Cisalpinischen Republik beispielsweise stehen die Volksversammlungen ausnahmsweise sowohl den Bediensteten als auch den männlichen Jugendlichen im Alter von 18 bzw. 17 Jahren offen, ohne dass besondere Wohnsitzvoraussetzungen gelten, während in der Cispadanischen Republik, wo das Wahlrecht für freie verfassungsgebende Abstimmungen allen männlichen Wählern ersten Grades gewährt wird, die Möglichkeit besteht, an den Wahlen teilzunehmen. Viele Minderjährige (ab 15 Jahren) äußern sich auch in außergesetzlichen Formen, die weitgehend toleriert werden, infolge einer weit verbreiteten Auffassung, dass die männliche Fähigkeit, Waffen zu tragen und 11 G. de Staël, Dix années d’exil, édition critique par S. Balayé et M. Vianello Bonifacio, Fayard, Paris, 1996, S. 68. 12 P. Rosanvallon, Le bon gouvernement, Seuil, Paris, 2015, S. 58 – 61; D. A. Bell, Men on Horseback. The Power of Charisma in the Age of Revolution, Farrar Straus & Giroux, New York, 2020. 13 A. Jourdan, La Révolution batave entre la France et l’Amérique (1795 1806), PUR, Rennes, 2008, S. 421 – 424.
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mit ihnen umzugehen (und somit in der Nationalgarde zu dienen), um das republikanische Vaterland zu verteidigen, viel mehr wert sei als die Altersangaben als privilegierter Zugang zur Abstimmung bei Beratungen über institutionelle und verfassungsrechtliche Grundlagen. Darüber hinaus gibt es überall in den vielen Versammlungen, in denen per Akklamation abgestimmt wird, zahlreiche inoffizielle Fälle, auf dem Land noch mehr als in der Stadt, in denen Frauen an der Verabschiedung der Verfassung beteiligt sind. Es ist daher kein Zufall, dass der Begriff „allgemeine Wahl“ („voto universale“) gerade in diesem Kontext mit seiner gewaltigen und lang anhaltenden Polysemie, die gleichzeitig auf die Demokratisierung der Staatsbürgerschaft, die Choralität der Beteiligung und die Kompaktheit des Wahlrechts hinweist (und diese evoziert), in das politisch-wahlpolitische Lexikon Eingang findet. Im Gegensatz dazu konzentrierten sich die Bemühungen der Machthaber der italienischen Tochterrepubliken, die Gefahren eines negativen Ausgangs der Konsultationen zu beseitigen, die intellektuell noch unvorstellbar waren, bevor sie politisch wurden. Sie sollten die Störung der grundlegenden Rolle, die die Hauptkundgebungen im revolutionären öffentlichen Raum spielten, und insbesondere die materielle wie formale Vernichtung ihrer beratenden Funktion und Tradition, die sich bei den freien Verfassungsabstimmungen von 1793 und 1795 sehr anschaulich zeigte, bei denen sich die französischen Wähler nicht mit einer Ja- oder Nein-Stimme begnügten, sondern die Manifestation ihres Votums häufig mit Kommentaren, Meinungen und Forderungen an die Exekutive und Legislative verhindern.14 Die Dekrete und Wahlordnungen der Cispadane, der Ligurer und der Cisalpen von 1797/98 wurden so zu einem wahren Arsenal an regulierenden Eingriffen, die offen darauf abzielten, sowohl die Organisation als auch die Durchführung von Kundgebungen unter Aufsicht zu stellen; deren Leitung, gestärkt durch einen weiten verfahrensrechtlichen Ermessensspielraum, wird halbinstitutionellen Vermittlern wie Pfarrern oder direkt Beauftragten der Exekutive anvertraut, die auf ihren Befehl hin über Kontingente von Bürgerwehren und Truppen verfügen, um abweichende Meinungen eher abzuschrecken als zu unterdrücken. Es handelt sich um eine Dynamik der oberflächlichen Rede und der kollektiven Beteiligung, die den polemischen Diskurs über aufrührerische Wahlversammlungen, der im Frankreich der Thermidorzeit die Einschränkung ihrer politischen Arbeit begleitet und ihre Ersetzung durch das System der individuellen Unterschriften in öffentlichen Registern (die in den Verwaltungssekretariaten und Gerichtskanzleien sowie in den Rathäusern, Notariaten und bei den Friedensrichtern ausliegen) vorwegnimmt, in Vorschriften und Taten umsetzt, die mit dem Appell an das Volk zur Verfassung des Jahres VIII eingeleitet und dann auf die Wahlen des Jahres IX angewandt 14 M. Crook, Voter en assemblée sous la Révolution: le citoyen dans l’espaceé lectoral, in: Citoyen et citoyenneté sous la Révolution française, textes réunis par R. Monnier, Société des études robespierristes, Paris, 2006, S. 172 – 175; M. Edelstein, La Révolution française et la naissance de la démocratie électorale, PUR, Rennes 2013, S. 460 – 468, 485 – 493.
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wurden.15 Kurz gesagt, ohne die Abstimmung in der Versammlung abzuschaffen, erreichten (und verkündeten) die im italienischen Raum eingerichteten Verfahrensarchitekturen und Überwachungsmechanismen auf gemeinschaftliche und chorische Weise das anti-liberative Ergebnis der technischen Vereinfachung und der politischen Kontrolle der Abstimmung durch die Brumairiens, die die Ratifizierung der Konsularverfassung „aux méditations froides et solitaires des citoyens isolés“ anvertrauten, wie der „organische Intellektuelle“ („intellettuale organico“) des frühen Bonapartismus Pierre-Louis Roederer vor der gesetzgebenden Körperschaft in ihrer Sitzung am 10. Februar 1800 programmatisch erklärte.16 Mit Hilfe von Gemeinde- und Kantonsversammlungen, die aphonisch oder applaudierend sind und von Pfarrern, Regierungskommissaren und Streitkräften beaufsichtigt werden, wird das Ziel, die ganzheitliche Konzeption der freien Wahlen in die Praxis umzusetzen, weitgehend von den Akteuren der italienischen „Militärrepubliken“ erreicht. Überall ist das Wahlrecht offen, und in Ermangelung präziser und detaillierter formaler Angaben zu diesem Thema (nur die Gesetzgebung von Cispadane empfiehlt die Verwendung der Methode der weißen Kugeln für Ja und der schwarzen Kugeln für Nein, die in eine spezielle Wahlurne gesteckt werden) ist die am weitesten verbreitete Art, den Willen der außergewöhnlichen Wahlorgane vor der Ratifizierung zum Ausdruck zu bringen, das alte Ritual der einvernehmlichen Akklamation (laut, durch Handzeichen, durch Bewegung nach rechts oder links des Versammlungsleiters, durch Klatschen und Beifall). Und dennoch, insbesondere in den Fällen von Cispadan und Cisalpine, haben die konsensualen Abstimmungen der Primärversammlungen nicht immer zum gewünschten Ergebnis geführt und entsprechen dem, was der öffentliche Diskurs mit bewusster semantischer Zweideutigkeit die „Stimme der Nation“ nennt. Es gibt Kundgebungen, die sich im Chor von rechts oder links gegen die Verfassungstexte richten, die ihnen zur Beurteilung vorgelegt werden, und die paradoxerweise eine pluralistische Dynamik universeller Beifallsbekundungen für Ja oder Nein beschreiben. Auf diese Weise folgen sowohl die Annahme als auch die Ablehnung ganzheitlichen Kanons, die in der Praxis – unabhängig vom positiven oder negativen Vorzeichen des Votums – die vorherrschenden einstimmigen Vorstellungen vom Wahlrecht bestätigen, die auch durch die Wahlnormen umgesetzt und durch das Ovationsregister hervorgehoben werden, das einen gewaltigen Vektor der Gemeinschaftsintegration und der politischen Identifikation darstellt. Es ist genau diese Dynamik der allgemeinen Zustimmung oder Ablehnung, die perfekt signalisiert, dass Dissens nicht als legitim angesehen wird, sondern einfach als bedauerlicher Unfall, der die Wahlmechanik behindert und das natürliche Erreichen des erwarteten Ergebnisses verzögert. Auf der Grundlage dieses Ansatzes, der vom gesamten revolutionären (und konterrevolutionären) Universum geteilt wird, 15 M. Crook, Un scrutin secret émise en public. L’acte de vote sous la Révolution française 1789 – 1802, in: Peuples en révolution de 1789 à aujourd’hui, sous la direction de C. Belmonte et C. Peyrard, Presses Universitaires de Provence, Aix-en-Provence, 2014, S. 57 – 70. 16 Archives parlementaires. Recueil complet des débats législatifs et politiques des chambres françaises de 1800 à 1860, I, S. 177, 21 pluviôse an VIII.
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setzen die republikanischen Behörden eine Medienstrategie ein, die den Ablauf der freien Verfassungsabstimmungen begleitet (und verfolgt), mit dem Ziel, vor (und im Vorgriff auf) die offizielle Mitteilung ein nicht nur positives, sondern tendenziell einstimmiges Ergebnis der Konsultation anzukündigen und gegenteilige Stimmen zu disqualifizieren, indem sie sie den „perversen“ Aktionen der Feinde des Vaterlandes zugeschrieben werden. 3. Die verspäteten Berichte über den Verlauf der Abstimmung in den damaligen (offiziellen und halboffiziellen) Amtsblättern dienen weniger der Information als vielmehr der Beruhigung über die Annahme der Verfassungen, auch (und gerade) in Ermangelung von Detailinformationen. Die patriotischen Kommunikationskreise machten es sich zur Aufgabe, eine positive Stimmung für die Schwesterverfassungen aufzubauen, indem sie Eindrücke und Gefühle vermitteln, die auf der (vermeintlich) objektiven Auskultation des öffentlichen Geistes beruhen, oder indem sie auf das Beispiel paradigmatischer Abstimmungen zurückgreifen, um eine nachahmende Wahldynamik zu bestimmen. Insbesondere in der Cisalpinischen Republik wurde mit Arten von Botschaften experimentiert, die ein Jahr später in Frankreich in großem Umfang wiederverwendet wurden, darunter die Praxis, die „beispielhaften Zustimmungen“ der Streitkräfte und des Kapitals mit großem Nachdruck (vorab) anzukündigen, wenn der Wahlvorgang im Gange war. Den Höhepunkt der von der neuen republikanischen Macht und ihren Anhängern eingeleiteten Medienstrategie stellt die öffentliche Verbreitung der Auszählung der abgegebenen Stimmen für die „Schwesterverfassungen“ dar, die von speziellen zentralisierten Kommissionen oder vom Innenministerium nach Bestimmungen betrieben werden, die allen Wahlordnungen gemeinsam sind, aber in den verschiedenen Kontexten auf unterschiedliche Weise dekliniert werden und die – in Kontinuität zu den ersten französischen Experimenten von 1793 und 1795 – darauf abzielen, der Manifestation des nationalen Willens eine arithmetische (oder zumindest quantitative) Form zu geben. Obwohl die Republik Cispadane und die Republik Ligurien unterschiedliche Maßstäbe verwenden, geben sie die Zahlen der Wahl offen an: Erstere teilt den Anteil von fünf Sechstel zugunsten der Gesamtzahl der Wähler mit, letztere eine genaue numerische Auszählung von 115.892 Zustimmungen (98,9 %) und 1.1192 Abtrünnige (1,1 %) sowie eine Schätzung des absoluten Anteils der Wähler, der fast ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachte, während sich die Cisalpinische Republik darauf beschränkte, den Umfang des Wahlergebnisses durch zahlreiche Fernmitteilungen zu erklären. In jedem Fall unterstreicht der offizielle Diskurs das einmütige Profil der Zustimmungen, indem er über die numerischen Daten hinaus außerordentlich suggestive Ausdrücke wie „große Mehrheit“, „immense Vielzahl“, „absolute Mehrheit“ verwendet, um das Ausmaß des Erfolgs der freien Abstimmungen zusammenzufassen. Verfassungsrechtliche Konsultationen werden also nicht nur erdacht, geregelt und organisiert, sondern auch in einem ganzheitlichen Sinne kommuniziert, und zwar vor, während und nach ihrer Durchführung. Und wenn dieser begriffliche, verfah-
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renstechnische und mediale Kunstgriff nicht ausreicht, weil die Zahlen nicht mit den Erwartungen der neuen politischen Macht übereinstimmen, greift das ein, was die Sprache der Zeit die „große Operation“ der zentralisierten Retusche des Ergebnisses nennt, die nicht so sehr mit dem Ziel durchgeführt wird, sein Vorzeichen zu ändern, sondern ihm vielmehr das breite und tendenziell einstimmige Profil aufzuprägen, das das authentische enjeu der Ursprünge plebiszitärer Praktiken vor (und mehr als) dem Datum der Wahlbeteiligung darstellt, das ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ebenso grundlegend zu erreichen (und auszustellen) ist. Wenn alle einstimmigen Verfassungsabstimmungen der italienischen Republiken als höchst unwahrscheinliche Einstimmigkeiten bezeichnet werden können, so ist der auffälligste und paradigmatischste Fall der des Departements Cispadane am Po, wo das Ergebnis der Konsultation vom 19. März 1797 eindeutig negativ ausfiel, mit Ausnahme der Hauptstadt Ferrara, wo die Verfassung mit einem knappen Vorsprung und dem entscheidenden Beitrag der Stimmen aus dem jüdischen Ghetto angenommen wurde. Angesichts der sich abzeichnenden Niederlage beschloss die Zentralverwaltung von Ferrara im Einvernehmen mit dem Allgemeinen Verteidigungsrat, Bonapartes longa manus in der neuen Republik Cispadane, dem mit der Gesamtauszählung der Stimmen beauftragten Überprüfungsausschuss von Bologna im Namen des höchsten Wohls des Vaterlandes zu empfehlen, alle Wähler dieses Departements, die nicht an der Abstimmung teilgenommen hatten, als „Abwesende“ zu betrachten. Es handelt sich also um die inoffizielle, geheime und nachträgliche Annahme des Prinzips der „stillen Zustimmung“ für einen wichtigen (und bevölkerungsreichen) Teil des Territoriums der Republik. Dieser Trick (escamotage) ändert nichts am positiven Vorzeichen des Gesamtergebnisses der Abstimmung, trägt aber sicherlich zu der Zahl von 84 % Zustimmung bei, die den von der Regierung offiziell mitgeteilten fünf Sechstel entspricht. Schließlich bereitet sich das italienische Laboratorium auch bei der Behandlung der Wahlergebnisse auf das Jahr VIII vor, als Lucien Bonaparte, der Innenminister, das Ergebnis der Abstimmung über die Verfassung des Konsulbruders nicht ändert, sondern die Proportionen verdoppelt und das Wahlrecht auf etwa drei Millionen erhöht.17 Sein Ziel ist es, das Ergebnis im Vergleich zu den Konsultationen von 1793 und 1795 deutlich zu verbessern und sich der beachtlichen Größe des Ergebnisses als zusätzliche Legitimationsquelle für das neue Regime und für Bonapartes persönliche Machtentfaltung als Napoleon zu rühmen. Ein Teil der Bewohner des italienischen Raums ist nicht nur im Sommer 1804 nach seiner Erhebung auf den Kaiserthron, sondern auch zwischen Mai und Juni 1805 nach seiner Krönung in Mailand zum König von Italien erneut zu Wahlhuldigungen aufgerufen worden. 4. Die Wahldekrete der Ligurischen Republik und der Republik Lucca bestätigen die Demokratisierung des Wahlrechts und die Anwendung des Systems der Eintra17 C. Langlois, Le plébiscite de l’an VIII ou le coup d’état du 18 pluviôse an VIII, in: „Annales historiques de la Révolution française“, 1972, 207, S. 43 – 65; S. 208, 231 – 246; 209, S. 390 – 415.
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gung in öffentliche Verzeichnisse, das in Frankreich bereits in den Volksaufrufen von 1799/1800, 1802 und 1804 eingeführt wurde, führen jedoch italienische Varianten ein, sowohl was die Institutionalisierung der Eintragung durch die Körperschaft neben der individuellen Unterschrift betrifft, als auch die Kodifizierung des Grundsatzes der „stillschweigenden Zustimmung“, die im März 1797 im Departement Cispadane am Po heimlich und nachträglich beschlossen wurde. Die gesetzliche Einführung der Zustimmung der Abwesenden stellt die alternativlose Polarisierung des Prinzips der nicht deliberativen Ratifizierung dar und macht die Volksmobilisierung selbst überflüssig. Durch diese Art von Verfahren ist die Ablehnung dessen, was Talleyrand als „Plebiszit“ bezeichnet, nicht nur intellektuell und politisch undenkbar, sondern auch und vor allem auf materieller Ebene von vornherein neutralisiert, was die Notwendigkeit zentraler korrigierender Eingriffe im Nachhinein überflüssig macht. In der ligurischen und lucchesischen Fassung von 1805 wurden die „freien Abstimmungen“ auch rechtlich in einen Akt der passiven Rezeption umgewandelt, bei dem das rechnerische Ergebnis so irrelevant wurde, dass es nicht einmal in Erwägung gezogen wurde, was durch das reglementarische Schweigen der mit der Auszählung der Stimmen beauftragten Organe und im Fehlen einer institutionellen Mitteilung des Ergebnisses der Beratungen zum Ausdruck kommt. Im Gegenteil, die Dynamik der Sichtbarkeit und Präsenz staatlicher Organe, territorialer Gemeinschaften, religiöser Orden und berufsständischer Zünfte, die kollektiv – und im Fall von Lucca trotz der individualisierenden Logik der Stimmabgabe durch Subskription – am Zeremoniell der öffentlichen Anerkennung des Willens Napoleons teilnahmen, die indirekt in Form eines an ihn gerichteten Bittgesuchs der scheidenden republikanischen Regierungen zum Ausdruck kam, erlangte eine zentrale Rolle. Die territorialen und konstitutionellen Veränderungen sind in der Tat zweitrangig gegenüber dem einstimmigen Ritus der „demokratischen Unterwerfung“ unter den Rekaiser, wie er in der Abstimmung von 1805 festgelegt wurde. Nach Abschluss der Abstimmungsvorgänge betrat der neue Herrscher auch physisch die Bühne des Plebiszits und war der Hauptakteur des Zeremoniells, das das Ereignis der Wahlweihe erneuerte und sich in zwei symbolisch grundlegenden Momenten artikulierte: dem feierlichen Empfang der Subskriptionen und dem triumphalen Einzug in erster (oder stellvertretender) Person – wie in Lucca, wo er am 14. Juli 1805 durch die Baciocchi-Fürsten stattfand – in die Hauptstädte der erworbenen alten Staaten gemäß den rituellen Formen der Inbesitznahme der alten Herrschaft. Die Originalregister oder -protokolle der „nationalen Abstimmung“ werden Napoleon am 4. Juni in Mailand und am 23. Juni 1805 in Bologna von den Vertretern der gestürzten Exekutive nicht nur übergeben, sondern auch materiell zu Füßen gelegt, indem sie in offiziellen Reden im Namen der alten republikanischen Institutionen, die sie zum letzten Mal verkörpern, zum Monarchen sprechen: Die Begrüßungsrituale in Genua, wo der neue König Italiens am 30. Juni eintrifft, sprechen die Sprache des alten Regimes der ewigen Hingabe und der unbegrenzten Verbundenheit. Gefeiert als „Héros, Souverain, et Père“ umgeben von Gefühlen der „Bewunderung“ „amour“, „soumission“, „reconnaissance“ und „fidélité“. Die Feierlichkeiten zum
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triumphalen Einzug des Kaiserpaares, die vom Lanterna-Tor aus durch einen Bogen stattfanden, der von einer Statue überragt wurde, die Napoleon selbst zwischen der ihn krönenden Siegerin und der Geschichtsschreibung darstellte, dauerten eine Woche lang in einer kontinuierlichen Verflechtung des Sakralen – der Weihe in der Kathedrale St. Theodore – und des Profanen – der Übergabe der Schlüssel der Stadt durch den Bürgermeister der Hauptstadt – an. Und sie gipfeln in einem grandiosen Barockfest auf dem Wasser mit einem schwimmenden maritimen Panthéon im Zentrum, flankiert von vier schwimmenden Inseln mit chinesischen Gärten. Etwas mehr als sechzig Jahre später ist eine andere alte Seerepublik Schauplatz eines königlichen Einmarsches nach dem Plebiszit. Am 7. November 1866 fuhr Viktor Emanuel II. in einer Gondel auf dem Canale Grande in Venedig. Vier Tage später wurden ihm zu Ehren eine Regatta und ein nächtliches Fest veranstaltet, die an die Veranstaltungen in Genua im Juli 1805 und an die Veranstaltungen für Napoleon I. im November und Dezember 1807 anlässlich seiner „großen triumphalen Theophanie“18 in der Lagune nach dem Beitritt Venedigs zum Königreich Italien anknüpften. Das rituelle Vorgeplänkel vom 7. November 1866 fand Anfang November in Turin statt, wo eine Delegation aus Venetien und Mantua dem Herrscher im Thronsaal des Königspalastes das Ergebnis der Volksbefragung zur Union vom 21. Oktober 1866 vorstellte. Ähnliche Szenen und Choreografien treffen 1848 aufeinander, unterbrechen das plebiszitäre annus mirabilis 1860 und wiederholen sich 1870. Sie werden von Sprachen monarchischer Macht begleitet, die durch dieselbe Verflechtung von Legitimationsquellen gekennzeichnet sind, die sich sowohl auf das Ancien Régime als auch auf die neue postrevolutionäre Ordnung zurückführen lassen und die den bonapartistisch-konsularen und dann den napoleonisch-imperialen Diskurs kennzeichnen. Trotz der rhetorischen und politischen Ablehnung dieses Erbes durch die Akteure des Risorgimento, nicht nur in konzeptioneller und verfahrenstechnischer, sondern auch in zeremonieller und symbolischer Hinsicht, zieht es sich wie ein dünner Faden durch die verschiedenen Konjunktionen der italienischen Plebiszitgeschichte von 1797 bis 1870, die den Soldatenkönig Napoleon Bonaparte mit dem Soldatenkönig Viktor Emanuel II. verbindet. III. Das plebiszitäre Moment des Risorgimento (1848 – 1870) Zwischen 1860 und 1870 stimmten mehr als drei Millionen von ehemaligen Untertanen der italienischen Staaten nach unterschiedlichen Mechanismen, die jedoch immer durch die Anwendung des allgemeinen (männlichen) Wahlrechts gekennzeichnet waren, zunächst für die Vergrößerung des konstitutionellen Königreichs Sardinien und dann für den schrittweisen Aufbau des Königreichs Italien unter der Dynastie der Savoyarden. Zehntausende von ihnen, die den Herzogtümern Mo18 G. Romanelli, Venezia nell’Ottocento, in Storia di Venezia, L’Ottocento e il Novecento, a cura di M. Isnenghi e S. Woolf, Istituto della Enciclopedia Treccani, Roma, 2002, https:// www.treccani.it/enciclopedia/venezia-nell-ottocento_%28altro%29/(consultato il 18 luglio 2022).
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dena und Reggio, Parma und Piacenza sowie den Provinzen Padua, Vicenza, Treviso und Rovigo angehörten, hatten bereits im Frühjahr 1848 gemeinsam mit den Lombarden für die (nie verwirklichte) Bildung des konstitutionellen Königreichs Oberitalien gestimmt, während die Bürger der „Provinzen von Parma“ im August 1859 vor der Volksabstimmung über die Emilia und die Romagna Mitte März 1860 ebenfalls gesondert aufgerufen wurden. Insgesamt nahmen von 1848 bis 1870 mehr als vier Millionen Bürger (zu denen offiziell Zehntausende von Frauen und Minderjährigen hinzugezählt werden müssen) an den Volksabstimmungen des Risorgimento teil. Die Konsultationen von April bis Mai 1848 in den Herzogtümern der Poebene, der Lombardei und den Provinzen des venezianischen Festlands sowie die Konsultationen vom August 1859 in Parma erfolgten durch Unterschriften in öffentlichen Registern, die wochenlang in den Rathäusern und Kirchengemeinden auslagen, nach dem Vorbild der in der revolutionären und napoleonischen Zeit auf der Halbinsel erprobten Volksaufrufe (vor den Konsultationen von 1804 und 1805 wurde im Februar 1799 eine Unterschriftensammlung für den Anschluss Piemonts an die französische Republik durchgeführt). Die 1860 in der Toskana, der Emilia und der Romagna (11./ 12. März), in den südlichen Provinzen (d. h. im Mezzogiorno) und in Sizilien (21. Oktober), in den Marken und in Umbrien (4./5. November) organisierten „nationalen Versammlungen“ wurden an einem oder zwei Tagen mit handgeschriebenen oder gedruckten Stimmzetteln abgehalten, nach dem Vorbild der „par oui ou par non“-Wahlrechtspraktiken, die im Dezember 1851 den Staatsstreich von Prinzpräsident Louis Bonaparte legitimierten und im November 1852 das Zweite Kaiserreich begründeten. Und nach demselben Verfahren fanden die nachfolgenden Konsultationen statt, die den Vereinigungsprozess abschlossen, Im Jahr 1866 in Mantua und im Triveneto (21./22. Oktober) und 1870 in Rom und Latium (2. Oktober). Im Gegensatz zu den Volksbegehren des Ersten Kaiserreichs und im Einklang mit den Volksabstimmungen des Zweiten Kaiserreichs korrigieren die bisher durchgeführten Überprüfungen anhand von Archivunterlagen die offiziellen Zahlen der Ergebnisse nur geringfügig und bestätigen die Größenordnung. Von den sechzehn offiziellen Abstimmungen, die zwischen 1848 und 1870 stattfanden (die Parma-Abonnements von 1859 sind nicht rechtskräftig), stellt die Abstimmung von 1848 in Modena den einzigen echten Misserfolg dar, worauf das Verschwinden der Register und die Nichtveröffentlichung der Ergebnisse durch die provisorische Regierung hinweisen. In den Jahren 1860 bis 1870 zeigt das Bild der Wahlbeteiligung, das für sieben von acht offiziellen Abstimmungen ermittelt wurde, eine starke politische Mobilisierungsfähigkeit, die einerseits in einem Klima der (verständlichen) Begeisterung über das Ende der weltlichen Macht des Papstes ihren Höhepunkt erreicht und andererseits in den ehemaligen päpstlichen Besitzungen – mit Ausnahme der Marken – und in Gebieten mit schwacher oder alter Staatlichkeit stärker ausgeprägt ist als in Gebieten mit starken autonomistischen Traditionen. An den beiden Extremen der Beteiligungsachse befinden sich nämlich einerseits 62,4 % der Marken und 71,9 % der Toskana im Jahr 1860, andererseits 80,7 % des Latiums im Jahr 1870 und 79,7 % der
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Emilia im Jahr 1860. Etwas niedriger als der höchste Wert sind die anderen verfügbaren Zahlen: 75,2 % für Sizilien, 79,3 % für Umbrien und 79,5 % für den kontinentalen Teil des Königreichs der beiden Sizilien. Das letztgenannte Ergebnis ist umso aussagekräftiger, wenn man berücksichtigt, dass in einigen Provinzen im kontinentalen Teil des Südens die Stimmabgabe durch die Anwesenheit bourbonischer Truppen verhindert wurde – wie in 149 von 238 Gemeinden (62,6 %), in Terra di Lavoro und im gesamten Bezirk Isernia (45 Gemeinden) – oder durch konterrevolutionäre und legitimistische Aufstände, wie in den 36 Gemeinden des Bezirks Avezzano (Abruzzen Citra). In zahlreichen Gemeinden, in denen die Abstimmung aufgrund von pro-bourbonischen Aufständen, die auf beiden Seiten Dutzende von Toten forderten, verhindert, blockiert oder verschoben wurde, fand das Plebiszit dennoch zeitversetzt und rechtzeitig zur Auszählung der Stimmen statt. Insgesamt gab es also von den rund 1.800 Gemeinden diesseits des Leuchtturms, d. h. dem kontinentalen Teil des Königreichs beider Sizilien, 235 Gemeinden, in denen die Volksabstimmung nicht stattfand oder in denen die Stimmen zu spät eintrafen, um in das Endergebnis einfließen zu können: insgesamt 13 %, also ein nicht unerheblicher Prozentsatz, der aber das Gesamtergebnis nicht delegitimieren kann.19 Was die allgemeinen Ergebnisse anbelangt, so war die Zustimmung überall einstimmig, mit einem Minimum von 92,6 % in den Marken und einem Maximum von 99,9 % in Mantua, Venetien und den friaulischen Provinzen Udine und Pordenone. Neben dem bemerkenswerten Erfolg der Beteiligung sind es vor allem drei Punkte, die den Moment des Risorgimento-Plebiszits kennzeichnen. Zum einen ist sie geprägt von der freudigen und integrativen Dynamik und den damit verbundenen theatralischen Festszenen – mal induziert, mal spontan, mal das eine und das andere –, in denen die Wahlvorgänge stattfinden, die in einen breiteren und längeren Zyklus national-patriotischer Demonstrationen eingebettet sind, an denen nicht nur die Wähler (alle erwachsenen Männer ab 21 Jahren), sondern die gesamte Gesellschaft beteiligt ist, und zwar, in vielfacher inoffizieller und außergesetzlicher Form, all jene, die vom plebiszitären Wahlrecht ausgeschlossen waren, wie Frauen, Minderjährige, Exilanten, Ausländer (Kämpfer für die Einheit) und sogar ehemalige Sudditen der ehemaligen italienischen Staaten, die zum Zeitpunkt der Volksbefragungen zur Vereinigung im Ausland oder auf der Halbinsel (aber außerhalb ihrer „kleinen Heimatländer“) wohnten. Zweitens ist auf die doppelte Bedeutung hinzuweisen, die die damaligen Akteure den Einigungsplebisziten beimaßen. Einerseits werden Plebiszite als einmütiges Fest der nationalen Einheit gestaltet (was in der Sprache der Zeit mit ikastischen und polysemen Ausdrücken wie „nationales Wahlrecht“ und „Stimme der Nation“ übersetzt wird). Andererseits werden sie – vor allem für Liberale und konstitutionelle Demokraten – als kollektive Weihe des Oberhaupts der „nationalen Gemeinschaft“ durch die allgemeine Akklamation des „gewählten Königs konfiguriert, dessen Figur 19 G. L. Fruci, Mitografia e storia dei plebisciti di unificazione nelle due Sicilie, in: „Meridiana. Rivista di storia e scienze sociali“, n. 95, 2019, S. 113 – 138.
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in der gesamten plebiszitären Inszenierung eine zugleich ancien régime- und bonapartistische Schlüsselrolle spielt und dessen Name neben der Erwähnung Italiens und des Statuto Albertino ausdrücklich in den dem Volk zur Zustimmung vorgelegten Formeln erscheint. Schließlich sind die Wahltage durch eine intensive, weit verbreitete (und unerwartete) Mobilisierung der Frauen gekennzeichnet, die sogar von den provisorischen Regierungen gefördert wurde, wenn sie sich in national-patriotischen Gefühlsäußerungen artikulierte, die aber auch bei führenden Patrioten wie dem radikalen Demokraten Carlo Cattaneo oder dem gemäßigten Liberalen Bettino Ricasoli zu Ängsten und Verstimmungen führte, als Frauen in einigen Kontexten die durch die Verfahren des „nationalen Wahlrechts“ eröffneten beispiellosen Freiräume nutzten, um öffentlich ihre politischen Rechte einzufordern, die ihnen durch die Verfassungs- und Gesetzeslage des im Aufbau befindlichen neuen Staates verwehrt wurden. 1. Seit 1848 teilen Verfassungsliberale und Demokraten eine gemeinsame antipluralistische nationalpatriotische Vorstellung vom allgemeinen Wahlrecht, das 1860 in eine ähnliche Idee des plebiszitären Prozesses mündete, der als öffentliches und kollektives Bekenntnis der nationalen Gesinnung verstanden wurde.20 Die plebiszitäre Abstimmung wird nicht als individuelle voluntaristische Geste betrachtet, sondern als kollektiver Akt der nationalen Epiphanie, als letzter und feierlichster Moment der Offenbarung der (imaginierten) italienischen Gemeinschaft, als feierlicher Höhepunkt eines von Prüfungen und Zeichen durchzogenen Weges, der mit den vielfältigen Formen patriotischer Militanz beginnt und sich über das gesamte Risorgimento erstreckt. Nach dem Vorbild des patriotischen Eides ist der plebiszitäre Konsens also kein Gründungsritus, sondern ein Bestätigungsritus, der durch die Erinnerung an die für die nationale Sache erbrachten Opfer sakralisiert wird.21 Am Tag nach der Abstimmung in der Toskana sprach der Präsident der provisorischen Regierung, Bettino Ricasoli, mit Nachdruck von einem „weiteren Dekret über die italienische Staatsangehörigkeit“,22.während sich Mazzini trotz der Kritik am Verfahren die Volksabstimmung in den südlichen Provinzen als „eine große italienische Demonstration für die Einheit des Vaterlandes“23 vorstellte. Die Einberufung von Kundgebungen im Jahrzehnt 1860 – 1870 war Teil einer umfassenden Bewegung von Appellen, Umzügen und Versammlungen national-patriotischer Natur, denen die damaligen Akteure den gleichen moralischen und politischen Wert beimaßen wie dem plebiszitären Wahlrecht. In der Regel haben die „frei20
G .L. Fruci, Il „suffragio nazionale“. Discorsi e rappresentazioni del voto universale nel 1848 italiano, in: „Contemporanea. Rivista di storia dell’800 e del ’900“, VII, 4, 2005, S. 597 – 620. 21 G. L. Fruci, La nascita plebiscitaria della nazione (1797 – 1870), in: La costruzione dello Stato-nazione, in: Italia, a cura di A. Roccucci, Viella, Roma, 2012, S. 59 – 73. 22 Le Assemblee del Risorgimento, vol. V, Camera dei Deputati, Roma, 1911, S. 757. 23 G. Mazzini, Assemblea e plebiscito, in: „Il Popolo d’Italia“, 19 ottobre 1860, in: Scritti politici editi ed inediti, vol. LXVI, Cooperativa tipografico-editrice Paolo Galeati, Imola, 1933, S. 279.
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en Demonstrationen“ der Bürger für die Wiedervereinigung die Institutionalisierung der Stimmensammlung vorangetrieben und begleitet.24 Die Petitionen, die zumeist an den Landesherrn, aber auch an die starken Männer der Annexionen wie Ricasoli in der Toskana, Luigi Carlo Farini in der Emilia und Garibaldi im Königreich beider Sizilien gerichtet waren, stellten neben der Durchführung von Plebisziten ein grundlegendes Instrument der politischen Mobilisierung dar, insbesondere für diejenigen, die de facto oder de jure vom allgemeinen Wahlrecht ausgeschlossen waren. Nicht selten wurden öffentliche Kundgebungen für die Einheit als Ersatz für die gesetzliche Willensbekundung des Volkes angesehen oder vorgeschlagen. Im Jahr 1859 erklärten in der Lombardei Rathäuser und Provinzgemeinden öffentlich ihre Zustimmung zur Fusion, die 1848 durch das allgemeine Wahlrecht sanktioniert worden war, und warben um Ersatzadressen für das Wahlrecht, die Tausende von Unterschriften (auch von Frauen) erhielten, gemäß einer Praxis kollektiver Petitionen, die bereits von den Konterrevolutionären weit verbreitet war, um die Abschaffung der Verfassung im kontinentalen Teil der beiden Sizilien zwischen 1849 und 1850 zu fordern.25 In diesem Rahmen, der sowohl auf praktischer als auch auf diskursiver Ebene den Prozess der Volksabstimmung als Krönung einer Reihe von Demonstrationen darstellt, die das nationale Gefühl offenbaren, befinden sich die Wahltage, in denen die Sprachen und das Aktionsrepertoire der Manifestationen des national-patriotischen Jubels wiedergegeben werden. Die Erzählungen und die Ikonographie beschreiben übereinstimmend zahlreiche Gesten und Verhaltensweisen, die einen „Geist der Volksabstimmung” illustrieren, der von einem Impuls zur Brüderlichkeit geprägt ist, ähnlich dem, der 1848 in Frankreich nach der Verkündung des allgemeinen Wahlrechts und in Italien vor und nach dem Beginn des ersten Unabhängigkeitskriegs herrschte. Und sie werden von bemerkenswerten Episoden des zivilen Zusammenhalts unterbrochen, die die Überwindung alter politischer und kommunaler Trennungen inszenieren. Die Übergabe der Wahlurnen an die Behörden der Hauptstädte zur Auszählung der Stimmzettel wird zum Anlass für die Begegnung und die anschließende öffentliche Versöhnung zwischen den durch jahrhundertealte Rivalitäten getrennten Gemeinschaften. Als Zeichen der symbolischen Überwindung der Schranken zwischen Stadt und Land werden Wähler vom Land, die zur Stimmabgabe in die Nachbardörfer fahren, von der städtischen Kleinstadtbevölkerung oft begeistert empfangen und mit Blumenwürfen gefeiert. Die Zeugen übersetzen die individuelle und kollektive Freude über die Volksabstimmung mit Ausdrücken wie „allgemeine Zufriedenheit [Glück]“ und „allgemeine Freude“. Die partizipative Erwähnung der Emotionen, der Freude und der Zufriedenheit in den Gesichtern der Wähler ist ein gemeinsames Leitmotiv sowohl der Reportagen als auch des Briefwechsels. Akteure und Beobachter (aus dem In- und Ausland) sind sich einig, dass das Plebiszit ein großes Fest der Nationalität ist. Von einem Ende der Halbinsel zum anderen sind 24
S. Cavicchioli, Donne, ebrei, „corpi morali“ nei voti liberi delle province modenesi nel 1859, in: „Passato e Presente“, 115, 2022, S. 161 – 181. 25 M. Meriggi, La nazione populista. Il Mezzogiorno e i Borboni dal 1848 all’Unità, il Mulino, Bologna, 2021.
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die Plätze und Straßen, öffentliche und private Gebäude, Geschäfte und Denkmäler mit Fahnen und Plakaten zum Zeichen der Einheit geschmückt, während Wähler und Nichtwähler, Männer und Frauen, Jugendliche und Kinder ostentativ Trikolore-Embleme und Kokarden (weiß, rot und grün) an ihrer Kleidung und Kopfbedeckungen tragen. Der akribische und kapillare Aktivismus der provisorischen Regierungen, der politischen Vereinigungen und der patriotischen Persönlichkeiten bei der Vorbereitung des „moralischen Spektakels“ der Volksabstimmungen erreicht eine starke szenische Einheitlichkeit, insbesondere nach der paradigmatischen Arbeit der Italienischen Nationalgesellschaft unter der Leitung des Sizilianers Giuseppe La Farina anlässlich der Konsultationen im Frühjahr 1860 in der Toskana und in der Emilia, die zu einem authentischen organisatorischen und zeremoniellen Modell für die folgenden Abstimmungen wurden, die durch eine Reihe gemeinsamer Choreographien und thematischer Momente gekennzeichnet waren. Neben der farblichen Hervorhebung der Trikolore im öffentlichen Raum spielten die patriotischen Hymnen und die Musik, die durch die Musikkapellen die gesamte Dynamik des Plebiszits begleiteten, eine wichtige Rolle: von den Wahlzügen über den Akt der Stimmabgabe bis hin zur Wahlurne. Das „Ja“ zur Wiedervereinigung steht nicht nur auf Wänden und Plakaten, sondern findet auch in den Rufen der Wähler ein ständiges Echo und verleiht den Wahltagen einen weiteren patriotischen Klang. Die Abstimmungsvorgänge haben überall einen chorischen Charakter, der sowohl von einer monistischen Vorstellung vom allgemeinen Wahlrecht als auch von der Anwendung von Richtlinien zur Förderung einer breiten und geordneten Beteiligung an der idealen (und gewünschten) Aussicht auf eine „allgemeine Beteiligung“ herrührt. Die Mobilisierung der Wähler erfolgte sowohl auf dem Lande durch die Landgemeinden als auch in der Stadt durch Kunsthandwerker, Staatsapparate und Berufsgruppen, Studenten und Universitätsprofessoren, Militärs (reguläre und freiwillige, auch ausländische) und Geistliche, die in einer kompakten Reihe ihre Stimmzettel in die Wahlurne warfen. Die Wahlprozession, an der auch die von der Stimmabgabe Ausgeschlossenen teilnahmen, ist einer der wichtigsten Momente der Feier der Nationalität, der in den Drucken und in den illustrierten Zeitschriften der Zeit ebenso Platz fand wie die anderen Kapitel des Plebiszits, die die Phantasie der Zeitgenossen anregten und die Aufmerksamkeit von Journalisten, Illustratoren und Malern auf sich zog: der „große patriotische Akt“ des Einwurfs in die Wahlurne, die öffentliche Auszählung der Stimmen, die feierliche Verkündung der Ergebnisse und ihre offizielle Übergabe an den Souverän. Die Erzählungen über die Abstimmung verdichten sich insbesondere in Neapel, wo sich die Wahllokale in den Hallen großer Gebäude oder in dreifarbigen Pavillons befinden, die im Freien aufgestellt sind, und wo die Wahlordnung drei Wahlurnen vorsieht, eine leere in der Mitte und zwei an den Seiten, die die Ja- und Nein-Stimmen enthalten, aus denen jeder Wähler die von ihm bevorzugte nimmt und in die leere Wahlurne wirft. Das System der offenen Wahl entspricht zweifellos dem Bedürfnis
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nach Kontrolle durch die Behörden, aber vor allem spiegelt es eine weitgehende Missachtung des Wahlgeheimnisses und ganz allgemein der formalen Aspekte der Stimmabgabe wider, die für alle plebiszitären Wahlgesetze kennzeichnend ist, deren Hauptanliegen es ist, eine möglichst breite Beteiligung zu fördern, die das eigentliche Anliegen eines einstimmig konzipierten und durchgeführten Wahlprozesses ist. Eine solche Verfahrensarchitektur passt perfekt zu der von den damaligen Akteuren geteilten Vorstellung von Volksbefragungen, die nicht zufällig dazu neigen, ihre einheitliche Wahl in jeder Hinsicht zu demonstrieren, indem sie sogar die wenigen Gegner der Annexion in die Öffentlichkeit der Abstimmung einbeziehen, die oft unter allgemeiner Heiterkeit zum Wahllokal gehen und das „Nein“ in großen Buchstaben auf ihre Hüte schreiben. Die Wahlabende, die durch das Ritual des nächtlichen Transports der Wahlurnen in Begleitung der städtischen Wächter zu den Wahllokalen unterstrichen werden, werden durch Illuminationen und Feuerwerkskörper erhellt, vergleichbaren Attraktionen zu den Feuerwerkskörpern und dem Start von Luftballons, die den Tag der Volksabstimmung schmücken, sowie durch Akte der öffentlichen Wohltätigkeit, insbesondere in den beiden Sizilien. Der langwierige Prozess der Volksabstimmung findet seinen Höhepunkt in der feierlichen Verkündung der Ergebnisse, der die „allgemeine Auszählung” der Protokolle aus den Provinzen vorausgeht, die in den ehemaligen Hauptstädten bei den Obersten Gerichten in öffentlicher Sitzung vor einer zusammengesetzten Menge von Bürgern stattfindet. In den neapolitanischen Provinzen und in Sizilien wird dieser Moment durch Wahlgesetze geregelt, die auch die landschaftlichen Aspekte berücksichtigen. In Palermo sah das vom Pro-Diktator Antonio Mordini erlassene Gesetz vor, dass die Ergebnisse vom Balkon der Piazza dei Tribunali verlesen werden sollten, während das von Giorgio Pallavicino Trivulzio, dem Schöpfer der Nationalen Gesellschaft Daniele Manin, erlassene Dekret vorsah, dass in Neapel der Präsident des Obersten Gerichtshofs das Ergebnis der allgemeinen Wahl von einer Tribüne aus verkünden sollte, die eigens auf der Piazza di S. Francesco di Paola aufgestellt wurde, die später in Piazza del Plebiscito umbenannt wurde, wie auch andere ähnliche städtische Plätze im Süden (und anderswo), auf denen die institutionelle Verkündung der Wahlergebnisse stattfand. In einem einstimmigen Rahmen wie dem des Plebiszits verleiht die offizielle und öffentliche Bekanntgabe des numerischen Wahlrechts dem Ergebnis der Abstimmung einen Überschuss an chorischer Legitimität und stellt eine weitere Demonstration des Zusammenhalts der erweiterten politischen Körperschaft dar, die zunächst in ängstlicher Erwartung und dann in der freudigen Akklamation des vorhergesagten Ergebnisses vereint ist, die – oft nachts – an stimmungsvollen Orten wie der Piazza della Signoria in Florenz, dem Dogenpalast in Venedig und dem Campidoglio in Rom stattfindet. Nach Abschluss der Wahlen, wenn der Herrscher nicht wie im Herbst 1860 in militärische Aktionen verwickelt war, verlagerte sich der Schauplatz des Jubels bei der Annahme der Ergebnisse von den befreiten Gebieten in die Hauptstadt des Königreichs Savoyen. Das beeindruckende Ritual der Übergabe der „Gelübde“ ist in zwei Phasen unterteilt. Der erste Tag ist der Gastfreundschaft und der Gemeinschaft
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gewidmet. Vor dem abendlichen Bankett mit den Magistraten der Städte ziehen die Vertreter der annektierten Provinzen in Kutschen durch die Straßen der Hauptstädte: erst Turin, dann Florenz. Während dieser Prozessionen ist es, als ob die Bewohner der Hauptstadt den Jubel und die Eintracht des Plebiszits wiedererleben, an dem sie zwar nicht teilgenommen haben, von dem sie aber die Berichte lesen und die Abbildungen bewundern konnten. Der zweite Tag steht – wenig überraschend – ganz im Zeichen des Monarchen. Die Szene verlagert sich nämlich in den königlichen Palast, wo im Thronsaal die Huldigungen ausgetauscht werden und die Deputationen mit dem Herrscher zusammentreffen, der anschließend die Annexionsdekrete unterzeichnet und mit seiner Familie auf dem Balkon erscheint, um den Beifall des applaudierenden Volkes entgegenzunehmen. Dieser Auftritt markiert den physischen Eintritt des Königs auf der Bühne des Plebiszits und krönt eine virtuelle Omnipräsenz von Bildern, Stimmen und Worten, die die Sprache und die Praktiken der Abstimmungsvorgänge prägen, bei denen die Feier der Nationalität mit der Weihe der Familie, die zur Herrschaft über Italien „gewählt“ wurde, verwoben ist. 2. In der Vorstellung der Liberalen und der konstitutionellen Demokraten der Nationalen Gesellschaft verkörpert sich die in den Wahltagen gefeierte nationale Einigkeit in der Figur des Monarchen. Der Name des Souveräns steht in den Fusionsformeln zusammen mit Verweisen auf Italien und das Statuto Albertino, die je nach politischer Lage moduliert werden. Im Text des Plebiszits der neapolitanischen Provinzen und Siziliens wird die Bevölkerung programmatisch aufgefordert, „für ein einziges und unteilbares Italien mit dem konstitutionellen König Viktor Emanuel und seinen legitimen Nachkommen“ zu stimmen, während die anderen Formeln mit einigen Variationen um die Aufforderung herum aufgebaut sind, an der konstitutionellen „Monarchie“ oder „Regierung“ „von König Viktor Emanuel II.“ festzuhalten.26 Die an den Souverän gerichteten Beifallsbekundungen, die oft mit denen an Italien einhergehen, sind in weiten Teilen (und nach den Richtlinien der Nationalen Gesellschaft auch programmatisch) Ausdruck des Wahlverhaltens und fügen sich bei den Wahlgängen und in den Wahllokalen zu den Ovationen für das „Ja“. Zu den Beifallsbekundungen gesellen sich die Porträts, Büsten, Bildnisse und Inschriften, die auf Balkonen, in Fenstern, auf öffentlichen Plätzen und in Regierungsgebäuden, auf Plakaten, die während der Wahlumzüge gehisst werden, in Wahllokalen und Wahlräumen zu sehen sind und die Choreographie des Plebiszits mit dem Bild und dem Namen des Königs vervollständigen. In der Wahlversammlung in der Aula Magna der Universität Neapel beherrscht eine Skulptur, die Viktor Emanuel mit langem Schnurrbart darstellt, den oberen zentralen Torbogen, der von den Wappen des Hauses Savoyen umgeben und von zwei Tafeln mit Inschriften zum Lob der Einheit und des Königs von Italien umschlossen ist. Die Säulen des unteren Teils sind dagegen mit Medaillons verziert, in die abwechselnd die Initialen VE und GG eingraviert sind, ein Hinweis auf die Mitwirkung der Figur Garibaldis an der Vorstellung 26 E. Mongiano, Il „voto della Nazione“. I plebisciti nella formazione del Regno d’Italia (1848 – 60), Giappichelli, Torino, 2003, S. 335 – 345.
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des südlichen Plebiszits, wenn auch in einer kooperativen Funktion gegenüber der des Herrschers.27 Der Gedanke, dass der Zweck der Konsultation darin besteht, für Viktor Emanuel zu stimmen, wird durch die plebiszitäre Sprache weithin vermittelt. Diese diskursive Strategie entspricht dem Erwartungshorizont vieler Wählerinnen und Wähler, die zeigen, dass sie ihr Wahlrecht auf diese Weise begreifen. Der öffentliche Diskurs drückt diese persönliche Einsetzung auf eindrucksvolle Weise durch die Polysemie des Ausdrucks „gewählter König“ aus, der Viktor Emanuel II. zugeschrieben wird, und signifikant zusammen mit seinem Bildnis auf den 50 Centesimi, 1- und 2-LireSilbermünzen, die von der Prägeanstalt in Florenz nach dem toskanischen Plebiszit von 1860 geprägt wurden. Der Ausdruck „gewählter König“, der seit September 1859 in der Eidesformel für Beamte und Soldaten der ehemaligen Herzogtümer Emilia und Toskana enthalten ist, eignet sich aufgrund seiner semantischen Mehrdeutigkeit hervorragend für eine religiöse und providentielle Deklination. In den zahlreichen Fragmenten der Rede zum Plebiszit wird der „Auserwählte der Nation“ so zum „Erlöserkönig“, zum „Erlöserkönig Italiens“, zum „Engel Gottes“ und zum „von Gott gesandten Mann“, zum „Wunderkönig“. Die Idee des Kommens und der Wahl des Herrschers ist mit der der Hingabe von Völkern und Individuen an die Monarchie von Savoyen in einem argumentativen Schema verwoben, das dazu neigt, die kriegerische und väterliche Rolle des Herrschers zu verherrlichen, dem die Neo-Italiener erklären, ihre politischen Geschicke anzuvertrauen. Die Darstellung des Plebiszits als Akt der Personalunion mit dem König kommt jedoch nicht nur in der Sprache der Abstimmenden oder der Einladung, ihre Stimme in die Wahlurne zu werfen, zum Ausdruck. Der monarchische Diskurs und derjenige der provisorischen Regierungen sind stark davon geprägt. Der feierliche Moment der Übergabe der Ergebnisse stellt einen idealen Raum für die Darstellung dieser rhetorischen Materialien dar, die sich durch ständige Verweise auf eine politische Symbolik auszeichnen, die sowohl auf das Ancien Regime als auch auf die neue postrevolutionäre Ordnung des Soldatenkönigs Napoleon zurückgeht, dessen feierliche Formen der Annahme von Volksabstimmungen und der Inbesitznahme von abgetretenen Gebieten, wie die Republiken von Lucca und Genua im Jahr 1805, nicht zufällig vom Soldatenkönig Viktor Emanuel II. übernommen und neu vorgeschlagen werden. Aus dieser Sicht des Verhältnisses zwischen Souverän und Herrschern ergibt sich auch das alte Ritual des Einzugs in die Hauptstadt der annektierten Provinzen. Die Zeremonie des königlichen Einzugs, die mit Hilfe von künstlichen und natürlichen Triumphbögen bis ins kleinste Detail szenografisch vorbereitet ist und sich immer wieder wiederholt, mit der einzigen Ausnahme des heimlichen nächtlichen Einzugs in
27 G. L. Fruci, Il sacramento dell’unità nazionale. Linguaggi, iconografia e pratiche dei plebisciti risorgimentali (1848 – 1870), in: Storia d’Italia, „Annali“ 22, Il Risorgimento, cit., S. 586 – 588.
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Rom, vereint monarchische und kommunitäre Riten und stellt den letzten Akt der plebiszitären Dynamik dar.28 Die vielfältigen Deklinationen und Lesarten der Figur des Königs im plebiszitären Prozess konvergieren in der Zeichnung eines Modells einer „demokratischen antiken Regime“-Monarchie, in der der „gewählte“ Herrscher, Vater, Heiliger und Krieger, das Symbol der durch die allgemeine Abstimmung sanktionierten Eintracht und Einstimmigkeit ist, verstanden im Sinne des Ausdrucks des „sentimentalen Willens“ der Nation. Dieses Bild des Beschützers des Volkes und des Menschen-Volkes, in dem sich mittelalterliche Eigenschaften und bonapartistische Konnotationen überschneiden, wird nicht nur durch den monarchisch-liberalen Diskurs, sondern auch durch Viktor Emanuel selbst und seine Minister bestätigt. Die Proklamation an die Völker Süditaliens vom 9. Oktober 1860, die fast einen Satz paraphrasiert, den der künftige Napoleon I. einige Monate nach dem Staatsstreich vom 18. Brumaio vor dem Staatsrat aussprach, schließt mit einer starken Übernahme politischer Verantwortung durch den Herrscher, der es zu seiner Pflicht erklärt, die Ära der Revolutionen auf der italienischen Halbinsel endgültig zu beenden. Angesichts einer solchen königlichen Zentralität ist es verständlich, dass in der entscheidenden Phase von 1859 – 1860 die gemeinsame Interpretation des Plebiszits als national-patriotische Manifestation durch konvergierende politische Bedürfnisse verstärkt wird. Den Republikanern wird es möglich, den monarchischen Sieg und die starke Legitimation des Volkes, die das Plebiszitverfahren den Savoyarden verschafft, zu überschatten. Den Verfassungsliberalen hingegen erlaubt es, den Widerspruch abzuschwächen, der darin besteht, dass sie sich auf das allgemeine Wahlrecht berufen, um ein politisches Wahlsystem nach Art einer Volkszählung zu sanktionieren, das die aktive politische Staatsbürgerschaft ausschließlich den „Weisen“ zuerkennt. In Wirklichkeit haben die ganzheitlichen Spannungen zur Eintracht und die integrativen Möglichkeiten innerhalb des plebiszitären Prozesses nicht verhindert, relevante Effekte zu erzielen (und nicht notwendigerweise negativ für die politische Seite, wie von Cavour befürchtet), sowohl unmittelbar für Frauen als auch für Minderjährige, die die Wahltage in eine formidable und unerwartete Phase des politischen Protagonismus verwandeln, aber auch für die radikal-republikanische Welt, die den Moment des Plebiszits in einen mächtigen Mythos der national-demokratischen Rechtfertigung verwandelte, als auch für die konstitutionellen Liberalen, die darauf reagierten, indem sie – nach dem bonapartistischen Vorbild des Zweiten Kaiserreichs – die ersten Wahlen zum nationalen Parlament im Januar 1861 in ein Plebiszit über die Monarchie im Schatten der Figur von Viktor Emanuel II. umwandelten. 3. In dem kurzlebigen Zusammenhang mit dem Plebiszit wird durch den Übergang vom „nationalen Wahlrecht“ zum „nationalen Glück“ im Namen der nationalen 28 Carlo Bossoli, Cronache pittoriche del Risorgimento (1859 – 1861) nella Collezione di Eugenio di Savoia Principe di Carignano, a cura di C. Vernizzi, Artema, Torino, 1998, S. 74 – 97.
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Identifikation eine Art zeitliche Aufhebung vorgenommen, die eine „imaginierte egalitäre Gemeinschaft“ schafft, in der das Gebot der Brüderlichkeit und der patriotischen Eintracht über alle Spaltungen von Partei, Klasse, Geschlecht und Alter hinweg herrscht. Innerhalb dieses konzeptionellen und emotionalen Rahmens gibt es auch die Akte der „paradoxen Staatsbürgerschaft“ vieler republikanischer Aktivisten, die nicht nur wählen, sondern aktiv am Erfolg von Plebisziten teilnehmen, indem sie ihr Profil als national-patriotischer Ritus zum Nachteil des Profils der monarchischen Akklamation aufwerten. Nach dem Eingeständnis ihrer eigenen Befürworter stand die Republik in der Zeit von 1859 bis 1860 nie wirklich auf der Tagesordnung, als „sich die Monarchie“, so erinnert sich der Weggefährte Giuseppe Mazzinis, Graf Aurelio Saffi, „dem Land als Notwendigkeit aufdrängte“ und „wir uns gehorsam dem Willen der meisten beugten“29. In diesem politischen Rahmen sowie im Fokus einer Strategie, die Annexionen als Mittel zur Umwälzung der politischterritorialen Gleichgewichte der Halbinsel in Erwartung weiterer (und erhoffter) revolutionärer Entwicklungen identifizierte, war die von Mazzini selbst geförderte plebiszitäre Mobilisierung der Republikaner sowohl in Mittel- als auch in Süditalien im Laufe des Jahres 1860 Teil einer Strategie, die die Abstimmung als Feier des Nationalitätsprinzips interpretierte, die die Vollendung des Einigungsprozesses durch die Befreiung Venedigs und Roms vorbereitete. Wenn das feierliche Profil der offenbarten und wiederentdeckten Heimat, das das „nationale Wahlrecht“ prägt, die Vorbedingung für die Legitimierung der Rede von Frauen im plebiszitären öffentlichen Raum darstellt, trägt es auch dazu bei, dass Frauen ein Gefühl der Ungerechtigkeit aufgrund des normativen Ausschlusses von dem Ereignis empfinden, das einhellig als Apotheose des Risorgimento-Prozesses gedacht und erlebt wird. Daraus ergibt sich das Paradoxon, dass Patriotinnen als „Bürgerinnen ohne Staatsbürgerschaft“ handeln und sich selbst als solche wahrnehmen, die ständig zwischen einer „imaginierten egalitären Gemeinschaft“ und emanzipatorischen Bestrebungen schwanken. Die vielfältigen Interventionen in der klassischen Sprache der „Patriotenmutter“ und der „Bürgermutter“, mit denen die politischen Aktivisten ihre Verbundenheit mit dem Einigungsprozess und der (väterlichen) Figur des Monarchen zum Ausdruck brachten, sind somit nicht nur als kollektive Manifestationen der nationalen Zugehörigkeit, sondern auch als authentische symbolische Akte der Staatsbürgerschaft zu verstehen, die insbesondere in den 1860er Jahren von der kollaborativen und konkurrierenden Mobilisierung der jungen Minderjährigen flankiert wurden. Der Hauptmodus des Engagements von Frauen besteht in kollektiven Praktiken, die die Wahlverfahren der Männer replizieren und imitieren. In Konkurrenz zu den Minderjährigen richteten die Frauen separate Wahllokale ein, stürmten mit Ansprachen und Appellen in die Wahlversammlungen und forderten, wählen zu dürfen oder zumindest ihren gemeinsamen Willen zu Protokoll zu geben. Die Unterschriften und 29 A. Saffi, Ricordi e scritti, pubblicati per cura del Comune di Forlì, vol. VI, 1860 – 1861, Tip. G. Barbera, Firenze, 1901, S. 111.
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die nach Geschlechtern getrennten Wahllokale verdeutlichen eine doppelte Absicht der Frauen: Sie wollen offen ihren Konsens für das Einheitsverfahren als Nachfolger des gesetzlichen Wahlrechts bekunden und die Ungerechtigkeit des Ausschlusses vom Wahlrecht deutlich machen, indem sie konkret demonstrieren, dass Frauen am Wahlprozess teilnehmen können, ohne dass es zu Störungen kommt. Es ist kein Zufall, dass Frauen, auch wenn sie keine Petitionen unterzeichnen oder ihre Stimmzettel (oder alternativ ihre patriotischen Gaben) in die inoffiziellen Wahlurnen einwerfen, in den Wahlversammlungen stehen (nicht selten mit ihren kleinen Kindern, wie die Ikonographie auch zu Beruhigungszwecken zeigt) oder ihre Männer zu den Urnen begleiten, besonders in Trastevere im Jahr 1870, in Abweichung von einer moralischen Norm und Moral, die die Anwesenheit von Frauen im Wahllokal als skandalös und störend betrachtet.30 Die zweite Form der Beteiligung betrifft einzelne Frauen, die wählen, indem sie sich als Männer verkleiden – wie 1799, als sie gegen die Österreicher und Russen kämpften, 1849, als sie die Römische Republik verteidigten, 1860 und 1866, als sie an Garibaldis Feldzügen teilnahmen31 – oder die aufgrund patriotischer Verdienste zum Wahlrecht zugelassen wurden. Die bekanntesten Fälle betreffen zwei sehr unterschiedliche Frauenfiguren im Herbst 1860. Auf der einen Seite die 30-jährige Bürgerliche Marianna De Crescenzo, bekannt als Sangiovannara, Gastwirtin aus Monte Calvario in Neapel, Protagonistin der heimlichen Anti-Bourbonen-Bewegung, Cousine von Salvatore De Crescenzo, dem Anführer der „liberalen Camorra“, dessen Truppen der Innenminister Liborio Romano im Sommer 1860 die öffentliche Ordnung anvertraute. Andererseits die achtzehnjährige Dichterin aus Recanati, Maria Alinda Bonacci, bürgerlich, katholisch, liberal, Autorin von Inschriften und Karikaturen für die Passage von König Viktor Emanuel II. in den Marken und der Volksabstimmung von zweihundertfünfundsiebzig Frauen aus ihrer Stadt. Sangiovannara ist eine volkstümliche Heldin, die als „Königin“ ihres Viertels konsultiert und verehrt wird. Ihr wird die Ehre zuteil, Garibaldi bei seiner Ankunft in Neapel zu empfangen und ihn bei seinem Besuch in der Madonna di Piedigrotta zu begleiten.32 Die Illustrierten jener Zeit widmeten ihr Porträts, Interviews und Artikel und machten sie zur bevorzugten „Kriegerin“ des Diktators der beiden Sizilien, neben dessen Büste sie in einer Kollodiumreproduktion mit kurzen schwarzen Haaren, kräftigem Körperbau, einem grell geblümten Schal, einem Revolver in der Hand und einem weiteren am 30
G. L. Fruci, Cittadine senza cittadinanza. La mobilitazione femminile nei plebisciti del Risorgimento (1848 – 1870), in: „Genesis“, V, 2/2006, S. 46 – 49. 31 Nel nome dell’Italia. Il Risorgimento nelle testimonianze, nei documenti e nelle immagini, a cura di A.M. Banti con la collaborazione di P. Finelli, G. L. Fruci, A. Petrizzo e A. Zazzeri, Laterza, Bari-Roma, 2010, S. 40 – 42, 380 – 382; A. Zazzeri, „In questo universale agitarsi a me duole di starmene inoperosa“. Donne, doni patriottici e mobilitazione armata nel Quarantotto italiano, in: „Rassegna storica del Risorgimento“, CVI, 1 – 2, 2019, S. 100 – 106. 32 M. Varriale, Sangiovannara (Marianna De Crescenzo), in Dizionario biografico degli italiani, vol. 90, Istituto della Enciclopedia Treccani, Roma, 2017, https://www.treccani.it/en ciclopedia/sangiovannara_%28Dizionario-Biografico%29/ (consultato il 14 luglio 2022).
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Gürtel hängenden Dolch abgebildet ist.33 Wenige Tage später, am 4. November 1860, wählt Alinda, die damit betraut ist, die Adressen der Frauen von Recanati zum Wahlbüro zu bringen, zusammen mit 239 analphabetischen Gleichaltrigen. Als beruhigendes Symbol einer Frau, die für ihre Verdienste auf dem Gebiet der patriotischen Poesie zur Wahlurne geht, erlangt ihre Figur als Wählerin nicht sofort nationalen Ruhm. Die Erinnerung an ihre Geste wurde jedoch durch lokale Memoiren und dank eines Vierzeilers ihres Gedichts „In morte del primo Re d’ Italia“ (Im Tod des ersten Königs von Italien) überliefert, das sie 1878 anlässlich des Todes von Viktor Emanuel II. schrieb und in dem die außergewöhnliche Tat mit Stolz erwähnt wird.34 IV. Zwei plebiszitäre Momente im Vergleich: 1797 – 1805 und 1848 – 1870 Neben den kanonischen und idealtypischen Zügen der plebiszitären Institution weisen die freien Abstimmungen von 1797 – 1805 und die Plebiszite von 1848 – 1870 eine gemeinsame institutionelle Matrix und einige Besonderheiten auf. Erstens handelt es sich, wie bereits erwähnt, bei diesen beiden Reihen von Volksbefragungen um öffentlich-rechtliche und völkerrechtliche Verfahren, die gleichzeitig eine persönliche Macht, eine staatlich-territoriale Realität und eine Verfassung legitimieren. Zweitens greifen die plebiszitären Praktiken der Jahre 1797 – 1805 sowie 1848 – 1870, die sich direkt oder indirekt an das politische Modell von Thermidor anlehnen, auf die demokratische Souveränität zurück, indem sie ausnahmsweise universalistische und integrative Wahlgremien konstruieren, um Institutionen zu weihen, die stattdessen auf einer Wahlordnung beruhen, die die politische Staatsbürgerschaft eher als Funktion denn als Recht begreift und sie in letzter Instanz denjenigen vorbehält, die sie klugerweise ausüben können, weil sie sich in einem Zustand persönlicher (wirtschaftlicher oder kultureller) Unabhängigkeit befinden. Alle Verfassungen der dreijährigen republikanischen und demokratischen Periode Italiens von 1796 – 99, die der Gültigkeitserklärung oder dem Eid des Volkes unterliegen, verlangen von den Wählern zweiten Grades, dass sie Eigentümer, Nutznießer oder Mieter eines Grundstücks zu bestimmten Jahresmieten sind, und enthalten Artikel mit aufgeschobener Gültigkeit, die die Eintragung in das Bürgerregister für „junge Leute“ an die Ausübung einer mechanischen Kunst und den Nachweis, lesen und schreiben zu können, binden, während das cisalpinische und das römische Grundgesetz von 1798 von Anfang an die Zahlung einer direkten Abgabe, sei es in Form eines Grundstücks oder einer Person, auch für die Zulassung zu den Volksversammlungen vorsehen (das revolutionäre Wahlrecht sieht eine Abstimmung in zwei oder mehr Klassen vor). Im Gegensatz dazu sah das Statuto Albertino von 1848, das durch die Volksabstimmungen des Risorgimento gebilligt wurde, einen Staat vor, der von einer „re33
G. L. Fruci, Mobilitazione popolare e legittimazione politica nella costruzione dello Stato unitario (1796 – 1870), in: Risorgimento nazionale, storia d’Italia e storia della Romagna, a cura di M. Ridolfi, Il Ponte Vecchio, Cesena, 2013, S. 46. 34 G. L. Fruci, Cittadine senza cittadinanza, cit., S. 32 – 34.
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präsentativen monarchischen Regierung“ regiert wurde, in der die Anerkennung des Wahlrechts für die Wahlkammer durch die allgemeine Gesetzgebung geregelt war. Bei der Ausrufung des Königreichs Italien im Jahr 1861 gewährte ein binärer, zensorischer und kapazitärer Mechanismus, der mit leichten Modifikationen vom savoyischen Staat übernommen worden war und auf der Voraussetzung der Lese- und Schreibfähigkeit beruhte, die aktive politische Staatsbürgerschaft ausschließlich den 7 % der erwachsenen Männer über 25 Jahren.35 Angesichts dieser gemeinsamen „ursprünglichen Merkmale“ unterscheiden sich die Plebiszite von 1848 – 1870 von ihren Vorgängern aus den Jahren 1797 – 1805 dadurch, dass sie nicht so sehr durch Druck auf die Wähler oder Manipulation des Wahlrechts gekennzeichnet sind, sondern durch eine Beteiligung nach dem Prinzip „eine Nation, eine Stimme“, bei der die Zelebrierung der offenkundigen nationalen Identität offen an die Stelle des Ausdrucks der Demokratie tritt.36 Ab 1848 und insbesondere in der Zeit von 1860 bis 1870 entwickelte sich ein liberal-patriotisches plebiszitäres Modell, das sich dadurch auszeichnete, dass es sich auf die formalen Profile der Wahlverfahren beschränkte, anstatt sie zu manipulieren, dass es die chorischen und einstimmigen Merkmale der Wahlpraktiken des 18. und 19. Jahrhunderts polarisierte, anstatt sie zu verdünnen, und dass es beispiellose Räume für die Beteiligung des Volkes und unerwartete Wege der Jugend- und Frauenemanzipation eröffnete. Aus politischer Sicht bestand die Besonderheit des plebiszitären Moments des Risorgimento darin, dass es eine antipluralistische Institution der bonapartistischen Matrix in einen liberal-repräsentativen Rahmen überführte und dem vereinigten Italien einen Gründungsmythos hinterließ, der je nach Profil sowohl vom monarchisch-konstitutionellen als auch vom radikal-republikanischen Universum als Vektor der politischen Mobilisierung abgelehnt werden konnte: ein kollektiver Akt der direkten Einsetzung der Exekutivgewalt, eine patriotische Manifestation der Nationalität oder ein imaginäres Ereignis, das die Grenzen der Staatsbürgerschaft in einem umfassenden und radikal demokratischen Sinne neu zieht. *** Abstract Gian Luca Fruci: Plebiscitary Practices in the Old Italian States before Unification (1797 – 1870) (Plebiszitäre Praktiken in den alten italienischen Staaten vor der Vereinigung (1797 – 1870), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 245 – 273. 35
G. L. Fruci, I plebisciti e le elezioni, in L’unificazione italiana, a cura di G. Sabbatucci e V. Vidotto, Istituto della Enciclopedia Treccani, Roma, 2011, S. 236 – 238. 36 P. Rosanvallon, La démocratie inachevée. Histoire de la souveraineté du peuple en France, Gallimard, Paris, 2000, S. 201.
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In addition to the canonical and ideal features of the plebiscitary institution, the free votes of 1797 – 1805 and the plebiscites of 1848 – 1870 share a common institutional matrix and some distinctive features. First, as noted above, both of these series of plebiscites are public-legal and international-legal procedures that simultaneously legitimize a personal power, a state-territorial reality, and a constitution. Second, the plebiscitary practices of 1797 – 1805 and 1848 – 1870, which borrow directly or indirectly from Thermidor’s political model, revert to democratic sovereignty by exceptionally constructing universalist and inclusive electoral bodies to consecrate institutions, based instead on an electoral order that conceives of political citizenship as a function rather than a right, reserving it in the last instance to those who can wisely exercise it because they are in a state of personal (economic or cultural) independence. All the constitutions of Italy’s three-year republican and democratic period of 1796 – 99, subject to the validation or oath of the people, require second-degree voters to be owners, usufructuaries, or tenants of land at certain annual rents, and contain articles of deferred validity conditioning registration in the civic register for “young people” on the practice of a mechanical art and proof of being able to read and write, while the Cisalpine and Roman fundamental laws of 1798 provided from the outset for the payment of a direct levy, whether in the form of land or a person, even for admission to popular assemblies (the revolutionary suffrage law provides for voting in two or more classes). In contrast, the Statuto Albertino of 1848, approved by the Risorgimento referenda, provided for a state governed by a “representative monarchical government” in which recognition of the right to vote for the electoral chamber was regulated by general legislation. At the proclamation of the Kingdom of Italy in 1861, a binary, censorial, and capacitarian mechanism, adopted with slight modifications from the Savoy state and based on the requirement of literacy, granted active political citizenship exclusively to the 7 % of adult males over 25 years of age. It distinguishes the plebiscites of 1848 – 1870 from their predecessors of 1797 – 1805 in that they are not so much characterised by pressure on voters or manipulation of the electoral franchise, but by participation according to the principle of “one nation, one vote”, in which the celebration of overt national identity openly takes the place of the expression of democracy. From 1848 onwards, and especially in the period from 1860 to 1870, a liberal-patriotic plebiscitary model emerged that was distinctive in confining itself to the formal profiles of electoral procedures rather than manipulating them, in polarising rather than diluting the choral and unanimous features of eighteenth- and nineteenth-century electoral practices, and in opening up unprecedented spaces for popular participation and unexpected avenues for youth and women’s emancipation. From a political point of view, the peculiarity of the plebiscitary moment of the Risorgimento was that it transformed an anti-pluralist institution of the Bonapartist matrix into a liberal-representative framework, leaving the united Italy with a founding myth that could be rejected as a vector of political mobilisation by both the monarchical-constitutional and radicalrepublican universes, depending on their profiles: A collective act of direct installation of executive power, a patriotic manifestation of nationhood, or an imaginary event redrawing the boundaries of citizenship in a comprehensive and radically democratic sense.
Volksabstimmungen auf der Krim und in der Ostukraine im Jahr 2014 Von Carolin Gornig* I. Gebietsreferenden 1. Pflicht zur Durchführung eines Referendums Plebiszite und Referenden sind Abstimmungen der wahlberechtigten Bürger über die Beibehaltung oder die Änderung des Status ihres Heimatlandes.1 Auf diese Weise wird den Bürgern die Möglichkeit eröffnet, an politischen Entscheidungsprozessen mitzuwirken2. Plebiszite und Referenden sind Instrumente der direkten Demokratie, so dass das Ergebnis der Abstimmung mit einem hohen Maß an politischer Legitimität ausgestattet ist. Im Völkerrecht bestehen allerdings keine Regelungen wann und auf welche Weise ein Referendum oder Plebiszit durchgeführt werden muss.3 Jedenfalls besteht bisher keine gewohnheitsrechtliche Pflicht zur Durchführung eines Referendums bei Gebietstransfers.4 Nach Art. 38 I lit. b. IGH-Statut ist das Völkergewohnheitsrecht „Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung“. Dafür sind in objektiver Hinsicht eine einheitliche Übung und in subjektiver Hinsicht eine Rechtsüber* Vgl. dazu C. Gornig, Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht, 2020. 1 H.-J. Heintze, Völker im Völkerrecht, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 7. Aufl. 2018, S. 373 ff. (385 ff. Rn. 22 ff.); Ch.-Y. Hu, Das Selbstbestimmungsrecht als eine Vorbedingung des völligen Genusses aller Menschenrechte. Eine Studie zu Art. I der beiden Menschenrechtskonventionen vom 16. Dezember 1966, S. 263; W. Seiffert, Selbstbestimmungsrecht und deutsche Vereinigung, 1992, S. 72. 2 G. Schmitz, Tibet und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1998, S. 318 f.; Chr. Hillgruber, Wer ist Träger des Selbstbestimmungsrechts, in: G. Gornig/H.-D. Horn/D. Murswiek (Hrsg.), Das Selbstbestimmungsrecht der Völker – eine Problemschau, 2013, S. 75 ff. (91); H.-J. Heintze (Anm. 1), in: K. Ipsen, S. 373 ff. (385 f. Rn. 22 ff.); W. Seiffert (Anm. 1), S. 72. 3 H.-J. Heintze (Anm. 1), in: K. Ipsen, S. 373 ff. (385 f. Rn. 22). 4 Chr. Hillgruber (Anm. 2), in: G. Gornig/H.-D. Horn/D. Murswiek, S. 75 ff. (91); Ch.-Y. Hu (Anm. 1), S. 263; G. Gornig, Territoriale Souveränität und Gebietshoheit und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: G. Gornig/A. A. Michel/Chr. Bohle (Hrsg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit Selbstbestimmungsrecht und Sezession aus interdisziplinärer Sicht, Schriftenreihe Europäische Studien, S. 11 ff. (39); A. Peters, Das Gebietsreferendum im Völkerrecht. Seine Bedeutung im Licht der Staatenpraxis nach 1989, 1995, S. 499; H.-J. Heintze (Anm. 1), in: K. Ipsen, S. 373 ff. (385 f. Rn. 22 ff.).
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zeugung vonnöten.5 Für eine allgemeine Übung (consuetudo) ist eine gewisse „Dauer, Einheitlichkeit und Verbreitung“, also Praxis, erforderlich6. Staaten müssen also übereinstimmend handeln, ohne dass gravierende Unterschiede sichtbar sind.7 Von Rechtsüberzeugung (opinio iuris) wird gesprochen, wenn die internationale Gemeinschaft ein Recht als gefestigte Grundposition ansieht.8 Für die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Pflicht zur Durchführung eines Referendums fehlt es nach verbreiteter Meinung an einer allgemeinen Übung, an einer Praxis, denn in neuerer Zeit seien immer noch nicht häufig genug Referenden im Zusammenhang mit einer Sezession9 durchgeführt worden, sodass jedenfalls keine ausreichend lange Dauer vorliege.10 Zwar kann auch während eines kürzeren Zeitraums11 bei ausreichender Frequenz und Bedeutsamkeit Völkergewohnheitsrecht entstehen12, aber auch daran fehlt es noch. An einer Rechtsüberzeugung, dass bei Gebietstransfers ein Referendum durchzuführen ist, scheitert jedenfalls bislang ebenfalls die Annahme von Völkergewohnheitsrecht, obwohl man sich in frei5 M. Krajewski, Völkerrecht, 2017, S. 91 f. Rn. 129 ff.; I. Breutz, Der Protest im Völkerrecht, 1997, S. 122; Chr. Stelter, Gewaltanwendung unter und neben der UN-Charta, 2007, S. 268; S. Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht – Ansatz einer Dogmatik, 2012, S. 76 Fn. 283; T. Stein/Chr. von Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl. 2012, S. 39 Rn. 124; vgl. J. Abr. Frowein/R. Kühner, Drohende Folterung als Asylgrund und Grenze für Auslieferung und Ausweisung, in: ZaöRV, Bd. 43 (1983), S. 537 ff. (541 f.); vgl. M. Bothe, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung in der Praxis internationaler Gerichte, in: ZaöRV, Bd. 36 (1976), S. 280 ff. (281). 6 G. Schotten, Wirtschaftssanktionen der Vereinten Nationen im Umfeld bewaffneter Konflikte. Zur Bindung des Sicherheitsrates an individualschützende Normen, 2007, S. 275; M. Krajewski (Anm. 5), S. 91 Rn. 129. 7 I. Breutz (Anm. 5), S. 122; T. Stein/Chr. von Buttlar (Anm. 5), S. 40 Rn. 126. 8 M. Krajewski, Völkerrecht, S. 92 Rn. 138; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht – Ansatz einer Dogmatik, S. 76 Fn. 283; T. Stein/Chr. von Buttlar (Anm. 5), S. 40 Rn. 129; I. Breutz (Anm. 5), S. 122; vgl. J. Abr. Frowein/R. Kühner (Anm. 5), in: ZaöRV, Bd. 43 (1983), S. 537 ff. (541 f.). 9 Peters führt die Referenden von 1990 bis 1994 auf (siehe A. Peters [Anm. 4], S. 85 f. Fn. 43]): Serbische Volksgruppe in Kroatien (1990 und 1991), Slowenien (1990), Litauen (1991), Estland und Lettland (1991), sowjetische Allunionsreferendum (1991), Georgien (1991), Kroatien (1991), Makedonien (1991), Armenien (1991), Albaner im Kosovo (1990), Turkmenistan (1991), muslimische Bevölkerung in Serbien-Montenegro (1991), Serben in Bosnien-Herzegowina für ein erneutes Jugoslawien (1991), Ukraine (1991), Transnistrien und Gagausien (1991), Nagorny Karabach (1991), Usbekistan (1991), Aserbaidschan (1991), Albaner in Makedonien (1992), Südossetien (1992), Tatarstan (1992), Bosnien-Herzegowina (1992), Montenegro (1992), Nunavut/Kanada (1992), Eritrea (1993), Bosnische Serben über den Vance-Owen-Plan (1993), estnische Städte Narva und Sillamäe (1993), Puerto Rico (1993), Moldawien (1994), Krim (1994). Es folgte: Quebec (1995), Montenegro (2006), Krim, Donezk, Luhansk (2014), Schottland (2014), Katalonien (2014). 10 G. Gornig (Anm. 4), in: G. Gornig/A. A. Michel/Chr. Bohle, S. 11 ff. (38 f.); A. Peters (Anm. 4), S. 73. 11 IGH, ICJ Rep. 1969, S. 4 (43 Rn. 74) (Festlandsockel-Fall). 12 A. Peters (Anm. 4), S. 318; G. Gornig (Anm. 4), in: G. Gornig/A. A. Michel/Chr. Bohle (Hrsg.), S. 11 ff. (39).
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heitlichen demokratischen Grundordnungen allenthalben bewusst ist, dass nur durch eine vorherige Volksabstimmung ein Gebietstransfer stattfinden kann. Abgesehen vom Fall Westsahara, in dem die dortige Verwaltung („administering power“) durch eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 20. Dezember 1966 aufgefordert wurde13, eine Volksabstimmung in Absprache („in consultation“) mit Marokko und Mauretanien durchzuführen, hat sich die Staatengemeinschaft bisher nicht zur Abhaltung eines Referendums verpflichtet gefühlt.14 2. Vorgaben der Venedig-Kommission Die „European Commission for Democracy through Law“, auch bezeichnet als „Venice-Commission“ mit Sitz in Venedig, wurde am 10. März 1990 durch das Ministerkomitee des Europarates gegründet15 ; sie besteht aus 62 Vollmitgliedern.16 Zunächst setzte sich die Venedig-Kommisssion aufgrund eines Teilabkommens aus 18 Mitgliedern zusammen, im Jahr 2002 kamen Nichtmitglieder des Europarates durch ein erweitertes Abkommen hinzu.17 Sie ist eine unabhängige beratende Einrichtung des Europarates. Ihr Ziel ist unter anderem die verfassungsrechtliche Beratung sowie die Aufklärung über verschiedene Rechtssysteme und deren Harmonisierung.18 Im Jahr 2002 veröffentlichte die Kommission einen Verhaltenskodex für Wahlen19 und im Jahr 2007 den „Code of Good Practice on Referendums“20. Die Vorgaben über die Abhaltung von Referenden stellen allerdings lediglich Empfehlungen dar, da die Venedig-Kommission nur eine beratende Funktion hat. 13
A/RES/2229 (XXI) vom 20. 12. 1996, Rn. 4. A. Peters (Anm. 4), S. 75 ff.; G. Gornig (Anm. 4), in: G. Gornig/A. A. Michel/Chr. Bohle (Hrsg.), S. 11 ff. (39). 15 K. Brummer, Der Europarat. Eine Einführung, 2008, S. 221. 16 Council of Europe, Venice Commission, unter: https://www.venice.coe.int/WebForms/ pages/?p=01_Presentation&lang=DE. 17 Alle Mitgliedstaaten des Europarats sind Mitglieder der Venedig-Kommission. Kirgisien trat 2004 bei, Chile 2005, die Republik Korea und Montenegro 2006, Marokko and Algerien 2007 sowie Israel 2008, Peru und Brasilien 2009, Tunesien und Mexiko 2010, Kasachstan 2011, USA 2013, Kosovo 2014, Costa Rica 2016 und Kanada 2019. Damit hat die Kommission insgesamt 62 Vollmitglieder. Belarus ist assoziiert, während Argentinien, der Heilige Stuhl, Japan und Uruguay Beobachterstatus haben. Südafrika und die Palästinensische Nationalbehörde haben einen besonderen Kooperationsstatus, ähnlich dem Beobachterstatus. So: Council of Europe. Venice Commission https://www.venice.coe.int/WebForhttps://www.ve nice.coe.int/WebForms/pages/?p=01_Presentation&lang=DEms/pages/?p=01_Presentation& lang=DE (08. 07. 2022). Vgl. auch K. Brummer (Anm. 15), S. 221. 18 K. Brummer (Anm. 15), S. 222. 19 European Commission for Democracy through Law, Verhaltenskodex für Wahlen, unter: https ://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx ?pdffile=CDLAD(2002)023rev2-cor-ger (08. 07. 2022). 20 Europäische Kommission für Demokratie durch Recht, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile= CDL-AD(2007)008-e (08. 07. 2022). 14
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Folgende Anforderungen sind nach der Venedig-Kommission für eine ordnungsgemäße Durchführung eines Referendums Voraussetzung: - Verfassungsmäßigkeit - Organisation durch eine unparteiische Stelle - neutrale Fragestellung - Meinungsäußerungsfreiheit (allgemeine, freie und geheime Abstimmung) - Bedenkzeit - friedliche Durchführung - internationale Beobachter - Beschwerdestelle - vorherige Verhandlung.21 Aus völkerrechtlicher Sicht ist die Frage der Verfassungsmäßigkeit aufgrund des höheren Ranges des Völkerrechts nicht relevant. Ein staatliches Verbot ein Referendum durchzuführen tangiert also das völkerrechtliche Selbstbestimmungsrecht der Völker als ius cogens nicht. Eine vorherige Verhandlung über den Gebietstransfer ist ebenfalls nicht zwingend vorausgesetzt, sie hat keinen Einfluss auf die Legitimität eines Referendums. Verstöße gegen die Forderung einer neutralen Fragestellung, einer ausreichenden Bedenkzeit – solange es einen gewisse Vorlaufzeit gewährt ist – sowie des Vorhandenseins einer Beschwerdestelle führen nicht zur Rechtswidrigkeit. Das wäre zu weitgehend. Anders ist dies bei den Verpflichtungen die Meinungsäußerungsfreiheit zu garantieren, die Friedlichkeit der Abstimmung zu sichern sowie die Beobachtung von internationaler Seite zu gewährleisten. Die Respektierung dieser Vorgaben ist für die Glaubwürdigkeit der Abstimmung konstitutiv und damit auch für die internationale Anerkennung des Referendums. Anne Peters spricht bezüglich der drei zuletzt erwähnten Kriterien bereits von völkergewohnheitsrechtlichen Vorgaben zur Durchführung eines Referendums. Ein solches müsse im Zusammenhang mit der Meinungsäußerung „allgemein, geheim, frei und fair“22 sein. Für die Friedlichkeit sei Militär auf das Nötigste zu beschränken und internationale Beobachter seien zwingend notwendig.23
21 European Commission for Democracy through Law, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDLAD(2007)008-e, S. 5 ff. (08. 07. 2022); vgl. A. Peters, Das Völkerrecht der Gebietsreferenden, in: Osteuropa 2014, S. 101 ff. (118); vgl. A. Peters (Anm. 4), S. 500. 22 A. Peters (Anm. 4), S. 512. 23 A. Peters (Anm. 4), S. 501, 512 f.
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II. Ereignisse auf der Krim „Der Heilige Wladimir Großfürst der Rus (hat sich auf der Krim) taufen (lassen). Seine geistige Heldentat, die Hinwendung zur Orthodoxie, hat die gemeinsame kulturelle, wertmäßige und zivilisatorische Grundlage definiert, welche die Völker Russlands, der Ukraine und Weißrusslands verbindet. (…) Im Herzen und im Bewusstsein der Menschen war und bleibt die Krim ein untrennbarer Teil Russlands. Diese Überzeugung, die vor allem auf der Wahrheit und Gerechtigkeit basiert, wurde von Generation zu Generation übertragen“24, so Putin in seiner Rede am 18. März 2014, um die Zugehörigkeit der Krim zu Russland historisch fragwürdig, jedenfalls völkerrechtlich irrelevant zu belegen. Am 27. Februar 2014 wurde nach Besetzung der Krim eine neue Regierung mit Ministerpräsidenten Sergej Aksjonow an der Spitze (* 1972) etabliert.25 Kurz darauf, am 11. März 2014, folgte die Ausrufung der Unabhängigkeit der Krim von der Ukraine.26 Zur Ermittlung des Willens der Bevölkerung wurde auf der Krim am 16. März 2014 ein Referendum abgehalten. Dieses sollte Aufschluss darüber geben, ob eine Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine oder zur Russländischen Föderation gewünscht ist.27 Laut Angaben des Veranstalters hätten 96,7 Prozent – bei Beteiligung von 83,1 Prozent28 – für den Anschluss der Halbinsel an die Russische Föderation gestimmt.29 24 Rede von Wladimir Putin am 18. 03. 2014 mit deutscher Übersetzung, unter: https:// www.youtube.com/watch?v=NAU1GJZBhPg (08. 07. 2022). 25 M. Porsche-Ludwig, Krimkrise und Völkerrecht, in: J. Bellers/M. Porsche-Ludwig (Hrsg.), Der Ukraine-Krieg 2014. Völkerrecht, historische Wurzeln, EU-Außenpolitik – westliche Dekadenz versus alteuropäischer Moral, 2014, S. 9 ff. (14); M. Malek, Moskaus Schlachtpläne. Hintergründe zu Russlands Krieg in der Ukraine, in: Osteuropa 2014, S. 97 ff. (100 f.); M. Fabry, How to Uphold the Territorial Integrity of Ukraine, in: German Law Journal, vol. 3 (2015), S. 416 ff. (418); K. Schuller, Die Landnahme, in: FAZ vom 10. 03. 2015, S. 3; O. Luchterhandt, Die Völkerrechtswidrigkeit der Unabhängigkeitserklärung und des Referendums der Krim, in: Ost/Mag Nr. 2 (2014), S. 1 ff. (2). 26 Legal Advisory Committee, in: Kieler Ostrechts-Notizen 2/2014 – 1/2015, S. 4 ff. (4); A. Peters, Verletzt der Anschluss der Krim an Russland das Völkerrecht?, in: Plädoyer 2014 (März), S. 19 ff. (19); M. Malek (Anm. 25), in: Osteuropa 2014, S. 97 ff. (103); M. PorscheLudwig (Anm. 25), in: J. Bellers/M. Porsche-Ludwig, S. 9 ff. (14); K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ vom 10. 03. 2015, S. 3; N. Paech, Wem gehört die Krim? Die Krimkrise und das Völkerrecht, in: P. Strutynski (Hrsg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen, 2014, S. 54 ff. (56). 27 N. Paech (Anm. 26), in: P. Strutynski, S. 54 ff. (56); A. Peters (Anm. 26), in: Plädoyer 2014, S. 19 ff. (19); Chronik vom 07.04.-11. 05. 2014, in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 37; K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ 10. 03. 2015, S. 3; Dokumentation der Ansprache Putins am 18. 03. 2014, in: Wostok, vol. 1 (2014), S. 24. 28 N. Paech (Anm. 26), in: P. Strutynski, S. 54 ff. (56); Chronik vom 07.04.-11. 05. 2014, in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 37; K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ 10. 03. 2015, S. 3; Dokumentation der Ansprache Putins am 18. 03. 2014, in: Wostok 1 (2014), S. 24 ff. (24); J. Vidmar, The Annexation of Crimea and the Boundaries of the Will of the People, in: German Law Journal 3 (2015), S. 365 ff. (365).
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International, mit Ausnahme einiger eng mit Russland verbundener Staaten sowie China, wurde kritisiert, dass das Referendum auf der Krim nicht unter Beachtung der internationalen Standards, insbesondere des Code of Good Practice on Referendums, abgehalten wurde und damit keine Aussagekraft habe. 1. Referendum auf der Krim a) Verfassungsmäßigkeit Wie bereits angeführt, kann die Verfassungsmäßigkeit keine zwingende Voraussetzung für Beurteilung der Völkerrechtsmäßigkeit sein, aber im Code of Good Practice on Referendums ist diese Vorgabe aufgeführt. Zwar ist in Art. 138 Nr. 2 der Verfassung der Ukraine vom 28. Juni 1996 festgeschrieben, dass örtliche Volksabstimmungen auf der Halbinsel erlaubt sind, aber laut Art. 73 der ukrainischen Verfassung werden Fragen der Veränderung des ukrainischen Staatsgebietes durch ein all-ukrainisches Referendum entschieden. Bei dem Referendum am 16. März 2014 wurde aber lediglich die Bevölkerung auf der Halbinsel und nicht die gesamte Bevölkerung der Ukraine beteiligt. Zudem wird in Art. 134 beschrieben, dass die Krim untrennbarer Bestandteil der Ukraine ist.30 Aus diesem Grunde verstößt das Referendum auf der Halbinsel, wie die VenedigKommission konstatierte, gegen die Verfassung der Ukraine.31 In den Verfassungen der Autonomen Republik der Krim vom 6. Mai 1992, vom 1. November 1995 und vom 21. Oktober 1998 ist die Autonomie der Krim innerhalb der Ukraine verankert.32 Die erste Krim-Verfassung vom 6. Mai 1992 erklärte die Krim zugleich zu einem unabhängigen Staat und einem Bestandteil der Ukraine. Eine Kompromissverfassung trat am 25. September 1992 in Kraft. In Art. 135 II der Verfassung der Ukraine ist der Vorrang der Verfassung der Ukraine festgelegt.
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M. Malek (Anm. 25), in: Osteuropa 2014, S. 97 ff. (103); U. Halbach, Repression nach der Annexion, in: Osteuropa 2014, S. 179 ff. (183); U. Halbach, Repression nach der Annexion, in: Ukraine-Analysen Nr. 141 (13. 11. 2014), S. 2 ff. (3); W. Gerns, Die Wiedervereinigung der Krim mit Russland, in: P. Strutynski (Hrsg.), Ein Spiel mit dem Feuer. Die Ukraine, Russland und der Westen, 2014, S. 38 ff. (38); K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ 10. 03. 2015, S. 3; M. Porsche-Ludwig (Anm. 25), in: J. Bellers/M. Porsche-Ludwig, S. 9 ff. (14); A. Peters (Anm. 26), in: Plädoyer 2014, S. 19 ff. (19); M. Fabry (Anm. 25), in: German Law Journal 3 (2015), S. 416 ff. (418). 30 In Art. 134 heißt es: „Die Autonome Republik Krim ist untrennbarer Bestandteil der Ukraine und regelt die in ihre Zuständigkeit verwiesenen Fragen im Rahmen der durch die Verfassung der Ukraine bestimmten Befugnisse.“ 31 European Commission for Democracy through Law, Opinion, unter: http://www.venice. coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2014)002-e, S. 3 f. (08. 07. 2022). 32 G. Sasse, Die autonome Republik der Krim zwischen Separatismus und Einheitsstaat, in: G. Simon (Hrsg.), Die neue Ukraine, Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (1991 – 2001), S. 127 (141 f.).
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Eine Handlung, die die Verfassung der Krim verletzt, bedeutet gleichzeitig einen Verstoß gegen die Verfassung der Ukraine.33 b) Organisator Die Venedig-Kommission verlangt, dass für die Organisation des Referendums ein unparteiisches Gremium zuständig ist.34 Hier war das neue Parlament der Krim mit dem neu gewählten Ministerpräsident Sergej Aksjonow, welches wenige Tage zuvor besetzt wurde, für die Organisation verantwortlich. Die Sitzung mit der Wahl des Ministerpräsidenten war nicht öffentlich35. Von Unparteilichkeit konnte also keine Rede sein. c) Neutrale Fragestellung Das Erfordernis einer neutralen Fragestellung verlangt, dass die Frage klar verständlich und nicht irreführend gestellt wird. Die Frage darf suggestiv keine Antwort besonders nahelegen und sie sollte mit „ja“ oder „nein“ bzw. mit Enthaltung beantwortet werden können.36 Die Fragestellungen im Referendum auf der Krim lauteten: „1) Do you support the reunification of the Crimea with Russia as a subject of the Russian Federation? (Unterstützen Sie die Wiedervereinigung der Krim mit Russland als ein Subjekt der Russischen Föderation?) 2) Do you support the restoration of the Constitution of the Republic of Crimea as of 1992 and the status of the Crimea as a part of Ukraine? (Unterstützen Sie die Wiederherstellung der Verfassung der Republik Krim ab 1992 und den Status der Krim als Teil der Ukraine?)“.37 Die Fragestellung war nicht neutral, denn mit „Ja“ oder „Nein“ konnte man sich nicht äußern,38 da die beiden Fragen als Alternativen erschienen und man nicht mit 33 European Commission for Democracy through Law, Opinion, unter: http://www.venice. coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2014)002-e, S. 2 f. (08. 07. 2022). 34 European Commission for Democracy through Law, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDLAD(2007)008-e, S. 9 (08. 07. 2022). 35 O. Luchterhandt (Anm. 25), in: Ost/Mag Nr. 2 (2014), S. 1 ff. (2); K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ 10. 03. 2015, S. 3. 36 European Commission for Democracy through Law, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDLAD(2007)008-e, S. 7 (08. 07. 2022); MacLaren, „Trust the People“? Democratic Secessionism and Contemporary Practice, in: German Law Journal 3 (2015), S. 631 ff. (647). 37 European Commission for Democracy through Law, Opinion, unter: http://www.venice. coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2014)002-e, S. 2 (08. 07. 2022); vgl. K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ 10. 03. 2015, S. 3; J. Vidmar (Anm. 28), in: German Law Journal 3 (2015), S. 365 ff. (381). 38 „5. On the ballot paper the two questions appear as alternatives, i. e. the voters are not asked to say yes or no to each question but they can either vote for the first or the second
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„ja“ oder „nein“ auf jede Frage antworten konnte. Ferner war der derzeitige Zustand, die Krim als Teil der Ukraine zu belassen, keine Option39. Zudem ist die zweite Frage hinsichtlich der Einführung der Krim-Verfassung von 1992 irreführend, da nicht hinreichend klar ist, ob sich die Frage auf die Verfassung mit Text vom 6. Mai 1992 oder vom 25. September 1992 bezog.40 Die Krim-Verfassung vom 6. Mai 1992 setzte die Halbinsel im Rahmen einer Konföderation als Bestandteil der Ukraine fest (Art. 9), die Krim war aber nach Art. 2 ein souveräner Staat, so dass die Beziehungen zwischen der Krim und der Ukraine Beziehungen wie zwischen souveränen Staaten sein sollten. Anders hingegen äußerte sich die Verfassung vom 25. September 1992, wonach die Republik Krim lediglich Bestandteil der Ukraine war. Die Bezüge auf einen selbständigen Krim-Staat verschwanden aus dem Verfassungstext, die Zugehörigkeit zum ukrainischen Staat wurde bekräftigt.41 d) Meinungsäußerungsfreiheit Die Venedig-Kommission erläutert hinsichtlich der Meinungsäußerungsfreiheit, dass die Organisatoren neutral unter anderem in Bezug auf Kampagnen und Informationsmaterial handeln müssen. Ferner müssen die notwendigen Informationen den Bürgern rechtzeitig zur Verfügung stehen.42 Vor der Abstimmung wurde eine große Kampagne mit Werbung für den Anschluss an die Russische Föderation gemacht.43 Ob auch für die Zugehörigkeit der alternative“, European Commission for Democracy through Law, Opinion, unter: http://www. venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2014)002-e, S. 2 (08. 07. 2022). 39 J. Vidmar (Anm. 28), in: German Law Journal, vol. 3 (2015), S. 365 ff. (371 f.); O. Luchterhandt (Anm. 25), in: Ost/Mag Nr. 2 (2014), S. 1 ff. (5); K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ vom 10. 03. 2015, S. 3. 40 European Commission for Democracy through Law, Opinion, unter: http://www.venice. coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2014)002-e, S. 5 f. (08. 07. 2022). 41 G. Sasse, Die Krim – regionale Autonomie in der Ukraine, in: Bericht des BIOst Nr. 31/ 1998, S. 10, vgl. auch https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/4361/ssoar1998-sasse-die_krim_-_regionale_autonomie.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname= ssoar-1998-sasse-die_krim_-_regionale_autonomie.pdf (08. 07. 2022).; ferner: H.-J. Heintze, Völkerrecht und Sezession – Ist die Annexion der Krim eine zulässige Wiedergutmachung sowjetischen Unrechts?, in: HuV 2014, S. 129 ff. (130); A. Peters, Das Völkerrecht der Gebietsreferenden, in: Osteuropa 2014, S. 101 (106); O. Luchterhandt, Die Krim-Krise von 2014, in: Osteuropa 2014, S. 61 ff. (64); G. Sasse (Anm. 32), in: G. Simon, S. 127 ff. (135/ 140); J. Zofka, Halbinsel unter Spannung? Konfliktlagen auf der Krim seit dem Zerfall der Sowjetunion, in: Ukraine-Analysen Nr. 12 (26. 09. 2006), S. 2; vgl. M. Malek, Die Krim im russisch-ukrainischen Spannungsfeld, in: Osteuropa 6 (1993), S. 551 ff. (556). 42 European Commission for Democracy through Law, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDLAD(2007)008-e, S. 6 f. (08. 07. 2022). 43 Siehe das Foto: S. Tjong, Die sieben wichtigsten Fragen zum Krim-Referendum, in: Focus-online 16. 03. 2014, unter: http://www.focus.de/politik/ausland/putin-schafft-fakten-derwesten-diskutiert-die-sieben-wichtigsten-fragen-zum-krim-referendum_id_3679901.html (08. 07. 2022).
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Krim zur Ukraine eine Kampagne stattfand, ist nicht bekannt. Nach Informationen der Presse fand auf der Halbinsel kein objektiver Informationsaustausch statt44, es lag vielmehr eine einseitige Kampagne vor. e) Bedenkzeit Die Venedig-Kommission führt ferner die Vorgabe auf, dass dem Bürger der Text mit einem erläuternden Bericht bzw. Wahlkampfmaterial rechtzeitig, mindestens zwei Wochen vorher, zur Verfügung gestellt werden muss.45 Das Parlament der Krim diskutierte am 27. Februar 2014 das Referendum und setzte es auf den 25. Mai 2014 fest. Bereits am 1. März 2014 wurde jedoch beschlossen es am 30. März 2014 stattfinden zu lassen. Letztlich wurde es dann auf den 16. März 2014 vorverlegt46. Der Bevölkerung wurde dadurch nicht ausreichend Bedenkzeit gegeben.47 Das Formulieren, Ausdrucken und Verteilen der Abstimmungsfragen an über zwei Millionen Bürger waren nicht an einem Tag nach dem Beschluss organisierbar, um eine Bekanntmachung 14 Tage vorher zu bewerkstelligen. Zum Teil sollen die Bürger erst zwei Tage vor dem 16. März mit den Unterlagen versorgt worden sein.48 f) Friedliche Durchführung Die Venedig-Kommission verlangt weiterhin eine friedliche Abhaltung von Referenden ohne Einschüchterung und Betrug.49 Die Anwesenheit von Militär führt nicht zwangsläufig dazu, die Friedlichkeit zu verneinen. Dennoch genügte das Referendum auf der Krim nicht den Anforderungen der friedlichen Durchführung.50 44 B. Bidder, Krim-Referendum: Putins Scheinsieg, in: Spiegel-online 16. 03. 2014, unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/krim-referendum-bewohner-feiern-ukraine-abspaltung-a958969.html (08. 07. 2022). 45 European Commission for Democracy through Law, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDLAD(2007)008-e, S. 17 (08. 07. 2022). 46 N. Paech (Anm. 26), in: Strutynski, S. 54 ff. (56); Chronik vom 07.04.-11. 05. 2014, in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 37; K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ vom 10. 03. 2015, S. 3; Dokumentation der Ansprache Putins am 18. März 2014, in: Wostok, vol. 1 (2014), S. 24 ff. (24). 47 B. Bidder (Anm. 44), in: Spiegel-online 16. 03. 2014, unter: http://www.spiegel.de/politik/ ausland/krim-referendum-bewohner-feiern-ukraine-abspaltung-a-958969.html (08. 07. 2022). 48 B. Bidder (Anm. 44), in: Spiegel-online 16. 03. 2014, unter: http://www.spiegel.de/politik/ ausland/krim-referendum-bewohner-feiern-ukraine-abspaltung-a-958969.html (08. 07. 2022). 49 European Commission for Democracy through Law, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDLAD(2007)008-e, S. 8 (08. 07. 2022). 50 So auch W. Jilge, Geschichtspolitik statt Völkerrecht. Anmerkungen zur historischen Legitimation der Krim-Annexion in Russland, in: Ukraine-Analysen Nr. 291 (27. 02. 2015),
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Insbesondere die krimtatarische Minderheit hatte nicht das Gefühl, ungezwungen ihre Stimme abgeben zu können. Zudem waren Ende Februar 2014 uniformierte russische Truppen51 in die Krim einmarschiert. Auch wenn Putin in einem Interview davon sprach, dass das russische Militär52 Blutvergießen vermeiden sollte und er so Menschen die Chance geben wollte, ohne Zwang, am Referendum teilzunehmen53, ist Putins Intention unbeachtlich. Entscheidend ist schließlich das Empfinden der Abstimmenden im Gesamtkontext. g) Internationale Beobachtung Ein Referendum muss unter internationaler Beobachtung – nicht nur auf den Wahltag beschränkt – stattfinden.54 Dies war hier nicht der Fall. Unabhängigen Beobachtern der OSZE war der Zutritt auf die Krim nicht gestattet.55 Es gab lediglich eigene „Beobachter“ der Organisatoren. Eine vorherige Wahlumfrage veranstaltete nur eine ausgesuchte Einrichtung.56 h) Beschwerdemöglichkeit Außerdem verlangt die Venedig-Kommission eine Beschwerdeinstanz, wie eine Wahlkommission oder ein Gericht.57 Von einer solchen ist nichts bekannt.
S. 2 ff. (3); A. Peters (Anm. 26), in: Plädoyer 2014, S. 19 ff. (19). Anderer Ansicht: M. Geistlinger (Anm. 61), in: AVR, Bd. 52 (2014), S. 175 ff. (201). 51 Gemeint sind russische Soldaten. 52 O. Luchterhandt (Anm. 25), in: Ost/Mag Nr. 2 (2014), S. 1 ff. (5); O. Luchterhandt, Der Anschluss der Krim an Russland aus völkerrechtlicher Sicht, in: AVR 52 (2014), S. 137 ff. (157); vgl. N. Paech (Anm. 26), in: Strutynski, S. 54 ff. (56); vgl. A. Peters (Anm. 26), in: Plädoyer 2014, S. 19 ff. (19); vgl. A. Catala, Secession and Annexation: The Case of Crimea, in: German Law Journal 3 (2015), S. 581 ff. (602); European Commission for Democracy through Law, Opinion, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDLAD(2014)002-e, S. 5 (08. 07. 2022). 53 Das Interview mit Putin vom November 2014 mit deutscher Übersetzung ist zu sehen unter: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-40641.html (08. 07. 2022). 54 European Commission for Democracy through Law, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDLAD(2007)008-e., S. 10 (08. 07. 2022). 55 A. Peters (Anm. 26), in: Plädoyer 2014, S. 19 ff. (19); M. Porsche-Ludwig (Anm. 25), in: J. Bellers/M. Porsche-Ludwig, S. 9 ff. (15). 56 K. Schuller (Anm. 25), in: FAZ vom 10. 03. 2015, S. 3. 57 European Commission for Democracy through Law, Code of Good Practice on Referendums, unter: http://www.venice.coe.int/webforms/documents/default.aspx?pdffile=CDLAD(2007)008-e, S. 10 (08. 07. 2022).
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i) Vorherige Verhandlung Die Venedig-Kommission spricht schließlich von dem Versäumnis, vor der Volksabstimmung Verhandlungen mit den Menschen durchgeführt zu haben58, welche aufgrund der zahlreichen Ethnien auf der Krim sicherlich förderlich gewesen wären. j) Resultat Das anberaumte Referendum zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts auf der Krim genügte nicht den internationalen Standards.59 Zwar stellen die Vorgaben der Venedig-Kommission nur Empfehlungen dar; sie – und nicht die Durchführung der Volksabstimmung – sind aber teilweise zu Völkergewohnheitsrecht60 erstarkt, teilweise kann zumindest von allgemeinen Rechtsgrundsätzen gesprochen werden, sodass der Grundsatz „ex iniuria ius non oritur“ gilt, wonach aus Unrecht kein Recht entstehen kann. Das Referendum war folglich unbeachtlich.61 Wladimir Putin erklärte allerdings, dass das Referendum unter Beachtung der internationalen Normen abgehalten wurde.62 2. Sezession der Krim Allerdings ist die fehlende Einhaltung der internationalen Standards bei dem Referendum bereits aus anderem Grund nicht ausschlaggebend. Eine Sezession, also die einseitige Abspaltung eines Teils eines Staatsgebietes infolge des Wunsches eines Volkes oder einer Volksgruppe63, bedarf zur Geltendmachung eines Trägers 58 European Commission for Democracy through Law, Opinion, unter: http://www.venice. coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2014)002-e, S. 6 (08. 07. 2022). 59 So auch das European Commission for Democracy through Law, Opinion, unter: http:// www.venice.coe.int/webforms/documents/?pdf=CDL-AD(2014)002-e, S. 6 (08. 07. 2022); so auch A. Peters, Das Völkerrecht der Gebietsreferenden, in: Osteuropa 2014, S. 101 ff. (130). 60 A. Peters (Anm. 4), S. 501/512 f. 61 H.-J. Heintze (Anm. 41), in: HuV 2014, S. 129 ff. (137); H.-J. Heintze, Der völkerrechtliche Status der Krim und ihrer Bewohner, in: FW 89 (2014), S. 153 ff. (172). Geistlinger meint, auch wenn man 10 Prozent der Stimmen für die Unabhängigkeit der Krim abzieht, um Unregelmäßigkeiten bei dem Referendum gerecht zu werden, spreche das Ergebnis immer noch für die Unabhängigkeit der Halbinsel, siehe M. Geistlinger, Der Beitritt der Republik Krim zur Russländischen Föderation, in: AVR, Bd. 52 (2014), S. 175 ff. (201 f.). Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass solche Rechnungen willkürlich sind und gefälschte Abstimmungen nicht durch eine Prognose legitimiert werden können. Liegen Unregelmäßigkeiten in einem Referendum vor, muss dieses unter Einhaltung demokratischer Grundsätze wiederholt werden. 62 Rede von Wladimir Putin am 18. 03. 2014 mit deutscher Übersetzung, unter: https:// www.youtube.com/watch?v=NAU1GJZBhPg (08. 07. 2022). 63 A. von Arnauld, Völkerrecht, 2009, S. 38 Rn. 100; Th. Marauhn, Der aktuelle Fall: Die Auseinandersetzung um die Unabhängigkeitsbestrebungen der jugoslawischen Teilrepublik Slowenien – Das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Wandel –, in: HuV 1991, S. 107 ff. (109); G. Gornig, Der Inhalt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien, Sonder-
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des Selbstbestimmungsrechts. Ein tauglicher Träger lag hier aber nicht vor, denn die „Krimbevölkerung“ stellt kein Volk dar. Die Bevölkerung der Krim setzt sich aus über hundert Ethnien zusammen64, darunter 62 Prozent Russen, 24 Prozent Ukrainer und 10 Prozent Krimtataren65. Ein „Volk“ liegt vor, wenn in subjektiver Hinsicht eine innere Verbundenheit und die eigene Identität als Volk mit einem gemeinsamen politischen Willen vorliegen66 und in objektiver Hinsicht das Volk beispielsweise eine gemeinsame Abstammung, Sprache, Historie, Religion, Kultur oder ein gemeinsames Territorium hat.67 Für eine „Krimbevölkerung“ fehlen die gerade genannten Gemeinsamkeiten. Insbesondere hinsichtlich der Ethnie, Geschichte sowie der Religion bestehen Unterschiede und eine innere Verbundenheit ist nicht ersichtlich. Nach umstrittener Auffassung kann eine Minderheit Träger des Selbstbestimmungsrechts der Völker sein. Allerdings wohnte die ethnisch russische Bevölkerung auf der Krim – auch wenn sie eine Bevölkerungsmehrheit von ca. 62 Prozent68 ausmachte – nicht in einem geschlossenen Siedlungsgebiet. Darüber hinaus wäre die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker nur als Notwehrrecht (sog. remedial secession) als absoluter Ausnahmefall zur Wahrung des Friedens zulässig.69 Für die Geltendmachung heft 6 (1993), S. 11 ff. (18); M. Ott, Das Recht auf Sezession als Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts der Völker, 2008, S. 41; A. Peters, Völkerrecht. Allgemeiner Teil, 2. Aufl. 2008, S. 50 Rn. 13; St. Hobe, Einführung in das Völkerrecht, 10. Aufl. 2014, S. 103; B. Schöbener, Staatennachfolge, in: B. Schöbener (Hrsg.), Völkerrecht. Lexikon zentraler Begriffe und Themen, 2014, S. 411 ff. (413). 64 G. Sasse (Anm. 32), in: G. Simon, S. 127 ff. (132). 65 G. Sasse (Anm. 32), in: G. Simon, S. 127 ff. (132); siehe auch die Zahlen von 2000; T. Kuzio, Ukraine – Crimea – Russia. Triangle of Conflict, 2007, S. 100. 66 H.-J. Heintze, Selbstbestimmungsrecht und Minderheitenrechte im Völkerrecht, 1999, S. 43 f.; Chr. Hillgruber (Anm. 2), in: G. Gornig/H.-D. Horn/D. Murswiek, S. 75 ff. (82); B. Kempen/Chr. Hillgruber, Völkerrecht, 2. Aufl. 2012, S. 43 Rn. 75; D. Thürer, Das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts, in: Politische Studien, Bd. 6 (1993), S. 30 ff. (34); O. Franz, Osttimor und das Recht auf Selbstbestimmung, 2005, S. 104; O. Luchterhandt (Anm. 52), in: AVR, Bd. 52 (2014), S. 137 ff. (143); K. Wodarz, Gewaltverbot, Menschenrechtsschutz und Selbstbestimmungsrecht im Kosovo-Konflikt, 2002, S. 173; Z. Kaculevski, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Minderheitenschutz. Eine Fallstudie zur FYROM, 2007, S. 93. 67 Z. Kaculevski (Anm. 66), S. 92; B. Kempen/Chr. Hillgruber (Anm. 66), S. 43 Rn. 75; H.-J. Heintze (Anm. 66), S. 44; O. Luchterhandt (Anm. 52), in: AVR, Bd. 52 (2014), S. 137 ff. (143); D. Thürer (Anm. 66), in: Politische Studien, Bd. 6 (1993), S. 30 (34); H. J. Heintze (Anm. 1), in: K. Ipsen, S. 316 ff. (340 Rn. 33); K. Wodarz (Anm. 66), S. 174; O. Franz (Anm. 66), S. 104; vgl. Chr. Hillgruber (Anm. 2), in: G. Gornig/H.-D. Horn/D. Murswiek, S. 75 ff. (81). 68 G. Sasse (Anm. 32), in: G. Simon, S. 127 ff. (132). 69 A. Peters (Anm. 26), in: Plädoyer 2014, S. 19 ff. (19); P. Hilpold, Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: A. Reinisch (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Band I, S. 398 ff. (400 Rn. 1527); O. Luchterhandt (Anm. 52), in: AVR 52 (2014), S. 137 ff. (153); P. Hilpold, Die Sezession im Völkerrecht, in: P. Hilpold (Hrsg.), Das Kosovo-Gutachten des IGH vom 22. Juli 2010, 2012, S. 49 ff. (69); H.-J. Heintze (Anm. 1), in: K. Ipsen, S. 316 ff. (356 Rn. 53); vgl. A. Peters, Das Kosovo-Gutachten und globaler Konstitutionalismus, in: P. Hilpold (Hrsg.), Das Kosovo-Gutachten des IGH vom 22. Juli 2010, 2012, S. 229 ff. (236).
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einer Abspaltung eines Volkes oder einer Volksgruppe vom zugehörigen Staat müssen die Verweigerung der inneren Selbstbestimmung sowie erhebliche Diskriminierungen oder massive Menschenrechtsverletzungen vorliegen.70 Aber weder die Russen auf der Krim noch die sonstige Bevölkerung der Halbinsel war erheblichen Verletzungen von Menschenrechten ausgesetzt.71 Zudem fanden keine längeren diplomatischen Gespräche für ein besseres Miteinander der verschiedenen Ethnien auf der Krim statt72. Voraussetzung für das Sezessionsrecht ist aber, dass alle anderen Möglichkeiten, um eine Abspaltung zu verhindern, erschöpft sein müssen.73 Im Ergebnis konnten sich weder die Bevölkerung der Krim noch die ethnischen Russen auf der Halbinsel abspalten. Daher ist die Krim de iure weiterhin Teil der Ukraine.74 III. Ostukraine Am 7. April 2014 wurde die Unabhängigkeit in Donezk75 und am 27. April 2014 in Luhansk erklärt76. Am 11. Mai 2014 wurde jeweils in Donezk und Luhansk ein Referendum über ihre Unabhängigkeit durchgeführt. In Donezk sollen sich nach Aussage der Veranstalter 71 Prozent an dem Referendum beteiligt und 89 Prozent Nach Hilpolds Ansicht existiert kein Remedial Secession, siehe P. Hilpold, Das KosovoProblem – ein Testfall für das Völkerrecht, in: ZaöRV, Bd. 68 (2008), S. 779 ff. (800). Grundsätzlich existiert kein Sezessionsrecht, so Chr. Hillgruber/B. Kempen, Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes und der Teso-Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, in: ROW 1989, S. 323 ff. (324); vgl. St. Oeter, Sezession, territoriale Integrität und die Rolle des Sicherheitsrates, in: P. Hilpold (Hrsg.), Das Kosovo-Gutachten des IGH vom 22. Juli 2010, 2012, S. 83 ff. (91). 70 St. Oeter, Selbstbestimmungsrecht im Wandel, in: ZaöRV, Bd. 52 (1992), S. 741 ff. (772 f.); vgl. A. Peters (Anm. 41), in: Osteuropa 2014, S. 101 ff. (120); P. Hilpold (Anm. 69), in: A. Reinisch (Hrsg.), Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Band I, S. 398 ff. (400 Rn. 1527); St. Hobe (Anm. 63), S. 120; vgl. P. Hilpold (Anm. 69), in: P. Hilpold, S. 49 ff. (69 f.); vgl. C. Ebenroth, Staatensukzession und internationales Privatrecht, in: BDGVR 35 (1996), S. 235 ff. (272). – Nur im Ausnahmefall sei ein Sezessionsrecht gestattet, wenn die Existenz eines Volkes bei keiner Abspaltung vom Staat gefährdet ist, so M. Kau, Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte, in: W. Graf Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, S. 131 ff. (179 Rn. 129); vgl. St. Oeter (Anm. 69), in: P. Hilpold, S. 83 ff. (91). 71 A. Peters (Anm. 26), in: Plädoyer 2014, S. 19 ff. (19); P. Hilpold (Anm. 69), in: A. Reinisch, S. 398 ff. (400 Rn. 1527); H.-J. Heintze (Anm. 1), in: Ipsen, S. 316 ff. (356 Rn. 53). 72 Annexion der Krim war krass völkerrechtswidrig, in: Gießener Anzeiger (22. 01. 2015), unter: http://www.giessener-anzeiger.de/lokales/hochschule/annexion-der-krim-war-krass-voel kerrechtswidrig_14948132.html (08. 07. 2022). 73 M. Kau (Anm. 70), in: W. Graf Vitzthum/A. Proelß, S. 131 (179 Rn. 129). 74 N. Paech (Anm. 26), in: Strutynski, S. 54 ff. (64). 75 Chronik vom 07.04.-11. 05. 2014, in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 32. 76 A. Kappeler, Geschichte der Ukraine, 2015, S. 360.
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davon sollen die Unabhängigkeit der Region befürwortet haben.77 In Luhansk sollen von 81 Prozent der Abstimmenden 96 Prozent für die „Republik Luhansk“ gestimmt haben.78 Die Bewohner von Donezk sprechen zwar mehrheitlich Russisch79, nur 11 Prozent sind ukrainische Muttersprachler, aber nur 48,15 Prozent betrachten sich als Russen, 46,65 Prozent als Ukrainer, der Rest sind Belarussen, Griechen, Juden, Tataren und sonstige. 1. Referendum in der Ostukraine Bei der Ausübung der Referenden sind die gleichen internationalen Standards wie bei dem Krim-Referendum zu beachten. a) Verfassungsmäßigkeit Wie auf der Krim durfte auch hier ein Gebietswechsel nur in einem all-ukrainischen Referendum (Art. 73 der ukrainischen Verfassung) herbeigeführt werden. Es fand aber kein Referendum statt, an dem die gesamte Bevölkerung der Ukraine beteiligt war. Da in Art. 2 der Verfassung der Ukraine die bestehenden Grenzen als unteilbar und unantastbar bezeichnet werden, war das Referendum in den Gebieten Donezk und Luhansk ein Verstoß gegen die Verfassung der Ukraine. b) Meinungsäußerungsfreiheit Eine freie Abstimmungskampagne im Sinne der Meinungsäußerungsfreiheit konnte wegen der Besetzung der Gebiete durch die Separatisten80 in den Gebieten Donezk und Luhansk nicht gewährleistet werden. Lediglich etwa zwei Wochen vor Abhaltung wurde über das jeweilige Referendum berichtet, sodass ein hinreichender Informationsfluss und öffentliche Debatten über die verschiedenen Abstimmungsmöglichkeiten nicht stattgefunden haben.81 c) Neutralität Die Fragen in den Referenden in Donezk und Luhansk am 11. Mai 2014 lauteten: „Unterstützen Sie die Selbständigkeit der Donezker bzw. Luhansker Volksrepu77 H. Pleines, Die Referenden in Donezk und Luhansk, in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. (23). 78 H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. (23). 79 Der Anteil der Russischsprechenden liegt in Donezk bei 74,9 %, in Luhansk bei 68,8 %. In den ukrainischen Regionen gab es 2001 große russische Minderheiten von 39 % in Luhansk und 38,2 % in Donezk. So https://de.wikipedia.org/wiki/Donezbecken (08. 07. 2022). 80 H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. (23). 81 H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. (24).
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blik?“82, sodass diese neutral formuliert waren. Man konnte mit „ja“ oder „nein“ antworten. d) Beobachter Zudem fanden die Referenden in Anwesenheit von bewaffnetem Militär an den Wahlorten statt, sodass nicht von Friedlichkeit gesprochen werden kann, vielmehr wurden zeitgleich Nachrichten von Entführungen von Journalisten, von Drohungen gegen pro-ukrainische Bürger und sogar von Kampfhandlungen verbreitet.83 Eine internationale Beobachtung84 fand weder in Donezk noch in Luhansk statt. Journalisten als Beobachter waren bei der Auszählung der Stimmen unerwünscht.85 Es bleibt aufgrund der fehlenden internationalen Beobachter ungeklärt, ob wirklich alle Bürger die Möglichkeit hatten, ihre Stimme bei dem Referendum abzugeben. Dies ist zweifelhaft, da unter anderem in Mariupol mit 480.000 Bürgern nur ca. fünf Wahllokale aufgebaut wurden. In 53 Verwaltungsbezirken gab es 17 Wahllokale.86 Darüber hinaus fand in Krasnoarmijsk87 keine Abstimmung statt und auch die Stadt und der Bezirk Krasnyj Lyman88 stand mit dem Wahlkommissionsleiter nicht in Verbindung. Eine offizielle Wahlbeteiligung von 75 Prozent in Donezk und 81 Prozent in Luhansk ist daher kritisch zu betrachten.89 Zur Vermeidung mehrfacher Stimmabgabe wurden keine ausreichenden Maßnahmen getroffen, wie beispielsweise das Einfärben von Finger oder die Überprüfung des aktuellen Wählerverzeichnisses.90 CNN berichtete von Bürgern, die mehrmals ihre Stimme abgaben.91
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A. Shubert/B. Brumfield, Polls Close in Eastern Ukraine Amid Allegations of Fraud and Double-Voting, in: CNN 11. 05. 2014, unter: https://edition.cnn.com/2014/05/11/world/europe/ ukraine-crisis/index.html (08. 07. 2022). H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. (23). 83 A. Shubert/B. Brumfield (Anm. 82), in: CNN 11. 05. 2014, unter: https://edition.cnn.com/ 2014/05/11/world/europe/ukraine-crisis/index.html (08. 07. 2022); H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. (24). 84 A. Peters, Das Völkerrecht der Gebietsreferenden, in: Osteuropa 2014, S. 101 (118). 85 H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. (24). 86 H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. (24). 87 Stadt in der Oblast Donezk. 88 Nördlich gelegen in der Oblast Donezk. 89 H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 (24). 90 Ukraine rebels hold referendum in Donetsk and Luhansk, in: BBC 11. 05. 2014, unter: https://www.bbc.com/news/world-europe-27360146 (08. 07. 2022). 91 A. Shubert/B. Brumfield (Anm. 82), in: CNN 11. 05. 2014, unter: https://edition.cnn.com/ 2014/05/11/world/europe/ukraine-crisis/index.html (08. 07. 2022); Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 (25).
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e) Resultat Aus obig genannten Gründen entsprachen die Referenden in Donezk und Luhansk nicht den internationalen Standards. Die Ausrufung der „unabhängigen Volksrepubliken Donezks und Luhansks“ verletzt die Verfassung der Ukraine sowie die territoriale Integrität der Ukraine. Deswegen verweigerten die Ukraine, die EU, die USA und die OSZE die Anerkennung der Referenden in der Ostukraine.92 2. Sezession der „Republiken Donezk und Luhansk“ Auch Donezk und Luhansk konnten sich nicht auf ein Sezessionsrecht berufen.93 Zunächst liegt kein Träger des Selbstbestimmungsrechts vor. Aufgrund der fehlenden Gemeinsamkeiten der Bevölkerung von Donezk und Luhansk kann nicht von einem eigenen Volk in Donezk oder Luhansk gesprochen werden. Dies wäre nur der Fall, wenn als subjektive Kriterien eine innere Verbundenheit und die eigene Identität als Volk mit einem gemeinsamen politischen Willen vorlägen94 und als objektive Kriterien das Volk beispielsweise eine gemeinsame Abstammung, Sprache, Historie, Religion, Kultur oder ein gemeinsames Territorium hätte.95 Zwar kann eine Minderheit nach umstrittener Auffassung als Volksgruppe Trägerin des Selbstbestimmungsrechts sein, aber das russische Volk lebt weder in Donezk noch in Luhansk in einem geschlossenen Siedlungsgebiet, was für die Trägerschaft Voraussetzung wäre. Darüber hinaus sind keine erheblichen Menschenrechtsverletzungen oder Diskriminierungen in Donezk oder Luhansk bekannt. Amnesty International konnte keine Beweise für den von den Separatisten der Ukraine vorgeworfenen Völkermord finden.96 Ferner waren die Opfer des Konfliktes seit 2014 in der Ukraine keine Menschenrechtsverletzungen der ukrainischen Regierung. 92
H. Pleines (Anm. 77), in: Ukraine-Analysen Nr. 132 (14. 05. 2014), S. 23 ff. Vgl. A. Peters (Anm. 26), in: Plädoyer 2014, S. 19 ff. (19); vgl. P. Hilpold (Anm. 69), in: A. Reinisch, S. 398 ff. (400 Rn. 1527); vgl. A. Peters (Anm. 69), in: P. Hilpold, S. 229 ff. (236); vgl. H.-J. (Anm. 1), in: K. Ipsen, S. 316 ff. (356 Rn. 53). 94 H.-J. Heintze (Anm. 66), S. 43 f.; Chr. Hillgruber (Anm. 2), in: G. Gornig/H.-D. Horn/ D. Murswiek, S. 75 ff. (82); B. Kempen/Chr. Hillgruber (Anm. 66), S. 43 Rn. 75; D. Thürer (Anm. 66), in: Politische Studien, Bd. 6 (1993), S. 30 ff. (34); O. Franz (Anm. 66), S. 104; O. Luchterhand (Anm. 52), in: AVR, Bd. 52 (2014), S. 137 ff. (143); K. Wodarz (Anm. 66), S. 173; Z. Kaculevski (Anm. 66), S. 93. 95 Z. Kaculevski (Anm. 66), S. 92; B. Kempen/Chr. Hillgruber (Anm. 66), S. 43 Rn. 75; H.-J. Heintze (Anm. 66), S. 44; O. Luchterhandt (Anm. 52), in: AVR, Bd. 52 (2014), S. 137 ff. (143); D. Thürer (Anm. 66), in: Politische Studien 6 (1993), S. 30 ff. (34); H.-J. Heintze (Anm. 1), in: K. Ipsen, S. 316 (340 Rn. 33); K. Wodarz (Anm. 66), S. 174; O. Franz (Anm. 66), S. 104; vgl. Chr. Hillgruber (Anm. 2), in: G. Gornig/H.-D. Horn/D. Murswiek, S. 75 (81). 96 Gefangen im Roulette der Gewalt, in: Süddeutsche Zeitung 20. 10. 2014, unter: http:// www.sueddeutsche.de/politik/amnesty-bericht-zur-lage-in-der-ostukraine-leichen-aber-keinemassengraeber-1.2181912 (08. 07. 2022). 93
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IV. Fazit Das als Völkergewohnheitsrecht und zwingendes Völkerrecht anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Völker und Volksgruppen kann nur durch eine Volksabstimmung ausgeübt werden. Die Frage, ob bei Gebietstransfers eine Volksabstimmung zu erfolgen habe, kann aber bislang nur als Völkergewohnheitsrecht in statu nascendi betrachtet werden. Universell anerkannte Regeln, wie eine Volksabstimmung durchgeführt werden sollte, bestehen noch nicht, aber es gibt zumindest Anforderungen, die vergleichbar den Wahlen in einem demokratischen Rechtsstaat zu beachten sind. Um die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die Annexionsversuche in der Ostukraine zu legitimieren, führte Russland Volksabstimmungen in den Gebieten durch, die aber Anforderungen, wie sie etwa die Venedig-Kommission aufgestellt hat, nicht im Geringsten entsprachen. Von einer freien, gleichen, geheimen Abstimmung kann keine Rede sein. Sie können also die Einverleibung der Krim nicht legitimieren und eine Annexion der ostukrainischen Gebiete für die Zukunft nicht rechtfertigen. V. Nachtrag zur Volksabstimmung in der Ostukraine im September 2022 Es bedarf keiner umfassenden Begründung, dass die in der westlichen Presse Scheinreferenden bezeichneten Abstimmungen über die Zugehörigkeit der ukrainischen Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson nichtig sind. Die Abstimmungen waren nicht frei, zum Teil musste in Gegenwart maskierter bewaffneter Soldaten für die Angliederung an Russland gestimmt werden. Sie war auch nicht geheim, da in gläsernen Urnen erkennbar war, wie ein Abstimmender gestimmt hat. Viele der Bewohner der betreffenden Gebiete waren geflohen, konnten also nicht abstimmen. Eine internationale Kontrolle der Abstimmungen erfolgte nicht.97 Weltweit wurden daher die Referenden als eine Farce und als nichtig bezeichnet. Dafür sprechen schon die Ergebnisse von nahezu 99 Prozent, die in freien Abstimmungen wohl kaum zu erreichen sind und die schon vor den Abstimmungen verbreitet wurden.98 97 Vgl. Redaktionsnetzwerk Deutschland: Der letzte Tag der Show: Waffengewalt, Terror, wählende Kinder: Russlands Scheinreferenden auf der Zielgeraden, https://www.rnd.de/poli tik/ukraine-wie-russland-schein-referenden-mit-waffengewalt-kindern-und-terror-abhaeltJWOEBIO7X5CRTOIJNUCS7XQLK4.html. Vgl. ferner beispielsweise https://www.diepres se.com/1575568/russische-fahnen-durchsichtige-urnen; ferner: https://www.stern.de/politik/aus land/scheinreferenden-in-ostukraine-transparente-urnen-bewaffnete-wahlhelfer-32762980.html (27. 09. 2022). 98 So sollen in der „Donezker Volksrepublik“ „98,27 Prozent“ für einen Beitritt zu Russland gestimmt haben. Im benachbarten Luhansker Separatistengebilde sollen es „97,79 Prozent“ gewesen sein, in den besetzten Teilen der südukrainischen Gebiete Cherson und Saporischschja „97,63 Prozent“ bzw. „98,19 Prozent“. Hinzugefügt wurde jeweils, dass die „Stimmzettel“ erst teilweise „ausgezählt“ worden seien. Vgl. Schmidt, Friedrich, Warten auf den Anschluss der besetzten ukrainischen Gebiete, in: FAZ vom 28. 09. 2022, S. 2.
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Im Übrigen handelt es sich bei der als Annexion erklärten Einverleibung von ukrainischen Gebieten nur um den Versuch einer völkerrechtswidrigen Annexion. Eine Annexion verlangt eine umfassende Beherrschung des zu annektierenden Gebiets und einen Annexionswillen. Ein Annexionswillen Russlands mag zwar zu bejahen sein, es fehlte aber an der endgültigen Beherrschung des Gebiets. Viele Bereiche des beanspruchten Gebiets waren nicht endgültig und dauerhaft unter russischer Herrschaft, viele Gebiete standen nach wie vor unter ukrainischer Herrschaft. Es liegen also nicht einmal die Voraussetzungen einer Annexion vor. Wäre sie gegeben, so wäre sie jedenfalls wegen eines Verstoßes gegen das Gewalt- und Annexionsverbot völkerrechtswidrig. Es handelt sich um den untauglichen Versuch Putins durch Scheinreferenden der nur teilweise umgesetzten Einverleibung gewisser ukrainischer Gebiete einen demokratischen Anstrich zu geben und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker zu genügen. Ein Volk der Gebiete Donezk, Luhansk, Saporischschja und Cherson im Sinne des Selbstbestimmungsrechts der Völker gibt es aber nicht. Die Abstimmung ist damit in Form und Inhalt eine Pervertierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. *** Abstract Carolin Gornig: Referendums in Crimea and Eastern Ukraine in 2014 (Volksabstimmungen auf der Krim und in der Ostukraine im Jahr 2014), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 275 – 292. The right of self-determination of peoples and ethnic groups, which is recognized as customary international law and mandatory international law, can only be exercised by a referendum. So far, however, the question of whether a referendum is required for territorial transfers can only be regarded as customary international law in statu nascendi. Universally recognized rules on how a referendum should be conducted do not yet exist, but there are at least requirements that must be observed, comparable to elections in a democratic constitutional state. In order to legitimize the illegal annexation of Crimea and the annexation attempts in eastern Ukraine, Russia held referendums in the areas, which, however, do not meet the requirements set out by the Venice Commission in the slightest. There can be no question of a free, equal, secret ballot. So they cannot legitimize the annexation of Crimea and cannot justify the future annexation of eastern Ukraine.
Die Abstimmung in Westpapua 1969 – Zerrbild eines Gebietsreferendums Von Stefan Oeter Einleitung: Westirian/Westpapua als Zankapfel Einleitend sei zunächst kurz der Kontext geschildert, in den das Thema dieses Beitrages gehört. Dazu bedarf es einiger knapper Bemerkungen zur geographischen Lage der Region, um deren Schicksal im Rahmen der Dekolonisierung der folgende Beitrag kreist. Dies ist schon deswegen angebracht, weil der im Titel verwendete Begriff ,Westpapua‘ heute in unterschiedlichen Konnotationen verwendet wird – der Begriff bezeichnet zum einen die indonesisch beherrschte Westhälfte der Insel Neuguinea im Ganzen, zum anderen aber – seit der Teilung des Gebietes in zwei Provinzen – auch eine der beiden Provinzen. Die (bis zur Jahrtausendwende genutzte) ältere indonesische Bezeichnung für den Westteil der Insel Neuguinea war ,Westirian‘ (auf Indonesisch Irian Jaja). Dabei handelt es sich um ein Gebiet mit 421 TSD qkm (also etwa so groß wie Deutschland, Belgien und die Niederlande zusammen), das sehr dünn besiedelt ist – es leben dort nur ca. 3 Mio. Einwohner. Bedeckt ist das Gebiet weitgehend von Dschungeln und Sümpfen, wobei es untergliedert wird durch einen Hochgebirgszug, der von Osten nach Westen verläuft und im Kernteil auf bis fast 5000 m ansteigt, mit im Norden daran anschließendem Hochland, das einen erheblichen Teil der Fläche einnimmt. Das Gebiet enthält reiche Vorkommen an Bodenschätzen, vor allem Gold und Kupfer, aber auch größere Vorkommen von Erdgas, was auch das große strategische Interesse Indonesiens an dieser Provinz erklärt (der US-amerikanische Minenbetreiber der Mega-Goldmine Grasberg im Süden des Landes ist der größte Steuerzahler Indonesiens). Die traditionelle Bevölkerung besteht aus Völkern der Papua und anderen Gruppen von Melanesiern, die in kleinen Gruppen im Dschungel und Hochland lebten: Es gibt allerdings seit der niederländischen Kolonisierung im 19. Jahrhundert eine zunehmende Zuwanderung von Indonesiern, die unter der indonesischen Herrschaft im Kontext des ,Transmigrasi‘-Projektes massiv verstärkt wurde. Heute stellen die indonesischen Zuwanderer schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Die Region ,Westirian‘ (oder ,Westpapua‘) war über lange Zeit der Kolonisierung entgangen; im 19. Jahrhundert geriet sie zwar formal unter niederländische Herrschaft, doch entfaltete die niederländische Kolonialregierung über Jahrzehnte
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recht wenig Bemühungen, das Gebiet herrschaftstechnisch zu durchdringen.1 Weite Gebiete blieben bis weit in das 20. Jahrhundert hinein sich selbst überlassen. Von der Dekolonisierung Niederländisch-Ostindiens, aus der Ende der 1940er Jahre der Staat Indonesien entstand, blieb es zunächst ausgeklammert. Erst 1963 wurde die Region, unter sehr spezifischen Umständen, die im weiteren Verlauf des Beitrags geschildert werden sollen, an Indonesien angeschlossen. Die Geschichte dieses Anschlusses ist verwickelt und beinhaltete auch Ende der Sechziger Jahre einen als Volksabstimmung deklarierten Akt, dessen Vorgeschichte und Ablauf hier näher beleuchtet werden soll.2 Die im Abkommen zwischen den Niederlanden und Indonesien vorgesehene Befragung der Bevölkerung wurde von Indonesien systematisch manipuliert, was das sogen. ,West-Irian-Referendum‘ von 1969 zu einem Negativbeispiel einer zur reinen Fassade verkommenen Beteiligung der betroffenen Bevölkerung abstempelt. I. Geschichtliche Hintergründe: Späte Kolonisierung von Westneuguinea Von spanischen Seefahrern wurde der Westen Neuguineas, der nur wenige hundert Seemeilen östlich der umkämpften Gewürzinseln der Molukken liegt, erstmals im 16. Jahrhundert angefahren. Seit dem 17. Jahrhundert reichte die Einflusszone der Niederländischen Ostindien-Kompanie zumindest indirekt bis an die Westküste Neuguineas. Die Niederländer übten in diesem östlichen Teil des indonesischen Archipels zwar über längere Zeit kaum direkte Herrschaft aus, sie hatten aber die lokalen Herrscher eng an sich gebunden, um das Monopol des einträglichen Gewürzhandels nach Europa abzusichern und übten in gewissem Umfang eine Form indirekter Herrschaft über die lokalen Sultanate aus.3 An den Völkerschaften der Westküste
1 Vgl. Pieter Drooglever, An Act of Free Choice: Decolonization and the Right to SelfDetermination in West Papua, Oxford: Oneworld, 2005, S. 2. 2 Zu den Vorgängen in Westirian im Kontext des Anschlusses an Indonesien gibt es nur wenig Forschungsliteratur. Bei der Aufbereitung der Vorgeschichte und der Vorgänge um den ,Act of Free Choice, kann im Kern nur auf drei ins Detail gehende Werke von Zeithistorikern zurückgegriffen werden, die aus etwas unterschiedlicher Forschungsperspektive (und unter Rückgriff auf unterschiedliche Aktenbestände) die Geschichte der (gescheiterten) Dekolonisierung Westpapuas rekonstruieren – neben der sehr umfangreichen Monographie von Drooglever (Anm. 1) sind dies die Werke von C. L. M. Penders, The West New Guinea Debacle: Dutch Decolonisation and Indonesia 1945 – 1962, Leiden: KITLV Press 2002, und von John Saltford, The United Nations and the Indonesian Takeover of West Papua, 1962 – 1969 – The Anatomy of Betrayal, London: RoutledgeCurzon 2003. 3 Vgl. zu dieser typischen Form der ,indirect rule, durch die Niederländische OstindienKompagnie VOC Adam Clulow/Tristan Mostert (eds.), The Dutch and English East India Companies: Diplomacy, Trade and Violence in Early Modern Asia, Amsterdam: Amsterdam Univ. Press 2018; Jürgen G. Nagel, Abenteuer Fernhandel: die Ostindienkompanien, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2007, S. 100 – 126; Ella Gepken-Jager, Verenigde Oost-Indische Compagnie (VOC): The Dutch East India Company, in: Ella Gepken-Jager et al. (eds.),VOC
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Neuguineas hatten sie kein genuines Interesse, doch übten die mit ihnen verbundenen Herrscher, vor allem die Sultane von Tidore, eine lose Form der Herrschaft über die Papua-Völker der westlichen Küstenregionen und vorgelagerten Inseln aus, die sie sich tributpflichtig gemacht hatten und die sie über gelegentliche Feldzüge als Reservoir für Arbeitssklaven ihrer ausgedehnten Plantagenwirtschaft nutzten.4 Erst im späten 18. Jahrhundert kam es zu einem verstärkten militärischen Engagement der Niederländer in der Region, im Kontext der Konflikte um das Sultanat Tidore, das für einige Jahre die (indirekte) Herrschaft der Niederländischen Ostindien-Kompagnie abschüttelte.5 Mit der Auflösung der Niederländischen Ostindien-Kompanie 1799 ging die Oberherrschaft über Tidore auf den niederländischen Staat über.6 Nach einer kurzeitigen britischen Besetzung der niederländischen Besitzungen im Kontext der napoleonischen Kriege und der Rückgabe der Kolonie an die Niederlande 1815 stellte die neu etablierte niederländische Kolonialverwaltung auch die Oberherrschaft über das Sultanat Tidore wieder her (einschließlich seiner Herrschaftstitel über die westlichen Küstengebiete Neuguineas). Diese Ansprüche wurden im Vertrag von London 1824 auch von britischer Seite förmlich anerkannt.7 Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte dehnte die Niederlande ihre territorialen Ansprüche immer weiter nach Osten aus, bis zum 141. Längengrad, ohne allerdings (zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts) ernsthafte Bemühungen zu unternehmen, über das reklamierte Gebiet dauerhafte Kontrolle zu gewinnen. Bis auf einige Außenposten an der Küste beschränkte sich das Vordingen der Europäer auf die Missionstätigkeit einiger protestantischer und katholischer Missionare.8 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt die Ostgrenze der niederländischen Besitzungen am 141. Längengrad aber schon als so etabliert, dass das britische Empire und das Deutsche Kaiserreich bei ihrer Abgrenzung der kolonialen Einflussgebiete in der Osthälfte Neuguineas den 141. Längengrad als westlichen Bezugspunkt ihrer Territorialaufteilung nahmen.9 Ernsthafte Bemühungen um eine Durchdringung des Gebietes mit Strukturen kolonialer Verwaltung begannen erst ganz zu Ende des 19. Jahrhunderts. Im Jahr 1898 wurden zwei Distriktsverwaltungen für den Norden und Westen des Gebietes errich-
1602 – 2002: 400 Years of Company Law, Deventer: Kluwer 2005, S. 41 – 82; vgl. ferner: Penders (Anm. 2), S. 1 – 3. 4 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 5 ff. 5 Vgl. dazu im Detail M. S. Widjojo, Cross-cultural Alliance-making and Local Resistance in Maluku during the Revolt of Prince Nuku, c. 1780 – 1810, Leiden: Leiden Univ. Scholarly Publications 2007; vgl. ferner Drooglever (Anm. 1), S. 7. 6 Vgl. insoweit nur Willem Sinninghe Damste/Marijke van de Vrugt, Winding up the Company, in: Ella Gepken-Jager et al. (eds.), VOC 1602 – 2002: 400 Years of Company Law, Deventer: Kluwer 2005, S. 83 – 105. 7 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 7 f. 8 Vgl. zu den Missionsaktivitäten im Detail Drooglever (Anm. 1), S. 35 ff. 9 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 11.
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tet, 1902 ergänzt durch eine dritte Distriktsverwaltung für den Süden.10 Dafür wurden ständige Verwaltungsposten mit Militär und Polizei errichtet, die eine gewisse Kontrolle über das von ihnen verwaltete Territorium zu erlangen suchten. In den Folgejahrzehnten kartierten eine Reihe von Expeditionen das gesamte Gebiet West-Neuguineas, und ab den zwanziger Jahren erlaubte das neue Transportmittel des Flugzeugs auch die Errichtung entlegener Außenposten im Hochland.11 Wirkliche territoriale Kontrolle übte diese rudimentäre Kolonialverwaltung aber nicht aus. Erst im Verlaufe der 1920er und 1930er Jahre fasste die niederländische Verwaltung allmählich Fuß in den Küstengebieten und begann den Bereich unter ihrer Kontrolle allmählich auszudehnen.12 Doch selbst zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war der Umfang der niederländischen Kolonialverwaltung im Gebiet noch äußerst schmal. Die Präsenz des niederländischen Staates beschränkte sich auf einen extrem kleinen Stab von etwa 20 höheren Verwaltungsbeamten aus den Niederlanden sowie ein untergeordnetes Verwaltungspersonal von einigen hundert Mann Stärke, zu großem Teil mit Herkunft aus den Molukken; hinzu kamen wenige Hundert Mann Polizei und Militär, ebenfalls weitgehend indonesischer Herkunft.13 Der Invasion der Japaner, die dann im Frühjahr 1942 erfolgte, hatten diese geringen Kräfte kaum etwas entgegenzusetzen, bis auf einige Widerstandsnester im kaum erschlossenen Hochland unter Führung niederländischer Kolonialbeamter und Polizeioffiziere.14 Einzig der Süden geriet nie in den Bannkreis der japanischen Besetzung, da der Verwaltungssitz in Merauke rechtzeitig mit US-amerikanischen und australischen Truppen verstärkt worden war. Der klägliche Zusammenbruch der niederländischen Kolonialverwaltung hatte nachhaltige Folgen in Niederländisch-Ostindien, aber auch im Westen Neuguineas. Der Mythos der Unbesiegbarkeit des ,weißen Mannes‘ war dahin, und auf Java und den angrenzenden Inseln erhielt die indonesische Nationalbewegung Auftrieb, die mit dem Ende der japanischen Herrschaft die Unabhängigkeit der ,Republik Indonesien‘ ausrief.15 Der niederländischen Kolonialverwaltung fiel es ersichtlich schwer, ihre Herrschaft in den Kerngebieten des indonesischen Archipels wieder zu etablieren, und die Niederlande verwickelten sich in einen verlustreichen und ressourcenverschlingenden Kolonialkrieg, der letztlich nicht zu gewinnen war. Im Blick auf den Westen Neuguineas stellte sich die Situation deutlich anders dar. Nach der Rückeroberung des Nordens durch die Sechste US-Armee im April und Mai 1944 wurden große Militärbasen dort errichtet, die die Niederländer nach dem Abzug der Amerikaner ab Ende 1945 übernahmen. Die einheimische Papua-Bevölkerung war weitgehend loyal zu ihrem niederländischen Kolonialherren geblie10
Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 14 ff. Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 16 ff. 12 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 23 ff. 13 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 51 f. 14 Vgl. Penders (Anm. 2), S. 12 ff., und Drooglever (Anm. 1), S. 52 ff. 15 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 94 ff.
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ben und es bereitete keine großen Probleme, die Kontrolle über die vor 1942 erschlossenen Gebiete zurückzugewinnen, mit recht beschränktem Ressourcen- und Personaleinsatz.16 Da man sich dabei – wie vor 1942 – weitgehend auf Verwaltungspersonal und Militär aus den Molukken und Java abstützte, griffen die Wirren des indonesischen Unabhängigkeitskampfes allerdings auf die Siedlungszentren im Norden und die Insel Biak über, wenn es auch der niederländischen Verwaltung keine größeren Probleme bereitete, diese bedrohlichen Tendenzen unter Kontrolle zu halten, da sie sich fast völlig auf die (damals zahlenmäßig noch sehr kleine) Gruppe der vor Ort präsenten Indonesier beschränkte; die lokale Papua-Bevölkerung blieb davon fast völlig unberührt.17 II. Die Unabhängigkeit Indonesiens und der Kampf um West-Neuguinea Das weitere Schicksal West-Neuguineas blieb während der späten 1940er Jahre zunächst in der Schwebe. Aus Sicht der indonesischen Nationalbewegung handelte es sich bei West-Neuguinea um einen untrennbaren Bestandteil der indonesischen Nation,18 während die niederländische Kolonialverwaltung ihren Teil der Insel – aufgrund der sehr späten Integration In die kolonialen Strukturen Niederländisch-Ostindiens und der vom Rest Indonesiens doch deutlich geschiedenen Bevölkerungsstruktur, Kultur und Entwicklung – eher als ein ,Separatum, empfand.19 Einige Zeit liebäugelten Niederländer und die schmale papuanische Bildungselite mit einem Anschluss an eine indonesische Föderation, im Zusammengehen mit den Molukken, was allerdings angesichts der starken Ressentiments der Papua gegen die Molukker kein einfaches Unternehmen gewesen wäre.20 Im Ergebnis entschied sich die niederländische Politik dafür, West-Neuguinea von Indonesien abzutrennen und als eine getrennte koloniale Einheit unter niederländischer Verwaltung zu belassen.21 Auf der sog. Round Table-Conference in Den Haag im Spätsommer/Herbst 1949, auf der die Modalitäten der Unabhängigkeit Indonesiens besiegelt wurden, konnte keine Einigung über den Status Neuguineas erzielt werden – und man einigte sich schließlich auf eine Übergangslösung, in deren Kontext das Gebiet unter niederländischer Verwaltung bleiben sollte, aber zugleich Endstatusverhandlungen innerhalb eines Jahres über eine diplomatische Lösung der Neuguinea-Frage vereinbart wurden.22 Als Argument für die Abtrennung der Kolonie von Indonesien wurden vor allem die krassen ethnischen und kulturellen Unterschiede zwischen den 16
Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 71 ff. Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 81 ff. 18 Vgl. Penders (Anm. 2), S. 45 ff. 19 Vgl. Penders (Anm. 2), S. 61 ff. 20 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 89 ff., 99 ff., 114 ff. 21 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 137 ff. 22 Vgl. Penders (Anm. 2), S. 39 ff., und Drooglever (Anm. 1), S. 157 ff.
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Papua Neuguineas und der Bevölkerung Indonesiens sowie der niedrige Entwicklungsstand des Gebiets genannt; im Hintergrund aber war die niederländische Seite auch motiviert vom ökonomischen Potenzial des Gebietes, im Blick auf die reichen Bodenschätze wie auf die Möglichkeiten landwirtschaftlicher Entwicklung, unter Umständen gar in Form europäischer Siedler.23 Die Verhandlungen des Jahres 1950 führten zu keinen greifbaren Ergebnissen.24 Die neue nationalistische Elite Indonesiens beharrte auf der Unteilbarkeit der indonesischen Nation, zu der – im Sinne des ,uti possidetis‘-Prinzips – auch West-Neuguinea zählte, das bis 1949 Teil Niederländisch-Ostindiens gewesen war.25 Die niederländische Position insistierte dagegen auf dem Selbstbestimmungsrecht der Papuabevölkerung West-Neuguineas, die ethnisch und kulturell kaum etwas mit dem Rest Indonesiens verbinde, die aber zugleich so wenig entwickelt sei, dass eine freie Entscheidung des Volkes noch einiger Zeit der Vorbereitung bedürfe.26 Die Gespräche über die Neuguineafrage führten über viele Jahre zu keinem Ergebnis.27 Die Niederlande erstatteten Jahr für Jahr getreulich Bericht an die Vereinten Nationen über West-Neuguinea als ,non-self governing territory‘, ohne dass es eine eindeutige Positionsnahme der UN zu dem Thema gegeben hätte. Mit der Abtrennung von Indonesien erhielt West-Neuguinea eine neue Verwaltungsstruktur. Es wurde zu einem eigenständigen ,Gouvernement‘ unter einem aus Den Haag entsandten Gouverneur hochgestuft.28 In dem neuen Verwaltungsstatut wurden lokale Selbstverwaltungsräte und – prospektiv für die weitere Zukunft – sogar eine Vertretungskörperschaft für die gesamte Kolonie vorgesehen, der ,New Guinea Council‘, der allerdings real erst 1961 errichtet wurde (unter dem Druck der internationalen Ereignisse).29 Schon in den 1950er Jahren experimentierte die Kolonialverwaltung mit verschiedenen Formen von Konsultativräten, zum größeren Teil bestehend aus Clanältesten und Stammesführern. Aber erst in einer Vereinbarung mit dem 1961 geschaffenen ,New Guinea Council‘ wurde schließlich ein gestufter Prozess der Hinführung zur Unabhängigkeit vereinbart, mit dem Versprechen, Westneuguinea 1970 in die Unabhängigkeit zu entlassen.30 Die Beziehungen zwischen den Niederlanden und Indonesien verschlechterten sich zusehends in der zweiten Hälfte der Fünfziger Jahre.31 Eine große Rolle spielte dabei der aufgeheizte Nationalismus, den das Sukarno-Regime gezielt zum Ausbau 23
Vgl. Penders (Anm. 2), S. 55 ff., und Drooglever (Anm. 1), S. 145 ff., 169 ff. Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 185 ff., insbes. S. 194 ff., sowie Penders (Anm. 2), S. 216 ff. 25 Vgl. Penders (Anm. 2), S. 286 ff., und Drooglever (Anm. 1), S. 184 f., 195 ff., 206 ff. 26 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 188 ff. 27 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 205 ff., 214 ff., 226 ff., und Penders (Anm. 2), S. 244 ff. 28 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 243 ff. 29 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 246 f. 30 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 527 ff., 548 ff. 31 Vgl. Penders (Anm. 2), S. 259 ff. 24
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und zur Sicherung seiner Macht nutzte – ein Nationalismus, für den die Neuguinea(bzw. Westirian-)Frage, wie sie in Indonesien genannt wurde, immer wieder als Symbol hochgespielt wurde.32 Die niederländische ,Besetzung‘ der Autonomen Provinz West-Irian, die Indonesien formell geschaffen hatte, wurde ab 1955 auch mehr und mehr über internationale Foren gespielt – insbesondere die UN-Generalversammlung, in der sich Indonesien auf die Unterstützung der neu etablierten Gruppe der ,Blockfreien‘ verlassen konnte.33 Die Großmächte hielten sich in dieser Frage zunächst noch zurück, aber im Gefolge der zunehmenden Drohungen von indonesischer Seite, sich das Gebiet mit Gewalt zurückzuholen, schalteten sich Anfang der 1960er Jahre die USA als Vermittler ein, denen an einem solchen Konflikt geostrategisch nicht gelegen sein konnte. Die Regierung in Den Haag geriet im Gefolge dieser immer weiter zugespitzten Lage in eine zunehmend unkomfortable Lage. Angesichts der enormen Distanzen und der massiven Aufrüstung Indonesiens musste man sich eingestehen, dass im Ernstfall Niederländisch-Neuguinea militärisch kaum zu halten sein würde.34 Zugleich bröckelte an der Heimatfront die Unterstützung für das Engagement in Neuguinea.35 Auch von Seiten der US-Administration nahm der Druck zu, eine diplomatische Lösung für das Problem zu suchen.36 Außenminister Luns entwickelte in der Folge Konzepte für eine Vermittlungslösung, die unter dem Begriff des ,Luns-Plan‘ bekannt wurden – wenn auch dieser Plan, in Abstimmung mit Washington, eine Reihe von Metamorphosen durchlief.37 Im Verlauf der Verhandlungen gerieten die Niederlande unter massiven Druck der neuen Kennedy-Administration, die ein strategisches Interesse an einer zügigen Lösung des Konfliktes hatte.38 Ergebnis dieser unter Führung der US-Administration geführten Verhandlungen war dann im August 1962 das New Yorker Übereinkommen.39 Die bittere Pille, die die niederländische Seite in dieser Vereinbarung zu schlucken hatte, war der Übergang Westneuguineas an Indonesien, nach kurzer UN-Treuhandverwaltung. Zwar war für eine spätere Phase in dem Abkommen ein ,Act of Free Choice‘ der Bevölkerung West-Neuguineas vorgesehen, doch bestimmte das Abkommen nicht im Detail, wie dieser Akt der Selbstbestimmung der lokalen Bevölkerung konkret auszugestalten war. Aus niederländischer Sicht war klar, dass das Abkommen ein Referendum der lokalen Bevölkerung über die Zugehörigkeit zu Indonesien oder Unabhängigkeit vorgesehen hatte; aus indonesischer Sicht dagegen war gesetzt, dass die Verwaltung des Gebietes die einheimische Bevölkerung West-Irians zu einem späteren Zeitpunkt über ihre Zu32
Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 310 ff. Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 331 f. 34 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 374 ff., 442 ff. 35 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 386 ff., 415 ff. 36 Vgl. Penders (Anm. 2), S. 290 ff. 37 Vgl. dazu die sehr detaillierte Schilderung bei Drooglever (Anm. 1), S. 421 ff., 434 ff. 38 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 445 ff., 456 ff., und Penders (Anm. 2), S. 332 ff. 39 Vgl. dazu im Detail Drooglever (Anm. 1), S. 485 ff., zu den Hintergründen ferner Penders (Anm. 2), S. 368 ff. 33
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stimmung zur Integration in den indonesischen Staatsverband zu befragen hatte, in welcher Form auch immer.40 Teil des Abkommens war die Übergabe der Verwaltung durch die Niederlande an eine UN-Übergangsverwaltung, die UNTEA.41 Am 1. Okt. 1962 übernahm die UNTEA die Kontrolle über die Verwaltung des Gebietes; am 1. Mai 1963 erfolgte dann die Übergabe der Verwaltung an Indonesien.42 Der indonesische Staat begann sehr schnell mit einem gezielten Umbau der lokalen Strukturen in West-Irian. Die Verwaltung wurde nicht nur von allen Spuren der niederländischen Kolonialverwaltung gesäubert, sondern auch ein Großteil der im niederländischen System ausgebildeten papuanischen Verwaltungsbeamten wurde durch Indonesier ersetzt, das Bildungssystem auf indonesische Standards umgestellt und die Importe und Exporte in indonesischer Hand konzentriert, was zu erheblichen Versorgungsengpässen und massiver Teuerung führte.43 Politisch wurde das Sukarno’sche System der ,gelenkten Demokratie‘ eingeführt. Die neuen Konsultativräte auf lokaler und regionaler Ebene bestanden aus (von der indonesischen Verwaltung ernannten) Mitgliedern und hatten rein akklamatorische Funktion.44 In weiten Teilen des Gebietes übernahm die indonesische Armee faktisch die Kontrolle, die unter Ausnahmezustandsbedingungen frei schalten und walten konnte. Nach außen war West-Irian fast völlig abgeschottet, Ausländer konnten das Gebiet kaum besuchen, was dabei half, die massiven Menschenrechtsverletzungen in West-Irian, wie willkürliche Inhaftierungen, Folter, Verschwindenlassen und auch gezieltes Töten von Dissidenten, weitgehend zu verschleiern.45 Ab 1965 begann dann die indonesische Verwaltung auch mit gezielten Umsiedlungsaktionen von Indonesiern nach dem Westteil der Insel (und Vertreibungen von einheimischen Papua aus den für die ,Transmigrasi‘ vorgesehenen Gebieten).46 Die Reaktion der lokalen Bevölkerung ließ nicht lange auf sich warten. Als Antwort auf das harsche Vorgehen der indonesischen Behörden bildete sich 1965 eine bewaffnete Widerstandsbewegung der Papua (Organisasi Papua Merdeka, OPM), die allerdings gegen das massive Aufgebot der indonesischen Militärs kaum eine Chance hatte.47 Die OPM schrieb sich die politische Selbstbestimmung Westpapuas auf die Fahnen. Der zunächst eher lokal organisierte bewaffnete Widerstand weitete sich in den Folgejahren zu einem Guerillakrieg aus, wenn auch die OPM angesichts der militä40 Vgl. zu diesem Dissens Saltford (Anm. 2), S. 120 ff., sowie Drooglever (Anm. 1), S. 505 ff., 665 ff. 41 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 595 ff. 42 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 74 ff. 43 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 629 f., 631 ff., 633 ff. 44 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 624 ff. 45 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 635 ff. 46 Vgl. im Detail Jim Elmslie, Irian Jaya under the Gun: Indonesian Economic Development versus West Papuan Nationalism, Honolulu: Univ. of Hawai’i Press 2002, S. 73 ff. 47 Vgl. Elmslie (Anm. 44), S. 32 ff.
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rischen Überlegenheit der indonesischen Armee ohne große militärische Erfolge blieb.48 Reaktion war vielmehr eine brutale Repression des Widerstands der Indigenen durch die indonesische Polizei und vor allem das Militär, mit extrem unschönen Begleiterscheinungen im Umgang mit der einheimischen Opposition gegen die indonesische Herrschaft.49 International führte diese Politik brutaler Repression zwar zu wachsender Kritik an Indonesien in internationalen Foren. Im Lande selbst erstarb jedoch der organisierte Widerstand, und als Sprachrohr der papuanischen Opposition musste eine kleine Gruppe von Exilpolitikern dienen, die vor allem darum bemüht war, ihr Anliegen in den Vereinten Nationen zu Gehör zu bringen.50 Zugleich begann die indonesische Verwaltung mit der forcierten Ausbeutung der Bodenschätze in dem neu hinzugewonnenen Gebiet, ohne jegliche Rücksichtnahme auf die lokale Bevölkerung. Es erfolgte eine großzügige Vergabe von Lizenzen für die riesigen Gold- und Kupfervorkommen in der Gebirgsregion der CarstenszBerge an den US-amerikanischen Bergwerkskonzern Freeport, der sich in der Folge mit allen Mitteln gegen Unabhängigkeitsbestrebungen wendete.51 Die Effekte der indonesischen Übernahme West-Neuguineas waren mehr als zwiespältig. Auf der einen Seite zeigte sich – im Gefolge der brutalen Repressionskampagne gegen jegliche Form von Widerspruch seitens der einheimischen Bevölkerung – eine starke Antipathie der papuanischen Bevölkerung gegen die indonesische Herrschaft, die sich mehr und mehr zu einer tiefsitzenden anti-indonesischen Stimmung verfestigte;52 zugleich erfreute sich auf internationaler Ebene- sowohl unter Drittweltstaaten wie unter westlichen Staaten – der indonesische Anspruch auf Herrschaft über West-Irian einer massiven Unterstützung.53 III. Vorgeschichte der Abstimmung: Politische Schachzüge Die Formulierungen des New Yorker Abkommens vom August 1962 stellten im Kern einen Formelkompromiss dar, der beiden Seiten Spielraum für recht unterschiedliche Interpretationen gab.54 Zwar war ausdrücklich die Perspektive eines ,act of free choice‘ im New Yorker Abkommen vorgesehen; allerdings waren die Vorgaben zur Ausgestaltung der Details dieses ,act of free choice‘ sehr vage gehalten: Art. XVII sah vor, dass alle Erwachsenen des Gebiets berechtigt sein sollten, an einem ,act of self-determination‘ teilzunehmen, „to be carried out in accordance with international practice“ – eine Formulierung, die im gängigen Verständnis der 48
Vgl. Elmslie (Anm. 44), S. 34 ff. Vgl. insbes. Saltford (Anm. 2), S. 74 ff. 50 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 651 ff. 51 Vgl. hierzu im Detail Elmslie (Anm. 46), S. 143 ff. 52 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 654 ff. 53 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 643 ff. 54 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 120 ff.
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Zeit an ein Gebietsreferendum denken ließ, jedoch ohne ausdrückliche Erwähnung der konkreten Modalitäten eines Referendums. Die indonesische Verwaltung – so zeigte sich bald – dachte überhaupt nicht daran, ein echtes Referendum durchzuführen. Sie stellte die Weichen im Hinblick auf den von ihr gedachten ,Act of Free Choice‘ durch die Einsetzung eines ,Provincial Council‘.55 Dieser bestand aus 54 von Indonesien ausgesuchten ,Führern‘ (leaders) der lokalen Gemeinschaften. Zunächst entwickelte sich der Prozess ganz und gar nicht im Sinne der indonesischen Pläne. Die versammelten ,leader‘ beharrten darauf, im neu geschaffenen Provinzrat die Vorbereitungen des ,Act of Free Choice‘ zu diskutieren – mit der klaren Reaktion der indonesischen Seite, 30 der 54 Mitglieder des Rates auszutauschen, um weitere Diskussionen in dieser Richtung zu unterbinden.56 Funktion der Versammlung lokaler Führer war einzig und allein, dies wurde von indonesischen Offiziellen mehr als deutlich gemacht, ein Akt der Akklamation, im Sinne einer einhelligen Betonung der Zugehörigkeit des Gebietes zu Indonesien. Auf Seiten der Vereinten Nationen liefen Anfang 1968 die Vorbereitungen für den ,Act of Free Choice‘ an. Im April 1968 erfolgte die Einsetzung des bolivianischen Diplomaten Fernando Ortiz Sanz als ,United Nations Representative for West Irian‘.57 Dieser stattete im August 1968 einen ersten Besuch in Westirian ab. Bei dieser Gelegenheit wurde von den indonesischen Behörden überaus deutlich herausgestellt, dass der geplante ,Act of Free Choice‘ nur zu ihren Bedingungen durchführbar sei und den Vereinten Nationen nur sehr bedingt eine Mitsprache bei der Festlegung der konkreten Modalitäten des Selbstbestimmungsaktes zukomme.58 In den letzten Monaten des Jahres 1968 erarbeitete der UN-Sonderbeauftragte (UNRWI) Ortiz Sanz seine Vorschläge für die Durchführung des ,act of free choice‘. Die Formulierung dieser Vorschläge war untergründig geprägt durch ein hartes Ringen mit der indonesischen Regierung über die Frage, welche Bedingungen eigentlich für Jakarta akzeptabel waren.59 Der indonesische Vorschlag lief auf eine – im Ergebnis leicht zu beeinflussende – Abstimmung durch ein Gremium aus 200 Wahlmännern hinaus, die ,Consultative Assembly‘, deren Mitglieder im Vorhinein auf lokalen Wahlversammlungen bestimmt werden sollten.60 Von der UN-Beobachtermission UNRWI wurde dieser Vorschlag zurückgewiesen. Der UN-Beauftragte beharrte auf „the democratic, orthodox and universally accepted method known as ,oneman, one-vote‘.61 Nach einigem Tauziehen einigte man sich auf den Kompromiss eines ,mixed system‘, das die direkte Abstimmung in städtischen Gebieten koppeln sollte mit der in ländlichen Gebieten vorgesehenen „collective consultation“ der lo55
Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 643 ff. Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 91 ff. 57 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 103 ff., und Drooglever (Anm. 1), S. 663 ff. 58 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 103 ff. 59 Vgl. dazu ebenfalls Saltford (Anm. 2), S. 110 ff. 60 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 683 ff. 61 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 110 ff., 117 f. 56
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kalen Bevölkerung, die dann im Ergebnis durch eine Form kollektiver Stimmabgabe ihren Willen kundtun sollte, in der von Indonesien präferierten indirekten Willensäußerung über lokal bestimmte Wahlmänner.62 Anfang 1969 lehnte Indonesien jedoch diesen Kompromissvorschlag auf Basis des ,mixed methods‘-Ansatzes ab und insistierte auf einem rein indirektem Wahlverfahren mit einem Wahlmännergremium.63 In einigen westlichen Hauptstädten empfand man dies als Brüskierung von indonesischer Seite, da so noch nicht einmal der Schein eines Aktes demokratischer Selbstbestimmung gewahrt werde.64 Auch im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York war man besorgt, vor allem im Blick auf die Reaktionen der Weltöffentlichkeit, doch nach einigem Hin und Her gaben die UN nach und akzeptierten ein rein indirektes Abstimmungsverfahren. Hintergrund dieses Einlenkens war nicht zuletzt die Einschätzung, dass man unter den Verhältnissen in Westirian, vor allem im Blick auf die völlig unterentwickelte Transport- und Kommunikationsinfrastruktur und die recht geringe administrative Durchdringung der Gebiete, völlig überfordert sein würde mit der Organisation einer direkten Abstimmung nach dem Modus des ,one-man, one-vote‘, die alle Beteiligte letztlich vor kaum zu lösende logistische Probleme stellen würde. Die indonesische Administration spielte bewusst mit diesen Unzulänglichkeiten und suchte gezielt Druck aufzubauen in Richtung eines rein indirekten Verfahrens des ,free choice‘. In den ersten Monaten des Jahres 1968 hatte die indonesische Verwaltung in Westirian eine Vielzahl von Resolutionen der – ernannten – „Representative Councils“ auf regionaler Ebene orchestriert, die die unverbrüchliche Zugehörigkeit zu Indonesien betonten und jegliche Form einer offenen Abstimmung für unnötig erklärten.65 Lokale Proteste gegen dieses Vorgehen, das offensichtlich nicht den freien Willen der Bevölkerung widerspiegelte, wurden brutal niedergeschlagen, Berichte über die dominant anti-indonesische Stimmung unter Papuanern wurden systematisch unterdrückt.66 Obwohl diese krasse Manipulation des (geäußerten) Willens der lokalen papuanischen Bevölkerung auch den vor Ort präsenten UN-Vertretern nicht verborgen geblieben sein dürfte, spielten die Vereinten Nationen letztlich das indonesische Spiel mit.67 Von Seiten des UN-Generalsekretariats wurden erkennbar geschönte Berichte über die (behauptete) pro-indonesische Stimmung im Land geliefert – eine positiv getönte Darstellung, die erkennbar zusammenhing mit der Haltung der in dieser Frage hauptsächlich aktiven Mächte (den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Australien und Niederlande), die dezidiert das indone-
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Ebda., S. 117 ff. Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 120 ff. 64 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 126 ff. 65 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 643 ff. 66 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 113 ff. 67 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 141 ff. 63
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sische Vorgehen unterstützten, weil sie (im Kontext des Kalten Krieges) das SuhartoRegime als Verbündeten betrachteten.68 Auf halber Strecke zur Abstimmung enttäuschte Indonesien dann auch noch die letzten Hoffnungen der Vereinten Nationen auf ein (zumindest symbolisches) Element freier Wahlen im Rahmen des ,act of free choice,. Indonesien bestimmte, dass zusätzliche Mitglieder der ,Assembly,, die im mit der UN konsentierten Plan vorgesehen waren, nicht direkt gewählt, sondern von ad hoc-Versammlungen nominiert werden sollten, die ihrerseits von der indonesischen Verwaltung ernannt wurden – ein Bestimmungsmodus, der letztlich die volle Kontrolle der indonesischen Behörden über die Zusammensetzung des Wahlmännergremiums gewährleistete.69 IV. ,Act of Free Choice‘: Bestimmung der Mitglieder der ,Assembly‘ Im April/Mai 1969 kamen noch einmal Zweifel auf, ob der ,Act of Free Choice‘ in der vorgesehenen Form überhaupt sinnvoll durchgeführt werden könne. Im zentralen Hochland waren massive Volksaufstände der lokalen Stämme ausgebrochen, in deren Gefolge das indonesische Militär die Kontrolle über Teile des Hochlandes verlor.70 Die vor Ort in Westirian präsente UN-Beobachtermission UNRWI fühlte in New York vor, ob die Durchführung der ,Abstimmung‘ angesichts dieser widrigen Umstände nicht um einige Monate verschoben werden könne – doch diesem Vorschlag schlug dezidierte Ablehnung entgegen, sowohl aus dem Generalsekretariat wie aus den Hauptstädten der den Prozess begleitenden Mächte, vor allem aber aus Jakarta.71 Indonesien erließ in der Folge Ausführungsregelungen für die Wahl der zusätzlichen Mitglieder der Wahlmännerversammlung und schritt zur Wahl der ,additional Assembly members‘, gezielt an den Vereinten Nationen vorbei.72 Die UN-Mission wurde bewusst aus den Vorgängen herausgehalten, wurde in Teilen sogar gezielt daran gehindert, zu den Sitzungen der Wahlmännergremien zu reisen, da die UNMission argumentierte, dass die Versammlung „would only be democratic if they were sufficiently large, represented all sections of the population and were clearly elected by the people“.73 Genau an einer solchen Zusammensetzung der ,Assembly‘ aber war Indonesien nicht gelegen. Aus indonesischer Sicht war ein Modus des ,pick and choose‘ von handverlesenen Befürwortern der Zugehörigkeit zu Indonesien klar vorzugswürdig – und genauso verfuhr die indonesische Verwaltung dann auch in der 68
Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 700 ff. Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 708 ff. 70 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 134 ff., sowie Drooglever (Anm. 1), S. 712. 71 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 129 ff. 72 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 143. 73 Siehe Saltford (Anm. 2), S. 143. 69
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Praxis.74 Es wurden zahlreiche ad hoc-Versammlungen an entlegenen Orten des Gebietes abgehalten, ohne Präsenz externer Beobachter, die begleitet waren von einer Verhaftungswelle unter Kritikern der indonesischen Herrschaft und massiver Einschüchterung der Wahlmänner, deren Auswahl ohnehin in völlig intransparenter Weise durch die lokale indonesische Verwaltung erfolgt war75– eine Farce der Auswahl ,repräsentativer‘ Vertreter des Volkes, die von kritischen Beobachtern zutreffend als „UN pantomime“ bezeichnet wurde.76 Verschlimmert wurde all dies noch durch die desolate Menschenrechtslage in Westirian, wo das indonesische Militär unter dem herrschenden Ausnahmezustand in großem Umfang Kritiker der indonesischen Herrschaft in Präventivhaft nahm oder gleich umbrachte oder verschwinden ließ, mit dementsprechender Atmosphäre der Einschüchterung bei den autochthonen Papuanern.77 Forderungen des UN-Beauftragten nach Freilassung der politischen Gefangenen und Gewährleistung von Meinungsfreiheit ließ die indonesische Administration ins Leere laufen, ebenso wie das Ansinnen auf freien Zugang für die ausländische Presse (realiter wurden in einem sehr selektiven Verfahren nur ganz wenige ausländische Berichterstatter zugelassen).78 Die UN-Mission war von indonesischer Seite praktisch kaltgestellt und an jeglicher sinnvollen Beobachtung der Wahlvorgänge gehindert. Die zunehmend offenen Proteste der UN-Mission in West-Irian und des Beauftragten Ortiz Sanz konnten letztlich in New York nicht völlig übergangen werden und es kam zu einem Kompromiss mit Indonesien, der darauf hinauslief, in einem Teil der Bezirke die ,Wahlen‘ zu wiederholen. Das UN-Generalsekretariat hatte sich dann doch dazu durchgerungen, der indonesischen Seite damit zu drohen, die Wahlen könnten in dieser Form von den Vereinten Nationen nicht als legitim bestätigt werden – und erst auf diese Drohung hin fand sich Jakarta zu der Konzession bereit, Neuwahlen in einigen Bezirken durchzuführen.79 Auch diese ,Neuwahlen‘ konnten allerdings nur zu einem kleineren Teil von den UN-Vertretern beobachtet werden – letztlich konnten Mitglieder der UN-Mission nur bei etwa 20 % der Wahlvorgänge zugegen sein, häufig ohne Dolmetscher und ohne wirklichen Einblick in die konkrete Situation vor Ort80. Doch selbst bei diesen symbolischen (und von der indonesischen Verwaltung beschönigt inszenierten) Wahlakten kam es zu massiver Einschüchterung durch indonesische Offizielle und das vor Ort stationierte Militär. Ein britischer Diplomat charakterisierte seine Eindrücke von den Vorgängen mit den Worten: „lächerliches Schauspiel mit vorhersehbarem Ergebnis“.81 74
Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 708 ff. Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 143 ff. sowie Drooglever (Anm. 1), S. 713. 76 Siehe Saltford (Anm. 2), S. 145. 77 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 711 f. 78 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 711 ff. 79 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 148 ff., und Drooglever (Anm. 1), S. 714 ff. 80 Siehe Saltford (Anm. 2), S. 150. 81 Siehe Saltford (Anm. 2), S. 151. 75
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Der UN-Beauftragte Ortiz Sanz hatte zu diesem Zeitpunkt längst resigniert, im Wissen, dass er ohne entschiedenes politisches ,backing‘ aus New York den unzähligen Manipulationen der indonesischen Administration nichts würde entgegensetzen können. Diesen Rückhalt aber gab es ersichtlich nicht – das UN-Generalsekretariat war, ebenso wie die beteiligten Westmächte, letztlich an einer möglichst reibungslosen Besiegelung des Übergangs an Indonesien interessiert.82 Demzufolge verwies der UN-Beauftragte in seinem Bericht zwar auf die indonesische Konzession der (beschränkten) Wiederholung von ,Wahlen‘, schwieg aber völlig zu den Modalitäten dieser ,Wahlen‘.83 Das UN-Generalsekretariat ließ in diplomatischen Kommunikationen erkennen, dass man trotz der offensichtlichen Probleme gewillt war, die Scharade nach indonesischen Bedingungen mitzuspielen und als Verwirklichung des New Yorker Abkommens abzusegnen – eine Haltung, in der es überaus deutliche Unterstützung aus Den Haag, London und Washington erfuhr, denen aus geo-strategischen Gründen an einem Schulterschluss mit Indonesien gelegen war.84 V. ,Act of Free Choice‘: Debatten und Abstimmung in der ,Consultative Assembly‘ Das Ergebnis der ,Abstimmung‘ war eigentlich mit der handverlesenen Beschickung der Wahlmännerversammlung schon vorprogrammiert. Gleichwohl unternahm die indonesische Administration alles, um volle Kontrolle über den Vorgang zu behalten. Alle Mitglieder der ,Consultative Assembly‘ wurden in (vom Militär bewachten) Lagern interniert und mussten über Wochen den Ablauf der ,Wahlmännerversammlung‘ einüben, wenn nötig auch unter Drohungen für Leib und Leben.85 Über Wochen mussten die Wahlmänner (unter Aufsicht indonesischer Militärs und Beamten) Texte einüben, die sie dann später auf den Wahlmännerversammlungen zu deklamieren hatten – Redetexte, in denen der ganze Abstimmungsvorgang als überflüssig erklärt wurde, da die Zugehörigkeit des Gebietes zu Indonesien schon mit der Unabhängigkeitsproklamation von 1945 geklärt worden sei und in denen der ,feste Wille‘ der Papuaner ausgedrückt wurde, nie wieder von Indonesien getrennt zu sein.86 Zugleich wurden – in Vorbereitung der lokalen Versammlungen der Wahlmänner – zigtausende Papuaner, die einer indonesienfeindlichen Haltung verdächtig waren, inhaftiert und in Internierungslager verbracht.87 Die Orte der jeweiligen lokalen Versammlungen waren zudem vollgepackt mit indonesischem Militär und Polizei, die jeglichen Kontakt zwischen Einheimischen und den ausländischen Beobachtern und Journalisten unterbanden. 82
Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 717. Siehe Saltford (Anm. 2), S. 151. 84 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 151 ff. 85 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 158 f. und Drooglever (Anm. 1), S. 721 f. 86 Siehe Drooglever (Anm. 1), S. 722. 87 Zur Plausibilität dieser Zahlen vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 721. 83
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Am 14 Juli 1969 begannen die regionalen Versammlungen der ,Consultative Councils‘, als Untergliederungen der ,Consultative Assembly‘, die in einer festgelegten Sequenz bis zum 2. August 1969 abgehalten wurden.88 In einer Art Wanderzirkus flogen die führenden Repräsentanten Indonesiens in West-Irian ein, ebenso eine kleine Zahl von UN-Beobachtern und einige Botschafter aus Drittstaaten, vor denen das eingespielte Schauspiel abgespult wurde, in einem vorgetäuschten Geist der Freude über die unverbrüchliche Zugehörigkeit zu Indonesien.89 Kritischen Beobachtern blieb nicht verborgen, dass die lokale Bevölkerung mehrheitlich eigentlich eher anti-indonesisch eingestellt war90 – doch für die Äußerung solch ,ketzerischer‘ Auffassungen ließ die Zeremonie schlicht keinen Raum, musste jeder, der aus der Rolle gefallen wäre, doch um Leib und Leben fürchten. Es gab insgesamt acht solch zeremonieller Wahlmännerversammlungen in den Hauptorten der ,Consultative Councils‘, in denen jeweils kollektiv ein Konsens über den ,Willen des Volkes‘ proklamiert wurde – eine einstudierte Scharade, in der nur ein Ergebnis möglich war, ein flammendes Plädoyer für die Zugehörigkeit zu Indonesien. In den wenigen Fällen, in denen Redner Kritik an Indonesien äußerten, wurde dies zum Teil noch im Prozess des Simultandolmetschens korrigiert. Das Schauspiel war durchsichtig, stieß aber auf erstaunlich wenig internationale Kritik.91 Eher selten waren Äußerungen wie die Anmerkung einer australischen Zeitung, die titelte, „even Hitler was satisfied with less than one hundred percent in plebiscites“.92 Dies bezog sich auf den Umstand, dass – angesichts der Umstände erwartbar – alle Regionalversammlungen einstimmig für den Verbleib bei Indonesien stimmten. VI. ,Act of Free Choice‘: Bericht des UNSG und Debatte in UNGA Auf der diplomatischen Bühne war der Vorgang damit aber noch nicht abgeschlossen. Das New Yorker Übereinkommen von 1962 sah zum Abschluss des Verfahrens noch vor, dass sowohl Indonesien wie auch der für die UN-Überwachung der Abstimmung zuständige Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs einen Bericht über die Abstimmung und deren Ergebnisse erstatten sollten, auf dessen Grundlage die UN-Generalversammlung dann in einer Resolution den Abschluss des Votums über die ,Selbstbestimmung‘ des Gebietes zustimmend zur Kenntnis nehmen sollte.93 Indonesien war beim Blick auf dieses abschließende Verfahren nicht ganz wohl, da man befürchtete, einige afrikanische Staaten könnten, eingedenk ihrer eigenen Erfahrungen im Kontext der Dekolonisierung und der eventuellen negativen Wirkun88
Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 160 ff. und Drooglever (Anm. 1), S. 720 ff. Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 160 ff. 90 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 723 f. 91 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 725 f.; vgl. aber auch Saltford (Anm. 2), S. 167 ff., zu den durchaus vorhandenen, kritischen Stimmen. 92 Siehe Saltford (Anm. 2), S. 161. 93 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 727 ff. 89
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gen eines solchen ,Präzedenzfalls‘ auf Konstellationen wie Rhodesien und Südafrika, kritische Einwände äußern und eine ernsthafte Diskussion über die Angemessenheit des für den ,Act of Free Choice‘ praktizierten Verfahrens vom Zaun brechen.94 Die Befürchtung wurde im Kabinett des UN-Generalsekretärs und in den diplomatischen Apparaten in Washington, London und Den Haag geteilt, wo man ein großes Interesse hatte, einen Schlussstrich unter die Angelegenheit zu ziehen, koste es was es wolle.95 Die indonesische Diplomatie begann dementsprechend sehr proaktiv, die eventuell kritischen afrikanischen Staaten zu bearbeiten und an ihre Drittwelt- und Blockfreiensolidarität zu appellieren – eine Bemühung, die in der finalen Schlussabstimmung dann auch Früchte trug. Der indonesische Schlussbericht war, wie zu erwarten, in der Sache sehr positiv gehalten und betonte mit euphorischen Worten, wie die Bevölkerung von West-Irian sich in einem Verfahren völlig fairer und freier Konsultation einmütig für die Zugehörigkeit zu Indonesien entschieden habe. Für den Sonderbeauftragten Ortiz Sanz stellte die Abfassung des Berichts dagegen eine deutlich schwierigere Aufgabe dar, war er doch in Teilen ein Kritiker des indonesischen Vorgehens in der Durchführung des ,Act of Free Choice‘ gewesen – ohne dass diese Kritik im Bericht allzu massiv aufscheinen durfte.96 Der Bericht war dementsprechend recht allgemein gehalten und ist interessant eher im Blick auf die Punkte, zu denen dort nichts gesagt wird, als im Detail der Ausführungen zu den Modalitäten des Aktes der Selbstbestimmung. Der Bericht des Sonderbeauftragten Ortiz Sanz an den UN-Generalsekretär gipfelt in den Schlussfolgerungen, die das Ergebnis mit den Worten zusammenfassen: „… it can be stated that, with the limitations imposed by the geographical characteristics of the territory and the general political situation in the area, an act of free choice has taken place in West Irian in accordance with Indonesian practice, in which the representatives of the population have expressed their wish to remain with Indonesia“.97 Angesichts des zum Teil sehr erbitterten Tauziehens zwischen Ortiz Sanz und der indonesischen Administration war diese zusammenfassende Darstellung denn doch mehr als geschönt. Der abschließende Bericht des Generalsekretärs an die Generalversammlung beschränkte sich auf eine sehr knappe Zusammenfassung der Befunde aus den angehängten Berichten Indonesiens und des Sonderbeauftragten für West-Irian. In seiner kurzen Zusammenfassung erwähnte der Generalsekretär zwar beiläufig einige der von Ortiz Sanz im Laufe des Verfahrens gemachten Vorbehalte, schloss sich dann aber dem Grundtenor des Berichts von Ortiz Sanz an, mit der Feststellung „in accordance with Indonesian practice“ hätten die Repräsentanten der papuanischen Bevölkerung „expressed their wish to remain with Indonesia“.98 94
Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 731. Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 730 f. 96 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 729 ff. 97 Vgl. Drooglever (Anm. 1), S. 739. 98 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 172, ferner Drooglever (Anm. 1), S. 738.
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Auf der Grundlage dieses Berichts diskutierte die Generalversammlung in einer Reihe von Plenardebatten zwischen dem 13. und dem 19. November die Frage des ,Act of Free Choice‘. Wie von Indonesien befürchtet, übten einige kleinere afrikanische Staaten heftige Kritik am indonesischen Vorgehen, warfen der indonesischen Verwaltung Rassismus vor und wendeten sich gegen das Argument, die Papuaner seien ,zu primitiv‘, um ihr Schicksal selbst zu bestimmen.99 Mit der Absegnung eines derartigen Präzedenzfalles schaffe man ein Modell, das von Regimen wie Rhodesien und Südafrika, aber auch dem damals noch Widerstand gegen die Dekolonisierung leistenden Portugal problemlos missbraucht werden könne, um seinerseits Fassaden eines ,act of free choice‘ zu errichten. Der am 19. November 1969 von Indonesien eingebrachte – und von den Niederlanden und einigen verbundenen Staaten wie Belgien und Luxemburg sowie Malaysia und Thailand unterstützte – Resolutionsentwurf wurde dementsprechend kontrovers diskutiert, auch mit einzelnen Änderungsanträgen überzogen, die sich jedoch nicht durchsetzen konnten.100 Am Ende wurde die Resolution in der vorgeschlagenen Fassung mit 84 Ja-Stimmen bei dreißig Enthaltungen (ohne Gegenstimme) angenommen101 – für Indonesien trotz der Enthaltungen ein großer Sieg. Das Kapitel West-Irian war damit auf der internationalen Bühne endgültig geschlossen. VII. Epilog: Fünf Jahrzehnte Blut und Tränen Den Preis für diese – im Kern mehr als beschämende – Scharade hatte die indigene Bevölkerung Westpapuas zu zahlen.102 Aus letztlich rein geostrategischen Motiven hatten die Niederlande, die über lange Zeit ihre Kolonie West-Neuguinea vernachlässigt hatten, 1962 der faktischen Übertragung der Herrschaftsgewalt an Indonesien zugestimmt, die dann durch den ,Act of Free Choice‘ 1969 formal besiegelt wurde. Weder die Niederlande noch die USA oder andere Westmächte hatten ein Interesse, diese formale Bestätigung des Herrschaftsübergangs in Zweifel zu ziehen, und auch die Vereinten Nationen spielten im Ergebnis das Schauspiel ohne Murren mit.103 War die niederländische Kolonialherrschaft, aufgrund der geringen Durchdringung des Gebietes mit Strukturen staatlicher Hoheitsgewalt, für weite Teile der indigenen Bevölkerung erträglich gewesen, so änderte sich dies rapide mit der Übernahme der Herrschaftsgewalt durch Indonesien. Wie ein amerikanischer Diplomat etwas zynisch im Kontext der Überleitung der Herrschaft über Westpapua bemerkte, werde hier letztlich eine klassisch weiße Kolonialherrschaft durch eine neue Form ,brauner‘ 99
Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 173 ff. Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 175. 101 UNGA Res. A/L. 576 of 19 Nov. 1969. 102 Vgl. Richard Chauvel, West Papua: Indonesia,s Last Regional Conflict, Small Wars & Insurgencies 32:6 (2021), S. 913 – 944. 103 Vgl. Saltford (Anm. 2), S. 180 ff, vgl. ferner: Jacques Bertrand, Nationalism and Ethnic Conflict in Indonesia, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2004, S. 148. 100
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Kolonialherrschaft ersetzt.104 Die in weiten Teilen des Gebietes wenig spürbare Kolonialherrschaft der Niederländer, die große Teile der lokalen Gesellschaft nach ihren eigenen Traditionen und Praktiken hatte leben lassen, ohne allzu drückende Einmischung in die lokalen Verhältnisse, wurde ersetzt durch eine äußerst brutale Fremdherrschaft des – im Kern javanisch geprägten – indonesischen Militärs und Sicherheitsapparates.105 Indonesien war an einer durchdringenden Kontrolle über das Gebiet interessiert, das eine Vielzahl wertvoller Bodenschätze und Rohstoffe barg, die der Ausbeutung harrten, und wollte zudem den Bevölkerungsüberschuss der zentralen Inseln (vor allem Javas) durch Programme der Binnenmigration in die noch unerschlossenen Außenprovinzen lenken. Dass dies nicht auf die Zustimmung der eingesessenen Papuaner stoßen würde, war von Anfang an klar; zudem war die indigene Bevölkerung Westpapuas (oder ,Westirians‘, wie es damals noch genannt wurde) sowieso in der überwiegenden Mehrheit anti-indonesisch eingestellt, wie die indonesische Verwaltung schmerzhaft im Kontext der Organisation des ,Act of Free Choice‘ hatte erfahren müssen. Je verbissener der Widerstand der lokalen Papuaner wurde, desto brutaler fielen die Gegenreaktionen der indonesischen Verwaltung und Sicherheitsorgane aus.106 Hatte es im Kontext der ,Volksbefragung, von 1969 noch eine Vielzahl lokaler Aufstände gegeben, so bildete sich nach Verfestigung der indonesischen Herrschaft eine organisierte Widerstandsbewegung, die Organisasi Papua Merdeka (OPM), die in kleinen Gruppen, über das Land verteilt, aus dem Dschungel heraus einen Guerillakrieg gegen die indonesische Armee und Verwaltung führte. Parallel bildete sich ein politischer Arm des papuanischen Widerstands, der in den harten Jahren der Suharto-Militärdiktatur praktisch nur im Untergrund operieren konnte.107 Die alteingesessenen Papuaner hatten unter den neuen Verhältnissen kaum noch etwas zu sagen, den Ton gaben javanische Militärs und Administratoren an. In der Wahrnehmung der alteingesessenen Papua-Bevölkerung, die sich ethnisch (als Melanesier) und kulturell (als Christen) krass von den herrschenden Javanern, im Kern muslimischen Malaien, unterscheidet, wurde die indonesische Herrschaft bald nur noch als eine Form militärischer ,Besetzung, empfunden.108 In den langen Jahren
104 Vgl. Paul Antonopoulos/Drew Cottle, Forgotten Genocide in Indonesia: Mass Violence, Resource Exploitation and Struggle for Independence in West Papua, in: Frank Jacob (ed.), Genocide and Mass Violence in Asia (Genocide and Mass Violence in the Age of Extremes, Vol. 1), Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2019, S. 160, 162. 105 Vgl. Jim Elmslie/Camelia Webb-Gannon/Peter King, Anatomy of an Occupation: The Indonesian Military in West Papua. A Report of the West Papua Project of the Centre for Peace and Conflict Stidies (OPACSA), The University of Sydney, August 2011. 106 Vgl. hierzu eingehend Richard Chauvel, West Papua: Indonesia,s Last Regional Conflict, Small Wars & Insurgencies 32:6 (2021), S. 913, 918 ff., 923 ff. 107 Vgl. auch hierzu Chauvel (Anm. 106), S. 923 ff. 108 Vgl. Kjell Anderson, Colonialism and Cold Genocide: The Case of West Papua, Genocide Studies and Prevention: An International Journal 9:2 (2015), S. 9, 12 ff., sowie Jim Elmslie/CamelliaWebb-Gannon/Peter King, Anatomy of an Occupation: The Indonesian Mi-
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der Militärdiktatur (bis 1998) stand Westpapua unter einem Ausnahmeregime und das Militär hatte fast völlige Freiheit in der Wahl der Mittel, mit praktisch völliger Straflosigkeit für all die Gräuel und Untaten, die im Rahmen der ,Counter-Insurgency‘ von Militär und Polizei begangen wurden. Besonders taten sich dabei die Spezialkommandos der sogen. ,Kopassus‘ hervor, die mit besonderer Brutalität gegen jedes Anzeichen von Widerstand oder auch nur Protest vorgingen.109 Ganze Dörfer wurden von diesen Einheiten massakriert, indigene Stammesgemeinschaften wurden systematisch vertrieben, wenn sie Bergbau- oder Plantagenprojekten oder der Ansiedlung von Indonesiern im Wege standen. Eine Spur von Raub, Mord, Plünderung und Vergewaltigung zog sich in den Folgejahrzehnten durch indigene Gemeinschaften, die es wagten, dem Staat in seinen ,Entwicklungsprojekten‘ Widerstand zu leisten oder die auf irgendeine Art mit dem organisierten Widerstand der papuanischen Freiheitsbewegung in Verbindung gebracht wurden.110 Politische Dissidenz war nicht nur unerwünscht, sondern wurde vielfach mit dem Leben bezahlt – gezielte Tötungen (,extrajudicial killings‘) von politischen Oppositionellen waren an der Tagesordnung, gelegentlich auch deren Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen und langfristige Freiheitsentziehung ohne gerichtliche Kontrolle waren Routine, einschließlich systematischer Folter.111 Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit waren praktisch aufgehoben, ,illegale Versammlungen‘ wurden unter Einsatz von Waffengewalt aufgelöst, mit zahlreichen Todesopfern im Gefolge.112 Mit anderen Worten: Die Menschenrechtsbilanz war katastrophal, noch schlimmer als im (ebenfalls von der Militärdiktatur harsch unterdrückten) Kerngebiet Indonesiens, die indigene Bevölkerung Westpapuas lebte letztlich unter einer Art permanentem Belagerungszustand. Der fast vollständige Ausschluss ausländischer Journalisten aus dem Gebiet, denen durchgängig Visa verweigert wurden, später dann auch die Blockade des Internets in Westpapua sorgten dafür, dass nur wenig Konkretes über die Zustände nach außen drang. Mit dem Ende der Militärdiktatur 1998 schienen sich die Verhältnisse zunächst etwas zu bessern.113 In Jakarta kam eine demokratisch gewählte Regierung ins Amt, 2001 versprach der Präsident Westpapua den neuen Status einer ,Sonderautonomie‘, die dann auch tatsächlich verabschiedet wurde.114 Eine Reihe von Zuständiglitary in West Papua. A Report for the West Papua Project at the Centre for Peace and Conflict Studies, The University of Sydney, August 2011, S. 19 ff. 109 Vgl. zu den Sondereinheiten der ,Kopassus‘ Elmslie/Webb-Gannon/King (Anm. 108), S. 19 f. 110 Vgl. Antonopoulos/Cottle (Anm. 104), S. 161; Chauvel (Anm. 106), S. 921 ff. 111 Siehe insoweit etwa Chauvel (Anm. 106), S. 923, ferner Anderson (Anm. 108), S. 13. 112 Vgl. Chauvel (Anm. 106), S. 922 f.; ferner Anderson (Anm. 108), S. 13. 113 Vgl. Chauvel (Anm. 106), S. 9. 924 f., ferner im Detail: Peter King, West Papua & Indonesia since Suharto: Independence, Autonomy or Chaos?, Sydney: Univ. of New South Wales Press 2004. 114 Vgl. zur ,Sonderautonomie‘ von 2001 Chauvel (Anm. 106), S. 931 ff., sowie Elmslie/ Webb-Gannon/King (Anm. 108), S. 6.
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keiten wurde an eine gewählte Regionalregierung in Westpapua übergeleitet, deren Wirken an den katastrophalen Zuständen der indigenen Gemeinschaften allerdings kaum etwas zu ändern vermochte. Bald versanken die neuen Autonomiestrukturen in Korruption und Klientelismus, deren Profiteure vor allem zugewanderte Indonesier waren, daneben eine (sehr kleine) papuanische Elite, die sich an die Verhältnisse angepasst hatte.115 Für die Lage der indigenen Gemeinschaften auf dem Land prägend blieb der weiterhin brutal geführte ,counter insurgency‘-Einsatz des indonesischen Militärs, die überall nur Verrat und organisierten Widerstand witterten und weiter brutal gegen jegliche Form papuanischer Dissidenz vorgingen. Oppositionsfiguren der Papua-Bevölkerung blieben weiter Freiwild für gezielte Tötungen, willkürliche Inhaftierungen und Folter, Widerstand gegen staatliche ,Entwicklungsprojekte‘ leistende Stammesgemeinschaften wurden weiter brutal von ihrem Land vertrieben, auf dem Land herrschte nach wie vor völlige Rechtlosigkeit, die im Übrigen auch den ausländischen Konzernen der ,extractive industries‘ zugutekam, deren Interessen (gegen entsprechende Bezahlung) vom Militär mit Gewalt gegen die lokalen Gemeinschaften durchgesetzt wurden.116 Prägendes Grundmerkmal der indonesischen Herrschaft blieb der Wille zur brachialen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Westpapuas, deren rücksichtsloser Nutzung die lokale Bevölkerung, soweit sie ihr im Wege stand, zu weichen hatte.117 Belange der lokalen indigenen Gemeinschaften wurden von indonesischer Seite als irrelevant wahrgenommen, wobei auch immer wieder ein tiefsitzender Rassismus der muslimisch-malaiischen Indonesier gegenüber den ,primitiven‘ Papuanern zum Ausdruck kommt.118 Kurz gefasst: Indonesien war und ist an Westpapua als Gebiet interessiert, nicht an dessen Bevölkerung. Hauptinteresse ist immer die Ausbeutung der vielfältigen natürlichen Ressourcen des Gebiets gewesen, von den großen Vorkommen an Bodenschätzen bis zu dem Holz und den aus der Abholzung zu gewinnenden Flächen für industrielle Plantagenwirtschaft, insbesondere Palmölplantagen.119 Auf negative Umweltwirkungen wurde dabei keine Rücksicht genommen, Proteste gegen die brachiale Ausbeutung der Ressourcen und deren begleitende Umweltschäden wurden regelmäßig brutal unterdrückt.120 Die damit einhergehende Umweltzerstörung entzieht mehr und mehr den indigenen Gemeinschaften der Papua die Grundlagen ihres traditionellen Lebensstils (wie auch der damit verbundenen Kultur).121 Zugleich diente Westpapua seit der Etablierung der indonesischen Herrschaft 115
Vgl. Anderson (Anm. 108), S. 13. Siehe dazu Anderson (Anm. 108), S. 13. 117 Vgl. Antonopoulos/Cottle (Anm. 104), S. 167 ff. 118 Vgl. Chauvel (Anm. 106), S. 9, 929 ff. 119 Vgl. David Adam Stott, Indonesian Colonisation, Resource Plunder and West Papuan Grievances, The Asia-Pacific Journal 9:12 (2011), S. 1 – 33; vgl. ferner Antonopoulos/Cottle (Anm. 104), S. 161. 120 Vgl. Anderson (Anm. 108), S. 13. 121 Vgl. hierzu Esther Heidbüchel, The West Papua Conflict in Indonesia: Actors, Issues, and Approaches, Wettenberg: Johannes Hermann J & J Verlag 2007, S. 14. 116
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als Überlauf für die dynamisch wachsende Bevölkerung der Kernregionen des Inselreiches, vor allem Javas. Im Rahmen des sogen. ,Transmigrasi‘-Programms der indonesischen Regierung wurden mehr und mehr Siedler aus den Kernregionen Indonesiens in Westpapua angesiedelt, das dadurch demographisch unaufhaltsam sein Gesicht veränderte.122 Aus einer wenig entwickelten Randregion mit geringer Bevölkerungsdichte wurde eine Siedlerkolonie; die indigenen Papuaner wurden damit zusehends zu einer Minderheit im eigenen Land. Hatten die zugewanderten Indonesier noch Anfang der 1960er Jahre einen Anteil von gerade einmal 4 % an der Gesamtbevölkerung, so ist deren Anteil im Verlauf der nun gut fünfzig Jahre indonesischer Herrschaft auf über 50 % gestiegen.123 Die indigene Papuabevölkerung wird immer mehr zur Minderheit im eigenen Land – ein Prozess, der im besser entwickelten Küstenland kaum noch reversibel ist. Nur in den weniger entwickelten Hochlandregionen stellen die einheimischen Papua-Gemeinschaften noch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung.124 Die systematischen Vertreibungen vieler Gemeinschaften, die diesen die materielle Grundlage ihrer traditionellen Lebensführung genommen hat, die soziale und ökonomische Marginalisierung der indigenen Bevölkerungsteile und die forcierte ,Indonesierung‘ über Bildung und Wirtschaft tun ein Übriges, um die soziale Kohäsion und kulturelle Identität der indigenen Bevölkerungsgruppen zu zerstören – ein Prozess, der von Genozidforschern als Prozess des ,kalten Genozids‘ (,cold genocide‘) beschrieben worden ist.125 Angesichts der Umstände ist es nicht verwunderlich, dass die weit überwiegende Mehrheit der indigenen Papuaner ein starkes Ressentiment gegen die indonesische Herrschaft entwickelt hat und eine Zukunft für sich nur noch in der Perspektive einer (wenn auch realpolitisch utopischen) Eigenstaatlichkeit Westpapuas zu erkennen vermag. Sozialwissenschaftliche Forschungen126, aber auch an die Öffentlichkeit gelangte Lageberichte des indonesischen Militärs127 zeigen eindringlich, dass die überwältigende Mehrheit der Papuaner die Ziele der separatistischen Unabhängigkeitsbewegung begrüßt und selbst gewaltsamen Widerstand für legitim hält. Zwar sind die gut dreißig bewaffneten Widerstandsgruppen, die (unter dem Dach der ,West Papuan National Liberation Army‘ TPNPB) über das Land verteilt aus dem Dschungel heraus einen Guerillakrieg gegen das indonesische Militär führen, militärisch eher unbedeutend – die Gruppen sind klein und schlecht bewaffnet, nur zu 122
Vgl. Antonopoulos/Cottle (Anm. 104), S. 163 ff. Vgl. Anderson (Anm. 108), S. 13. 124 Vgl. Jim Elmslie, The Great Divide: West Papuan Demographics Revisited – Settlers Dominate Coastal Regions but the Highlands Still Overwhelmingly Papuan, The Asia-Pacific Journal 15:2 (2015), S. 1 – 12. 125 Siehe Anderson (Anm. 108), S. 19 ff.; vgl. ferner Jil Elmslie/Camellia Webb-Gannon, A Slow-Motion Genocide: Indonesian Rule in West Papua, Griffith Journal of Law and Human Dignity 1:2 (2013), S. 142 ff. 126 Vgl. nur Chauvel (Anm. 106), S. 923 ff., 932 ff. 127 Zu den an die Öffentlichkeit gelangten Dokumenten des indonesischen Militärs vgl. Elmslie/Webb-Gannon/King (Anm. 108), S. 3 ff. 123
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Nadelstichen gegen Militär und Verwaltung in der Lage, bedrohen in militärischer Sicht die indonesische Herrschaft nicht ernsthaft.128 Symbolisch spielen sie aber eine wichtige Rolle für die Papuaner, als sichtbarer Leuchtturm ihres Widerstands.129 Deutlich wirkmächtiger ist der politische Arm der papuanischen Unabhängigkeitsbewegung, der großen Rückhalt in der Bevölkerung hat, gerade auch unter den jungen Generationen, und in Teilen auch den indonesischen Verwaltungsapparat durchsetzt hat.130 Je brutaler Polizei und Militär gegen die ,Separatisten‘ vorgehen, je offener der herrschende Rassismus gegen die indigenen Bevölkerungsteile dabei zu Tage tritt, desto mehr wird der Widerstandsgeist der Papua-Bevölkerung gestärkt.131 Aus einer zutiefst fragmentierten, rein tribal organisierten Bevölkerung isoliert lebender Stammesgemeinschaften ist über die Jahrzehnte eine von einem übergreifenden Gemeinschaftsgefühl erfüllte, indigene ,Nation‘ Westpapuas geworden.132 Dass dieser Befund das indonesische Militär, die Sicherheitsorgane und Geheimdienste beunruhigt, ist in der Einheitslogik der indonesischen Eliten nachvollziehbar – doch kennen Militär, Polizei und Geheimdienste nur eine Antwort auf diesen Befund: noch mehr und noch brutalere Repression.133 Die Region ist damit in einem Teufelskreis der Gewalt gefangen. International wird dieser zutiefst repressive, wenn nicht genozidale Charakter der indonesischen Herrschaft zunehmend thematisiert. In den ersten Jahrzehnten seiner Herrschaft über Westpapua war Indonesien mit seinem antikolonialen Narrativ recht erfolgreich. Als eines der Gründungsländer der Blockfreienbewegung bespielte es die Dekolonisierungsreflexe der Drittweltstaaten und konnte sich auf eine gewisse ,antikoloniale‘ Solidarität verlassen. Die Niederlande hätten – so die Grundzüge des historischen Narrativs – West-Neuguinea willkürlich von Niederländisch-Ostindien abgetrennt, um sich in den Besitz der reichen Bodenschätze zu setzen und ihre Kolonialherrschaft fortzusetzen.134 Nach dem Grundsatz des post-kolonialen ,uti possidetis‘ aber sei Westpapua eigentlich ein untrennbarer Bestandteil Indonesiens, der mit dem gestuften Herrschaftsübergang zwischen 1962 und 1969 rechtmäßig an Indonesien übergegangen sei.135 Der von den UN überwachte ,Act of Free Choice‘ habe zudem förmlich bestätigt, dass die Bevölkerung Westpapuas einhellig die Zugehörigkeit zu Indonesien wünsche. Letzteres stellt allerdings die Schwachstelle des Narrativs dar, denn das New Yorker Abkommen wie die einschlägigen UN-Resolutionen haben klar postuliert, dass der Bevölkerung Westpapuas ein eigenes Selbstbe128
Vgl. Elmslie/Webb-Gannon/King (Anm. 108), S. 7 ff.; Chauvel (Anm. 106), S. 915 f. Vgl. Chauvel (Anm. 106), S. 917. 130 Vgl. Elmslie/Webb-Gannon/King (Anm. 108), S. 13 ff., sowie Chauvel (Anm. 106), S. 916. 131 Siehe Chauvel (Anm. 106), S. 918 ff., 929 ff. 132 Vgl. hierzu ebenfalls Chauvel (Anm. 106), S. 934 f. 133 Vgl. Elmslie/Webb-Gannon/King (Anm. 108), S. 18. 134 Vgl. hierzu Nino Viartasiwi, The Politics of History in West Papua-Indonesia Conflict, Asian Journal of Political Science 26:1 (2018), S. 141, 142 ff. 135 Vgl. Viartasiwi (Anm. 134), S. 146 ff. 129
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stimmungsrecht zusteht – und dieses ist im ,Act of Free Choice‘ von 1969 nicht ernsthaft ausgeübt worden, sondern in einer Kette indonesischer Manipulationen unterdrückt worden. Das entsprechende Gegennarrativ der papuanischen Unabhängigkeitsbewegung (und der Exildiaspora der papuanischen Intellektuellen) hakt an diesem Punkt ein und beharrt darauf, das Selbstbestimmungsrecht der Papuaner sei bis heute nicht ausgeübt und damit eine nach wie vor offene Frage.136 Zumindest im Kontext der melanesischen Staatengruppe, organisiert in der ,Melanesian Spearhead Group‘ (MSG), findet diese Position zunehmend Unterstützung. Die papuanische Nationalbewegung kann sich hier mit Nauru und Vanuatu auf zwei dezidierte Unterstützerstaaten verlassen, die auch erreicht haben, dass die nationale Widerstandsbewegung Westpapuas als Beobachter zur Regionalorganisation der melanesischen Staaten zugelassen wurde.137 Selbst im Kontext der Vereinten Nationen wird das Thema der (fehlenden) Selbstbestimmung Westpapuas seit einigen Jahren wieder offen thematisiert, sehr zum Ingrimm Indonesiens. Ein Vorstoß, West-Papua auf die Liste der ,non-self-governing territories‘ zu setzen, ist zwar im sogen. ,24er-Komitee‘ krachend gescheitert.138 Einige melanesische Staaten haben aber in den Debatten der UN-Generalversammlung die ungelöste Westpapua-Frage aufgebracht und die hartleibige Sabotage jeder ernsthaften Selbstbestimmung durch Indonesien angeprangert.139 Große Unterstützung, vor allem von Seiten der Groß- und Mittelmächte, erfuhr dieser Vorstoß bislang jedoch nicht.140 Die schmähliche Sünde, ja den Verrat, den die Vereinten Nationen 1969 am Grundsatz der Selbstbestimmung begangen haben, ist aber nicht mehr ein für alle Mal begraben, sondern taucht als ,Untoter‘ zunehmend wieder auf. Die katastrophale Menschenrechtslage und der ,kalte Genozid‘, den Indonesien an den Papuanern begeht, werden auf mittlere Sicht das ihre dazu beitragen, die Westpapua-Frage wieder als die ungelöste Frage der Selbstbestimmung im internationalen Kontext erscheinen zu lassen, die sie im Kern tatsächlich ist. Vielleicht ist es schon zu spät, der indigenen Bevölkerung Westpapuas realiter noch Gerechtigkeit angedeihen zu lassen – vor allem angesichts der massiven demographischen Verschiebungen in Westpapua. Das Skandalon, das in der (mit internationaler Billigung und Mithilfe erfolgten) Überwältigung des Willens der Papuaner im Kontext des ,Act of Free Choice‘ steckt, wird aber zunehmend wieder als der Verrat an grundlegenden Prinzipien der UNCharta erkennbar, als der sich diese erbärmliche Travestie eines Aktes der Selbstbestimmung in Wahrheit erweist.
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Vgl. auch hierzu Viartasiwi (Anm. 134), S. 148 ff. Vgl. Antonopoulos/Cottle (Anm. 104), S.173 f.; Chauvel (Anm. 106), 921 f. 138 Vgl. Antonopoulos/Cottle (Anm. 104), S. 172 f. 139 Vgl. hierzu ebenfalls Antonopoulos/Cottle (Anm. 104), S. 173 f. 140 Vgl. Antonopoulos/Cottle (Anm. 104), S. 174 ff., sowie im Detail: B. Singh, Papua: Geopolitics and the Quest for Nationhood, New Brunswick: Transaction Publ. 2008. 137
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*** Abstract Stefan Oeter: The ‘Act of Free Choice’ in Westpapua 1969 – Parody of a Territorial Referendum (Die Abstimmung in Westpapua 1969 – Zerrbild eines Gebietsreferendums), in: Referendums on Territorial Affiliation with Special Reference to the Referendums after the First World War (Volksabstimmungen über die territoriale Zugehörigkeit unter besonderer Berücksichtigung der Volksabstimmungen nach dem Ersten Weltkrieg), ed. by Gilbert H. Gornig/Peter Hilpold, Berlin 2023, pp. 293 – 316. The contribution deals with the ,Western Papua‘ region, the western half of the island of New Guinea, and the fate of that region in the context of the process of decolonization. New Guinea for a long time had remained free of colonial rule. The western part (now called ,Western Papua‘) nominally came under Dutch rule in 19th century, but the Dutch colonial administration did not undertake serious efforts to get effective control over the region throughout the 19th century. Large parts of the region remained out of colonial rule, even in the first half of the 20th century. The decolonization of the Dutch West Indies in the late 1940s, leading to the creation of the state of Indonesia, excluded Western Papua, which remained under Dutch administration. The region was only much later, in 1963, put under Indonesian control, under specific circumstances explained in the paper. The story of this ,Anschluss‘ is complex and contained, as one element, an ,act of free choice‘ of the local population which was provided to take place some years later, in 1969. This ,act of free choice‘ was formally organized under UN supervision, but remained under Indonesian control, which gave room for a number of manipulations that made the act more or less a farce. The ,Act of Free Choice‘ of 1969 can serve as a negative example of a ,territorial referendum‘ preserving only the façade of participation. The consequences of such an aborted self-determination have been tragic for the indigenous population of Western Papua. The region has never come to peace, even now after fifty years; the protest (and resistance) of the indigenous population against the injustices of Indonesian rule is brutally suppressed and the natural resources of the region are recklessly exploited, with wide-scale environmental damage in its wake. The indigenous population of Papuans has become a minority in its own land, socially and economically marginalized and largely deprived of its rights.
Die Autoren / The Authors Prof. Dr. Gunda Barth-Scalmani Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren in Salzburg 1958, Studium der Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte an den Universitäten Salzburg und Wien, Mag. phil. 1982, Dr. phil. 1991, Stipendiatin am Institut für Europäische Geschichte in Mainz 1989, Assistentin am hiesigen Institut seit 1994. Habilitation in Österreichischer Geschichte 2001. Born in Salzburg in 1958, studied history, German and art history at the Universities of Salzburg and Vienna, Mag. phil. 1982, dr phil. 1991, scholarship holder at the Institute for European History in Mainz 1989, assistant at the local institute since 1994. Habilitation in Austrian history 2001.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Österreichische Geschichte Austrian history
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Gemeinsam mit Margareth Lanzinger/Ellinor Forster/ Gertrude Langer-Ostrawsky, Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge der Neuzeit im europäischen Vergleich (= L’Homme Archiv. 3), Köln/Weimar/Wien 2010; Hrsg. gemeinsam mit Joachim Bürgschwentner, Matthias Egger, Matthias König, Christian Steppan, Zeit – Raum – Innsbruck. Militärische und zivile Kriegserfahrungen 1914 – 1918 (= Schriftenreihe des Innsbrucker Stadtarchivs Bd. 11), Innsbruck 2010; Memory-Landscapes of the First World War: The Southwestern Front in Present-Day Italy, Austria and Slovenia, in: From Empire to Republic: Post-World War I Austria (= Comtemporary Austrian Studies. Vol. 19), hrsg. von Günter Bischof/Fritz Plasser/Peter Berger, New Orleans: University of New Orleans Press, Innsbruck: Innsbruck University Press 2010, S. 222 – 253; Hrsg. gemeinsam mit Brigitte Mazohl-Wallnig und Hermann Kuprian, Ein Krieg – Zwei Schützengräben, Österreich – Italien und der Erste Weltkrieg in den Dolomiten 1915 – 1918, Bozen 2005; Le donne durante la Prima Guerra Mondiale nella storiografia austriaca, in: Donne in guerra 1915 – 1918. La Grande Guerra attraverso l’analisi e le testimonianze di una terra di confine. Hrsg. von Paola Antolini, Gunda Barth-Scalmani, Matteo Ermacora u. a. (= Judicaria summa Laganensis. 12), Rovereto/Tione 2006, S. 31 – 45; „Kriegsbriefe“. Kommunikation zwischen Klerus und Kirchenvolk im ersten Kriegsherbst 1914 im Spannungsfeld von Patriotismus und Seelsorge, in: Tirol – Österreich – Italien. FS für Josef Riedmann, hrsg. von Klaus Brandstätter und Julia Hörmann (= Schlern-Schriften 330), Innsbruck 2005, S. 67 – 76; Die Entwicklung des Kinderspitalswesens in Österreich vom ausgehenden 18. Jahrhundert
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Die Autoren / The Authors
bis zum Ende der Monarchie, in: Festschrift 50 Jahre Österreichische Gesellschaft für Kinderund Jugendheilkunde, hrsg. von Wolfgang Sperl und Reinhold Kerbl, Salzburg 2012, S. 11 – 29 und 76 – 78; gemeinsam mit Joachim Bürgschwentner/Matthias König/Christian Steppan (Hrsg.), Forschungswerkstatt: Die Habsburgermonarchie im 18. Jahrhundert/Research Workshop: The Habsburg Monarchy in the 18th Century (= Jahrbuch der österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 26), 2012; gemeinsam mit Margret Friedrich und Brigitte Mazohl-Wallnig, Öffentliche und private Räume, in: Brigitte Mazohl-Wallnig (Hrsg.), Die andere Geschichte. Eine Salzburger Frauengeschichte von der ersten Mädchenschule (1685) bis zum Frauenwahlrecht, Salzburg 1995, S. 17 – 99. Seit 2008 Mit-Hrsg. der e-Zeitschrift für studentische Arbeiten der Institute für Alte Geschichte und Altorientalistik, Geschichtswissenschaften und Ethnologie sowie Zeitgeschichte: http://historia.scribere.at.
Kontaktadresse / Contact Address: Prof. Dr. Gunda Barth-Scalmani Tel.: +43 512 507 – 43216 Fax: +43 512 507 – 43396 E-Mail: [email protected]
* Prof. DDr. Wilhelm Brauneder Persönliche Angaben / Personal Data: Wilhelm Brauneder, geb. 1943 ist ein österreichischer Jurist, Rechtshistoriker und ehemaliger Politiker (FPÖ). Von 1980 bis 2011 war er ordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, 1987 bis 1989 auch Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät. Von 1994 bis 1999 war er Abgeordneter zum Nationalrat und von 1996 bis 1999 Dritter Nationalratspräsident. Wilhelm Brauneder, born 1943, is an Austrian lawyer, legal historian and former politician (FPÖ). From 1980 to 2011 he was a full university professor at the Institute for Legal and Constitutional History at the University of Vienna, and from 1987 to 1989 also Dean of the Faculty of Law. From 1994 to 1999 he was a member of the National Council and from 1996 to 1999 the Third President of the National Council.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Deutsche Rechtsgeschichte, Deutsches Privatrecht und Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte German Legal History, German Private Law and Austrian Constitutional and Administrative History
Die Autoren / The Authors
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Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die Entwicklung des Ehegüterrechts in Österreich. Ein Beitrag zu Dogmengeschichte und Rechtstatsachenforschung des Spätmittelalters und der Neuzeit, Salzburg/München 1973 (zugleich: Habilitationsschrift, Universität Wien, 1971); Die historische Entwicklung der modernen Grundrechte in Österreich (= Politische Bildung, 54), Wien 1987; Leseverein und Rechtskultur. Der Juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840 bis 1990, Wien 1992; Közép-Európa újabb magánjogtörténete Ausztria példáján (1900-ig) (hrsg. von Gabor Hamza), Budapest 1995; Deutsch-Österreich 1918. Die Republik entsteht, Wien 1999; Österreichische Verfassungsgeschichte, 11. Auflage, Wien 2009; Sommerfrisches. Episoden und Anekdoten vom Salzkammergut, Hall in Tirol/ Wien 2009; Quellenbuch zur österreichischen Verfassungsgeschichte 1848 – 1955. Anhang: ältere Quellen, Wien 2012; Österreichs Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (ABGB). Eine europäische Privatrechtskodifikation. Band I: Entstehung und Entwicklung des ABGB bis 1900 (= Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, 60), Berlin 2014; Europäische Privatrechtsgeschichte, Wien/Köln/Weimar 2014; Die Republik entsteht. Österreich 1918 – 1925, Graz 2018; Geschichte der österreichischen Staaten. Ein Grundriß, Wien/Leipzig 2019. – Studien I: Entwicklung des öffentlichen Rechts, Frankfurt am Main/Wien 1994; Studien II: Entwicklung des Privatrechts, Frankfurt am Main/ Wien 1994; Studien III: Entwicklung des öffentlichen Rechts II, Frankfurt am Main/Wien 2002; Studien IV: Entwicklungen des Öffentlichen und Privatrechts, Frankfurt am Main/Wien 2011; Studien V: Entwicklungen des Öffentlichen und Privatrechts II, Frankfurt am Main/Wien 2015. – Umfangreiche Herausgeberschaft.
Kontaktadresse / Contact Address: Prof. DDr. Wilhelm Brauneder E-Mail: [email protected]
* Dr. Karsten Eichner Persönliche Angaben / Personal Data: Karsten Eichner, geb. 1970 in Frankfurt am Main. Unternehmenskommunikator der R+V Versicherung, Wiesbaden. Studium der Geschichte, Publizistik und BWL in Mainz und Glasgow. Promotion 2002 mit der Arbeit „Briten, Franzosen und Italiener in Oberschlesien, 1920 – 1922. Die interalliierte Regierungs- und Plebiszitkommission im Spiegel der britischen Akten“. Karsten Eichner, born 1970 in Frankfurt am Main. Corporate communicator at R+V Versicherung, Wiesbaden. Studied history, journalism and business administration in Mainz and Glasgow. Doctorate in 2002 with the thesis “British, French and Italians in Upper Silesia, 1920 – 1922. The Inter-Allied Government and Plebiscite Commission in the Mirror of British Files”.
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Die Autoren / The Authors
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Buchveröffentlichungen und Buchbeiträge zu historischen und kulturgeschichtlichen Themen, zahlreiche Zeitschiften- und Zeitungsbeiträge. Hochschul-Lehraufträge für Journalismus und PR. Book publications and book contributions on historical and cultural-historical topics, numerous newspaper and magazine contributions. University teaching assignments in journalism and PR.
Kontaktadresse / Contact Address: Dr. Karsten Eichner Gutenbergstraße 12 35390 Gießen E-Mail: [email protected]
* Prof. Dr. Gian Luca Fruci Persönliche Angaben / Personal Data: Promotion in politischer Geschichte, EHESS, Paris – Sant’Anna School of Advanced Studies, Pisa. Maître de conferences (MCF) / Senior Lecturer / Außerordentlicher Professor. PhD in Political History, EHESS, Paris – Sant’Anna School of Advanced Studies, Pisa. Maître de conferences (MCF) / Senior Lecturer / Associate professor.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Politischen Geschichte Frankreichs und Italiens French and Italian political history
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Gian Luca Fruci ist Autor zahlreicher Essays und Artikel zur politischen Geschichte Frankreichs und Italiens im langen 19. Jahrhundert, die sich hauptsächlich auf zwei Interessengebiete konzentrieren: Wahldemokratie und Volksabstimmungen, politische Berühmtheiten und Kommunikationskreise. Derzeit arbeitet er an einer Forschungsmonographie zur politischen, medialen und visuellen Geschichte der imaginierten italienischen Verfassungsgebenden Versammlung 1848/49 (Florenz: Le Monnier). Gian Luca Fruci is author of many essays and articles on French and Italian political history during the long nineteenth century, mainly focused on two areas of interest: electoral democracy and plebiscites, political celebrities and communication circuits. At present, he is working on a research monograph on the political, media and visual history of the imagined Italian Constituent Assembly in 1848 – 49 (Florence: Le Monnier).
Die Autoren / The Authors
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Wahlen (with S. Morachioli), in: R. Reichardt (Hrsg.) unter Mitarbeit von W. https://www. amazon.de/s/ref=dp_byline_sr_book_2?ie=UTF8&text=Wolfgang+Cille%C3%9Fen&se arch-alias=books-de&field-author=Wolfgang+Cille%C3%9Fen&sort=relevancerank”Cille ßen, J. Hähn, M .F. Jäger, M. Miersch und F. Stein, Lexikon der Revolutions-Ikonographie in der europäischen Druckgraphik (1789 – 1889), III, Münster, Rhema Verlag, 2017, pp. 2036 – 2054. Democracy in Italy. From Egalitarian Republicanism to Plebiscitarian Monarchy, in: J. Innes and M. Philp (eds.), Re-imagining Democracy in the Mediterranean, 1780 – 1860, , Oxford University Press, Oxford, 2018, pp. 25 – 50. El regreso de los Borbones. Reelaboraciones mitográficas y perspectivas políticas en el Mezzogiorno italiano (with C. Pinto), in «Ayer. Revista de Historia Contemporánea», 112, 2018, pp. 317 – 334. Le parlement illustré. (Auto)portrait de groupe, faits divers et «grandes individualités» (1860 – 1915), in: A. Petrizzo (a cura di), Visualità e socializzazione politica nel lungo Ottocento italiano, «Mélanges de l’École française de Rome – Italie et Méditerranée modernes et contemporaines» (MEFRIM), 130/1, 2018, pp. 105 – 124. Mitografia e storia dei plebisciti di unificazione nelle due Sicilie, in: F. Benigno e C. Pinto (a cura di), Borbonismo, «Meridiana. Rivista di storia e scienze sociali», 95, 2019, pp. 113 – 138. I briganti sono tutti giovani e belli? in: A. Carrino e G.L. Fruci (a cura di), Briganti: narrazioni e saperi, «Meridiana. Rivista di storia e scienze sociali», 99, 2020, pp. 9 – 27. Un moment espagnol? Pratiques électorales et culture constitutionnelle dans les Deux-Siciles, 1820, in Miriam Halpern Pereir et al. (organizadores) A Revolução de 1820. Leituras e impactos, Imprensa de Ciências Sociais Lisboa, 2022, pp. 157 – 171.
Kontaktadresse / Contact Address: Prof. Dr. Gian Luca Fruci Dipartimento Civiltà e Forme del Sapere, Università di Pisa, via Pasquale Paoli 15, 56127 Pisa (Italia) Telefon: 0039 050 2215304 E-Mail: [email protected]
* Dr. iur. Carolin Gornig Persönliche Angaben / Personal Data: Carolin Gornig, geb. 1990 in Regensburg, Studium der Rechtswissenschaften in Gießen, 2020 Promotion zum Dr. jur. an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Bereich Völkerrecht (Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE)). Seit 2020 ist sie Regierungsrätin in Gießen. Carolin Gornig, born 1990 in Regensburg, law studies in Giessen, 2020 doctorate as Dr. jur. at the Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg in the field of international law (Prof. Dr. Christoph Safferling, LL.M. (LSE)). She is Regierungsrat in Gießen since 2020.
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Die Autoren / The Authors
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Völkerrecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht International Law, Constitutional Law, Administrative Law
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Zur Verfassungsmäßigkeit der Sicherungsverwahrung in Deutschland. Ein Problem, das nicht nur Juristen beschäftigt, in: Gornig, Gilbert/Horn, Hans-Detlef/Weiler, Edgar (Hrsg.), Erneuerbare Energien und rechtsstaatliche Politik. Belarussische und deutsche Positionen, Schriftenreihe der Deutsch-Belarussischen Juristenvereinigung, Marburg 2012, S. 193 – 217 (zusammen mit Martin Luber); Deutsches Recht. Eine Einführung“ (zusammen mit Constanze Horn), Peter Lang Verlag, Frankfurt 2016, 231 S., bislang zudem auch in chinesischer und russischer Sprache erschienen; Der Ukraine-Konflikt aus völkerrechtlicher Sicht, Duncker & Humblot, Berlin 2020, 533 S.; „Die Beseitigung einer Aufhebung“. Zur Rücknahme einer Baugenehmigung, in: Marburg Law Review (MLR) 2021, S. 116 – 123 (zusammen mit Gilbert Gornig) (online: https://www.law-review.de/mlr-online/); Erneutes Aufkommen des Kriegs in Berg-Karabach, in: Hilpold, Peter/Perathoner, Christoph (Hrsg.), Europäisches Minderheitenrecht. Festschrift für Professor Gilbert Gornig, Bd. I, Nomos und Facultas-Verlag, Wien 2023, S. 341 – 369.
Kontaktadresse / Contact Address: Dr. iur. Carolin Gornig Gutenbergstraße 12 35390 Gießen E-Mail: [email protected]
* Professor Dr. Peter Hilpold Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren 1965 in Bozen, abgeschlossene Studien der Rechtswissenschaften, der Betriebswirtschaftslehre, der Volkswirtschaftslehre und der Geisteswissenschaften, abgeschlossene Anwaltsausbildung in Italien, Professor für Völkerrecht, Europarecht und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Universität Innsbruck, wo er auch italienisches Steuerrecht lehrt. Mitherausgeber der Zeitschrift „Europa Ethnica“, Mitglied des Editorial Boards der „Austrian Review of International and European Law“ sowie des „Hague Yearbook of International Law“, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Zeitschrift „Diritti Umani e Diritto Internazionale“, ständiger Mitarbeiter des „Archivs des Völkerrechts. Autor von über 250 Publikationen, Träger von zahlreichen wissenschaftlichen Auszeichnungen. Born in 1965 in Bolzano-Bozen, he holds several University degrees (law, economics, industrial management, philosophy) and has been granted a series of academic awards. He is Professor of International Law, EU Law and Public Comparative Law at the University of Inns-
Die Autoren / The Authors
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bruck and has made the bar examination in Italy. He is a co-editor of the journal “Europa Ethnica” and a member of the Editorial Board of the “Austrian Review of International and European Law”. Futhermore, he is a member of the Advisory Board of the “Hague Yearbook of International Law” as well as of the journal “Diritti Umani e Diritto Internazionale”. He is also a permanent collaborator of the journal “Archiv des Völkerrecht” and the author of over 250 publications.
Forschungsschwerpunkte/Research Interests: Völkerrecht, Europarecht, Menschenrechte, Internationales Wirtschaftsrecht, Finanzrecht International Law, EU Law, Human Rights, International Economic Law, Finance Law
Auswahlbibliographie / Selected Publications: „Bildung in Europa“, Nomos-Verlag 1995, 150 S.; „Kosovo and International Law“(Hrsg.), Brill/Martinus Nijhoff, Leiden/Boston 2012, 329 S.; „Neue Europäische Finanzarchitektur – Die Reform der WWU“ (hrsgg. gem. m. Walter Steinmair), Springer: Heidelberg u. a. 2013, 269 S.; „The Responsibility to Protect (R2P) – A New Paradigm of International Law?”,Martinus Nijhoff/Brill: Leiden/Boston 2015, 440 S., „Die EU im GATT/WTO-System”, 4. Aufl. 2019, 516 S.; „Humanitarian Intervention: Is There a Need for a Legal Reappraisal?“, in: 12 EJIL 3/2001, S. 437 – 467; „Self-Determination in the 21th Century – Modern Perspectives for an Old Concept“, in: 36 Israel Yearbook of Human Rights 2006, S. 247 – 288; UNStandardSetting in the Field of Minority Rights“, in: 14 International Journal on Minority and Group Rights 2 – 3/2007, S. 181 – 205; „Die Sezession – zum Versuch der Verrechtlichung eines faktischen Phänomens“, in: 63 ZÖR 1/2008, S. 117 – 141; The Kosovo Case and International Law: Looking for Applicable Theories“, in: 8 Chinese Journal of International Law 1/2009, S. 47 – 61; „Intervening in the Name of Humanity: R2P and the Power of Ideas“, in: 17 Journal of Conflict and Security Law 1/2012, S. 1 – 31; „Ukraine, Crimea and New International Law: Balancing International Law with Arguments Drawn from History“, in: 14 Chinese Journal of International Law 2/2015, S. 237 – 270; „Understanding Solidarity within EU Law: An Analysis of the ‘Islands of Solidarity’ with Particular Regard to Monetary Union“, in: 34 Yearbook of European Law 2015, S. 257 – 285; „How to Construe a Myth: NeutralityWithin the United Nations System Under Special Consideration of the Austrian Case“, in: 18 ChJIntL 2/2019, S. 247 – 279; „Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft“, in: M. Niedobitek (Hrsg.), Europarecht, de Gruyter: Berlin, 2. Aufl. 2020, S. 805 – 886; „Maßnahmen zur effektiven Durchsetzung von Menschen- und Arbeitsrechten – Völkerrechtliche Anforderungen“, in 50 Berichte der Deutschen Gesellschaft für Internationales Recht, Unternehmensverantwortung und Internationales Recht, 2020, S. 182 – 228; Europäisches Minderheitenrecht. Festschrift für Professor Gilbert Gornig, Bd. I, und Völkerrecht, Europarecht, Deutsches Recht. Festschrift für Professor Gilbert Gornig, Bd. II, Nomos und Facultas Verlag, Wien, 2023 (zusammen mit Christoph Perathoner) (Hrsg.).
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Die Autoren / The Authors
Kontaktadresse / Contact Address: Professor Dr. Peter Hilpold University of Innsbruck www.peterhilpold.com; E-Mail: [email protected]
* Barbara Kämpfert, M.A. Persönliche Angaben / Personal Data: Barbara Kämpfert, geboren 18. 5. 1968 in Lübeck: Studium der Geschichte, Klassischen Philologie und Pädagogik in Münster, Schwerpunkt Ostmitteleuropa; Lektorin für Deutsch als Fremdsprache in Prag; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Preußen-Museum NordrheinWestfalen in Minden: Aufbau der Abteilung zur Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen und Livland; Chefredakteurin der Zeitung „Der Westpreuße“ der Landsmannschaft Westpreußen in Münster; seit Herbst 2019 Mitarbeiterin der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen für das Projekt „Virtualisierung von Heimatsammlungen“ in Nordrhein-Westfalen und Hessen. Stellvertretende Vorsitzende der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens e.V. Barbara Kämpfert, born 18. 5. 1968 in Lübeck: Studies in history, classical philology and education in Münster, focus on Eastern Middle Europe; lecturer for German as a foreign language in Prague; research assistant at the Museum of Prussian History in Northrhine-Westphalia in Minden: establishing the section for the history of the Teutonic Knights in Prussia and Livonia; chief editor of the newspaper “Der Westpreuße” of the Landsmannschaft Westpreußen in Münster; since autumn 2019 research assistant at the Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen for the project “Virtualisierung von Heimatsammlungen” in Northrhine-Westphalia and Hesse. Vice President of the Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens e.V.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Geschichte Ostmitteleuropas, Deutschland / Polen, Baltikum, Tschechien, Slowenien History of Eastern Middle Europe, Germany / Poland, Baltic States, Czech Republic, Slovenia
Kontaktadresse / Contact Address: Barbara Kämpfert E-Mail: [email protected]
Die Autoren / The Authors
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* Dr. Holger Kremser Persönliche Angaben / Personal Data: Holger Kremser (geb. 1960), 1980/86 Studium der Rechtswissenschaften in Passau, Lausanne und Göttingen. 1991 Promotion in Göttingen. Er ist am Institut für Völker- und Europarecht der Universität Göttingen tätig und vertritt die Fachgebiete Verfassungs- und Verwaltungsrecht sowie das Europa- und Völkerrecht in Forschung und Lehre. Holger Kremser (born 1960), 1980/86 studies inJurisprudence at the Universities of Passau, Lausanne and Göttingen; 1992 doctorate in Jurisprudence in Göttingen.He works at the Institute for International Law and European Law at the University of Göttingen and represents the constitutional and administrative law as well as European and international law in research and teaching.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staatsrecht, Staatskirchenrecht, Völkerrecht, Europarecht, Verwaltungsrecht Constitutional Law,State Church Law, International Law, European Law, Administrative Law
Auswahlbibliographie/Selected Publications: Monographien und Beiträge in Buchpublikationen/ Monographs and book publications: Der Rechtsstatus der evangelischen Kirchen in der DDR und die neue Einheit der EKD, 1993 (Dissertation); „Soft Law“ der UNESO und Grundgesetz, 1996; Verfassungsrecht III – Staatsorganisationsrecht, 1999 (zusammen mit A. Leisner-Egensperger); Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlassungsfreiheit in der EU und die Bedeutung für nationale Minderheiten, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Fortschritte im Beitrittsprozess der Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas, 1999, S. 51 ff.; Die Sonderstellung von Minderheiten im Wahlrecht zu nationalen Parlamenten, in: D. Blumenwitz/G. Gornig/D. Murswiek, Minderheitenschutz und Demokratie, 2004, S. 59 ff.; Neutralität, Kommerzielle Werbung, Religionsausübungsfreiheit, Sekten, Bearbeitung der zuvor genannten Stichwörter in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache, in: C. Lageot, Mehrsprachiges Wörterbuch über die Geistesfreiheiten/Multilingual Dictionary of Freedoms of Thought, 2008; Tornados nach Alicanto, DocMorris, Staatliche Beihilfe, Bearbeitung der zuvor genannten Fälle in: A. Paulus, Staatsrecht III – Examinatorium Öffentliches Recht, 2010; Nord-Schleswig bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: G. Gornig/A. Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 87 ff.; Elsass-Lothringen bei den Versailler Friedensverhandlungen, in: G. Gornig/A. Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 1, 2017, S. 99 ff.; Vertreibung und Bevölkerungsaustausch nach dem Ersten Weltkrieg, G. Gornig/A. Michel, Der Erste Weltkrieg und seine Folgen in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 2, 2019, S. 223 ff.; Das Mandatssystem des Völkerbundes und seine Folgen bis heute, in: Gilbert Gornig/Adrianna Michel, Der Erste Welt-
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Die Autoren / The Authors
krieg und seine Folgen für das Zusammenleben der Völker in Mittel- und Ostmitteleuropa, Teil 3, 2020, S. 127 ff.; Die Annexion der Krim durch Russland. Eine völkerrechtliche Würdigung, in: G. Gornig/A. Eisfeld (Hrsg.), Die Ukraine zwischen Ost und West, Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises, 2021, S. 203 ff.
Aufsätze / Academic Essays: Das Äußerungsrecht der Bundesregierung hinsichtlich der sogenannten neuen Jugendsekten und neuen Jugendreligionen im Lichte von Art. 4 I und II GG, ZevKR 1994, 160 ff.; Verfassungsrechtliche Zulässigkeit technischer Regelwerke bei der Genehmigung von Atomanlagen, DÖV 1995, 275 ff.; Das Verhältnis von Art. 7 III 1 GG und Art 141 GG im Gebiet der neuen Bundesländer, JZ 1995, 928 ff.: Der Kommunale Rat in Rheinland-Pfalz, DÖV 1997, 586 ff.; Der Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Land Mecklenburg-Vorpommern, LKV 1998, 300 ff.; Das verfassungsrechtliche Verhältnis von Religions- und Ethikunterricht dargestellt am Beispiel Berlins, DVBl. 2008, 607 ff.; Die polizeiliche Wegweisung, NdsVBl. 2009, 265 ff.; Die fiktive Tierversuchsgenehmigung, NdsVBl. 2012, 250 ff.; Die streikende Beamtin, ZJS 2014, 74 ff.; Der bewaffnete Einsatz der Bundeswehr gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ im Lichte des Staats-, Europa- und Völkerrechts, DVBl. 2016, 881 ff.; Die dänische Minderheit in Deutschland, europa ethnica 2020, 149 ff.
Kontaktadresse / Contact Address: Dr. Holger Kremser Institut für Völkerrecht und Europarecht Universität Göttingen Platz der Göttinger Sieben Nr. 5 37073 Göttingen Deutschland E-Mail: [email protected]
* Prof. Dr. Jørgen Kühl Persönliche Angaben / Personal Data: Nach dem Abitur 1985 an der Duborg-Skolen studierte Jørgen Kühl von 1986 bis 1991 Geschichte, Deutsch und Philosophie/Ideengeschichte an der Universität Aarhus. 1990 war er erster Leiter des Danevirke Museum. Seit 1999 ist er Direktor des Institut for Grænseregionsforskning. Er ist seit 2006 Gründungsdirektor der A. P. Møller-Skolen und seit 2018 Honorarprofessor der Europa-Universität Flensburg. Ehrenamtlich war er Kuratoriumssprecher des Nordfriisk Instituut. After graduating from Duborg School in 1985, Jørgen Kühl studied history, German and philosophy/history of ideas at Aarhus University from 1986 to 1991. In 1990 he was the first director of the Danevirke Museum. Since 1999 he has been director of the Institut for Grænseregionsforskning. He has been the founding director of the AP Møller-Skolen since 2006 and has
Die Autoren / The Authors
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been an honorary professor at the Europa-Universität Flensburg since 2018. He was honorary spokesman for the board of trustees of the Nordfriisk Instituut.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Europäische, sowjetische und postsowjetische Geschichte des 20. Jahrhunderts; europäische Zeitgeschichte; Geschichte des Danewerks und Museologie; Geschichte und Gegenwart des deutsch-dänischen Grenzlandes; deutsche und europäische Zeitgeschichte; Minderheitenforschung in deutsch-dänischen und europäischen Kontext (interdisziplinär) 20th-century European, Soviet and post-Soviet history; European contemporary history; history of Danewerk and museology; History and present of the German-Danish border region; contemporary German and European history; Minority research in a German-Danish and European context (interdisciplinary)
Auswahlbibliographie/Selected Publications: Autor und Herausgeber von über 340 Veröffentlichungen insbesondere zu Fragen nationaler Minderheiten und Minderheitenpolitik in Europa erschienen auf Dänisch, Deutsch, Englisch, Slowenisch, Ungarisch und Polnisch u. a. die Standardwerke: Tyskere i Øst zu allen deutschen Minderheiten in Osteuropa und Asien im 20. Jahrhundert; Den dansk-tyske mindretalsmodel og Europa zu dem besonderen Deutsch-dänischen Minderheitenmodell in einem europäischen Kontext; Mindretalspolitik im Auftrag des Danish Institute of International Studies/DUPI (Hrsg.); Ein europäisches Modell? (Hrsg. mit Robert Bohn); København-Bonn Erklæringerne (Hg.); Minority Policy in Action (Hg. mit Marc Weller) sowie etliche Werke zur Geschichte der dänischen Minderheit, des SSW und der europäischen Minderheitenorganisation FUEN. Author and editor of more than 340 publications, especially on questions of national minorities and minority politics in Europe. The standard works appeared in Danish, German, English, Slovenian, Hungarian and Polish: Tyskere i Øst on all German minorities in Eastern Europe and Asia in the 20th century; Den dansk-tyske mindretalsmodel og Europa on the special German-Danish minority model in a European context; Mindretalspolitik commissioned by the Danish Institute of International Studies/DUPI (ed.); A European model? (Ed. with Robert Bohn); København-Bonn Erklæringerne (ed.); Minority Policy in Action (ed. with Marc Weller) as well as several works on the history of the Danish minority, the SSW and the European minority organization FUEN.
Kontaktadresse / Contact Address: Prof. Dr. Jørgen Kühl Auf dem Campus 1 24943 Flensburg E-Mail: [email protected]
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Die Autoren / The Authors
* Mag. Dr. Richard Lein Persönliche Angaben / Personal Data: Geboren 1980 in Wien, Studium der Geschichte und der Politikwissenschaft an der Universität Wien; 2005 Mag. Phil.; 2009 Dr. Phil. (Dissertationsthema: Das militärische Verhalten der Tschechen im Ersten Weltkrieg). 2006 – 2011 Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien; 2011 – 2014 Oberassistent an der Fakultät für Mitteleuropäische Studien an der Andrássy Universität Budapest; 2014 – 2018 Assistent am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz; 2018 – 2022 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institute for Habsburg and Balkan Studies der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; seit 2023 wissenschaftliche Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Rechtsquellenerschließung des Institutes für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Juridischen Fakultät an der Universität Wien. Born 1980 in Vienna, studies history and political science at the University of Vienna; 2005 MA.; 2009 PhD. (topic of the PhD thesis: The military conduct of the Czechs in World War I). 2006 – 2011 Prae Doc assistant at the Institute for Eastern European History at the University of Vienna; 2011 – 2014 senior assistant at the Faculty of Central European Studies at Andrássy University Budapest; 2014 – 2018 Postdoc assistant at the Institute for History at Karl-Franzens-University Graz; 2018 – 2022 research associate at the Institute for Habsburg and Balkan Studies at the Austrian Academy of Sciences; since 2023 research associate at the Forschungsstelle für Rechtsquellenerschließung of the Institute for Legal and Constitutional History, Faculty of Law, University of Vienna.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Geschichte der Habsburgermonarchie und ihrer Nachfolgestaaten, Militärgeschichte, Verwaltungsgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Österreichische Geschichte, Tschechische Geschichte History of the Habsburg Monarchy and its successor states, military history, administrative history, economic history, Austrian history, Czech history
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Pflichterfüllung oder Hochverrat? Die tschechischen Soldaten Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg, Wien 2011; Das Thronwechselprogramm der Militärkanzlei Erzherzog Franz Ferdinands aus dem Jahr 1911. In: Prague Papers on the History of International Relations 2011 (2011), 86 – 109; A Train Ride to Disaster: The Austro-Hungarian Eastern Front in 1914. In: Günter Bischof, Ferdinand Karlhofer (Eds.), 1914: Austria-Hungary, the Origins, and the First Year of World War I, New Orleans 2014, 95 – 125; Wien-Jerusalem und zurück. Das militärische Engagement Österreich-Ungarns im Osmanischen Reich 1914 – 1918. In: Barbara Haider-Wilson, Maximilian Graf (Hrsg.), Orient und Okzident. Begegnungen und Wahrnehmungen aus fünf Jahrhunderten, Wien 2016, 271 – 321; Ein Bündnis auf dem Prüfstand. Conrad, Falkenhayn und die Brusilov-Offensive. In: Christian Stachelbeck (Hg.): Materialschlachten 1916. Ereignis, Bedeutung, Erinnerung, Paderborn 2017, 75 – 96; Gedenken und
Die Autoren / The Authors
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(k)ein Ende? Das Weltkriegs-Gedenken 1914/2014 – Debatten, Zugänge, Ausblicke, Wien 2017 [Hg. mit Bernhard Bachinger, Verena Moritz, Julia Walleczek-Fritz, Stefan Wedrac, Markus Wurzer]; Plneˇ ní povinností, nebo velezrada? Cˇ esˇtí vojáci Rakousko-Uherska v první sveˇ tové válce, Praha 2018; ‘Buy War Bonds!’ Austria-Hungary’s War Funding between the Absorption of Purchasing Power and Inflation. In: Andrea Bonoldi, Andrea Leonardi, Cinzia Lorandini (Hg.), Wartime and Peacetime Inflation in Austria-Hungary and Italy (1914 – 1925), Stuttgart 2019, 79 – 100; Demokratická monarchie, nedemokratická republika? Kontinuity a zlomy mezi monarchií a republikou ve strˇední Evropeˇ , Praha 2020 [Hrsg. mit Lukásˇ Fasora, Miroslava Kveˇ tová, Ondrˇej Mateˇ jka]; „Lorbeer für unsere Helden“. Ein erster Schritt zum Kriegsgedenken im Äußeren Burgtor. In: Heidemarie Uhl, Richard Hufschmied, Dieter A. Binder (Hrsg.), Gedächtnisort der Republik. Das Österreichische Heldendenkmal im Äußeren Burgtor der Wiener Hofburg. Geschichte – Kontroversen – Perspektiven, Wien/Köln/Weimar 2021, 73 – 100; Die Protokolle des cisleithanischen Ministerrats 1867 – 1918, Band II: 1868 – 1871, Wien 2022 [Hrsg. mit Thomas Kletecˇ ka].
Kontaktadresse / Contact Adress: Mag. Dr. Richard Lein E-Mail: richard.c.lein@univie,ac,at ORCID: https://orcid.org/0000-0002-7502-0503
* Prof. Dr. Stefan Oeter Persönliche Angaben / Personal Data: 1979 – 1983 Studium der Rechts- und Politikwissenschaften in Heidelberg und Montpellier; nach Referendarzeit von 1987 – 1999 wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg; 1990 Promotion zum Dr. iur., Heidelberg; ebendort 1997 Habilitation; seit 1999 Professor für Öffentliches Recht und Völkerrecht und Direktor des Instituts für internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg; von 1999 – 2017 deutsches Mitglied und (von 2006 – 2013) Vorsitzender des Unabhängigen Expertenkomitees für die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats; Vorsitzender der Historical Commission der International Society for Military Law and the Laws of War; Mitglied des Permanent Court of Arbitration, Den Haag; Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. 1979 – 1983 studies of law and political science in Heidelberg and Montpellier; after practical legal training from 1987 – 1999 Research Fellow at the Heidelberg Max-Planck-Institute for comparative public law and public international law;1990 PhD at, Heidelberg University, 1997 Habilitation also in Heidelberg; since 1999 Professor for Public Law and Public Internation al Law and Director of the Institute for international Affairs at the University of Hamburg; from 1999 – 2017 German member and (from 2006 – 2013) Chairman of the Independent Committee of Experts for the European Charter for Regional or Minority Languages of the Council of Europe; President of the Historical Commission of the International Society for Military Law and the Laws of War; member of the Permanent Court of Arbitration, Den Haag; member of the Academy of sciences in Hamburg.
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Die Autoren / The Authors
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Selbstbestimmungsrecht; vergleichende Föderalismusforschung; Schutz von Sprach- und Kulturminderheiten; Humanitäres Völkerrecht; Europäisches und internationales Wirtschaftsrecht; Theorie des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen Self-Determination; comparative federalism; protection of linguistic and cultural minorities laws of armed conflict; European and international economic law; theory of international law and international relations
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Democracy – Fundamental Building Block of the International Order?, in: Daniel-Erasmus Khan/Evelyne Lagrange/Stefan Oeter/Christian Walter (eds.) Democracy and Sovereignty: Rethinking the Legitimacy of Public International Law, Leiden/Boston: Brill Nijhoff 2023, 1 – 31; Methods of Combat, in: Dieter Fleck (ed.), The Handbook of International Humanitarian Law, Oxford: Oxford University Press, 4th ed. 2021, 170 – 247; The Right to Self-Determination and the Creation of New States, in: Société française pour le droit international (ed.), Le traité de Versailles: Regards franco allemands en droit international à l’occasion du centenaire/The Versailles Treaty: French and German Perspectives in International Law on the Occasion of the Centenary (11èmes Journées franco allemands), Paris: Pedone 2020, 173 – 193; (zus. mit Shino Ibold) Headscarf and Burqa Bans as Battlegrounds for Symbolic Conflicts on Cultural Identity: Has Human Rights Protection Ended Up in a State of Confusion?, Israel Yearbook on Human Rights 50 (2020), pp. 121 – 148; Conflicting Norms, Values, and Interests: A Perspective from Legal Academia, Ethics & International Affairs, 33/1 (2019), pp. 57 – 66; Intangible Cultural Heritage in Need of Protection: The Case of Regional and Minority Languages, in: Evelyne Lagrange/Stefan Oeter/Robert Uerpmann-Wittzack (eds.), Cultural Heritage and International Law: Objects, Means and Ends of International Protection, Cham: Springer, 2018, 59 – 83; The Kurds between Discrimination, Autonomy and Self-Determination, in: Peter Hilpold (ed.), Autonomy and Self-Determination: Between Legal Assertions and Utopian Aspirations, Cheltenham: Edward Elgar, 2018, 208 – 246; Conventions on the Protection of National Minorities, in: Stefanie Schmahl/ Marten Breuer (Hg.), The Council of Europe: Its Law and Policies, Oxford: Oxford Univ. Press, 2017, 542 – 571; (zus. mit Antje Wiener) Introduction: Who Recognises the Emperor’s Clothes Anymore?, International Journal of Constitutional Law/I-CON 14 (2016) 3, 608 – 621; Regime Collisions from a Perspective of Global Constitutionalism, in: Kerstin Blome/Andreas Fischer-Lescano/Hannah Franzki/Nora Markard/Stefan Oeter (eds.), Contested Regime Collisions. Norm Fragmentation in World Society, Cambridge: Cambridge University Press, 2016, 21 – 48; The Role of Recognition and Non-Recognition with Regard to Secession, in: Christian Walter/Antje von Ungern-Sternberg/Kavus Abushov (eds.), Self-Determination and Secession in International Law, Oxford: Oxford University Press, 2014, 45 – 67; Self-Determination, in: Bruno Simma/Daniel Erasmus Khan/Georg Nolte/Andreas Paulus (eds.), The Charter of the United Nations: A Commentary, Oxford: Oxford University Press, 3rd ed. 2012, Vol. I, 313 – 334; Federalism and Democracy, in: Armin von Bogdandy / Jürgen Bast (eds.), Principles of European Constitutional Law, Oxford: Hart, rev. 2nd ed. 2009, 55 – 81.
Die Autoren / The Authors
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Kontaktadresse / Contact Address: Prof. Dr. Stefan Oeter Fakultät für Rechtswissenschaft der Univ. Hamburg, Rothenbaumchaussee 33, 20148 Hamburg Tel.: +49 (0)40 428384565 E-Mail: [email protected]!
* MMag. Dr. Günther Rautz Persönliche Angaben / Personal Data: Rautz Günther studierte Rechtswissenschaften in Graz und Rom, sowie Philosophie in Innsbruck. Seit 1997 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter und seit 2018 Leiter des Instituts für Minderheitenrecht an der Europäischen Akademie Bozen/Bolzano. Bis 2017 sorgte er als Generalsekretär, der vor 20 Jahren gegründeten Europäischen Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten und Regionalsprachen (MIDAS) mit Sitz in Bozen, unter anderem für den Informationsaustausch von mehr als 25 Mitgliedszeitungen aus ganz Europa. Rautz Günther studied Law in Graz and Rome and Philosophy in Innsbruck. Since 1997 he has been a Senior Researcher at the European Academy Bozen/Bolzano where he is Head of the Institute for Minority Rights since 2018. Till 2017 he was Secretary General of the European Association of Daily Newspapers in Minority and Regional Languages (MIDAS) founded 20 years ago and based in Bozen/Bolzano, in charge of the exchange of information’s of more than 25 member newspapers all over Europe.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Menschenrechte und Minderheitenschutz, Kulturelle Vielfalt Human Rights and Minority Protection, Cultural Diversity
Auswahlbibliographie / Selected Publications: Anton, Falle, Die volkspolitischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Volksabstimmung in Kärnten, in: Hans Lagger (Hg.), Abwehrkampf und Volksabstimmung in Kärnten 1918 – 1920, Klagenfurt, 1930; Josef, Feldner – Marjan, Sturm, Kärnten neu denken – Zwei Kontrahenten im Dialog, in: Wilfried Graf – Gudrun Kramer (Hg.), Drava – Hey, Klagenfurt, 2007; Helmut, Hütter, Die Rolle Italiens im Kampf und Kärntens Freiheit, in: Carinthia I, 150, Klagenfurt, 1960; Helmut, Konrad, Drafting the Peace, in: Jay Winter (Hg.) The Cambridge History of the First World War, vol. 2: The State. Cambridge, 2014; Friedrich Wilhelm, Leitner, Gesamtgestaltung des Katalogs zur Dokumentationsausstellung im Völkermarkter Stadtmuseum, Kärntner Abwehrkampf 1918/1919. Volksabstimmung am 10. Oktober 1920, Landesmuseum für Kärnten, Kärntner Universitäts-Druckeri, Klagenfurt, 1984; Margaret, MacMillan, Paris 1919. Six Month That Changed The World, New York, 2003; Luigi Aldrovandi, Marescotti, Der Krieg der Diplomaten, Hugendubel, München, 1940; Jürgen, Pirker, Staatswerdung,
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Die Autoren / The Authors
Grenzziehung und Minderheitenschutz: Der 10. Oktober 1920 im (inter-)nationalen Kontext, in: Institut für die Geschichte der Kärntner Arbeiterbewegung (Hg.), Arbeit & Demokratie. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, ÖGB Verlag, Klagenfurt, 2020; Andrej, Rahten, Die Kärntner Volksabstimmung im Lichte der ersten slowenisch-österreichischen Auseinandersetzungen auf der internationalen Ebene, in: Institut für die Geschichte der Kärntner Arbeiterbewegung (Hg.), Arbeit & Demokratie. Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, ÖGB Verlag, Klagenfurt 2020; Hans-Jürgen, Schröder, Woodrow Wilson und der Vertrag von St. Germain 1919 – 1920, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs Nr. 9 (2019) 2; Erwin, Steinböck, Die Verluste im Kärntner Abwehrkampf, in: Carinthia I, 160, Klagenfurt, 1970; Hellwig, Valentin, Der Sonderfall. Kärntner Zeitgeschichte 1918 – 2004/08, Hermagoras/Mohorjeva, Klagenfurt, 2009; Martin, Wutte, Die amerikanische Kommission, in: Carinthia I, 125, Klagenfurt, 1935; Martin, Wutte, Kärntens Freiheitskampf 1918 – 1920, H. Böhlaus Verlag, Weimar, 1943.
Kontaktadresse / Contact Address: Günther Rautz EURAC research, Drusus Allee/Viale Druso 1, 39100 Bozen/Bolzano 0039 0471 055 210 0039 0471 055 299 [email protected]
* Dipl.-Jur. Dennis Traudt Persönliche Angaben / Personal Data: Dennis Traudt ist Doktorand und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Europa-Institut der Universität des Saarlandes, dort am Lehrstuhl von Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. Er befasst sich in seinem Promotionsprojekt mit neuen Methoden der EU zur globalen Förderung von Menschenrechten. Diese Promotionsvorhaben wird mit einem Stipendium der Friedrich-Naumann Stiftung für die Freiheit gefördert. Dennis Traudt is a doctoral candidate and works as a research assistant at the Europa-Institute of Saarland University at the chair of Prof. Dr. Thomas Giegerich, LL.M. In his doctoral research project he deals with new methods of the EU for the global promotion of human rights. This PhD project is supported by a scholarship of the Friedrich Naumann Foundation for Freedom.
Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Europäisches Verfassungsrecht; die auswärtigen Beziehungen der Europäischen Union; Menschenrechtsschutz im Mehrebenensystem European Constitutional Law; the external relations of the European Union; Human rights protection in the multi-level system
Die Autoren / The Authors
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Auswahlbibliographie / Selected Publications: Qualifizierte Mehrheit oder Kohärenz? – Reformvorschläge fu¨ r die GASP auf dem Pru¨ fstand, in: Bange, Kirner (Hrsg.), Mehr Fortschritt wagen! – Tagungsband zur Liberalen Rechtstagung 2022; Der Vorschlag eines Comprehensive Agreement on Investment zwischen der EU und China – Saar Expert Paper (gemeinsam mit Matthias Fuchs); Gastbeitrag auf LTO: Bloße Ausreise genügt nicht (gemeinsam mit Karoline Dolgowski).
Kontaktadresse / Contact Address: Dennis Traudt [email protected]
Personenregister / List of Names Adler, Friedrich, sozialdemokratischer Politiker 159 Aksjonow, Sergej, Ministerpräsidenten der Krim 279, 281 Alberto, Carlo, König von Sardinien-Piemont und Herzog von Savoyen 245 Baudissin, Theodor Christian Graf von, Wahlkommissar 98 Bauer, Otto, Staatssekretär 154, 162, 171, 172 Bellen, Alexander van der, österreichische Bundespräsident 64 Benesˇ, Edvard, tschechoslowakischer Außenminister 221, 228, 231, 235, 238 Berthier, Louis Alexandre, General, der neue Oberbefehlshaber der italienischen Armee 248, 249 Böcking, Heinrich, Kaufmann und Politiker 128 Bonacci, Maria Alinda, italienische Dichterin und Gelehrte 270 Brockdorff-Rantzau, Ulrich von, Reichsaußenminister 154, 162 Brune, Guillaume-Charles-Marie, neo-jakobinischer General 248, 249 Cambon, Jules, Diplomat 116 Cattaneo, Carlo, radikaler Demokrat 262 Chateaubriand, François-René de, französischer Schriftsteller 247 Christian I., König von Dänemark 77 Christian IX., König von Dänemark 78 Christiansen, Ernst, dänischer Politiker 90 Clausen, Hans V., dänischer Historiker 84, 85 Clemenceau, Georges, französischer Ministerpräsident 88, 93, 94, 95, 96, 110, 130 Cnobloch, Hans, österreichischer Botschafter in Ungarn 227, 231 Crescenzo, Marianna De, Protagonistin der heimlichen Anti-Bourbonen-Bewegung 270
Crescenzo, Salvatore De, Anführer der „liberalen Camorra“ 270 Curzon, Lord Georges, britischer Außenminister 88, 113, 114, 115 Derby, Lord, britischer Diplomat 114, 115 Dillard, Hardy Cross, Richter 22 Dmowski, Roman, polnischer Politiker 96, 103 Donald, Robert, Autor 102 Fantin Desodoards, Antoine, Historiker der Französischen Revolution 247 Farina, Giuseppe La, italienischer Jurist, Journalist, Schriftsteller und Politiker 264 Farini, Luigi Carlo, italienischer Politiker, Ministerpräsident des Königreiches Italien 263 Farkas, Angéla, Autorin 65 Frederiksen, Mette, dänische Ministerpräsidentin 61 Garibaldi, Giuseppe, italienischer Freiheitskämpfer 263, 270 Gayl, Wilhelm Freiherr v. Gayl in Allenstein 98 George, Lloyd, britischer Premierminister 30, 43, 88, 93, 94, 95, 96, 97, 109, 110, 116, 119, 123, 130, 136 Giorgio Pallavicino Trivulzio, italienischer Politiker 265 Gratz, Gusztáv, ungarischer Außenminister 227 Grotius, Hugo, Völkerrechtler 24 Hainisch, Michael, österreichischer Bundespräsident 155 Hanssen, Hans-Peter, nord-schleswigscher Reichstagsabgeordneter 81 Hardinge, Lord, britischer Repräsentant 115, 121
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Personenregister / List of Names
Heilinger, Alois, Abgeordneter 211 Héjjas, Iván Freikorpsführer 223 Henecker, William, Chef der britischen „Upper Silesian Force“ 120 Herzog Adolf VIII., Herzog von Schleswig und Graf von Holstein und Storman 77 Hoefer, Karl, General, Führer des Selbstschutzes 120 Hoffmann, Johannes, Zentrumspartei, Ministerpräsident des Saarlandes 136, 146, 147, 148, 149 Horthy, Miklós, österreichisch-ungarischer Admiral, ungarischer Politiker, als Reichsverweser langjähriges faktisches Staatsoberhaupt des Königreiches Ungarn 218, 228 Huber, Ernst R., Staatsrechtslehrer 82 Hülgerth, Ludwig, Landesbefehlshaber, Oberstleutnant 198
Manfredi, Giuseppe, provisorischer Gouverneur von Parma 246, 247 Marek, Ferdinand, österreichischer Gesandter in Prag 233 Marinis, Alberto de, italienischer General 111 Marling, Sir Charles, britischer Vorsitzender der Internationalen Abstimmungskommission 88, 89, 91, 94 Mayr, Michael, österreichischer Bundeskanzler 159, 160, 161, 175, 184, 185, 186, 192, 225, 226, 228, 229, 230 Mazzini, Giuseppe, italienischer Philosoph, Journalist, Politiker und Freiheitskämpfer 262, 269 Miles, Sherman, Offizier 199 Møller, Per Stig, dänischer Außenminister 70 Monnet, Jean, französischer Diplomat 151 Mordini, Antonio, italienischer Politiker 265
Karl I., österreichischer Kaiser 170 Karl IV., König von Ungarn und Kroatien, als Karl I. letzter Kaiser von Österreich und als Karl III. König von Böhmen 228, 236 Kelsen, Hans, Staatsrechtslehrer 155 Khan, Daniel-E., Rechtswissenschaftler 82 Korfanty, Wojciech, polnischer Plebiszitkommissar 114, 115, 118, 119, 124 Kun, Béla, ungarischer Journalist und Politiker 218 Kutter, Hans, Wahlkommissar 98
Napoleon Bonaparte, französischer Kaiser 129, 245, 246, 248, 250, 251, 259, 268 Napoleon I. Bonaparte, siehe Napoleon Bonaparte Napoleon III., französischer Kaiser 26, 79 Neergaard, Niels, dänischer Politiker 91
Lehár, Anton, Regierungsfunktionär 229 Lemisch, Arthur, Landesverweser 198 Leygues, Jean, französischer Ministerpräsident 116 Lienfeld, Frederik, Mitglied des englischen Unterhauses 101 Louis Napoleon Bonaparte, Prinzregent 246 Louis XIV., französischer König 127, 129 Louis XVIII., französischer König 128 Löwe, Paul, Reichstagspräsident 155 Lucien Bonaparte, französischer Politiker und Innenminister 257 Luns, Joseph A., niederländischer Außenminister 299 Luttwalk, Edward, US-amerikanischer Militärstratege 71
Pahor, Borut, slowenischer Präsident 64 Pank, Ferdinand, Abgeordneter 211 Percival, Harold, britischer Oberst 111, 113, 114, 115, 116, 118, 119, 123 Peters, Anne, Völkerrechtlerin 278 Popovici, Aurel Constantin, Jurist und Politiker 209 Prónay, Paul, Freikorpsführer 223 Proudhon, Joseph-Pierre, französischer Schriftsetzer und Frühsozialist 247 Pufendorf, Samuel von, Natur- und Völkerrechtslehrer, Rechtsphilosoph 24 Putin, Wladimir, russischer Staatspräsident 70, 72, 279, 284, 285, 292
Orlando, Vittorio, italienischer Ministerpräsident 95 Ortiz Sanz, Fernando, bolivianischer Diplomat 302, 305, 306, 308
Personenregister / List of Names Ramek, Rudolf, österreichischer Innenminister 159 Raoult, Victor, Erster Präsident der Regierungskommission im Saarland 134, 139 Rappaport, Alfred, Leiter der politischen Abteilung des Staatsamtes für Auswärtige Angelegenheiten 221 Renner, Karl, österreichischer Staatskanzler 172, 173, 174, 176, 183, 184, 211, 213, 214, 215, 216, 221, 222 Ricasoli, Bettino, gemäßigter Liberaler, Präsident der provisorischen Regierung 262, 263 Roederer, Pierre-Louis, französischer Staatsmann und Publizist 255 Rond, Henri Le, französischer General 111, 113, 114, 115, 116, 117, 118, 119, 123, 124 Saliceti, Cristophe, französischer Politiker 246 Sangiovannara, siehe Crescenzo, Marianna De Schober, Johann, österreichischer Bundeskanzler 161, 192, 230, 231, 234, 238 Sforza, Carlo Graf, italienischer Außenminister 120 Sierakowski, Graf Stanislaw, polnischer Schulgründer 99 Sigray, Antal, ungarischer Regierungsfunktionär 229
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Staël, Madame de (Anne-Louise-Germaine Baronin von Staël-Holstein), französische Schriftstellerin 253 Steinmeier, Frank-Walter, deutscher Bundespräsident 68 Stuart, Sir Harold, britischer Verwaltungsbeamter 119, 120 Talleyrand, Charles-Maurice, französischer Außenminister 246, 258 Tardieu, André, französischer Diplomat und Politiker 87 Tiedje, Johannes, Pfarrer und Landrat von Flensburg 85, 86 Torretta, Pietro della, italienischer Botschafter in Wien und italienischer Außenminister 225, 234 Trouvé, Claude-Joseph, Botschafter 248 Vattel, Emer de, Völkerrechtler 24 Vauban, Sébastien Le Prestre, Festungsbauer 127 Viktor Emanuel II., italienischer König 266 Wambaugh, Sarah, Autorin 36, 54 Wilson, Sir Henry, Generalstabschef, Feldmarschall 120 Wilson, Woodrow, US-amerikanischer Präsident 22, 23, 27, 30, 80, 95, 107, 130, 153, 165, 173, 195, 196, 197, 199, 202, 204, 205 Worgitzki, Max, Masuren- und Ermländerbund 98
Sachregister / Subject Index Abkommen von Berchtesgaden vom Februar 1938 161 Abstimmung in der Consultative Assembly, Westirian 306 f. Abstimmungszonen in der Klagenfurter Region 48 Abstimmungszonen in Schleswig 83 ff., 93 Act of Free Choice 299, 301, 302, 304 ff., 306 f., 307 ff., 309, 310, 314 f., 316 Agendorf 231, 232, 233, 236, 242 Alaska 27 Allenstein 28, 52, 53, 57, 74, 98, 101, 103, 104, 107, 116 Alliierte und Assoziierte 92, 156 Alliierter Kontrollrat 141, 142 Annexion der Krim 275 ff., 291 Annexion der ostukrainischen Gebiete 287 ff. Annexionen 33, 43, 45, 263, 269 Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 160, 161 Anschlussbefragung 153 ff. Anschlussbefragungsgesetz 158, 160, 161 Anschlusskommission in Salzburg 157, Anschlusskommission in Tirol 183 Apenrade 46, 83, 89, 93, 94 Aufstand in Oberschlesien 54, 113, 119 f., 123 Aufstand in Westungarn 50 Ausbeutungsrecht an den Kohlegruben des Saargebiets 131 Aussiedlung 42 Autonome Republik der Krim 280 Avezzano, Bezirk 261 Avignon 25
Banat 50, 219, 235, 237 Barthélemy 26 Batschka 219 Bedenkzeit vor der Volksabstimmung 278, 283
Beobachtung von internationaler Seite 278, 284, 305 Beschwerdemöglichkeit nach der Volksabstimmung 284 Bevölkerung der Krim 286, 287 Bevölkerungsaustausch 45 Biak, Insel 297 Birkenfeld, Fürstentum 128, 129 Böhmen 44, 153, 154, 174, 197 Bologna 257, 258 Bolschewismus 96 Bonn-Kopenhagener Erklärungen vom 29. 3. 1955 59 Bratislava 49, 208, 211, 232 Bruck an der Leitha 234 Burgenland 207 ff. Burgenlandfrage 207 ff. Burgenländisch-Ungarischer Kulturverein 52 Carstensz-Berge 301 Charkiw 71 Cherson 71, 72, 73, 291, 292 Cisalpinische Republik 256 Cisleithanien 154 Cispadane 251, 254, 255, 256, 257, 258 Clausen-Linie 84 Code of Good Practice on Referendums 277, 280 Commission Internationale de Surveillance du Plébiscite Slesvig 83, 88 Consultative Assembly, Westirian 302, 306 f. Consultative Council, Westirian 307 cordon sanitaire 96, 122 Custoza 25 Dänemark 41 ff. Danewerk-Bewegung 86 dänische Minderheit 47, 58, 59, 61, 79, 81, 85, 88, 93 Danzig 97, 102, 103, 104, 132, 195, 204, 205 Danzig, Freie Stadt 97, 102, 132
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Sachregister / Subject Index
Danziger Hafen 96 Département de la Sarre 128 Deutsch-Böhmen 197 deutsch-dänischer Krieg 1864 69 deutsch-französischer Krieg 1871 28 Deutsch-Gerisdorf 231, 233 Deutsch Krone 97 Deutsch-Österreich, siehe Deutschösterreich Deutsch-österreichische Arbeitsgemeinschaft 155 Deutsch-Westungarn, Gau 220 Deutsche Front 136 Deutscher Ausschuss für das Herzogtum Schleswig 81, 82 Deutscher Bund 78 Deutscher Heimatbund 146 Deutschösterreich 153 ff. Dominalschulen 139 Donauraumpolitik 222 Donezk 287 ff. Draulinie 198 Durchführung der Abstimmungen in Schleswig 28, 29, 41 ff., 77 ff.
Eisenburg 208, 211 Elsass-Lothringen 28, 44, 110, 127, 129, 130 Emilia 26, 260, 263, 264, 267 Entente 97, 158, 173, 182, 185, 187, 192, 196, 214 ff. Entente-Staaten 159, 160 Ergebnisse der Volksabstimmungen in Schleswig 28, 89 ff., 92 Erster Pariser Frieden vom 30. 5. 1814 128 Eupen 28, 41, 55, 56, siehe auch EupenMalmedy Eupen-Malmedy 55, 56, 74, 75, 195, 204, 205 Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen 68 Europäische Kommission für das Saar-Referendum 133 ff. europäisches Gleichgewicht 96 Europäisches Saarstatut 144, 147, 148, 149, 151 Europäisierung der Saar 144, 146, 148 European Commission for Democracy through Law 277 ex iniuria ius non oritur 285
Falkenberg 111 Ferrara 257 Flatow 97 Flensburg 29, 45, 46, 58, 68, 83, 85, 86, 90, 91, 93, 94 Florida 27 Föhr, Nordseeinsel 46, 90 Fontainebleau Memorandum 108 Frankreich 25 f., 44, 55, 75, 92, 102, 108, 110, 119, 120, 121, 122, 126, 127, 128, 129 ff., 149 f., 158, 192, 230, 234, 246 ff. französische Garnisonstruppen im Saargebiet 138 französische Herrschaft im Saarland 127 ff. Französische Revolution 25 französische Saarpolitik nach 1945 142 Frauenkrichen 231 Frauenwahlrecht 201 Freeport, US-amerikanischer Bergwerkskonzern 301 Freistaat Danzig 97, 102, 132, siehe auch Danzig Frieden von Rijswijk 1697 127 Friedenskonferenz von Saint Germain 28, 29, 41, 43, 48, 50, 75, 158 ff., 208, 213, 216, 218, 219, 222, 223, 224, 232 Friedensvertrag von Frankfurt vom 10. 5. 1871 129 friedliche Durchführung der Volksabstimmung 278, 283 f. Friedlichkeit der Abstimmung 278, 283, 289
Gdingen 97 Gebietsreferendum 21 ff., Gefecht bei Kirchschlag 234 Genfer Protokolle 1922 161, 192 Genozid an den Papuanern 306, 315 Gesetz betreffend die saarländische Staatsangehörigkeit vom 15. 7. 1948 144 Gesetz über die vorläufige Verwaltung des Saarlandes vom 30. 1. 1935 140 Goting 46, 90 Grafenstein, Besetzung am 14. 12. 1918 198 Grenzmark Posen-Westpreußen 97 Grenzreferenden 41 ff., Grenzverschiebungen 31, 42 Grottkau 111
Sachregister / Subject Index Habsburgermonarchie 153 ff. Habsburgerreich 44, 49 Hadersleben 59, 83, 88 Haderslebener Erklärung 59 Halbturn 231 Harkau 236, 242 Hawaii 27 Hedehusum 46, 90 Heiligenkreuz 209, 231 Heiliges Römisches Reich deutscher Nation 78, 127, 129 Heinzenland 175 Hoffnungskauf 224 Holling 236, 242 Hoyer 84, 85, 89 Hultschiner Ländchen 111 Husum 86, 87 Indonesien 294 ff. Interalliierte Kontrollkommission 230 Isernia, Bezirk 261 Italien 25, 26, 30, 31, 44, 48, 50, 92, 114, 120, 158, 173, 176, 192, 196, 200, 202, 212, 215, 216, 212, 225, 234, 245 ff. Jauntal 198 Jugoslawien 41, 44, 55, 63, 153, 160, 174, 200 ff. Juli-Abkommen von 1936 161 Kaiserlicher Landesausschuss in Kärnten 196 Kalifornien 27 Kanaltal 48, 63, 200 Kapp-Putsch 89 Kärnten 41 ff., 195 ff. Karpato-Ukraine 219 Kirchenstaat 26, 155 Kirchschlag 233 Kittsee 231 Kleine Entente 221, 222, 231, 235, 238, 242 Kohfidisch 231 Kohlnhof 236 Kondominium 79 Königreich Bayern 128 Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen 44, 48, 196, 201, siehe auch Königreich SHS Königreich SHS 212, 215, 216, 221, 222
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Kopassus 311 Korfanty-Linie 118, 119, 124 Krim-Verfassungen 280 f. Kroaten 44, 47, 48, 50, 51, 65, 74, 170, 196, 198, 201, Kroisbach 236, 242 Kurzebrack 100 Lajta Banság (Leitha-Banat) 235 Länderbefragungen 159 Landesrat im Saargebiet 134 ff. Landtagsneuwahlen im Saarland am 18. 12. 1955 149 Latium 260 Lauenburg 79 Lavanttal 198 Le Rond-Plan 118 Lebenbrunn 233 Leitha-Banat 235, 237 Lichtenberg, Fürstentum 128 Ligurien, Republik siehe Ligurische Republik Ligurische Republik 246, 248, 253, 256, 257 Lombardei 25, 260, 263 Lothringen, siehe Elsass-Lothringen Louisiana 27 Lucca, Republik 250, 257, 258, 267 Luhansk 287 ff. Luns-Plan 299 Luxemburger Vertrag vom 27. 10. 1956 149 Mähren 44, 153, 154, 197 Mailand 248, 252, 257, 258 Malmedy, siehe Eupen-Malmedy Mantua 191, 259, 260, 261 Marienwerder 28, 52, 53, 57, 74 f., 98, 101, 103, 104, 107, 116 Marken 26, 260, 261, 270 Masuren 52, 53, 97, 98, 100 Masuren- und Ermländerbund 98 Masurisches und Ermländisches Abstimmungskomitee 98 Meinungsäußerungsfreiheit 278, 282, 288 Melanesian Spearhead Group 315 Memelgebiet 97 Memelstatut 978 Menschenrechtslage in Westirian 305 Menschenrechtslage in Westpapua 315
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Sachregister / Subject Index
Mezzogiorno 260 Mießtal 48, 197, 200 Miles-Kommission 199 Minderheiten 41 ff., 68 ff., 102, 221 Minderheitenrechte 58, 63, 68, 73 Minderheitenschulgesetz in Österreich 63 Minderheitenschutzkonventionen des Europarats 68 Mittelschleswig 77, 82, 96, 90, 93 Mittelschleswigscher Ausschuss 86 Modena 25, 248, 259, 260 Molukken 294, 296, 297 Mörbisch 231 Moson 208 Münsterwalder Eisenbahnbrücke 100 Namslau 111 nationales Selbstbestimmungsrecht für die Neuordnung Europas 108, 195 ff. Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben 196 Neapel 26, 264, 265, 266, 270 Neidenburg 97 Neiße Land 111 Neiße Stadt 111 Neu-Belgien 56 Neuguinea 293 ff. Neustadt-West 111 neutrale Fragestellung bei der Volksabstimmung 281 f. New Guinea Council 298 New Mexiko 27 New Yorker Übereinkommen 1962 299, 301, 307, 314 Nichtanerkennung des Saarlandes als souveräner Staat 143 Niederländisch-Neuguinea 299 Niederländisch-Ostindien 314 niederländische Kolonialverwaltung 296, 300 Niederländische Ostindien-Kompanie 294, 295, 296 Nizza 25, 26 Nohfelden 128 Nordschleswig 26, 47, 59, 67, 69, 70 Norwegen 27, 43 Note über die Grenzen Deutschösterreichs 214
Novara 25 NSDAP 136 Oberösterreich 153, 155, 159, 174 Oberpullendorf 231 Oberschlesien 28, 41, 43, 53, 54, 57, 58, 107 ff. Ödenburg 207 ff. Oldenburg, Großherzogtum 128, 133 Ortstafelstreit 63 Ost-Belgien 56 Ost-Kantone 56 Österreich-Ungarn 41, 44, 49, 95, 154, 195, 204, 207, 209, 214, 215, 229 österreichisch-preußischer Krieg 1866 79 österreichischer Staatsvertrag von 1955 51, 63 Ostersturm 59 Ostgrenze Frankreichs 127 Ostpreußen 28, 41, 42, 43, 52, 53, 95 ff. Outvoter-Frage 115 ff. Padua, Provinz 259 Paneuropäisches Picknick am 19. 8. 1989 66 Papua 293 ff. Parma 25, 247, 259, 260 Partei Deutschsprachiger Belgier 56 Partikularismus 127 Pfalz 127, 129 Philippinen 27, 30 Piacenza 25, 259 Piemont-Sardinien 25, 26 Pilgersdorf 233 Pless 118 Pommern 97 Pordenone, friaulische Provinz 261 Posen 96, 97, 103 Pozsony 208 Prager Frieden vom 23. 8. 1866 79 Preßburg 208, 211 propolnische Freischärler 119 Province de la Sarre 127, 129 Provincial Council in Westirian 302 Provisional Records Commissioner for the Saar Basin Plebiscite 137 Puerto Rico 27
Sachregister / Subject Index Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten 68 Rapstedt 84, 85 Referendum in Donezk und Luhansk am 11. 5. 2014 287 ff. Referendum über Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine oder zur Russländischen Föderation am 16. 3. 2014 279 ff. Referendum vom 23. 12. 1990 in Slowenien 203 Reggio, Herzogtum 259 remedial secession 286 Reunionspolitik 127 Revier Lothringen-Saar 130 Rheinland-Lösung 116, 117 Riepener Privileg 78 Rinkenis 84, 85 Risorgimento 245, 251, 259 ff., 269, 271, 272, 273 Rom 111, 215, 216, 222, 225, 234, 238, 240, 249, 260, 265, 268 Roma 51, 65 Romagna 260 Rosental 198 roter Terror 220 Rovigo, Provinz 260 Rückübertragung der Regierungsgewalt über das Saargebiet auf das Deutsche Reich 140 Rumänien 44, 73, 218, 221, Rybnik 118 Saargebiet, Verwaltung durch den Völkerbund Saarland 42 ff., 55, 125 ff. Saarland als Protektoratsstaat Frankreichs nach 1947 134, 144 saarländische Bevölkerung 139, 145, 147, 151 saarländische Verfassung 142 f. Saarstatut von 1920 131 Sachsen-Coburg-Gotha 128 Salzburg 153 ff., 165, 174, 175, 176, 186, 189, 192, Saporischschja 71, 72, 73, 291, 292 Sardinien, Königreich 25, 26, 247, 259, Sarre-Louis, Garnisonsstadt 127, 128, 129 Savojen, siehe Savoyen Savoyen 25, 26, 265, 266, 267
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Scheinreferenden 73, 291, 292 Schlesien 42, 54, 154 Schleswig 28, 29, 41, 42, 43, 45, 47, 48, 49, 51, 52, 54, 57, 58 ff., 62, 63, 64, 65, 66, 67, 69, 70, 72, 73, 74, 77 ff. Schleswigsche Partei 60 Schlochau 97 Schlussakte des Wiener Kongresses 128 Schuman-Plan 151 Schweden 26, 27, 43, 78 Schweizer Anschlussbewegung 155 Seeland 200 Selbstbestimmungsrecht der Völker 37, 39, 95, 107, 110, 122, 153, 195, 196, 204, 219, 278, 286, 291, 292 Sezession der „Republiken“ Donezk und Luhansk 290 Sforza-Linie 120 Siebenbürgen 44, 219 Siegendorf 232 Sizilien 26, 260, 261, 263, 265, 270 slawischer Korridor 215, 221 Slowakei 44, 219 Slowenen 44, 47, 48, 49, 62, 63, 75, 170, 196, 198, 201, 203 slowenische Minderheit in Österreich 62, 63, 64 slowenische Volksräte 197 slowenischsprachige Gebiete 48, 200 Soldau 97, 103 Soldauer Gebiet 97 Sonderautonomie in Westpapua 311 Sonderburg 61, 83, 88, 89, 93, 94 Sonderfrieden von Basel 1795 Sopron, siehe Ödenburg St. Margareten 232 St. Michael 231 St. Wendel, Stadt 128 Staatserklärung über die Grenzen des österreichischen Staatsgebiets 208, 211, 212 Stadtschlaining 231 Statuto Albertino 262, 266, 271, 273 Steiermark 49, 155, 159, 161, 165, 174, 175, 186, 192, 196, 202, 229 Stimmberechtigte 46, 73, 118 Südböhmen 212 Sudetenland 154 Südmähren 212, 221
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Sachregister / Subject Index
Südschleswig 69, 70, 85 Südtirol 29, 32, 63, 168, 176, 195, 202, 204, 213 Sukarno-Regime 208 Supreme Plebiscite Court 137 Territoire du Bassin de la Sarre 131 Texas 27 Tidore 295 Tiedje-Linie 84 ff. Tingleff 85 Tirol 165 ff. Tirol, Republik Tirol 155, 173 Tirol, Sezession von Deutschösterreich 155 Tondern 46, 83, 84, 85, 86, 89, 93 Toskana 26, 260, 262, 263, 264, 267 Transleithanien 219 Transmigrasi-Projekt 293, 300, 313 Treviso, Provinz 259 Triveneto 260 Tschechoslowakei 30, 44, 49. 65, 111, 153, 154, 156, 160, 161, 192, 203, 212, 215, 218, 212, 228, 231, 232, 235 Turin 259, 266 Udine, friaulische Provinz 261 Uebereinkommen über die Demarkationslinie in Kärnten vom 2. 1. 1919 198 f. Ukraine 275 ff. Umbrien 26, 261, 262 UN-Treuhandverwaltung 299 Unabhängigkeitserklärung der Krim am 11. 3. 2014 279 Unabhängigkeitserklärung in Donezk am 7. 4. 2014 287 Unabhängigkeitserklärung in Luhansk am 27. 4. 2014 287 UNRWI 302, 304 UNTEA 300 Unterdrauburg 200 Untersteiermark 161, 202, 212, 213 Utersum 46, 90 uti possidetis-Prinzip 298, 314 Vasvár 208 Venedig-Kommission (Venice-Commission) 277 ff. Venedig-Protokoll 50, 75
Venediger Protokoll 236, 238, 241 Venetien 259, 261 Vereinigung des Saargebiets mit dem Deutschen Reich zum 1. 3. 1935 136 ff. Verfassungsmäßigkeit der Referenden in der Ukraine 278, 280, 288 Verhandlung vor der Volksabstimmung 285 Vertrag von Campo Formio 1797 127 Vertrag von London 1824 295 Vertrag von Lunéville 1801 128 Vertrag von Ripen 1460 77 Vertrag von Saint Germain v. 10. 9. 1919 28, 29, 41, 43, 48, 50, 75, 158, 200, 216, 218, 222, 223, 224, 232 Vertrag von Trianon v. 4. 6. 1920 44, 50, 66, 220, 221, 223, 224, 225, 228, 230, 232, 235, 244 Vertrag von Versailles v. 28. 6. 1919 28, 41, 43, 62, 75, 77, 81, 82, 86, 94, 95, 101, 213, 229 Vertrag zwischen Frankreich und Italien v. 24. 3. 1860 26 Vertreibungen 31, 32 f., 39, 42, 45, 60, 73, 300, 313 Verwaltungskommission für die Saar nach 1945 141 Vicenza, Provinz 259 Völkerbund 54, 56, 57, 95, 102, 125, 133, 134, 137, 138, 141, 160, 161, 183, 184, 213, 236 Volksabstimmung an der Saar 1935 29, 125 ff., 130 ff. Volksabstimmung im Saarland am 23. 10. 1955 125 ff., 141 ff. Volksabstimmung in Oberschlesien 107 ff. Volksabstimmung in Ödenburg 236 ff. Volksbefragung 26, 28, 148, 157, 160, 186, 246, 259, 310 Volkssouveränität 245, 246, 250 Vorarlberg 154, 155, 174, 175 Vorarlberg, Sezession von Deutschösterreich 155 Waffenruhe in Kärnten vom 14. 1. 1919 199 Waffenstillstand vom 3. 11. 1918 48 Wandorf 236 Weichselbrücke von Münsterwalde bei Marienwerder 101
Sachregister / Subject Index weißer Terror 220 West Papuan National Liberation Army 313 West-Irian-Referendum 294 West-Neuguinea 297 ff. West-Sahara-Fall 22, 277 West-Ungarn 174, 207 ff., 220 Westeuropäische Union 55 Westirian 293 ff. Westpapua 293 ff. Westpapua, fehlende Selbstbestimmung 299, 300, 303, 307, 308, 315 Westpreußen 52, 95 ff., 204 Westpreußen, Probleme der Grenzziehung Westungarische Aufstand 50 Westungarn, Gau 220 Wiener Frieden von 1864 79
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Wiener Kongress 128 Wieselburg 211, 216 Wilsons Vierzehn-Punkte-Plan 165 Windische 62 wirtschaftlicher Anschluss an Frankreich nach 1945 Wolfs 236, 242 Zahle II, dänische Regierung 90, 91 Zehntes Deutsches Sängerbundesfest 155 Zessionsvertrag vom 5. 7. 1920 92 Zinkendorf 236, 242 Zugang zum Meer für Polen 96, 97 Zurndorf 231 Zweiter Pariser Frieden vom 20. 11. 1815 128